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German Pages 86 [88] Year 1902
Die
Heilung des Orest in
Goethes Iphigenie. Von
Dr. Hans Laehr, dirigirendem Arzte der Heilanstalt Schweizerhof zu Zehlendorf.
B e r l i n .
Druck und Verlag von Georg Reimer. 1902.
Meinem Vater, Geh. Sanitätsrath Prof. Dr. Heinrich Laehr zum 82. Geburtstage.
1*
Kunstwerke spiegeln sich in der Seele der einzelnen Betrachter verschieden. Jeder bringt besondere Lebenserfahrungen mit und knüpft an sie die neuen Eindrücke an, Will er nun gar diese Eindrücke verstandesmässig zergliedern und das Ergebniss Ändern klarlegen, so wird seine Darstellung um so mehr von der Andrer abweichen, je mehr er den Eindruck des Kunstwerks mit den ihm von früher her lebendigen Gedanken in Einklang zu bringen sucht. Wollte aber Jemand aus solcher Verschiedenheit der Erklärungen die Folgerung ziehen, die Schuld müsse in einem Mangel des Kunstwerks liegen, so würde er die Sachlage völlig verkennen. In einem Aufsatze „über die Heilung des O r e s t " 1 ) verfällt der bekannte Nervenarzt Prof. P. J. M o e b i u s in Leipzig jenem Trugschlüsse. Er weist nach, dass mehrere Erklärer den Sinn der Goethe'schen Dichtung nicht getroffen haben können, er selbst findet keinen eigenen Weg, sich die Heilung des Orest in der „Iphigenie auf Tauris" verständlich zu machen, und so folgert er denn: „Eigentlich beweist schon der Streit der Ausleger, dass Goethe's Darstellung unklar ist. Ich bin der Ueberzeugung, dass Goethe sich selbst die Sache nicht klar gemacht hat, dass deshalb alle Versuche, aus seinen Worten etwas Befriedigendes herauszufinden, vergeblich sind." Hätte M o e b i u s die Goethe'sche Darstellung vom Standpunkt des Arztes unklar gefunden, der den „Wahnsinn" des Orest und seine Heilung mit den uns bekannten Formen der Geistesstörung !) P. J. M o e b i u s , Leipzig 1901.
Stachyologie.
Weitere vermischte Aufsätze. —
zusammenstellen will, dann würde man ihm völlig Recht geben müssen. Goethe heilt seinen Helden durch unmittelbare psychische Beeinflussung, was bei einem Geisteskranken in dieser Weise nicht möglich ist. Shakespeare weicht in dieser Hinsicht wesentlich von unsrem grossen Dichter ab und schliesst sich enger an wirklich zu beobachtende Fälle von Geistesstörung an. Daraus ist natürlich nicht zu folgern, dass Shakespeare sich auf richtigem, Goethe auf unrichtigem Wege befunden habe, wohl aber wird dadurch die Ansicht gestärkt, dass der Wahnsinn des Orest kein Wahnsinn im gewöhnlichen Sinne sein soll, sondern symbolische Bedeutung hat. Im Faust hat Goethe die Verwirrtheit Gretchens, freilich in deutlicher Anlehnung an Shakespeares Ophelia, in einer Weise geschildert, die einer wirklichen Geistesstörung viel näher kommt. In der Iphigenie macht er durch die den Muttermörder verfolgenden Furien den auf dem Verbrecher lastenden Fluch, zunächst also die lähmende Gewalt des Schuldbewusstseins anschaulich. Aber dies fasst auch M o e b i u s so auf. Nur findet er selbst von diesem Standpunkte aus die Heilung des Orest unverständlich. Und er erklärt sich den Vorgang in der Seele des Dichters, der diesen zu solcher Verirrung veranlasste, auf folgende Weise: „Schon ehe Goethe die Iphigenie schrieb, hatte er sich selbst mit dem Orest, seine Verstimmungen, leidenschaftlichen Erregungen, Gewissensbisse mit den Qualen des von den Erinyen Verfolgten verglichen. Er hatte an sich die Erfahrung gemacht, dass die Gegenwart und der Zuspruch eines geschätzten Weibes ihn am besten beruhigten. Insbesondere hatte er gegen Alles, was ihn quälte, Beruhigung bei Frau von Stein gefunden. Er glaubte, dass „ihre reine Menschlichkeit" die Kraft habe, die bösen Geister zu vertreiben. Als er nun die Iphigenie schrieb, wurden ihm unter den Händen Orest und Iphigenie zu Goethe und Frau von Stein. Wie Goethe Abends des Tages Noth bei der Freundin vergass, so schwindet die Qual des Orest, als er die Schwester gefunden hat. Nun behaupte ich, dass Goethe mit dieser Substitution die Sache verdorben habe." Mit dieser Behauptung würde M o e b i u s vielleicht Recht haben,
wenn es sich in der Iphigenie nur darum handelte, dass Orest durch den geistigen Verkehr mit Iphigenie, durch deren Zureden und sein eigenes Sichaussprechen Beruhigung von seinen Gewissensbissen fände. Man wird gern zugeben, dass „dem verzweifelnden Muttermörder kein weiblicher Zauber zu helfen vermag", und dass es gewagt wäre, „den in seinem Jammer Verkommenden auf die reine Menschlichkeit eines anderen Individuums zu verweisen". Aber von Iphigenien geht ja gar nicht ein gewöhnlicher Zauber etwa gar sinnlicher Natur aus, der von den Gewissensbissen ablenken könnte, Iphigenie ist Orests Schwester, und weit entfernt, dass hierdurch die Sache verdorben wäre, gewinnt sie gerade dadurch psychologische Begründung. Dies hoffe ich im Folgenden nachzuweisen, indem ich meine Auffassung der Heilung des Orest des Näheren darlege und begründe. Die Anschauungen anderer Erklärer berücksichtige ich nur dort, wo ich hierdurch meinen Standpunkt klarer herausstellen kann, oder wo sie mir bequeme Gelegenheit zu weiteren Ausführungen bieten. I. Orest fühlt sich in den Fluch des Tantalidenhauses verstrickt und hält denselben für unabwendbar. Die Götter haben es auf Tantals Haus gerichtet, Und ich, der Letzte, soll nicht schuldlos, soll Nicht ehrenvoll vergehn.
Aber nicht Haus —
von
aussen
richten
sie
das Verderben
auf
Tantals
Wie sich vom Schwefelpfuhl erzeugte Drachen, Bekämpfend die verwandte Brut, verschlingen, Zerstört sich selbst das wüthende Geschlecht.
Zügellose Leidenschaft, die gerade kräftige Naturen zu Frevelthaten fortreisst, ist die ererbte Anlage der Tantaliden vom Ahnherrn h e r : Zwar die gewalt'ge Brust und der Titanen Kraftvolles Mark war seiner Söhn' und Enkel Gewisses Erbtheil; doch es schmiedete Der Gott um ihre Stirn ein ehern Band.
—
«
—
Rath, Mässigung und Weisheit und Geduld Verbarg er ihrem scheuen, düstem Blick; Zur Wuth ward ihnen jegliche Begier, Und grenzenlos drang ihre Wuth umher. Einen R e s t dieses Mangels an
b e s o n n e n e r Klarheit, d e r zu leiden-
schaftlicher F r e v e l t h a t die i n n e r e Möglichkeit giebt, h a t a u c h Orest geerbt und in noch höherem Masse die äussere V e r a n l a s s u n g Wohl glaubte
auch
er
sich
einmal
dem F l u c h e
entrückt,
dazu. als er,
v e r g e s s e n d seiner Noth, fern dem unseligen Mycen, mit P y l a d e s In rascher Jugend hingerissen schwärmte. Damals sah er g r o s s e Thaten v o r sich. die vermeintliche Verpflichtung z u r g e l e n k t , u n d so wuchs in
A b e r dieser Blick w a r d durch Blutrache in
falsche Richtung
Orest
Die brennende Begier, des Königs Tod Z u rächen. Diese B e g i e r
findet
gehend nur
bringt
keine g e g e n w i r k e n d e K r a f t ihn i h m . sie der Anblick
Elektras Einfluss g e n ü g t , Stirn
zu
seinem
schmieden, Blick
zu
das
Rath,
der
eherne
Band
Mässigung
verbergen.
Mutter
Sobald
VorüberSchweigen;
von Neuem
und aber
zum
Weisheit der
um
und
Mord
seine Geduld
geschehen,
k o m m e n sofort die G e w i s s e n s q u a l e n , die Furien mit ihren Gelehrten, dem Z w e i f e l und der Reue. lähmt alle T h a t k r a f t , und
betäubt
a b e r erst,
den
Die e w i g e B e t r a c h t u n g des Geschehnen
eine Götterhand
Sinn.
Heilung
als Orest in Tauris
ergriffen
sondern gewissen
Tod v o r sich sieht,
stiller.
ist ihm
Qual
Der T o d
drückt
wird
willkommen,
das Herz
von
Apollo
wird
und
wird weil
nicht
seine S e e l e dann
zusammen
versprochen, Heilung,
allmählich
w e n i g s t e n s die
endet: dort bindet alle dann Ein gleich Geschick in ew'ge matte Nacht.
W o h l w ü n s c h t er die R e t t u n g des
Pylades:
dein Leben oder Tod Giebt mir allein noch Hoffnung oder Furcht, a b e r z u dieser R e t t u n g thalkräftig mitzuhelfen, fehlt ihm die F ä h i g -
keit. Denn er trägt einmal in sich das Bewustsein, dass durch seine Gegenwart nur Unheil gebracht hat und bringt:
er
Das ist das Aengstliche von meinem Schicksal, Dass ich, wie ein verpesteter Vertriebner, Geheimen Schmerz und Tod im Busen trage; Dass, wo ich den gesundsten Ort betrete, Gar bald um mich die blühenden Gesichter Den Schmerzenszug langsamen Tods verrathen;
und zudem kann er nicht besonnen handeln: Bin ich bestimmt, zu leben und zu handeln, So nehm' ein Gott von meiner schweren Stirn Den Schwindel weg, der auf dem schlüpfrigen, Mit Mutterblut besprengten Pfade fort Mich zu den Todten r e i s s t . . . .
Also auch jetzt liegt noch das eherne Band um seine Stirn und verbirgt ihm jede besonnene Würdigung der Lage. Sein Blick ist in leidenschaftlicher Betrachtung nur auf die unselige Vergangenheit gebannt, und ebenso widerstandslos steht er dieser gegenüber wie vor dem Muttermord der brennenden Begier, des Königs Tod zu rächen. Die Götter haben ihn einmal zum Mörder auserkoren, ihr Wille ist's, der ihn und Pylades verderbt. Pylades sucht vergebens eine andere Lebensauffassung und die Thatkraft in Orest zu wecken. Was der treue und von Orest doch wahrlich hochgeschätzte Freund nicht vermag, leistet Iphigenie. Wodurch? Zunächst steht sie der That des Orest ganz anders gegenüber als Pylades. Auch in diesem war ja „die brennende Begier gewachsen, des Königs Tod zu rächen"; Iphigenie hat auch in Gedanken keinen Theil daran. Schon deshalb muss ihr Unheil und ihre Liebe auf Orest stärker wirken, vorausgesetzt, dass er sie sittlich gleich hoch schätzt und ihr die gleiche Liebe entgegenbringt. Dazu kommt, dass sie als „edle F r a u " zwar nicht nach griechischer, aber nach Goethescher Anschauung in sittlichen Fragen feinfühliger ist, und dass ihre hohe, echt priesterliche Gesinnung überall deutlich sich zeigt. Dass Iphigenie den Muttennord auch in Orests Falle als schwere Schuld ansieht, halte ich mit der
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Mehrzahl der Erklärer für ausgemacht, obwohl dies von anderer Seite 1 ) bestritten worden ist. Nicht nur fragt sie nach Orests Erzählung, ob sie nur deshalb von Menschen fern mit göttlichem Dienste beauftragt worden sei, um ihres Hauses Greuel später und tiefer zu fühlen, und nennt nachher im Gespräche mit Thoas Orest einen des Mutterblutes Schuldigen, sondern sie weiss auch, dass vergossnen Mutterblutes Stimme Zur Holl' hinab mit dumpfen Tönen ruft.
Wie wäre es auch anders möglich bei ihrer ganzen Gefühlsart, die sie trotz schwerwiegender Veranlassung selbst die Nothliige als unannehmbar empfinden lässt? Dass die Verurtheilung des Muttermordes nicht stärker hervortritt, liegt daran, dass der Thäter seine Schuld fühlt und von der Erinnerung ruhelos umhergetrieben wird, so dass ihm gegenüber nur Mitleid berechtigt ist. Wer seine That selbst so verabscheut, wie Orest vor Iphigenie, wem „die Glut ewig auf der Seele marternd brennt", der bedarf nicht der Schärfung des Gewissens, sondern der Hülfe. Würde nun aber Iphigenie, die reine, hoheitsvolle Priesterin, dem verzweifelnden Muttermörder den Glauben, dass seine Schuld anders als durch den Tod sühnbar sei, geben und ihn aufrichten können, wenn nicht etwas Weiteres hinzukäme, was jene Eigenschaften erst recht wirksam macht, nämlich die gleiche Abkunft? Im Leben vielleicht, im Drama, das eine rasche Wandlung fordert, gewiss nicht. Die mächtige einmalige Erschütterung, welche die Umwandlung, die „Heilung" hervorbringt, erfolgt dadurch, dass die schuldlose, in ihrer reinen Hoheit verehrungswürdige und mit liebevollem Mitleid den Verbrecher umfassende Jungfrau von ihm als Schwester erkannt wird. Sie, die ihm „gleich einer Himmlischen begegnet", die „grosse Seele", der er nicht in falschem, milderndem Lichte erscheinen will, die „Himmlische", deren Gegenwart die ] ) P r i m e r , Die Heilung des Orest (Jahresbericht des Kaiser-FriedrichsGymnasiums zu Frankfurt a. M. Ostern 1894) S. 17: „Orest hat nach ihrer (Iphigeniens) Ansicht recht gehandelt", weil nämlich zur Blutrache verpflichtet. Vergi, hierüber Abschnitt IV meiner Darstellung.
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—
Furien seitwärts drängt, sie entstammt dem fluchbeladenen Tantalidenhause, aber das eherne Band um die Stirn fehlt, besonnen liebevoll verehrt sie die Götter und neigt sich zum Sünder, schon bevor sie ihn als Bruder erkennt. Der Fluch des Geschlechts hat ihre reine Seele nicht befleckt. Selbst wenn sie zum Brudermord gezwungen wird, kann Orest ihr zurufen: „Weine nichtl Du hast nicht Schuld." Es kann also auch ein Tantalidenspross innerlich rein bleiben, und sogar in der Stunde, wo eine Greuelthat ihm aufgedrungen werden soll, für den schuldigen Bruder „hülfreiche Götter vom Olympus rufen". Und die Götter sind wirklich hülfreich gewesen. Sagte Orest schon vor der Erkennung: die ältste nahm Ihr gilt Geschick, das uns so schrecklich schien, Beizeiten aus dem Elend unsres Hauses,
so hört er alsdann: Vom Altar Riss mich die Göttin weg und rettete Hierher mich in ihr eigen Heiligthum.
Durch Göttermacht ist also Iphigenie dem Tode und zugleich dem äusseren Anlass zu Greueln entrückt, im Dienste der Göttin konnte sie reinen Sinn bewahren und stärken. Muss das nicht an der Vorstellung rütteln, dass die Götter „es auf Tantals Haus gerichtet" haben, so dass der Letzte nicht schuldlos vergehen soll? Aber neben dieser Gedankenreihe erhebt sich eine zweite. Wohl kann ein Abkömmling des Tantalus die seelische Reinheit bewahren und hierin hülfreiche Götter finden, allein die andere Seite des Fluches wirkt um so grässlicher. Wo die „brennende Begier" zum Frevel fehlt, ist die äussere Nöthigung dazu um so furchtbarer: Nicht Hass und Rache schärfen ihren Dolch; Die liebevolle Schwester wird zur That Gezwungen.
So wird dieser vorausgesehene Brudermord das letzte, grässlichste Schauspie), das die Furien bereiten, grässlicher als Orests eigene That.
—
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—
Und doch, diese grässliche That, vor der ihn schaudert, erfüllt zugleich sein Sehnen nach Ruhe: Ja, schwinge deinen Stahl, verschone nicht, Zerreisse diesen Busen und eröffne Den Strömen, die hier sieden, einen Weg.
Im Tode nur vermag Tantals Stamm Frieden zu finden, und so kann Orest auch Elektras und Iphigeniens Tod herbeiwünschen: Ist nicht Elektra hier? Damit auch sie Mit uns zu Grunde gehe, nicht ihr Leben Zu schwererem Geschick und Leiden friste . . . . ich danke, Götter, Dass ihr mich ohne Kinder auszurotten Beschlossen habt. Und lass dir rathen, habe Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne; Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab!
So winkt hinter dem Grässlichen, zu dem Tantals Haus bestimmt ist, die Befreiung von aller Qual, die willkommene Ruhe und die Möglichkeit, „in ew'ger matter Nacht", aber doch friedlich mit den Geschwistern vereinigt zu werden. Beide Vorstellungsgruppen, die durch die Erkennung der Iphigenie angeregt werden, sind von lebhaften Gefühlen getragen. Der ersten, in deren Mittelpunkt das Bild der schuldlosen und doch in stärkster, innigster Freude den wiedergefundenen schuldigen Bruder umfassenden Schwester steht, entspricht aufwallende Liebe zu dieser: Seit meinen ersten Jahren hab' ich nichts Geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester.
In der zweiten, die sich um das bevorstehende grässlichste Schauspiel ordnet, klingt neben allem Entsetzen doch leise ein Lustgefühl an, dass nun bald alle Not vorüber sein wird, dass das Schauspiel nicht nur das grässlichste, sondern auch das letzte ist. Aber auch jenes Entsetzen ist ein anderes, als Orest bisher gefühlt; es geht nicht auf seine eigene That, sondern auf die der Schwester, nicht auf eine Schuld, sondern auf einen Zwang, nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft.
— Was
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m u s s nun die W i r k u n g b e i d e r V o r s t e l l u n g s g r u p p e n
d e r sie begleitenden G e f ü h l e s e i n ? eigenen
—
That und
der
Zunächst:
Verzweiflung
und
Ablenkung von
darüber.
Nicht mehr
der
alles-
beherrschend wälzet sich Die ewige Betrachtung des Oeschehnea Verwirrend um des Schuld'gen Haupt umher, s o n d e r n d e r S c h m e r z , d e n Orest fühlt, gilt der geliebten S c h w e s t e r , v o r deren künftiger T h a t in
weiterem
welchem
Umkreis
sein
seine
dem
eigene an S c h r e c k e n verliert,
Elend
seines
ganzen
b e s o n d e r e s L o o s untertaucht.
gilt
Geschlechts,
in
Es erscheint mir für
die H e i l u n g des Orest v o n grösster W i c h t i g k e i t ,
dass seine e i g e n e
P e r s o n u n d seine e i g e n e T h a t in den Hintergrund seines B e w u s s t seins tritt, und dass in d e n Mittelpunkt desselben die b e v o r s t e h e n d e T h a t der geliebten dies
dadurch,
unschuldigen Schwester rückt.
dass in seine Seele etwas Neues,
Möglich
w o r f e n w a r d , das stärker ist als der bisherige Inhalt. die L i e b e zur S c h w e s t e r ,
die er in sich w a c h s e n
wurde
Unerwartetes Wie
ge-
gegen
fühlt, selbst die
L i e b e z u P y l a d e s klein e r s c h e i n t ,
so ist ihm das S c h a u s p i e l ,
das
d u r c h die T h a t dieser S c h w e s t e r
den F u r i e n bereitet w e r d e n
soll,
grässlicher macht
als sein
aber,
eigenes Verbrechen.
besonders
P e r s o n betrifft,
wenn
das
Ein
drohender
Schicksal
einer
von Natur nicht z u leidendem A b w a r t e n ,
z u thätiger Hülfe geneigt. nicht e i n t r e t e n ,
er
Diese natürliche F o l g e kann
weil das l ä h m e n d e B e w u s s t s e i n ,
Schmerz geliebten sondern zunächst
dem F l u c h e v e r -
fallen zu sein u n d daher n u r Unheil zu verbreiten, n o c h z u stark auf dem Neuen lastet. Verschiebung die
zum
A b e r der Grund der Heilung, die geschilderte
der V o r s t e l l u n g e n
Handeln
T a u r i s des Dramas,
reizen,
und das E r w a c h e n v o n
ist jetzt g e l e g t .
Wären
wir
Gefühlen, nicht
im
s o n d e r n unter g e w ö h n l i c h e n B e d i n g u n g e n ,
so
w ü r d e die weitere E n t w i c k l u n g voraussichtlich l a n g s a m e r , a b e r d o c h i n gleicher R i c h t u n g erfolgen.
Der Anfall des Orest, den die S a g e
d e m Dichter bot, dient diesem dazu, den F o r t g a n g der Heilung in k ü r z e s t e r Frist vor sich g e h e n z u lassen. W i e k o m m t der A n f a l l zu dieser B e d e u t u n g ?
Moebius
sagt:
— „ D e r Anfall,
den
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—
Orest in Iphigeniens
Gegenwart b e k o m m t ,
ist
einfach sein altes U e b e l ; hat es ihn früher nicht entsühnt, so kann es
auch
altes
jetzt
Uebel,
nichts
aber
dazu
müssen
thun."
Gewiss ist der Anfall Orests
die Wirkungen
dieses Uebels auf
das
GemUth des Leidenden jedesmal die gleichen sein? Pylades erzählt von den Anfallen: es wird gar leicht Durch Freud' und Schmerz und durch Erinnerung Sein Innerstes ergriffen und zerrüttet Ein fieberhafter Wahnsinn fällt ihn an, Und seine schöne, freie Seele wird Den Furien zum Raube hingegeben. Und vorher: Um der Blutschuld willen treibt Die Furie gewaltig ihn umher. Damit ist Alles gethan, um die Furien als dichterische Verkörperung des Fluches erscheinen zu lassen, dessen Bewusstsein den Unglücklichen anfallsweise besonders heftig ergreift, so dass er die seiner Phantasie und
hört.
bekommt,
gegenwärtigen Wir erleben
Gestalten
in sinnlicher Deutlichkeit sieht
nur den Anfall,
den er v o r
Iphigenien
und den er selbst nachträglich mit folgenden Worten
schildert: in deinen Armen fasste Das Uebel mich mit allen seinen Klauen Zum letztenmal und schüttelte das Mark Entsetzlich mir zusammen. Dann entfloh's Wie eine Schlange zu der Höhle. Will man hier, entsprechend der Schilderung in der Tragödie des Euripides, an einen Krampfanfall denken, so erlaubt dies allenfalls der Ausdruck, aber er zwingt nicht dazu.
Dagegen beweist diese
Stelle, dass die Sinnestäuschungen, welche dem Erwachen aus der „Ermattung" folgen, in Iphigeniens Armen,
nicht zum „ A n f a l l " gehören;
dieser beginnt
ihn deuten die Worte Orests vor der
mattung" an: Die Mutter fiel! — Tritt auf, unwill'ger Geist! Im Kreis geschlossen tretet an, ihr Furien, Und wohnet dem willkommnen Schauspiel b e i . . . .
„Er-
— Den Geist der Mutter und
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die Furien siebt er n a h e n ,
um seiner
Ermordung durch die liebevolle Schwester beizuwohnen, wältigt ihn
das G r a u e n ,
setzlich zusammen,
das Uebel
und
schüttelt
da Über-
das Mark ihm
„ e r sinkt in E r m a t t u n g " .
ent-
Dieser Anfall
scheint nach Orests Worten ein besonders heftiger, wie denn auch die Veranlassung in besonderer Stärke gewirkt hatte: Durch Freud' und Schmerz und durch Erinnerung war
ja
sein Innerstes mehr wie j e ergriffen worden.
Die „ Er-
m a t t u n g " mit Bewusstseinsverlust erklärt sich demnach, auch wenn wir sie den früheren Anfällen nicht zuschreiben. dass das,
was für die psychologische
gleichgültig ist,
Wir sehen überall,
Zeichnung und Entwicklung
vom Dichter bei Seite gelassen ist.
Nur für den
letzten Anfall war der Bewusstseinsverlust nöthig, hier ist er v o r handen
und
hinreichend
gerechtfertigt.
Er
ist aber hier
not-
wendig, weil nur durch ihn sich zwanglos der Inhalt der Phantasien ergiebt,
die dem Erwachen folgen.
So bildet der Anfall,
obwohl
„einfach Orests altes U e b e l " , durch den Inhalt der beängstigenden Vorstellungen,
die auf seinen Opfertod zielen,
und durch die Er-
mattung, die ihm als Tod gilt und die Vorstellung des Erwachens in der Unterwelt ermöglicht,
ein nothwendiges Glied in der Kette
der Begebenheiten, die die Heilung herbeiführen. er diese Bedeutung
Freilich gewinnt
nur infolge der vorangehenden
Verschiebung
in Orests Innerem. Beim Erwachen Ermattung an. sehen,
um
letzten
Worten
seiner Ermordung
geben sollte. der
die
also
an
die Vorstellungen
vor
der
beizuwohnen,
Erleichterung
angedeutet,
er
hatte mit seinen die
der Tod
ihm
Ganz ungezwungen entspringt hieraus beim Erwachen
erste Gedanke,
liegt
knüpft Orest
Er hatte die Mutter und die Furien herankommen
hinter
dass
ihm.
er nun in der Unterwelt sei.
Die Qual
Diese Vorstellung wird durch das Gefühl
der Ruhe verstärkt, das schon rein physisch durch die Ermattung nach heftigster Erregung sich eingestellt hat, aber auch psychisch durch die Aenderung in seinem Bewusstsein angebahnt war. Orests und
eigene That
war
die
nicht
Möglichkeit
mehr solcher
den Gipfel des Grässlichen entsetzlichen That
auch
Stellte dar, ohne
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-
persönliche Verschuldung des Thäters gegeben, so musste das eigene Bewusstsein auch von dieser Seite eine Verminderung des Drucks ertahren, indem die Stärke des Erbfluchs im Tantalidenhause grell beleuchtet und die Schuld des einzelnen Enkels verdunkelt wurde. Zudem wirkt in gleichem Sinne der starke Eindruck nach, den der Ausbruch reinster Freude Iphigeniens Uber das Wiedersehen mit ihm in seiner Seele hinterlassen hatte. Ihre Liebe, die er durch alle Verzweifelung hindurch gespürt und mit erwachender Bruderliebe erwidert hatte, hallt jetzt unbewusst in ihm wieder und ruft freundliche Träume, Bilder des Friedens und der Versöhnung hervor. Orest fühlt also in der Unterwelt die erwartete Ruhe. Da können alle jene friedlichen Folgerungen aus den letzten Erlebnissen sich einstellen, nicht gestört durch die Erwartung kommenden Unheils. Aber gemäss dem Dämmerzustande, in dem Orest sich befindet, stellen sie sich ein nicht in logischer Entwicklung, sondern in anschaulichen Bildern. Nicht nur Orest, sondern das ganze Tantalidenhaus, soweit es unter der Wirkung des Erbfluchs gefrevelt, hat die ersehnte Ruhe gefunden, die Feindschaft hat aufgehört. Und wie oben auf der Erde Bruder und Schwester, so findet sich jetzt das ganze Geschlecht zusammen; oben war es zum Morde, hier unten zur Versöhnung und Freude. Auch Orest darf als Sohn zu seiner Mutter treten, deren Geist er vor der Ermattung noch hatte unwillig auf sich zuschreiten sehen. Seine Schuld war ein Ergebniss des Erbfluchs, und dieser hat durch den Tod sein Schwergewicht verloren, da er nicht zu neuen Freveln führen kann und die Erinnerung an das vergangene Leben ihre Pein verloren hat: Was ihr gesät, hat er geerntet: Mit Fluch beladen, stieg er herab. Doch leichter trägt sich hier jede Bürde . . . Auf Erden war in unserm Hause Der Gruss des Mordes gewisse Losung, Und das Geschlecht des alten Tantalus Hat seine Freuden jenseits der Nacht.
