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German Pages 194 [193] Year 1939
G O E T H E S ERLEBNIS DES O S T E N S
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GOETHES ERLEBNIS DES OSTENS VON
HANS HEINRICH SCHAEDER
tt J. C. H I N R I C H S V E R L A G / L E I P Z I G 1938
Alle Redite vorbehalten Copyright 1938 by J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig Printed in Germany Nr. 4279
RUDOLF ALEXANDER
SCHRÖDER
Z U M 26. JANUAR 1938 IN DANKBARKEIT Z U G E E I G N E T
Heilige
Poesie,
Himmelan steige sie! Qlänze, der sdhönfte Stern, 7ern und so weiter fern!
INHALT
Vorwort
1-7
8-23 Goethes Erlebnis des Oftens Goethes Gefchichtsbetrachtung um 1814(8).-Begegnung mitHafis (11).-Die Entftehung des Divans (13).-Wege in die Gefchichte(l 5).Wirkung auf das deutfdie Gefchichtsbewußtfein; Goethe und Ranke (19). - Often, Weiten, Deutfdiland (21). örtliche Wanderungen 24-61 Goethe und die Bibel (24). - Heilige Schrift und Gefdiichte (26). Persönliche Aneignung der Bibel; das Buch der Völker (28). - Biblifche Bilder und Stoffe im Schaffen des jungen Goethe (31). - Die Einwirkung Herders (33). - Eigene Verfuche (36). - Die Mahomet-Dichtung (39). -Befdiäftigung mit Orientalifdiem während der früheren Weimarer Zeit (44). - Das Jahr 1797; Studien über Ifrael in der Wüfte (48). - Fauft und Mofes? (51). - Voltaires Mahomet; der romantifdie Orienttraum; Orient und Weltliteratur (56). Die Einheit des Weft-öftlichen Divans 62-104 Motive der Divandichtung: Verwandlung, Verjüngung, dichterifche Gerechtigkeit (62). - Das Verhältnis der .Noten und Abhandlungen' zur Divandichtung: gefchichtliche Abftandnahme und diditerifdie Vergegenwärtigung (65). - Hafis und die Stilform des Divans (70).Das Buch Suleika (74). - Weft-öftliche GleichnifTe (79). - .Selige Sehnfucht' (84). - Die .Noten und Abhandlungen'; Hebräifches und Arabifches; Dichtung, Religion, Herrfchaftsform (89). - Perfifche Dichtung und Dichter; überfetzer (95). - Reifende und Lehrer; nochmals Ifrael in der Wüfte (101). Lebensansicht und lyrifche Form bei Hafis 105-122 Hafis' Leben; Wirkung feiner Dichtung (105). - Ihre Mittel und Motive; Dichtung und Rhetorik (110).-Wörtliche oder allegorifchmyftifdie Auslegung? (116). -DieVerfchränkung des profanen und des myftifchen Ausdrucks bei Hafis (120).
Die Religion im Weft-öftlichen Divan 123-138 Grundfätzliches zu Goethes Stellung zur Religion (123). - Smn und Symbole der gefchichtlichen Religionen im Divan; Goethe und das gefchichtliche Chriftentum (127).- Der Iflam im Divan; iflamifche und chriftliche Myftik; das Buch des Paradiefes; die vier reinen Elemente (134). Paria 139-155 Entftehung, Stoff und Form des Gedichts (139). - Die Geftalt der Zwittergöttin (145). - Ihr Verhältnis zur chriftlichen und zur gnoftifchen Mittleridee (149). - Das Widergöttliche und das Dämonifche (153). Anmerkungen
156-182
Schlußbemerkung
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VORWORT
Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen der Vergangenheit gestaltet, und die edite Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Besseres erschaffen 1 .
D
as deutsche Volk ist in neue Lehrjahre eingetreten. Es lernt die Aufgabe sehen, die das mit Goethes Tode beginnende Jahrhundert nicht zu lösen vermocht, ja für unlösbar erklärt hat, und an deren Lösung Bestand und Fortgang der abendländischen Kultur hängen: die Aufgabe, Masse wieder Volk werden zu lassen. Ein neues Erlebnis der Gemeinschaft schickt sich an, den Drude formlosen Massendaseins so aufzulösen wie die 'ungenügende Selbstsucht' dessen, der sich durch Flucht in die Einsamkeit zu behaupten glaubt. Was einer heute ist, das hängt davon ab, wieweit er sich an seinem Teil dieser einen Aufgabe gewachsen zeigt. Von dem Lernenmüssen, um das es geht, ist niemand ausgenommen. Keiner darf glauben, es gebe überlieferte Formen der Weltansicht, die genugsam erprobt seien, um in einer Zeit des Umbruchs unerschüttert behauptet zu werden. Wer sich in diesem Sinne 'auseinanderzusetzen' beginnt, steht bereits draußen und sieht nicht mehr, was vorgeht. Er darf sich nicht darauf berufen, daß es ihm um die Geschichte gehe: geschichtlich denken heißt nicht, das Erbe der Väter gegen die Aufgabe der Gegenwart ausspielen, sondern ihm im Ringen um den Sinn des Heute die Treue wahren. Wo ein Volk aufgerufen wird, da verliert Bildung als Selbstgenuß des abseitigen einzelnen, der in der Betrachtung geschichtlichen Lebens und Schaffens sich selber sucht, ihren Sinn. Sie hat nur Bestand, soweit sie ihn aus der Einsamkeit zu befreien, in den vollen Lebenszusammenhang seines Volkes hineinzustellen, für das, was ihm hier und jetzt zu tun aufgegeben ist, tüchtig zu machen vermag. Vier Menschenalter haben eine ungeheure, von niemandem zu übersehende Masse von Bildungsstoff aufgehäuft, während sie es gleichzeitig geschehen ließen, daß die Technik sich aus einem hilfreichen Hausgeist in einen seelenlosen Dämon wandelte, der mit der Auflösung der sozialen Ordnungen begann und bei der Verwüstung Europas und dem Sturz seiner vierhundertjährigen Weltherrschaft 1 S c h a e d e r , Goethe
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nicht innehielt. Durch Nichtachtung und Preisgabe kann die Last des überkommenen Bildungsgutes so wenig gemeistert werden wie durch fortschreitende Arbeitsteilung und Verfachlichung. Wie die Technik nicht durch die noch so hoch gespannte Seelenkraft des einzelnen, sondern allein durch den Lebenswillen der Völker gebändigt werden wird, so wird Bildung dort lebendig sein, wo der einzelne den Weg zu der geschichtlichgegenwärtigen Wirklichkeit seines Volkes findet. Wer heute diesen Weg beschreitet und den Gang des deutschen Geistes durch die letzten hundert Jahre aufzufassen versucht, hört in eine schrille Vielstimmigkeit hinein, die ihn quält und verwirrt. Aber wenn er aushält und aufmerkt, so geschieht es, daß er von drüben, von der andern Grenze des Jahrhunderts her, eine vertraute Stimme vernimmt, die mächtig wie die uox bumana, eindringlich wie der Laut der 'großen, leise sprechenden Natur' zu ihm zu reden beginnt. Sie spricht unsere Sprache — vielmehr die Sprache, die wir sprechen sollten und deren Fülle und Reinheit sie offenbart. Sie gibt Zeugnis von einem Leben, das bis zum letzten Atemzug der vorbehaltlosen, erschöpfenden Auffassung der Wirklichkeit hingegeben war, und das doch nicht in betrachtende Ruhe versank, sondern in stetigem Übergang von Betrachtung zu Gestaltung verlief. Was sie sagt, will nicht zur Lehre erstarren, aufgefangen in die Begriffsgefüge der Metaphysik, in die Formeln der Erfahrungswissenschaft, so wenig wie es als Dogma geglaubt oder als Spiel schöner Worte genossen sein will. Es lockt uns nicht aus der wachen Gegenwart in den Traum, sondern es ruft uns zu unserem Tage auf, indem es sagt, was ein deutscher Mensch vermag. Der Bildungsgedanke, der mit Goethe als Wirklichkeit seines Lebens, nicht als Forderung oder Vorschrift, in Deutschland erschienen ist, bedeutet eine Erfüllung der deutschen Sehnsucht, das Ewige im Zeitlichen zu finden, das Zeitliche vor das Angesicht der Ewigkeit zu stellen. Er bannt die deutschen Gefahren: das Zuwenig und das Zuviel an Wirklichkeitssinn, die Verleugnung des Lebens um der Reinheit des Geistes willen und die Preisgabe des Geistes im Sichauslebenlassen naturhafter Kraft und Leidenschaft. Er richtet sich auf das ungeteilte Ganze des Erfahrbaren: anstatt Natur und Geist zu trennen, faßt er Gestalt und Gestaltwandel im Erdaufbau und im Wachstum der Pflanze, im tierischen und menschlichen Knochenbau, in der Entstehung der Farben und der Bildung der Wolken in denselben festen Blick wie den Menschen in der Geschichte, sein Leben in Volk und Staat, sein künstlerisches und dichterisches Schaffen, den Weg seines Erkennens und die Sinnbilder seines Glaubens. Er lehrt, wie
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man das Wirkliche in seiner Ursprünglidikeit und Ganzheit auffaßt, ohne es zu verkürzen oder begrifflich zu verflüchtigen, im behutsamen Fortschreiten der 'anschauenden Urteilskraft', des 'gegenständlichen Denkens', nicht in der Vorwegnahme verallgemeinernder Begriffsbildung. Er stellt keine Gesetze auf, aber er lehrt überall Gesetzlichkeit sehen. Er führt an die Grenzen des Erfahrbaren und warnt vor ihrer Überschreitung: „Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten." 2
* Was Goethe als Bildung verstand und lebte, ist zu einer geheim wirkenden Macht unter den Deutschen geworden; es dauerte fort, wo Bildung als Ausrichtung des ganzen Menschen auf das Ganze der Wirklichkeit verstanden blieb. Im Leben der Wissenschaften trat es in dem Maße zurück, wie diese sich im Zuge der Eroberung neuen Stoffes und feinerer Untersuchungsweisen voneinander absonderten und verfachliditen, unbesorgt um die Einheit der Weltansicht, aus der sie sich lösten. Goethes Naturforschung schien durch die wirklichkeitsferne Willkür der romantischen Naturphilosophie, die auf ihn folgte, hoffnungslos belastet und wurde in ihren Zusammenbruch beim Aufstieg der exakten Naturwissenschaften hineingezogen; sein Kampf gegen Newton schien die Abkehr von seiner Sehweise vollends zu rechtfertigen. Im Bereiche der Geschichte, die ihrerseits infolge der Entdeckung und Ausgestaltung kritischer Verfahren zur Fachwissenschaft wurde und sich alsbald in eine Vielheit beziehungsloser Einzelgebiete auflöste, blieb Goethe dort lebendig, wo an dem Gedanken der unteilbaren Einheit des Geschichtlichen und an dem gestaltenden Beruf des Geschichtsschreibers festgehalten wurde. Seiner Hinterlassenschaft und der Erinnerung an ihn kam die Entwicklung der deutschen Philologie zugute, auf deren Boden die große und fruchtbare Arbeit der Goetheforschung einsetzte. Und doch trennte sich zunehmend der Bereich ästhetischen Genießens, in dem man Goethe zu begegnen suchte, von dem der wissenschaftlichen Arbeit und des tätigen Lebens ab. Der Umgang mit ihm erhielt einen antiquarischen Zug, wurde zur Liebhaberei, zum Vorrecht der Gebildeten. Daß Goethe zu seinem ganzen Volke spricht und den Deutschen das Ganze ihres geistigen Daseins darstellt, blieb nur einzelnen bewußt, unter denen Houston Stewart Chamberlain an erster Stelle steht 3 . Dies Bewußtsein gilt es heute auszubreiten, da der Wille zur Einheit 1*
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und Ganzheit der deutschen Bildung neu erwedtt worden ist. Es fehlt nicht an Zeichen dafür, daß es geschieht. Goethes Deutung der geschichtlichen Welt ist erst in unsern Tagen eigentlich wiederentdeckt worden. Seit einigen Jahren mehren sich die Schriften, in denen seine Geschichtsauffassung vergegenwärtigt wird 4 . Friedrich Meinedkes Meisterwerk 5 macht die gesamten Aussagen Goethes über die Geschichte, in ihren Widersprüchen und ihrer höheren Einheit, zusammen mit seiner geschichtlichen Lebensarbeit verstehbar. Es zeigt Goethe als den Befreier des deutschen historischen Geistes, als den Wegbereiter der großen Geschichtsschreibung des neuen Jahrhunderts. Auch der Naturforscher findet erneutes Gehör, nicht mehr nur mit seinen morphologischen Arbeiten, sondern gerade mit dem umstrittensten Teil seiner Forschung, der ihm selber der liebste war: mit der Lehre von den Farben als den Taten und Leiden des Lichts. Bei der diesjährigen Weimarer Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft wurde die von Rupprecht Matthaei geschaffene Darstellung der Farbenlehre allgemein zugänglich gemacht und an Goethes Wanderungen in den Osten Zusammenhang und Gegenwartsbedeutung seines geschichtlichen Sehens aufgewiesen 6 .
* Zwei Blickpunkte lassen Goethes Geltung für unsere Gegenwart sichtbar werden. Er hat gesagt: „ ü b e r Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat. So geht es ganzen Nationen." 7 Zu den Erfahrungen der Gegenwart gehört das Allgemeinwerden der im 19. Jahrhundert noch begrenzten Einsicht, daß zwar gewiß nicht der christliche Glaube, aber die Weltansicht und Lebensdeutung der christlichen Heilslehre und damit der weltliche Herrschafts- und Erziehungsanspruch der Kirchen durch unaufhaltsame Zersetzungsarbeit von vier Jahrhunderten an der Wurzel getroffen sind. Seither hat der metaphysische Sinn, dem die überlieferten christlichen Gehalte entglitten sind, ständig neue Ersatzbildungen erzeugt. Aber sie müssen auf die großlinige Einfachheit des christlichen Weltbildes verzichten; und gegenüber einem ungeheuren und immerfort vermehrten Erfahrungswissen erscheinen sie begrenzt und einseitig, so daß ihre Lebensdauer, bei größerer oder geringerer Augenblickswirkung, gering ist. W e r sich ihnen abkehrt, mit dem Willen, seinen Sinn der vollen und unverkümmerten, natürlichen und geschichtlich-gegenwärtigen Wirklichkeit offenzuhalten, der wird sich auf dem Wege Goethes finden. Denn vor allen Deutschen seines Zeitalters ist er es, der seit dem Eintritt ins Mannesalter in der Befreiung des modernen Geistes neben
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allen ihren Gefahren die unausweichliche Notwendigkeit erkannte. In dieser Erkenntnis setzte er sein Leben ein, um sie für den ruhigen Fortgang der deutschen Bildung fruchtbar zu machen und die Dämonen, die sie frei werden ließ, zu bannen. Das tat er, indem er sich der Wirklichkeit stellte, indem er ihr alle Sinne öffnete und offenhielt, willig, ohne Einhalt zu lernen und umzulernen, täglich zu neuem Erstaunen und Aufnehmen bereit, zugleich entschlossen, keiner Versuchung zum Ausweichen in eine den Bereich des Wirklichen hinter sich lassende Begriffsdichtung oder in den Glauben an eine die Einheit des Wirklichen spaltende Heilslehre stattzugeben. Er hatte den zwiefachen Mut zum Wissen und zum Nichtwissen. Dazu das zweite. Die heute stark empfundene Not des stofflich überlasteten und geschwächten geschichtlichen Bewußtseins wird nie und nimmer durch die Abkehr von der Geschichte gehoben werden: wer keine Vergangenheit haben will, hat auch keine Gegenwart. Nur tieferes Sehen der Geschichte löst ihren Drude. Den Weg dazu weist die Anspannung zu erhöhter Wachheit, die das Stoffliche durchdringt, bis es sich zu leibhafter Anschauung und zu einem Lebenselement des Betrachters steigert, das die geheime Brücke vom Erfahren zum Erzeugen der Gestalt schlägt. Das ist aber die Anspannung, zu der Goethe aufruft — „mit Gedanken, die nicht aus der tätigen Natur entsprungen sind und nicht wieder aufs tätige Leben wohltätig hinwirken und so in einem mit dem jedesmaligen Lebenszustand übereinstimmenden mannigfachen Wechsel unaufhörlich entstehen und sich auflösen, ist der Welt wenig geholfen." 8 Er läßt uns an einem Leben der Bildung teilnehmen, das stetiger Obergang von wahrgenommener Gestalt zu gestalthaftem Hervorbringen ist, Empfangen und Schaffen in einem, nie in untätige Betrachtung abgleitend oder in leere Geschäftigkeit entartend, vielmehr in jedem Augenblick den alten Zwiespalt von betrachtendem und tätigem Leben schöpferisch aufhebend. Er tut einen Schritt nach dem andern, nicht den zweiten vor dem ersten, er nimmt nichts vorweg, setzt nicht die fertige Theorie für die werdende und wachsende Erfahrung: in alledem ist er der überwinder Herders, dessen Wirken unter den Deutschen Segen stiften konnte, da Goethe es aufnahm und aus vorwegnehmendem Entwurf in gelebte Wirklichkeit verwandelte. Dies muß man sich vor Augen halten, wenn von Goethes Stellung zur Religion und zum Christentum die Rede ist. Er sagt jeweils aus, was er als Gewißheit in sich trägt, aber nicht ein Wort mehr. Als Glauben läßt er gelten, was hier und jetzt erlebte Gewißheit ist, nicht die erquälte Aneignung von überlieferten Sätzen und Symbolen. Ebenso steht es mit seiner Ant-
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wort auf die Frage, die uns heute vor allen bewegt: die Frage nach Volk und Staat. Seine Lebensgeschichte hatte ihm die Erfahrung eines deutschen Nationalstaates nicht vermittelt, nicht vermitteln können, so wenig wie den Gefährten seines Lebens 9 — und er wies es von sich, sie in Theorie oder Programm, in Fremdenhaß oder zielloser Begeisterung vorwegzunehmen. Sprechen können heißt der Verführung ausgesetzt sein, mehr zu sagen als man fühlt; wie man ihr widersteht, ist von Goethe zu lernen.
* Um der Einheit seines Lebens, Forschens und Schaffens willen bedeutet die Auffassung dessen, war er war und was er für uns ist, die Aneignung seines ganzen Werks und aller seiner Lebensäußerungen, von denen wir Kunde haben: eine unendliche, nur mit dem ganzen Leben zu erfüllende und dodi schlechthin sinnvolle Aufgabe. Sein Werk ist im Bereich des deutschen Geistes das einzige, das als Ganzes in sich und im durchgängigen Bezug auf das Ganze des hinter ihm stehenden Lebens aufgefaßt sein will. Freilich scheint sich auch für andere, die nach ihm gekommen sind, so für die beiden eigentlichen Widersacher des Goetheschen Geistes im 19. Jahrhundert, die beiden großen Sprecher des christlichen und des widerchristlichen Nihilismus, Kierkegaard und Nietzsche, die gleiche Forderung zu erheben — aber wer ihr folgt, tut es auf eigene Gefahr. Der Lohn, den der auf das Ganze gerichtete, tägliche Umgang mit Goethes Werk verheißt — wer von 'Nachfolge Goethes' spricht, weiß nicht, was er sagt - , ist Ruhe, Heiterkeit, Zuversicht zum deutschen Wesen, zu seinem Vermögen, sich die Lebenssicherheit geistig anzueignen, die andern Völkern ein günstigeres Geschick fast ohne ihr Zutun beschert oder von deren Aneignung sie hoffnungslos die Hände sinken lassen. Aber die Bemühung, die auf das Ganze geht, beginnt und endet mit dem einzelnen, in dem allein das Ganze sichtbar wird. Goethes Werk erstreckt sich in alle Bereiche geistigen Schaffens; von ihrer jedem führt der Zugang ins Innerste. Dem deutschen Orientforscher liegt es nahe, im Bezirk des West-östlichen Divans und der aus orientalischen Motiven erwachsenen Dichtungen und Betrachtungen Fuß zu fassen. Er hat zu ihrer Erklärung beizutragen. Denn sein Tagewerk gilt den Quellen und Zeugnissen, aus denen Goethe seine Anschauung des Ostens geschöpft hat. Ein Teil seiner Aufgabe ist es, die zu Goethes Zeiten erst eigentlich beginnende Geschichte seiner Wissenschaft sich vor Augen zu führen; dabei wird ihm Goethes Stellung in der Geschichte der abendländischen Erschließung des Orients sichtbar. Aber mehr, als was er zu geben vermag,
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ist das, was er empfängt. Indem die Orientforschung sich auf Goethe bezieht, entrinnt sie der Beschränkung, der sie als Fachwissenschaft unterliegt, und wird im Kreis der vaterländischen Bildung befestigt, aus dem ihre Aufgaben sie fortzuziehen drohen. Der Umgang mit Goethes W o r t mag den Orientforscher auch daran erinnern, daß er nicht aufhören soll, Deutsch zu lernen, während er Arabisch und Persisch lernt. Aus Versuchen, den Divan zu verstehen, sind die in diesem Buche vereinigten Aufsätze hervorgegangen. Sie beruhen teilweise auf Vorträgen, deren frühester — eine Königsberger Rede von 1929 — von dem Nachweis der Einheit von dichterischer Vergegenwärtigung und geschichtlicher Distanzierung des Orients im Divan ausging, und auf einer Berliner Vorlesung über 'Goethe und den Orient' im Sommer 1932. Sie gehen den Linien nach, die sich von dem Besonderen der orientalischen Studien und Aneignungen Goethes zum Allgemeinen seiner geschichtlichen und religiösen Ansicht ziehen. Man fordere von ihnen nicht die Tonlosigkeit des Forschungsberichts: von Goethe spricht man so wenig ungerührt wie von den Eltern und vom Vaterlande. Wunsch und Zuversicht dieser Arbeit seien mit den Worten der beiden Verwalter des von Goethe gestifteten Vermächtnisses geschichtlicher Weltdurchdringung ausgesprochen. 1817, im Jahre der Dreihundertjahrfeier der Reformation, die Goethe zusammen mit der Feier des Tages von Leipzig als ein 'Fest aller Deutschen' begangen sehen und für die er zusammen mit Zelter eine Kantate schaffen wollte 10 , schreibt in Leipzig der zweiundzwanzigjährige Leopold Ranke unter den Vorbereitungen zu einem Lutherbuch 11 : „Wenn ich nun das einzelne fasse und verstehe, und es kommt mir aus dem Leben desselben das Leben des Ganzen zu Gedanken undGemüte: oh, daß die Entwicklung dieses Lebens so klar würde, wie es selbst gewesen ist, — daß mich Dein Geist besuchte, Siebzigjähriger, — daß sich auf dem festen Boden des Historischen das Ideale wahrhaft erhübe: aus den Gestalten, die da gegeben sind, was nicht gegeben ist, herausspringe!" Ein halbes Jahrhundert später, 1867, entwickelt Wilhelm Dilthey in seiner Baseler Antrittsvorlesung über die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770—1800 12 die Grundlagen einer neuen Auffassung des Menschen in seinen geschichtlichen Erscheinungen, die in Goethes Naturansicht angelegt ist. Stücke von ihr sind bereits ausgeführt — „für andere Teile stehen wir selber noch mitten in den ersten Vorarbeiten. So ruht Goethes forschendes Auge noch auf dem, was wir heute tun."
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GOETHES ERLEBNIS DES
OSTENS
Alles dieses Vorübergehende lassen wir uns gefallen;
bleibt
uns nur das
Ewige
jeden
Augenblick gegenwärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit 1 .
E
s ziemt uns, in dieser Zeit unsere kleinen Privatzustände an dem ungeheuren Maßstabe der Weltgeschichte zu messen" 2 — so schreibt Goethe im Frühjahr 1814 an Sulpiz Boisseree, seinen Führer auf dem Wege zur älteren deutschen und niederländischen Kunst. Das W o r t läßt erkennen, in einem wie unmittelbaren und großen Sinne sein Geist von der Grundfrage aller Historie, der Frage nach der Stellung des Menschen in der Geschichte bewegt war, zu der Zeit, da das Erlebnis des Ostens sich seiner bemächtigte, nicht zum ersten Male, aber stärker als irgendwann zuvor. Vergegenwärtigen wir uns die Wege in die Geschichte, die er in diesen Jahren unternahm. Einige Monate zuvor, in den Tagen, da sich Napoleons Geschick auf dem Leipziger Schlachtfeld entschied, hatte Goethe im Epilog zum 'Essex' die unvergeßlichen Worte vom letzten Glück und letzten Tag gefunden, in denen Elisabeth von England, auf ihr Leben zurückschauend, Größe und Einsamkeit des zum Herrschertum erhöhten Menschen ausspricht — aber um dieselbe Zeit war es auch, daß er sich, unter dem Eindruck des 'ungeheuer Bedrohlichen' der politischen Welt, 'eigensinnig auf das Entfernteste wirft' und sich von dem Venezianer Marco Polo bis nach China entführen läßt 3 . Bald danach hatte er im Gespräch mit Heinrich Luden 4 das stille und feste Bekenntnis zur deutschen Zukunft und zu dem eigenen Beruf, die Bildung der Deutschen zu sichern und zu klären, in die Ahnung ausgehen lassen, daß der glücklich beschworenen westlichen Gefahr eine noch unsichtbare ärgere vom Osten her folgen könne. Mit dem Erscheinen des dritten Teils von 'Dichtung und Wahrheit' wurde die Mitteilung der Lebensbeschreibung zum vorläufigen Ende geführt. Sie schüttete über das innere Leben des deutschen Geistes von den fünfziger bis zum Beginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, ein Leben, das über den Erschütterungen von 1789 und 1806 den Zeitgenossen fern und fremd geworden war, eine warme
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Fülle gleichmäßigen Lichtes aus; zugleich stellte sie dem gefährlichen Zauber, der von Rousseaus 'Bekenntnissen' und ihrer aus gestörter Selbstachtung herrührenden Seelenzerfaserung ausging, das Vorbild männlicher Selbstvergegenwärtigung entgegen, einer Betrachtung, die den Menschen und den Umständen gerecht wird, indem sie zum eigenen Selbst den Abstand der Gerechtigkeit zu finden und festzuhalten weiß. Fünf Jahre des Sammeins und Sichtens, des Nachforschens in den eignen Papieren und den Aufzeichnungen von Freunden und Zeitgenossen hatte Goethe für 'Dichtung und Wahrheit' aufgewandt. Eine noch weiter und tiefer ausgreifende Arbeit geschichtlicher Forschung hatte er geleistet, als er in den vorangegangenen Jahren im historischen Teil der 'Farbenlehre' 5 zu zeigen unternahm, wie sich in der Entwicklung eines einzelnen Problems die Bewegung des abendländischen wissenschaftlichen Denkens überhaupt geschichtlich fassen läßt. Als B. G. Niebuhr 1811 auf die Überlieferung der älteren römischen Geschichte erstmalig zusammenhängend das Verfahren der höheren Kritik anwendete und damit ein neues Zeitalter der Geschichtsforschung einleitete 6 , stellte Goethe die Bedeutung seines Unternehmens sogleich ebenso deutlich fest wie die Gefahr einer Historie, die nicht über die Kritik zu neuer Gestaltung fortschreitet 7 . Zugleich führte das Buch des Sohnes Goethes Erinnerung zu dem Vater zurück, zu Carsten Niebuhr, dem hannoverschen Bauernsohn, dem leitenden Geist und einzigen überlebenden der Südarabien-Expedition, die ein halbes Jahrhundert zuvor der dänische König, angeregt von dem Göttinger Orientalisten J . D. Michaelis, ausgesandt hatte. Niebuhrs Reise, die der Kenntnis des Orients unbekannte Bereiche erschloß, und Michaelis' Plan, die Erforschung der Bibel in den Zusammenhang einer orientalischen Altertumskunde hineinzustellen, hatten den jungen Goethe zu der Zeit beschäftigt, als er daran dachte, an die Universität Göttingen zu gehen, um von Heyne und Michaelis in die erneuerte Altertumsforschung eingeführt zu werden 8 . Einige Monate, bevor Goethe dem jüngeren Niebuhr für den ersten Band seiner Römischen Geschichte dankte, hatte ihn die Zusendung einer Denkschrift über die Errichtung einer asiatischen Akademie in Petersburg 'mit Bewunderung und Freude' erfüllt 9 . Sie war der literarische Erstling eines jungen russischen Adligen, des vierundzwanzigjährigen Sergei Uvarov 1 0 ; in einem begleitenden Brief huldigte er dem Goetheschen Genius, „der gern in dem weiten Felde des besseren Altertums verweilt, um sich dann als Schöpfer zu dem Gipfel der höchsten Poesie emporzuschwingen". Der junge Uvarov, Sohn eines Adjutanten der Kaiserin Katharina, hatte in Deutschland studiert und war zum entschiedenen Verehrer des
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deutschen Geisteslebens geworden, dessen 'letzte Krone' er Goethe nennt. An seiner Denkschrift ist die tiefreichende Kenntnis des Standes der gesamten Orientforschung in Europa und Rußland ebenso eindrucksvoll wie die Einsicht in die Möglichkeiten und Aufgaben vertiefter orientalischer Studien in seinem Vaterland, deren Plan er, unterstützt von dem Sinologen H. J. Klaproth und dem Hebraisten Feßler, bis ins einzelne aufstellt. Goethes Aufmerksamkeit richtet sich besonders auf den Teil des Plans, der die indischen Studien betrifft; er gedenkt seiner früheren Beschäftigung mit Sakuntala und wünscht, eine vollständige Übersetzung des Gitagovinda zu erleben — ein Wunsch, der sich nicht erfüllt hat: erst fünf Jahre nach seinem Tode ist Fr. Rückerts Nachdichtung ans Licht getreten. Von Dingen des arabischen und persischen Orients, die drei Jahre später in den Vordergrund von Goethes geschichtlichen Interessen treten sollten, ist in seinem ersten Brief an Uvarov noch nicht die Rede. Als Kurator des Petersburger Lehrbezirks unter Alexander I., als Präsident der Petersburger Akademie, später als Unterrichtsminister, hat Uvarov eine Tätigkeit entfaltet, die dem Wirken Wilhelm von Humboldts verglichen werden darf; der Orientforschung galt seine besondere Sorge. Zusammen mit Humboldt gehörte er zu den nicht allzu vielen, die den West-östlichen Divan als das Wunderwerk begrüßen, das er ist. „Denken Sie manchmal", so schließt der Brief, der für den Divan dankt, „daß Sie im fernen Norden einen treuen, innigliebenden Jünger sich erkoren haben." 11 In dieser Gesinnung verharrte er. Als Jünger Goethes, erfüllt und begeistert von der durch Goethe erneuerten deutschen Bildung, als früh zu Ehre und Einfluß aufgestiegener Diener seines Kaisers, schien er zu großen Dingen berufen. Es galt, für die eben jetzt, in dem Bund und dem folgenden Zerwürfnis zwischen Napoleon und Alexander I., zu weltgeschichtlicher Plastik kommende Zwischenstellung Rußlands zwischen Europa und Asien die geistige Form zu finden, den seit Peter und Katharina hergestellten Anschluß der russischen an die deutsche und westeuropäische Bildung zu sichern und zugleich den natürlichen Beruf Rußlands, der geistige Mittler zwischen Abend- und Morgenland zu werden, bewußt zu ergreifen. Die Leidensgeschichte Rußlands im 19. und 20. Jahrhundert hat es zu alledem nicht kommen lassen—der Dämon der russischen Formlosigkeit ist nicht beschworen worden. Wir werden Uvarov, durch den Goethe drei Jahre vor der Konzeption des West-östlichen Divans zu einem groß gedachten Plan der geschichtlich-geistigen Aufschließung des Ostens in Beziehung gesetzt wurde, nochmals begegnen.
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So stand Goethe im Jahre 1814, in dem er dem Perser Hafis begegnen sollte, inmitten von geschichtlichen Betrachtungen, die ihn zugleich mit neu erweckter Teilnahme nach dem Osten ausschauen ließen. Zufälle des äußeren Lebens bestärkten ihn darin. Weimarische Soldaten brachten aus Spanien das Bruchstück einer Koranhandschrift mit; Goethe versudite die arabischen Zeichen nachzubilden und ließ sich ihren Sinn von einem Kundigen deuten. Er wohnte dem muslimischen Gottesdienst bei, den durchziehende Baschkiren in der Aula des Weimarer Gymnasiums veranstalteten, begrüßte ihren Prinzen im Theater und nahm als Gastgeschenk Bogen und Pfeile entgegen — dieselben, die elf Jahre später der Fünfundsiebzigjährige hervorholt und mit Eckermann zusammen 'mit unverwüstlicher innerer Jugend' im Garten erprobt 12 . Am 7. Juni 1814 erscheint Hafis' Name zum erstenmal im Tagebuch, dann wieder nach sieben Wochen, neben den Worten 'herrlicher Tag', zu Beginn der Reise nach Wiesbaden und an den Rhein — und nun steigt der goldene Strahl der alt-neuen Poesie auf: in fünf Tagen sprudelt ein blinkender Reichtum von Liedern und Sprüchen empor, auf den am siebenten Tag der Ewigkeitsglanz der 'Seligen Sehnsucht' fällt. Von der Begegnung mit Hafis spricht Goethe in Worten, die gerade in der Verhaltenheit ihrer berichtenden Form von der tiefen Bewegung Zeugnis geben, die ihn ergriffen hatte. „Schon im vorigen Jahre" — so heißt es in den Tag- und Jahresheften für 1815 — „waren mir die sämtlichen Gedichte Hafis' in der von Hammerschen Übersetzung zugekommen, und wenn ich früher den hier und da in Zeitschriften übersetzt mitgeteilten Stücken dieses herrlichen Poeten nichts abgewinnen konnte, so wirkten sie doch jetzt zusammen um so lebhafter auf mich ein, und ich mußte mich dagegen produktiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können. Die Einwirkung war zu lebhaft, die deutsche Übersetzung lag vor, und ich mußte also hier Veranlassung finden zu eigener Teilnahme. Alles, was dem Stoff und dem Sinne nach bei mir Ähnliches verwahrt und gehegt worden, tat sich hervor, und dies mit um so mehr Heftigkeit, als ich höchst nötig fühlte, mich aus der wirklichen Welt, die sich selbst offenbar und im stillen bedrohte, in eine ideelle zu flüchten, an welcher vergnüglichen teilzunehmen, meiner Lust, Fähigkeit und Willen überlassen war." Von dem Erlebnis Shakespeares hat Goethe im stürmenden Enthusiasmus seiner Jugend kaum bewegter gesprochen — und die Ergriffenheit durch Hafis mag es vorbereitet haben, daß ihn zwei Jahre hernach die Begegnung mit einem Dichter der eigenen Zeit bis ins innerste Herz rühren konnte. Das war Lord Byron, dessen Poesie ihm 11
über die quälende Entzweiung von Klassisch und Romantisch hinausgerückt und wie der gegenwärtige Tag selber erschien. Ihn liebte er mit der aus Glüdc und Schmerz gemischten Ergriffenheit, der in dem Jüngeren die eigene Jugend wiederbegegnet; ihm hat er später im zweiten Faust die herrlichste Totenklage bereitet, die für einen Dichter angestimmt worden ist. Gewiß war es nicht Hafis allein, dessen geistige Gegenwart Goethes erneuertes dichterisches Schaffen beflügelte. Immer stehen uns die von Licht und Poesie, von Heiterkeit und Freundschaft, vom Genuß schönster deutscher Landschaft und ihrer bildenden Kunst durchfluteten Wochen und Monate vor der Seele, die Goethe 1814 und nochmals im folgenden Jahre in den Rhein- und Maingegenden zubrachte. In ihnen erlebte auch der Dichter eine Verjüngung, die nicht Absage an die strenge Formenwelt der Jahre seit der Rückkehr aus Italien bedeutete, sondern organische Ausweitung, das Innewerden einer neuen Lebenstotalität, die mit den Erlebnissen des Mannesalters die der Jugend zusammenfaßte. Die Erarbeitung des Klassischen blieb ihm unverlierbar; „brächte man nicht so viel Form mit sich, so wäre man verloren", äußerte er in diesen Jahren zu einem seiner Vertrauten 13 . Wenn aber Hafis' Name und das Gespräch mit ihm Goethes Lied- und Spruchdichtung während dieser Jahre beherrscht, wenn sich die neuen Gebilde unwillkürlich zu einem Divan nach dem Muster der Gedichtsammlungen persischer Dichter reihen, wenn jahrelange Studien sich anschließen, um das östlich Fremde dem deutschen Leser faßbar zu machen, dann bestätigt das alles die ursprüngliche Gewalt, die von der Begegnung mit dem persischen Dichter auf Goethe ausgegangen war. Woher rührt sie? Kein Wort über das Mißverständnis, daß Goethe, unfähig oder nicht willens, die ihn umgebende Gegenwart zu bestehen, ins Ferne und exotisch Fremde geflohen wäre, um sich dort ein künstliches Paradies zu schaffen! Goethe bestand ja seine Gegenwart, er lebte in seinen Arbeiten und Pflichten und diente der Forderung des Tages, wie immer. Wenn er von seiner Hegire spricht und von dem Willen, aus der sich selbst bedrohenden wirklichen Welt in eine vergnügliche ideelle zu flüchten, so zielt das auf die dem Dichter aus seinem Wesen gestellte Forderung, sich seiner eigenen dichterischen Welt in allem Wandel der Zeit versichert zu halten. Und eben dieser Wille, dies Vermögen des Dichters, in und mit seiner Zeit zu leben und zugleich in ihr die Würde des dichterischen Genius, die Freiheit des dichterischen Schaffens zu wahren — dies war es, was Goethe 12
in Hafis wiederfand und was ihn zu dem Perser hinzog. Dem Glück, das wir erfahren, wenn das Gespräch mit einem Begegnenden nach wenigen Worten einen Menschen von gleicher Richtung des inneren Weges zu erkennen gibt, steht das andere nicht nach, das ein Geistergespräch, über Jahrhunderte und ferne Zonen anhebend, in uns hervorzurufen vermag. Was Goethe an Hafis erfuhr, das war die Gemeinsamkeit des menschlichen Schicksals und der dichterischen Berufung in einer tief beunruhigten Zeit. Ein Wort in den Noten zum Divan spricht die Seelenlage klar aus, in der Goethe sich mit Hafis verbunden fand: „Der Dichter steht viel zu hoch, als daß er Partei machen sollte. Heiterkeit und Bewußtsein sind die schönen Gaben, für die er dem Schöpfer dankt: Bewußtsein, daß er vor dem Furchtbaren nicht erschrecke, Heiterkeit, daß er alles erfreulich darzustellen wisse." 14
* Wurde die neue Selbstvergewisserung und Beschwingung des Dichterischen, die den West-östlichen Divan ins Leben rief, durch Hafis ausgelöst, so war sie in Goethe selber durch die Erfahrung der Geschichte vorbereitet, die ihm in dem Vierteljahrhundert seit dem Ausbruch der französischen Revolution zugewachsen war, um deren geistige Überwindung in der ihm allein gemäßen Weise: in dichterischer Gestaltung, er ebensolange gerungen hatte. Das Widerspiel zwischen Zeitgebundenheit und Zeitüberlegenheit des dichterischen Genius gegenüber der geschichtlichen Stunde, in die er eintritt, hatte Goethe wieder und wieder an sich selber erfahren und erfuhr es nun an Hafis. Dies wurde der Anlaß zu allen den weiten Wanderungen in Dichters Lande, die unternommen werden mußten, um den Perser Hafis in seinem geschichtlichen Lebensraum und in dem Oberlieferungszusammenhang seiner Bildung sichtbar werden zu lassen. So entstand die überall vom Tatsächlichen zum Typischen, vom wechselnden Geschehen zu den bleibenden Kräften durchdringende überschau über die Geschichte der Perser, ihrer Herrschaftsform, ihrer Religion und Poesie, bis in die Gegenwart des deutschen Betrachters durchgeführt: der umfassendste universalgeschiditliche Entwurf, den Goethe geschaffen hat, die Vergegenwärtigung eines dem 18. Jahrhundert noch kaum sichtbaren geschichtlichen Bereiches, zugleich eine bis auf diesen Tag gültige Wegweisung für die Erkenntnis des Ostens. An diesen Entwurf konnten ohne Zwang die Versuche früherer Jahrzehnte angereiht werden, die dem biblischen und dem arabischen Altertum vor und nach dem Auftreten des Islam gegolten hatten. Aus verschie13
denartigen Anlässen und Interessen hervorgegangen, zeigen sie eine auch nach jahrelangen Pausen im Augenblick des belebenden Antriebs hellwache Aufmerksamkeit für die östliche Welt in ihrer geschichtlichen Lebendigkeit und ihrem geistigen Gehalt. Sie reichen in die Jugend des Dichters zurück und stellen einen Zusammenhang zwischen den ersten Bemühungen seines erwachenden geschichtlichen Sinnes und der Weisheit der Divanzeit her. Goethes Erlebnis des Ostens, das sich sein Leben hindurch einmal um das andere erneuert, um sich in der Schöpfung des Divans zu vollenden, steht in durchgängigem Zusammenhang mit der Entfaltung seines geschichtlichen Bewußtseins. Nur aus diesem Zusammenhang ist die Entstehung des Divans verständlich zu machen. Der Divan ist die Urkunde eines der Formungsversudie, die Goethe unternahm, um sich, im Zuge der geschichtlichen Selbstvergewisserung des abendländischen Geistes, aber auf seine eigenste Weise, einen Bereich der allgemeinen Geschichte zu vergegenwärtigen. Hier wie überall ist er der Wegbereiter eines neuen Weltbildes. Um Goethes Stellung zur geschichtlichen Welt zu würdigen, ist dreierlei vonnöten. Einmal muß sie aus der Gesamtaussage seines Schaffens erhoben werden, nicht aus gelegentlichen unwirschen Äußerungen über Weltgeschichte und Geschichtsschreibung — Äußerungen, wie sie, wer es darauf anlegt, aus Goethes Munde für jedes Lebensgebiet zusammenbringen kann. Sodann muß man ganz den in den letzten hundert Jahren gesunkenen und mechanisch gewordenen Begriff der historischen Bildung außer Betracht lassen, der die Geschichte als einen erforschbaren und erlernbaren, dabei nach Bedarf zu erweiternden oder zu beschränkenden Tatsachenbestand faßt. Bildung darf, wenn von Goethe die Rede ist, nur den zarten und lebendigen Sinn haben, den er mit dem Worte verband: stilles organisches Wachstum, hervorgehend aus dem unerzwungenen Einvernehmen zwischen dem betrachtenden Ich und seinem Gegenstand. Endlich und vor allem: geschichtliches Denken bedeutet nicht, daß ich, wann und wie ich will, mich der Geschichte als einem außer mir befindlichen Dinge zuwende, um sie eine Weile zu betrachten und dann wieder zu mir zurückzukehren. Es bedeutet, daß ich mich in die Geschichte, in den Widerstreit von Notwendigkeit und Freiheit, der ihr Wesen ausmacht, hineingestellt erkenne und in dieser Erkenntnis zu lernen beginne, das Meine zu tun. Uns, die wir heute wieder Geschichte in ihrem unbedingten Sinne erleben, muß es leichter fallen als denen vor uns, die Unbedingtheit zu verstehen, in der Goethe die Geschichte erlebte und sich 14
der Geschichte stellte. Sie ist es, die uns Goethe heute als Urheber und Bürgen des deutschen geschichtlichen Denkens und seiner Gestaltwerdung im Zeitalter Rankes verstehen läßt.
* In der Rede zu der ersten deutschen Shakespeare-Feier, zu der Goethe im Herbst 1771 im Hause seines Vaters seine Freunde versammelte, steht zwischen manchen auf Herder zurückgehenden Gedanken ein Satz, der Goethes Eigenstes ausspricht. Shakespeares Stücke, so heißt es, „drehen sich alle um den geheimen Punkt, 'den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat', in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt". Dieser Satz ist von unerschöpflichem Gehalt in sich und im Hinblick auf die Entwicklung von Goethes Denken und Dichten. Er bezeichnet das Grundthema seiner eigenen dramatischen Entwürfe in diesen Jahren, in denen er aus der rauhen Schule Herders hervorging. Er trifft aber auf Goethes Poesie überhaupt und darüber hinaus auf seine Stellung zur geschichtlichen Welt zu: denn er spricht das geschichtliche Urphänomen selber aus — das vier Jahrzehnte später im Gegeneinander der orphischen Urworte von Daimon und Tyche seinen tiefsten Ausdrude findet. Vor Goethes innerem Auge standen seit der Rückkehr aus Straßburg die Gestalten der Menschheitsführer, die in Sieg und Untergang die Dauer des Genius bezeugen — unter ihnen steht neben Mose und Faust, neben Prometheus und Caesar auch Muhammed, der Prophet der Araber. Das streng geformte Mahomet-Drama, zu dessen erhaltenen Bruchstücken der herrliche 'Gesang' gehört — ursprünglich eine Wechselrede zwischen Ali und Fatima —, der das Wirken des Propheten feiert, sollte den religiösen Genius im Widerstreit von Geist und Macht zeigen. Goethe brachte damit die Erfahrungen in Zusammenhang, die er an den Freunden Lavater und Basedow und ihrer Neigung, geistliche und weltliche Zwecke zu vermischen, hatte machen müssen. „Alles, was das Genie durch Charakter und Geist über die Menschen vermag, sollte dargestellt werden, und wie es dabei gewinnt und verliert." 15 Es ist die gleiche Frage, die dem Historiker die Erscheinung des Propheten Muhammed bis zum heutigen Tage aufgibt. Freilich erscheint er Goethe nicht in geschichtlicher Vergegenwärtigung, sondern in freier dichterischer Typisierung. Aber wie der Dichter schon damals in lebendigster Geschichtsanschauung lebte, das zeigte der Götz, der eine deutsche Schicksalsstunde, den Niedergang der alten Reichs-
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gewalt und den Aufstieg der Landesfürsten, die von Justus Moser gepriesene Zeit des Faustrechts, in einem erneuerten Deutsch ausspricht, das uns mit dem Hauch des frischen Morgens anweht. Freiheit und Notwendigkeit: es ist das Leitwort, unter das man Goethes Weimarer Jahre vor der Flucht nach Italien stellen kann. Hatte er sie vorher als die Mächte gesehen, die den genialen Menschen in seinem Ringen mit der Welt bewegen — jetzt erfährt er ihren Widerstreit in seinem eigenen Leben: im Staatsdienst, in dem Beruf erziehender Freundschaft, der ihm gegenüber dem Herzog zufällt, in der Entsagung des Liebenden. Ihren Widerstreit enthält der Leitgedanke des Wilhelm Meister, wie er später in Italien aufgezeichnet wird: „Wilhelm, der eine unbedingte Existenz führt, in höchster Freiheit lebt, bedingt sich solche immer mehr, eben weil er frei und ohne Rücksichten handelt." 16 In Weimar beginnt Goethe, dem Geheimnis von Freiheit und Notwendigkeit in der Natur nachzuspüren. Es ist so, wie die tiefe Deutung seines Wesens, die Schiller 1794 gibt, es ausspricht: er sucht das Notwendige der Natur, aber er sucht es auf dem schwersten Wege. Er nimmt die ganze Natur zusammen, um über das einzelne Licht zu bekommen, in der Allheit ihrer Erscheinungsarten sucht er den Erklärungsgrund für das Individuum auf 17 . Das Ziel seines Suchens ist der Typus, nicht als abstrakte Idealität, sondern in lebendiger, die Mannigfaltigkeit der Erscheinung übersehbar machender Erfahrbarkeit. Es ist das gleiche Ziel, das er in der Betrachtung der bildenden Kunst und der geschichtlichen Welt vor Augen hat. Vor dem gestaltlos Tatsächlichen erschrickt er; die Biographie Bernhards von Weimar, die seine Betrachtung in das Geschehenschaos des Dreißigjährigen Krieges verstrickt, kommt nicht zustande 18 . In den Osten blickt er in diesen Jahren kaum; doch wo seinem Blick aus der unheimlich fernen Welt ein Gebilde reiner Natürlichkeit und Menschlichkeit aufsteigt wie die Sakuntala des Kalidasa, die ihm 1791 in J. G. Forsters Übersetzung zukommt, da findet seine Anteilnahme den Ton dankbaren Entzückens, den er noch im höchsten Alter wiederholt 19 . Italien befreit ihm Geist und Sinne zur vollen Hingabe an Natur, Kunst und Altertum und zum Glauben an die Möglichkeit einer Rückkehr zur Unschuld vorchristlich-antiken Lebens — zu einem Glauben, der für die Lösung gesellschaftlicher Konventionen des Jahrhunderts so notwendig wie vermöge seiner die Substanz des sittlichen Lebens bedrohenden Verführung gefährlich war und der mit bittern Leiden und Opfern hat bezahlt werden müssen. Den Rückkehrenden aber, der sich mit Mühe wieder in den heimischen Lebensbereich eingewöhnt, trifft mit elementar 16
empfundener Kraft die Geschichte. Ob es in Deutschland noch einen zweiten Menschen gegeben hat, der die französische Revolution im Geiste so tief erlitten, der die von ihr entbundenen, das von ihr eingeleitete neue Weltalter beherrschenden Mächte der Zerstörung so schreckhaft klar empfunden hat wie Goethe? Viele Jahre später hat er es Eckermann gegenüber als einen Vorzug vor den Spätergeborenen gepriesen, daß er in einer Zeit stärkster geschichtlicher Bewegung lebte und vom siebenjährigen Krieg über die Trennung Amerikas von England und die französische Revolution bis zum Ausgang Napoleons lebendiger Zeuge der Ereignisse war, während die Späteren „sich jene großen Begegebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen". 20 Aber es gibt einen starken Einschnitt in der Reihe dieser Ereignisse. Der Aufstieg Preußens und der amerikanische Freiheitskrieg waren dem Glauben des 18. Jahrhunderts an den vernünftigen Fortschritt zur Freiheit gemäß und verständlich — die Revolution, aus dem nämlichen Zeitgeist hervorgegangen, ließ ihn alsbald weit hinter sich und führte zu einer vollständigen, allen nach 1814 aufgewendeten Bemühungen zum Trotz nicht rückzuwälzenden Veränderung des alten Weltzustandes. Das geschichtlich Neue und für Goethes Weltgefühl Bedrohliche dieses Umschwungs faßt ein einziger kurzer Satz der Sprüche in Prosa zusammen, der sich zwar unmittelbar auf die Revolution von 1830 bezieht, aber aufs Ganze gesehen schon für 1789 gilt: „Vor der Revolution war alles Bestreben, nachher verwandelte sich alles in Forderung." 21 Goethe erwehrte sich der Revolution mit der einzigen Waffe, die ihm zu Gebote stand: durch produktive Gestaltung. Er richtete sich auf Erscheinungen des Menschlichen, wie sie ihm für die zur Revolution führenden und durch sie geschaffenen Zustände typisch schienen. Wie ungenau seine Zeitgenossen sahen, was ihn bewegte, das zeigt etwa das damals eingewurzelte und seither nicht überwundene Vorurteil wider den 'Großkophta', das sich aus der den handelnden Personen freilidh gemeinsamen sittlichen Verworfenheit nicht rechtfertigen läßt. Denn diese Dramatisierung des Cagliostro-Schwindels und der mit ihm zusammenhängenden Halsbandgeschichte zeigt in der Nebenhandlung, in der Figur des jungen Ritters, ein Schicksal von eigentümlich tragischer Kraft. Ein reiner und für die Wahrheit begeisterter Mensch widersetzt sich dem Versuch des Betrügers, ihm das Auge für die schlimme Wirklichkeit zu öffnen, und wiegt sich aufs neue in trügerische Sicherheit, bis er, nun durch die Wirklichkeit selber der Selbsttäuschung entrissen, eben zu der kalt berechnenden Selbstsucht und ihren Taten den Mut findet, zu denen ihm der Betrüger bereits 2 S c h a e d e r , Goethe
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vordem Mut machen wollte. So erscheint er als das Opfer der Verführung eines in seinen sittlichen Grundlagen erschütterten Zeitalters. Die 'Natürliche Tochter', die Tragödie der hilflosen Unschuld, die einer durch Willkürherrschaft vergifteten Zeit preisgegeben ist, blieb als einziges Stück einer geplanten Trilogie Fragment. Sie läßt den Zustand erscheinen, aus dem die Revolution entsprang, nicht diese selber — und mit welcher Kraft der Vergegenwärtigung! Es ist leicht, den Begriff des Despotismus und der Rechtlosigkeit, die er hervorbringt, zu bilden, oder sich geschichtlicher Beispiele zu entsinnen. Aber seines Wesens wird man inne, wenn man miterlebt, wie Eugenie aus ihrer Geborgenheit in der Gunst des Herrschers gerissen wird, um in einer Welt zu erwachen, die sie ausstößt, die ihr nicht nur Liebe und Mitleid, sondern jede rechtliche Sicherung versagt, nachdem die Macht des einen sich wider sie gerichtet hat. Ohne Parteinahme, ohne das Amt des Sittenrichters zu begehren, stellt der Dichter uns vor eine gnadenlose Wirklichkeit. Aber in 'Hermann und Dorothea' schuf er das Gedicht, das deutsche Menschen in engem Kreise sinnvoll lebend und froh tätig zeigt, unberührbar dem nur am Horizont spürbar werdenden Gluthauch des Dämons im Westen, und das den vollkommenen Ausgleich antiker Form und gegenwärtig volkstümlichen Gehalts erreicht. Das Gedicht, dem der begeisterte Dank der Deutschen zufiel und treu blieb, ist bereits ein Geschenk des Freundschaftsbundes mit Schiller, dieses Bundes, der zu den heiligen Gütern unseres Volkes gehört. Die beiden Dichter haben gemeinsam die große Tat vermocht, die sie sich bewußt vorsetzten: die Überwindung des Geistes von 1789 für Deutschland durch ein in dichterischen Schöpfungen Gestalt gewinnendes und zugleich das Leben durchdringendes Ideal des Schönen, in dem das Individuelle mit dem Allgemeinen, das Naturgemäße mit Stil und Gesetz in Einklang gebracht war. So richteten sie im Herzen Deutschlands eine Sicherung des deutschen Geistes und seines Fortgangs gegen die Gefahr aus dem Westen auf. Nach der Vollendung des Freundes hatte Goethe die gemeinsame Aufgabe am Werk der deutschen Bildung allein weiterzutragen. Dem Treiben der Jüngeren sah er anfangs mit Teilnahme, dann mit wachsendem Unmut zu; damals war es, daß er der verruchten romantischen Lehre, nach der höchste Bildung das Recht auf höchste Freiheit gewährt, den tödlichen Ernst der 'Wahlverwandtschaften' entgegensetzte. Wiederum drang die Geschichte gewaltig auf ihn ein: in Napoleon trat ihm der völkerlenkende Genius, um den die dichterischen Versuche seiner Jugend gekreist hatten, 18
leibhaft entgegen, ein 'Kompendium der Welt' 22 . In ihm glaubte er den Oberwinder der Revolution zu erkennen und hielt sich seiner Größe offen, noch als die deutsche Erhebung sein Gemüt bewegte.
* Dies ist die Linie, auf der Goethes Weg zur Geschichte verlief. Auf ihm kam er zu den geschichtlichen Besinnungen und Gestaltungen, die seit der Jahrhundertwende einen immer bedeutenderen Platz in seinem Werk einnehmen. Da es ihm um den Menschen in der Geschichte zu tun war, zog ihn zuvörderst die Lebensbeschreibung an. Schon vorher hatte er das Leben des Florentiner Goldschmieds und Bildhauers Benvenuto Cellini übersetzt und eine Übersicht über die italienische Kunst des 16. Jahrhunderts beigegeben, die in der freien Würdigung des Renaissance-Menschentums auf J. Burckhardt hinweist. 1805 erschien der Winckelmann-Aufsatz, nach U. von Wilamowitz „die erste Biographie in hohem Stile, welche das Wirken des Individuums sowohl als individuelles wie auch als eines Gliedes in der allgemeinen Kulturentwicklung zur Anschauung bringt" 23 . Es folgen die umfassenden Forschungen zur Geschichte der Farbenlehre und dann der Übergang zur Darstellung des eigenen Lebens. In den Zusammenhang, den wir überschaut haben, reiht sich das erneuerte Erlebnis des Ostens ein, dessen Urkunde der West-östliche Divan ist. Es ist jetzt verständlich, warum Hafis, der dem deutschen Dichter so lebendig geworden war, in den 'Noten' wieder so deutlich an seinen geschichtlichen Ort gerückt und in seiner Beschränkung durch die Rücksicht auf despotisches Regiment, religiösen Zwang und dichterische Konvention gezeigt wird. Zu Unrecht hat man diese Charakteristik 'verunglückt' genannt und in ihr einen Hinweis darauf gefunden, daß der Dichter an der Stoffmasse müde geworden sei24: sie bezeugt im Gegenteil den in der ganzen Anlage und Ausführung des Divans zutage tretenden Willen des Dichters, die östliche Welt im allgemeinen und die persische Poesie im besonderen ebenso in ihrer überzeitlichen, allgemein menschlichen Nähe wie in ihrer geschichtlichen Eigentümlichkeit und Ferne erscheinen zu lassen. Seit dem West-östlichen Divan gibt es zur persischen wie überhaupt zur orientalischen Dichtung für uns nur noch den Weg der Vergegenwärtigung des poetischen Gehaltes im Wissen um seine geschichtliche Fremdheit, den Weg, den Goethe gewiesen hat — nicht mehr das abstandlos naive Spiel mit ihr. Hier wie sonst ist Goethe der Lehrer des echten Sicheinlebens in geschichtliche Wirklichkeit. Er lehrt nicht ein bestimmtes Geschichtsbild, I*
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sondern wie man es anfängt, Geschichte lebendig, in ihrem Eigenwesen und zugleich in ihrem Bezug auf den Betrachter, anzuschauen. Ihm wohnte von Natur die immer wieder hergestellte Gewißheit inne, daß selbst die furchtbarsten Menschen- und Völkerschicksale das Wachstum der organischen Natur zwar zu stören, aber nicht zu zerstören vermögen. Eben darum hat er tiefer, als man wissen kann, an der Unübersehbarkeit der Geschichte, an dem scheinbar blind Zufälligen und geistig Unauflösbaren ihrer Krisen und Katastrophen gelitten. Eben diese Gewißheit aber hat ihm zugleich der Geschichte gegenüber die beiden Gaben gewährt, für die, wie er im Divan sagt, der Dichter dem Schöpfer dankt: Heiterkeit und Bewußtsein. Goethes Erscheinen hat erst das Ausreifen des deutschen Geschichtserlebens ermöglicht, das ohne ihn unfreier Nachahmung der westeuropäischen Geschichtsbetrachtung des 18. Jahrhunderts oder dem Zuge Herders zu verfrühter Synthese hätte verfallen können. Aber nicht in feindlicher Abwehr hat er es getan, sondern indem er lehrte, das fremde Gute dankbar aufzufassen und dabei die dem deutschen Wesen unveräußerliche Richtung vom Zeitlichen auf das Ewige, den Sinn für die innige Verbindung von Idee und Erscheinung festzuhalten. Eben darum hat er die geistige Befreiung der Deutschen zustande gebracht, ohne sie von Europa abzusondern, ohne der den Nachbarn gewohnten Haltung feindseligen Mißtrauens gegenüber dem, was sie als Undeutlichkeit des deutschen Wesens empfinden, neue Nahrung zu geben. Vielmehr ist ihm einmal durch das vornehmste Organ des Geistes, durch das Wort, gelungen, was sonst nur der deutschen Musik gelingt: für den Ausdruck deutschen Wesens die Liebe und das Vertrauen der ganzen Welt zu gewinnen. Er hat das deutsche Wesen sich selber verstehen gelehrt und es zugleich der Welt sichtbar gemacht. Bei der Heimkehr aus Rom nahm er sich vor, zu ergründen, „wie aus dem Zusammentreffen von Notwendigkeit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung und Widerstand ein Drittes hervorgeht, was weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist, notwendig und zufällig, absichtlich und blind". Es ist eine schöne und glückliche Beobachtung Heinrich von Treitschkes 25 , daß in diesen Worten auch die Geschichtserforschung Leopold Rankes gekennzeichnet ist. Rankes Werk ist in der Tat die Gestalt gewordene Geschichtsansicht Goethes; er gab ihr einen neuen Zielpunkt, indem er das verworren Individuelle des Geschehens und das Politische als Machtgewinn und Machtsicherung — beides hatte Goethe gemieden — der Idee des nationalen Staates zuordnete und da20
durch geistig faßbar machte. Rankes politische Zielformel heißt: „Eine uns eigene große deutsche Aufgabe haben wir zu lösen: den echtdeutschen Staat haben wir auszubilden, wie er dem Genius der Nation entspricht." 28 Setzt man in sie 'Bildung' in dem lebendigen Goetheschen Sinne für 'Staat' ein, so hat man den Inbegriff des Goetheschen Erziehungsgedankens. Die Einstimmigkeit der beiden Männer in den Grundzügen ihres Denkens tritt, je mehr man sich in ihr Werk vertieft, immer wunderbarer zutage. Der Rankesche geschichtliche Grundbegriff des 'Real-Geistigen', den er im 'Politischen Gespräch' aufstellt27, steht neben der Idee, wie Goethe sie verstand, als Ausdruck für den Bezug des Zeitlichen auf das Ewige, für den symbolischen Charakter des Wirklichen. Wie Goethe in der Natur, so spürt Ranke in der Geschichte unmittelbar die Selbstoffenbarung des Göttlichen28. Indem Ranke die Einheit des Abendlandes aus seiner geschichtlichen Abgrenzung gegen den Orient begründete 29 , setzte er auch dessen Einbeziehung in die allgemeine Geschichte fort, die Goethes Erlebnis des Ostens eingeleitet hatte. Die von Ranke auf die Höhe der Vollendung gehobene deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts fußt auf der von Goethe gewonnenen Sicherung des deutschen Geistes in seinem Eigenwuchs und seines Mittlertums zwischen Westen und Osten.
