123 72 16MB
German Pages 149 Year 1980
HANS · DIETER BÄCKER
Der steuerrechtliche Begriff ,Wirtschaftsgut'
Schriften zum Steuerrecht Band 23
Der steuerrechtliche Begriff ,Wirtschaftsgu t' Ein Beitrag zur Handhabung von unbestimmten Rechtsbegriffen, besonders im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Bestimmtheit von Steuerrechtsnormen
Von
Dr. Hans-Dieter Häcker
DUNCKER &
HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 © 1980 Duncker & Humblot, Berlin 41 Printed in Germany ISBN 3 428 04790 7
Meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis I. Teil
Einführung
13
I. Problemstellung der Arbeit ................................ . ... .
1.3
II. Untersuchungsziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
111. Erläuterung des Untersuchungsweges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
II. Teil
Das Auftreten unbestimmter Rechtsbegriffe im Steuerrecht 1. Kapitel: Beschreibung und Wesen unbestimmter Rechtsbegriffe
16 16
I. Das Verhältnis von "Generalisieren", "Konkretisieren" und "Individualisieren" im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
II. Allgemeines über unbestimmte Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
111. Die Einteilung unbestimmter Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
IV. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln
24
V. Zusammenfassung des 1. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
2. Kapitel: Die Besonderheiten des Steuerrechts und unbestimmte Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
I. Die im Steuerrecht traditionelle" Gesetzgebungstechnik . . . . . . . . . .
27
II. Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit im Steuerrecht im Verhältnis zum unbestimmten Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
1. Die Definition der Tatbestandsmäßigkeit
30
2. Die rechtliche Verankerung . . . . .. .. . .. . . . .. . . . . . . ... . . .. .. . . . a) In der Weimarer Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . .
31 31
Inhaltsverzeichnis
8
b) Im aa) bb) cc)
Banner Grundgesetz Allgemeines . . . ................. . Die rechtsstaatliche Komponente .. . . . .......... ... ... . Die demokratische Wurzel ........ ... ................ .
3. Unbestimmte Rechtsbegriffe und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen gemäß Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Grundsätze des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG als allgemeines Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die "Voraussehbarkeit" als Kriterium für die Vereinbarkeit mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die "Programmklarheit" als Kriterium für die Vereinbarkeit mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die im Steuerrecht notwendig strengere Betrachtungsweise III. Zusammenfassung des 2. Kapitels ........... .... ......... .
33 33
35 35
40 40 41 45 49 55
III. Teil
Der unbestimmte Begriff ,.Wirtschaftsgut" im Einkommenssteuerrecht
56
1. Kapitel: Das "Wiri:schaftsgut" als wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff im Einkommenssteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
I. Das "Wirtschaftsgut" als zentraler Begriff des Einkommenssteuerrechts .............................................
~
1. Definition und Darstellung der Problematik . . . . . . . . . .
57
2. Statische und dynamische Bilanzauffassung im Verhältnis zum "Wirtschaftsgut" . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......... a) Statische Betrachtungsweise . . . . . b) Dynamische Betrachtungsweise . ..................... c) Das Verhältnis von Steuer- und Handelsbilanz sowie statischer und dynamischer Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . .
63
II. Inhalt und Grenzen des unbestimmten Begriffes "Wirtschaftsgut"
66
61 61 62
1. Der Betriebsvermögensvergleich in geschichtlicher Entwicklung
66
2. Die Entwicklung des Begriffsinhaltes "Wirtschaftsgut" bis zur gesetzlichen Verankerung im Einkommensgesetz 1934 und nachfolgend bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes . . . . . . . .
71
3. Die anschließende Entwicklung und die moderne Rechtsprechung zum Begriff des "Wirtschaftsgutes" . . . . . .
77
III. Folgerungen aus der Entwicklung des Begriffes "Wirtschaftsgut"
90
IV. Zusammenfassung des 1. Kapitels ..
93
Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel: Bestimmtheitserfordernis und Rechtsanwendungsmethode bei unbestimmten Rechtsbegriffen im Steuerrecht - überprüft am Begriff "Wirtschaftsgut" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeine Überlegungen zur Rechtsanwendung 1. Keine Tatbestandsbestimmtheit ohne disziplinierte Rechtsan-
wendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
94 94 94
2. Sind Auslegung und Rechtsfortbildung trennbar?
95
3. Die Grenze des möglichen Wortsinnes .... ... ....... . ...... .. .
97
II. Die Auffassung, daß unbestimmte Rechtsbegriffe stets auszulegen sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100
1. Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100
2. Ursachen, Tendenzen und Kritik zu dieser Auffassung . . . . . . . . a) Die stets vorhandene "Begriffiichkeit" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Volle gerichtliche überprüfbarkeit der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Entwicklung in der Verwaltungsrechtswissenschaft bb) Besonderheiten im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103 103 105 105 112
III. Die Auffassung, daß die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe immer Rechtsfortbildung bedeutet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
1. Rechtsfortbildung setzt Lückenhaftigkeit des Gesetzes voraus
116
2. Die Auffassung, daß alle unbestimmten Rechtsbegriffe "Lükken" im Gesetz sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
3. Kritik an dieser Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120
IV. Die notwendige Differenzierung und die Rechtsprechung des BFH zum Wirtschaftsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung des 2. Kapitels
124 129
Literaturverzeichnis
131
Verzeichnis der verwendeten gerichtlichen Entscheidungen
145
Abkürzungsverzeichnis AcP a.F. AktG AO AöR Bay.,Bay. BB BefStG Beschl. BewG BFH BGB BGBl. BGH BStBl. BT VerfG ßVerfGE BVerwG BVerwGE DB DJT DÖV DStR DStRdsch. DStZ DStZ (A) DStZ (B) DVBl. DV EFG EG EStG FA FG FGG FGO FinArch. FinVerw. FR GemS GG G.o.B. GrdStG GrEStG GVBl. HGB HWStR JbFfSt.
Archiv für civilistische Praxis alte Fassung Aktiengesetz Abgabenordnung Archiv für öffentliches Recht Bayerisch Betriebsberater Beförderungssteuergesetz Beschluß Bewertungsgesetz Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundessteuerblatt Bundestag Bundesverfassungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts Der Betrieb Deutscher Juristentag Die öffentliche Verwaltung Deutsches Steuerrecht Deutsche Steuerrundschau Deutsche Steuerzeitung Deutsche Steuerzeitung -Ausgabe ADeutsche Steuerzeitung- Ausgabe B Deutsches Verwaltungsblatt Durchführungsverordnung Entscheidungssammlung der Finanzgerichte Einführungsgesetz Einkommensteuergesetz Finanzamt Finanzgericht Gesetz über Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit Finanzgerichtsordnung Finanzarchiv Finanzverwaltung Finanzrundschau Gemeinsamer Senat Grundgesetz Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung Grundsteuergesetz Grunderwerbsteuergesetz Gesetz- Verordnungsblatt Handelsgesetzbuch Handwörterbuch des Steuerrechts Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht
Abkürzungsverzeichnis JJ JöR JR JuS JZ KStG KVStG LAG MDR MinBl. n.F. NJW NWB OGB OFH OVG RAO RdF Reg.Bl. RFH RG RGBl. H.GZ Rspr. RStBl. RVO RWP StAnpG Stb. Stbg. StbJb. StBp. StKongrRep. StW oder StuW StWa. UStG UStR UWG VerwArch. VG VGH VGHE VjSch.StFR
vo
VOBl. Vorbem. VVDStRL
VwGO WiSt. Wpg. WRV
zm
ZfbF ZfhwF ZPO ZRP
11
Juristenjahrbuch Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Körperschaftssteuergesetz Kapitalverkehrssteuergesetz Lastenausgleichsgesetz Monatsschrift für Deutsches Recht Ministerialblatt neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Neue Wirtschaftsbriefe für Steuer- und Wirtschaftsrecht Oberste Gerichtshöhe des Bundes Oberster Finanzgerichtshof Oberverwaltungsgericht Reichsabgabenordnung Reichsminister der Finanzen Regierungsblatt Reichsfinanzhof Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen Rechtsprechung Reichssteuerblatt Rechtsverordnung Rechts- und Wirtschaftspraxis Steueranpassungsgesetz Der Steuerberater Die Steuerberatung Steuerberaterjahrbuch Die steuerliche Betriebsprüfung Steuerkongreß-Report Steuer und Wirtschaft Steuer-Warte Umsatzsteuergesetz Umsatzsteuerrundschau Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Entscheidungssammlung des BayVGH Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht Verordnung Verordnungsblatt Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Wirtschaftswissenschaftliches Studium Die Wirtschaftsprüfung Weimarer Reichsverfassung Zeitschrift für Betriebswirtschaft Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung Zivilprozeßordnung Zeitschrift für richterliche Praxis
I. TEIL
Einführung I. Problemstellung der Arbeit In einer Lehrveranstaltung zum Einkommensteuerrecht von Herrn Professor Soell, in der ich als sein damaliger wissenschaftlicher Assistent das Kapitel "Gewinnermittlung" übertragen bekommen hatte, erörterten wir auch den Begriff des "Wirtschaftsgutes". Es handelt sich hierbei um einen der gesetzestechnischen Zentralbegriffe im Bilanzsteuerrecht mit unmittelbarer Bedeutung für jeden Bilanzierenden. Dieser Begriff, über dessen einzelne Merkmale das Gesetz schweigt, unterliegt seit Jahrzehnten bis heute einem ständigen, oft kontroversen Ringen der Rechtsprechung und Literatur um Inhalt und Umfang. Eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten (auf die an gegebenem Orte jeweils verwiesen wird) beschäftigte sich bereits mit den hier anstehenden Fragen, indem sie je nach Standort des Verfassers diese oder jene Aspekte herausstellten. In fast allen diesen Abhandlungen - die überwiegend von Wirtschaftswissenschaftlern stammen - fehlt aber der spezifisch juristische Ansatzpunkt und insbesondere auch die Einbettung der hier oftmals überbetonten betriebswirtschaftliehen Bilanzierungstheorien in den von der Rechtsordnung vorgegebenen Rahmen der Dogmatik und Methodik. Die vorliegende Arbeit versteht sich deshalb bewußt als juristische Untersuchung und nicht als Bearbeitung eines Grenzgebietes zwischen Recht und Betriebswirtschaftslehre, auch wenn einigen bilanztheoretischen Fragen - wegen des besseren Verständnisses - ein breiterer Bereich eingeräumt worden ist. So wird schwerpunktmäßig gerade den grundlegenden Rechtsfragen der Verfassungsmäßigkeit unbestimmter Rechtsbegriffe, sowie deren Einteilung und der Möglichkeit ihrer Anwendung im Einzelfall nachgegangen, wobei dem unbestimmten Rechtsbegriff "Wirtschaftsgut" besondere Aufmerksamkeit zu widmen war. Es ist mir - nicht zuletzt dank des erfahrenen Rates von Herrn Professor, Senatspräsident i. R. W. Hartz - von Anfang an klar gewesen,
14
I. Einführung
daß die Arbeit damit einen Bogen spannt,_ der 9-en Rahmen einer Dissertation übersteigen mag. Ich habe dennoch das Thema nicht eingegrenzt und der Versuchung widerstanden, nur einen oder einige Teilaspekte zu bearbeiten, denn der Reiz des Themas bestand gerade darin, von dem verfassungsmäßigen Ansatz bis zur Frage der Rechtsanwendung vorzudringen. 11. Untersuchungsziel der Arbeit
Schon vom Thema der Arbeit her gesehen ist es nicht möglich, ein einziges Untersuchungsziel zu definieren. Vielmehr sind hier bereits die beiden Hauptbereiche deutlich, einmal die Frage der Verfassungsmäßigkeit unbestimmter Rechtsbegriffe - modifiziert durch den im Steuerrecht geltenden Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit - zum anderen der große Problemkreis ihrer Ausfüllung durch Verwaltung sowie Rechtsprechung und damit auch die Methode der Rechtsanwendung. Zwischen diesen beiden Polen steht in dieser Arbeit als verbindendes Mittelstück der unbestimmte Begriff des "Wirtschaftsgutes" mit seinem breiten betriebswirtschaftlich-bilanzrechtlichen Hintergrund, der zu erläutern, aber auch an den Untersuchungsergebnissen der beiden Hauptbereiche zu messen war. Daneben gerieten die Überlegungen immer wieder in die Randzonen wichtiger und interessanter Fragestellungen, die selbst schon umfangreiches wissenschaftliches Schrifttum repräsentieren. Nur z. B. seien genannt das Stichwort "Richterrecht" (auch im Steuerrecht?), die Überlegungen der Verfassungs-Enquete-Kommission zu Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG, oder die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede von Verwaltungsund Steuerrecht, die neuerdings unter dem Schlagwort "kompetenziell" bedingte Freiräume der Verwaltung in der Methodenlehre zum Tragen kommen. 111. Erläuterung des Untersuchungsweges
Die Arbeit geht im II. Teil, 1. Kapitel, von der Überlegung aus, daß unbestimmte Rechtsbegriffe der Fallindividualität dienen, also eine Vermittlerrolle im möglichen Zielkonflikt Rechtssicherheit-Gerechtigkeit einnehmen und versucht eine Einteilung derselben. Die Überlegung, durch unbestimmte Rechtsbegriffe in Gesetzen die Einzelfallgerechtigkeit zu fördern, führt notwendig zur Frage, ob das unbeschränkt auch im Steuerrecht möglich ist, welches unter dem Verfass1mgs-Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit steht. Dieser Grundsatz stellt Steueransprüche unter das Gebot vorheriger Festlegung der einzelnen Voraussetzungen.
I.
Einführung
15
Das 2. Kapitel beschäftigt sich daher mit den rechtlichen Wurzeln dP.r Tatbestandsmäßigkeit und mit der Frage, wann und welche unbestimmte(n) Rechtsbegrüfe mit diesem Gebot vereinbar sind. Hier muß notwendigerweise dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG sowie der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ein breiter Raum gewährt werden. Im III. Teil, 1. Kapitel, der Arbeit wird erörtert, ob das "Wirtschaftsgut" im Rahmen der Einteilung unbestimmter Rechtsbegriffe als "wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff" eingestuft werden kann. Dazu erschien es mir erforderlich, zum besseren Verständnis zuerst den bilanzrechtlichen, betriebswirtschaftlich-bilanztheoretischen Zusammenhang zwischen "Wirtschaftsgut", Steuer- und Handelsbilanz, sowie statischer und dynamischer Bilanzauffassung darzustellen. Danach wird die jahrzehntelange Entwicklung in Rechtsprechung und Literatur zu diesem Begriff aufgezeigt. Das 2. Kapitel schlägt dann die Brücke von der verfassungsmäßig geforderten Bestimmtheit zur Rechtsanwendung bei unbestimmten Rechtsbegriffen und geht intensiver auf unterschiedliche Auffassungen in der Methodenlehre zur Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe ein. Nach jedem Kapitel in den beiden Hauptteilen II. und III. wurde zur besseren Übersicht eine kurze Zusammenfassung angefügt.
li. TEIL
Das Auftreten unbestimmter Rechtsbegriffe im Steuerrecht 1. Kapitel
Beschreibung und Wesen unbestimmter Rechtsbegriffe I. Das Verhältnis von "Generalisieren", "Konkretisieren" und "Individualisieren" im Recht Unsere Rechtsordnung strebt nach generalisierender Betrachtung, d. h. Regelung einer Vielzahl von Lebenssachverhalten unter typischen Gesichtspunkten durch abstrakte Normen. Tatbestand und Rechtsfolge einer gesetzlichen Regelung schablonisieren die individuellen Geschehensabläufe nach ihrer "Lebenstypizität" 1 • Wie es zu dieser "Generalisierung konkreter Gerechtigkeitserfahrung" kommt, zeigt Zippelius2 am Beispiel der "beiden bedeutendsten eigenständigen Rechtsordnungen", dem römischen und dem englischen Recht. Beide Male "gehen Rechtsbildung und Rechtsfortbildung vom Einzelfall aus" 3 • Das Recht ist somit "ein Ergebnis der Erfahrung. Es hat herausexperimentiert werden müssen" 4 • "Die einzigartige Leistung der römischen Praxis lag darin, daß sie nicht beim konkreten Indiz stehen blieb, sondern von ihm ausgehend zum Typischen fortschritt5 ", also "das am Einzelfall Erfaßte in allgemeine Begriffe und Regeln zu bringen vermochte"6. In allen Fällen der Generalisierung tritt die jeweilige "Einzigartigkeit" des Geschehens 7 gewollterweise - um der Rechtssicherheit und 1 2
Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 353. Das Wesen des Rechts, 1965, S. 114.
Ebd. 0. Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 17, zitiert nach Zippelius, ebd., S. 115. s Zippelius, S. 115. 6 Ebd. 7 Henkel, Recht und Individualität, 1958, S. 353. 3
4
I. "Generalisieren"- "Konkretisieren"- "Individualisieren"
17
Gleichbehandlung willen - hinter jenen Merkmalen zurück, die in einer bestimmten Gruppe von Fällen einheitlich oder ähnlich gelagert vorhanden sind und somit die gemeinsame Regelung aller Fälle dieser Gruppe nach einer abstrakt-generellen Anordnung erlaubt. Erst die Regelung mittels einer abstrakt generellen Norm ermöglicht eine "rational begründete, rational überprüfbare und damit dem Eigennutz entrückte" Jurisprudenz8 • 9• Der Richter, der den konkreten Sachverhalt an dieser abstrakten Norm zu überprüfen hat, muß feststellen, ob die die Hechtsfolge der Norm auslösenden Merkmale auch im Lebenssachverhalt auftreten. Stimmen sie in Norm und Sachverhalt überein, wendet er die Norm auf diesen Sachverhalt an; er konkretisiert sie, erfüllt sie mit Leben. Da sich die Rechtsordnung aber grundsätzlich "nur für das Typische", "nicht für Individualitäten", interessiert10, finden letztere nur Betrachtung, wenn dies aufgrund bestimmter Gesichtspunkte zwingend erforderlich wird11 • Rechtstechnisch erfolgt die Berücksichtigung der Individualität im Recht durch die Einführung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln, deren - durch den weitgehenden Verzicht auf typisierende Merkmale erreichte- inhaltliche Unbestimmtheit ein Eingehen auf die spezielle Fallindividualität erlaubt bzw. fordert. Hierbei stellt sich heraus, daß die Möglichkeit, die Einzelgerechtigkeit zu berücksichtigen, um so größer ist, je merkmalsärmer, -leerer der Inhalt des Begriffs abgefaßt wird (und umgekehrt) 12• Da dem Richter zur Lösung seines Einzelfalles nicht typisierende Merkmale, sondern in aller Regel nur die Leitidee des Gesetzgebers (i. S. der Gerechtigkeit) zur Verfügung steht, muß er den auf den Fall - und nur auf diesen - anzuwendenden 8 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 69, 94-96, 188-189, 202, 272; - verhindert den "gewaltsamen Austrag menschlicher Konflikte" und ermöglicht somit "eine der wesentlichen Voraussetzungen für den Aufstieg der materiellen Kultur, besonders der Verwaltungskunst, der rationalen Wirtschaftsgesellschaft und selbst der technischen Naturbeherrschung der Neuzeit". 9 Es bezieht sich also "Abstraktheit" auf den zu regelnden Sachverhalt, "Generalität" auf den angesprochenen Personenkreis; vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung. Eine Problemstudie zum Wandel des Gesetzmäßigkeitsprinzips, 1961, S. 13. 1° Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S.17; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 353. 11 Nach Henkel, Einführung, S. 361-364, können dies sein: Die Vorgegebenheit der Regelungsmaterie, die Tendenzen der Rechtsidee und metarechtliche Strömungen. 12 Als Pole stehen sich kasuistische Fassung und Generalklauseln gegenüber. Vgl. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, S. 435 ff.: zunehmende Sinnentlehrung mit wachsender Abstraktionshöhe: ... logische Folgerung ... , daß "auf der höchsten Abstraktionsstufe jeweils nur zwei abgeleitete Begriffe" zugelassen werden, "die zueinander im Verhältnis eines kontradiktorischen Gegensatzes stehen".
2 Häcker
18
II. 1. Kap.: Beschreibung und Wesen unbestimmter Rechtsbegriffe
Rechtssatz erst bilden. Man spricht hier von individualisierender Rechtsfindung, weil nur der konkrete und nicht noch andere Fälle diesem gebildeten Rechtssatz unterworfen werden. Dies ist aber nur bei den sogenannten wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen der FalP3• Denn dann, wenn der vom Richter zu findende Rechtssatz geeignet ist, auch andere, gleichgelagerte Fälle zu entscheiden, z. B. im Falle des Analogieschlusses, der darauf abstellt, daß ein im Gesetz nicht geregelter Fall mit einem im Gesetz geregelten gemeinsame Merkmale aufweist1', spricht man von generalisierender Rechtsfindung. Längere Zeit geübte und gleichbleibend praktizierte Individualisierung zeigt die Tendenz, in den entschiedenen Einzelfällen Ähnliches zu
entdecken, Übereinstimmendes herauszufiltem. Die Entwicklung geht in die Richtung generalisierend-abstrakter Normfassung. In dem bisher inhaltsleeren Begriff bilden sich Inseln von Fallgruppen und wiederkehrenden Erscheinungsformen. Die Typisierung setzt ein, die Individualisierung weicht rationalen Ordnungsstrukturen15• Hiermit soll nur die Tendenz aufgezeigt und nicht vergessen werden, daß die Idee der dem "ius aequum" 16 verpflichteten Generalnorm, die eines "offenen und immerfort zu berichtigenden Begriffs" 17 ist und darüber hinaus "Präjudizien" in unserer Rechtsordnung ohnehin "nicht den Verbindlichkeitsgehalteiner Rechtsquelle" 18 haben. Dennoch ist der "zentrale Norm13 14
141.
Vgl. dazu li. Teil, 1. Kap., III., IV. sowie III. Teil, 2. Kap., II., 111., IV. Vgl. Engisch, Einführung in das iuristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 43 f.,
1~ Im Grunde der Vorgang, der eingangs beschrieben wurde und vom Einzelfall zur abstrakten Normbildung führte; vgl. dazu ZippeUus, Rechtsphilosophische Aspekte zur Rechtsfindung, JZ 1976, Nr. 5/6, S. 150 ff. 16 Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 119. 17 Ders., S. 119; Soell, Das Ermessen in der Eingriffsverwaltung, 1973, ausführlich S.173, 175, 177, 178, mit Hinweis auf die berühmte Boykottentscheidung des RG v. 1. 7. 1937, RGZ 155, S. 257 ff. (§ 826 BGB) sowie auf BVerfG 7, S, 198 ff. (Lüth/Harlan), sowie auf Wieacker und Henkel, aber auch auf die a. A. von Jesch mit Fundstellen. 18 Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Rationalitätsgrundlagen der richterlichen Entscheidungspraxis, Frankfurt/ Main, 1972, S. 187; vor allem aber die ausführliche Darstellung bei Larenz, Methodenlehre, S. 241 ff. sowie den ersten Beratungsgegenstand der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1975 in Augsburg: Die Bindung des Richters an Gesetz und Verwaltung, Bericht von Roellecke, VVDStRL, Heft 34, S. 7 f.; Mitbericht von Starck, VVDStRL, Heft 34, S. 43 ff. (S. 71, 82, 83). Ebenso Flume, Richterrecht im Steuerrecht, StbJb. 1964/65, S. 55 ff. (S. 74); ders., Richter und Recht, Verhandlungen des 46. DJT in Essen 1966, Bd. II, Teil K, S. 5 f. (S. 25). Vgl. auch Rasenack, Zur Typisierung im Steuerrecht, DB 1974, Heft 20, S. 937 ff. (S. 941), mit dem Hinweis, daß grundsätzlich zunächst jede richterliche Entscheidung einzelfallbezogen sei. Vgl. auch Hilger, Überlegungen zum Richterrecht, in: Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, 1973, S. 109 ff. (113), mit Hinweis auf Badura; vgl. aber Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, Berlin 1967, S. 243: "Präjudizien haben die Ver-
I. ,.Generalisieren"- ,.Konkretisieren"- ,.Individualisieren"
19
bildungseffekt der ständigen Rechtsprechung inzwischen anerkannt" und "am Beispiel der Generalklauseln und ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffe in seiner Bedeutung unmittelbar anschaulich" 19• Ja oftmals wird die generalisierende Wirkung einzelner Gerichtsurteile20 durch einen sogenannten "Musterprozeß"21 geradezu erzwungen. So stehen Typus und Individualität im Recht in einem "Spannungsverhältnis", in dem sie sich nicht in "antinomischer Weise ausschließen, sondern in polarer Wechselbeziehung einander fordern und ergänzen" 22• Im Steuerrecht finden sich besonders viele solcher Spannungslagen, da dieses jedermann treffende Eingriffsrecht unter dem besonderen Postulat der Gleichheit stehen muß und daher grundsätzlich zu generalisierender Normsetzung zwingt, andererseits aber der sich ständig wandelnden Vielfältigkeit wirtschaftlicher Besonderheiten und Spielarten durch unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln Rechnung tragen muß und auch trägt. Typisierung im Steuerrecht bedarf daher einer sorgmutung der Richtigkeit für sich." Noch weiter gehen Säcker, Zur demokratischen Legitimation des Richter- und Gewohnheitsrechts, ZRP 1971, S. 145 f. (S. 147), der den sachlichen und logischen Unterschied zwischen rechtsfortbildender und gesetzgeberischer Tätigkeit leugnet; sowie Redeker, Legitimation und Grenzen richterlicher Rechtsetzung, NJW 1972, S. 409, der richterliche Rechtsetzung neben Gesetz und Gewohnheitsrecht als dritte Rechtsquelle anerkennt. Außerst fragHch ist auch die unkritische Behauptung von Lieber, Die Rechtsschöpfung des Bundesfinanzhofs, Köln 1974, S. 9: ,. ... es begegnet keinen Bedenken, eine solche Rechtsschöpfung als allgemeinverbindlich zu bezeichnen." (!) 19 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S.190. 20 Siehe dazu ausführlich Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 21 f. (25/27); sowie Hartz, Gesetzliche Generalklauseln und Richterrecht im Steuerrecht, StuW 1968, Sp. 245 ff. (Sp. 260 ff.), ders., Mehr Rechtssicherheit im Steuerrecht, StbJb. 1965/66, S. 75 ff. (96), sowie Werner, Zum Verhältnis von gesetzlichen Generalklauseln und Richterrecht, 1966, S. 23 ,.An die Stelle der Gesetzesnormen treten die Leitsätze der Revisionsgerichte. Es geschieht das Seltsame: Die Generalklausel, die der individuellen Fallgerechtigkeit dienen will, führt zur Bildung neuer abstrakter Sätze." Vgl. auch Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, Frankfurt/Main 1969, S. 17 f. (26 f.); Hirsch, Richterrecht und Gesetzesrecht, JR 1966, S. 334 ff. (341). Zur ,.faktischen Bindungswirkung" vgl. insbesondere auch BVerfG-Beschluß 1 BvR 488/62 (1 BvR 216/64) vom 11. 11. 1964, BVerfGE 18, 224 [betr. steuerlichen Durchgriff auf beherrschenden Gesellschafter bei Rückstellungen für Pensionszusagen an beherrschenden GesellschafterGeschäftsführer], S. 237: "Es liegt in der Natur der Tätigkeit der höheren Gerichte, daß sie bei der Entscheidung der ihnen unterbreiteten Einzelfälle das Prinzipielle hervorheben und zur Entscheidung allgemeiner Rechtsgrundsätze zu gelangen suchen, an die die unteren Gerichte und die Verwaltungspraxis sich künftig bei der Behandlung gleichartiger Fälle halten können." Allgemein dazu BVerfG-Beschluß 1 BvR 112/65 vom 14. 2. 1973, BVerfGE 34, 269 [betr. "Schmerzensgeld" bei schweren Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts]. 21 Siehe dazu Rasenack, Zur Typisierung im Steuerrecht, sowie Hilger, Überlegungen zum Richterrecht, S. 120. 22 Henkel, Einführung, S. 360; Zippelius, Das Wesen des Rechts, S.117/119.
20
II. 1. Kap.: Beschreibung und Wesen unbestimmter Rechtsbegriffe
samen Hand, soll über d€m angestrebten "Ordnungsgedanken" nicht die Gerechtigkeit (vor allem im Sinne des Gleichbehandlungsgrundsatzes, Art. 3 Abs. 1 GG) in den Hintergrund treten. Wie sehr falsch verstandene Schematisierung aus Angst vor "ausufernder" Typisierung dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen kann, hat im Jahre 1974 Rasenac~ am Beispiel der steuerlichen Berücksichtigung einer Erziehungshilfe (Kindermädchen) für die Zeit der berufsbedingten Abwesenheit einer alleinstehenden Mutter mit Kind(ern)2 ' aufgezeigt25 • Das hier geschaffene "Monstrum" 26 einer "höchst eigenartigen Typisierung" 27 verwehrt der berufstätigen Mutter die Berufung28 auf die Individualität ihres Falles, obwohl es sich bei §§ 33, 33 a EStG "außergewöhnliche Belastung" um einen ausfüllungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, der auch gerade der Berücksichtigung der Besonderheit des Einzelfalles dienen solF9 • 30• 23 Zur Typisierung im Steuerrecht: Das Beispiel der berufstätigen alleinstehenden Mutter. 24 Wollte sie, da bei ihr "tatsächliche und ökonomische Unterhaltsverpflichtung zusammengefallen" sind (vgl. §§ 1601 ff., 1612, 1678, 1687, 1705 BGB) - so Rasenack, S. 937, sich "die Möglichkeit, marktwirtschaftliches Einkommen zu erzielen, dadurch erleichtern", daß sie ein Kindermädchen oder eine Haushaltshilfe einstellt, so mindern deren Kosten ihr "tatsächlich verfügbares Einkommen voll": § 12 Ziff. 1, S. 2 EStG fand wegen der mangelnden Teilbarkeit zwischen privatem und beruflichem Bereich keine Anwendung vgl. BFH, Urt. v. 3. 8.1966, IV. 57/63, BStBl., 1967 III, 8.198 (= DB 1967, S. 448); wegen der gesetzlichen Vorauss. vgl. §§ 33-33 b EStG. 25 Beachte aber schon 1965 Hartz, "Zur Problematik des § 33 EStG (Außergewöhnliche Belastungen) - unbestimmte Rechtsbegriffe und Rechtssicherheit -", DB 1965, S. 1225 ff., eine Darstellung der uneinheitlichen Rechtsprechung zu den unbestimmten Rechtsbegriffen "Belastung", "Außergewöhnlichkeit", "Zwangsläufigkeit" in den §§ 33-33 a EStG, sowie ders., Mehr Rechtssicherheit im Steuerrecht - Ziele- Wege- Grenzen, StbJb. 1965/66, s. 75 ff. 26 Rasenack, S. 939, unter Hinweis auf Eisenberg, Probleme und Reformüberlegungen zu § 33 EStG, StbJb. 1968/69, S. 297 ff. (wiederum unter Hinweis auf Tipke). 27 Rasenack, S. 938. 28 Das Gesetz berücksichtigt in den §§ 32, 33, 33 a EStG außer Körperbehinderung und auswärtiger Unterbringung (DM 1200 p. a. Pauschale) nur die massenhaft auftretenden Tatbestände allgemeiner steuerlicher Belastung durch minderjährige Kinder (Rasenack bezieht sich noch auf die Gesetzeslage vor 1975, also auf § 32 II, Ziff. 2 a. F. Kinderfreibeträge. - Die Situation hatte sich aber durch Einführung des Kindergeldes nicht geändert.) Die Abzugsfähigkeit für Haushaltshilfen begann dagegen erst beim zweiten Kind, vgl. § 33 a EStG. Zu einer Berücksichtigung der "zweifellos gegebenen gewissen Härte" sah sich die Rechtsprechung wegen der Angst vor der "unabsehbaren Zahl von Grenzfällen ... " nicht in der Lage (vgl. BFH v. 23. 2. 1968 VI R 231/67, BStBl. 1968 II, S. 435, DB 1968, S. 1104). 29 Vgl. in diesem Sinne auch die Vorschläge Rasenacks zur Überwindung der "tendenziell überholten Wertungen" (S. 942) mit Blickpunkt Art. 3 II GG. 30 Zu den Fällen "gelungener Typisierung" im Rahmen der §§ 9 a EStG (Werbungskostenpauschalbeträge), 9 Ziff. 4 EStG (Fahrtkosten), 33 a (Sonderfälle der außergewöhnlichen Belastung), 22 Ziff. 1 EStG 1955 (Leibrenten),
li. Allgemeines über unbestimmte Rechtsbegriffe
21
II. Allgemeines über unbestimmte Rechtsbegriffe Im folgenden Kapitel wird ausgeführt werden, daß gesetzgeberische Auferlegungen von Steuern dem verfassungsmäßigen Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit unterliegt. Das schließt aber nach h. A. 31 die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen auch im Steuerrecht nicht aus. Bei einem unbestimmten Begriff sind lnhalt32 und Umfang32mehr oder weniger ungewiß. Das könnte man bei oberflächlichem Hinsehen zunächst von allen Begriffen behaupten. Damit würde aber der Unterschied zwischen Mehrdeutigkeit33 und Unbestimmtheit eines Begriffes übersehen. Kruse34 argumentiert auf diese Weise und kommt zu Ergebnissen, die m. E. wegen ihrer Allgemeinheit und Pauschalität aussagelos werden35• Man kann also unterscheiden zwischen Begriffen, die scharf voneinander abgegrenzt (bestimmt) sind, solchen, die mehrdeutig sein können und solchen, die als unbestimmt gelten. Bei letzteren ist Subsumtion, als die Einordnung eines "real gesetzten konkreten Sachverhaltes in die Klasse der durch den Rechtsbegriff ... bezeichneten Fälle"~, jedenfalls vgl. Hartz, Mehr Rechtsicherheit im Steuerrecht. Hier kann man dem Grunde nach zustimmen. Vgl. dazu auch Sebiger, Grenzen der Typisierung der Einkommensbesteuerung, dargestellt am Beispiel des § 33 a EStG, StKongrRep. 1964, S. 120 ff. Vgl. dazu den 6. Senat des BFH: Urt. VI 306/64 v. 19. 3. 1965 (BStBL III 1965, 284) zu § 33 EStG; Urt. VI 79/60 S v. 2. 3. 1962 (BStBl. III 1962, S. 192) zu § 9 S. 1 u. 2 (Kosten eines Kfz-Unfalles auf Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte); Urt. VI 153/64 U v. 9. 7. 1965 (BStBl. 111 1965, S. 509) zu § 9 Ziff. 4 (Parkgebühren am Arbeitsplatz). 31 Vgl. Spanner, HwStR, Stichwort "Rechtsstaat"; stellvertretend für alle Hartz, Gesetzliche Generalklausel und Richterrecht im Steuerrecht; ders., Überlegungen zur Rechtsprechungspraxis des BHF und der Finanzgerichte, in DB 1973, Heft 1, S. 23; ders., Steuerrecht und Gesamtrechtsordnung, Gedanken über Erscheinungen und Entwicklungen im Steuerrecht heute, Juristenjahrbuch 10 (1969/70), S. 48 ff. (50); vgl. auch BVerfG-Beschl. 2 BvL 1/59 v. 10. 10. 1961, BVerfGE 13, 153 = BStBL 1961 I, S. 716 (Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von § 3 I KVStG). 32 Der Inhalt kann gekennzeichnet werden durch die Begriffsmerkmale, der Umfang durch die Abgrenzung derjenigen Fälle, deren Zugehörigkeit zur Klasse der einzuordnenden Fälle bereits feststeht. 33 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 194 ff. Nach Arthur Kaufmann, "Analogie und Natur der Sache", 1965, S. 4, sind lediglich Zahlen univok; so auch Kruse, Steuerrecht I, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1973, S. 87 ff. Nach Strombach, Die Gesetze unseres Denkens - Eine Einführung in die Logik, 1971, S. 14, sind dagegen auch Wörter wie Dackel, Waschmaschine etc. univok, d. h. "mit völliger Eindeutigkeit auf einen bestimmten Begriff bezogen". Vgl. auch Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 22 ff.; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1974, § 31 I c, S.188: "Unbestimmtheit der Begriffe ist etwas anderes als sprachliche Mehrdeutigkeit der Worte." 34 Steuerrecht I, S. 87 ff. 35 Hierauf wird noch genauer im 111. Teil eingegangen. 36 Engisch, Einführung, S. 56; s. auch Otto Kruse, Die begriffliche Erfassung der Individualität im Recht, Dissertation Hamburg, 1964, S. 36; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 30.
22
II. 1. Kap.: Beschreibung und Wesen unbestimmter Rechtsbegriffe
dann nicht mehr ohne weiteres möglich, wenn dieser Begriff bezüglich der ihm unterzuordnenden Sachverhalte offen gehalten worden ist. Zur Bestimmung müssen im Einzelfall eigene Wertungen37 des Rechtsanwenders in die Entscheidung mit einfließen. Die Intensität solcher Wertungen ist im Ansatzpunkt durch die Methodik der Gesetzgebung selbst bestimmt. Sie hängt davon ab, wie sich die Ausdrucksweise des Gesetzgebers weg von den eindeutigen (oder auch mehrdeutigen, aber noch mit Grenzen des Inhaltes umgebenen) Begriffen zu den unbestimmten mit unscharfen, schwankenden Inhaltskonturen versehenen Formulierungen verschiebt. Heck38 unterschied hier zwischen Begriffshof und Begriffskern. Folgt man der bildhaften Unterscheidung Hecks, so beginnt der "diffuse" Begriffshof dort, wo eine zweifelsfreie Zuordnung nicht mehr möglich ist39, also die Auffüllung des Begriffes durch das ergänzende Werturteil stattfindet. Bei allen Begriffen mit großem Begriffshof- und das sind nach Engisch40 die eigentlichen normativen41 Begriffe - intensiviert sich die Wertung42 des Rechtsanwenders, die notwendig ist, um den konkreten Fall unter diejenigen Fälle, die die ins Auge gefaßte Regel zu ordnen vermag, einstufen zu können.
37 Das darf nicht mit "persönlichen" Wertungen gleichgesetzt werden (siehe Larenz, Methodenlehre, S. 228; vgl. dazu aber auch Engisch, Einführung, S. 127, "persönlich" bei Ermessensbegriffen und vgl. dazu wiederum Soell, Kap. 5, S.141), sondern bedeutet sowohl das "Aufsuchen der tragenden Rechtsprinzipien selbst, das Ausmessen ihrer Tragweite, die Erkenntnis ihres Zusammenspiels, ihrer Bedeutung für das Verständnis einer Regelung, deren Begrenzung oder Ergänzung, als auch das Herausarbeiten von Falltypen und der für jeden dieser Typen zutreffenden Wertungsgesichtspunkte"; Larenz, Methodenlehre, S. 207. Ders. auf S. 278/279, "Begründung eines ,Werturteils' bedeutet durch eindeutig zu machende Erwägungen die Entscheidung aus dem geltenden Recht zu rechtfertigen". 38 Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP, Bd. 112 (1914), S. 173. 39 Vgl. dazu auch: Müller-Tochtermann, Der unbestimmte Rechtsbegrifflogisch unhaltbar oder sinnvoll?, NJW 1962, S.1238; Bachof, Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes, JurZ 1966, S. 441; Larenz, Methodenlehre, 2. Aufl. 1969, S. 242 - allerdings nicht mehr in der 3. Aufl. 1975; siehe aber auch NJW 1959, S. 711 - Glosse ("Begriffshinterhöfe"); Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 ff. (172/176). Es ist heute unbestritten, daß eine klare Grenzlinie weder zwischen Kern- und Hofbereich, noch zwischen Hof und freiem Rechtsraume gezogen werden kann; vgl. stellvertretend Engisch, Einführung, S. 108/109. 4D Einführung, S. 109/110. • 1 Normativ im engeren Sinne, da im weiteren Sinne alle Rechtsbegriffe - also auch die deskriptiven - auf spezifischrechtliche Wertgedanken bezogen werden könnten, vgl. Engisch, Einführung, S. 110. 42 Zu dem selbst"schillernden" Begriff der Wertung vgl. ausführlich mit Literaturhinweisen Larenz, Methodenlehre, S. 175 ff., 275 ff.; Engisch, Einführung, Anm. 122 b mit weiteren Literaturhinweisen.
III. Die Einteilung unbestimmter Rechtsbegriffe
23
111. Die Einteilung unbestimmter Rechtsbegriffe Die unbestimmten Rechtsbegriffe kann man in deskriptive, normative und wertausfüllungsbedürftige Begriffe einteilen. Die "deskriptiven" - also beschreibenden Begriffe dienen nur der Tatsachenfeststellung. Nach Engisch 43 handelt es sich um die in das Recht übernommenen, "natürlichen" Begriffe wie Dunkelheit, Nachtruhe, rot etc. Sie wenden sich in der Tendenz an das "kognitive Denken", um auf diese Weise "die Bestimmtheit des Gesetzes und die Berechenbarkeit der Gesetzesanwendung sicherzustellen" 44 • Bei den normativen45 handelt es sich um Begriffe, die als bereits wertgefüllt46 oder normhaltig47 bezeichnet werden. SoeW8 nennt sie daher juristische Verweisungsbegriffe, die nur im Zusammenhang mit der Welt der Normen verständlich sind. Sie sind aus Gründen technischer Vereinfachung in die Tatbestände aufgenommen worden und verweisen auf Wertmaßstäbe, die in anderen Teilen der Rechtsordnung schon fest vorgeformt sind. Darin liegt auch insoweit eine Begrenzung der Begriffe, als der Gesetzgeber erkennen läßt, daß "bei der Rechtsfindung eine inhaltliche Ergänzung über die rezipierten Maßstäbe hinaus nicht beabsichtigt ist" 49. Die Anwendung deskriptiver und normativer Begriffe erfolgt stets mit generalisierender Tendenz50. Als dritte Gruppe sind bei den unbestimmten Rechtsbegriffen jene zu beachten, die in der Literatur als "wertausfüllungsbedürftige"61 Begriffe bezeichnet werden, deren "normatives Volumen von Fall zu Fall einer Auffüllung bedarf", eines "ergänzenden Werturteiles", weil sie lediglich als gesetzgeberische "Rohprodukte" anzusehen sind, deren Endprodukt der Rechtsanwender herauszuarbeiten hat" 52 • Soell53 hebt die Besonder43 Engisch, Einführung, S. 108, "wirkliche oder wirklichkeitsartige, grundsätzlich wahrnehmbare oder sonstwie erfaßbare Objekte beschreibend". 44 Soell, Ermessen, S. 166. Soell führt als Beispiele aus dem Kartellrecht Erzeugung (§ 1), Preise und Bestandteile (§ 2), Lieferung von Waren (§ 3) etc. (vgl. S. 167) an. 4 das ausdrückt, in ihnen die "Delegation der
Regelungsaufgabe an den Rechtsanwender" 55 zum Zwecke der "Normergänzung56 "unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles" 57 übertragen wurde. Beispiele sind hier die großen Generalklauseln wie § 242 oder § 138 BGB.