—
17
—
Einzig
der Ahnherr
haben
die Götter „ g r a u s a m e Qualen mit e h e r n e n Ketten fest auf-
geschmiedet". dass
ist von diesen F r e u d e n ausgeschlossen,
Steht
nicht
ihm
gerade dieser Zug in Einklang damit,
in Orests Seele die persönliche Schuld ihre S c h w e r e an den
Erbfluch abgegeben h a t ?
Alle sind versöhnt u n d d ü r f e n nach dem
Erdenleid sich freuen, die vom Erbfluch getroffen gefrevelt haben, Tantalus a b e r , das t h e u r e , vielverehrte Haupt, das mit den Göttern zu R a t h e
sass,
handelte nicht u n t e r der W i r k u n g des Erbfluchs,
er frevelte allein durch
eigne S c h u l d ;
er ist von der allgemeinen
Erlösung seines Geschlechts a u s g e n o m m e n . Vorstellung Orests auch Parzenlied
Gewiss mag zu dieser
die E r i n n e r u n g an die Sage,
wie sie im
sich darstellt, beigetragen h a b e n ; j e n e r von mir hervor-
g e h o b e n e Z u s a m m e n h a n g besteht deshalb doch. Von
dieser
der Iphigenie
schmerzlichen Betrachtung
und
des Pylades
ab.
Orest
lenkt das Erscheinen freut
sich,
dass
die
schuldlose Schwester auch herabgekotnmen ist, u n d wünscht Elektren bald
das
gleiche Loos,
während
er Pylades,
nicht verfallen ist, mit B e d a u e r n erblickt. halb
im T r a u m e ,
ist
doch Orest
der
dem Erbfluch
Aber wenn auch noch
frei von den
Gewissensqualen;
zum ersten Male seit Klytämnestras E r m o r d u n g ist das eherne Band von seiner Stirn gefallen, Mutter W u n d e n unmöglich
ist die Quelle getrocknet,
ihm e n t g e g e n s p r u d e l n d ,
gemacht
hatte.
Bilder
der
die,
aus der
ihm L e b e n und
Handeln
Freude
und
Versöhnung
erfüllen seine Seele statt der fürchterlichen Vorstellungen, bis
dahin
lichkeit
gepeinigt.
abgelöst.
Nun werden
Iphigenie
das w a c h e Leben zurück. die
und Pylades
rufen
den T r ä u m e r
in
Ist es d e n k b a r , dass die Umstiuimung,
in F o r m reger Phantasiethätigkeit h e r v o r g e r u f e n ist,
w a c h e n Stand
die ihn
die P h a n t a s i e n von der Wirk-
dem E r -
hält?
F ü r die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, dass die Umstimmung die
schon
Eindrücke
jetzt
vor der E r m a t t u n g in
gleichem
begonnen
Sinne
wirken.
hat,
u n d dass
Die Liebe
zur
Schwester war als ein n e u e s Gefühl in Orests Seele getreten, u n d die
b e v o r s t e h e n d e Hinschlachtung des Bruders d u r c h die liebende
Schwester
hatte
den Muttermord
L a e h r , Heilang des Orest.
aus
dem Mittelpunkt 2
der Vor-
—
Stellungen v e r d r ä n g t
—
und ihn noch mehr wie sonst als Folge des
Erbfluchs a n s e h e n lassen.
Beides zusammen hatte auf dem Boden
der quälenden Vorstellung, nächst
18
dass d e r Fluch u n a b w e n d b a r sei,
lebhafte Phantasiethätigkeit
Vorstellungen schluss
schwelgte,
aber
angeregt,
diese
zu-
die in g r a u e n h a f t e n
enthielten zugleich den Ab-
der Qual und liessen die schreckliche Vergangenheit ver-
blassen gegen eine Zukunft,
die nicht für Orest,
geliebte Schwester schrecklich w a r . sich in ruhige,
s o n d e r n f ü r die
Nachdem dann die Verzweiflung
friedvolle S t i m m u n g gewandelt hat
u n d statt des
Fluches V e r s ö h n u n g die Seele erfüllt, kann die Wirklichkeit, deren Kunde ihm mild aus dem Munde der Schwester, eindringlicher aus dem des F r e u n d e s entgegentönt, düsteren F a r b e n
erscheinen.
die Vergangenheit g e b u n d e n , nisse
vor
lebnisse Dass
ihm nicht mehr in den früheren
Denn
sein Sinn
diese hat durch
d e r E r m a t t u n g und durch
ist nicht mehr an die
letzten
Erleb-
die Weiterbildung j e n e r Er-
mittels der Phantasie ihr erschlaffendes Grauen verloren.
diese
Weiterbildung
nicht
anschaulichen Bildern erfolgt ist, nur erhöhen;
wesentlich ist,
verstandesmässig,
sondern
in
kann ihre Wirksamkeit zunächst
dass sie eine natürliche, w e n n auch
beschleunigte Folge wirklicher E i n d r ü c k e ist, die jetzt mit frischer Stärke dem Orest vor Augen treten. vor sich,
er hört,
Er sieht die liebende Schwester
dass Gefahr droht, aber jetzt erklingt ihm aus
Iphigeniens Munde vernehmlich
die Möglichkeit der Rettung,
stärkt durch die Mahnung des Pylades zur Eile. Verzweiflung nicht
schien
abzuwenden,
ruhiger,
ver-
Auf dem Boden der
die
d r o h e n d e grässliche That der Schwester
jetzt
trifft d e r Aufruf zum Handeln Orest in
befreiter Stimmung, u n d nun, da statt der Vergangenheit
die Zukunft Macht gewinnt, kann er „leben und h a n d e l n " , f ü r die Geliebten h a n d e l n : Die Erde dampft erquickenden Geruch U n d ladet mich auf ihren Flächen ein, Nach Lebensfreud' und grosser That zu jagen.
Er sieht eine Aufgabe vor sich, die seine Kräfte lebhaft beschäftigt, u n d Liebe treibt ihn, sie zu lösen.
So eilt er z u r That,
—
19
—
sein volles Auge glühte Von Muth und Hoffnung, und sein freies Herz Ergab sich ganz der Freude, ganz der Lust, Dich, seine Retterin, und mich zu retten. Nun
ist
Heilung
uns
auch,
falls
nicht bange:
Selbstvertrauen
die U m s t ä n d e
durch
gestärkt,
günstig
bleiben,
u m die
k r ä f t i g e u n d g u t e T h a t wird
und
gangenheit wird nicht m e h r lähmend, sondern anspornend denn Orest gerichtet
sieht
g n ä d i g e Götter,
haben,
sondern
Segen auflösen.
Orests
die B e t r a c h t u n g d e r unseligen die
d e r Menschen
Wie sagte vorahnend
Ver-
wirken,
es nicht auf T a n t a l s H a u s grausendes Erwarten
in
Pylades?
Was ist des Menschen Klugheit, wenn sie nicht Auf jener Willen droben achtend lauscht? Zu einer schweren That beruft ein Gott Den edlen Mann, der viel verbrach, und legt Ihm auf, was uns unmöglich scheint, zu enden. Es siegt der Held, und büssend dienet er Den Göttern und der Welt, die ihn verehrt. Ich
fasse
das E r g e b n i s s
kurz
zusammen:
die „ H e i l u n g "
des Orest
wusstseins
der vergangenen Greuelthat
an
besteht darin,
die U m w a n d l u n g ,
d a s s d a s Haften des B e durch neue
Regungen
im G e f ü h l s - u n d Vorstellungsleben ü b e r w u n d e n u n d die b e f r e i e n d e Aussicht auf g u t e T h a t e r ö f f n e t w i r d .
Jene neuen Regungen werden
d a d u r c h h e r v o r g e r u f e n , dass Orest in d e r r e i n e n u n d edlen P r i e s t e r i n , die
ihn
ihre
opfern
befreiende
soll,
seine
Kraft
erst
Schwester dann
erkennt;
äussern,
als
sie k ö n n e n Orest
durch
aber das
P h a n t a s i e e r l e b n i s s des v e r s ö h n e n d e n T o d e s d a s l ä h m e n d e B e w u s s t sein, für
dass
d e r Erbfluch
auch
weiterhin
d e n Augenblick h i n t e r sich gelassen
w i r k s a m sei, hat
und
wenigstens
in d e r
dadurch
b e w i r k t e n S t i m m u n g r u h i g e r F r e u d e z u d e r T h a t g e r u f e n w i r d , zu der jene Regungen
hindrängen.
W e n n also M ö b i u s b e h a u p t e t , dass G o e t h e m i t der S u b s t i t u t i o n der Schwester so
ziehe
ich
an Stelle d e r Geliebten die S a c h e v e r d o r b e n aus
m e i n e n A u s f ü h r u n g e n d e n Schluss,
diese S u b s t i t u t i o n die H e i l u n g im D r a m a v e r s t ä n d l i c h m a c h t ; 2*
hahe,
d a s s allein und
— w e n n er meint,
20
—
d a s s d e r Anfall, d e n O r e s t in I p h i g e n i e n s
Gegen-
w a r t b e k o m m t , zu seiner E n t s ü h n u n g n i c h t s t h u n k ö n n e , so ich
dies
dahin
die
Schnelligkeit
einschränken, der
muss
d a s s z w a r nicht die Heilung,
Heilung
gerade
durch
d e n Anfall
aber
ermög-
licht w i r d . II. Das W o r t „ E n t s ü h n u n g " e r s e t z t e ich s o e b e n
durch
„Heilung",
da dieser A u s d r u c k , auf die U m w a n d l u n g Orests a n g e w e n d e t , kein Missverständniss zulässt, s o b a l d w i r von d e r e n g e r e n medicinischen Bedeutung
absehen.
Aber i m D r a m a
m e h r , als u m O r e s t s Heilung.
h a n d e l t es sich freilich u m
I p h i g e n i e h a t gehofft,
Dereinst mit, reiner Hand und reinem Herzen Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen, u n d fleht T h o a s mit fast d e n s e l b e n W o r t e n
an:
Lass mich mit reinem Herzen, reiner Hand Hinübergehn und unser Haus entsühnen. Auch Orest b i t t e t : 0 König! Hindre nicht, dass sie die Weihe Des väterlichen Hauses nun vollbringe, Mich der entsühnten Halle wiedergebe, Mir auf das Haupt die alte Krone drücke! Mit Orests H e i l u n g
ist also I p h i g e n i e n s A u f g a b e n i c h t erfüllt.
soll a u c h d a s v ä t e r l i c h e H a u s e n t s ü h n e n . Fluche.
W a s b e d e u t e t dies a b e r
Sie
Man e n t s ü h n t v o n einem
hier?
Halten w i r mit j e n e n Stellen die W o r t e des O r a k e l s z u s a m m e n , das
d e m Orest
auf
seine Bitte u m R a t h u n d u m B e f r e i u n g vom
Geleit d e r F u r i e n g e w o r d e n
war:
Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer Im Heiligthume wider Willen bleibt, Nach Griechenland, so löset sich der Fluch. Dass
diese L ö s u n g
des F l u c h e s
mit
d e r E n t s ü h n u n g des H a u s e s
z u s a m m e n f ä l l t , ist h i e r n a c h w a h r s c h e i n l i c h u n d wird es n o c h m e h r , wenn stützt.
wir Zur
sehen,
dass Orest
vollen Gewissheit
s e i n e Bitte e b e n
auf j e n e s
führt folgende Ueberlegung:
Orakel Wäre
—
21
—
die vom Gotte verheissene Lösung des Fluches s c h o n damit gegeben, dass Orest sich geheilt fühlt, so würde der Erfolg eingetreten sein, bevor
die Bedingung
erfüllt ist 1 ).
Iphigenie soll nach Griechen-
land gebracht werden, dann der Fluch sich lösen.
Orest ist aber
nicht nur nach eigener, sondern auch nach Iphigeniens und Pylades' Ueberzeugung geheilt, während Iphigenie noch in Tauris weilt und ihre Heimkehr Orakelforderung
keineswegs noch
gesichert,
ja der eigentliche Sinn
gar nicht erkannt ist.
der
Demnach kann die
Heilung nicht die Lösung des Fluchs bedeuten. Andrerseits sagt Orest am Ende des 3. Aufzuges: Es löset sich der Flucb, mir sagt's das Herz. Die Eumeniden ziehn, ich höre sie, Zum Tartarus u n d schlagen hinter sich Die ehrnen Thore fernabdonnernd zu. Die Erde dampft erquickenden Geruch . . . . J
) Freilich scheint dies die allgemeine Ansicht der Ausleger zu sein. Ihre beste Begründung lese ich in A. K o b e r s t e i n s Aufsatz: „Inwiefern darf Goethe's Iphigenie als ein sowohl dem Geist und der ganzen innern Behandlung als der äussern Form nach durchaus deutsches Kunstwerk angesehen werden? (Vermischte Aufsätze zur Litteraturgeschichte und Aesthetik. Leipzig 1858 S. 158). „Dass Apollo, als er den Orest nach dem Lande der Taurier wies, etwas anderes mit der Schwester gemeint haben müsse, als was dieser und Pylades darunter verstanden haben, kann nur dann von Orest erkannt werden, wenn er das Versprechen des Gottes vollständig erfüllt sieht, bevor er noch selbst das ausgeführt hat, was er als die die Erfüllung bedingende That so lange angesehen hat. Dies geschieht nun wirklich; Orest fühlt sich ganz frei vom Wahnsinn und selbst von jeder Schwermuth, ohne dass er das Bild der Schwester Apollos geraubt und nach Griechenland hinübergeführt h a t : der Gott hat also Iphigenien mit der Schwester gemeint." Hiergegen habe ich zu sagen: Nach dem Wiederfinden der Schwester k o n n t e Orest auf diese Lösung kommen und k a m auf sie, weil s e i n e B i t t e um Befreiung vom Geleit der Furien erfüllt war, ehe er die gestellte Bedingung erfüllt hatte. Aber das O r a k e l umfasst eben mehr als die Erfüllung seiner Bitte; das V e r s p r e c h e n d e s G o t t e s ist mit der Heilung des Orest noch nicht „vollständig erfüllt", sondern wird erst erfüllt werden, wenn die Bedingung ausgeführt ist. Das Orakel hat nicht nur Orest's Bitte „ u m B e f r e i u n g vom G e l e i t d e r F u r i e n " beantwortet, sondern auch seine Bitte „um R a t h " .
— Und ebenso
fleht
—
Iphigenie k u r z v o r h e r die Götter a n ,
den Banden jenes Fluchs, lösen.
22
nemlich
Orest von
d e r Nacht des W a h n s i n n s ,
in d e r T h a t das, w a s s o n s t Orests H e i l u n g g e n a n n t Hieraus folgt, müssen,
einen
dass wir einen
ererbten
letztangeführten
Stellen
Wenn
dagegen
Iphigenie
und ist die
doppelten Fluch
einen
der
wird. unterscheiden
selbsterworbenen.
von
Orest
Entsühnung
In
erworbene
der
schwer
den
gemeint. befleckten
W o h n u n g v o r n e h m e n will, so h a t sie d e n v o n d e n A h n h e r r e n erbten
im
Auge.
Dieser S t a m m e s f l u c h
ist d e r G r u n d ,
Orests T h a t u n d d e r an sie sich a n s c h l i e s s e n d e ist.
zu
Hier v e r s t e h e n die Geschwister u n t e r d e r L ö s u n g d e s F l u c h s
Ist d e r zweite,
so d a u e r t doch
der
der
aus
erdem
Fluch
entsprossen
e r w o r b e n e Fluch von Orest
genommen,
ererbte Fluch
fort und
soll
sich erst lösen,
w e n n Iphigenie n a c h G r i e c h e n l a n d g e b r a c h t ist, u m d o r t , wie wir den a n d e r n oben g e n a n n t e n Versen
entnehmen,
das H a u s zu ent-
s ü h n e n u n d auf Orests H a u p t die alte K r o n e zu d r ü c k e n . W i r k ö n n e n zwei W i r k u n g e n d e s S t a m m e s f l u c h e s u n t e r s c h e i d e n , eine i n n e r e , die in d e r e r e r b t e n zügellosen L e i d e n s c h a f t l i c h k e i t d e r Tantaliden b e s t e h t , w o d u r c h sie d e r V e r s u c h u n g u n t e r l i e g e n , eine
äussere,
w e l c h e die
durch
v e r g a n g e n e Frevel
und
geschaffenen
Verhältnisse u n d d a m i t die V e r s u c h u n g zu n e u e m F r e v e l u m s c h l i e s s t . Die
schlimme
Anlage
ist
bei
dem
Sohne
und
den
T a n t a l u s im Z u n e h m e n ; A t r e u s u n d T h v e s t b e z e i c h n e n Höhepunkt. fluches
Von da
nach.
an
Enkeln
des
hierin d e n
lässt die i n n e r e W i r k u n g des S t a m m e s -
In Agamemnon
h a t s e i n e T o c h t e r seit i h r e r e r s t e n
Zeit Ein Muster des vollkommnen Manns gesehn. A b e r dass Diana ihm z ü r n t u n d i h n , die T o c h t e r f o r d e r n d , ängstigt, zeigt, dass a u c h e r
v o n Frevel
n i c h t rein
war.
Der G r u n d
Z o r n s wird im Drama nicht n ä h e r a u s g e f ü h r t , allein bei d e r Vorstellung, hat,
die I p h i g e n i e v o n d e n Göttern u n d g e r a d e von Diana
ist es k l a r ,
zürnt. können,
des
hohen
dass die Göttin
nicht
ohne zureichenden
Grund
Und dass A g a m e m n o n , um d a s Heer n a c h T r o j a f ü h r e n zu die T o c h t e r
ins L a g e r
lockt
und
der
erzürnten
Göttin
o p f e r t , n e n n t z w a r n i c h t Iphigenie, a b e r P y l a d e s eine s c h w e r e T h a t ,
— die,
wenn
Entschuldigung
schuldigte.
23
des
—
Mordes w ä r e ,
Klytämnestra selbst ist zwar
Klytämnestra
ent-
im Drama
nicht
auch
als Spross des Tantalidenhauses bezeichnet, da sie aber dem Orest in den Visionen nach der E r m a t t u n g zwischen den A h n h e r r e n seines Hauses
erscheint und
dem „Geschlecht des alten
Tantalus",
das
seine F r e u d e n jenseits der Nacht hat, zugerechnet wird, darf auch sie in
dieser Reihe a n g e f ü h r t
werden.
schwerwiegende äussere Veranlassung ebenso a b e r
tritt
Dass erfolgt,
ihre Mordthat ist
bereits
auf
gesagt;
ungezügelte Leidenschaftlichkeit gerade bei ihr
deutlich hervor. In der nächsten Generation ist sichtlich die innere W i r k u n g des Fluchs noch m e h r abgeschwächt.
Iphigenie, die ihr g u t Geschick
bei Zeiten aus dem Elend ihres Hauses n a h m , hat im steten Dienst der Göttin die erbliche Anlage soweit Uberwunden, dass sie schwerer Versuchung widersteht u n d
sich
die Reinheit der Seele b e w a h r t .
Dagegen wirken
die äusseren Verhältnisse
stark auf Elektra
Orest.
von
unvorsichtig",
Elektra,
Natur
„rasch
und
hat
und die
Schmach d e r Mutter und die E r m o r d u n g des Vaters bewusst erlebt, ein „knechtisch elend d u r c h g e b r a c h t e s L e b e n " h a t Hass und Rachegefühl um so nachhaltiger in ihr a u f l o d e r n lassen, u n d so d r ä n g t sie dem Bruder, als dieser schwankt, den alten Dolch auf, der schon in Tantals Hause grimmig wüthete. In
ihr h a t
sich
die
innere W i r k u n g des Erbfluchs,
die Leiden-
schaftlichkeit ohne Gegengewicht, u n g e h e m m t ausbilden k ö n n e n . Anders Orest.
Er hat durch die mit Pylades verlebte J u g e n d -
zeit ein reines, freudiges Fühlen und Streben kennen gelernt,
ehe
nach seiner und seines F r e u n d e s Meinung die unglückseligen Verhältnisse seines Hauses ihm den Muttermord als Pflicht auferlegen. Die Mutter,
der er als Kind schon ein s t u m m e r Vorwurf gewesen
war, ist seinem Herzen e n t f r e m d e t und gilt ihm vor allem Andren als Mörderin seines Vaters.
So ergreift
Pflicht der Blutrache mit „ b r e n n e n d e r
er
die rings
Begier".
anerkannte
Als diese Begier
vor dem Angesicht der Mutter erlischt, weiss Elektra sie von Neuem so mächtig anzufachen, dass der Muttermord geschieht. kommt
der
Frevel
ihm voll
zum
Bewusstsein.
Dann erst
Gewissensbisse,
— Zweifel
und Reue ergreifen
Gewissensbisse,
Zweifel
24
ihn
—
und treiben ihn ruhelos
und R e u e ?
Davon war
umher.
bei seinen Vor-
fahren und auch bei Elektra nicht die Rede gewesen.
Sicher hatten
diese
nicht
Regungen
sie
nicht
lähmender Verzweiflung
so stark
erfüllt.
ergriffen,
In Orest war
handen, was der Frevelthat widerstrebte, wenn war,
die brennende
zu widerstehen.
Begier
zügeln
zu
das in der
Gattenmordes
eben
so
etwas
und Elektras
Feuerzunge aber die
Dies natürliche Gefühl
älteren Elektra
mit vor-
es auch zu schwach
Die Mutter war ihm nicht die geliebte,
trotz Allem verehrte Mutter gewesen. Verehrung,
sie
unter
dem Eindruck
und später unter dem „Uebermulh
der des
der glücklichen
V e r r ä t h e r " erstickt ist, ward durch die Abwesenheit von Hause in Orest erhalten und kann jetzt,
da die Begier
nicht mehr brennt,
sich freier regen und durch den Widerspruch mit der vollbrachten That die Seelenpein hervorrufen. schmäht
und den schätzt,
Zwiespalt im Innern
Er,
der List und Klugheit ver-
der tapfer ist und grad\ kann
am Wenigsten ertragen.
Grosse,
diesen
frohe That
halte er mit ganzem Herzen ersehnt, jetzt fühlt er sich zwiespältig und
schuldbeladen.
Eine von
der Sitte geforderte
hat er erfüllt und damit gegen die Natur gefrevelt.
Verpflichtung Diesen Wider-
spruch vermag er nur so zu erklären, dass er die vermeinte sittliche Verpflichtung
als Gölterwink auffasst und folgert:
die Götter
haben es auf Tantals Haus gerichtet, und er, der Letzte, soll nicht schuldlos,
nicht ehrenvoll
nicht gnädige, sondern
vergehen.
Dann
ist fruchtlos für den, den sie verfolgen. sein Inneres spaltet und ihm Gefühl Widerspruch zeigt, und
sich
auch
in
So spiegelt der Riss, der
und That in
unvereinbarem
seiner Weltanschauung
wieder,
aus Allem folgt gänzliche Lähmung der Thatkraft. W i r sehen den Unterschied zwischen
nach Agamemnon. ohne
aber sind die Götter
rachgierige Mächte, und alles edle Streben
entsprechende
den Tantaliden vor und
Bei denen vor ihm treibt zügellose Leidenschaft äussere
Veranlassung
Orest ist die äussere Veranlassung
zu
Frevelthaten.
Sitte verlangt unter den obwaltenden Verhältnissen Gemäss seiner
ererbten
Bei
von schwerstem Gewicht;
Leidenschaftlichkeit
die
die Frevelthat.
ergreift Orest
diesen
—
25
—
W i n k mit b r e n n e n d e r Begier, blind f ü r das w i d e r s t r e b e n d e G e f ü h l , d a s in
ihm v o r h a n d e n ist u n d ,
gleichfalls
Sitte, ihn die Mutter e h r e n heisst.
im E i n k l a n g
dies G e f ü h l mit gleich l e i d e n s c h a f t l i c h e r Gewalt ihn ein. und grad',
ist er u n f ä h i g ,
Innern hinwegzusetzen.
sich
mit
Nach v o l l b r a c h t e r T h a t über
den
Zwiespalt
der
nimmt
Wahrhaft in
seinem
Von a u s s e n m u s s ihm Hülfe k o m m e n .
Die L i e b e zu Iphigenien u n d d e r Drang, i h r d e n S e e l e n f r i e d e n zu b e w a h r e n , steigern z u n ä c h s t im Gefühl d e r O h n m a c h t die Verz w e i f l u n g a u f s Höchste, g e t r e t e n ist
und
lassen
aber
die V e r g a n g e n h e i t
dann, sich
nachdem Ruhe
in v e r s ö h n e n d e m
einLichte
darstellt, die alte L u s t zu f r o h e r T h a t z u r G e l t u n g k o m m e n . Fluch,
den Orest durch
den Muttermord
auf sich
Der
herabgezogen,
wirkt nicht länger. Wie aber, Kraft und Iphigenie
wenn
Muth
nun
fühlt,
das Unternehmen,
misslingt?
bei d e m V e r s u c h ,
Denken
zu wir
sie zu b e f r e i e n ,
neu
erwachten
mit d e r V e r g a n g e n h e i t die S c h w e s t e r
an.
Liebe und ist
giebt
das
ward
Geschick
er
Orest dass
kommt.
Noch b e r u h t diese
Thatenlust.
Die
bisher Stimmungssache
Von i h r b e r ü h r t ,
B e r ü h r u n g jetzt a u f ,
Fall,
ums Leben
W U r d e a u c h d a n n die Heilung Bestand h a b e n ? auf d e r
welchem den
Versöhnung
und knüpft an
geheilt.
anscheinend
H ö r t die den
kaum
v e r l a s s e n e n V o r s t e l l u n g e n R e c h t , dass Orest U n g l ü c k v e r b r e i t e t , u n d d a s s die G ö t t e r es auf T a n t a l s H a u s a b g e s e h e n h a b e n , w a s d a n n ? 1 ) Wir eherne
wollen
Thür
mit Orest a n n e h m e n ,
des T a r t a r u s
dass
die E u m e n i d e n
h i n t e r sich z u g e s c h l a g e n
haben,
die dass
die V e r z w e i f l u n g ü b e r die eigene T h a t n i c h t w i e d e r in d e r f r ü h e r e n Dies scheint mir B i e l s c h o w s k y (Goethe, sein Leben und seine Werke. I. — München 1898. S. 434) nicht beachtet zu haben, denn er findet im Beginn des vierten Aufzugs eine „lockere Stelle" der Handlung darin, dass wir „mit den agirenden Charakteren glauben sollen, dass die Heilung nur eine zeitweilige sei, und dass sie dauernd erst durch den Raub und die Ueberführung des Dianenbildes nach Delphi werden könne". Er fährt dann fort: „Da wir das nicht können, sondern schon jetzt von der endgültigen Heilung ganz überzeugt sind, so erfüllt es uns mit einiger Unlust, dass Iphigenie nebst Orest und Pylades sich noch um den Raub
—
Stärke e r w a c h e n
wird.
26
—
Um so grössere Gewalt
Gedanke an den Stammesflach gewinnen,
muss
dann
uns ja den Anschlag misslungen — von Neuem f u r c h t b a r hat.
Ein Leben und Handeln,
der
der sich — wir denken erwiesen
wie Orest es wünscht, wäre damit
unmöglich. Also a u c h , hat,
ist
recht,
n a c h d e m der Fluch des Muttermordes sich gelöst
der Stammesfluch
noch
nicht getilgt.
Orest
hat
zwar
dass schon in Tauris der Fluch sich löst, aber das Orakel
h a t auch recht,
wenn es verlangt, dass Orest die Schwester nach
Griechenland bringt, damit der Fluch sich löse. Und noch etwas kommt dazu. des Fluches
ledig
zu
lein,
Wir sahen,
dem Orest auf
dass das Gefühl,
dem Wege
anschau-
licher Bilder gekommen war u n d damit f ü r den Augenblick grosse Macht
gewonnen
hatte.