* Ein letztes, das abschließend bestätigen mag, was Goethe und sein Erlebnis des Ostens für uns bedeutet. Wir richten den Blick auf den näheren Osten und kehren noch einmal zu Uvarov, dem russischen Verehrer und Schüler Goethes, zurück. Er hat in der Petersburger Akademie, als Goethes Todestag sich zum ersten Male jährte, ihm die Gedenkrede gehalten30. Sie ragt unter den Würdigungen Goethes, die nach seinem Tode versucht wurden, durch vertiefte Kenntnis von Goethes Schaffen und Reife des Urteils hervor. Aber ihr Grundgedanke ist merkwürdig: sie faßt Goethe als den großen Unzeitgemäßen, als den unbeirrbaren Gegner des Zeitgeistes, den einzigen und letzten literarischen Monarchen Deutschlands, aber einen im höchsten Grade unkonstitutionellen Monarchen, der die Zumutungen einer Verfassung oder der Volkssouveränität mit Zorn von sich gewiesen haben würde. Kein Wort von der unlösbaren Einheit Goethes mit seinem Volk, von dem längst gesicherten stillen Bildungswerk, das der Goethesche Geist über seine irdische Vollendung hinaus unter den Deutschen vollzog. Man versteht diese Gedankenführung erst, wenn man bedenkt, daß sie von einem russischen Staatsmann einige Jahre 21
nach dem Dekabristenaufstand, nach der Rüdekehr zur starren Autokratie Nikolaus' I. vorgetragen worden ist. Dem Grafen Uvarov, der bis 1849 Erziehungsminister blieb, ist es trotz weitreichenden Strebens und Wirkens nicht beschieden gewesen, den Ausgleich der geschichtlichen Besinnung zwischen West und Ost für Rußland anzubahnen, den Goethe für die Deutschen bereitet und der deutschen Historie des 19. Jahrhunderts vermacht hat. Er und seine Gesinnungsgenossen lebten in sicher genießendem Besitz der deutschen und westeuropäischen Bildung und glaubten das Ihre zu tun, wenn sie sie von oben herab dem russischen Volke mitteilten, dessen Sprache sie kaum verstanden. So ist es gekommen, daß im russischen Geistesleben und in der russischen Literatur, der an Talenten und Hoffnungen ohne Vergleich reichsten des 19. Jahrhunderts, der Geist des Ewig-Leeren, mit Mephistopheles zu reden, Herr geworden ist — der Dämon jener gemein-europäischen Seelenkrankheit des weltlos, gottlos, gnadelos in seiner Einsamkeit verbrennenden oder erfrierenden Ichs, der Nihilismus, dessen gespenstischer Name durch einen russischen Roman 31 in Umlauf gesetzt worden ist. Das russische Geistesleben sonderte sich, bei äußerer Unterwerfung unter die Autokratie, vom Leben des nationalen Staates ab und erfuhr damit das geisttötende Schicksal des despotisch beherrschten Orients, wie Goethe es im Divan betrachtet. Die Versuche, das Russentum entweder im Anschluß an den Westen oder im eigenen Volkstum zu verwurzeln, halfen ihm nicht dazu, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Von romantischen Einflüssen erfaßt, ließen Puschkin und Lermontov den Russen sich selber in der willenlähmenden Spiegelung des 'überflüssigen Menschen' sehen, und Gogols große Kunst führte den Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit in eine Tiefe, die als dichterische Aufgabe nur noch den Versuch ließ, 'den Teufel lächerlich zu machen'. Auch die beiden russischen Dichter, die das lebendigste Verhältnis zu Goethe haben, die der Form ganz Herr geworden sind und der Schönheit ins Auge gesehen haben, Puschkin und Turgenjev, sind Opfer des Nihilismus 32 . W a s immer vom Westen herkam, der deutsche Idealismus oder die romantische Theorie von Kunst und Leben, die Identitätsphilosophie Schellings oder die materialistische Gesellschaftslehre — es wurde zum Gift für den in seiner Weltlosigkeit verharrenden russischen Menschen. Heute zwingen ihn seine Peiniger, dem seelenlosen Quälgeist dieser Zeit, der Maschine, sein armes Leben hinzuopfern, und zugleich kehrt er sein mehr und mehr unkenntlich werdendes Leidensgesicht der Gestaltlosigkeit des Ostens zu. So fällt der Beruf, den geistigen Zusammenhang zwischen Ost und
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West zu stiften, an das Land im Herzen Europas zurüdc. Die Aufgabe stellt sich heute unabsehbar viel schwieriger dar, als das Zeitalter Goethes sie zu sehen vermochte. Aber der deutsche Geist ist es heute wie von je, der sich auf die Ursprünge und tragenden Kräfte des ewig Europäischen zu besinnen und auf die Überwindung des Nihilismus bedacht zu sein vermag. Die Kraft, diese Seelenkrankheit zu heilen, den Menschen dieser Zeit in der Geschichte Notwendigkeit und Freiheit erfahren zu lassen, in der vertrauenden Hingabe an den Sinn der Geschichte den geforderten Ausgleich von West und Ost im Geiste zu vollziehen, ist für uns in dem Namen Goethes beschlossen. Er ist heute wie seit dem Tag, der ihn der Welt verliehen, der gute Genius Deutschlands und des Abendlandes. Goethescher Geist wird vernehmbar, wenn der dreiundachtzigjährige Leopold Ranke über die drohenden Zeichen seiner Zeit sidh erhebt, mit dem Falkenblick Lynkeus des Türmers über das Ferne und Nahe der geschichtlichen Welt hinsieht und seinen unerschütterten Glauben in ein altes Symbol des Ostens faßt 3 3 : „Ormuzd und Ahriman kämpfen immer. Ahriman arbeitet immer an der Erschütterung der Welt, aber sie gelingt ihm nicht."
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ÖSTLICHE
WANDERUNGEN
Dein Bestreben, deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben, die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug. Merck zu Goethe ( 1 7 7 5 ) 1
A
ls Goethe im Frühjahr 1770 in Straßburg ankommt, wiederhergestellt .von körperlichem und seelischem Leiden, schlägt er am Tage seiner Ankunft ein Büchlein auf, das ihm ein Freund des väterlichen Hauses zum Andenken geschenkt hatte. Die ersten Worte, auf die sein Auge trifft, sind die Verse aus dem Propheten Jesaja (54, 2/3) : „Mache den Raum deiner Hütte weit und breite aus die Teppiche deiner Wohnung, spare sein nicht; dehne deine Seile lang und stecke deine Nägel fest, denn du wirst ausbrechen zur Rechten und Linken." 'Wundersam bewegt' schreibt er davon der Mutter, die ihn dreißig Jahre später, als er von schwerer Krankheit genesen war, daran erinnert 2 . Sie selber hatte, als der Sohn, von Leipzig heimgekehrt, an Leib und Seele krank im Elternhause weilte, nach dem alten, halb christlich-frommen, halb heidnisch-schicksalsgläubigen Brauch der Losbefragung aus der Bibel Trost gesucht und ihn in dem W o r t des Jeremia ( 3 1 , 5 ) gefunden: „Man wird wiederum Weinberge pflanzen an den Bergen Samariä, pflanzen wird man und dazu pfeifen." 3 Das große Geschenk, das Goethe von seiner Mutter empfing, war der lebendige Umgang mit der Bibel. Für die Frau Rat war die Bibel wirklich das Buch der Bücher; zumal im Alten Testament fand sie ihr frohes und tatkräftiges Gottvertrauen bestätigt. Den Sohn begleitete das Buch durch sein ganzes Leben. Goethe ist unter den deutschen Dichtern sein treuester Leser und genauester Kenner. Die Sprache seiner Dichtung und Betrachtung, ebenso seiner Briefe, zeigt auf Schritt und Tritt biblische Erinnerungen und Anspielungen. Gestalten und Motive der Bibel setzen seine Dichtung von den ersten Formungsversuchen bis zu dem letzten Werk, dem 'Hauptgeschäft' des Alters, wieder und wieder in Gang. Bei seiner Begegnung mit Hafis vergleicht er sich ihm als Kenner der heiligen Schriften 4 . 'Hafis' ist unter den Muhammedanern der Ehrenname dessen, der den Koran auswendig weiß. Dem persischen Dichter steht der deutsche nicht nach,
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der idi unsrer heil'gen Bücher herrlich Bild an mich genommen, wie auf jenes Tuch der Tüdier sich des Herren Bildnis drüdcte, mich in stiller Brust erquickte, trotz Verneinung, Hind'rung, Raubens, mit dem heitern Bild des Glaubens.
ü b e r die Welt der Bibel ist Goethe seit der Straßburger Zeit dank den neuen Bildungsantrieben, die sie ihm vermittelte, hinausgeschritten. Von da an erschließt er sich die Weite des Orients, von den Ursprüngen bis zu seiner Gegenwart, vom Land und Volk der Bibel zu den Arabern und Persern, ja bis nach Indien und China hin. In der Entfaltung von Goethes Sehen und Schaffen spiegelt sich der große Bildungsvorgang, in dem das 18. Jahrhundert die Grenzen der durch antikes und christliches Erbe zusammengehaltenen abendländischen Kultur überschreitet und in der Anschauung des näheren und ferneren Ostens erweitert. Dieser Vorgang hat ein doppeltes Gesicht. Einmal bricht er mit der theologisch-heilsgeschichtlichen Ausdeutung der Bibel und mit der Selbstabgrenzung der mittelalterlich-christlichen Welt gegen den vom Christentum abgefallenen oder ihm fern gebliebenen Orient. Sodann bahnt er das entwicklungsgeschichtliche Verständnis der biblischen Religion an, als einer von Ort, Zeit, Volkstum, politischem und sozialem Geschehen mannigfach bedingten geschichtlichen Größe, und zugleich die unbefangene Ansicht der orientalischen Völker außerhalb des biblischen Bereichs und der Gesamtheit ihres geistigen Schaffens. Bis zur Aufklärung und der von ihr hervorgerufenen Wandlung des geschichtlichen Bewußtseins lebte die Christenheit der Reformationskirchen in einer natürlichen und unproblematischen Verbindung ijiit der Bibel. In ihr fand sie das Hauptstück ihrer eigenen Geschichte geschrieben, von der Erschaffung der Welt bis zur Ankunft des Herrn und dem seinem Jünger enthüllten Gesicht vom Ende der Dinge. Diese Verbindung schnitt die Aufklärung durch. Zugleich stellte sie die Aufgabe, die früheren Jahrhunderten unverständlich gewesen wäre: das fremdartige Wesen der orientalischen Kulturen als in sich sinnvoll und wertvoll neben dem eigenen geschichtlichen Dasein zu begreifen. Es war eine Aufgabe, die außer der Fähigkeit des Auffassens und Lernens auch Charakter erforderte: die Kraft, zwischen der Erfassung des fremden und der Behauptung des eigenen Wertes das rechte Gleichgewicht herzustellen. W o sie nicht vorhanden oder geschwächt war, wo sich, zumal unter Deutschen, die Verführung
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zur Selbstpreisgabe an das Neu- und Fremdartige um seiner selbst willen und der Zug zur Auflehnung wider den Geist der eigenen Zeit und Umwelt zusammenfanden, da war das Ergebnis das Spiel mit der Erscheinungsmannigfaltigkeit des orientalischen Lebens, als mit einem bloßen Reiz der Einbildungskraft. Die orientalischen Träume Herders, mehr noch der Romantiker haben hier ihren Ursprung. Der notwendige Rückschlag erfolgte in der rein auf die Ermittlung des Tatsächlichen gerichteten Arbeit der Orientkunde im 19. Jahrhundert.
* Die geschichtliche Betrachtung der orientalischen Welt hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchgesetzt, zumal auf dem Felde, wo sie sich zuerst erhob, auf dem der Bibel. Ihr Werkzeug ist die Kritik. Diese hat das im Alten Testament enthaltene Bild der Geschichte Israels auflösen und durch ein neues ersetzen müssen. Die Gesetzgebung, die nach den Mosebüchern der ältesten Zeit vor der Einwanderung in Kanaan angehörte, hat sich als ein literarisches Erzeugnis des 7. bis 5. Jahrhunderts erwiesen. Der Geist, der aus ihr spricht, steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Entwicklung Israels in der Zeit seiner staatlichen Selbständigkeit. Die gesamte Überlieferung über die Urgeschichte, die Erzväter, den Aufenthalt in Ägypten, das Wirken Moses, den Wüstenzug, die Eroberung Kanaans gehört der Sage an, die in der älteren Königszeit, etwa um 900, zum ersten Male gesammelt und literarisch bearbeitet wurde; sie enthält nur unsichere Spuren echter geschichtlicher Erinnerung. Von den Schriften und Dichtungen, die den Königen David und Salomo zugeschrieben werden, gehört ihnen kaum ein Stück. Sämtliche Schriften der vorexilischen Zeit haben spätere Eingriffe und Zutaten erfahren, von denen sie, soweit noch möglich, befreit werden müssen, um geschichtlich ausgewertet zu werden. Umgekehrt sind nachexilische Schriften älteren Verfassern zugeteilt oder älteren Büchern einverleibt worden. Das Alte Testament zeigt einen Ablauf, an dessen Anfang der Offenbarungsbund Gottes mit seinem erwählten Volk steht, das in der Folgezeit abwechselnd von ihm abfällt und wieder zu ihm zurückgeführt wird. Die kritische Arbeit zeigt, daß diese Auffassung einschließlich des Erwählungsgedankens die unter der Wirkung des Prophetismus herausgebildete priesterliche Geschichtsdeutung ist, die seit der Wiederaufrichtung der Gemeinde unter persischer Hoheit im 5. Jahrhundert offizielle Geltung erhielt, nicht aber die wirkliche Geschichte. Diese wird erst sichtbar, wenn man die kritisch durchdrungene alttestamentliche Überlieferung in die Geschichte des alten 26
Orients hineinstellt, die vor hundert Jahren noch so gut wie unbekannt war und seither — zehn Jahre vor Goethes Tode, 1822, gelang dem Franzosen Champollion die Entzifferung der Hieroglyphen — für den Zeitraum von dreitausend Jahren vor dem Beginn unserer Zeitrechnung erschlossen worden ist. Im Bunde mit der vor- und frühgeschichtlichen Forschung bestätigt die Erschließung des alten Orients den sagenhaften Charakter der biblischen Überlieferung von der Urzeit. Vollends ist heute die Möglichkeit abgeschnitten, an die noch die Zeit Goethes und er selber glaubte: aus dem ersten Mosebuche eine Anschauung von den frühesten Zuständen der Menschheit zu gewinnen. Die Kritik des Neuen Testaments hat zwar gewisse Übertreibungen, denen sie während des 19. Jahrhunderts dann und wann zu verfallen drohte, wieder abstreifen müssen. Aber auch was dann bleibt, bedeutet die Auflösung des hergebrachten Bildes von der Geschichte des Urchristentums. Auch im Neuen Testament erweisen sich mehrere Schriften als nicht den Verfassern gehörig, denen sie zugeschrieben wurden. Das vierte Evangelium hat seinen Platz unter den Quellen für die Geschichte Jesu räumen müssen. Die Wunder, die mit dem Wirken Jesu, besonders mit seiner Geburt und seinem Ausgang verknüpft erscheinen, sind nicht dem urchristlichen Glauben eigentümlich, sondern Gemeingut der zeitgenössischen religiösen Vorstellungen. Die Offenbarung des Johannes, die schwerlich demselben Verfasser angehört wie das vierte Evangelium, ist nur der Form nach ein Visionsbericht; tatsächlich verarbeitet sie Bilder und Motive, die einer umfangreichen Offenbarungsliteratur älteren Ursprungs gemeinsam sind. Vor allem ist die Möglichkeit geschwunden, das Evangelium und Paulus in eins zu sehen. Die Missionspredigt des Paulus ist eine persönlich freie Ausdeutung der urchristlichen Botschaft. Was das Verhältnis der beiden Teile der Bibel zueinander angeht, so hat die geschichtliche Sehweise der Lehre einer Vorbereitung des Neuen durch das Alte, einer Erfüllung des Alten im Neuen Testament den Boden entzogen. Wohl geht durch die alttestamentliche Entwicklung ein geistiger Zusammenhang, der zum Urchristentum hinführt. Aber weder reicht die für die vier letzten vorchristlichen Jahrhunderte spärliche biblische Überlieferung hin, um die Vorgeschichte des Urchristentums faßbar zu machen, noch hilft sie zum Verständnis des Neuen und geschichtlich Einmaligen im Auftreten Jesu. Diese bekannten Tatsachen, über die es heute auf dem Boden der Geschichtsforschung grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten nicht mehr gibt, sind seit der Goethezeit, die von ihnen noch kaum etwas wußte,
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nicht etwa in ungestört fortschreitender Forschung, sondern Schritt um Schritt gegen einen kirchlichen und konfessionellen Widerstand erarbeitet worden, dessen Besorgnis um den Verlust heiliger Güter niemand für unbegreiflich halten kann. Gegenüber einer theologischen Richtung, die am Fortschreiten der geschichtlichen Erkenntnis ohne Rückhalt teilnimmt, hält die konservative Theologie, bei äußeren Zugeständnissen, die sie der Kritik macht, an dem vorkritischen Bild der Heilsgeschichte grundsätzlich fest. Das Ergebnis ist auf der einen Seite, im kirchlichen Christentum, das Fortleben einer ungeschichtlichen Betrachtung der Bibel, die aus dem Zusammenhang der allgemeinen Geschichte ausgesondert wird, auf der anderen Seite, bei denen, die sich dem kirchlichen Christentum abgekehrt haben, eine Unkenntnis, die sich leicht mit Gleichgültigkeit oder Mißachtung paart. Zu den Büchern, deren Kenntnis für unerläßlich gilt, zählt die Bibel nicht mehr; wer sich schämen würde, von Antigone, von Hamlet, von Wilhelm Meister nichts zu wissen, schämt sich keineswegs, das Buch Hiob oder den Römerbrief nicht gelesen zu haben. Es erhebt sich die Frage, ob es ein lebendiges Verhältnis zur Bibel geben kann, das ihr gerecht wird, indem es sich auf vorbehaltlose geschichtliche Erkenntnis gründet, aber nicht, um die Masse lebloser geschichtlicher Tatsachen zu vermehren, sondern um in dem, was die Bibel erzählt, des geschichtlichen Gehalts, der Taten und Leiden des Menschen ansichtig zu werden. Diese Frage wird bejahen, wer auf Goethe hinblickt. Seinen Umgang mit der Bibel, aus dem seine Wanderungen im Orient entspringen, fassen wir ins Auge. ^ Goethes Aneignung der Bibel beruht auf der Erziehung des Elternhauses und zeigt seit dem Eintritt in das bewußte Leben den unbeirrbaren Zug, der sein Eindringen in die geistige Welt überhaupt kennzeichnet: den Zug zu bildhafter Vergegenwärtigung, die sein eigenes gestaltendes Vermögen in Bewegung setzt. Wie seine Sprache, in ihrem Streben zu immer reicherer, schlagenderer, bedeutungsvollerer Bezeichnung des Gegenständlichen, aus dem Wort- und Bilderschatz der Bibel unerschöpfliche Nahrung zieht, so wird seine Phantasie nicht müde, die ihr früh eingeprägten Bilder und Gestalten in sich zu bewegen und ihren Gehalt aus fortschreitender Erfahrung des menschlichen Lebens zu bereichern. Als er im Alter für 'bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort' 6 dankt, die ihm der Leipziger Mediziner Heinroth gewährt hatte, indem er sein Denken 'gegenständlich' nannte, da überträgt er diese Kennzeichnung auf sein Dichten:
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W a s nun von meinem gegenständlichen Denken gesagt ist, mag idi wohl audi ebenmäßig auf eine gegenständliche Dichtung beziehen. Mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich überliefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig bis fünfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schönste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch, ohne sich zu verändern, einer reineren Form, einer entsdiiednern Darstellung entgegenreiften.
Von den frühesten dichterischen Versuchen, die biblische Stoffe behandelten, ist so gut wie nichts erhalten; sie haben 1767 „ihre Jugendsünden nicht anders als durch Feuer büßen können" 6 . Die theologisdien Aufsätze und biblischen Dichtungen nach der Rückkehr aus Straßburg bezeichnen das Übergangsstadium der Eingewöhnung in die neue Welt, die ihm Herder erschlossen hatte. Erst im Alter, als er den Zusammenhang seines Lebens und seines Dichtens und Forschens überschaute, hat er zusammenfassend ausgesprochen, was die Bibel für seine Jugend bedeutet hatte und wie er nunmehr ihre erzieherische und bildende Wirkung sah. So sind es vor allem die drei ersten Teile von 'Dichtung und Wahrheit', zusammen mit zeitlich benachbarten Aufzeichnungen, die über Goethe und die Bibel Aufschluß geben. Die scheinbaren und wirklichen Unstimmigkeiten zwischen den gleichzeitigen Urkunden aus Goethes Jugendzeit und der Darstellung in 'Dichtung und Wahrheit', wie die neuere Forschung sie aufdeckt7, erklären sich teils aus dem zeitlichen Abstand von vierzig Jahren und darüber, teils aus der Vertiefung des Blicks, der nun das Beharrende im Wechsel, die innere Einheit und Folgerichtigkeit der scheinbar widerspruchsvollen und vom Zufall geleiteten Entwicklung wahrnimmt. Die Kritik an 'Dichtung und Wahrheit' muß sich vor der Gefahr hüten, über der Tyche den Daimon zu vergessen. Um dieselbe Zeit, da Goethe sich eindringlich mit dem Nibelungenlied beschäftigte (1808), wurden ihm von dem Münchner Studienrat Fr. Niethammer zwei weitausgreifende Pläne nahegebracht. Sie betrafen „ein historisch religiöses Volksbuch und eine allgemeine Liedersammlung zu Erbauung und Ergötzung der Deutschen" 8 , blieben aber unausgeführt. In innerem Zusammenhang mit diesen Erwägungen steht die Würdigung der Bibel als eines Buchs der Völker, die in der 'Geschichte der Farbenlehre' ihren Platz gefunden hat 9 und darum nicht allzu bekannt ist. Sie bringt den Inbegriff von Goethes Umgang mit der Bibel zum Ausdruck. Jene große Verehrung, welche der Bibel von vielen Völkern und Geschlechtern der Erde gewidmet worden, verdankt sie ihrem innern Wert. Sie ist nicht etwa nur ein Volksbuch, sondern das Buch der Völker, weil sie die Schicksale eines Volkes zum Symbol aller übrigen aufstellt, die Geschichte desselben an die Entstehung der Welt anknüpft und
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durch eine Stufenreihe irdischer und geistiger Entwicklungen, notwendiger und zufälliger Ereignisse, bis in die entferntesten Regionen der äußersten Ewigkeiten hinausführt. W e r das menschliche Herz, den Bildungsgang der Einzelnen kennt, wird nicht in Abrede sein, daß man einen trefflichen Menschen tüchtig heraufbilden könnte, ohne dabei ein anderes Buch zu braudien als etwa Tschudis schweizerische oder Aventins bayerische Chronik. Wieviel mehr muß also die Bibel zu diesem Zwecke genügen, da sie das Musterbuch zu jenen erstgenannten gewesen, da das Volk, als dessen Chronik sie sidi darstellt, auf die Weltbegebenheiten so großen Einfluß ausgeübt hat und noch ausübt. Es ist uns nicht erlaubt, hier ins einzelne zu gehen; doch liegt einem jeden vor Augen, wie in beiden Abteilungen dieses wichtigen Werkes der geschichtliche Vortrag mit dem Lehrvortrage dergestalt innig verknüpft ist, daß einer dem andern auf- und nachhilft, wie vielleicht in keinem andern Buche. Und was den Inhalt anbetrifft, so wäre nur wenig hinzuzufügen, um ihn bis auf den heutigen Tag durchaus vollständig zu machen. Wenn man dem Alten Testamente einen Auszug aus Josephus beifügte, um die jüdische Geschichte bis zur Zerstörung Jerusalems fortzuführen; wenn man, nach der Apostelgeschichte, eine gedrängte Darstellung der Ausbreitung des Christentums und der Zerstreuung des Judentums durch die Welt, bis auf die letzten treuen Missionsbemühungen apostelähnlicher Männer, bis auf den neuesten Sdiacher- und Wucherbetrieb der Nachkommen Abrahams, einschaltete; wenn man vor der Offenbarung Johannis die reine christliche Lehre im Sinne des Neuen Testaments zusammengefaßt aufstellte, um die verworrene Lehrart der Episteln zu entwirren und aufzuhellen: so verdiente dieses Werk gleich gegenwärtig wieder in seinen alten Rang einzutreten, nicht nur als allgemeines Buch, sondern auch als allgemeine Bibliothek der Völker zu gelten, und es würde gewiß, je höher die Jahrhunderte an Bildung steigen, immer mehr zum Teil als Fundament, zum Teil als Werkzeug der Erziehung, freilich nicht von naseweisen, sondern von wahrhaft weisen Menschen genutzt werden können.
W e r diesen Sätzen nachdenkt, erkennt die Behutsamkeit, mit der aus dem widerspruchsvollen Ganzen der biblischen Schriften die ideelle Einheit herausgehoben wird, und zwar so, daß dem christlichen Verständnis ebenso Genüge geschieht wie einer Betrachtung, die sich auf den allgemein menschlichen Gehalt richtet. Goethes Erwartung, die zum Volksbuch ausgestaltete Bibel möge künftighin als Fundament und Werkzeug der Erziehung dienen, ist in dem Jahrhundert, das auf ihn folgte, mehr und mehr unerfüllbar geworden. Denn in dieser Zeit hat sich aus der Wiederentdeckung des deutschen Altertums und Mittelalters, die in Goethes Tagen begann, und aus der Erweiterung des Blicks in die allgemeine Geschichte die Einsicht erhoben, daß das antike ebenso wie das biblisch-christliche Erbe nur Bestandstüdce einer Bildung sein können, deren Lebensquell das geschichtliche Selbstbewußtsein der Nation ist. In ihr findet die Bibel, deren Aneignung ein wesentliches Stüde der Geschichte des deutschen Geistes ist, ihren Platz — die Bibel, wie Goethe sie sehen lehrt. 30
Das andere, das in den angeführten Sätzen wie in den zugehörigen Aussagen in 'Dichtung und Wahrheit' zutage tritt, ist eine Ehrfurcht, die jedem Verehrer der Bibel seine Sehweise läßt, ohne sich selber auf einen beschränkten Blickpunkt festlegen und von ihm aus zur Ablehnung anderer Ansichten nötigen zu lassen. Goethe wahrt in allen Dingen des Glaubens anderen und sidi selber gegenüber die Diskretion, die er zur Grundforderung menschlichen Zusammenlebens erhob: „Die Bedeutsamkeit der unschuldigsten Reden und Handlungen wächst mit den Jahren, und wen ich länger um midi sehe, den suche ich immerfort aufmerksam zu machen, welch ein Unterschied stattfinde zwischen Aufrichtigkeit, Vertrauen und Indiskretion, ja daß eigentlich kein Unterschied sei, vielmehr nur ein leiser Ubergang vom Unverfänglichsten zum Schädlichsten, welcher bemerkt oder vielmehr empfunden werden müsse." 10 Wie er es abwies, sich zu irgendeiner ihm nicht gemäßen Glaubensansicht bekehren zu lassen - er hat um dieser Freiheit willen den Bruch von mehr als einer seiner Freundschaften auf sich genommen —, so hat er die Bibel weder rationalistisch klügelnd noch pietistisch empfindsam, weder romantisch träumend noch kritisch ungerührt lesen wollen. Er hat sie mit Bedacht als das Buch gelesen, an dem dreitausend Jahre Menschheitsgeschichte hängen — so hat er gezeigt, wie ein Deutscher die Bibel lesen kann.
* Goethes Wanderung in den Osten beginnt in früher Jugend. Die Phantasie des Knaben erfüllt sich mit den Gestalten der biblischen, zumal der alttestamentlichen Geschichte. Gleichzeitig wird seine Neugier von dem Stüde östlichen Lebens in seiner Nähe, von der Frankfurter Judengasse erregt. Sein sprachlich-mimisches Vermögen wird lebendig: er lernt das 'barocke Judendeutsch' lesen und schreiben, verwendet es in dem vielsprachigen Briefroman, den er erfindet, um in die vom Vater geforderten Sprachübungen einige Kurzweil zu bringen, und geht alsbald zu Ernsterem über: zur Erlernung des Hebräischen und zum Grundtext des Alten Testaments. In dem Unterricht des bizarren Rektors Albrecht hat der Fünfzehnjährige, dem es nicht um Grammatik, sondern um rasches Eindringen in den Text ging, doch so viel von der schwierigen Sprache erlernt, daß er noch elf Jahre später, kurz vor dem Aufbruch nach Weimar, in seiner Übersetzung des Hohenliedes (1775) dort, wo er von den älteren Übersetzungen abweicht, ein selbständiges Sprachverständnis an den Tag legt11. Die frühesten Motive seiner Dichtung stammen aus der Bibel. Die Ge31
stalt Josefs hat es ihm besonders angetan. Er beschreibt in einem Aufsatz einen Kreis von zwölf Bildern, die das Leben Josefs schildern. Den gleichen Gegenstand behandelt auch eine umfangreiche Prosadichtung. Im Gefolge Klopstocks schreibt er ein fünfaktiges Belsazar-Drama in strenger Form, das er noch von Leipzig aus in Briefen mehrmals erwähnt, um es dann mit anderen Entwürfen zu verbrennen 12 ; aber in der 1910 wiedergefundenen voritalienischen Fassung des Wilhelm Meister ist der eindrucksvolle Monolog des Belsazar erhalten geblieben, der den zweiten Akt des Dramas einleitete13. Von allen diesen Versuchen wird gelten, was Goethe bei Erwähnung der Josefsdichtung sagt: „Ich bedachte nicht, was freilich die Jugend nicht bedenken kann, daß hiezu ein Gehalt nötig sei, und daß dieser uns nur durch das Gewahrwerden der Erfahrung selbst entspringen könne." 14 Eine Anschauung der frühesten Stufe von Goethes Poesie geben die ohne sein Wissen nach dem Abschied von Frankfurt 1766 gedruckten 'Poetischen Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi': technisch geschickt, pointiert, von bedeutender sprachlicher Übung zeugend, ist das Gedicht mit seinem donnernden Pathos an der geistlichen Dichtung derZeit gemessen gewiß unverächtlich; aber es fehlt jeder Hauch von persönlichem Erleben und Empfinden. Aus der Zerstreuung seines Lebens und Lernens, aus der Unruhe seiner Einbildungskraft zieht er sich zu den Ur- und Erzvätergeschichten zurück, die ihm zu einer seelischen Heimstatt, zur unversieglichen Quelle inneren Friedens werden. Im vierten Buch von 'Dichtung und Wahrheit' erzählt sich der Sechzigjährige besinnlich die alten Geschichten noch einmal, um wieder die Stille des Herzens zu spüren, die sie einst erweckten. Man denkt daran, wie ihm einst in den Weimarer Jahren ein Wort so lieb war, daß Karoline Herder es sein Motto nennt 15 , das Wort des Jesaja (30,15): So ihr stille wärt, würde euch geholfen. Der Wunsch, sich 'einer vollständigen Ansicht des Altertums' zu versichern, zieht ihn zu Heyne und Michaelis nach Göttingen (o. 9). Griechisch-römische und orientalische Altertumskunde gehören ihm zusammen und sollen der gemeinsame Gegenstand seines Studiums sein. Aber der Wille des Vaters bestimmt es anders; er entscheidet für Leipzig und die Rechte. Die Leipziger Zeit bedeutet äußerlich wie innerlich die Abkehr von der Welt des Elternhauses, damit auch von der kindlichen Hingabe an die biblischen Geschichten. Aber der körperliche und seelische Zusammenbruch, mit dem sie endet, führt auf den Weg, den der Leipziger Freund E. Th. Langer weist und den in Frankfurt ein Kreis von Freunden des 31
Elternhauses, unter ihnen Susanne von Klettenberg, längst beschritten hat: den Weg zu einem Erwedkungschristentum pietistischer Färbung, nahe verwandt der Frömmigkeit der Herrnhuter, deren Niederlassung in dem hessischen Marienborn Goethe im Herbst 1769 besucht. Die Urkunde dieser Wendung sind die erst vor fünfzehn Jahren ans Licht getretenen Frankfurter Briefe an Langer 18 . Sie sind freilich weit davon entfernt, das ganze Wesen des zwanzigjährigen Goethe auszusagen. Es ist doch eine starke innere Spannung zwischen ihnen und den gleichzeitigen, halb aus Neugier, halb aus unsicherer Wahrheitssuche betriebenen Studien in hermetischer, kabbalistischer, aldiemistischer und ähnlich lichtscheuer Literatur. Aus ihnen ging der seltsame Weltentstehungsmythos hervor, der am Ende des 8. Buches von 'Dichtung und Wahrheit' mitgeteilt ist. So wie er dort vorgetragen wird, trägt er allerdings unverkennbar Züge der Weltbetrachtung, die Goethe sich erst während der achtziger und neunziger Jahre auf dem Wege seiner morphologischen Studien erarbeitete; es wird von ihm später im Zusammenhang mit dem 'Paria' die Rede sein. Ferner ist nicht zu vergessen, daß in die gleiche Zeit die Arbeit an den 'Mitschuldigen' fällt, deren beide erhaltene Handschriften die Jahreszahl 1769 tragen — an einer Dichtung also, die eine fast unheimlich ruhige Offenheit des Blickes für das menschlich Niederträchtige kundtut. So ist gewiß schon damals in Goethe, wie dann in seinem ganzen Leben, neben der christlichen die widerchristliche Stimme laut gewesen, jene aus seiner tiefsten Natur, aus seinem unbedingten Tätigkeitssinn herrührende Absage an den Gedanken der Erbsünde, von der im Eingang des fünfzehnten Buches von 'Dichtung und Wahrheit' die Rede ist. Ebendort werden die Verse mitgeteilt, die Goethe 1774 mit einem Bilde der Susanne von Klettenberg einer auswärtigen Freundin sendet; in ihnen heißt es: „Sieh dein Bild ihr gegenüber und den Gott, der für eudb litt/' „Wenn ich mich in diesen Strophen, wie auch sonst wohl manchmal geschah, als einen Auswärtigen, Fremden, sogar als einen Heiden gab, war ihr dieses nicht zuwider, vielmehr versicherte sie mir, daß ich ihr so lieber sei als früher, da ich mich der christlichen Terminologie bedient, deren Anwendung mir nie recht habe glücken wollen." Diese Worte muß sich der Leser der Langer-Briefe vor Augen halten 17 .
* Es ist ein unruhig bewegtes Meer gestaltloser Gefühle und Gedanken, in das nun in Straßburg der Sturzbach der Belehrung Herders fällt. Wer es über sich vermag, das im Wortsinne atemraubende 'Journal meiner Reise 3 S c h a e d e r , Goethe
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im Jahre 1769' mit seinen schwindelnden Gedankenflügen durch alle Bereiche der Natur und des Geistes, mit seiner Zielsetzung einer 'Universalgeschichte der Bildung der Welt' durchzulesen, der hat den Mann leibhaft vor sich, der für Goethes geistige Entwicklung bedeutsam werden sollte wie kein zweiter Mensdi. Die Begegnungen in dem verdunkelten Straßburger Krankenzimmer werden zu Schidcsalsstunden des deutschen Geistes. Was der durch keine Härte und Kränkung irre zu machende Schüler von Herder und durch ihn von Hamann lernt, ist nichts Geringes; aber was sein Genius daraus in der Folgezeit erwachsen läßt, ist mehr: daß er sprechen lernt, wo Herder stammelt oder schreit; daß er zu gestalten beginnt, wo Herder proteisch wechselnde Entwürfe und Programme um sich streut, bei deren Ausführung er rasch müde wird; daß Goethe das Herderische in sich überwindet, daß er von den Büchern, aus wüster Vielleserei, zum Leben und zu den Menschen zurückkehrt. Im Frühjahr nach der Begegnung entstehen die Verse, in denen ein nie gehörter Seelenton aufklingt, in denen das deutsche Lied neu geboren wird: 'Willkommen und Abschied.' Im Lichte der Hamann-Herderschen Lehren von der ursprünglichen Einheit von Sprache, Dichtung und Religion, von der Dichtung als gemeinsamer Muttersprache der Menschheit und als Organ des Volksgeistes gewinnt nun die Bibel für Goethe ein neues Gesicht. Aus einem unproblematischen Besitz des Gemüts wird sie zum Gegenstand kritischen Prüfens und ästhetischen Betrachtern, aus dem Stoff unendlicher Streitigkeiten theologischer Ausleger verschiedener Richtung zu einem frei gewachsenen und unbefangen anzuschauenden Erzeugnis von Natur und Geschichte. Es wird der Weg zu einem im höchsten Sinne natürlichen Verständnis der Bibel freigelegt. In dieser Zeit festigt sich in Goethe die Gewißheit, daß es in ihr wie in allem schriftlich überlieferten einen durch keine Trübung und Entstellung unkenntlich zu machenden Gehalt gibt, der sich dem aufmerksam forschenden Sinn nicht entzieht: Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erforschen, sei daher eines jeden Sache, und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde; alles Äußere hingegen, was auf uns unwirksam oder einem Zweifel unterworfen sei, habe man der Kritik zu überlassen, welche, wenn sie auch imstande sein sollte, das Ganze zu zerstückeln und zu zersplittern, dennoch niemals dahin gelangen würde, uns den eigentlichen Grund, an dem wir festhalten, zu rauben, ja uns nicht einen Augenblick an der einmal gefaßten Zuversicht irrezumachen. Diese aus Glauben und Schauen entsprungene Überzeugung, welche in allen Fällen, die wir für die wichtigsten erkennen, anwendbar und stärkend ist, liegt zum Grunde
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meinem sittlichen sowohl als literarischen Lebensbau und ist als ein wohlangelegtes und reichlich wucherndes Kapital anzusehen, ob wir gleidi in einzelnen Fällen zu fehlerhafter Anwendung verleitet werden können. Durdi diesen Begriff ward mir denn die Bibel erst recht zugänglich. Ich hatte sie, wie bei dem Religionsunterricht der Protestanten geschieht, mehrmals durchlaufen, ja midi mit derselben sprungweise, von vorn nach hinten und umgekehrt, bekanntgemacht. Die derbe Natürlichkeit des alten Testaments und die zarte Naivetät des Neuen hatte mich im einzelnen angezogen; als ein Ganzes wollte sie mir zwar niemals recht entgegentreten, aber die verschiedenen Charaktere der verschiedenen Bücher machten mich nun nicht mehr irre; ich wußte mir ihre Bedeutung der Reihe nach treulich zu vergegenwärtigen und hatte überhaupt zuviel Gemüt an dieses Buch verwandt, als daß ich es jemals wieder hätte entbehren s o l l e n . . . Jede Art von redlicher Forschung . . . sagte mir höchlich zu, die Aufklärungen über des Orients Lokalität und Kostüm, welche immer mehr Licht verbreiteten, nahm ich mit Freuden auf und fuhr fort, allen meinen Scharfsinn an den so werten Oberlieferungen zu ü b e n 1 8 .
Diese Sätze, in denen man den Sinn philologischer Arbeit überhaupt ausgedrückt finden mag 19 , enthalten den Schlüssel für die Vielseitigkeit und scheinbare Zwiespältigkeit in Goethes Beschäftigung mit der Bibel seit Straßburg. In ihr geht die Bemühung um das 'Innere, Eigentliche', die sich nur in eigener dichterischer Hervorbringung erfüllen kann, zusammen mit halb theologischen Erörterungen, die sich bald der sibyllinischen Sprache Hamanns und Herders annähern, bald der gemütvollen Redeweise der Stillen im Lande bedienen, mit schonungslos heftigen Angriffen gegen das feindliche Zwillingspaar der orthodoxen und der rationalistischen Schriftauslegung, endlich mit kritischen Untersuchungen, die sich in die Nähe der beginnenden historischen Bibelforschung nach der Art J . D. Michaelis1 ( 1 7 1 7 - 1 7 9 1 ) und J . G. Eichhorns ( 1 7 5 2 - 1 8 2 7 ) stellen. In den 'Frankfurter Gelehrten Anzeigen' (1772) wird die grobe und ehrfurchtslose Auslegung,' die das Schreckenskind der deutschen Aufklärungstheologie, der Gießener Professor und spätere Hallenser Bierwirt Karl Friedrich Bahrdt, der biblischen Paradiesesgeschichte hatte angedeihen lassen, von Goethe übel zerzaust. Da heißt es ganz herderisch: „Hätte der Verfasser sich den Schriften Mosis auch nur als einem der ältesten Monumente des menschlichen Geistes, als Bruchstücken einer ägyptischen Pyramide mit Ehrfurcht zu nähern gewußt, so würde er die Bilder der morgenländischen Dichtkunst nicht in einer homiletischen Sündflut ersäuft, nicht jedes Glied dieses Torso abgerissen, zerhauen und in ihm Bestandteile deutscher Universitätsbegriffe des 18. Jahrhunderts aufgedeckt haben." Noch schlimmer erging es Bahrdt in der dramatischen Satire 'Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes', die Goethe 1774 als namenlosen Einzeldruck hinausgehen ließ.
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Im Jahre vorher, um dieselbe Zeit, da Lessing den Kampf wider die Orthodoxie aufnahm, erschienen, gleichfalls ohne den Verfasser zu nennen, die beiden kleinen Schriften 'Brief des Pastors zu * * * an den neuen Pastor zu * * * , aus dem Französischen' und 'Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen, zum erstenmal gründlich beantwortet, von einem Landgeistlichen in Schwaben'. Jene, die Lavaters Aufmerksamkeit erregte, predigt ein entschiedenes und dabei duldsames Gesinnungs- und Tatchristentum, ohne dogmatische Klügelei und konfessionelle Streitsucht, wurzelnd in dem „Glauben an die göttliche Liebe, die vor so viel hundert Jahren unter dem Namen Jesus Christus auf einem kleinen Stückchen Welt eine kleine Zeit als Mensch herumzog". Daß sie nicht einfach als Bekenntnis gefaßt sein will, zeigt die literarische Einkleidung. Seine eigene Sprache spricht Goethe nicht hier, sondern in Götz und Werther. Die andere Schrift gilt den beiden Fragen 'Was stund auf den Tafeln des Bunds?' und 'Was heißt Mit Zungen reden?' Die Antwort bezeugt beide Male eine genaue und unbefangene Beobachtung der biblischen Texte. Der zweite Aufsatz sieht in dem Zungenreden der korinthischen Gemeinde, dem Paulus entgegenarbeitet (1. Korintherbrief 14), eine Ausartung der Geistsprache des Pfingstfestes (Apostelgeschichte 2 ) ; daß die beiden Erscheinungen in der T a t zusammengehören, nimmt auch heutige Forschung an 20 . Goethe bewegt sich hier ganz auf den Gedankenbahnen und in dem deklamatorischen Tone Herders, der zur gleichen Zeit denselben Fragen nachging, aber erst zwanzig Jahre später öffentlich dazu das Wort ergriff 21 . Bemerkenswert ist der erste Aufsatz. Er kehrt die hergebrachte Annahme der Ursprünglichkeit der zehn Gebote in 2. Mose 20 ( = 5. Mose 5) gegenüber denen in 2. Mose 34 um, weil der Bund, durch den Israel besonders verpflichtet wurde, auf besondere, nicht auf allgemein menschheitliche Gebote gegründet sein mußte. Mit ähnlicher Begründung — kultische Gebote ursprünglicher als ethische — und mit Bezugnahme auf Goethes Vorgang hat der Bahnbrecher der heutigen geschichtlichen Anschauung vom Alten Testament, Julius Wellhausen, die nämliche Auffassung vertreten 22 . Die neuere Stilkritik neigt jedoch dazu, die Reihe der Gebote in 2. Mose 34 als 'sekundäres Mischprodukt' anzusprechen 23 . Für Goethes Entwicklung ist diese Arbeit aufschlußreich. Von seiner früheren Versenkung in das erste Buch Mose hörten wir; sie klingt nach, wenn Werther, am Brunnen sitzend, die 'patriarchalische Idee' lebendig fühlt, „wie sie alle, die Altväter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freien." 2 4 Jetzt spürt man eine durchaus veränderte Stimmung und Blickrichtung. Bei
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der Wanderung durch die folgenden Bücher ist der Sinn für die literarischen und geschichtlichen Fragen erwacht, er ist auf die Unstimmigkeiten aufmerksam geworden, die dann freilich nicht auf dem hier eingeschlagenen Wege: durch Besinnung auf das Naturgemäße zur Sonderung des Geschichtlichen vom Sagenhaften zu gelangen, sondern erst durch die Entdeckung der Quellen der Mosebücher und ihres Zusammenschlusses im Verlauf eines halben Jahrtausends aufgehellt worden sind. Goethe selber gedenkt dieser Versuche im Alter anscheinend nicht gern, wenn er von 'wunderlichen Einfällen' spricht25. Um so bedeutsamer ist es, daß er seine Untersuchungen über den Charakter des Mose und über die Wüstenwanderung der Israeliten zweimal wieder aufnimmt: 1797, um sie zu einem Aufsatz für Schillers 'Hören' auszuarbeiten, der infolge des neu auftauchenden Plans einer Italienreise nicht zustande kommt, dann wiederum zwanzig Jahre später, um sie für die 'Noten und Abhandlungen' des Divans fertig zu machen. Wir kommen darauf zurück. Auf dem Wege von Forschung zu freier dichterischer Gestaltung stehen, beide der vorweimarischen Zeit angehörend, die Parabeldichtung 'Salomons, Königs von Israel und Juda, güldene Worte von der Zeder bis zum Issop', die an ein bekanntes Bibelwort über Salomons Dichtung und Spruchweisheit anschließt26, und die Übersetzung des Hohenliedes (o. 31). In ihm sieht Goethe, von Herder angeleitet, entgegen der hergebrachten allegorischen Deutung auf den Liebesbund Christi mit der Kirche oder der gläubigen Seele, „die herrlichste Sammlung Liebeslieder, die Gott erschaffen hat" 27 . Auch hier, als Ubersetzer, trat er in Wettbewerb mit Herder, dessen Bearbeitung 'Lieder der Liebe; die ältesten und schönsten aus dem Morgenlande' 1778 erschien28. Aber welch ein neues und persönliches Leben gewinnen die biblischen Stoffe und Worte, die in den eigensten dichterischen Schaffenskreis Goethes eingehen! In der mit unvergleichlicher Leichtigkeit und Helligkeit hingezeichneten Bildfolge des 'Jahrmarktsfestes zu Plundersweilern' erscheint, schon in der Benennung auf Hans Sachs hinweisend, die Historia von Esther. Die Knittelverse der ersten Fassung, die 1773 zu Mercks Geburtstag an die Darmstädter Freunde geht, stellen in wenigen Strichen von genialer Schlagkraft und Derbheit in Haman und Mardochai Vernunftglauben und Empfindsamkeit einander gegenüber — dort: „Nur die Vernunft, die soll uns führen, Ihr himmlisch klares Angesicht", hier: „Ich geh aber im Land auf und nieder, Kaper immer neue Schwestern und Brüder Und gläubige sie alle zusammen Mit Hämmleins Lämmleins Liebesflammen." In der Neubearbeitung für den Geburtstag der Herzoginwitwe Anna 37
Amalia 1778 ist daraus etwas Neues geworden, eine glanzvolle Parodie auf die französische tragédie classique in prunkenden Alexandrinern. Den Beschluß des 'Sdhönbartspiels' — diese von Hans Sachs herrührende Aufschrift gab Goethe seinem Gedicht — macht das Lied des Schattenspielmanns von der Weltschöpfung, das in geistreicher Wendung auf eine versteckt heitere Huldigung vor Wieland und seinem 1773 begründeten 'Teutschen Merkur' hinausläuft : Merkur macht der Not der Sintflut, die alles Lebende zu vernichten droht, ein glückliches Ende. Neben dem ausgelassenen Scherz des 'Jahrmarktsfestes' steht die Bitterkeit der Bruchstücke vom Ewigen Juden und der irdischen Wiederkehr des Herrn, die aber in sich ein Stück des Allerherrlichsten von Goethes Dichtung bergen, den Gruß des herniedersteigenden Heilands an die Erde. Den Plan, vom Standpunkt des inzwischen gereiften 'Christentums zu meinem Privatgebrauch' am Leitfaden der Ahasver-Legende 'die hervorstehenden Punkte der Religions- und Kirchengeschichte' darzustellen, hat der Dichter nicht ausgeführt, wenn er sich auch seiner noch in Italien wiedererinnert. Wie sich ihm die einzelne Bibelstelle in Erlebnis und eigensten dichterischen Ausdruck wandelt, dafür sind die Schlußstrophen des im Herbst 1774 im Postwagen auf dem Rückwege von Darmstadt entstandenen 'Schwager Kronos' in der ursprünglichen Fassung ein besonders schönes und aufschlußreiches Beispiel: Trunknen vom letzten Strahl reißt midi, ein Feuermeer mir im schäumenden Aug, midi Geblendeten, Taumelnden, in der Hölle nächtliches Tor. Töne, Schwager, dein Horn, rassle den schallenden Trab, daß der Orkus vernehme : ein Fürst kommt, drunten von ihren Sitzen sich die Gewaltigen lüften.
Die drei Schlußzeilen, die der Dichter später ersetzte, lassen die Beziehung auf den zugrunde liegenden Bibelvers, Jesaja 14, 9, am deutlichsten hervortreten: „Die Hölle drunten erzitterte vor dir, da du ihr entgegenkämest. Sie erwecket dir die Toten, alle Gewaltigen [Luther: Böcke] der Welt, und heißet alle Könige der Heiden von ihren Stühlen aufstehen."29 Man sieht, es ist das rein und unmittelbar Bildhafte, das sich der Phantasie des Dichters eingeprägt hat, unabhängig von dem Sinnzusammenhang der Bibelstelle, aus der es herrührt. 38
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In diese Zeit gehört auch Goethes erste Begegnung mit Muhammed, dem Propheten der Araber 30 . Voltaires Tragödie 'Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète', 1741 zuerst aufgeführt, kennt und erwähnt schon der Leipziger Student 31 . Wie der Titel sagt, ist darin der arabische Prophet, ohne Rücksicht auf die geschichtliche Wirklichkeit, die Voltaire später richtiger sehen lernte, lediglich Träger des religiösen Fanatismus und erscheint darum als ein Gefäß aller nur denkbaren Bosheit; Napoleon hatte schon recht, wenn er 1808 im Gespräch mit Goethe das Drama 'ein schlechtes Stück' nannte. Es ist nicht anzunehmen, daß der junge Goethe von ihm besser dachte als von Voltaires 'Saul', der ihn in Empörung versetzte 32 . Die Mode, dem Roman, zumal wenn er politische Lehren vortragen sollte, ein loses orientalisches Gewand überzuwerfen, begegnete ihm 1771 in dem 'Usong' Albrecht von Hallers, einem ins Mongolenreich verlegten Roman über den Despotismus — einen Gegenstand, mit dem die 'Noten und Abhandlungen' des Divans sich eindringlich beschäftigen sollten. Dem Vorbild Hallers schloß sich Wieland mit dem 'Goldenen Spiegel' an, den Goethe in den 'Frankfurter Gelehrten Anzeigen' würdigte. Gleichzeitig erschien in seiner unmittelbaren Nähe die deutsche Koranübersetzung des Frankfurters David Friedrich Megerlin (1772). Sie erfuhr in der genannten Zeitschrift eine schroffe Ablehnung; es heißt da: „Diese elende Produktion wird kürzer abgefertigt. Wir wünschten, daß einmal eine andere unter morgenländischem Himmel von einem Deutschen verfertigt würde, der mit allem Dichter- und Prophetengefühl in seinem Zelte den Koran läse und Ahndungsgeist genug hätte, das Ganze zu umfassen. Denn was ist auch jetzo Sale für uns?" Die letzten Worte gelten der klassischen englischen Übersetzung von George Sale (1734), von der eine deutsche Ausgabe, bearbeitet von Th. Arnold, 1746 erschien; diese hat Goethe später für die 'Noten und Abhandlungen' herangezogen. Goethe hat das angeführte Urteil, als er 1813 und 1823 daran ging, seine Beiträge zu den 'Anzeigen' herauszusuchen, nicht für sich in Anspruch genommen. So wird man es nicht ihm, sondern eher Herder zuschreiben müssen 33 . Jedenfalls hat er sich aus Megerlin Auszüge gemacht, darunter den Koranvers 2, 109, der in ihm fortlebte, bis er ihm als Leitspruch der von J. von Hammer herausgegebenen 'Fundgruben des Orients' wiederum entgegentrat und nun die Gestalt des herrlichen ersten 'Talisman' annahm: 'Gottes ist der Orient'. Auch das koranische Gebet des Mose : 'Herr, mache mir Raum in meiner engen Brust', das der große Brief an Herder vom Juli 1772 anführt, ist wörtlich aus Megerlin entnommen 34 . Außer ihm lernte Goethe 39
auch die ältere, lateinische Koranbearbeitung des Jesuiten Marracci (zuerst 1698) kennen. Hier fand er die Legende von Abraham, der den Götzendienst seines Vaters abtut, um zur Gestirnverehrung und von ihr zur Anbetung des einen Gottes fortzuschreiten (Sure 6, 74-79). Aus ihr formte er den ersten Monolog des Mahomet-Dramas, und bis ins Alter ging sie ihm nach; noch 1815 klingt sie an in den Versen 'Süßes Kind, die Perlenreihen', die der Dichter auf den Rat des Freundes Boisserée nicht in den Divan von 1819 aufnahm: „Abraham, den Herrn der Sterne hat er sich zum Ahn erlesen." 35 Von der Gestalt des Propheten der Araber ergriffen, las Goethe gleich nach ihrem Erscheinen die beiden ersten Teile von Turpins Histoire de la vie de Mahomet, législateur de l'Arabie (1773). Nadh ihr ist Muhammed zunächst ehrlich erfüllt von seinem Beruf, an die Stelle überlieferten Aberglaubens einen vernünftigen Gottesdienst zu setzen, um dann in seinem Willen zu öffentlichem Wirken zum Betrüger erst seiner selbst, dann der anderen zu werden. Doch rechtfertigt Turpin, ähnlich wie Edward Gibbon 36 , den Propheten mit der Erhabenheit seiner Endabsicht und der Größe seiner geschichtlichen Leistung. Schon 1773 wurde der Wechselgesang des Ali und der Fatima gedruckt, der später 'Mahomets Gesang' genannt wurde. Die wenigen übrigen Mahomet-Bruchstücke, der Monolog und das Gespräch, in dem der Jüngling Mahomet sich seiner Pflegemutter Halima anvertraut, kamen in den Besitz der Frau von Stein und sind erst aus ihrem Nachlaß wieder bekannt geworden. Als der Dichter am Ende des 14. Buchs von 'Qichtung und Wahrheit' den Plan des 'Mahomet' mitteilte, erinnerte er sich des Monologs, den er verloren glaubte, noch genau. Wenn sich die Szene Mahomet-Halima nicht mit dem Plan vereinbaren läßt - nach ihm setzt das Drama an einem späteren Zeitpunkt im Leben des Propheten ein —, so genügt das nicht, um die Treue der Wiedergabe des Plans anzufechten. Nach der Aussage von 'Dichtung und Wahrheit' wirkte auf seine Ausgestaltung der Umgang mit Lavater und Basedow ein; das führt auf die gemeinsamen Reisen des Sommers 1774 nach Ems und von dort auf der Lahn und dem Rhein. Da diese Aussage bestritten worden ist37, muß auf sie eingegangen werden. Goethe erzählt, daß, im Gegensatz zu seiner überfreien Gesinnung, seinem völlig zweck- und planlosen Leben und Handeln, die beiden Freunde „geistige, ja geistliche Mittel zu irdischen Zwecken gebrauchten", daß sie, „indem sie zu lehren, zu unterrichten und zu überzeugen bemüht waren, doch auch gewisse Absichten im Hinterhalte verbargen, an deren Beförderung ihnen sehr gelegen war", jedoch so 40
überzeugt von der Vortrefflichkeit ihres Treibens, „daß man sie für redliche Männer halten, sie lieben und verehren mußte". „Indem ich nun beide beobachtete, ja ihnen frei heraus meine Meinung gestand und die ihrige dagegen vernahm, so wurde der Gedanke rege, daß freilich der vorzügliche Mensch das Göttliche, was in ihm ist, audi außer sich verbreiten möchte. Dann aber trifft er auf die rohe Welt, und um auf sie zu wirken, muß er sidi ihr gleichstellen; hierdurch aber vergibt er jenen hohen Vorzügen gar sehr, und am Ende begibt er sich ihrer gänzlich. Das Himmlische, Ewige wird in den Körper irdischer Absichten eingesenkt und zu vergänglichen Schicksalen mit fortgerissen. Nun betrachtete ich den Lebensgang beider Männer aus diesem Gesichtspunkt, und sie schienen mir ebenso ehrwürdig als bedauernswert: denn ich glaubte vorauszusehen, daß beide sich genötigt finden könnten, das Obere dem Unteren aufzuopfern. Weil ich nun aber alle Betrachtungen dieser Art bis aufs äußerste verfolgte und über meine enge Erfahrung hinaus nach ähnlichen Fällen in der Geschichte mich umsah, so entwickelte sich bei mir der Vorsatz, an dem Leben Mahomets, den ich nie als einen Betrüger hatte ansehen können, jene von mir in der Wirklichkeit so lebhaft angeschauten Wege, die anstatt zum Heil, vielmehr zum Verderben führen, dramatisch darzustellen. Ich hatte kurz vorher das Leben des orientalischen Propheten mit großem Interesse gelesen und studiert und war daher, als der Gedanke mir aufging, ziemlich vorbereitet."
Aus den angeführten Sätzen ergibt sich, daß der Plan des MahometDramas in der für Goethes Schaffen typischen Weise gereift ist: durch Zusammenwachsen und gegenseitige Steigerung eines in seinem Innern bereitliegenden Gestaltkerns und der menschlichen Erfahrung, die ihm das äußere Leben zutrug. Das Bild Muhammeds, des Genius, der um eines überweltlichen Zweckes willen zum Sklaven weltlicher Mittel wird, wie er es, mit dem Koran schon vertraut, aus Turpin empfangen hatte, und die Anschauung von dem Treiben der beiden geistlichen Freunde begannen sich ineinander zu spiegeln. Das ist es, was Goethe sagt — nicht, was J . Minor ihn sagen läßt: „Goethe will nun [nach der Beobachtung, „die er damals schon gemacht haben will", daß „diese beiden ehrenwerten Männer" geistige Mittel zu irdischen Zwecken und umgekehrt angewendet hätten] hingegangen sein und nach ähnlichen Fällen in der Geschichte gesucht haben; und so sei er auf den Plan des Mahomet gekommen, dessen Biographie er kurz vorher studiert hätte". Daß auf der gemeinsamen Rheinreise von Mahomet die Rede gewesen ist, geht aus einer Eintragung Goethes in Lavaters Tagebuch hervor. „Schwerlich aber hat er den Züricher Propheten damals schon durchschaut; noch weniger hat er ihm damals, wie es in Dichtung und Wahrheit heißt, frei seine Meinung über sein Dichten und Treiben gestanden" — so will Minor wissen. Er bezieht sich zunächst auf Goethes Brief an Schönborn, den er irrig „ein Jahr später" ansetzt, während er tatsächlich am 4. Juli 1774, nach der ersten Begegnung mit Lavater
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und vor der gemeinsamen Rheinreise in Frankfurt geschrieben ist. In dem Brief soll Lavater „gegen den Vorwurf eines Schwärmers und Phantasten gerechtfertigt werden," während es darin zwar heißt: „Ich habe ihn nie für einen Schwärmer gehalten", aber danach: weil er „aus vollem Herzen spricht und handelt und seine Zuhörer in eine fremde Welt zu versetzen scheint, indem er sie in die ihnen unbekannten Winkel ihres eignen Herzens führt, so kann er dem Vorwurf eines Phantasten nicht entgehen". Goethe hat bei aller Freundschaft, die ihn mit Lavater verband, um das Zweideutige seines Wesens von Anfang an wissen müssen. Die Entfremdung, die freilich erst in den achtziger Jahren hervortritt, war in ihrem Verhältnis von vornherein angelegt. Wenn sie eintrat, so nicht darum, weil Goethe den Freund erst nachträglich 'durchschaut' hätte, sondern weil ihm das Trennende in der Haltung zu den Dingen des Glaubens und des Christentums, das der große Brief vom 9. August 1782 aufdeckt, unüberwindbar wurde. Aber viel früher, kaum zwei Jahre nach der ersten Begegnung, heißt es bereits: „Alle deine Ideale sollen mich nicht irre führen, wahr zu sein und gut und böse wie die Natur." 38 Schon während der Rheinreise hatte es Auftritte gegeben, die Goethes Spottlust herausfordern mußten. In Knittelversen, deren Ausgang sprichwörtlich geworden ist — 'Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten' —, hat er die gespenstische Komik des 'Diners zu Koblenz' verewigt, wo er zwischen Lavater und Basedow saß: „Der erste belehrte einen Landgeistlichen über die Geheimnisse der Offenbarung Johannis, und der andere bemühte sich vergebens, einem hartnäckigen Tanzmeister zu beweisen, daß die Taufe ein veralteter und für unsere Zeiten gar nicht berechneter Gebrauch sei." Aus der Anschauung solchen Gebarens wuchsen die Gedanken über die Gefährdung, der das Geistige beim Übergang zum Wirken in der Welt unterliegt. Sie gaben dem Mahometbilde, das in dem Dichter schon lebendig war, eine deutlichere Prägung39. Zu seiner Ausführung kam es nicht mehr, aber daran, daß sie nach dem in 'Dichtung und Wahrheit' mitgeteilten Plan erfolgen sollte, ist nicht zu zweifeln. Die erhaltenen Bruchstücke sind freilich nicht als Teilausführungen dieses erneuerten Plans anzusehen; sie lagen schon bereit. Begreiflich, daß ihr zeitliches Verhältnis zu dem Plan dem Verfasser von 'Dichtung und Wahrheit' nicht mehr deutlich bewußt war. Der hymnische Monolog und der 'Gesang' waren bereits in den Entwurf des Dramas einbezogen; die Szene Mahomet-Halima paßt so, wie sie überliefert ist, nicht in seinen Rahmen. Anderseits sind Monolog und 'Gesang' geschlossene lyrische Schöpfun42
gen, die an sich keines dramatischen Zusammenhanges bedürfen, so wenig wie der Monolog des gleichzeitigen Prometheus-Fragments. Der 'Gesang' entfaltet das Wirken des Genius im Bilde des sich zum Strome erweiternden Felsenquells 40 frei von jedem geschichtlichen Bezug. Der Monolog überträgt das Bekenntnis des koranischen Abraham auf den arabischen Propheten selber, zu einem Hymnus von schmerzlich glücklicher Ergriffenheit, der die strenge, an Klopstock gemahnende Odenform kontrastiert. Er setzt mit der Absage an die Verehrung vieler Götter ein. Teilen kann ich euch nicht dieser Seele Gefühl, Fühlen kann ich euch nicht allen ganzes Gefühl. W e r , wer wendet dem Flehen sein O h r ? Dem bittenden Auge den Blick? Sieh, er blinket hinauf, Gad, der freundliche Stern, Sei mein Herr du, mein Gott! Gnädig winkt er mir zu! Bleib! Bleib! Wendst du dein Auge weg? W i e ? Liebt' idi ihn, der sich verbirgt? Sei gesegnet, o Mond! Führer du des Gestirns, Sei mein Herr du, mein Gott! Du beleuchtest den W e g . Laß, laß nicht in der Finsternis Mich irren mit irrendem Volk! Sonn', dir glühenden weiht sich das glühende Herz. Sei mein Herr du, mein Gott! Leit, allsehende, mich. Steigst audi du hinab, Herrliche? Tief hüllet mich Finsternis ein. Hebe, liebendes Herz, dem Erschaffenden dich! Sei mein Herr du, mein Gott! Du Alliebender, du, Der die Sonne, den Mond und die Stern' Schuf, Erde und Himmel und mich.