IV. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln In Literatur und Rechtsprechung werden unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln häufig in einem Atemzuge genannt58 oder auch synonym verwendet59, so daß der Eindruck entsteht, daß es sich nur um andere Bezeichnungen für jedesmal den gleichen Tatbestand handelt. Demgegenüber spricht sich WernerM gegen eine Gleichsetzung aus, denn es bestehe doch ein "Unterschied, ob der Gesetzgeber Begriffe wie Bedürfnis, Eignung, Zuverlässigkeit usw.", verwende, "oder ob er auf das allgemeine Wohl, die guten Sitten, Treu und Glauben usw." verweise, denn in der ersten Gruppe stünden mehr rechtstechnische Erwägungen und in der zweiten Gruppe mehr rechtsethische Vorstellungen im Vordergrunde. Außerdem dürfte "ein anderer Unterschied darin liegen, daß die Generalklausel in aller Regel den Gesetzestatbestand erschöpft, während der unbestimmte Rechtsbegriff ein Tatbestandselement innerhalb einer Gesetzesnorm"~ 1 sei. Allerdings räumt Werner Ermessen, S. 173/174. Recht und Individualität, 1958. ss Ders., S. 29. 58 Ders., S. 32. 57 Ders., S. 41. 58 Vgl. z. B. Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbbd., §50, II, I; BVerfG-Beschl. v. 10.10. 1961 - 2 BvL 1/59, S. 161: "Die Grundsätze des Rechtsstaates verwehren es dem Gesetzgeber nicht schlechthin, Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden." 59 z. B. Hartz, Überlegungen zur Rechtsprechungspraxis, S. 23; ders., "Gesetzliche Generalklauseln und Richterrecht im Steuerrecht", Sp. 246 ff. ("Unterscheidung nicht erforderlich"); H. J. Wolff/Baclwf, Verwaltungsrecht § 31 I c (S. 188): "Die sogenannten Generalklauseln sind meistens in unbestimmten Gesetzesbegriffen ausgedrückt." Kühn/Kutter/Hofmann, AO, § 2 StAnpG, Anm. 1 "unbestimmte Rechtsbegriffe, auch Generalklauseln genannt"; Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, Frankfurt/Main, 1971, S. 69, der überhaupt nur von "Generalklauseln" spricht; Kuno Barth, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, betriebswirtschaftlich, handelsrechtlieh und steuerlich - Ein geschichtlicher Aufriß, ZfbF 1963, S. 383 ff. (393); vgl. auch Merk, Deutsches Verwaltungsrecht, 1962, Bd. I, § 16, 5. 60 Zum Verhältnis von gesetzlichen Generalklauseln und Richterrecht, sa
64
s. 6, 61
7. Ders.; zustimmend für die von Werner angeführten Beispiele auch Hartz,
IV. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln
25
ein, daß sich beide Begriffe überschneiden und auch der "Ausfüllung im konkreten Fall" bedürfene2 • Die Überlegung von Werner ist richtig: Jeder unbestimmte Rechtsbegriff aller drei oben unterschiedenen Kategorien bedarf der Ausfüllung im konkreten Fall. Andererseits steht aber diese Aussage den von Werner anvisierten Unterschieden auch nicht entgegen, wenn man die Generalklauseln mit der Kategorie der "wertausfüllungsbedürftigen" Rechtsbegriffe gleichsetzt. Denn die Art, wie die Ausfüllung erfolgt, ist entscheidend.
Soell hat klar herausgestellt, daß bei deskriptiven und normgefüllten unbestimmten Rechtsbegriffen die Konkretisierung in abstrakt-generalisierender Weise (also auch für andere zukünftige merkmalsgleiche Fälle geeignet) erfolgt63• Dagegen dient die erforderliche Wertung des Rechtsanwenderse.~ bei wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen und Generalklauseln beide Male der Fallindividualität85 (also einmalige, nur auf diesen Fall bezogene Entscheidung) und ist volitiver Denkakt88 • Damit besteht in der Tat kein Unterschied zwischen den wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen und Generalklauseln87 • Letztere sind nur eine besondere Gruppe der wertausfüllungsbedürftigen Begriffe mit gesteigerter Unbestimmtheit88• Man sollte aber unterscheiden zwischen Generalklauseln einerseits und deskriptiven und normgefüllten unbestimmten Begriffen andererseits. Hier lassen sich nicht nur der Unterschied "Individualisieren "Gesetzliche Generalklauseln und Richterrecht im Steuerrecht, Sp. 246, darüber hinaus aber die allgemein brauchbare Abgrenzung bezweifelnd, Sp. 246. Außerdem hält Hartz eine Unterscheidung vom methodologischen Standpunkt aus für nicht erforderlich, Sp. 247/248. Der Unterscheidung Wemers ebenfalls zustimmend, Rost, Begriffskonkretisierung und Sozialstaatlichkeit, Dissertation, Mainz 1974, S. 36/37. Konsequenzen hieraus zieht Rost jedenfalls nicht. Er hält im Gegenteil durchweg die Methode der "Auslegung" für zutreffend, vgl. S. 40/41. 6: Zum Verhältnis, S. 6. 03 Ermessen, S. 65 ff. (167, 169, 179). 84 Die Verwendung dieses Begriffes bedeutet keine Übereinstimmung mit der von Flume (StbJb. 1964/65, S. 55 ff. und 46; DJT, S. 25) vertretenen Auffassung: "Der Richter findet das Recht, er hat es nicht zu erfinden", zumindest nicht im Bereich der Ausfüllung von Lücken, zu der der Richter durch den Gesetzgeber aufgerufen ist (Art. 20 III GG). 85 Zu den Grenzen, in denen überhaupt die Berücksichtigung des besonderen Falles möglich ist, vgl. 0 . Kruse, Erfassung der Individualität im Recht, S. 34 ff.; Engisch, Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, S. 194. 88 Soell, Ermessen, S. 170, Fn. 2 mit Hinweisen auf Hedemann, Sauer, H. J. Wolf!, Forsthoff, Henke u. a. 67 Vgl. auch Engisch, Einführung, S.122 : "vom methodologischen Standpunkt aus keine eigentümliche Struktur"; ebenso Soell, Ermessen, S. 170. 6s Soell, Ermessen, S. 148.
26
II. 1. Kap.: Beschreibung und Wesen unbestimmter Rechtsbegriffe
Generalisieren", sondern auch die Wernersche Unterscheidung: mehr rechtsethische bzw. mehr rechtstechnische Vorstellungen des Gesetzgebers aufrechterhalten69• Darüber hinaus besteht hier auch die Möglichkeit, in der Methode der Ausfüllung zu unterscheiden: Rechtsfortbildung -oder Auslegung70• In dieser Arbeit wird die Bezeichnung "unbestimmter Rechtsbegriff" als Oberbegriff verwendet, da sich diese Wortwahl allgemein eingebürgert hat71 •
V. Zusammenfassung des 1. Kapitels 1. Grundsätzlich regeln die Normen unserer Rechtsordnung durch abstrakte Tatbestandsmerkmale eine Vielzahl zukünftiger Fälle in generalisierender Weise.
2. Hierbei kann gegenüber dem Ziel der Ordnung und Rationalität sowie Rechtssicherheit das Ziel der Einzelfallgerechtigkeit verdrängt werden. 3. Diesen Zielkonflikt versucht der Gesetzgeber durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe zu vermeiden. 4. Unbestimmte Rechtsbegriffe können danach unterteilt werden, ob sie mehr rechtstechnische oder gerechtigkeitsbezogene - ethische Gesichtspunkte im Blickfeld haben. 5. Die von Soell vorgeschlagene Einteilung in deskriptive, normgefüllte und wertausfüllungsbedürftige (intra-legem-Lücken) unbestimmte Rechtsbegriffe wird auch dieser Arbeit zugrunde gelegt.
09 Vgl. auch eine ähnliche "Unterscheidung der Rechtsbegriffe" bei Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 67: "Die Rechtsprinzipien, die Rechtssätze
und ihre Begriffe sind also auf die Gerechtigkeit hingeordnet. Selbstverständlich gilt das nicht für ausnahmslos alle Rechtsnormen, sondern nur für solche, die in der Absicht erlassen sind, ein Gerechtigkeitsproblem gerecht zu lösen. Es gilt z. B. nicht für Vorschriften, hinter denen überhaupt keine Frage materieller Gerechtigkeit steht, sondern etwa ausschließlich die Absicht, eine praktikable Ordnung irgendwelcher Lebensvorgänge zu schaffen." Diese Unterscheidung paßt ebenso gut für die Kategorie der "unbestimmten Rechtsbegriffe". 70 Dieses wird im III. Teil der Arbeit ausgeführt. 71 Vgl. H. J. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 31 I c (S. 189), zur besseren Wortwahl: "Gesetzesbegriffe".
2. Kapitel
Die Besonderheiten des Steuerrechts und unbestimmte Rechtsbegriffe I. Die im Steuerrecht "traditionelle" Gesetzgebungstechnik Es wurde bereits ausgeführt\ daß im Steuerrecht das Streben nach Normativität und damit Rechtssicherheit in einer besonders auffälligen Spannungslage zum Gerechtigkeitspostulat unserer Verfassung steht. Der Vertrauenstatbestand des Bürgers2, geschaffen durch die grundsätzlich jedem Rechtsstaat eigene Vermutung, daß das materielle Recht auch durch die Anwendung des formellen Rechtes realisiert werde, findet hier eine erhebliche Verschärfung. Die Ursachen liegen in den dem Steuerrecht immanenten Besonderheiten: Die sich rasch wandelnden Gegebenheiten wirtschaftlicher Entwicklung' und technischen Fortschrittes relativieren das in der Gegenwart (und in diesem Wissensstand) aber auf Dauer formulierte und angelegte Recht4 • Dieses ist auf "zahlenmäßige Berechenbarkeit" 5 ausgerichtet und bereitet in der Zuordnung auf wirtschaftlich differenzierte Abläufe oft erhebliche Schwierigkeiten6 • I. Teil, 1. Kap., I. Vgl. auch v. Mangoldt!Klein, Art. 20 GG. Anm. VI/2; Maunz/Dürig, Rdnr. 60 zu Art. 20 GG. 3 Wandlungen, sowohl in der betrieblichen Struktur (Produktion, Finanzierung etc.), als auch in der Betriebswirtschaftslehre (Bewertung von Unternehmen oder des "Goodwill") und der betrieblichen Praxis (kaufmännische Buchführung, Rechnungswesen, EDV etc.). Außerdem ergeben sich ständig veränderte Bedingungen auf den Märkten (vgl. die rasche Entwicklung des Leasing-Verfahrens). Zu diesem Fragenkreis s. Hartz, Entwicklungen im Bilanzsteuerrecht, besonders zu Fragen der Ordnungsmäßigkeit der Buchführung", StKRep. 1968, S. 56 ff. mit weiteren Hinweisen, z. B. auch Hinweis auf "modische" Tendenzen, wie die Vorliebe für die GmbH und Co.-KG oder die Betriebsspaltung zwischen einer Betriebs-Kapitalgesellschaft und einer Besitz-Personengesellschaft. 4 Kirchhof, Das Hervorbringen von Normen und sonstigem Recht durch die Finanzbehörden, StuW 4 (1975), S. 362. 5 Ebd. 6 Schon die ganz einfachen Fragen um Werbungskosten- und Sonderausgabenpauschalen zeigen, daß die Typisierungen um der leichten rechnerischen Erfassungwillen eine Vielzahl von Ungereimtheiten hervorrufen ; vgl. Teil I., l.Kap., I. 1
2
28
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
Rechtssprache und Kompliziertheit des wenig systematisierten, in Tausenden7 von Vorschriften zerstreuten Steuerrechtes8 überlagern oft die Dispositionsfreiheit und Privatsphäre des Bürgers. Die Belastungen durch das mit Vollstreckungs- und Strafnormen bewehrten stärksten und den Bürger auch am häufigsten treffenden Eingriffsrechtes können enteignungsgleichen Charakter annehmen9 • Die Eigenschaft der Steuerbelastungen als Kostenfaktoren10, häufig aber auch als wirtschaftslenkende Maßnalunen, bestimmen den Ablauf des Wirtschaftslebens w eitgehend11 • Darüber hinaus führen die auf Bewahrung der Gleichheit in der Besteuerung (abzüglich des durch Fiskaltreue begründeten Defizits an Gerechtigkeit12) abzielenden Bemühungen von Steuerverwaltung und Steuergerichten, steuerplanende Gegenwehr13 der Steuerpflichtigen im 7 "Das Nebeneinander, Gegeneinander, Miteinander von etwa 50 verschiedenen Steuern, geregelt in mehr als 90 Gesetzen und über 100 Rechtsverordnungen." Vgl. Tipke, Steuerrecht, Ein systematischer Grundriß, 2. Aufl. 1974, S. 10/11 und 4. Aufl., Köln 1977, S. 12 ff. (18). 8 Zu den einzelnen Disziplinen und Interdependenzen des Steuerrechts bezüglich der Gesamtrechtsordnung vgl. Tipke, Steuerrecht, Grundriß, S. 4 ff. (Der Standort des Steuerrechts), 4. Aufl., S. 7 ff. Ders., Steuerrechtswissenschaft und Steuersystem, in: Verfassung, Verwaltung, Finanzen, Festschrift für Gerhard Wacke, S. 211 ff.; ders., Das Steuerrecht in der Rechtsprechung, JZ 1975, S. 558 ff.; siehe auch zu dem Problem Hartz, Möglichkeiten und Grenzen der Vereinfachung des Steuerrechts - Überlegungen zur Denkschrift einer Sachverständigenkommission, StKRep. 1964, S. 98 ff. 9 Zu dieser in Literatur und Rechtsprechung sehr kontroversen Frage sei exemplarisch insbesondere verwiesen auf die Untersuchung von Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, insbesondere § 8 "Steuern und Eigentumsgarantie" (S. 295 ff.); vgl. auch Hess, Analogieverbot und Steuerrecht, Dissertation, Köln, 1974, § 10 (S. 125 ff.) ; Klein, Eigentumsgarantie und Besteuerung, StuW 1966, Sp. 436 ff.; sowie Kruse, Gesetzmäßige Verwaltung, tatbestandsmäßige Besteuerung, in: Vom Rechtsschutz im Steuerrecht, 1960, S. 93 ff. 10 Siehe die hier relevanten Fragestellungen der "Betrieblichen Steuerlehre" als eine spezielle Form der Unternehmenspolitik. Sie untersucht auf mikroökonomischen Bereich die Einflußfaktoren, die von der Besteuerung auf den Betriebsablauf insgesamt (Gründung, Investition, Finanzierung, Produktion, Standort, Absatz, Wettbewerb, Rechtsform, wirtschaftliche und rechtliche Verflechtung, Betriebsbeendigung etc.) ausgehen. Vgl. dazu Wöhe, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Berlin, Frankfurt, Bd. I, 5. Aufl. 1978, Bd. II (Halbbände 1 und 2), Aufl. 1978. 11 Hier umfassend und stellvertretend für alle Selmer, Steuerinterventionismus. 12 Vgl. hierzu Tipke, "In dubio pro flsco?", StKRep. 1967, S. 39 ff., insbesondere aber auch die Literatur zu nachfolgenden Problemkreisen. 13 Beachte hier z. B. die interessanten Beispiele der "Steuerverlagerung durch Konzern-Leasing", dargestellt von Meilicke, Jüngste Wechselwirkungen zwischen Steuerrecht und Privatrecht, StbJb. 1965/66, S. 141 ff. (162 f.). s. auch Hartz, Die kollidierenden Interessen des Steuerfiskus ..., StbJb. 1955/56, s. 83 f .
I. Die im Steuerrecht "traditionelle" Gesetzgebungstechnik
29
Grenzbereich der Legalität zu unterbinden1\ infolge erstarrender Leitlinien zu erneutem Vertrauensschwund. Um dieser Situation Rechnung zu tragen, neigt der Gesetzgeber dazu (in zunehmendem Maße), in Steuergesetzen unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden, um eine "sachgerechte Differenzierung des Einzelfalles zu ermöglichen" 15 und damit der "Steuergleichheit und Steuergerechtigkeit"16 zu nützen. Nach Hartz handelt es sich hierbei um eine "traditionelle Technik der Steuergesetzgebung'm. So findet sich zum BeispieP8 die Formulierung "Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung" 19 in einigen steuerlichen Vorschriften20• Ebenso sind die gesetzlichen Umschreibungen für "Werbungskosten"21 und "außergewöhnliche Belastungen" 22 betont merkmals14 Als hier jahrzehntelang "umkämpfte" Bereiche wären zu nennen: Wahl der Rechtsform des Unternehmens (vgl. Hartz, Wandlungen im Steuerrecht und im Steuerprozeß unter dem Einfluß des Grundgesetzes, in: Juristenjahrbuch, 1962/63, S. 100 ff.); Vereinbarungen zwischen nahen Angehörigen oder zwischen einer Gesellschaft und ihren Gesellschaftern; Arbeitsverhältnisse zwischen Ehegatten (Mitarbeit im Betrieb des anderen Ehegatten); Pensionsrückstellungen zu Lasten des Gewinns zugunsten des mitarbeitenden Ehegatten etc. (vgl. Hartz, Entwicklungen, S. 59), sowie der immer noch währende Streit um die Anerkennung von Familienpersonengesellschaften (Eltern/Kinder) bzw. die Anerkennung der hier im Gesellschaftsvertrag enthaltenen Gewinnverteilungsabreden (vgl. dazu die Literatur bei Enge~, Die einkommenssteuerliche Behandlung der Familienpersonengesellschaften, Regensburger unveröffentlichte Dissertation, 1977); beachte auch "Die einkommenssteuerliehen Probleme bei der Erbauseinandersetzung" (Literatur bei Schwarzmeier, Regensburger Dissertation, 1974). 15 Soell, Ermessen, S. 110. 16 BVerfG-Beschluß 2 BvL 1/59 v. 10. 10. 1961, S. 162. 17 Gesetzliche Generalklauseln ..., Sp. 256; ders., Überlegungen zur Rechtsprechungspraxis, S. 23. 18 Eine mehr als exemplarische Verweisung würde den Rahmen sprengen. 19 Zu den G.o.B. vgl. Hartz, Gesetzliche Generalklauseln ..., Sp. 257; ders., Entwicklungen im Bilanzsteuerrecht, StKRep. 68, S. 56 f. (88); KLein, Das Aktiengesetz und die G.o.B., in: BB 1957, S. 89 ff.; Leffson, Die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, 3. Aufl. 1972, S. 2; Kruse, Grundsätze ornungsgemäßer Buchführung, Rechtsnatur und Bestimmung, Köln 1970; Spannhorst, Die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, Dissertation, Osnabrück 1974, S. 24 ff.; vgl. auch BVerfG-Beschluß v. 10. 10. 1961, S.161. 20 z. B. §§ 4 II, 5 I, 6 I Ziff. 2 EStG. 21 § 9 Abs. 1 EStG " ... sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen", Ziff. 4 Aufwendungen ... "für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte", vgl. hierzu Literatur und Rechtsprechungshinweise im II. Teil, 1. Kap., I. ("Typisierung"). 22 § 33 Abs. 1 EStG: "Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsLäufig größere Ausgaben, als der überwiegenden Mehrzahl . . . der Steuerpflichtigen ... ", Abs. 2: "Aufwendungen erwachsen dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann ..."; vgl auch dazu II. Teil, 1. Kap., I.; siehe auch Hartz, Überlegungen zur Rechtsprechungspraxis, BVerfG-Beschluß 2 BvL v. 10. 10.1961.
30
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
arme Formulierungen. Auf die Probleme bei § 131 I, 1 AO a. F. und dessen unbestimmtem Begriff "unbillig" wird noch genauer eingegangen23 • Der Wortlaut des § 3 Abs. 1 KVStG " ... eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt . . . " war bereits Gegenstand verfassungsgerichtlicher Nachprüfung24, und so ist auch die gesetzliche Wortwahl "Wirtschaftsgut" für einen Kreis steuerbilanzrelevanter wirtschaftlicher Ereignisse im Geschäftsjahr in zahlreichen Bestimmungen des EStG25 ein unbestimmter Rechtsbegriff26 •
II. Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit im Steuerrecht im Verhältnis zum unbestimmten Rechtsbegriff 1. Die Definition der Tatbestandsmäßigkeit
Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit im Steuerrecht besagt27 zunächst einmal, daß Steuern nur erhoben werden dürfen, wenn der Tatbestand erfüllt ist, an den das Gesetz die Steuerpflicht knüpft, oder wie Bühler8 das ausdrückte, daß "die die Steuerpflicht bedingenden Merkmale möglichst genau in einer gesetzlichen Formulierung festzulegen sind, die wir den gesetzlichen Tatbestand nennen". Darüber hinaus wird teilweise im Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit das Gebot gesehen, steuerliche Eingriffe nur aufgrund von Gesetzen im formellen Sinne als zulässig anzusehen29 • Unter diesem Blickwinkel stellt sich die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung als eine besondere Ausprägung3° des allgemeinen Gesetzmäßigkeitsprinzips31 dar. Vgl. III. Teil, 2. Kap., II. Beschluß 2 BvL 1/59 v. 10. 10. 1961. !s z. B. §§ 4 I, III; 5 II; 6 I, 1, 2, 75 II; 6 b I-V; 6 c; 7 1-III; 7 a I-IX; 7 d I-IV, VI-VIII; 10 b; 15 I, 2; 16 III, 51, 52 EStG. 26 Andere unbestimmte Rechtsbegriffe im Einkommensteuerrecht sind z. B. ,.Betriebsvermögen", "Wirtschaftsjahr", "Einlagen" und "Entnahmen", "Bilanz", .,Anschaffungskosten", .,Absetznngen für Abnutzung", .,Herstellungskosten", .,Geschäftswert", .,Firmenwert"; vgl. dazu ausführlicher Hartz, Gesetzliche Generalklauseln, Sp. 257. 27 Zu den bezüglich der Tatbestandsmäßigkeit schon vertretenen unterschiedlichen Auffassungen vgl. Kruse, Gesetzmäßige Verwaltnng, tatbestandsmäßige Besteuernng, in: Vom Rechtsschutz im Steuerrecht, Hrsg. Felix, 1960, S. 93 ff. (97-100), mit Hinweisen auf Bühler, Darmstädter, Köttgen, Nawiasky, zs
:u
Wittmayer.
Steuerrecht I, Allgemeines Steuerrecht, 2. Aufl. 1953, S. 132. Vgl. Kruse, Steuerrecht I, Allgemeiner Teil, § 5, II, 2, b, ß: "In dieser speziellen Ausformung geht es zurück auf Otto Mayer, von dessen Darstellung der Steuerauflage die Legaldefinition des Steuerbegriffs durch § 1 AO ausgeht." 30 Vgl. Kruse, Steuerrecht; von Becker!Riewald/Koch, Reichsabgabenord28
2u
II. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
31
2. Die rechtliche Verankerung
a) In der Weimarer Reichsverfassung Art. 134 WRV32 lautete: "Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei." Damit war zunächst einmal- und zwar unstreitig- der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung für das Gebiet des Steuerrechtes verfassungsrechtlich abgesichert'l3. Dieser Grundsatz gehörte schon damals zu den "obersten Prinzipien" 34 des Verwaltungsrechts. Seine Ursprünge liegen im Steuerbewilligungsrecht der Stände, und er entwickelte sich im 19./20. Jahrhundert zum verwaltungsrechtlichen Allgemeingut35, mit dem Inhalt, daß alles Verwaltungshandeln einer gesetznung, Kommentar, Bd. 1, 9. Aufl. 1963, § 2 Anm. 1, b (g), wird die Aussage, daß die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung im Verhältnis der Spezialität zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit stehe, abgelehnt; vgl. auch Ausführungen zu § 3. 31 Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Komponente Gesetzmäßigkeit; vgl. BVerfG Urt. 1 BvR 571/60 v. 14. 12.1965, BVerfGE 19, S. 253 ff. (267). über die einzelnen Elemente des Rechtsstaatsprinzips vgl. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 21. Aufi. 1977, § 10, I, II; vgl. auch Maunz!Düri g, in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Rdnrn. 58 ff. zu Art. 20, sowie zur Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 20 GG die Wiedergabe bei Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Rdnrn. 21 ff., vgl. auch Spanner, HwStR, 1972, Stichwort: Rechtsstaat. 32 WRV vom 11. 8. 1919, RGBl. 1919, Nr. 152, S. 1383 ff. 33 Die Frage, ob aus den Grundsätzen der WRV, insbesondere aus Art. 134 i. V. m. Art. 109 ("Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich") auch "materiellrechtliche Bindungen für den Steuergesetzgeber" hervorgingen, untersuchte Hensel, Steuerrecht, Berlin 1927, S. 33 ff. Siehe auch dens., Verfassungsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers, VJSchrStFR 4 (1930), S. 441 ff.; vgl. dazu auch Paulick, Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung- sein Inhalt und seine Grenzen-, in: Probleme des Finanz- und Steuerrechts, Festschrift für Ottmar Bühler, 1954, S. 121 ff. (141, 142, 151). Zu den rechtstheoretischen Versuchen, aus Art. 134 WRV verbindliche Grundprinzipien abzuleiten, siehe auch die zusammenfassende Darstellung bei Fr. Klein, Gleichheitssatz und Steuerrecht, 1966, S. 44, sowie die Ausführung,en dieser Arbeit zu li. Teil, 2. Kap., II., 2., b), cc). 34 Zum Begriff vgl. Wolf!, Rechtsgrundsätze und verfassungsgestaltende Grundentscheidung als Rechtsquellen, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 35 ff. 35 Vgl. insbesondere Bühler, Allgemeines Steuerrecht, Berlin 1927, S. 64. Ihm folgend Wacke, Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit, StuW 1947, Sp. 21 ff. (23 f.); Drews, Die steuerrechtliche Herkunft des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung, Dissertation Kiel 1958; Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl. 1968, S. 105, Fn. 17, "Grundlage der Gesetzgebungsgewalt". Allerdings betont Selmer, Der Vorbehalt des Gesetzes, JuS 1968, S. 489 ff. (490), daß es auch eigenständige Entstehungskomponenten des allgemeinen Gesetzesvorbehaltes gegenüber dem Steuerbewilligungsrecht der Stände gab, das zudem während der absolutistischen Ära bedeutungslos geworden war (vgl. auch Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 41) und sich
32
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
liehen Grundlage bedurfte. Allerdings konnte schon damals jede Rechtsnorm (z. B. auch Gewohnheitsrecht) gesetzliche Grundlage sein. Da für das Steuerrecht § 2 A0 36 ausdrücklich bestimmte: ,.Gesetz im Sinne der AO ist jede Rechtsnorm", erscheint es fraglich, ob die zweite Komponente der Tatbestandsmäßigkeit - Besteuerungsgrundlage kann nur ein formelles Gesetz sein aus Art. 134 WRV herauszulesen war. So ist jüngst von Hess37 mit Hinweis auf Enno Becker angezweifelt worden, daß Art. 134 WRV auch die,. Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung" verfassungsrechtlich abgesichert habe. Enno Becker habe nämlich zu § 2 ROA ausgeführt: "Steuern (§ 1 Abs. 1 RAO) brauchen nicht durch formelles Gesetz, sondern können aufgrund gesetzlicher Ermächtigung durch Verordnung auferlegt werden38." Hess übersieht dabei aber die Formulierung "aufgrund gesetzlicher Ermächtigung". So widerspricht es heutigem Verständnis vom Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in seiner "formellen" Komponente nicht, wenn Rechtsverordnungen im Rahmen des Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG Steuergesetze konkretisieren39• Dagegen können sie nicht originäre steuerliche Verpflichtungen begründen40•
Diese Auffassung herrschte auch im Geltungsbereich der Weimarer Reichsverfassung. So führt Hensel in der ersten Auflage seines Lehrbuches aus, ,.neben diesen Grundsatz des Rechtsstaates .. .41 tritt die Forderung des Konstitutionalismus: der Steuertatbestand mit seinen Folgen und Nebenfolgen darf nur durch Gesetz, nicht aber durch Verordnung der Verwaltungsbehörde geregelt werden42."
deshalb schon nicht aus sich heraus zu einem gewachsenen allgemeinen Gesetzesvorbehalt entwickeln konnte: vgl. auch Ausführungen zu Il. Teil, 2. Kap., li., 2., b), cc). 36 In der AO 1977 § 4: ,.Gesetz ist jede Rechtsnorm." 37 Analogieverbot und Steuerrecht, S. 101 as Kommentar zur RAO 1928, Anm. 1 zu § 2, zitiert nach Hess. 39 Durchführungsverordnungen 40 Gesetzesvertretende Rechtsverordnungen, vgl. auch BVerfG-Beschluß 2 BvL 36/71 v. 23. 2. 1972, BVerfGE 32, S. 346 (gemeindesatzungsrechtliche Strafbestimmung für Steuerhinterziehung) - selbst eine (Steuer)Satzung ist in den Grenzen einer erforderlichen steuergesetzlichen Ermächtigung gebunden. 41 Steuerrecht, 1924, S. 27. 42 Hervorhebung von Hensel.
II. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
33
In der zweiten Auflage43 präzisierte er: "Die traditionelle rechtsstaatliche44 Lehre geht davon aus, daß wenigstens im Regelfalle45 ein steuerlicher Eingriff nur auf Grund von Gesetzen (im formellen Sinn) stattfinden dürfe." Und für das verwaltungsmäßige Tätigwerden forderte er'6 : "Bei der Verkündung der den Charakter von Rechtsverordnungen in Anspruch nehmenden Erlasse muß nach dem allgemeinen rechtsstaatliehen Grundsatz - ,keine Verordnung ohne Ermächtigung' - ersichtlich sein, auf welche Rechtsnormen sich die erlassende Stelle stützen kann." Hieraus ergibt sich auch klar47, daß Hensel gewohnheitsrechtliche Rechtssätze als Grundlage steuerlicher Eingriffe nicht in Betracht zog"8 •
b) Im Bonner Grundgesetz aa) Allgemeines Das Bonner Grundgesetz übernahm die Regelung des Art. 134 WRV nicht, so daß weder Gesetzmäßigkeit noch Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung ausdrücklich verfassungsrechtlich gesichert sind. Vielmehr sind heute die weitergeltenden Vorschriften des§ 3 Abs. 149 und§ 38 AO 1977 50 die einzigen Regelungen, die den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung - inzwischen vom BVerfG51 unter Rückführung auf das Rechtsstaatsprinzip52 bestätigtsa- normieren54 • Steuerrecht, 2. Aufl. 1927, S. 34. Hervorhebung von Henset. 45 Vgl. zum Notverordnungsrecht der WRV gern. Art. 48 II und IV WRV auch im Steuerrecht Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 - Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Aufl. Berlin, unveränderter Nachdruck, Darmstadt 1965, Art. 48 Anm. 14, sowie Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen, S. 445. 46 S. 37; beachtlich ist es auch, mit welcher Klarheit damals schon Hensel heutige Problemstellungen vorwegnahm, wenn er ausführt (S. 57): "Vor allem muß der durch die Ermächtigung verfolgte Zweck eingehalten werden." Vgl. dazu Ausführungen unter 3. dieses Kapitels. 47 Insbesondere wenn man beachtet, daß er an keiner Stelle seiner Ausführungen ihre Existenz als Rechtsgrundlage steuerrechtlicher Eingriffe in Betracht zieht. Vgl. zu dieser Frage die Ausführungen und Anmerkungen unter cc) dieses Abschnittes. 48 Ebenso Anschütz, Art. 134, Anm. 3. 49 Früher § 1 Abs. 1 AO (gleicher Wortlaut). 5° Früher § 3 Abs. 1 StAnpG (gleicher Wortlaut). 51 Urteil1 BvR 571/60 v. 14. 12. 1965; zu den anderen Elementen des Rechtsstaatsprinzips vgl. Maunz, Deutsches Staatsrecht, § 10 I/II: Gewaltenteilung, persönliche Grundrechte, Begriff des formellen Gesetzes, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Rechtssicherheit (Voraussehbarkeit) justizförmiger Rechtsschutz, Grundsatz des "nulla poena sine lege". 52 Die rechtsstaatliche Herleitung des Gesetzesvorbehaltes wurde von Vogel auf der Staatsrechtslehrertagung 1965 im Referat "Gesetzgeber und Verwaltung" (VVDStR Heft 24, S. 123 ff.) - unter dem teilweise lebhaften Wider43
44
3 Häcker
34
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
Andererseits hat der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung seinen Niederschlag in Art. 20 Abs. 3 GG gefunden und bestimmt generell alles verwaltungsmäßige Handeln55 • Darüber hinaus gehört zur grundgesetzliehen Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) auch die ökonomische Entfaltung, also die Handlungsfreiheit zu investieren, konsumieren, sparen etc. Diese kann mittels Besteuerung auch nur aufgrund der (durch die Gesetze verkörperten) verfassungsmäßigen Ordnung eingeschränkt werden (so die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes)56•
spruch seiner Fachkollegen (vgl. Aussprache) - in Frage gestellt, da er nur wiederhole, was sich schon aus den Grundrechten ergäbe (S. 143 ff.); vgl. dazu auch Kirchhof, Das Hervorbringen von Normen und sonstigem Recht durch die Finanzbehörden, in: StuW 1975, Heft 4, S. 357 ff., der grundsätzlich aus Art. 14 GG als der "Magna Charta des Steuerpflichtigen" (S. 361) Gewährleistung materiellen Verfassungsrechtes - insbesondere über den gesetzlichen Vorbehalt aus Art. 14 Abs.1 S. 2 GG ableiten will, darüber hinaus aber "Gesetzesvorbehalt" nur in Form einer gesetzgeberischen "Primärkompetenz zur Verfassungsausformung" dem Grunde nach anerkennt (vgl. S. 360/ 361). s. III. Teil, 2. Kap d. Arb. Vgl. auch dazu SoeH, Ermessen, S. 133 f., m. w. Hinw.; s. auch Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, der zur Vermeidung materiellen Rechtsdefizites für einen zwingenden "Parlamentsvorbehalt" plädiert. 53 So daß nunmehr eigentlich die "jahrzehntelange Geringschätzung des Prinzips der Tatbestandsmäßigkeit" (Hopfenmüller, Zur Mißachtung von Tatbestandsmerkmalen, StbJb. 1961/62, S. 237 ff. (238), beendet sein müßte. 54 Vgl. Denkschrift des Institutes "Finanzen und Steuern" in Bonn über "Grundlagen und Möglichkeiten einer organischen Finanz- und Steuerreform", 1954, S. 71/72. 55 Maunz/Dürig, Anm. 124, 126 f. zu Art. 20 GG; v. Mangoldt/Klein, Anm. IV zu Art. 20 GG. 56 Vgl. u. a . die im Anschluß an das BVerfG-Urt. v. 16. 1. 1957 BvR 253/56, BVerfGE 6, S. 32 f. (36) - "Elfes-Urteil- ergangenen Entscheidungen des BVerfG: Urteil v. 14. 12. 1965- 1 BvR 571/60, S. 257; Urteil v. 14. 12. 1965 - 1 BvR 413/60, 1 BvR 416/60, BVerfGE 19, S. 206 ff. (215/216, 227); Beschluß v. 3. 12. 1958 - 1 BvR 488/57, BVerfGE 9, S. 3 ff. (11); Beschluß v. 8. 1. 1959 1 BvR 425/52, BVerfGE 9, S. 83 ff (88); Urteil v. 16. 1. 1957 - 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, S. 32; vgl. auch Tipke, über die Grenzen der Auslegung und Analogie, behandelt am Beispiel der "Entstrickung", in: StuW 3/ 1972,S. 264 ff., Anm. 8 u. 14, mit Hinweis auf BFH-Urt. II. 120/64 v. 2. 12. 1969, BStB1.1970 II, S. 119/120; s. auch Kruse, Steuerrecht, § 5 II,e, mit dem Bemerken, daß derselbe Gedanke bei 0. Bähr (Der Rechtsstaat, 1864, S. 36) schon zu finden sei, sowie zur Frage der "Sub.sidiarität" von Art. 2 Abs. 1 GG gegenüber nachfolgenden Grundrechten. Zur Nichtanwendbarkeit von Art. 2 Abs. 1 GG bei lediglich falscher Auslegung von Steuergesetzen vgl. Tipke, Steuerrecht, § 3, 4.12 a, mit weiteren Hinweisen. Zu Art. 2 GG s. auch Wacke, Verfassungsrecht und Steuerrecht, StbJb. 1966/67, S. 75 ff. (108), "Verfassungsgrundrecht auf Nichtzahlung von Steuern". "Wer sich weigert, USt. zu zahlen, entfaltet nämlich seine Persönlichkeit nach Art. 2 GG und verstößt dann nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung, wenn der USt.-Bescheid formell . . . nicht in Übereinstimmung mit der Verfassung ergangen sein sollte." (S. 112).
II. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
35
bb) Die rechtsstaatliche Komponente Folgt also der Satz "nullum tributum sine lege" 57 nach geltendem Verfassungsrecht bereits aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 GG58, so ist damit - nach einer Meinungsrichtung in der Literatur59 - jedoch nur die rechtsstaatliche Komponente des steuerlichen Gesetzesvorbehaltes erklärt80 • Diese gibt die Garantie für Rechtssicherheit und Vertrauensschutz des Steuerbürgers61 • Außerdem folgt auch hieraus schon ein prinzipielles Rückwirkungsverbot im Steuerrecht und die Limitierung der Auslegung durch den möglichen Wortsinn82• cc) Die demokratische Wurzel Der zweite Aspekt ist die "demokratische Wurzel" 63• Sie geht zurück auf das Steuerbewilligungsrecht der Stände84 und bedeutet, daß das Volk durch seine Gesetzgebungsorgane selbst bestimmen soll, mit welchen Steuern es sich belasten will. Diese zweite Komponente wird als Ursache dafür angesehen, daß nach überwiegender Auffassung die Grundlage für eine Steuerschuld nur ein formelles Gesetz oder eine autonome Satzung sein können65 und deshalb gewohnheitsrechtliche Normen im Steuerrecht ausgeschlossen sind68 • Nach Tipke, Über die Grenzen der Auslegung und Analogie, S. 265. Beachte aber auch die Herleitung aus Art. 12 und 14 GG; vgl. Kirchhof, Das Hervorbringen von Normen ... ; zu Art.14 GG insbesondere auch Friauf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Wirtschaftslenkung und Sozialgestaltung durch Steuergesetze, 1966, S. 41 ff.; ferner Papier, Die Beeinträchtigung der Eigentums- und Berufsfreiheit durch Steuern vom Einkommen und Vermögen, in: Der Staat 11 (1972), S. 483 ff.; vgl. auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl. 1974, § 12111 b; umfassend Setmer, Steuerinterventionismus. 59 Tipke, Über die Grenzen der Auslegung; Jesch, Gesetz und Verwaltung; Kruse, Steuerrecht I, AT; Drews. 60 Im Abgabenrecht, bei der Erhebung kommunaler Abgaben (Anschluß-, Benutzungs-, Zusatz-, Verwaltungsgebühren, nicht dagegen Beiträge), ergibt sich der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit im Geltungsbereich des pr. KAG (vom 14. 7. 1893 - GS S. 152) aus § 7 S. 1 pr. KAG, in dem es heißt, daß Gebühren .,im voraus nach festen Normen und Sätzen zu bestimmen sind" und außerhalb dieses Geltungsbereiches ebenfalls aus den obengenannten Verfassungsgrundsätzen. 61 Tipke, Über die Grenzen, mit Hinw. auf BVerfG-Urt. 1 BvR 571/60 v. 14. 12. 1965. 62 Vgl. z. B . BFH-Urt. IR 205/66 v . 9. 2. 1972, BStBl. 1972 II, S. 455. 63 Tipke, über die Grenzen. 64 So Tipke im Anschluß an Drews; Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 106 ff.; Kruse, Steuerrecht I, AT; Selmer, Steuerintervenitionismus. 65 Kruse, Gesetzmäßige Verwaltung, S. 109/110, führt außerdem zur Begründung an, daß die .,Tatbestandsmäßigkeit schuldrechtlich ausgestaltet" sei; s. a. Tipke, über die Grenzen, .,obligatio ex lege". In die Darstellung dieses Fragenkreises gehört auch der Hinweis auf die 1958 von Bühler vertretene Auffassung vom Steuerrecht als einer Art Anstaltsrecht, die 57
58
3*
36
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
Jenen geschichtlichen Aspekt der Entwicklung des steuerrechtliehen Gesetzesvorbehaltes hat auch Kruse im Auge, wenn er sagt, daß diese Besonderheit im Steuerrecht auf "Verfassungsgewohnheitsrecht " beruhe67.
die theoretische Ausgangsbasis gewesen wäre, um allen Steuerverordnungen der Steuerverwaltung die Natur von Rechtssätzen zuzumessen. Vgl. BühLer, Grundsätzliche Fragen der Neuordnung der Finanzgerichtsbarkeit v. 7. 3. 1958, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 35/1958. Die gleiche Auffassung hatte BühLer schon auf der Staatsrechtslehrertagung am 29./30. März 1926 in Münster vertreten: 2. Beratungsgegenstand; Der Einfluß des Steuerrechts auf die Begriffsbildung des öffentlichen Rechts, Mitbericht v. BühLer, VVDStRL, Heft 3, S.102 ff. (106/107). Vgl. dazu die gegenteilige Auffassung des Berichterstatters Hensel, VVDStRL, Heft 3, S. 63 ff. (64) sowie die Diskussionsbeiträge von Nawiasky (S.124 ff.) .,reine Geschmacksfrage", Kaufmann (S. 131), der bereits auf die Bedeutung für die .,ungeschriebenen Normen" (!)verweist sowie JeHinek (S.130) .,öffentlichrechtliches Schuldverhältnis". 66 Kruse, Gesetzmäßige Verwaltung, 112; ders., über Gewohnheitsrecht, in: StuW 1959, Sp. 209 ff. (Sp. 226 f.), .,keine Steuer darf aufgrund eines Gewohnheitsrechtes erhoben werden". So auch heute Becker/Riewald/Koch, Reichsabgabenordnung, Kommentar, Bd.1, § 2 Anm.1 a (9), 11 (5); allerding$ nur unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 232/60 v. 24. 1.1962, BVerfGE 13, 318/328 - vgl. weiter unten im Text -, während der Ausgangspunkt Kruses, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung ist eine besondere Ausgestaltung des Gesetzmäßigkeitsprinzips, abgelehnt wird, vgl. § 2 Anm.1 b (5). A. A. Jaenke, Rechtssicherheit im Steuerrecht, in: Vom Rechtsschutz im Steuerrecht, S. 43 f. Er unterteilt die Rechtssicherheit in eine formelle und materielle Komponente, setzt den Akzent auf letztere, als Ausfluß der Gerechtigkeit und überträgt die Folgerung daraus, hier habe .,Gewohnheitsrecht seinen tiefsten Rechtfertigungsgrund" (S. 53/54) ohne nähere Begründung auf das Steuerrecht. Vgl. auch Wacke, Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit, Sp. 26. 67 Kruse, Steuerrecht I, AT, § 5 II, 2 mit Hinweis auf Otto Mayer, Deutsches Verwal tungsrecht, 3. Auft. Berlin 1923, Bd. I, S. 317 und WaLteT J eUinnek, Verwatlungsrecht, 3. Aufl. Berlin 1931 (Neudruck 1948), § 17 IV, 2; Wacke, Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit, Sp. 25, ging allerdings davon aus, daß gerade das .,reichsdeutsche Verwaltungsrecht ... die Forderung nach Gesetzmäßigkeit im materiellen Sinne kennt ..., die eine Rechtsnorm jeglicher Art zu begründen" vermag, also .,auch Gewohnheitsrecht, das Statut, die rechtssetzende Vereinbarung", und daß .,auch für das Finanzrecht die Gesetzmäßigkeit in diesem Sinne gilt" und .,allein im deutschen Steuerrecht dieser Gewohnheitsrechtssatz ausdrückliche Anerkennung gefunden hat". (Hervorhebung vom Verfasser). Im Hinblick auf die in der Literatur vertretenen kontroversen Auffassungen zu diesem Fragenkreis erscheint es m. E. nicht richtig, wie Kruse von "Verfassungsg.ewohnheitsrecht" bezüglich der historischdemokratischen Wurzel der Tatbestandsmäßigkeit im Steuerrecht zu sprechen, denn dieses hätte ein Verhalten- begründet auf einheitlicher Rechtsüberzeugung- vorausgesetzt, "das erst nach einer gewissen Zeitspanne von der faktischen in die normative Regelhaftigkeit umschlägt", vgl. Tomuschat, Verfassung$gewohnheitsrecht?, 1972, S.13, vgl. dens. auch auf S. 10. Bea. aber Fr. Mayer, Allgemeines Verwaltungsrecht, Eine Einführung, 1977, S. 26: "Nicht selten erweist sich eine Regel, die trotz allgemeiner Rechtsüberzeugung als Gewohnheitsrecht nicht mehr nachgewiesen werden kann, kraft ihrer Eigenschaft als allgemeiner Rechtsgrundsatz schließlich als rechtsverbindlich."
II. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
37
Eben dieser Aspekt bleibt von Vogel/Walter68 unbeachtet, die wegen des generellen Erfordernisses formeller Gesetze für hoheitliches Eingreifen in den Grundrechtsbereich und der Begrenzung der Delegation solcher Befugnisse durch Art. 80 GG keine Notwendigkeit mehr sehen, zwischen Gesetzmäßigkeit und Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung zu unterscheiden69 • Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht darauf verwiesen, daß auf der Besonderheit des Steuerrechts im Verhältnis zu anderen Formen hoheitlichen Eingreifens, nämlich dem "Mangel an Sachgesetzlichkeit"70, sowohl das Verbot steuerbelastender Analogie71 als auch die Notwendigkeit der "primären Entscheidung des Gesetzgebers" 72 beruhe. Dieser Satz des Bundesverfassungsgerichtes73 veranlaßt auch Schneider14 zu der Frage: "Sollte hier letzten Endes vielleicht doch nicht das Verfassungsprinzip des Rechtsstaats, sondern die Demokratie15 gemeint sein?" Die Betonung der "demokratischen Wurzel" legt den Gedanken nahe, Tatbestandsmäßigkeit könne im Steuerrecht mehr bedeuten als bloße Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, selbst wenn sie in der Beschränkung auf das "formelle" Gesetz auftritt. Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung, Art. 105, Anm. 133. Allerdings kommt VogeL bei der Frage, welche Auswirkungen der Grundsatz der tatbestandsmäßigen Bestimmtheit (den Vogel aus Art. 80 GG, das BVerfG dagegen unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip herleitet, vgl. Urt. v. 14. 12. 1965 im Hinblick auf Analogie und Gewohnheitsrecht im Steuerrecht habe, zum Ergebnis, daß man allenfalls aber "von einer verschärften Ausprägung des Gesetzmäßigkeitsprinzips im Steuerrecht sprechen" könne. - Nun, nichts anderes meint auch der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit, vgl. obige Ausführungen. Zum Verhältnis von Gesetzmäßigkeit und Tatbestandsmäßigkeit vgl. noch Wa.cke, Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit (Sp. 26 ff.); vgl. auch Bachof, Die Rechtssprechung, des Bundesverwaltungsgerichtes, S. 350 ff., sowie Kruse, Gesetzmäßige Verwaltung, tatbestandsmäßige Besteuerung, S. 93 ff.; vgl. auch Vogel, Gesetzgeber und Verwaltung (Zum Verhältnis von Grundrechten und Vorbehalt des Gesetzes) und obigen Untertitel a) dieser Arbeit. 7° Kruse, Steuerrecht, der sich auf FLume, Festgabe für Smend, Götting,en 1952, S. 59 ff., StbJb. 1967/68, S. 63 ff., bezieht. 71 Der gesamte Fragenkreis ist erst kürzlich Gegenstand der Dissertation "Analogieverbot und Steuerrecht" v. Hess, gewesen. 72 Urt. 1 BvR 232/60 v. 24. 1. 1962, BVerfGE 13, 218 (328) mit Hinweis auf BühLer!Strickrodt, Steuerrecht, 3. Aufl. Wiesbaden 1959, S. 658. 73 Vollständig lautet er: " . . . denn das Steuerrecht wird von der Idee der "primären Entscheidung des Gesetzgebers über die Steuerwürdigkeit bestimmter generell bezeichneter Sachverhalte getragen und lebt dementsprechend aus dem Diktum des Gesetzgebers". 74 Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, Bemerkungen zum Beruf der Rechtsprechung im demokratischen Gemeinwesen, 1969, S. 11 mit Anm.22. 1s Hervorhebung von Schneider. 68
69
38
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
Betrachtet man indessen das Schrifttum zu den "großen" Fragen im Steuerrecht um die Tatbestandsmäßigkeit, wie Analogieverbot, Rückwirkungsverbot, Auslegung (Grenze des möglichen Wortsinnes) und Rechtsfortbildung, so stellt sich heraus, daß die "demokratische Wurzel" der verfassungsmäßigen Tatbestandsmäßigkeit im Steuerrecht hierzu keine nennenswerten Argumente liefert. Diese Tatsache wird verständlich, wenn man bedenkt, daß mit dem Übergang des Steuergesetzgebungsrechtes auf das Parlament selbst die Kontrollfunktion, die im Steuerbewilligungsrecht der Stände (wenigstens im Ansatz) gegenüber dem Monarchen vermutet werden konnte78, erlosch77• Das Parlament hier Nachfolger der Stände - wird in seinen Besteuerungswünschen nur durch das Grundgesetz kontrolliert78• (Formelle) Tatbestandsmäßigkeit ist also (auch heute) nicht mit materieller Richtigkeit gleichzusetzen79 • Daher ist es nicht nur verständlich, sondern scheinbar auch folgerichtig, wenn behauptet wird, der "im wesentlichen formalen Rechtsidee des liberalen Gesetzgebungsstaates" 80, die in der "demokratischen Wurzel" der Tatbestandsmäßigkeit einmal gelegen hatte, könne heute keine weiteren Ausstrahlungen zugesprochen werden81 • 82• Allerdings hat sich gerade in allerjüngster Zeit das Bundesverfassungsgericht zu diesem Fragenkreis geäußert. Es hat für bestimmte Be76 Vgl. Selmer, Steuerinterventionismus, S. 42/43: "Das Fehlen besonderer rechtsstaatlicher Garantien für Inhalt und Grenzen der Steuererhebung rechtfertigte sich aus eben der parlamentarischen Beteiligung von Ständen und Bürgertum an der Abgabenerhebung, die den sichersten Schutz vor unangemessenen Steuerforderungen des Staates zu bieten schien." Vgl. auch seinen Hinweis auf Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der ERD, 3. Aufl. 1969, § 12 III 1 b, "der in der parlamentarischen Abgabenbewilligung auch heute noch die beste Sicherung gegenüber dem abgabenrechtlichen Zugriff auf das Vermögen" sehe. Vgl. auch die Literaturhinweise bei Selmer, S. 43, FN. 69, sowie S. 46/47; siehe auch Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz, 1969, S. 189; vgl. aber auch die nachstehend zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 28.10.1975. 77 Selmer, Steuerinterventionismus, S. 44: "Mit der Übernahme . . . der gesamten Staatsgewalt durch das Volk im parlamentarisch demokratischen System verlor die extrem idealistische Würdigung des formellen Gesetzgebungs- und Steuerbewilligungsverfahrens ihre eigentliche Grundlage"; mit Hinweis auf Hensel, VJSchrStFR 4 (1930), S. 441 ff. (444 f.) 78 Die große Zahl der Entscheidungen des BVerfG zum Steuerrecht belegt das eindrucksvoll. Vgl. dazu Vogel, JbfStR 1970/71, S. 49 f. mit Anlage. 79 Vgl. zum Wandlungsprozeß (insbesondere in der Zeit der Weimarer Reichsverfassung) Selmer, Steuerinterventionismus, S. 44-45. 80 Selmer, S. 47, mit Hinweis auf Badura, Verwaltungsrecht im liberalen und sozialen Rechtsstaat, 1966, S. 11. 81 Diese Frage ist nicht zu verwechseln mit der geführten Diskussion um den heutigen "Parlamentsvorbehalt" im R.ahmen des Gesetzmäßigkeitsprinzips, vgl. dazu obige Ausführungen. 82 Vgl. zu diesem Problemkreis auch Paulick, Lehrbuch des allgemeinen Steuerrechts, 3. Auf!. 1977, S. 93-95 "demokratisches Mißtrauen gegen die Staatsorgane"; mit Hinweisen auf Imboden, Arndt, Burmeister.
II. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
39
reiche "formelle" Tatbestandsmäßigkeit bejaht und darüber hinaus mit dem "Kontrollargument" begründet. So führte es in einer Entscheidung zum verwaltungsrechtlichen Vorverfahren für die Anfechtung von Strafvollzugsmaßnahmen aus 83 : "Die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, der Vorrang des Gesetzes also, würden ihren Sinn verlieren, wenn nicht schon die Verfassung selbst verlangen würde, daß staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen nur Rechtens ist, wenn es durch das förmliche Gesetz legitimiert wird84.
Welche Bereiche das im einzelnen sind, läßt sich indessen aus Art. 20 Abs. 3 GG nicht mehr unmittelbar erschließen. Insoweit ist vielmehr auf die jeweils betroffenen Lebensbereiche und Rechtspositionen des Bürgers und die Eigenart der Regelungsgegenstände insgesamt abzustellen84." Es folgen dann Ausführungen darüber, daß solche "betroffenen Lebensbereiche .. . " den Grundrechten mit ihren speziellen Gesetzesvorbehalten und objektiven Wertentscheidungen zu entnehmen seien, und "die Entscheidung aller grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, durch Gesetz erfolgen muß"85, und zwar unabhängig vom Begriff "Eingriff". Denn, so fährt das Bundesverfassungsgericht fort, "hier wie dort kommt dem vom Parlament beschlossenen Gesetz gegenüber dem bloßen Verwaltungshandeln die unmittelbare demokratische Legitimationss zu" und das "parlamentarische Verfahren gewährleistet ein höheres Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche und damit auch größere Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen85• All das spricht für eine Ausdehnung des allgemeinen Gesetzesvorbehaltes über die überkommenen Grenzen hinaus". Diese Sätze des Bundesverfassungsgerichtes sind eindeutig in ihrer verstärkten Hinwendung zum Prinzip der formellen Tatbestandsmäßig-
keit und ebenso zur - über das Rechtsstaatsargument86 hinaus dieser vermuteten (materiellen) Gerechtigkeit.
in
Daß obige Überlegungen nicht nur im Hinblick auf das Strafrecht angestellt wurden, sondern z. B. auch für das Steuerrecht Gültigkeit B3
Vgl. Beschluß 2 BvR 883/73 . . . 526/74 vom 28. 10. 1975, NJW 1976, Heft 1/2,
s. 34 f. (35).
Hervorhebungen vom Verfasser. Hervorhebungen vom Verfasser. 86 In diese Argumentationsrichtung auch mit Blickpunkt Gewaltenteilung - gehört noch der Beschluß des BVerfG, 1 BvL 32/70 und 25/71 vom 18. 7.1972, BVerfGE 33, 303 (342) [betr.: Zulassung zum Hochschulstudium], in dem auf den Beschluß 1 BvR 518/62 und 308/64 vom 9. 5. 1972, BVerfGE 33, 125 [betr.: Regelung des Facharztwesens] verwiesen wird. Hier führt das BVerfG aus (S. 158), daß auch im Rahmen einer eigentlich zulässigen Autonomiegewährung der Gesetzgeber sich seiner Rechtssetzungsbefugnis nicht völlig entäußern könne; dies folge "sowohl aus dem Prinzip des Rechtsstaates, wie aus dem der Demokratie". 84
85
40
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
beanspruchen sollen, ergibt sich einmal klar aus den Formulierungen ("jeweils betroffenen Lebensbereiche und Rechtspositionen des Bürgers", "Eigenart der Regelungstatbestände"), zum anderen aber daraus, daß das Bundesverfassungsgericht im Anschluß an seine Aussage noch auf die berühmte "Salamander-Entscheidung" (Nichtigkeit des § 8 UStG wegen Art. 80 Abs. 1, S. 2 GG87) verweist. 3. Unbestimmte Rechtsbegriffe und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen gemäß Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG a) Die Grundsätze des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG als aUgemeines Prinzip
Das "chronische" Problem unserer Rechtsordnung, nämlich die Notwendigkeit, das Streben nach Rechtssicherheit mit dem Bedürfnis nach Einzelfallgerechtigkeit (Praktikabilität) in Übereinstimmung bringen zu müssen, wird im Steuerrecht besonders deutlich. Hier kollidiert die verstärkte Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe88 mit dem Prinzip der materiellen Tatbestandsmäßigkeit, welches gebietet, "die die Steuerpflicht bringenden Merkmale möglichst genau in einer gesetzlichen Formulierung festzulegen ... " 89• Diese Problematik führt zu der Frage, nach welchen Kriterien die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe in der Rechtsordnung, insbesondere im Steuerrecht zu beurteilen ist. Aus der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG90 hat sich der Rechtsgrundsatz entwickelt, daß die verfassungsrechtliche Forderung nach Bestimmtheit von "Inhalt, Zweck und Ausmaß" nicht nur im Bereich des Ermächtigungsgesetzes Geltung 87 Urteil 2 BvL 18/56 v. 5. 3. 1958, BVerfGE 7, 282 Auf diese Entscheidung wird noch mehrfach einzugehen sein. aa Vgl. oben 2. Kap., I. 89 Bühler, vgl. oben 2. Kap. II. 90 Z. B.: Urteil 2 BvG 1/57 v. 23. 10. 1951, BVerfGE 1, 14 (59/60) [betr.: 1. und 2. Gesetz zur Neugliederung der Länder Baden, Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern]; Beschluß 2 BvL 21/56 v. 11. 2.1958, BVerfGE 7, 267 [betr.: § 18 I Nr. 2 UStG] ; Urteil 2 BvL 18/56 v. 5. 3. 1958, BVerfGE 7, 282 [betr.: § 8 UStG "Hersteller-Einzelhändler Zusatzumsatzsteuer" - "Salamander" -Urteil]; Beschluß 2 BvL 4 [26, 40/ 56, 1 7/57 v. 12.11.1958, BVerfGE 8, 274 [betr.: § 2 des "Preisgesetzes" v. 10. 4. 1948]; Urteil 2 BvF 1/58 v. 14. 7.1959, BVerfGE 10, 20 ff. [betr.: preußischer Kulturbesitz]; Beschluß BvL 1/59 v. 10.10.1961, BVerfGE 13, 153 [betr.: § 3 I KVStG]; Urteil 1 BvR 571/60 v. 14.12. 1965, BVerfGE 19, 253 ff. (267) [betr.: Besteuerungsrecht der Religionsgemeinschaften); Beschluß 2 BvL 51/69 v. 10.10.1972, BVerfGE 34, 52 [betr.: Verfassungsmäßigkeit des § 93 HRiG]; Beschluß 2 BvR 883/73, 879/74, 526/74 v. 28. 10. 1975, NJW 1976, Heft 1/2, S. 34 [betr. verwaltungsrechtliches Vorverfahren für die Anfechtung von Strafvollzugsmaßnahmen]; vgl. auch die nachfolgend zitierten Entscheidungen.
li. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
41
haben soll, sondern als allgemeine rechtsstaatliche Grenzziehung für Eingriffsermächtigungen jeder Art zu beachten ist91 • Die Grundsätze der Normklarheit und Justitiabilität gelten daher auch bei der Beurteilung unbestimmter Rechtsbegriffe92 im Steuerrecht.
b) Die "Voraussehbarkeit" als Kriterium für die Vereinbarkeit mit Art. 80 Abs.l S. 2 GG Schon sehr früh begann das Bundesverfassungsgericht, die Frage nach der Bestimmtheit einer Ermächtigung im Hinblick auf Inhalt, Zweck und Ausmaß daran zu überprüfen, ob aufgrund der Ermächtigung vorausgesehen werden könne, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von der Ermächtigung Gebrauch gemacht werden würde93 • Für das Steuerrecht führte das zu dem Grundsatz, daß nur solche Normen eine Steuerpflicht begründen können, die "nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt sind, so daß die Steuerlast meßbar und für den Staatsbürger in gewissem Umfang voraussehbar und berechenbar" wird94 • 91 Vgl. BVerfG-Beschluß v. 12.11.1958 (311) {betr.: Preisgesetz] oder BVerfG-Beschluß 1 BvR 169/63, BVerfG 21/73 [betr.: § 9 I Nr. 1 Grundstücksverkehrsgesetz, unbestimmter Rechtsbegriff: "ungesunde Verteilung des Grund und Bodens"], S. 79: "Vorschriften so zu fassen, daß sie rechtsstaatliehen Grundsätzen, der Normklarheit und Justiziabilität entsprechen" oder BVerfG-Beschluß v. 10. 10. 1961 S. 160: "die Grundsätze des Rechtsstaates fordern ... " ohne Hinweis auf Art. 80 GG; s. auch Wilke, in: v. Mangoldt/ Klein, Bd. III zu Art. 80 GG, Anm. XIII, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl.: Regelungen, die "zu den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates gehören" (S. 1961), "Ausprägung eines allgemeinen rechtsstaatliehen Grundsatzes ... " (S.1962); vgl. auch Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 80 GG, Anm. 22, ebenso Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 218-226; vgl. auch die obengenannte Entscheidung des BVerfG v. 12.11.1958, BVerfGE 8, 274, insbesondere aber Soell, Ermessen, S. 107/108: "zu einem allgemeinen Grundsatz für die gesetzliche Ermächtigung der Verwaltung zu Eingriffen in die Individualsphäre weiterentwickelt wird". Insbesondere aber in jüngster Zeit: BVerfG-Teilurteil 1 BvR 589/62, 610/63, 612/64 v. 5. 8.1966, BVerfGE 20, 162 [betr.: Spiegel-Verlag, Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluß], S. 224: "Weiter muß der Richter den Eingriff in Grundrechte, zu dem er die Exekutive ermächtigt, nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend genau umgrenzen ... ", sowie BVerfG-Beschluß v. 28.10.1975 [betr. verwaltungsrechtliches Vorverfahren bei Anfechtung von Strafvollzugsmaßnahmen]: "Auch außerhalb des Bereichs Art. 80 GG ... hat der Gesetzgeber die grundlegenden Entscheidungen selbst zu treffen und zu verantworten." 92 Vgl. dazu auch BVerfG-Beschluß v. 12.11 . 1958 [betr. Preisgesetz], auf s. 311, 325/326. 93 Vgl. BVerfG-Beschluß 1 BvL 54/55, 17/56 v. 13. 6.1956, BVerfGE 5, 71 71 (76) [betr. Kriegsgefangenentschädigungsgesetz]; BVerfG-Beschluß v. 11.2.1958 (274) [betr. §18 I Nr. 2 UStG]; BVerfG-Beschluß v. 12.11.1958 (325) [betr. § 2 Preisgesetz]; BVerfG-Urteil v. 14. 7.1959, (53) [betr. preußisches Kulturgesetz]; BVerfG-Urteil v. 15. 12. 1959 (258) [betr. Verkehrsfinanzgesetz 1955]; BVerfG-Beschluß 2 BvR 424/63 v. 11.1.1966, BVerfGE 19, 354 (361) [betr. § 267 III LaG) u. a . 94 Vgl. u. a. BVerfG-Beschluß v. 11. 2.1958, [betr. § 18 I Nr. 2 UStG]; BV-
42
li. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
Hierbei entspricht der Gedanke der Voraussehbarkeit (Vorhersehbarkeit) einem formalisierten 95 Streben nach Rechtssicherheit als Ausfluß der hinter Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG stehenden Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG und insbesondere der Gewaltenteilung96 • 97 • Letzteren Gedanken hat gerade in jüngster Zeit das Bundesverfassungsgericht98 wieder hervorgehoben: "Im freiheitlich-demokratischen System des Grundgesetzes fällt dem Parlament als Legislative die verfassungsrechtliche Aufgabe der Normsetzung zu. Nur das Parlament besitzt die demokratische Legitimation zur politischen Leitentscheidung,. Zwar billigt das Grundgesetz - wie Art. 80 GG verdeutlicht- auch eine ,abgeleitete' Normsetzung der Exekutive. Die Rechtsetzung der Exekutive kann sich aber nur in einem beschränkten vom Gesetzgeber vorgezeichneten Raum vollziehen .. ." Diese Intention des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zwingt den Gesetzgeber, die grundlegenden Entscheidungen auch bei unbestimmten Rechtsbegriffen selbst zu treffen99, also Inhalt (die zu regelnden Fragen), Ausmaß (die erfG-Beschluß v. 10.10.1961 (160) [betr. § 3 I KVStG]; BVerfG-Beschluß 2 BvL 13/61 v. 27.11.1962, BVerfGE 15, 153 (160) [betr. § 18 Abs. 1 Nr. 1 UStG i. d. F. v. 14.11.1951]. 95 "formalisiert" deshalb, weil in der Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidung nur die Konstanz bereits vorliegender Gerichtsurteile, nicht dagegen die materiale Gerechtigkeit zukünftiger gewandelter gesellschaftlicher Anschauung zum Ausdruck kommt. Zum Extremfall dieser Formalbetrachtung der "Jurimetrics" (Lehre von der Meßbarkeit der Faktoren für richterliches Verhalten in der amerikanischen empirischen Rechtssoziologie) vgl. Simitis, Informationskrise des Rechts und Datenverarbeitung, 1970, S . 91 ff. Zur Problematik insgesamt mit weiteren Hinweisen Gropp, Die Rechtsfortbildung contra Legern, Dissertation Berlin 1974, S. 209 ff. 96 Vor allem vgl. aber auch SoeH, Ermessen, S. 108; Fr. Ktein, Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes in Finanz- und Steuerfragen li, Institut "Finanzen und Steuern", Bonn 1962, Heft 58, Bd. 2, S. 30; s. auch Mayer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S . 42/43, der ausführt, daß das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, dessen materieller Gehalt sich (neben Art. 20 Abs. 3 GG) u. a. auch aus Art. 80 Abs.1 GG ergebe, als Konsequenz aus dem Gewaltenteilungsprinzip folge. 97 Zur geschichtlichen Entwicklung von Gewaltenteilungsprinzip und Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung vgl. Mayer, Das verfassungsrechtliche Gebot der gesetzlichen Ermächtigung, in: Festschrift Hermann Nottarp, 1961, S. 187 ff. (192). 98 Beschluß vom 10.10.1972 [betr. Verfassungsmäßigkeit des § 93 ff. RiG], s. 59 f. 99 Vgl. Urteil v. 5. 3.1958 (Salamander) S. 304, in dem es heißt, daß "der Gesetzgeber, wenn er eine Ermächtigung erteilt, selbst die Entscheidung treffen müsse, welche Fragen durch den Delegator zu regeln sind, welche Ziele er zu verfolgen hat und welche Grenzen er einzuhalten hat (BVerfGE 2, 307 (334); 5, 71 (76 f.)." Er muß, wenn er zur Regelung bestimmter Fragen ermächtigt, selbst schon etwas gedacht und gewollt haben" (Hervorhebungen vom Verfasser). Die Formulierung ("selbst schon etwas gedacht und gewollt haben") übernahm das BVerfG von Wolff, Die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverodnungen nach dem Grundgesetz, in: AöR 78 (1952/53), S. 194 ff. (197/199), auf den es auch in anderen Entscheidungen verweist, vgl. BVerfGE
II. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
43
Grenzen der Regelung) und Zweck (Programm, Ziel, Tendenz) 100 selbst abzustecken. Die Spannungslage, die bei der Abfassung von Ermächtigungsnormen und unbestimmten Rechtsbegriffen aus dem Zielkonflikt zwischen Rechtssicherheit und aus der Lebensvielfalt heraus geforderter praktikabler Verbalform101 notwendig entsteht102, hatte das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung solcher Normen stets im Auge103. Da aber - ganz allgemein betrachtet - das Erfordernis der Praktikabilität häufig den Anspruch nach formaler Rechtssicherheit überlagerte10\ reduzierte sich das ursprüngliche Verlangen des Bundesverfassungsgerichtes nach "aus dem Gesetz" herauslesbarer ausdrücklicher Bestimmtheit105 auf die Formel nach Bestimmbarkeit von Inhalt, Zweck 2, 307 (334); 5, 71 (76); 8, 274 (307); s. dazu auch Klein, Die bisherige Rechtsprechung, S. 31. 100 Ders., S. 33. 101 Um damit der "Steuergleichheit und Steuergerechtigkeit zu dienen, vgl. BVerfG-Beschluß v. 10. 10. 1961, S. 162 (§ 3 KVStG); vgl. auch BVerfGBeschluß v. 12. 11. 1958, S. 326 (§ 2 Preisgesetz); ebenso Urt. v. 5. 3. 1958 (§ 8 UStG), S. 301: hätte "konkreter halten können, ohne mit dem im Steuerrecht vorhandenen Bedürfnis nach Elastizität in Widerspruch zu geraten". s. auch BVerfG-Beschluß 1 BvR 512/65 v. 13.12. 1966, BStBl. 1967 III, S. 106 (107), Anhang Nr. 5 [betr. § 33 EStG "außergewöhnliche Belastung"] "mit Rücksicht auf die Vielgestaltigkeit der möglichen Sachverhalte". Vgl. dazu Soell, Ermessen, S. 111: " ... im Hinblick auf die Dynamik des wirtschaftlichen Lebens, die sich regelmäßig einer Normierung durch festgeformte Tatbestände entzieht". S. auch Klein, Die bisherige Rechtsprechung, S. 29, 33, 34. 102 Vgl. II. Teil, 1. Kap. I. 103 So ganz deutlich im Beschl. v. 12.11.1958, S. 326 (§ 2 Preisgesetz); vgl. auch die genannten Entscheidungen des BVerfG (Anm.1), insbesondere v. 5. 3.1958, S. 301 (Salamander); v. 14. 7.1959 (preuß. Kulturbesitz). Die Formulierung der Entscheidung v. 10.10.1961, S. 160 (§ 3 KVStG), allerdings dürfe es sich hierbei nicht um "vage Generalklauseln" handeln, ist wie Hartz, überlegungen zur Rechtsprechungspraxis, S. 23, ausführt, "unbestreitbar selbst vage"; vgl. auch Hartz, Gesetzliche Generalklausel, Sp. 250. Zur Frage der "Globalermächtigung" in Form inhaltlicher ganz unbestimmter Begriffe s. auch Soell, Ermessen, S. 110/111 mit weiteren zahlreichen Hinweisen auf Lit. und Rspr. 104 wie leicht zu sehen ist, wenn man mitHartz, überlegungen zur Rechtsprechungspraxis, S. 23, feststellt, "daß das Bundesverfassungsgericht so dehnbare Begriffe wie durch die ,Sachlage gebotene Kapitalzuführung', ,ordnungsmäßige Buchführung' oder ,außergewöhnliche Belastung' nicht als zu vage abgelehnt." vgl. demgegenüber Hans H . Klein, Zur Revision des Grundgesetzes: Erwägungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages zu einer Neufassung des Art. 80 GG, in: DÖV 28 (1975), S. 523 ff. (524), in Anschluß an entgegengesetzte Behauptung: So rang,iere für den durch das Bundesverfassungsgericht "verunsicherten Gesetzgeber" inhaltliche Bestimmtheit vor der Praktikabilität mit der Folge, daß "der Entlastungseffekt für den Gesetzgeber ausbleibt". Hierin sieht Hans H. Klein (S. 524) auch die Ursache für das Tätigwerden der EnqueteKommission, vgl. dazu unten im Text. 105 oder zumindest mit "einwandfreier Deutlichkeit", vgl. Entscheidungen
44
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
und Ausmaß mit "hinreichender Deutlichkeit" 106 • Diese ist im Wege der Auslegung mittels "sämtlicher iuristischer Auslegungsmethoden und -kriterien zu erlangen"- so das Bundesverfassungsgericht in jetzt ständiger Rechtsprechung107• Hiergegen hatte sich Jesch108 mit der Begründung gewandt, daß durch die Möglichkeit derartig umfassender Auslegung die nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG erforderliche Bestimmtheit aufgegeben werde. Die Sorge ist m. E. nicht unberechtigt, wird aber seit der "Preisgesetzentscheidung" und nachfolgenden ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vom Schrifttum nicht mehr109 geteilt. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich hierzu nach der "Preisentscheidung" nicht mehr geäußert110• Allerdings verstärken sich diese Bedenken m. E. in den Fällen, in denen die Entwicklung der Verhältnisse das ursprüngliche gesetzgeberische Programm abändern oder auch aufheben, so daß sich die Frage nach dem Stellenwert der "historischen" Auslegung111 im Zuge der "Sinnermittlung" der Ermächtigungsnorm stellt. Sicher könnte man sagen, daß es sich nur um das allgemeine eben überall bei der "Auslegung" gegenwärtige Problem der Priorität von subjektiver oder objektiver Betrachtung handle, aber die Frage wird hier besonders interdes Bundesverfassungsgerichtes: Beschluß 1 BvF 1/53 v. 10. 6. 1953, BVerfGE 2, 307 (334/335) [betr. nieders. VO über Änderung der Landesgerichtsbezirke]; Urteil! BvR 459, 484, 548 ... 114/54, v. 20. 7.1954, BVerfGE 4, 7 (21) [betr. Investitionshilfegesetz]; Beschluß v. 13. 6.1956 [betr. Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz]. 108 Vgl. die schon häufig zitierte "Salamander"-Entscheidung BVerfG v. 5. 3.1958, S. 291; die Entscheidung zu § 2 Preisgesetz v. 12. 11.1958, S. 307; sowie das Urteil v. 14. 7. 1959 zum Preuß. Kulturbesitz, S. 51 (" ... nicht ausdrücklich ..., . .. aus Zusammenhang der Normen mit anderen Vorschriften und Ziel der gesamten Regelung insgesamt .. .") mit weiteren Hinweisen. 107 Siehe die angegebenen Entscheidungen, insbesondere aber den Beschluß vom 12.11.1958, S. 307/311 (§ 2 Preisgesetz), der diese Entwicklung einleitete. 108 Gesetz und Verwaltung, Eine Problemstudie zum Wandel des Gesetzmäßigkeitsprinzips, 1961, S. 214 ff. 1o9 So aber früher, zumindest im Ansatz, vgl.: Schack, Die Verlagerung der Gesetzgebung im gewaltenteilenden Staat, in: Festschrift Karl Haff, 1950, S. 332 ff. (354); F. Klein, Grenzen gesetzlicher Ermächtigungen zum Erlaß steuerlicher Rechtsverordnungen, 1951 S. 8; Bullinger, Die Unterermächtigung zur Rechtssetzung, Diss. Tübingen 1955, S. 54. 110 Vgl. aber den vor dem Beschluß des BVerfG zum § 2 Preisgesetz ergangenen Beschluß des BVerwG vom 4. 7.1956 [betr. § 2 I Preisgesetz v. 10. 4. 1948, WiGBl., S. 27, i. d. F. v. 29. 3. 1951], BVerwGE 4, 24 ff., in dem ausgeführt wird, daß es mit dem Bestimmtheitserfordernis des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG nicht vereinbar sei, wenn sich der Zweck nur im Wege der Auslegung ermitteln lasse, denn das Gericht könne nicht die Versäumnisse des Gesetzgebers nachholen (S. 45). 111 Auf die "Auslegung" wird noch näher im III. Teil der Arbeit eingegangen.
II. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
45
essant, weil die unmittelbare Beziehung zur Ermächtigung nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG angesprochen ist und damit die "Nahtstelle" zur Rechtsstaatlichkeit ganz deutlich wird. Die Auffassung von Klein112 - eigentlich auf die Kritik von Jesch bezogen - gewinnt auch unter diesem Aspekt besondere Prägnanz und sei deshalb zitiert: "Jede Norm bedarf der Feststellung ihres Sinnes, also der Auslegung. Daher ist es gerechtfertigt, wenn das Bundesverfassungsgericht auch den Gehalt einer Ermächtigungsvorschrift hinsichtlich ihres Inhaltes, Zweckes und Ausmaßes durch Auslegung zu ermitteln sucht. Fraglich kann nur sein, wieweit eine solche Auslegung ausgreifen darf und wo sie die bloße Sinnermittlung verläßt und kaschierte Setbstkonkretisierung seitens des Gerichtes istm." "Auslegung als objektive Sinnermittlung dessen, was bereits im Gesetz steht, widerspricht Art. 80 GG nicht, denn sie stellt nur klar, was der Gesetzgeber selbst bestimmt hat, kann sich insofern auch aller iuristischen Auslegungsmethoden und -kriterien bedienen. Das Gebot des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG an den Gesetzgeber, selbst die Ermächtigung zu konkretisieren, fordert aber besondere Selbstdisziplin des Auslegenden, wirklich nur den objektiven Gehalt der Vorschrift zu ermitteln, nicht aber selbst etwas hineinzulegen was gar nicht darin enthalten ist."
c) Die "Programmklarheit" als Kriterium für die Vereinbarkeit mit Art. 80 Abs.l S. 2 GG Von der Bestimmbarkeit des "Inhaltes, Zweck und Ausmaßes mit hinreichender Deutlichkeit" her, erscheint es als ein folgerichtiger Gedankenschritt, an die Stelle des wohl kaum zu erreichenden "Ideals" 114 der Voraussehbarkeit115 die Forderung nach primär gesetzgeberischer Leitidee als Garant für Rechtsstaatlichkeit und Vertrauensschutz zu stellen und jene Forderung stets schon dann als erfüllt anzusehen, w enn sich aus dem Gesetz selbst, d. h . aus dem entsprechenden Normengefüge und der hierin für die Rechtsanwender umschriebenen Handlungsdirektive, das Ziel, das Programm, ergibt, das der Gesetzgeber verwirklicht haben wollte116• Soell117 hat diese Entwicklung der Rechtsprechung des BundesDie bisherige Rechtsprechung, Bd. 2, S. 32. Hervorhebungen vom Verfasser. 114 Vgl. hierzu insbesondere Gropp, S. 210 ff., allerdings in betont soziologisch, gesellschaftspolitischer Argumentation. 115 Vgl. Bernhard Wolf!, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von 1957-1959, JöR, N. F. 9 (1960), S. 69 ff. (91): "Die Vorhersehbarkeit der Entscheidungen höchster Gerichte ist aber eines der wichtigsten Postulate." s. auch Weber-Fas, Finanzgerichtsbarkeit im freiheitlichen Rechtsstaat, NJW 1975, S.1945 ff. (1950), skeptisch dagegen Leisner, in: Festschrift für Berber, 1973, S. 274 ff. 116 So insbesondere die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. 7.1959, S. 53 (preuß. Kulturbesitz); Beschluß 2 BvR 179, 476, 477/64 112
113
46
li. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
Verfassungsgerichtes für das Gebiet des Wirtschaftsverwaltungsrechtes untersucht und auf die Kurzformel "Programmklarheit statt Voraussehbarkeit" gebracht. Allerdings ist dabei zu beachten, daß das Bundesverfassungsgericht nunmehr durchaus nicht ausschließlich gern. der "Programmformel"118 prüft, sondern ständig auch die "Selbstentscheidungsformel" 118 oder die "Vorhersehbarkeitsformel" 118 oder die Kriterien auch zusammen berückrichtigt119. Hierauf wird noch eingegangen120• Vorher sei noch eine andere Frage erörtert:
Hasskarl' 21 stellt fest, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zur Konkretisierung von "Inhalt, Zweck und Ausmaß" in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG verschiedene "Phasen" durchlaufen habe. So seien die Anforderungen an die Bestimmtheit von Inhalt, Zweck und Ausmaß von unterschiedlicher Intensität gekennzeichnet: Zeuge die erste Phase noch von dem Bemühen des Gerichtes um die Aufstellung strenger Grundsätze zur Bestimmtheit von Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Ermächtigungsnormm, 123, so erachte es das Gericht in der zweiten Phase jedoch schon für ausreichend, wenn sich der Inhalt durch Auslegung aus dem Sinn der gesetzlichen Ermächtigung ergebe124• Die dritte Phase sei darüber hinaus als teleologisch orientiert zu bezeichnen. Häufig stelle das Verfassungsgericht auf das "Programm" ab und leite aus dem Sinn und systematischen Zusammenhang der gesetzlichen Vorv. 11.10.1966, BVerfGE 20, 257 (268, 269, 270) [betr. Nichtigkeit des § 80 Abs. 3 S. 2 GWB]; Beschluß 2 BvR 386, 478/63 v. 18.10. 1966, BVerfGE 20, 283 (291) [betr. § 7 AMG "radioaktive Stoffe"]. 117 Ermessen, S. 112; vergl. aber auch S. 106 ff. zur kontinuierlichen Entwicklung der Rechtsprechung von der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes v. 27.11.1948, BayVGH (N. F.) 1/II, S. 81 ff., 91, also noch vor Erlaß des Grundgesetzes an, die forderte, daß "die gesetzlichen Tatbestände, aufgrund deren Leistungen von den Rechtsunterworfenen beansprucht werden können, nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend klar umschrieben und begrenzt sein" müssen, bis zu den jüngsten Entscheidungen mit zahlreichen Hinweisen auf die Literatur. us Hasskarl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG, in: AöR 94 (1969), S. 85 ff. (104/105); beachte allerdings vor ihm schon Weber, JuS 1967, S.138; Lange, Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Rechtsverordnungsermächtigungen, JZ 1968, s. 417 ff. 119 Vgl. z. B. BVerfG-Beschluß 2 BvR 424/63 v. 11. 1. 1966, BVerfGE 19, 354 ff. (361/362) [betr. § 267 II LAG]. 120 Vgl. unten im Text. 121 s. 103 ff. 122 Ders., S. 104. 123 Ders., S. 104. 124 Ders., S. 104.
II. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
47
schriften, in das die Ermächtigungsnorm gehört, nicht nur die Bestimmtheit des Ermächtigungszwecks, sondern auch die Bestimmtheit von Inhalt und Ausmaß ab. Zunehmend gerieten dabei letztere beiden Elemente des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG in den Hintergrund der Prüfung125, so daß es mehr und mehr als ausreichend erachtet werde, wenn lediglich der Zweck hinreichend bestimmt sei. Allerdings sind die von Hasskarl hierzu zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes126 gerade nicht geeignet, diese Tendenz der "3. Phase" zu verdeutlichen: Im Urteil zum preußischen Kulturbesitz vom 14. 7. 1959127 wird neben dem "Programm" noch darauf abgestellt, daß der "mögliche Inhalt auch abgegrenzt und überschaubar" sei. Im Urteil vom 15. 12. 1959 zum Verkehrsfinanzgesetz 1955 (Beförderungssteuer)128 wird die Nichtigkeit der Ermächtigungsnorm damit begründet, daß die inhaltliche Bestimmtheit zwar vorhanden, aber die "Grenzen des Ausmaßes" fehlten 129, insbesondere die "Grenzen dieses Spielraumes auch nicht durch den Zweck" zu bestimmen seien130 Im Beschluß vom 27. 11. 1962, der§ 18 Abs. 1 Nr. 1 UStG i. d. Fassung vom 14. 11. 1951 betraf131 und zum Ergebnis der Nichtigkeit führte, hat das Gericht ausdrücklich auf mangelnde Voraussehbarkeit abgestellt182 • Im Beschluß vom 2. 6. 1964133, wieder die Besteuerung von Beförderungsleistungen betreffend, wurde die Nichtigkeit der Ermächtigungsnorm mit fehlender Bestimmtheit von sowohl Inhalt als auch Zweck und Ausmaß und daher mangelnder Voraussehbarkeit begründet134• Im Beschluß vom 18. 1. 1966 zum § 327 Abs. 2 LAG135 wird zwar auf die Ermittlung des Programmes durch Auslegung und dadurch erlangte inhaltliche Bestimmtheit hingewiesen, andererseits aber die Entscheidung mit fehlender Bestimmtheit des Ausmaßes begründet136 • 12.'i Ders., S. 105. 126 S. 105/106, Fn. 102. 127
s. 53.
128 2 BvL 73/58, BVerfGE 10, 251 f. [betr. Abschnitt II, Art. 3 I, Nr. 3 des
Verkehrsfinanzgesetzes 1955]. 129 s. 255. 130 s. 256. 131 s. 160. 132 (und daher fehlende Bestimmtheit angenommen). 133 2 BvL 23/62, BVerfGE 18, 62 ff. [betr. Abschnitt II, Art. 3 I Nr. 1, Nr. 4 des Verkehrsfinanzgesetzes 1955]. 134 s. 61, 62, 63. 135 2 BvL 21/64, BVerfGE 19, 370 ff. 136 s. 376.
48
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
Auch die beiden letzten von Hasskarl zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vermögen seine These nicht zu stützen137• Dieses Ergebnis bestätigt sich noch, wenn man die nachfolgenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts liest138 • Stets wird darauf abgestellt, daß sich, aus dem Gesetz selbst, Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung mit Deutlichkeit ergeben müssen1a9 und sich die mangelnde Bestimmtheit auch nicht aus dem Sinn und Zweck des ermächtigenden Gesetzes ermitteln lasse140• Gerade aus dieser "Strenge" des Bundesverfassungsgerichtes heraus141 ist daher auch das Ergebnis der Beratungen der "Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages zu einer Neufassung des Art. 80 GG" 142 zu verstehen, die folgenden künftigen Wortlaut des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG vorschlägt: "Dabei muß der Zweck der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden143."
Der Vorschlag der Kommission, die "Schrankentrias" des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG auf den "Zweck" als Ermächtigungsvoraussetzung zu reduzieren, ist vor dem Hintergrund des (ewigen) Zwiespaltes zwischen Rechtsstaatlichkeit und Praktikabilität verständlich. Nur ist zu bezweifeln, ob der hier vorgeschlagene Weg gegangen werden darf, denn die Aufgabe 137 Vgl. Beschluß 2 BvL 4/63 vom 5. 5.1965, BVerfGE 19, 17 ff. [betr. § 49 III Zollgesetz v. 20. 3. 1939], in dem auf S. 30 lediglich lapidar erklärt wird, daß Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigungsnorm durch Auslegung zu ermitteln seien. und das in dieser Arbeit bereits angeführte Urteil vom 14. 12. 1965, BVerfGE 19, 253 ff. (267) [betr. Besteuerungsrecht der Religionsgemeinschaften], in dem auf die Ermächtigung gern. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ohnehin nicht näher eingegangen wird. 138 Vgl. u. a . den Beschluß vom 18.10. 1966 (291) [betr. § 7 AMG, § 2 II/2 Zul. VO "radioaktive Stoffe"], den Beschluß vom 11. 10. 1966 (268 f .) [betr. § 80 Abs. 2 S. 2 GWB] und das Urteil 2 BvF 3-8/62 v. 18. 7.1967, BVerfGE 22, 180 ff. (215) [betr. Ermächtigung des § 24 JWG]. 1 39 Beschluß vom 18. 10. 1966 (S. 291). 140 Beschluß vom 11. 10. 1966 (S. 268). 141 Hans H. Klein, Zur Revision des Grundgesetzes: Erwägungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages zu einer Neufassung des Art. 80 GG, S . 524, verweist unter Berufung auf Hasskarl darauf, daß das Bundesverfassungsgericht ca. 2 /s der ihm vorgelegten "Ermächtigungsnormen", an Art. 80 Abs.1 S. 2 GG gemessen, für nichtig angesehen und dadurch den Gesetzgeber "verunsichert" habe. Beachte hierzu auch schon Hartz, DB 1958, S. 728 (Urteilsanmerkung), der vor überspitzten "Anforderungen an die Spezialisierung" warnt, "wenn man nicht das von der Verfassung vorgesehene Institut der Rechtsverordnung aushöhlen will". Siehe ebenfalls Hartz, Sittlichkeit, Rechtssicherheit und Gewaltenteilung als Wesensmerkmale des Rechtsstaats, in: DB 1958, S.1224 ff. (1225). 142 Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform vom 9. 12. 1976 (BT-Drs. 7/5924) gern. Beschluß des Deutschen Bundestages- Drs. 7/214 (neu), S. 90 ff., 251. 1 4a Die Begriffe Ausmaß und Inhalt seien vom Zweck mit umfaßt, vgl. Schlußbericht, S. 91.
li. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
49
grundgesetzlich vorgeschriebener Positionen um praktischer Bedürfnisse willen144 bedeutet immer einen Verlust von Rechtsstaatlichkeit145. Die jetzt von der Kommission vorgeschlagene und schon von Hasskarl angedeutete Lösung der Frage, "wäre Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG jedoch nur bei großen Zugeständnissen an die praktischen Bedürfnisse haltbar, also bei einer Entwicklung contra constitutionem, so müßte man allen Ernstes fragen, ob diese Norm für die gesetzgeberische und soziale Wirklichkeit nicht überhaupt ungeeignet und damit in ihrer gegenwärtigen Fassung undurchführbar ist oder geworden ist" 14S, ist deshalb m. E. nicht unbeschränkt zu bejahen. Das mit der Streichung "gesetzte Zeichen"146 kann jedenfalls im Steuerrecht wegen der hier geltenden strengeren Betrachtungsweise147 vom Bundesverfassungsgericht nicht beachtet werden148.
d) Die im Steuerrecht notwendig strengere Betrachtungsweise Es wurde oben ausgeführt, daß die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes bei der Beurteilung von Ermächtigungsnormen und unbestimmten Rechtsbegriffen mit der Tendenz "Programmklarheit statt Voraussehbarkeit" 149 gekennzeichnet werden kann150. Damit ist aber die Frage noch nicht geklärt, ob das in der gleichen Weise für die Rechtsprechung im Bereich des Steuer- und Finanzrechtes gilt. Hierzu wird vereinzelt in der Literatur die Ansicht vertreten, daß an die Bestimmtheit von Ermächtigungsnormen bei Eingriffsgesetzen151 144 Nicht nur ein Zeichen unserer schnellehigen technokratischen Zeit, sondern ein Phänomen in Perioden demokratischen Wohlstandes (vgl. die Weimarer Republik); vgl. hierzu auch Weber-Fas, Finanzgerichtsbarkeit im freiheitlichen Rechtsstaat, S. 1950. 145 So auch Hasskarl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG, S. 106. Allerdings teilt die Kommission diese Bedenken nicht, vgl. Schlußbericht, S. 90. 146 Ansonsten läge in der Streichung möglicherweise nur eine "kosmetische" Korrektur, vgl. Schlußbericht, S. 90. 147 Siehe dazu die Ausführungen im nachfolgenden Untertitel 234. 148 Bedenken gegen eine "zu großzügige Beurteilung der Spezialität der Verordnungsermächtigungen", die "leicht zu einer Aushöhlung des Art. 80 Abs. 1 GG und damit zu einer Beeinträchtigung des Prinzips der Rechtssicherheit" und "der Gewaltenteilung führen kann" erhebt Paulick, Lehrbuch, S.103. 149 Soell, Ermessen, S. 112.