Wird
dieser
Einfluss
dauern,
wenn
später a n d r e Bilder auf ihn wirken, wenn er in Mycen die Spuren vergossnen
Bluts
erblickt
und
die
ganze
Umgebung
bildungskraft in den Bann der Vergangenheit zieht? schaftlichkeit, den
Blick
die
auf
alle Seelenkräfte in
Andres
verdunkelt,
eine Richtung
erwies
Iphigenien a u s g e h e n d e n Zauber als heilsam.
sich
die
Ein-
Die Leiden-
unter
lenkt
und
dem
von
Wird sie nach a n d r e r
Richtung geweckt, dann kann sie ebenso verderblich wirken.
Das
Erreichte muss erst befestigt, die neu gewonnene Anschauung auf eigenen Grund gestellt und von ihr
aus feste Verbindungen
allen Richtungen des Bewusstseins geschlagen w e r d e n ,
nach
damit
der
Erfolg d a u e r n k a n n .
Die Ansichten Andrer können das Maass für
Orest nicht a b g e b e n ;
auch
des Tempelbildes abquälen".
die althergebrachte Sitte hat sich als
Ich habe von jener Unlust nie etwas gespürt
und sehe den Grund zu Bielschowskys Missvergnügen nur darin, dass auch er die Heilung des Orest im 3. Acte o h n e W e i t e r e s als dauernd ansieht, wozu das Stück durch die Art der Heilung gewiss keine Veranlassung giebt. Falls
wir also nicht annehmen,
Raub
und
dass die Dauer der Heilung durch den
die Ueberführung des
Dianenbildes
gewährleistet
werde,
so
werden wir am Anfang des 4. Actes um so gespannter sein, ob und wie nun wird,
gemäss auf
dem
Orakel
die
völlige
Entsühnung
deren Zustandekommen wir hoffen.
herbeigeführt
werden
— untauglich erwiesen, Unrechten Weg worfen.
27
gerade sie hat seine Leidenschaftlichkeit
gelockt und
ge-
Nur eine der sonstigen Sitte überlegene Sittlichkeit,
die
eindringt und
kann in seiner Lage frommen. nur in Iphigenie zu Iphigeniens und
noch
den
finden,
lange,
sondern
darin zur Herrschaft
damit
so bedarf Orest
erst
der Berührung
er nicht in leidenschaftlicher
in Ruhe und stetiger Arbeit
Dann
gelangt,
Diese neue Sittlichkeit ist zunächst
und
festen Grund finde,
widersteht. beseitigt,
auf
ihm den Zwiespalt in die Seele
ganz in sein Wesen
wegung,
—
der
ein Andrer
den Wogen
ist die Wirkung
der
Be-
werde
Leidenschaft
des Erbfluchs
auf Orest
wenn auf die geschilderte Weise die ererbte Anlage ge-
zügelt und dem Guten nutzbar gemacht ist, und wenn damit zugleich die äusseren Anlässe ihre gefährliche Macht ist Iphigeniens
fernere Nähe auch
von
verloren
diesem
haben.
So
Gesichtspunkt
aus
nöthig, damit Orest das ihm durch seine Abkunft gebührende Amt recht verwalten wandeln Will
und
auch
für Mycen
den
Fluch
in Segen
ver-
kann. aber Iphigenie
noch Elektras zu
das väterliche Haus
gedenken.
Geschwister sich erstrecken,
Auch
entsühnen,
so
ist
auf sie muss der Einfluss der
damit endlich
das
ganze
Geschlecht
von den Wirkungen einer unseligen Vergangenheit frei wird. erinnern uns,
dass Goethe den Plan einer
erwog, in der Elektra die nach
Griechenland
heimkehrende
genie für die Mörderin Orests hielt und sie getödtet nicht im letzten wenn
Augenblick
alle Geschwister in
die Erkennung
neuem,
reinem
erfolgte.
Streben
hat Tantals Frevelthat fortzuwirken aufgehört, Qualen,
die nach
Orests Vision
die
Iphi-
hätte, wenn Dann
erst,
vereinigt
sind,
und die grausamen
Uebermächt'gen
der
brust des Ahnherrn mit ehrnen Ketten fest aufgeschmiedet werden die Träume des Enkels nicht mehr
Wir
„Iphigenie in Delphi"
Heldenhaben,
beunruhigen.
Also auch nach der Heilung hat Orests Bitte guten S i n n : O König, hindre nicht, dass sie die W e i h e Des väterlichen Hauses nun vollbringe, Mich der entsühnten Halle wiedergebe, Mir auf das H a u p t die alte Krone drücke!
—
28
—
und die Entsühnung der schwer befleckten Wohnung, die Iphigenie nur
mit
reinem
Herzen
und
reiner Hand vollbringen kann,
keine leere Förmlichkeit;
in
nach
das Haus vom
altem
Herkommen
der Kulthandlung
weiht, liegt tiefere symbolische Macht man s o , Unterschied zwischen
ist
der Priesterin, die
Fluche
reinigt und
neu
Bedeutung.
durchaus im Anschluss erworbenem und
an das Drama,
ererbtem Fluch,
so
den fallen
eine Reihe von Bedenken weg, die manchem Erklärer aufgestossen sind.
Es braucht statt der Bedingung, die das Orakel stellt, und
die zur Zeit der Heilung Orests noch nicht erfüllt ist, kein gleichwerthiger Ersatz
gesucht zu werden,
durch
Fluches vorzeitig herbeigeführt worden sei.
den
die Lösung
des
Doch dies scheint mir
durch meine Ausführungen genügend geklärt, so dass ich nur auf eine hierher gehörige Verwechslung
Mündts1)
eingehen
Derselbe
fasst
zusammen:
„Die geistige E r -
krankung
des
seine Ansicht dahin Orest hat ihren
von der Wirksamkeit
Hauptgrund in seiner
möchte.
Vorstellung
des Fluches, d. h. des Zerfallenseins
seines
Geschlechts mit den Göttern, das Gefühl einer persönlichen Schuld tritt demgegenüber zurück; er wird geheilt durch die Berichtigung j e n e r Vorstellung, und diese Berichtigung intuitive Erkenntniss, sind, der Fluch
dass
durch
gebrochen i s t . "
noch ist es im Sinne
des Dramas
die Götter versöhnt sind.
wird bewirkt durch die
Iphigenien Zunächst
die Götter erkennt
richtig, dass
versöhnt
weder
durch
Orest,
Iphigenien
Orest erkennt, dass die Götter ihm gnädig
waren und sind, dass sie durch die Berührung mit der Schwester und den dadurch wohlthätigen
hervorgerufenen
Folgen
den
Bann
Verzweiflungsanfall der
letzten
mit
seinen
J a h r e von ihm
ge-
nommen haben, aber er nimmt nicht erst eine jetzt erfolgte Versöhnung der Götter an.
Sein Vergleich
mit einem Gewitter zeigt
dies deutlich: Ihr Götter, die mit
flammender
Gewalt
Ihr schwere Wolken aufzuzehren wandelt Und gnädig-ernst den lang erflehten R e g e n
') M ü n d t , Die Heilung des Orest.
Preussische Jahrbücher, J u n i 1 9 0 1 .
—
29
—
Mit Donnerstimmen und mit Windesbrausen In wilden Strömen auf die Erde schüttet; Doch bald der Menschen grausendes Erwarten In Segen auflöst und das bange Staunen In Freudeblick und lauten Dank verwandelt, Wenn in den Tropfen frisch erquickter Blätter Die neue Sonne tausendfach sich spiegelt, Und Iris freundlich-bunt mit leichter Hand Den grauen Flor der letzten Wolken t r e n n t . . . . Gnädig-ernst haben
die Götter
durch
das reinigende
Gewitter
in
seinem I n n e r n die s c h w e r e n W o l k e n a u f g e z e h r t , u n d rail Dank u n d H o f f n u n g f ü h l t er F r e u d e schon
vorher
gnädig
und
waren
Thatenlust. und
Und
nicht
erst
wie
die
versöhnt
Götter werden
m u s s t e n , s o w a r a u c h i h r e G n a d e u n a b h ä n g i g von Iphigenien d u r c h sie ist n u r d e m O r e s t Doch dies n e b e n b e i . stellung von Vorstellung
W i c h t i g e r ist, dass
der Wirksamkeit
dieser V o r s t e l l u n g von
die E r k e n n t n i s s
nicht der
den
Kernpunkt
Unsühnbarkeit
n u r als
erklärende
Erweiterung
worbenen
Fluches,
banntsein
der Gedanken
von
grossen
den er in
Thaten
Mündt
des Fluches des
T a n t a l s H a u s d e m V e r d e r b e n weiht,
davon
mit Orests Vor-
und
der
Berichtigung
d e r H e i l u n g trifft.
Die
Geschlechtsfluches,
der
ist f ü r O r e s t
des
durch
den
von
Bedeutung
Muttermord
seiner Verzweiflung u n d
deutlich
schwärmte,
da;
aufgegangen.
empfindet.
dem
Als e r mit
hinderte
der
erGe-
Pylades
Geschlechtsfluch
diese n i c h t ; erst die G e w i s s e n s q u a l e n n a c h d e m M u t t e r m o r d liessen jene Vorstellung lebendig w e r d e n . volle H a f t e n a n d e r V e r g a n g e n h e i t fühl —
die Liebe
bundenen stehende
zur
Gedanken That
Schwester
an
ein
Wird
ihm
d u r c h ein —
und
zukünftiges
der Schwester —
das
verzweiflungs-
k r ä f t i g e s n e u e s Ge-
durch
die
damit
Ereigniss —
beseitigt,
so
besteht
Aussicht, d a s s diese n e u e n R e g u n g e n , i n d e m sie sich
ver-
die b e v o r wohl
die
durchringen
u n d z u m H a n d e l n f ü h r e n , a u c h die V o r s t e l l u n g v o m f o r t w i r k e n d e n Erbfluche
zurückdrängen
werden.
In d e r
Unterwelt
ist
ferner
von v e r s ö h n t e n G ö t t e r n n o c h g a r nicht die R e d e , d e n n P l u t o , d e n Orest b e g r ü s s e n will, ist d e r Gott d e r e w ' g e n N a c h t u n d h a t mit den T a g e s l c i d e n s c h a f t e n u n d V o r g ä n g e n
nichts zu t h u n .
Nur die
—
30
—
Versöhnung i n n e r h a l b des Tantalidengeschlechts u n d vor Allem die des Orest mit seiner Mutter ist die Vorstellung, welche die WeiterDer e r w o r b e n e Fluch ist
entwickelung im I n n e r n Orests bezeichnet. zunächst
d u r c h d e n T o d seiner W i r k u n g b e r a u b t , u n d
dadurch
Friede innerhalb des Geschlechts hergestellt, soweit die Nachkommen des Tantalus in Betracht k o m m e n . von
den
Uebermächt'gen
Dem Ahnherrn sind auch dort
grausame
Qualen
fest
aufgeschmiedet.
F ü h r t man dies mit dem Parzenliede darauf zurück, dass Tantalus wider die Götter gefrevelt hat, so folgt, dass Unterwelt
nicht
zur Versöhnung
geneigt
diese a u c h
sind.
Legt
in der
man
aber
darauf grösseres Gewicht, dass Tantalus o h n e den mildernden Umstand des Erbfluchs gesündigt hat, so tritt das Fortwirken des Erbfluchs
auch in den T r a u m v o r s t e l l u n g e n Orests klar h e r v o r .
Weil
Orest an die Macht des Erbfluchs glaubt u n d seine Unthat als eine W i r k u n g desselben auffasst, kann der
Unterwelt
er ohne inneren Widerstreit in
die Lust des Seelenfriedens fühlen.
B e r u h t e aber
seine Heilung auf der Erkenntniss, dass die Götter d u r c h den Tod versöhnt sind, so müssten zu
sein,
die
mit dem Bewusstsein,
Erinyen
wiederkehren.
Orest aus dem T r a u m
geweckt wird
Das und
nicht
geschieht
gestorben nicht.
Als
die A u f f o r d e r u n g
zum
Handeln erhält, zum Handeln im Sinne der seiner seelischen Verä n d e r u n g zu Grunde liegenden R e g u n g e n , da fühlt er in der noch f o r t d a u e r n d e n ruhig-freudigen S t i m m u n g sich zur That fähig und blickt hoffnungsvoll in die Z u k u n f t . dass die Götter
gnädig sind,
Und damit weiss er n u n auch,
denn
sie
haben
j a die
Wolken in ihm aufgezehrt, den d u r c h den Muttermord Fluch
von
seiner Seele
genommen.
Die
Heilung
schweren
erworbenen
ist
nicht
die
Folge der Erkenntniss, dass der Fluch gebrochen, die Götter versöhnt sind, s o n d e r n diese E r k e n n t n i s s ist die Folge d e r Aber es h a n d e l t sich Fluch. des
hier
überhaupt
nur
um
den
Heilung.
erworbenen
Dieser ist gebrochen, u n d damit tritt f ü r Orest die
Erbfluchs zunächst wieder
zurück.
m e h r als ewig von ihm a n g e n o m m e n ihm a u s g e s p r o c h e n e W u n s c h ,
Dass a u c h
dieser
wird, zeigt der später
Frage nicht von
Iphigenie m ö g e das väterliche Haus
weihen u n d ihn der entsühnten Halle wiedergeben.
Der Erbfluch
— besteht
also
noch
31
fort, und
—
die L a g e ist, von
diesem
p u n k t e a n g e s e h e n , f ü r Orest dieselbe wie z u r Z e i t , n e n d e Begier, des Königs T o d wachsen war. Hintergrunde
zu r ä c h e n ,
noch
Gesichts-
als die b r e n -
n i c h t in ihm g e -
E r k a n n f r e u d i g a n g r o s s e T h a t e n d e n k e n , a b e r im steht
drohend
die
Vergangenheit
des
Geschlechts.
A g a m e m n o n w a r der T o c h t e r als Muster des v o l l k o m m n e n M a n n e s in E r i n n e r u n g , Gelegenheit
a b e r in s e i n e r
geweckt,
Rath,
Brust schlief e t w a s , das, von d e r
Mässigung
und Weisheit
und
Geduld
seinem Blick v e r b a r g u n d ihn so in Götterzorn verstrickte. Erbschaft
muss
unwirksam
werden,
b e s s e r e m Geschick e n t g e g e n g e h e .
damit
Tantals
Diese
Geschlecht
Noch n a c h O r e s t s Heilung f r a g t
Iphigenie, als s i e s i c h zu e i n e m sittlichen F e h l t r i t t g e n ö t h i g t g l a u b t : Soll dieser Fluch denn ewig walten?
Soll
Nie dies Geschlecht mit einem neuen Segen Sich wieder heben? Der E r b f l u c h ist also nicht, wenn
wir
diese
im
wie M ü n d t will, mit Orests Heilung,
gebräuchlichen
Sinne
nehmen,
gebrochen,
s o n d e r n er soll erst in Z u k u n f t e n d e n , i n d e m die s c h w e r b e f l e c k t e W o h n u n g d u r c h Iphigenie e n t s ü h n t w i r d . III. G o e t h e s c h r i e b 1 8 2 7 d e m S c h a u s p i e l e r K r ü g e r „ n a c h d e r trefflichen D a r s t e l l u n g des Orest in ein P r a c h t e x e m p l a r d e r die f o l g e n d e n v i e l g e d e u t e t e n
Iphigenie"
Verse:
Was der Dichter diesem Bande Glaubend, hoffend anvertraut, Werd' im Kreise deutscher Lande Durch des Künstlers Wirken laut. So im Handeln, so im Sprechen Liebevoll verkünd' es weit: Alle menschliche Gebrechen Sühnet reine Menschlichkeit. Diese W o r t e s i n d Auflassung
geWissermassen
d e r Iphigenie
auf
der Probirstein,
ihre Echtheit
zu
an dem
jede
p r ü f e n ist.
Das
D r a m a soll v e r k ü n d e n , dass r e i n e Menschlichkeit alle m e n s c h l i c h e n Gebrechen sühnt.
W a s heisst
das?
—
32
—
Ein Verbrechen sühnen bedeutet dessen schädliche Folgen für den Thäter und die Gemeinschaft aufheben »).
Goethe braucht aber
Sühnen wird sonst wohl mit „ausgleichen, einen Ausgleich treffen, schadlos halten" umschrieben. So im deutschen Wörterbuch von Moritz Heyne. Kin Verbrechen sühnen hiesse danach einen Ausgleich treffen zwischen Verbrecher und Geschädigtem, wobei unter letzterem gewiss nicht nur der zu verstehen wäre, welchem durch das Verbrechen unmittelbar Verlust zugefügt ist, sondern auch die Gemeinschaft, deren sittliches Bewusstsein und deren Sicherheitsgefühl darunter gelitten haben kann. Bei uns und im Zeitalter der Humanität hat die staatliche Gemeinschaft den Schutz gegen Verbrechen dem Einzelnen ab- und damit die Verpflichtung auf sich genommen, ein trotzdem vorgekommenes Verbrechen zu bestrafen, also äusserliche Sühne zu veranlassen, und zum Schutze der Uebrigen den Verbrecher, soweit dies möglich, zu einem brauchbaren Mitglied der menschlichen Gesellschaft oder wenigstens unschädlich zu machen. Nur von dieser Beziehung zur Gemeinschaft ist die Rede, wenn der Verbrecher seine That durch die Strafe oder durch ein ferneres fleckenloses Leben „sühnt". Auch wenn etwa ein Dieb zum Ersatz des Gestohlenen verurtheilt wird, so liegt die Sühne nicht in der Entschädigung des Bestohlenen, sondern in der Abbüssung der Strafe, von der jener Ersatz nur ein Theil ist, und diese — äusserliche — „Sühne" ist auch dann da, wenn eine Entschädigung des Bestohlenen nicht möglich war oder nicht angeordnet wurde. Durch die Sühne werden somit nicht für den unmittelbar Geschädigten die üblen Folgen des Verbrechens aufgehoben, sondern dies geschieht nur soweit, als ihre Aufhebung bedingt ist durch die Aufhebung der üblen Folgen für die Gemeinschaft oder den Thäter. Denn auch für den Thäter wird, wenn die Sühne nicht nur äusserlich ist, die Entschädigung des von ihm Geschädigten, falls sie möglich, zu seiner „Entsühnung" gehören. Die Sühne, äusserlich gefasst, besteht also darin, dass die üblen Folgen des Verbrechens für die Gemeinschaft und — äusserlich — den Verbrecher aufgehoben werden; die Sühne, innerlich gefasst, darin, dass die üblen Folgen im Innern des Verbrechers aufgehoben werden. Dass ich in meiner Umschreibung die s c h ä d l i c h e n Folgen heraushebe, liegt darin, dass das Verbrechen, wenn es zur Sühnung kommt, auch gute Folgen haben kann: ich denke vor Allem an die sittliche Läuterung der inneren Sühne. Die Umschreibung „ausgleichen, schadlos halten" vermeide ich, weil man auch dann von voller — äusserer oder innerer — Sühne spricht, wenn ein A u s g l e i c h mit dem unmittelbar Geschädigten, an den man dabei zunächst denkt, oder eine Schadloshaltung desselben nicht stattfindet.
— statt
des anscheinend Menschen
—
nächstliegenden Wortes „ V e r b r e c h e n "
Ausdruck „ G e b r e c h e n " . was dem
33
den
Also nicht eine Handlung, s o n d e r n etwas,
gebricht,
was ihm fehlt,
ist Gegenstand
der
S ü h n u n g , und zwar zeigt der Z u s a m m e n h a n g , dass das Gebrechen ein geistiges
ist und
das Handeln beeinflusst.
ganz im Allgemeinen s a g e n ,
Nun
dass das Handeln
können
wir
des Menschen
in
gegebener Lage von seinem Charakter und von seiner Auffassung der Lage abhängt, wenn wir u n t e r Charakter das a n g e b o r e n e
und
durch das Leben a b g e ä n d e r t e geistige Gepräge des Menschen verstehen.
Eine That, die der S ü h n e bedarf, kann somit aus einem
Mangel des Charakters oder aus einem Mangel der Auffassung entspringen.
Ein Mangel der A u f f a s s u n g einer Lage kann
zu S t a n d e k o m m e n , Kräfte nicht
dass der Mensch
genügend
Richtung a n w e n d e t .
anwendet,
die ihm hierzu
oder
dass
dadurch
gegebenen
er sie in
falscher
Jener Fall wird dann eintreten, wenn er nicht
den nöthigen Antheil an der Angelegenheit nimmt, um die es sich handelt, dieser, wenn Leidenschaft seinen Blick t r ü b t . des C h a r a k t e r s Vorstellungen,
Ein Mangel
in obigem Sinne wird darin bestehen,
welche das Verhältniss
des Menschen
dass die
zur Aussen-
welt bestimmen, nicht die richtigen sind, oder dass die sie tragenden Gefühle zu schwach sind, u m stellungen zu lenken, sei es n u n , Wettstreit mit rakters kann Vorstellungen,
anderen
den Willen nach
zu schwach sind.
somit d a d u r c h
welche das Verhältniss des Menschen zur Aussen-
den Gefühle gestärkt w e r d e n . rechte Autheil
stellen
und
im
Dem Mangel des Cha-
entgegengearbeitet w e r d e n , dass die
welt bestimmen, geklärt u n d berichtigt, und der
j e n e n Vor-
dass sie an sich oder n u r
an
den
dass die sie t r a g e n -
Geschieht dies, so wird einzelnen Angelegenheiten
leidenschaftlichen
Erregungen
ein
zugleich sich
ein-
Widerstand
er-
wachsen, d e m n a c h die richtige Auffassung der Lage, soweit sie von der gegenwärtigen Thätigkeit des Menschen abhängt, sich ergeben. Dies
soll
also
die reine Menschlichkeit leisten.
diesem Ausdruck zu verstehen i s t , die Humanitätsidee Fassung,
in
sich
des
18. J a h r h u n d e r t s ,
aufgenommen
l.,&ehr, Heilung- des Orest.
Was
wird Niemand verkennen, hat.
zumal in
unter der
Herderscher
Menschlichkeit 3
ist
das,
—
34
—
w a s d e n M e n s c h e n von a n d r e n W e s e n u n t e r s c h e i d e t u n d ihn z u m Menschen m a c h t , nicht das T r e n n e n d e in Religion, Volk u n d S t a n d , sondern
das G e m e i n s a m e ,
was
u n s im Menschen d e n B r u d e r e r -
k e n n e n l ä s s t : L i e b e nicht n u r z u d e n N ä c h s t s t e h e n d e n , s o n d e r n zu allen Menschen,
Liebe z u r a l l u m f a s s e n d e n , a l l e r h a l t e n d e n
Liebe zur Natur,
und
t h ä t i g e n d e Liebe.
Die Anlage d a z u
Ausbildung
und
z w a r sich im E r k e n n e n
Bethätigung
bringt
macht
ihn
und Handeln
d e r Mensch zum
Gottheit,
wahren
mit,
beihre
Menschen.
Menschlichkeit ist also zugleich u n t e r s c h e i d e n d e s G e p r ä g e u n d Bestimmung des Menschen1).
Dass ich die Liebe v o r a n s t e l l t e ,
i m E i n k l a n g mit den W o r t e n : liebevoll
verkünd'
es
„ S o im H a n d e l n ,
(nämlich
s o im
das Drama) weit" jene
A b e r die L i e b e ist f r u c h t l o s , w e n n sie sich n i c h t im r e c h t e n , lichen
Handeln
Erkenntniss,
offenbart,
und
dies
kann
sie n u r
steht
Sprechen
durch
die allein d u r c h liebevolles E i n g e h e n e r w o r b e n
Lehre. nützrechte wird.
') Herder (Briefe zur Beförderung der Humanität): „Humanität ist der C h a r a k t e r u n s e r e s G e s c h l e c h t s ; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muss uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unserer Uebungen, unser W e r t h sein; denn eine A n g e l i t ä t im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das G ö t t l i c h e in unsrem Geschlecht ist also B i l d u n g z u r H u m a n i t ä t ; alle grossen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die K u n s t u n s r e s G e s c h l e c h t e s . Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muss; oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Thierheit, zur B r u t a l i t ä t zurück" (24. Brief). „Ohne ein Newton zu sein, wusste ich (in den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit) den Charakter unsres Geschlechts, seine Anlagen und Kräfte, seine offenbare Tendenz, mithin auch den Zweck, wozu es hinieden bestimmt ist, in kein simpleres Wort zu fassen, als H u m a n i t ä t , M e n s c h h e i t . (Anm. zum 49 Brief).
—
35
—
W e m Menschlichkeit i n n e w o h n t , ist d e r edle Mensch des G ö t h e s c h e n G e d i c h t s , der h ü l f r e i c h u n d g u t i s t : Denn das allein Unterscheidet ihn — den Menschen — Von allen Wesen, Die wir kennen, ist also
das,
w a s ihm
das
menschliche
K e n n z e i c h e n des e d l e n M e n s c h e n ,
Gepräge aufdrückt.
Als
d e r h ü l f r e i c h u n d g u t ist, setzt
d e r Dichter a m S c h l ü s s e z u s a m m e n f a s s e n d : Unermüdet schaff' er Das Nützliche, Rechte, Sei uns ein Vorbild Jener geahneten Wesen. An diesen S c h l u s s e r i n n e r t ein Gedicht d e r z a h m e n X e n i e n : Halte dich im Stillen rein Und lass es um dich wettern; Je mehr du fühlst, ein Mensch zu sein, Desto ähnlicher bist du den Göttern. W a s d e n Göttern ähnlich m a c h t , ist liebevolle E r k e n n t n i s s , die das Grösste
und
Kleinste
wahr
zu
umfassen sucht,
und
liebevolles
W a l t e n , d a s d e m Grössten u n d Kleinsten g e r e c h t w i r d . vollem F o r s c h e n
u n d Handeln
g u t e n Muth
f ü h l t sich als Mensch.
und
findet
In liebe-
d e r Mensch festen S i n n u n d Bewahren
aber kann er
diese Menschlichkeit n u r , w e n n e r sich n i c h t d u r c h das l a u t e u n d l e i d e n s c h a f t l i c h e Treiben u m ihn von seinem
menschlichen
Stand-
p u n k t e a b u n d in eine f a l s c h e A u f f a s s u n g d e r L a g e h i n e i n d r ä n g e n , w e n n er es u m sich w e t t e r n lässt u n d sich im Stillen R e i n e M e n s c h l i c h k e i t ist also
eine
solche,
die,
durch
urtheilt
Dass d e r A u s d r u c k „ r e i n " hier so zu v e r s t e h e n ist,
giebt sich a u c h , w e n n wir f r a g e n , machen kann, den
hält.
nicht
l e i d e n s c h a f t l i c h e R e g u n g e n b e i r r t , klar u n d b e s o n n e n handelt.
rein
ü e b e r ihr steht
angezogenen
Stellen
w a s die Menschlichkeit
nach Herder
Göthescher
die
er-
unrein
die „ A n g e l i t ä t " ,
Gedichte
und
in
Göttlichkeit.
Diese k a n n n i c h t die Menschlichkeit u n r e i n m a c h e n , d e n n j e m e h r du f ü h l s t , ein Mensch zu sein, d e s t o ä h n l i c h e r bist d u d e n G ö t t e r n . 3*
—
36
—
U n t e r der Menschlichkeit steht die Thierheit, die sich d a d u r c h von jener
unterscheidet,
Vernunft,
ihre
dass Gefühle und Triebe,
Gewalt
üben.
Menschen im Widerspruch
Bestimmen
unbeeinflusst von
sie
das
Handeln
mit seiner „Menschlichkeit",
diese von der Thierheit befleckt.
so
des wird
Rein ist also die Menschlichkeit
nur, wenn sie von der Art des Thieres frei ist
und
die Gefühle
und Triebe sich nicht leidenschaftlich, d. h. im Widerstreit mit der Vernunft bethätigen. Reine Menschlichkeit und menschliches Gebrechen Gegensatz
zu
einander.
jeder schlechten,
Menschliches Gebrechen
unbesonnenen
liebevollem, besonnenem Handeln.
That1),
stehen
ist
die
Menschlichkeit
im
Quelle
führt
zu
Beides zusammen k a n n im selben
Menschen zwar v o r h a n d e n sein, aber sich nicht zugleich bethätigen. Wohl aber k a n n eins das a n d e r e wirkungslos m a c h e n .