Auch diese Ode ist zunächst aus der Aneignung jener Koranstelle als selbständiges lyrisches Gebilde entstanden und erst nachträglich einem dramatischen Entwurf zugeordnet: sie drängt einen Erlebnisablauf zusammen, den szenisch zu symbolisieren unmöglich sein würde. So hat die erste Begegnung Goethes mit dem außerbiblischen Orient nur in zwei hymnischen Gedichten und in einem dramatischen Plan Frucht getragen, der in der Unrast und dem Schaffensüberschwang des letzten Frankfurter Jahrs rasch wieder unterging. Mahomet ist so schattenhaft geblieben wie die andern Titanen und Übermenschen, um die der Dichter in den Jahren rang, die den Beruf des Jünglings auf ihn legten: 43
nach dem Verlust der kindlichen Unschuld des Daseins dem Ich seinen Stand in der Welt zu begründen und durch Irren und Schuld den W e g zur Mannheit zu gehen, die des Lebens leidend und handelnd, im Wechsel von Verstrickung und Lösung Herr wird. Aber eine jener Gestalten blieb im innersten Heiligtum des Herzens bei ihm und lebte von seinem Leben, durch zwei lange Menschenalter. Eine Aneignung des Orients hatte ihm diese Zeit des Hineinstürmens in die Welt und des nach allen Seiten ausgreifenden Lebens- und Schaffensdranges nicht gebracht, nicht bringen können. Die Dinge mußten ihm zuwachsen, sie mußten für ihn reif werden und er für sie, so wollte es die Begnadung seiner Natur. Vier lange Jahrzehnte sollten vergehen, bis sich dem Dichter zu guter Stunde der Osten auftat, um ihm einen neuen Weg zur Vereinigung von Idee und lebendiger Erfahrung im dichterischen Gebilde zu weisen.
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In dem ersten Weimarer Jahrzehnt und vollends seit der italienischen Reise, bis in die ersten Jahre des Bundes mit Schiller, rückt wie die biblische so die weitere östliche Welt fast ganz aus dem Sehfelde Goethes. Auf die mit literarischen Beschäftigungen erfüllte Muße der Frankfurter Zeit folgen Jahre der Arbeit im Staats- und Verwaltungsdienst, den Verkehr mit Menschen und Büchern ergänzt und ermöglicht das einsame Leben mit der Natur. Mit stiller Notwendigkeit vollzieht sich die unermeßlich folgenreiche Wendung, daß aus dem gestaltlosen Einvernehmen des Gefühls mit dem Ganzen der Natur der Wille ersteht, sie forschend zu durchdringen, den Wegen ihrer bildenden Kraft andächtig nachzugehen, „der großen formenden Hand nächste Spuren zu entdecken". Eine Bildungsidee tritt hervor, in der sich Natur und Geist zusammenfinden. Die neue Richtung des Erkenntniswillens wird bald nach der Niederlassung in Weimar faßbar. Die Anforderungen der Wiederbelebung des Bergbaus im Herzogtum führen zur Erdgeschichte und Gesteinskunde, dazu tritt zu Anfang der achtziger Jahre die Osteologie, später die Botanik. Mag der Weg zur Naturforschung durch Bildungserlebnisse der Straßburger und Frankfurter Zeit angebahnt worden sein, mag der genialische Drang, des Kerns der Dinge mächtig zu werden, auf ihn verwiesen haben. Entscheidend ist allein dies, daß unter den Deutschen ein Mensch aufsteht, der mit dem festgehaltenen Willen zum Ganzen der Wirklichkeit, von keinem Nutzzweck und Teilzweck abgelenkt, dem Träumen und Stammeln vom Niditwißbaren ein Ende macht und sich anschickt, das Sichtbare zu sehen
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und das Sagbare zu sagen. Den Inbegriff des neuen Weltbildes gibt am 18. Januar 1784 der unvergleichliche Aufsatz über den Granit, ihm folgt am 24. Februar die Rede bei Eröffnung des neuen Bergbaues zu Ilmenau, deren Schönheit erst Gottfried Benn sichtbar gemacht hat41, und wiederum wenige Wochen später, am 17. März nachts, geht an Herder die Nachricht von der ersten eigenen naturwissenschaftlichen Entdeckung, dem Fund des Zwischenkieferknochens beim Menschen, der einen bisher angenommenen Sprung im Zusammenhang der organischen Natur verschwinden macht und den Grund zur Metamorphosenlehre legt. Es war damals wenige Monate her, daß die alte enge Freundschaft mit Herder nach jahrelanger Entfremdung wiederhergestellt worden war. Von Goethe ermutigt, arbeitete Herder damals an dem Werk seines Lebens, den 'Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit', deren erster Teil im gleichen Jahre 1784 erschien und in der 'Jenaischen allgemeinen Litteraturzeitung' von 1785 das ruhig ablehnende Urteil Kants erfuhr42. Zehn Jahre vorher hatte Herder mit dem ersten Teil der Deutung des mosaischen Schöpfungsberichtes als 'Ältester Urkunde des Menschengeschlechts' (1774) die Begeisterung seiner neuen Freunde vom theologischen Sturm und Drang und die Empörung seiner rationalistischen Gesinnungsgenossen von gestern hervorgerufen, wider die er mit dem Eifer des Neubekehrten stritt. Als der erste Teil des chaotischen Buches erschien, hatte Goethe geschrieben43: „Er ist in die Tiefen seiner Empfindung hinabgestiegen, hat drinne all die hohe heilige Kraft der simplen Natur aufgewühlt und führt sie nun in dämmerndem, wetterleuchtendem, hier und da morgenfreundlich lächelndem orphischem Gesang von Aufgang herauf über die weite Welt, nachdem er vorher die Lasterbrut der neuern Geister, De- und Atheisten, Philologen, Textverbesserer, Orientalisten, mit Feuer und Schwefel und Flutsturm ausgetilget." Freilich sah er voraus, daß die 'Lasterbrut' sich nicht als ausgetilgt empfinden, sondern sich wehren würde. Mit der 'Ältesten Urkunde' lenkt der Bückeburger Konsistorialrat vollends in die Bahn theologischer Schriftstellerei ein. Was er weiterhin schreibt, dient der Klärung und Ausweitung einer Theologie der Humanität von stärkst subjektivem Gepräge. Sie tritt zu den herrschenden Richtungen der Orthodoxie und der Aufklärungstheologie in bewußten Gegensatz und bleibt eben durch ihn vom Geist der Gegner abhängig. Sie will nicht Philosophie sein, wohl aber der Philosophie den rechten Weg weisen ; sie greift, ohne eigentlich zu forschen, nach den Ergebnissen aller Wissenschaften von der Natur und der Geschichte, modelt sie nach ihrem Bedürfen und überbietet sie durch ahnende Vorwegnahme 45
und kühne Verknüpfung von Fernem und Fernstem. Es geht nicht um Anschauung, sondern um Anregung aller Kräfte des Gemüts — unabsehbare Anregung, im guten wie im schlimmen Sinne, ist von Herder ausgegangen. Goethe lernt es, die Gestalt zu sehen und die Gestalt zu erschaffen — Herder bleibt auf dem Wege vom Gestaltlosen zum Gestaltlosen. W o der Acheron bewegt wird, wie in der Revolution von 1789, da ist seine Teilnahme, verhohlen oder unverhohlen; wo die Durchdringung des Wirklichen festen neuen Boden gewinnt, regt sich in ihm der Geist des Widerspruchs, so in den siebziger Jahren wider die historische Bibelforschung, deren Befreiungstat er nicht ermißt, seit der Mitte der neunziger Jahre, im letzten Akt der Tragödie seines Lebens, wider Goethe, Schiller und Kant. Aber es bleibt ein Bereich seines Schaffens, in dessen Grenzen ihm die Bindung an fremde Form die eigene Form schenkt. Sein früh geübtes Gehör für die dichterische Stimme der Völker läßt ihn zum Entdecker der ungehobenen Schätze des Volkslieds werden. Völkern, die, scheinbar keines eigenen Wortes mächtig, stumm zwischen ihren begünstigteren Brüdern leben, so den Litauern, den Letten, den Esten, schafft er Gehör. Das Dichterische in ihm, das sich in freier Hervorbringung nicht zu erfüllen vermag und ihn zur unfruchtbaren und gefährlichen Vermischung von wissenschaftlichem und poetischem Vortrag verführt, wird frei, wenn er zu übersetzen beginnt, und hilft ihm dazu, das in aller Welt geborgene Gut der Muttersprache anzueignen. Unter seinen Werken ist es die Sammlung der 'Volkslieder' von 1778/79, an der man stets ungetrübten und freudigen Anteil nehmen wird, die in der Geschichte des deutschen Geistes die reichste Frucht getragen hat. Es gehört zu dem Verhängnis, das über seinem Leben und Schaffen lag, daß er wohl überall Sturm erntete, wo er Wind gesät hatte, aber den Aufgang seiner guten Saat nicht mehr sehen durfte. Wenige Jahre nach seinem Tode trat, mit Goethes Namen auf dem Widmungsblatt und von ihm mit dankbarer Teilnahme begrüßt, 'Des Knaben Wunderhorn' hervor (1805/08); ihm folgten im nächsten Jahrzehnt die ersten Arbeiten der Brüder Grimm und legten den festen Grund, auf dem wir stehen. Die Vergegenwärtigung des Dichterischen macht auch den Wert des Werks 'Vom Geiste der ebräischen Poesie' (1782/83), das eine gesetztere Sprache redet und von den phantastischen Träumen der 'Ältesten Urkunde' zu gegenständlicherem Sehen führt. Freilich vermischt es wiederum profane und theologische Betrachtung und bleibt im geschichtlichen Urteil weit hinter der 'Einleitung in das Alte Testament' zurück, die in den
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gleichen Jahren (1780/83) der aus der Göttinger Schule hervorgegangene Jenaer Professor Johann Gottfried Eichhorn erscheinen ließ, ein Werk, das ebenso durch umfassendes Wissen wie durch Übersichtlichkeit und fesselnde Darstellung ausgezeichnet war. Mit Eichhorn trat Goethe in eine Beziehung, die bis in die Zeit des Divans reicht. Von ihm erhielt er die Schrift des führenden englischen Arabisten William Jones über orientalische Poesie, von der Eichhorn einen Abdruck veranstaltet hatte, und Jones' Ausgabe der Mu'allaqat (1783) 4 4 , die ihm eine neue dichterische Welt eröffnete: die große Poesie des vorislamischen Beduinentums. Sie tat ihm eine Ahnung von dem arabischen Wesen auf, aus dem sich der Koran, verwandt und gegensätzlich, erhebt. W i e ihn diese Begegnung ergriff und produktiv stimmte, das zeigt die Verdeutschung eines größeren Stükkes aus der ersten Mu'allaqa, dem vielgefeierten Gedicht des südarabischen Fürstensohns Imra'alqais 45 . Aber die Kraft der naturwissenschaftlichen Interessen war stärker. Noch einer zweiten raschen Wanderung in den Osten, die in diese Zeit fällt, ist zu gedenken. Unter den Reisebeschreibungen, die er, von Herder angeregt, gegen Ende des gleichen Jahres 1783 las, befand sich die soeben erschienene Übersetzung von Sonnerats 'Reise nach Ostindien und China' (1774—1781). Aus ihr prägten sich ihm zwei Legenden ein, die er in sich bewegte, bis sie, die eine nach vierzehn, die andere nach vierzig Jahren, Gestalt gewannen: 'Der Gott und die Bajadere' und der 'Paria'. Wieder war es gegangen wie vor neun Jahren: die Stunde, in der ihm der Orient offenbar werden sollte, war noch nicht gekommen — er wußte zu warten und nahm nichts vorweg. Das Spielen mit orientalischen Dingen war dem Weimarer Kreis nicht fremd. Im 'Journal von Tiefurt' (1781 bis 1784) ließ der Freiherr von Seckendorff nach der Manier Hallers und Wielands einen 'Chinesischen Sittenlehrer' zu Worte kommen und teilte den Freunden außer Bruchstücken aus einer chinesischen Erzählung 'Das Rad des Schicksals' die allzu leichten Verse seines 'Persischen Trinklieds' und der 'Persischen Liebe' mit, an denen außer der Überschrift nichts Persisches ist 46 . Herder hatte schon seit den siebziger Jahren aus der Beschäftigung mit rabbinischem Schrifttum Motive gezogen, aus denen er Legenden und Fabeln schuf. Daneben her gingen Übersetzungen lyrischer Stücke und Sprüche aus arabischer, persischer, indischer Überlieferung, auf die er stieß. Schon 1781 gab er im 'Teutschen Merkur' eine Probe von 'Jüdischen Dichtungen und Fabeln', darunter die Legende vom Tode des Mose, die uns noch begegnen wird. Das dritte Stück der 'Zerstreuten Blätter' (1787) brachte eine größere Sammlung von 'Dichtungen aus der mor-
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genländisdien Sage', denen im vierten Stüde (1792) eine 'Blumenlese aus morgenländischen Dichtern', vorzüglich von Sprüchen und Anekdoten aus dem Gulistan des Persers Sa'di, und 'Gedanken einiger Brahmanen', Sprüche aus dem Hitopadesa, der Sammlung des Bhartrhari und der Bhagavadgita, folgten47. Die Gleichartigkeit dieses Teils von Herders Schaffen mit den Hervorbringungen Friedrich Rückerts fällt in die Augen. An der Begeisterung, die Kalidasas Drama Sakuntala, 1789 von William Jones ins Englische, daraus 1791 von dem jüngeren Forster ins Deutsche übersetzt, in aller Welt erregte, nahm, wie wir sahen (o. 16), auch Goethe teil. Herder feierte die Dichtung in seinen Briefen ' ü b e r ein morgenländisches Drama' und veranstaltete 1803 eine Neuausgabe von Forsters Übersetzung, der er eine eigene Vorrede mitgab 48 . In Goethes Phantasie wirkte ein einzelnes Bild fort, das Vorspiel der Sakuntala, das durch ein Gespräch zwischen Spielleiter und Schauspielerin das Drama einführt; es schenkte ihm das 'Vorspiel auf dem Theater' für die 1797 erneuerte Faustdichtung. Das Gegenstück, das 'Vorspiel im Himmel', geht gleichfalls auf ein östliches Vorbild, auf den Prolog des Hiobbuches zurück.
* Zur Wiederaufnahme der Arbeit am Faust, deren sich Goethe sieben Jahre vorher, an ihrer Durchführbarkeit verzweifelnd, mit der Veröffentlichung des 'Fragments' (1790) hatte entledigen wollen, entschloß er sich so plötzlich, daß Schiller, den er den Entschluß wissen ließ, sein Erstaunen nicht verbarg. Seitdem im Mai 1797 der Plan einer neuen Italienreise aufgetaucht war und mit wachsender Spannung verfolgt wurde, ist im Gang der täglichen Arbeit eine steigende Unruhe bemerkbar. Am 21. Juni heißt es im Briefe an Schiller: „Ich habe diese Tage mancherlei angegriffen und nichts getan. Die Geschichte der Peterskirche habe ich besser und vollständiger schematisiert, und sowohl diese Arbeit als der Moses und andere werden schon nach und nach reif werden. Ich muß die jetzige Zeit, die nur ein zerstreutes Interesse bei der Ungewißheit, in der ich schwebe, hervorbringt, so gut als es gehen will, benutzen, bis ich wieder auf eine Einheit hingeführt werde." Aus dieser Unruhe und Ungewißheit erhebt sich nun der Wille, ihrer gestaltend Herr zu werden, und so teilt der denkwürdige Brief vom nächsten Tage dem Freunde mit, daß der Faust aufgenommen und, wenn nicht vollendet, so doch um ein gut Teil weitergebracht werden soll. Am dritten Tage wird der ausführliche neue Plan der Dichtung entworfen, am vierten entstehen die Stanzen der 'Zueignung', das Zeugnis höchster dichterischer Kraft, die es vermag, den leidenschaftlich gehobe48
nen Zustand der Wiederbegegnung mit der eigenen Jugend, ihrer Sehnsucht und Irrung, einen Sturm widerstrebender Gefühle in die strengste, reinste Form zu bannen. Die Erwähnung des 'Moses' in dem Brief vom 21. Juni blickt auf eine Arbeit zurück, die den Dichter im Frühjahr zeitweilig beschäftigt hatte, und die, da sie den 'Hören' zugedacht war, im Briefwechsel mit Schiller mehrmals erwähnt wird. Goethe hatte seine alten Aufzeichnungen aus der Frankfurter Zeit über die Mosebücher und die Wüstenwanderung der Israeliten (o. 37) hervorgeholt, um sie zu ergänzen und abzuschließen. Der begonnene Aufsatz 49 , der wiederum liegen blieb und erst zwanzig Jahre später für den Divan fertiggestellt wurde, hat neuerdings bezeugen müssen, daß Goethes Beschäftigung mit der Persönlichkeit des Mose auf den Wiederbeginn der Faustdichtung eingewirkt habe. So ist er unter die Hauptstücke einer Beweisführung eingereiht worden, nach der die Faustgestalt sowohl wie der ganze Gang des Faustdramas von dem legendarischen Bild des Mose als des 'Vorbilds magischer Theosophie' bestimmt wäre80. Es ist zu zeigen, daß jene Aufstellung so wenig haltbar ist wie die Gleichung Faust—Moses im ganzen. Welches war der Anlaß, der gerade im 'Balladenjahr', nach dem Hervortreten der Xenien und von 'Hermann und Dorothea', Goethes Gedanken auf seine Frankfurter Bibelstudien zurückführte? Die Antwort darauf gibt der erste Brief, in dem sie erwähnt werden. Im Begleitschreiben bei der Zusendung eines Stüdes der Cellini-Übersetzung (o. 19) heißt es am 12. April: Hier folgt Cellini, der nun bald mit einer kleinen Sendung völlig seinen Abschied nehmen wird. Ich bin, indem ich den patriarchalischen Überresten nachspürte, in das Alte Testament geraten und habe mich aufs neue nicht genug über die Konfusion und die Widersprüche der fünf Bücher Mosis wundern können, die denn freilich wie bekannt aus hunderterlei schriftlichen und mündlichen Traditionen zusammengestellt sein mögen. Ober den Zug der Kinder Israel durch die Wüsten habe ich einige artige Bemerkungen gemacht, und es ist der verwegene Gedanke in mir aufgestanden: ob nicht die große Zeit, welche sie darin zugebracht haben sollen, erst eine spätere Erfindung sei? Ich will gelegentlich, in einem kleinen Aufsatze, mitteilen, was mich auf diesen Gedanken gebracht hat.
Was sind die 'patriarchalischen Überreste', denen Goethe nachspürt 51 ? Sie sind, wie der Zusammenhang zeigt, im Alten Testament zu finden: das läßt an die Versenkung des jungen Goethe in die Patriarchengeschichten der Bibel zurückdenken, die dann im Eingangsgedicht des Divans wiederkehrt. Aber was führt ihn jetzt zu ihnen zurück? Es kann nur eine Arbeit sein, die er zur selben Zeit unter Händen hat, und von der Schiller weiß. An den 'Cellini' ist nicht zu denken — es muß die poetische Arbeit 4 S c h a e d e r , Coethe
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sein, die ihn damals erfüllt: das neue epische Gedicht 'Die Jagd', dessen Umriß in den letzten Märztagen aufgetaucht war. Es ist, so wie der Moses-Aufsatz, von dem Plan der Italienreise zurückgedrängt worden, aber dreißig Jahre später hat sein Gestaltkern eine der Blüten des Alterswerks hervorgebracht, die 'Novelle' (1828). Sie läßt erkennen, worauf schon das Gedicht hinzielte: das schöne Wunder, das sich wie die Offenbarung einer Urzeit seligen Friedens in einem späten und verworrenen Zeitalter erhebt, die Bändigung des Löwen durdi das Kind. „Löwen sollen Lämmer werden", heißt es in dem Liede des Kindes: das ist die Jesaja-Weissagung von der paradiesischen Endzeit 52 , die sich hier erfüllt. Zu ihr tritt die Erinnerung an Daniel in der Löwengrube: Aus den Gruben, hier im Graben Hör' ich des Propheten Sang. Engel schweben, ihn zu laben, Wäre da dem Guten bang? Löw' und Löwin, hin und wieder, Sdimiegen sich um ihn heran. Ja, die sanften, frommen Lieder Haben's ihnen angetan.
Es ist die gleiche versunken glückliche Ergriffenheit, wie sie in den Erzvätergeschichten im vierten Buche von 'Dichtung und Wahrheit' atmet; und auch dort erscheint unter den bevorzugten Bildern das von Daniel in der Löwengrube. Diesen Bildern geht der Dichter, während der Arbeit an der 'Jagd', im Alten Testament nach; sie sind es, die ihm den Abstand zwischen der einprägsamen Klarheit der Patriarchenerzählungen und dem verworrenen Bericht der späteren Mosebücher aufs neue ins Bewußtsein rufen. Es reizt ihn, diesen Widerspruch, der ihm schon früher zu schaffen gemacht hatte, aufzulösen, das Einfach-Wirkliche, das auf dem Grund der widersprüchlichen Berichte liegen muß, von späteren Zutaten und Trübungen zu befreien. Das Verfahren, das er an die sagenhaft-geschichtliche Überlieferung heranzubringen gedenkt, hat seine Wurzel in dem gleichen Willen zu ordnender Übersicht, der ihn durch die organische Natur führt. Dabei ist er sich dessen bewußt, daß eine uralte literarische Oberlieferung mit aller der Unsicherheit, die ihr als solcher anhaftet, seinem Bemühen von vornherein viel engere Grenzen zieht als die Wirklichkeit der Natur. In der Untersuchung, die er in Angriff nimmt, sieht er eine willkommene Erholung von der ernsten dichterischen Arbeit. So schreibt er dem Freunde am dritten Tage nach der ersten Nachricht, am 15. April:
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Meine kritisdi-historisch-poetisdie Arbeit geht davon aus: daß die vorhandenen Bücher sidi selbst widersprechen und sich selbst verraten, und der ganze Spaß, den ich mir mache, läuft dahinaus, das menschlich Wahrscheinliche von dem Absichtlichen und bloß Imaginierten zu sondern und doch für meine Meinung überall Belege aufzufinden. Alle Hypothesen dieser Art bestechen bloß durch das Natürliche des Gedankens und durch die Mannigfaltigkeit der Phänomene, auf die er sich gründet. Es ist mir recht wohl, wieder einmal etwas auf kurze Zeit zu haben, bei dem ich mit Interesse, im eigentlichen Sinne, spielen kann. Die Poesie, wie wir sie seit einiger Zeit treiben, ist eine gar zu ernsthafte Beschäftigung.
Er sieht sich in Fragen der Literarkritik hineingestellt und nimmt aufs neue die Bücher zur Hand, die für das Alte Testament und den Homer diese Form der Kritik zum Grundsatz der Forschung erhoben: J . G. Eichhorns 'Einleitung in das Alte Testament' (o. 4 6 ) und Fr. A. Wolfs 'Prolegomena ad Homerum', deren Erscheinen zwei Jahre vorher (1795) den Glauben an die Einheit des Homer zerstört hatte 53 . Der 'Einleitung in die ältere Menschengeschichte', einem unlängst erschienenen Buche des Jenaer Historikers Karl Ludwig von Woltmann, wirft er vor, daß sie „bei Behandlung der israelitischen Geschichte das Alte Testament, so wie es liegt, ohne die mindeste Kritik, als eine reine Quelle der Begebenheiten annehmen konnte". Am 3. Mai beginnt er mit dem Diktat des Aufsatzes und beabsichtigt, ihm eine besonders zu zeichnende und zu stechende Übersichtskarte beizugeben. Aber schon drei Tage darauf heißt es: „Doch ich will noch einen Augenblick [mit der Vorbereitung der Karte] innehalten, bis ich sehe, ob auch mein Moses wirklich fertig wird" — denn der Plan der Italienreise nimmt Gestalt an und ruft von der Wanderung in die Sinaiwüste zurück. Wenn der Gedanke an sie auch noch in den Briefen der nächsten Wochen dann und wann auftaucht, so ist doch die innere Anteilnahme erloschen. Das lyrische Schaffen wird wieder rege: in den letzten Tagen des Mai entstehen 'Der Schatzgräber' und 'Der neue Pausias', in der ersten Dekade des Juni die beiden großen Gedichte, die einer jähen und leidenschaftlichen Auflehnung wider das Christentum gleichen: 'Die Braut von Korinth' und 'Der Gott und die Bajadere'. Noch wenige Tage, und aus einer Pause unfruchtbarer Geschäftigkeit ringt sich der Entschluß zum Faust los 54 .
* Besteht also schon äußerlich kein Zusammenhang zwischen der nach kurzem Anlauf beiseite gelegten Arbeit über die Wüstenwanderung und ihren Führer mit der Rückkehr zum Faust, so kann von inneren Beziehungen vollends nicht die Rede sein. Man darf auch nicht aus den Augen 4»
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verlieren, daß Goethe jene 'historisch-kritisch-poetische' Arbeit als ein 'Spiel', als 'Spaß' bezeichnet 55 . Zwei Punkte sind es, auf die seine Aufmerksamkeit sich richtet, einmal die überlange Dauer der Wüstenwanderung, dann der Charakter des Mose. In den vierzig Jahren erkennt er eine nachträglich in die Erzählung eingetragene typische Zahl, die er in ähnlichen Zusammenhängen wiederfindet. Er zeigt, daß das ausführliche Verzeichnis der Haltepunkte in 4. Mose 33 spät und mit dem eigentlichen Bericht über die Wanderung künstlich ausgeglichen ist. Diese Bedenken teilt die heutige Forschung. Er berechnet als natürliche Dauer des Zuges eine Frist von höchstens vier Jahren, die er später noch auf die Hälfte herabsetzt, und sucht den W e g auf der Karte der Sinaihalbinsel einzuzeichnen. Das gilt heute nicht mehr für möglich, so wenig, wie die Irrfahrten des Odysseus oder die Reise der Burgunden zum Hof König Etzels auf der Karte verfolgt werden können. Mit der gleichen Unbefangenheit tritt Goethe an die Überlieferung von dem Manne Mose heran. Man muß den überlieferten Bericht und die mystischen Schleier, die von der Andacht frommer Jahrhunderte über ihn gebreitet waren, mit Goethes nüchtern lebendiger, streng auf das Pragmatische gerichteter Wiedergabe zusammenhalten, um die Entschiedenheit seiner kritischen Haltung zu begreifen. Das Charakterbild, das er so gewinnt, ist freilich in dunkle Farben getaucht. Endlich stehet aus einem gewaltsamen Stamme ein gewaltsamer Mann auf, lebhaftes Gefühl von Recht und Unrecht und heftige T a t zeichnen ihn aus. Einen Ägypter, der einen Israeliten mißhandelt, erschlägt er, sein patriotischer Meuchelmord wird entdeckt, und er muß entfliehen. W e r sich in einer solchen Handlung als einen bloßen Naturmenschen darstellt, nach dessen Erziehung hat man nicht Ursache zu fragen, er sei von einer Fürstin als Knabe begünstigt, er sei am Hofe erzogen, nichts hat auf ihn gewirkt, er ist ein starker, ein trefflicher Mann geworden, aber unter allen Verhältnissen roh geblieben. Und als solchen kräftigen, kurzgebundenen, verschlossenen, der Mitteilung unfähigen finden wir ihn auch in seiner Verbannung wieder.
Die Bedeutung dieser Sätze liegt darin, daß sie mit Schärfe allen den bis auf diesen Tag unausrottbaren Trugspiegelungen von Mose als dem Schüler und Eingeweihten ägyptischer Priesterweisheit absagen, die sich auf das bekannte W o r t der Stephanuspredigt 58 berufen. Auch Herder hatte sich von ihnen nicht freimachen können; noch die eindrucksvolle Charakteristik des Mose am Ende des ersten Teils des 'Geistes der ebräischen Poesie' nimmt sie als wirklich an. überhaupt hätte der ganze Aufsatz Goethes, wäre er vollendet und gedruckt worden, in Untersuchungs- und Vortragsweise als ein einziges Nein wider Herder empfunden werden müssen 57 . Von Mose als Religionsstifter und Gesetzgeber schweigt er
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ganz, von seinen Gaben als Heerführer und Regent denkt er gering. In den zur Vorbereitung des Aufsatzes niedergeschriebenen Aufzeichnungen heißt Mose „ein starker, gewaltsamer, das Rechte und Große wollender, ein Mann der Tat und nicht des Rats, von seinem Wege abzuleiten, aber von seiner Idee nicht. Ungeschickt in der Behandlung der Menschen zu seinem Zwecke, daher immer gewaltsam, aber auch gewaltsam zur rechten Zeit, und dem zur Ausführung seiner großen Absicht für sein Volk alles erlaubt schien. Rettung desselben gegen den Vorwurf der Grausamkeit; Vergleichung mit den neuern Franzosen". Die überraschende, leider nicht eindeutig zu beziehende Schlußwendung zeigt, daß an der Beschreibung des Mose das Erlebnis des Gewaltmenschen beteiligt war, der in den Schrecknissen der Revolutionsjahre aufgestanden war. Freilich hat Goethe später im Divan die Charakteristik des Mose erweitert und ausgeglichen, im Sinne der erhöhten Ansicht von der weltgeschichtlichen Persönlichkeit, zu der er fortschritt. Um so deutlicher hebt sich davon die Fassung von 1797 ab, die sich wesentlich, um es mit einem Worte zu sagen, auf das Pathologische des Charakters richtet. Wenn in ihr Mose unter anderm ein 'Mann der Tat' heißt, läßt er sich darum ernstlich mit Faust vergleichen58? Wenn Goethe seine Arbeit 'historisch-kritisch-poetisch' nennt, so gibt eine Stelle des Aufsatzes die nähere Erklärung: „Schriften, in welchen alte Traditionen zusammengestellt sind, bleiben immer eine Art von Poesie; nicht gerechnet, daß ihr größter Teil selbst der Form nach Lied war, so ist ihr Inhalt meist poetisch, das heißt : es ist gerade nur der Sinn wahr, das ausgesprochne Faktum ist meist nur Fabel." Neben den echten, dichterischen gibt es aber „eine Art prosaischer Fabeln, die nicht mit den Gesetzen der Natur, aber mit den Gesetzen des gesunden Menschenverstandes streiten . . . Zur reinem Einsicht in den Wert jener Schriften ist es am notwendigsten, eben dieses Flickwerk, diese Behelfe der Sammler und Zusammenschreiber, diese spät nacherfundenen Verhältnisse zu entdekken und auszustoßen". Dazu soll die Untersuchung der Wüstenwanderung helfen. Es geht ihr also nicht darum, der Überlieferung „einen neuen dichterischen Gehalt zu geben", im platonischen Sinne „durch die historische Erscheinung die zugrunde liegende Idee, die Urgestalt zu erkennen und sichtbar zu machen", so wenig wie Goethe aus der Erschlagung des Ägypters, an dem Mose die seinem Volksgenossen angetane Unbill rächt, ein 'Tellmotiv' macht69. Ein kurzes Wort noch zu den übrigen Beweisen für die Gleichung Faust-Moses. Der Ausgangspunkt ist die Tatsache, daß der Streit der 53
Engel und Dämonen um den toten Faust und die Entführung seines Unsterblichen durch die Engel auf eine rabbinische Legende vom Tode des Mose zurückgeht, die im Neuen Testament der Brief des Judas (v. 9) bezeugt. Das wird durch das bekannte letzte Stück der fünften Abteilung der 'Zahmen Xenien' bestätigt („Ober Moses 1 Leichnam stritten Selige mit Fluchdämonen"). K. J . Schröer hat die schöne Beobachtung hinzugefügt, daß das bildhafte Motiv der Faustszene bereits 1781 in dem großen kritischen Brief an Maler Müller auftritt 80 , in dem freilich zugleich jene Legende als 'alberne Judenfabel' abgetan wird. Es ist eins der 'werten Bilder', die durdi Jahrzehnte das Gemüt des Dichters bewegten. Aber den weiteren Schritten, die Burdach von diesem Punkte aus tut, kann man nicht folgen. Der Monolog in 'Wald und Höhle', nach der italienischen Reise entstanden, dankt dem Erdgeist, der Faust 'sein Angesicht im Feuer zugewendet', der ihm vergönnt hat, ins Innere der Natur 'wie in den Busen eines Freunds zu schauen'. Ist es hier notwendig, an Mose zu denken, der nach der Spiegelung der biblischen Erzählung in Herders Legende 'Der T o d Moses' (o. 47) Gott in den Flammen schaute und mit ihm von Angesicht zu Angesicht redete, wie der Freund mit seinem Freunde redet 8 1 ? Burdach denkt so und schließt weiter, daß also auch schon die Feuererscheinung des Erdgeistes in der Beschwörungsszene, also in einem der frühesten, der Frankfurter Zeit angehörenden Stüdce der Dichtung, die Moseüberlieferung widerspiegele 62 . Herder läßt den sterbenden Mose sagen : ich „sähe dich in den Flammen und stieg hinauf und ging den Weg des Himmels". Die letzten Worte veranlassen Burdach zu eingehender Betrachtung der mystischen Ausdeutungen von Moses Aufstieg zum heiligen Berge, besonders der Vita Mosis des Gregor von Nyssa 6 3 . In ihnen findet er — das ist seine kühnste Aufstellung - das Vorbild der Sonnenaufgangsszene im Gebirge zu Beginn von Faust II 04 . Genug davon. Von dem Fragment gebliebenen Aufsatz über die Wüstenwanderung und dem Charakter des Mose führen zur Faustdichtung keine Fäden. Aber in einem andern Betracht ist er über seinen Gegenstand hinaus bedeutsam. Die Frage, wie weit das Jahr 1797, in Goethes Entwicklung epochal, auch in der Entfaltung seines geschichtlichen Bewußtseins ein neues Wachstum einleitet, kann hier nur im Vorbeigehen berührt werden. Goethe war seiner Anschauung von Natur und Kunst vollends sicher geworden, seitdem der Freund sie ihm bestätigt, ihre begriffliche Klärung gefördert und ihr Einvernehmen mit der von Kant vollbrachten kopernikanischen Wendung der Philosophie aufgewiesen hatte. Nun ging er daran, die erprobte Betrachtungsweise, das Forschen nach Urform und Meta-
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morphose, über den Bereich der Natur hinaus auf den der Freiheit zu übertragen, den Menschen in der Geschichte ins Auge zu fassen. Die Würdigung des Cellini und der florentinischen Zustände seiner Zeit, im Anhang zur Übersetzung (o. 19), bezeugen die neue Blickrichtung, der Moses-Aufsatz bestätigt sie. Nun soll sie audi auf das eigene Leben des Betrachters und auf seine Umwelt bezogen werden. Es soll eine Sehweise gefunden werden, die in der inneren und äußeren Erfahrung des Menschlichen das Bedeutende auffaßt, sich in der Mannigfaltigkeit der Erscheinung des Sinngehalts bemächtigt. Dahin zielen die Sammlungen und Beobachtungen der nach Italien gerichteten, wegen der kriegerischen Verwicklungen in der Schweiz endenden Reise, dahin der um ein noch kaum Aussagbares ringende Frankfurter Brief an Schiller vom 16. August, dessen Auslegung noch zu leisten ist. In denselben Tagen ist die Charakteristik niedergeschrieben worden, die Goethe dann selber aus den Augen verloren hat; erst vor vierzig Jahren ist sie wiedergefunden worden 65 , nachdenklich und ergreifend in ihrer schlichten und vorbehaltlosen Aufrichtigkeit. Immer tätiger, nadi innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb macht den Mittelpunkt und die Base seiner Existenz. Hat man den gefaßt, so lösen sich alle übrigen anscheinenden Widersprüche. Da dieser Trieb rastlos ist, so muß er, um sich nicht stofflos selbst zu verzehren, sich nach außen wenden, und da er nicht beschauend, sondern nur praktisch ist, nach außen gerichtet entgegenwirken: daher die vielen falschen Tendenzen zur bildenden Kunst, zu der er kein Organ, zum tätigen Leben, wozu er keine Biegsamkeit, zu den Wissenschaften, wozu er nicht genug Beharrlichkeit hat. Da er sich aber gegen alle drei bildend verhält, auf Realität des Stoffs und Gehalts und auf Einheit und Schiddidikeit der Form überall dringen muß, so sind selbst diese falschen Richtungen des Strebens nicht unfruchtbar nach außen und innen. In den bildenden Künsten arbeitete er so lange, bis er sich den Begriff sowohl der Gegenstände als der Behandlung eigen machte und auf den Standpunkt gelangte, wo er sie zugleich übersehen und seine Unfähigkeit dazu einsehen konnte. Seine teilnehmende Betrachtung ist dadurch erst rein geworden. Im Geschäftlichen ist er brauchbar, wenn dasselbe einer gewissen Folge bedarf und zuletzt auf irgendeine Weise ein dauerndes Werk daraus entspringt oder wenigstens unterwegs immer etwas Gebildetes erscheint. Bei Hindernissen hat er keine Biegsamkeit; aber er gibt nadi oder widersteht mit Gewalt, er dauert aus oder er wirft weg, je nachdem seine Überzeugung oder seine Stimmung es ihm im Augenblicke gebieten. Er kann alles geschehen lassen, was geschieht und was Bedürfnis, Kunst und Handwerk hervorbringen; nur dann muß er die Augen wegkehren, wenn die Menschen nach Instinkt handeln und nach Zwecken zu handeln sich anmaßen. Seitdem er hat einsehen lernen, daß es bei den Wissenschaften mehr auf die Bildung des Geistes, der sie behandelt, als auf die Gegenstände selbst ankommt: seitdem hat er das, was sonst nur ein zufälliges, unbestimmtes Streben war, hat er dieser Geistestätigkeit nicht entsagt, sondern sie nur mehr reguliert und lieber gewonnen: so wie er sich jenen andern beiden Tendenzen, die ihm teils habituell, teils durch Verhältnisse unerläßlich geworden, sich nicht ganz entzieht, sondern sie nur mit mehr Bewußtsein und in der Beschränkung, die
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er kennt, gelegentlich ausübt; um so mehr, da das, was eine Geisteskraft mäßig ausbildet, einer jeden andern zu statten kommt. Den besondern Charakter seines poetischen Bildungstriebes mögen andere bezeichnen. Leider hat sich seine Natur sowohl dem Stoff als :!er Form nach durch viele Hindernisse und Schwierigkeiten ausgebildet und kann erst spät mit einigem Bewußtsein wirken, indes die Zeit der größten Energie vorüber ist. Eine Besonderheit, die ihn sowohl als Künstler als auch als Menschen immer bestimmt, ist die Reizbarkeit und Beweglichkeit, welche sogleich die Stimmung von dem gegenwärtigen Gegenstand empfängt, und ihn also entweder fliehen oder sich mit ihm vereinigen muß. So ist es mit Büchern, mit Menschen und Gesellschaften: er darf nicht lesen, ohne durch das Buch gestimmt zu werden; er ist nicht gestimmt, ohne daß er, die Richtung sei ihm so wenig eigen als möglich, tätig dagegen zu wirken und etwas Ähnliches hervorzubringen strebt.
* Die Übertragung und Bearbeitung von Voltaires 'Mahomet' für die Weimarer Bühne, auf Wunsch des Herzogs und ohne eigentliche Neigung des Dichters unternommen, hat zu Goethes Wanderungen in den Osten keine Beziehung. Sie wurde im Herbst 1799 rasch ausgeführt; am 30. Januar 1800 ging die Tragödie zum ersten Male über die Bühne, auf der sie sich jahrelang hielt. Dem Dichter, der die pathetisch ausufernde Rhetorik seiner Vorlage milderte, wo es anging, lag daran, im Wettbewerb mit dem Schaffen des Freundes für das Weimarer Theater Werke hohen Stils zu gewinnen, die zugleich die Erziehung der Schauspieler zu 'rednerischer Deklamation und zur Übung einer gewissen gebundenenWeise in Schritt und Stellung' dienen konnten. Um dieser Eignung willen erscheint Voltaires Drama vor Goethes eigenen Werken, Götz und Faust, unter den Sinnbildern der Weimarer Poesie in dem Maskenzug, der 1818 zu Ehren der Kaiserinmutter Maria Feodorovna stattfand und von dem Graf Reinhard urteilte: „So etwas kann die Kaiserin in ihrem Winterpalast nicht herbeizaubern." 66 Goethe stellt sich hier zu dem Werk wie seinerzeit Schillers Stanzen 'An Goethe, als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte'. Sie sahen in Voltaires Dichtung und ihresgleichen nicht ein Muster für das deutsche Theater, dessen es nicht mehr bedürfe, zumal nicht von den im Fürstendienst unfreien Franzosen, aber einen Führer zum Besseren. In der rastlosen Arbeit des halkyonischen Jahrzehnts, das Norddeutschland seit dem Baseler Frieden (1795) genießt, ohne Ahnung von der unaufhaltsam steigenden Gefahr, dann der dunklen Jahre bis zum Beginn der Freiheitsbewegung erhält Goethe von Zeit zu Zeit Kenntnis von Übersetzungen orientalischer Poesie, die jetzt in rascher Folge die in England, Frankreich und Deutschland aufstrebende Orientforschung hervorbringt. Fr. H. von Dalbergs Verdeutschung des Gitagovinda (1802) und 56
A.. T. Hartmanns Bearbeitung von Dschami's Laila und Medschnun (1807), die Goethe las und schätzte, beruhten freilich noch auf vorhandenen Übersetzungen, jene auf der englischen von William Jones, diese auf der französischen von A. L. de Chézy. Aber in Wien wirkte mit steigendem Einfluß Joseph von Hammer, der umfassender und tiefer als irgendeiner seiner Zeitgenossen das Ganze des islamischen Orients zu durchdringen schien. Mit Hilfe seines Förderers, des Grafen Wenceslaus Rzewuski, schuf er 1809 in den 'Fundgruben des Orients' ein Organ der Orientforschung im deutschen Sprachgebiet und gab in ihnen auch der Poesie Raum. Goethe behielt alle diese Bestrebungen im Auge, ohne noch von ihnen zu tätiger Teilnahme bestimmt zu werden. Wenn es um die Jahrhundertwende in den Stanzen des 'Abschieds' von der Faustdichtung hieß: „Nach Osten sei der sichre Blick gewandt", so bedeutete Osten schlicht den Aufgang der Sonne. Um die gleiche Zeit aber las man im Athenäum: „Zunächst rede ich nur mit denen, die schon nach dem Orient sehen." 87 Das ist 'Frédéric tout pur', die Sprache des 'klaren Bewußtseins in der ewigen Agilität des unendlich vollen Chaos', oder wie Friedrich Schlegel sonst seine eigenste Erfindung, die romantische Ironie, zu umschreiben beliebte. Bald darauf hieß es in dem Programm einer 'neuen Mythologie' : „Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen."68 Mit dem Orient ist hier Indien gemeint; je weniger man einstweilen vom indischen Denken wußte, desto leichter konnte man in ihm die Ursprünge aller göttlichen und menschlichen Weisheit vermuten. Friedrich Schlegel setzte fort, was Herders Träume begonnen hatten 69 . In dem einleitenden Aufsatz seiner Zeitschrift 'Europa', die er 1803 von Paris aus erscheinen ließ, ist der romantische Orienttraum und mit ihm eine der Bildungskrankheiten des 19. Jahrhunderts auf die Formeln gebracht, die nun überall dort wiederkehren, wo sich ein schwaches Gemüt der Größe und der Gefahr Europas zu entziehen und in die Gestaltlosigkeit des Ostens zu flüchten wünscht. In Europa, so heißt es, ist alles getrennt und zerspellt, was im reinen Osten Einheit geblieben ist. Indien vereint, was sich in Europa als Geschiedenheit des klassischen Altertums und der modernen romantischen Zeit darstellt: „Die geistigste Selbstvernichtung der Christen und der üppigste wildeste Materialismus in der Religion der Griechen [das scheint für Schlegel das Wesen des Christentums und der Antike zu sein] finden ihr höheres Urbild im gemeinschaftlichen Vaterlande, in Indien. Die Zerspaltung der ursprünglichen geistigen Einheit ist in Europa auf den äußersten Punkt gelangt — „tiefer kann der Mensch nun nicht sinken". Nur vom Orient, von dem Ausgang aller un-
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serer Religion und Mythologie her, kann und muß die erlösende Revolution des Geistes kommen. Zwischendurch erklärt Schlegel freilich die Aussöhnung des Klassischen und des Romantisch-Modernen für möglidi. Das bezeuge die neueste Philosophie und die katholische Religion, die sich den künstlerischen Glanz und Reiz, die poetische Mannigfaltigkeit und Schönheit der griechischen Mythologie und Gebräuche zu eigen gemacht habe. W e r solche Sätze aufmerksam las, konnte vorausahnen, daß Indien nicht die Wahlheimat Friedrich Schlegels bleiben, sondern zur Station auf dem Wege nach Rom werden würde. Um dieselbe Zeit (1803/04) suchte er sich in Paris so rasch wie möglich des Sanskrit zu bemächtigen und in die indische klassische Literatur einzudringen. Seine Erwartungen wurden weit übertroffen; er schreibt an Tieck 7 0 : „Hier ist eigentlich die Quelle aller Sprachen, aller Gedanken und Gedichte des menschlichen Geistes; alles, alles stammt aus Indien ohne Ausnahme." Als aber 1808 sein Buch ' ü b e r die Sprache und Weisheit der Indier' erschien, war es mit seiner Hoffnung, in Indien das Seelenheil zu finden, bereits vorbei; im gleichen Jahre vollzog er in Köln die Konversion. Goethe las das Buch mit Aufmerksamkeit und fand in ihm die innere Wendung des Verfassers deutlich angezeigt 71 . Sein Mißtrauen gegen die Schlegels und ihren Kreis hatte sich zunehmend verstärkt, wenn auch bis zum Bruch noch einige Jahre vergingen. Als um 1798 unter seinen Augen in Jena das Treiben der älteren romantischen Schule begann, hatte er sich zu ihr freundlicher gestellt als Schiller. Die begeisterte Aufnahme, die sie dem Wilhelm Meister bereitete, mußte ihn erfreuen. W a s diese Anteilnahme wert war, das offenbarte der aberwitzige Spruch Friedrich Schlegels im zweiten Heft des Athenäum 72 , von dem sein Urheber in dem Schlußaufsatz der Zeitschrift versicherte, daß er ihn 'wirklich für gut halte': „Die französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters." Eine Begeisterung, die ein so spielerisch ehrfurchtsloses Witzwort hervorzubringen wußte, konnte nicht von weit her und nicht von langer Dauer sein. Binnen weniger Jahre wurde denn auch aus Wilhelm Meister im romantischen Urteil ein 'Candide gegen die Poesie'. W e r von der Betrachtung des Bundes zwischen Goethe und Schiller, denen sich in ebenbürtig produktivem Verstehen der dreißigjährige Wilhelm von Humboldt zugesellte, zur romantischen Bewegung übergeht, den kann die Angst ankommen. Droht nicht wieder alles zu zerbrechen und zu zerstieben, was jene Männer für die Deutschen mühsam aufgebaut haben? Statt Ehrfurcht vor der Wirklichkeit die Freiheit zu jeder Zucht-
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losigkeit des Lebens und Denkens, statt der Bemühung um reine und feste Form die Vermischung aller Stile und in ihr das frivole Spiel des Witzes und der Ironie, statt der Bestätigung der Gegenwart und ihrer Aufgaben im Innewerden des Altertums die Verflüchtigung des Heute in einen trügerischen Traum vom Vergangenen — ist es nicht, als ob wiederum allem Bösen und Leidvollen, das in der deutschen Seele liegt, der Freibrief geschrieben würde? Wer hier verzagen möchte, der richte den Blick auf Goethe. Nicht bloß, daß er auf seinem Posten blieb und, indem er fortschritt und das Seine tat, sein Bildungswerk unter den Deutschen fortsetzte — daß er in großartiger Gelassenheit dem Treiben zu seinen Füßen zusah und ihm das Lebensrecht zubilligte, daß er davon zu lernen, das in problematischer Gestalt Zukunftsvolle herauszuspüren und in seinem Schaffen fruchtbar zu machen suchte, dies macht ihn zum guten Genius auch des romantischen Zeitalters. Sein dichterisches Schaffen seit Schillers Tode bis in seine letzten Werke läßt sich — so gewiß es mit diesem Gesichtspunkt nicht erschöpft wird — als Auseinandersetzung mit der Romantik, als schöpferische Überwindung romantischer Lebens- und Kunstanschauung verstehen. Zeugen der ersten Jahre sind der Sonettenkranz und die Stanzen über die romantische Poesie zum Maskenzug von 1810, die Wahlverwandtschaften und Pandora. Die fünf Jahre der Arbeit am Divan (1814—1819), die auf das Jahrfünft des Entstehens von 'Dichtung und Wahrheit' folgen, und der Paria von 1823 machen dem romantischen Spiel mit der Flucht in den Orient ein Ende und schaffen zwischen Ost und West den Ausgleich dichterischgeschichtlicher Vergegenwärtigung. In diesen Jahren erhebt sich vor Goethes Auge, nicht mehr wie bei Herder als Forderung und Ahnung, sondern als von Jahr zu Jahr wachsende und reifende Wirklichkeit, der seine Aufmerksamkeit und seine liebevolle Pflege zugewandt ist, die Weltliteratur, der Zusammenhang eigenwüchsigen Dichtens und Singens zwischen den im Bewußtsein ihres Eigenwertes friedlich wetteifernden Nationen. Ihr gelten die Verse, die 1827 im ersten Heft des sechsten Bandes von 'Kunst und Altertum' stehen: Wie David königlidi zur Harfe sang, Der Winzerin Lied am Throne lieblich klang, Des Persers Bulbul Rosenbusch umbangt, Und Schlangenhaut als Wildengürtel prangt, Von Pol zu Pol Gesänge sich erneun Ein Sphärentanz, harmonisch im Getümmel Laßt alle Völker unter gleichem Himmel Sich gleicher Gabe wohlgemut erfreun!
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Die Verse zeigen, welch starken Anteil an der Idee der Weltliteratur der neuerschlossene Osten hat. Zwischen dem königlichen Sänger des Alten Testaments und einem der Urbilder der persischen Poesie, Rose und Nachtigall, steht das zarte Bild der Sulamith des Hohenliedes. W e r der Entstehung und Entwicklung der Goetheschen Bildmotive nachgeht, wird nicht bezweifeln, daß Wilhelm Scherer 73 recht gesehen hat, wenn er Sulamith, die nachts durch die Gassen von Jerusalem irrt, um klagend ihren Liebsten zu suchen, bis die Wächter sie anhalten, in der unvergeßlichen Szene wiedererkennt, die den fünften Akt des 'Egmont' einleitet: Klärchen in der Morgendämmerung durch die Straßen von Brüssel eilend und die Bürger vergeblich zu Egmonts Befreiung aufrufend. Eine letzte Wanderung in den fernen Osten hat der Dichter im höchsten Alter unternommen. W i e er im Herbst 1813 Marco Polos Reisen nach China gefolgt war, so melden im Frühjahr 1827 Tagebücher und Briefe von der Beschäftigung mit chinesischen Dingen 74 . (Im Sommer des gleichen Jahres konnte ihm ein Besucher, Gustav Parthey, der Enkel seines alten Berliner Widersachers Nicolai, nicht genug von seiner Reise nach Malta, Ägypten, Syrien, Kleinasien und Konstantinopel erzählen 75 .) Die Ausbeute von Goethes chinesischen Studien trat 1830 im 'Berliner Musenalmanach' hervor. Es sind die vierzehn Stücke der 'Chinesisch-Deutschen Jahresund Tageszeiten', gleichsam eine Wiederholung des Divans auf engstem Räume, über reinem abendländischem Empfinden ein leise fremdartiger Hauch, der an das Zauberhafte chinesischer Landschaftsmalerei denken läßt, Verse, die sich in Farbe und Klang auflösen wollen, beschwingt von einem Äußersten und Zartesten an glücklicher Versonnenheit, daß, wer sie voll in sich aufklingen läßt, schwer die Fassung wahrt. Ziehn die Schafe von der Wiese, Liegt sie da, ein reines G r ü n ; Aber bald zum Paradiese W i r d sie bunt geblümt erblühn. Hoffnung breitet leichte Schleier Nebelhaft vor unsern Blick, Wunscherfüllung, Sonnenfeier, Wolkenteilung bring' uns Glück! Dämm'rung senkte sich von oben, Schon ist alle Nähe fern; Doch zuerst emporgehoben Holden Lidits der Abendstern!
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Alles schwankt ins Ungewisse, Nebel schleichen in die Höh'; Sdiwarzvertiefte Finsternisse Widerspiegelnd ruht der See. N u n am östlichen Bereiche Ahn ich Mondenglanz und -glut, Schlanker Weiden Haargezweige Scherzen auf der nächsten Flut. Durch bewegter Schatten Spiele Zittert Lunas Zauberschein, Und durchs Auge schleicht die Kühle Sänftigend ins Herz hinein.
Sdion ein Jahr vorher, 1826, hatte er die beiden Strophen geschrieben, die dann in der dritten Cottaschen Gesamtausgabe zum Divan hinzutraten. Sie sind, aus dem Rückblick auf ein sechzigjähriges Schaffen, sein letztes Wort über Gesinnung und Absicht seiner östlichen Wanderungen, zugleich sein Segenswunsch für den, der ihnen nachgeht. W e r sich selbst und andre kennt, Wird auch hier erkennen, Orient und Okzident Sind nicht mehr zu trennen. Sinnig zwischen beiden Welten Sidi zu wiegen, laß ich gelten; Also zwischen Ost und Westen Sich bewegen, sei's zum Besten!
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DIE EINHEIT DES W E S T - Ö S T L I C H E N
DIVANS
Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes, heiterer Überblick des beweglichen, immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erdetreibens, Liebe, Neigung, zwischen zwei Welten schwebend, alles Reale geläutert, sidi symbolisch auflösend 1 .
G
edichte, die wir in uns aufnehmen, werden uns, mögen sie in sich unerschöpflich sein, in rückblickender Erinnerung zu ruhenden und festen Gebilden. Sie treten in eine geistige Ordnung, aus der wir sie als vertraute, uns zugehörige Dinge wieder vor die Seele zu rufen vermögen. Der Divan — und es wäre schwer, in diesem Betracht ein zweites lyrisches Werk neben ihm zu nennen — wird uns nie zu eigen. Er nimmt uns auf und entläßt uns wieder. W i r suchten seine Fülle unseren Sinnen einzuprägen — treten wir dann wieder in ihn ein, so finden wir ihn durchaus gewandelt, in allen seinen Teilen und ihren inneren Beziehungen erneuert, vertraut und rätselhaft zugleich. W i r können uns seiner nicht versichern, unser Gefühl verharrt vor ihm in der Ehrfurcht vor den 'unbegreiflich hohen Werken'. Er führt sein geheimnisvolles und unnahbares Leben, an dem wir für eine Weile und nach unseren Kräften teilnehmen, ohne mehr als ein Ahnen von ihm gewinnen zu können. Mit Andacht und Sorgfalt hat die Forschung alles zusammengebracht, was zum Verständnis seiner Entstehung dienen kann 2 . Ein großer Teil der Gedichte ist auf den Tag datiert, der Gang der Komposition bis zum Abschluß des vielschichtigen Buches ist nachgezeichnet, die Beziehungen zu den Lebensumständen des Dichters sind festgestellt, die Quellen, aus deren Durchforschung ihm die Anschauung des Ostens aufstieg, sind ans Licht gezogen. Zwar bleibt für die Auslegung der 'Noten und Abhandlungen' — die ja kein loser Anhang des Divans sind, sondern Wesensbestandteil eines untrennbaren Ganzen — noch manches zu tun. Aber was den poetischen Teil angeht, so findet wohl für kaum ein anderes Gedichtbuch das Einzelverständnis so reichliche Hilfe. Woher also jene unaufhebbare, bei jeder Begegnung sich erneuernde Fremdheit? Es ist ja nicht nur jene Fremdheit, die alles Geistgeformte gegenüber dem verstehenden Geist bewahrt — und um so unauflösbarer, je stärker und bedeutender es in sich ist. Diese Fremdheit wohnt jedem großen Ge-
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dicht inne, und doch fassen wir es als Ausdruck eines bestimmten Temperamentes, einer bestimmten Altersstufe und ihrer Seelenlage, eines bestimmten geistesgeschichtlichen Zusammenhanges. Indem wir es deuten, mag es uns so weit anverwandelt und zu eigen werden, daß wir meinen, es könnte, bei gesteigerter Kraft des Fühlens und Formens, unser eigenes Werk sein: denn es erscheint uns als Ausdruck unseres gesteigerten und gereinigten Selbst. Aber nie wird es uns so mit dem Divan gehen. Nie werden seine Verse, wie die anderer Gedichte, zum Spiegel unserer Seelenbewegung. Sie fügen sich nicht unserem Sehnen und Träumen, sondern fordern von uns Sammlung und Klarheit. Sucht man das Gesetz zu umschreiben, das über der geheimnisvollen Einheit des Divans steht, so sieht man sich auf eine beherrschende Idee hingewiesen: es ist die Idee der Verwandlung. Verwandlung: das ist nicht bloßes Anderswerden, sondern die höhere Einheit von So-sein und Anders-sein, das Wunder eines Verharrens im Wechsel, des 'Eins und doppelt Seins'. Verwandlung ist das Leitmotiv des Divans, am eindringlichsten dort zutage tretend, wo Hatem es, in fast befremdender ironischer Steigerung, dem von Suleika vorgetragenen Bekenntnis zum 'höchsten Glüdc der Erdenkinder', dem Bekenntnis zur Einheit und Beständigkeit des Persönlichen entgegenstellt. Goethe erscheint in Hatem verwandelt, aber dessen Name wird wiederum zur leichten, durchscheinenden Hülle, in jener Strophe des 'Buches Suleika': Du besdiämst wie Morgenröte Jener Gipfel ernste Wand, Und noch einmal fühlet Hatem Frühlingsrausch und Sommerbrand.
Die Verwandlung in Hatem hat nichts von spielerischer Maskierung, so wie die Huldigung vor Hafis nichts von romantischem Bezaubertsein durch das Orientalisch-Fremdartige an sich hat. Und wie dem Dichter selber, so geht es allem, was der Strom seiner Dichtung ergreift: es wird ein anderes, ohne daß es aufhörte, es selber zu sein. Immer meinen wir das Hiobwort (9, 11) zu vernehmen, von dem Goethe so bewegt wurde, daß er es vor die Schrift über 'Bildung und Umbildung organischer Naturen' (1817) schrieb: „Siehe, es geht vor mir über, ehe ich's gewahr werde, und verwandelt sich, ehe ich's merke." An diesem Vorwalten der Verwandlung hat auch die seelische Haltung teil, die das Ganze zusammenhält. Ihr großer Ernst, der sich hier zu brennender Leidenschaft steigert, dort in gewitterndem Unmut entlädt, ist von einer unnennbaren Heiterkeit gebunden. Und beide schaffen vereint, 63
im 'Buch des Paradieses', ein Element erhabener Ironie, in der die Andacht vor dem Heiligen und das freieste Selbstgefühl in geistige Klarheit zusammenfließen. Das lyrisdie Gebilde gilt uns als groß und ehrwürdig, wenn ihm das eine gelungen ist: die Läuterung des bloß Subjektiven zur gültigen Form. Jedes große Gedicht ist das Denkmal eines Sieges, den der formende Geist dem Chaos des Fühlens abgewonnen hat. Aber diese Betrachtung scheint vor dem Divan zu versagen. Denn jener Vorgang der Objektivierung ist jeweils ein einmaliger und in seiner Richtung vom formlos Subjektiven zur objektiven Form bestimmter. Der Weg der Gestaltung aber, der im Divan gegangen wird, läßt sich nicht auf diese eine Richtung festlegen: er verläuft, so empfinden wir, jenseits und oberhalb der Spannung zwischen dem 'Abgrund des Subjektes' und der reinen Form, ist ein beständiges Hin und Wieder — nicht Emporläuterung, sondern Weltvorgang: „Allah braucht nicht mehr zu schaffen, wir erschaffen seine Welt." Eins der Teilmotive der Verwandlung ist die Verjüngung, von der schon die erste Strophe des Divans kündet, wieder in einem Symbol von orientalischer Herkunft, dem Symbol des Lebensquells. In der orientalischen Alexandersage war der Lebensquell zuerst nur ein märchenhaftes Requisit, bis der schwermütige Tiefsinn des Persers Nizami in ihm das Symbol weltentrückter geheimer Weisheit fand 3 . Nun wird er, vom heiter weltbejahenden Blick des abendländischen Dichters getroffen, zum Quell nicht mehr eines aus dem Lebensverzicht erhofften gehobenen Daseins, sondern der lebenskräftigen Verwandlung des Greises zum Jüngling. Aber diesem Verjüngungsprozeß entsprechen im Divan andere Wandlungen des Alters. Wird im Schenkenbuch der Greis durch Vertrauen und Zuneigung des Schenken verjüngt, so erfährt dieser, im Empfang lebenserprobter Altersweisheit und -freudigkeit, die beglückende Wandlung vom Knaben zum Jüngling. In diesem Widerspiel gewinnt der Divan ein menschliches Angesicht, das ununterscheidbar die Züge aller Lebensalter, des Jünglings wie des reifen Mannes und des Greises, trägt. Es ist gerade das „ruhmreiche Geschick des Mannes", das Hofmannsthal im Divan auf jeder Seite bezeugt gefunden hat 4 . So geschieht auch die Verjüngung, deren Urkunde der Divan ist, nicht als ein bloß naturhafter Vorgang — so gewiß seine Verse mit der naturhaften Kraft des Frühlings ergreifen —, sondern sie fließt zugleich aus der geistigen Aneignung eines Bildungskosmos: der als Einheit gesehenen und in ihrem geschichtlich-sittlichen Gewordensein ermessenen orientalischen Welt. Waren für das Bewußtsein der abendländischen Menschheit das 64
antike und das christliche Erbe zu Ideen geworden, die der sittlichen Erziehung der Generationen Richtung und Würde geben, so ist der Orient vor dem geistigen Auge Goethes ein einheitlicher Zusammenhang geschichtlich-sittlichen Lebens geworden. In der Mannigfaltigkeit des östlischen Lebens, das durch den Anschein seiner Ziel- und Hoffnungslosigkeit den Betrachter allzu leicht verwirrt und ängstigt, hat Goethes Genius die Idee, den Sinn gewahrt. Seine Ansicht ist deshalb von unaussdiöpfbarer Fruchtbarkeit, weil sie von einer Gerechtigkeit beseelt ist, vor der jedes romantische Schönfärben verblaßt. In der Nachfolge des Divans glaubten sich einzelne Versuche, die dem Reiz der neu in den europäischen Gesichtskreis tretenden orientalischen, insbesondere der persischen Poesie mit einer das Maß überschreitenden Schätzung nachgaben. Ihnen steht in den 'Noten und Abhandlungen' das ruhig abwägende Urteil über die persische Dichtung gegenüber. Die zersetzend auf sie wirkenden Kräfte: Einfluß des Despotismus, Rhetorisierung, Überbewußtheit, mangelnde Ursprünglichkeit, das Fehlen des Geschmacks, der 'Sonderung des Schicklichen vom Unschicklichen' zumal in der Einführung von Bildern und Metaphern, das alles ist von einem untrüglichen Sinn für das Rechte gekennzeichnet und mit Maß beurteilt. Den Märchen von Tausend und einer Nacht mag der genießende Betrachter mancherlei Lob und Bewunderung zollen. Was über sie wesentlich zu sagen ist, sagt dieser eine Satz Goethes: „Ihr eigentlicher Charakter ist, daß sie keinen sittlichen Zweck haben und daher den Menschen nicht auf sich selbst zurück, sondern außer sich hinaus ins unbedingte Freie führen und tragen." 6 Aber jene Urteile sind nicht das letzte W o r t des Divans: sie sind aufgehoben in einem freien und reinen Geltenlassen, dessen Wurzel eine höhere Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit der Ehrfurcht und Liebe zu allem geistigen Dasein ist. Sie ist vor allem dort fruchtbar geworden, wo der Dichter durch Trübungen und Beschränkungen hindurch das im unvollkommen entwickelten Keim Verharrende gewahrt und erst zur Form entwickelt hat: so die Verwandlung des in der orientalischen Poesie längst gemein gewordenen Bildes vom Falter und der Kerze zum Symbol des Stirb und Werde, eines gnostischen Weltentstehungsmythos zum Hochgesang des 'Wiederfinden', trüber östlicher Zauberei zu dem Geisterruf der 'Talismane'. .