150 zumindest in der Primärargumentation. 151 Vgl. dazu Hess, Analogieverbot und Steuerrecht, S. 167, 162/163, "Eingriffsverwaltung in seiner reinsten Form"; siehe hierzu aber Klein, Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nachfolgend im Text zitiert; beachte auch Spitaler, Die Ermächtigung an die Vollzugsgewalt im Steuerrecht, FR 1954, S. 442 ff. (442), der für eine wegen der Kompliziertheit
4 Häcker
50
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
besonders hohe Anforderungen zu stellen sind152, und Felix hält das Steuerrecht für "spürbarstes Eingriffsrecht", das nur erträglich sei, ,,wenn es gleichmäßig vollzogen und aufgrund e_ines Tatbestandes vorausberechenbar ist" 153• Mit dieser Formel würde sich die Bestimmtheit von steuerrechtliehen Ermächtigungsnormen und unbestimmten Rechtsbegriffen i. S. von Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG wieder mehr an dem Grundprinzip Rechtssicherheit154 in ihrer formalen Komponente Voraussehbarkeit orientieren. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes im Finanz- und Steuerrecht bestätigen die Überlegung in vollem Umfange. Zunächst einmal hatte das Bundesverfassungsgericht dem im Steuerrecht verstärkten Bedürfnis nach Rechtssicherheit in seiner "Salamander"-Entscheidung vom 5. März 1958155 Rechnung getragen und gesagt: "... dabei sind bei der Anwendung des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG an die inhaltliche Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm in Eingriffsgesetzen besonders strenge Anforderungen zu stellen." Diese tendenzielle Verschärfung für das Steuerrecht hat Klein 1962156 mit dem Hinweis kritisiert, es dürfe nicht übersehen und verkannt werden, "daß die mancherlei Eigenheiten und Besonderheiten, die Wesensart und Kompliziertheit des Steuerrechts nicht in allem eine Gleichstellung seiner Rechtsnormen mit Eingriffsnormen anderer Art (insbesondere des Polizeirechts) zulassen". Dessen ungeachtet hat das Bundesverfassungsgericht in einer jüngeren Entscheidung im Jahre 1968157 diese Verschärfungstendenz wieder bestätigt und ausgeführt: "Wenn auch die Anforderungen des Art. 80 Abs.1 S. 2 GG bei Ermächtigungen zu belastenden Normen strenger sein mögen als bei Ermächtigungen zu begünstigenden Regelungen, so kann auch im letzteren Fall nicht
darauf verzichtet werden, daß Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung hinreichend bestimmt sind ...1ss."
des Steuerrechts notwendige großzügigere Handhabung der Ermächtigungspraxis plädiert. m Vgl. Hasskarl, S. 110; Gropp, Die Rechtsfortbildung contra legem, S. 216; Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 217; Weber, JuS 1967, S.138. 153 Felix, Steuerrecht und Verwaltungsrecht, in: Gegenwartsfragen des Steuerrechts, Festschrift für Spitaler, 1958, S. 135 ff. 154 Nach Hartz., Auslegung, S. 38, "derjenige Zustand, in dem Sicherheit darüber besteht, was geltendes Recht ist und daß das geltende Recht auch verwirklicht wird". 155 s. 302. 158 Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, Bd. 2, s. 25. 157 Beschluß 2 BvL 15/56 v. 30.1.1968, BVerfGE 23, 62 f. (73) [betr. Art. 2 Ziff. 2 Buchst. e des Gesetzes zur Änderung des EStG und KStG v. 29. 4. 1950]. 15s Hervorhebungen vom Verfasser.
li. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegrüfe
51
Darüber hinaus stellte das Gericht bei der Präzisierung des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ausdrücklich darauf ab, daß Ermächtigungsnormen nicht so unbestimmt sein dürfen, "daß nicht mehr vorausgesehen158 werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird ...159." und begründet die Erkenntnis der Nichtigkeit der angegriffenen Norm u. a.160 damit, daß "der Staatsbürger161 daher nicht erkennen konnte, mit welcher Tendenz von der Ermächtigung Gebrauch gemacht würde und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben könnten161." Auch aus den Begründungen anderer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zum Finanz- und Steuerrecht wird deutlich, daß der Gedanke des Vertrauensschutzes des Bürgers im Vordergrund gestanden hatte. Das gilt nicht nur für die Entscheidungen der fünfziger Jahre, z. B. den Beschluß vom 11. 2. 1958 (§ 18 I Nr. 2 UStG) 183, das Urteil vom 5. 3. 1958 (§ 8 UStG "Salamander")164, das Urteil vom 15. 12. 1959 (Verkehrsfinanzgesetz, Beförderungssteuer) 165, den Beschluß vom 10. 10. 1961 (§ 3 I KVStG) 166• 167, sondern auch für die der nachfolgenden Zeit, wie den Beschluß vom 27. 11. 1962 (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 UStG i. d. F. v. 14.11. 1951)168 und insbesondere für den Beschluß vom 2. 6. 1964 (Beförderungssteuer, Verkehrsfinanzgesetz) 169, in dem es wörtlich heißt: 159
s. 72.
Da es sich um die Ermächtigung zu einer begünstigenden Verordnung handelte (steuerrechtliche Begünstigungen von Erfindereinnahmen), prüfte das Gericht zusätzlich das Gewaltenteilungsprinzip, indem es das gesetzgeberische "Programm" durch (auch historische) Auslegung zu ermitteln suchte. 161 Hervorhebungen vom Verfasser. 160
162
s. 72/73.
S. 274: "voraussehbar in welchen Fällen ...". 164 Leits. 3: "vorhersehbar, was vom Bürger gefordert werden kann ... ". 165 S. 258: "Voraussehbarkeit" nicht vorhanden. 166 S. 160: " ... so daß die Steuerlast meßbar und in gewissem Umfang für den Staatsbürger voraussehbar und berechenbar wird. Das folgt einmal aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ...". 187 Sachlich gehört in diesen Kreis auch der Beschluß vom 12. 11. 1958 (§ 2 Preisgesetz), da§ 2 Preisgesetz zur Vornahme von (belastenden) Verwaltungsakten ermächtigte und das Gericht ausdrücklich Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit für den Staatsbürger verlangte (S. 325) und hierzu auf den BayVerfGH 1, 81 (91) verwies. Vgl. auch den Beschluß 2 BvR 345/60 vom 14. 12. 1961, BVerfGE 13, 215, (224) [betr. § 206 LAG, Hypothekengewinnabgabe], in dem umgekehrt Vertrauensschutz verneint wurde, weil der Gesetzgeber "durch die steuerliche Vorschrift für den Betroffenen erkennbar eine zunächst systemwidrige und unbillige Regelung getroffen hat" (Hervorhebungen vom Verfasser). 168 S. 160: " . . . Ermächtigung darf nicht so unbestimmt sein, daß der Staatsbürger nicht mehr voraussehen kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden kann." 163
11. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
52
"Aus Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ergibt sich aber, daß eine Ermächtigung an den Verordnungsgeber so bestimmt sein muß, daß schon aus ihr und nicht erst aus der auf sie gestützten Verordnung erkennbar und voraussehbar ist, was von dem Bürger gefordert werden kann. Dagegen verstößt ein Gesetz, das eine Steuer einführt, und es dem Verordnungsgeber überläßt, das für sie Wesentliche zu bestimmen170." Daß diese Grundsätze ohne Einschränkung auch für unbestimmte Rechtsbegriffe Geltung haben, wurde schon ausgeführt171 und vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 10. 10. 1961 zum § 3 Abs. 1 KVStG (unbestimmter Rechtsbegriff " .. . wenn die Darlehensgewährung eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt") ausdrücklich hervorgehoben172• Darüber hinaus stellt die bereits oben zitierte Entscheidung vom 2. 6. 1964 (Beförderungssteuer) in ihrer Begründung der Nichtigkeit der angegriffenen Norm auf die mangelnde Bestimmtheit der verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe ab 173, und in dem B~schluß vom 12. 1. 1967, der sich mit dem unbestimmten Rechtsbegriff "ungesunde Verteilung des Grund und Boden" im § 9 Abs. 2 Nr. 1 Grundstücksverkehrsgesetz zu befassen hatte174, wurde ausdrücklich das Erfordernis von Normklarheit und Justitiabilität u~d die Bedingung, daß der Betroffene die Rechtslage erkennen und sein Verhalten danach einrichten können muß, hervorgehoben. Als Ergebnis kann abschließend festgehalten werden, daß das Bundesverfassungsgericht bei Eingriffsnormen und hierbei auch belastenden Steuernormen primär die verfassungsrechtlich gebotene Bestimmtheit immer noch am Erfordernis der Voraussehbarkeit mißt175• 176 • 169
s. 61.
Hervorhebungen vom Verfasser. m 2. Kapitel, II., 3., a).
110
172
s. 160.
Vgl. S. 61/62. 174 S. 79; keine steuerrechtliche Entscheidung, aber doch "Eingrifisnorm"; vgl. hierzu auch den Beschluß 1 BvL 12/63 vom 7. 4. 1964, BVerfGE 17, 306 ff. (314) [betr. § 1 Abs. 2 Nr. 1 PersBefG vom 21. 3. 1964; "Mitfahrerzentrale"], in dem es heißt, daß der einzelne vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu schützen ist und: Ein "gesetzliches Verbot muß inhaltlich so klar formuliert sein, daß die davon Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach bestimmen können". Vgl. auch BVerfG-Beschluß 2 BvL 18/63 ... 533/65 vom 11. 3.1968, BVerfGE 23, 208 ff. (224/228) [betr. § 19 Abs. 1 Milch- und Fettgesetz, unbestimmter Rechtsbegriff "Verarbeitungsbedarf"]. 175 So auch Weber-Fas, Finanzgerichtsbarkeit im freiheitlichen Rechtsstaat, 173
S.1950. 176 Geitmann, Bundesverfassungsgericht und "offene" Normen, Zur Bindung des Gesetzgebers an Bestimmtheitserfordernisse, Berlin 1971, S. 96 ff.,
kritisiert dieses "subjektive Verständnis der Voraussehbarkeit", das das Bundesverfassungsgericht als Maßstab verwende. Angesichts "des immer mehr anschwellenden und sich komplizierenden Gesetzesrechts" (gerade im Steuer-
II. Tatbestandsmäßigkeit und unbestimmte Rechtsbegriffe
53
Dieses Ergebnis kann auch durch folgende Überlegung gestützt werden: Bei der Einteilung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG in drei Phasen hat HasskarP77 zutreffend die jeweils anderen "Adressaten" beim Voraussehbarkeits-, Selbstentscheidungs- und Programmargument herausgestellt, auch richtig die fallenden Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtes erkannt, daraus aber keine weiteren Schlüsse gezogen. Dabei liegt es auf der Hand, daß in den drei Phasen jeweils ein anderes der drei hinter Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG stehenden Grundprinzipien Vorrang genoß. Die verschiedenen Adressaten der drei Phasen repräsentieren unterschiedliche Prioritäten bezüglich des Rechtsstaatsprinzips, der Gewaltenteilung und der Rechtsschutzgarantie. In der ersten Phase, im Voraussehbarkeitsargument, spiegelte sich das Rechtsstaatsprinzip in seiner Komponente Rechtssicherheit wider. Adressat konnte in erster Linie nur der Staatsbürger sein. In der zweiten Phase hatte sich der Gesetzgeber auf das Gewaltenteilungsprinzip zu besinnen und in der dritten Phase waren Rechtsschutzgarantie und Praktikabilität angesprochen. Hieraus läßt sich die Frage, ob im Steuerrecht stärkere Anforderungen bezüglich des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zu stellen sind, ebenfalls eindeutig beantworten: Gewaltenteilungsprinzip, Rechtsschutzgarantie und auch Praktikabilität müssen in diesem Rechtsgebiet hinter dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in seiner Komponente Rechtssicherheit-Vertrauensschutz zurücktreten178• Das gilt jedenfalls bei "Ermächtigungsnormen", gleichgültig, ob Gesetze oder unbestimmte Rechtsbegriffe, die belastender179 Natur sind. Hier kann Adressat primär nur der Steuerbürger in seinem Interesse nach Vorhersehbarkeit sein180• Inhalt, Zweck recht) könne man nicht vom Laienverständnis die Gültigkeit des Gesetzes abhängig machen. Ähnliche Bedenken äußert auch Gropp, Die Rechtsfortbildung contra legem, S. 210 ff. 177
s. 104 ff.
(111).
Das bedeutet nicht, daß die anderen verfassungsrechtlichen Grundprinzipien unberücksichtigt bleiben. Vielmehr wird in den Entscheidungen häufig auch aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung oder der Rechtsschutzgarantie heraus argumentiert; nur steht erkennbar die Beachtung der "Rechtssicherheit" im Vordergrund der die Entscheidungen tragenden Überlegungen. Vgl. dazu auch Zippelius, Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung, S. 152: "Die Rechtssicherheit fordert eine strikte Beachtung des formalisierten Rechts, und sie verbindet sich in dieser Forderung auch mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung, der solche Rechtsergänzungen grundsätzlich dem Gesetzgeber vorbehalten hat." 179 So ganz deutlich BFH-Urteil II 141/65 vom 21. 10. 1969, Bd. 97, S. 320 (326) betr. Frage der Anwendung von § 2 KapErtrStG auf KapErh. einer GmbH u. Co. KG... . "sind der Rechtsfindung nicht die Grenzen gesetzt, die bei der Anwendung steuerbegründender oder steuererhöhender Normen bestehen" (mit weiteren Hinweisen auf BFH-Entscheidungen). 180 Auf einen (verminderten) "Vertrauenstatbestand allenfalls im Grundsatz" beruft sich aber Kirchhof!, Das Hervorbringen von Normen und sonsti178
54
II. 2. Kap.: Steuerrecht und unbestimmte Rechtsbegriffe
und Ausmaß einer belastenden Steuernorm - insbesondere auch eines belastenden unbestimmten Rechtsbegriffes - sind daher stets vorrangig unter dem Rechtsstaatsprinzip zu betrachten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen zum Steuerrecht ergangenen Entscheidungen klar unter diesem Gesichtspunkt judiziert. Eine parallele Situation findet sich im Recht der kommunalen Abgaben, in dem ebenfalls häufig unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet werden181 • Auch hier orientiert sich die Rechtsprechung vorwiegend an den hohen Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes des Unterworfenen 182• Zu einer grundsätzlich anderen Auffassung des Bestimmtheitsgrundsatzes des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG gelangt - abweichend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes - Geitmann183• Ausgehend von der Überlegung, daß Bestimmtheit nach Inhalt, Zweck und Ausmaß eine kaum faßbare quantitative Frage sei, sieht er als Maßstab für mangelnde Bestimmtheit lediglich die Regelung der Aufgabenverteilung zwischen Normgeber und Normvollzieher an. Unter dem Gesichtspunkt eines richtig verstandenen demokratischen Prinzips und der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlamentes habe sich dieses auf die "wesentlichen" Fragen zu konzentrieren. Dieses führt zu einem erheblich erweiterten Zuständigkeitsbereich des Normvollziehers und damit zu stark verminderten Bestimmtheitsanforderungen, insbesondere bei offenen Normen184• Die Verfassungsgrundsätze, Rechtssicherheit, Voraussehbarkeit, Gewaltenteilung lehnt Geitmann als Kriterien für Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ab, da eine teleologische Auslegung ergebe, daß Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG lediglich eine der demokratischen und rechtsstaatliehen (!) Gesamtordnung entsprechende Aufgabenverteilung zwischen der Legislative und Exekutive bei der Rechtssetzung sichern solle. Die Auffassung Geitmanns bietet ohne Zweifel den Vorzug einer leichter als bisher möglichen Grenzziehung im Bereich des Art. 80 Abs. 1 gern Recht durch die Finanzbehörden, S. 462, der für die Richtigkeit einer "Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Verwaltung" im Rahmen des Art. 80 GG plädiert. 181 z. B. in Abwassersatzungen "dringendes öffentliches Bedürfnis", "schwerwiegende Gründe", "erhöhte Kosten", "erhöhter Verschmutzungsgrad" etc. 182 Vgl. dazu mit ausführlichen Hinweisen auf Literatur und Rechtsprechung Barocka, Anforderungen an den Grundsatz der Bestimmbarkeit des Abgabenrechts bei der Erhebung von kommunalen Abgaben, DVBI. 1967, s. 557 ff. 183 Bundesverfassungsgericht und "offene" Normen, S. 30/31, 45 ff., 52 ff., 88 ff., 112-116 ff., Zusammenfassung S. 165 ff. 184 und umgekehrt zu erhöhten Anforderungen im funktionalen Zuständigkeitshereich des Gesetzgebers. Auf die sich hier aufdrängende Frage, ob im Steuerrecht dann die "historische" Komponente der Tatbestandsmäßigkeit eine Funktionszuweisung an den Gesetzgeber bewirken würde, geht Geitmann nicht ein.
III. Zusammenfassung des 2. Kapitels
55
S. 2 GG, aber sie schüttet auch das Kind mit dem Bade aus, denn eine Judikatur unter seinen Vorstellungen müßte erst auf eine Änderung der Verfassung und der ihr zugrunde liegenden Wertentscheidungen im Bereiche der Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und des Rechtsschutzes warten185 • 111. Zusammenfassung des 2. Kapitels 1. Im Steuerrecht ist die häufigere Verwendung unbestimmter Rechts-
begriffe durch die Eigenheit dieses Rechtsgebietes bedingt und ein hier besonders auffälligs Kennzeichen für die Grundproblematik kodifizierten Rechts, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit miteinander in Übereinstimmung zu bringen.
2. Mit dem im Grundgesetz nicht ausdrücklich ausgesprochenen, verfassungsrechtlich und verfassungshistorisch aber eindeutig abgesicherten Grundsatz der "Tatbestandsmäßigkeit im Steuerrecht" lassen sich unbestimmte Rechtsbegriffe dann vereinbaren, wenn sie gern. Art. 80 Abs.l S. 2 GG nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmt sind. 3. Hierbei ist dem heute als allgemeines Prinzip anerkannten Bestimmtheitsgrundsatz im Steuerrecht unter vorrangiger Beachtung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Komponente - Rechtssicherheit Rechnung zu tragen, um dem im Eingriffsverwaltungsrecht verstärkt auftretenden Anspruch des unterworfenen Bürgers auf Schutz seiner Vertrauenssphäre Geltung zu verschaffen.
185 Der Versuch, die Forderung der Verfassung nach gesetzlicher Bestimmtheit auf einen funktional verstandenen Gesetzesbegriff zu reduzieren, findet sich auch auf anderer - nicht verfassungsrechtlicher - Ebene wieder und wird in dieser Arbeit behandelt. Vgl. dazu die Diskussion um die kompetenzielle Aufgabenverteilung der Gewalten - III. Teil, 2. Kap. dieser Arbeit.
III. TEIL
Der unbestimmte Begriff "Wirtschaftsgut" im Einkommenssteuerrecht Ziel dieses Teiles der Arbeit ist es, zu zeigen, wie sich die vorhergegangenen Überlegungen und Ergebnisse im unbestimmten Rechtsbegriff "Wirtschaftsgut" widerspiegeln. Hierbei sind zwei Hauptfragen interessant:
1. Zu welcher Kategorie der unbestimmten Rechtsbegriffe gehört das "Wirtschaftsgut" und 2. genügt der Begriff den erörterten Erfordernissen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG, insbesondere der Notwendigkeit der Voraussehbarkeit an steuerlicher Belastung der Betroffenen? Um beide Fragen bantworten zu können, muß dargelegt werden, in welchem rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang der Begriff steht und welche betriebswirtschaftliehen Überlegungen ihn beeinflussen. Erst aus dem so gewonnenen Verständnis sind Inhalt, Zweck und Ausmaß (Grenzen) zu erkennen.
1. KapiteL
Das "Wirtschaftsgut" als wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff im Einkommenssteuerrecht I. Das "Wirtschaftsgut" als zentraler Begriff des Einkommenssteuerrechts 1. Definition und Darstellung der Problematik
Die gesetzlich nicht definierte Formulierung "Wirtschaftsgut" findet sich in mehreren Vorschriften• desjenigen Teiles des Einkommenssteuergesetzes (EStG) 2 , der sich mit der Ermittlung des gewerblichen "Gewinnes" befaßt3 • Hierbei ist in § 4 Abs. 1 EStG die Grundform der Gewinnermittlung festgelegt''. Berücksichtigt man Entnahmen und Einlagen einmal nicht, so ergibt sich der Gewinn eines Wirtschaftsjahres aus dem Unterschied des Betriebsvermögens am Ende des Wirtschaftsjahres zu dem am Beginn des Wirtschaftsjahres. Die Übersicht, in der dieser "Betriebsvermögensvergleich" vorgenommen wird, ist die Steuerbilanz. Diese Methode der Gewinnermittlung liegt auch dem § 5 EStG zugrunde; nur ist das Betriebsvermögen hier nach den "handelsrechtlichen 1 Insbes. §§ 4 I; 5 II; 6 I, S . 1, 2 EStG, vgl. aber auch §§ 4 III; 6b I-V; 7 I-III; 7 a I-IV; 7 d I-IV; VI-VIII; 10 b I , 2; 16 III; 51; 52; 75 II EStG. 2 § 4-7 e EStG, vgl. auch § 2 IV- Ziff. 1 EStG. 3 Gemessen an der großen Bedeutung in der gewerblichen Wirtschaft (beachte auch § 5 I und § 6 I, 1 KStG und §§ 8, 9 GewStG) sind die einkommenssteuerlichen Bestimmungen zur Gewinnermittlung nicht zahlreich. Sie werden ergänzt durch einige §§ des HGB (z. B. §§ 38/39/40) und des Aktiengesetzes (§ 148 ff., insbes. §§ 148-161), bilden aber auch mit diesen zusammen nicht mehr als einen gesetzlichen Rahmen, der vor allem auf dem Schwerpunktgebiet, dem Bilanzsteuerrecht, durch kaufmännische Übung und eine umfangreiche Rechtsprechung ausgefüllt wird. Den Vorteilen eines solchen weiten Rahmens, der Anpassungsfähigkeit an die ständige wirtschaftliche Weiterentwicklung und der Offenheit für Impulse aus der Betriebswirtschaftslehre (vgl. degressive AfA, Gruppen- und Festbewertung etc.) stehen die Nachteile eines großen Spielraumes für Verwaltung und Rechtsprechung in der Auslegung und Anwendung der Gesetze und damit die Gefahr der Widersprüchlichkeit und Uneinheitlichkeit gegenüber; vgl. dazu auch die nachfolggenden Ausführungen im Text. 4 Auf die sog. Überschußrechnung des § 4 III EStG braucht nicht eingegangen zu werden.
58 III.l. Kap.: "Wirtschaftsgut" -wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff
Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung" (G. o. B.)5 auszuweisen. Die Gewinnermittlung nach§ 5 EStG ist das Kerngebiet des EStG. Hiernach bilanzieren alle gewerblichen Unternehmer, die entweder aufgrund gesetzlicher Vorschriften6 oder freiwillig Bücher führen und einen Jahresabschluß erstellen7 • Die Bilanz kann kurz erklärt werden, als ein Rechenwerk, das auf der Aktivseite im Unternehmen vorhandene Vermögensgegenstände und auf der Passivseite die Schulden des Unternehmens ausweist8 • Die Differenz zwischen beiden Seiten ist das Reinvermögen der Unternehmung. Der Vergleich des Reinvermögens am Bilanzstichtag mit dem des letzten vorhergegangenen Bilanzstichtages ergibt das wirtschaftliche Ergebnis der abgelaufenen Periode9 • Das ist der in§§ 4 Abs. 1, 5 EStG umschriebene Vorgang. Zum Mittel der Erfolgsrechnung wird die gewöhnliche Jahresbilanz allerdings nicht nur dadurch, daß sie den Betriebsvermögensvergleich ermöglicht, sondern mehr noch durch ihre Verbindung mit der Gewinnund Verlust-Rechnung. Diese enthält alle Aufwendungen und Erträge des Geschäftsjahres, während die Bilanz alle "Bestände" 10 aufnimmt. Die Verbindung zwischen beiden wird durch das System der doppelten 5 Aus dieser Verweisung auf die G.o.B. ergeben sich eine Fülle von Problemen und Streitfragen; vgl. dazu besonders noch im folgenden Text. 6 Vgl. § 1, 2, 6 HGB; § 141 AO 1977- früher§ 161 I RAO. 7 Danach kommt § 4 I EStG nur noch für Land- und Forstwirte in Betracht, die nach§ 141 AO 1977 buchführungspflichtig sind. 8 Interessiert man sich mehr für die Finanzierungsmittel, so zeigt die Passivseite die Herkunft der Kapitalien, die Aktivseite die Verwendung derselben an. 9 Rechnerisch ergibt sich die Gleichung: Aktivseite (Rohvermögen) abzüglich Schulden = Reinvermögen bilanztechnisch folgt daraus: Aktivseite (Rohvermögen) = Schulden+ Reinvermögen:
Aktiva Anlagevermögen
Bilanz Reinvermögen
Passiva Eigenkapital
Grund/Stammkapital
........................................................ Rücklagen
........................................................
Umlaufvermögen
Gewinne Fremdkapital
Verbindlichkeiten und Rückstellungen
Vgl. Bühler/Scherpf, Bilanz und Steuer, 7. Aufl. 1971, S. 15 ff.; v. d. Heyden/ Körner, Bilanzsteuerrecht in der Praxis, 3. Aufl., S. 47. 10 Hierunter wird das für den Betrieb zu einem bestimmten Zeitpunkt noch verfügbare Vermögen verstanden.
I. "Wirtschaftsgut"- zentraler Begriff im Einkommenssteuerrecht
59
Buchführung hergestellt, das- vereinfacht ausgedrückt- so aussieht, daß jede Buchung zweimal erfolgt, einmal in der Bilanz und einmal in der Gewinn- und Verlustrechnung11 • Das Betriebsvermögen, das am Jahresende festzustellen ist, zerfällt bei näherem Hinsehen in eine Vielzahl von aktiven und passiven Bilanzpositionen. Hier wird der Begriff des "Wirtschaftsgutes" zum Zentralbegriff der Steuerbilanz. Er bestimmt im wesentlichen die Frage, "was" in der Bilanz zu stehen hat, also die "Bilanzierung dem Grunde nach" 12. Durch die Verweisung (§ 5 Abs. 1 EStG) auf die "handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (G. o. B.) fließen in diesen Begriff in § 4 EStG die Grundprinzipien handelsrechtlicher Bilanzierung ein. Das war früher sehr umstritten, und eine starke Strömung in Literatur13 und Rechtsprechung14 sah in der Formulierung des § 6 EStG a. F. "für die Bewertung der einzelnen Wirtschaftsgüter, die dem Betriebe dienen ... " den Beweis dafür, daß § 6 und damit das "Wirtschaftsgut" eine eigenständige steuerliche Bilanzierungsvorschrift sei, die eine steuerliche Bilanzierung unabhängig von den G. o. B. erlaube. Seit der gesetzlichen Neuformulierung des§ 6 EStG15 11 z. B. Mieten, Löhne, Steuerzahlungen, Abschreibungen auf Anlagen und Gebäude etc. vermindern die Aktivseite der Bilanz (Bank/Kasse/Anlagen) und sind Aufwendungen in der Gewinn- und Verlustrechnung. Erlöse und a. o. Erträge in der Gewinn- und Verlustrechnung erhöhen die Bank-, Kasseoder Forderungskonten der Bilanz. 12 Auf die Frage, "wie" das Wirtschaftsgut in die Bilanz aufzunehmen ist, also die Frage nach dem Wert, der zahlenmäßigen Höhe, ist in dieser Arbeit nicht einzugehen. Bewertungsfragen können logisch erst erörtert werden, wenn ein bestimmter wirtschaftlicher Vorgang als überhaupt bilanzfähig und -pflichtig angesehen wurde. Die heftige, seit Jahrzehnten andauernde betriebswirtschaftliche und bilanzwissenschaftliche Diskussion um die geldmäßige Bewertung von Bilanzpositionen, die Fragen der Substanzerhaltung, Abschreibungen und "stillen" Reserven ist also in dieser Arbeit nicht tangiert. Vgl. dazu (nur beispielhaft): Albach, Rechnungslegung im neuen Aktienrecht, in: Neue Betriebswirtschaft, 19. Jg. 1966, 8.178 ff.; Hax, Der Bilanzgewinn als Erfolgsmaßstab, in: ZfB 34. Jg. 1964, S. 642 ff.; Stütze[, Bemerkungen zur Bilanztheorie, in: ZfB 37. Jg. 1967, S. 314 ff.; Moxter, Bilanzierung und unsichere Erwartungen, in: ZfhF N. F., 14. Jg. 1962, S. 607 ff.; Schneider, Ausschüttungsfähiger Gewinn und das Minimum an Selbstfinanzierung, in: ZfbF, 20. Jg. 1968, s. 1 ff. 13 Barske, Gedanken zum Verhältnis der Steuerbilanz zur Handelsbilanz, DB 1964, S. 1569 ff.; Birkholz, Das neue Aktienrecht in steuerlicher Sicht, BB 1966, S. 709 ff.; Schrader, Zu den Auswirkungen des Aktiengesetzes auf das Bilanzsteuerrecht, DB 1966, S. 1144 ff.; Börnstein, Die Aktivierung von Versuchs- und Entwicklungskosten nach Handelsrecht und Steuerrecht, BB
1957,
s. 553 ff.
14 Vgl. FR-Urteil IV 403/62 U vom 29. 4. 1965, BStBl. 1965 III, S. 414 ff.; BFH-Urteil IV 116/64 U vom 18. 3. 1965, BStBl. 1965 III, S. 289 ff.; zum Schwanken des BFH in diesem Zentralproblem der Steuerbilanz vgl. Döllerer, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz, BB 1969, S. 501 ff.
60 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff "für die Bewertung der einzelnen Wirtschaftsgüter, die nach § 4 Abs. 1 oder nach § 5 als Betriebsvermögen anzusehen sind ..." ist klargestellt, daß der Begriff des Wirtschaftsgutes nicht isoliert von den G. o. B. zu sehen ist und keine selbständige Bedeutung im Steuerrecht genießt16• Er ist vielmehr auch nach heute h. AP identisch mit dem handelsrechtliehen "Vermögensgegenstand". Damit ist aber der Inhalt des Begriffes noch nicht erfaßt, denn erstens sind die G. o. B. in ihrer Rechtsnatur und rechtlichen Entstehung sowie ihrem Inhalte nach nicht eindeutig geklärt18, unterlagen auch im Laufe der Jahrzehnte stetigem Wandel, und zweitens wurde durch die Verweisung auf die G. o. B. der ,.Zielkonflikt" zwischen Handels- und Steuerbilanz in letztere hineingetragen19• Dies bildete den Anlaß für eine in den fünfziger Jahren einsetzende "Aktivierungswelle"20, in der unter dem vorrangigen Gesichtspunkt der periodengerechten Gewinnabgrenzung der Begriff des "Wirtschaftsgutes" unter Hintaustellung seiner bis dahin erarbeiteten Grenzen21 "dynamisiert" wurde oder aber die dynamischen Bilanzierungsgrundsätze überhaupt - unter Nichtbeachtung der Lehre von der Prädominanz des Wirtschaftsgutes22 - direkt zur Bilanzierung führten. Zum besseren Verständnis sei der nächste Titel zunächst der Unterscheidung zwischen statischer und dynamischer Bilanzauffassung und ihren möglichen unterschiedlichen Auswirkungen gewidmet. Dabei sollte nachfolgendes im Auge behalten werden: Entscheidet man sich dafür, eine bestimmte betriebliche Ausgabe dieser WirtschaftsÄnderungsgesetz vom 16. 5.1969, BGBI. I, S. 421. Vgl. dazu umfassend Thiel, Das Gesetz zur Änderung der §§ 5 und 6 EStG, FR 1969, S. 165 ff. (167); a. A. aber immer noch Littmann, Zur Tragweite der neugefaßten §§ 5, 6 EStG, DStR 1969, S. 321 ff. (336), der ausführt, daß das Steuerrecht völlig frei sei, einen eigenen Gewinnbegriff zu konzipieren, der mit dem Handelsrecht nichts mehr gemeinsam habe. Diese Auffassung (contra Iegern) begründet Littmann mit der unterschiedlichen Zielsetzung von Handels- und Steuerbilanz. 17 Vgl. Grass, Wandlungen im Bilanzsteuerrecht, StuW 1969, Sp. 605 ff. (614); so auch schon Döllerer, Rechnungslegung nach dem Aktienrecht und ihre Auswirkungen auf das Steuerrecht, BB 1965, S. 1405 ff.; sowie Fasold, Die Bewertungs- und Bilanzierungsbestimmungen des neuen Aktiengesetzes und das Steuerrecht, StbJb. 1966 1966/67, S. 407 ff. 18 Gemäß BVerfG-Beschluß 2 BvL 1/59 vom 10. 10. 1961 (betr. § 3 Abs. 1 KVStG) und ihm nachfolgend BFH-Urteil IV 472/60 vom 12. 5. 1966, BStBI. 1966 III, S. 372, sind sie unbestimmte Rechtsbegriffe. Zum Meinungsstand mit Literaturnachweisen Grass, Wandlungen im Bilanzsteuerrecht, Sp. 607/608, sowie Kruse, Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung. 19 Vgl. dazu nachstehend 2., c). 20 Döllerer, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz. 21 Vgl. dazu II., 1. und 2. dieses Kapitels. 22 Voraussetzungen für die Bilanzierung ist das Vorliegen eines Wirtschaftsgutes. 15
16
I. "Wirtschaftsgut"- zentraler Begriff im Einkommenssteuerrecht
61
periode, z. B. Werbungskosten, voll als Aufwand in die Gewinn- und Verlust-Rechnung zu übernehmen, da ein Gegenwert noch nicht erlangt wurde, so vermindert das in gleicher Höhe die Aktivseite (Kasse-, Bankkonto) in der Bilanz. Die Differenz zwischen Aktiv- und Passivseite der Bilanz wird damit geringer, der steuerliche "Gewinn" kleiner (§§ 4 Abs. 1, 5 EStG). Hält man es dagegen für richtig, diese Ausgaben nicht voll als Aufwand einzusetzen, weil man in der Chance, in der/den nächsten Periode(n) mehr Produkte verkaufen zu können, einen aktivierungsfähigen und -pflichtigen zukünftigen Unternehmensnutzen sieht, so vermindert sich die Aktivseite der Steuerbilanz und damit der steuerpflichtige Gewinn des Geschäftsjahres erheblich weniger. Hier liegt der "harte Kern" des Unterschiedes zwischen statischer und dynamischer Bilanzlehre bzw. zwischen statischer und dynamischer Interpretation des Begriffes "Wirtschaftsgut" in der Steuerbilanz. 2. Statische und dynamische Bilanzauffassung im Verhältnis zum "Wirtschaftsgut"
a) Statische Betrachtungsweise Sieht man Ziel und Aufgabe der Bilanz darin, den Stand des Vermögens zu einem bestimmten Zeitpunkt (Statut) darzulegen, muß sie "vor allen Dingen die einzelnen Theile des Vermögens angeben" 23 • Damit wird der Begriff des "Vermögensgegenstandes" bedeutsam24 • Ausgangspunkt und Basis dieses Begriffes sind die handelsrechtliehen Vorschriften, vgl. § 40 Abs. 2 HGB25 , mit der Erweiterung, daß unter "Vermögensgegenständen" nicht nur Sachen und Rechte, sondern wirtschaftliche Sachverhalte, die einen Verkehrswert besitzen und somit "übertragungsfähig und einer selbständigen Bewertung fähig sind, zu zählen sind" 26 • Die statische Bilanzauffassung fixiert also das Betriebsvermögen als Summe verschiedener bewertungsfähiger Wirtschaftsgüter zu einem bestimmten Zeitpunkt. Diese können- zunächst einmal allgemein aus23 So schon Simon, Die Bilanzen der Aktiengesellschaft und der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 3. Aufi. Berlin 1899, S. 118, der aber im Gegensatz zum Reichsoberhandelsgericht, Urt. v. 3. 12. 1873, vgl. Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts, hrsg. von den Räthen des Gerichtshofs, Bd. 12, Erlangen 1874, S. 17 (welches noch die Liquidationserlöse zugrunde legte) bereits von der Annahme der Unternehmensfortführung ausgeht. Vgl. dazu ausführlich Moxter, Bilanzlehre, 1974, S. 216. 24 May, Das Wirtschaftsgut, Kritische Analyse der steuerlichen Lehre vom Wirtschaftsgut aus betriebswirtschaftlicher Sicht, Schriftenreihe "Besteuerung der Unternehmung", Bd. 2, Wiesbaden 1970, S. 123. 25 So schon inhaltlich Art. 28 ff. (§ 31) ADHGB von 1861, später HGB von 1897. 26 Vgl. May, S.122; so auch schon Simon, S. 166.
62 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, norrnhaltiger Rechtsbegriff gedrückt- nur dann vorliegen, wenn bei aktiven Positionen ein Verkaufswert, bei passiven Positionen eine Belastung des Vermögens besteht. Die Ermittlung periodengerechten Ertrages und Aufwandes ist dabei weniger wichtig. Der Erfolg ist praktisch ein Nebenprodukt in der Bilanz. Der Ansatz der einzelnen Posten in der Bilanz erfolgt hier gemäß dem Gesichtspunkt kaufmännischer Vorsicht27 unter Beachtung des "Realisationsprinzips"28 und des "Niederstwertprinzips" 29 , die sich beide zum "Imparitätsprinzip"30 verbinden. b) Dynamische Betrachtungsweise
Die dynamische Bilanzauffassung sieht dagegen in den Bilanzposten nur Reste von Aufwendungen und Erträgen, die das abgelaufene Wirtschaftsjahr nicht berühren. Im Mittelpunkt des Interesses steht vielmehr die Erfolgsrechnung, in der Aufwand und Ertrag einander gegenübergestellt werden. Alles was an Einnahmen und Ausgaben in der abzurechnenden Periode noch nicht erfolgswirksam wird, muß in der Bilanz als "Kräftespeicher der Unternehmung" 31 gesammelt werden32• Die dynamische Funktion der Bilanz als das Erkennen der Wirkung von Kräften (Leistung und Kräfteverzehr)33 steht dabei vor dem Hauptproblem, die "Totalrechnung" (Erfolgsrechnung am Ende der Lebensdauer der Unternehmung) in die einzelnen Wirtschaftsjahre zu unterteilen, den Gesamterfolg den einzelnen Perioden zuzurechnen34• Im 27 Der Kaufmann soll sich zum Schutze seiner Gläubiger und zu seinem eigenen (Vorsicht bei zukünftigen Entscheidungen) nicht reicher darstellen als er ist. 2 s Erträge werden erst verbucht, wenn der Erfolg verwirklicht ist. 29 Von zwei möglichen Wertansätzen ist zum Bilanzstichtag der niedrigere zu wählen. 30 Dabei wird der Wertansatz der einzelnen Bilanzpositionen auf der Aktivseite nach oben, auf der Passivseite nach unten so begrenzt, daß unrealisierte Gewinne noch nicht, unrealisierte Verluste dagegen schon ausgewiesen werden. Vgl. dazu die aktienrechtlichen Vorschriften§§ 148-161 AktG 1965; vgl. Adler!Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Aktiengesellschaft, 4. Aufl., Bd. 1, Rechnungslegung Stuttgart 1968, Anm. 82 ff. zu§ 149 AktG 1965; Bühler!Scherpf, Bilanz und Steuer, S. 143 ff.; Reinen, Handelsbilanzen, 4. Aufl. Wiesbaden 1968. 31 Schmalenbach!Bauer, Dynamische Bilanz, 13. Aufl., bearb. v. Bauer, 1962,
s. 74.
32 um es später "nachzuverrechnen" oder zu "antizipieren", vgl. H. Münstermann, Dynamische Bilanz: Grundlagen, Weiterentwicklung und Bedeutung in der neuesten Bilanzdiskussion, in: ZfbF 1966, S. 512 ff. (514). 33 Schmalenbach, Dynamische Bilanz, 4. Aufl. Leipzig 1926, S. 80; vgl. auch Grass, Wandlungen im Bilanzsteuerrecht, Sp. 615: "Die Aktivierung von der
Ausgabenseite her ist eine durch die Schmalenbachsehe dynamische Bilanz]ehre ausgebildete . .. Betrachtungsweise." 34 Schmalenbach, Dynamische Bilanz, 4. Aufl., S. 96; Tomfohrde, Die dynamische Bilanzauffassung und das Bilanzsteuerrecht, Düsseldorf 1959, S. 13 ff.