Damit das
soll diese rein
Gebrechen nicht der Menschlichkeit Abbruch t h u e ,
sein; wie aber kann reine Menschlichkeit dem Gebrechen Abbruch thun?
Ist die Menschlichkeit rein, so kann das Gebrechen sich ja
nicht äussern, u n d wird das Gebrechen o f f e n b a r , so besteht eben keine reine Menschlichkeit. Alle menschliche Gebrechen Sühnet reine Menschlichkeit
Herder (Briefe zur Beförd. etc.):
W o Böses ist,
ist die Ursache
des Bösen U n a r t unsres Geschlechts, nicht seine Natur und Art. Trägheit, Vermessenheit,
Stolz,
Irrthum,
Hartsinn,
Erziehung, böse Gewohnheit; lauter Uebel,
Leichtsinn, die
Vorurtheile,
vermeidlich
oder
böse heilbar
sind, wenn n e u e s Leben, Munterkeit zum Guten, Vernunft, Bescheidenheit, Billigkeit,
Wahrheit,
eine bessere Erziehung,
Jugend auf, einzeln und allgemein einkehren.
bessere Die
Gewohnheiten
Menschheit
ruft
von und
seufzet, dass dies geschehe, da offenbar jede Untugend und Untauglichkeit sich selbst straft, indem Menge Uebel auf
sich
wir dazu da sind, für uns
thun kann
Unglücks,
sie
keinen wahren Genuss
und auf Andere häufet.
und
eine
Offenbar sehen wir,
gewähret
dass
dies Reich der Nacht zu zerstören, und
sondern unsere
Werk e i n g e r i c h t e t ;
es
soll.
Nicht
Natur
ist
nur tragen zu diesem
wir
indem niemand es die
Last
unsres
und zu keinem anderen
ist Z w e c k unsres Geschlechts,
der
unsrer Bestimmung, uns dieser U n a r t zu entladen (67. Brief).
Endpunkt
— k a n n also,
w e n n w i r allein
37
—
die Vorgänge
im
einzelnen
Menschen
ins A u g e f a s s e n , n u r b e s a g e n , d a s s die A u s b i l d u n g d e r A n l a g e z u r r e i n e n M e n s c h l i c h k e i t die W i r k u n g j e d e s m e n s c h l i c h e n G e b r e c h e n s , j e d e s s c h l e c h t e , u n b e s o n n e n e H a n d e l n beseitigt u n d die s c h ä d l i c h e n Folgen
früherer derartiger
Handlungen
für
den Thäter
und
die
Gemeinschaft aufhebt. W e n d e n wir a b e r d e n S p r u c h n i c h t auf d e n e i n z e l n e n M e n s c h e n , s o n d e r n auf die M e n s c h h e i t , auf ein Volk,
auf ein G e s c h l e c h t
an,
so b r a u c h t die r e i n e M e n s c h l i c h k e i t u n d d a s m e n s c h l i c h e G e b r e c h e n n i c h t m e h r in e i n e r P e r s o n s i c h zu v e r e i n e n . Menschlichkeit sühnen?
des E i n e n
K a n n n u n die r e i n e
das menschliche Gebrechen
des
Andern
M o e b i u s h ä l t d i e s f ü r e i n e P h r a s e , bei d e r e r sich
nichts denken kann.
gar
U n d wirklich w ä r e d a b e i g a r n i c h t s zu d e n k e n ,
w e n n nicht die Möglichkeit b e s t ä n d e , d a s s d i e r e i n e M e n s c h l i c h k e i t des E i n e n sich auf d e n A n d e r n ü b e r t r ä g t u n d in i h m das
menschliche
Gebrechen
aufkeimend
Wirkung
beraubt.
Geschieht
dies, so w e r d e n a u c h die s c h ä d l i c h e n F o l g e n
früherer
Verbrechen
für den Gebrechlichen
seiner
beseitigt,
denn
thätigc Liebe
verscheucht
den n u t z l o s e n Rückblick auf die V e r g a n g e n h e i t u n d lässt Reue n u r den antreibenden
Bestandtheil ü b r i g :
von
der
b ü s s e n d dient
der
S c h u l d i g e d e n G ö t t e r n u n d d e r W e l t u n d h e b t so die F o l g e n s e i n e s Verbrechens zwar nicht i m m e r
für
den
unmittelbar
Geschädigten,
a b e r f ü r die G e m e i n s c h a f t a u f . Soll die r e i n e M e n s c h l i c h k e i t auf den G e b r e c h l i c h e n ü b e r t r a g e n w e r d e n , so m u s s sie in d i e s e m
den Boden
bereitet
finden.
Der
G e b r e c h l i c h e m u s s sich s e i n e s G e b r e c h e n s b e w u s s t sein u n d d a m i t d e n W u n s c h h a b e n , ein A n d e r e r
zu
Schuldigen
nach Sühnung
muss
der Sühnung
dann
d i e Möglichkeit
bestehen,
wird
lichkeit,
werden;
im
weiteren
Wachsthum,
Unsrem
D r a m a h a t d e r Dichter an
von
ist,
MenschWurzeln
Leidenschaftlichkeit
beseitigt.
glaubend
In I p h i g e n i e s e h e n w i r
Menschlichkeit ohne Anlehnung
Als-
vorhanden
sich
r e i n i g e n d , die W i r k u n g d e s G e b r e c h e n s Lehre anvertraut.
des
vorangehen.
d a s s d e r Keim d e r
d e r a u c h in d e m G e b r e c h l i c h e n
treibt und
das Verlangen
und
hoffend
die E n t w i c k l u n g
die r e i n e Menschlichkeit
diese reiner eines
—
38
—
Andern, in den T a u r i e r n das Bewusstwerden der lichkeit
und
damit
Menschlichkeit, schuldig
die E n t s t e h u n g
in
Orest
gewordenen
Iphigenie
ist
die
und
durch
Uebertragung
nach
Göttermacht
entgegenkamen,
Zeit e r w a c h s e n , gewährt w a r ,
wo
derselben
den
Greueln
reinerer auf
dem Hause T a n t a l s
ihres
Hauses und
gewaltet.
die
lang
lebhafte Erinnerung
den
Menschen.
die ihr mit E h r f u r c h t
des Tempeldienstes
hat sie eine
Gebrech-
nach
SUhnung verlangenden
entrückt und h a t unter F r e m d e n , Neigung
eignen
des W u n s c h e s
mit
In
einer
e n t b e h r t e Rast
an
ihren
hohen
Vater, den göttergleichen A g a m e m n o n , und an das glückliche F a m i l i e n leben mit sich h i n ü b e r g e n o m m e n , sie riss.
Ein f r e m d e r
Fluch,
an der T h a t ihres V a t e r s , sich
herabgezogen
hatte.
fremder
Fluch"
denn Iphigenie h a t k e i n e n
Antheil
durch
aus die
Wohl
dem
„ein
derselbe Dianens Zorn
aber
muss
dieser F l u c h ,
dessen F o l g e n sie ihr L e b e n fern der Heimat v e r t r a u e r t ,
auf unter
ihre
danken i m m e r wieder auf den E i b f l u c h ihres Hauses l e n k e n . fühlt sich als „ v e r w ü n s c h t e s H a u p t " ,
vor
dem
auch
ein
Herz Entsetzen mit seltenem S c h a u e r anfassen k a n n . durch
eignes Erlebniss
erfahren,
dass
das
Opfer
GeSie
grosses
Aber sie hat eines
fremden,
nicht s e l b s t e r w o r b e n e n F l u c h e s n a c h dem Willen der Gottheit nicht sterben, sondern
der Gottheit dienen soll.
S o weiss
sie:
Der missversteht die Himmlischen, der sie Blutgierig wähnt; er dichtet ihnen nur Die eignen grausamen Begierden an. Und m e h r als
dies:
Die Unsterblichen lieben der Menschen Weit verbreitete gute Geschlechter. Vergessen ist das alte Parzenlied
von
dem
grausamen
die Götter mit den Menschen t r e i b e n ,
und von
Enkel
Aber
sich
erstreckenden
Rachsucht.
heisst in ihrem S i n n e handeln. des
Opfertodes
Heil
Iphigenie
und R ü c k k e h r
der
hat
zubereitet,
Spiel,
i h r e r bis auf Gottheit
die
dienen
den F r e m d e n dem
das
König
statt und
seinem Volke mildere Sitten eingeflösst und lieb g e m a c h t und Allen das L e b e n Gnade
nicht
erleichtert.
Soll
auch G r ö s s e r e s ,
sie
da
ihr
näher Liegendes
im
Vertrauen
auf
götllichc
still
erhoffen,
—
39
—
E n t s ü h n u n g des eigenen G e s c h l e c h t s ?
So h a t sie d u r c h g u t e s u n d
segensvolles Thun und d u r c h muthiges Zutrauen ererbte
Gebrechen
der
Leidenschaftlichkeit
Hülfreich
war
ihr
z u r Gottheit
immer
dabei
mehr
ihre
das
seiner
Wirkung
beraubt.
Priesterin
u n t e r F r e m d e n , a n d e r e n Geschick sie w o h l liebevollen
Stellung
Antheil n a h m , d e n e n sie a b e r doch innerlich f e r n s t a n d , ein l e i d e n s c h a f t s l o s e s , b e s o n n e n e s
Handeln
und zur Gewohnheit werden konnte.
leichter
als
so d a s s
möglich
war
Denn s e h r richtig s a g t P y l a d e s :
So hast du dich im Tempel wohl bewahrt; Das Leben lehrt uns, weniger mit uns Und Andern strenge sein So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet, So vielfach ist's verschlungen und verknüpft, Dass Keiner in sich selbst, noch mit den Andern Sich rein und unverworren halten kann. Weil Iphigenie n i c h t in d a s L e b e n u m sie h i n e i n g e z o g e n , n i c h t m i t d e m t a u r i s c h e n Geschlecht v e r s c h l u n g e n u n d v e r k n ü p f t w a r , r e i n e Menschlichkeit in i h r ist
geschehen,
zweiten
als
Tode",
Iphigenie
in
abgeschlagen
entwickeln
aus
die Verbindung
Geschlecht z u r ü c k t r i t t . jetzt
sich
dem Leben mit
nach
Wohl
Retterin,
zwar dankbar
Widerwillen.
Aber im D r a n g e
in d e r S o r g e
um
den
und
zum
Bruder
ist
ein
und
thätigen
mit
kann.
ja
Gefühl
sie dient
ergeben,
und
trotz
mit
frei
zum W o h l e
ebensowenig
vermag
stillem
Heimkehr
von
Heimat
verblendender mit
reinem
i h r e s Geschlechts der
und
den König
Denn i h r e Liebe z u r
aller S t ä r k e
der trotz
d e r Göttin,
jedoch
kaum wiedergefundenen Bruder
r e i n e r Hand Und
ihrem
s c h e i n t ihr
L e i d e n s c h a f t , u n d sie w e i s s , dass sie diese L i e b e n u r Herzen
„dem
und
starkes
unnütz
n a c h Freiheit
zu b e t r ü g e n , das ist i h r u n m ö g l i c h . und
Dies
in T a u r i s ,
i h r e m Volk
zieht
Griechenland,
aller E r f o l g e das L e b e n in d e r F r e m d e , ihrer
konnte
befestigen.
Da n a h e n s c h w e r e V e r s u c h u n g e n , die a b e r
werden.
S e h n s u c h t sie heim
und
Widerwille
T i t a n e n g e g e n die Götter i h r e B r u s t zu e r f a s s e n a u c h d a , t a u b e Not ein d o p p e l t L a s t e r i h r aufzulegen s c h e i n t ;
beder
w o die
Besonnenheit
u n d V e r t r a u e n zu den Göttern ist s t ä r k e r , als d e r leidenschaftliche Trieb
zur
Anklage
gegen
das
Geschick.
Reine
Menschlichkeit,
—
40
—
d u r c h L e i d e n s c h a f t n i c h t g e t r ü b t e Liebe setzt ererbte Gebrechen ausser Wirkung. d e m Mangel
des C h a r a k t e r s
war
somit
Wir können
durch
bei
ihr
das
demnach
sagen:
das G e g e n g e w i c h t
reiner
Menschlichkeit a b g e h o l f e n w o r d e n , u n d d e r Mangel d e r A u f f a s s u n g d e r z u n ä c h s t b e i m Eintritt in das Leben sich g e l t e n d m a c h t , wird ü b e r w u n d e n , als mit dem Z w a n g e zu h a n d e l n j e n e s a u c h hier z u r vollen W i r k u n g
Gegengewicht
kommt.
Dei den T a u r i e r n h a n d e l t es sich u m m e n s c h l i c h e s Gebrechen, dessen W i r k u n g e n
erst
durch
Iphigeniens
Einfluss
als
unheilvoll
e r k a n n t w e r d e n . I n d e m die F r e m d e , d e r e n geheimnissvolle A n k u n f t im T e m p e l sie als g ö t t e r g e s a n d t b e g l a u b i g t e , die F r e m d e n o p f e r von J a h r zu J a h r mit s a n f t e r ü e b e r r e d u n g
aufhielt
Einfluss auf den König m i l d e r e G e w o h n h e i t e n u n d in d a s V e r h ä l t n i s s
von H e r r s c h e r
und auch
durch
ihren
in
das Volk
und Unterthanen
einführte,
h a t sie die Augen der Menschlichkeit geöffnet.
Und n i c h t n u r die
A u g e n , s o n d e r n a u c h die H e r z e n , seitdem die s e g e n s r e i c h e n Folgen dieser Menschlichkeit Furcht
zerstreuten,
früheren grausamen
sich die
fühlbar machten Gottheit
Gebräuche
möchte zürnen.
und wegen
Die
die
anfängliche
Abstellung
Taurier
der
haben
in
i h r e n r o h e n u n d u n m e n s c h l i c h e n H a n d l u n g e n nicht, wie Orest, ein widerstrebendes
natürliches
Zweifel u n d R e u e sind i h n e n
Gefühl daher
unterdrückt;
Gewissensbisse,
nicht gekommen,
und
noch
w e n i g e r k a n n die Verzweiflung i h n e n die H o f f n u n g auf A e n d e r u n g nehmen.
So ist die U m s t i m m u n g l e i c h t e r ,
n a c h Menschlichkeit einmal g e g e b e n
nachdem
der
Wunsch
ist,
Denn nirgends baut die Milde, die herab In menschlicher Gestalt vom Himmel kommt, Ein Reich sich schneller, als wo trüb' und wild Ein neues Volk, voll Leben, Muth und Kraft, Sich selbst und banger Ahnung überlassen, Des Menschenlebens schwere Bürden trägt. Noch freilich k a n n die j u n g e S a a t d e r Menschlichkeit von j e d e m U n w e t t e r leiden, u n d n u r d a d u r c h e r w ä c h s t die Aussicht auf f e r n e r e s Gedeihen, dass Iphigeniens r e i n e Menschlichkeit den h e r a u f z i e h e n d e n S t u r m b e s c h w ö r t u n d g e r a d e die Art i h r e s S c h e i d e n s erwärmend und stärkend nachwirken muss.
-
41
—
Beim schuldigen und nach S ü h n u n g
v e r l a n g e n d e n Orest
ist
das Mittel zur Rettung Liebe z u r Schwester und der Drang, ihr zu helfen. Aber n u r , weil ihm in der Geschlechtsgenossin Iphigenie reine Menschlichkeit entgegentritt, kann jene Liebe und j e n e r Drang das U n f r u c h t b a r e der Reue nach s t a r k e r E r s c h ü t t e r u n g rasch überwinden und die b e f r e i e n d e Hoffnung auf gute That zeitigen.
Was jedoch
nicht langsam gereift, sondern in mächtigem inneren Streite hervorgebrochen ist, kann sich zwar
unter
glücklichen Umständen
be-
währen, Sicherheit der Dauer im leidenschaftlichen Menschen wird ihm aber erst beschieden, wenn dessen ganzes Wesen zur Menschlichkeit, zur b e s o n n e n e n Liebe sich Iphigeniens weiterer Einfluss ist auch zu liebevollem Handeln
allmählich
dem
e r w a c h t e n Orest
zur „Menschlichkeit",
nöthig,
damit
allmählich sich festigende Besonnenheit Gewähr gegen kungen des Gebrechens geben k a n n .
reinen
entwickelt. die
nur
neue Wir-
Bei Orest ist zunächst
der
Mangel der Auffassung der Lage beseitigt, der Mangel des Charakters kann erst durch
stets
erneutes
rechtes
Auffassen
und
Handeln
ausgeglichen werden, und da das Leben diesen Ausgleich erschwert, ist Iphigeniens Einfluss als Gegengewicht auch ferner
erforderlich.
Dass Göthe von der S ü h n u n g des Gebrechens statt
des Ver-
b r e c h e n s spricht, hat also tiefen Sinn, gerade im Hinblick auf das Drama. dann
Handelte es sich n u r um die S ü h n u n g des Muttermordes, genügte
die
Gewinnung
der
„Menschlichkeit".
Aber
es
handelt sich um die S ü h n u n g des ererbten G e b r e c h e n s , da muss „reine Menschlichkeit" die W i e d e r k e h r leidenschaftlicher That künftig verhüten. Das Götterorakel, das z u n ä c h s t zu ist n u n in seiner Bedeutung klar. Rath
und
um Befreiung
viel
Orest
vom Geleit
giebt m e h r ; er will nicht n u r L ö s u n g
zu
bittet
fordern freilich
der Furien, des
aber
erworbenen,
scheint, nur
um
der Gott sondern
auch des e r e r b t e n Fluchs und verlangt deshalb, dass die Schwester nach Griechenland gebracht wird.
Er
b r e c h e n , s o n d e r n auf das Gebrechen,
sieht
nicht
auf
das Ver-
und nicht n u r auf das Ge-
brechen Orests, sondern auf das des ganzen
Tantalidenhauses.
Hiernach beantwortet sich auch die F r a g e , ob im Drama die
— reine
Menschlichkeit
42
lphigeniens
— Sühnende
sei.
Die reine Menschlichkeit ist z u n ä c h s t in Iphigenien v o r h a n d e n
oder
Orests
das
und
w i r d d u r c h i h r e B e r ü h r u n g auf Orest ü b e r t r a g e n . Menschlichkeit ist a u c h in Iphigenien
nur
A b e r die r e i n e
mit göttlichem
Beistand
e r w a c h s e n , d e r sie bei Zeiten a u s dem Elend i h r e s H a u s e s damit sie d a s s e l b e s p ä t e r e n t s ü h n e . nichts,
was
der
Mensch
Die
selbständig
nahm,
reine Menschlichkeit
aus
sich
allein
ist
entwickelt,
s o n d e r n d a m i t sie in einem M e n s c h e n sich ausbilde, b e d a r f d e r s e l b e n e b e n d e r g e g e b e n e n Anlage u n d i h r e r B e t h ä t i g u n g a u c h des E i n flusses
alles d e s s e n , w a s von a u s s e n auf den M e n s c h e n w i r k t u n d
v o m f r o m m e n G e m ü t h als g ö t t l i c h e F ü g u n g begriffen w i r d . IV. Der Wille d e r Götter stellt sich auf v e r s c h i e d e n e n S t u f e n d e r Sittlichkeit v e r s c h i e d e n d a r .
T a u r i s Ufer
schreckt die Fremden: das Gesetz Gebietet's und die Noth. So wird es d e n n „ h e i l i g e r G e b r a u c h " u n d Götterwille, j e d e n F r e m d e n am Altar
zu
in G r i e c h e n l a n d
über-
wunden,
a b e r d e r Hellene s c h a u t f r e m d auf den B a r b a r e n
herab,
und
Dieser Z u s t a n d
ist
die Pflicht d e r B l u t r a c h e b e s t e h t n o c h e b e n s o wie in T a u r i s ,
dessen König kann,
als
fern
Sittlichkeit glaubend
erst
dann
sein S o h n
Griechenland ist,
opfern.
von
b e f r i e d i g t in seine W o h n u n g
„gerochen"
ist.
So m ö g e n
die Götter z u m M u t t e r m o r d den Verwicklungen
gereift, hoffte.
In
die
Sittlichkeit,
ihr hat auch
winken.
des L e b e n s , auf
deren
heimkehren
denn
eine
In
auch
in
Iphigenien
neue,
Kommen
reine Goethe
die R a c h e i h r R e c h t v e r l o r e n .
Denn die R a c h e setzt eine s c h ä d i g e n d e T h a t als B e w e g g r u n d v o r a u s und
kann
d o r t k e i n e n Boden
finden,
w o nicht die T h a t u n d
der
d u r c h sie e r l i t t e n e Verlust, s o n d e r n die p s y c h o l o g i s c h e u n d sittliche W ü r d i g u n g d e s T h ä t e r s in d e n Mittelpunkt d e r B e t r a c h t u n g wo
das G e b r e c h e n
wird.
als W u r z e l
rückt,
d e s V e r b r e c h e n s ins A u g e gefasst
Freilich k ö n n t e Goethe die A n s c h a u u n g ,
a u s s p r i c h t , im D r a m a nicht d u r c h g e f ü h r t h a b e n .
die e r im
Gedicht
Und in d e r T h a t
m e i n e n Manche, dass die V e r t r e t e r i n r e i n e r Sittlichkeit, d a s s Iphigenie
—
43
—
die V e r p f l i c h t u n g des Orest z u r B l u t r a c h e a n e r k e n n t . sich auf Iphigeniens
Sie s t ü t z e n
Frage:
Wie ist des grossen Stammes letzter Sohn, Das holde Kind, bestimmt, des Vaters Rächer Dereinst zu sein, wie ist Orest dem Tage Des Bluts entgangen? Man k ö n n t e v e r s u c h t sein, „ d e s Vaters R ä c h e r " n i c h t
auf
Klytä-
m n e s t r a , s o n d e r n n u r auf Aegisth zu beziehen, d e r ja in d e r T h a t den T o d e s s t r e i c h
auf A g a m e m n o n
führte.
Dann
fiele
die R a c h e -
pflicht w e n i g s t e n s in Bezug auf K l y t ä m n e s t r a fort, freilich n u r nahen Verwandtschaft wegen.
der
Damit s t ä n d e im E i n k l a n g die Gleich-
gültigkeit, die Iphigenie g e g e n das f e r n e r e Loos i h r e r Mutter zeigt. Sie f r o h l o c k t , da sie h ö r t , d a s s Orest u n d E l e k t r a l e b e n , u n d O r e s t m u s s i h r r a t h e n , i h r Herz zu b ä n d i g e n ,
Iphigenie: Orest: Iphigenie: Orest: Iphigenie: Dies
wäre
Denn unerträglich muss dem Fröhlichen Ein jäher Rückfall in die Schmerzen sein. Du weisst nur, merk' ich, Agamemnons Tod. Hab' ich an dieser Nachricht nicht genug? Du hast des Greuels Hälfte nur erfahren. Was furcht ich noch? Orest, Elektra leben. Und fürchtest Du für Klytämnestren nichts? Sie rettet weder Hoffnung, weder Furcht. erklärlich,
wenn
n a c h Iphigeniens Meinung Orest den
Mord d e s Vaters n u r an Aegisth zu r ä c h e n h ä t t e u n d d e r Muttermord in
g a r nicht in F r a g e k ä m e .
der
allgemein
Aber m u s s n i c h t Iphigenie,
die
griechischen Auffassung der Rachepflicht aufge-
w a c h s e n ist, u n d d e r e n j e t z i g e sittliche A n s c h a u u n g e n sich erst in T a u r i s e n t w i c k e l t h a b e n , m u s s sie nicht wissen, d a s s die B l u t r a c h e a u c h K l y t ä m n e s t r a nicht v e r s c h o n e n k o n n t e , m u s s i h r nicht m i n d e s t e n s nach
Orests W o r t e n ,
dass
sie
des Greuels Hälfte
erst
erfahren
h a b e , diese Möglichkeit deutlich v o r Augen s t e h e n , w e n n U b e r h a u p t Orest n a c h i h r e m G e f ü h l b e s t i m m t w a r , des Vaters R ä c h e r zu s e i n ? Mir
liegt d a h e r eine a n d e r e A u f f a s s u n g n ä h e r .
griechischer Anschauung
b e s t i m m t ist,
Weil Orest
des Vaters R ä c h e r
nach
dereinst
zu sein, d e s h a l b m ü s s e n Aegisth u n d K l y t ä m n e s t r a , die A g a m e m o n tödten,
zu
ihrer
eigenen S i c h e r h e i t
a u c h Orest
dem Vater n a c h -
— Althaus1)
senden.
44
—
zieht h i e r f ü r mit Recht die f r ü h e r e Fassung
der Stelle h e r a n : „ d e n Mordgesinnten ein a u f k e i m e n d e r gefährlicher Rächer".
Freilich mag man zweifeln,
ob Iphigenie n u r im Sinne
der Mörder u n d der griechischen Sitte spricht, oder ob sie zugleich die
Rachethat
Orests
in
dieser S t u n d e ,
gleich
nach
der
über-
wältigenden K u n d e von Agamemnons E r m o r d u n g , f ü r eine u n v e r meidliche Folge des ererbten F l u c h s ansieht, gesprochen.
Ich möchte glauben,
von dem sie soeben
dass sie in diesem Augenblick
selbst nicht d a r ü b e r klar ist, s o n d e r n zunächst n u r die dringende Gefahr f ü r Orest fürchtet, ohne daran zu denken, ob derselbe jene Bestimmung wird a u s f ü h r e n müssen, Aegisths Augen hat. verloren, rächen,
aber nicht etwa, sondern
die er in Klytämnestras u n d
Iphigenie glaubt freilich Klytämnestra u n r e t t b a r
weil
unerträglich scheint.
ihr
weil Orest bestimmt ist, den Vater zu ein Weiterleben nach solchen
Freveln
Als sie hört, dass die Mutter aus dem L a n d e
der Hoffnung geschieden sei, ist ihr erster Gedanke der an Selbstmord. hat,
Obwohl sie weiss, dass sie des Greuels Hälfte n u r erfahren fürchtet
sie
nichts
für
den
zum Rächer bestimmten Orest,
weil sie ja auf eine S ü h n u n g des Fluches hofft. die Verpflichtung Orests
Dies zeigt,
zur Rache Iphigeniens Gefühl
nicht
dass ent-
spricht, u n d dass sie dieselbe n u r als Beweggrund f ü r Aegisth u n d Klytämnestra, nicht aber auf ihre A u s f ü h r u n g hin ins Auge gefasst hat.
Es
geht ihr auch hier nach den Worten,
die sie später an
Pylades richtet: Ich untersuche nicht, ich fühle nur.
Sie
sieht
deutlich die Gefahr,
die dem „ h o l d e n K i n d e " in Folge
seiner Bestimmung droht, weil sie sich um dasselbe ängstigt, aber weiter zu u n t e r s u c h e n , ob Orest jene Bestimmung auch aufgreifen werde,
liegt ihr zunächst fern,
weil ihr Gefühl nicht zur Rache
drängt. ') Althaus, Der Wissensch. Beilage realschule zu Berlin. durch
den
nestren gilt.
Plural
zweite
und
dritte
zum Jahresbericht
Aufzug von Goethes
Iphigenie.
der Friedrichs-Werderscben
Ober-
Ostern 1896. — Die angeführte Stelle zeigt zugleich „den Mordgesinnten",
dass die Rache auch
Klytäm-
— Dass
in
finden kann,
45
—
der Gesinnung Iphigeniens die Rache keinen Boden dass nach diesem Maassstabe also auch Orest w e d e r
zur E r m o r d u n g Klytämnestras
noch Aegisths
wäre, lässt sich auch sonst zeigen.
aus a n d e r e m Beweggrunde begangen hätte, der Unglückliche
sein.
verpflichtet gewesen
Selbst wenn Orest den Mord w ü r d e er für sie n u r
Glaubt sie doch nach der Erzählung des
Pylades wirklich, dass der angebliche L a o d a m a s nicht aus Rachepflicht,
sondern
im
Streit
um
Reich
und
Erbe
seinen
Bruder
erschlagen habe, und doch redet sie ihn a n : Unglücklicher, ich löse deine Bande Zum Zeichen eines schmerzlichem Geschicks Noch Kann ich es mir und darf es mir nicht sagen, Dass ihr verloren seid Unseliger, du bist in gleichem Fall Und fühlst, was er, der arme Flüchtling, leidet!