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Um der Einheit des Divans näherzukommen, bedarf es eines vorschauenden Blicks auf die 'Noten und Abhandlungen'. Sie sind Erläute5
S c h a e d e r , Goethe
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rungen zu den Gedichten des ersten Teils, aber nicht nur dies. W i e im ersten Gedicht des Divans, so führt sich auch in der Einleitung zu den 'Noten' der Dichter als ein Reisender ein, der in die fremdartig bunte Welt des Ostens gelangt, sich in ihr umtun und von ihren Verhältnissen Kunde gewinnen will. Sie vermittelt er seinen Landsleuten. Fremdartige orientalische Worte, Namen, geschichtliche und literarische Anspielungen, auf die der Leser der Gedichte stößt, werden ihm in den 'Noten' bei gegebener Gelegenheit erklärt. Aber daraus entsteht unvermerkt ein selbständiges Ganzes: ein Überblick über die Geschichte und Dichtung des vorderen Orients, vornehmlich Persiens, von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart des Dichters reichend. überliest man die 'Noten', so fällt es schwer, den Grundsatz aufzufinden, nach dem sie komponiert sind. Nach kurzer Betrachtung des ältesten Zustandes der Hebräer und Araber und ihrer Dichtung beginnt eine ausführliche Schilderung des Persertums. Seine ältesten Zustände von der achämenidischen Zeit bis zur Wiederherstellung unter den Sassaniden und dem Niedergang ihres Staates werden in Kontrast zu den veränderten Verhältnissen gestellt, die der Einbruch der Araber und die Islamisierung Persiens im siebenten nachchristlichen Jahrhundert mit sich geführt hat. Aber dabei ist Goethe bestrebt, ein Verharrendes und Unzerstörbares in den Wandlungen der persischen Geschichte aufzuweisen, das sich nach der islamischen Eroberung in Zeiten der Ruhe zu reinen Schöpfungen wieder herstellt. Für die gegenwärtige Erforschung der persischen Geschichte rückt eben dieses Problem in den Mittelpunkt. Es schließt sich eine Übersicht über die persische Dichtung vom 10. bis zum 15. Jahrhundert an. Goethe hält sich dabei an den nicht von den Persern selber, sondern von Joseph von Hammer in seiner 'Geschichte der schönen Redekünste Persiens' (1818) aufgestellten Kanon der sieben klassischen Dichter. Auf die geschichtliche Darstellung folgt eine die Grundlagen der orientalischen Poesie im allgemeinen und der persischen im besonderen beurteilende Betrachtung, die der orientalischen Eigenart der Bildung von Gleichnissen und Metaphern besonders nachgeht: an eben dieser Stelle setzen die in unseren Tagen unternommenen Versuche ein, eine Ästhetik der orientalischen Poesie anzubahnen. Es werden weiter in Form des Plans für einen künftigen Divan die Bücher des ersten Teils zu den Formen und Stoffen orientalischer Poesie in Beziehung gesetzt und zugleich in ihrem Eigenwesen betrachtet: eben als west-östlich, nicht als Verkleidungen orientalischer Gehalte in deutscher Form oder umgekehrt, sondern als die Er-
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Zeugnisse einer Einswerdung von orientalischem und abendländischem Geist im Erleben des Dichters. Ein zweites Thema des Kommentars ist die Auskunft über die Quellen, aus denen der Dichter Kunde des Orients geschöpft, und der Dank an die Lehrer, von denen er sie empfangen hat. Goethe hat eine Forderung gesehen und erfüllt, die für den Erforscher der Kulturen des Ostens zum Wesentlichen seiner Aufgabe gehört: die Würdigung der älteren und neueren europäischen Beschreibungen orientalischer Reisen. Dabei richtet er sich entsprechend dem Hauptziel seiner geschichtlichen Abhandlung in erster Linie auf Persien. In den Charakteristiken europäischer Persienreisender, die ihren Höhepunkt in der wunderbar lebensvollen Würdigung des römischen Edelmannes Pietro della Valle und seines Besuches am Hofe Abbas' des Großen im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts erreichen, entfaltet sich eine Fragestellung, der sidi der Orientforscher offenhalten muß: wie sich in den Jahrhunderten der Selbstbewußtwerdung des Abendlandes und seines gleichzeitig wachsenden Vorsprungs vor orientalischer Zivilisation das Bild umgestaltet und wandelt, das der Europäer oder vielmehr die Europäer der einzelnen Nationen je nach ihrer besonderen Seh- und Urteilsweise von der orientalischen Welt in sich erzeugt haben. Zwischen die beiden Hauptteile, die geschichtliche überschau und den Bericht über Vorgänger, Lehrer und Hilfsmittel, ist ein größeres zusammenhängendes Stück eingeschaltet: die bereits zwei Jahrzehnte vor dem Entstehen des Divans niedergeschriebene und für ihn neu redigierte Abhandlung 'Israel in der Wüste' (o. 49). Es ist von Bedeutung, daß Goethe in der Zeit des Divans, da er sich eine Gesamtansicht des Orients erarbeitet, gerade auf diese früheren Versuche zurückgreift. Darin liegt ein Hinweis auf die Absicht, aus der heraus der Kommentar zum Divan im ganzen unternommen wurde. Die Übersicht über die 'Noten' kann in der T a t den Anschein einer raschen, von Zufälligkeiten abhängigen Anlage erwecken. Zwar sind sie sorgfältig gegliedert, aber es ist nicht sogleich einzusehen, wie sich die verschiedenen Teile zu einem Ganzen fügen. Um dies zu begreifen, muß man auf die umfassendere Ganzheit, die Ganzheit von Gedichtsammlung und Kommentar, die den Divan ausmacht, zurückgehen. Erinnern wir uns an den Plan, nach dem Goethe die Sammlung der Gedichte geordnet hat, freilich ohne alle Unterabteilungen des Ganzen gleichmäßig auszufüllen. Während der Jahre der Arbeit am Divan ging dem Dichter erst allmählich die Einheit der zusammengekommenen Ge5*
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dichte auf, die ihrer Erzeugung nach Gelegenheitsgedichte im bekannten Sinne gewesen waren. Die eine der beiden Hauptgestalten, zu denen der Dichter sich in Beziehung setzt, der Perser Hafis, war ihm schon zu Beginn der Periode vertraut, in der der Divan entstand: 1814 war die vollständige Übersetzung J. von Hammers in seine Hände gelangt. Hier fand er neben der großen Sammlung der lyrischen Gedichte, dem Divan des Hafis im engeren Sinne, zwei längere, in Doppelversen abgefaßte Sinngedichte, das Buch vom Sänger und das Buch vom Schenken. Beide Titel hat Goethe persisch und deutsch in den Divan übernommen und nach ihnen die Titel der übrigen zehn Bücher ebenfalls doppelsprachig gebildet. Von den zwölf Büchern führt das erste, das Buch des Sängers, den zum Osten hingewandten westindischen Dichter ein, das Buch Hafis verherrlicht das östliche Vorbild, das Buch der Liebe faßt die musterhaften Liebenden ins Auge, die in der arabisch-persischen Dichtung ins Typische erhoben sind. In den drei folgenden Büchern der Betrachtungen, des Unmuts, der Sprüche ist geborgen, was von lyrisch entfalteter oder epigrammatisch zugespitzter Lebensweisheit, verteidigender und abwehrender Selbstbehauptung und sprichwortartiger Belehrung in den Divanjahren hervortrat. So ergänzen sie die Sammlungen der Sprüche in Versen und Prosa, die in Goethes Alterswerk zunehmende Bedeutung gewinnen. Das Buch Timur geht auf den Weltherrscher, der Goethe in Napoleon entgegentrat, so wie er nach der Legende dem Hafis in Timur, dem mongolischen Eroberer, erschienen war. Das Buch Suleika übersetzt den Bund mit Marianne von Willemer in die Liebe von Hatem und Suleika, so wie das Buch des Schenken die Zuneigung des Mannes zum vertraulidi zugetanen Knaben in abendländische Gegenwart übersetzt. Die drei letzten Bücher gelten den ewigen Dingen: das Buch der Parabeln erfaßt sie in einzelnen Sinnbildern, das Buch des Parsen im Symbol altpersischen, der Sonne, dem Feuer und den reinen Elementen dienenden Gottesdienstes, das Buch des Paradieses, in die geistigsten Höhen führend, im Zeichen einer nach islamischem Vorbild irdisch-überirdischen Jenseitshoffnung. Das Hauptgewicht liegt auf den zwei Büchern von Hafis und Suleika. Die beiden Bücher von Timur und vom Parsen sollten noch weiter ausgeführt werden, jenes sollte die Gestalt des Despoten, über deren Bedeutung für das orientalische Geistesleben der Kommentar mehrfach Betrachtungen anstellt, dieses die reine altpersische Religion in ihrer Erscheinungsfülle zur Anschauung bringen. Beide sind ohne Fortsetzung und im wesentlichen auf je ein gewaltiges Bruchstück beschränkt geblieben: auf die nach dem arabischen Historiker Ibn Arabschah geformte Episode 'Der Winter 68
und Timur"', deren halb geschichtliche, halb mythische Vision den Untergang des napoleonischen Heeres im russischen Winter vorauszuahnen sdheint, und das 'Vermächtnis altpersischen Glaubens', das in den Mund des sterbenden Parsen gelegte Bekenntnis zu einem Leben, das zwischen der Verehrung der reinen Elemente und dem Dienst an der Urbarmachung der Erde verläuft, ohne über sich hinauszustreben: „Schwerer Dienste tägliche Bewahrung, sonst bedarf es keiner Offenbarung." Die planvolle Gliederung, die in der Ordnung der Gedidite sidi kundgibt, ist der Ausdruck der unendlich beziehungsreidien, ebenso lockeren wie festen Fügung des Gehaltes, der in den Gedichten ausgebreitet ist. In den beiden begnadeten Jahren, in denen der Divan reifte, 1814/15, gestaltete sidi in Goethe aus den Wendungen seines äußeren Lebens, aus den beiden Reisen in die Heimat am Rhein und Main, aus der Aufnahme neuer Bildungsgehalte, der mittelalterlich-deutschen Dichtung und Kunst, die ihm von den rheinischen Freunden nahegebracht wurden, aus der orientalischen Welt, die ihm in Hafis begegnete, endlich aus der Begegnung mit Marianne von Willemer eine neue Welt, die in ihm den Willen und die Kraft zu einer Erneuerung seiner dichterischen Formensprache weckte. Die Entstehungsgeschichte des Divans, zumal die aus dieser Zeit erhaltenen Briefe lehren, daß die Begegnung mit Hafis und die Begegnung mit Marianne von Willemer, die den Namen einer der großen Liebenden der orientalischen Uberlieferung, der Suleika, erhält, in die engste innere Beziehung traten. Was Goethes Seherblick aus Hafis' Poesie schöpfte, das war die Formmöglichkeit, kraft derer er die neue Liebe zu Suleika in Geist verwandelte. Denn das ist es: der unvergängliche Zauber des Divans rührt davon her, daß Goethe eine neue menschliche Bindung, die in sein Leben eintrat und die Kraft hatte, ihn im Tiefsten zu erschüttern, über die Abgründe zerstörender Leidenschaft hinweg zu Geist werden ließ. In den 'Noten' zum Divan heißt es 7 : „Der höchste Charakter orientalischer Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist nennen, das Vorwaltende des oberen Leitenden." Hofmannsthal hat mit tiefem Recht diese Bestimmung auf den Divan selber übertragen 8 . Das ist das Ergreifende, daß menschliche Beziehungen, die das Gemüt bis zur äußersten Spannung erfüllen, durch die Dichtung in einen Bereich entrückt werden, in dem Spannung und Beruhigung in einem Höheren aufgehoben sind: in der Einheit des Geistigen, die das Individuelle in sich befaßt und ausgleicht. Formungsmöglichkeiten dafür gab es in abendländischer Uberlieferung, und sie waren Goethe nicht unbekannt. In der christlichen Mystik hat das 69
Erotische seine feste Stelle. Das Gemüt des Mystikers konzentriert sich in der Gottesliebe, in der Liebe zu Christus, und glaubt, aus dem sinnlichen Affekt aufsteigend in ein übersinnliches geführt zu werden. Aber gerade von dieser Form der Mystik und der mystischen Liebe rückt Goethe mit aller Entschiedenheit ab. Er nennt sie in ihren neueren Erscheinungen -dabei ist an die Ausuferungen des Pietismus und der Romantik gedacht — „nur eine charakter- und talentlose Sehnsucht" 9 .
* Was war das neue Erlebnis, das ihm gestattete, die Erregung der neuen Liebe gestalthaft zu überwinden und doch in ihrer Gestaltung die volle sinnlich-geistige Spannung zu bewahren? Die Frage beantwortet sich mit dem einen Namen Hafis. Bei ihm fand er eine Freiheit des Geistes und der poetischen Erzeugung, die über der Geschiedenheit von Sinnlichem und übersinnlichem stand. Und was war es, das Goethe mit solcher Entschiedenheit zu Hafis hinzog? Man findet es am klarsten in der Voranzeige des Divans im 'Morgenblatt' 10 ausgesprochen. Dort heißt es vom 'Buch der Liebe': „Manche dieser Gedichte verleugnen die Sinnlichkeit nicht,manche aber können nach orientalischer Weise auch geistig gedeutet werden", und etwas weiter vom 'Buch Suleika': „Auch hier dringt sich manchmal eine geistige Bedeutung auf, und der Schleier irdischer Liebe scheint höhere Verhältnisse zu verhüllen." Die Eigentümlichkeit von Hafis' Dichtung — davon wird später besonders zu sprechen sein — liegt eben darin, daß sie über dem Gegensatz von Sinnenfreude und Vergeistigung steht und dadurch ihre geistige Freiheit gewinnt und behauptet. Dies hat Goethe gesehen. In dem Gedicht 'Offenbar Geheimnis' wendet er sich spottend gegen die einseitig mystische Auslegung des ganzen Hafis, um sogleich im folgenden Gedichte 'Wink' einzuräumen, daß die Doppelsinnigkeit des dichterischen Wortes, der zwiefache Bezug auf das Sinnliche wie auf das Geistige, freilich im Wesen des Dichterischen liegt. Alles was er in den Gedichten wie in den Noten über Hafis sagt, läuft auf die eine Absicht hinaus, in seinem Schaffen den Punkt zu finden, der oberhalb jener Scheidung liegt und die Doppelsinnigkeit des Hafis'schen Gedichtes als gewollte Einheit verstehen läßt. So hebt er an Hafis das Gesellige hervor, die aus einer weiten Welterfahrung erzeugte Bereitschaft, als Dichter zu einem jeden zu sprechen, die Sehnsucht, von der ein jeder erfüllt ist, im dichterisch reinen Bild zu prägen, ohne daß dabei Erlebnis und Dichtung einander vollkommen decken müßten. Vielmehr gibt er die Möglichkeit zu, „daß der Dichter nicht geradezu 70
alles denken und leben müsse, was er ausspricht, am wenigsten derjenige, der in späterer Zeit in verwickelte Zustände gerät, wo er sich immer der rhetorischen Verstellung nähern und dasjenige vortragen wird, was seine Zeitgenossen gerne hören" 1 1 . Damit ist ein Punkt getroffen, der nicht sowohl Hafis als die persische Dichtung überhaupt betrifft. Wenn der abendländische Leser die durchgängige Verwandtschaft der Ideen und Bildmotive bei den einzelnen Dichtern, den Mangel an persönlicher Prägung gegenüber dem in fester Überlieferung typisch Ausgeformten und von einem Dichter an den anderen Weitergegebenen ins Auge faßt, so wird er geneigt sein, dieser Dichtung das Dichterische überhaupt zu bestreiten, sie für Rhetorik zu erklären. Aber damit entgeht ihm ein positiver Zug an diesem Vorwalten des Rhetorischen gegenüber dem PersönlichDichterischen: eben die Bereitschaft zum Geselligen, zum Ausdruck dessen, was alle fühlen und hören wollen, wie Goethe sie an Hafis gewahr geworden ist. Neben dieser Bereitschaft bewundert er an dem persischen Dichter die Fähigkeit, noch in der tiefsten leidenschaftlichen Gemütserregung eine ungetrübte Klarheit des Geistes und Ruhe der Seele gewahr werden zu lassen. Er rühmt die 'fortquellende mäßige Lebendigkeit', und wenn er vollends als Merkmal seiner Dichtung 'skeptische Beweglichkeit' hervorhebt, so trifft das alles in einem Punkt zusammen: in der Einsicht, daß Hafis in dem Reichtum, der Bewegtheit und Vielsinnigkeit seiner Dichtung nur zu verstehen ist, wenn man ihn unromantisch auffaßt, von einer Seelenlage her, die sich gleichmütig über die Konflikte zwischen dem Willen des Dichters zur Einsamkeit und Eigenart und seiner Stellung in der Gemeinschaft, zwischen irdischer und himmlischer Liebe, zwischen Geist und Sinnlichkeit erhebt. Dazu noch ein Letztes. Die Gestalten Hatems, Suleikas und des Schenken zeigen, daß die Auffassung des Menschlichen im Divan eine typisierende ist. Herrlich tritt dies im 'Buch Suleika', in dem Gedicht 'Wiederfinden' hervor, wo der Dichter von sich und der Geliebten bekennt: „Beide sind wir auf der Erde musterhaft in Freud und Qual." Das schließt sich zusammen mit der an der Spitze des 'Buches der Liebe' stehenden Aufzählung der sechs vorbildlichen Liebespaare, die Goethe aus persischer und arabischer Überlieferung schöpfte. Diese Typisierung individueller Gestalten ist auch der persischen Dichtung im allgemeinen und Hafis im besonderen eigentümlich. W i e Goethe den Typus des Schenken unmittelbar aus Hafis übernommen und ins Westliche gewandelt hat, so hat er auch Suleika als Typus der vom Dichter angeredeten Geliebten und Ha-
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tem, den Typus des redenden dichterischen Ich, aus der Aneignung Hafisscher Poesie empfangen. Dies ist die Wirkung, die Hafis durch seine dichterische Form auf den Divan geübt hat. Eine besondere Würdigung beansprucht das 'Buch des Schenken'. Goethe hat den Titel und die Gestalt des Schenken aus Hafis übernommen; er hat aber aus wenigen Anregungen, die er in orientalischer Überlieferung vorfand, den Gedichtzyklus geschaffen, der in unvergeßlichem Geschehensablauf die Begegnung des Dichters mit dem Knaben vor Augen führt, den er an die Stelle des groben Kellners zu seinem Dienst beruft. Der Weisheit und dem Frohsinn des Mannes tritt die jugendliche Aufgeschlossenheit und Bereitschaft zur Verehrung gegenüber, zu einem 'Vertrauen unnennbarer Art zwischen Älterem und Jüngerem' 12 . Goethe wußte, was er tat, und er hat es ausgesprochen. Er fand bei Hafis eine Form erotischer Poesie, die sich an den Jüngling wendet. Diese Beziehung wollte er aus dem Divan nicht ausschließen, aber sie mußte „unseren Sitten gemäß in aller Reinheit behandelt sein" 13 . Wie er durch die Umsetzung ins Europäische, durch die Beziehung auf das sittliche Bewußtsein der neueren abendländischen Welt eine Fülle von Symbolen, die er bei Hafis vorfand, erst in ihre volle Reinheit gehoben hat, so hat er hier einen dunklen Bereich des Erotischen ins Helle geführt, in den freien, geistigen Bezug eines 'echt pädagogischen Verhältnisses': er ist aus dem Allzu-Menschlichen ins Geistig-Freie, aus dem Romantisch-Leidenschaftlichen ins Sittliche gewandelt. W i r sind vorbereitet, auf das Ganze des Divans zu blicken und die Frage nach dem Sinn der 'Noten' und ihrer Anlage wiederaufzunehmen. W i r bleiben bei dem einen Beispiel des Hafis. In den Gedichten wird er hoch gefeiert, als Vergegenwärtigung des Dichterischen überhaupt gepriesen; in den 'Noten' tritt dazu die Darlegung der geschichtlichen Bedingtheit, in der Hafis steht, der eigentümlichen Geistesart, die er in ihr entfaltet und um derentwillen er dem europäischen Dichter bedeutsam wird. Ähnlich ist die Beziehung von Dichtung und 'Noten' beim Schenkenbuch. Der Gedichtzyklus setzt ein Verhältnis in sinnenfällige und zugleich versittlichende Gegenwart ein, das in den 'Noten' in seiner geschichtlichen Form und Begrenztheit im orientalischen Leben aufgewiesen wird. Dies gilt für den ganzen Divan durchgehend, überall tritt in den Gedichten als sittlich aufgefaßte Gegenwart auf, was die 'Noten' als Geschichte entwikkeln. Hofmannsthal sagte vom Divan: „Dieses Buch ist völlig Geist" 1 4 — es ist Geist in doppelter Gestalt. Die Welt, die sich in den Gedichten entfaltet, steht unter dem Zeichen der Anerkenntnis des Geistes als Sittlich-
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keit in allen Lebensbezügen; und behutsam werden wir vom Sittlichen ins Religiöse hinübergeführt im letzten Buch des Divans, dem 'Buch des Paradieses', das eine der orientalischen und der abendländischen Religion gemeinsame dogmatische Vorstellung durchleuchtet und durchscheinend werden läßt, bis in ihr der Wille der Seele über ihre irdische Beschränkung und sich selber hinaus sichtbar wird. Wie in den Gedichten die Anerkennung des Geistes als Sittlichkeit den Grundton hergibt, so bezeugen die 'Noten' die Anerkenntnis des Geistes als Geschichte. Sie sind nicht ein aus äußerlich-praktischer Rücksicht, um das Verständnis der Gedichte eingängiger zu machen, hinzugefügtes Bestandstück des Divans; sie sind auch nicht als Einheit aus sich zu begreifen. Der Divan als Ganzes ist eine Einheit, die sich aus innerer Notwendigkeit in ein Zwiefaches zerlegt: in die Entfaltung eines und desselben Geistes im Dichterisch-Gegenwärtigen wie im Geschichtlich-Vergangenen. Alle geistige Auffassung vollzieht sich in einem Rhythmus, in einer Dialektik von Vergegenwärtigung und Abstandnahme. Wir müssen das Geschichtliche, das wir aufzufassen suchen, einmal in unser Eigenes verwandeln, es der geistigen Form, die wir selber sind, angleichen; und zugleich müssen wir über unsere Form hinausgehen, müssen das Andere in seinem Selbstsein auffassen: Aneignung und Hingabe. Eben dies Wechselverhältnis ist im Divan Form geworden: der Aneignung der orientalischen Welt, die der Dichter in sein geliebtes Deutsch übersetzt, entspricht die Hingabe, die seinem Gewissen die Pflicht auferlegt, die fremde Welt zu durchschreiten und sie in ihrer geschichtlichen Ordnung und Eigenart zu begreifen. Kein Zweifel, daß Goethe von der neuerwachten romantischen Teilnahme an abendländischem und morgenländischem Mittelalter ergriffen war. Aber die Romantik ist nicht zu der männlichen Auffassung gelangt, die sich in dem Rhythmus von Aneignung und Hingabe vollzieht: sie liebte das unverbindliche Spiel mit der fremden Welt und die Selbstpreisgabe an das Exotische. Goethe hat die romantische Ergriffenheit ins Fruchtbare gewandelt. Die Einsicht in die Notwendigkeit, die Erschütterung des Gemütes durch die Begegnung mit einer fremden Geisteswelt dadurch ins Gleiche zu bringen, daß man diese Welt als Geschichte sieht, sie ist das großartig Neue am Divan. Mit Ernst ist hier der Versuch unternommen worden, eine fremde Kultur nicht als buntes Bild, sondern als Geschichte zu verstehen, die in ihrem Ablauf und der Abfolge ihrer Stufen sich als geistige Einheit darstellt und begreifen läßt. Damit ist ein Weiteres gegeben. Wie der Divan die Überwindung der 73
Romantik bedeutet, so bedeutet er auch den entscheidenden Schritt über Herder hinaus. An die Stelle der Geschichtsrhapsodie, der die einzelnen Nationalitäten nur Erscheinungen eines allgemeinen Volksgeistes und darüber hinaus der Humanität überhaupt bedeuten, ist im Divan die unmittelbare und in sich geschlossene Auffassung des eigentlich Geschichtlichen in der Entwicklung einzelner Völker getreten und an einem Hauptbeispiel, an der Geschichte der Perser, von den Anfängen bis zur Gegenwart durchgeführt. Auch hier wird die Eigenart dieser geschichtlichen Entwicklung und ihrer Leistungen, insbesondere auf dem Gebiet der Poesie, auf letzte und allgemeine Prinzipien bezogen. Aber das geschichtlich Individuelle ist nicht ein Anschauungsunterricht für allgemeine Sachverhalte des Sittlichen und Menschlichen. Die prinzipiellen Gesichtspunkte und ihre Entfaltung dienen nur der genaueren und vollständigeren Auffassung des Geschichtlich-Tatsächlichen. Das geschichtsphilosophische Interesse ist organisch dem eigentlich geschichtlichen Sehen untergeordnet: die Geschichte ist nicht mehr Bestandstück einer Metaphysik, sondern zu sich selber, zu ihrer Totalität gelangt. So konnte Goethe in die 'Noten' jene kritische Untersuchung zum Pentateuch einreihen. Sie war hier am Platz, denn sie hatte bereits ein Vierteljahrhundert vor der Konzeption des Divans eine geschichtliche Untersuchungs- und Forschungsweise betätigt, die nun auf neuem Feld fortgesetzt und erweitert wurde. So steht der Divan als Wegweiser am Beginn einer Straße, die im historischen Jahrhundert den abendländischen Geist zur Bewältigung eines neuen großen geschichtlichen Zusammenhanges, der orientalischen Welt, führen sollte, und auf dem wir fortgehn. Er darf die Magna Charta der Orientforschung heißen. Er enthält jene 'Ahndung des Ganzen', ohne die das einzelne nicht aufgefaßt werden kann, mit einem Goetheschen Bilde: die Systole, der die neue Diastole folgen muß und folgen kann, 'eine Rückkehr zu einem neuen Aufbruch'.
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Im Innersten des Divans, eine Fülle von Beziehung zu den übrigen Büchern ausstrahlend, steht das 'Buch Suleika', das auch an Zahl der Gedichte die anderen Zyklen weit übertrifft. Nach keiner Seite hin ist es so lebendig und tiefreichend verbunden wie mit dem 'Buche Hafis'. Aus Gedichten des Hafis waren die Chiffernbriefe16 zusammengefügt, die Goethe und Marianne von Willemer nach dem Heidelberger Abschied im September 1815 tauschten. Seine Symbole und dichterischen Motive haben überall Farbe und Ton der Suleikalieder mitbestimmt. Wir fühlen, wie sich
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Goethes schöpferische Phantasie in jener Zeit unaufhörlich zwischen Hafls und Suleika hin und her bewegt, und werden dadurch zum Nachdenken veranlaßt: was bedeutet diese einmalige Tatsache der Vermittlung durch die Dichtung eines Andern in Goethes Liebeslyrik, die sonst eine so unmittelbare Sprache spricht? Die Chronologie der Gedichte des 'Buches Hafis' zeigt, wie die Auseinandersetzung mit dem persischen Dichter vom persönlichen Erlebnis her an Spannung gewonnen hat. Der Freude am Wettbewerb mit ihm, seinem 'Zwilling', die das 'Unbegrenzt' aus dem November 1814 zum Ausdruck bringt, hat der Sommer 1815 eine neue Wendung gegeben: die den Dichter erfüllende Leidenschaft wird nunmehr das Lebenselement, in dem er sich an Hafis mißt oder, nach seinem eigenen Wort, 'vermißt'. Im Dezember 1815 entsteht jenes Gedicht, das Goethe später, wohl um der allzu persönlichen Gegenüberstellung willen, von der Veröffentlichung ausgeschlossen hat: 'Hafis, sich dir gleichzustellen, welch ein Wahn!'" Dir in Liedern, leichten, schnellen, Wallet kühle Flut, Siedet auf zu Feuerwellen; Mich verschlingt die Glut. Doch mir will ein Dünkel schwellen, Der mir Kühnheit gibt: Hab doch auch im sonnenhellen Land gelebt, geliebt!
An seine Stelle ist Jahre später das viel reichere Gedicht 'Was alle wollen, weißt du schon' getreten, das den Gedanken des poetischen Wettstreits nur mehr verhüllt ausspricht, das aber den Uberblick über Hafis' Kunst in eben dem Augenblick einsetzen läßt, da „es allgewaltig brennt", da Sehnsucht und Leidenschaft aufs höchste gestiegen sind. Gegenüber dem verzehrenden Übermaß, das so oft sein Leben gefährdet hatte, sucht Goethe jene 'fortquellende, mäßige Lebendigkeit', die heitere Geselligkeit, die er an seinem Vorbild rühmt, als menschlich-sittliche Haltung in sich zu erzeugen. Die Charakteristik des Hafis in den 'Noten und Abhandlungen' zeigt, wie in Goethes Augen der Weltzugewandtheit des Persers zugleich ein Element der Weltüberwindung beigemischt ist: „Hafis, ein großes heiteres Talent, das sich begnügt, alles abzuweisen, wonach die Menschen begehren, alles beiseite zu schieben, was sie nicht entbehren mögen, und dabei immer als lustiger Bruder ihresgleichen erscheint." Hieran ist zu denken, wenn Goethe sich dort, wo er in der Betrachtung des 'Künftigen Divans' auf das 'Buch Suleika' zu sprechen kommt, einem jener 'gründlichen
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Bettler' vergleicht, denen ihre Armut Verwegenheit gibt, so daß sie geneigt sind, sich mit Königen zu messen: „Irdische Güter und ihren W e r t nicht anzuerkennen, nichts oder wenig davon zu verlangen, ist sein Entschluß, der das sorgloseste Behagen erzeugt." In den Gedichten 'Nur wenig ist's, was ich verlange' und 'Hätt' ich irgend wohl Bedenken' hat jene hafisisdie Lebensweisheit, die durch den Schein der Welt hindurchdringt, ohne sich von ihr zu lösen, in das 'Buch Suleika' Eingang gefunden. Der eigentümliche Ton jener geistig-sittlichen Auseinandersetzung mit Hafis kehrt in der 'Einladung' wieder, mit der Goethe das 'Buch Suleika' einführt: Mußt nicht vor dem Tage fliehen: Denn der Tag, den du ereilest, Ist nidit besser als der heut'ge; Aber wenn du froh verweilest, W o ich mir die Welt beseit'ge, U m die W e l t an midi zu ziehen, Bist du gleich mit mir geborgen: Heut ist heute, morgen morgen, Und was folgt und was vergangen, Reißt nicht hin und bleibt nicht hangen. Bleibe du, mein Allerliebstes,Denn du bringst es und du gibst es.
Das Gedicht ist, wie die beiden vorgenannten, im Winter 1814/15 entstanden, zu einer Zeit, da Goethe Marianne von Willemer bereits kannte. Niemand kann sagen, wie tief sich ihr Bild bei jener ersten Begegnung im Herbst 1814 seinem Innern eingeprägt hat. Daß es seinen Sinn erfüllte, ist sicher: am Tage des Antritts der zweiten Reise nach Wiesbaden und dem Rheinland entstehen die beiden Gedichte 'Da du nun Suleika heißest' und 'Daß Suleika von Jussuph entzückt war'. Wohl kaum je hat Tyche, 'das Zufällige', das zur 'Gelegenheit' im Goetheschen Sinne wird, im Leben des Dichters ein seltsameres Spiel getrieben: wie für einander vorgeformt wachsen Hafis und Suleika, das aus der geistigen Welt gewonnene vorausnehmende Bild und die es belebende Wirklichkeit zusammen. In der Erscheinung der Suleika seiner Lieder und im Lebenskern ihrer beiderseitigen Neigung sind noch einmal alle jene Elemente vereinigt, die Hafis nach Goethes Urteil in überlegener Formbeherrschung zusammengeschlossen hatte: Leidenschaft, Phantasie, Geist und Witz, alles auf dem Boden gesundester Natürlichkeit und unzerstörbarer Heiterkeit. Daß Goethe im Leben das Gefährliche dieser Begegnung an den Irrwegen der Romantik, an Schuld und lebengefährdendem Traum vorbeigeführt und in Poesie und Menschlichkeit verwandelt hat, gibt der in ständigem Fluß ge-
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haltenen Beziehung seiner Gedidite zur dichterischen Welt des Hafis die innere Wahrheit und schöne Freiheit, fernab vom romantischen Spiel. Audi in den Versen der 'Einladung' ist, gespiegelt in HafisJ Weltweisheit, von Anfang an das gleiche Thema angeschlagen, das Goethes Lebensweg durch Jahrzehnte begleitet hatte: Form, Maß, Entsagung. Aber der Stil des Divans ist neu und einmalig in Goethes Werk. Er ist nicht strenge klassische Form, die das allzu Nahe und Unmittelbare des Lebens ausschließt, indem sie es überwindet. Es ist vielmehr, als ob das Leben selber an dieser Form mitschaffe, beschwichtigend, verwandelnd, ins Rechte setzend, jedem Übermaß das gefährliche Zuviel nehmend. Friedrich Meinecke sagt einmal, daß Goethe bei seiner Betrachtung geschichtlichen Handelns „dem Alltäglichen die Weihe der Urform gab" 16 . Durch den ganzen Divan hindurch fühlen wir den Pendelschlag, der vom gesteigerten zum beruhigten Empfinden zurückschwingt. In einem sonst bei Goethe selten wiederkehrenden Ausmaß wird die Alltagssprache das dichterische Mittel, um die eigentümlich verwandelnde Kraft des täglichen Lebens aussagbar zu machen. Sie wird im Divan gerade dort aufgeboten, wo Tiefstes angedeutet und Zartestes verhüllt werden soll — so in jenem geisterhaften Nachklang, den die Suleikalieder im 'Buch des Paradieses', in der Zwiesprache zwischen Dichter und Huri gefunden haben. Es ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, daß Goethe an die Vertonung des Divans durch Zelter gedacht hat, daß ihm die Suleikalieder als sangbar vorschwebten. Eine Kunst, die Heiterkeit und Geselligkeit als ihr eigenstes Gesetz anerkennt, muß den Alltag ins Auge fassen und muß ihn immer von neuem bestehen. Wir kommen der inneren Form des 'Buches Suleika' näher, wenn wir seine Gedichte in ihrer zeitlichen Stellung zwischen den Sonetten an Minna Herzlieb und der letzten Qual der 'Trilogie der Leidenschaft' sehen. Zu ihrem Wesen gehört, daß sie Wechselgesang, volle menschliche und dichterische Erwiderung bedeuten. Nicht nur die in den Divan aufgenommenen Lieder der Marianne von Willemer, auch der bis zu Goethes Tod in warmer Herzlichkeit fortgeführte Briefwechsel bezeugen, daß hier eine gemeinsame Sprache gewonnen wurde. Gewiß bleibt Mariannens Kunst im Persönlichen der Empfindung haften, sie hat aus dem Reichtum und der Klangfülle der Goetheschen Verse nur den einen Ton der in Jubel und Klage beschlossenen Hingabe erwidert. Aber ihre menschliche und dichterische Stimme hat nicht nur hinreißende Gesänge der Leidenschaft in Goethe geweckt, sie hat ihm darüber hinaus jene kostbare innere Freiheit gegeben, in der er die Wirklichkeit dieser poetischen Zwiesprache
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zum höchsten Kunstmittel steigert, sie über sich selbst hinauswachsen läßt zum Wechselgesang von Poesie und Leben. Das Pathos der Selbstbehauptung wird ausgeglichen durch die Mächte der Verwandlung, das leidenschaftliche Begehren der Seele gespiegelt in der Heiterkeit des Verzichtes, der Ewigkeitsflug des Geistes gemahnt an die Erdgebundenheit der Empfindung. Goethe hat den tiefen Ernst seiner dichterischen Zwiesprache mit Marianne abgetönt durch das scherzhafte Zwiegespräch, in dem Hatem nach dem Nebenbuhler fragt, der Suleikas neue Lieder gedichtet hat ('Kaum, daß ich dich wieder habe') — wie durch jenes andere, das Hatem mit den Mädchen führt, als sie Suleika um seine Gedichte beneiden, und in dem die Welt selber zu Worte kommt und seine dichterische Gemeinschaft mit der Geliebten mit scharfem Blick betrachtet ('Wie des Goldschmieds Bazarlädchen'). Und er hat dicht neben den Weltentstehungsmythos des 'Wiederfinden', das ihn mit Marianne von Ewigkeit zu Ewigkeit verbindet, den Sinnenzauber der 'Vollmondnacht' mit ihrer allzu irdischen Sehnsucht gestellt. Nicht im Sinne romantischer Ironie, die den Ernst durch subjektive Willkür aufhebt und in Spiel verwandelt — es ist vielmehr gerade das Übermaß des nur individuellen Anspruchs, das zurechtgerückt und in seine Grenzen verwiesen wird, um dahinter ein ReinMenschliches um so tiefer und schöner aufleuchten zu lassen. Immer scheint es, als ob das Leben selbst diese Begrenzung vornehme und nicht menschlicher Geist — weil sie aus der unmittelbaren Kraft und Heiterkeit des Herzens kommt, aus einer inneren Freiheit, die sich mit dem sittlichen Kern des menschlichen Daseins in Einklang setzt. Goethe hat hier das Schwerste geleistet, das Dichtung zu erreichen imstande ist: das Sittliche in Erscheinung treten zu lassen, ohne es auszusagen, das Persönliche in seiner geheimsten Unvollkommenheit aufzuzeigen, ohne etwas von seiner Eigenart und seinem Reiz zu zerstören. Er hat hier aus einem schönen inneren Gleichgewicht eine Kunstform erzeugt, die das, was er an schwerelos unirdischer, sinnlich-übersinnlicher dichterischer Haltung in orientalischer Poesie angelegt fand, zu reinster Erfüllung bringt. Nichts vermag das Geheimnis und die aus der fließenden Fülle des Lebens gewonnene Durchsichtigkeit dieser Form schöner zu vergegenwärtigen als das Gedicht 'Lied und Gebilde', in dem Goethe die eigenen Gesänge an dem Gestaltungswillen mißt, der in der griechischen bildenden Kunst Ausdrude gefunden hat: Aber uns ist wonnereidi, In den Euphrat greifen Und im flüss'gen Element Hin und wieder schweifen.
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Löscht* ich so der Seele Brand, Lied, es wird erschallen. Schöpft des Dichters reine Hand, Wasser wird sich ballen.
Ähnlich bedeutsam wird im Divan das orientalische Symbol der Perle immer als Gleichnis sittlicher Überwindung gegeben: als 'Gewinn des Lebens', den die 'Flut der Leidenschaft' an das 'unbezwungene feste Land' wirft, als Gestaltwerdung der Träne ('Hochbild'), als 'Regentropfen Allahs, gereift in bescheidener Muschel'.
* Goethe selbst hat mehrmals auf die über das Sinnlich-Gegebene hinausführende Bedeutsamkeit der Divan-Gedichte hingewiesen, am deutlichsten vielleicht in seiner Erläuterung zum 'Buch der Liebe': „Der geistreiche Mensch, nicht zufrieden mit dem, was man ihm darstellt, betrachtet alles, was sich den Sinnen darbietet, als eine Vermummung, wohinter ein höheres geistiges Leben sich schalkhaft-eigensinnig versteckt, um uns anzuziehen und in edlere Regionen aufzulocken. Verfährt hier der Dichter mit Bewußtsein und Maß, so kann man es gelten lassen, sich daran freuen und zu entschiedenerem Auffluge die Fittiche versuchen." W i e aber jene Doppelsinnigkeit, die Goethe hier anstrebt, sich an 'Maß' und 'Bewußtsein' bindet, so wird sie anderseits emporgetragen durch den menschlichen Einsatz des persönlichsten Bekenntnisses. Wenn er im Eingang des 'Buches der Liebe' die großen orientalischen 'Musterbilder' anruft, wenn er in einem späteren Gedicht Wamik und Asra hervorhebt, von denen wir nichts als den Namen wissen: Die Namen müssen alle kennen. W a s sie getan, was sie geübt, Das weiß kein Mensch! Daß sie geliebt, Das wissen wir,
so ist dies kein Spiel mit romantisch verklärter Vergangenheit, sondern hängt an Goethes Unsterblichkeitsgedanken. Er, der im Divan den Menschen als Persönlichkeit so klar und heiter in seiner irdischen Verwurzelung vergegenwärtigt, zeigt hier den vollen Ernst der Ehrfurcht vor allem Leben, wenn es ein ewiges Bild menschlicher Größe so rein ausprägt, daß es über sich hinaus zu unvergänglicher Fortdauer gelangt. Das Weiterleben in der Geschichte ist Gleichnis der Unsterblichkeit — voll sichtbar wird dies im 'Buch des Paradieses', in dem alle Gleichnissprache des Divans sich vollendet : in der Siebenschläferlegende, die in heiterer Bedeutsamkeit das un-
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mittelbar an den Schluß des Faust erinnernde Bekenntnis der Verse 'Höheres und Höchstes' ausklingen läßt. W i e vom Unsterblichkeitsgedanken aus alles, was an poetisch-geschichtlicher Gestalt im Divan sichtbar wird, seine eigentümliche Durchsichtigkeit und Doppelsinnigkeit erhält, so ist anderseits der Bereich des Menschlich-Sittlichen gespiegelt in einer Naturgesetzlichkeit, in der sich sinnenfällige Anschauung und höhere Bedeutung, Mythos und Naturerkenntnis verbinden. Im 'Wiederfinden' ist die Zusammengehörigkeit mit Marianne ebenso als geistig-naturhafte Notwendigkeit aufgefaßt wie das elementare Sich-Abstoßen und Anziehen der Paare in den 'Wahlverwandtschaften'. In beiden Fällen steht dieser über menschliches Wollen hinausreichenden Gesetzlichkeit das sittliche Gebot entgegen. Es wird im 'Buch Suleika' ('Hochbild') ebenfalls an einem mythischen Vorgang im Weltenraum versinnlicht: So nach des Schicksals hartem Lose Weichst du mir, Lieblichste, davon. U n d wär' ich Helios der Große, W a s nützte mir der Wagenthron?
Im 'Wiederfinden' folgte auf die im Bilde gnostischer Kosmogonie gesehene erste Schöpfungsstunde, 'als das All mit Machtgebärde in die Wirklichkeiten brach', die Trennung der Elemente, die das Weltall in Oede und Starrheit bannt. Erst als nach der Erschaffung der Morgenröte durch die Verbindung des Lichts mit dem 'Trüben' die Farben und mit ihnen Harmonie und Klang entstehen, wird, durch die Vereinigung des Zusammengehörigen das Chaos zur Weltordnung: So, mit morgenroten Flügeln, Riß es midi an deinen Mund, U n d die Nacht mit tausend Siegeln Kräftigt sternenhell den Bund. Beide sind wir auf der Erde Musterhaft in Freud' und Qual, U n d ein zweites W o r t : Es werde! Trennt uns nicht zum zweitenmal.
Wenn hier die 'Taten' des Lichts mit dem lebenschaffenden Prinzip der Liebe verbunden werden, so weiß das 'Hochbild' im mythologischen Gleichnis des Helios, der die Wolkengöttin nicht erreichen kann und aus den Perlen ihrer Tränen, die sein Bildnis auffangen, den trostbringenden Regenbogen erzeugt, von den 'Leiden' des Lichts zu sagen - in einem unbeschreiblichen Ineinander von Spiel, Beseelung und tiefgründigem Ernst. Auch hier ist, zu dem persönlichen Verzichten des Dichters überleitend,
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im Bilde des Regenbogens das menschlich-sittliche Leben überhaupt gespiegelt. W i r denken an Faust, der nach seinem Erwachen in der Eingangsszene des zweiten Teiles sich vom Anblick der Sonne abwendet und ihre göttlichen Strahlen nur noch in Welt und Natur aufsuchen will. Er richtet seinen Blick auf 'des bunten Bogens Wechseldauer' — auf das Farbenspiel, das die Sonne im schäumenden Wasserfall erzeugt: Der spiegelt ab das menschliche Bestreben. Ihm sinne nach und du begreifst genauer: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
Wenn man sich die Bedeutung des Regenbogens an den drei angeführten Stellen vergegenwärtigt, so empfängt man eine erste Ahnung von der Unerschöpflichkeit und Tiefe jenes Bildes. Es meint nicht die Spiegelung des Gelebten im Bewußtsein, es läßt sich nicht fassen als Symbol für die Nachbildung höherer Gesetzlichkeit im sittlichen Empfinden, nicht deuten als die zum Göttlichen emporreichende Kraft der höchsten menschlichen Liebe — es wird durdi nichts erschöpft, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Es zeigt in unmittelbarer sinnlicher Anschauung, in der farbeerzeugenden Begegnung des Lichts mit dem menschlichen Auge, die unbegreifliche Tatsache des Zusammenhangs der Gottnatur mit dem Menschen — wie sie offenbar wird, wenn in dem Gewitter, das den Regenbogen heraufruft, der Segen der Fruchtbarkeit auf die Erde niederströmt: Blüht's am Ufer, wogt's in Saaten, Alles ist dem Gott geraten, Alles ist am Ende gut.
Deutlicher sichtbar wird nunmehr in Idee und Wirklichkeit die Form, die Goethe dem sinnlich-übersinnlichen Stil seines orientalischen 'Zwillings' gegenüberstellt. Der 'mäßigen Lebendigkeit' des Hafis, dem Menschlichen als einer unbewegt und unbeirrt festgehaltenen seelisch-geistigen Mittellage, hält er den Menschen als Typus, in der sinnvollen Begrenzung seines Verhältnisses zu Natur und Gottheit entgegen. W i e in einem Brennspiegel soll das hier geschaffene Menschenbild in sich auffangen, was ihm an unvergänglichem Wesen aus orientalischer Poesie entgegenkommt — die Anverwandlung und Wiedergabe ihrer Gestalten und Stilmöglichkeiten hilft dazu, es zu verdichten und zu steigern. Nicht anders steht es mit der bei Hafis mit müheloser Leichtigkeit sich herstellenden Beziehung des sinnlich gegebenen Erlebnisses auf ein höheres geistiges Dasein. Auch Goethe nimmt die ganze Fülle und Farbigkeit, die heitere Bewegung der Welt und des persönlichen Lebens in sein Gedicht auf, wie er anderseits über den Bereich des Typisch-Menschlichen hinaus das übersinnliche 6 S c h a e d e r , Goethe
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ahnen läßt. Aber das Wesentliche ist, daß sich der Übergang ohne Sprung und ohne Willkür vollzieht. Die sittliche Durchdringung des sinnlich-anschaulichen Erlebens setzt der Lockerung der strengen Form nach oben und unten die Grenzen. Wie sie dem Spiel der Phantasie und des Witzes Sinn und Maß verleiht, so spricht sie anderseits aus der unbeirrten Selbstzucht, die das über menschliche Erkenntnis Hinausreichende nur als 'lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen' erfahren will: als Gleichnis, das alle Stufen menschlichen Begreifens, von der sinnlichen Anschauung über die sittliche Erfahrung und Naturerkenntnis bis zur gläubigen Ahnung des göttlichen Geheimnisses, in sich schließt. Von hier aus versteht man, was das unerschöpfliche Bild des Regenbogens für den Dichter bedeutet: es ermöglicht ihm, das Urphänomen der menschlichen Erfahrung in lückenloser Stufenfolge dichterisch zu entfalten. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, sich zu vergegenwärtigen, wie Goethe in den 'Noten und Abhandlungen' die Bildersprache der persischen Poesie betrachtet und sie in seine eigenen Gedichte aufnimmt. Wie er in ihren Gestalten Typen menschlichen Verhaltens aufsucht, so geht er in ihren Bildern 'unvergänglichen Urelementen' dichterischer Sprache nach. Wie ihn an orientalischen Gleichnissen der fehlende Sinn für 'Sonderung des Schicklichen vom Unschicklichen' befremdet, so bewegen ihn Bilder, die „das unmittelbarste Anschauen des Natürlichen, Wirklichen voraussetzen und zugleich wiederum einen hohen sittlichen Begriff erwecken, der aus dem Grunde eines reinen ausgebildeten Gefühls hervorsteigt." 17 Als Beispiel erläutert er das Bild des Nizami von den 'durchglühten Muscheln' — ausgehend von dem orientalischen Brauch, ausgebrannte Muschelschalen in Ermanglung von Kalk als Baumaterial zu verwenden: „Der Zuschauende kann sich das Gefühl nicht nehmen, daß diese Wesen, lebendig im Meere sich nährend und wachsend, noch kurz vorher der allgemeinen Lust des Daseins nach ihrer Weise genossen und jetzt, nicht etwa verbrennen, sondern, durchgeglüht, ihre völlige Gestalt behalten, wenngleich alles Lebendige aus ihnen weggetrieben ist. Nehme man nunmehr an, daß die Nacht hereinbricht und diese organischen Reste dem Auge des Beschauers wirklich glühend erscheinen, so läßt sich kein herrlicheres Bild einer tiefen, heimlichen Seelenqual vor Augen stellen." Dieser Vorstellung gibt er die sittliche Deutung, „daß ein siedend heißes Gefühl, welches den Menschen durchdringt, wenn ein gerechter Vorwurf ihn, mitten in dem Dünkel eines zutraulichen Selbstgefühls, unerwartet betrifft, nicht furchtbarer auszusprechen sei." Im gleichen Abschnitt der 'Noten und Abhandlungen' rechtfertigt Goe82
the die der persischen Poesie vorgeworfene Eintönigkeit mit der Beobachtung: „die Naturgegenstände werden bei ihnen zum Surrogat der Mythologie, Rose und Nachtigall nehmen den Platz ein von Apoll und Daphne." Die dichterische Spiegelung dieses Gedankens sind vier unsterbliche Verse aus dem 'Buch Suleika': Ist's möglich, daß ich, Liebchen, dich kose, Vernehme der göttlichen Stimme Schall! Unmöglich ist immer die Rose, Unbegreiflich die Nachtigall.
Aus unmittelbarer Erfahrung werden hier die Wunder der Natur und der Liebe in ihrer Einheit ausgesagt; die ungeteilte Ergriffenheit der Seele und der Sinne ist zugleich der in beiden wirksamen göttlichen Kraft zugewandt, ohne sich vom gegenwärtigen Erlebnis zu lösen. Deutlicher ist der gleiche Vorstellungszusammenhang in dem großen Schlußgedicht des 'Buches Suleika' ausgesprochen: i n tausend Formen magst du dich verstecken, dodi, Allerliebste, gleich erkenn ich dich' — dem in schöpferischer Nachbildung und Verlebendigung orientalischer Gleichnissprache wenige Gedichte des Divans gleichkommen. In tausend Formen und Verwandlungen der Natur kommt dem Dichter hier die Geliebte entgegen: im emporstrebenden Wuchs junger Zypressen, im Steigen und Fallen des Wasserstrahls, im Wiesenteppich mit seinen ungezählten Blumen, „wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet", in der reinen Himmelsluft, die er mit ihrem Wesen zugleich einatmet. ¡ ^ ; ä u ß e r m Sinn, mit innerm kenne, m
t
D u Allbelehrende, kenn ich durch dich. Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, Mit jedem klingt ein Name nadi f ü r dich.
Nicht 'pantheistische Mystik' 18 , sondern Gestaltwandel ist das Geheimnis dieser Verse — unfaßbar wie das glitzernde Spiel des Springbrunnens ist die kreisende Beziehung von Natur, Mensch und Gottheit. Dem unerschöpflichen Wesen Suleikas entsprechen die zahllosen Metamorphosen der Natur. Aber indem die hundert Namen der Geliebten nur der Abglanz der Unendlichkeit Gottes sind, schließt sich der Kreis um die Ideen der Einheit in der Vielfalt und der Dauer im unaufhörlichen Wandel. Innerhalb des Gedichtes aber bleibt das Erlebnis der Geliebten der Ruhepunkt im Hin und Wider der Beziehungen; mit ihrer Vergegenwärtigung beginnt es, zu ihr kehren die Schlußverse zurück. Die beiden letztgenannten Gedichte, noch vor der Wiederbegegnung mit Marianne entstanden, zeigen mit aller Klarheit das geistige Bild, das Goethe der zwischen irdischer und mystischer Auslegung schillernden 6*
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Liebesdichtung des Hafts entgegenhält: das von allem Nur-Persönlichen gereinigte Erlebnis, das über sich hinausweist, ohne der Auflösung in mystische Gottesliebe preisgegeben zu werden. Liebe, die von der lebendigsten Erfahrung des Andern ausgeht und doch schon im nächsten Augenblick nicht mehr sie selber ist; die sich, ehe wir es gewahr werden, in Geist verwandelt, indem ihr durch die rein bildlich vermittelte Beziehung auf Natur und Gottheit das Nur-Sinnliche entzogen wird. Wenn man den heiter bewegten Ton des Schlußgedichtes mit dem Pathos des 'Wiederfinden' vergleicht, so erlebt man die ganze Macht dieses sich in der leidenschaftlichsten Wirklichkeit bewährenden Grundphänomens: auch die heftigste Erregung der Seele wird nicht als solche festgehalten, sondern in die Elemente der Gott-Natur verwandelt, ohne daß das Erlebnis der Geliebten dadurch an Gegenwart und Wirklichkeit verliert. Liebe nicht als Brücke zum mystischen Seelenaufschwung, aber überirdischen Mächten in ihrem Kern verwandt: Daß gesellt zu ew'gen Mächten Glanzreich eure Liebe bleibt. *
Dies alles gilt es vor Augen zu behalten, wenn man sich Goethes schöpferische Umdeutung eines der häufigsten orientalischen Gleichnisse vergegenwärtigt: das Bild vom Falter oder der Mücke, die mit unüberwindlicher Macht zur todbringenden Flamme hingezogen werden. Beide Formen des Gleichnisses haben in den Divan Aufnahme gefunden: in der 'Seligen Sehnsucht' und in einem kleinen Gedicht des Nachlasses: 'SolltJ ich nicht ein Gleichnis brauchen.' Seit Konrad Burdachs weitausgreifender Deutung 19 hat sich die Ansicht durchgesetzt, daß sich in der 'Seligen Sehnsucht' zwei Motive durchdringen: der aus der persischen Vorlage übernommene Gedanke der mystischen Auflösung der individuellen Seele im göttlichen Allwesen und die Idee der Metamorphose als einer im diesseitigen Leben sich vollziehenden sinnlich-sittlichen Wiedergeburt. Burdach sieht selbst die Schwierigkeit, diese beiden Motive in dem vorhandenen Wort- und Bildzusammenhang zu vereinigen; nur wenn man Goethe das Erlebnis der Ekstase zuschreibt, wäre dies möglich. Burdach neigt deshalb zu der Ansicht, daß die letzte Strophe mit ihrem 'Stirb und Werde' später hinzugedichtet sei — eine Annahme, für die es keinen äußeren Anhaltspunkt gibt. Die Handschrift der 'Seligen Sehnsucht' ist vom 31. Juli 1814 datiert. Was Goethe in jenen Tagen der Reise nach Wiesbaden und an den Rhein 84
persönlich bewegt und erfüllt, ist das Erlebnis der Verjüngung, die ihm in der neu erwachten lyrischen Schöpferkraft halb Ahnung halb Gewißheit wird. Die Landschaft, durch die er im heitersten Sommerwetter gemächlich fährt, erscheint ihm alt vertraut und doch wieder neu: „Und da duftet's wie vor alters, da wir noch von Liebe litten." Sie führt ihn dazu, 'im Gegenwärtigen Vergangenes' zu genießen — und doch hatte bereits der erste Reisemorgen, an dem er die seltene Erscheinung des Nebelregenbogens gewahrte, ihm heiterste Hoffnung gegeben: So sollst du, muntrer Greis, Dich nicht betrüben; Sind auch die Haare weiß, Doch wirst du lieben.
Was sich den Sinnen darbietet, wird auf den heiter-geselligen Geist hafisischer Lebensbewältigung bezogen. Sein Name wird immer von neuem beschworen, die 'bunten Mohne' der deutschen Landschaft zaubern der Phantasie das Schiras des Persers vor. Zwischen zwei Zeiten und zwei Welten gilt es den vermittelnden Blickpunkt zu gewinnen: U n d so wollen wir beständig, Wettzueifern mit Hafisen, U n s der Gegenwart erfreuen, D a s Vergangne mitgenießen.
In dem zeitlich der 'Seligen Sehnsucht' am nächsten stehenden Gedicht 'Allleben' (früherer Titel: 'Staub') wird die verjüngende Metamorphose als Gebet und Erfüllung erfahren im Zusammenhang mit dem neuen befruchtenden Leben, das der Landschaft durch ein gewaltiges Gewitter zuteil wird: Und sogleich entspringt ein Leben, Schwillt ein heilig heimlich Wirken, U n d es grunelt und es grünet In den irdischen Bezirken.
Metamorphose, Erneuerung als Lebensgesetz und täglich wiederkehrende Wirklichkeit der Natur — sie hatte in Goethes Augen noch einen besonderen, den Menschen allein angehenden Sinn. Wir denken an Orest, für den Gewitter und Regenbogen zum Symbol der durch Iphigenie bewirkten Reinigung und Befreiung von den Dämonen seines Innern wird. In einem andern Divan-Gedicht (aus dem Nachlaß) finden wir Hatem in der Wüste, über die Trennung von Suleika weinend: Laßt mich weinen! Tränen beleben den Staub. Schon grunelt's.
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Wenn hier neues Leben aus den Tränen um Suleika, aus dem 'Gram der Liebe' aufsteigt, sind wir damit nicht bereits dem Vorstellungszusammenhang der 'Seligen Sehnsucht' nahegerückt? Das Motiv von der Mücke und dem Licht ist Goethe nicht erst durch Hafis wach geworden. Es ist ein in der Seele des Dichters seit langem lebendiges Bild. Am 23. Februar 1776 schreibt er nachts an Charlotte von Stein: „Ich habe nun wieder auf der ganzen Redoute nur deine Augen gesehen — und da ist mir die Mücke ums Lidit eingefallen." Das Gedicht'Allleben' zeigt, wie ihm durch die Reise in der staubbedeckten deutschen Landschaft Italien wieder vor die Seele tritt („Staub, den hab' ich längst entbehret / In dem stets umhüllten Norden; / Aber in dem heißen Süden / Ist er mir genugsam worden"). Wenn er nun in dem Hafis-Gedicht, auf das die Handschrift der 'Seligen Sehnsucht' hinweist 20 , die Verse las: „Wie die Kerze brennt die Seele / Hell an Liebesflammen / Und mit reinem Sinne hab' ich / Meinen Leib geopfert. / Bis du nicht wie Schmetterlinge / Aus Begier verbrennest, / Kannst du nimmer Rettung finden / Von dem Gram der Liebe" — mußte ihm da nicht die Erinnerung an eine Form der Metamorphose wach werden, die einem innersten Wesensgesetz in ihm entsprach, die ihm mehr als einmal schicksalvolle Wirklichkeit geworden war: der Gedanke an die sich von verzehrender Leidenschaft reinigende, im Ersterben sinnlicher Glut verwandelnde Liebe, die zu geistiger Erneuerung führt? Der Flammentod des Schmetterlings, den er in der 'Seligen Sehnsudit' der natürlich-sinnlichen 'Begattung' (die schon im Prometheus-Fragment von 1773 als Tod, als Stirb und Werde gedeutet wird) entgegensetzt, ist das 'Selbstopfer' des Lebens, das sich als Natur preisgeben muß, um der Erhaltung des Geistes willen — des Geistes, der nichts Abgelöstes bleibt, sondern in der Entscheidung nichts anderes ist als die lebendige Flamme der höchsten Liebe und Reinheit. Goethe hat, rückblickend und vorausahnend, diesen Vorgang der Läuterung bereits in einem Brief an Auguste Stolberg vom 15./19. September 1775 zu deuten versucht, in der Zeit, da er sich mit Aufbietung aller Kraft von der Liebe zu Lili Schönemann losriß: „Und doch, Liebste, wenn ich wieder so fühle, daß mitten in all dem Nichts sich doch wieder so viel Häute von meinem Herzen lösen, so die konvulsiven Spannungen meiner kleinen närrischen Komposition nachlassen, mein Blick heitrer über Welt, mein Umgang mit den Menschen sichrer, fester, weiter wird, und doch mein Innerstes immer ewig allein der heiligen Liebe gewidmet bleibt, die nach und nach das Fremde durch den Geist der Reinheit, der sie selbst ist, ausstößt und so endlich lauter werden wird wie gesponnen Gold." Die Flamme der höchsten 86
Liebe und Reinheit ist mit dem göttlichen Licht, das der Mystiker sucht, wesensgleich. Aber der W e g zu ihr ist kein Sprung aus dem Nichts der Weltverleugnung in die Unendlichkeit. Er ist aufwärtsführende Bewegung, die sich im Kreislauf der ewigen Naturerneuerung vollzieht. Der tödliche Ernst, den das im Gedicht ausgesagte 'Verbrennen' in Goethes Leben besitzt, klingt in einem der leidenschaftlichsten Divangedichte nach: Findet sie ein Häufchen Asche, Sagt sie: Der verbrannte mir.