I. "Wirtschaftsgut"- zentraler Begriff im Einkommenssteuerrecht
63
Grunde sind hier sämtliche Bilanzposten35 schwebende Posten und müssen gegenüber vorhergehenden und nachfolgenden Perioden abgegrenzt werden. Deshalb wird die dynamische Bilanz auch als Bilanz der Rechnungsabgrenzungsposten bezeichnet36• Da die Ermittlung eines genauen Periodenerfolges durch Abgrenzung der periodenfremden Aufwendungen und Erträge unmöglich is~7, wird die Errechnung eines vergleichbaren Periodenerfolges38 ebenfalls unter Beachtung des "Realisationsprinzips"39 sowie des "Niederstwertprinzips"40 vorgenommen.
c) Das Verhältnis von Steuer- und Handelsbilanz sowie statischer und dynamischer Betrachtungsweise Statisch gesehen ist die Handelsbilanz eine den handelsrechtliehen Vorschriften entsprechende Vermögensübersicht41 und die Steuerbilanz eine den steuerlichen Vorschriften entsprechende Vermögensübersicht42 • Beide43 ermitteln den Erfolg durch Betriebsvermögensvergleich. Hierbei ist die Steuerbilanz eine aus der Handelsbilanz abgeleitete44 und der anderen Zielsetzung des Steuergesetzgebers entsprechend modifizierte "Vermögensaufstellung". Die "Ableitung" ergibt sich aus der schon fast 100 Jahre45 im geltenden Steuerrecht verankerten Verweisung außer Kapital und Barvermögen. Littmann, Das Einkommenssteuerrecht, Kommentar zum Einkommenssteuergesetz, 11. Aufl. Stuttgart 1975, TZ 50 zu §§ 4/5. 37 Schmalenbach/Bauer, Dynamische Bilanz, 13. Aufl., S. 51. 38 Münstermann, Dynamische Bilanz, Weiterentwicklung ..., S. 515. 39 Schmalenbach, Dynamische Bilanz, 4. Aufl., S. 109; Münstermann, S. 515. 40 Vgl. Münstermann, S. 516; Lehmann, Die dynamische Bilanz Schmalenbachs, Darstellung, Vertiefung, Weiterentwicklung, Bd. 6 der Schriftenreihe Betriebswirtschaftliche Beiträge, Hrsg. Münstermann, Wiesbaden 1963, S. 50. 41 Vgl. § 39 Abs. 1 HGB "einen das Verhältnis des Vermögens und der Schulden darstellenden Abschluß". 42 Vgl. § 60 Abs. 3 S. 2 EStDV, § 2 Abs. 2 EStG, § 4 Abs. 1, 5 EStG. 43 Die Unterscheidung hat heute überwiegend nur noch für Kapitalgesellschaften Bedeutung (in der Handelsbilanz ausgewiesener Gewinn ist Voraussetzung für die Ausschüttungen an die Aktionäre). In Personengesellschaften und Einzelhandelsunternehmungen wird dagegen häufig nur noch die Steuerbilanz aufgestellt, vgl. auch Bühler/Scherpf, Bilanz und Steuer, S. 4, 145. 44 Vgl. § 5 EStG " ... nach den handelsrechtliehen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ... ". Auf die vielfältige Literatur zur Frage der "Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz (bzw. deren Umkehrung?) kann in dieser Arbeit nur verwiesen werden. z.B.: Albach, Gewinnrealisierung im Ertragssteuerrecht, in: StbJb. 1970/71, S. 287 ff.; Döllerer, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz in Gefahr, BB 1971, S. 1331 ff.; Schneider, Sieben Thesen zum Verhältnis von Handels- und Steuerbilanz, DB 1970, S, 1967 ff.; Schneider, Gewinnermittlung und steuerliche Gerechtigkeit, ZfbF 1971, S. 352 f.; ders., Gewinnbesteuerung und Untemehmenserhaltung, ZfbF 1971, S. 566; Niemann, Bilanzierungswahlrechte - Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Wahlmöglichkeiten für die steuerliche Gewinnermittlung, Institut "Finanzen und Steuern", Heft 98, Bonn 1971. 35
36
64 11!. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff auf die "handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung" (vgl. § 5 Abs. 1 des geltenden EStG), die nicht nur die Förmlichkeiten der Buchführung, sondern den materiellen Ansatz des Betriebsvermögens betreffen46. Die Zielsetzung der Handelsbilanz (heute i. d. Hauptsache die Bilanz der Aktiengesellschaften) ist in erster Linie die Rechenschaft der Geschäftsleitung47 und die Ermittlung des im Hinblick auf den Gläubigerschutzgedanken verteilbaren Gewinnes48. Das hieraus resultierende "Vorsichtsprinzip" mit seinen Detailausformungen Anschaffungsprinzip, Imparitäts- und Realisationsprinzip49 wird durch § 5 EStG in die Steuerbilanz übertragen50, während § 6 EStG den Grundsatz der Einzelbewertung51 auch in der Steuerbilanz verankert52, obwohl diese primär von der Zielsetzung des Gesetzgebers, den tatsächlich erwirtschafteten Gewinn des Jahres zu erfassen53, geleitet ist, wozu es u. a. gehört, die unangemessene Bildung stiller Reserven einzuschränken54. 45 Vgl. die geschichtlichen, in Abschnitt 2 dargestellten Wurzeln. 46 So Niemann, Bilanzierungswahlrechte, S. 27 f. 47 Kropf!, Aktiengesetz, Düsseldorf 1965, S. 216. 48 Vgl. auch§§ 120, 336 HGB. 49 Vgl. dazu die aktienrechtlichen Vorschriften, §§ 148-161 AktG 1965. 50 So der BFH in st. Rspr., vgl. zuletzt BFH IV R 59/73 vom 26. 6. 1975, BStBl. II 1975, 700 (704) = DB 1975, S. 1680. Damit werden auch die nach den handelsrechtliehen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung bestehenden Wertobergrenzen zum Steuerbilanzrecht; vgl. Rau, Steuerliche Übernahme handelsrechtlicher Bilanzierungsvorschriften, DB 1969, S. 676 ff. (677) " ... sind die handelsrechtliehen Bewertungsvorschriften, die den Charakter von Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung haben ... auch steuerlich zu berücksichtigen, soweit sie mit den steuerlichen Bewertungsvorschriften nicht in Widerspruch stehen"; ebenso Bühter/Scherpf, S.190, 457 f.; Döllerer, Wahlrechte bei der Aufstellung der Bilanz, BB 1969, S. 1445 ff (1445). Das gilt nicht nur für die Bilanz insgesamt, sondern auch für jede einzelne Bilanzposition, vgl. Herrmann!Heuer, Kommentar zur Einkommenssteuer und Körperschaftssteuer, Köln, Anm. 49 h II zu § 5 EStG. 51 Vgl. Adter!Düring!Schmaltz, Anm. 90 ff. Hierbei sind "Ausschüttungssperren" durch Höchstwertvorschriften (vgl. Atbach, "Fixwertprinzip") errichtet, die sicherstellen, daß das Vermögen der AG den Gläubigern erhalten bleibt; vgl. Moxter, Bilanzlehre, S. 54 ff. 52 Vgl. BFH IR 115171 vom 28. 3. 1973, BStBl. Il1973, 678 = DB 1973, S. 1533: "Das Einkommenssteuerrecht folgt in § 6 EStG dem Grundsatz der Einzelbewertung." 53 Unter dem Gesichtspunkt der steuerlichen Leistungsfähigkeit und Gleichmäßigkeit. Vgl. dazu den Beschluß des BFH, GrS 2/68, vom 3. 2. 1969, BStBl. 1969 II, 291, in dem wegen der besonderen Zielsetzung der steuerlichen Gewinnermittlung die handelsrechtliehen Wahlrechte für das Steuerrecht für unbeachtlich erklärt werden. Was handelsrechtlich aktivierungsfähig sei, müsse steuerrechtlich aktiviert werden und wenn handelsrechtlich nur ein Passivierungswahlrecht bestehe, sei dies steuerlich unbeachtlich! Der BFH bezieht sich hierbei auch auf Art. 3 GG (Gleichheit der Besteuerung). 54 Das Problem stellte sich vor der Neuregulierung des Aktiengesetzes 1965 stärker. Jetzt sind bereits in den §§ 153-156 AktG 1965 die Möglichkeiten unangemessener Reservenbildung eingeschränkt worden. Vgl. Anm. 51.
I. "Wirtschaftsgut"- zentraler Begriff im Einkommenssteuerrecht
65
Darüber hinaus ist aber zu berücksichtigen, daß auch den Bemühungen des Steuergesetzgebers um die Ermittlung des "objektiven" Gewinnes55 Grenzen gesetzt sind, die sich gerade auch wieder aus der gesetzlichen Verweisung auf die G . o. B. ergeben. Deshalb ist eine rein teleologische Auslegung des Einkommenssteuergesetzes, das ja "klassisches Eingriffsverwaltungsrecht" darstellt56, zum Nachteil des Steuerbürgers nicht möglich57. Diese unterschiedlichen Zielsetzungen liegen Handels- und Steuerbilanz aber auch zugrunde, wenn man die Handelsbilanz "dynamisch" interpretiert, denn das Vorsichtsprinzip etc. istja-worauf schon eingegangen wurde - auch bestimmend für die Lehre Schmalenbachs. Insoweit dürfte sich bei richtiger Anwendung der dynamischen Bilanzlehre eigentlich kein Unterschied zur statischen Betrachtungsweise ergeben58, und es müßten Auswirkungen auf die Steuerbilanz allein deshalb, weil "richtige Periodenabgrenzung" 59 angestrebt wird, unterbleiben. Daß dennoch zeitweise sogar erhebliche Auswirkungen festzustellen sind, liegt in der Übertragung der dynamischen Betrachtungsweise (Erfolgsermittlung von der Ausgabenseite 60 her; Ausgaben, die in der Periode nicht erfolgswirksam wurden, werden in der Bilanz gespeichert) auf die Erstellung des Betriebsvermögensvergleiches unter Nichtbeachtung der Voraussetzungen des Begriffes "Wirtschaftsgut". So wurde häufig verkannt, daß die Entscheidung darüber, eine Ausgabe sei nicht erfolgswirksam, noch nicht die Aktivierungsfähigkeit bejahte. Oder anders 55 Denn da die Handelsbilanz von eigenen Zwecken bestimmt ist, kann - wie Grass, Wandlungen im Bilanzsteuerrecht, Sp. 610, ausführt - nicht davon ausgegangen werden, daß die "ordnungsmäßige" Bilanz nach Handelsrecht mit der "wahren" Bilanz nach Steuerrecht (vgl. Lion, Der Reichsfinanzhof und das Steuerrecht, StW 1928, S(2. 1035 ff.) gleichgesetzt wird. 56 Vgl. II. Teil, 2. Kapitel. 57 So schon Eckhardt, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz, BB 1960, S. 1213 ff. (1214). 58 So auch Grass, Wandlungen im Bilanzsteuerrecht, S. 615. 59 Die Tatsache, daß beide Jahresabschlüsse, die des Kaufmannes und die des Staates, "richtige" Periodenabgrenzung zu erreichen versuchen, wird von einigen Autoren in der Weise verkannt, daß sie die Steuerbilanz automatisch mit dynamischer Betrachtungsweise gleichsetzen. Dabei wird aber übersehen, daß die oben genannten Zielsetzungen von Kaufmann und Staat unterschiedlich sind. Diese Differenzen sind über den Problemkreis - Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz I "Bilanzierungswahlrecht" - zu lösen. 60 Vgl. Grass, Wandlungen im Bilanzsteuerrecht, Sp. 615. Ursprünglich hatte aber bereits Lion, Der Reichsfinanzhof und das Bilanzsteuerrecht, Sp. 1035 ff. (1071) darauf hingewiesen, daß man das Aktivierungsproblem von zwei ganz verschiedenen Seiten aus betrachten könne, "einmal von der Aktivseite der Bilanz", das andere Mal von der Ausgabenseite aus". Vgl. auch Lion, Die dynamische Bilanz und die Grundlagen der Bilanzlehre, in: Zeitschrift für BWL 1928, S. 491 ff., 497 ff. 5 Häcker
66 III.l. Kap.: "Wirtschaftsgut" -wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff
ausgedrückt: Die Frage, ob ein bestimmter wirtschaftlicher Vorgang eine Erfolgschance der Zukunft darstellt und deshalb als vermögenswerter Gegenstand, als "Wirtschaftsgut" anzusehen ist, kann nicht allein oder überwiegend von der Ausgabenseite her beantwortet werden, also nur damit, daß Ausgaben, die sich noch nicht im Gewinn niederschlagen, vorliegen. Übersieht man das, weil man auch nicht beachtet, daß Schmalenbach zwar die Erfolgsrechnung, das EStG aber den steuerlichen Betriebsvermögensausgleich im Blickpunkt hat, verlieren sich die "Grenzen" des Begriffs "Wirtschaftsgut" im konturlosen Nebel von Zahlungsvorgängen. Ein solcher Begriff dürfte kaum den Erfordernissen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG entsprechen. Deshalb sollen im nächsten Abschnitt der Inhalt und die Grenzen des Begriffs Wirtschaftsgut untersucht werden.
II. Inhalt und Grenzen des unbestimmten Begriffes "Wirtschaftsgut" 1. Der Betriebsvermögensvergleich in geschichtlicher Entwicklung
Die gesetzliche Methode der §§ 4, 5 EStG, die Betriebsvermögen aus zwei aufeinanderfolgenden Wirtschaftsjahren zu vergleichen und deren Veränderung als steue rlichen Gewinn anzusehen, geht in direkter Linie bis zum preußischen Einkommenssteuergesetz von 1891 zurück61 • Vorbild für diese Regelung in der großen Steuerreform Preußens waren die bereits bestehenden Einkommenssteuergesetze anderer deutscher Staaten wie z. B. die Hansestädte Hamburg62 und Bremen63 und insbesondere das Königreich Sachsen64. In diesen Gesetzen war eine Abkehr für die gewerbliche Gewinnbesteuerung von der vorher bestehenden Rechtsüberzeugung erfolgt. Denn die alten europäischen Einkommenssteuergesetze65 besteuerten allein den Ertrag aus dauernden Quellen66 • Die Quellenbesteuerung hatte w iederum ihre Ursprünge im 61 Das preußische EStG vom 24. 6. 1891, GS S. 175, (nach dem Finanzminister Miquel benannte "Miquel'sche Steuerreform"). 62 Ziff. 6 des Anhangs zu § 4 des Hamburger EStG v. 7. 3. 1881. 63 Vgl. das EStG Bremens v. 17, 12.1874, GBl. S. 121. 64 Sächsisches EStG v. 22. 12. 1874, GuVOBl. S. 471, § 18 d i. d. F. v. 2. 7.
1878.
65 Siehe dazu die literaturreiche Darstellung bei Barth, Die Entwicklung des deutschen Bilanzrechts, Steuerrecht, Bd. II, 1, Stuttgart 1955, S. 118 ff. (123): So die englische Regelung, die heute noch gilt (Barth, S. 179/180/181); so die Einführung einer Klassen- und klassifizierten Einkommenssteuer in Preußen vom 1. 5. 1851, GS S. 193. Die Änderung durch Gesetz vom 25. 5. 1873, GS S. 213, berührte die Einnahme- und Ausgabenrechnung (Quellentheorie) jedoch nicht. Vgl. auch die Harnburgische Regelung des EStG v. 26. 3. 1866, GS Abt. I, Nr. 7, S. 12.
li. Inhalt und Grenzen des "Wirtschaftsgutes"
67
Lehenswesen und darauf fußend im Recht der Familienfideikommisse67, wonach dem jeweiligen Besitzer des Landgutes oder Kapitals allein der Ertrag, die Nutzung zustand. Das Gut oder Kapital selbst hatte er unverändert an seine Nachfolger weiterzugeben68 • Werterhöhungen des Gutes kamen also beim Einkommen nicht zum Tragen. Diese Einkommensvorstellung, die genau zwischen dem Landgut und dem darausfließenden Einkommen unterschied, wurde dann von den Gerichten auf andere Vermögensgüter übertragen69 (Staatspapiere) und wurde auch für die Betrachtung des steuerbaren Einkommens maßgebend. Demgegenüber entspricht die Methode, die Veränderung eines Vermögens (in Recheneinheit Geld ausgedrückt) der Besteuerung zugrundezulegen, der "Reinvermögenszugangstheorie" des Georg von Schanz70 und stellt den Anfang der modernen Einkommensbesteuerung dar. Die beruht auf dem Gedanken, alles, was in einer bestimmten Zeiteinheit über einen Anfangsbestand hinaus (in Geld umgerechnet) erworben wird, zu besteuern. Diese Nominalrechnung ist kennzeichnend für das Hinüberwechseln von der Güter- zur Geldrechnung der modernen Kapital- und Marktwirtschaft71 • Den Übergang hatte das Preußische Gesetz von 1891 auf dem Gebiet der gewerblichen Besteuerung in§ 14, der später§ 13 des Einkommenssteuergesetzes von 1906 wurde und in die Regelung des Einkommens66 § 19 des preußischen Gesetzes v. 1851/1873 erfaßte das Gesamteinkommen aus folgenden Quellen: Grundeigentum, Kapitalvermögen, Rechte auf periodische Hebungen oder Vorteile irgendwelcher Art, aus Ertrag eines Gewerbes oder irgendeiner Art gewinnbringender Beschäftigung. Vgl. Barth, S. 179. Bei der Ermittlung des gewerblichen Einkommens ging die preußische Regelung, wie in England - von einer Einnahme-Ausgabe-Rechnung aus, also nicht von einer Vermögensbilanz des AHGB (vgl. Barth, S. 178/179), hatte also dynamischen Charakter. Die Regel, daß Wertveränderungen des Anlagevermögens (capital profits oder capital losses) das Ergebnis nicht mindern dürfen, gilt im englischen Recht, das früher als Vorbild der preußischen Regeln von 1851/1873 diente, heute noch; vgl. Barth, S. 180/181. 67 "Verordnung" (Preußisches Allgemeines Landrecht von 1794, Teil II, 4. Titel, 2. Abschnitt, §§ 23/24), wonach ein bestimmtes Grundstück oder Kapital für immer oder mehrere Generationen bei einer Familie bleiben soll. 68 Vgl. Preuß. ALR, Teil Il, 4. Titel, 3. Abschnitt, §§ 72/73 und Teil I, Titel 18,
§ 6.
69 Vgl. Barth, S. 122/123 mit Hinweis auf Seltzer, H. Lawrence, The Nature and Tax treatment of Capital Gains and Losses, New York 1951, S. 16 ff. (25), für den nordamerikanischen Rechtskreis, der dem frühen deutschen Recht folgte. 70 Vgl. dessen Veröffentlichung "Der Einkommensbegriff und die Einkommenssteuergesetze", in: Finanzarchiv, Bd. 13 (1896), S. 1 ff. (7, 23); v. Schanz lieferte also die theoretische Begründung für die bereits in den gesetzlichen Regeln von Sachsen, Hamburg, Bremen und Preußen verankerten Methoden nach und begründete sie u. a. mit der "Leistungsfähigkeit" der steuerpflichtigen Personen, vgl. Finanzarchiv, Bd. 13 (1896), S. 7. 71 Vgl. Barth, S. 118.
68 1!1.1. Kap.: "Wirtscha:ftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff
steuergesetzes des Reiches von 1920 72 einging, vollzogen73• An dieser Art der steuerlichen Gewinnermittlung im gewerblichen Bereich hat sich bis heute nichts geändert7 \ auch wenn das Einkommenssteuerrecht ansonsten weder der "Reinvermögenszugangstheorie", noch der "Quellentheorie" von Hermann Fuisting oder Adolph Wagner gefolgt ist, sondern einen eigenständigen Einkommenssteuerbegriff zu entwickeln versuchte75. Diese Reinvermögenszugangstheorie, die auf einen veränderten Vermögensstatus abstellt, hat sich konsequent in der statischen Bilanztheorie fortgesetzt, während das Verfahren, den Ertrag nach den Erlösen abzüglich bestimmter Aufwendungen zu errechnen, also die periodengerechte Erfolgsermittlung der dynamischen Bilanzlehre, auf die "Quellentheorie" zurückgeht, für die ja das Vermögen selbst nicht entscheidend ist. Hat man das im Auge, wird sofort deutlich, daß die dynamische Bilanzlehre nicht erst mit Schmalenbach beginnt, obwohl er deren berühmtester Vertreter war76• Vielmehr wurde sie bereits lange vor ihm v. 29. 3. 1920, RGBl. S. 359, sog. Erzbergersehe Steuerreform. ansonsten aber ausdrücklich an der Quellentheorie festhalten (§ 7 des preußischen EStG v. 1891/1906). 74 Beachte aber die nachfolgenden Anmerkungen. 75 Vgl. amtliche Begründung zum EStG v. 10. 8. 1925, RGBl. I, S. 189; Amtliche Begründung, Verhandlungen des Reichstags, III. Wahlperiode 1924, Bd. 400, Drs. Nr. 795, S. 19/20; vgl. auch die amtliche Begründung zum EStG v . 16. 10.1934, RGBl. I, S . 1005; Amtliche Begründung, RStBl. 1935, S. 33. Anders noch die Begründung zum EStG 1920, vgl. Drs. der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Nr. 1624, S. 20 ff., die den Schanz'schen Einkommenssteuerbegriff unter Ablehnung der Quellentheorie übernahm. Allerdings kann m. E. davon ausgegangen werden, daß das EStG heute noch in diesen oder jenen Bereichen in seinen Wurzeln in diese großen Grundüberlegungen hinabreicht. So ist- neben der "statischen" Ermittlung des gewerblichen Gewinnes (- Reinvermögenstheorie -) - die Einteilung in die sieben Einkunftsarten ein Relikt der Quellentheorie. § 23 EStG, der "Spekulationsgewinne" nach 24 Monaten bei Grundstücken etc. und nach sechs Monaten bei beweglichen Wirtschaftsgütern nicht mehr der Einkommenssteuer unterwirft, fußt auf der Vorstellung der Quellentheorie, die in der Kapitalhergabe nicht das Anlegen einer bestimmten Geldsumme (mit der Möglichkeit des Wertzuwachses - so die Reinvermögenszugangstheorie), sondern nur den Erwerb einer möglichen Einkommensquelle sieht, deren Wertsteigerung selbst unbeachtlich ist. Dieser Gedanke liegt ebenso der Besteuerung von Kapitalerträgen zugrunde, vgl. § 20 EStG, wonach z. B. Dividenden aus Wertpapieren auch dann besteuert werden, wenn die Wertpapiere (Quelle) selbst im Wert gegenüber dem Anschaffungspreis stark gesunken sind. Auch in der Problematik des Rechnens mit "eisernen Beständen" (vgl. BFH-Urteil v. 1. 3. 1955, BStBl. III, S. 144) sowie den Verfahren der Bewertung (die ja in dieser Arbeit nicht behandelt wird), des Umlaufvermögens (vgl. die "Hifo"-, "Lifo"-, "Fifo"-Methoden) und der hier angestrebten Durchbrechung des "Normalprinzips" tauchen die Überlegungen der alten "Quellentheoretiker" im modernsten Gewande wieder auf. Vgl. auch die Diskussion um die Berücksichtigung der "Geldentwertung" bei der Gewinnermittlung. Dazu selbst Hartz, Steuerrecht und Geldentwertung, DB 1967, S. 1912 ff. 72
73
II. Inhalt und Grenzen des "Wirtschaftsgutes"
69
diskutiert77, zwar nicht in der durch ihn ausgelösten Prägnanz und Zielbestimmtheit, aber doch mit der gleichen Stoßrichtung, wie die Beratungen um jene gesetzlichen Regeln, die dem Preußischen Einkommenssteuergesetz von 1851 vorgingen oder auch nachfolgten, zeigen78 • Darüber hinaus steht aber auch fest, daß sich der Steuergesetzgeber schon seit über 100 Jahren für die statische Gewinnermittlungsmethode entschieden hat, und die Rechtsprechung ihm folgte 79 • Allerdings kann diese Überlegung nicht ausreichen, um einen ausschließlich "statischen Inhalt" des Begriffes Wirtschaftsgut zu begründen80 • Ebensowenig genügt es aber andererseits, darauf hinzuweisen81 , daß für Schmalenbach die Vermögensberechnung als Bilanzierungszweck nicht im entferntesten ausreichend gewesen sei, weil die Summen der einzelnen Werte der Bilanzpositionen kaum jemals dem "Gesamtunternehmenswert" entspräc,.~en. Vielmehr beruhe dieser auf der "Geeignetheit dieser Anstalt, nützliche Dinge herzustellen oder zu verrichten" 82 • Es ist zwar richtig83, 76 Vgl. seine Veröffentlichungen von 1908 bis 1919 in der Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung (ZfhF), wo er die Grundlagen seiner Bilanzlehre entwickelte, und die 13 Auflagen seines Werkes "Dynamische Bilanzlehre. Vgl. auch Seicht, Die Unhaltbarkeit der dynamisdlen Bilanztheorie, ZfB 1970, S. 589 ff., der ausführt, daß Schmalenbach nicht der erste Vertreter oder Schöpfer der dynamischen Bilanzlehre gewesen sei. Siehe auch Schneider, Entwicklungsstufen der Bilanztheorie, ZfB 1974, Heft 4, S. 158 ff. (161). 77 Es ist also durchaus eine geschichtliche Beziehung zwischen der dynamischen Bilanzlehre Schmalenbachs und den alten steuerrechtliehen Gesetzen festzustellen, vgl. Tomfohrde, S. 6, nur daß man zwei Dinge nicht übersehen darf: 1. Dies bezieht sich nicht auf die alten handelsrechtliehen Regeln; siehe dazu die nachfolgenden Ausführungen im Text. 2. Die steuergesetzlichen Regeln wurden 1891 geändert und sind danach gleichgeblieben. 78 Man war sich des grundlegenden Unterschiedes durchaus bewußt. Das zeigen die Beratungen um das EStG 1874 von Sachsen, berichtet von Dr. J. Gensel, Referent der zweiten Kammer des sächsischen Landtages, in : Hirths Annalen des Deutschen Reiches, Bd. 7 (1874), Sp. 1374 ff., zitiert nach Barth, S. 184, Anm. 24, ferner die Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft 1874, S. 422 ff., zitiert nach Barth, S. 189 ff., sowie die Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft im Jahre 1881, Harnburg 1882, Nr. 6 v. 31. 1. 1881, S. 11 ff., S. 22, zitiert nach Barth, S. 195 und nicht zuletzt die Beratungen um den preußischen Gesetzesentwurf von 1891. Vgl. dazu die Zitate aus den stenographischen Berichten über die Verhandlungen der Abgeordneten, 3. Session 1890/91, 7. Ligislaturperiode, Bd. 1, Nr. 5, zitiert bei Barth, S. 198 ff. 79 Vgl. das Urteil des OVG v. 7. 3. 1893, Bd. 1 in Staatssteuersachen, S. 247 ff. sowie das Urteil des OVG v. 13. 12. 1895, Bd. IV, in Staatssteuersachen, S. 241 ff. [betr. die Aktivierung einer vom neuen Pächter einer Mühle gezahlten Abstandssumme an den alten Pächter für die vorzeitige Räumung der Mühle]. 80 Das zeigt schon die Problematik um die sog. Rechnungsabgrenzungspasten in der Bilanz.
Tomfohrde, S. 10/11. Schma!enbach, Dynamische Bilanz, 8. Aufi. Bremen-Horn, Hamburg, Hannover-Döhren, ohne Jahr, S. 10, zitiert nach Tomfohrde, S. 11. 81
82
70 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff
daß ein fast immer (abgesehen vom Fall der Liquidation) entstehender Differenzbetrag mit statischer Methode bilanziell schwer auszuweisen ist84 und sich der Wert der Unternehmung als Organismus hauptsächlich erst aus dem kapitalisierten Zukunftserfolg ergibt; doch es soll auch nicht verkannt werden, daß die dynamische Bilanzlehre im Grundsatz nicht gesetzlich im EStG verankert ist, und gerade die unterschiedliche Bedeutung von Gewinn- und Verlustrechnung bzw. Bilanz in beiden Methoden zu einer anderen Auswirkung des kaufmännischen Vorsichtsprinzips in der Steuerbilanz führen kann. Denn in der statischen Bilanz soll das für die Ausgabe "Erlangte" vorsichtig eingeschätzt werden, in der dynamischen Bilanz dagegen der Nutzen (Einnahmeerzielung) einer Ausgabe der gegenwärtigen Periode für die kommenden Perioden vorsichtig beurteilt werden, wobei es auf den geschaffenen objektiven Wert nicht ankommt85 . Aus den in der steuerlichen Gewinnermittlung enthaltenen Normen, die eindeutig dynamisches Gedankengut widerspiegeln88, kann ebenfalls nicht auf einen grundsätzlich dynamischen Charakter der heutigen steuerrechtliehen Bilanzansätze geschlossen werden87, denn es gibt daneben auch Normen, die der Zielsetzung der Steuerbilanz (und damit der behaupteten Kongruenz zur dynamischen Bilanzlehre) direkt widersprechen88. Dennoch kann trotz des heute im EStG unveränderten Grundsatzes der statischen Gewinnermittlung der Ansatz einzelner Bilanzpositionen durchaus von dynamischen Überlegungen mitbestimmt werden89. Deshalb muß im folgenden auf den Inhalt des Begriffes "Wirtschaftsgut" näher eingegangen werden. 83
Tomfohrde, S. 11.
84 Vgl. dazu die modernen Verfahren und Überlegungen zur Unterneh-
m ensbewertung. 85 So auch Leykum, Wirtschaftsgut und dynamische Bilanzauffassung in der Steuerbilanz, ZfHF, Bd. 15 (1963), S. 397 ff. (411). 86 z. B. § 7 EStG (Vorschriften über die Abschreibung), § 6 a li (Bildung von Pensionsrückstellungen); vgl. dazu BFH-Beschluß GrS 1167 vom 7. 12. 1967, BStBl. 1968 II, 268. 87 Denn damit würde übersehen, daß es sich hierbei lediglich um Korrekturvorschriften gegenüber dem Betriebsvermögensvergleich gern. den G.o.B. handelt; so auch Gottschalk, Der Grundsatz der periodengerechten Gewinnabgrenzung im Steuerrecht, Dissertation, Münster 1972, S. 8. 88 Vgl. dazu § 5 III EStG (Begrenzung der Rechnungsabgrenzungsposten); § 5 II EStG (Verbot des Ausweises nicht entgeltlich erworbener immaterieller Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens), vgl. dazu Nissen, Änderung der §§ 5 und 6 des Einkommenssteuergesetzes, DStZ A 1969, S. 129. 89 Allerdings geht wohl Tomfohrde, S. 43/44, in seinen Folgerungen zu weit, wenn er meint, daß es der gesetzliche Rahmen "im vollem Maße" erlaube, "die Steuerbilanz im dynamischen Sinne auszulegen". Dieses wird sich bei näherer Betrachtung des Inhaltes des Begriffes "Wirtschaftsgut" zeigen.
li. Inhalt und Grenzen des "Wirtscllaftsgutes"
71
2. Die Entwicklung des Begriffsinhaltes "Wirtschaftsgut" bis zur gesetzlichen Verankerung im Einkommensgesetz 1934 und nachfolgend bis zum lnkrafttreten des Grundgesetzes
In § 4 des EStG von 193490 verwandte das Gesetz zum ersten Male die Formulierung "Wirtschaftsgut". "Dieser Begriff, den die Rechtsprechung des RFH entwickelt hat", umfaßte nach der Begründung des Gesetzgebers "Gegenstände, Rechte und wirtschaftliche Werte jeder Art" 91 • Bei den Überlegungen, welchen Inhalt der Gesetzgeber dem Begriff beilegte, muß Folgendes beachtet werden: Die tiefgreifende Änderung in den einkommensteuerliehen Regeln der großen Steuerreform Preußens von 1891, die den Betriebsvermögensvergleich bei der gewerblichen Gewinnermittlung verankerte und die bisherige Quellenbesteuerung verließ, war auf Veranlassung der Kreise von Handel und Gewerbe erfolgt92, die es müde waren, zwei Bilanzen zu erstellen, eine nach dem AHGB und eine nach der Quellentheorie für Steuerzwecke. Das fand unmittelbar in der gesetzlichen Formulierung des § 14 EStG 1891 seinen Ausdruck, die als "Einkommen aus Handel und Gewerbe" ... den "Geschäftsgewinn" bezeichnete und ausführte: ,.Mit dieser Maßgabe ist der Reingewinn aus dem Handel und Gewerbebetrieb nach den Grundsätzen zu berechnen, wie solche für die Inventur und BHanz durch das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch vorgeschrieben sind und sonst dem Gebrauche eines ordentlichen Kaufmanns entsprechen93." Diese Formulierung wiederholt die Gedanken des § 22 des sächsischen EStG von 187494 und findet sich auch schon in der Regelung Bremens95 und Hamburgs96 • Das ist kein Zufall, denn der Agrarstaat Preußen vollzog die Entwicklung langsamer als jene Länder mit schon erfahrenem und starkem Handelsstand, wie Sachsen und die Hansestädte. Die preußische Verweisung auf die Bilanz nach Allgemeinem Deutschen Handelsgesetzbuch und die Gebräuche ordentlicher Kaufleute bezüglich der Frage was in die Bilanz gehört, gelangte auch in die Einkommenssteuergesetze des Reiches von 192097 • 98 sowie 1925 und 193499 der an die Stelle des § 12 EStG 1925 getreten war. Vgl. amtliche Begründung, RStBI. 1935, S. 33 f.; s. auch Becker, Die Entwicklung des Steuerrechts durch die Rechtsprechung seit 1926, StuW 1928, Sp. 855 ff. (898 f.). 92 Vgl. Barth, S. 198. 93 Hervorhebungen vom Verfasser. 94 i. V. m. § 65 der Instruktion dazu, GuVOBl. S. 522, VIII. Abschn., B: Einkommen aus Handel und Gewerbe. 95 § 5 mit Anlage B, 7. 96 EStG v. 7. 3. 1881, dort Anhang Ziff. 5 und 6 zu § 4. 97 Vorher fand sie noch Eingang in die Gesetze von Württemberg, § 13 90
91
72 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff und findet sich noch heute in § 5 EStGtoo als das "Betriebsvermögen, das nach den handelsrechtliehen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen ist". Im AHGB und den Gebräuchen ordentlicher Bilanzierung liegen denn auch die Anfänge der Entwicklung des Begriffes "Wirtschaftsgut". Der Begriff selbst wurde erst später gefunden, die inhaltliche Entwicklung begann jedoch wesentlich früher. Sie bewegte sich gleichsam tastend vor, bis diejenige Stufe eines Konsenses erreicht war, die Formulierungen und Abstraktionen erlaubte, welche wiederum die Zusammenfassung unter dem Wort "Wirtschaftsgut" ermöglichten. Einen ersten Schritt unternahm die berühmtetot Entscheidung des ROHG vom 3. 12. 1873102, die ausführte: "... Die kaufmännische Bilanz hat den Zweck, die Übersicht und die Feststellung des Vermögensbestandes in einem bestimmten Zeitpunkte und damit zugleich, vermittelst der Vergleichung der für verschiedene Zeitpunkte aufgenommenen Bilanzen, auch das Resultat der Geschäftsführung während der dazwischen liegenden Periode zu bewirken. Alle einzelnen Aktiv- und Passivposten, aus welchen sich das Vermögen zusanmensetzt, sind hiernach zu dem gegenwärtigen Werte, den sie in dem-
jenigen Zeitpunkte, für welchen die Bilanz aufgenommen wird, besitzen, in die Bilanz einzustellen, wobei nur das Geld als der alleinige Wertmesser ... zum Grund gelegt werden kann."
Daraus ergab sich, daß in die Bilanz nur Aktiv- und Passivposten aufgenommen wurden, die überhaupt Vermögenscharakter besaßen, denen also eine rechtlich oder tatsächlich "greifbare"toa vermögenswerte Gegenständlichkeit beigelegt werden konnte. Allerdings blieb der Begriff der aktivierungsfähigen Bilanzposition nicht auf "Gegenstände" im zivilrechtliehen Sinne beschränkt104• So trat Ziff. 1 und 3, EStG v. 8. 8. 1903, RegBl. S. 261 i. V. m. § 9 der Verfügung des FinMin. v. 9. 6 1904, RegBl. S. 261 und von Bayern, Art. 14 EStG v. 14. 8. 1910, GuVOBl. S. 493, i. V. m. § 35 der Bekanntmachung zum Vollzuge des EStG v. 28. 5. 1911, GuVOBl. S. 455. os § 33 EStG v. 29. 3. 1920, RGBl. S. 359. 99 Vgl. § 13 EStG v. 10. 8. 1925 und §§ 4/5 EStG v. 16. 10. 1934, RGBl. I, S. 1005 i. d. F. v 15. 9. 1953 - EStG 1953 - BGBl. I, S. 1355. 100 § 5 EStG v. 16. 10. 1954 i. d. F. nach dem Gesetz zur Neuordnung der Steuern (Große Steuerreform) v. 16. 12. 1954 aufgrund der Neufassung durch die Bekanntmachung v. 21. 12. 1954 (EStG 1955), BGBl. I, S. 441. 101 berühmt wegen des Wertansatzes Liquidationswert oder "gemeiner Wert" bei Fortführung der Unternehmung. 102 Bd. 12, S. 17; Hervorhebungen vom Verfasser. 103 Bezüglich des Merkmales "greifbar" vgl. die nachfolgenden Ausführungen und Anmerkungen zum RFH-Urteil VIA 2002/29 v. 21. 10. 1931, Bd. 30, 8.142. 10' Da eine derartig enge Betrachtungsweise der Zielsetzung der Steuerbilanz nicht gerecht wurde; so schon Enno Becker, Zur Rechtsprechung, StuW 1928, Sp. 809 f.
II. Inhalt und Grenzen des "Wirtschaftsgutes"
73
der RFH in einem Urteil vom 27. 3. 1928105 , das noch heute von grundsätzlicher Bedeutung ist, der Vorstellung entgegen, nur Sachen und Rechte i. S. d. Zivilrechtes seien als Verkörperung von Vermögenswerten aktivierungsfähig106 • Das Urteil hatte deshalb grundsätzliche Bedeutung, weil hier die notwendigen Kriterien der Aktivierungsfähigkeit aufgestellt und zum ersten Male im Zusammenhang mit dem Begriff "Wirtschaftsgut" gebracht wurden107• Das RG führte damals aus: "Es besteht für einen kaufmännische Bücher führenden Gewerbetreibenden wegen derjenigen Wirtschaftsgüter 108, die er gegen eine Aufwendung, regelmäßig also gegen eine Geldleistung109, erworben hat, steuerrechtlich eine Aktivierungspflicht dann, wenn sie nach allgemeiner Verkehrsanschauung an und für sich einer besonderen Bewertung zugänglich109 sind und einen wesentlichen über die Dauer des einzelnen Steuerabschnitts wesentlich hinausreichenden Wert109 für das gewerbliche Unternehmen besitzen. Darunter können geeignetenfalls auch solche Erwerbungen fallen, die weder körperliche Sachen, noch Rechte im bürgerlichen Sinne begründen (man denke z. B. an den Erwerb ungeschützter aber wirtschaftlich bedeutsamer Erfindungen). Freili.ch stellt noch keineswegs jedweder gegen Entgelt erlangter wirtschaftlicher Vorteil ein solch steuerlich aktivierungspflichtiges Wirtschaftsgut 110 dar." Bemerkenswert an dem Urteil ist noch, daß ein Gedanke folgerichtig fortgeführt wurde, der sich bereits in der Entscheidung des RFH vom 21. 9. 1927 111 findet. Hierin bestätigte der RFH die Aktivierungspflicht für eine Geldsumme, die man für den Umbau eines Ladens aufgewendet hatte und stellte dabei auf das durch die Ausgabe Erlangte ab. Diese Betrachtungsweise ist durchaus statisch112 i. S. der konsequenten Weiterführung der Reinvermögenszugangstheorie, da hier das Gegenständliche 105 Urteil I A 470/27 v. 27. 3. 1928, RStBl. 1928, S. 260 f. [betr. : Aktivierungspflicht des Anspruchs auf langjährige Unterlassung des Wettbewerbs]. 108 Diese Entwicklung bahnte sich in der Rechtsprechung des RFH schon vorher an; vgl. z. B. RFH-Urteil VIA 171/26 v. 24. 3.1926, Bd. 18, S. 313 [betr.: Passivierung von Gratifikationen, die rechtlich nicht geschuldet wurden]; RFH-Urteil VI A 290/27 v. 30. 6.1927, Bd. 21, S. 341 [betr.: Aktivienmg von Aufwendungen für eine noch nicht fertige Erfindung]; RFH-Urteil I A 276/27 v. 22.10. 1927, StuW 1928, Nr. 116 [betr.: Aktivierung von Aufwendungen für erworbenen Geschäftswert]. 107 Vgl. Jacobs, Das Bilanzierungsproblem in der Ertragssteuerbilanz, Stuttgart 1971, S. 73. 108 Hervorhebung v. Verfasser. too Hervorhebung v. Verfasser. 110 Hervorhebung v. Verfasser. 111 Urteil VI A 381 v. 21. 9. 1927, StW 1927, Nr. 565. 112 Nach dynamischer Anschauung ist der erwartete zukünftige Nutzen zu bilanzieren; der ist aber mit dem durch die Ausgabe "Erlangten" nicht unbedingt identisch, worauf schon hingewiesen wurde.
74
nr. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff
in den Vordergrund der Betrachtung tritt 113, wenn auch die Entscheidung, daß im betreffenden Falle etwas erlangt worden sei, Kritik verdient114. Den im Urteil vom 27. 3. 1928 entwickelten Kriterien folgte die Rechtsprechung des RFH auch später, so in den Urteilen vom 16. 1. 1929115 und vom 31. 10. 1931 116• Vor allem in der letzteren Entscheidung wurde der Begriff "Wirtschaftsgut", insbesondere aber das Merkmal "selbständige Bewertbarkeit" noch vertieft: "Jedoch stellt nicht jeder g,egen Entgelt erlangte wirtschaftliche Vorteil ein solches steuerrechtlich aktivierungspflichtiges Gut dar. Es muß sich immer um ein Gut handeln, das bei der Veräußerung des ganzen Betriebes sozusagen greifbar117 ist, d. h. als Einzelheit ins Gewicht fällt, oder um etwas, das dem Betrieb zwar für die Zukunft zugute kommt, sich aber n i cht so ins allgemeine verjlüchtigt 111 , daß es nur als Steigerung des good will des ganzen Unternehmens in Erscheinung tritt." Der Inhalt des neu geschaffenen unbestimmten Begriffes "Wirtschaftsgut" wurde also vom Gesetzgeber 1934 in der von der Rechtsprechung entwickelten Weise verstanden als: jeder wirtschaftliche Sachverhalt, dem nach allgemeiner Verkehrsauffassung a) eine durch Ausgaben erlangte, b) selbständige Bewertungsfähigkeit zukommt ("greifbar") und der c) einen wesentlichen über die Dauer des einzelnen Steuerabschnittes hinausreichenden Wert für das Unternehmen darstellt. Diese Umschreibung erlaubte auch die Bilanzierung von wirtschaftlichen Vorgängen, die nicht mehr der alten handelsrechtliehen "gegenständ113 So schon Dornemann, Zur Aktivierung in Bilanztheorie und Steuerbilanz, in : ZfB 1957, S. 97 ff. (101); Leykum, Wirtschaftsgut und dynamische Bilanzauffassung in der Steuerbilanz, S. 404; Jacobs, Das Bilanzierungsproblem, S. 84/85; Vgl. auch das spätere Urteil des BFH IV 255/53 v. 28. 1. 1954 U, BStBI. 1954 III, S. 109 f. [betr.: Kosten der Betriebseinrichtung): "Nicht jeder gegen Entgelt erlangte Vorteil stellt ein aktivierungsfähiges Wirtschaftsgut dar." 114 Der BFH hat den damals vom RFH eingeschlagenen Weg weiter verfolgt in den Entscheidungen BFH-Urteil I 253/60 v. 25. 9. 1962, BFH 76, 235 = BStBl. 1963 III, S. 85 und BFH-Urteil IV 298/63 v. 4. 7. 1968, BFH 93, 66 = BStBI. 1968 III, S. 681. Gerade letztere Entscheidung, die die Aufwendungen für die Erweiterung und Instandsetzung gemieteter, früher noch nicht genutzter Räume betrifft und deren Aktivierung unter dem Gesichtspunkt der Anschaffungskosten für ein immaterielles Wirtschaftsgut bejaht, fand Kritik. Vgl. dazu Uelner, NWB, Fach 17a, S. 311 ff. Auf die Entscheidung vom 4. 7. 1968 wird noch einmal eingegangen. 115 RFH-Urteil I A a 707/28 vom 16. 1. 1929, RStBI. 1929, S. 171. 116 RFH-Urteil VIA 2002/29 vom 21. 10. 1931, Bd. 30, S. 142. m Zum Merkmal "greifbar" vgl. die nachfolgenden Ausführungen unter 3.; Hervorhebung vom Verfasser.
Il. Inhalt und Grenzen des "Wirtschaftsgutes"
75
liehen" Vorstellung der alleinigen Bilanzierung von Sachen, Rechten und Schulden im bürgerlich-rechtlichen Sinne entsprochen hätten und ermöglichte die Feststellung eines periodengerechteren Erfolges.