Auch Klytämnestra und Aegisth erfahren keine Verurtheilung, grässlich ihre That war. Ermordung
wie
Iphigenie lässt sich von Orest Agamemnons
bestätigen: O sage mir, er
fiel,
sein Haus betretend,
Durch seiner Frauen und Aegisthens Tücke? Orest: Iphigenie:
Du sagst's. W e h dir, u n s e l i g e s Mycen! So haben Tantals Enkel Fluch auf Fluch Mit vollen wilden Händen ausgesät Und, gleich dem Unkraut, wüste Häupter schüttelnd Und tausendfält'gen Samen um sich streuend, Den Kindeskindern nahverwandte Mörder Zur ew'gen Wechselwuth gezeugt!
Also
selbst
diese „ t ü c k i s c h e " That weckt in ihr nicht die Verur-
theilung der Personen, s o n d e r n wird z u r ü c k g e f ü h r t auf den Fluch, den Tantals Enkel
ausgestreut
haben,
und
der n u n gleich
U n k r a u t aufgegangen u n d in Samen geschossen ist. liegt rettet
eine
Verurtheilung
der Klytämnestra
weder Hoffnung weder Furcht",
in den W o r t e n :
sondern
dem
Ebensowenig „sie
die schmerzliche
—
46
—
Ueberzeugung, dass hier der Fluch zu tief gewirkt hat, als dass eine Lösung möglich schiene. Aber eine andere Frage erhebt sich hier. Woher kommt Iphigenien, die doch für den des Mutterblutes schuldigen Bruder „hülfreiche Götter vom Olympus rufen" kann, die Ansicht, dass Rettung für die Mutter ausgeschlossen sei? Steht dies nicht im Widerspruch mit Goethes Worten: „ a l l e menschliche Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit"? Der Widerspruch bestände, wenn Iphigenie eine Moralphilosophin wäre, die nach fest ausgearbeitetem Systeme entschiede; er besteht aber nicht, da Iphigenie nicht untersucht, sondern fühlt und daher wohl, wenn es zu handeln gilt, der zarten Stimme ihres Herzens folgt,, aber vorher auch irrt und nach augenblicklichen Gefühlen urtheilt. Man denke an ihr Verhalten zu der List des Pylades. Nur an den Bruder denkend, willigt sie in den Betrug: Meinen Bruder Ergriff das Herz mit einziger Gewalt: Ich horchte nur auf seines Freundes Rath; Nur sie zu retten, drang die Seele vorwärts. Und wie den Klippen einer wüsten Insel Der Schiffer gern den Rücken wendet: so Lag Tauris hinter mir. Nun hat die Stimme Des treuen Manns mich wieder aufgeweckt, Dass ich auch Menschen hier verlasse, mich Erinnert. Doppelt wird mir der Betrug Verhasst.
Trotzdem glaubt sie auch jetzt den doppelt gehassten Betrug begehen zu müssen, den die Noth entschuldige. Die zarte Stimme des Herzens wird zwar durch den Sturm der Leidenschaft nicht mehr Uberbraust, aber doch noch in ihrer Wirkung beeinträchtigt. Erst als die That drängt, steigert sich das warnende Gefühl zu siegreicher Macht. Wie hier die Liebe zum Bruder und die Angst, ihn zu verderben, zunächst das Urtheil Iphigeniens trübt, so dort der Abscheu vor dem Gattenmorde, der nicht nur durch Rachegefühl, sondern auch durch Ehebruch veranlasst war. Dieser Umstand, dass zur Schandthat eine böse Lust getrieben, musste in Iphigenien besonders stark wirken. „Wie den Klippen einer wüsten
—
47
—
Insel d e r Schiffer gern d e n R ü c k e n w e n d e t " , s o liegt K l y t ä m n e s t r a h i n t e r ihr, u n d die Seele d r i n g t n u r v o r w ä r t s , v o n Orests R e t t u n g zu h ö r e n .
F ä n d e a b e r Iphigenie die Mutter n o c h l e b e n d in G r i e c h e n -
l a n d a n u n d t r ä t e ihr g e g e n ü b e r , schauung,
so w ü r d e sie zweifellos die An-
dass K l y t ä m n e s t r a u n r e t t b a r v e r l o r e n sei, a u f g e b e n u n d
die S ü h n e
d e s väterlichen H a u s e s im S i n n e r e i n e r
a u c h an ihr zu v o l l b r i n g e n Hat a b e r
Menschlichkeit
streben.
die R a c h e k e i n e B e r e c h t i g u n g in d e r sittlichen
An-
s c h a u u n g Goethes, die in Iphigenie i h r e Vertreterin geschaffen h a t , so
muss
sich
dies
auch
in d e r Götterwelt d e s D r a m a s s p i e g e l n .
Z u m a l k a n n Orest die G r e u e l t h a t des M u t t e r m o r d e s n i c h t auf Geheiss o d e r Antrieb
d e r Gottheit
vollbracht
haben.
Ich
h a b e d a h e r im
zweiten A b s c h n i t t gesagt, d a s s Orest eine v e r m e i n t e sittliche Pflicht als
Götterwink
auffasst,
während
die
allgemeine
Ansicht
der
A u s l e g e r — soweit ich s e h e , m a c h t n u r K o b e r s t e i n eine A u s n a h m e , aber
ohne
Apollos
den „ W i n k "
annimmt.
In
zu
der
erwähnen That
hat
— bei
ein
wirkliches
Euripides
Gebot
Apollo
den
M u t t e r m o r d g e b o t e n , u n d d a s s e l b e lässt sich im G o e t h e ' s c h e n D r a m a allenfalls a u s Orests W o r t e n
herleiten:
Mich haben sie zum Schlächter auserkoren, Zum Mörder meiner doch verehrten Mutter, Und, eine Schandthat schändlich rächend, mich Durch ihren W i n k zu Grund gerichtet. Glaube, Sie haben es auf Tantals Haus gerichtet, Und ich, der Letzte, soll nicht schuldlos, soll Nicht ehrenvoll vergehn. Eine Milderung der a l l g e m e i n e n A u f f a s s u n g des „ W i n k s " Gneisse1) Orakel,
versucht,
sondern
nur
der eine
nicht
ein den
allgemeine
Mutlermord Aufforderung
hat
befehlendes zur
Rache
') Karl Gneisse, Wie wird Orest in Goethes Iphigenie geheilt? — Zeitschr. für den deutschen Unterricht, 11. Jahrg., 1897. Dagegen scheint Matthias (Die Heilung des Orest in Goethes Iphigenie, Düsseldorf, 1887, s. S. 9—12) meine Ansicht zu theilen, spricht sich aber nicht deutlich aus, ja, macht es S. 18 sogar recht zweifelhaft, ob er den „Wink" gleich mir in übertragener Bedeutung auffasst.
— annimmt.
Er
Aegisthos
zu
meint: tödten,
„Die
48
—
Götter,
würden
mit
die
Orest
den
sittlichen
aufforderten,
den
Anschauungen
Iphigeniens in U e b e r e i n s t i r n m u n g s e i n ; f o r d e r t e n sie a u c h
Klytäm-
n e s t r a s T ö d t u n g d u r c h Orest, so w ü r d e dies in a u f f a l l e n d e m G e g e n satze zu
der
Muttermord Deutung zu.
Ansicht
Iphigeniens
ein s c h w e r e s
und
Vergehen
Orests
sei."
d e r s c h l i m m s t e Anstoss v e r m i e d e n
Aber
Deutungen,
wir
entgehen
wenn
wir
allen in
solchen
dem
Wink
Prägung desselben Gedankens sehen, die W o r t e
stehen,
Dass wird,
doch die
Gneisses
gebe
nur
der
dass
durch
ich g e r n
gezwungenen
sinnlich-anschauliche
d e n P y l a d e s k u r z v o r h e r in
kleidet: o Jüngling, danke du den Göttern, Dass sie so früh d u r c h d i c h so viel gethan.
G e g e n diese W o r t e w e n d e t sich ja Orest, i n d e m er a u s f ü h r t , dass zu solchem Dank n u r Diejenigen V e r a n l a s s u n g h a b e n , d e n e n die Götter i,frohe That bescheren", erkoren" und haben.
d e n sie
n i c h t a b e r er, den sie z u m M ö r d e r „durch
ihren
Wink
zu G r u n d
Dieser W i n k ist also d a s s e l b e , w a s v o r h e r b e s c h e r e n
auserkiesen
hiess.
ist,
a u c h Orests E r z ä h l u n g
ergiebt
Dass d e r W i n k n u r in
diesem S i n n e
vor Iphigenien:
T o d zu r ä c h e n " ,
noch
k l a r e r in d e r P r o s a a u s g a b e :
b e i d e n a u f g e w a c h s e n w a r e n , b r a n n t e i h n e n die Seele, zu r ä c h e n . "
Wem
dies nicht g e n ü g t ,
und
gemeint
„ u n d wie sie
w u c h s e n , w u c h s in i h r e r Seele die b r e n n e n d e Begier,
Tod
„aus-
gerichtet"
des Königs „ u n d da die d e s Königs
weil Orest in diesem
Auftritt die eigne S c h u l d n i c h t d u r c h B e r u f u n g
auf das
göttliche
Gebot s c h m ä l e r n , s o n d e r n sie ganz auf sich n e h m e n wolle, da a u c h o h n e b e s o n d r e n Befehl Sitte u n d
e i g e n e Begier ihn zu j e n e r
That
g e f ü h r t h a b e n w ü r d e n , m a c h t d a m i t das Eingreifen des Gottes ganz überflüssig u n d
kann
zudem jenen
Grund
nicht f ü r P y l a d e s
an-
f ü h r e n , d e r Orest im ersten A u f z u g auf alle Weise zu t r ö s t e n s u c h t , und
dem
es h i e r b e i z u n ä c h s t g e l e g e n
hätte,
auf Apollo zu
ver-
weisen, w e n n dieser die Rache an K l y t ä m n e s t r a — d e u t l i c h o d e r doch in dieser Weise d e u t b a r — fehlt d e r „ W i n k " .
befohlen
hätte.
In d e r
Prosaausgabe
Hätte Goethe bei d e r U m a r b e i t u n g d a s Orakel
einzufügen beabsichtigt,
so
hätte
er w o h l einen e i n d e u t i g e n
Aus-
druck gewählt, sein,
a n d r e r Stellen,
übertragener
—
um diese Aenderung h e r v o r z u h e b e n ,
man freilich nicht sähe. zu
49
deren Zweck
Bedarf aber Jemand, um ganz überzeugt in denen
das Wort
Bedeutung g e b r a u c h t ist,
so
„ W i n k " ähnlich in
erinnere
ich
an zwei
Stellen im T a s s o : Ach, dass wir doch, dem reinen, stillen W i n k Des Herzens nachzugehn, so sehr verlernen! G a n z l e i s e s p r i c h t e i n G o t t in u n s r e r B r u s t , Ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, Was zu ergreifen ist, und was zu fliehn (III, 2) u n d die a n d r e : Und hob mein Geist sich da zu schnell empor, Und liess ich allzu rasch in meinem Busen Der Flamme Luft, die mich nun selbst verzehrt, So kann mich's nicht gereun, und wäre selbst Auf ewig das Geschick des Lebens hin. Ich widmete mich ihr, und folgte froh Dem W i n k e , der mich ins Verderben rief (IV, 1). Ferner gehört hieher aus der Iphigenie das Wort des Pylades: Du weigerst dich umsonst; die ehrne Hand Der Noth gebietet, und ihr ernster W i n k Ist oberstes Gesetz, dem Götter selbst Sich unterwerfen müssen. Schweigend herrscht Des ew'gen Schicksal unberathne Schwester. Was sie dir auferlegt, das trage; thu, Was sie gebeut (IV, 4). Noch Uberzeugender sind folgende W o r t e des T h o a s : Die Göttin übergab dich meinen Händen; Wie du ihr heilig warst, so warst du's mir. Auch sei ihr W i n k noch künftig mein Gesetz: Wenn du nach Hause Rückkehr hoffen kannst, So Sprech' ich dich von aller Fordrung los (I, 3). Vielleicht w ä r e auch das ähnliche Bild des Fingerzeigs der anzuführen: Iphigenie: Ich hab' es in der Götter Hand gelegt. Arkas: Sie pflegen Menschen menschlich zu erretten. Iphigenie: Auf ihren Fingerzeig kommt Alles an (IV, 2). Laehr, Heilung- des Orest. 4
Götter
— Ich
habe
meine
50
—
Abweichung
fassung s o ausführlich begründet,
von
der
herkömmlichen
weil Götter,
Auf-
die zu Rache und
Muttermord auffordern, mir nicht in das Drama zu gehören scheinen, dem Goethe sein Glauben und Hoffen anvertraut hat 1 ).
Dagegen
ist Alles im schönsten Einklang, w e n n Orest die hergebrachte Sitte, die
Beistimmung
des Freundes
und
die
eigenen Seele als Götterwink betrachtet.
brennende
Begier
der
Was sonst von göttlichem
Walten berichtet wird, stimmt mit Iphigeniens Auffassung überein. Wohl
richten
die Götter
streng
das
menschliche
Vergehen
des
Tantalus, wie die Sage es verlangt, aber ungerecht ist ihr Spruch nicht, und wenn Iphigenie mildernd
hinzusetzt:
D i c h t e r s i n g e n : Uebermuth ü n d Untreu stürzten ihn von Jovis Tisch Zur Schmach des alten Tartarus hinab, s o soll damit zunächst zwar das Vergehen des Tantalus vor s a g e n haften Uebertreibungen in Schutz g e n o m m e n werden, zugleich aber legt sich
doch
auch
um den Sturz
in die Schmach
Tartarus die lindernde Hülle dichterischer Anschauung.
des
alten
Die Prosa-
Wie das Gefühl davon, dass die herrschende Auffassung unmöglich richtig sein könne, zu gewaltsamen Deutungen jenes „Winks" getrieben hat, zeigt anschaulich der Aufsatz von Fr. Fraedrich: „Hat Goethes Orest die Ermordung des Vaters auf besondren göttlichen Befehl an der Mutter gerächt?" Ztschr. f. d. deutschen Unterricht, 11. Jahrg. 1897. Fraedrich hält den „Wink" für den Orakelspruch, der dem von Rachegeistern Verfolgten Hülfe und Rettung auf Tauris versprochen hat, ihm jedoch daselbst den Tod zu bringen scheint. Aber Orest sehnt sich ja nach dem Tode und klagt die Götter weniger deshalb an, weil er „vergehn soll", als weil er n i c h t s c h u l d l o s , n i c h t e h r e n v o l l vergehn soll. Seit seiner Mordthat ist er nicht mehr schuldlos und ehrenvoll. Zu Grunde gerichtet ist er, seit ihm „eine Götterhand das Herz zusammendrückt, den Sinn betäubt", seit der Schwindel „auf dem schlüpfrigen, mit Mutterblut besprengten Pfade fort ihn zu den Todten reisst". Dagegen wird es ihm leicht, „dem schönen Licht der Sonne zu entsagen", da alle Noth mit seinem Leben völlig enden soll, und er findet es besser, hier vor dem Altar zu sterben, „als im verworfnen Winkel, wo die Netze der nahverwandte Meuchelmörder stellt." Die Fahrt nach Tauris kann nicht ihn zu Grunde richten, sondern höchstens Pylades.
—
51
—
a u s g e b e s a g t : „Menschlich w a r sein V e r g e h e n , s t r e n g ihr G e r i c h t ; und ihre Priester sagen:
U e b e r m u t h u n d U n t r e u s t ü r z t e n ihn von
Jovis Tisch z u r S c h m a c h des T a r t a r u s " .
Dies klingt,
Götter von i h r e n P r i e s t e r n vor Vorwurf
gewahrt werden
als w e n n
die
müssten.
Die A e n d e r u n g meidet sorglich d e n Schein göttlicher U n g e r e c h t i g k e i t u n d Härte.
W e n n d a n n f e r n e r das g a n z e G e s c h l e c h t den Hass d e r
Götter t r ä g t , und
so
zeigt sich dieser Hass
dem
daraus
entspringenden
mittelbar
greifen
die
Götter
nur
Schicksal
ein.
Diana
fordert
durch
doch
Geschick
n u r in
der Anlage
der Tantaliden.
zweimal
in
Kalchas'
das
Un-
menschliche
Mund
des
Königs
älteste T o c h t e r u n d e n t f ü h r t diese d a n n in einer W o l k e , so dass die F o r d e r u n g des Kindesopfers Tantalidengeschlechts
d u r c h sein O r a k e l ein, nach
Griechenland
Parzenliedes
n u r d a z u dient,
vorzubereiten.
Und
d a s den O r e s t
bringen
heisst.
die E n t s ü h n u n g
zweitens
greift
die S c h w e s t e r
Damit
ist
die
des
Apollo
von T a u r i s
Meinung
des
widerlegt: Es wenden die Herrscher Ihr segnendes Auge Yon ganzen Geschlechtern.
Das Gegentheil erweist sich als r i c h t i g : w o m e n s c h l i c h e G e b r e c h e n Fluch
verbreiteten,
da
führen
die Götter R e t t u n g h e r b e i .
Orest
s p r i c h t diese E r k e n n t n i s s so a u s : Schön und herrlich zeigt sich mir Der Göttin Rath. Gleich einem heil'gen Bilde, Daran der Stadt unwandelbar Geschick Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist, Nahm sie dich weg, die Schützerin des Hauses, Bewahrte dich in einer heil'gen Stille Zum Segen deines Bruders und der Deinen. Da alle Rettung auf der weiten Erde Verloren schien, giebst da uns Alles wieder. W a r u m a b e r Hess die Gottheit, w e n n sie die Macht h a t t e zu helfen, all die Greuel in T a n t a l s H a u s e zu, o h n e f r ü h e r e i n z u g r e i f e n ?
Ist
es ein Gebot d e r N o t h w e n d i g k e i t , d e r e n W i n k e n a c h P y l a d e s Götter selbst sich u n t e r w e r f e n m ü s s e n ,
dass das V e r g e h e n des A h n h e r r n
erst in d e n N a c h k o m m e n die s c h l i m m s t e n F r e v e l n a c h sich 4*
ziehen
— muss,
ehe
52
eine A b s c h w S c h u n g
des Erbfehlers und
Möglichkeit d e r S ü h n u n g e i n t r i t t ? das Drama
zu
weiterhin
W i r wissen es nicht, u n d
will diese F r a g e n i c h t lösen.
t r a u e n giebt Iphigenie, rechte
—
Aber in g l ä u b i g e m
den Göttern b e t e n d ,
auch
hierauf
die auch Verdie
Antwort: Ihr allein wisst, was uns frommen kann, Und schaut der Zukunft ausgedehntes Reich, Wenn jedes Abends Stern- und Nebelhülle Die Aussicht uns verdeckt. Gelassen hört Ihr unser Flehn, das um Beschleunigung Euch kindisch bittet; aber eure Hand Bricht unreif nie die goldnen Himmelsfrüchte, Und wehe dem, der, ungeduldig sie Ertrotzend, saure Speise sich zum Tod Geniesst.
So e n t s p r i c h t Iphigeniens A n s c h a u u n g v o m W a l t e n d e r Götter d u r c h a u s i h r e r r e i n e r e n Sittlichkeit. ander
greift,
zeigt
freilich n u r k u r z ,
sich zu
darin,
wanken
droht,
dein s c h w e r e n sittlichen Conflict wie u m g e k e h r t
U n d wie s e h r Beides in ein-
dass ihr findet,
Vertrauen
d e r i h r e Seele
in Orest die A u f f a s s u n g ,
Tantals H a u s g e r i c h t e t h a b e n ,
der
war
Gottheit,
dass
aus
erschüttert,
die Götter
besseren Erkenntniss
Güte weicht, als er sich vom F l u c h e b e f r e i t fühlt. in die Götter
zur
als sie k e i n e n A u s w e g es
auf
göttlicher
Das Misstrauen
die Folge m e n s c h l i c h e n G e b r e c h e n s ;
die r e i n e
Menschlichkeit schliesst liebendes V e r t r a u e n z u r göttlichen L e n k u n g ein, u n d dies l i e b e n d e V e r t r a u e n w i r d d u r c h den G a n g d e r H a n d l u n g im D r a m a gerechtfertigt. V. Hier
knüpft
gleichsam
von
selbst
die
u n s e r Drama christliche Z ü g e a u f w e i s e , ob Orests u n d d i e E n t s ü h n u n g des
Frage
an,
inwieweit
n a m e n t l i c h die Heilung
Tantalidenhauses
auf
christlichen
Anschauungen fusse. „Die religiösen Z ü g e u n s e r e r Dichtung lassen sich auf
einen
G r u n d z u g z u r ü c k f ü h r e n , a u s d e m sie s t a m m e n , u n d d e r d a s j e n i g e E l e m e n t d e r s e l b e n a u s m a c h t , w e l c h e s m a n wohl ihren
christlichen
— Charakter
genannt hat."
53
— F i s c h e r 1 ) und
So sagt K u n o
j e n e n G r u n d z u g in dem „ s t e l l v e r t r e t e n d e n L e i d e n " .
findet
W i e er diesen
A u s d r u c k v e r s i e h t , lasse ich mit seinen W o r t e n f o l g e n : „ I n j e d e m , d e r eine wirkliche, e r n s t h a f t e L ä u t e r u n g
in sich erlebt, ist es d e r
s c h o n g e b e s s e r t e u n d n e u e Mensch, d e r das S c h u l d g e f ü h l t r ä g t u n d leidet f ü r d e n alten, noch u n g e b e s s e r t e n u n d s c h u l d i g e n : statt seiner oder
an s e i n e r Stelle.
Seele,
die k e i n e
eigene S c h u l d
Derer,
welche
sie
S c h u l d entlasten möchte.
liebt,
und
hat,
von
fühlt u n d
ihrem
zu e i n e m
W e n n die a n d e r e n ,
er leidet
Eine völlig l a u t e r e u n d Elende
neuen
leidet
befreien,
von
g e l ä u t e r t e n Leben
die sie liebt,
reine
die S c h u l d ihrer führen
die g a n z e Menschheit
sind, s o b e s t e h t in diesem s t e l l v e r t r e t e n d e n u n d e r l ö s e n d e n Leiden die
Christusthat." Dass
hier
unter
Christusthat
L e i d e n e t w a s ganz A n d e r e s
und
verstanden
unter
stellvertretendem
w i r d , als was j e n e
sonst bezeichnen,
befremdet zwar anfangs,
kann
aber
führen.
sagt ja
damit
meint.
Fischer
genau,
was e r
spruch aber muss zunächst hervorrufen, Leiden
in
diesem
Sinne
eine
einmal d a s k a n n ich z u g e b e n , selbst alle
schuldlos, die
Anderen
Entsühnung sei.
Denn
des hierzu
das
schuldbeladene berufen
gehört vor
nicht
soll.
deshalb, liebt
auch
Nicht
weil sie, und
und leidet",
und
sich
dazu
dass sie im V e r t r a u e n hält.
auch
keine
hiervon
abgesehen
ist
d a s Leiden
sondern nur die
den Wunsch
Entsühnung
des
nach Erlösung
Geschlechts
D r a m a d e u t l i c h : auf I p h i g e n i e n s
Iphigeniens es k a n n
nicht ist,
auf That,
erlösen, Worauf
zeigt
das
Seite ist v o r Allem Reinheit, Be-
s o n n e n h e i t , V e r t r a u e n auf die göttliche L e n k u n g ,
Zuversicht,
d e r F l u c h sich lösen k a n n ,
aber
und
zur
Aber
hervorbringen.
zurückzuführen
„für
berufen
die G n a d e d e r Gottheit die E n t s ü h n u n g f ü r m ö g l i c h s o n d e r n k a n n diese h ö c h s t e n s v e r a n l a s s e n ;
irre
Wider-
stellvertretende
sein
Geschlecht trägt
fühle
Allem,
das
That
dass Iphigenie
das Schuldgefühl Hauses
dass
erlösende
Worte
Liebe w i r k s a m ,
auch
dass diese
') Goethes Iphigenie, Festvortrag von Kuno Fischer. 3. Aufl. Heidelberg 1900. S. 45.
-
54
—
e r l a n g e n i h r e K r a f t bei d e r H e i l u n g Orests erst d a d u r c h , das d e r s e l b e i h r e T r ä g e r i n als seine S c h w e s t e r F e r n e r a b e r ist I p h i g e n i e n s
erkennt.
Leiden
g a r nicht
stellvertretend,
w e n n wir u n s a n K. F i s c h e r s E r k l ä r u n g h a l t e n .
W e n i g s t e n s gilt
diese S t e l l v e r t r e t u n g g e r a d e f ü r O r e s t nicht, dessen „ E r l ö s u n g " sie doch e r m ö g l i c h e n an
seiner
Fluche
des
sollte.
Stelle.
Er
I p h i g e n i e leidet nicht s t a t t Orests
leidet
unter
Tantalidengeschlechts
seiner
viel
That
stärker,
und weil
oder
unter
dein
hoffnungslos,
u n d z w a r l a n g e Zeit, b e v o r er Iphigenien erblickt, j a e r h a t u n t e r d e m F l u c h e s c h w e r gelitten s c h o n s c h a f t mit P y l a d e s ihn Leiden
I p h i g e n i e n s um
ereilt hat, hilft ihm
als Knabe,
bevor
andren Gefühlen zugänglich
die
Freund-
machte.
Das
den F l u c h d e s Geschlechts, d e r a u c h ihn der Theilnahme
der
völlig l a u t e r e n u n d reinen Seele b e r ü h r t wird, die Möglichkeit
der
Entsühnung
wird
nichts; ihm
so s e h r
durch
ihr
er von
Leiden
nicht
nähergebracht.
W i c h t i g e r als i h r Leid ist i h r e F r e u d e ü b e r den
wiedergefundenen
B r u d e r , den sie e b e n n i c h t als einen Verlorenen
a n s i e h t , f ü r den
sie im Gegentheil h ü l f i e i c h e G ö t t e r v o m O l y m p u s r u f e n k a n n .
Dass
sein K o m m e n d e r S c h w e s t e r den „ A u g e n b l i c k der h ö c h s t e n F r e u d e " bereitet, d a s s sie n i c h t mit i h m im tiefsten Leiden erliegt, in W o n n e ü b e r viel s t ä r k e r
den Ersehnten
nach.
auljubelt,
Liebe zu d e r R e i n e n , Mulhigen, in
l i c h e r Liebe den G e q u ä l t e n
Umfassenden
sondern
hallt in s e i n e m r e g t sich
Innern
schwester-
in ihm,
wenn
e r a u c h selbst n o c h an solcher L i e b e f ä h i g k e i t z w e i f e l t : Seit meinen ersten Jahren hab' ich nichts Geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester. Und e r s c h e i n t z u n ä c h s t die G e f a h r , dass diese g e l i e b t e S c h w e s t e r , selbst
schuldlos,
durch
den
Fluch
des
Geschlechts z u m
Bruder-
m o r d g e z w u n g e n w e r d e , ihm u n a b w e n d b a r , so ist doch d e r G r u n d gelegt
zur
j e n e Liebe
Abkehr und
der
von
der Vorstellung
Drang, der
des
Geschlechlsfluches:
Geliebten zu
helfen, w e r d e n die
T h a t k r a f t w e c k e n , wie einst die F r e u n d s c h a f t es b e w i r k t e , dass d e r Knabe,
vergessend
Jugend hingerissen
seiner
Noth,
schwärmte.
mit
dem
Freunde
in
rascher
—
55
—
Aber ist auch Iphigeniens Leid um kein
„stellvertretendes",
und
ist
P u n k t , von dem die Einwirkung
es
den Fluch ihres
auch nicht der
auf Orest ausgeht, so bleibt so
viel doch unbestritten, dass es vorhanden des Dramas wesentlich ist.
und
f ü r die
aber
es
spielt
Uberall
Handlung
Es ist nirgends der einzige oder auch
nur der hauptsächlichste B e w e g g r u n d f ü r Iphigeniens t r e i b e n d e Kraft n u r
Hauses
springende
mit
hinein.
dadurch,
Freilich
dass mit
ihm
Handlungen,
erlangt
es
diese
ein Hoffen auf
Ab-
w e n d u n g des Fluchs v e r b u n d e n ist, ein Hoffen, das gestärkt wird durch
das Wiederfinden
Heilung.
des
Bruders
Und deshalb möchte ich
und
dann
durch
auch nicht, wie K.
dessen
Fischer,
jenes Leiden, s o n d e r n vielmehr diese erst leise, dann stärker a n schwellende Hoffnung, die sich zuletzt zur Zuversicht erhebt,
als
das Bedeutungsvollere und f ü r die E n t s ü h n u n g Wichtigere betonen. Sie ist auf das Innigste v e r b u n d e n mit dem Glauben
an
göttliche
Macht u n d Gnade, deren Wohlthat Iphigenie im eigenen Leben e r der
Göttin,
s o n d e r n auch das, was ihr dies Leben jetzt erst werthvoll
fahren hat.