Und in dem Gedicht 'Ergebung' vergleicht sich Goethe, den 'die Liebe feindlich behandelt', der Kerze selbst, die ihren Leib opfert, um den leuchtenden Flammenschein auszustrahlen. Wenn der Dichter in der 'Seligen Sehnsucht' nach dem hinreißenden Schwung der vierten Strophe: „Und zuletzt, des Lichts begierig, Bist du, Schmetterling, verbrannt", überwältigt innehält, so schwingt in dem neuen Ton der letzten Strophe: U n d solang du das nicht hast, Dieses: Stirb und W e r d e ! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde,
die ihn zur gegenwärtigen Wirklichkeit zurückrufende Vorahnung mit, daß die neuerliche Verjüngung, die ihm zuteil geworden ist, sich nur vollenden kann, wenn ihm dies eine Erlebnis noch einmal widerfährt. Es ist einer der Augenblicke in Goethes Leben, in denen Vergangenheit und Gegenwart mit gleicher Empfindungsstärke und Lebendigkeit ineinanderfließen, wie er es selbst im vierzehnten Buch von 'Dichtung und Wahrheit' beschreibt: „Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größeren und kleineren Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte." 2 1 Diese Empfindung konnte, wenn sie sich nicht auf einen Gegenstand außerhalb seiner selbst, sondern auf einen persönlichen Erlebnisinhalt richtete, zu einer jener geheimnisvollen 'Antizipationen' führen, deren eindringlichstes Beispiel die Vision seiner selbst als eines ihm entgegenkommenden Reiters beim Abschied von Sesenheim
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darstellt 22 . Alle die Elemente, die getrennt oder nur lose verbunden in den Gedichten jener Reisetage wie Irrlichter aufblitzen: das im Gegenwärtigen erlebte Vergangene, die neu erwachte Lebenskraft und jene funkelnde und sprühende Sicherheit der geistigen Lebensbewältigung, die sich an Hafis mißt, schießen in der 'Seligen Sehnsucht' zu einer einzigen, Bedrohung vorauskündenden Flamme zusammen. Und was im Gedicht nach Goethes Wort 'wohltätig' wirkt, behält als Erscheinung des Lebens etwas Dämonisch-Unheimliches. Es wirft seinen Schatten voraus nicht nur auf die Begegnung mit Marianne, bei der die leitenden Mächte des Geistes glücklich vorwalteten, sondern auch noch auf die spätere mit Ulrike von Levetzow, da der Fünfundsiebzigjährige in der 'Trilogie der Leidenschaft', noch einmal bis ins Mark erschüttert, die Tage des Werther und des Tasso mit dem Abschied von Marienbad verknüpft. Da Goethe sein Persönlichstes nie anders erleben konnte als im Zusammenhang mit 'Höherem und Höchstem', so wird es niemals ernüchternd sein, dem Erlebniskern seiner Gedichte nachzugehen. Auch in der 'Seligen Sehnsucht' ist es ein Urphänomen des Menschlichen, das er gestaltet und vermitteln will. Sucht man dem Gedicht durch eingehende Auslegung des Wortlauts näherzukommen, so findet man sich vor eine Schwierigkeit gestellt. Bei kaum einem anderen Gedicht Goethes ist der Bildzusammenhang so eindringlich und der gedankliche Zusammenhang so gelockert: die Bilder selber wachsen von Vers zu Vers über sich hinaus und reißen uns mit. W i r erleben das Gedicht als eine Einheit und finden uns doch außerstande, es von Zeile zu Zeile fortschreitend auszulegen: dies allein zeigt die Erlebnisstärke, in der es konzipiert wurde. In den drei mittleren Strophen sind Schmetterling und Mensch als Gleichnis und Wirklichkeit so eng zusammengeschlossen, daß es unmöglich scheint, sie voneinander zu lösen. Für den Schmetterling gibt es keine Erneuerung, sein T o d ist nur Gleichnis der Metamorphose des Menschen — aber gleichzeitig erleben wir aus den herrlichen Versen unmittelbar, wie der Mensch mitverbrennt. Die letzte Strophe wiederum sagt Goethes eigenstes Lebensgesetz aus und umfaßt doch die ganze Menschheit mit; sie weist auf die erste zurück, vielleicht die geheimnisvollste von allen: was ist das Lebendige, das Goethe preisen will - Schmetterling, Mensch, oder die ganze, nach Metamorphose und neuer Form hindrängende Schöpfung? Die Auslegung vermag den über den persönlichen Erlebnisablauf hinausführenden höheren Sinn, der, wie bei allen großen Gedichten des Divans, in der 'Seligen Sehnsucht' mitschwingt, nicht eindeutig zu vermitteln. Zu ihm werden wir durch jenes zweite Gedicht hingeführt, das auf
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den Flammentod der Mücke anspielt und fast wie eine Erläuterung zur 'Seligen Sehnsucht' erscheint: Sollt' ich nicht ein Gleichnis brauchen, W i e es mir beliebt, D a uns Gott des Lebens Gleichnis In der Mücke gibt? Sollt' ich nicht ein Gleichnis braudien, W i e es mir beliebt, Da mir Gott in Liebchens Augen Sich im Gleichnis gibt?
Audi hier ist das Verbrennen der Mücke, das dem Leben selber verglichen wird, mit einem irdischen Liebeserlebnis in Verbindung gebracht — aber es tritt noch ein neues Moment hinzu. Das Gedicht, das geradezu als die poetische Fassung jener etliche Jahrzehnte früher geschriebenen Worte des Briefes an Charlotte von Stein (o. 86) angesprochen werden kann, bringt das fehlende Glied, das den Lebenszusammenhang voll übersehen läßt, den Goethe in der 'Seligen Sehnsucht' dem Ghasel des Hafts gegenüberstellt. Es führt zu jenem Punkt hin, da, wie in anderen großen Gedichten des Divans, die Gleichnisfolge transzendiert, ins übersinnliche hinausführt. Wie sich im Bild des Regenbogens das Gleichnis zur Gleichnisreihe weitete, die ein menschliches Urphänomen zur Anschauung bringt, so wachsen 'Selbstopfer' und 'Vollendung' (frühere Titel des Gedichtes, an deren Stelle dann die übergreifende Formel 'Selige Sehnsucht' trat) in Goethes Unsterblichkeitsglauben zusammen, in dem sich Anschauung der Natur und des sittlichen Daseins vereinen. Läuterung durch irdische Liebe, Metamorphose auf Erden ist kein Ende und Abschluß. Durch sie werden wir erst zu jener letzten Szene hingeführt, in der Fausts Unsterbliches von Engeln himmelwärts getragen wird.
* Von Hafts, in dessen Zeichen die Divandichtung entstanden ist, wird später besonders die Rede sein, auch von dem Symbolzusammenhang, der das 'Buch des Paradieses' beherrscht. Zuvor soll der vorhin (o. 65) gegebene Überblick über die 'Noten und Abhandlungen' wieder aufgenommen und ergänzt werden. Der Kommentar, der sie aus dem Sdiaffen und Sinnen Goethes im einzelnen erläutert und sie zur Orientforschung seiner Zeit durchgängig in Beziehung setzt, bleibt eine Zukunftsaufgabe. Die Punkte aufzuweisen, an denen spätere Forschung von Goethes Sehweise und Urteil abweicht, wäre wenig fruchtbar. Aber es verlohnt, dem schein-
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bar losen Gefüge seiner Mitteilungen nachzugehen und die leitenden Gedanken kenntlich zu machen. W e r von zeitgenössischen Darstellungen orientalischer Dinge her an die 'Noten und Abhandlungen' herantritt, empfindet zunächst und besonders eindringlich die Reinheit und Helligkeit ihres Blickfeldes. Alle die Bemühungen, im Orient die Geheimnisse der Urzeit des Menschengeschlechts aufzudecken, die frühesten Offenbarungen, die der Mensch empfing, zu belauschen und gar Zeuge der Schöpfung selber zu werden, sind abgetan und vergessen. Der Blick ist auf menschliche Dinge gerichtet, die in der sichtbaren Welt stehen, sich geschichtlich bilden und umbilden, sich zu Typen von geprägter nationaler Sonderart zusammenschließen. Es weht die klare geistige Luft, die durch die große westeuropäische Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts zieht, nur daß hier viel genauer und inniger das Individuelle der Völker und Menschen gesehen wird. Die Bahn zur geschichtlichen Anschauung des Orients, die eben in dem Jahrzehnt des Divans die Heidelberger Romantik mit den Nebeln der vergleichenden Mythologie unkenntlich zu machen droht 23 , liegt frei und offen, so daß es keines beschwörenden Wortes wider jene Gespenster bedarf. Ebenso fern halten sich die 'Noten' von lebloser Gelehrsamkeit und von dem lediglich Merkwürdigen um seiner selbst willen. Nur was der Dichter sich ganz angeeignet und anverwandelt hat, oder das einzelne, das geeignet ist, einen Sachverhalt von allgemeiner Bedeutung lebhaft zu veranschaulichen, hat Aufnahme gefunden. Darin und in Goethes auf Bejahung und Anerkennung des Förderlichen gerichteter Geistesart ist es begründet, wenn überall zwischen Teilnahme und Befremdung der Ausgleich einer höheren Gerechtigkeit hergestellt wird. Unbefangene Aufnahme des Fremden ist das erste: „Wollen wir an diesen Produktionen der herrlichsten Geister teilnehmen, so müssen wir uns orientalisieren, der Orient wird nicht zu uns herüberkommen." 24 Daß es dem abendländischen Leser schwer fällt, am Koran Gefallen zu finden, wird so wenig verhehlt wie die Verehrung, die das Buch ihm doch am Ende abnötigt 25 . Die indischen Dinge waren und blieben Goethe im tiefsten zuwider. Die wüste Phantastik und der Gestaltenwirrwarr der indischen Götterwelt beängstigte ihn ebenso wie die scholastischen Gespinste der Alleinheitslehren und die Unmenschlichkeit des Kastenwesens. Daß Friedrich Schlegel und die Seinen sich am indischen Geist entzückt hatten, konnte ihm in Goethes Augen nicht als Empfehlung dienen. So finden sich in den 'Zahmen Xenien' und in den 'Noten' mehrmals scherzende und ernste Verwahrungen gegen ihn und seine Ausgeburten 26 . Um so lieber ist der Dichter bereit, der indi-
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sehen Poesie zuzugestehen, daß sie die Kraft hat, jene Gebrechen zu überwinden und vergessen zu machen. Er weist es von sich, die äußere Form der orientalischen Poesie nachzuahmen ('Buch Hafis', 'Nachbildung'). Den wenigen Versuchen der Divandichtung, sich der strengen persischen Ghaselform anzupassen, steht die Einsicht in den unerträglichen Zwang gegenüber, dem sie den Gedanken und die freie dichterische Bewegung unterwirft, und in die Verführung zur Klügelei und Reimspielerei, die in ihr liegt. Das Erscheinen des Divans hat freilich unmittelbar die untadeligsten Ghaselen ins Leben gerufen, die in unserer Sprache gedichtet worden sind: die des Grafen Platen (1821) und die aus bewundernswerter, um nicht zu sagen beängstigender Einfühlung in Geist und Form des persischen mystischen Dichters Dsdielaleddin Rumi hervorgegangenen 'östlichen Rosen' Friedrich Rückerts (1822), die Goethe zugeeignet waren. Jene besprach auf seine Veranlassung Eckermann im vierten Bande von 'Kunst und Altertum', diese begrüßte er selbst ebendort im dritten Bande, nicht ohne leise vor dem Bedenklichen einer orientalisierenden Mode in der deutschen Dichtung zu warnen. Von Israeliten und Arabern und ihrer Dichtung sprechen die 'Noten' nur kurz, um auf die Perser überzuleiten. Sie gedenken der vierzig Jahre früher unternommenen Verdeutschung des Hohenliedes (o. 31) und zweifeln an der Möglichkeit, die Einzellieder, aus denen es lose zusammengesetzt ist, am Faden eines Sinnzusammenhanges aufzureihen. Diesen Zweifel hat Goethe bald nach dem Erscheinen des Divans fahren lassen: in einer Aufzeichnung, die aus dem Nachlaß bekannt geworden ist, stimmt er dem Versuch des Heidelberger Hebraisten Fr. W . K. Umbreit 27 , die Stücke des Hohenliedes nach dem Ablauf eines dramatischen Vorgangs zu ordnen, ausdrücklich zu. Man wird aber heute eher geneigt sein, bei der früher von ihm vertretenen Ansicht zu bleiben. Den Hauptteil des Abschnittes über die Araber bildet die Verdeutschung eines Stückes vorislamisch-arabischer Poesie von dämonischer Furchtbarkeit und Kraft, des Liedes, in dem Thabit ibn Dschabir vom Stamme Fahrn, bekannt unter dem Beinamen Ta'abbata Scharran, die Rache feiert, die er für seinen von den Hudhailiten erschlagenen Oheim genommen hat 28 . Unter den Übersetzungen Goethes hat diese, die auf einer ungeschlachten lateinischen Wiedergabe des arabischen Textes beruht, an Feuer und Energie kaum ihresgleichen. Als ihn ein Jahr vor seinem Tode der junge Jenaer Orientalist J. G. Stickel29 aufsuchte und an die Verse des Ta'abbata Scharran erinnerte, begann der Dichter sie aus dem Gedächtnis herzusagen; „seine 91
Augen waren groß und weit geöffnet, Blitze schienen aus ihnen hervorzusprühen." Die Mitteilung des altarabischen Gedichts zusammen mit einer von William Jones übernommenen Charakteristik der Mu'allaqat dient dazu, „einen hinlänglichen Begriff von der hohen Bildung des Stammes der Koraischiten (zu geben), aus welchem Mahomet selbst entsprang, ihnen aber eine düstre Religionshülle überwarf und jede Aussicht auf reinere Fortschritte zu verhüllen wußte." Damit ist, in schroffem Ausdruck, ein Leitgedanke ausgesprochen, den Goethe bei der Betrachtung der orientalischen Geschichte wieder und wieder aufnimmt: welchen Einfluß gewinnt die Religion in ihrer Entwicklung auf die Dichtung? Goethe neigt, auch darin der Sohn des 18. Jahrhunderts, zu dem Urteil, daß die Religion, wenn sie die Stufe einer einfachen Verehrung der im natürlichen Dasein erscheinenden göttlichen Kräfte überschritten hat, die freie Entfaltung der Poesie fortschreitend eingrenzen und hemmen wird, gleichviel ob sie sich zu mechanischer Kultübung und zum Alleinbesitz eines herrschsüchtigen Priestertums veräußerlicht wie in Persien, ob sie zu abergläubischer Vielgötterei und ihrem Widerspiel, dem weltflüchtigen Streben zur abstrakten Alleinheit, führt wie in Indien, oder ob sie sich zum strengen, bildund poesielosen Eingottglauben erhebt wie im Islam. Er sieht also in dem Verhältnis von Religion und Dichtung nicht sowohl die gegenseitige Förderung als den Kampf, der freilich seine eigene Fruchtbarkeit hat: er zwingt den Dichter, die Freiheit seines Schaffens gegen Argwohn und Widerstand zu behaupten. Der offene Gegensatz von Glauben und Poesie wird an Muhammeds Absage an Dichtung und Dichter veranschaulicht30; darauf bezieht sich im 'Buche Hafis' die 'Anklage'. Der Dichter will genießen und Genuß schaffen, er „sucht mannigfaltig zu sein, sich in Gesinnung und Darstellung grenzenlos zu zeigen". Der Prophet dagegen richtet sich auf einen einzigen Zweck, seine Lehre muß einfach und eintönig sein, um geglaubt zu werden. Und so muß das Rechte scheinen, Was auch Mahomet gelungen; Nur durch den Begriff des Einen Hat er alle Welt bezwungen.
Goethe schließt sich der Ansicht von J. Golius an, nach der es die Hauptabsicht des Korans war, die Anhänger der verschiedenen unter den Arabern zur Zeit von Muhammeds Auftreten verbreiteten Religionen im Glauben an den einen Gott und im unerschütterlichen Gehorsam gegen seinen Propheten zu vereinigen31. So ist dessen Abneigung gegen die Poesie, ebenso 92
gegen die Märchenerzähler, denen er die unmittelbar sittlich belehrenden und erbauenden Legenden des Korans entgegenstellte, aus dem Bewußtsein seines prophetischen Berufs ebenso begreiflich, wie es umgekehrt verständlich ist, daß sich in der Folgezeit in den Chor der Bewunderer des Korans auch Stimmen ästhetischer Kritik mischten. — „Zur Zeit seiner Studien über den Islam ließ Ranke sich aus den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des westöstlichen Divans Goethes Bemerkungen über Mohammed und den Koran vorlesen; mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte er auf jedes Wort, zuletzt sagte er: 'Goethe hätte auch ein großer Historiker werden können'." 32 Ebenso wie die Religion erscheint als natürlicher Widersacher der unbefangenen Äußerung des Dichters die politische Macht, zumal in der dem Orient seit ältester Zeit gewohnten despotischen Herrschaftsform. In unverkennbarer, wenn auch nicht ausgesprochener Wendung gegen Rousseau und die Lehre vom Gesellschaftsvertrag heißt es 33 : „Wenn der Philosoph sich ein Natur-, Völker- und Staatsrecht auferbaut, so forscht der Geschichtsfreund nach, wie es wohl mit solchen menschlichen Verhältnissen und Verbindungen von jeher gestanden habe. Da finden wir denn im ältesten Oriente: daß alle Herrschaft sich ableiten lasse von dem Rechte, Krieg zu erklären." Herrschaft ist Machtgewinnung und Machtausübung; als solche formt sie nicht allein das äußere Dasein, sondern ebenso tiefgreifend Geist und Charakter der Völker. „Physisch-klimatische Einwirkung auf Bildung menschlicher Gestalt und körperlicher Eigenschaften [wie man sie seit Montesquieu betonte] leugnet niemand, aber man denkt nicht immer daran, daß Regierungsform eben auch einen moralisch-klimatischen Zustand hervorbringe, worin die Charaktere auf verschiedene Weise sich ausbilden." 34 Daran schließt die Übersicht über die Charakterformen, die sich in der Republik, der Aristokratie, der Anarchie, der Despotie entwickeln, und zwar nach der Seite der Tugenden und Leistungen hin, die an ihnen hervortreten. So gibt auch die Charakteristik eines persischen Dichters der Seldschukenzeit (11./12. Jahrhundert), des Enveri, Gelegenheit zu einer Rechtfertigung der von ihm bevorzugten panegyrischen Dichtung, gegen neuere Kritiker. „Wir können daher nicht billig finden, daß man ihm die Verhältnisse, in denen er gelebt und sein Talent genutzt, nach so viel hundert Jahren zum Verbrechen macht. Was sollte aus dem Dichter werden, wenn es nicht hohe, mächtige, kluge, tätige, schöne und geschickte Menschen gäbe, an deren Vorzügen er sich auferbauen kann?" Dabei ist das Bedenkliche dieser poetischen Richtung vor Goethe nicht 93
verborgen. Hörbar klingt die Ironie durch, wenn in dem Aufsatz über 'Epochen deutscher Literatur' (aus dem Nachlaß) das gegenwärtige Zeitalter, das keinen familiären oder öffentlichen Anlaß, keinen Geburtstag und kein Dienstjubiläum ungefeiert läßt, der zweiten Epoche der persischen Dichtung verglichen wird, „in welcher sich Enveri besonders hervortat und die wir die enkomiastische nennen dürfen". Die Zerstörung des dichterischen Charakters als Folgeerscheinung des Despotismus und des Zwanges, ihn zu loben, führt zu der maßlosen Unterwürfigkeit und Selbstdemütigung, in der Goethe das Fremdartige der persischen Poesie stärker ausgeprägt findet als in ihrer von der unseren nicht so weit entfernten religiösen Haltung, selbst da, wo diese sich mystisch äußert. Das Übermaß der Selbsterniedrigung vor dem Herrscher und, von ihm übertragen, vor dem Freunde wird an Beispielen aus persischen Dichtem, besonders aus Hafis veranschaulicht36. Dabei bleibt nicht unbemerkt, daß der Dichter, wenn er Gleichnisse für seine demütige Verehrung, überhaupt wenn er Metaphern bildet, durch Übertreibung zur Parodie und damit zur versteckt humoristischen Wirkung übergehen kann. Darin liegt eine leiser wirkende Gegenkraft gegen den Despotismus als in der gewaltsamen Empörung des zur W u t gereizten Untertanen, so in der Auflehnung des Kleitos gegen Alexander 38 . Aber Ähnliches vermag auch der Rückzug in ergebungsvolle Betrachtung und in die dem Dichter offenstehende Behauptung seines Selbstgefühls in unwirscher Abwehr der äußeren Mächte, die es einschnüren und beklemmen wollen. Hierauf zielen die nicht auf den ersten Blick in ihrer Absicht zu erfassenden Darlegungen über das 'Buch der Betrachtungen' und das 'Buch des Unmuts' in der Vorschau auf den 'Künftigen Divan'. Aber wer auf solchen Wegen dem Druck des Despotismus zu entrinnen glaubt, der wisse, daß er von dem, was vollkommene Freiheit heißen könnte, weit genug entfernt bleibt. Freiheit und Unfreiheit sind immer beieinander. Keins von beiden kommt rein für sich vor, nur ihr Mischungsverhältnis wechselt. Es ist die Weisheit dessen, der die Geschichte durchschaut hat, die Goethe dem bezaubernden und gefährlichen Leitwort seiner und der folgenden Zeit entgegenstellt 37 : Uberhaupt pflegt man bei Beurteilung der verschiedenen Regierungsformen nicht genug zu beachten, daß in allen, wie sie auch heißen, Freiheit und Knechtschaft zugleich polarisch existiere. Steht die Gewalt bei einem, so ist die Menge unterwürfig; ist die Gewalt bei der Menge, so steht der einzelne im Nachteil; dieses geht denn durch alle Stufen durch, bis sich vielleicht irgendwo ein Gleichgewicht, jedoch nur auf kurze Zeit, finden kann. Dem Geschichtsforscher ist es kein Geheimnis; in bewegten Augenblicken des Lebens jedoch kann man darüber nicht ins klare kommen.
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Der Inbegriff der freien Tätigkeit und Äußerung des individuellen Geistes, in dessen Stimme sich zugleich die seines Volkstums erhebt, ist die Poesie. Politische Herrschaft, Religion und Poesie in ihrem notwendigen Gegen- und Nebeneinander sind die drei Richtungspunkte der Geschiditsansicht, die Goethe vorträgt. Die Dreiheit von Staat, Religion und Kultur in Jacob Burckhardts 'Weltgeschichtlichen Betrachtungen' scheint in ihnen vorweggenommen, ebenso wie die Kunst des Baselers, Gegenwärtiges und Vergangenes, Nahes und Fernes nicht zu vermischen, aber in eins zu sehen 38 . Es waren die Erfahrungen des napoleonischen Zeitalters und der beginnenden Restaurationszeit, die in Goethes Auffassung orientalischer Geschichte und Dichtung fruchtbar wurden. Hatte Napoleon die Menschen, über die er Gewalt hatte, moralisch zu brechen gesucht und allzuoft zu brechen vermocht, so zwang das Zeitalter Metternichs im Kampf gegen den bürgerlichen Idealismus der Freiheit zur Anerkennung einer Regierungsweise, die sich aus einem Gemisch von politisch- und christlichkonservativen Gedanken und Schlagworten nährte. Für die frei nach ihrem inneren Gesetz sich regende Individualität der einzelnen und der Völker war dort so wenig Raum wie hier — sofern dieser Lebensraum nicht kämpfend erstritten und behauptet wurde. Goethe war, als Dichter und als Berater seines Volkes, unter denen, die diesen Kampf führten, nicht zuletzt gegen die 'forcierten Talente' vom romantischen Schlage, die im Besitz einer philosophisch entwickelten Kunstlehre und gesteigerter dichterischer Kunstmittel die Kluft zwischen beiden durch religiöse Gesinnungen auszufüllen glaubten 39 und dabei doch nicht Dichter und Künstler, sondern die natürlichen Schrittmacher der politischen und religiösen Reaktion wurden.
* Die Blüte der persischen Poesie im 10. bis 15. Jahrhundert — so sieht es Goethe und darauf zielt die geschichtliche Gedankenführung der 'Noten und Abhandlungen' hin — ist einem den politischen wie den religiösen Voraussetzungen nach gleich ungünstigen Zeitalter abgerungen. Die sassanidische Zeit, die nach jahrhundertelanger Überfremdung des altpersischen Wesens eine Erneuerung unternahm, fand wohl noch lebensfähige Reste politischer und religiöser Überlieferung vor, aber keine lebendige Dichtung, die sie mit neuem nationalen Gehalt hätte erfüllen können. Ihre bildende Kunst begab sich in die Lehre der gesunkenen römischen Provinzialkunst, von Indien her holte man wenn auch nicht die 'verrücktmonstrose Religion' und die 'abstruse Philosophie', so doch die lehrhafte
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Fabel-und Märchenliteratur, die es darauf absieht, dem von Natur Schwächeren die Überlegenheit des Klugen über den Stärkeren zu sichern - endlich das Schachspiel, „welches, in bezug mit jener Weltklugheit, allem Dichtersinn den Garaus zu machen völlig geeignet ist" 40 . Mit der Fremdherrschaft des arabischen Kalifats, dem sich freilich persische Geschlechter wie die Barmekiden, kraft der in ihrer Familie vererbten Erfahrung in Staats- und Verwaltungsgeschäften, zeitweilig unentbehrlich zu machen wußten 41 , und mit der Ausbreitung der arabischen Religion und Sprache schien das Ende der persischen Poesie unabwendbar zu werden. Ihre Wiedererstehung fällt um die Jahrtausendwende in die Zeit des in Ostiran aufstehenden Reichsgründers Mahmud von Ghazna. Ihm wurde die größte Dichtung, die das Persertum hervorgebracht hat, das Schahname des Firdosi, zugeeignet, wenn auch der Dichter, erzürnt über die ungenügende Belohnung, die ihm zuteil wurde, seine Widmung später widerrief. Die Orientforschung zur Zeit Goethes und so er selber haben dem Mahmud er war nicht ein Perser, sondern der Nachkomme eines türkischen Sklaven — das Verdienst an dem Zustandekommen des Schahname und damit an dem Wiederaufblühen der persischen Dichtung zugesprochen, das mit größerem Recht die Herrscher des von ihm verdrängten Hauses der Samaniden und ihre Vezire beanspruchen. Unter den Samaniden, die während des 10. Jahrhunderts, dem Bagdader Kalifat nur noch der Form nach lehnspfliditig, in der ostpersischen Provinz Chorasan und jenseits des Oxus in Buchara und Samarkand herrschten, ist die neue persische Lyrik ins Leben getreten; und Firdosi arbeitete schon seit über zwei Jahrzehnten an seinem Epos, als Mahmuds Stern aufstieg42. Eher kann man sagen, daß dessen Auftreten, dem nach einem Menschenalter die Reichsgründung der türkischen Seldschuken folgte, durch die Aufrichtung neuer Fremdherrschaft dem persischen Volkstum den Weg zu sich selber, den ihm soeben der große nationale Dichter gewiesen hatte, wieder abschnitt. Von Firdosi, dem die persische Poesie keinen zweiten an die Seite stellt, erfuhr Goethe einiges wenige aus den 'Fundgruben des Orients' (o. 57) und aus J. von Hammers 'Geschichte der schönen Redekünste Persiens' (1818), die freilich nicht eine Literaturgeschichte nach abendländischen Begriffen ist, sondern die freie Bearbeitung einer im ausgehenden 15. Jahrhundert von dem Literaten Daulatschah verfaßten Sammlung von Dichterbiographien in zeitlicher Reihenfolge. Der Titel des Werkes, das Goethe als einen für seine Studien unschätzbaren Leitfaden dankbar begrüßte, rief die in die 'Noten' aufgenommene 'Verwahrung' hervor: 96
Poesie ist, rein und edit betrachtet, weder Rede noch Kunst: keine Rede, weil sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist keine Kunst, weil alles auf dem Naturell beruht, welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisdi geängstigt werden darf; auch bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten, erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zwedc.
In den 'Fundgruben' fand Goethe 1814 eine berühmte Episode aus dem Schahname, die Empörung Feriduns, des echten Erben der Krone von Iran, gegen den Tyrannen Dahhak (Sohak), in der hölzern-prosaischen Übertragung des Grafen Ludolf. Er machte sich daran, sie in lesbares Deutsch zu bringen. Ein Stück davon wurde zu Papier gebracht, aber nicht in den Divan aufgenommen 43 ; nur in den 'Noten' wurde eine Warnung vor 'Umarbeitungen' wie der Ludolfschen ausgesprochen44. Einen Gesamteindruck vom Schahname hat Goethe nicht gewinnen können. Die Prosabearbeitung von J. Görres, das 'Heldenbuch von Iran', das fast gleichzeitig mit dem Divan erschien, ist ihm, wie es scheint, nicht zu Gesichte gekommen; er hätte daran bei Görres' Denk- und Schreibweise nicht viel Freude gefunden. Die Würdigung des Firdosi in den 'Noten' läßt nicht erkennen, daß Goethe von ihm tiefer berührt worden wäre. Aber kurz vorher, wo von Mahmud von Ghazna gesprochen wird, steht ein Satz, der ein Leitmotiv des Schahname enthält: „Eine Masse widereinander streitender Völkerschaften, vertriebene, vertreibende Herrscher stellten überraschenden Wechsel von Sieg zur Knechtschaft, von Obergewalt zur Dienstbarkeit nur gar zu oft vor Augen und ließen geistreiche Männer über die traumartige Vergänglichkeit irdischer Dinge die traurigsten Betrachtungen anstellen." Eben dies Gefühl ist es, von dem Firdosi auf seiner Wanderung durch die Geschichte von Iran immer aufs neue übermannt wird und das einen Grundton seines Gedichts erzeugt. Was Goethe bei der Schilderung der Zustände zur Zeit Mahmuds von Ghazna im Sinne hatte, wird durch die Einsicht, daß dieser Herrscher nicht der 'Stifter persischer Dichtkunst und höherer Kultur' war, als den Goethe ihn ansprach, nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil bestätigt. Er hatte dartun wollen, „daß die geschilderten Zustände keineswegs für ein Element gelten können, worin der Dichter sich nähren, erwachsen und gedeihen dürfte". Darum ist das Verdienst der persischen Dichter auch in der klassischen Zeit „als problematisch anzusprechen . . . Man muß ihnen manches zugeben, indem man sie liest, manches verzeihen, wenn man sie gelesen hat". Damit ist der feste Standpunkt erreicht, der es gestattet, der persischen Dichtung in dem zwiefachen Sinne geredit zu werden, daß zur Geltung gebracht wird, was sie einerseits als ErzeugSchaedcr,
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nis des Zeitgeistes, in ihrer geschichtlichen Bedingtheit, anderseits trotz dieser, als Dichtung, zu bedeuten hat. Es ist eine ähnliche Betrachtungsweise, wie sie 1795 in dem Hören-Aufsatz über 'Literarischen Sansculottismus' der Klage eines Unberatenen über Mangel an klassischen Prosawerken in der deutschen Literatur gegenübertrat. Sie führte die in der Zeit nicht erfüllten Bedingungen auf, unter denen ein 'klassischer Nationalautor' hervortreten könnte, und zeigte, was dennoch durch das Wirken einzelner — Wieland wird als Muster eines stetig zum Besseren fortarbeitenden Schriftstellers genannt - zur Hebung des literarischen Schaffens hat geleistet werden können. Von Hammer übernahm Goethe den Kanon der sieben Dichter, die im Verlaufe eines halben Jahrtausends die Formmöglichkeiten der persischen Poesie zur Erfüllung gebracht haben. Jeder von ihnen tritt für einen poetischen Einzelbereich als dessen Meister ein: im zehnten Jahrhundert Firdosi für das national-heroische Epos, im zwölften Enveri für die panegyrische Lyrik und Nizami für das romantische Epos, im dreizehnten Dschelaleddin Rumi für das mystische Lehrgedicht und Sa'di für die in seinem Gulistan zu unüberbotener Vollendung gesteigerte Form der aus Prosa und Versen gemischten moralischen Anekdote, im vierzehnten Hafts für das Ghasel, im fünfzehnten Dschami die Leistung aller seiner Vorgänger zusammenfassend und damit das Ende der Entwicklung andeutend. Man würde heute diesen Dichtern, deren Kanonisierung ein Werk J. von Hammers, nicht der einheimischen Überlieferung ist, andere von nicht geringerem Verdienst an die Seite stellen. Der einzige unter ihnen, von dem Goethe eine klar umrissene Vorstellung gewann, ist Hafts; von ihm hatte er die vollständige Übersetzung zur Hand und machte sich mit ihr in jahrelangem Umgang vertraut. Als Zeugnisse für die Nachahmung des klassischen Stils in der höfischen Schreibweise der Gegenwart waren ihm ein im Jahre 1816 aus lehrhaften Sprüchen und Anekdoten zusammengesetztes Schreiben des persischen Gesandten am Petersburger Hof Mirza Abul Hasan Chan und ein von ihm an die Zarin-Mutter überbrachter Brief der Gattin des Schahs so willkommen wie zwei Reimereien, die den von London nach Petersburg weiterreisenden Gesandten in Wien erreichten und sich auf zwei ihm gleichzeitig übergebene Ehrengaben des Schahs, Fahne und Ordensband, beziehen - traurige Urkunden des Verfalls der persischen Hofdichtung. Sie wurden in die 'Noten' aufgenommen 45 , die beiden Prosastücke in Ubersetzung, die Gedichte im persischen Text und einer Übertragung in Blankverse. Diese rührte von J. G. Kosegarten her, der von 1817—1824 in 98
Jena die orientalischen Sprachen lehrte und von Goethe in der Zeit der Vollendung des Divans und später öfters zu Rate gezogen wurde 46 . Bedeutsamer als diese Zufallsbeispiele einer untergehenden literarischen Kultur oder die Mitteilungen über sinnige Formen der Losbefragung und der wortlosen Benachrichtigung — 'Buch-Orakel', 'Blumen- und Zeichenwechser, 'Chiffer' - sind die allgemeinen Gedanken zur orientalischen Poesie und zur Frage des Übersetzens, die in den 'Noten' Platz gefunden haben. Nachdem zuvor die ungünstigen äußeren Bedingungen für die Ausbildung der persischen Poesie anschaulich gemacht sind, wird ihr Eigenstes eben an dem Punkte ins Auge gefaßt, wo es den abendländischen Betrachter am fremdartigsten berührt: in der Bildung von Gleichnissen und Metaphern 47 . Diese beruht auf der Haltung des Betrachtens und Sichäußerns, die Goethe, besonders in späteren Jahren, mit Vorliebe 'geistreich' nennt. Daß das in der Folgezeit abgebrauchte Wort für ihn einen hohen, wenn auch nicht durchaus unbedenklichen Sinn hat, das zeigt die Umschreibung, in der er es von der orientalischen Dichtkunst aussagt48. Ihr 'höchster Charakter' ist, „was wir Deutsche Qeist nennen, das Vorwaltende des oberen Leitenden" 49 . Geist in diesem Sinne „gehört vorzüglich dem Alter oder einer alternden Weltepoche", ihm eignen Übersicht über die Mannigfaltigkeit und Verwirrung der irdischen Dinge und eine aus der langen und wechselnden Erfahrung vergeblicher Furcht und vergeblicher Hoffnung erwachsene Ironie. Er ist also notwendig mit Bewußtheit und Überlegung verbunden und von der Ursprünglichkeit unbefangenen Sehens und Fühlens abgelöst. Aus ihm entspringt Neigung und Fähigkeit, im Gleichnis alles mit allem in Verbindung zu setzen, Fernstes zu verknüpfen, das Höchste mit dem Niedrigsten zusammenzubringen, je kühner desto besser, ungehemmt von Regeln des Geschmacks und der Schicklichkeit. Daraus können jene Gleichnisse erzeugt werden, die vom 'Anschauen des Natürlichen' unmittelbar zu einem 'hohen sittlichen Begriff' emporführen (o. 82), ebensowohl aber das schlechthin Abgeschmackte und Abstoßende, wie manche jener Gleichnisse, in denen der Dichter seine Demut kundtut (o. 94). Man kann diese Dichtung nur genießen, wenn man ihren Standpunkt einnimmt, anstatt über sie zu Gericht zu sitzen60, und wenn man sich vor unangemessenen Vergleichen mit abendländischer Poesie hütet 51 . Zwar mag es angehen, im Hinblick auf die Ähnlichkeit ihrer äußeren Lebensverhältnisse, Hafis neben Horaz zu stellen. Aber wer Firdosi oder die Nibelungen mit Homer vergleicht, tut ihnen Unrecht, indem er sie mit falschem Maß mißt. Doch läßt sich die Bemerkung J. von Hammers 52 7*
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hören, daß unter den lebenden deutschen Dichtern keiner der orientalischen Poesie so nahe stehe wie Jean Paul. Dieser „blickt, nach eigentlichst orientalischer Weise, munter und kühn in seiner Welt umher, erschafft die seltsamsten Bezüge, verknüpft das Unverträgliche, jedoch dergestalt, daß ein geheimer ethischer Faden sich mitschlinge, wodurch das Ganze zu einer gewissen Einheit geleitet wird". Goethe zeigt auch hier den Willen, einer kräftig geäußerten Eigenart ihr Lebensrecht zu bestätigen. Zwar versagt er sich nicht den Scherz, aus einigen Seiten Jean Paulscher Prosa die 'bedeutendsten Ausdrücke' auszuziehen. Aber „ein Mann wie Jean Paul, als Talent von Wert, als Mensch von Würde", darf sich solchen wunderlichen Spielen eines überbewußten Witzes überlassen. Wenn Goethe es ihm zubilligte, so wußte er, daß sein eigenes Vorbild der Zucht und Besonnenheit da war, um der Zerstörung der Poesie zu wehren, für die im Werke Jean Pauls freilich Sprengstoff genug bereit lag. Den Andeutungen über 'Dichtarten' und 'Naturformen der Dichtung' in ihrer Sonderung und Verbindung entspricht gegen Ende der 'Noten' ein ausführlicher Abschnitt über die Frage der 'Übersetzungen'. Goethe hatte als Übersetzer so vielseitige Erfahrungen gesammelt, daß man hier ein Wort zu eigener Sache zu hören hofft. Aber er beschränkt sich darauf, die typischen, eine aufsteigende Reihe bildenden Arten des Übersetzens zu kennzeichnen. Am Anfang steht die 'schlicht-prosaische', die „selbst den poetischen Enthusiasmus auf die allgemeine Wasserebene niederzieht", wie die Luthersche Bibelübersetzung, die ohne Rücksicht auf Stilunterschiede die einzelnen Teile ihrer Vorlage, ob in einfacher oder gehobener Rede gehalten, in die gleiche Sprachform überträgt. Es folgt die im Wortsinne 'parodistische', die sich, gleichfalls von der fremden Form absehend, die Vorlage mundgerecht macht, indem sie „eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist", wie es viele Franzosen und unter den Deutschen Wieland getan haben. Sein Bemühen um die Alten und um Shakespeare findet hier eine Billigung, die ihr der jugendliche Übermut der dramatischen Satire 'Götter, Helden und Wieland' (1773) versagt hatte. Die dritte und höchste Stufe ist die der Übersetzung als Neuschöpfung der Vorlage nach Gehalt und Form, die zunächst auf Widerstand stößt, weil der Übersetzer der Vorlage auf halbem Wege entgegenkommen und darum von den gewohnten Pfaden der Muttersprache abweichen muß. In Deutschland ist Johann Heinrich Voß vorangegangen und hat seine Leser allmählich gelehrt, ihm zu folgen, so daß die romantischen Übersetzer Shakespeares, der italienischen und der spanischen Dichter die Bahn geebnet fanden. Joseph
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von Hammer erntet als Übersetzer orientalischer Poesie ein vorsichtiges Lob, ebenso Forsters Sakuntala (o. 16), die eine Übersetzung der dritten Stufe wünschbar und möglich erscheinen läßt. Im Wesen der vollkommenen Übersetzung aber, die sich der Vorlage gleichzustellen strebt, liegt es, daß man durch sie „an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben" wird: so schließt sich der Kreis, der von der Vorlage zur Übersetzung und von dieser zu jener zurückführt. .
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Die 'Noten' waren unter die Forderung gestellt worden, daß, wer den Dichter verstehen will, in Dichters Lande gehen muß. Den Weg dorthin suchte Goethe, indem er, selber das Gewand des Reisenden anlegend, den Pfaden früherer Orientfahrer im Geiste folgte und zugleich den Rat derer einholte, die um die Kenntnis der orientalischen Sprachen und Literaturen bemüht waren. Marco Polo wird kurz erwähnt, ebenso die schwindelhafte Reisebeschreibung des Engländers John Maundeville (Johannes von Montevilla), der im 14. Jahrhundert ein in ganz Europa, auch in Deutschland beliebtes Volksbuch zustande brachte, indem er die wertvollen älteren Berichte ausschrieb und mit seinen Märchen aufstutzte. Vor allen anderen hatte es Goethe der Römer Pietro della Valle angetan, der zwölf Jahre lang, 1614—1626, den vorderen und mittleren Orient bereist hatte. Seine Aufzeichnungen las Goethe in der trefflichen deutschen Übersetzung, die 1674 zu Genf erschienen war, und schuf daraus die anmutige Erzählung von den Erlebnissen des beherzten Mannes, die zu den Zierden der 'Noten' gehört. In ihr werden an dem persischen Schah, Abbas dem Großen 53 , noch einmal in lebhafter Charakterisierung Größe und Gefahr orientalischer Herrschaftsform gezeigt. Eine gleich ausführliche Würdigung der späteren Reisenden war nicht möglich. So konnte der wackere Braunschweiger Adam Olearius, der in den Jahren 1633—1639 im Dienste des Herzogs Friedrich von Holstein-Gottorp nach Moskau und Persien reiste, ebenso wie die beiden Franzosen Tavernier und der Chevalier Chardin nur mit wenigen Worten bedacht werden. Sein Leben lang hat Goethe lernen wollen und bis ins hohe Alter hat er es nicht verschmäht, Schüler zu sein. Wer aber im rechten Sinne Schüler ist, der ist dankbar und macht von seinem Dank keinen Hehl. Der Dichter wollte ursprünglich — so sieht es noch die Ankündigung im 'Morgenblatt' 54 vor — im Divan selber auf das 'Buch der Liebe' ein 'Buch der Freunde' 55 folgen lassen, in dem auch die Danksagungen Platz gefunden hätten, von denen die 'Noten' eine Probe geben 56 : die Verse an den Prä101
laten von Diez, die der Dichter auf Seidenpapier mit goldener Blumeneinfassung schrieb, als ihm Diez seine Bearbeitung der Schrift 'Vom Tulpen- und Narzissenbau in der Türkei von Scheich Muhammed Lalezari' (1815) zum Geschenk gemacht hatte. Von seinen Arbeiten schätzte Goethe besonders die Übersetzung des 'Buches des Kabus' (1811), eines umfangreichen, im späteren 11. Jahrhundert von Kaika'us, dem Herrn der nordpersischen Landschaft Tabaristan, für seinen Sohn verfaßten Handbuches des rechten Verhaltens in allen Lebenslagen. Goethe hat das Buch, das Diez nicht nach dem Persischen, sondern aus einer türkischen Zwischenübersetzung verdeutscht hatte, wieder und wieder gelesen, hat es mehrmals Freunden verehrt, so dem Grafen Reinhard und Jacob von Willemer, und hat nach Diez' Tode (1816) für das nach Art aller seiner Schriften im Selbstverlag erschienene und schwer erreichbare Werk geworben, indem er in die 'Noten' Proben daraus und eine Inhaltsangabe einschaltete und die schätzbaren Tagesblätter wie das 'Morgenblatt' und den 'Gesellschafter' ersuchte, ihre Leser mit dem 'Buche des Kabus' bekannt zu machen57. Die blutrünstige wissenschaftliche Fehde, die zwischen Diez und Hammer ausgetragen wurde, sah den Dichter als unbeteiligten, beiden Partnern freundschaftlich verbundenen Zuschauer: „Erinnert man sich aber seiner Universitätsjahre, wo man gewiß zum Fechtboden eilte, wenn ein paar Meister oder Senioren Kraft und Gewandtheit gegeneinander versuchten, so wird niemand in Abrede sein, daß man bei solcher Gelegenheit Stärken und Schwächen gewahr wurde, die einem Schüler vielleicht für immer verborgen geblieben wären." Goethes Wunsch, die gehaltvollen Briefe, in denen Diez seine Fragen nach orientalischen Dingen sorgsam beantwortet hatte, möchten „gedruckt und als Denkmal seiner Kenntnisse und seines Wohlwollens aufgestellt werden", ist 1890 in Erfüllung gegangen68. Die Arbeit an den 'Noten' konnte nicht schöner beschlossen werden als mit der Zueignung des Divans an den ersten Orientforscher der Zeit, Silvestre de Sacy in Paris69, der auch der Lehrer von Goethes Berater Kosegarten war. Dieser half bei der huldigenden arabisch-persisch-deutschen Inschrift auf dem Schlußblatt des Divans, „dem ersten im Orient, dem letzten im Abendland" 80 . Zum Schluß noch ein Wort zu dem Aufsatz 'Israel in der Wüste', der in seiner endgültigen Fassung zwischen der unerfüllt gebliebenen Ankündigung des 'Künftigen Divans' und dem Bericht über die älteren Orientfahrer Raum fand: „Denn wie alle unsere Wanderungen im Orient durch die heiligen Schriften veranlaßt worden, so kehren wir immer zu densel102
ben zurück, als den erquicklichsten, obgleich hie und da getrübten, in die Erde sich verbergenden, sodann aber rein und frisch wieder hervorspringenden Quellwassern." Goethe hatte die alten, bis in die Frankfurter Zeit zurückreichenden Papiere, die ihn 1797 eine Weile beschäftigt hatten (o. 49), schon 1812 bei der Arbeit an 'Dichtung und Wahrheit' hervorgeholt, um sie dann 1817 in wenigen Tagen für den Divan druckfertig zu machen 61 . Er berechnet jetzt, daß die Wüstenwanderung in knapp zwei Jahren ihr Ziel erreicht haben könne, und gewinnt daraus die gleichfalls neue Folgerung, daß der Charakter des Mose und seine Eigenschaften als Herrscher und Heerführer bei Annahme eines in angemessener Frist durchgeführten Zuges in ein ganz anderes und günstigeres Licht treten, als „wenn wir einen kräftigen, kurz gebundenen, rauhen Tatmann vierzig Jahre ohne Sinn und N o t mit einer ungeheuren Volksmasse auf einem so kleinen Raum im Angesicht seines großen Zieles herumtaumeln sehen". Dieser Schluß gibt dem Aufsatz eine überraschende Wendung, die durch einen fingierten Einwurf herbeigeführt wird: „Ihr habt, könnte man uns zurufen, in dem Vorhergehenden mit allzu großer Verwegenheit einem außerordentlichen Manne diejenigen Eigenschaften abgesprochen, die bisher höchlich an ihm bewundert wurden, die Eigenschaften des Regenten und des Heerführers." Wahrscheinlich ist diese, Wendung dem Aufsatz erst unmittelbar vor dem Abschluß gegeben worden: sie ist in ihm selber nicht vorbereitet. W i e sie das Urteil über Mose ändert, so „würde die Art, wie in diesen Büchern [dem zweiten bis fünften Buche Mose] Gott erscheint, uns nicht mehr so drückend sein als bisher, w o er sich durchaus grauenvoll und schrecklich erzeigt". Das bedeutet den Verzicht auf den leitenden Gedanken der neu hinzugetretenen Einleitung des Aufsatzes. Dort werden, wie schon ehedem (o. 36 f.), das erste und die vier letzten Bücher Mose in einen entschiedenen Gegensatz gerückt: jener hat den Triumph des Glaubens, diese haben den Unglauben zum Gegenstand. Aus diesem Gegensatz, den man sich in seiner geschichtlichen Bestimmtheit vor Augen halten muß, wird der bekannte, vielfach in irreführender Weise zitierte Satz entwidkelt, nach dem das eigentliche, eigenste und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, der Konflikt des Unglaubens und Glaubens bleibt. 'Unglauben' bedeutet — der Zusammenhang läßt keinen Zweifel daran — nicht eine wie immer gerichtete positive Haltung, sondern den rein verneinend unfruchtbaren Zustand derer, die es satt haben, an irgend etwas zu glauben, und in ihrer Nichtigkeit dahingehen. Dafür, daß gerade auf der Grenzscheide zwischen Glauben und Unglauben die großen geistigen
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Entscheidungen fallen können, ist Goethe selber einer der vornehmsten Bürgen. W e r sidi in das Ganze des Divans versenkt — es gehören Jahre dazu, und nur ein Geringes von seinem Reichtum hat hier zur Sprache kommen können —, der findet in ihm die Worte verwirklicht, die zur Zeit seines Reifens einer von Goethes Vertrauten aufzeichnete, nach jener Dornburger Unterredung, von der der alte Merlin aufbricht, um, feierlich zu Tale steigend, sich mit den Urelementen wieder zu befreunden 62 : W e n n man das Treiben und T u n der Menschen seit Jahrtausenden erblickt, so lassen sich einige allgemeine Formeln erkennen, die je und immer eine Zauberkraft über ganze Nationen wie über die einzelnen ausgeübt haben, und diese Formeln, ewig wiederkehrend, ewig unter tausend bunten Verbrämungen dieselben, sind die geheimnisvolle Mitgabe einer höheren Macht ins Leben. W o h l übersetzt sich jeder diese Formeln in die ihm eigentümliche Sprache, paßt sie auf mannigfache Weise seinen beengten individuellen Zuständen an und mischt dadurch oft so viel Unlauteres darunter, daß sie kaum mehr in ihrer ursprünglichen Bedeutung zu erkennen sind. Aber diese letztere taucht doch immer unversehens wieder auf, bald in diesem, bald in jenem Volke, und der aufmerksame Forscher setzt sich aus solchen Formeln eine Art Alphabet des Weltgeistes zusammen.
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L E B E N S A N S I C H T U N D L Y R I S C H E F O R M BEI
HAFIS
Das beste Genie ist das, das alles in sich aufnimmt, sidi alles anzueignen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundstimmung, demjenigen, was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag tue, vielmehr solches noch erst recht erhebe und durchaus nach Möglichkeit befähige 1 .
er über einen orientalischen Dichter zu sprechen hat, sieht sidi vor eine kaum überwindbare Schwierigkeit gestellt. Er soll über dichterische Gebilde sprechen, ohne eine Anschauung dieser Gebilde in ihrer ursprünglichen Gestalt voraussetzen zu dürfen und ohne imstande zu sein, diese Gebilde zu lebendiger Anschauung vorzuführen. Aber dies ist doch nur ein besonderer Fall der Schwierigkeit, mit der zu tun hat, wer überhaupt von Dichtung reden soll. Eine jede Aussage über sie, die bloße Hinwendung von der reinen Anschauung des Gedichts zur Äußerung, zum Zeugnis darüber, bedeutet bereits die Entfremdung von ihm, die intellektuelle Trübung. W i r wissen zwar, daß es keinen von der Form loslösbaren Inhalt der Poesie gibt und geben kann, und dennoch geben wir uns mit dem wortlosen Genuß des dichterischen Kunstwerkes nicht zufrieden. Es drängt uns, uns mitzuteilen, unsere Freude am Kunstwerk auszutauschen, und wir können dies nicht anders als im Mittel einer, wenn auch noch so unvollkommenen, der künstlerischen Gestalt noch so unangemessenen Sprache. Freilich sind wir uns dessen bewußt, daß keine unserer Aussagen in ihr Inneres einzudringen vermag: haben wir unser W o r t gesagt, so steht es wieder da wie früher, in der Unberührtheit und Vollkommenheit seiner Form. Einige Worte über Lebens- und Wirkungsgeschichte des Dichters Hafis mögen näher an ihn heranführen 2 . Sein ganzes Leben verlief in Schiras, seit dem Mittelalter Hauptstadt der persischen Stammprovinz Fars, im Südwesten von Iran. Dort ist er etwa sechzigjährig im Jahre 1389 gestorben. Von seinen äußeren Lebensschicksalen weiß man fast nichts. Nach festem Brauch legte er sich einen Dichternamen bei und wählte dafür den Namen Hafis: so darf sich nennen, wer den Koran auswendig kennt. Dies deutet darauf hin, daß er in seiner Jugend in herkömmlicher Weise den vorgeschriebenen Gang der islamischen höheren Bildung durchlaufen und es mit dem Koranstudium besonders ernst genommen hat. Als
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Lehrer an einer geistlichen Schule, die anscheinend von einem hochgestellten Gönner, einem Hofmann in Schiras, für ihn begründet wurde, hat er sein Leben geführt und seine Tage beschlossen. Seine Lehrtätigkeit bezog sich auf die koranischen Fächer, außerdem auf die Vorstufen des theologischen Unterrichts, insbesondere Grammatik und Rhetorik. Von den Glossen, die er zu den gangbaren Lehrbüchern dieser Wissenschaften geschrieben haben soll, ist nichts erhalten, nur seine Poesie ist auf uns gekommen. Schon zu seinen Lebzeiten breitete sich sein Ruhm mit einer Schnelligkeit aus, die angesichts des anspruchsvollen und mit dichterischen Leistungen verwöhnten persischen Geschmacks jener Zeit in Erstaunen setzt. Fremde Fürsten, in Jezd, in Hormuz, in Bagdad, ja in Indien wünschten ihn an ihren Hof zu ziehen. Aber er verließ seine Vaterstadt nicht, deren landschaftlichem Reiz und deren gemächlicher Lebensweise er mit ganzer Liebe zugetan war. Nach einer nicht gut bezeugten, aber glaubwürdigen Überlieferung hat er zu Lebzeiten eine Sammlung seiner Gedichte nicht vorgenommen. Bald nach seinem Tode wurden sie von seinen Schülern und seinen Freunden zusammengestellt und an den T a g gegeben. Vor neun Jahren ist in Teheran eine Handschrift seiner Gedichte gedruckt worden, die fünfunddreißig Jahre nach seinem Tode niedergeschrieben ist 3 . Sie gibt eine so feste Grundlage für die Beurteilung des Textes und für die Scheidung des ursprünglichen Bestandes von den bei Hafis wie bei allen persischen Dichtern zahlreichen späteren Wucherungen, wie wir sie für keinen anderen Dichter der klassischen Zeit besitzen. Hafis lebte in einer sinkenden Zeit. In seinen Jugendjahren ging es mit der Herrschaft der Ilchane, der Nachkommen des Mongolen Hulagu, der 1258 Bagdad zerstört hatte, zu Ende. Damit versickerte die Flut, unter die der erste Mongolensturm im 13. Jahrhundert unter Tschingischan die persischen Länder gesetzt hatte. Innerhalb Vorderasiens hatten die Mongolen nur in Persien eine weiter ausgreifende und dauerhafte Herrschaft begründet. Sie war in voller Auflösung begriffen, als Hafis geboren wurde. An ihre Stelle traten, wie früher beim Niedergang des Seldschukenreiches, örtliche Teilherrschaften, die sich untereinander befehdeten. Aus Hafis' Poesie läßt sich allerdings nicht viel mehr als eine Ahnung von den äußeren Schicksalen seiner Heimatstadt gewinnen. Nur einige geringe persönliche Mißhelligkeiten, die den Dichter in seinem privaten Leben trafen, werden darin sichtbar. Nach der Grundhaltung seiner Poesie würde man glauben, daß die Jahrzehnte seines Lebens eine Zeit idyllischer Ruhe für seine Heimat gewesen seien. Sie waren nichts weniger als das. Noch in jugendlichem Alter (1352/53) war Hafis Zeuge des sich unter 106
Blut und Grauen vollziehenden Übergangs der Herrschaft über Schiras von der Statthalterdynastie der Entschu, deren letzten er mehrfach preist, an das neue Herrscherhaus der Muzaffariden. Der Begründer der neuen Herrschaft, ein finsterer Mann, in dem tyrannische Willkür und religiöser Eifer einen schlimmen Bund geschlossen hatten, erhielt für seine Bemühungen um die Ausrottung des vom islamischen Gesetz verbotenen Weingenusses von den Schirasern und so auch in HafisJ Gedichten den Spitznamen !Mubtasib 'der Polizist'. Als ihm im Jahre 1357 sein Sohn Schah Schudscha' folgte, begann eine Zeit, in der die Lebensfreude der Schiraser sich wieder freier äußern konnte. Darauf richtet sich das Loblied, das Hafis gern auf die neue Zeit und den neuen Herrscher anstimmt. Sein Dichterruhm blieb nicht lange auf Persien und Indien beschränkt. In dem Jahrhundert nach seinem Tode griff er nach dem Westen über, wohin damals der politische und kulturelle Schwerpunkt der islamischen Welt sich verlagerte. In dem gleichen Jahre, da Hafis starb, 1389, besiegte der osmanische Sultan Murad I. die Serben auf dem Amselfelde. Das war der letzte entscheidende Schlag, den die aufsteigende osmanische Macht gegen die christlichen Balkanvölker führte. Durch ihn wurde sie fast des ganzen dem oströmischen Kaiser auf europäischem Boden verbliebenen Gebietes Herr. Seit bereits etwa zwanzig Jahren war Adrianopel die türkische Hauptstadt auf europäischem Boden. Sie wurde der Sitz der sich nun festigenden osmanischen Bildung, um diesen ihren Rang sechzig Jahre später an das endlich eroberte Konstantinopel abzugeben. Die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts bedeutet für die Osmanen neben dem politischen Machtaufstieg die Vorbereitung einer eigenen geistigen Kultur, die dann im 16. Jahrhundert Gestalt gewinnt. Sie vollzieht sich als Aneignung der gesamten islamischen Bildung, der arabischen Wissenschaften und vor allem der persischen Literatur und Dichtung, die als klassisch unübertreffliches Vorbild gewertet und nachgeahmt wird. Die Poesie des Hafis wird zum Leitstern der osmanischen Poesie. Schon Ahmed Pascha, der Chodscha und Vezir Mehmeds des Eroberers — mit seinem Divan lassen die einheimischen Literarhistoriker die zweite Periode der osmanischen Dichtung (ungefähr seit 1450) beginnen - schloß sich an Hafis an4. Seine Wirkung läßt sich seit dieser Zeit Schritt für Schritt verfolgen. Sultan Selim I., der Eroberer Syriens und Ägyptens, der trotz erbitterter Feindschaft gegen die Perser einen persischen Divan verfaßte, ahmt hafisische Verse nach5. Der namhafteste osmanische Lyriker des Jahrhunderts, Baqi (1526/27-1600), stellt sich in Hafis3 Nachfolge. Gegen Ende des Jahrhunderts findet Hafis' Divan die beste und gründlichste philologische Be-
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arbeitung, die ihm bis heute zuteil geworden ist, durch die Hand des Bosniers Sudi. Sein Kommentar ist bis zum Anbruch der türkisdien Moderne studiert und im 19. Jahrhundert mehrfach gedruckt worden 6 ; über seine Textgestalt läßt sich mit Hilfe der neuen Teheraner Ausgabe hinauskommen — als Hilfsmittel für das Verständnis bleibt er unentbehrlich. Zweihundert Jahre nach ihm, vierhundert Jahre nach dem Tode des Dichters, tritt Hafis ins Bewußtsein Europas. Fast gleichzeitig werden Engländer, Franzosen und Deutsche auf ihn aufmerksam. Die Engländer lernen ihn in Indien kennen, wo er noch in lebendiger Wirkung steht. Der Kalkuttaer Druck seines Divans von 1791 gehört zu den ersten Büchern, die auf europäische Art in Indien gedruckt worden sind. Zur gleichen Zeit bemüht sich der Begründer der philologischen Orientforschung, Silvestre de Sacy in Paris, um die Biographie des Hafis und trägt einiges zu seiner Deutung bei7. Während in diesen beiden Fällen ein neuer Anfang gemacht wird, nimmt Wien die osmanische Hafisüberlieferung auf. Der Graf K. E. Revitzky formt in lateinischen Worten und horazischen Maßen mit Geschmack mehrere Ghaselen nach8. Die unermüdliche Energie Joseph von Hammers 8 greift nach Hafis und ruht nicht, ehe mit Sudis Hilfe in mehr als zehnjähriger Arbeit der ganze Divan verdeutscht ist. Hammers Stil, durch den ständigen Umgang mit orientalischem Manierismus zerstört, macht seine Verdeutschung schwer erträglich. Aber ihr ist es beschieden gewesen, die Wirkungsgeschichte des Hafis auf den Höhepunkt zu führen: durch sie ist Goethe zu Hafis hingeleitet worden. Aus einer verwirrten Zeit in die Ferne und nach dem rein und schlicht Menschlichen ausschauend fand er in Hafis sein anderes Ich: dem würdigen Ernst der heiligen Schriften, wie es sein Name Hafis erkennen läßt, offen zugewandt und dabei der aus strömender Fülle schöpfende Dichter des Frühlings, des Weins und der Liebe; in friedloser Zeit den inneren Frieden wahrend, der äußeren Gewalt in Klugheit fügsam, das verbliebene Gute bescheiden und tief genießend; nicht unangefochten von Widersachern und Sittenrichtern, aber zu kräftiger Abwehr bereit und fähig; gesellig und dabei ganz in sich ruhend; vielfach bedingt, aber in seiner geistigen Freiheit und ihrem Hochgefühl unbedingt. Während er in seinen Versen Hafis ganz als dichterische Naturkraft feiert, kennzeichnet er ihn in den 'Noten' als den Träger 'rhetorischer Verstellung', wie es heißt, also einer dichterischen Haltung, die nicht unwillkürlicher Erlebnisausdruck, sondern durchaus Stilisierung, Mittelbarkeit ist. Als Grundzug findet er bei Hafis 'skeptische Beweglichkeit' (o. 71), also das Gegenteil von Ergriffenheit und Leidenschaft.