Jacobs weist hierbei darauf hin, daß mit der Hinwendung zur gleichmäßigeren Besteuerung durch "die Einführung einer Anzahl von rechtlich wie sprachlich wenig eindeutiger Begriffe" ein Verlust von Rechtssicherheit "in Kauf" genommen worden sei und führt dies auf die "Zielkonflikte" in der Steuerbilanz zurück118, die auf den verfassungsmäßigen Grundsätzen der Gleichmäßigkeit und Rechtssicherheit der Besteuerung119 beruhten120• Jacobs baut auf den Erkenntnissen der "Zielkonftikte" in der Steuerbilanz seine Habilitationsschrift auf, übersieht aber, daß das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit ein in unserer gesamten Rechtsordnung vorhandenes "chronisches" Problem darstellt, das so alt ist wie der Versuch selbst, Kodifikationen zu schaffen und lediglich in unterschiedlicher Auffälligkeit in den verschiedenen Rechtsgebieten auftritt. Das Steuerrecht gehört - wie ausgeführt wurde121 - zu den Bereichen unserer Rechtsordnung, in denen man sich dieser uralten "Gerechtigkeitsproblematik" schmerzlich bewußt werden kann. Das Auftreten besonders vieler unbestimmter Rechtsbegriffe ist nur das sichtbare Zeichen dafür, gleichzeitig aber der Beweis für die Bemühungen um einen guten Kompromiß. Auch das "Wirtschaftsgut" des Bilanzsteuerrechts gehört hierher und ist wegen seiner zentralen Bedeutung ein besonders charakteristisches Beispiel dafür, wie sich Rechtsprechung und Fachliteratur im Laufe der Zeit zu einem Konsens verdichten, der eine Begriffsbildung erlaubt, dessen Kernbereich bereits klar, dessen Grenzen aber noch unklar sind. Die Rechtsprechung des RFH hielt auch nach 1934 an diesem Begriffskern fest 122, ohne die einzelnen Merkmale näher zu präzisieren, mit Ausnahme der Entscheidung des RFH vom 9. 3. 1938123, die sich noch einmal mit der Bestimmung des Merkmales "selbständige Bewertbarkeit" Das Bilanzierungsproblem, S. 74. 119 Ders., S. 10 ff. (27 f.). 120 ••• daneben auch auf der Verweisung in der Steuerbilanz auf die handelsrechtliehen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und der damit (Maßgeblichkeitsgrundsatz) in die Steuerbilanz hineingetragenen Konfliktsituation zwischen Handels- Steuerbilanz (ders., S. 29 ff.). Nur hält er letztere de lege lata lösbar, den Zielkonflikt zwischen Gleichmäßigkeit und Rechtssicherheit der Besteuerung dagegen nicht. 121 11. Teil, 2. Kapitel, I. 122 Vgl. RFH-Urteil VI 122/38 vom 9. 3.1938, RStBl. 1938, S. 551; RFH-Urteil VI 719/38 vom 4. 1. 1939, RStBl. 1939, S. 297; RFH-Urteil I 394/39 vom 28. 11. 1939, Bd. 48, S. 50. 12a s. vorhergehende Anmerkung. ua
76 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff befaßte124• Eine Zusammenfassung der vom RFH entwickelten Merkmale in einer Definition enthielt später das Urteil des OFH vom 28. 2. 1948125, in dem es heißt: "Der Begriff des Wirtschaftsgutes deckt sich mit den bürgerlich-rechtlichen Begriffen Gegenstand, Sache, Recht. Er ist umfassender, da auch ideelle Güter, wie der Geschäftswert, Wirtschaftsgüter darstellen ... " Der OFH entwickelte dann den "Begriff" des "negativen Wirtschaftsgutes" - in "Analogie zum (positiven) Wirtschaftsgut" 126 - und fährt fort: "Es ist möglich, daß ein Wirtschaftsgut nur in Verbindung mit anderen Wirtschaftsgütern handelsfähig ist, wie z. B. der Geschäftswert eines Unternehmens. Aber der Verkehr muß es als selbständiges Gut, für das ein Teilwert und für das Anschaffungskosten gegeben sein können, ansehen. Der Begriff des Wirtschaftsgutes muß aus den Gegebenheiten des Wirtschaftslebens entwickelt werden."
J acobs 121 sieht in dem letzten Satz bereits die Hintertür der R echtsprechung, den "ohnehin schon vagen Wirtschaftsgutbegriff in Abhängigkeit von den unbestimmten Gegebenheiten des Wirtschaftslebens ... unterschiedlich zu definieren". M. E. trifft diese Kritik nicht zu, denn der OFH hält an den bisherigen Merkmalen der Begriffsbestimmung fest und weist lediglich darauf hin, daß als "Wirtschaftsgut" auch solche "wirtschaftlichen Gegebenheiten" in Betracht kommen können, an die man jetzt noch nicht denkt. Das aber ist typisch für die unbestimmten
Rechtsbegriffe, die ja gerade dadurch gekennzeichnet sind, daß sich der "Kern" durch Anreicherung jetzt noch nicht vorstellbarer Sachverhalte in Richtung des noch diffusen Grenzbereiches ausdehnen läßt.
Besonders interessant sind in der Entscheidung vom 28. 2. 1948 noch die Ausführungen des G erichtes zum V erhältnis von "Wir tschaftsgut" und "dynamischer Bilanzauffassung", deren Eindeutigkeit nichts. hinzuzufügen ist: "Das EStG sieht als Gewinn den Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Anfang und am Schluß des Wirtschaftsjahres an. Diese Bestimmung des § 4 Abs. 1 Satz 2 EStG 1934 gilt auch bei der Gewinnermittlung nach § 5 EStG. Der Ermittlung des Betriebsvermögens dienen die BHanzen. Sie haben die dem Betrieb gewidmeten W i rtschaftsgüter nach bestimmten Regeln zu gruppieren und ihre Werte einander gegenüberzustellen. Die Verrechnung der positiven und negativen Werte m .. . und es als ausreichend ansah, wenn das Gut mit dem Gesamtbetrieb veräußert werden könne. 125 OFH-Urteil I 10/47 vom 28. 2. 1948, StuW 1948, Rspr. Nr. 5. 12ß Vgl. Jacobs, S. 75, hierauf wird noch eingegangen. 127 Ders., S. 76.
Ir. Inhalt und Grenzen des .,Wirtschaftsgutes"
77
führt zum Ausweis des Betriebsvermögens. Für die Wertansätze hat das EStG die Bestimmungen in seinen §§ 6 und 7 getroffen, die auch für die Gewinnermittlung nach § 5 Geltung haben. Die Grundsätze der dynamischen Bilanz, die, von den Geldposten abgesehen, Ausgaben und Einnahmen, Aufwendungen und Leistungen zur Ermittlung des Erfolgs gruppiert und verrechnet (Schmalenbach, S. 120), können hierbei nur insoweit berücksichtigt werden, als sie mit diesen Bestimmungen nicht in Widerspruch stehen.
Das EStG gründet somit die Bilanz auf die Bewertung einzelner Wirtschaftsgüter. Alle Bilanzansätze müssen deshalb daraufhin geprüft werden, welches Wirtschaftsgut durch den Ansatz dargestellt wird und ob für dieses Wirtschaftsgut die Bewertungsbestimmungen des EStG Beachtung gefunden haben128."
3. Die anschließende Entwicklung und die moderne Rechtsprechung zum Begriff des "Wirtschaftsgutes"
Die Rechtsprechung des BFH hat sich - vor allem in der Zeit der sogenannten Aktivierungswelle der fünfziger Jahre129 - nicht immer in den Grenzen gehalten, in die der RFH und auch der hieran anknüpfende Gesetzgeber von 1934 den Begriff des Wirtschaftsgutes gestellt hatten und wie ihn auch der Bundesgesetzgeber - wie sich aus amtlichen Begründungen zu EStG-Änderungen ergibt130 - verstanden wissen will. Immerhin kann die jüngere Rechtsprechung131 insoweit (wieder) als gefestigt angesehen werden, als Bilanzierungsfragen unter Beachtung der Prädominanz des Wirtschaftsgutes und dessen Merkmalen betrachtet und entschieden werden. Danac.h. entsteht ein handels- und steuerbilanzrechtlich zu beachtendes Wirtschaftsgut durch klar von anderen "abgrenzbare Aufwendungen", die "einen über mehrere Wirtschaftsjahre sich erstreckenden, greifbaren Nutzen verschaffen", den "ein Käufer des Betriebes b ei der Berechnung des Kaufpreises berücksichtigen würde". Das Merkmal der "Greifbarkeit" oder auch selbständigen Bewertbarkeit, die sich bei der Veräußerung nicht ins Allgemeine verflüchtigen darf, wurde in einigen Entscheidungen des BFH besonders 128
Hervorhebungen vom Verfasser.
129 Vgl. Döllerer, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz, S. 500; Grass, Wandlungen im Bilanzsteuerrecht, S. 613; Saage, Veränderte Grundlagen der Gewinnermittlung im Handels- und Steuerrecht, in: DB 1969, 8.1709 ff. (1713). 130 Insbesondere in den Steueränderungsgesetzen von 1954 und 1969. Hier-
auf wird noch eingegangen. 131 Vgl. BFH-Beschluß GrS 1/69 vom 2. 3. 1970, BStBl. 1970 II, S. 382 [betr. Abstandszahlungen des Käufers eines Grundstücks an die Pächter für deren vorzeitige Räumung], oder BFH-Urteil III/R 119/67 vom 7. 8. 1970, BStBl. 1970 11, S. 842 [betr. Umbaukosten eines Mietobjektes]; BFH-Beschluß GrS 2/68 vom 3. 2. 1969 [betr. Zuschüsse zur Trafostation], mit Hinweis auf RFH I A 470/27 vom 27. 3. 1928 und BFH-Urteil I 46/57 U vom 13. 8. 1957, BStBl. 1957 III, S. 350/51. - Hierauf wird noch im Text eingegangen.
78 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff
betont1112 und gilt nach herrschender Auffassung als "Kriterium einer statisch orientierten Bilanz" schlechthin133• Ansatzpunkt für diejenigen Entscheidungen, die in den fünfziger Jahren vom Bilanzierungskriterium Wirtschaftsgut abwichen, war fast immer die angenommene Zielsetzung des EStG, den tatsächlich erwirtschafteten Gewinn134 unter dem Gesichtspunkt der steuerlichen Gleichbehandlung und Gerechtigkeit zu ermitteln. In der Begründung ging man dabei entweder so vor, daß unter Nichtbeachtung des Begriffes Wirtschaftsgut Fragen der Bilanzierung nur nach dynamischen Prinzipien entschieden wurden, oder daß die dynamische Bilanzauffassung mit dem Grundsatz steuerlich periodengerechter Gewinnermittlung und beide einfach den handelsrechtliehen G. o. B. gleichgesetzt wurden, oder aber bei der Ausfüllung des Begriffes dessen Voraussetzungen übermäßig ausgedehnt wurden. Die Urteile der ersten Gruppe, die unter Mißachtung der Prädominanz des Wirtschaftsgutsbegriffs nur nach dynamischen Kriterien bilanzierten, sind seltener. Ein gutes Beispiel ist das BFH-Urteil vom 22. 5. 1958135, das die Frage der Verpflichtung zur aktiven Rechnungsabgren132 Vgl. z. B. BFH vom 28. 1. 1954 oder BFH-Urteil IV 379/60 U vom 16. 5. 1963, BStBl. 1963 Ill, S. 400. (Hier wird auch über den fiktiven Erwerber die
terminologische Verbindung zur Teilwertlehre geschaffen.) 133 Vgl. u. a. May, Das Wirtschaftsgut, S. 95; Dornemann, Die Aktivierung in Bilanztheorie und Steuerbilanz, S. 102; Tomfohrde, Die dynamische Bilanzauffassung, S. 96; Saur, Die Aktivierung in der steuerlichen Erfolgsbilanz, betrachtet vom Standpunkt der statischen und dynamischen Bilanzauffassung" Dissertation, Frankfurt a. M. 1958, S. 96. Vgl. auch Stapj, Immaterielle Anlagewerte und aktive Rechnungsabgrenzungsposten - Ihre gegenseitige Abgrenzung und Behandlung im Handels- und Steuerrecht, Dissertation, Würzburg 1968, S. 151. a. A. allerdings John, Die Bewertung von Grund und Boden und Gebäuden in der Steuerbilanz. Eine kritische Analyse vom Standpunkt der betriebswirtschaftliehen Steuerlehre, Schriftenreihe Annales Universitatis Saraviensis, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung, Heft 5, Köln 1964, S. 24, da das Merkmal der "Greifbarkeit" bei der Veräußerung des Betriebes "betriebswirtschaftlich und selbst steuerrechtlich unbrauchbar" sei. 134 Die isolierte Betrachtung dieses "Zieles" und die betonte Gegensätzlichkeit zur Handelsbilanz impliziert schon die Mißachtung des im § 5 Abs. 1 EStG selbst verankerten Maßgeblichkeitsgrundsatzes (des Hinweises auf die bandesrechtlichen G.o.B.). 135 BFH-Urteil IV 222/56 U vom 22. 5. 1958, BStBl. 1958 Ill, S. 333 ff. (335); vgl. auch das die gleiche Frage entscheidende BFH-Urteil VI 290/56 vom 15. 5. 1958, BStBl. 1958 Ill, S. 331 ff. (333). Der Begründung nach gehört hierher auch das Urteil des BFH IV 108/ 58 U vom 14. 1. 1960, BStBl. 1960 Ill, S. 137 [betr. die Aktivierung von Umsatzboni], in dem lakonisch festgestellt wird, daß "nach dynamischer Bilanzauffassung die zeitraumrichtige Gewinnermittlung ... einer der tragenden Grundsätze des Bilanzrechtes" sei und "bei der Gewinnermittlung grundsätzlich auch im Einkommenssteuerrecht gilt" ; sowie das Urteil des BFH I 191/59 S vom 28. 11. 1961, BStBl. 1962 Ill, S. 101 ff. [betr. die Bilanzierung eines Versicherungsvertrages), in dem das handelsrechtliche Niederstwertprinzip unter dem Einfluß dynamischen Gedankengutes unbeachtet blieb.
li. Inhalt und Grenzen des "Wirtschaftsgutes"
79
zung der Umsatzsteuer, die auf vereinnahmte Anzahlungen entfiel, betraf. In der Begründung heißt es: "Die Frage der aktiven Rechnungsabgrenzung (ist) nicht von der Schaffung eines selbständig bewertbaren Wirtschaftsgutes, sondern von der richtigen periodengemäßen Aufwandsverteilung" abhängig. Diese Begründung taucht in nachfolgenden Urteilen nicht mehr auf, so daß gesagt werden kann, daß sich die Spruchpraxis der späteren Jahre davon distanzierte, die periodengerechte Gewinnabgrenzung als alleiniges Kriterium anzusehen. Nicht zuletzt geschah das unter dem Druck der diesen Entscheidungen zuteil gewordenen Kritik, deren Tenor darin bestand, auf die fehlende Rechtsgrundlage hinzuweisen, denn das EStG verlangt nun mal das Vorliegen eines Wirtschaftsgutes bei der Bilanzierung. Demgegenüber muß sich der Versuch einiger "Superdynamiker", die Bilanzen in Übersichten reiner Verrechnungsposten umzuwandeln136, als ein Versuch contra legem darstellen. Das wird noch deutlicher, wenn man sich klarmacht, daß die dynamische Bilanzlehre weder Gesetz noch Gewohnheitsrecht, sondern lediglich eine betriebswirtschaftliche Lehrmeinung darstellt137• Die zweite Gruppe der Urteile, die sich nicht direkt auf die dynamische Bilanzauffassung berief, sondern dieselbe immer zugleich als G. o. B. ansah, beachtete zwar wenigstens noch den Maßgeblichkeitsgrundsatz, blieb aber stets den Nachweis dafür schuldig, daß diese einseitige Interpretation berechtigt sei und verzichtete i. d. R. auch darauf, den Wirtschaftsgutbegriff zu prüfen. Typisch hierfür ist das Urteil vom 1. 4. 1952138, das die Frage der Bilanzierung von Weihnachtsgratifikationen betraf. Zur Lösung zog das Gericht die dynamische Bilanzauffassung heran unter der unbegründeten Feststellung, daß sie zu den allgemeinen Bilanzierungsgrundsätzen gehöre139 • 136 Vgl. Littmann, Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und dynamische Bilanzauffassung in Handels- und Steuerbilanz, in: BB 1964, S. 651 ff. 137 So ganz klar pointiert Anderson, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung in der Rechtsprechung der Finanzgerichte, Schriftenreihe "Steuerrecht und Steuerpolitik", Heft 3, Heidelberg 1965, S. 46/47. 138 BFH-Urteil I 13/52 U vom 1. 4. 1952, BStBl. 1952 III, S. 143 ff. 139 Ähnlich BFH-Urteil I 33/53 U vom 8. 9. 1953, BStBl. 1953 III, S. 318 ff. [betr. Zuwendungen an betriebliche Unterstützungskassen], in dem es heißt (S. 321): "Die Regelung . .. wird man so lange anerkennen müssen, als nicht der Nachweis geführt wird, daß sie ordnungsmäßigem betriebswirtschaftliehen Denken und damit den Grundsätzen der dynamischen Bilanz widerspricht" (Hervorhebungen vom Verfasser). Vgl. auc.'l das BFH-Urteil I 196/56 U vom 26. 2.1957, BStBl. 1957, S. 160 [betr. Bilanzierung von Wohnungsbauzuschüssen des Arbeitsgebers]. Hier wird die dynamische Bilanzbetrachtung den "allgemeinen bilanzsteuerlichen Grundsätzen" gleichgesetzt. Allerdings grenzt der BFH an anderer Stelle der Begründung die dynamische Betrachtungsweise durch den Begriff des Wirtschaftsgutes ein, so daß dieses Urteil letztlich zur Kategorie derjenigen Entscheidungen zu zählen ist, in denen der
80 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff Mit den Jahren hat sich aber auch in der Frage, ob die handelsrechtliehen G.o. B. schlechthin vom Gedanken der periodengerechten Gewinnermittlung getragen seien und deshalb grundsätzlich dynamische Bilanzierungsgrundsätze herrschten, ablehnende Übereinstimmung durchgesetzt. Deutlich wurde das auch in der Begründung des Urteils vom 19. 12. 1957140, das die Frage zu entscheiden hatte, ob gezahlte Werbeprovisionen, die mehrjährige Abonnementsverträge betrafen, zu aktivieren seien. Es blieb zwar dahingestellt, ob ein Wirtschaftsgut vorläge, aber es wurde ausgeführt, es sei "richtiger, die Abgrenzungsposten nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt des Aufwands oder Ertrags zu sehen, sondern die Betriebswerte bzw. Betriebsverpflichtungen zu erkennen". Denn einmal sei die steuerliche Bilanz eine "Vermögensrechnung" und zum anderen seien die einzelnen Bilanzposten "auch Teile des betrieblichen Einheitswertes, in dem nur Betriebswerte und -Verpflichtungen erscheinen können. Außerdem kennt das Einkommenssteuerrecht den Grundsatz nicht, daß steuerlich nur der betriebswirtschaftlich richtige Periodengewinn erfaßt werden darf". Gerade der letzte Gedanke ist wesentlich. Er knüpft daran an, daß der größte Teil der G.o.B. dem Gedanken der kaufmännischen Vorsicht folgt und damit - in der Entscheidung, was in die Bilanz gehöre - nicht unerheblich den Forderungen nach periodengerechter Gewinnabgrenzung entgegensteht. Das gilt nicht nur für die ungeschriebenen Grundsätze14\ sondern auch für den inzwischen längst kodifizierten Teil der G. o. B., die aktienrechtlichen Regelungen142, die in wichtigen Vorschriften den Grundsätzen dynamischer Bilanzauffassung zugunsten der kaufmännischen Vorsicht und des Gläubigerschutzprinzips widersprechen. So schränkt § 152 Abs. 9 AktG 1965 die Rechnungsabgrenzungsposten und § 152 Abs. 7 AktG 1965 die zulässigen Rückstellungen- ein. § 153 Abs. 3 AktG 1965 enthält das Verbot, nicht entgeltlich erworbene immaterielle Wirtschaftsgüter zu bilanzieren143• Dieses Verbot wurde inhaltlich in den neugefaßten § 5 EStG übernommen, wobei die amtliche Begründung der Bundesregierung144 hierin lediglich eine Klarstellung sieht, eine Auffassung, die deutlich den Maßgeblichkeitsgrundsatz des Wirtschaftsgutsbegriff einer Ausuferung dynamischer Bilanzauffassung entgegensteht (siehe dazu die nachfolgenden Ausführungen). 140 BFH-Urteil IV 432/56 vom 19. 12. 1957, BStBl. 1958 III, S. 162 f. 141 z. B. Imparitäts-, Realisationsprinzip. 142 Vgl. dazu schon Schmalcnbach, Dynamische Bilanz, 13. Aufl., S. 20; Döll.e1·er, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung, deren Entstehung und Ermittlung, WPg. 1959, S. 653 f. 143 Zweifelnd, ob § 153 Abs. 3 AktG nicht doch Sonderregel sei, allerdings Hartz, Entwicklungen im Bilanzsteuerrecht, S. 91. Vgl. dazu auch BFH-Beschluß VI 239/65 vom 16. 12. 1968, BStBl. 1968 II, S. 518 [betr. Zuschuß zum "Wirtschaftsgut ungestörte Stromversorgung"]. 144 BT-Drs. V 3187.
II. Inhalt und Grenzen des "Wirtschaftsgutes"
81
§ 5 EStG berücksichtigt. So ist es daher durchaus treffend, wenn Hartz feststellt 145, daß es sowohl in § 153 Abs. 3 AktG 1965 als auch in § 5 Abs. 3 EStG darauf ankommt, "ob der Unternehmer mit einem Aufwand (entgeltlich) ein eigenes (selbständiges), aktivierungsfähiges Wirtschaftsgut (Anlagewert) geschaffen hat".
Die Einstufung der Steuerbilanz als dynamische Bilanz nur wegen ihrer angenommenen Zielsetzung den "vollen Gewinn" 146 zu erfassen, also aus rein "fiskalischen Erwägungen" 147, übersieht, daß nicht der Gewinn die Bilanzierungsgrundsätze bestimmt, sondern umgekehrt "der nach dem handelsrechtliehen Grundsatz ordnungsmäßiger Buchführung unter Wahrung der steuerlichen Grenzpfähle der Bewertung aufgestellte Vermögensvergleich den steuerpflichtigen Gewinn ergibt" 148• Es ist deshalb richtig, wenn Hartz 149 ausführt, es sei "aus dem Gesetz nicht abzuleiten, daß etwa die dynamische Bilanzlehre im Sinne Schmalenbachs die dem Bilanzsteuerrecht zugrunde liegende Bilanzbetrachtung sei" und außerdem auf die heute teilweise geänderte Zielsetzung der Steuerbilanz (Wirtschaftslenkung) hinweist. Es läßt sich also festhalten, daß auch das heutige Verständnis der G. o. B. dem bei der historischen Betrachtung des Wirtschaftsgutbegriffes ermittelten und von der Rechtsprechung bestätigten sowie fortentwickelten Inhalt entspricht und es demnach falsch wäre, die G. o. B. und damit das "Wirtschaftsgut" als Ausfluß einer als maßgeblich apostrophierten "dynamischen" Bilanzauffassung anzusehen150• Zur grundsätzlich gegenteiligen Auffassung gelangt allerdings Weber151 , der die G. o. B. schlechthin mit dynamischer Bilanzauffassung gleichsetzt und damit über § 5 EStG den Begriff "Wirtschaftsgut" voll Urteilsanmerkung zum Beschluß GrS 2/68 vom 3. 2. 1969, DB 1969, S. 730. Vgl. Littmann, Anmerkung zum Beschluß GrS 2/68, in: DStR 1969, s. 275 f. 147 So Gnam, Ist die Steuerbilanz eine dynamische Bilanz, StuW 1956, Sp. 246 ff. (257). Er zählt die dynamische Bilanzbetrachtung selbst allerdings nicht zu den G.o.B. und geht auf die sich daraus ergebenden Widersprüche nicht ein. 148 Vgl. Saage, Veränderte Grundlagen der Gewinnermittlung nach Handels- und Steuerrecht, S. 1709 ff. (1714), sowie Maassen, Gilt der Maßgeblichkeitsgrundsatz (§ 5 EStG) nicht für Bilanzierungsrechte?, DB 1970, S . 1285 ff. (1288). 149 Entwicklungstendenzen im Bilanzsteuerrecht, S. 81. 150 Vgl. dazu auch Döllerer, Rechnungslegung, und Albach, Bewertungsprobleme des Jahresabschlusses nach dem AktG 1965, BB 1966, S. 377; ebenso Gottschalk, S. 18; vgl. auch Moxter, Bilanzlehre, S. 216 "Vermögen als Schuldendeckungspotential" bezeichnet. 151 Zur Lehre vom Wirtschaftsgut, Schriften zum Steuerrecht, Bd. 4, Berlin 1969, S. 30/31, 33 f.; vgl. auch Werninger, Rückstellungen in der Bilanz (Beiträge zur betriebswirtschaftliehen Steuerlehre, Bd. 2, Hrsg. Aprath, Dissertation, Köln 1960; siehe dazu aber die Kritik von Flume, Rückstellungen in der Bilanz, eine Buchbesprechung, DB 1961, S. 211. 145
146
6 Häcker
82 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff
dynamisch interpretiert und sowohl Inhalt als auch Wortlaut des § 4 EStG mit "statischer Begriffswelt des Gesetzgebers" abtut. Seiner Auffassung nach ist es deshalb auch "falsch ... unter dem Gesetzesbegriff Wirtschaftsgut das zu verstehen, was die Rechtsprechung im Laufe der Herausbildung der Lehre vom Wirtschaftsgut alles unter diesem Terminus begrifflich gefaßt hat" 152• Ebenso sei die Lehre von der Prädominanz des Wirtschaftsgutsbegriffes als "gesetzesfremde Interpretation"(!) anzusehen. Schließlich stellt Weber153 die Frage, ob eine Verwendung des Begriffs im heutigen Umfange "überhaupt gesetzmäßig"(!) sei und wenn schon "de lege lata am Terminus Wirtschaftsgut festgehalten werden muß", ob nicht "im Einklange mit der Auslegungslehre" (!) dynamische Interpretation der - "zugegebenermaßen statisch formulierten Normen, § 4, 5 EStG" (!) -zu erfolgen habe. Darüber hinaus läge die evidente Unbrauchbarkeit des Begriffes darin, daß feste Grenzen fehlten und der heterogene begriffliche Inhalt kasuistisch ausgefüllt wurde (was Weber aber für den Fall dynamischer Ausfüllung nicht kritisiert). Abgesehen davon, daß Weber den Nachweis, die G. o. B. seien mit dynamischem Bilanzdenken gleichzusetzen und zwängen deshalb zur Auslegung gegen den Wortlaut des Gesetzes(!), schuldig bleibt, verkennt er auch das Wesen und die an verfassungsrechtlichen Grenzen (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG) orientierte Zulässigkeit der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Steuerrecht. Hierzu wurde im 2. Teil der Arbeit ausführlich Stellung genommen. Im übrigen bedarf es zur Auffassung Webers, wie gesetztes Recht anzuwenden, bzw. "auszulegen" sei, keiner weiteren Stellungnahme. Ansonsten aber ist im Hinblick auf Inhalt, Grenzen und Handhabung des Begriffes "Wirtschaftsgut" durch die jahrzehntelange Rechtsprechung die gegenteilige Auffassung, die im "Wirtschaftsgut" ein Korrektiv gegen eine Ausuferung dynamischer Ausgabenaktivierung sieht, vertretungswürdiger. Vor allem Flume 154 hat herausgestellt, daß die Bilanz als ein "Institut des Rechtslebens auf den Begriff des Wirtschaftsgutes nicht verzichten kann" 155 , der gerade deshalb entwickelt wurde, um im zur Verselbständigung neigenden Steuerrecht mit seiner eigenen Zielsetzung der Erfolgsermittlung die Anknüpfung an die Handelsbilanz stärker zu gewährleisten und auch "als eine Institution der Rechtsord152 11>3
Weber, Zur Lehre vom Wirtschaftsgut, S. 34. Ders., S . 36.
154 Die Forschungs- und Entwicklungskosten in Handels- und Steuerbilanz, in: DB 1958, S . 1045 ff. (1050): " ... größere Sicherheit ... Grundsatz der Gleichmäßigkeit d er Besteuerung. Man muß eben bedenken, daß die Besteuerung,
weil sie Rechtsanwendung ist, noch andere Momente zu berücksichtigen hat, als die betriebswirtschaftliche Erfolgsermittlung." (Hervorhebungen vom Ver-
fasser.) 155
Flume, Rückstellungen in der Bilanz, S. 212.
li. Inhalt und Grenzen des "Wirtschaftsgutes"
83
nung der Bilanz vorgeordnet ist" 156 (Prädominanz des Wirtschaftsgutes). Insoweit setzt auch Schneider151 den richtigen Akzent, wenn er ausführt: "Nicht zuletzt hat der Mangel, daß die bestehenden G. o. B. Aktivierungsund Passivierungsfähigkeit nur indirekt klären, die steuerliche Rechtsprechung veranlaßt, die Lehre vom Wirtschaftsgut zu entwickeln." Nur sollte hierbei nicht so getan werden, als ob sich a) die Entwicklung ohne enge Verbindung zu den G. o. B. vollzogen hätte und b) zwischen handelsrechtlichem Vermögensgegenstand und steuerlichem Wirtschaftsgut ein Unterschied bestünde. Deshalb gilt auch heute "der Durchgriff des Handelsrechts auf das Steuerrecht ... uneingeschränkt für die Bilanzierung dem Grunde nach", wie Rau 158 klarstellt. Diese h. A.159 im Schrifttum entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, der bereits mehrfach Verselbständigungstendenzen in der Rechtsprechung durch Gesetzesänderungen Einhalt zu bieten versuchte160, so 1954 durch Hinzufügung des Wortes "handelsrechtliche" zum Wortlaut des § 5 EStG "Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung" 161 und 1969 durch die wörtliche Übernahme des Aktivierungsverbotes nicht entgeltlich erlangter immaterieller Wirtschaftsgüter des § 153 Abs. 3 AktG 1965 in§ 5 Abs. 2 EStG162• Das Ringen der verschiedenen Auffassungen um den Vorrang in der Steuerbilanz wird auch sichtbar in den Begründungen einiger Urteile der fünfziger Jahre, in denen deutlich der dynamischen Bilanzauffassung der "Grenzpfahl" des Wirtschaftsgutes entgegengestellt wurde. So heißt es im Urteil vom 28. 1. 1954 (die Kosten der Betriebseinrichtung betreffend) 183 : 156
Ders.
Sieben Thesen zum Verhältnis von Handels- und Steuerbilanz, S. 1700. Beachte aber auch Döllerer, Die Bedeutung des Begriffs Wirtschaftsgut ... , S. 329, der eine normative Bedeutung des Wirtschaftsgutbegriffes bezweifelt. Ähnlich wie Döllerer noch Albach, Bewertungsprobleme, S. 379 und Waldner, Wirtschaftsgut und Rechnungsabgrenzung, in: BB 1958, S. 1051 ff. (1055). 158 Steuerliche Übernahme handelsrechtlicher Bilanzierungsvorschriften, in: DB 1969, S. 676. 159 Weitere Literaturhinweise bei Rau. 1so Vgl. dazu Rau, S. 676. 157
181
Ders.
Siehe die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des EStGÄnderungsgesetzes vom 26. 2. 1968, BT-Drs. V/3 187: "Klarstellung" und "was zu bilanzieren ist, d. h. ob ein bilanzierungsfähiges Wirtschaftsgut vorhanden ist, bestimmen die handelsrechtliehen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, wie ein bilanzierungsfähiges Wirtschaftsgut zu bewerten ist, entscheidet sich nach Steuerrecht." 1113 BFH-Urteil IV 255/53 U; vgl, dazu auch Börnstein, Die Aktivierung von Versuchs- und Entwicklungskosten, S. 556 ff. 162
&•
84 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut" - wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff
"Nicht jeder gegen Entgelt erlangte Vorteil stellt ein aktivierungsfähiges Wirtschaftsgut dar. Es muß sich um ein solches handeln, dessen wirtschaftlicher Wert als Einzelheit von Bedeutung und bei einer Veräußerung greifbar ist . .." Im Urteil vom 13. 8. 1957 (die Aktivierung von Zuschüssen bei Stromumstellung betreffend) 1~4 geht der BFH zunächst von der dynamischen Bilanzauffassung aus "es entspricht der feststehenden, aus den Grundsätzen des Einkommenssteuerrechts und der dynamischen Bilanzbetrachtung hergeleiteten Rechtsprechung ..." und grenzt dann ein, "das durch solche Aufwendungen geschaffene Wirtschaftsgut muß aber abgrenzbar und faßbar sein ...1ss." Anderson166 sieht diese Entscheidung als unter dem dynamischen Kon-
zept stehend-lediglich durch den Vorsichtsgrundsatz der G. o. B. eingeschränkt - an. Tatsächlich aber orientiert sich der BFH am "Wirtschaftsgut" und dessen Merkmalen, da er ausführt: "Macht der Kaufmann einmalige und klar abgrenzbare Aufwendungen, die sich erkennbar aus den laufenden Aufwendungen hervorheben, so schafft er damit in der Regel ein steuerlich selbständig bewertbares ,Wirtschaftsgut'." Die Entscheidung ist daher eher ein deutliches Beispiel dafür, wie durch d en Wirtschaftsgutsbegriff eine "Ausuferung" der dynamischen Bilanzlehre verhindert wurde 167• Ganz eindeutig ist auch die Feststellung des BFH im Urteil vom 15. 4. 1958, das die Aktivierung eines Zuschusses zu einem Bürgschaftsstock betrifft168• Hier heißt es schon im Leitsatz: "Aktive oder passive Rechnungsabgrenzungsposten sind nur zulässig, wenn sie sich auf positive oder negative Wirtschaftsgüter beziehen." BFH-Urteil I 46/57 U. Vgl. dazu die zustimmende Anmerkung von Grieger, DStZ 1957, S. 318 ff. 136 Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung, S. 74/75. 167 Vgl. Everding, Zum Begriff des Wirtschaftsgutes und zur Rechnungsabgrenzung, StuW 1959, Sp. 170 ff. (172): "Das Wirtschaftsgut ist der zentrale Begriff unseres Bilanzsteuerrechts geblieben. Durch sein ihm innewohnendes statisches Element verhindert er eine Ausdehnung der Dynamik ins Uferlose" (Hervorhebungen vom Verfasser). Ebenso Anderson, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung, S. 66, der feststellt, "daß sich der Begriff ,Wirtschaftsgut' zusammen mit dem Teilwert wegen seiner statisch verstandenen Form immer wieder als Blockierung einer konsequenten Erfolgsrechnung erweist" (mit Hinweis auf Tomfohrde, Die dynamische Bilanzauffassung, S. 179, der als überzeugter Dynamiker diese Tatsache beklagt). Vgl. auch Grass, Aus der Arbeit des Deutschen wissenschaftlichen Steuerinstitutes der Steuerbevollmächtigten e. V., Bonn, DStR 1969, S. 313, "verhindert ein übergleiten auf eine reine Erfolgsrechnung .. .". 168 BFH-Urteil I 27/57 U vom 15. 4.1958, BStBl. 1958 III, S. 260. 164
165
II. Inhalt und Grenzen des "Wirtschaftsgutes"
85
"Betriebliche Aufwendungen, die nicht selbständig bewertungsfähige Wirtschaftsgüter schaffen, müssen im Jahre der Verausgabung als Betriebskosten verrechnet werden." Die Beispiele im einzelnen weiterzuführen, würde den Rahmen der Arbeit, aber auch des Erforderlichen, verlassen. Die Versuche, die "Lehre vom Wirtschaftsgut dynamisch zu synchronisieren'n69, beschränken sich auf den gezeigten Zeitraum und wiederholten sich in dieser Weise nicht170• Unter den Begriff des Wirtschaftsgutes wurden schon frühzeitig auch die sogenannten immateriellen (unkörperlichen) Güter171 gerechnet, die aber erst seit 1969 im Einkommenssteuerrecht (§ 5 Abs. 2) erwähnt werden172. Hierbei durchzieht die Entscheidungen von Anfang an die Frage der Abgrenzbarkeit aktivierungsfähiger173 Nutzenvorteile174 vom reinen Geschäftswert (good will)175• Während anfänglich aber das RG178 die Aktivierung selbstgeschaffener unkörperlicher Werte, die nicht Rechte sind, für unzulässig erklärte und zusätzlich zu den Merkmalen des Wirtschaftsgutes den entgeltlichen Erwerb von dritter Seite verlangte177, wurde in der Folgezeit diese strenge Auffassung aufgegeben178 und die 163 Neumann, Die steuerliche Lehre vom Wirtschaftsgut aus betriebswirtschaftlicher Sicht, Zffi 1964, S. 188. 170 Vgl. auch DöHerer, Die Bedeutung des Begriffes "Wirtschaftsgut" bei der aktiven Rechnungsabgrenzung, BB 1965, S. 326 ff. (327), mit Hinweis auf den Bundesrichter Littmann, Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und dynamische Bilanzauffassung. 171 § 131 A Abs. 2 Nr. 8 AktG 1937 zählt hier die Bilanzierung von "Konzessionen, Patenten, Lizenzen und ähnlichen Rechten" auf. § 151 Abs. 1, II, Nr. 8 AktG 1965 übernahm diese Aufzählung im wesentlichen. In Betracht kommen darüber hinaus Rezepte, Erfahrungen (know how), Bierlieferungsrechte, Wettbewerbsverbete etc. (vgl. nachfolgende Entscheidungen). 172 Die unterschiedlichen Formulierungen (§ 5 Abs. 2 EStG "immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens" und § 153 Abs. 3 "immaterielle Anlagewerte") bedeuten keinen sachlichen Unterschied. Vgl. Rau, Steuerliche Übernahme, S. 677; Nissen, Änderung der §§ 5 und 6 des EStG, S. 132. 173 Aktivierungsfähigkeit bedeutet noch nicht steuerliche Aktivierungspflicht, wenn man vom Grundsatz der Vorsicht ordentlicher Kaufleute ausgeht. Hier liegt aber das Hauptproblem: Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz, vgl. dazu Ausführungen im Text. 174 Die Gegenständlichkeit des Wirtschaftsgutes wurde schon sehr bald aufgegeben. Vgl. RFH I A 470/27 vom 27. 3. 1928 undVIA 2002/29 vom 21. 10.1931. 175 Vgl. hierzu die Untersuchung von GottschaLk, Der Grundsatz der periodengerechten Gewinnabgrenzung im Steuerrecht, S. 35 ff. 176 Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht, zitiert nach BFH, GrS 2/68 vom 3. 2. 1969, S. 292. 177 (Hervorhebungen vom Verfasser.) Zur Aktivierung gelangten also nicht Aufwand für selbsterworbene Kundschaft, eigene Fabrikationsgeheimnisse, Ausschaltung der Konkurrenz etc., vgl. GrS 2/68 und Saage, Veränderte Grundlagen, S. 1710/1711, beide mit weiteren Nachweisen. 178 Vgl. GrS 2/68, mit Hinweisen auf Literatur und Rechtsprechung und Kritik zu letzterer bei Saage, Veränderte Grundlagen, S. 1711.
86 UI. 1. Kap. : "Wirtschaftsgut" - wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff Entscheidungen orientierten sich vornehmlich am Wirtschaftsgutbegriff. In dieser Weise untersuchte die Rechtsprechung die Wirtschaftsguteigenschaftbei der Übernahme schwebender Verträge gegen Entgelt179, bei den Abschlußkosten von Versicherungsverträgen180, dem Erwerb eines Milchkontingentes eines anderen Milchgroßhändlers 18\ oder der Überlassung des Rechts zum Betrieb einer Omnibuslinie182, sowie bei der Frage, ob die Aufwendungen zum Erwerb einer Konzession aktiviert werden müssen183 • In die Rechtsprechung um die immateriellen Wirtschaftsgüter gehören die Urteile der dritten Gruppe von BFH-Entscheidungen, die der sogenannten "Aktivierungswelle" zugerechnet werden. Umstritten waren dabei besonders eine Reihe von Entscheidungen, in denen unter bemerkenswerter Strapazierung des dritten Merkmales "zukünftiger Nutzenvorteil" die Wirtschaftsgutseigenschaft zuerkannt wurde. So bejahte der BFH (grundsätzlich) die Aktivierung von Reklameaufwendungen, die sich in einem Jahr zusammenballten184, verlangte im Gutachten vom 5. 5. 1953185 die Aktivierung eines verlorenen Baukostenzuschusses für den Wiederaufbau eines Hotels, da als Gegenleistung zugestanden wurde, daß die Geschäftsfreunde des Steuerpflichtigen bevorzugt untergebracht würden, im Urteil vom 18. 3. 1965186 den Ansatz eines Aktivpostens187 für die Zusage einer Treueprämie an 179 BFH-Urteil I 207/57 U vom 9. 7. 1958, BStBl. 1958 III, S. 416 ff. Bejaht, da selbständig bewertungsfähig-Abgrenzungvom "Geschäftswert". 180 BFH-Gutachten I D 1/58 S vom 26. 1. 1960, BStBI. 1960 III, S. 191 ff.: "jeder einzelne Versicherungsvertrag . . . ein Wirtschaftsgut von errechenbarem Wert", Abschlußkosten (als Herstellungskosten) auf die Laufzeit zu verteilen; Hinweis auf RFH I 58/43 vom 10. 11. 1943. 18 1 BFH-Urteil IV 58/59 U vom 22. 2. 1962, BStBI. 1962 III, S. 367 ff. ; Wirtschaftsgut wegen besonderer Bewertungsfähigkeit bejaht. Vgl. auch BFH VI A 576/37 vom 6. 10. 1937, RStBl. 1938, S. 1003 [betr. Hefekontingent]; vgl. auch RFH VI 73/39 vom 17. 5. 1939, RStBl. 1939, S. 799 [betr. Erwerb eines Kontingentes an einer Kartellvereinbarung. Aktivierung, da neue Absatzchancen eröffnet]; vgl. zu dieser Frage auch Rau, Steuerliche Übernahme,
s. 677.
182 BFH-Urteil I 209/55 U vom 13. 3. 1956, BStBl. 1956 III, S. 149 ff. (Abnutzbares Wirtschaftsgut verneint); vgl. schon RFH-Urteile VI 215/42 vom 14. 10. 1942, RStBl. 1942, S. 1125 [betr. Kontingente] und III 55/42 vom 12. 5. 1942, RStBl. 1942, S. 732 [betr. Wirtschaftskonzession]. 183 BFH-Urteil IV 355/61 U vom 26. 7. 1962, BStBl. 1962 III, S. 390 ff. (wenn später nicht erneut r ealisierbar, abnutzbares Wirtschaftsgut, kein "Geschäftswert"). 184 BFH-Urteil I 167/62 U vom 9. 10. 1962, BStBl. 1963 III, S. 7 ff. (grds. möglich, hier aus tatsächlichen Erwägungen- Größenverhältnis abgelehnt); Hinweis auf Entscheidung des OFH IV 3/48 vom 23. 11. 1948 und weitere RFHEntscheidungen. 185 BFH-Gutachten I D 2/53 S vom 5. 5. 1953, BStBl. 1953 III, S. 224 f. 186 Urteil IV 116/64 U vom 18. 3. 1965, BStBl. 1965 III, S. 289 ff. 187 Neben einer gleichhohen Passivierung des Barwertes der Verpflichtung.