Denn
nicht
nur
ihr
Leben
dankt
sie
macht,
das reine Herz und die reine Hand, die allein „ d i e schwer befleckte W o h n u n g zu e n t s ü h n e n "
vermögen.
Will man also mit K. F i s c h e r die E n t s ü h n u n g des Tantalidenh a u s e s durch Iphigenien und Christus
zusammenhalten,
Punkte
finden.
Der
die Erlösung der Menschheit
so kann m a n
durch
auf das ganze Geschlecht
den
Fehltritt
das
Vergehen
durch
gemeinsame
des
herabgezogene
n ä c h s t unter den N a c h k o m m e n Schlechtigkeit
folgende
Ahnherrn
Fluch, der
zu F r e v e l n
des A h n h e r r n
zu-
f ü h r t , die an weit
hinter
sich l a s s e n , w i r d g e t i l g t d u r c h ein Glied d e s G e s c h l e c h t s , welches
auf
wund e r b a r e Weise
sich
Verhältnisses zur Gottheit bewusst Gott
zugewandtem
zeugung
von
der
Sinn
die ihm
Möglichkeit
den Seinen übermittelt.
eines
wird
besonderen
u n d in
innewohnende
der
Tilgung
des
reinem, UeberFluches
D i e s e M ö g l i c h k e i t l i e g t in e i n e r
inneren Umwandlung
der Fluchbetroffenen, welche durch
die E i n w i r k u n g
entsühnenden
der
Persönlichkeit
ver-
— anlasst liches
wird und
und
in
der
religiöses
auf die A n d r e n
56
—
Richtung
Leben
von
verläuft, jener
dass
sitt-
Persönlichkeit
Ubergeht.
Ich h a b e diesen Vergleich d u r c h g e f ü h r t , nicht weil ich meinte, dass Goethe eine solche Anlehnung beabsichtigt h a b e , s o n d e r n weil ich allerdings glaube, dass hier eine, wenn auch unbewusste, Einwirkung
christlicher
s ü h n u n g eines Geschlechts
Anschauungen stattgefunden
fluchbeladenen
war
Geschlechts durch
der Vorwurf
seiner
hat.
Dichtung.
ganz n a t ü r l i c h , w e n n die Art der E n t s ü h n u n g
Die
Ist es sich
dieses
da
ihm
Das besondere Verhältniss Iphigeniens zur Gottheit h a t Iphigenien
gerettet und
zu
ihrer
nicht
ähnlich
der Auffassung gestaltete, die das Christenthum ausgebildet Diana
Ent-
ein Glied
hatte?
bot die S a g e :
Priesterin
gemacht.
Darauf g r ü n d e t Goethe ihre sittliche und religiöse Entwicklung zu innerlichem
Priesterthum.1)
Das eigene Leid wendet Iphigeniens
Seele auf den Fluch des Geschlechts, aber nicht in d e r trostlosen Weise, wie dies bei Orest geschieht, s o n d e r n in Hoffnung auf Ents ü h n u n g , entsprechend der persönlichen L e b e n s e r f a h r u n g göttlicher Güte.
Dass sie zu dieser E n t s ü h n u n g berufen sei, wird
Die Bedeutung des Opfers in Aulis der W i r k u n g auf Iphigenie,
zunächst
liegt also für mich nur
nicht etwa darin,
dass diese,
in
als ganz reine
Persönlichkeit, damals sündenfrei ihr Leben für Andre gleichsam hingegeben habe.
Bielschowsky meint:
opfern, dieses Aulis,
Sterben
das andere Mal
„Bei Iphigenie
zweimal durch
erfolgt, das
war symbolisch
dieses
Hin-
das eine Mal am Opferaltar
Verbanntsein
in
Tauris.
Und
in
ohne
Murren, in freier Liebe und in vollkommenem Gehorsam g e g e n den Rathschluss der Götter hatte sie das Opfer gebracht.
Dadurch war
sie
nicht
bloss selbst geheiligt, sondern auch fähig geworden, Andere, die sich von ihrer Heiligkeit
innerlich
berühren
Hessen,
zu
nicht Goethes Ansicht war, ergiebt sich daraus,
entsühnen."
Dass
dies
das in seinem Drama gar
nichs davon steht, ob Iphigenie ohne Murren, in freier Liebe und in vollkommenem Gehorsam g e g e n A u l i s gebracht hat. des Euripides.
den
Rathschluss
der Götter
das
Das weiss Bielschowsky aus der Iphigenie
Opfer in
in
Aulis
Gewiss trauen wir es auch der Goetheschen Iphigenie zu.
Aber Goethe hätte
es sicher hervorgehoben,
wenn er darauf
Befähigung zur Entsühnung begründet glaubte.
Iphigeniens
—
57
—
Iphigeniens stille Hoffnung, dass diese E n t s ü h n u n g n u r mit reiner Hand
und
reinem
Ueberzeugung. füllung ihres
Herzen vollbracht werden k a n n ,
In Orests Kommen Höffens.
Wie
ihre
lautere
sieht sie den Anfang der Er-
die Erfüllung weiter v o r sich
gehen
werde, sucht sie nicht zu e r g r ü n d e n , denn die Götter wissen allein, was
uns f r o m m e n mag, und s c h a u e n
Reich. legt
Aber gerade d a d u r c h , dass
und
sondern Weise
ihren nur
natürlichen
fühlt,
wirkt
auf Orest und
der Z u k u n f t
sie dies
Regungen
sie
in von
übermittelt
folgt, ihr
ihm
ausgedehntes
in der Götter Hand nicht
untersucht,
selbst nicht
geahnter
die Anschauung,
nicht verloren, s o n d e r n zu Aller Rettung berufen
dass er
sei.
Die Auf-
fassung der Lage ü b e r n i m m t sie dann von Pylades, a b e r bald sagt ihr das innere Gefühl, dass der empfohlene Weg ein Irrweg sei. Unfähig, dies Gefühl mit G r ü n d e n
zu verlheidigen,
zuletzt doch zum Rechten d u r c h .
Was aber giebt i h r e r Scheu vor
ringt sie sich
Lüge und U n d a n k b a r k e i t im entscheidenden Augenblick die siegende Macht? Das Bewusstsein,
n u r mit reinem Herzen u n d mit reiner
Hand ihr Haus entsühnen zu können, und
das Vertrauen auf die
Götter, welche die Wahrheit verherrlichen w e r d e n , lassen sie Unmögliche wagen.
Indem sie a u c h jetzt,
ohne zu
ihrem reinen Gefühl folgt, rettet sie nicht n u r sich der Götter in ihrer Seele, s o n d e r n
das
untersuchen, und das Bild
bewirkt weiter, dass
sittliches
und religiöses Leben von ihr auf Andre übergeht. Nach ganz a n d e r e r Richtung als K. thias
in
der
oben
angeführten
W e l t a n s c h a u u n g in unserem
Drama.
in der Darstellung des Orest. horchend,
aber
mit
') D a g e g e n
Dass
fragt K. Heinemann
dass Orest seine That bereut?
Fischer
verfolgt M a t -
die S p u r e n findet sie
dieser,
die Möglichkeit
„Wo steht in dem
Blutrachc zu seiner That
Er
tiefem Widerwillen
seine u n b e d i n g t e R e u e 1 )
Jahrbuch 1899):
Schrift
die
zwar
christlicher
hauptsächlich der
Mutter
Sitte
tödtet,
der Versöhnung
(Die Heilung des Orest.
Drama auch
nur
gedass
bietet,
Goethe-
ein Wort
davon,
W i e sollte er auch, da ihn das Gesetz der
verpflichtete....
den Tod wünscht er sich,
nicht
weil er bereut, sondern weil er eine so furchtbare That hat begehen müssen,"
— dass sein reuiges
freies, auf k l a r e r Bekenntniss
die
58
—
Erkenntniss
Heilung
des
einleitet,
Frevels
beruhendes
erinnere
vielfach
christliche G l a u b e n s l e h r e u n d christliches G l a u b e n s l e b e n . Heilung selbst Seelenlebens
sei d e r
geheimnissvolle V o r g a n g
dargestellt, „ d e n
w i r in
m i t dem N a m e n „ G n a d e n w i r k u n g " „Durch
Zuhiilfenahme
der
Lehre
im
der Sprache
zu bezeichnen von
der
an
In Orests
Bereich des
des
Glaubens
gewohnt
sind".
Gnadenwirkung
allein
k ö n n e n wir e i n i g e r m a s s e n v e r s t e h e n u n d n a c h e m p f i n d e n , wie Orest frei wird von bringender
dem
gedrückten
Satzungen,
der Rechtfertigung.
Dieses G e f ü h l d e r
halb schlummert beim Erwachen gebracht durch das
Zustande
unter
dem Joche
u n d wie e r versetzt wird in des
den
Rechtfertigung,
Orest, w i r d
zum
fluch-
Zustand d a s noch Erwachen
Gebet d e r I p h i g e n i e (III, 3), w e l c h e mit P y -
lades z u s a m m e n zu d e m vom S c h l u m m e r
erwachenden
in d e r T r a u m v i s i o n b e f a n g e n e n B r u d e r t r i t t . "
und
noch
M a t t h i a s vergleicht
Heinemann beachtet nicht, dass Orest zwar durch das Gesetz der Blutrache sich zur That verpflichtet glaubte, dass er aber diesem Gesetz nicht als einem sittlichen Zwange folgte, sondern es leidenschaftlich aufgriff. Der Frevel gegen die Natur erschien ihm gesetzlich geboten, aber zugleich trieb ihn „die brennende Begier, des Königs Tod zu rächen", und sie wuchs wohl nicht zum Wenigsten aus der Lust zu grossen Thaten, denn als solche konnte die Rache um so leichter erscheinen, je mehr das natürliche Gefühl widerstrebte. Daher nicht nur der Zweifel, ob er recht gethan, sondern auch die Reue darüber, dass er gegen das natürliche Gefühl gehandelt. Diese Reue klingt aus seinem Bekenntniss vor Iphigenien deutlich heraus, und wenn im vorhergehenden Gespräche mit Pylades stärker die Vorstellung betont wird, von den Göttern zur That erkoren zu sein, so schliesst dies das Gefühl der Reue nicht aus, weil der „Wink" ihm nicht nur von aussen, sondern auch von innen gekommen war und das Bestimmende in seiner eigenen Brust gelegen hatte. Seitdem hat eigene Erfahrung ihn das natürliche Verhältniss zur Mutter anders würdigen gelehrt, und wenn er sich selbst auch die Frage nicht vorlegt, so würde er, in die damalige Lage, aber mit der jetzigen besseren Erkenntniss versetzt, den Ruf zu einer That, die er so gern ins klanglos-dumpfe Höhlenreich der Nacht verbergen möchte, kaum als Götterwink deuten. Treibt die innere Wirkung des Erbfluches nicht zur Frevelthat, so ist die äussere erfolglos, weil der schwache Punkt fehlt, an dem sie den Hebel einsetzen kann.
—
59
—
den Zustand des Goelheschen Orest nach der T h a t 1 ) dem Sein des w i e d e r g e b o r e n e n Menschen, der zum Ebenbilde Gottes e r n e u e r t ist, und der von der Knechtschaft u n t e r der S ü n d e hiniibergeht in die Freiheit d e r Kinder Gottes (Röm. 6, 1 5 — 2 3 ) . In diesen A u s f ü h r u n g e n liegt gewiss vieles Richtige, wenn ich auch gegen Einzelnes Widerspruch erheben möchte. Vor Allem gegen die Ans c h a u u n g , als könnten solche Ausblicke in die christliche Glaubenslehre u n s Manches verständlicher machen, was auf den ersten Blick bei Goethe dunkel erscheint. Zwar meint M a t t h i a s , dass die U m w a n d l u n g im Innern des Orest uns in a l l e n ihren Einzelheiten ein unerforschliches Geheimniss bleibt, aber kann er sie v e r s t ä n d licher m a c h e n durch Hinweis auf ein doch mindestens ebenso u n erforschliches Geheimniss? Sollte wirklich die christliche Lehre von der W i e d e r g e b u r t Goethe bei der Heilung des Orest vorgeschwebt h a b e n , so hat er eben gezeigt, wie ihm eine E r n e u e r u n g des Menschen o h n e Z u h ü l f e n a h m e aussermenschlicher Kräfte möglich erschien. Er hätte das Geheimniss der W i e d e r g e b u r t unserem Verständniss n ä h e r gerückt, indem er es in einem Einzelfall auf rein menschliche und daher u n s b e k a n n t e r e Kräfte z u r ü c k f ü h r t e , und wir würden an den Spruch der zahmen Xenien e r i n n e r t : W a s war' ein Gott, der nur von aussen stiesse, Im Kreis das All am Finger laufen l i e s s e ! Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in sich, sich in Natur zu hegen, So dass, was in ihm lebt und webt und ist, Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermisst.
Zu
gleichem
Ergebniss
die M a t t h i a s erwähnt.
führt
u n s eine Aeusserung Goethes,
Dieser f ü h r t nämlich an, das Goethe gerade
in der Zeit zwischen der Entstehung der Iphigenie und ihrer Umarbeitung
in Verse
c h r i s t e n " bezeichnete,
sich Lavater g e g e n ü b e r als „decidirten Nichtlässt sich aber d a d u r c h ,
') S. 34 der Matthias'schen Schrift. der Heilung".
Denn wenn auch die Reue
gewiss mit Recht,
Ich würde lieber sagen nach
der That begonnen
„nach hat,
als „wiedergeboren" kann man Orest doch erst nach der Heilung ansehen, als er das Vertrauen auf die Gnade der Götter wiedergefunden hat.
—
nicht
abhalten,
60
zu u n t e r s u c h e n ,
—
wie weit
christliche
Denk- und
Gefühlsart, j a selbst christliche L e h r e auf u n s e r Drama eingewirkt hat.
Aber
ich
möchte den möglichen Umkreis j e n e r Wirkungen
bestimmter fassen.
In jenem Briefe an Lavater vom 29. Juli 1 7 8 2
sagt Goethe von sich, christ, also
aber
doch
dass er „ z w a r kein Widerchrist,
ein
decidirter Nichtchrist" sei.
dem Christenthum
christ"),
er
ist
sogar
nicht von
feindlich gegenüber christlicher
kein Un-
Er stellt sich („kein
Wider-
erfüllt
(„kein
Gesittung
U n c h r i s t " ) , aber er lehnt trotzdem entschieden die christliche Lehre ab.
A n d e r s sind die W o r t e wohl nicht zu verstehen.
am Christenthum
abstiess,
desselben J a h r e s a u s 1 ) :
spricht
er
im
Briefe
Was Goethe
vom
9. August
„Du hältst das Evangelium, wie es steht,
f ü r die göttlichste Wahrheit, m i c h w ü r d e eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, Feuer
löscht,
Todter
dass
dass das Wasser b r e n n t und das
ein Weib
aufersteht,
vielmehr
ohne Mann gebiert, halte
ich
dieses
u n d dass ein
für
Lästerungen
gegen den grossen Gott und seine Offenbarung in der Natur. findest
nichts schöner als das Evangelium,
Du
ich finde tausend ge-
schriebene Blätter aller u n d n e u e r von Gott begnadigter Menschen eben
so schön,
und
Und so w e i t e r ! "
Er
der Menschheit nützlich u n d betrachtet
also
unentbehrlich.
die biblischen Schriften als
menschliche Erzeugnisse und lehnt den Glauben an W u n d e r ab als Lästerung Natur.
gegen
den grossen Gott und seine Offenbarung in der
Hieraus folgt, wie mir scheint, dass auch in der Iphigenie
j e d e s W u n d e r , jedes Eingreifen einer übernatürlichen Macht in die seelischen Vorgänge ausgeschlossen ist, und dass f ü r Orests Heilung nicht ein geheimnissvoller Act göttlicher Gnade, eine „ u n m i t t e l b a r e Einwirkung Gottes
auf die Seele des Menschen" in Anspruch ge-
n o m m e n werden darf.
Nur mit rein menschlichen Vorgängen u n d
Einflüssen haben wir es zu t h u n .
Und hier k o m m e n wir auf den
Grundunterschied zwischen der christlichen Lehre und der Humanitätsanschauung.
Dort
hier G e b r e c h e n
heissen und
die
reine
Gegensätze S ü n d e Menschlichkeit.
und
Dort
Gnade, kann
') H. F u n c k , Goethe um! Lavater, Weimar, 1901, S. 211 f.
die
-
61
—
Rettung n u r von aussen k o m m e n , sei es in der einmaligen Christusthat,
sei
besinnt
es
im
fortlaufenden Wirken
sich gleichsam
Bestimmung, veranlassen,
und
die Mächte,
stammen
des heiligen Geistes,
hier
die Seele der ihr eingeborenen Kraft und die sie zu dieser
Selbstbesinnung
aus der Menschheit selbst.
W e n n wir den
oben angefühl ten Spruch d e r zahmen Xenien a n w e n d e n , so lautet dieser U n t e r s c h i e d :
dort
stösst Gott
von aussen,
hier bewegt er
von innen. Doch auch wenn wir hiervon absehen, besteht ein erheblicher Unterschied zwischen der W i e d e r g e b u r t nach christlicher Lehre und der Heilung des Orest. und
Dort ist die Erleuchtung ü b e r unsere S ü n d e
ü b e r die Gnade Gottes das Umstimmende.
Der
Erleuchtung
ü b e r die S ü n d e entspricht Orests Seelenzustand, als er sein S c h u l d bekenntniss
vor Iphigenien
ablegt:
Anerkennung
seines
Frevels,
tiefe R e u e u n d Verlangen nach Befreiung von der Schuld ist gewiss in ihm v o r h a n d e n . über
Aber n u n schliesst sich nicht die Erleuchtung
die göttliche Gnade an,
dieselbe:
das Bewusstsein
s o n d e r n die Heilung geschieht ohne
göttlicher Gnade
ist
nicht der Grund,
s o n d e r n die Frucht seiner U m w a n d l u n g . Gewiss Hindernisse
können
wir
mit
einiger Gewaltsamkeit
des Vergleichs w e g r ü c k e n .
noch
einige
Wir k ö n n e n Iphigenie als
die Vermittlerin göttlicher G n a d e betrachten und die Verschiedenheit der U m w a n d l u n g wärtig der,
und
welche
der
seiner Bekehrung gewesen,
davon
in Gefahr
so
herleiten, ist.
dass diese Vermittlerin
Wir hätten dann
fränkische Chlodwig ausrief: „ W ä r e
sich
eine Lage
vorstellte,
als er bei
ich mit meinen Franken
hätten sie Christum nicht g e k r e u z i g t ! "
gegenähnlich dabei
Aber besser
ist es, den Unterschied, der nun einmal besteht, nicht zu verwischen und ihn lieber auf den vorher in der G r u n d a n s c h a u u n g nachgewiesenen zurückzuführen:
die
Sünde
ist
seit Adams Fall
dem Menschen
natürlich und die Erlösung n u r durch einen von aussen erfolgenden göttlichen Eingriff gehen
möglich;
des Tantalus
Rückkehr
zur
w a h r e n Natur
Wirkung b e r a u b t .
das G e b r e c h e n ,
seinem Geschlecht
das seit dem Ver-
anhaftet,
des Menschen
wird
seiner
durch die
verderblichen
Wir könnten in H e r d e r ' s Ausdrucksweise s a g e n :
—
62
—
die A r t des Menschen wird von der CJnart, also dem,
was nicht
zur Art gehört, gereinigt. Schon in Agamemnon war die „Humanität" zum Theil wieder durchgebrochen, in Iphigenie war sie herrlich aufgeblüht, die echt menschlichen Regungen der Liebe zur Schwester und mit
des Drangs
zu helfen
dieser Heilung
ist
bewirken die Heilung des Orest,
und
auch das dem Menschen als „Anlage und
Bestimmung" gegebene,
aber
von Orest
verlorene Vertrauen
zur
Gottheit ihm wiedergekehrt. Aber
Goethe
schrieb
ja
auch
seine
Iphigenie
„aus
einem
Studium der griechischen S a c h e n " , das er freilich später als unzulänglich
ansah.
Können
wir
nun
die
Anschauung,
dass
reine
Menschlichkeit alle menschlichen Gebrechen sühne, im Griechenthum wiederfinden, da sie im Christenthum vergebens gesucht wird? Da es sich um eine philosophisch-religiöse Frage handelt, werden wir uns am besten an die philosophischen Vertreter der klassischen Zeit Griechenlands
wenden,
zumal
diese auf den deutschen Geist
besonderen Einfluss geübt haben und nicht zum wenigsten gerade im 18. Jahrhundert. Nach Plato ist, wie in der äusseren Natur, so auch im menschlichen Leben ursprünglich Alles harmonisch geordnet; Irrthum,
der
ein
scheinbares Glück
hat diese Ordnung
gestört,
menschlicher
für das wahre Glück nahm,
aber der Mensch besitzt die Fähigkeit
und die Aufgabe, j e n e Harmonie wieder herzustellen und damit das wahre Glück, das nicht in Qual endet, zu erlangen. Gnade
verhilft
Thätigkeit indem
ihm
gelangt
er nicht
dazu,
sondern
in
freier
und
der Tüchtige zu rechter Einsicht und Tugend,
den Anderen,
sondern sich und den Göttern
fallen, nicht gut scheinen, sondern gut sein will. zum Wahren
Nicht göttliche
Entscheidung
und Guten
geschieht
dadurch,
ge-
Diese Wendung
dass die Seele sich
auf ihren ursprünglichen — nach Plato vormenschlichen — Zustand besinnt
und
zu
ihrer
eigentlichen
Natur
zurückkehrt.
Freilich
gelingt dies nur Wenigen, und von grossem Einfluss ist hierbei die Abstammung,
da
die Eigenschaften
der Eltern sich
gern auf die
Kinder vererben. Finden wir so schon bei Plato
die Anschauung von
mensch-
— licher „ A r t " durch
und „Unart"
die A b s t a m m u n g
63
und
—
von
beeinflusst
der Möglichkeit wird),
ohne
göttliche That sich von j e n e r Unart zu befreien
eine
(die
sogar
besondere
u n d zum wahren
Wesen z u r ü c k z u k e h r e n , so noch viel deutlicher bei Aristoteles, bei dem
wir
noch
seines Volkes
mehr erwarten dürfen,
zu treffen,
weil er vom
verbreitete Anschauungen hohen u n d daher oft ein-
samen Flug Piatos h e r a b l e n k t e z u r Wirklichkeit, wie sie griechischem Auge sich d a r b o t . Gerade
im Sinne
alle Schlechtigkeit
des Aristoteles kann
ein Gebrechen
nennen,
m a n alles Uebel u n d denn es offenbart sich
darin eine Unvollkommenheit: die Form hat den Stoff nicht völlig durchdrungen.
Die
menschliche E i g e n t ü m l i c h k e i t
besteht
darin,
sich nach der Vernunft zu richten, aber diese Richtung der ist
zunächst
n u r als Anlage v o r h a n d e n
werden,
damit
erlangt
werde.
Seele
und m u s s erst entwickelt
die menschliche Art und damit die Glückseligkeit Die Vernunft
giebt
die rechte Richtung f ü r das
Denken u n d Streben an, indem sie das Ziel menschlicher Bethäligung erleuchtet.
Wer
sich
W a h r e n u n d Guten.
ihrer
Leitung
anvertraut,
fühlt Lust
am
Dies ist der naturgemässe Zustand, der a b e r
d a d u r c h gestört werden kann, dass die Leitung d e r Vernunft nicht beachtet wird und an Stelle des Guten Nützliche als Ziel tritt. Lichte
der V e r n u n f t
das A n g e n e h m e oder das
Es gilt also, das Ziel im stets strahlenden
ins Auge zu fassen,
damit die Lust wieder,
wie es i h r e r eigentlichen Natur entspricht, auf das Gute geht u n d ihr
diese Richtung zur Gewohnheit wird.
von aussen, das Ziel
Hierbei hilft kein Gott
wohl aber ist die u n s eingeborene Vernunft, die uns
erleuchtet,
göttlichen Wesens.
Bethätigt
sich die Seele
im Sinne dieser (schaffenden) Vernunft, dann ist u n s e r e Natur u n d Bestimmung erfüllt: die schaffende Form — die V e r n u n f t — und der Stoff — die Seele — sind eins geworden. mangelhaft,
Ist diese Durchdringung
so ist der Zustand einer Krankheit vergleichbar,
wir
haben eben, um mit Goethe zu r e d e n , menschliche Gebrechlichkeit vor u n s . Wir finden also bei Plato wie bei Aristoteles einen Gegensatz, den
man
wohl
mit
den Worten
„menschliches G e b r e c h e n "
und
— „reine
Menschlichkeit"
wahren
menschlichen
64
—
bezeichnen Art
erfolgt
kann. bei
Der
Plato,
grösseren Kluft zwischen beiden Zuständen,
Uebergang
zur
entsprechend
der
mehr
in
einmaligem
gewaltigen Entschluss, bei Aristoteles mehr in langsamer Entwicklung, aber bei Beiden, ohne dass ein b e s o n d e r e r göttlicher Eingriff S ü n d e und Gnade in christlichem Sinne finden sich
nöthig wäre. nicht,
wohl
aber
ein
hohes Zutrauen
zu
der
nach
Sittlichkeit
strebenden menschlichen Kraft, die freilich n u r bei Wenigen wirksam erscheint. Wenn wir jedoch n u n das griechische Menschheitsideal seinem Inhalt nach betrachten, dann schwindet die Aehnlichkeit mit Goethes „reiner Menschlichkeit". h ö h e r gestellt.
Auf
Zunächst
wird die Erkenntniss dort viel
dem Wissen b e r u h t die Tugend,
und
daher
ist bei Plato der w a h r h a f t t u g e n d h a f t e Mensch der Philosoph,
der
sich
hat.
durch Denken
über
die
sinnlichen Eindrücke
erhoben
Denn die Sinne verdunkeln, n u r reines Denken ergreift die W a h r heit.
Reine Glückseligkeit
und
reine Tugend müssen erst geistig
geschaut w e r d e n , damit sie dem Leben mit Bewusstsein werden k ö n n e n .
eingeprägt
Besteht doch die Wurzel aller T u g e n d ,
die Ge-
rechtigkeit, darin, dass j e d e r Theil das Seine thut und Andere an der Erfüllung
ihrer Aufgaben nicht hindert.
der Erkenntniss, w a s Jedem zukommt.