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Der Widerspruch, der in Goethes Haltung offenbar zu werden scheint, hat die Leser des Divans beschäftigt. Man hat gemeint, ihn nur alternativ lösen zu können, und hat sich neuerdings dafür entschieden, daß die Hafis-Charakteristik der 'Noten und Abhandlungen' als verunglückt zu gelten habe, daß hier der an der Stoffmasse müde gewordene Dichter im Tone der Aufklärung rede 10 . Aber Goethe ist im Divan über die Vergegenwärtigung des Dichters nach seiner unmittelbar künstlerischen Wirkung und nach seiner geschichtlichen Bedingtheit — das sind die beiden Blickpunkte, von denen aus er Hafis auffaßt — noch hinausgegangen und hat in die zeitgenössische gelehrte Erörterung über Hafis eingegriffen. Er hat zu der Frage Stellung genommen, ob Hafis als natur- und sinnenfroher Dichter der irdisch-schönen Dinge zu gelten habe oder ob sich hinter dem Schein seiner Verherrlichung des Irdischen ein tieferer mystischer Sinn entfalte, der sich erst der allegorischen Deutung erschließe. Er hat die letztere Auffassung, die von Silvestre de Sacy angenommen war, mit Entschiedenheit abgewiesen und mit Hammer den diesseitigen, weltzugewandten Grundcharakter von Hafis' Dichtung behauptet. Freilich mit der Einschränkung, daß das poetische Wort mehr ist und mehr aussagt als den unmittelbar zu ergreifenden Sinn seines Wortlauts. Er vergleicht das dichterische Wort dem Fächer, der das schöne Antlitz verbirgt und doch nicht verbirgt (o. 70). Damit ist ein Ausgangspunkt für die Betrachtung des persischen Dichters gewonnen. Durch das Erlebnis Goethes, von dem unsere Bildung geprägt ist, kommt uns Hafis unmittelbar nahe. Wie Carl Justi sich im Eingang seines klassischen Winckelmann-Werkes nachdrücklich auf Goethes Charakteristik (o. 19) bezieht 11 , so muß, wer Hafis verstehen will, auf Goethes Urteil zurückgehen. Jener scheinbare Widerspruch zwischen der unmittelbar dichterischen und der geschichtlichen Würdigung führt auf den Wesenskern des Hafis und seiner Dichtung, auf das eigentliche Stilproblem, das Hafis dem abendländischen Betrachter aufgibt. Zuvor noch ein Wort über die weitere Wirkungsgeschichte des Persers. Unter dem gemeinsamen Einfluß Hammers und Goethes haben sich unmittelbar nach dem Hervortreten des Divans die beiden ostfränkischen Dichter, der dreißigjährige Friedrich Rückert und der zweiundzwanzigjährige Graf August Platen dem Orient und der Dichtung des Hafis zugewandt. Beide haben um seinetwillen Persisch gelernt, Rückert ist durch ihn eigentlich in seinen orientalischen Studien befestigt worden. Beide haben sich wie Goethe zu Hafis produktiv verhalten, Platen, indem er seinen Trübsinn in Hafis' Welt spiegelte12, Rückert, indem er zuerst frei, nach 109
den formlosen Übertragungen Hammers, die Ghaselen seiner 'östlichen Rosen' formte (o. 91), um dann in seinem langen Einsiedlerleben wieder und wieder zu Hafis zurückzukehren und seine Verse mit einer fast unbegreiflichen Genauigkeit in der Wiedergabe der äußeren Form nachzubilden. Er hatte sich in das Persische wie in Dutzende anderer Sprachen hineingehört und hineingelebt13, er wurde nicht müde, mit der Poesie aller Zungen umzugehen, aus denen allen er im Geiste Herders die eine Ursprache, die eine allmenschliche Poesie heraushörte. Der Anteil der Zeitgenossen kümmerte ihn nicht allzusehr; während seine eigenen Dichtungen ins Volk hinausgingen, blieben die meisten seiner Nachbildungen persischer Poesie unter seinen Papieren liegen und sind allmählich erst nach seinem Tode hervorgetreten. Damit ist die Wirkungsgeschichte des Hafis einstweilen so gut wie zu Ende. Was die Forschung der letzten Jahrzehnte zutage gefördert hat, ist nicht viel. Die Untersuchung des Stils der persischen Dichtung steht in den ersten Anfängen. Die einzige Arbeit, die in dieser Hinsicht für Hafis5 Verständnis Wertvolles erbracht hat, Harald Rasmussens 'Studier over Hafiz med Sideblik til andre persiske Lyrikere' 14 , ist dänisch geschrieben und infolgedessen ungelesen geblieben.
* Wie ist nun das Werk beschaffen, auf das sich Goethes Urteil richtet? Hafis' dichterische Hinterlassenschaft ist durchaus lyrisch, die darin vorherrschende Form ist die des Ghasels, also die Form des lyrischen Gedichts, die im 9. Jahrhundert die Perser von den Arabern übernommen und kanonisiert haben. Neben ihr ist seit der gleichen Zeit in der persischen Poesie das umfangreiche epische Gedicht vertreten. Aber in Hafis5 Schaffen spielt es keine Rolle. Nur zwei 15 kürzere Gedichte lehrhaften Inhalts sind der epischen Form zuzuweisen, doch stehen sie ihrem konventionellen Stil und ihrem dichterischen Wert nach weit unter seinen lyrischen Schöpfungen. Ein Moment, das bei Hafis im Unterschied zu früheren Dichtern ganz zurücktritt, ist das panegyrische. In den Dienst des Fürstenlobs stellten sich zeitweilig die Höchstleistungen der Poesie in Persien. Hafis macht davon den sparsamsten Gebrauch. Es gibt zwar eine Reihe von Gedichten, in denen das Lob eines regierenden Herrschers oder eines Hofmannes angestimmt wird, aber meist im Zusammenhang mit anderen Motiven. Reine Lobgedichte sind seltene Ausnahmen. Das Vorherrschen der Ghaselform in Hafis' Schaffen bedeutet, daß er sich der strengen Regel dieser Form, wie sie in einer über fünfhundertjäh110
rigen Tradition ausgebildet war, sowohl nach der formalen wie nach der inhaltlichen Seite hin unterworfen hat. Das Ghasel besteht aus sieben bis zwölf Doppelversen, von denen die beiden ersten Halbverse und dann jeweils die zweiten durch das ganze Gedicht hindurch miteinander reimen, wobei ein und dasselbe Wort nicht zweimal in gleicher Bedeutung erscheinen darf. Das bedeutet von vornherein eine außerordentliche Einschränkung der dichterischen Freiheit. Die notwendige Folge ist, daß der eigentliche Zusammenhang des Gedichts eben durch den Gleichklang des Reims gestiftet wird. Die Kunst des Dichters besteht darin, den Gedanken- oder Bildzusammenhang des einzelnen Doppelverses überraschend in dem vom Hörer bereits erwarteten Gleichklang enden zu lassen. Hierauf weist Goethe in den 'Noten und Abhandlungen' zweimal mit Nachdruck hin 1 8 : „Bedenken wir nun, daß poetische Technik den größten Einfluß auf jede Dichtungsweise notwendig ausübe, so finden wir auch hier, daß die zweizeilig gereimten Verse der Orientalen einen Parallelismus fordern, welcher aber, statt den Geist zu sammeln, selben zerstreut, indem der Reim auf ganz fremdartige Gegenstände hinweist. Dadurch erhalten ihre Gedichte einen Anstrich von Quodlibet oder vorgeschriebenen Endreimen, in welcher Art etwas Vorzügliches zu leisten freilich die ersten Talente gefordert werden." Und anderseits: „Dem Poeten, welchem Takt, Parallelstellung, Silbenfall, Reim die größten Hindernisse in den Weg zu legen scheinen, gereicht alles zum entschiedensten Vorteil, wenn er die Rätselknoten glücklich löst, die ihm aufgegeben sind oder die er sich selbst aufgibt; die kühnste Metapher verzeihen wir wegen eines unerwarteten Reims und freuen uns der Besonnenheit des Dichters, die er, in einer so notgedrungenen Stellung, behauptet." Als dichterische Einheit gilt darum auch nicht das Ghasel im ganzen, sondern der einzelne Doppelvers. Er soll wie eine Perle in sich gerundet, schön und sinnvoll sein. Zwar läßt sich in manchen Gedichten etwas wie ein durchgehender Sinnzusammenhang finden oder ahnen. Aber das ist nicht die Regel, es wird auch nicht vom Dichter gefordert. Die Literarhistoriker erläutern sein Verdienst stets an einzelnen Versen, und in der Überlieferung weist die Abfolge der Verse stärkere Schwankungen auf als der Wortlaut der einzelnen Verse. Zu den äußeren Bindungen des Ghasels, die der Freiheit des Dichters Schranken ziehen, tritt der innere Stilzwang. So wenig wie der Dichter in der äußeren Gestaltung des Verses frei ist, ist er es in der Wahl seiner Motive. Ein fester Bestand an dichterischen Vorstellungen und Bildern vererbt sich in der persischen Dichtung durch die Jahrhunderte. Die Lei-
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stung des einzelnen Dichters ist es nicht, den vorhandenen und überkommenen Motivbestand zu erweitern oder ihn gar durch persönlichen Erlebnisausdruck zu ersetzen, sondern ihm durch Abwandlung und Verknüpfung neue Ausdrucksmöglichkeiten zu entlocken. Daraus folgt die nicht zu umgehende leidige Erfahrung, die ein jeder macht, der in die persische Poesie einzudringen versucht. Eines Bildes, das ihn beim ersten Anblick entzückt, wird er überdrüssig, wenn er es in geringer Abwandlung dutzende Male im lyrischen Werk desselben Dichters wiederfindet, und vollends, wenn er es bei den Vorgängern und Nachfolgern des Dichters in gleicher Häufigkeit der Wiederholung antrifft. Wer vom Gedicht Ursprünglichkeit und Einmaligkeit, Unmittelbarkeit des persönlichen Ausdrucks fordert, tut gut, sich von der persischen Dichtung fernzuhalten. Freude kann an ihr nur gewinnen, wer sich entschließt, auf den artistischen Reichtum, die technische Verfeinerung ihrer Formensprache zu achten. Diese Formensprache beruht auf der sdiulmäßigen Rhetorik, die als ausgebildete Kunstlehre von den Arabern an die Perser gelangt ist und deren Herkunft, zumal was ihre Abstammung von der hellenistischen Poetik und Rhetorik angeht, noch nicht aufgeklärt ist. Ihr Klassiker ist der im 11. Jahrhundert arabisch schreibende Gurgani. Aber schon einer der Hofdichter Mahmuds von Ghazna, Farrudii, schrieb ein persisches Lehrbuch, das nicht erhalten ist. In arabischer, persischer und türkischer Sprache gibt es eine umfangreiche Literatur über diesen Gegenstand, dessen Kenntnis bis an die Schwelle der neuesten Zeit und bis zur Verdrängung des 'klassischen' persisch-türkischen Stils durch die Europäisierung selbstverständlicher Besitz eines jeden literarisch Gebildeten war 17 . Die abendländischen Liebhaber persisch-türkischer Dichtung haben zwar von ihrem Vorhandensein Kenntnis genommen, haben es aber meistens vorgezogen, jene Poesie gleich abendländischer persönlicher Erlebnisdichtung unmittelbar und vermeintlich unbefangen zu betrachten — was nach dem Gesagten gar nicht möglich ist. Es ist das große Verdienst Jan Rypkas, die praktische Bedeutung der rhetorischen Kunstlehre wieder voll erkannt und die Unerläßlichkeit ihrer Kenntnis und ständigen Berücksichtigung für das Verständnis aller persischen und türkischen Kunstdichtung dargetan zu haben 18 . Ein Vers ist erst verstanden, wenn die in ihm auftretenden rhetorischen Figuren ermittelt sind. Es ist unerläßlich, zur Veranschaulichung des Gesagten wenigstens eine Probe dieser Poesie in deutscher Sprache vorzuführen. Der einzige Dichter, der Verse von Hafis in einem festen Stil und mit einem Höchstmaß 112
von Annäherung an die Form des persischen Ghasels deutsch wiedergegeben hat, ist Friedrich Rückert 19 . Freilich hat selbst sein Formtalent eine Schwierigkeit nicht überwinden können. D a er die Gedrungenheit und Dichtigkeit des persischen Verses, deren Meister gerade Hafis ist, ohne den Raum im Deutschen zu erweitern, zu erhalten unternommen hat, kommt in die deutschen Verse eine gewisse Schwere und Fülle, die von der Leichtigkeit und Flüssigkeit des persischen Verses keine Vorstellung gibt. Aber der Vorzug der Rückertschen Nachdichtungen vor den vielen anderen, die in Deutschland versucht worden sind, liegt an einer anderen Stelle. Es ist fast unvermeidlich, daß die Wiedergabe der persischen durch deutsche Verse ein Moment der Beseeltheit, des Gefühlsklangs in das Original hineinträgt, von dem dieses nichts weiß. Der Vers ist bei Hafis so durchsichtig, so klar, so hart wie Glas: die deutsche dichterische Sprache ist zu tief in Stimmung eingetaucht, als daß sie zur Wiedergabe persischer Ghaselen taugte. Eben an diesem Punkt tritt die Meisterschaft von Rückerts Sprachbehandlung hervor 20 . Es folgt ein Ghasel, dessen erste und vierte Strophe für würdig befunden wurden, auf Hafis' Grabstein eingemeißelt zu werden 21 : L a ß Freudennaß in goldne Schal' uns wohlbeflissen werfen, Eh auf des Hirnes Schale man wird staub'ges Kissen werfen. D i e letzte Einkehr ist f ü r uns d a s T a l des dumpfen Schweigens: Ans Himmelsdadi jetzt einen Schrei der L u s t wir müssen werfen. Getrübtes A u g ' ist weit entfernt von des Geliebten W a n g e : L a ß einen Blick auf ihn uns frei von Finsternissen werfen. Beim grünen H a u p t beschwör' ich dich, Zypresse, wenn idi S t a u b bin, Sollst ohne Stolz du Schatten mir aufs staub'ge Kissen werfen. D e m Herzen, das verwundet ist von deiner Locken Schlangen, Sollst du a u s deinem M u n d e zu den Theriakbissen werfen. D u weißt, daß dieses Saatgefilds Besitz uns nicht Bestand hält: Komm, auf die Welt laß Feuer uns in Bechergüssen werfen. In Blut gewaschen h a b ' ich mich, weil unsre Weisen s a g e n : „Sei rein erst, wenn dem Reinen zu du willst ein Grüßen werfen." G o t t ! dem selbstsücht'gen Frömmling, der nichts als Gebrechen siehet, D u mögest unsrer S e u f z e r Rauch ihm ins Gewissen werfen. Zerreiß dein Kleid, wie Rosen tun, im D u f t des Freunds, o Hafis, U n d zu des Schlanken Füßen hin laß uns zerrissen werfen.
Mehrere der in Hafis' Dichtung vorherrschenden Motive sind in diesen Versen ausgesprochen. Mit dem vollen Klang der Lebensfreude und der Mahnung, das Leben zu genießen, setzt es ein. Lebensgenuß heißt: Freude am Wein und an der Gegenwart des Freundes. Unbeständigkeit der irdischen Dinge ist das Gegenmotiv. Der Frömmler, der sich solcher 8 S c h a e d e r , Goethe
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Gesinnung widersetzt, wird unwirsch abgewiesen. Mit der Mahnung, das eigene Dasein wegzuwerfen und es dem Freunde preiszugeben, klingt das Gedicht aus. Dann die Behandlung der Bilder und Metaphern. Aus jedem der Doppelverse bzw. aus jeder Strophe lassen sich Beispiele für die Regeln der Rhetorik ziehen, wie sie vor Hafts und anderen persischen Dichtern als Anweisung zu regelrechtem Dichten stehen. Nur einiges sei hervorgehoben. Im ersten Doppelvers werden Trinkschale und Hirnschale kontrastiert, im zweiten das Tal der Schweigenden und der Lärm der Freude. Wenn es heißt, daß ein getrübtes Auge dem Freunde fern bleibe, daß vielmehr frei von Verdunklung — wörtlich: aus reinem Spiegel — der Blick auf ihn gerichtet werden müsse, so betrachtet die persische Ästhetik diesen Gegensatz als ebenso kunstreich, wie wenn es heißt, daß aus dem Becher, der Wein enthält, Feuer auf die Welt geworfen werden soll. Dazu treten die Bilder, die uns als bereits die Grenzen des Geschmacks hinter sich lassende Übertreibungen erscheinen wollen: so wenn es heißt, daß der Liebende, um rein zu werden, sich in Tränen, also, wie Rückert im Sinne der persischen Bildersprache verdeutlichend übersetzt: in Blut, gewaschen hat — wieder ist der Kontrast zwischen Reinheit und Waschen in Blut beabsichtigt —, und wenn weiterhin die Locken mit Schlangen verglichen werden, die das Herz des Liebenden verwunden, so daß nun das Gegengift vom Munde des Freundes erwartet wird. Als vollends absonderlich empfinden wir es, wenn auf den Freund der stehende Vergleich mit der schlanken Zypresse angewendet und nun die Zypresse gebeten wird, dem Grab des aus unerfüllter Liebessehnsucht gestorbenen Liebenden Schatten zu spenden. Diese Zusammenstellungen, deren Aufreihung uns künstlich und spielerisch erscheinen mag, gelten dem persischen Geschmack als die eigentliche dichterische Leistung. Aber bei alledem muß der positive Gehalt des Gedichtes gewürdigt werden, soweit das nach einer freilich sehr getreuen Nachdichtung möglich ist. Es sind einfache und ewige Gegenstände der Poesie, die, wenn auch in überfeinerter und verkünstelter Ausführung, nebeneinander gesetzt werden: Liebe, Freude am Wein, am Genuß des Augenblicks. Eben auf ihre Einführung, wie sie bei Hafts erscheint, bezieht sich Goethes Lob seiner Poesie. Elemente der Poesie, die er bei Hafts findet, sind Liebe, Wein, kriegerischer Schall (den Goethe freilich mehr aus der Zeitgeschichte an Hafts herangetragen als in seiner Poesie gefunden hat) und kräftige Auflehnung - Goethe sagt geradezu 'Haß' — gegen weltliche und geistliche Widersacher 22 : 114
Weiß der Sänger, dieser viere Urgewaltgen Stoff zu mischen, Haiis gleich wird er die Völker Ewig freuen und erfrischen.
Die Bereitschaft zur Freudigkeit, zum Genuß der guten Stunde, zum Genuß des Vergangenen im Gegenwärtigen feiert Goethe an dem persischen Dichter. Die lehrhaften Motive, die daneben treten, gelten ihm nicht geringer: dem jugendlichen Schenken sieht er Hafis als Führer zur Lebensweisheit gegenübertreten, und zugleich sieht er ihn als Ratgeber des Schahs und Vezirs. Aber mit dieser Würdigung des persischen Dichters verbindet sich in gleicher Unbefangenheit die Beobachtung jenes artistischen, für unseren Geschmack außerkünstlerischen Elements, das der gleichen Dichtung anhaftet. Wenn Goethe auf dem Grund von Hafis' Dichtung das erwähnte Motiv 'skeptischer Beweglichkeit' als das beherrschende findet, so bedarf dies noch der Verdeutlichung. Was in dem vorhin betrachteten Gedicht unser Empfinden stört oder verletzt, das ist die Äußerlichkeit der Verknüpfung, die freilich aus dem Reimzwang der Ghaselform mit Notwendigkeit folgt, es ist ferner jenes Unmaß, das in der Bildgestaltung und damit in der Äußerung des Gefühls hervortritt. Wir werden nicht zugeben, daß Liebesverlangen oder Liebesschmerz eindringlicher ausgesagt wird, wenn der Liebende klagt, er habe sich im Blut seiner Tränen gewaschen, und er wolle so, wie die Rose sich entblättert, Sein Kleid zerreißen und das zerrissene dem Freunde zu Füßen werfen. Aus ungezählten Beispielen könnte bestätigt werden, was die Maßlosigkeit dieser Bilder erkennen läßt: daß diese Poesie von dem rechten Verhältnis des dichterischen Ichs zur Welt, zu den Menschen und zu sich selber nicht weiß, das den eigentlichen Charakter großer Poesie ausmacht. Der Lebensgenuß, den sie ersehnt und preist, kennt kein Maß, weder in seiner lebendigen Wirklichkeit noch in seiner dichterischen Gestalt. Darum ist er auch, wie der persische Dichter ihn deutet und wünscht, von einer Eintönigkeit und Gleichförmigkeit, die eine seelische Vertiefung des Genießenden nicht zuläßt. Der dichterische Ausdruck der Lebensfreude erscheint dem, der viele Gedichte von Hafis liest und dazu viele Gedidite anderer persischer Dichter, als so leblos und formelhaft wie das Lob der schönen Natur, das immer wieder, ohne von eigentlicher, sich bereichernder und ausweitender Anschauung genährt zu werden, die gleichen überlieferten Bilder und Gleichnisse wiederholt. Gleiches gilt vom dichterischen Ausdruck der Liebesbeziehung, der nichts von freier Hingabe spüren läßt, vom lebensvollen Miteinander zweier Menschen, 8*
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von einer Liebe, die zugleich Seele und Geist wäre, wohl aber das Nebeneinander einer verzweifelten Selbstbehauptung, die an sich zu ziehen und bedenkenlos zu genießen begehrt, und einer nicht minder verzweifelten Selbstpreisgabe, die sich nicht schenken, sondern sich selber los sein will. Die Selbstentwürdigung des Liebenden (s. o. 94) gehört zu den Motiven der persischen Poesie, die uns die Freude an ihr zerstören können. Endlidi gehört hierher das leichtfertige Spiel mit heiligen Dingen, mit Vorstellungen, Worten und Bräuchen des Glaubens, das häufig in kaum verhüllte Lästerung ausartet und um so schwerer verständlich ist, als daneben Äußerungen einer mystisch vertieften Frömmigkeit zu stehen scheinen. Dies alles, was hier mit starker Betonung des Negativen angeführt wurde, ist von Goethe so weit ins Positive gewendet worden, wie es möglich ist. Er sagt von Hafts' Dichtung 23 : „Im Engen genügsam, froh und klug, von der Fülle der Welt sein Teil hinnehmend, in die Geheimnisse der Gottheit von fern hineinblickend, dagegen aber auch einmal Religionsübung und Sinnenlust ablehnend, eins wie das andere; wie denn überhaupt diese Dichtart, was sie auch zu befördern und zu lehren scheint, durchaus eine skeptische Beweglichkeit behalten muß." Er weist also auf die Widersprüche in Hafts' Dichtung hin, ohne sie als Gebrochenheit des Charakters oder als Unaufrichtigkeit zu deuten. Vielmehr führt er sie auf 'skeptische Beweglichkeit' und darauf zurück, daß ein Dichter in verwirrten Zeiten sagt, was seine Zeitgenossen gern hören wollen, daß er sich also der 'rhetorischen Verstellung' bedient. So wenig man also in Hafts' Poesie, in der menschlichen Haltung, die in ihr hervortritt, eine natürliche und ausgewogene Haltung zur Umwelt finden kann, so sehr man geneigt sein mag, ihr überhaupt das wahrhaft Menschliche zu bestreiten, so fest steht auf der anderen Seite, daß Hafts, indem er dem Geschmack seiner Zeitgenossen Genüge tat, dadurch eine besondere, die seiner Zeit und Umwelt gemäße Form von Geselligkeit, von Fügsamkeit gegenüber seiner Mitwelt erfüllt.
* Aber die Betrachtung, wie sie bis zu diesem Punkt geführt ist, bedarf noch der Rechtfertigung, der Abgrenzung gegen eine anders gerichtete Auffassung von Hafts. Eine große Anzahl, ja vielleicht die Mehrzahl der orientalischen, dazu manche abendländische Freunde des Dichters halten ihr entgegen, daß die Auffassung von Hafts' Poesie nach ihrem Wortsinn, wie sie Goethe vertreten hat, überhaupt nicht die Sache treffe. Sie behaupten, daß gar nicht von irdischen Verhältnissen, von Liebe, Wein116
genuß, Naturgenuß im wörtlichen Verstände bei ihm die Rede sei. Vielmehr müsse dies alles allegorisch umgedeutet werden. Wenn Hafis als Liebender auftritt, so meine er nicht die irdische, sondern die mystische Liebe, er wende sich in ihr nicht dem irdischen Freunde, sondern dem göttlichen Geliebten zu, und der Wein sei nicht das vom islamischen Gesetz verbotene Getränk, sondern die geheime Erkenntnis überweltlicher und göttlicher Dinge. Goethe hat dieser Auffassung ausdrücklich und entschieden widersprochen. Er hat sich dagegen verwahrt, daß Hafis ein Mystiker sei: „Mystisch heißest du ihnen, weil sie Närrisches bei dir denken" 24 . Siebzig Jahre nach dem Hervortreten des West-östlichen Divans ist gegen diesen Protest Goethes eine nicht minder entschiedene Verwahrung eingelegt worden 25 . Es ist behauptet worden, der ganze Orient verstehe Hafis mystisch und der Beweis für die alleinige Richtigkeit der mystischen Auslegung sei aus seinen Gedichten zu erbringen. Wie viele Leser des Divans hat auch dieser Kritiker nicht davon Kenntnis genommen, daß Goethe sich zwar gegen die mystisch-allegorische Deutung des ganzen Hafis auflehnt, aber zugleich ausdrücklich zugesteht, daß das dichterische Wort nicht einfach gilt, daß es zwar sich selbst aussagt, aber zugleich über sich selbst hinaus auf ein Allgemeineres hindeutet. Eben daraus, daß die Dichtung über sich hinausweist, daß in ihr das Irdisch-Sinnliche durchscheinend wird und ein höheres übersinnliches ahnen läßt, hat Goethe, wie das vorige Kapitel gezeigt hat, die Stilform des Divans entwickelt. Diesen stetigen Übergang vom Sinnlichen zum Geistigen, von irdischer Wirklichkeit zu überirdischer Bedeutung hatte er in der orientalischen Poesie wiedergefunden. Nicht dies stritt er Hafis ab, er verkannte auch nicht, daß in Hafis1 Poesie Äußerungen von unzweifelhaft mystischer Prägung vorkommen. Nur dagegen wandte er sich, daß das Ganze von Hafis' Poesie mittels allegorischer Deutung in mystische Aussage verwandelt wird, indem mechanisch für die Erscheinungen der Natur und der Menschenwelt, wie sie bei Hafis auftreten, religiöse Begriffe eingesetzt werden. Jener gegen Goethe gerichtete Versuch, das Recht der allegorischen Deutung zu beweisen, stützt sich auf einige wenige Interpretationen, die durchweg nicht stichhalten. Einerseits wird das 'Schenkenbuch' herangezogen, eines jener kurzen Sinngedichte, die ihrerseits in einer festen Überlieferung stehen, aber einen von der lyrischen Dichtung des Hafis durchaus abweichenden Stil aufweisen 26 . Hier wird freilich von einem Wein gesprochen, der nach Wesen und Wirkung nicht von dieser Erde ist, aber in der Weise, daß er offen vom Dichter selbst als Symbol bezeichnet und 117
gedeutet wird. Daraus folgt doch nicht, daß an Stellen, wo von irdischem Wein und Weingenuß die Rede ist, die gleiche symbolische Deutung eingeführt werden dürfte, sondern das Gegenteil. Ferner stützt sich der Beweis auf ein einzelnes Ghasel, das in geschlossener Durchführung — eine Ausnahme in Hafts' Poesie — ein Motiv gestaltet, das auch sonst in kürzerer Andeutung oder eingehender ausgeführt bei Hafts erscheint27. Es wandelt einen Gedanken ab, der eine lange Geschichte hat und letztlich aus der mystischen Deutung einer Koranstelle (2, 32) hervorgegangen ist. Nach ihr mußten sich bei der Erschaffung des Menschen auf göttliches Geheiß die Engel vor Adam beugen; nur Satan weigerte sich. Das wird dahin gedeutet, daß die Engel dem Schöpfer ihre Unfähigkeit bekannt hatten, die Last der vollkommenen Gottesliebe auf sich zu nehmen, so daß Gott sie nun auf Adam und durch ihn auf die Menschen legte. Hafis versetzt sich im Geist in die heilige Stunde der Schöpfung — er sagt dafür, wie häufig, 'gestern' —, als das Gebot der Gottesliebe an den ersten Menschen erging, und frohlockt, daß auch ihm, dem Liebenden, die Last auferlegt ist, die den Engeln zu schwer war und die ihn über die Engel rückt. Hier sind Gottesliebe und irdische Liebe tiefsinnig miteinander verschränkt. Es ist richtig, daß in diesem Gedicht und an verwandten Stellen die irdische Liebe, von der der Dichter sich bewegt weiß, als Spiegel der Gottesliebe, ja als ein Funke ihres Feuers gedeutet wird. Aber wiederum steht es so, daß es nicht einer allegorischen Deutung der irdischen Liebe bedarf, um ihr diesen Sinn zu verleihen, sondern daß Hafis selber in eindeutigem Ausdruck einen übernatürlichen, rein geistigen Vorgang schildert und dadurch selber den symbolischen Bezug zwischen himmlischer und irdischer Liebe herstellt. Auch dies Ghasel beweist also nicht das Recht allegorischer Deutung, sondern hebt es auf. Dazu tritt nun eine Menge von Gegengründen, denen der Verteidiger der mystischen Hafterklärung nicht Rechnung getragen hat. Er erwähnt ein Wort des in Persien gereisten Hermann Vämbery: „Hätten die Zeitgenossen des Hafis seine Lieder wörtlich verstanden, so hätten sie ihn totgeschlagen."28 Das bezieht sich auf die Verherrlichung des vom Gesetz verbotenen Weingenusses, die den ganzen Divan des Hafis durchzieht. Nun, totgeschlagen hat man ihn freilich nicht. Wohl aber gehen durch sein ganzes Leben, wie seine Gedichte bezeugen, immer neu sich wiederholende Zusammenstöße mit den Vertretern der gesetzlichen Frömmigkeit, mit der Obrigkeit, mit Asketen und Sufis. Hafis setzt sich gegen sie zur Wehr und muß doch oft über harte Angriffe klagen. Nicht minder beredt ist seine Klage über die Strenge des Weinverbots und seiner Durch118
Setzung unter dem ersten Muzaffariden, dann die Freude über die Lockerung des Verbots unter dessen Nachfolger. Das alles ist doch nur auf wirklichen Weingenuß zurückzuführen und spottet der allegorischen Deutung. Das gleiche geht aus dem Kampf um die Beurteilung seiner Gedichte hervor, der schon zu seinen Lebzeiten aufflammte. Derselbe Herrscher, dessen mildere Handhabung des Weinverbots Hafis rühmt, Schah Schudscha', wirft ihm vor, seine Gedichte seien zu wenig einheitlich. Ihre Verse feierten in buntem Wechsel den Wein, den Frühling, den Herrscher, die sinnliche und die mystische Liebe. Diese Buntscheckigkeit stehe im Widerspruch zum reinen Stil. Hafis rechtfertigt sich damit, daß trotz dieser Fehler seine Poesie bereits in aller Welt berühmt sei, während die seiner schulmäßig dichtenden Mitbürger nicht über die Mauern von Schiras hinausgelangt sei29. Diese zeitgenössische Kritik lehrt, daß man damals zwischen der Verherrlichung des irdischen Weins und den Äußerungen mystischer Frömmigkeit in Hafis' Gedichten sehr wohl schied. Die Erzählungen von den Schwierigkeiten bei Hafis' Bestattung, gegen die sich die Geistlichkeit zur Wehr setzte, mögen legendär sein. Aber sie zeigen, daß den strengeren Vertretern der islamischen Frömmigkeit seine Gedichte angreifbar erschienen. Freilich werden im 15. Jahrhundert bereits mehrere Stimmen laut, die sich für die allegorische Deutung seiner Gedichte entscheiden, und es ist richtig, daß in Persien und weiter im Osten die mystische Deutung sich durchgesetzt hat. Aber dafür sind unter den Türken, wo die starke Wirkung von Hafis' Poesie, wie schon erwähnt, bereits im 15. Jahrhundert einsetzt, religiöse und sittliche Bedenken gegen seine Dichtung noch lange nicht still geworden. Sie setzen voraus, daß man Hafis wörtlich nahm und infolgedessen Religionswidriges und Lästerliches bei ihm fand. Im 16. Jahrhundert wurde dem Inhaber der höchsten geistlichen Autorität in Konstantinopel, dem Abussu'ud ( t 1574), der ein Menschenalter hindurch unter Soliman dem Prächtigen und Selim II. Scheich ul-Islam war, die Frage nach der religiösen Unbedenklichkeit von Hafis' Dichtung vorgelegt. Sein Gutachten hat Goethe nach Hammers Wiedergabe im 'Buche Hafis' in Verse gebracht ('Fetwa') 30 . Er entschied dahin, daß es im Divan neben Gutem und Unbedenklichem allerlei Anfechtbares gebe; man müsse zu scheiden wissen und Gutes und Böses voneinander sondern. Auch hier ist also von einer alle Bedenklichkeiten aufhebenden allegorischen Deutung nicht die Rede. Zwar sind im gleichen Jahrhundert die Kommentare des Schem'i und des Sururi zu Hafis' Divan geschrieben worden, die nach einem ebenso festen wie langweiligen Rezept die allegorische Deutung 119
durchführen. A b e r Sudi (o. 108) gießt in seinem K o m m e n t a r ü b e r sie die Schale seines galligen S p o t t e s aus u n d zeigt, d a ß H a f i s , w o er selbst es nicht anders sagt, wörtlich verstanden w e r d e n k a n n und muß. Es ist also nicht richtig, d a ß der Orient einstimmig H a f i s mystisch verstehe — es ist vielmehr so, d a ß vor der mystischen D e u t u n g die wörtliche herrschte und d a ß diese sich lange Z e i t neben jener b e h a u p t e t hat.
W i e ist nun die allegorische D e u t u n g z u s t a n d e g e k o m m e n , w o r a u f k a n n sie sich g r ü n d e n ? Z u n ä c h s t ist eine äußere V e r a n l a s s u n g z u bedenken. D i e große Beliebtheit des D i v a n s hat d a z u geführt, d a ß schon b a l d nach seinem Bekanntwerden der Brauch, ihn so wie den K o r a n zur L o s b e f r a gung zu verwenden, sich in den L ä n d e r n persischer Sprache u n d Dichtung allgemein verbreitete. Es gibt eine Fülle von A n e k d o t e n u n d eine g a n z e Literatur d a r ü b e r 3 1 . D a r a u f — nicht wie manchmal gesagt wird, auf den Inhalt seiner V e r s e — beziehen sich auch die Ehrennamen, unter denen H a f i s gefeiert w i r d : ' Z u n g e der unsichtbaren W e l t ' und 'Dolmetsch der Geheimnisse'. D e r D i v a n k a m dadurch — noch mehr als v e r m ö g e seines dichterischen W e r t e s — so in A u f n a h m e , d a ß ihn nur noch die allegorische D e u t u n g unschädlich machen konnte. A b e r ihre eigentliche Begründung liegt tiefer. Sie ist die unberechtigte Verallgemeinerung von an sich richtigen Einzelbeobachtungen. W i r haben ein Beispiel d a f ü r kennen gelernt (o. 1 1 8 ) , d a ß H a f i s einen mystischen Ged a n k e n g a n g a u f n i m m t u n d ihn auf irdisch-sinnliche Verhältnisse bezieht. D a s ist aus d e m D i v a n ebenso reichhaltig z u belegen wie die umgekehrte Erscheinung, d a ß etwa in einem profanen Liebesgedicht Begriffe u n d W e n dungen aus der Sprache der M y s t i k erscheinen, die in einen höheren Bereich hinüberzuleiten scheinen. In den V e r s e n , die vorhin nach Rückert mitgeteilt w u r d e n , hieß e s : In Blut gewaschen hab ich mich, weil unsre Weisen sagen: „Sei rein erst, wenn dem Reinen zu du willst ein Grüßen werfen."
D e r Z u s a m m e n h a n g des Gedichtes veranlaßt, auch diesen V e r s auf die irdisch-diesseitige Liebessehnsucht zu beziehen, von der die anderen V e r s e sprechen. A b e r f ü r d a s W o r t , d a s Rückert durch 'die W e i s e n ' wiedergibt, steht im persischen T e x t ein Begriff der sufischen M y s t i k : 'die M ä n n e r des (mystischen) P f a d e s ' . D a d u r c h gewinnt auch der Begriff des 'Reinen' eine F ä r b u n g , die in den religiös-mystischen Bereich z u weisen scheint. Es k o m m t nun alles darauf an z u erkennen, d a ß in diesem scheinb a r spielerisch geistreichen Hereinziehen religiöser, insbesondere mysti-
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scher Motive eine Stilabsicht des Dichters, ja vielleicht die ihn eigentlich beherrschende Stilidee zu finden ist. Sie wird verdunkelt und zerstört, wenn das Gleichgewicht, das sie zwischen den beiden Bereichen des Sinnlichen und des übersinnlichen herstellt, zugunsten eines der beiden Elemente aufgehoben wird. Die im Orient aufgebrachte und von einigen abendländischen Hafis-Lesern befolgte allegorische Deutung begeht eben diesen Fehler. Indem sie eine der beiden ineinander greifenden Welten in die andere aufzulösen unternimmt, hebt sie die eigentliche Stilabsicht des Hafis auf. Um dies schillernde Widerpiel von Sinnlichem und übersinnlichem in seiner Dichtung zu verstehen, bedürfte es einer historischen Rückschau, die ihn aus der vorauf gehenden fünfhundert] ährigen Stilentwicklung der persischen Poesie verständlich macht. Es kann sich hier nur um Kennzeichnung der wichtigsten Tatsachen handeln. Die persische weltliche Lyrik ist im 10. Jahrhundert voll ausgebildet. Im nächsten Jahrhundert wird im Anschluß an ihre bereits festen Formen die volkstümlich mystische Dichtung ausgebildet, deren Eigenart es ist, den ganzen Motivbestand der irdischen Liebe auf die mystische Gottesliebe zu übertragen. Diese Linie läuft zu den beiden Dichtern des 12. und 13. Jahrhunderts, die im Lehrgedicht wie im Ghasel die Stilentwicklung der mystischen Poesie abschließen : Ferideddin Attar im Osten und Dschelaleddin Rumi im türkischen Konia im Westen. Auf diesen wirkt zugleich die freilich von ihm gemäßigte Endform der pantheistisch-gnostischen Spekulation des Ibn alArabi. Hafis setzt einerseits diesen Überlieferungszweig und den in ihm vollzogenen Ausgleich von profaner und mystischer Liebespoesie voraus. Anderseits steht er seiner Stilbildung nach in einer Entwicklungsreihe, die gegenüber der volkstümlich mystischen Poesie die strenge Überlieferung der an der Rhetorik geschulten und ihre Regeln streng befolgenden Kunstdichtung bewahrt; er ist darin der Erbe seines um ein Jahrhundert früheren Landsmannes Sa'di. Mit vollkommener künstlerischer Freiheit gebietet er über den gesamten Formbestand dieser beiden Richtungen und gewinnt dadurch die eigene Form, in der die widerstreitenden Gehalte der hohen weltlichen und der mystischen Poesie zusammengezwungen werden, zu einem Stilganzen, das ihre Motive in ihrer Eigenheit und damit in ihrer Widersprüchlichkeit, in ihrer Spannung gegeneinander erhält. Darauf ist seine dichterische Absicht eigentlich gerichtet. Es ergibt sich ihm daraus der neue Stil — nur seine Neuheit und innere Mannigfaltigkeit erklärt es, daß er schon von den Zeitgenossen wie eine Offenbarung begrüßt wurde — der neue Stil, der in überlegenem Spiel vorher getrennte 121
dichterische Motive zueinander in Beziehung setzt. Es lohnt nicht — und damit hebt sich früher Gesagtes in einer höheren Betrachtung auf —, gegenüber seiner Dichtung nach Naturnähe, nach Frömmigkeit und Menschlichkeit zu fragen. Sie will angesehen werden, wie Goethe sie ansah: als die Schöpfung eines freien Geistes, der in der vollen Meisterschaft der Formbeherrschung und im Spiel mit der Form - anders gesagt: in einer so großen Meisterschaft, daß ihm das Spiel mit der Form möglich wird — sich seiner selbst und seiner Freiheit versichert. Eine solche dichterische Haltung, wenn sie sich in so vollendeten Gebilden bezeugt, wird als eine der unendlichen Möglichkeiten der Poesie zu gelten haben. Sie hat ihresgleichen in anderen Zeiten und Räumen der Geschichte der Poesie. Hafts' Leistung ist das in reine Form gebrachte Ineinander von Sinnlich-Wirklichem und Geistig-Überwirklichem. Eben dies ist es, was Goethe an ihm bezauberte. In voller Übereinstimmung mit ihm hat ein halbes Jahrhundert später Friedrich Rückert das Geheimnis des Dichters Hafts unübertrefflich gedeutet 32 : Hafis, wo er scheinet übersinnliches N u r zu reden, redet über Sinnliches. Oder redet er, wo über Sinnliches Er zu reden scheint, nur übersinnliches? Sein Geheimnis ist unübersinnlich, Denn sein Sinnliches ist übersinnlich.
Das einheitlich Große und Mächtige, das uns in Hafts' Poesie entgegentritt, wenn wir den ihr gemäßen Standort einnehmen, hat Goethe ausgesagt, indem er nicht zögerte, das große Symbol des kreisenden Himmelsgewölbes zu beschwören. Und mit tiefem Recht hat ein Dichter unserer Zeit eben dies Symbol, wie Goethe es geprägt hat, von der Beziehung auf Hafis gelöst und darin das Wesen der Dichtung schlechthin ausgesagt gefunden 33 : Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe, Und was die Mitte bringt, ist offenbar Das, was zu Ende bleibt und anfangs war.
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DIE R E L I G I O N IM W E S T - Ö S T L I C H E N
DIVAN
Frömmigkeit ist kein Zweck, sondern ein Mittel, um durch die reinste Gemütsruhe zur höchsten Kultur zu gelangen 1 .
D
ie Frage nach Goethes Religion überschneidet sich mit der nach seinem geschichtlichen Denken. Beide stoßen auf die gleiche dreifache Schwierigkeit: sie begehren Goethes Ansicht von einem nur künstlich abzusondernden Teil der Wirklichkeit zu erfahren, die er als Ganzes auffassen und festhalten wollte; sie suchen seine Anschauung festzustellen, während ihm daran lag, vom Anschauen zu Entschluß und Tätigkeit überzugehen; sie erwarten von seinem einzelnen Wort den Aufschluß, den nur das Ganze seines Lebens geben kann. Die Religion, in allen den Gestalten, die sie als Inhalt gemeinschaftlichen und persönlichen Lebens annehmen mag, ist in die Geschichte eingebettet und von ihr bedingt, so gewiß es ihr Sinn ist, über das Nur-Geschichtliche hinauszuleiten. Mit der Geschichte selber teilt sie dies, daß sie es mir nicht abnimmt, mein Leben selber zu leben. Alle Geschichte und was sie umschließt, so auch die Religion, kann den Menschen an sich selber erinnern und ihm sagen, daß er wollen muß, aber der Vollzug des Wollens steht bei ihm. Alle geschichtliche und religiöse Erfahrung, die einer hat, ist genau so viel wert, wie sie ihn das Seine tun lehrt;sonst ist sie tot. Wenn es etwas von Goethe zu lernen gibt, dann ist es dies. Alle Deutung der Welt, alle Erforschung der Seele, auf sich gestellt und Selbstzweck des grübelnden Verstandes, des nach innen gerichteten Tiefblicks, gerät mit dem ersten Schritt ins Weg- und Bodenlose. „Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. - Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages." 2 Während geschichtliche Tatsachen ohne Umstände in Bericht und Erzählung übersetzbar sind, liegt der Lebenspunkt der religiösen Ergriffenheit dort, wo die gewohnte Rede aufhört und das Gebet beginnt. Goethe nennt sie darum an einer weiterhin anzuführenden Stelle das 'mentale Gebet'. Sie ist wortlos, aber sie will Zeugnis geben und drängt zum 123
Wort. Darin liegt ihre Notwendigkeit und ihre Gefahr. Denn nichts ist schwerer, als das Wort, das aus dem religiösen Bewußtsein aufsteigt, rein und gegenständlich zu halten. Allzu gern sucht es mehr zu sagen, als es zu sagen hat, sucht in dauernden und jederzeit verfügbaren Besitz zu verwandeln, was allein einem heiligen Augenblick gehörte. Indem es zur gewohnten Redeform wird, einen Stil ausbildet, glaubt es sich dessen zu bemächtigen, woran nur die Ehrfurcht ahnend rühren darf. Gegen das seiner selbst gewisse Reden von Gott und göttlichen Dingen hat Goethe sich Zeit seines Lebens zur Wehr gesetzt, gleichviel von woher und von wem es kam. Er wollte und konnte nicht mehr sagen, als er durfte. Es war sein Geschick, daß er in der empfänglichsten Zeit, in dem Lebensalter, da der Bruch mit dem Glauben des Elternhauses und der Kindheit sich schließt und das Verlangen nach einer neuen Annäherung an das Heilige wach wird, Freunde fand, die, wenig älter als er, ihren Geist auf die Dinge des Glaubens richteten und in der Geschichte der deutschen evangelischen Frömmigkeit außerhalb und innerhalb der Theologie ein neues Zeitalter heraufgeführt haben. Die echte Jugendfreundschaft will nicht, wie die des Mannes, Anerkennung der freien Persönlichkeit des andern, sondern Selbstsicherung im Gefühl der Einmütigkeit mit dem Freunde. Gibt es kein Zusammenstimmen in den letzten Fragen oder geht es verloren, so zerbricht sie. Die Frankfurter Stillen im Lande, Herder, Lavater, Fritz Jacobi, sie alle haben den jungen Goethe bekehren wollen, ein jeder zu dem, was er jeweils glaubte oder zu glauben wünschte. Jedem von ihnen ist er um seiner Freundschaft willen ein größeres oder geringeres Stück Weges gefolgt, um dann wieder auf seine Bahn zurückzukehren, die ihn sein Daimon gehen hieß, die Bahn der Aufrichtigkeit vor sich selber. Der ziellose Eifer von Lavaters Christussuche stieß ihn schließlich ab. Jacobi wurde zu einem der Wegbereiter des christlichen Nihilismus im 19. Jahrhundert; nicht von ungefähr beziehen sich Kierkegaard und seine Nachfahren auf ihn. Seine Bemühung, dem Zeitgeist und seinen philosophischen Sprechern die entschiedene, dabei inhaltlich undeutliche Forderung des Offenbarungsglaubens entgegenzuhalten, die ihn wieder und wieder in leidige literarische Kämpfe verstrickte, lief alledem zuwider, was Goethe sich im Anblick der Natur an Wissen um die Einheit des Wirklichen erarbeitete. Ihre Beziehung — die tiefste und leidvollste von Goethes Jugendfreundschaften — blieb äußerlich bis zu Jacobis Tode (1819) bestehen; innerlich war sie längst kalt und tot. Herder ging in den ersten Jahren der Freundschaft mit Goethe rasch von einem subjektiven zu einem anderen ebenso subjektiven theologischen 124
Standpunkt über, stets in leidenschaftlicher Abwehr der jeweils gegnerischen theologischen Richtung, mit dem Eifer des Bekehrers und Reformators. Seine Religion, auch nachdem sie sich von den aufklärerischen Neigungen der Rigaer und den orthodoxen der Bückeburger Jahre zu dem Humanitätschristentum der Weimarer Zeit geläutert hatte, konnte eben wegen ihrer anspruchsvollen Subjektivität bei Goethe nicht dauernde Gefolgschaft finden. Aus der Erneuerung ihrer engen geistigen Gemeinschaft, an der die beiden Frauen, Karoline Herder und Charlotte von Stein, teilnahmen, ist das Fragment der 'Geheimnisse' hervorgegangen (1784/85). Das Gedicht sollte die Religionen der Menschheit und ihre Erhöhung zur Humanität in Herders Sinne vor Augen führen 3 . Es schloß also mit veränderter Blickrichtung an den Plan des Gedichtes vom Ewigen Juden (o. 38) und seiner von Gottfried Arnold inspirierten Wanderung durch die Kirchen- und Sektengeschichte an. Aber lebendiger und wärmer atmen seine Knittelverse und wiederum die Verse des 'Buches des Paradieses' und des 'Paria' als die Stanzen der 'Geheimnisse' in aller ihrer Schönheit. Die Dichtung wurde nicht über die Eingangsszene hinausgeführt: die Aufgabe, eine der geschichtlichen Religionen nach der anderen zur Anschauung zu bringen, war mit der Art von Goethes dichterischem Schaffen unvereinbar. Kjium eine der in dem Gedicht vereinigten Stanzen kommt den beiden von ihm abgetrennten gleich, die an Charlotte von Stein gerichtet sind4. Die Scheu vor dem Bekenner- und Bekehrerwillen seiner Freunde hat Goethe öfters dazu geführt, in Briefen und persönlichen Äußerungen seine abweichende Gesinnung mit einer Deutlichkeit, ja Schroffheit zu bezeichnen, die man nicht ihrerseits für ein Bekenntnis nehmen darf. Das gilt von dem Wort vom 'dezidierten Nichtchristen' 5 so gut wie von der dreißig Jahre später gegen Jacobis Eifer für die Ausschließlichkeit der christlichen Offenbarung gerichteten und daraus zu verstehenden Versicherung Goethes, daß er als Dichter und Künstler Polytheist, als Naturforscher Pantheist, als sittlicher Mensch Monotheist sei8. Es gilt ebenso, wenn er sich vor einem gleichfalls um sein Seelenheil bemühten Freunde halb scherzend halb ernst zu den Hypsistariern bekennt 7 , jenen Sektierern, „welche, zwischen Heiden, Juden und Christen geklemmt, sich erklärten, das Beste, Vollkommenste, was zu ihrer Kenntnis käme, zu schätzen, zu bewundern, zu verehren und, insofern es also mit der Gottheit im nahen Verhältnis stehen müsse, anzubeten." Daß ihm neben den Worten der Absage und der verdeckten Ironie auch bei aller Unbeirrbarkeit die des zartest teilnahmsvollen Eingehens auf den zu ihm dringenden Herzenston zu Ge125
böte standen, das bezeugt die Antwort des von tödlicher Krankheit genesenen Vierundsiebzigjährigen auf den ergreifenden, um seine Bekehrung werbenden Brief der nie mit Augen gesehenen Jugendfreundin 8 . Der Forderung des Bekennens stellt schon der Urfaust die Frage entgegen, in der man Goethes letztes Wort über den Glauben finden mag: „Wer darf ihn nennen? und wer bekennen: ich glaub ihn? Wer empfinden, und sich unterwinden zu sagen: ich glaub ihn nicht?" Diese Frage steht hinter jeder seiner Äußerungen über Religion und Christentum. Wer ist seines Glaubens so sicher, daß er meint, ihn nicht verlieren zu können? und wer fühlt sich im Unglauben so befestigt, daß er sicher davor wäre, vom Glauben ergriffen zu werden? Goethe will, hier wie überall, das Wirkliche, wie es das Leben heranträgt — das Wirkliche auch der inneren Erfahrung, nicht Sehnsucht nach dem Unerlebten. Denn sie lähmt das tätige Fortschreiten, während Aufrichtigkeit auch Unbedingtheit des Handelns gewährt: Idh bin nämlidi als beschauender Mensch ein StockreaJiste, so daß ich bei allen Dingen, die sich mir darstellen, nichts davon und dazu zu wünschen imstande bin und ich unter den Objekten gar keinen Unterschied kenne als den, ob sie midi interessieren oder nicht. Dagegen bin ich bei jeder Art von Tätigkeit, ich darf beinah sagen, vollkommen idealistisch : ich frage nach den Gegenständen gar nicht, sondern fordere, daß sich alles nach meinen Vorstellungen bequemen soll 9 .
Das feste Bestehen auf dem Gegenwärtig-Wirklichen machte seine Haltung zum Gegenpol zu der romantischen, deren Wesen Ernst Simon, nach ihrem gleichmäßig gebrochenen Verhältnis zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in eine schlagende Formel gefaßt hat: „Romantik bleibt uns jene gegen die Aufklärung reagierende Bewegung, die sich durch eine Gefühlserschleichung der Gegenwart bemächtigt, indem sie vergangene Stimmungen in den Dienst der Zukunft stellt." 10 Die romantische Literarisierung des Heiligen, die Vermischung der Religion mit Kunst, Philosophie, Chemie, Erotik mußte Goethe zuwider sein. Bei Zacharias Werner, dessen ursprüngliche dramatische Begabung ihn überzeugte, sah er dergleichen eine Zeitlang mit an, bis zu dem denkwürdigen Silvestertag 1808, an dem es ihm zuviel wurde. Dem jungen Schelling, der 1799 sein 'Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens' Schleiermachers 'Reden über die Religion' und der romantischen Mystik entgegensetzte, fühlte er sich geistig näher als irgendeinem andern Philosophen seiner Zeit. So erhielt er ihm seine Anhänglichkeit, als er seit dem Übergang nach Würzburg (1803) und später in München zum Theosophen wurde und den Weg zu der Philosophie der Offenbarung beschritt, als deren Lehrer ihn endlich Fried126
rieh Wilhelm IV. 1841 zur Vertilgung der 'Drachensaat des Hegeischen Pantheismus' nach Berlin berief, wo Sören Kierkegaard und Jacob Burckhardt, die beide ihren Eindruck ergötzlich schildern 11 , in seinem Hörsaal saßen. öffentlich gegen das ärger und ärger werdende romantische Treiben aufzutreten hat Goethe nach Möglichkeit vermieden, bis auf den von Heinrich Meyer verfaßten, 1817 im zweiten Heft von 'Kunst und Altertum' erschienenen Mahnruf 'Neudeutsche religios-patriotische Kunst'. In dem von ihm selber hinzugefügten Schluß heißt es: Die echte, wahre (Religiosität), die dem Deutschen so wohl ziemt, hat ihn zur schlimmsten Zeit aufrechterhalten und mitten unter dem Drude nicht allein seine Hoffnungen, sondern auch seine Tatkräfte genährt. Möge ein so würdiger Einfluß bei fortwährendem großen Drange der Begebenheiten der Nation niemals ermangeln, dagegen aber alle falsche Frömmelei aus Poesie, Prosa und Leben baldmöglichst verschwinden und kräftigen, heiteren Aussichten Raum geben.
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Wenn Goethe es von sich wies, sich an die geschichtlich überkommenen Lehren und Bräuche einer bestimmten Religion und ihren ausschließenden Geltungsanspruch zu binden, so darum, weil er sie eben in ihrer Geschichtlichkeit achtete. Von der Zeit an, da er in seiner Weltbetrachtung und in seinem dichterischen Schaffen frei wurde, hat er es von sich gewiesen, sich nach der Art so vieler seiner Zeitgenossen aus der christlichen Überlieferung herauszusuchen, was ihm behagte, und dies dann für das wahre Christentum auszugeben. Mit fortschreitender Klärung seiner Naturansicht trat ihm auch in den menschlichen Geschicken, im geschichtlichen und religiösen Leben das symbolisch Bedeutsame ins Bewußtsein. Aber das bedeutete nicht die Auflösung des Individuellen im Allgemeinen, sondern im Gegenteil seine Sicherung und Verewigung. Die Idee der Religion suchte er, wo sie Wirklichkeit ist: in den Religionen und ihrem geschichtlichen Wesen. Aber was er in späteren Jahren, je mehr er sich angelegen sein ließ, die Erfahrung seines Lebens erzieherisch fruchtbar zu machen, in Sprüchen und in zusammenhängender Betrachtung zu religiösen Fragen äußert — voran steht die Lehre von der dreifachen Ehrfurcht in der Pädagogischen Provinz der 'Wanderjahre' —, das bildet den Hintergrund zu dem, was in seiner Dichtung Gestalt gewonnen hat. Hier kommt die unerschöpfliche Fruchtbarkeit der religiösen Erscheinungswelt eigentlich zum Vorschein. Sie hat in ihrem geschichtlichen Werdegang einen Schatz von Sinnbildern hervorgebracht, der alles menschliche Tun und Leiden, in seiner Not und
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seiner Zuversicht, umspannt und es in einem Höheren verankert zeigt. Der Dichter, der zu den Grenzen des Menschlichen vordringt, trifft auf die Symbole, die der Glaube geschaffen hat. Bekannt sind die Worte über den Faustschluß 12 : „übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war, und daß ich, bei so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen, mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlidi-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte." Wer bei Goethe Formgebung für abtrennbar vom dichterischen Gehalt ansieht, wird hierin die Mitteilung sozusagen eines technischen Kunstgriffs finden und von dem 'romantischchristelnden' oder 'katholisierenden' Faustschluß sprechen. Wer aber an den vom Dichter selber bezeichneten 'Schlüssel zu Fausts Rettung' 13 denkt: „in Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hilfe kommende ewige Liebe", der ermißt die Notwendigkeit dieses Ausgangs im christlichen Symbol14. Das Leitwort: „Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen", läßt es freilich zu, auf den Gedanken entweder des ersten oder des zweiten Verses den Nachdruck zu legen. Das ist nicht mehr Sache der Auslegung, über die sich rechten ließe, sondern der persönlichen Entscheidung — wie denn auf die Faustfrage nicht eine eindeutig-endgültige Antwort gefunden werden kann. Jede mögliche Antwort weist über sich hinaus und läßt die Frage neu erstehen: sie ist die Frage des Lebens selber. Durch das ganze Alterswerk Goethes geht die dichterische Neuschöpfung religiöser Sinnbilder. Ihr Sinn ist die Sichtbarmachung nicht des 'Allgemein-Menschlichen' — dann wäre sie Allegorie, „wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des allgemeinen gilt" —, sondern „sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät." 15 Dies aber ist „eigentlich die Natur der Poesie". Wenn der Dichter sich also aus dem religiösen Bereich Symbole aneignet, so bedeutet das nicht, daß er durch die Hülle ihrer äußeren Gestalt zum Kern einer tieferen und allgemeineren Bedeutung vorzudringen beabsichtigte, sondern es geht um die sinnenfällige Gestalt und nur um sie, die sich als Bild seiner Einbildungskraft bemächtigt hat. Das gilt von den Vorgängen am Ausgang der 'Wahlverwandtschaften', die, ohne das reine Ebenmaß der Erzählung zu verletzen, in den Bereich des Wunders hinüberleiten und das dichterisch verwirklicht zeigen, 128
was der romantische Roman wollte und nicht zustande brachte. Sie bereiten den Faustschluß so vor wie die dichterische Verklärung der islamischen Jenseitsvorstellungen, der Siebenschläferlegende, der altpersischen Verehrung der reinen Elemente im Divan, der indischen Legende im 'Paria'. Darum ist die Frage nach Goethes Stellung zur Religion16 nicht allgemein und nicht losgelöst von den individuellen Gestaltungen seines dichterischen Schaffens zu stellen, vollends nicht so, daß die Maßstäbe ihrer Beurteilung von außen herangebracht werden. Im Zusammenhang mit der Frage nach Gehalt und Form der einzelnen Goetheschen Dichtung ist nach dem religiösen Element zu fragen, denn hier wird es gegenständlich und faßbar. Dabei muß ihm die zurückhaltende Ehrfurcht entgegengebracht werden, die Goethe selber im Angesicht heiliger Dinge wahrt. In keinem Goetheschen Werke, wenn von seiner Lebensbeschreibung abgesehen wird, tritt die Besinnung auf Religion und Religionen, auf ihre geschichtliche Erscheinung und die darin aufleuchtende Idee so durchgängig und beherrschend hervor wie im Divan. Die größte Mannigfaltigkeit religiöser Vorstellungen und Bilder wird in ihm lebendig, als dichterische Aussage und in dem geschichtlich-gegenwärtigen Weltzusammenhang, den er in sich schließt. Es ist in der Tat eine Breite und Tiefe der Weltansicht im Divan, die alles aufnimmt, was an geschichtlicher Überlieferung in das Leben des Dichters eingegangen war. Mit der antiken Bejahung der schönen Welt und des Menschen in ihr ist ihr alter Widersacher versöhnt, der ihren Fortbestand rettete, indem er sie überwand: die christliche Sehnsucht nach Welt- und Ichüberwindung. Dem mit verjüngter Kraft behaupteten Deutschtum, das die Verse des Divans prägt, tritt der sich neu auftuende Osten gegenüber, das Mutterland der Religionen, die das Schicksal des Morgen- und Abendlandes gelenkt haben: israelitische und christliche Religion, Parsismus und Islam. Aus diesem Osten waren dem Abendland die beiden Ideen zugekommen, in deren Aneignung es sich durch zwei Jahrtausende hat bewähren müssen und deren Anverwandlung zu vollenden seine Sendung ist: die Reichsidee, die Goethe zweimal, mit dem Erlöschen des heiligen römischen Reiches deutscher Nation und mit dem Sturz des napoleonischen Kaisertums, enden sah, und die Idee des christlichen Glaubens. In den 'Noten und Abhandlungen' steht eine vergleichende Betrachtung über die Weltreligionen 17 , die von dem Satz ausgeht, „daß der ursprüngliche Wert einer jeden Religion erst nach Verlauf von Jahrhunderten aus ihren Folgen beurteilt werden kann." „Die jüdische Religion wird 9 S c h a e d e r , Goethe
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immer einen gewissen starren Eigensinn, dabei aber auch freien Klugsinn und lebendige Tätigkeit verbreiten." Seitdem die Studien, die sich an die Farbenlehre anschlössen, Goethes Blick auf die allgemeine Geschichte hingelenkt hatten, ist er bestrebt, die Geschichte des alttestamentlichen Volkes nicht mehr, wie es die christliche Betrachtung tat, mit der Erscheinung Christi enden zu lassen, sondern sie bis zur Gegenwart zu verfolgen. Das sagt schon der Hinweis auf das biblische Volksbuch in der Geschichte der Farbenlehre (o. 29). In den Aufzeichnungen dazu ist in Stichworten eine Übersicht gegeben, in der es gegen den Schluß heißt 18 : „Lokaler Untergang; Volksmasse vorsätzlich vernichtet; Verpflanzen in die Weltmasse; und doch wieder auftauchend; und fortlebend. Fortwirkend; noch immer, mit Ermangelung aller alten Tugenden, bei Gegenwart aller früheren Fehler, zeigt es einen bestimmten Charakter und ein entschiedenes Talent." Die islamische Religion läßt nach Goethe „ihren Bekenner nicht aus einer dumpfen Beschränktheit heraus, indem sie, keine schweren Pflichten fordernd, ihm innerhalb derselben alles Wünschenswerte verleiht und zugleich, durch Aussicht auf die Zukunft, Tapferkeit und Religionspatriotismus einflößt und erhält." Dies trifft im Hauptpunkt mit dem Urteil Jacob Burckhardts zusammen; er betont die Unfähigkeit des Islam „zur Wandelung, zur Einmündung in eine andere, höhere Kultur", die Schranke, durch die er seinen Bekennern den Aufstieg zur „Totalität des Geistigen" wehrt 19 . In den hundertzwanzig und siebzig Jahren seit dem Divan und den 'Weltgeschichtlichen Betrachtungen' ist freilich das Geschick der Mehrzahl der Völker islamischen Bekenntnisses unter andere Sterne getreten. Das Beispiel des Abendlandes weist ihnen den Weg zurVolkwerdung,den ihnen gleichzeitig die Auflösung der abendländischen Weltherrschaft freigibt. Indem sie ihn betreten, bricht für den Islam ein Zeitalter der Wandlung an, wie für das Christentum seit dem Aufbruch der neuen abendländischen Völker 20 . Der harten Absage, die Goethe an die indische und, mit minderer Schärfe, an die griechisch-römische Vielgötterei richtet, rückt er das Lob der christlichen Religion in ihrer geschichtlich-erzieherischen Wirkung gegenüber, „deren reiner, edler Ursprung sich immerfort dadurch betätigt, daß nach den größten Verirrungen, in welche sie der dunkle Mensch hineinzog, eh man sichs versieht, sie sich in ihrer ersten lieblichen Eigentümlichkeit, als Mission, als Hausgenossen- und Brüderschaft, zu Erquickung des sittlichen Menschenbedürfnisses immer wieder hervortut". Und nun gleicht sich dem versöhnenden Blidk des Dichters auch eine Erscheinung aus, die ihn oft genug gequält hatte: die Unübersehbarkeit der unterschie130
denen und einander widerstrebenden Deutungen der Heiligen Schrift in den christlichen Kirchen. Jetzt heißt es im 'Buch der Parabeln' 2 1 : Vom Himmel steigend Jesus bracht' Des Evangeliums ewige Schrift, Den Jüngern las er sie T a g und N a c h t ; Ein göttlich W o r t , es wirkt und trifft. Er stieg zurück, nahms wieder mit; Sie aber hattens gut gefühlt, Und jeder schrieb, so Schritt vor Schritt, W i e ers in seinem Sinn behielt, Verschieden. Es hat nichts zu bedeuten: Sie hatten nicht gleiche Fähigkeiten; Doch damit können sich die Christen Bis zu dem Jüngsten Tage fristen.