II. Inhalt und Grenzen des "Wirtsdlaftsgutes"
87
einen Arbeitnehmer, wenn dieser fünf Jahre nicht kündige und sah im Urteil vom 29. 4. 1965188 den Zuschuß eines Betriebs zum Ausbau einer öffentlichen Straße als aktivierungsfähiges Wirtschaftsgut an. Liest man die Begründungen zu diesen Entscheidungen, so bemerkt man, wie hart sich der BFH tat, die betreffenden Sachverhalte den Wirtschaftsgutkriterien zu unterwerfen189 und erkennt die Kritik, daß hier Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit für den Steuerpflichtigen nicht gewährleistet sind190, an. Allerdings sollte man auch dabei berücksichtigen, daß es sich erstens um Einzelfälle handelt und zweitens eben um die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe, in deren begrifflicher Randzone die Problematik typisch ist191• Nach Auffassung von Rau192 und Maassen 111 sind diese Aktivierungen infolge der Änderungen im EStG vom 26. 2. 1969, insbesondere wegen der in § 5 Abs. 2 und 3 übernommenen Bilanzierungsverbote unentgeltlich erworbener sogenannter transistarischer Posten im weiteren Sinne, "rechtlich überholt und nicht mehr anzuwenden". Saage 194 führt dazu aus, daß mit der Übernahme der handelsrechtliehen Aktivierungsverbote in das EStG der Gesetzgeber seinen Willen zum Ausdruck gebracht habe, dem Maßgeblichkeitsgrundsatz stärkere Geltung zu verschaffen. Er beruft sich dabei auf FZume, demzufolge "durch den Begriff des Wirtschaftsgutes die grundsätzliche Kongruenz der Steuerbilanz zur Handelsbilanz hergestellt wird" 195 und auf die Begründung des Finanzausschusses zum Änderungsgesetz vom 26. 2. 1969, in dem es heißt, "daß die Handelsbilanz für die Steuerbilanz, soweit nicht ausdrücklich in § 5 EStG Ausnahmen vorgeschrieben sind, maßgeblich sein muß" 198• Das aber bedeute, "daß die durch die weite Auslegung des Begriffes Wirtschaftsgut in den 50er Jahren ausgelöste Aktivierungswelle contra legeminsRollen gebracht worden" sei. BFH-Urteil IV 403/62 vom 29. 4.1965, BStBl. 1965 III, S. 417. z. B. im Falle der Treuprämie, S. 290, "anteiliger Aufwand der Jahre, in denen der Betrieb den Nutzen aus der Zusage zieht" . . . "Ein gedadlter Erwerber würde ... den durdl die Eingebung der Verbindlidlkeit für den Betrieb begründeten Vorteil berücksidltigen"(!) Im Falle des Wegezusdlusses, "Vorteile, die das Unternehmen aus der Ausbesserung und Befestigung der Straße zog" (!) 190 Vgl. insbesondere Jacobs, Das Bilanzierungsproblem, S. 91. 191 Hierauf wird nodl eingegangen. 192 Steuerliche Übernahme handelsredltlidler Bilanzierungsvorsdlriften, s. 678. 199 Gilt der Maßgeblidlkeitsgrundsatz (§ 5 EStG) nidlt für Bilanzierungswahlredlte, S. 1289. 194 Veränderte Grundlagen, S. 1713. 195 Die Forsdlungs- und Entwicklungskosten in Handels- und Steuerbilanz, s. 1061. 196 Deutsdler Bundestag, 5. Wahlperiode, BT-Drs. V/3852. 188
189
88 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut"- wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff
Demgegenüber vertritt Littmann auch nach der Gesetzesänderung die Auffassung, daß der Begriff des Wirtschaftsgutes grundsätzlich "ein eigenständiger bilanzsteuerlicher Begriff" sei, der daher allein der Auslegung durch das Steuerrecht, wenn auch nicht ohne jede Verbindung mit dem handelsrechtliehen Begriff des Vermögensstandes", unterliege197, räumt aber andererseits ein, "daß hier und da berechtigte Zweifel daran bestehen können, ob die Aufwendungen, die die Rechtsprechung als aktivierungspflichtig angesehen hat, zu einem Wirtschaftsgut geführt haben" 198• Auch Hartz 199 äußert sich skeptisch, ob mit der Gesetzesänderung die bisherigen Streitfragen ausgeräumt worden seien und verweist darauf, daß es auch in Zukunft auf den Begriff des Wirtschaftsgutes und dessen Voraussetzungen ankommen werde200• Andererseits wurde aber der Große Senat201 des BFH bereits mit der Frage befaßt, ob durch die Gesetzesänderung eine künftig engere Auslegung des Begriffes Wirtschaftsgut geboten sei202 • Eine klare Antwort findet sich in der Begründung des Beschlusses vom 3. 2. 1969 nicht. Das lag zunächst einmal daran, daß der zu entscheidende Sachverhalt aus dem Jahre 1962 stammte und die Gesetzesänderungen 1965 (AktG) und 1969 (EStG) keine Rückwirkung entfalten. Andererseits aber kann die Argumentation des BFH203 den Verdacht nicht zerstreuen, daß sich der GrS auf eine engere Anwendung des Begriffes nicht festlegen wollte, wenn er auch auf die "Grundsätze des auf das Steuerrecht abstellenden Urteiles des RFH I A 470/27 vom 27. März 1928" 204 und die dort begründeten "Wirtschaftsgüter" verweist. Aus der Begründung des die Grundsätze des GrS im konkreten Fall anwendenden VI. Senates vom 26. 6. 1969205 läßt sich aber immerhin entnehmen, daß die gesetzlich nun geforderte Entgeltlichkeit immaterieller Wirtschaftsgüter die Aktivierung "allgemeiner Chancen für den Betrieb, aus der sich für die Zukunft günstige Auswirkungen erhoffen Zur Tragweite der neugefaßten §§ 5, 6 EStG. Buchbesprechung, DStR 1969, S. 336 (337). 199 Urteilsanmerkung zum GrS 2/68 vom 3. 2. 1969. 2oo Vgl. oben, Zitat im Text. !o1 Beschluß GrS 2/68 vom 3. 2. 1969 [betr. Zuschuß zur Trafo-Station]. 202 Siehe die Frage 4 des vorlegenden Gerichtes: Ist der "Begriff des Wirtschaftsgutes enger auszulegen, als es bisher in der Rechtsprechung des RFH und des BFH geschehen ist"? 203 "Da es Sinn und Zweck der steuerlichen Gewinnermittlung entspricht, den vollen Gewinn zu erfassen ..."; "Kaufmann geboten ... sich nicht ärmer zu machen als er ist ..."; "Gleichheit der Besteuerung (Art. 3 des Grundgesetzes)". 204 Herausstellung der einzelnen Voraussetzungen. 205 BFH-Urteil VI 239/65 vom 26. 6. 1969, BStBl. 1970 II, S. 35 [betr. Zuschuß für Trafostation]. 197 198
II. Inhalt und Grenzen des "Wirtschaftsgutes"
89
lassen", ausschließt. Jedoch verweist der Senat auf den "sogenannten Reklamefeldzug" und das Urteil I 167/62 U vom 9. 10. 1962206 • Demgegenüber stimmt das Urteil des III. Senates des BFH vom 7. 8. 1970207 , das in seiner Begründung ausgerechnet auf den Wirtschaftsgutsbegriff verweist, wie er vom IV. Senat bezüglich des Wegezuschusses208 und vom VI. Senat bezüglich des Trafozuschusses (obwohl dieser ja noch nach altem Recht zu entscheiden war!) 209 verwandt wurde, wieder ernüchtemder10. So bleibt es abzuwarten, ob sich die weite Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes Wirtschaftsgut reduzieren läßt. Die Auffassung, daß nur Wirtschaftsgüter zu bilanzieren sind211 , gilt auch auf der Passivseite der Bilanz. Hier hat die Rechtsprechung, beginnend mit dem Urteil des OFH vom 28. 2. 1948212 den Begriff des "passiven Wirtschaftsgutes" 213 entwickelt. Darunter ist nicht nur- wie es noch der RFH forderte214 - eine bürgerlich-rechtliche einklagbare Forderung zu verstehen, sondern jeder "über die Bilanzperiode hinausreichender "selbständig bewertbare Wirtschaftsnachteil" 215 , der in späteren Perioden zu Aufwand führt216 • Allerdings wurden hier wesentlich strengere Anforderungen als auf der Aktivseite gestellt und in den entsprechenden Urteilen vor allem verlangt, daß konkrete Sachverhalte vorliegen müssen, die ernsthaft mit einer Inanspruchnahm.e des Betriebes rechnen lassen217 • Dieses erscheint durchaus zutreffend unter (Aktivierungspfticht für Reklameaufwendungen.) BFH-Urteil III R 119/67 vom 7. 8. 1970, BStBl. 1970 II, S. 842 [betr. Umbaukosten gemieteter Geschäftsräume]. 208 Urteil IV 403/62 U vom 29. 4. 1965. 209 Urteil VI 239/65 vom 26. 6. 1969. 210 Immerhin wird dynamischer Auffassung eine Absage erteilt (S. 843). 211 ( ••• außer den eng umgrenzten Posten der Rechnungsabgrenzung), vgl. zum Verhältnis Tomfohrde, Die dynamische Bilanzauffassung, S. 179 (sovvie den Positionen Kapital und Rücklagen). 212 OFH-Urteil I 10/47. 213 "passivierungsfähige Last", "selbständig bewertungsfähige Last" vgl. BFH-Urteil I 149, 54 S vom 19. 7. 1955, BStBl. 1955 III, S. 266 ff. [betr. Rückstellungen für pachtvertragliche Verpflichtung, unbrauchbar gewordene Betriebsgegenstände zu ersetzen]; BFH-Urteil I 54/51 S vom 26. 6. 1951, BStBl. 1951 III, S. 211 [betr. Abraumrückstände bei Steinbruchunternehmen]; BFHUrteil I 174/55 S vom 27. 9.1955, BStBl. 1955 III, S. 366 ff. [betr. Pensionszusage]. 214 So RFH-Urteil I A 165/30 vom 10. 10. 1930, RStBI. 1931, S. 118 ff; RFHUrteil I A 324/31 vom 28. 6. 1932, RStBl. 1932, S. 949 ff.; RFH-Urteil VI 382/41 vom 14. 1. 1942, RStBl. 1942, S. 183 ff. und RFH-Urteil VI 333/42 vom 2. 6. 1943, RStBI. 1943, S. 618 ff. 215 Spitater, Wirtschaftsgut, FR 1961, S. 158. 216 Vgl. die BFH-Urteile I 149/54 S vom 19. 7. 1955, I 54/51 S vom 26. 6. 1951, 174/55 S vom 27. 9.1955. 217 So insbesondere im BFH-Urteil IV 165/59 S vom 17.1.1963, BStBl. 1963 206
207
90 III.l. Kap.: "Wirtschaftsgut" -wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff
dem Gesichtspunkt, daß die Steuerbilanz möglichst den objektiven Gewinn zu ermitteln sucht und gewinnmindernde Passivierungen nicht von der subjektiven Auffassung des einzelnen Kaufmannes abhängig sein lassen möchte218 • Auf die mit unterschiedlicher Strenge geforderten Voraussetzungen der Wirtschaftsgüter aktiver oder passiver Ar~19 und die dadurch entstehenden Probleme soll hier aber nicht näher eingegangen werden, da die Fragestellung dieses Kapitels davon nur marginal berührt wird. 111. Folgerungen aus der Entwicklung des Begriffes "Wirtscbaftsgut" Die Darstellung des Bilanzsteuerrechts und der Entwicklung des unbestimmten Rechtsbegriffes Wirtschaftsgut in Gesetzgebung, Literatur und Rechtsprechung hat gezeigt, daß das Wirtschaftsgut auch nach heute h. A. in Literatur und Rechtsprechung der zentrale Begriff des Bilanzsteuerrechts ist. Er ist nach der Entwicklung durch die Rechtsprechung vom Gesetzgeber 1934 in eine statisch orientierte Bilanzrechnung eingefügt worden und ist selbst aufgrund seiner Voraussetzungen, unter denen - mit Ausnahmen - ständig judiziert wurde, im Grundmuster statisch220• Insofern blockierte er ein Vordringen dynamischer Bilanzauffassung im Bilanzsteuerrecht. Weder die Auffassung, bei dem Wirtschaftsgut handle es sich um einen autonomen Steuerrechtsbegriff, noch die Meinung, es sei überwiegend handelsrechtlich orientiert221 , werden ihm gerecht. Vielmehr 111, S. 237 ff. (238/239) [betr. Bildung von Garantierückstellungen für Haftpflichtverbindlichkeiten "konkrete, im einzelnen nachprüfbare Tatsachen"]; vgl. aber auch die Urteile BFH IV 142/53 vom 19. 11. 1953, BStBl. 1954 111, S. 16 f. [betr. niedrigen Teilwert von Betriebsgebäuden bei nachträglicher Versagung der pol. Baugenehmigung und Einbeziehung in die Stadtplanung], und I 137/59 U vom 29. 11. 1960, BStBl. 1961 111, S. 154 ff. [betr. Teilwertabschreibung auf das Warenlager]. 218 Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. 219 Vgl. zu den einzelnen Bilanzpositionen die Darstellung bei Gottschalk, Der Grundsatz der periodengerechten Gewinnabgrenzung im Steuerrecht. 220 Vgl. zum Abschluß noch Zybon, Das Verhältnis der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung zur dynamischen Bilanztheorie, ZfbF 1969, S. 610 ff. (617 /618): "Die Autoren des Steuerrechts und die Finanzrechtsprechung selbst sind sich einig darüber, daß der Begriff des ,Wirtschaftsgutes' ein zentraler Begriff des Steuerrechts ist; es wird ihm Prädominanz zugesprochen . . . Aber man wird sagen müssen, daß" ... (er) ... "von solch statischem Charakter ist, wie er statischer kaum denkbar ist ... Er ist dem dynamischen Denken absolut fremd." 221 Im Überschwang der Begeisterung über die erneute Verankerung der gesetzgeberischen Vorstellung von der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz in § 5 EStG (26. 2. 1969) wird auch vertreten, daß nunmehr dem Begriff Wirtschaftsgut überhaupt "keine normative Bedeutung mehr" zukomme - so
III. Folgerungen aus der Entwicklung des Begriffes "Wirtschaftsgut"
91
muß man von einer gegenseitigen Durchdringung beider Rechtsgebiete in diesem Begriff ausgehen. Er wurde im Bilanzsteuerrecht entwickelt und verankert - der Begrüf ist dem Handelsrecht fremd. Aber er entstammt handelsrechtliehen Wurzeln, ist identisch mit dem handelsrechtliehen Vermögensgegenstand und durch die G. o. B. mit dem lebenden Handelsrecht eng verwoben. Das ergibt sich - auch wenn die Rechtsprechung hier schwankte - eindeutig aus der Entwicklungsgeschichte und daraus, daß der Begriff bei allen Gesetzesänderungen stets unverändert bestehen blieb, also inhaltlich vom gesetzgeberischen Willen erfaßt und aufgenommen wurde222 und deutlich durch gezielte gesetzliche Veränderungen 1954 und 1969 der gesetzgeberisch gewünschte Maßgeblichkeitsgrundsatz betont wurde223 • Die G. o. B. begrenzen den behaupteten Anspruch des Steuerrechts nach periodengerechter Gewinnbesteuerung- und zwar von vorneherein kraft Gesetzes224 • Die periodengerechte Gewinnermittlung des EStG besteht also nur nach Maßgabe des Gesetzes. Hier ist das Wirtschaftsgut Zentralbegriff, in dessen Inhalt die G. o. B. einfließen. Andererseits wird das kaufmännische Vorsichtsprinzip, dort wo es dem Grundsatz gleichmäßiger Besteuerung zuwiderläuft, selbst durch das Steuerrecht eingeschränkt. Denn auch der Steuergesetzgeber hat - wenn er den Maßgeblichkeitsgrundsatz im Steuerrecht verankert, nicht im Sinne, die Handelsbilanz zur Besteuerungsgrundlage zu erheben. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß der Gesetzgeber schon 1934, als er den Begriff "Wirtschaftsgut" in das Einkommenssteuergesetz einfügte, (unkritisch) Hintze, Ansatz und Bewertung der Wirtschaftsgüter in der steuerlichen Eröffnungsbilanz bei der Umwandlung von Personengesellschaften in Kapitalgesellschaften, Dissertation, Göttingen 1972, S. 184 ff. (mit Zitat von Saage). Diese Auffassung übersieht, daß der gesetzgeberische Hinweis lediglich eine Klarstellung zum InhaU des im Gesetz enthaUenen Begriffes ist und verkennt das Wesen unbestimmter Rechtsbegriffe überhaupt. 222 Vgl. das erste Gesetz zur Änderung des Einkommenssteuergesetzes und des Körperschaftssteuergesetzes vom 29. 4. 1950, BGBl. I, S. 95; das Einkommen- und Körperschaftssteuer-Änderungsgesetz vom 27. 7. 1951, BGBl. I, S. 411; die verschiedenen Änderungsgesetze vom 20. 5. 1952, BGBl. I, S. 302; vom 10. 12. 1952, BGBl. I, S. 446 sowie vom 19. 5. 1953, BGBI. I, S. 222; bis schließlich zur "kleinen Steuerreform" vom 24. 6. 1953, BGBI. I, S. 413, die auch dem § 4 einen 4. Zusatz hinzufügte. Beachte auch das Gesetz zur Neuordnung von Steuern (Große Steuerreform) vom 16. 12. 1954, BGBI. I, S. 373, in dessen Begründung es ausdrücklich heißt (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode 1953, Drs. Nr. 481, S. 59), daß das Gesetz der "Tendenz folgt", das bestehende Steuersystem im wesentlichen aufrecht zu erhalten. 223 Vgl. auch Hartmann, Rückstellungen bei der Gewinnermittlung, Dissertation, Göttingen 1973, S. 115: "Gesetzgeber wollte ... lediglich eine Begrenzung vornehmen." Ähnlich Schrader, Auswirkungen des AktG 1965, DB 1966, S.1145. '224 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Gottschalk in seiner Dissertation "Der Grundsatz der periodengerechten Gewinnabgrenzung im Steuerrecht", S. 110/ 111; ebenso Hartmann, Rückstellungen, S. 116.
92 III. 1. Kap.: "Wirtschaftsgut" - wertgefüllter, normhaltiger Rechtsbegriff auf einen Begriffsinhalt verweisen konnte, der in seinem Kernbereich bereits derartig vorgeformt war, daß eine weitreichende Ergänzung über die festgelegten Maßstäbe der besonderen Materie des Bilanzsteuerrechts hinaus nicht zu befürchten war25 • Die von der ständigen Rechtsprechung herausgearbeiteten Voraussetzungen a) durch Aufwendungen erlangt, b) selbständig bewertungsfähig, c) mehrperiodisch zu erwartender Nutzen für die Unternehmung einerseits und die Verknüpfung von Handels- und Steuerbilanz durch den Maßgeblichkeitsgrundsatz andererseits ließen Urteile mit grundsätzlich vom Einzelfall unabhängiger Bestimmtheit erwarten und dennoch genügend Spielraum offen, um der erkannten wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen zu können. Dieser Begriffsinhalt hat sich auch nach 1934 über 1945 hinaus bis heute erhalten, und auch bei der Rechtsprechung läßt sichabgesehen von den besprochenen Ausbrüchen - ein gemeinsamer Kern bis heute feststellen226 • Man kann das "Wirtschaftsgut" im Bilanzsteuerrecht deshalb als "wertgefüllten" oder "normhaltigen" Begriff bezeichnen227 , dessen Inhalt von sich gegenseitig begrenzenden Wertmaßstäben des Handelsund Steuerrechts bestimmt wird. In dieser Kategorie steht er zwischen "deskriptivem Begriff und Generalklausel" (" wertausfüllungsbedürftiger Bestimmung"). Vom ersteren unterscheidet er sich durch seinen größeren "Begriffshof", in dessen Grenzbereich sich in der Vergangenheit einige Male auch Entscheidungen ansiedelten, in deren Kritik der Ruf nach Rechtssicherheit vorherrschend war228• Vom unbestimmten "wertausfüllungsbedürftigen" Rechtsbegriff (Generalklausel) unterscheidet er sich durch den zweifelsohne vorhandenen breiten "Kernbereich", der Rechtsanwendung und Urteile nach abstrakten Normengesichtspunkten mit generalisierender Wirkung fordert.
225 Vgl. auch Hartz, Entwicklungstendenzen im Bilanzsteuerrecht, S . 94, "... vor allem das Bilanzsteuerrecht, das in seinem Kern seit dem Jahre 1934 unverändert geblieben ist". 226 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Jacobs, Das Bilanzierungsproblem, S. 78/79: "Es läßt sich jedoch bei der Betrachtung der BFH-Entscheidungen ein gemeinsamer Kern feststellen, der sich kaum vom Wirtschaftsgutbegriff, wie er vom RFH entwickelt wurde, unterscheidet." (Hervorhebung vom Verfasser.) 227 Vgl. dazu die Ausführungen im II. Teil, 1. Kapitel, III. und daselbst die Hinweise auf Soell, S. 168 ff. 228 Hierauf soll im folgenden Kapitel eingegangen werden.
IV. Zusammenfassung des 1. Kapitels
93
IV. Zusammenfassung des 1. Kapitels 1. Mit dem gesetzlich nicht definierten Begriff des "Wirtschaftsgutes" bezeichnet das Einkommenssteuergesetz die wesentlichsten Bilanzpositionen bei der Gewinnermittlung (§§ 4 Abs. 1, 5 EStG).
2. Der Begriff wurde von der Rechtsprechung des RFH entwickelt, vom Gesetzgeber 1934 in das Einkommenssteuergesetz übernommen und von der Rspr. anhand der herausgearbeiteten Voraussetzungen a) durch Aufwendungen erlangter, b) selbständig bewertungsfähiger, c) mehrperiodischer Nutzen angewendet. 3. Das "Wirtschaftsgut" ist aufgrundgesetzlicher Verweisung(§ 5 Abs. 1 EStG) im Zusammenhang mit den Grundsätzen der ordnungsmäßigen Buchführung und Bilanzierung, also den Gepflogenheiten der Kaufmannsschaft zu begreifen. 4. Dadurch wird der Zielkonflikt zwischen Handels- und Steuerbilanz und der Streit um statische oder dynamische Bilanzmethode in die Steuerbilanz hineingetragen. Die übersteigerte Forderung nach periodengerechter Gewinnermittlung löste in den fünfziger Jahren eine "Aktivierungswelle" aus, in der die Gerichte teilweise entweder den gesetzlichen Begriff Wirtschaftsgut überhaupt nicht beachteten oder "dynamisch" interpretierten, oder aber die einzelnen Voraussetzungen übermäßig ausdehnten. 5. Dies geschah unter Verkennung der Tatsache, daß sowohl die gesetzgeberische Konzeption der Gewinnermittlung, als auch die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung überwiegend statisch orientiert sind, und auch eine rein teleologische Auslegung des Einkommenssteuergesetzes, das klassisches Eingriffsverwaltungsrecht darstellt, zum Nachteil des Bürgers nicht möglich ist. 6. Die Entwicklung des Begriffes, die gesetzgeberische Verankerung und die jahrzehntelange Arbeit der Gerichte mit ihm haben einen Kernbereich von handelsrechtlich-betriebswirtschaftlichem und bilanzrechtlichem Gehalt entstehen lassen, in welchem Gerichtsentscheidungen mit generalisierender Wirkung ergehen. Das "Wirtschaftsgut" gehört deshalb zu den "wertgefüllten" unbestimmten Rechtsbegriffen.
2. Kapitel
Bestimmtheitserfordernis und Rechtsanwendungsmethode bei unbestimmten Rechtsbegriffen im Steuerrecht überprüft am Begriff "W irtschaftsgut" I. Allgemeine Vberlegungen zur Rechtsanwendung 1. Keine Tatbestandsbestimmtheit ohne disziplinierte Rechtsanwendung
Bei der Darstellung, welche verfassungsrechtlichen Anforderungen
i. S. d. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG an den Bestimmtheitsgrundsatz zu stellen
sind und bei der Untersuchung und Feststellung des unbestimmten Rechtsbegriffes "Wirtschaftsgut" als wertgefüllter, normativer Rechtsbegriff, wurde bisher ein wichtiger Problemkreis ausgeklammert bzw. nur angedeutet. Hierbei handelt es sich um die Frage, wie Inhalt, Zweck und Ausmaß eines Rechtsbegriffes ermittelt werden können, dürfen oder vielleicht müssen, also um die Methode, mit der festgestellt wird, ob ein unbestimmter Rechtsbegriff in einem konkreten Fall zur Anwendung gelangt. In den vorangegangenen Überlegungen wurde bereits auf die Kritik von Jesch und Klein zur Aussage des Bundesverfassungsgerichtes, die nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG geforderte "Bestimmtheit" unbestimmter Rechtsbegriffe sei "durch Auslegung mittels sämtlicher iuristischer Auslegungsmethoden und -kriterien zu erlangen", hingewiesen'. Noch auffälliger trat der Zusammenhang zwischen Tatbestandsmäßigkeit, grundgesetzlicher Bestimmtheit und Rechtsanwendung bei der Behandlung des Begriffes "Wirtschaftsgut" durch die Rechtsprechung in Erscheinung. Hier ist deutlich geworden, daß ein Rechtsbegriff von seiner Entstehungsgeschichte, dem gesetzgeberischen Willen, dem systematischen Zusammenhang und auch der Verfestigung durch jahrzehntelange Entscheidungspraxis her wertgefüllt sein und dennoch zu Urteilen führen kann, in denen die Rechtssicherheit verletzt wird2 • II. Teil, 2. Kapitel, II., 3., b). So vor allem Jacobs, nur verkennt er, daß das Problem nicht von der "Unbestimmtheit" des Begriffes, sondern aus der Rechtsanwendung herstammt. 1
2
I. Allgemeine Überlegungen zur Rechtsanwendung
95
Tipke führt deshalb in der neuesten Auflage seines Lehrbuches völlig zu Recht aus8 : "Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung, Rechtssicherheit, insbesondere Tatbestandsbestimmtheit\ können sich nur dann voll entfalten, wenn die Rechtsanwendung sich einer disziplinierten Methode bedient und das Analogieverbot nicht unterlaufen wird." Die Klarheit und Folgerichtigkeit dieses Satzes liegen auf der Hand. Trotzdem führt er zu einer Vielzahl von Problemen, denn es gibt keine unbestrittene Methode bei der Frage, wie im konkreten Fall Recht angewendet werden kann - und schon die Trennung von AusLegung - als ein Bemühen, Texte in ihrem Sinn zu erfassen, zu verstehen5 - und Rechtsfortbildung- als eine über dieses Verstehen hinausgehende schöpferische Weiterbildung des Rechts- wird in Frage gestelUS. 2. Sind Auslegung und Rechtsfortbildung trennbar?
In dieser Grundfrage trat schon Radbruch1 für einen weiteren Auslegungsbegriff ein, indem er sagte, Auslegung sei "nicht Nachdenken eines Vorgedachten", sondern "Zuendedenken eines Gedachten". Die Überlegung präzisierte Esser\ der "keinen qualitativen Unterschied zwischen der Fortbildung, die . . . noch als Interpretation gilt, gegenüber der Fortbildung im Wege der Lückenfüllung ... wie schließlich einer offenen Rechtsfortbildung jenseits dieses Rahmens" erkennt. Ebenso sehen A. Kaufmann9 und Burckhardt10 keinen Unterschied zwis Steuerrecht, 4. Aufl. 1977, S. 79, vgl. auch S. 30: "Im einzelnen lassen sich mehrere Sub- oder Sekundärprinzipien des Rechtssicherheitsprinzips unterscheiden: Das Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit, das Rückwirkungsverbot, das Analogieverbot und eine exakte Auslegungsmethode unter Beachtung der Auslegungsgrenze des möglichen Wortsinns". 4 Hervorhebung vom Verfasser. 5 Zum festen Bestand der iuristischen Hermeneutik gehören bestimmte methodische Gesichtspunkte- ("canones der Auslegung", vgl. Coing, Juristische Methodenlehre, Berlin, New York 1972, S. 25, mit Hinweis auf Schleiermacher), so die verbale oder grammatikalische-, die systematische-, genetisch-historische-, teleologische-, objektive- und komparative (vergleichende) Auslegung, Coing, S. 26 bis 37. 6 Hier unterscheidet man Analogie, argurnenturn a majore ad minus, argumentum e contrario, teleologische Reduktion (oder Restriktion), vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 354 ff.; auch teleologische Extension, vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz - Eine methodelogische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung (1964), S. 89 ff.; auch "Natur der Sache", "Fallvergleichung", vgl. dazu Kruse, Steuerrecht, § 8 111, 2. 7 Rechtsphilosophie, 4. Aufl., besorgt von Eric Wolf, Stuttgart 1950, S. 211. 8 Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S.178; ders. schon 1956, Grundsatz und Norm, S. 259: Lückenausfüllung oder ergänzende Auslegung, selbst die das Einzelgesetz ändernde Auslegung, ist nicht von der eigentlichen Auslegung als rechtsschöpferische Aufg,abe zu unterscheiden". 8 Analogie und Natur der Sache, 1964, S. 29 konsequent vom Standpunkt der "objektiven Auslegungslehre" her. Ders., Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik, JZ 1975, S. 337 (339, 341).
96
III. 2. Kap.: "Wirtschaftsgut"- Bestimmtheit und Rechtsanwendung
sehen der Auslegung und der Ausfüllung von Lücken (Analogie), da beide Male eine wertende Feststellung zugrunde läge. Denn, so Burckhardt 11 , "zwischen mehreren praktisch möglichen Auslegungen muß der Richter allerdings auch wertend wählen nach Art des Gesetzgebers". Gerade der letzte Gedanke gibt Anlaß zur Kritik, die aus dem Verfassungssystem und dem Gewaltenteilungsgrundsatz (Art. 20 Abs. 3 GG) erwächst12. Der Richter ist nicht frei nach Art des Gesetzgebers, sondern auch in der Wahl der Auslegung durch den Willen des Gesetzgebers gebunden. Coing 13 führt dazu aus, daß sich die Antwort auf die Frage, ob eine bestimmte Interpretationsmethode - z. B. Umkehrschluß, extensive oder restriktive Betrachtung - angewendet werden darf, häufig aus dem Gesetz und dem ermittelten Willen des Gesetzgebers ergibt, so daß der Richter im Bereich der Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung bleibt. Anders sei es bei der Analogie, bei der eine für einen anderen Fall vorgesehene Regelung nur "als Gesichtspunkt, als Anknüpfungspunkt bei der Aufstellung einer (neuen) Regel" für einen nicht oder nicht richtigerfaßten Fall benützt werde, und damit der Bereich der Gesetzesanwendung verlassen und der der Rechtsschöpfung betreten werde. Vor allem SoeW 4 stellt im Hinblick auf die aus rechtsstaatliehen Gründen gebotene Grenzziehung fest, daß "Auslegung und Lückenfüllung zeitlich und rangmäßig sich nacheinander stellende Aufgaben der Rechtsverwirklichung seien und warnt vor derartigen methodologischen Vermengungen15. Dagegen glaubt Merz16, "daß die Methoden der Auslegung denjenigen der Lückenfüllung wesensgleich sind", aber das "Maß der richterlich 10 Methode und Sytsem des Rechts, Zürich 1971, S. 280 ff. (282) Dagegen ist die Unterscheidung von Creifelds, Rechtswörterbuch, S. 105, zwischen einer Auslegung im engeren Sinne und weiteren Sinne (einschließlich Analogie) unergiebig. Weitere Literaturhinweise finden sich noch bei Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, Anm. 18. u Ders.,
S. 293.
12 Hierzu sei auf die Ausführungen zum "Richterrecht" verwiesen, vgl. li. Teil, 1. Kapitel, I., dieser Arbeit. 13 Juristische Methodenlehre, S. 47/48, mit Hinweis auf Geny, Meier-Hayoz und andere. 14 Ermessen, S. 375. 15 Ders., S. 18 ff., an dieser Stelle bezüglich subjektiver und objektiver Auslegungsmethode. Die Problematik ist aber nicht zu trennen, denn für den "objektiven" Ausgangspunkt (vgl. Kaufmann) stellt sich die "Lückenfrage" nicht. Vgl. dazu wiederum Coing, Juristische Methodenlehre, S. 48, der unter Hinweis auf Geny darauf hinweist, "daß sie, ganz im Gegensatz zu ihrem scheinbar ,objektiven' Charakter, einer höchst subjektiven und willkürlichen Auslegung des Gesetzes Tür und Tor öffnet". 10 Auslegung, Lückenfüllung und Normberichtigung, in: AcP, Bd. 163 (1964),
I. Allgemeine Überlegungen zur Rechtsanwendung
97
wertenden Tätigkeit" unterschiedlich sei. Hier liegt ein überzeugender Gedanke, denn selbst wenn es unbestreitbar ist, daß eine scharfe Trennung zwischen erkennender und wertender Geistestätigkeit bei der Rechtsfindung oft nicht möglich sein wird, kann doch m. E. in den Kernbereichen von Auslegung als Sirmermittlung eines Gesetzes und Rechtsfortbildung als Lückenfüllung methodisch deutlich genug unterschieden werden. Jeweils überwiegend wird nämlich kognitive oder volitive Denktätigkeit vorherrschen. Deshalb wird auch in dieser Arbeit an der Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung festgehalten17. 3. Die Grenze des möglichen Wortsinnes
Die Grenze zwischen den beiden Stufen der "Rechtsverwirklichung"18 bildet nach auch heute überwiegender Auffassung19 der "mögliche Wort· sinn" 20• Er umschreibt- worauf insbesondere Friedrich Müller hinweist21 aus rechtsstaatliehen Gründen22 den Spielraum einer normorientierten S. 305 ff. (333/334/335). Da Merz auch "Überlegungen der Analogie im Bereiche der Auslegung als "wesensgleich" annimmt, muß er im Analogieverfahren ein lediglich "formales Schlußverfahren" sehen, das die gesamte Breite der Rechtsfindung umfaßt. Zu diesem Ergebnis gelangt auch die Dissertation von Hess, Analogieverbot, S. 5, 6, 7. 17 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang noch auf die mehr vermittelnde überlegung von Larenz, Methodenlehre, S. 350, der immerhin noch "voneinander verschiedene Stufen desselben gedanklichen Verfahrens" annimmt. ff. (23); Friedrich Müller, Juristische Methodik, 1971, S. 140/141; Meier18 Soell, Ermessen, S. 150. 19 Engisch, Einführung, S. 104; Canaris, Die Feststellung von Lücken, S. 20 ff. (23); Friedrich Müller, Juristische Methodik, 1971, S. 140/141; MeierHayoz, Der Richter als Gesetzgeber, Zürich 1951, S. 42; Soell, Ermessen, S. 21, Anm. 4 - allerdings weist SoeH darauf hin, daß Fälle denkbar seien, in denen die Rechtsverwirklichung noch Auslegung (kognitiver Denkakt) darstellt, obwohl sie sich nicht mehr innerhalb der durch den möglichen Wortsinn gezogenen Grenzen bewegt, z. B. die Auslegung bei gesetzgeberischen Redaktionsversehen (übrigens nur mittels subjektiver historischer Auslegung festzustellen). Hess, Analogieverbot, S.17: "Lückenausfüllung beginnt, wo der mögliche Wortsinn des Gesetzes endet" und Larenz, Methodenlehre, S. 310 (mit weiteren Hinweisen in Anm. 19 und 20. A. A. vor allem A. Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, S. 23 ff.; Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961, S. 97; Esser, Vorverständnis, S.178 ff. und nicht ganz eindeutig Sax, Das strafrechtliche Analogieverbot, 1953, S. 81187, wenn er im Wortlaut nur ein "Indiz" für die Sinnermittlung des Gesetzes (Auslegung) sieht. 20 "Die Gesamtheit derjenigen Bedeutungen, die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch noch mit dem Ausdruck verbunden werden können." Larenz, Methodenlehre, S. 304. 21 Juristische Methodik, S. 140. 22 Rechtssicherheit, Normklarheit etc., vgl. Müller, S. 141, s. auch Soell, Ermessen, S. 18 ft. 7 Häcker
98
III. 2. Kap.: "Wirtschaftsgut"- Bestimmtheit und Rechtsanwendung
Konkretisierung23 • Denn "gerade dann, wenn Methodik nicht als Lehre formallogischer Methoden genommen wird, ist sie mit den Geboten des Rechtsstaates zu verbinden" 24 • Zudem kann das gesetzte Recht nur in Worten gefaßt überliefert werden, und diese stellen das wesentliche Material für die maßgebenden Wertungen25 • Andererseits wiederum darf "Gesetzespositivismus nicht durch Preisgabe der Positivität des Rechts überwunden werden" 26 • Ob allerdings, wie Müller meint27 , sich der "Abstand zur Topik darin ausdrückt, daß die Funktion des Normtextes als einer äußersten Grenze möglicher Rechtsbildung festzuhalten" ist, soll bezweifelt werden. Denn wenn die "Techne des Problemdenkens" 28 "die Gesamtstruktur der Jurisprudenz bestimmt" 29 , dann müssen auch ihre Begriffe und Sätze in besonderer Weise an das Problem gebunden" 29 und es kann bereits der "Begriff durch Interessenurteile vorqualifiziert" sein, "so daß die scheinbar logische Subsumtion eine Reintegrierung eines Interessenurteils ist, welches im Rechtsbegriff in nuce eingeschlossen wurde" 30• Die rechtsstaatliche Begründung für die Begrenzung der Auslegung durch den möglichen Wortsinn gewinnt im Steuerrecht31 noch verstärkte 23 Das meint Müller, nicht nur für das Verfassungsrecht, wie seine Ausführungen zeigen (S. 141/142). 24 Ders., S. 141, vgl. auch SoelZ, Ermessen, S. 18 ff. 25 Vgl. Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, S. 109. 28 Müller, S. 142, m it Hinweis auf E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für C. Schmitt, Berlin 1969, S. 35 ff. 27 Ders., Juristische Methodik, S. 141. Vgl. auch ders., Juristische Methodik und politisches System (Elemente einer Verfassungsinterpretation Il.), Berlin 1976, S . 79 ff. 28 Viehweg, Topik und Jurisprudenz Ein Beitrag zur rechtswissenschaftliehen Grundlagenforschung, 5. Aufl. München 1974, S. 14. 29 Ders., S. 101/102. 30 Vieweg, Topik, S. 103, mit Hinweis auf Josef Esser in einer Arbeit über "Naturrechtliche Elemente im dogmatischen und konstruktiven Rechtsdenken"; vgl. auch Vieweg, S. 90 (Kap. Topik und Axiomatik). 31 Grundsätzlich zustimmend: Beisse, HwStR, Bd. I, S. 93; Gassner, Interpretationen und Anwendung der Steuergesetze, S. 13; Paulick, Auslegung und Rechtsfortbildung im Steuerrecht, in: Die Auslegung der Steuergesetze in Wissenschaft und Pra xis, Hersg. G. Thoma/U. Niemann, Köln 1965, S.165 ff. (182/193); Spitaler, Beiträge zur steuerlichen Auslegungslehre, StbJb. 1956/ 57, S. 105 ff. (111 ff.); ders., Die Grenzen der Auslegung im Steuerrecht BB 1956, S. 7 ff.; Hartz, Steuergerichte und Verfassung: Die Auslegung der Steugesetze in Wissenschaft und Praxis, S. 89 ff.; Tipke, Vertrauensschutz bei der Auslegung von Steuervorschriften, FR 1961, S. 169 ff.; ders., Mehr Achtung vor dem Gesetzeswortlaut, FR 1962, S. 194 ff.; ders.; über die Grenzen der Auslegung und Analogie, S . 266; ders., Steuerrecht (4. Aufl. 1977), S. 83, mit weiteren zahlreichen Hinweisen auf Literatur und Rspr. Aus der Rechtsprechung sei u. a. verwiesen auf die BFH-Urteile I R 205/66 vom 9. 2. 1972; II 109/65 vom 28. 4. 1970, BStBL 1970 II, S. 600/601; II 120/64 vom 2. 12. 1969, BStBl. 1970 II, S. 119/120; II 210/65 vom 21. 10. 1969, BStBL 1969 II, S . 736, die teilweise mit weiteren Hinweisen Auslegung mit dem möglichen Wortsinn für beendet
I. Allgemeine Überlegungen zur Rechtsanwendung
99
Bedeutung. Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit im Abgabewesen und das Verbot der Analogie zum Nachteile des Steuerbürgers, sowie das Rückwirkungsverbot, sind überhaupt nicht denkbar ohne die Auslegungsbarriere des möglichen Wortsinnes32• Ebenso wäre der Satz des Bundesverfassungsgerichts33, das Steuerrecht lebt aus der "primären Entscheidung des Gesetzgebers", ohne diese Grenzziehung inhaltsleer4 • So wird denn auch zur Begründung von fast allen Autoren auf die Zwänge der Rechtssicherheit, Voraussehbarkeit und den Vertrauensschutz des Steuerbürgers verwiesen35 oder direkt die "Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung" ins Felde geführt36• Hierbei- das soll nochmals betont werden - ist nicht gemeint, daß richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht grundsätzlich ausgeschlossen sei, sondern nur, daß die Rechtsfindung außerhalb des Wortlautes besonderer Rechtfertigung bedarf37 • Da sich Rechtsfindung in1mer zwischen den beiden Polen Rechtssicherheit und Gerechtigkeii bewegt, kann es für den Richter gemäß Art. 20 Abs. 3 GG unumgänglich sein, den positiven Gesetzestext zu verlassen, nur muß er das besonders verdeutlichen, darf sein Ergebnis nicht als Gesetzesinhalt ausgeben und ist, wie Soell38 ausführt, gezwungen, die eigenen Wertungen, die in die Entscheidung eingegangen sind, deutlich zu machen. halten. Allerdings sind diese Urteile nicht "repräsentativ", da, worauf Tipke, Über die Grenzen der Auslegung, Anm. 15, hinweist, wie bei allen Gerichten Methodenpluralismus herrsche. 32 So vor allem auch Tipke, Das Steuerrecht in der Rechtsordnung, JZ 1975, S. 558 f. (561): "In der Rechtsanwendung kommt es wegen des steuerverschärfenden Analogieverbotes darauf an, exakt zwischen Auslegung und Analogie (Gesetzeserg.änzung) unterscheiden zu können". 33 Vgl. BVerfG-Urteil 1 BvR 232/60 vom 24. 1. 1962, S. 328, mit Hinweis auf
O. Bühler.
34 Vgl. auch Flume, Steuerwesen und Rechtsordnung, Festgabe für Rudolf Smend, Göttingen 1952, S. 59 ff.: "Der Mangel an Sachgesetzlichkeit im Steuerrecht begründet Rückwirkungs- und (belastendes) Analogieverbot" 35 So vor allem Tipke, Über die Grenzen der Auslegung, S. 266; ders., Steuerrecht (1977), S. 35 und 83. 36 Flume, Der gesetzliche Steuertatbestand und Grenztatbestände in Steuerrecht und Steuerpraxis, StbJb. 1967/68, S. 63 ff. (65 f.): Steuererhebung nur aufgrund positivistischer Ableitung aus dem Gesetz . . . Analogie bewirkt niemals Ausweitung, immer nur Einschränkung der Besteuerung. Vor allem auch Jesch, Auslegung gegen Wortlaut und Verordnungsgebung contra legem? JZ 1963, S. 241 ff. (245), mit Rückführung auf Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG; beachte auch die oben zitierte Entscheidung des BVerfG vom 24. 1. 1962. Ebenso von Wallis, Das Verhältnis von Gesetz und Rechtsprechung im Steuerrecht, DStZ 1973, Ausg. A, S. 58 f. (Tatbestandsmäßigkeit - Vertrauensschutz, belastendes Analogieverbot) und Benda/Kreuzer, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, DStZ 1973, Ausg. A, S. 49 ff. (53). 37 So auch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 23, Hess, Analogieverbot, S.16. 3s Ermessen, S. 144, 145.