Sie b e r u h t also auf
Der Philosoph wird daher
n u r u n g e r n dem reinen Denken entsagen, um sich an der Leitung des Staates zu betheiligen; thut er es aber zum Besten der Uebrigen, dann wird er diesen durch jedes Mittel zu helfen s u c h e n diesem Zweck selbst die Unwahrheit nicht z u , s c h e u e n Auch Aristoteles aber
er
malt
Charaktere aus, stehen
als
mit
schätzt das Denken h ö h e r als das Handeln, grosser
Liebe
Piatos sich
und
Anschaulichkeit
gewisse
die dem griechischen Lebensideal offenbar n ä h e r wahrer
Philosoph.
schildert er den „Grossgesinnten", Gesinnung,
und zu
haben.
dieser Grösse
Mit
der,
auch
vollem Recht auf Andere herabsieht.
besonderer
Neigung
gross an Tüchtigkeit und
bewusst ist u n d daher mit Gern ü b t er Wohlthaten aus,
aber solche a n z u n e h m e n schämt er sich und vergilt sie mit grösseren. F r e m d e r Hülfe
bedarf
er
nicht
oder k a u m ,
wohl aber dient er
—
65
—
bereitwilligst Änderen. Stolz gegen Höherstehende, Uberhebt er sich nicht gegen gewöhnliche Menschen. Nur um Grosses und Rühmliches regt er sich. Furchtlos zeigt er Hass und Liebe, kUmmert sich mehr um die Wahrheit als um die Meinung, redet und handelt offen, denn er ist freimUthig, weil er Andere verachtet, daher auch wahrhaft, ausser wenn er dem gewöhnlichen Volk seine Ueberlegenheit verbirgt. Er lebt nicht für Andere, als etwa für einen Freund, denn das Gegentheil wSre knechtisch; er neigt nicht zu Bewunderung, denn nichts ist ihm gross. Er trägt nicht nach, denn es ist nicht seine Art, erlittenen Unrechts zu gedenken, sondern lieber zu Ubersehen. Er liebt nicht Gerede Uber die Menschen, weder Uber sich noch über Andere, denn ihm liegt weder an eigenem Lob noch am Tadel Anderer; doch neigt er auch nicht zu deren Lobe. Aus Noth oder um Kleinigkeiten klagt oder bittet er nicht und ist geneigter, Schönes zu erringen, das keinen Nutzen bringt, als Nützliches, denn so geziemt es dem, der sich selbst genügt. Und langsame Bewegung scheint dem Grossgesinnten zuzukommen und tiefe Stimme und ruhige Rede, denn nicht pflegt zu eilen, wer um Weniges sich ereifert, noch, wer nichts gross achtet, in Spannung zu sein; hohe Stimme u n d Behendigkeit aber kommt hierdurch. Wir mUssen gestehen, dass sowohl der Philosoph Piatos als der Grossgesinnte des Aristoteles weitab von dem Ideale der Menschlichkeit stehen, wie es Herder und Goethe vorschwebte. Ich lege geringeren Werth auf Einzelheiten, wie wenn ζ. B. Plato wie Aristoteles das Weib tief unter den Mann stellen, die Sklaverei gerechtfertigt finden und die körperliche gewinnbringende Arbeit als erniedrigend ansehen. Wichtiger ist das Folgende. Dort ist der vollkommene Mensch sich selbst genug und von hingebender Liebe weit entfernt, ja Aristoteles stellt selbst die von ihm so hoch gepriesene wahre Freundschaft zum vollen Glücke nur deshalb als nothwendig hin, weil einmal der rechte Mensch das BedUrfniss hat, Anderen wohlzuthun und es am schönsten ist, Freunden Gutes zu erweisen, und weil ferner der Mensch zum Zusammenleben geboren, dies aber besser ist mit edlen Freunden als mit Beliebigen. La e h r , Heilnng des Orest,
5
—
Dieser
66
glänzenden Vereinzelung,
—
in der der Mensch Alles danach
bewerthet, wie viel reicher und vollkommener es sein eigenes Ich macht,
stellt
sich
die Menschlichkeit
Gerechtigkeit die Liebe steht,
gegenüber,
und die nicht,
vollkommen und glückselig zu werden, denken,
in
der neben
der
um selbst gut und
sondern, ohne an sich zu
liebendem Erbarmen Anderen
zu
helfen sucht.
Mag
auch der Grossgesinnte des Aristoteles die Rache verschmähen und der
platonische Philosoph
Wurzel
sogar seinen Feinden Gutes thun,
dieser Freudlichkeit erscheint
doch nicht Liebe,
als
sondern
S o r g e für das eigene Ich. So ergiebt sich denn beim Vergleich der „Menschlichkeit" mit dem klassischen Ideal
der
griechischen
Philosophie
eine grosse
Ver-
schiedenheit des Inhalts, die sich im Wesentlichen daraus ableiten lässt, dass hier der Trieb zur eigenen Vervollkommnung, dort mit ihm zusammen Liebe den Grund bildet, wächst.
aus
dem
das Ganze er-
Und mit der Liebe paart sich in der Priesterin Iphigenie
ein Vertrauen nicht nur auch auf die Güte
auf
die Menschlichkeit Andrer,
der Götter,
gute Geschlechter lieben.
die
der Menschen
In der Götter Hand legt
sie,
am Herzen liegt, zu ihnen betet sie in jeder L a g e , dankend, sie sammelt sich im Gebet und Ruhe.
Das
ist nicht im Sinne
der
findet
sondern
weitverbreitete was
ihr
bittend
und
darin Trost
und
klassischen Philosophen,
die
wohl die Gottheit ehren und ein Hinstreben zu ihr annehmen, aber Verkehr mit ihr nicht kennen und Beistand von ihr nicht erwarten. Und wenn auch das Volk und die griechischen Dichter das Gebet häufig
anwenden,
ein
solch
Gottheit zeigt kein Grieche,
inniges,
kindliches Verhältniss
erst das Christenthum
macht mit der Vorstellung eines väterlichen Gottes.
hat Ernst
zur ge-
Freilich dürfen
wir nicht vergessen, dass — unähnlich griechischen Tragödien, in denen die Götter oft genug persönlich eingreifen — die Hülfe unsrem Drama,
wenn wir von den Ereignissen absehen,
in
die vor
dem Beginn des Stückes liegen, allein durch Menschlichkeit bewirkt und dass in diesen Wirkungen die Gnade der Götter nur von der gläubigen Seele erkannt wird. das für das Verhalten
Auf dem Boden des Christenthums,
der Menschen
unter
einander
das Gesetz
—
67
—
aufstellte „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst", ist die Humanitätsidee des 18. J a h r h u n d e r t s ihrem Inhalte nach h e r a n gereift; auf christlichem Boden ist vor Allem auch Goethes Iphigenie entstanden, die durch Liebe und gläubige Hoffnung im schuldigen Bruder die Heilung vom Fluche einleitet. Der decidirte Nichtchrist Goethe liess in der Iphigenie nicht durch göttliche Gnade die Sünde vergeben werden, sondern heilte menschliches Gebrechen durch reine Menschlichkeit; aber da er kein Wider- und kein Unchrist war, trägt bei ihm die reine Menschlichkeit christliches Gepräge. VI. Im vorigen Abschnitt ist erwähnt worden, dass Orests „freies, auf klarer Erkenntniss des Frevels beruhendes reuiges Bekenntniss die Heilung einleitet".
Matthias ward durch
christliche Glaubenslehre erinnert.
diesen Zug
hängigkeit des Stückes von christlicher Lehre ablehnen, jenem
reuigen Bekenntniss
der EntsUhnung.
vor Iphigenie
sehen in
Ich habe bisher hierüber geschwiegen,
da
mir
zu liegen
Jetzt aber, nachdem der Einfluss christlicher Anschauung
auf das Drama besprochen ist, scheint es mir Frage in
die
ein wesentliches Glied
die Bedeutung jenes Bekenntnisses in anderer Richtung scheint.
an
Aber auch Andre, die eine Ab-
weiterem Zusammenhang
dabei an die Darstellung W o h l r a b s 1 ) ,
geboten,
einzugehen.
Ich
auf
jene
halte
mich
der wohl der neueste Ver-
treter j e n e r Auffassung ist, in wichtigen Punkten übrigens sehr an Gneisse erinnert. Wohlrab geht davon a u s , dass Iphigenie nicht als die Vertreterin der reinen Menschlichkeit gelten könne, da sie unaufrichtig gegen ihren Wohlthäter Thoas verfahre, und auch, davon abgesehen, noch nicht Uberzeugend nachgewiesen sei, wie ein schuldloser Mensch als solcher einem Andern das Bewusstsein seiner Schuld a b n e h m e n könne. Auch als Priesterin entsühne Iphigenie den ») M. Wohlrab, Die Entsühnung in Goethe's Iphigenie auf Tauris. Neue Jahrbücher für Pädagogik, 2. Jahrgang. 1899. Seite 86—93. 5*
— Bruder nicht.
„Fragt man,
menschlicher Weise
68 wie
gesühnt
— menschliche Gebrechen
werden,
so
darf
in
rein
die Antwort wohl
lauten: man hat offen und unumwunden das Bekenntniss der Schuld abzulegen, man hat aufrichtige R e u e darüber zu hat die entsprechende Sühne zu geben. kann die Schuld als gesühnt g e l t e n . " sühnung seien bei Orest gegeben: hat
der Unterwelt
angehört
man so
Diese Bedingungen der Ent-
„ e r hat seine Schuld
er hat sie bereut, er hat die Qualen er
empfinden,
Ist das Alles erfolgt,
des Todes
und
bekannt,
innerlich
dort Verzeihung
erlebt,
gefunden.
Man könnte fragen, warum der Dichter alles dies so ausführlich behandelt,
wenn es
nicht
die Entsühnung
selbst
darstellen
soll".
„Aus der Betäubung erwacht, kann Orest das Gefühl haben, befreit, entsühnt zu sein. sühnt worden. gegenüber
E r wäre aber ohne
die Schwester
Sie entlockte ihm das Bekenntniss,
fühlte
er
sich
noch
mehr
als
nicht
ent-
ihrer Reinheit
Verbrecher.
Nur
sie
konnte ihm die Vorstellung erwecken, dass er durch sie den Opfertod
zu
werden
erleiden also
habe.
von
Alle
Iphigenie
Voraussetzungen
herbeigeführt,
Zusammenhang auch nur a h n t . " ähnliche Lage wie Orest. der That.
Aber
der
ohne
Entsühnung
dass
sie
den
auch Iphigenie kommt
Nur regt sich in ihr
der Zweifel
„ S o war Iphigenie durch übermächtige Verhältnisse
menschliche Gebrechen
verstrickt
ihren Nöten
gekommen . . .
zu
Hülfe
reine Menschlichkeit in
ihr,
die
worden. allen
Niemand
war
ihr
Schliesslich
war
es
drohenden Gefahren
in vor in in die
zum
Trotz zum Durchbruch kam und sie von dem Gebrechen befreite, das sie ergriffen hatte. —
So kann die reine Menschlichkeit, d. h.
die Summe aller der guten Eigenschaften, auf denen des Menschen Gottähnlichkeit beruht, die ihm verliehene Würde getrübt werden, aber sie hat die Kraft in sich, sich von der tiefsten Erschütterung wieder zu erholen, sich in ihrer Reinheit Ich
verkenne
nicht
das
wiederherzustellen."
Bestechende
dieser
Anschauung.
Gewiss, „dass gerade ein Goethe an einem antiken Stoffe christliche Anschauungen zur Darstellung gebracht haben soll,
hat wohl von
vorn herein wenig Wahrscheinlichkeit", und wenn deshalb Wohlrab die Heilung nicht durch göttliche Gnade, sondern in rein mensch-
—
69
—
licher Weise vor sich gehen lässt, so kann ich ihm nur beipflichten. Auch gegen die von ihm aufgestellte Weise der Entsühnung: offenes Bekenntniss, aufrichtige Reue, entsprechende Sühne habe ich nichts einzuwenden, wenn „die entsprechende Sühne geben" abgeändert wird in „die Strafe willig auf sich nehmen" — denn „die S ü h n e " würde für mich in diesem Zusammenhang auch Bekenntniss und Reue umfassen — , und wenn dies Schema nur für manche, nicht für jede Entsühnung gelten soll. Um so mehr Bedenken sind mir aber gegen die Anwendung dieses Schemas auf den Einzelfall des Orest erwachsen. Dass ein Mörder, der nach offenem Bekenntniss und aufrichtiger Reue im Traume oder im Delirium seine Hinrichtung erlebt, sich zunächst als entsühnt fühlt, ist mir sehr glaublich. Wenn er aber erwacht und jene Hinrichtung als Traum oder Phantasieerlebniss erkennt, wird er sich dann durch dasselbe entsühnt glauben? Wenn er es ernst mit der Sühne nimmt, gewiss nicht. Etwas ganz Anderes ist es, wenn jenes Traum- oder Phantasieerlebniss von Anderen oder von ihm selbst dahin gedeutet wird, dass es von Gott oder vom Schicksal ihm an Stelle des Todes gesandt sei, damit er Gelegenheit zu einem neuen, tüchtigen und frommen Leben finde. Dann fasst er aber nicht den vorgetäuschten Tod, sondern das fernere Leben als Sühne auf, und jener war nur ein Mittel, den rechten Weg der Entsühnung zu finden. Noch weniger kann bei Orest die Entsühnung in dem Bekenntniss, der Reue und dem geglaubten Opfertode des 3. Aufzugs gefunden werden. Denn ein Bekenntniss, welches zur Entsühnung gehört, wird nur vor Jemand abgelegt, dem der Reuige die Befugniss zuerkennt, zu strafen oder freizusprechen, also vor dem Richter, wenn es sich um äusserliche Sühne handelt, vor Gott oder vor der eignen Seele oder vor einem Stellvertreter Gottes oder des eignen Ich, wenn innerliche Sühne erstrebt wird. Orests Richterin ist Iphigenie nicht; denn selbst die Anschanung, dass Iphigenie als einzig überlebende Geschlechtsgenossin, die unbetheiligt ist am Morde Klytämnestras, diesen zu rächen oder zu strafen habe, fällt für das B e k e n n t n i s s in sich zusammen, da dasselbe
— Dicht der S c h w e s t e r gilt.
70
—
Ebenso w e n i g kommt die Stellvertreterin
der Gottheit als solche in Betracht,
denn Orest
Priesterin, sondern zur Unbekannten, lischen
redet
nicht
zur
die ihm gleich einer Himm-
begegnet: Wider meinen Willen Zwingt mich dein holder Mund; allein er darf Auch etwas Schmerzliche fordern und erhält's.
Und er entdeckt seinen Namen, weil er die T ä u s c h u n g Ich kann nicht leiden, dass du, grosse Seele, Mit einem falschen Wort betrogen werdest. Ein lügenhaft Gewebe knüpf ein Fremder Dem Fremden, sinnreich und der List gewohnt, Zur Falle vor die Füsse; zwischen uns Sei Wahrheit! Also beichtet er auch nicht
einer Stellvertreterin
hasst:
des
eignen Ich,
welche, rein und untadelig, unparteiischer als er selbst die Grösse seiner Schuld bemessen und die Gegenleistung bestimmen sondern er mag der V e r e h r u n g s w ü r d i g e n , Liebevollen auf ihre F r a g e nicht verweigern, und er will
nicht
könnte,
die Antwort an
der L ü g e
betheiligt sein, die P y l a d e s sinnreich f ü r die F r e m d e geknüpft hat. Doch wenn auch Orests Erzählung obigem Sinne sein s o l l ,
so könnte
es
nicht
ein Bekenntniss
doch
im
weiteren
in
Verlauf
der Handlung die Wirkung eines solchen haben, indem Orest nachträglich Iphigenien Eingeständnisses könnte Altar."
an
die
ihm
die Worte
Als
Befugniss Strafe
Priesterin
oder
denken:
zuerkannte, Lösung
auf
zu
Grund
seines
verkünden.
Man
„ G u t , Priesterin!
im Auftrag
der Götter
ich
und
folge zugleich
zum als
Schwester und Richterin legte Iphigenie dem Reuigen die sühnende Strafe auf.
A b e r auch diese A u f f a s s u n g w ü r d e dem Vorgang nicht
gerecht, sie haftete am Aeusseren und Sache.
träfe
nicht
den K e r n
der
Denn nachdem Orest seine That berichtet und tiefe R e u e
dabei gezeigt hat, geht in dem Augenblick, da er in Iphigenie die Schwester
erkennt,
erfüllt ihn die R e u e
eine Umwandlung
in
über sein V e r b r e c h e n ,
ihm vor. sondern
das Entsetzen v o r dem Fluche seines Geschlechts.
Nicht ihn
mehr ergreift
Nicht die S ü h n e
—
71
—
für seine That, sondern die letzten Greuel des Tatalidenhauses soll die Sonne sehen; Wie sich vom Schwefelpfuhl erzeugte Drachen, Bekämpfend die verwandte Brut, verschlingen, Zerstört sich selbt das wüthende Geschlecht.
Gewiss, er sehnt sich nach dem Tode, aber er begrtisst diesen nicht als Sühne seiner Schuld, sondern als willkommenes Ende des Stammesfluches, der ihn zu Grunde gerichtet hat. Noch andere Erwägungen verbieten, obige Art der Entsilhnung anzunehmen. Erkenntniss der Schuld und Reue hat Orest auch früher gehabt, ebenso Ergebung in den Tod, ja den Wunsch danach. Dass er nun die Erkenntniss der Schuld und die Reue vor Iphigenien äussert, ist ihm gewiss schwer, aber trägt es mehr zu seiner Sühnung bei als das verschwiegene Durchdenken und Fühlen vorher? Ich verstehe wohl, dass G n e i s s e in der Erzählung vor Iphigenie etwas Besonderes erblickt, weil bei ihm die Vorstellung von der Nothwendigkeit eines B ü r g e n dem Vorgange Bedeutung verleiht. Er führt aus, Orest habe im Bericht über seine Frevelthat, im Bekenntniss zu ihr, endlich in der Bereitschaft zum Tode, während er für Iphigenie und Pylades glückliche Heimkehr erflehe, den Willen bewiesen, das Gute zu thun und das Schmerzlichste zu erleiden. Nur aber müsse das Bewusstsein, dass das, was er leistete für das Verbrechen, die Schuld aufwiege, die Ueberzeugung, dass er seine sittliche Reinheit wiedergewonnen, ihm von aussen bekräftigt werden. Er müsse einen Bürgen haben für die Idee, dass Schuld sühnbar sei, und dieser Bürge werde ihm in Iphigenien gegeben, die sich in herzlicher Liebe zu dem Armen neige. Auf diese Art wird es verständlich, dass die frühere reuevolle Betrachtung und die frühere Todesbereitschaft noch nicht wirksam waren, obgleich der Wille, das Gute zu thun und das Schmerzlichste zu erleiden, auch darin sich bethätigte: es fehlte eben der Bürge. Wenn aber dieser Gedanke ausfällt, wenn man mit W o h l r a b Iphigeniens Antheil an der Heilung Orests darauf beschränkt, dass sie ihm das Bekenntniss entlockt, dass er sich ihrer Reinheit gegenüber noch mehr als Verbrecher fühlt, und dass
—
72
—
nur sie ihm die Vorstellung erwecken kann, er habe durch sie den Opfertod zu erleiden, dann ist schwer einzusehen, wie diese Umstände eine so entscheidende Rolle spielen. Wenn die Einsicht in die eigene Verschuldung nicht genügt, kann da die Aeusserung derselben etwas hinzuthun, sie müsste denn ein Bekenntniss im oben festgelegten Sinne vorstellen? Das Erkennen, nicht das B e kennen ist doch wohl die Hauptsache, und letzteres hat nur den Zweck, einem zum Urtheil Berufenen den Thatbestand klarzulegen, wie er sich dem Schuldigen darstellt. Dass Orest sich der Reinheit Iphigeniens gegenüber noch mehr als Verbrecher fühlt, will ich nicht bestreiten; aber seine ganze Erzählung macht doch den Eindruck, als vergesse er dabei immer mehr seine Zuhörerin und spreche nur längst und immer wieder im Stillen Gedachtes und Gefühltes laut aus, von ihr n u r veranlasst, nicht beeinflusst. Eine w e s e n t l i c h e Steigerung seines Abscheus vor der eigenen That vermag ich nicht anzunehmen. Und endlich, gewiss, er glaubt jetzt erst den Todesstreich zu erleiden, aber kann wirklich für Orest der Traum des Todes die Strafe, „die entsprechende Sühne", sein, wenn die Gewissensqualen und das furchtbare Bewusstsein, dem Geschlechtsfluche unrettbar verfallen zu sein, die Ergebung in den Tod und die Sehnsucht nach ihm schon lange hervorgerufen haben? Denn das beachte man wohl, nicht um den Tod selbst handelt es sich hier, sondern um die Ergebung in den vermeintlichen Tod, und diese wird in Orest nicht erst durch die Begegnung mit Iphigenien erzeugt. W o h l r a b wird eben, so entschieden er sich auch gegen das Hineintragen christlicher Gedanken in Goethes Iphigenie ausspricht, noch viel zu sehr von der Vorstellung beeinflusst, auf welcher die Rechtfertigungslehre der christlichen Kirche erwachsen ist. Der Sünder bekennt, bereut und nimmt willig die Strafe auf sich; damit ist er entsühnt. Wird die Strafe von einem Anderen, Unschuldigen erlitten, und vertraut der Sünder, dass dem so sei, und dass er somit durch das stellvertretende Leiden des Anderen von den Folgen der Sünde befreit sei, so haben wir die christliche Rechtfertigungslehre. Wie diese, so ist auch die ihr zu Grunde
—
73
—
liegende Anschauung, das W o h l r a b ' s c h e Entsilhnungsschemà, Goethe und seiner Iphigenie fremd. Nicht in der Rechtfertigung, sondern in der Liebe, die zu guten Werken fleissig macht, liegt der Berührungspunkt mit der christlichen Lehre. In der Liebe zu Iphigenien und in dem Verlangen, diese Liebe in einem guten, hülfreichen Werke zu bethätigen, erkenne ich die neu erwachende Kraft, durch welche die Heilung des Orest bewirkt wird, nicht in Bekenntniss, Reue und Strafe. Auch nach meiner Anschauung ist Iphigenie dem Bruder zur Entsiihnung nothwendig, aber nicht im Sinne W o h l r a b s durch Anreiz zur Aeusserung und Bethätigung innerer Vorgänge, auch nicht, wie G n e i s s e will, als Bürge, sondern als Vermittlerin der Liebe, die zu guten Werken tüchtig macht. Nachdem ich so aus der Heilung des Orest als allgemeingültig, als typisch etwas ganz Anderes herausgehoben habe als W o h l r a b , habe ich auf dessen Frage Rede z u s t e h e n : warum hat der Dichter das Bekenntniss, die Reue und das Traumerlebniss in der Unterwelt so ausführlich behandelt, wenn es nicht die Entsiihnung selbst darstellen soll? Meine Antwort lautet in Kürze: weil das Allgemeingültige unter den besonderen Verhältnissen, die Gegenstand der Dichtung sind, eine Gestalt annimmt, in der auch die von W o h l r a b hervorgehobenen Züge — neben anderen — nothwendig sind. Ich will das näher ausführen. Im ersten Theil der Erkennungscene wirkt Iphigenie nur durch den Eindruck himmlischer Reinheit, besonnener Klugheit und liebevoller Güte auf Orest. Sie ist ihm fremd und doch voll inniger Theilnahme für sein Geschlecht und ihn. Schon ehe sie weiss, dass er Orest ist, erkundigt sie sich immer wieder nach diesem, freut sich dankbar Uber seine Rettung und fühlt nach der Erzählung von Klytämnestras Ermordung vorahnend tief das Leid des Thäters mit, den sie nicht als Mörder, sondern als Unglücklichen ansieht. Und als er ihr gesagt hat, dass er selbst Orest ist und nur ihr und dem Freunde Rettung, sich aber den Tod wünscht, ja, dass der Versuch, ihn zu retten, auch ihren Untergang zur Folge haben müsse, da erklärt sie ihm: mein Schicksal ist an Deines fest gebunden. Wir können zusammenfassend sagen:
—
74
bis hierher tritt ihm die reine Menschlichkeit einer Fremden entgegen, die gerade ihm eine besonders liebevolle Theilnahme widmet. Er fühlt ihren Einfluss auf ihn in wachsendem Masse. Wie sie ihm gleich einer Himmlischen begegnet, so kann er ihr auch Schmerzliches nicht abschlagen; er wünscht ihr Rettung, während er für sich nur den Tod begehrt; er empfindet als wohlthätig ihre Nähe, die die Furien zwar nicht verscheucht, aber doch seitwärts drängt. Den zweiten Theil der Scene nimmt die Erkennung der Iphigenie durch Orest ein. In zuversichtlicher Freude sucht Iphigenie die Erkennung vorzubereiten. Aber wenn auch der Gegensatz der Stimmung zunächst seine Verzweiflung steigert und ihre fragende Theilnahme die Marter in ihm vermehrt, so zeigt diese Wirkung doch, dass ihre Liebe und Hoffnung Eindruck gemacht haben. Als sie zuerst ihren Namen nennt, beachtet er dies nicht und weist ihre Berührung zurück, deren er sich unwürdig fühlt, allein will er den Tod voll Schmach, in sich verschlossen, sterben. Sie bleibt zuversichtlich: „Du wirst nicht untergehn," und immer liebevoller und trotz allem Schmerz zukunftsfreudig naht sie ihm, ihr Herz öffnet sich der Seligkeit des Wiedersehens, ihre Arme umfassen das Liebste, was die Welt noch für sie tragen kann. Diese zärtliche Freude versteht er nicht und nimmt sie für das Rasen einer Bacchantin oder die rasch entbrannte Liebesgluth einer Fremden. Seine Schwester Iphigenie ist ja todt. Als er aber begreift, dass sie diese todtgeglaubte Schwester ist, als sie ihm ihre Rettung durch ein göttliches Wunder berichtet, da steht ihm, durch ihre W o r t e herbeigerufen, sofort die schrecklichste Lage vor Augen: die schuldlose Schwester, gezwungen, den geliebten Bruder zu tödten. Und während die furchtbarsten Vorstellungen in ihm sich drängen, entreisst der Anblick ihrer Thränen ihm das Bekenntniss, dass er nichts so geliebt babe, wie er diese Schwester lieben könnte. Nun frage ich: würde im ersten Theile des Auftritts Iphigeniens reine Menschlichkeit sich Orest so tief einprägen können, wenn er ihr nicht seine That erzählte und deren Folgen auf sein Gemüth schilderte? War dies nicht das gegebene Mittel, ihr das edle und
reuezerrissene Herz zunächst
dem
75
—
des Erzählers
berichteten
ganz
Vorgang
zu öffnen,
zugewandte
dadurch
ihre
Aufmerksamkeit
immer mehr auch auf ihn zu lenken und ihrer Anfangs rein menschlichen
Theilnahme
noch
eine
besondere W ä r m e
rückwirkend auch ihn beeinflussen musste?
zu
geben,
die
Hätte Orest auf natür-
lichere Weise einen Einblick in Iphigeniens grosse Seele gewinnen können,
die
trotz
der S c h w e r e
des Verbrechens
im bereuenden
Thäter nur den Unglücklichen sieht und tiefstes Erbarmen mit ihm fühlt?
Und
gilt das Gleiche nicht von seinem Geständniss,
er selbst der Muttermörder s e i ? Aufklärung über
die
dass
W ä r e ohne die hierdurch gegebene
Uber das gerade und freimüthige Wesen Orests, reuevolle Verzweiflung,
seiner Schuld
erfüllt,
die
die
und
ihn aus voller Erkenntniss
jubelnde Freude Iphigeniens
über
den
wiedergefundenen Bruder und ihre Zuversicht auf die Zukunft auch nur d e n k b a r ? ja
die
Gerade sein Bekenntniss und seine B e u e geben ihr
innere Bürgschaft,
dass
nicht
er
untergehen
wird,
und
lassen die ungetrübte Lust des Wiedersehens so stürmisch hervorbrechen.
Weil er sich als verloren und
sie im Vertrauen
auf den
edlen Kern
fluchbeladen seiner
jeden inneren Widerstreit die Zuversicht zeigen.