Aber daneben stehen, schon 1815 entstanden, jedoch erst nach Goethes Tode veröffentlicht, jene Verse, die zusammen mit dem 66. Venezianischen Epigramm und einem Brief an Zelter 22 herhalten müssen, um Goethes Feindseligkeit wider das Kreuz zu beweisen ('Süßes Kind, die Perlenreihen', o. 40). Dabei wird, obwohl doch die Nennung von Schiras in den Orient weist, leicht übersehen, daß es zunächst nicht Goethes Worte unmittelbar sind, sondern die eines Persers, und zwar, wie man aus einer Tagebuchaufzeichnung von Sulpiz Boisseree erfährt 23 , des Sassaniden Chosrau II., gerichtet an die Christin Schirin. W i e Goethe das Kreuz sah und warum er es so sah, ist aus den unerbittlich ernsten Worten zu erfahren, die in der Pädagogischen Provinz der 'Wanderjahre' gesagt werden. Dort wird zwar vor den Zöglingen von Jesu Leiden kein Geheimnis gemacht; „aber wir ziehen einen Schleier über diese Leiden, eben weil wir sie so hoch verehren. W i r halten es für eine verdammungswürdige Frechheit, jenes Martergerüst und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose Welt ihr dies Schauspiel aufdrang, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die göttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu tändeln, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, bis das Würdigste gemein und abgeschmackt erscheint." Mehr noch als vor dem Schrecknis dieses Schauspiels, das ihm der Anblick des Kreuzes vor die Seele rief, mußte dem Dichter vor der Fühllosigkeit grauen, die ungerührt auf das Kreuz zu schauen vermag, ohne daß ihr im Entsetzen des Gedenkens der Herzschlag stockt. Das mußte ihn freilich von den Männern trennen, die ihren Christenglauben auf das Trotzdem, auf das Ärgernis und die Torheit des Kreuzes 9*
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stellten, von Paulus und Augustin, die ihm zeitlebens fern blieben, und auch von Luther, den er doch als Deutschen und als Protestanten in Ehren hielt. Seine Weltansicht blieb von der ihren durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt. Es gibt wohl überhaupt in der Geschichte der abendländischen Christenheit nicht zum zweitenmal die Ausprägung eines so polaren Gegensatzes zum Christentum des Paulus und seiner Erneuerer wie bei Goethe. Die Grunderfahrung, die dem erwachenden Menschen zuteil wird, ist die Erkenntnis, daß Natur und Geist, daß die Bereiche des natürlichen und des sittlichen Daseins nicht zusammenfallen, daß vielmehr zwischen ihnen ein Bruch klafft, den kein menschliches Wollen und Bemühen schließt. Sünde und Tod heißen die beiden Mächte, in deren Wirken dieser Bruch offenbar wird und gegen die keine Menschenkraft das geringste vermag. Man kann von ihnen wegsehen, aber das schafft sie nicht aus der Welt. Wer ihnen ins Auge sehen will — und das will ein jeder, der einmal den neuen, nüchtern ernsten Wirklichkeitssinn gespürt hat, der mit dem Christentum in die Welt gekommen ist —, für den gibt es zwei Wege, ihnen zu begegnen. Entweder er wird sie und ihr Wirklichsein zum Ausgangspunkt seines ganzen Denkens und Sinnens, zum Angelpunkt der Wirklichkeit überhaupt machen. Das hat Paulus getan. Durch ihn sind Sünde und Tod christliche Urworte geworden. Ihnen stellt er, in einer über die Welt und den Menschen hinaus- und emporgreifenden Gewißheit, die Zeichen des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung entgegen. So gut wie er und wie jedermann - außer dem Philister, der nichts von Sünde wissen mag — weiß auch Goethe von jenen beiden Mächten und ihrer Wirklichkeit. Auch von der Sünde: keine abendländische Dichtung hat ein so tiefes Wissen von ihr wie die Gretchentragödie. Aber während Paulus sich auf Sünde und Tod, auf die Unfähigkeit des Menschen, mit ihnen fertig zu werden, und darum auf das Kreuz, mit so ausschließendem Ernst richtet, daß ihm das Wunder des Lebens fast unsichtbar wird, ruht Goethes Blick unverwandt auf diesem Wunder, auf der Natur, die „ewig produktiv, bis ins Innerste göttlich, lebendig, ihren Typen getreu und keinem Alter unterworfen ist" 24 . Sie lehrt ihn den Weg, den der Mensch gehen mag, nicht um Sünde und Tod zu vergessen oder nichtzuachten, aber um seinem Dasein die höchste Fülle von Sinn und Inhalt zu geben: den Weg des tätigen Lebens. Daß dies Leben Leiden und Sterben in sich schließt, daß kein Trotz der Selbstbehauptung gegen sie etwas vermag, das hat er so wohl gewußt, wie ihm vor Augen stand, daß in der christlichen Liebe, wo sie tätig und wirklich wird, ein Letztes und Höchstes 132
aufleuchtet, das der Mensch nicht aus sich hervorzubringen vermag, sondern sich schenken lassen muß. Tätiges Leben, das ist der Gegenpol des 'Daseins zum Tode'. Nicht daß es den Tod aus der Welt schafft — aber es scheitert nicht an ihm, geht nicht an ihm zugrunde. Mit wachsender Klarheit und Heiterkeit hat Goethe im Alter sich mit der Gewißheit erfüllt, daß unablässig wirkender Tätigkeit eine Fortdauer beschieden ist, die auch den Zusammenhang der Persönlichkeit nicht zerfallen läßt, sondern erhalten muß. Tief und schön hat unlängst Max Kommereil die letzte Lebensstrecke im fünften Akt von Faust II gedeutet 25 : „Der erste Aktteil handelt nicht unmittelbar vom Tod, sondern vom äußersten Alter, dem Lebenszustand vor dem Tod. Er ist eine Dichtung über den letzten Augenblick. Ein tiefgoethisdier Zug: die Altersmomente neigen sich nicht nach dem Tod voraus, sondern nach dem Leben zurück. Sie sind ein eigener Zustand besonderen Tuns und Seins, besonderen Horizonts. Sie fassen zusammen, bilden Reihen des Gleichen, sind so innig wie bewußt im Begreifen. Sie enthalten alles Gewesene mit, sie sind das Leben in dem Augenblick, wo es über sich selbst ganz wissend wird. Sie biegen dennoch nicht etwa dem Tode aus. Sie behandeln ihn nicht als etwas, womit man sich — etwa durch Todesbetrachtung — einlassen muß, sondern als etwas, das zu bestehen ist. Das Leben rüstet sich auf ihn durch möglichst viel Leben. Und durch Leben von der Art, über welche es in dieser seiner letzten Reife reichlich und ausschließlich verfügt. Da nun die beschriebenen Momente für den theoretischen Menschen der höchste Grad des Selbstbesitzes sind, so ist er, auf diese Weise den Tod nicht denkend, todgerüsteter als ihn denkend." Als Gegenbild der über das Irdische und Menschliche hinausgreifenden christlichen Gottesverehrung läßt sich ein frommer Dienst vorstellen, der sich ganz im Kreis der gotterschaffenen sichtbaren Natur hält und sich in der Pflege des natürlichen Wachstums vollendet. Das höchste und sichtbarste Zeichen, in dem er das Göttliche anschaut und verehrt, ist das täglich erneuerte Licht der Sonne. Schöpft der Christ die Gewißheit seines Heils aus dem Glauben an die Offenbarung, in der die Übernatur sich in die Natur herabließ und das Wort Fleisch ward, so kann es hier heißen: „Schwerer Dienste tägliche Bewahrung, sonst bedarf es keiner Offenbarung." Das ist das 'Vermächtnis altpersischen Glaubens', das der Dichter den sterbenden Parsen sprechen läßt 26 , den Angehörigen einer der am alten Feuerdienst festhaltenden Gemeinden, die sich in Persien nach der arabisch-islamischen Eroberung in einigen wenigen Städten unter Verfolgung und Not bis in die Gegenwart erhalten haben. In ihm lebt noch die 133
älteste, lautere Gestalt des persischen Gottesdienstes, die 'edle, reine Naturreligion', die in der Zwischenzeit längst entartet und in einen 'umständlichen Kultus' verwandelt worden war. Denn die Ergriffenheit, zu der sich das religiöse Bewußtsein zu erheben vermag, wird nur von wenigen festgehalten. „Das mentale Gebet, das alle Religionen einschließt und ausschließt und nur bei wenigen, gottbegünstigten Menschen den ganzen Lebenswandel durchdringt, entwickelt sich bei den meisten nur als flammendes, beseligendes Gefühl des Augenblicks; nach dessen Verschwinden sogleich der sich selbst zurückgegebene, unbefriedigte, unbeschäftigte Mensch in die unendlichste Langeweile zurückfällt." 27 Den Urheber der Veräußerlichung des altpersischen Naturdienstes vermutete Goethe, wie manche seiner Zeitgenossen, in Zoroaster. Dazu gab das Awesta Anlaß, das sich in allen seinen Teilen, auch in den vielfach abstoßenden Kult- und Reinigungsvorschriften, als Offenbarungswort Zoroasters gibt und als solches von seinen Bekennern verehrt wird. Als Goethe jung war, hatte der Franzose Anquetil Duperron es zum ersten Male in Europa bekanntgemacht; sein großes Werk hatte Joh. Fr. Kleuker ins Deutsche übersetzt 28 . In der Folgezeit hat man erkannt, daß das Awesta im ganzen so wenig von Zoroaster herrührt wie die fünf Mosebücher von dem, dessen Namen sie tragen. Während aber in diesen kein Wort steht, das dem Mose zuerkannt werden dürfte, enthält das Awesta, in liturgische Texte eingebettet, den kostbaren Schatz der Hymnen des iranischen Propheten. Sie lassen ihn als religiösen Genius erkennen, dem an Ursprünglichkeit und Aufrichtigkeit wenige vergleichbar sind29. Mit dem Bekanntwerden des Awesta erhob sich die Versuchung, in iranischer Religion verborgene Quellen des Urchristentums aufzusuchen. Schon Lessing — in der 'Erziehung des Menschengeschlechts' — hat sich ihrer nicht erwehrt, Herder ist ihr erlegen, und bis zum heutigen Tag fordert sie ihr regelmäßiges Opfer. Aber an Goethe hat sie nicht herangekonnt.
* Obwohl seine Aufmerksamkeit während der Entstehung des Divans vorzüglich den Persern galt, wirkte doch die Anschauung ihrer alteinheimischen Religion nicht so tief in ihm wie die des islamischen Bekenntnisses, zu dem sie nach der arabischen Eroberung von Iran übergingen. Darauf hatten ihn frühere Begegnungen vorbereitet. Hatte sich ihm einst die Gestalt des Propheten als des völkerlenkenden Genius und das einzelne Bild des Erzvaters eingeprägt, der sich vom Gestirndienst zur Verehrung des Einen bekehrt (o. 43), so ergreift er jetzt den Gehalt des islamischen 134
Glaubens von innen her. Ergebenheit in den unerforsdilichen Willen Gottes wird ihm zum Namen für Frömmigkeit schlechthin: „Wenn Islam Gott ergeben heißt, in Islam leben und sterben wir alle." 3 0 Die Mystik, die ihm, bald vorherrschend bald zurücktretend, in der persischen Dichtung entgegentrat, ging ihm in ihrer islamischen eher als in christlicher Form ein. Wenn er sich gelegentlich dahin vernehmen ließ, daß wie das Kind zum Realismus, der Mann zur Skepsis, so der Greis zum Mystizismus neige 31 , so verstand er, wie seine weiteren Worte zeigen, unter diesem Begriff eben das, was er audi 'Islam' nennt. Der Greis „sieht, daß so vieles vom Zufall abzuhängen scheint; das Unvernünftige gelingt, das Vernünftige schlägt fehl, Glück und Unglück stellen sich unerwartet ins gleiche; so ist es, so war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der da ist, der da war und der da sein wird." Das hat nichts mit dem festen Sinn zu tun, der dem Begriff der Mystik erhalten bleiben muß, wenn er nicht Verwirrung stiften soll. Er bedeutet eine Haltung des religiösen Bewußtseins, die überall dort angelegt ist, wo die Gottheit als transzendent geglaubt wird: das Verlangen, in höchster Anspannung der Seele die Transzendenz — die vorausgesetzt wird — aufzuheben, indem das Ich sich im Göttlichen zu verlieren oder in sich das Göttliche aufleuchten zu lassen begehrt. Dies ist die Mystik, die Goethe 'eine unreife Poesie, eine unreife Philosophie' nennt, um ihr die Poesie als 'reife Natur', die Philosophie als 'reife Vernunft' entgegenzustellen 32 . In den 'Noten' zum Divan 33 spricht er geradezu „von allen den Torheiten, durch welche stufenweis der in seinem irdischen Wesen befangene Mensch sich der Gottheit unmittelbar anzunähern und sich zuletzt mit ihr zu vereinigen gedenkt; da denn doch zuletzt nur widernatürliche und widergeistige, grasse Gestalten zum Vorschein kommen. Denn was tut der Mystiker anders, als daß er sich an Problemen vorbeischleicht oder sie weiterschiebt, wenn es sich tun läßt?" W o Goethes Rede oder Vers sich mystischen Vorstellungen und Worten zu nähern scheint, da hüte man sich, von Mystik zu reden. Er schöpfte Symbole aus ihr so dankbar wie aus jedem anderen Lebensbereich. Aber der Neigung religiösen Ästhetentums, einen willkürlich erweiterten Begriff der Mystik auf Goethes Dichtung zu beziehen, hat er in den Worten, die wir hörten, im voraus das Gericht gesprochen. Doch bedeutet es ihm einen Unterschied, ob der Mystiker sich aus einer reichen Welterfahrung erhebt, die in ihm nachschwingt, auch wenn er sie hinter sich läßt, oder ob er den Gedanken an die Welt in sich ausgelöscht hat, um für die Begegnung mit dem Göttlichen rein zu werden. Goethe 135
hält christliche Mystik und islamische mystische Poesie zusammen und erkennt dieser den Vorteil der größeren Weltoffenheit zu. Hätte er die zu seiner Zeit noch so gut wie unerschlossene 'klassische' islamische Mystik des neunten und zehnten Jahrhunderts gekannt — erst in unseren Tagen hat Louis Massignon diesen Höhepunkt in der Geschichte der Mystik voll sichtbar gemacht 34 —, so würde er in ihr eben das wiedergefunden haben, was ihn von der christlichen Mystik fernhielt: die Absonderung des Ichs, die Weltlosigkeit, die sich erst in den folgenden Jahrhunderten im Zusammenwachsen weltlicher und mystischer Poesie (o. 121) in Persien ausglich. Der Vergleich christlicher mit islamischer Mystik hat in den 'Sprüchen in Prosa' seinen Niederschlag gefunden 35 . Mit dem Wort von den christlichen 'Mysterien' halte man die im siebenten Buch von 'Dichtung und Wahrheit' groß durchgeführte Deutung der sieben Sakramente zusammen. Alle Mystik ist ein Transzendieren und ein Ablösen von irgend einem Gegenstande, den man hinter sich zu lassen glaubt. Je größer und bedeutender dasjenige war, dem man absagt, desto reicher sind die Produktionen des Mystikers. Die orientalische mystische Poesie hat deswegen den großen Vorzug, daß der Reichtum der Welt, den der Adepte wegweist, ihm noch jederzeit zu Gebote steht. Er befindet sich also noch immer mitten in der Fülle, die er verläßt, und schwelgt in dem, was er gern los sein möchte. Christliche Mystiker sollte es gar nicht geben, da die Religion selbst Mysterien darbietet. Auch gehen sie immer gleich ins Abstruse, in den Abgrund des Subjekts.
Schon die beiden ersten Gedichte des Divans vom Sommer 1814 führen in den religiösen Bereich und lassen die Ausdeutung, die er im Divan erfahren soll, bedeutsam anklingen. In 'Erschaffen und Beleben' ('Buch des Sängers') wird, an einen Hafisvers angelehnt, aber in volkstümlich derbes Deutsch übersetzt, die Erschaffung Adams aus dem Erdenkloß erzählt, dem noch nicht der Lebenshauch, sondern erst der von Noah gewonnene Wein die rechte Belebung gibt. Klingen diese Verse in Hafts' Lob aus, so tritt in den ihnen zeitlich folgenden dem persischen Dichter als 'Bewahrer' des Korans der deutsche als Hüter der heiligen Schriften zur Seite. ('Beiname', 'Buch Hafts', o. 2 4 ) . Mit den ersten Schritten ist also der Dichter bereits in den Bereich des Islam eingetreten. Er wird in ihm heimisch, je mehr sich die Lebenswelt der Divan-Dichtung in ihrer Ausspannung zwischen den beiden Polen freudiger Welt- und Ichbejahung und heiterer Welt- und Ichüberwindung gliedert. Freilich treten sie nicht als Gegensätze in die Erscheinung; sie sind zwei Gesprächspartnern zu vergleichen, die einander zu höherer Klar-
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heit und Freudigkeit steigern. Bleiben aber Weltinnigkeit und Jenseitsverlangen, erdverhafteter Scherz und ergriffener Ernst anfangs getrennte, wenn auch vertraute Partner, so wird im letzten Buche des Divans, dem 'Buche des Paradieses', zwischen ihnen eine Einheit gestiftet, die in der Poesie ihresgleichen nicht hat. Das Buch enthält, nadi der Vorankündigung im 'Morgenblatt', „sowohl die Sonderbarkeiten des mahometanischen Paradieses als audi die höheren Züge gläubigen Frommsinns, welche sich auf diese zugesagte künftige heitere Glückseligkeit beziehen". Aus koranischer Überlieferung (Sure 18) wird die christliche Legende von den Siebenschläfern zurückgewonnen, in der sich der Zeitenwechsel des sinkenden Altertums, der Ubergang vom Heidentum zum Christentum, ein tiefes Sinnbild geschaffen hat — ein Gegenbild zu dem der 'Braut von Korinth', die den Bruch zwischen den Zeitaltern in seiner harten Grausamkeit aufdeckt. Das Wunder des Schlafes, in den die sieben Jünglinge von Ephesus versenkt werden, schlägt eine Brücke vom irdischen zum jenseitigen Leben, die der Dichter in den Schlußversen des Divans, in segnendem Abschied von seinem Volke zu betreten sich anschickt. In das Paradies treten 'Berechtigte Männer', 'Auserwählte Frauen', 'Begünstige Tiere' ein; gleich den 'Siebenschläfern' gehören die drei Gedichte den ersten Monaten der Divanpoesie an. Sie schildern die Paradiesesfreuden, wie sie der fromme Sinn des frühen Islam malte, als Fortsetzung und Steigerung irdischen Wohlseins, zum Ärgernis nicht erst der christlichen Gegner, sondern schon der islamischen Theologen und ihres strengeren Sinnes. Aber eben weil sie um himmlischen Gewinn das irdische Gute nicht preisgeben wollen, finden sie das Wohlgefallen des Dichters, der in ihnen ein tief berechtigtes und menschliches Begehren bejaht. Zugleich aber weiß er von einem höheren Verlangen, dem sich die Jenseitswonnen verklären, indem die getrennten fünf Sinne in einen einzigen zusammenfließen, bis auch er abgestreift wird - „bis im Anschaun ew'ger Liebe wir versdiweben, wir verschwinden". So heißt es in den Versen 'Höheres und Höchstes', die, dem großen Gedicht 'An Hafis' (o. 75) zeitlich und stilistisch nahestehend, 1818 hinzutreten. Indem sie niederes und höheres Jenseitsverlangen gleichermaßen bejahen, entsteht jene Einheit von Heiterkeit und Ernst, in der sich mit dem Zartsinn des Glaubens ein Höchstes an Ironie verbindet. W i e es im Hinblick auf den 'Künftigen Divan' heißt: „Scherz und Ernst verschlingen sich hier so lieblich ineinander, und ein verklärtes Alltägliche verleiht uns Flügel, zum Höheren und Höchsten zu gelangen." 137
Zwei Jahre später, auf der Frühlingsreise nach Karlsbad 1820, hat der Dichter dies alles noch überboten und die Durchdringung von dichterischer Lebensfreude und gläubiger Paradiesessehnsucht zu einer letzten Innigkeit gesteigert: in den vier Gedichten des Zwiegesprächs zwischen dem Dichter und der Huri. Sie hat ihn aufgenommen, da er bewies, daß er als Lebender und Liebender einen Kampf gekämpft hat, der ihn zum würdigen Gefährten der muslimischen Glaubenskämpfer macht. In ihr, die um dem Deutschen zu gefallen, Knittelreime sprechen lernt, glaubt er die ins Paradies entrückte Suleika wiederzufinden. Denn den Huris ist es gewährt, den irdischen Liebsten ihrer Paradiesesgefährten zu gleichen — kraft derselben Verwandlung wie Elpore in der 'Pandora' und die Medusengestalt der Walpurgisnacht, die Faust an Gretchen erinnert. Und doch tasten sich die Gedanken des Dichters aus der Ewigkeit in die Zeitlichkeit zurück — was sie suchen, errät die Gefährtin: Sing mir die Lieder an Suleika vor: Denn weiter wirst du's doch im Paradies nicht bringen.
Aus den vier Elementen unmittelbar, aus Wasser, Feuer, Erd' und Luft, ist die Paradiesesjungfrau geschaffen — aus den Elementen, in die Helenas Gefährtinnen nach dem Abschied der Königin zurückkehren. Die persische Dichtung rechnet es zu den höchsten und reizvollsten Aufgaben, in kunstvoll überraschender Verschränkung und Ausdeutung die Namen der vier Elemente in einem Doppelvers zusammenzubringen. Hafts hat sich oft daran versucht. Den reinen Elementen, zu deren Verehrung das 'Vermächtnis altpersischen Glaubens' mahnt, ist in unserer Sprache ein Loblied angestimmt worden, wie kein zweites in der Welt gehört worden ist. W i e Homunculus an Galateas Thron flammensprühend zerschellt, um nun im feuchten Element den Beginn organischen Lebens zu finden, da rauscht es auf, alle Stimmen vereinend, weltdurchdringend: Heil dem Meere! Heil den W o g e n ! Von dem heiligen Feuer umzogen,Heil dem W a s s e r ! Heil dem Feuer! Heil dem seltnen Abenteuer! Heil den mildgewogenen Lüften! Heil geheimnisreichen Grüften! Hochgefeiert seid allhier, Element' ihr alle vier!
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PARIA
Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendigaugenblidclidie Offenbarung des Unerforsdilidien 1 .
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er wiederholten Verwahrung wider indische Dinge im Divan 8 hatte Goethe schon in dem Abschnitt der 'Noten', der von den drei Stufen der 'Übersetzungen' handelt (o. 100), einen freundlichen Hinweis auf zwei Dichtungen des Kalidasa, das Drama Sakuntala und das lyrische Epos Meghaduta, folgen lassen. Ihnen und dem Gitagovinda (o. 10. 56) gelten die teilnahmsvoll empfehlenden Worte des erst aus dem Nachlaß bekanntgewordenen, wahrscheinlich 1821 niedergeschriebenen Aufsatzes 'Indische und chinesische Dichtung'. Das Gedicht vom 'Wolkenboten' — Meghaduta bedeutet die als Bote dienende Wolke — läßt ein vom Götterkönig aus dem nördlichen Indien nach dem Süden verbanntes halbgöttliches Wesen einer der mächtigen von Süden nach Norden ziehenden Wolken, die den Beginn der Regenzeit anzeigen, Grüße an die daheimgebliebene Gattin auftragen und ihr, in unvergleichlichen Bildern indischer Landschaft, den W e g schildern, den sie zurücklegen wird. Für Goethe stand das Gedicht, das er in der englischen Übertragung von Wilkins (1815) kennen lernte, in symbolischem Zusammenhang mit dem ihm gleichzeitig bekannt werdenden Versuch des englischen Chemikers Luke Howard, eine Lehre der Wolkenbildung auszuarbeiten 3 . Indem sie für eine anscheinend vor andern regellose und unübersehbare Erscheinungsfolge der sichtbaren Natur Ordnung und Benennung fand, brachte sie Goethe und seiner Tendenz des Naturerkennens eine Förderung, die er mit Glück und Dankbarkeit aufnahm. Sie regte seine eigenen Versuche zur Witterungslehre und die schönen Strophen über Wolkenformen an, die teilweise im dritten der Hefte 'Zur Naturwissenschaft überhaupt' ( 1 8 2 0 ) , vollständig zu 'Howards Ehrengedächtnis' im vierten Hefte (1822) mitgeteilt wurden. In den einführenden Stanzen wird des 'Wolkenboten' gedacht und eine in ihm erscheinende Gottheit, Kamarupa, eingeführt. Noch in dem Aufsatz von 1821 hob Goethe als das Verdienst der indischen Dichtungen hervor, daß „sie sich aus dem Konflikt mit der abstru139
sesten Philosophie auf einer und mit der monströsesten Religion auf der anderen Seite im glücklichsten Naturell durchhelfen". Um so mehr mag es wundernehmen, daß um dieselbe Zeit ein Stoff aus dem Bereich indischer Religion ihn erfüllte und zu abschließender Formgebung drängte, wie er monströser nicht zu denken ist. Das war die Legende von der Hinrichtung und Wiederbelebung der Brahmanin, deren Haupt durch Verwechslung mit dem Rumpf einer Pariafrau verbunden wird, so daß sie, wieder ins Leben zurückkehrend, göttliche Tugend und verbrecherische Laster in sich trägt, bis die Götter sie zur Pockengöttin erheben. Die Teilnahme an den Parias lag in der weltschmerzlich bewegten Luft der beginnenden zwanziger Jahre, die ihr Mißvergnügen in Klagen für irgendein in der Welt geschehendes Unrecht auszuströmen liebten. Im gleichen Jahre 1821 traten das einaktige Trauerspiel von Michael Beer, 'Der Paria', und die fünfaktige Tragödie des Franzosen Casimir Delavigne, 'Le Paria', hervor. Sie reizten Goethe, wieder an seinen eigenen, in so ganz anderer Richtung zielenden Entwurf heranzugehen. Im Herbst 1823 war das Gedicht in seinen drei Teilen, wie wir es lesen, vollendet und wurde Eckermann mitgeteilt, der es respektvoll und einigermaßen ratlos aufnahm 4 . Der Dichter war nicht gewöhnt, von seinen Arbeiten viel Wesens zu machen. Diesmal zeigt einer seiner ins Herz der Dinge treffenden und nicht wieder vergeßbaren Vergleiche, wie wert ihm selber das Pariagedicht geworden war: „Die Behandlung ist sehr knapp, und man muß gut eindringen, wenn man es recht besitzen will. Es kommt mir selber vor wie eine aus Stahldrähten geschmiedete Damaszenerklinge. Ich habe aber auch den Gegenstand vierzig Jahre mit mir herumgetragen, so daß er denn freilich Zeit hatte, sich von allem Ungehörigen zu läutern." So erschien das Gedicht in 'Kunst und Altertum' (IV 3). Ihm folgte im nächsten Hefte (V 1, 1824) eine ausführliche Besprechung von Beers 'Paria', die Eckermann verfaßt hatte und an die Goethe einen kurzen Aufsatz 'Die drei Paria' anschloß. In ihm spricht er von Delavignes Trauerspiel und fügt, dem Leser zur Hilfe, einige Sätze über seine eigene Dichtung hinzu, die auf das genaueste abgewogen und für das Verständnis des Gedichtes richtungweisend sind. Nach dieser doppelten, ins Tragische gesteigerten Ansicht des traurigsten Zustands wird man zu Erholung und Erhebung gern das Gedicht betrachten, welches, nach einer indischen Legende gebildet, zu Anfang des vorigen Heftes abgedrudct ist. Hier finden wir einen Paria, der seine Lage nicht für rettungslos hält, er wendet sich zum Gott der Götter und verlangt eine Vermittlung, die denn freilich auf eine seltsame Weise herbeigeführt wird. N u n aber besitzt die bisher von allem Heiligen, von jedem Tempelbezirk abgeschlossene Kaste eine selbsteigene Gottheit, in welcher das Höchste, dem Niedrigsten einge-
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impft, ein furchtbares Drittes darstellt, das jedoch zu Vermittlung und Ausgleichung beseligend einwirkt. Wundern darf es uns nicht, daß in unsern so manchem Widerstreit hingegebenen Tagen auch milde Stimmen sich hie und da hervortun, welche, genau betrachtet, auf ein Höheres hinweisen, von wo ganz allein befriedigende Versöhnung zu hoffen ist.
Die 'vierzig Jahre', von denen der Dichter zu Eckermann spricht, mögen als runde Zahl gemeint sein. Doch treffen sie genau auf den Zeitpunkt, zu dem ihm der Stoff zum ersten Male entgegentrat. 1783 fand er ihn in der neuerschienenen Übersetzung von Sonnerats 'Reise nach Ostindien und China' ( 1 7 7 4 - 1 7 8 1 ) , in der ihm auch der Stoff der Ballade 'Der Gott und die Bajadere' zu Gesichte kam (o. 4 7 ) . Die Parialegende war freilich schon in dem älteren und seinerzeit vielgelesenen Reisewerke des holländischen Arztes O. Dapper 6 enthalten, das Goethe in Wetzlar las und im zwölften Buche von 'Dichtung und Wahrheit' erwähnt. Aber sie weicht dort von der Fassung bei Sonnerat so weit ab, daß nur diese Goethes Vorlage gewesen sein kann6. In Sonnerats Werk heißt es S. 205/6: Mariatale war die Frau des Büßers Schamadagini und die M u t t e r des Parassurama. Diese Göttin beherrschte die Elemente,- aber sie konnte diese Herrschaft nur so lange behalten, als ihr Herz rein bleiben würde. Einst, da sie aus einem Teiche W a s s e r schöpfte und ihrer Gewohnheit nach eine Kugel daraus gestaltete, um es nach Hause zu tragen, sah sie auf der Oberfläche des Wassers die Gestalten einiger Granduers
[halbgöttlicher
W e s e n ] , die über ihrem Haupte in der Luft umher flogen. Mariatale ward durch die Reize derselben bezaubert, und die Lustbegierde schlich sich in ihr H e r z : das schon zusammengerollte Wasser löste sich plötzlich wieder auf und vermengte sich mit dem übrigen im Teiche. Von dieser Zeit an konnte sie niemals mehr ohne Geschirr W a s s e r nadi Hause bringen. Dieser Umstand entdeckte dem Schamadagini, daß sein W e i b nicht mehr reinen Herzens sei; und im ersten Ausbruch seiner W u t befahl er seinem Sohn, sie an die Todesstätte zu schleppen und ihr den Kopf vom Rumpf zu hauen. D e r Sohn verrichtete den Befehl; aber Parassurama ward über den T o d seiner M u t t e r so betrübt, daß ihm Schamadagini befahl, ihren Körper zu sich zu nehmen, den abgehauenen
Kopf
wieder darauf zu setzen und ihr ein Gebet ins O h r zu sagen, das er ihn lehrte, nach welchem sie sogleich wieder zum Leben kommen würde. D e r Sohn lief eilends dahin,aber durch ein unglückliches Versehen setzte er den Kopf seiner M u t t e r auf den Rumpf einer Parischi [Pariafrau], die soeben wegen ihren Schandtaten war hingerichtet worden. Diese abenteuerliche Vermischung machte, daß das neu auflebende W e i b die Tugenden einer Göttin und zugleich die Laster einer Übeltäterin besaß. Die Göttin, welche dadurch unrein geworden, ward nun aus dem Hause verjagt und beging alle Arten von Grausamkeiten. A b e r die Dewerkels [Gottheiten], wie sie den Greuel der durch sie angerichteten Verwüstung sahen, stillten ihren Zorn wieder, indem sie ihr die Macht erteilten, die Kinderpocken zu heilen, und ihr versprachen, man würde sie in dieser Krankheit um ihren Schutz anrufen. Mariatale ist die große Göttin der Parias, welche sie sogar über Gott selbst erheben,- und die meisten aus diesem verachteten Stamme widmen sidi zum Dienst derselben.
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Wenn dies dunkle Grauen, dies Bild der Verworfenheit und des Elends Goethes gestaltenden Sinn ergreifen konnte und vierzig Jahre nicht ruhen ließ, so muß in ihm eine einzigartige Möglichkeit dichterischer Aussage beschlossen sein, nach der zu forschen der Mühe wert ist. Denn ein Wunder der Wiedergeburt darf es heißen, das aus dieser Nacht das Himmelslicht der Goethesdien Verse hat hervorgehen lassen. Paria Des Paria Qebet Großer Brahma, Herr der Mädite! Alles ist von deinem Samen, Und so bist du der Gerechte! Hast du denn allein die Brahmen, N u r die Rajahs und die Reidien, Hast du sie allein geschaffen? Oder bist auch du's, der Affen Werden ließ und unseresgleidien? Edel sind wir nicht zu nennen: Denn das Schlechte, das gehört uns, Und was andre tödlich kennen, Das alleine, das vermehrt uns.
Wasser holen geht die reine, Schöne Frau des hohen Brahmen, Des verehrten, fehlerlosen, Ernstester Gerechtigkeit. Täglich von dem heiligen Flusse Holt sie köstlichstes Erquicken; — Aber wo ist Krug und Eimer? Sie bedarf derselben nicht. Seligem Herzen, frommen Händen Ballt sich die bewegte Welle Herrlich zu krystallner Kugel; Diese trägt sie, frohen Busens, Reiner Sitte, holden Wandeins, Vor den Gatten in das Haus. Heute kommt die Morgendliche Im Gebet zu Ganges' Fluten, Beugt sich zu der klaren Fläche Plötzlich überraschend spiegelt, Aus des höchsten Himmels Breiten
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Mag dies für die Menschen gelten, Mögen sie uns doch verachten,Aber du, du sollst uns achten, Denn du könntest alle schelten. Also, Herr, nach diesem Flehen, Segne mich zu deinem Kinde; Oder Eines laß entstehen, Das auch mich mit dir verbinde! Denn du hast den Bajaderen Eine Göttin selbst erhoben,Audi wir andern, dich zu loben, Wollen solch ein Wunder hören.
Ober ihr vorübereilend, Allerlieblichste Gestalt Hehren Jünglings, den des Gottes Uranfänglich schönes Denken Aus dem ew'gen Busen schuf; Solchen schauend, fühlt ergriffen Von verwirrenden Gefühlen Sie das innere tiefste Leben, Will verharren in dem Ansdhaun, Weist es weg, da kehrt es wieder, Und verworren strebt sie flutwärts, Mit unsichrer Hand zu schöpfen,Aber ach! sie schöpft nicht mehr! Denn des Wassers heilige Welle Scheint zu fliehn, sich zu entfernen, Sie erblickt nur hohler Wirbel Grause Tiefen unter sich. Arme sinken, Tritte straucheln, Ist's denn auch der Pfad nach Hause?
Soll sie zaudern? soll sie fliehen? Will sie denken, wo Gedanke, Rat und Hülfe gleich versagt? — Und so tritt sie vor den Gatten: Er erblickt sie, Blick ist Urteil, Hohen Sinns ergreift das Sdiwert er, Schleppt sie zu dem Totenhügel, W o Verbrecher büßend bluten. Wüßte sie zu widerstreben? Wüßte sie sich zu entsdiuld'gen, Schuldig, keiner Sdiuld bewußt? Und er kehrt mit blutigem Sdiwerte Sinnend zu der stillen Wohnung; Da entgegnet ihm der Sohn: „Wessen Blut ist's? Vater! Vater!" Der Verbrecherin! - „Mit niditen! Denn es starret nicht am Sdiwerte, Wie verbrecherische Tropfen; Fließt wie aus der Wunde frisch. Mutter, Mutter! tritt heraus her! Ungerecht war nie der Vater! Sage, was er jetzt verübt." Schweige! Schweige! 's ist das ihre! „Wessen ist es ?" - Schweige! Schweige ! „Wäre meiner Mutter Blut!!! Was geschehen? was verschuldet? Her das Schwert! ergriffen hab' idi's; Deine Gattin magst du töten, Aber meine Mutter nicht! In die Flammen folgt die Gattin Ihrem einzig Angetrauten, Seiner einzig teuren Mutter In das Schwert der treue Sohn." „Halt, o halte!" rief der Vater, „Noch ist Raum, enteil', enteile! Füge Haupt dem Rumpfe wieder,D u berührest mit dem Schwerte, Und lebendig folgt sie dir." Eilend, atemlos erblickt er Staunend zweier Frauen Körper überkreuzt und so die Häupter; Welch Entsetzen! welche Wahl! Dann der Mutter Haupt erfaßt er,
Küßt es nicht, das tot erblaßte, Auf des nächsten Rumpfes Lücke Setzt er's eilig, mit dem Schwerte Segnet er das fromme Werk. Aufersteht ein Riesenbildnis. Von der Mutter teuren Lippen, Göttlich unverändert süßen, Tönt das grausenvolle W o r t : „Sohn, o Sohn! welch übereilen! Deiner Mutter Leichnam dorten, Neben ihm das freche Haupt Der Verbrecherin, des Opfers Waltender Gerechtigkeit! Mich nun hast du ihrem Körper Eingeimpft auf ewige Tage; Weisen Wollens, wilden Handelns Werd' ich unter Göttern sein. Ja, des Himmelsknaben Bildnis Webt so schön vor Stirn und Auge; Senkt sidi's in das Herz herunter, Regt es tolle Wutbegier. „Immer wird es wiederkehren, Immer steigen, immer sinken, Sich verdüstern, sich verklären, So hat Brahma dies gewollt. Er gebot ja buntem Fittich, Klarem Antlitz, schlanken Gliedern, Göttlich einzigem Erscheinen, Mich zu prüfen, zu verführen. Denn von oben kommt Verführung, Wenn's den Göttern so beliebt. Und so soll ich, die Brahmane, Mit dem Haupt im Himmel weilend, Fühlen, Paria, dieser Erde Niederziehende Gewalt. „Sohn, ich sende dich dem Vater! Tröste! - Nicht ein traurig Büßen, Stumpfes Harren, stolz Verdienen Halt' euch in der Wildnis fest; Wandert aus durch alle Welten, Wandelt hin durch alle Zeiten Und verkündet auch Geringstem: Daß ihn Brahma droben hört!
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„Ihm ist keiner der Geringste -
„Heb' ich mich zu seinem Throne,
W e r sich mit gelähmten Gliedern,
Schaut er mich, die Grausenhafte,
Sich mit wild zerstörtem Geiste,
Die er gräßlich umgesdiaffen,
Düster ohne Hilf' und Rettung,
M u ß er ewig midi bejammern,
Sei er Brahma, sei er Paria,
Euch zu Gute komme das.
Mit dem Blick nach oben kehrt,
Und ich werd' ihn freundlich mahnen,
Wird's empfinden, wird's erfahren:
Und ich werd' ihm wütend sagen,
Dort erglühen tausend Augen,
W i e es mir der Sinn gebietet,
Ruhend lauschen tausend Ohren,
W i e es mir im Busen schwellet.
Denen nichts verborgen bleibt.
W a s idi denke, was ich fühle Ein Geheimnis bleibe das."
Dank
Paria
Großer Brahma! Nun erkenn' idi,
Uns, die tief herabgesetzten,
Daß du Schöpfer bist der Welten.
Alle hast du neu geboren.
Didi als meinen Herrscher nenn' idi, Denn du lassest alle gelten,
Wendet eudi zu dieser Frauen,
Und verschließest auch dem Letzten
Nun beharr' idi, anzuschauen
Keines von den tausend Ohren,-
Den, der einzig wirkt und handelt.
Die der Schmerz zur Göttin wandelt!
Das Gedicht zeigt alle Eigenheiten des lyrischen Spätstils. Zunächst die Verknappung des Ausdrucks, vielfach bis zum äußersten gehend — 'Der Winter und Timur' und, im gleichen Versmaß wie der 'Paria', die 'Siebenschläfer' im Divan sind vergleichbar. Dahin gehört der Verzicht auf den Artikel: 'seligem Herzen, frommen Händen', 'allerlieblichste Gestalt hehren Jünglings', 'Arme sinken, Tritte straucheln', 'Blick ist Urteil', 'füge Haupt dem Rumpfe wieder' (wo auch die Präposition weggelassen ist), 'er gebot ja buntem Fittich, klarem Antlitz, schlanken Gliedern'; der Verzicht auf äußere Kennzeichnung von Antithesen: 'weisen Wollens, wilden Handelns', 'und ich werd' ihn freundlich mahnen, und ich werd 1 ihm wütend sagen, wie es mir der Sinn gebietet, wie es mir im Busen wallet'; der Verzicht auf Hilfszeitwort und Zeitwort: 'was geschehen? was verschuldet?', 'deiner Mutter Leichnam dorten, neben ihm das freche Haupt der Verbrecherin'; die Anreihung von Eigenschaftsworten, deren letztes allein gebeugt wird: 'uranfänglich schönes Denken', 'von der Mutter teuren Lippen, göttlich unverändert süßen', 'göttlich einzigem Erscheinen'; die Bevorzugung des beschreibenden Genitivs: 'ernstester Gerechtigkeit', 'frohen Busens, reiner Sitte, holden Wandeins'; die Verselbständigung von Eigenschaftsworten: 'die Morgendliche', 'die Grausenhafte', 'uns, die tief herabgesetzten'. Anderseits wird die leidenschaftliche Bewegung der Rede, zumal in dem 'Gebet' und in der Zwiesprache von Vater und Sohn, durch
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eindringliche Wiederholungen verstärkt: 'hast du denn allein die Brahmen, nur die Rajahs und die Reichen, hast du sie allein geschaffen?', 'das Schlechte, das gehört uns', 'das alleine, das vermehrt uns', 'aber du, du sollst uns achten', 'wird's empfinden, wird's erfahren'. Endlich, wie im Divan, die dichterische Erhöhung 'unpoetischer' Wendungen: 'auch wir andern, dich zu loben, wollen solch ein Wunder hören' ('wir andern' ist Romanismus : noi altri, nous autres), 'denn du lässest alle gelten'. Nebenmotive herauszulösen und ihre geschichtliche Herkunft anzugeben ist hier, wie sonst bei Goethe, wenig fruchtbar. 'Des Gottes uranfänglich schönes Denken' — das ist platonisch; die 'tausend Augen' und 'tausend Ohren' weisen in die antike Mythologie — dem Verständnis des Gedichtes helfen dergleichen Feststellungen deswegen nicht weiter, weil sie vom Ganzen, das als Ganzes betrachtet sein will, wegführen. Näher bleibt der Gestaltungsabsicht des Dichters, wer die bildhaften Vorgänge und Geschehnisse ins Auge faßt, die im Gedicht hervortreten. Die Parialegende als Ganzes gehört zu den 'werten Bildern', die der Aufsatz 'Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort' (o. 28) namentlich nennt. In ihr war ein einzelner Zug, der den Dichter nicht los ließ : die Kraft der Brahmanin, das geschöpfte Wasser zur Kugel sich ballen zu lassen, die der unschuldig schuldig Gewordenen abhanden kommt—das Sinnbild der Unschuld und ihres Verlustes. Lange Jahre vor der Vollendung des Paria heißt es im Tagebuch 7 : „Der Hauptfehler in dem Motiv der Jungfrau von Orléans, wo sie von Lionel ihr Herz getroffen fühlt, ist, daß sie sich dessen bewußt ist, und ihr Vergehen ihr nicht aus einem Mißlingen oder sonst entgegenkommt (Wie z. E. dem Weibe in dem indianischen Märchen, in deren Hand sich das Wasser nicht mehr ballt)." Und im Divan wird die gleiche Kraft dem rein anschauenden Gemüt des Dichters verheißen (o. 79).
* Was hat Goethe dazu vermocht, die indische Legende in sich aufzunehmen? Zur Antwort hilft die weitere Frage: an welchen Punkten ist er von seiner Vorlage, die uns bekannt ist, abgewichen, wo hat er sie um- und ausgestaltet? Dort wird seine eigene und eigentliche dichterische Absicht am ehesten faßbar werden. Das schließt die Folgerung ein, mit deren Anerkennung der hier vorgelegte Auslegungsversuch von früheren mehrfach abweicht 8 : daß in den Zügen, die dem Dichter der Stoff darbot, und die er unverändert übernahm, nicht eine tiefere Bedeutung gesucht werden darf. Wohl ist es wesentlich, daß das Schuldigwerden der Brahmanin als eine 10 S c h a e d e r , Goethe
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im Wissen und Willen der Gottheit beschlossene Verführung erscheint — 'denn von oben kommt Verführung, wenn's den Göttern so beliebt' —, wiewohl hier keineswegs der Schwerpunkt der Dichtung liegt. Anderseits bedarf es keiner Erklärung dafür, daß der Dichter die Vollziehung des Gerichts durch den Sohn mied und sie auf den Vater übertrug. Dagegen führt es nicht weiter, wenn man über die Betrachtung des Ereignisablaufs hinaus nach dem Sinn des Zustandekommens der Wiederbelebung, vor allem der unseligen Verwechslung fragt, die der Sohn in angstvoller Übereilung begeht. Erst damit, daß das 'Riesenbildnis' sich erhebt, ist der Zielpunkt des Gedichtes erreicht. In ihm ist die Einheit des Gedichtes beschlossen, von ihm her will es verstanden sein. Verfehlt man ihn, rückt man statt seiner den einen oder andern Einzelzug in den Vordergrund, um von ihm aus das Verständnis des Ganzen anzubahnen, so endet man in der Auflösung des Gedichtes in eine zusammenhanglose Folge von Allegorien. Neu ist bei Goethe vor allem die Umrahmung der 'Legende' mit den beiden Gebeten des Paria, die Fassung des Gedichtes als Trilogie, die von Anfang an geplant war 9 und sich nicht erst später ergab wie der zyklische Charakter des Divans und der 'Trilogie der Leidenschaft'. Der Vergleich mit der aus verwandtem Stoff geformten, aus der gleichen Quelle geschöpften Ballade von 1797 'Der Gott und die Bajadere' verdeutlicht den Sinn der Einrahmung. Sie gibt dem Geschehen der Legende Eigenraum und eigene Atmosphäre; anstatt in seiner Fremdheit unmittelbar und hart vor das abendländische Bewußtsein gerückt zu werden, wird es in seiner eigenen Welt belassen. Ausgelöst wird es durch das Gebet des Paria, des Verworfenen, der versichert sein will, daß ihn die Gottheit dennoch annimmt, und zum Zeichen dessen selber die Gotteskindschaft oder die Einsetzung eines Mittlers begehrt — „oder Eines laß entstehen, das auch mich mit dir verbinde!" Sein Gebet wird erhört, das Wunder der Entstehung eines Geschöpfes, das den Verworfenen mit der Gottheit verbindet, vollzieht sich, indem die Brahmanin 'gräßlich umgeschaffen' wird. Das vollzogene wird dem Beter offenbart, so wird das Bewußtsein hoffnungsloser Verworfenheit von ihm genommen. Im Anblick der Frau, „die der Schmerz zur Göttin wandelt", wendet er seine Anbetung — nicht ihr, sondern dem einen Höchsten zu, dem der Dank für dies Wunder geschuldet wird. W i r sehen also den Vorgang der Legende mit den Augen des Paria. In ihrem religiösen Gehalt—das wird weiterhin deutlich w e r d e n - s t e h t sie dem uns gewohnten, dem christlichen Empfinden nicht näher als 'Der Gott und die Bajadere'. Aber wer sich in sie vertieft, wird bei aller Gräßlichkeit ihres Geschehens nie den Schrecken spüren, der ihn überkommt, wenn er das 146
Wunder der Erlösung unmittelbar in dem Geschick der Dirne abgebildet sieht, die sidi durch grauenvolle Erniedrigung zur liebenden Gattin wandelt und aus freiwilligem Tode zu den Göttern entrückt wird. Die Mittelbarkeit, die dem 'Paria' zugute kommt, beruht auf dem in Goethes Alterswerk bewußt verfolgten künstlerischen Grundsatz der 'Spiegelungen', dem er später im Hinblick auf die Helena-Dichtung Ausdruck gibt 1 0 : „Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren." Von einer Farbenerscheinung, die der Dichter auch in Versen gepriesen hat — in den 1817 an die Gräfin Julie Egloffstein gerichteten, der Divanpoesie nahe verwandten Strophen 'Entoptische Farben' —, ist das Symbol der 'Wiederholten Spiegelungen' hergenommen. Es hat dem Dichter dazu geholfen, in einem Aufsatz, der diese Aufschrift trägt und aus dem Nachlaß bekanntgeworden ist, die Bewegung der Gedanken faßbar zu machen, die ihn beim Lesen der Handschrift eines jüngeren Verehrers über eine 'Wallfahrt nach Sesenheim' im Herbst 1822 bewegten. So spiegelt sich die 'Legende' in dem Gebet und dem Dank des Paria. Bis zur Entstehung der Zwittergöttin folgt der Dichter, der nur den Vollzug des Gerichts mildert, dem Gang der überlieferten Erzählung. Alles was folgt, ist neu: die Deutung ihres Wesens, die sie verkündet, der Missionsauftrag, den sie dem Sohn und durch ihn dem Gatten mitteilt. Demnach lag in ihrer Gestalt, wie sie von Brahma umgeschaffen ist, das Fruchtbare, das den Dichter anzog und festhielt. Es geht ihm also nicht um Charaktere — der Brahmanin, des Gatten, des Sohnes - und um ihre Entwicklung, sondern um diese eine, aus dem Menschlichen hinausragende und sich der Gottheit entgegenhebende Gestalt, um das, was sie als 'lebendigaugenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen' 11 besagt. Die Ursache ihres Erstehens ist letztlich die Verführung, der sie erlag, ohne davon zu wissen, „schuldig, keiner Schuld bewußt". Verführung — das ist der Dämon, der vor anderen Lebensaltern die Jugend bedroht. Goethe hat in jungen Jahren seine Macht wieder und wieder erfahren, indem er Verführung erlitt und erleiden ließ, mit seiner Kraft, die Menschen zu bezaubern, — man meint die Stimme beben zu hören, die dies W o r t ausspricht. Zwar heißt es: „von oben kommt Verführung, wenn's den Göttern so beliebt" — auch sie ist im göttlichen Weltplan enthalten, nicht als ein grausam sinnloses Spiel, das die Gottheit mit den 'leicht Verführbaren' triebe, sondern als Prüfung. Aber eben darum bleibt die Schuld, 10*
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in die sie verstrickt, an dem haften, der ihr nachgab, und wird ihm von niemandem abgenommen. 'Schuldig, keiner Schuld bewußt' — auf der Reise von Frankfurt nach Heidelberg, nach dem Bruch mit der Verlobten, hieß es 1 2 : „Bin ich denn nur in der Welt, mich in ewiger unschuldiger Schuld zu winden?" Der Schmerz wandelt die Wiedererstandene zur Göttin — wessen Schmerz? Namenloses Leiden ist allen gemeinsam: dem aus seiner Verworfenheit flehend emporverlangenden Paria, dem Brahmanen, der die Gattin richtet, um alsbald gleich dem Sohn erkennen zu müssen, daß sein Gericht eine Unschuldige traf - das bezeugt das frisch wie aus der Wunde vom Schwert fließende Blut, ein Zug, um den der Dichter die Legende bereichert hat —, dem Sohn, der die Mutter ins Leben zurückzurufen hoffte und sie nun vollends verliert, der Brahmanin, auf deren Leiden noch das der Ihren gehäuft wird. Es ist der Schmerz aller Kreatur, dem sich das Mitleid der Gottheit entgegenstreckt, ewig sich erneuernd im Anblick der Umgeschaffenen. Niederstes und Höchstes ist in der neu erstandenen Göttin zusammengebunden, nicht zur Einheit, sondern zu ewig fortdauerndem Widerstreit. Denn es ist ihr nicht beschieden, in göttliche Ruhe und Seligkeit entrückt zu werden. Sie muß ein lebendiges Wesen bleiben und weiterhin nach dem Willen des Höchsten Verführung erleiden. Das Bild der himmlischen Gestalt, in deren Anblick die Brahmanin unschuldig schuldig ward, haftet im Sinn der Göttin: vor ihrem Auge, das der reinen Brahmanin eigen war, als leidenschaftslos geschaute Schönheit, im Herzen, das der Verbrecherin gehörte, toll wütende Begierde entzündend. In diesem unaufhebbaren Widerstreit ihres Innern wird sie vor den Höchsten hintreten, bald freundlich mahnend, bald mit dem Schrei der W u t — wiederum seiner Gnade bedürftig und seines Mitleids gewiß. Das ist ihr fortreichendes Geheimnis, das sie nur dem Sohne kundtut; den Menschen soll er es nicht aufdecken, ihnen soll er nur die Zuversicht der ihnen allen offenen Gnade des Höchsten verkünden, die sich in der Erschaffung der Göttin sichtbar bezeugt hat. Dies ist der Sinn ihrer Schlußworte: „Was ich denke, was ich fühle — ein Geheimnis bleibe das." Wieweit in ihr und in der Legende überhaupt eine allgemeine 'Idee' zutage tritt, dieser Frage gehen wir aus dem Wege. Die Aussage, die Göttin sei das typische Bildnis des Menschen schlechthin, in seiner Gespaltenheit zwischen Geist und niederer Natur oder, in anderer Blickrichtung, in der widersprüchlichen Einheit von Göttlichem und Irdisch-Allzuirdischem, löst die Gestalt auf und macht Mythologie aus der Dichtung. So gewiß wie 148
Faust der Deutungen spottet, die in ihm Moses oder Paracelsus, Herder oder Goethe oder gar den 'Menschen' schlechthin finden wollen, wie er durchaus nur Faust ist, so ist die Göttin der Parialegende durchaus nur sie selber. Nur die Auslegung, die ihre anschauliche Gestalt, ihre individuelle Wirklichkeit unangetastet läßt, tut ihr Genüge. Wohl aber geht es an, nach dem Symbolbereich zu fragen, dem sie zugehört. W i e im Divan und im Faust religiöser Sinn in christlichen, parsischen, islamischen Symbolen leibhaft wird, so geschieht es auch im 'Paria'. Der Vergleich der Dichtung mit ihrer Vorlage zeigt nun, daß gerade die Züge, die das Individuelle der göttlichen Gestalt in ihrem Mittelpunkt ausmachen, in dem überlieferten Stoff noch nicht enthalten waren: der göttlich-irdische Widerspruch in ihrem Innern, die Unschuld ihrer Schuld, das Fortdauern der Verführung, auch nachdem sie zur Göttin gewandelt ist. In der indischen Legende wird sie in die Überwelt der Gottheiten erhoben und als eine unter ihnen von den Parias verehrt, denen vor ihrer Umwandlung die eine Hälfte ihrer irdischen Natur zugehörte. Der deutsche Dichter läßt in ihrer vergöttlichten Gestalt den göttlich-irdischen Zwiespalt und damit ihr Leiden sich noch vertiefen. Zwar heißt sie Göttin, aber der Paria, dessen Gebet mit ihrer Erscheinung erfüllt wird, gibt sich nicht ihrer Verehrung hin, sondern läßt — dieser bedeutsame Zug ist der Vorlage fremd — von ihr seinen Sinn auf den Höchsten hinlenken. Ihr Wesen ist es, das Göttliche nicht sowohl mit dem Irdischen als — und hier sei das W o r t ausgesprochen — mit dem Widergöttlichen in ewigem Kampf verstrickt zu zeigen. Die gottzugewandte Reinheit der Brahmanin, der gottlose Frevelsinn der Pariafrau: beides ist in ihr vereint und ins übermenschliche gesteigert. In ihr ringt das Göttliche mit einem Widersacher, der gleichfalls in den Bereich des Göttlichen erhoben ist. Sie ist die Bildwerdung des Wortes, das Goethe vor den vierten Teil von 'Dichtung und Wahrheit' schrieb: Nemo contra deum nisi deus ipse.