7•
100 III. 2. Kap.: "Wirtschaftsgut"- Bestimmtheit und Rechtsanwendung
II. Die Auffassung, daß unbestimmte Rechtsbegriffe s t e t s auszulegen sind 1. Darstellung
Von Auslegung (oder auch Subsumtion) bei unbestimmten Rechtsbegriffen sprechen z. B. Jesch3", H. J. Wolfr 0, Engisch41, Enneccerus I Nipperdey 42, Canaris43, Kraus44, Stern45, vor allem aber Rupp46 und in neueren Dissertationen Richter41 und Post48• In der steuerrechtliehen Literatur vertreten diesen Standpunkt vor allem Strickrodt49, Kruse 50, der 1972 noch ausführte: "der Sinngehalt eines unbestimmten Rechtsbegriffes" ist durch Auslegung zu ermitteln und "die Auslegung ist Rechtsfrage", seit 1973 aber der extrem gegenteiligen Auffassung anhängt5 \ Hartz5 2, Kühn53, Thiel5\ sowie in neueren Dissertationen Spannhors~5, Gottschalk56 und Hoepffnerö 7 • 39 Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, S. 163, 165, 167, 180, 205, 211, 212, 215, 225. 40 Verwaltungsrecht I, § 31 Abs. 1 c) (S. 188): "Die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen ... ist wie jede Auslegung eine Rechtsfrage." 41 Einführung, S. 126: "wieder so etwas wie eine Auslegung dieser Begriffe ... "; " ... Verwandtschaft mit der Subsumtion". 42 Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halb band, 15. Aufl., bearb. von H. C. Nipperdey, § 50 II, 2, 3 (S. 309/310). Hierbei ist zu beachten, daß dasselbe Lehrbuch unter §58 I - II die konträre Auffassung (unbest. Rechtsbegriffe werden durch Rechtsfortbildung ausgefüllt) vertritt, vgl. unten III. Der Widerspruch erklärt sich wohl aus der gegenteiligen Auffassung der verschiedenen Bearbeiter. 43 Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 38. 44 In: von Turegg/Kraus, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 4. Aufl. 1962, S.28. 45 Ermessen und unzulässige Ermessenausübung Eine Analyse der subjektiven und objektiven Elemente, Berlin 1964, vgl. S. 19: "ius strictum auch bei der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe". Vgl. aber auch Mayer, Das Opportunitätsprinzip in der Verwaltung, Berlin 1963, S. 19/39. 48 Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, Verwaltungsnorm im Verwaltungsrechtsverhältnis, Tübingen 1965, S . 206, 213 ff. (216/218, 220). 47 Sind die Grundsätze über die Ermessenausübung beim Erlaß von Verwaltungsakten übertragbar auf den Erlaß von Rechtsverordnungen und Satzungen? Heidelberg 1972, S.10/11: "handelt es sich hier um ein Subsumtionsproblem, um Rechtsanwendung." 48 Begriffskonkretisierung und Sozialstaatlichkeit, Mainz 1974, S. 40/41. 49 In: Bühler/Strickrodt, Allgemeines Steuerrecht, 1. Halbband., 3. Aufl. Wiesbaden 1959, 3. Kap., § 8 I (S. 153). 50 HwStR, Stichwort: Rechtsbegriff Kruse folgt hier der Auffassung von Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff In seinem Lehrbuch Steuerrecht, allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1969, § 8 III, 2 (S. 71), hatte er noch die Aufteilung, eines unbestimmten Rechtsbegriffes in Kern und Hofbereich und dementsprechend Auslegung und Rechtsfindung für möglich gehalten. 51 In der 3. Auflage seines Lehrbuches Steuerrecht (1973), S. 96: Nunmehr "sind bestimmte Rechtsbegriffe" (immer) "Lücken intra legem, die der Rich-
II. Unbestimmte Rechtsbegriffe-stets "Auslegung"?
101
Dieser Auffassung liegt eine Struktur(analyse) der unbestimmten Rechtsbegriffe zugrunde, wie sie insbesonders von Jesch im Anschluß an Heck dargestellt wurde. Man geht davon aus, daß der Gegenstand der Rechtsanwendung die Rechtsbegriffe, vornehmlich die Gesetzesbegriffe seien, deren sich der Gesetzgeber bedient habe, um das gesellschaftliche Sein zu beschreiben58• Da "jede abstrakte Regelung mehr oder weniger unbestimmt, d. h. ausfüllungs- und auslegungsbedürftig" 59, sei, korrespondiere zu ihr "eine gewisse Freiheit des Rechtsanwenders, insbesondere des Richters ... bei der Auslegung"60 • Demgegenüber ergäben sich die zur Wahrung der Rechtssicherheit erforderlichen Grenzen dieser Freiheit aus der Bindung der Rechtsanwender an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG, § 1 GVG). So werde die "Stabilität der Rechtsordnung" "durch die Stabilität der Rechtsbegriffe gewährleistet"61 • Denn die abstrakten Rechtsbegriffe besäßen neben ihrer Unbestimmtheit auch "eine gewisse Festigkeit"61 , seien auch "bestimmt, d. h. gegenüber anderen Normen abgrenzbar und in ihrem inhaltlichen Kern festgelegt" 62 • Das sich hieraus ergebende Strukturbild63 bei unbestimmten Rechtsbegriffen, nämlich inhaltlich festgelegter, die Rechtssicherheit garantierender Begriffskern, umgeben "von einem allmählich verschwindenden Bedeutungshof" besitzt noch heute erklärende Geltung. Danach "wird das Gerüst der Rechtsordnung durch die Gesetzesbegriffe" 64 , genauer ter auszufüllen hat." Hierzu wird noch Stellung genommen, vgl. III. dieses Kapitels. 52 Gesetzliche Generalklauseln, Sp. 248/249/258/260; ders., Entwicklungen im Bilanzsteuerrecht, S. 88. 53 In: Kühn/Kutter/Hoffmann, § 2 StAnpPG, Anm. 1. 54 "Die Gewinnverwirklichung", StKongr.Rep. 1968, S. 237 ff. (280), zum unbestimmten Rechtsbegriff "Entnahme für andere betriebsfremde Zwecke" in § A Abs. 1 S. 2 EStGB: "im Wege der systematischen Auslegung zu schließen". 55 Die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, Osnabrück 1974, S. 103 (wenigstens im Grundsatz). 56 Der Grundsatz der periodengerechten Gewinnabgrenzung im Steuerrecht (1972), s. 5/10. 57 Gesetzesverdrängung durch Verwaltungshandeln im Steuerrecht, Würzburg 1970, S. 193/194. 58Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff, S. 168, mit Hinweisen auf Radbruch, Engisch, Stoll u. a. 59 Ders., S. 168. eo Ders., S. 170/171. et Ders., S. 171. s2 Ders., S. 168. es Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff, S.172; Engisch, Einführung, S. 108; Henke, Die Tatfrage - Der unbestimmte Rechtsbegriff im Zivilrecht und seine Revisibilität, Berlin 1966, S. 70 ff. (73/76); Müller-Tochtermann, Der unbestimmte Rechtsbegriff - logisch unhaltbar oder sinnvoll? S. 1, 239. 64 Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff, S.173/176.
102
III. 2. Kap.: "Wirtschaftsgut"- Bestimmtheit und Rechtsanwendung
"durch die Begriffskerne, gebildet" 66 • Zwischen ihnen befinden sich die "diffusen" Begriffshöfe und "sonstigen Lücken"88 • Gemäß dieser Vorstellung unterscheiden sich unbestimmte Rechtsbegriffe von bestimmten Rechtsbegriffen lediglich durch den größeren Begriffshof87, und ihre Handhabung stellt dann das "ganz alltägliche und allgemeine Problem der Rechtsanwendung" 68 dar. Dieses "allgemeine Problem der Rechtsanwendung" kann nur "Auslegung" bedeuten, denn es gilt, den "vom Gesetzgeber geprägten Begriff nach seinen Richtlinien und Zielsetzungen anzufüllen" 69 , seine "unmittelbar vorhandenen Wertungen aus den Begriffen auszufiltern" 70 , "mit den geeigneten Mitteln der Hermeneutik, einschließlich der Teologik und der Topik" 71 • Bei der Auslegung ist zu beachten, daß der Übergang vom Kern zum Hofbereich "variabel" ist und sich infolge der Aufnahme ehedem zweifelhafter Fälle durch klärende Rechtsprechung in den Kernbereich nach außen verschiebt72 • Auch der umgekehrte Fall, nämlich der mit einer durchgreifenden Änderung der Rechtsanschauungen sowie "metajuristischer Ordnungsstrukturen" verbundene "Kernwandel" ist denkbar73 • Zu dem - m. E. richtigen - Ergebnis, daß durch ständige, gleiche Konkretisierung in Rechtsprechung und Wissenschaft sich die Anzahl der zweifelhaften Denotate allmählich verringert - so daß schließlich sogar ein deskriptiver Begriff entstehen kann - gelangt auch Rothfu.ß74 in seiner Tübinger Dissertation aus dem Jahre 1973. 65
Ders., S. 177.
Die hier von J esch angesprochenen Lücken sind nicht "interne Gesetzeslücken" und nicht mit den Begriffshöfen gleichzusetzen. Ein derartiger Schluß wird wohl entgegen der Auffassungen von Soell, Ennessen, S. 164, nicht gezogen; denn nach .Jesch wird nur "ein Teil des freien Raumes durch die Begriffshöfe ausgefüllt. (Daneben bleiben auch noch sonstige Lücken.)" - Hervorhebung vom Verfasser. Richtig ist aber die Erkenntnis von Soell, daß im Hofbereich "interne Lücken" liegen können und wohl auch häufig liegen. 67 Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff, S.177/178. es Ders., S . 178 (mit Hinweis auf Reuß) 69 Stern, Ermessen und unzulässige Ennessensausübung, S . 19. 10 Post, Begriffskonkretisierung und Sozialstaatlichkeit, S. 40. 71 Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, Tübingen 1965, S. 206 (S. 214 " ... ausschließlich Erkenntnisproblem zur Erörterung .. ."). 72 Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff, S.176, Anm. 54. 73 Ders., S. 183. 74 Logik und Wertung der Subsumtion, S. 58/59; vgl. hierzu auch die Ausführungen im II. Teil 1. Kapitel ("Richterrecht"). Demgegenüber lehnt es Geitmann, B undesverfassungsgericht und "offene" Nonnen, ab, bei der Auslegung zur B estimmtheitsprüfung gern. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG auch die bisherige Konkretisierung zu berücksichtigen. Das ist konsequent von seinem Ausgangspunkt her, der in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG nur eine Kompetenznonn sieht. 68
II. Unbestimmte Rechtsbegriffe-stets "Auslegung"?
103
Betont sei aber dabei, daß sich dieser Vorgang bei wertausfüllungsbedürftigen Begriffen und Generalklauseln - wenn überhaupt - so doch wesentlich langsamer vollzieht75, denn die Rechtsprechung ist hier "individualisierender", nicht "generalisierender" Art76 • 2. Ursachen, Tendenzen und Kritik zu dieser Auffassung
a) Die stets vorhandene "Begrifflichkeit" Es gehört zu den gewollten Eigenheiten unbestimmter Rechtsbegriffe, daß die bewußt weit gehaltene gesetzliche Formulierung spätere "Konkretisierungen" deckt. Das zeigen auch die Bezeichnungen wie "allgemeine -", "dehnbare -", "elastische Begriffe" 77 • Damit werden aber nicht nur diejenigen Sachverhalte, die bereits nach der gesetzgeberischen Intension oder der bestehenden Rechtsprechung dem Begriff unterfielen, sondem auch jeweils neu zu entscheidende Fälle vom "möglichen Wortsinn" erfaßt. Da nun "Auslegung" erst mit dem "möglichen Wortsinn" endet, taucht die Frage nach der "Lücke" im Gesetz und damit der möglichen Rechtsfortbildung nicht auf18 • Das ist unproblematisch bei den deskriptiven und normgefüllten Begriffen, da selbst in den Fällen punktueller Rechtsfortbildung, in denen der Kembereich sich nur zögemd erweitert oder verfestigt, immer noch das subsumtive Element überwiegt und außerdem die Entscheidungen mit generalisierender Wirkung ergehen. Die "Begrifflichkeit" ist aber in den Fällen nur scheinbar, in denen der Gesetzgeber - um mit SoelF9 zu reden - bis dato nur die "Sinn75 aber selbst bei den intra legem-Lücken durch ständige Rechtsprechung, vgl. SoeH, Ermessen, 8.176/177: "Fernwirkung". Vgl. auch Dubischar, Grundbegriffe des Rechts, Eine Einführung in die Rechtstheorie, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 1968, 24/4: "bilden die von solch offenen Tatbeständen her beurteilten Sachverhalte ... Fallgruppen ... für die sich dann ... eine eigene Regel herausbildet." 76 Vgl. li. Teil, 1. Kapitel, I. Vgl. auch Kruse, Über Ermessen und Billigkeit, StuW 1962, Sp. 715 ff. (727): "Jeder auf normative Ausgestaltung gerichteten Rechtsordnung wohnt die natürliche Tendenz inne, die Ermächtigungen zu Ermessensentscheidungen durch Auslegungsbegriffe zu ersetzen und damit das Ermessen in enge Grenzen zu verweisen." mit Hinweis auf
Forsthoff). 77 Vgl. Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff, S. 166/167, mit Anmerkungen
12-15. 78 Bundesrichter Heinrich, Rechtsfortbildung durch die Revisionssenate des Bundesverwaltungsgerichtes außerhalb des Beamtenrechts, in: Richterliche Rechtsfortbildung, Köln 1970, S. 19 ff. (26), führt dazu aus: "Vielleicht spielt die Analogie in der Rechtsprechung des BVerwG auch deshalb eine verhältnismäßig bescheidene Rolle, weil ... der gesetzliche Tatbestand - insbesondere die hierfür prädestinierten unbestimmten Gesetzesbegriffe - soweit ausgelegt wird, daß in der Tat keine Gesetzeslücke feststellbar ist." 79 Ermessen, S. 161, mit weiteren Hinweisen.
104 III. 2. Kap.: "Wirtschaftsgut"- Bestimmtheit und Rechtsanwendung frage", nicht die "Maßfrage" gelöst hatte. Wird hier der Rechtsfindungsvorgang von dieser unterstellten "Begrifflichkeit" her betrachtet, gerät die (eigene) Wertung des Richters in den Sog der Subsumtion. Das Entscheidende, nämlich die Bildung eines neueren Rechtssatzes durch den Richter, und zwar im Wege der Rechtsfortbildung, da eine "intra legernLücke"80 gegeben ist, und für den Einzelfall81 - nicht als objektives Recht82 - weil das Gesetz für diesen konkreten Fall eben noch keine Regel aufgestellt hatte, verliert sich aus dem Blickfeld83. Der Denkweg, auf dem der Richter zur Lösung gelangt, wird formalisiert gesehen und der Begriff zum Hindernis vor der Erkenntnis, daß unbestimmte Rechtsbegriffe auch die Schaffung von Rechtssätzen- konkrete Fälle regelnde Rechtsaussagen - delegieren84 können. Das erklärt, warum in der grundlegenden Strukturanalyse bei J esch nicht ein einziges Mal die Methode in Frage gestellt, sondern grundsätzlich davon ausgegangen wird, daß unbestimmte Rechtsbegriffe "ausgelegt" werden. Auch Canaris85 unterliegt diesem Irrtum, sieht die "Regelung" des Gesetzes in jedem Falle als subsumtionsfähige Norm an und läßt dabei außer acht, daß der Gesetzgeber noch gar keinen konkreten Rechtssatz geschaffen hat86 • Dasselbe gilt für Engisch, der davon ausgeht, daß es an einer Norm nicht fehle, sondern nur an der "Bestimmtheit durch zeitgernäße Wertung" 87 und folgert, die "Konkretisierung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe" sei "so etwas wie eine Art Auslegung" 88. 80 Vgl. dazu ausführlich bei Soell, Ermessen, S. 160 ff.. 81 SoeZZ, Ermessen, S. 155. 82 Hartz, Steuergerichte und Verfassung, S. 95. 83 Daß hierin die Besonderheit der intra-legem-Lücke besteht, die gerade "Auslegung" ausschließt, nimmt auch Häberle, Rezension: Soell, Das Ermessen der Eingriffsverwaltung, JZ 1976, S. 191 f. (192) nicht zur Kenntnis, wenn er die "Lücke intra legem" als "widersinnig" und deren Interpretation als "Auslegung" bezeichnet. Denn selbst wenn man nicht "ein Interpretationsverständnis vor Esser" zugrunde legt und - wie Häberle - nicht zwischen Auslegung und Analogie unterscheidet, muß man doch die Verschiedenheit von individualisierender und generalisierender Rechtsfindung beachten. 84 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 109, spricht hier von sog. "Ventilbegriffen" oder von der Delegation der Gesetzgebungsbefugnisse auf den Richter. Vgl. auch Burckhardt, Methode und System des Rechts, S. 295: "Anweisungen auf das richtige Recht"; Soell, Ermessen, S.l75: "Delegationsbegriffe"; Dubischar, Grundbegriffe des Rechts, § 24, 4: "Das Gesetz delegiert die konkrete Normbildung an den Richter". 85 Die Feststellung von Lücken, S. 28. 86 Hierbei ist allerdings interessant, daß Canaris selbst diese "sinnvolle Aufgabe", Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles ("Billigkeit i. S. der individuellen Gerechtigkeit"), erkennt. - Nur weist er alle Fälle entweder dem Bereich der Auslegung oder dem der freien Rechtsfindung zu (S. 29, Anm. 57). Der Bereich der Lücke wird hier zu Null. s1 Einführung, S. 126. 88 Ders., S. 126/137.
II. Unbestimmte Rechtsbegriffe-stets "Auslegung"?
105
b) Volle gerichtliche Vberprüfbarkeit der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe? aa) Die Entwicklung in der Verwaltungsrechtswissenschaft Eine der Ursachen für die Auffassung, bei der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe handle es sich stets um Auslegung, ist die Tatsache, daß die Formulierung "unbestimmter Rechtsbegriff" aus der Verwaltungslehre stammt89 und eng mit der Ermessensproblematik verknüpft wurde90 • So war es lange streitig, ob es auch im Tatbestand einer Norm Begriffe geben könne, die der Verwaltung einen Ermessensbereich einräumen, oder ob es sich hierbei nur um Rechtsbegriffe mit der Konsequenz der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit handle81 • Die Ermessenslehre aus der Zeit der Weimarer Republik und der Zeit nach 1945, die auch tatbestandliehe Ermessensbegriffe für möglich hielt, wurde durch die tradierte Ermessenslehre 92 , die "fast einseitig vom Streben nach möglichst viel Justiziabilität beherrscht" 93 wird, abgelöst. Mit den Arbeiten von Bachor und Ule95 setzte sich die Auffassung in Literatur96 und Rechtsprechung97 durch, daß es nur ein Rechtsfolgeermessen gäbe und alle Tatbestandsbegriffe Rechtsbegriffe seien. Ganz auf der 89 Vgl. Bachof, Beurteilungsspielraum, Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht, JZ 1955, S. 98. So auch Spannhorst, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, S. 35. 90 Vgl. Soell, Diskussionsbeitrag zum Thema Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Aussprache, VVDStRL Heft 34, S. 313: "einheitliches Problem nach Bindung, Denkvorgängen und Funktionen" (mit Hinweis auf Scholz), umfassend R. Klein, Die Kongruenz des verwaltungsrechtlichen Ermessensbereichs und der Bereichs rechtlicher Mehrdeutigkeit, AöR 82 (1957), s. 75 f. 91 Vgl. dazu Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 31 ff. ; Ule, Zur Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Verwaltungsrecht, in: Festschrift für Walter Jellinek, S. 309 f.; Ossenbühl, Tendenzen und Gefahren der neueren Ermessenslehre, DÖV 1968, S. 619; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd.1, 9. Aufl., München, Berlin 1966, S. 78 ff.; Ehmke, Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht, Tübingen 1960, S. 19 ff. 92 Vgl. hierzu ausführliehst Soell, Ermessen, S. ff. 93 SchoZz, Verwaltungsverantwortung und Verwaltung:;gerichtsbarkeit, VVDStRL, Heft 34, S. 146 ff. (165). 9 4 Beurteilungsspielraum. 95 Zur Anwendung. 96 Bachof, Beurteilungsspielraum; Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff, S. 204 ff. (220); Ossenbühl, Ermessen, Verwaltungspolitik und unbestimmter Rechtsbegriff, DÖV 1970, S. 84 ff. (86); ders., Vom unbestimmten Gesetzesbegriff zur letztverbindlichen Verwaltungsentscheidung, DVBL 1974, S. 309 ff.; Schmidt-Salzer, Die normstrukturelle und dogmatische Bedeutung der Ermessensermächtigungen, VerwArch. Bd. 60 (1969), S. 262 ff.; vgl. im übrigen ausführlich Soell, Ermessen, S. 64 mit Anm. 16 und dortigen ausführlichen Literaturhinweisen. 97 u. a. BVerwGE 15, 207 (208 ff.), 29, 140 (141 ff.), 40, 237 (247), 40, 353 (356 ff.); vgl. auch die Rechtsprechung des BVerfG auf den folgenden Seiten.
106 III. 2. Kap.: "Wirtschaftsgut"- Bestimmtheit und Rechtsanwendung
Linie des Wunsches nach voller gerichtlicher Nachprüfbarkeit von Entscheidungen der Verwaltung wurde damit die Auffassung, daß nur eine nach der Idee des Gesetzgebers richtige Entscheidung in einem subsumtionsmäßigen Erkenntnisakt98 zu ermitteln sei, zum Dogma. Der vollen Konsequenz aber wich man aus, indem "letzte Relikte tatbestandsorientierten Ermessens" 99 über die Lehre vom Beurteilungsspielraum gelöst und konserviert wurd~n. Hier sollte die Subsumtion unter konturschwache normative Begriffe notwendigerweise10~ eine subjektive Wertung enthalten können, die von der Nachprüfbarkeit ausgeschlossen sei, sofern sie sich innerhalb abgesteckter Grenzen bewege101 • Da aber auch die Lehre vom Beurteilungsspielraum von den Verwaltungsgerichten zunehmend restriktiv102 angewendet wurde, blieb es zumindest für eine gewisse Zeit103 bei dem Grundsatz, daß alle104 Tatbestandsbegriffe gerichtlich voll nachprüfbare Rechtsbegriffe seien und folgerichtig der Akt der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe zum Erkenntnisverfahren der Subsumtion105 gehöre. So ist bei Bachof106 zu lesen, daß das Ermessen zur Freiheit tendiere; die tatbestandliehe Normierung dagegen- auch bei Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe-zur Bindung. Unbestimmte Rechtsbegriffe enthielten trotz ihrer "Unbestimmtheit" keinen Ermessensbereich, da sie zu einem "bestimmten" Ergebnis führten, sobald der Sachverhalt unter sie subsumiert werde107• Vgl. SoeH, Ermessen, S. 65. Schatz, Verwaltungsverantwortung, S. 165, mit weiteren Hinweisen. 100 Eine Tangierung des Art. 19 Abs. 4 GG durch Anerkennung eines Beurteilungsspielraumes wurde vom BVerwG am 25. 1.1967, BVerwGE 26, 65 (74) ausdrücklich verneint. tot Zur Problematik einer Abgrenzung dieser Auffassung von Ermessensentscheidungen vgl. Ehmke, Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff, S. 30 f. (33); Stern, Ermessen und unzulässige Rechtsausübung, Berlin 1964, S. 20; Ossenbüht, Tendenzen, S. 620; auch Ute, Zur Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, S. 322 sowie SoeH, Ermessen, S. 64, Anm. 16 mit Hinweis auf Hüttt, DÖV 1968, S. 619; vgl. auch Bachof, JZ 1972, S. 641 ff. (642), insbesondere aber und mit vielen Nachweisen in Anm. 107/ 108/109 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VVDStRL, Heft 34, s. 221 ff. (252/253). 102 Sie fand zuletzt nur noch bei Entscheidungen über Prüfungen und beamtendienstliche Beurteilungen Anwendung; vgl. Bachof, JZ 1972, S. 208; Ossenbüht, Tendenzen, S. 620/621 mit Rechtsprechungsnachweisen in Fußn. 24; BVerwG, JZ 1971, S. 222. 1o3 Vgl. nachfolgende Ausführungen. 104 Außer bei Beamten- und Prüfungsentscheidungen, s. Anm. 102; s. auch Ule, Aussprache, VVDStRL, Heft 34, S. 310/311. los Vgl. dazu die pointierte Darstellung bei SoeH, Ermessen, S. 65 mit weiteren Nachweisen. 106 Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, S. 232 ; vgl. auch Ehmke, Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff, in: Recht und Staat (230/231), S. 23. 107 BVerfG-Beschluß 2 BvL 1/59 v. 10. 10. 1961, BVerfGE 13, 153 (164). 98
99
II. Unbestimmte Rechtsbegriffe-stets "Auslegung"?
107
Diese Einstufung "unbestimmter Rechtsbegriffe" findet sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes jener Zeit. So hatte sich das Bundesverfassungsgericht zur Frage, was unter dem unbestimmten Rechtsbegriff nach § 3 Abs. 1 KVStG: "wenn die Darlehensgewährung eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt", zu verstehen sei, geäußert: " ... die Heranziehung zur Steuer ist zwingend vorgeschrieben, wenn der Tatbestand erfüllt ist (unbestimmter Rechtsbegriff). In ähnlicher Weise charakterisierte es108 die Regelung des § 9 Abs. 1 PBefG "Interessen des öffentlichen Verkehrs": "Es wird Aufgabe der VG sein, die verfassungskonforme Auslegung des
§ 9 Abs.1 PBefG zu überwachen; dazu sind sie im Rahmen der Auslegung
des Begriffes Interessen des öffentlichen Verkehrs in der Lage, der als unbestimmter Rechtsbegriff angesehen werden muß ... Es mag in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß gegen eine Gesetzesbestimmung, die versuchen würde, den Gerichten diese Prüfung zu entziehen, indem sie die Genehmigung in das "pflichtgemäße Ermessen" der Verwaltungsbehörde stellt, verfassungsrechtliche Bedenken bestünden109• 110."
In neuerer Zeit schlägt das Pendel wieder um111 • So gestand der
I. Senat des Bundesverwaltungsgerichtes am 16. 12. 1971 112 in einer Ent108 BVerfG-Beschluß 1 BvL 53/55, 16, 31 v. 8. 6. 1960, BVerfGE 11, 168 ff NJW 1960, S. 1515 ff. (1517). 109 s. 191/192. 110 Gemeint ist, daß ein Rechtfindungsmonopol für die Steuerbehörden mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar wäre. So OVG Münster - Urteil III A 833/64 v. 8. 12. 1965, MDR 1966, S. 788. Keine Unvereinbarkeit dagegen mit Art. 19 Abs. 4 GG bei Anerkennung eines "Beurteilungsspielraumes", vgl. BVerwGE 26, 65 (74). Vgl. aber auch BVerwG vom 19. 12. 1968, BVerwGE 31, 149 (153): Ausnahmen vom Grundsatz der unbeschränkten Kontrolle auf Grund des Art. 19 Abs. 4 GG bedürften jeweils einer besonderen Ermächtigung durch den Gesetzgeber an die Verwaltung, "abschließend" über die durch einen unbestimmten Rechtsbegriff geregelten tatbestandliehen Merkmale zu befinden. s. auch BVerfG-Urteil 1 BvR 253/56 vom 16. 1. 1957, BVerfGE 6, 32 ff. (42) (Bestätigung von BdVerwG vom 22. 3.1956): "Zum Wesen eines unbestimmten Rechtsbegriffes gehört dessen gerichtliche überprüfbarkeit." 111 Vgl. auch Bachof, Diskussionsbeitrag zum Thema Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VVDStRL, Heft 34, S. 76 "Art von Wellenbewegung ... seit 1945", "Im Augenblick ... wieder auf einer Woge der Eigenständigkeitsbewegung"; beachte auch Widerspruch dazu von Rupp in der Aussprache, VVDStRL, Heft 34, S. 286, ebenso Ule, VVDStRL, S. 305 (ohne Begründung) und S. 310/311 mit der Begründung, daß dies nur für die Lehre zuträfe, eben weil das Bundesverwaltungsgericht den Beurteilungsspielraum bei Prüfungs- und Beamtenentscheidungen anerkannt hatte. Letztere Auffassung verkennt aber m. E. den ansonsten in der breiten Rechtsprechung jener Zeit herrschenden Grundsatz, daß alle Tatbestandsbegriffe (voll nachprüfbare) Rechtsbegriffe seien, vgl. auch vorhergehende Fußn. 112 BVerwGE 39, 197 (203 f., 207 ff.).
108 III. 2. Kap.: "Wirtschaftsgut"- Bestimmtheit und Rechtsanwendung scheidung zu § 1 Abs. 1 S. GjS und dem dortigen Tatbestandsmerkmal "Eignung zur Jugendgefährdung" der Bundesprüfstelle einen Beurteilungsspielraum zu. Denn zum Wesen eines Spruchkörpers, der nach Repräsentativgesichtspunkten einer pluralistischen Gesellschaft zusammengesetzt sei, gehöre die "Unvertretbarkeit seiner Meinungsbildung". Bedeutender aber war noch die Entscheidung des gemeinsamen Senates113 zum Tatbestandsmerkmal "unbillig" in § 131 Abs. 1 S. 1 RA0114 . Entgegen der Meinung des BVerwG115 , das entsprechend der bisherigen Auffassung116 im Begriff "unbillig" ein unbestimmtes Tatbestandsmerkmal ohne Beurteilungsspielraum sah, hielt der Gemeinsame Senat die Trennung von Tatbestandsvoraussetzung und Rechtsfolge in § 133 Abs. 1 S. 1 AO für unmöglich und sagte: "Die Entscheidung der Behörde ... darüber, ob die Einziehung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, ist von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen." Daß es sich bei der hier ausgesprochenen Wiederanerkennung tatbestandlicher Ermessensbegriffe nicht um eine Einzelerscheinung117 in der Rechtsprechung118 handelt, sondern den sichtbaren Niederschlag stärkerer Bemühungen um veränderte Betrachtungsweise in der Verwaltungswissenschaft darstellt, zeigte 1975 die Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer119 in den Referaten und der Diskussion um das Thema "Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit"n0. 113 GemS OGB, in: BVerwGE 39, 355 ff., NJW 1972, S.1411 mit Anm. Kloepfer; vgl. dazu auch Bachof, Neue Tendenzen in der Rechtsprechung zum Er-
messen und zum Beurteilungsspielraum, JZ 1972, S. 641 ff. 114 Vgl. zum jahrelangen Streit um diesen Begriff: Die Auffassung des VII. Senates des BFH ("unbillig" in § 131 Abs. 1 S. 1 AO ist Ermessensentscheidung); Urteil VII 51/61 S v. 8. 5. 1962, BStBI. 1962 III, S. 290; Urteil VII 22/62 S v. 19. 1. 1965, BStBl. 1965 III, S. 206. Zur gegenteiligen Auffassung (kein Beurteilungsspielraum sondern Rechtsfrage) in den Entscheidungen des OVG Münster; Urteil III A 1033/58 v. 20. 2. 1963, DB 1963, S. 844; Urteil III A 833/64 v. 8. 12. 1965, MDR 1966, S. 787; Kruse, über Ermessen und Billigkeit, Sp. 728; Oswald, Zur Rechtsnatur der Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 AO, StuW 1966, Sp. 555 ff. (558); Steinhauer, Billigkeit und Steuerrecht, FR 1966, s. 424 ff. (426). 115 Vorlagebeschluß, JZ 1971, S. 221, mit Anm. Franssen. 116 Siehe Darstellung auf den vorhergehenden Seiten. 117 Beachte aber Ule, Aussprache, VVDStRL, Heft 34, S. 311, der ausführt, daß die anderen Senate sich der Entscheidung des I. Senates des Bundesverwaltungsgerichts zu § 1 Abs. BjS nie angeschlossen hätten und auch der I. Senat zur Auffassung der vollen gerichtlichen Überprüfung zurückgekehrt sei. 118 Vgl. auch BVerwGE 41 , 1 (4 ff.) zu § 3 WährG; BVerwG, DVBl. 1972, S. 895 f. zu § 12 AWG (mit Anm. R edeker) sowie BVerwGE 45, 309 (312 ff.) Flachglas. 119 1.-4. Oktober 1975 in Augsburg.
II. Unbestimmte Rechtsbegriffe-stets "Auslegung"?
109
Ausgehend von der Überlegung, Verwaltung bedeute heute121 "nicht ausschließlich Rechtsverwirklichung oder (subsumtionsmäßig) Rechtsanwendung", sondern "Verwirklichung von Staatszwecken rechtlicher wie außerrechtlicher122 Art", der Verwaltungsrechtsschutz dagegen primär Rechtsanwendung und Rechtsverwirklichung123, wurde ausgeführt, daß Verwaltung und Verwaltungsrechtsschutz "kompetenziell"124 geschieden seien. Der heutigen komplexen12.5 methodenmäßigen Verwaltungsvielfalt123 entspräche ein hoher Bedarf an professionellem Sachverstand. Dagegen sei die "richterliche Verantwortung nicht multi-, sondern monodisziplinär (iuristisch) verfaßt" 127• Der Richter dürfe sich also "legitim auf die iuristischen Gedankenoperationen beschränken" 128• Bachof 129 hat schon 1971 in Regensburg 130 den Gedanken dargelegt, daß Verwaltung nicht nur mittels überholter schematisierter Vergleiche im über- und Unterordnungsverhältnis der obrigkeitlichen Eingriffsverwaltung zu begreifen, sondern Gegenstand sehr verschiedener Wissenschaften sei131 , also im Spannungsfeld politischer und sozialer Ordnung überhaupt stehe132. Er hat auch unter Darstellung des wissenschaftlichen Meinungsstandes die Folgerung hieraus gezogen, daß das verwaltungsrechtliche Instrumentarium nicht nur positivistisch-abstraktes Normengefüge133 mit Stoßrichtung einerseits als Bewahrung bürgerlich-liberalen Freiheitsraumes13\ andererseits Gewährleistung sozialpolitischer Staats120 Zweiter Beratungsgegenstand "Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit"; 1. Bericht: Scho[z, VVDStRL, Heft 34, S. 144 ff.; 2. Bericht: Schmidt-Aßmann, VVDStRL, Heft 34, S. 221 ff. 121 Gegenüber der früher vorherrschenden Einzelfallentscheidung dominieren heute besonders in der planenden und gestaltenden Verwaltung die Eingriffe, die "allgemeine und kollektive Rechtsbetroffenheit begründen", vgl. ausführlich Scho[z, S. 156/157. 122 Ders., S. 152. 123 Ders., S. 155. 124 Ders., S. 155. 125 Vgl. z. B. die hochspezialisierten Aufgaben der Raumordnung und des Umweltschutzes, ausführlich Scho[z, S. 152, Anm. 25/26/27 sowie der (makroökonomischen- lenkenden) Wirtschaftspolitik, ders., S. 166. 126 Ders., S . 153. 127 Ders. 128 Ders., S. 154 mit Anm. 28 und dortigen weiteren Hinweisen. 129 Bachof, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts, VVDStRL, Heft 30,
s. 193 ff.
130 Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer v. 29. Sept. bis 2. Okt. 1971. 131 Bachof, Die Dogmatik, S. 216 mit Hinweis auf Püttner, Die Verwaltung, Bd. 4 (1971), S. 102. 132 Bachof, Die Dogmatik, S. 216. 133 Ausführlich Bachof, Die Dogmatik, S. 215 ff. "System der einzelnen Rechtsinstitute" (S. 222/223). 134 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger 1938, vgl. Kapitel 1 und 4,
110
III. 2. Kap.: "Wirtschaftsgut"- Bestimmtheit und Rechtsanwendung
aufgaben135 sein könne. In der pointierten Herausstellung des Unterschiedes zwischen Verwaltung und Verwaltungsgericht aber, nämlich daß "die gerichtliche Entscheidung nur(!) juristischen, die Verwaltungsentscheidung auch(!) meta-juristischen1311 Richtigkeitsansprüchen zu genügen" habe137, bildet dieser Gedanke erneut den Ansatzpunkt, die gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten des Handeins der Verwaltung zugunsten eines Freiraumes derselben zurückzudrängen. Der alte, in der Methodenlehre begründete Versuch138, alle Begriffe zu Rechtsbegriffen zu erklären, hätte ohne die Lehre vom Beurteilungsspielraum dazu geführt, auch alle tatbestandliehen Begriffe für vollgerichtlich überprüfbar anzusehen. Die Lehre vom Beurteilungsspielraum stellt insoweit ein notwendiges Korrelat zu diesem Versuch dar. Interessant ist dabei die Überlegung Ehmkes139, daß die Charakterisierung als unhestinunter Rechtsbegriff davon abhängt, ob der Inhalt dieses Begriffes vom Gesetzgeber geprägt, für die Verwaltung also inhaltlich "fremdbestimmt" sei140, die Beurteilung dieses Kriteriwns aber den Gerichten obliege, weshalb sie teilweise ihren Überprüfungsmaßstab selbst bestimmten141 . Die mit dieser Überlegung konform gehende Feststellung restriktiver Auslegung von Beurteilungsspielräumen142 durch die Gerichte läuft dem Bestreben, der Verwaltung a limine "prinzipielle Entscheidungsprärogative" 143 zuzugestehen und den Vorrang richterlicher Entscheidung im "Bereiche iuristischer Richtigkeitsgewähr"144, also im formalisierten Verwaltungsverfahrensgang145 anzusiedeln, konträr. neu veröffentlicht in: Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung (res publica Bd. 1), 1959, S. 22. 135 Vgl. Bachof, Die Dogmatik, S. 207/208 mit Hinweis auf Hans Peters und Graf Hue de Grais.
136 Politische, ökonomische, soziale, technologische und kulturelle Verantwortung, Scholz, S. 152 mit Hinweis auf Bachof, Die Dogmatik, VVDStRL, Heft 30, S. 207 ff. (216).
137
Scholz, S. 155.
144
Ders.
138 wegen der Schwierigkeit zwischen Rechtsbegriffen und Ermessensbegriffen unterscheiden zu können, siehe Fußn. 102: "questio diabolica". 139 Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff, S. 46; vgl. auch Ossenbühl, Tendenzen, S. 620 mit Hinweis auf Ehmke. 140 Stern, Ermessen und unzulässige Rechtsausübung, S. 19. 141 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Ossenbühl, Vom unbestimmten Rechtsbegriff, S. 310/311, daß "die Frage des ,Rechts zur Letzterkenntnis' hier ... nur ein Problem der gesetzlichen Ermächtigung der Verwaltung ... Beurteilungsermächtigung ..." darstellt. 142 Vgl. Ausführungen, S. 183/184. 143 Scholz, Verwaltungsverantwortung, S. 155. us Ders., S. 150. Vgl. auch Häberle, Rezension zu Soell, Ermessen (mit weiteren Hinweisen): "Verwaltungsfunktion" erhält "durch kooperatives Zusammenspiel mit der Rechtsprechung einen je nach Sach- und Rechtsgebiet sowie konkreter Problemlage variablen in der richterlichen Kontrolle graduell abgestuften erklärten oder ,stillen' Vorbehalt".
II. Unbestimmte Rechtsbegriffe-stets "Auslegung"?
111
Andererseits, wenn man nunmehr die Aufgaben des Gerichtes von vorneherein auf die rechtLiche Überprüfung beschränkt, wird die Lehre vom Beurteilungsspielraum entbehrlich146• Sie war ja ursprünglich gerade als Ausgleich dafür gedacht, daß alle tatbestandliehen Begriffe als unbestimmte Rechtsbegriffe (mit nur einer Auslegungsmöglichkeit) angesehen wurden - und man so der Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Rechtsbegriff und Ermessensbegriff entgehen konnte, ohne das Ziel weitgehendster gerichtlicher Überprüfung aufgeben zu müssen. Dieses Ziel hat man nunmehr allerdings fallen gelassen, bzw. über das "kompetenzielle Konkretisierungsverfahren" 147 entsprechend verändert. Indessen scheint es mir fraglich, ob damit die bisherigen methodischen Schwierigkeiten behoben sind, weil nicht länger zwischen Beurteilungsspielraum und Tatbestandsermessen unterschieden werden müsse146, vielmehr "auch bei der ,wertenden' oder ,beurteilenden' Ausfüllung unbestimmter Gesetzesbegriffe begrenztes Tatbestandsermessen" vorliege149. Denn die Folgerung, kompetenzielle Verantwortung der Verwaltung führe zum Ermessen, dieses bedeute konkrete Rechtsetzung150, wobei sich ein "daraus etwa resultierendes Defizit an materieller Rechtsstaatlichkeit nicht über die rechtsprechende Gewalt und ihre Kontrollfunktion"151 ausgleichen lasse, befriedigt deshalb nicht, weil "das Ermessensproblem" zwar "aus der Sackgasse des bloßen Strebens nach Justiziabilität heraus - und in die (allein zuständige) Verantwortung 148 oder stellt sie sich nur im anderen "moderneren Gewinde" vor? Immerhin grenzt Scholz, S. 155, Fußn. 35, sich von Ossenbühl, DVBl. 1974, S. 309, "letztverbindliche Entscheidung" ab. Vgl. auch das unterschiedliche "Echo" in der Aussprache. 147 Scholz, S. 163. 148
Ders., S. 167.
149 Ders. mit Hinw. in Fußn. 94, u. a. auch auf Soell, Ermessen, S. 207 ff., der diese Folgerungen aber nicht so allgemein, sondern nur bei den (echten) "intra-legem"-Lücken zieht! 150 Dieser Gedanke trat auch schon früher auf; vgl. dazu Referat (Vogel) und Aussprache (Badura, Ehmke) des zweiten Beratungsgegenstandes der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1965 "Gesetzgeber und Verwaltung". Hier hatte Vogel (VVDStRL, Heft 24, S. 125 ff., aus seiner- stark kritisierten (vgl. Aussprache) - Forderung nach Auflösung des Grundsatzes des Vorbehaltes des Gesetzes die Folgerung gezogen, daß ein Rechtsetzungsmonopol des Gesetzgebers nicht mehr anerkannt werden könne. Badura hob dabei (über die Besorgnis um den Wegfall der "demokratischen Komponente des Gesetzesbegriffes") den politischen Aspekt der Gesetze besonders im Planungs- und Wirtschaftsbereich hervor (S. 213) und Ehmke führte diesen Gedanken fort mit der Frage, was eigentlich im demokratischen Rechtsstaat dem Gesetzgeber zustehe; bei deren Beantwortung "man sich dann wirklich davon lösen" müsse, "Gesetzgebung mit Rechtsetzung gleichzusetzen", so daß die Frage laute, "was muß im parlamentarischen demokratischen Staat vom Gesetzgeber geregelt werden"? und "was ist die theoretische Begründung der Anerkennung von Regelungsbefugnissen der Verwaltung?" (S. 231). 151 Scholz, Verwaltungsverantwortung, S. 169, sowie Leitsätze, S. 216 ff.
112 III. 2. Kap.: "Wirtschaftsgut"- Bestimmtheit und Rechtsanwendung
des Gesetzgebers zurückgeführt" würde152, aber schließlich in dieser Sackgasse auch bliebe, denn der Rechtsschutz fehlt weitgehend153• Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Tendenz durchsetzen wird154• Was hier interessiert, ist noch die Frage, ob für das Steuerrecht, wegen der Besonderheiten dieses Rechtsgebietes, andere Vorstellungen maßgebend sind. bb) Besonderheiten im Steuerrecht Im Schrifttum wurde - vor allem im Anschluß an Kruse155 -der Standpunkt vertreten156, daß, bedingt durch den Grundsatz der tatbestandsmäßigen Besteuerung, keine gerichtsfreien Beurteilungsspielräume möglich seien157, sondern "die Subsumtion unter solche Begriffe reine Rechtsfindung" darstelle158• Andererseits möchte VogeP 50 "gerichtsfreie Beurteilungsspielräume, wenn auch keineswegs generell", anerkennen. Bachof wiederum hat sich in der Aussprache zum Thema Verwaltungsverantwortung und -gerichtsbarkeit 1975 dahin geäußert, "daß es 152
Ders., S. 168.
Beachte auch die Stellungnahme Dürigs zum Thema Verwaltungsverantwortung ..., in: VVDStRL, Heft 34, S. 286, der auf den "Richtungswechsel unserer bisherigen Verwaltungswissenschaft" aufmerksam macht, denn "bisher" seien "die Verwaltungsformen vom Rechtsschutz her konzipiert" worden. Beachte auch Lerche dazu, VVDStRL, Heft 34, S . 282, der auf den Unterschied zwischen "effektivem" und "adäquatem Rechtsschutz" hinweist und siehe ebenso Bachof, VVDStRL Heft 34, S. 306/307, der befürchtet, das "staatliche Handeln" könne "außer Kontrolle" geraten (Art. 19 Abs. 4 GG). SoeU, Diskussionsbeitrag, schließlich warnt davor, daß "irreversible Prognoseentscheidungen ... zum trojanischen Pferd des Rechtsstaates" werden könnten. s. hierzu aber auch BuUinger, Ermessen und Beurteilungsspielraum - Versuch einer Therapie, NJW 1974, S. 769 ff., S. 770 (Vorschlag der Einrichtung von "gerichtsgleichen unabhängigen Verwaltungsausschüssen"), sowie Schmidt, Abschied vom unbestimmten Rechtsbegriff, NJW 1975, S . 1753 ff. (1758), "dem Verwaltungsrechtsschutz bleibt nach wie vor das letzte Wort" und Meinhard Schröder, Die richterliche Kontrolle des Planungsermessens, DÖV 1975, S. 308 ff. (311: "Damit wird die begriffliche Unbestimmtheit zur Kompetenzfrage. "). 154 Ossenbühl, Tendenzen, S. 621. 155 über Ermessen und Billigkeit, S. 724: "Dabei ist im Steuerrecht ein Beurteilungsspielraum undenkbar." Ihm steht "speziell im Steuerrecht der Grundsatz der tatbestandsmäßigen Besteuerung entgegen". 156 Steinhauer, Billigkeit und Steuerrecht, S . 425; Paulick, Lehrbuch, S. 131, mit Hinweis auf Oswald, Zur Rechtsnatur der Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 AO, S. 558: " ... im Steuerrecht ... Beurteilungsspielraum undenkbar." 157 und zwar uneingeschränkt für bestimmte Rechtsbegriffe also auch die wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln. Vgl. z. B. Steinhauer: "Der Begriff unbillig ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der auszulegen ist." Auf die hier notwendige Differenzierung wird noch eingegangen. 158 Steinhauer, Billigkeit und Steuerrecht. 159 Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Würzburg vom 6.-9. Oktober 1965, zweiter Beratungsgegenstand "Gesetzgeber und Verwaltung", 1. Berichterstatter Klaus Vogel, S. 161/162. 153
II. Unbestimmte Rechtsbegriffe-stets "Auslegung"?
113
auch weite Teile der Verwaltung gibt, die nach wie vor strikt gesetzesgebunden sind: die Steuerverwaltung etwa'