Dies steigert
ansieht, kann
Persönlichkeit ohne
der Rettung hegen
durch den Gegensatz
und
ihrer Hoffnungen
mit
der wirklichen Lage, wie sie ihm mit der Erkenntniss ihrer Herkunft plötzlich klar wird, seine Verzweiflung, aber auch seine Liebe, und so kann der Anblick ihrer Thränen,
der ihm die Wirkung
seines
Wüthens offenbart, ihm auch das Geständniss der Liebe entreissen. Für
mich
liegt
also
die Bedeutung
des Schuld- und R e u e -
bekenntnisses zunächst darin, dass es Iphigenien mit Orests Sinnesart bekannt macht und es ihr dadurch ermöglicht, freudige
und
muthige Liebe
zu beweisen,
die hoffnungs-
die trotz Allem ihren
Eindruck auf Orest nicht verfehlt und auch in seiner qualzerrissenen S e e l e die Liebe des Bruders weckt. Zugleich
geräth
aber
dadurch,
dass
Orest
sich
durch
sein
reuiges Bekenntniss ganz in die Vergangenheit versetzt, sein Inneres in
den
wildesten Aufruhr.
hoffnungslose Verzweiflung
Die nähert
leidenschaftliche Hingabe sich
dem
„fieberhaften
an die Wahn-
—
76
—
sinn", der seine Seele den Furien zum Raube giebt. Schon hört er deren grässliches Geiachter aus der Ferne, und die Gegenwart Iphigeniens, der Himmlischen, drängt sie nur seitwärts u n d verscheucht sie nicht. Der „Anfall" zieht also herauf, aber der Einfluss der Unbekannten ist schon so gross, dass jetzt noch die völlige „ Z e r r ü t t u n g " ausbleibt; allein er weiss, dass, wenn er diesen Hain verlässt, aus der mildernden Nähe Iphigeniens scheidet, die Furien von allen Seiten aufsteigen und ihn als Beute vor sich hertreiben werden. Da erfolgt das Unerwartete: die Unbekannte, die er verehren muss und zu lieben beginnt, ist seine Schwester, ihre Berührung ist berechtigt, aber hierdurch eröffnet sich ihm die furchtbare Aussicht auf den Brudermord, die hergebrachte Sitte des alten Stammes. Man beachte, dass vorher, als die Erkennung noch nicht erfolgt war, der Fluch von ihm ausging und sich durch Berührung auf sie Ubertragen k o n n t e : Wie TOE Kreusas Brautkleid zündet sich Ein unauslöschlich Feuer von mir fort Es ist noch dieselbe Anschauung, aus der heraus Orest f r ü h e r „das Aengstliche
von seinem Schicksal"
dem Freunde geschildert hat.
Jetzt, wo er die Schwester erkannt hat, bestimmt der gemeinsame Fluch seine Vorstellungen, und er wünscht sich und den Geschwistern den befreienden Tod. geliebte Schwester Qual
endet
und
Aber der Gedanke, dass die liebevolle u n d
schuldlos ihr Qual
die That auferlegt,
begehen ist
muss,
hatte Iphigeniens Nähe die Furien seitwärts gedrängt, sie
nicht mehr beruhigend,
die seine
zu entsetzlich.
Vorher
jetzt
sondern r u f t die Furien herbei.
wirkt Der
Anfall, die „ Z e r r ü t t u n g " beginnt mit den Gesichtstäuschungen, und bald sinkt Orest in Ermattung. Wie in den früheren Anfällen wird auch in diesem „fieberhaften W a h n s i n n " Orests Seele den Furien zum Raube hingegeben, aber diese treiben ihn jetzt nicht um der Blutschuld willen gewaltig umher, sondern er wird von diesem Umhertreiben durch den Tod befreit; dass trotzdem dies Schauspiel das Grässlichste wird, macht nicht sein, ist
sondern
Iphigeniens Geschick.
die in ihm herrschende Vorstellung:
Ihr Leid,
nicht seins,
die Liebe zur Schwester
—
77
—
ist nicht nur in ihm als neues Gefühl vorhanden, sondern hat jetzt auch die frühere Versunkenheit in das eigene Loos besiegt. Also bewirken die Liebe zur Schwester und die Vorstellung der ihr drohenden Gefahr in Orest die Steigerung der Verzweiflung, die aber nicht mehr auf das eigene Verbrechen gerichtet ist, zur Höhe des Anfalls. Als nach der Ermattung die Vorstellung der Gefahr in dem Bewusstsein, gestorben zu sein, versunken ist, spiegelt jene selbe Liebe im Verein mit dem Eindruck der hoffnungsmuthigen Liebe lphigeniens sich in dem ruhig-freudigen Gefühl der Versöhnung mit der Vergangenheit. Und als so die Umstimmung erfolgt ist, kann dieselbe Gefahr, die vorher den Anfall herbeigeführt, jetzt ihre naturgemSsse Wirkung thun und zu hülfreicher That reizen. Denn die verzweiflungsvolle Erregung ist vorüber; nicht mehr sieht Orest die Furien nahen und die Schwester den Mordstahl schwingen, sondern diese steht mit dem Freunde in ruhiger Wirklichkeit vor ihm, und statt der Furien gilt es die Taurier zu bekämpfen. Noch einmal: nicht Bekenntniss, Reue und Traumerlebniss, sondern aufkeimende Liebe zur Schwester und der Drang, dieser zu helfen, bewirken die Entsühnung Orests vom Fluche des Muttermordes. Bekenntniss und Reue tragen in ihren Folgen zum Wachsthum der Liebe bei; das Traumerlebniss ist nicht der wirksamste Zeitraum der Entsühnung, sondern schliesst sich diesem als erste nothwendige Folge an. Mit der Erkennung ist das Schwergewicht von dem eigenen Fluche auf den Stammesfluch und dessen Iphigenien bedrohende Wirkung übergegangen und damit gleichsam in die Fluth des Bewusstseins der Stein geworfen, der zunächst die hohe Woge des Anfalls erregt und dann in weiterem Umkreis die ganze Seele in Mitleidenschaft zieht. Wie die ruhigeren Wellen Uber den Spiegel der Seele hingleiten, Vorstellungen und Gefühle umwandelnd, zeigt das Traumerlebniss; die eingetretene Ruhe drückt der Eintritt des Wachbewusstseins aus, mit dem jene Umwandlung vorläufig beendet ist.
— Dies
ist
78
—
meine Anschauung von der Heilung des Orest.
Ich
erwarte nicht, dass die übrigen Ausleger, die von anderen Voraussetzungen an das Stück herangetreten sind, mir beistimmen werden. Aber ich hege die leise Hoffnung, dass M o e b i u s , von dessen Ansicht ich ausgegangen stehe,
eher
bin,
sich mit der Entsühnung,
befreunden wird,
Meine Hoffnung
wie ich sie ver-
als mit den früheren Erklärungen.
gründet sich auf seinen Ausspruch:
„Hätte
man
Goethe gefragt, wie kann Entsühnung erreicht werden, so hätte er geantwortet: durch rüstige Thätigkeit, dadurch, dass man die Augen vom Vergangenen weg und auf die Zukunft richtet, durch Thaten, nicht durch W o r t e " .
Dies unterschreibe ich völlig, finde aber im
Gegensatz zu M o e b i u s die hier geforderte Art der Entsühnung in der Umwandlung des Orest dargestellt. bewirkt,
dass
die
Vergangenen weg
Liebe
zur
Die „ H e i l u n g " wird dadurch
Schwester
die Augen
und auf die Zukunft richtet,
der Geliebten zu helfen, zur That spornt.
Orests
vom
dass der Drang,
Durch rüstige Thätigkeit
im Sinne und unter dem fortwirkenden Einfluss der reinen Menschlichkeit Iphigeniens wird auch das menschliche G e b r e c h e n gesühnt werden, auf dessen Grunde die „brennende B e g i e r " zum rächenden Muttermord in Orest erwachsen war. Und auch ein Einzelbedenken, das M o e b i u s aufwirft, wird sich jetzt erledigen lassen. ich geheilt. sie
E r sagt:
„ E s heisst: von dir berührt, w a r
Die Worte stehen da, und keine Auslegerkunst kann
beseitigen."
Beseitigen
möchte auch ich sie nicht,
aber auf
dem Boden meiner Anschauung gehört geringe Auslegerkunst dazu, sie
zu
deuten,
auch
wenn
man
die allgemeine Auffassung der
„ B e r ü h r u n g " als Einwirkung Iphigeniens, weil zu ungenau, abweisen sollte.
Orest sagt gegen Ende des Stückes: Von dir berührt, War ich geheilt; in deinen Armen fasste Das Uebel mich mit allen seinen Klauen Zum letztenmal und schüttelte das Mark Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh's Wie eine Schlange zu der Höhle.
Als Iphigenie sich Orest zu erkennen giebt, umfasst sie ihn in der
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Seligkeit des Wiederfindens. Die Berührung drückt also symbolisch die Liebe, die gleichsam durch sie von Iphigenien auf Orest Ubertragen wird, und zugleich die Erkennung aus, also die für Anfall und Heilung entscheidenden Vorgänge. Endlich seien noch zwei andere Fragen berührt, Uber welche ich in meiner Einleitung kurz hinweggegangen bin. Ich nahm die Ansicht auf, dass der „Wahnsinn" des Orest kein gewöhnlicher Wahnsinn sein solle, sondern symbolische Bedeutung habe; in der Verfolgung durch die Furien veranschauliche Goethe zunächst die Gewalt des Schuldbewusstseins. Damit war aber nur gesagt, worin die symbolische Bedeutung der Furien besteht, und was Orests Wahnsinn n i c h t ist, die Frage aber nicht beantwortet, was er nun eigentlich ist. Jetzt, da der Hergang der Heilung mir klargestellt scheint, mag auch die Antwort auf jene Frage versucht werden. C h r . R o l l e r (in der Schrift von Matthias angeführt) findet es überhaupt zweifelhaft, ob wir bei Orest einen pathologischen Geisteszustand anzunehmen haben. „In einem Zustande, den man möglicherweise als geistesgestörten bezeichnen kann, erscheint Orest im Beginn von III, 3. Man könnte hier von Bewusstseinsstörung insofern sprechen, als er sich in der Unterwelt glaubt. Freilich ist es eine in solchem Grade poetisch verklärte TrUbung, dass man sich schwer entschliessen kann, anzunehmen, dass der Dichter einen pathologischen Zustand im Auge gehabt habe. Zudem schliesst sich das momentane Phantasiren Orests an die vorausgegangene Vision an. Solche Visionen aber als pathologische Zustände, wohl gar als Hallucinationen nehmen zu wollen, wUrde in die Poesie zu viel Neuropathologie und Psychiatrie hineintragen Lassen wir indessen zu, dass die Vision einem krankhaft gereizten Gemüthszustande entspringe, dann haben wir eine Störung, die im StUcke den 2. und den Beginn des 3. Auftrittes des 3. Aufzuges umfasst." Dies halte ich nicht für richtig. Der „fieberhafte Wahnsinn", von dem Pylades spricht, ist der Anfall, in welchem Orest „den Furien zum Raube hingegeben" wird. Dieser nimmt im Stück den Schluss von III, 1 ein und endet mit der „Ermattung". Orest sieht Klytämneslra und die Furien nahen, zuletzt Iphigenien den Stahl
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80
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gegen seine Brust schwingen. Dagegen stimme ich R o l l e r s Bemerkung bei: „Da Pylades von einem ,fieberhaften' Wahnsinn spricht, können wir denken, der Dichter habe auf etwas dem Fieberdelirium Aehnliches hinweisen wollen." Diese Aehnlichkeit finde ich in der Loslösung der Vorstellungen von der Wirklichkeit, nicht in den Sinnestäuschungen. Diese spielen auch ausserhalb des Anfalls bei Orest eine grosse Rolle, sobald er erregt ist, aber der Anfall ist erst da, wenn er ihnen „zum Raube hingegeben" ist, d. h. sein Verhältniss zur Aussenwelt verkennt und durch äussere Eindrücke von dieser Verkennung höchstens fiir Augenblicke abzubringen ist. Ich möchte die Sinnestäuschungen des Orest, das Sehen der Furien, das Hören ihres Gelächters u. s. w. nicht im gewöhnlichen Sinne als krankhaft bezeichnen, sondern mehr denjenigen Sinnestäuschungen anreihen, welche bei reizbaren, zumal klinstierisch veranlagten Naturen nicht so ganz selten sind. Sie treten bei Orest nur bei gemttthlichen Erregungen auf und zeigen sich inhaltlich ganz abhängig vom Vorstellungsablauf, bringen dem Bewusstsein also nichts Neues, sondern werfen nur dessen Inhalt gleichsam nach aussen. Man hat diese Erscheinungen wohl als sinnlicher Kraft" bezeichnet. „Vorstellungen von besonderer Namentlich die Visionen Orests in der Unterwelt erinnern mich an die berühmte „Sinnestäuschung" Goethes nach dem Abschied von Sesenheim, die in „Dichtung und Wahrheit" folgendermassen erzählt wird: „In solchem Drang und Verwirrung konnte ich doch nicht unterlassen, Friedrike noch einmal zu sehen. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Thränen in den Augen, und mir war sehr übel zu Muthe. Nun ritt ich auf dem Fusspfade gegen Drusenheim, und da Uberfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegenkommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz
— hinweg.
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Sonderbar ist es jedoch,
— dass ich nach acht Jahren in
dem Kleide, das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern als Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedrike
noch einmal zu besuchen.
mit diesen Dingen wie es bild
gab
mir in jenen
ruhigung.
Es mag sich
übrigens
will verhalten, das wunderliche TrugAugenblicken
des Scheidens
einige Be-
Der Schmerz, das herrliche Eisass mit allem, was ich
darin erworben, auf immer zu verlassen, war gemildert, und ich fand mich, dem Taumel des Lebewohls endlich entflohen, auf einer friedlichen
und
erheiternden
Reise
so
ziemlich
wieder".
Der
Dichter war also, wie Orest, in starker schmerzlicher Erregung gewesen; diese ist im Abklingen, und aus dem Leid der Gegenwart wendet sich das Bewusstsein einer tröstlichen Zukunft zu.
Wird
dieses zugleich durch die gegenwärtige Lage und die in der Tiefe der Seele schlummernde Hoffnung bestimmt,
so entsteht die Vor-
stellung des Wiedersehens.
Diese gewinnt bei Goethe volle sinn-
liche
der Reiter
Kraft, und so
reiten.
sieht
sich wieder zur Geliebten
Weil dies Trugbild nichts Neues enthält, sondern nur eine
Regung der eigenen Seele gewissermassen nach.aussen wirft, sieht Goethe es „nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes", und erscheint
es ihm als „ T r a u m " .
Sobald er sich aus diesem
Traume aufschüttelt, ist die Gestalt ganz hinweg, so wie die Visionen der Unterwelt verschwinden, als Orest durch Iphigenie und Pylades aus dem Traume
aufgeschüttelt wird.
Das
wunderliche
Trugbild beruhigte Goethe, weil es die
im Grunde seiner Seele
aufsteigenden tröstlichen Regungen ihm
anschaulich
herausstellte
und dadurch stärker wirkte, als wenn die blosse Vorstellung, die mit Gegenvorstellungen von viel grösserer Macht zu kämpfen gehabt hätte, wäre.
in den
Mittelpunkt
Ganz wie bei Orest.
seiner
Aufmerksamkeit
getreten
Endlich betrachtet Goethe das Trug-
bild als Ahnung, als Vorbedeutung für die Zukunft.
Auch hierin
kann man eine Aehnlichkeit mit Orests Visionen finden, die
ihm
sein Geschlecht in Frieden und Versöhnung zeigen. Ich sehe diesen Vergleich nicht als leere Spielerei an, sondern glaube aus ihm eine Gewähr für meine Ansicht herleiten zu können, L a e h r , Heilung dos Orest.
6
—
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-
dass die Traumbilder Orests in III, 2 nicht krankhafter Art, sondern den „Sinnestäuschungen
der Künstler" gleichzusetzen sind.
Dass
es sich bei Goethe um e i n Bild, bei Orest um eine Reihe von Bildern handelt, macht keinen Unterschied im Wesen aus.
der Sache
Die bei Weitem stärkere vorherige Erregung Orests, die ihr
folgende Ohnmacht und der Glaube an die Unterwelt, der „aufschüttelnde"
Gegenvorstellungen viel sicherer ausschliessen muss,
erklären die Verschiedenheit hinlänglich. Aber auch die übrigen Sinnestäuschungen Orests sind gleicher Art.
In der Erregung
der Gewissensangst entsteigen die Furien
seinem Innern, und ebenso sind die
den Mordstahl schwingende
Schwester und die in Begleitung der Furien herantretende Mutter die sinnliche Gestaltung in ihm hervorgerufener Vorstellungen. Tempelhain, wo der Gedanke des Götterfriedens
Im
oder des nahen
Todes und später die Gegenwart Iphigeniens jenen Vorstellungen entgegen und beruhigend wirkt, fallen die Sinnestäuschungen fort oder äussern sich bei Zunahme der Erregung Art.
doch in milderer
Und wie die Vision des versöhnten Geschlechts in der Unter-
welt viel blosse
grössere
beruhigende
Vorstellung,
so
Kraft
bewirken
hat als die
die
entsprechende
schrecklichen
Bilder
stärkeres Entsetzen, als das blosse Denken vermocht hätte.
weit Eine
„Aufschüttelung" ist aber hier noch schwerer möglich, weil Orest an Furien
glaubt und die Wirklichkeit ihm nichts von
Deutlichkeit bieten kann,
gleicher
was ihre Erscheinung in das Reich der
Einbildung verwiese. So bleibt als
möglicherweise
krankhaft nur die
Aufhebung
des Zusammenhangs mit der Aussenwelt übrig, die den Anfall des „fieberhaften Wahnsinns" kennzeichnet.
Diese tritt bei Orest im
Augenblick der höchsten Steigerung an sich
durchaus
motivirter
Gemüthserregungen auf und schliesst sich damit an Erscheinungen an,
wie
wir
sie
bei
gesunden
Menschen,
geringerem Grade, häufiger antreffen. einem Ausbruch
nur
gewöhnlich
in
Auch ein Gesunder kann in
heftiger Verzweiflung
die Umgebung
vergessen
und sich blind dem Gefühl und den an dasselbe sich knüpfenden Vorstellungen überlassen.
Das, was bei Orest dieser blinden Ver-
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-
ï w e i f l u n g die u n g e w ö h n l i c h e F ë r b u n g giebt, s i n d e b e n die S i n n e s t ä u s c h u n g e n , die ich n i c h t d e m Gebiet des K r a n k h a f t e n
einreihen
wollte. ' ) Im Gegensatz zu diesen Ausführungen beschränkt eine andere Auffassung den „Wahnsinn" des Orest nicht auf einzelne Anfälle, sondern sieht sein Schuldgefühl als die Krankheit an. Neuerdings wird dieser Standpunkt in gründlicher Weise von Metz (Die HeiluDg des Orestes in Goethes „Iphigenie". Preussische Jahrbücher, October 1900) vertreten, der zu folgender Fragestellung gelangt: „Da die Schuld des Orest nur in seinem Gefühl vorhanden, dieses Schuldgefühl aber seine K r a n k h e i t ist, so darf das Thema der Dichtung nicht in der Form gestellt werden: wie wird seine Schuld gesühnt, sondern es muss lauten: wie wird er von seiner Krankheit geheilt?" Krankheit und Heilung sollen also hier im eigentlichen Sinne genommen werden. Wohin diese Ansicht folgerichtig führt, zeigen folgende Sätze: „Was in Orest für unser Urtheil Krankheit ist, das ist und bleibt für ihn selbst Schuld. Daraus ergiebt sich weiter, dass in seiner Seele die Vorstellung der Schuld nur aufgehoben werden kann, wenn sie durch die Vorstellung der geleisteten Sühne ersetzt wird. Mit anderen Worten: W a s s i c h f ü r d e n o b j e c t i v e n B e u r t h e i l e r a l s H e i l u n g d a r s t e l l t , wird sich f ü r das B e w u s s t s e i n des O r e s t a l s S ü h n u n g d a r s t e l l e n m ü s s e n . " Nun kennen wir gewiss auch krankhaftes Schuldgefühl und krankhafte Schuldvorstellung, aber eine Heilung davon erfolgt dann eben nicht dadurch, dass die Schuldvorstellung durch die der geleisteten Sühne ersetzt wird. Dass übrigens auch die Umwandlung Orests nicht auf diese Weise vorgeht, glaube ich gezeigt zu haben. Die Heilung erfolgt nicht dadurch, dass Orest „den Opfertod in der Einbildung erlebt, indem er die den Opfertod, wenn er wirklich wäre, begleitende Seelenqual innerlich durchmacht" und also freiwillig die Busse erlegt. Denn die Seelenqual Orests bezieht sich j a gar nicht auf seinen Tod, den er ersehnt, sondern auf die grässlichen Begleitumstände, und diese sieht er nicht als Folge seiner Schuld, sondern als Wirkung des Stammesfluches an. Doch dies nebenbei. Für die jetzige Betrachtung ist wichtiger, dass Goethe den „Wahnsinn" Orests nicht in das Schuldgefühl setzt, auch nicht in die Vorstellung, Fluch und Tod wie durch Ansteckung auf die Umgebung zu verbreiten. Dies ergiebt sich schon daraus, dass der „Wahnsinn" nicht als dauernd gedacht ist, dass derselbe vielmehr Orest a n f ä l l t , wenn durch Freud und Schmerz und durch Erinnerung sein Innerstes ergriffen und zerrüttet wird. Der „Wahnsinn" liegt also n i c h t im S c h u l d g e f ü h l , sondern e n t s t e h t a u f d e m B o d e n d e s S c h u l d -
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Zu G r u n d e liegt also sowohl den auffallenden Zügen des Anfalls wie den übrigen Sinnestäuschungen jene b e s o n d e r e keit bestimmt organisirter Menschen, Vorstellungen in Empfindungen
die bei
Reizbar-
E r r e g u n g fähig ist,
umzuwandeln.
Diese Reizbarkeit
der Künstler, die auch Goethe besass, h a t er mit a n d e r e n von sich auf Orest ü b e r t r a g e n .
E r h a t ihre W i r k u n g e n
Zügen gemäss
der verschiedenen Ursache und Höhe der seelischen Qual u n d Err e g u n g bei Orest grossartig gesteigert, ist aber nach meinem Gefühl nicht ü b e r das hinausgegangen, was ein in jenem Sinne reizb a r e r Dichter, wie Goethe, wenn er in gleichem
Vorstellungskreise
wie Orest aufgewachsen wäre, auf gleiche Veranlassung wohl hätte in sich erleben k ö n n e n .
Ich sage mit Vorbedacht „ m e i n e m Gefühl
n a c h " , denn ein Beweis lässt sich n a t u r g e m ä s s nicht geben. In ähnlicher Weise denke ich mir
n u n auch
der Heilung Orests aus Goethes inneren hatte von Gewissensqualen
das
Er
Heilung bei Frau von Stein g e f u n d e n ,
ihm hatte ihre reine Menschlichkeit die Kraft bewiesen, Geister zu vertreiben.
Entstehen
Erlebnissen h e r a u s .
Gewiss,
der
Zauber,
der von
Stein ausging, w a r f ü r Goethe nicht ohne sinnlichen
die bösen Frau
von
Untergrund,
aber er b e r u h t e zugleich auf ihrem instinctiven Verständniss seines W e s e n s , i h r e r stets gleichbleibenden Güte, ihrer stillen, alle Leidenschaft z u r ü c k d r ä n g e n d e n gefühls. seitigung erreicht,
Er verschwindet wird
nicht
wenn wir
Liebe,
die ihm
gerade
1776—80,
also
daher mit dessen Beseitigung, aber diese Be-
„auf p a t h o l o g i s c h e m
unter diesem
nicht
ganz
(psychopathischem) W e g e " klaren Ausdruck den
Weg
der Heilung eines pathologischen (psychopathischen) Zustandes verstehen, wie dies Metz zunächst
thut.
Freilich
erklärt
er gleich darauf,
dass er
mit dem pathologischen (psychopathischen) W e g e die Einwirkungen meine, „die sich in den u n b e w u s s t e n Seelentiefen
mit naturgesetzlicher Noth-
wendigkeit,
Bewusstseins,
ohne
Mitwirkung
des
wollenden
Damit erweitert er den Begriff wesentlich, ja nicht nur im kranken, vor sich.
Ich
Dichtung
solche Wirkung
spricht,
gebe
sondern auch im g e s u n d e n Menschen beständig
daher Metz durchaus
nur kann ich
vollziehen".
denn solche W i r k u n g e n gehen
mit aller
recht,
wenn er sagt,
dass die
wünschenswerthen Deutlichkeit
aus-
deswegen diese Vorgänge nicht als „pathologisch"
im Sinne von „krankhaft" ansehen.
—
85
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zur Zeit der ersten Entstehung des Dramas ( 1 7 7 9 ) , in rein freundschaftlicher, fast geschwisterlicher Art entgegentrat, auf dem ruhigen Vertrauen, das sie ihm in dieser Zeit schenkte, und gewiss nicht zum wenigsten auf dem Bewusstsein, auch ihr nützlich und n o t wendig zu sein und seine Liebe durch die That zu beweisen. Ich habe hier weniger die zahllosen kleinen Dienste, die er ihr leisten konnte, oder seine Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder im Auge, sondern vornehmlich dies, dass er Licht und Wärme in ihr trübes und innerlich einsames Leben brachte und dadurch sie, „die manchmal wähnte, der heilige Geist des Lebens habe sie verlassen", der Heiterkeit und der Freude am Dasein wiedergewann. Alles dieses darf man nicht gering anschlagen, mag auch im Uebrigen Frau von Stein überschätzt worden sein und ihre Briefe gänzlich unbedeutenden Inhalt gehabt haben; vertrauende Liebe auf der Seite der Frau, helfende Liebe auf der Seite des Mannes vermögen diesen aus grossen inneren Nöthen zu befreien. Freilich ist es, objectiv genommen, durchaus richtig: „Goethes Nöthe waren ja nicht so schlimm: ein sitzengelassenes Mädchen oder Mangel an Befriedigung durch die Thätigkeit im Berufe." Wenn man's so nimmt, mag der geistige Verkehr und das Sichaussprechen mit einem geschätzten Weibe zur Erklärung der befreienden Wirkung ausreichen. Aber es kommt doch sehr darauf an, wie der Einzelne für solche Nöthe empfänglich ist. Goethe litt sicher zu Zeiten heftig unter ihnen. B i e l s c h o w s k y führt u. A. folgenden Beleg a n : „In den im ersten Weimarischen Jahre entstandenen „Geschwistern" hat Wilhelm, unter dessen Maske Goethe zu uns spricht, Visionen wie Orest. Er wähnt sich von den Geistern der getäuschten und verlassenen Geliebten umgeben: „Warum stehst Du da? Und Du? Just in dem Augenblicke. — Verzeiht mir. Hab' ich nicht gelitten dafür? . . . Du liegst schwer über mir, vergeltendes Schicksall" Nun mag man mit Recht in Anschlag bringen, dass für ein jedem Eindruck so offenes Gemüth auch die von M o e b i u s herangezogenen Wirkungen eines geschätzten Weibes grösser ausfallen werden, aber man darf deshalb die von mir hervorgehobenen Seiten nicht ausser Acht lassen. Für seine Iphi-
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genie hat Goethe eben nur diese verwerthet geschlossen.
und jene völlig aus-
Sagt also M o e b i u s : „ W i e Goethe Abends des Tages
Noth bei der Freundin vergass, so schwindet die Qual des Orest, als er die Schwester gefunden h a t " , so möchte ich den Vergleich dahin umändern: wie Goethe in der thatkräftigen Liebe, die er der auf seinen sittlichen Kern vertrauenden Rettung aus Gewissensqualen,
Freundin
Zweifel und Reue
entgegenbringt, findet
und
mit
frischem Muth und Hoffnung erfüllt wird, so schwindet die Qual des Orest, als er die liebende und ihm vertrauende Schwester gefunden hat und die in ihm erwachte Liebe
zu ihr in
rettender
That erweisen soll. Mit der „Substitution" in der Art, wie M o e b i u s sie annimmt, hätte Goethe allerdings „ d i e
Sache v e r d o r b e n " .
Da
er aber
die
unter a l l e n Umständen sich bewährenden Erfahrungen aus seinem Verhältnisse zu F r a u von Stein in die Iphigenie herübernahm, bat er jene allgemeingültige Wahrheit
sühnung erreicht, die deutlich aus den besonderen, der eigenthümlichen
Zügen
hervorleuchtet
so
in der Darstellung der Entund
Dichter in die Worte gefasst ist: Âlle menschliche Gebreeben Subnet reine Menschlichkeit.
später
vom
Dichtung greisen