* W i e 'Der Gott und die Bajadere', so weist der 'Paria' auf die Ideen des Leidens und der Erlösung vom Leiden hin. Damit scheint er in die Nähe des christlichen Erlösungsgedankens zu treten. Die Zwittergöttin vollends, die berufen wird, die Verworfenen mit der Gottheit zu verbinden, läßt an die christliche Mittlergestalt denken. Eben weil diese Beziehung naheliegt und meistens angenommen wird, müssen die ihr schneidend widersprechenden Züge des Gedichtes, die aber nicht der indischen Erzählung entnommen sind, hervorgekehrt werden. 149
Die christliche Idee des Erlösers zielt auf den Gottmenschen, der, ganz ewiger Gott und ganz sündloser Mensch, in seinem unschuldigen Leiden und Sterben die mit dem ersten Menschen in die Welt gekommene Sündenlast auf sich genommen hat und denen das ewige Leben verheißt, die an seinen Vater im Himmel und an ihn selber als den Herrn glauben. Zu dieser Idee gibt es keinen entschiedeneren Gegensatz als die Gestalt der Zwittergöttin, die, mit dem Wissen des Höchsten der Verführung anheimgegeben, in sich Göttliches mit Widergöttlichem paart, den inneren Widerstreit ewig in sich trägt und die Menschen so wenig zu erlösen vermag, wie sie selber erlöst wird. Es heißt das gewaltige Gedicht allegorisch verharmlosen, wenn man ihm eine christliche Deutung unterschiebt. Wohl sind verwandte Vorstellungen, Sinnbilder, die den göttlich-widergöttlichen Zwiespalt im Menschen in einer übermenschlichen Gestalt symbolisieren, dem christlichen Denken bekannt. Aber die Kirche hat sie, wo immer sie auftauchten, als die Verkehrung des christlichen Gedankens bekämpft und ausgeschieden. In ihrer Abwehr hat die alte Kirche die Reinheit der christlichen Verkündigung und sich selber gerettet. Es sind die Sinnbilder der christlichen Gnosis — mit der gnostischen Symbolisierung des Menschen muß die Pariagöttin zusammengehalten werden. Die christliche Gnosis ist eine vom Orient ausgehende geistige Bewegung vorzüglich des zweiten und dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Im Zusammentreffen der christlichen Verkündigung und der hellenistischen Bildung hat sie mit Hilfe von allegorisch gedeuteter orientalischer Mythologie in großer Anzahl phantastische Begriffsdichtungen hervorgebracht, die den Sinn der Welt und des Menschen allseitig erschöpfend zu deuten und zugleich den tieferen inneren Sinn der christlichen Botschaft aufzudecken behaupten. Ihre Lehrdarstellung erfolgt im Entwurf eines mythologischen Bildes von der Entstehung der Gottheit, der Welt und des Kosmos, aus dem die Gewißheit der Erlösung des Menschen so unmittelbar abzulesen ist wie die Vorschrift des heilsnotwendigen sittlichen Verhaltens. Die Mehrzahl der gnostischen Systeme ist nur aus den Berichten ihrer kirchlichen Widersacher, darum ungenau und unzuverlässig, bekannt. Das am reichsten und folgerichtigsten ausgebildete, deshalb erfolgreichste unter ihnen, die im dritten Jahrhundert gestiftete Lehre des Mani, von deren Eigenüberlieferung Beträchtliches erhalten ist, gewährt ein volles Verständnis der gnostischen Symbolbildung 13 . Das schwerste Anliegen des Gottesglaubens ist die Bewältigung des Widergöttlichen, des Bösen, das sich in der Welt als Leiden, im Menschen 150
als Sünde darstellt. Der christliche Glaube beantwortet diese Frage, indem er sie in der Gewißheit der göttlichen Weisheit und Gnade aufhebt, die Gnosis, indem sie die Widergottheit als feindselige, wenn auch in ihrem Vernichtungswillen begrenzte Macht der Gottheit gegenüberstellt. Jenes ist die irrational-gläubige, dies die spekulativ-dualistisdie Lösung. Bei Goethe tritt, von den religiösen Jugenderlebnissen bestärkt, früh ein starkes Bewußtsein von dem Widergöttlichen in der Welt und im Menschen zum Vorschein. Aber die Richtung seines Wirklichkeitssinnes, sein nie gestillter Lebens- und Erkenntniswille läßt ihn weder bei der christlichen Lösung ausruhen noch gar die gnostisch-dualistische Antwort für annehmbar halten. Gut und Böse, Reinheit und Sünde sieht er im Menschen wohl miteinander ringen, aber miteinander unlösbar verflochten, in der übergreifenden Einheit des Lebens verbunden. Dem sittlichen Menschen treten sie als kämpfende Mächte auseinander, die um seine Seele streiten - der Dichter hat die Gestalt, die Ganzheit des Menschen vor Augen und kann nicht scheiden. Goethe ist Dichter: darin ist zutiefst die Unvereinbarkeit seiner Sehweise mit irgendeiner dogmatisch festgelegten Form des christlichen Glaubens begründet, darin die Auflehnung wider Kants Annahme eines radikal Bösen, dem er ein radikal Gutes entgegenstellt14: „Wenn gewisse Erscheinungen an der menschlichen Natur, betrachtet von Seiten der Sittlichkeit, uns nötigen, ihr eine Art von radikalem Bösen, eine Erbsünde, zuzuschreiben, so fordern andere Manifestationen derselben, ihr gleichfalls eine Erbtugend, eine angeborne Güte, Rechtlichkeit und besonders eine Neigung zur Ehrfurcht zuzugestehen. Diesen Quellpunkt, wenn er, im Menschen kultiviert, zur Tätigkeit, ins Leben, zur Öffentlichkeit gelangt, nennen wir Pietät wie die Alten." Obwohl Goethes Weltansicht mit der gnostisch-dualistischen unvereinbar war und blieb, hat doch das Dichterische in der Gnosis, das darstellend-deutende Sinnbilder des Weltganzen und des menschlichen Wesens erschafft, in ihm einen verwandten Formtrieb berührt. Daraus ist das seltsame Bild vom Werden der Gottheit und des Menschen hervorgegangen, das am Schlüsse des achten Buches von 'Dichtung und Wahrheit' steht. So wie es dort erscheint, ist es also im Laufe des Jahres 1812 aufgezeichnet. Wieviel davon schon in der vorstraßburgischen Frankfurter Zeit vorhanden war, in die der Dichter es setzt, läßt sich nicht sagen. In der mitgeteilten Form trägt es die unbezweifelbaren Züge der gereiften Naturanschauung des Dichters (o. 33). Eine Tagebuchaufzeichnung von 1808 heißt 15 : „ ü b e r Metamorphose und deren Sinn; Systole und Diastole des Weltgeistes; aus jener geht die Spezifikation hervor, aus dieser das 151
Fortgehn ins Unendliche." Diese Worte, die den Inbegriff von Goethes Naturerforschung aussprechen, fassen zugleich den Sinn jenes Mythos vom Werden der Gottheit und der Welt zusammen. Was sie 'Spezifikation' und 'Fortgehn ins Unendliche' nennen, heißt dort 'Konzentration' und 'Expansion'. An den Hinweis auf die starke Wirkung, die der Dichter von Gottfried Arnolds 'Kirchen- und Ketzergeschichte' erfuhr, schließt sich eine zur Darstellung des Mythos fortleitende Bemerkung über ihre Herkunft: „Der neue Piatonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah." Als neuplatonisch kann wohl nur die allgemeine Form des metaphysischen Denkens gelten, die den Mythos bestimmt, nicht seine inhaltliche Ausführung. Was die hermetisch-mystischen-kabbalistischen Beiträge angeht, so hat selbst ein so kenntnisreicher und sorgsamer Ausleger wie Gustav von Loeper, der in erster Linie das von Goethe gelesene Opus mago-cabbalisticum et theosophicum des Herrn Georgii von Welling (1735 und 1769) heranzieht, keine tieferen Beziehungen ermitteln können 16 . Aber der Zusammenhang zwischen der in dem Mythos enthaltenen Deutung des Menschen und dem 'Paria' entging ihm nicht. Der Mythos muß als wesentlich freie Schöpfung Goethes gelten. Nach Form und Inhalt aber ist er ein getreues Abbild der dem Dichter durch Gottfried Arnolds Werk bekanntgewordenen Weltentstehungsmythen der christlichen Gnosis 17 . Gleich ihnen — das ist der entscheidende gemeinsame Zug, der zugleich vom Neuplatonismus wegführt — bezieht der Dichter in das Weltwerden die christlichen Symbole und Heilstatsachen ein. Das geschieht auf echt gnostische Weise so, daß sie durch den Zusammenhang, in den sie treten, die Deutung ihres tieferen Sinnes finden: so gleich eingangs die Trinität, dann der Abfall der Engel, die Erschaffung der materiellen Welt und des ersten Menschen, die Sendung Christi. Wie bei Mani Entstehung und Fortgang der Welt im ständigen Auf und Ab des Verlustes und der Wiedergewinnung des göttlichen Lichtes vor sich geht, so wechseln hier 'Expansion' und 'Konzentration' im Gegeneinanderwirken der Gottheit und ihres Widerparts Lucifer, das sich dann im Menschen, der göttliches und luciferisches Wesen vereinigt, als Wechsel von 'Entselbstung' und 'Verselbstung' fortsetzt. Der Mensch ist geschaffen, „um die ursprüngliche Verbindung [des Kosmos] mit der Gottheit wiederherzustellen". Indem er „in allem der Gottheit ähnlich, ja gleich ist", zugleich aber den Abfall Lucifers teilt, ist er „zugleich das voll152
kommenste und unvollkommenste, das glücklichste und unglücklichste Geschöpf". Das ist im Geiste der Gnosis gesprochen und umschreibt zugleich den Sinn der Pariagöttin. Gleichviel ob der Mythos schon dem jungen Goethe zuzuschreiben ist — jedenfalls war er in dem Dichter zu der Zeit lebendig, da die Pariadichtung der Vollendung zuging. Weltwerdung in mythologischer Gestalt hat seinen Formtrieb oft in Bewegung gesetzt, zuerst wohl in der urwüchsig machtvollen Predigt, die 'Satyros oder der vergötterte Waldteufel' an sein Volk richtet (1773). Das gleichzeitige Drehorgellied des Schattenspielmanns im 'Jahrmarktsfest zu Plundersweilern' hält sich an die biblische Schöpfungsgeschichte (o. 38). Schellings Geist atmen die herrlichen Strophen, die unter der Schellingschen Aufschrift 'Weltseele' stehen (um 1800). Im Divan steht neben dem großen mythischen Bilde des 'Wiederfinden' die derb gezeichnete Erschaffung Adams in 'Erschaffen und Beleben' (o. 136). Die vulkanistische Erdentstehungslehre, die Goethe zuwider war, wird in der burlesken Schilderung verspottet, die Mephistopheles zu Anfang des vierten Aktes von Faust II vorträgt. Wenn auch der Weltentstehungsmythos in 'Dichtung und Wahrheit' das dualistische Moment abschwächt, das die Gnosis grell hervorhebt, so bleibt es doch deutlich genug. W i e stark Goethe es in jüngeren Jahren im eigenen Leben wirksam finden und aussprechen konnte, das zeigt der bekannte Brief an Lavater: „In mir reinigt sich's unendlich, und doch gesteh ich gerne Gott und Satan, Holl und Himmel, die du so schön bezeichnest, in mir Einem." 1 8 Zwei Jahre, nachdem er dies geschrieben hatte, wurde ihm die Pariaerzählung bekannt und nahm in ihm Wohnung für vierzig Jahre.
* Nemo contra deum nisi deus ipse — das ist der Sinn, den er in der Pariagöttin enthalten fand. Ihn sichtbar zu machen, schuf er sein Gedicht. Das geheimnisvolle Wort führt in einen weiteren Zusammenhang, der noch aufgewiesen werden muß. Goethe nannte es „ein herrliches Dictum von unendlicher Anwendung. Gott begegnet sich immer selbst. Gott im Menschen sich selbst wieder im Menschen. Daher keiner Ursache hat, sich gegen den Größten gering zu achten" 18 . Von Napoleon sagte er: „Daß diese Kraft sich selber einschränken soll, ist absurd! Ein Gott kann nur wieder durch einen Gott balanciert werden." 2 0 Das führt an den Sinn heran, den der Dichter dem W o r t in einem Stück des vierten Teils von 'Dichtung und Wahrheit' beilegt, das zur Zeit des 153
vorläufigen Abschlusses (1814) bereits niedergeschrieben war. Dort, im zwanzigsten Buche, faßt jener Spruch die Betrachtung über das Dämonische zusammen, das am 'Egmont' erläutert wird, an der Dichtung, die Goethe begann, als er die vorhin (o. 148) angeführten Worte von der 'ewig unschuldigen Schuld' seinem Tagebuche anvertraute 21 . Ebendort schildert er, wie er des Dämonischen ansichtig ward. Als Kind, Knabe und Jüngling hatte er den Weg von der natürlichen über die positive Religion zum 'allgemeinen', d. h. nicht mehr dogmatisch-kirchlich gebundenen Glauben durchlaufen. „Als er in den Zwischenräumen dieser Regionen hin und wieder wanderte, suchte, sich umsah, begegnete ihm manches, was zu keiner von allen gehören mochte, und er glaubte mehr und mehr einzusehen, daß es besser sei, den Gedanken von dem Ungeheuren, Unfaßlichen abzuwenden." Dies 'Ungeheure, Unfaßliche', das ihm in religiöser Betrachtung, aber an den Grenzen des noch religiös Deutbaren erschien, ist eben das Dämonische, dessen Wesen nun mit Worten von magischer Kraft beschworen wird. In ihnen heißt es: „Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig; nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand; nicht teuflidi, denn es war wohltätig; nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken." „Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch, nach dem Beispiel der Alten [nämlich nach dem griechischen Gebrauch von daimonios, etwa in der Anrede der Andromache an Hektor 22 , nicht, wie die Ausleger sagen, in dem besonderen Sinne des somatischen Daimonion] und derer, die etwas Ähnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten, indem ich mich nach meiner Gewohnheit hinter ein Bild flüchtete." Das war das Bild vom Schicksal Egmonts. Dies ermöglicht nun eine Bestimmung des Dämonischen. Was sich in religiöser Betrachtung oder, was auf dasselbe hinauskommt, in der dichterischen Gestaltung religiöser Symbole als das Widergöttliche in der Bewegung gegen das Göttliche darstellt, das stellt sich der reinmenschlichinnerweltlichen Anschauung als das Dämonische in der Bewegung gegen das Menschliche dar. Das Dämonische ist, wenn man so sagen darf, das säkularisierte Widergöttliche. Was in der religiösen Symbolik des gnostischen Weltentstehungsmythos der Mensch, in undenklicher dichterischer Steigerung über ihn hinaus die Gestalt der Pariagöttin in sich vereinigen, das Göttliche und das Widergöttliche, das stellt sich außerhalb des religiösen Bereiches als das Nebeneinander des Dämonischen und des Menschlichen dar. Dämonische Charaktere sah Goethe, wie bekannt, in Napo-
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leon, in seinem Herzog, in manchen Künstlern - nicht in Mephistopheles, der „ein viel zu negatives Wesen" ist, nicht in sich selber: „In meiner Natur liegt es nicht, aber ich bin ihm unterworfen." 23 Das alles ist nach dem Gesagten unmittelbar verständlich. Unser Versuch, der Pariadichtung einiges von dem abzumerken, was sie sagen will, ist am Ende. Aber vergessen wir nicht: jetzt, da wir von dem Gedicht Abschied nehmen, steht es wieder so groß, unnahbar, geheimnisvoll da wie zuvor, als wir uns ihm näherten. Die Verheißung des Divans hieß: Schöpft des Dichters reine Hand, Wasser wird sidi ballen.
Die Pariadichtung ist eine ihrer größten Erfüllungen. W a s Goethes Hand berührt hat, ist reine, dauernde Gestalt geworden, ewiger Besitz für sein Volk, für dich und midi. Bei einem Anlaß von geringer Bedeutung, als er den Wechsel der Gebetsrichtung rechtfertigen wollte, sprach Muhammed die Worte: „Gottes ist der Westen und der Osten; er leitet, wen er will, auf den rechten Pfad." 2 4 Des Dichters reine Hand hat aus ihnen die unsterblichen Verse geformt: Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident! Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände!
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ANMERKUNGEN
Anlaß und früherer Erscheinungsort der Aufsätze, soweit sdion veröffentlicht, sind bei den einzelnen Titeln angegeben. Die vom Verfasser benutzte Goethe-Ausgabe von Karl Heinemann (Meyers Klassiker-Ausgaben, Bibliographisches Institut, 30 Bände, o. J.) kann nicht in der Hand des Lesers vorausgesetzt werden, so wenig wie die seit langen Jahren vergriffene Jubiläumsausgabe. Eine Konkordanz der vorhandenen Ausgaben wird schmerzlich vermißt. Daher werden in diesem Buche die Werke, soweit möglich, nach Titel, Buch und Kapitel angeführt, so daß die ausgehobenen Stellen in jeder größeren Ausgabe auffindbar sind, nur ausnahmsweise nadi der Weimarer Ausgabe; die Sprüdie in Prosa — läßt sich diese schöne Titelfassung Gustav von Loepers nicht allgemein durchführen, an Stelle der 'Maximen und Reflexionen' Riemers und Eckermanns? — nach den Nummern der Ausgabe von Max Hecker (Schriften der Goethe-Gesellschaft 21, 1907). Die Anführungen aus den Briefen, Tagebüchern und Gesprächen finden sich zumeist in den vier Auswahlbänden des Insel-Verlags: Briefe und Tagebücher, 2 Bände, hrsg. von Hans Gerhard G r a f ; Gespräche mit Eckermann, hrsg. von Franz Deibel; Gespräche ohne die Gespräche mit Eckermann, hrsg. von Flodoard Freiherr von Biedermann. Der 5- Band der Jubiläumsausgabe, der den Divan mit der Einleitung und den Anmerkungen Konrad Burdachs enthält, wird zitiert als 'Burdach, Divan'; die Einleitung ist in Burdachs 'Vorspiel' 2 (1926), 333—374, mit einigen Zusätzen wiederholt. Für den Handgebrauch empfiehlt sich die mit übersichtlichen Zeittafeln ausgestattete und billige Ausgabe des Divans von Theodor Friedrich (Reclam, Leipzig 0. J.); daneben ist die in der Mitteilung von Paralipomena (aus dem 6. und 7. Bande der Weimarer Ausgabe) und Beigaben noch reichhaltigere Ausgabe von Hans Gerhard Graf (Insel-Verlag) unentbehrlich. Die 'Chronik von Goethes Leben', zusammengestellt von Flodoard Freiherrn von Biedermann (Insel-Bücherei Nr. 415), ist jedem Goethe-Leser zur Hand. Herder wird nach der Ausgabe der sämtlichen Werke von Bernhard Suphan (Berlin 1877—1900, 32 Bände) angeführt. Auf kunstgerechte Umschreibung orientalischer Namen und Worte ist verzichtet worden : wer die betreffende Sprache kennt, braucht sie nicht, wer sie nicht kennt, dem nützt auch keine zünftige Umschrift. Es sei dem Verfasser erlaubt, hier eine Veröffentlichung des Goethe-Jahres zu nennen, der er großen Dank schuldet: den Aufsatz von Gottfried Benn, Goethe und die Naturwissenschaften (zuletzt gedruckt in: Der neue Staat und die Intellektuellen, StuttgartBerlin 1933, 77—128).
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Vorwort
(S. i—7)
1 (S. 1) Fr. von Müller, Tagebuch 4. 11. 1823. 2 (S. 3) Eckermann 15. 10. 1825. 3 (S. 3) Sein 'Goethe' von 1912, heute in achter Auflage verbreitet, ist das reichste, eindringlichste, lebendigste Goethebuch, das wir besitzen. Der erste, der seine überragende Bedeutung ermaß, war Adolf von Harnack; man lese sein Urteil und die ergreifende Antwort Chamberlains bei Agnes von Zahn-Harnadc, Adolf von Harnadc (1936) 354 f. In der 2. Auflage des Buches von 1918 sind die ausführlichen Zitatnachweise aus äußeren Gründen fortgefallen und seither nicht wiederhergestellt worden; das sollte in kommenden Auflagen nachgeholt werden. 4 (S. 4) Walter Lehmann, Goethes Geschichtsauffassung in ihren Grundlagen (1930). Julia Gauß, Die methodische Grundlage von Goethes Geschichtsforschung (in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1932/33). Herbert Cysarz, Goethe und das geschichtliche Weltbild (1932). Ernst Cassirer, Goethe und die geschichtliche Welt (1932). Wilhelm Heinrich Scheidt, Von der Weisheit Goethes über und für die Geschichte (Berliner Dissertation 1937). 5 (S. 4) Die Entstehung des Historismus (1936), Kap. 10. 6 (S. 4) Goethe. Vierteljahresschrift der Goethe-Gesellschaft, Band 2, Heft 2, 1937. Dazu in derselben Zeitschrift 1 (1936) 42—54 der Aufsatz von R. Matthaei, Goethes biologische Farbenlehre. 7 (S. 4) Sprüche in Prosa, 517 Hecker. 8 (S. 5) Daselbst 921. 9 (S. 6) M a x Lenz, Deutsches Nationalempfinden im Zeitalter unserer Klassiker (in: Kleine historische Schriften 2, 1920, 204—229). Erich Mareks, Der Aufstieg des Reiches 1 (1936) 47. 10 (S. 7) S. Bernhard Suphan, Goethe und das Jubelfest der Reformation, GoetheJahrbuch 16 (1895) 3—12; die Entwürfe zur Kantate hat derselbe in der Weimarer Ausgabe 16, 570 ff. veröffentlicht. 11 (S. 7) Das Luther-Fragment von 1817 ist herausgegeben von Elisabeth Schweitzer im Anhang zum 6. Band (1926) der Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation (Gesamtausgabe der Deutschen Akademie). Die angeführte Stelle — ein Stück daraus bei F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus 649 — findet sich dort S. 320. Sie zeigt, wie stark und, was mehr ist, wie wesentlich das Goethe-Erlebnis Rankes in seiner Leipziger Studentenzeit war, von dem er als Neunzigjähriger kurze Nachricht im vierten autobiographischen Diktat von 1885 gab (Zur eigenen Lebensgeschichte hrsg. von Alfred Dove, 1890, 5 9 ) . 12 (S. 7) Gesammelte Schriften 5 (1924) 24.
C}oethes
Erlebnis
des Ostens
(S. 8—23)
Festvortrag bei der Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft zu Weimar am 19- 5- 1937, ohne Anmerkungen gedrudet in: Goethe. Vierteljahresschrift der GoetheGesellschaft 2 (1937) 125—159. 1 (S. 8) Goethe an die Gräfin Auguste Stolberg vom 17. 4. 1823. 2 (S. 8) Brief vom 14. 2. 1814. 3 (S. 8) Tag- und Jahreshefte 1813, gegen Ende.
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4 (S. 8) Am 13. 12. 1813. Goethe gehört zu den ganz wenigen Deutschen seiner Zeit, die als notwendige Folge des Sturzes der französischen Vorherrschaft einen ungeheuren, Europa weit ärger bedrohenden Machtaufstieg Rußlands voraussahen. Seinem tiefen Mißtrauen gegen die Russen als Freiheitsbringer hat er in der Zeit der Befreiungskriege mehr als einmal vertraulich drastischen Ausdruck gegeben. Noch zehn Jahre später äußert er, „die nördlichen protestantischen Staaten müßten zum Heile der Welt eng verbunden bleiben gegen die nordöstlichen Barbaren". S. Andreas Fischer, Goethe und Napoleon (2. Aufl. 1900) 127 f. — Die Gespräche mit dem Jenaer Historiker Heinrich Luden (1780—1847) aus den Jahren 1806/07 und 1813, die zu den meistbeachteten Zeugnissen für Goethes Stellung zur Zeitgeschichte und zur Geschichte als Wissenschaft gehören, liest man am besten nicht in Auszügen, sondern im Zusammenhang von Ludens Erinnerungen, die er 1843/44 aufgezeichnet hat (Rückblicke in mein Leben, Jena 1847). M a n lernt daraus verstehen, warum keins der Gespräche einen reinen Klang gibt. Als ein Wesenszug Ludens erscheint eine Ichbefangenheit — Selbstgerechtigkeit wäre zuviel gesagt —, die sich menschlich ins Unrecht setzt, auch wo sie sachlich Recht hat. So fehlte den Begegnungen die Sympathie, ohne die auch das inhaltsvollste Gespräch unfruchtbar bleibt. D a s bedürfte näherer Ausführung — hier nur zwei Hinweise. Die bekannte Auseinandersetzung über die Möglichkeit und Sicherheit geschichtlicher Erkenntnis (am 19. 8. 1806), in der Goethe eine an Mephisto gemahnende Skepsis an den T a g legt (S. 53—74), versteht man erst, wenn man weiß, daß das Gespräch über Faust — d. h. über das Fragment von 1790 — vorangegangen war (S. 22—52). Darin hatte Luden mit Scharfsinn die Dichtung zerpflückt, das Vorhandensein einer das Ganze zusammenhaltenden Idee verneint und die vom Zufall geleitete Entstehung der einzelnen Szenen aufzudecken versucht — ein Stück philologischer Kritik, das den Dichter des Faust tief verstimmen mußte. In der kurzen Schilderung der Begegnung im Mai 1807 (S. 102—104 — Luden setzt sie irrig 'etwa vier Wochen' nach der Schlacht von Jena an) ist von der erkältenden Wirkung die Rede, die Goethes 'behagliche' Auskunft über sein Wohlergehen nach der Schlacht ausübte, als Antwort auf die Schilderung der verwüsteten Wohnung, die Luden bei der Rüdekehr nach Jena vorgefunden hatte. Dabei bleibt unerwähnt, was Luden doch mindestens in der Folgezeit erfahren konnte und erfahren mußte: daß Goethe am T a g e nach der Schlacht durch plündernde Franzosen in Lebensgefahr geraten und nur durch Christianens Geistesgegenwart und Tapferkeit gerettet worden war. Wenn er selber kein Wort davon sagte, aber von der Ruhe im Sturm, die er gefunden hatte, 'mit einer gewissen Behaglichkeit' sprach, so geschah das nicht ohne eine Absicht, die Luden freilich nicht verstand. 5 (S. 9) Nach der Neuerschließung der Farbenlehre durch Rupprecht Matthaei (s. o. 4) erhebt sich um so dringlicher das Verlangen nach einer gründlich kommentierten Sonderausgabe der 'Materialien zur Geschichte der Farbenlehre', die zum Tiefsten und Schönsten gehören, was es an geistesgeschichtlicher Forschung in deutscher Sprache gibt. 6 (S. 9) Barthold Georg Niebuhr, Römische Geschichte 1, 1811. Vgl. Ernst Kornemann, Niebuhr und der Aufbau der altrömischen Geschichte (Historische Zeitschrift 145/ 1931, 277—300). Die bestimmende Wirkung des Buches auf Ranke ist bekannt. 7 (S. 9) Brief vom 27. 11./17. 12. 1811. Auf die Ubersendung des zweiten Bandes der 'Römischen Geschichte', der die Geschichte der älteren Republik bis zu den Iicinischen Gesetzen behandelt und im nächsten Jahre erschien, antwortet Goethe ein-
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gehend am 23. 11. 1812. Hier spricht er aus, daß er den Titel von Niebuhrs Werk lieber in der Form 'Kritik der Schriftsteller, welche uns die römische Geschichte überlieferten' gesehen hätte. Für die zweite Ausgabe des ersten Bandes (1826) dankt der Brief vom 15. 4. 1827, die des zweiten Bandes (1830), in deren Vorwort Niebuhr, von dem Erlebnis der Julirevolution aufs tiefste erschüttert, seiner Sorge um den Bestand der europäischen Kultur Luft gemadit hatte, erwähnt das Tagebuch vom 3. 1. 1831 — am Tage vorher war Niebuhr gestorben. 8 (S. 9) Dichtung und Wahrheit, Buch 6. Auf Michaelis und seine 'Fragen an eine Gesellschaft reisender Gelehrten' (17Ô2) bezieht sich eine Stelle des 7. Buches: „Aus solchen Gesinnungen und Überzeugungen entwickelte sich besonders bei immer wachsenden Sprachkenntnissen gar natürlich jene Art des Studiums, daß man die orientalischen Lokalitäten, Nationalitäten, Naturprodukte und Erscheinungen genauer zu studieren und sich auf diese Weise jene alte Zeit zu vergegenwärtigen suchte. Michaelis legte die ganze Gewalt seines Talents und seiner Kenntnisse auf diese Seite. Reisebeschreibungen wurden ein kräftiges Hilfsmittel zu Erklärung der Heiligen Schriften, und neuere Reisende, mit vielen Fragen ausgerüstet, sollten durch Beantwortung derselben für die Propheten und Apostel zeugen." Vgl. Vilhelm Thomsen, Den orientalske filologi i Danmark (Samlede Afhandlinger 1, 1919, 107 bis 122) 114 ff. — Die klassische, allzu wenig bekannte Lebensbeschreibung seines Vaters, die B. G. Niebuhr 1816 in Berlin, kurz vor seinem Übergang nach Rom verfaßte ('Carsten Niebuhrs Leben', zuerst Kiel 1817, dann in: Kleine historische und philologische Schriften 1, 1828), ist leicht zugänglich in dem von L. Lorenz bearbeiteten Band 'Niebuhrs Briefe und Schriften' der Deutschen Bibliothek (Berlin o. J.) 223—275. 9 (S. 9) Brief an Uvarov vom 27. 2. 1811 (fehlt in der sogleich zu nennenden Veröffentlichung von G. Schmid). 10 (S. 9) Sergei Semenovitsch Uvarov (Uwarow, Ouvaroff, Ouwaroff), 1786—1855. Seinen Briefwechsel mit Goethe veröffentlichte Georg Schmid, Goethe und Uwarow und ihr Briefwechsel, Sonderabdruck aus der Russischen Revue Bd. 28, H. 2, St. Petersburg 1888; darin einiges über sein Leben mit Literaturangaben. Ober seine Studienzeit in Göttingen — wahrscheinlich zwischen 1803 und 1806 — hat Schmid nichts ermittelt. Als der Faust erschien, l8o8, befand Uvarov sich nach eigener Aussage in Deutschland. 1809 wurde er als Legationssekretär an die russische Gesandtschaft in Paris versetzt, von wo er schon 1810 nach Petersburg zurückkehrte. Dort veröffentlichte er noch im selben Jahr sein 'Projet d'une Académie Asiatique', das er mit einem huldigenden Brief vom 15. (27.) 12. 1810 an Goethe sandte. 1811 erschien in Petersburg die von A. von Hauenschild besorgte deutsche Übersetzung 'Ideen zu einer Asiatischen Akademie', die gleichfalls an Goethe gesandt wurde. Der Geist der Schrift, die auch in Paris starke Beachtung fand, ist ganz von Herder inspiriert, dessen 'Geist der ebräischen Poesie' zusammen mit der 'Ältesten Urkunde' hoch gefeiert wird (Ideen 54, 66) ; ebenso werden Friedrich Schlegels 'Sprache und Weisheit der Indier' (46, 80) und Schleiermachers Platon-Übersetzung (73) gerühmt; Chr. G. Heyne heißt „der preiswürdigste Archäologe [d. i. Altertumsforscher] unserer Zeit" (75). Bei der Erwähnung der Sakuntala wird Goethes Epigramm angeführt (71). 1811 wählte die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften Uvarov zum Mitglied; er dankte mit der Widmung seiner Schrift 'Essai sur les mystères d'Eleusis'. Dem Freiherrn vom Stein, „dem Freunde und Kenner der alten Kunst",
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den sein rassischer Aufenthalt mit Uvarov zusammengeführt hatte, eignete er 18l 3 die griechisch-deutsche Bearbeitung einer Episode aus Nonnos zu, die er herausgab. Sie rührte von Chr. Friedrich Gräfe her, einem Sdiüler Gottfried Hermanns, der seit 1810 in Petersburg wirkte. Die Frucht seiner Belehrung war Uvarovs Schrift 'Nonnos von Panopolis, der Dichter. Ein Beitrag zur Geschichte der griechischen Poesie' (St. Petersburg 1817). Er schrieb sie deutsch, in der Sprache des Landes, in dem die 'Wiedergeburt der Altertumswissenschaft' geschehen war, und stellte ihr einen schönen Widmungsbrief an Goethe voran. Seine Würdigung der deutschen Sprache vermerkte Goethe dankend am Schluß seiner heute wie je zu bedenkenden Betrachtungen über 'Deutsche Sprache' im 3. Heft von 'Kunst und Altertum' (Bd. 1, 1817). Eine Rede 'Ober das Studium der orientalischen Sprachen', die Uvarov bei der Besetzung zweier Lehrstühle für Arabisch und Persisch am Pädagogischen Institut, der nachmaligen Universität, zu Petersburg mit den de Sacy-Schülern Demange und Charmoy am 22. 3. 1818 hielt, erschien im gleichen Jahre daselbst in der deutschen Übersetzung A. von Hauenschilds; vgl. auch Bernhard Dorn, über die hohe Wichtigkeit und die nahmhaften Fortschritte der asiatischen Studien in Rußland (SA., St. Petersburg 1839) 68—70, 85. Uvarov, seit 1810 Kurator des Petersburger Lehrbezirks, seit 1818 Präsident der Akademie der Wissenschaften, ging 1821 infolge von Angriffen, die gegen die angeblich staats- und religionsgefährliche Wirksamkeit mehrerer Petersburger Professoren und gegen ihn selber gerichtet wurden, ins Finanzministerium über und wurde 1833 zum Unterrichtsminister berufen. Die Würdigung, die er in der großen Abhandlung von S. Durylin, Russkije pisateli u Goethe v Vejmare (Sammelband des Literaturnoje Nasledstvo 4—6, Moskau 1932, 81—504) erfahren hat, ist, nadi dem Referat in Germanoslavica 2 (1932/33) 411 f. zu urteilen, von gehässiger Parteilichkeit — so wie die abfälligen Urteile von Puschkin, AL Turgenjev und Herzen, auf die sie Bezug nimmt. Uber seine Gedächtnisrede auf Goethe s. u. Anm. 30. 11 12 13 14 15 16 17 18
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(S. 10) Schmid 29. (S. 11) Eckermann 1. 5- 1825. (S. 12) Riemer 25. 5- 1816. (S. 13) Noten und Abhandlungen, 'Eingeschaltetes'. (S. 15) Dichtung und Wahrheit, Budi 14 am Ende. (S. 16) Aufzeichnungen zu Wilhelm Meister, Weimarer Ausgabe 21, 331. (S. 16) Schillers Brief vom 24. 8. 1794(S. 16) Das war im Frühjahr 1782. ü b e r die Gründe seines Verzichts führte er dreißig Jahre später ein aufschlußreiches Gespräch mit Heinrich Luden, der in derselben Arbeit stecken geblieben war, s. seine oben in Anm. 4 angeführten Lebenserinnerungen 105—113. (S. 16) Die bekannten Distichen von 1791 — sie erscheinen auch als Nachschrift in dem Brief vom 1. 6. 1791 an Fritz Jacobi — finden ihren vertieften Widerhall in dem Brief an Antoine Leonard de Ch£zy vom 9. 10. 1830, der Goethe seine französische Übersetzung überreicht hatte. Vgl. Moritz Winternitz, Geschichte der indischen Literatur 3 (1922) 213 f. Ein Stück aus dem Brief an de Chdzy ist in die Sprüche in Prosa übergegangen (1036 Hecker). (S. 17) Eckermann 15- 2. 1824. (S. 17) 959 Hedcer. (S. 19) Angeführt nach Hugo von Hofmannsthal, Napoleon (in: Die Berührung der
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Sphären, 1931) 272. ü b e r Goethe und Napoleon s. außer der geistvollen Schrift dieses Titels von Andreas Fischer (2. Aufl. 1900) besonders H . St. Chamberlain, Goethe 153-164. 23 (S. 19) Einleitung in die griechische Tragödie (1910) 240. 24 (S. 19) Burdach, Divan XLIV. Vorspiel 2, 369. 25 (S. 20) Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert (Neue Ausg. 1927) 4, 466. Die von Treitschke angeführten Worte stehen in dem Kapitel 'Schicksal der Handschrift' hinter der 'Geschichte meines botanischen Studiums' im 1. H e f t von ' Z u r N a t u r wissenschaft überhaupt' (1817). 26 (S. 21) In dem Aufsatz 'Frankreich und Deutschland', der 1832 in der Historischpolitischen Zeitschrift erschien, jetzt leicht zugänglich in: Leopold von Ranke, Geschichte und Politik, hrsg. von Hans Hofmann (Kröners Taschenausgabe, Bd. 1 4 6 ) ; die Stelle findet sich dort S. 68. 27 (S. 21) Daselbst S. 94; vgl. dazu den schönen Aufsatz von Gerhard Ritter, Z u m Gedächtnis Leopold von Rankes (in : Forschungen und Fortschritte 12,1936,186—188). 28 (S. 2 1 ) Diesen Sinn von Rankes Lebenswerk bergen schon die Worte der Vorrede zu seinem ersten Buch, den 'Geschichten der romanischen und germanischen Völker' von 1824 (Werke 33/34, VIII) : „Die Hauptsache ist immer, wovon wir handeln, wie Jakobi sagt, Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich : das Leben des Einzelnen, der Geschlechter, der Völker, zuweilen die Hand Gottes über ihnen." Dies 'zuweilen', das den Spott seines Widersachers Heinrich Leo erregte, spricht das Wesen von Rankes Frömmigkeit aus: er wollte nicht mehr sagen, als ihm zu sagen gegeben war. Vgl. Emst Simon, Ranke und Hegel (1928) 96 f., der den Angriff Leos als Auflehnung des hegelsdien Geistes wider Ranke erweist — „das ist nur ein gewöhnlicher Historiker", lautet der einzige überlieferte Ausspruch Hegels über Ranke — und S. 204 den Gegensatz auf die Formel bringt: „Hegel hat Gott gekannt — und Ranke hat an ihn geglaubt." 29 (S. 21) Vgl. die Bemerkungen in dem Aufsatz 'Die Orientforschung und das abendländische Geschichtsbild' (in: Die Welt als Geschichte 2, 1936, 377—396) 385. 30 (S. 21) Der Urtext der Rede (Notice sur Goethe) ist abgedruckt in: Esquisses politiques et littéraires par M . le Comte Ouvaroff, avec un essai biographique et critique par M . Léuzon Leduc, Paris 1848, 203—226; deutsche Übersetzungen veröffentlichten 1833 der Dorpater Philologe Karl Simon Morgenstern in Petersburg und R. St [öckhardt] in Leipzig (diese drei Bücher finden sich in der Berliner Universitätsbibliothek) . Vgl. Julius Petersen, Goethe im Nachruf (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 1931, 746—766) 763 ff. 'Zwei russische Gedichte auf den Tod Goethes', von Boratynskij und Tjutschev, teilt W . Iwanow mit (Corona 4, 1934, 696—703). 31 (S. 22) Turgenjevs 'Väter und Söhne'. 32 (S. 22) Dieser Satz hat Widerspruch erfahren — ihn zu begründen geht hier nicht an. Sollte es nicht möglich und an der Zeit sein, mit der Bewunderung der großen russischen Dichter die Einsicht in ihren ewig östlichen Willen zur Entformung und zum Nichts und in die Gefahr, die sie eben darum für den Deutschen bedeuten, zu vereinbaren? Sind die Dichter des Eugen Onegin und der Väter und Söhne weniger Sklaven dieses Willens als die der Toten Seelen und der Karamasov? Mit Recht spricht Fritz Strich (Goethe und die Weltliteratur, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 19, 1932, 176; vgl. auch seinen Aufsatz 'Goethe und der Osten', in: Die 11 S c h a e d e r , Goethe
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Dioskuren 2, 1923, 44—71) von dem Abgrund, der sich beim Siege des Slavophilentums zwischen Goethe und dem russischen Geist auftat; um so weniger begreiflich ist es, wenn er im Hinblick auf Puschkin und Turgenjev sagt, Goethe habe für Rußland eine hohe Sendung 'erfüllt', er habe dem Osten abendländische Gestalt gegeben. Nicht den Ruf zu einer neuen Menschwerdung, sondern die Rechtfertigung des Verzichtes auf sie las man aus Goethe heraus. Zuerst wiederholte man das Wertherfieber, dann weckte der Faust, wie Herbert Cysarz sagt (Goethe und das geschichtliche Weltbild 51), den slavischen Literaturen 'das Urbild des kosmisch-dämonischen, von allen Urmächten zerrissenen Menschen' — des Menschenbildes also, das im Faust überwunden ist. Die Bildungsgeschichte des Russentums, seitdem es von Peter und Katharina in die europäische Bildung hineingezwungen wurde, ohne zu organischer Angleichung Zeit zu finden, ist am ehesten dem Vorgang der Hellenisierung des vorderen Orients zu vergleichen; s. meinen Beitrag zu dem Bande 'Die Kultur der orientalischen Völker' (in: Handbuch der Kulturgeschichte, hrsg. von Heinz Kindermann) S. 187 ff. und den Aufsatz 'Der Orient in der Zeitenwende' (Corona 7, 1937, 277 bis 304). — Zur Frage der Auseinandersetzung des russischen Geistes mit Goethe — wohl einer der wichtigsten Fragen der neueren Bildungsgeschidite — gibt es bisher nur Stoffsammlungen und essaistische Skizzen. Eine in die Tiefe dringende Behandlung setzt die Erarbeitung eines kritischen Standpunktes gegenüber der Dichtung Puschkins voraus — und bis dahin ist, wie es scheint, der Weg noch weit. Eine Menge Stoff enthalten die beiden ersten Bände der in Prag herausgegebenen Germanoslavica (1931/32 und 1932/33), in Aufsätzen und Forschungsberichten von ungleichem Wert. Knappe Obersichten geben Eugen Zabel, Goethe und Rußland (Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 8, 1921, 27—48); Spiridion Wukadinovic, Goethe und die slavische Welt (ebenda 18, 1932, 57—70) 58—61; Alfred Bergmann, Das Weltecho des Goethejahres (1932) 47—49- 103—106. 133—136. S. jetzt auch Hans Wahl, Russische Weisheitsfreunde bei Goethe und im Goethehaus, in: Goethe. Vierteljahresschrift der Goethe-Gesellschaft 2 (1937) 183—199 (auf Grund der oben Anm. 10 gegen Ende genannten Arbeit von S. Durylin). 33 (S. 23) Zur eigenen Lebensgeschichte, hrsg. von Alfred Dove, 627.
Ostliche
Wanderungen
(S.
24—61)
Mit Benutzung eines ungedruckten Vortrags über 'Goethe und der Orient', gehalten bei der Goethe-Akademie in München am 27. Juni 1932. 1 (S. 24) Dichtung und Wahrheit, Buch 18. 2 (S. 24) Brief vom 7. 2. 1801. Die Briefe der Frau Rat Goethe, hrsg. von Albert Köster, Bd. 2, 82 Nr. 306. 3 (S. 24) Goethe an Charlotte v. Stein 9. 12. 1777 (von der Harzreise). 4 (S. 24) Divan, 'Budi Hafis', 'Beiname'. 5 (S. 28) Zur Naturwissenschaft überhaupt, Band 2, Heft 1, 1823. 6 (S. 29) Brief an die Schwester vom 12. 10. 1767. 7 (S. 29) Zusammenfassend Kurt Jahn, Goethes Dichtung und Wahrheit. Vorgeschichte, Entstehung, Kritik, Analyse, 1908. 8 (S. 29) Tag- und Jahreshefte 1807. 9 (S. 29) Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, Zweite Abteilung, überliefertes.
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1 0 (S. 3 1 ) Sprüche in Prosa, 482 Hecker. 1 1 (S. 3 1 ) D a s beweist in sorgfältiger Untersuchung Benno Badt, Goethe als Obersetzer des Hohenliedes (Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 124, 1881, 346ff.). — Der Aufsatz von Paul Holzhausen, Goethe und seine Ubersetzung des Hohenliedes (Deutsche Revue 21 Bd. 1, 1896, 370—372) enthält eine kurze und bedeutungslose Aufzeichnung über den Gegenstand von J. G . Stickel (s. Anm. 29 zu S. 91) mit einer Einführung des Herausgebers. 12 (S. 32) S. Anm. 6. 1 3 (S. 32) Wilhelm Meisters theatralische Sendung, nach der Schultheßschen Abschrift hrsg. von Harry Maync ( 1 9 1 1 ) , Buch 2, Kap. 5, S. 104 f. Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Wilhelm Meister in der Urform (in: Die Berührung der Sphären, 1931,107 ff.). 14 (S. 32) Dichtung und Wahrheit, 4. Buch. 15 (S. 32) Hermann Henkel, Goethe und die Bibel (1890) 45. Viktor Hehn, Gedanken über Goethe (7. Aufl. 1909) 4351 6 (S. 33) Goethes Briefe an Ernst Theodor Langer, hrsg. von Paul Zimmermann, 1922 (Sonderdruck aus dem Braunschweiger Jahrbuch 1922). Vgl. dazu Hans von Schubert, Goethes religiöse Jugendentwicklung (1925). 17 (S. 33) Die soeben genannte Schrift H. von Schuberts trägt ihnen zu wenig Rechnung. 18 (S. 33) Dichtung und Wahrheit, 12. Buch. 19 (S. 35) Dazu der Spruch über den Philologen, 509 Hecker. 20 (S. 36) So Hans Rust, Das Zungenreden, eine Studie zur kritischen Religionspsychologie (1924). 2 1 (S. 36) Von der Gabe der Sprachen am ersten christlichen Pfingstfest, in: Christliche Schriften 1, 1794- Werke 19, 1 ff. 22 (S. 36) Die Composition des Hexateuchs, 3. Aufl. 1899, 84 f. 330. Vgl. auch Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, 2. Bd. 2. Abt. 1931, 319 Anm. 2. 23 (S. 36) So Albrecht Alt, Die Ursprünge des israelitischen Rechts (Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. Bd. 86, Heft 1, 1934) 52. 24 (S. 36) Leiden des jungen Werthers, 1. Buch, 12. Mai. 25 (S. 37) Dichtung und Wahrheit, 12. Buch. 26 (S. 37) 1. Könige 4, 32/3327 (S. 37) Brief an Merk vom 7. 10. 177528 (S. 37) Werke 8, 4 8 5 - 5 8 8 . 29 (S. 38) Vgl. Burdach, Vorspiel 2, 324 ff. 30 (S. 39) S. zum folgenden Jacob Minor, Goethes Mahomet (1907), dessen erstes Kapitel eine Ubersicht über die Entwicklung des neueren abendländischen Muhammedbildes bis auf Goethe mit besonderer Rücksicht auf die von ihm gelesenen und benutzten Koranübersetzungen und Darstellungen gibt. Vgl. jetzt K. F. Merkel, Der Islam im Wandel abendländischen Verstehens (in: Studi e materiali di storia delle religioni 13, 1937, 68—101). 3 1 (S. 39) Brief an die Schwester vom 23. 12. 1765. 32 (S. 39) Dichtung und Wahrheit, 12. Buch. 33 (S. 39) Gegen Konrad Burdach, Faust und Moses (s. u. Anm. 50) 749. 34 (S. 39) Burdach a. a. O. 630 findet in diesem Zitat die Selbstgleichsetzung Goethes mit Mose: „ D a sieht er sich in dem Bilde des Moses, wie es ihm selbst damals aus Frankfurter Jugendeindrücken und Herders Lehre aufgegangen war. Er findet sich 11*
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wieder in jenem gewaltigsten der urzeitlichen Menschheitsführer und Weisheitssänger, die nach seiner Auffassung ein gemeinsamer Urbesitz des gesamten alten Orients waren. In jenem Moses, den der Prophet des Islam, Mohammed, als Vorläufer und Muster verehrt . . . " Wäre diese Ausdeutung zulässig, so wäre folgerichtig anzunehmen, daß Goethe sich in der oben 38 angeführten Sdilußstrophe des 'Schwager Kronos' gar mit dem König von Babel gleichsetzt, auf den das zugrunde liegende Jesajawort geht. Im Verlauf von Burdachs Untersuchung werden auf das Zitat immer neue Beweislasten gehäuft, bis es S. 659 heißt: es „ist das wichtigste gleichzeitige Zeugnis zur Entstehungsgeschichte des Faust: es wirft Licht auf die Gestaltung des ältesten Plans und erweist die frühe Beeinflussung der Konzeption durdi Züge der Mosessage." 35 (S. 40) In den Ausgaben des Divans steht hinter 'Sterne' ein sinnstörendes Komma, als ob 'den Herrn der Sterne' Apposition zu 'Abraham' wäre. Burdach, Divan 425 f., versucht sogar eine Erklärung, wieso Abraham der 'Herr der Sterne' heißen könne. Es ist vielmehr so, daß 'Abraham' absolut voransteht und durch 'er' aufgenommen wird; der 'Herr der Sterne' ist Gott. 36 (S. 40) Im 50. Kapitel, das 1789, von Schillers Freund Körner übersetzt, im 'Teutschen Merkur' erschien. 37 (S. 40) Von J. Minor in der Anm. 30 genannten Schrift, Kap. 4. 38 (S. 42) Brief vom 22. 2. 1776. 39 (S. 42) Zum Mahomet-Plan im ganzen vgl. Burdach (s. Anm. 50) 747 ff., der bemüht ist, die Mahometgestalt möglichst nahe an das zweifelhafte mystische Mosesbild heranzurücken, dem er entscheidenden Einfluß auf die ersten Ansätze der Faustdichtung zuspricht. Seine Auslegung ist daher vielfach gewalttätig; s. die nächste Anm. und S. 4 9 - 5 4 40 (S. 43) ü b e r sonstige Verwendungen des Bildes s. Minor 83 Anm. 77. Burdach 756 ff. sieht in dem 'Gesang' eine 'Allegorie für die Entwicklung eines Gott zustrebenden Menschenlebens' und findet damit den Übergang, um das Bild auf 'das uralte Grundschema aller mystischen Darstellungen des stufenweise erfolgenden Aufsteigens zu Gott' zu beziehen. Er hält es für ausgemacht, daß der Dichter das Bild aus einem Erbauungsbuch der französischen Mystikerin Frau de la Mothe-Guyon, Les torrents spirituels (1683, deutsch 1728), entlehnt habe. Aber davon, daß Goethe diese Schrift gelesen hätte, ist nichts bekannt, und wirklich charakteristische Berührungen zwischen ihrer mit unanschaulicher und ermüdender Pedanterie ausgeführten Allegorie von den drei Wegen der Heimkehr zu Gott, die mit dreierlei Strömen verglichen werden, und seinen Versen, über die mit den Worten 'mystisch' und 'allegorisch' nichts ausgesagt ist, vermag ich nicht zu erkennen. — Die Beziehung zwischen dem 'Gesang' und den 'Torrents spirituels' hat schon vor Burdach Fr. Warnecke in seiner Hallenser Dissertation 'Goethes Mahomet-Problem' (1907) behauptet, und zwar auf Grund eines Hinweises von Franz Saran, der dann in seiner tiefdringenden Untersuchung 'Goethes Mahomet und Prometheus' (1914) auf diesem Wege weitergegangen ist, ohne in eine Auseinandersetzung mit der zwei Jahre vorher erschienenen Abhandlung von Burdach einzutreten. Er arbeitet den Gehalt der Goetheschen Dichtungen mit vorbildlicher Genauigkeit und Klarheit heraus, gerät aber bei der Aufstellung von gedanklichen und literarischen Beziehungen leicht ins Unbestimmte und Unbeweisbare. 4 1 (S. 45) Am Schluß des oben S. 156 genannten Aufsatzes.
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42 (S. 45) Die 'Ideen', als Ganzes nidit mehr lesbar, hat Eugen Kühnemann in der 'Deutschen Bibliothek' 1914 in einen vortrefflichen Auszug gebracht, dem Kants Anzeigen und seine 'Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht' von 1784 beigegeben sind. 43 (S. 45) Brief an Schönborn vom 8. 6. 1774. — Burdadi (a. a. O . 651) folgert aus diesem Brief eine stärkere Wirkung des Buches auf Goethe, als der Brief sie aussagt. 44 (S. 47) William Jones, Poeseos asiaticae commentariorum libri sex [1774], recudi curavit J. G. Eichhorn, 1777- The Moallakät or seven Arabian Poems, London 1783. 45 (S. 47) Entdeckt und veröffentlicht von Konrad Burdach, Weimarer Ausgabe 6, 640 bis 642 ; abgedruckt in der Ausgabe des Divans von Hans Gerhard Gräf (Insel-Verlag) 278 f. Hierauf bezieht sich der Brief an Knebel vom 14- 11- 1783 (Weimarer Ausg. IV 6, 213) : „Der durch seine Bemühungen über die arabische Poesie bekannte Jones hat die Moallakat oder die sieben Gedichte der sieben großen arabischen Dichter, die in der Moschee zu Mecca aufgehängt sind, mit einer englischen Übersetzung herausgegeben. Sie sind im Ganzen sehr merkwürdig, und einzelne allerliebste Stellen drinne. Wir haben uns vorgenommen, sie in Gesellschaft zu übersetzen, und also wirst du sie auch bald zu sehen kriegen." Eine vollständige deutsche Nachdichtung der Mu'allaqa bei Friedrich Rüdcert, Amrilkais, der Dichter und König, Neuausgabe von Herman Kreyenborg (1924) 5—14. 46 (S. 47) D a s Journal von Tiefurt, hrsg. von Eduard von der Hellen (Schriften der Goethe-Gesellschaft 7, 1892) 79—81, 83—85, 94—97, 112—114, 117 f., 141—143, 155 f. Die chinesische Geschichte hat den bekannten Denker und Dichter Tschuang-tse zum Helden und beginnt mit einer novellistischen Ausführung des berühmten 'Schmetterlingstraums' (in dem von Hans O. H. Stange bearbeiteten Inselbuch Nr. 499 'Tsdiuang-tse, Dichtung und Weisheit' S. 14)47 (S. 48) Die Nachdichtungen aus der morgenländischen Literatur sind im 26. Bande der Werke S. 305 ff. vereinigt. 48 (S. 48) Werke 16, 84 ff. 24, 576 ff. 49 (S. 49) Die drei von ihm erhaltenen Stücke sind von Bernhard Seuffert im Anhang zu den 'Noten und Abhandlungen', Weimarer Ausgabe 7, 309—335 mitgeteilt; danach in der Ausgabe des Divans von Gräf (s. Anm. 45) 283—301. 50 (S. 49) So Konrad Burdach in seiner schon mehrfach (Anm. 33, 34, 39, 40) angeführten Abhandlung 'Faust und Moses', Sitzungsberichte der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften 1 9 1 2 , (357) 358—403, 627—659, 736—789- Es ist zu bedauern, daß sie nicht auch als Buch ausgegeben worden ist. Ihren Reichtum an Stoff und Gedanken und ihren Scharfsinn im Aufspüren von tatsächlichen oder möglichen literarischen Beziehungen besonders zu rühmen, wäre unangemessen. Aber ihr Studium wird durch das unbehagliche Helldunkel der in ihrem eigentlichen Beweisgang aus lauter Mutmaßungen zusammengesetzten Darstellung erschwert und ist streckenweise eine wahre Höllenfahrt durch die Finsternisse mystischer und gnostischer Erforschung des Unerforsdilichen, durdi geistige Verwirrungen vergangener Jahrhunderte, die der Leser an der Seite des großen Gelehrten antreten muß. Sie läßt die Frage zurück, ob und wieweit es unumgänglich ist, zum Verständnis Goethes alles das aus wohltätiger Vergessenheit wieder heraufzuholen, was er lebend und gestaltend für sidi und für uns überwunden und ins Nichts zurückgebannt hat. 51 (S. 49) Burdach hat diese Worte sperren lassen (368), ist ihnen aber nicht weiter nachgegangen.
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52 (S. 50) Jesaja 11,6. 65, 25. 53 (S. 51) Vgl. hierzu und zum folgenden die Briefe an Schiller vom 19. 4., 22. 4., 3. 5., 6. 5-, 17- 5-, 27. 5. und 21. 6. 1797- Burdach führt S. 368—371 alle hierher gehörigen Briefstellen an. 54 (S. 51) Wenn in dem Brief vom Vortage (oben S. 48) die Erwartung ausgesprochen wird, die Arbeit über die Peterskirche, der Mose und andere möchten „schon nadi und nach reif werden", so klingt das zwar wie Hoffnung, bedeutet aber tatsächlich den Verzicht. Es geht nicht an, diese Äußerung so zu wenden, daß die Nachricht vom Faustplan an Schiller gerichtet worden sei, „unmittelbar nachdem die Verhandlungen über den 'Moses' soweit gediehen waren, daß ein Reifwerden der Arbeit zu erwarten war" (Burdach 380). 55 (S. 52) Burdach (S. 371 ff.) sucht diese Kennzeichnungen nach Möglichkeit abzuschwächen und dem Aufsatz eine grundsätzliche Bedeutung beizulegen, die er nicht beansprucht. 56 (S. 53) Apostelgeschichte 7, 22. 57 (S. 53) Diese augenfällige Tatsache wird von Burdach nicht berücksichtigt, der S. 641 ff. ausführlich über Herders Auffassung von Mose, besonders in den Entwürfen und Schriften der siebziger Jahre handelt. 58 (S. 53) Wie weit Burdach in der Annahme von Einwirkungen der Mosegestalt auf Goethes Denken und Dichten geht, zeigen die folgenden Beispiele. S. 642 Anm. 1, nachdem von Aaron als Sprecher seines Bruders Mose die Rede gewesen ist: „Auch Faust bedarf nach Goethes älterem Faustplan . . . am Hofe des Kaisers eines Vertreters, der für ihn redet"; als solcher tritt Mephistopheles ein. „Das Ganze könnte man für eine scherzhafte Umbiegung des biblischen Motivs halten: in der Exodus sprechen Moses wie Aaron vor Pharao und Volk übereinstimmend Befehle Gottes aus, in jener Faustszene sollten Faust und Mephisto entgegengesetzte Dinge vortragen." S. 780 Anm. 1: In der Rede zum Shakespeare-Tag 1771 (o. 15) heißt es, daß 'jeder Mensch, der geringste wie der höchste . . . eher alles müd wird, als zu leben, und daß keiner sein Ziel erreicht, worauf er so sehnlich ausging — denn wenn es einem auf seinem Gange auch noch so lange glüdct, fällt er doch endlich, und oft im Angesicht des gehofften Zwecks in eine Grube, die ihm, Gott weiß wer, gegraben hat'. „Klingt da nicht das Motiv des Moses- und Faustgrabes vernehmlich durch? Höchst auffallend folgt dann das Bild von Shakespeares 'Fußstapfen' ('die Betrachtung so eines einzigen Tapfs macht unsre Seele feuriger') und das Bild des Vorwärtsschreitens in Siebenmeilenstiefeln: man denkt an Fausts Äonen überdauernde Spur und an Mephistos Heranschreiten in Siebenmeilenstiefeln (Faust II, Akt 4)." Endlich S. 366f. Zelter berichtet 1826 von einem Besuch bei dem königlichen Gartendirektor Lenni in Potsdam, am vierzigjährigen ['hundertjährigen' S. 366, 22 ist ein Versehen] Todestag des Königs, dessen sie, die Terrassen von Sanssouci hinaufsteigend, gemeinsam gedenken, nachdem Lenne vorher im Gespräch Goethes morphologische Hefte gerühmt hat. Dieser bittet in seiner Antwort vom 26. August um eine Empfehlung an Lennl. 'Ich möchte wohl mit einem solchen Manne das Feld durchwandern, wohin ich jetzt nur, wie Moses, vom Berge hinsehe.' Das ist nach Burdach nicht als ein 'geistreiches Kompliment' zu verstehen: „Vor der Seelenphantasie Goethes . . . hatte Zelters Schilderung das erhabene Bild jener Stunde heraufbeschworen, da der Schöpfer des nationalen deutschen Kulturgedankens von dannen ging. Der sterbende große König Preußens, der Austrockner
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der polnischen Sümpfe, und der sterbende Faust, der dem Meer Wohnräume für Millionen abzwingen will, der dem letzten Erdentag entgegengehende Dichter des 'Prometheus' und 'Mahomet', der zugleich der Bahnbrecher der modernen Morphologie geworden ist — sie bilden in der Phantasie Goethes eine Reihe, ja gewissermaßen eine Einheit." Dies wird noch weiter ausgeführt. 59 (S. 53) Burdach 381. 39560 (S. 54) Brief vom 21. 6. 1781. — K. J. Sdiröer, Faust von Goethe, 5. Aufl. 1896, 2. Teil CV ff. und 368. Vgl. Burdach 359 und 385. 61 (S. 54) Exodus 3, 2. 33, 11. Herder, Der Tod Moses, zuerst im Septemberheft 1781 des 'Teutschen Merkur', dann in der dritten Sammlung der 'Zerstreuten Blätter' (1787). Werke 26, 346 f. Burdach 385. 62 (S. 54) S. 388. Aus diesem Schluß wird einige Seiten später (397) die Behauptung: „Ich habe oben die beiden entscheidenden Monologe, die Beschwörung des Erdgeistes und das Dankgebet in Wald und Höhle als Reflexe der Mosesmythe nachgewiesen." 63 (S. 54) S. 397 ff. 64 (S. 54) S. 401 f. 65 (S. 55) Von Bernhard Suphan, der sie im Goethe-Jahrbuch 16 (1895) 20 ff. mitgeteilt und feinfühlend erläutert hat. Danach Weimarer Ausg. 42 II, 505—507. 66 (S. 56) Brief vom 16. 1. 1819. Briefwechsel zwischen Goethe und Reinhard (1850) 167. 67 (S. 57) Athenäum 3 (1800), 133. Idee. Friedrich Schlegels Fragmente und Ideen, hrsg. von Franz Deibel, Nr. 711. 68 (S. 57) Rede über die Mythologie (1801), in Fr. Schlegels Jugendschriften, hrsg. von Jacob Minor, 2, 362. 69 (S. 57) Vgl. Paul Th. Hoffmann, Der indische und der deutsche Geist von Herder bis zur Romantik, 1915. Oskar F. Walzel, Deutsche Romantik, 2./3. Aufl. 1912, 69 ff. 70 (S. 58) Hoffmann a. a. O. 76. 71 (S. 58) Vgl. besonders den großen Brief an Reinhard vom 26. 6. 1808. 72 (S. 58) Deibel (s. Anm. 67) Nr. 343. 73 (S. 60) Aufsätze über Goethe 85 f. 74 (S. 60) Zu Goethes chinesischen Studien s. W . Freiherr von Biedermann, GoetheForschungen 1 (1879) 173 ff-, Neue Folge (1886) 428 ff. 75 (S. 60) Gustav Parthey, Ein verfehlter und ein gelungener Besuch bei Goethe, 1819 und 1827, 2. Abdruck 1883. Die Einheit
des West-östlichen
Divans
(S.62—104)
Mit Benutzung der 'Betrachtungen zum West-östlichen Divan' (Insel-Almanadi auf das Goethejahr 1932) und eines Vortrags 'Goethe und der Orient', gehalten am 18. Januar 1929 in der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg, gedruckt in der Königsberger Hartungschen Zeitung vom 19. 1. 1929, Nr. 3l/32, und in der Neuen Schweizer Rundschau, September 1930, 645—659. Der Abschnitt über das 'Buch Suleika' und die 'Selige Sehnsucht' S. 74—89 ist von Dr. Grete Schaeder verfaßt. 1 (S.62) Brief an Zelter vom 11.5- 1820, auf die Divandichtung bezüglich. 2 (S. 62) Den Grund zur Erklärung des Divans legte Ch. Wurm, Commentar zu Goethe's west-östlichem Divan bestehend in Materialien und Originalien zum Ver-
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ständnisse desselben, 1834. 1872 folgte die erläuterte Ausgabe G. von Loepers (Westöstlicher Divan von Goethe. Mit Einleitung und erläuternden Anmerkungen), in ihrer gediegenen Schlichtheit und Zurückhaltung das bis heute nicht wieder erreichte Vorbild eines Divankommentars. Die ausführlichen Erläuterungen H. Düntzers ererschienen 1878 (Erläuterungen zu den deutschen Klassikern. Erste Abteilung: Erläuterungen zu Goethes Werken. XXXI—XXXIII: West-östlidier Divan). Reichliches neues Material zur philologischen Erforschung des Divans brachte die Weimarer Ausgabe, in der er die Bände 6 (die Gedichte, bearbeitet von Konrad Burdach) und 7 (die Noten und Abhandlungen, bearbeitet von Carl Siegfried und Bernhard Seuffert) füllt. Damit begann zugleich die über fünfzig Jahre reichende Arbeit Konrad Burdachs an der Erklärung des Divans. Sie fand ihre Zusammenfassung in der Bearbeitung des 5. Bandes der Jubiläumsausgabe (1905) und im 2. Bande des 'Vorspiels' (1926), reichte aber weiter bis in seine letzte Lebenszeit, in der ihn die Herstellung des Textes für die von der Stadt Mainz und dem Goethe- und Schiller-Archiv vorbereitete Neuausgabe beschäftigte,- vgl. den Nachruf von Julius Petersen in: Goethe. Vierteljahresschrift der Goethe-Gesellschaft 1 (1936) 306 ff. Die einzige Divanausgabe, in der auch die 'Noten und Abhandlungen' kommentiert werden, ist die G. von Loepers. 3 (S. 64) Zur Episode von Alexanders Zug zum Lebensquell in Nizamis Iskandarname (Alexanderbuch) s. Hermann Ethé, Sitzungsberichte der Bayrischen Akademie, Philos.-philol. Klasse 1871, 343—405. 4 (S. 64) Gesammelte Werke 3, 26. 5 (S. 65) 'Mahomet'. 6 (S. 69) Sie bezieht sich auf die Leiden von Timurs Heer in dem Winter der Vorbereitungen zu seinem letzten, gegen China gerichteten Feldzug, unmittelbar vor seinem Tode im Februar 1405. Goethes Gedicht schließt sich eng an die lateinische Wiedergabe von William Jones an, die in G. von Loepers Ausgabe S. 1 1 9 f. und bei Burdach, Divan 373 f., mitgeteilt wird. 7 8 9 10 11 12 13 14 15
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(S. 69) 'Allgemeinstes'. (S. 69) A. a. O. 24. (S. 70) 'Zweifel'. (S. 70) Mitgeteilt in der Ausgabe von H. G. Gräf (Insel-Verlag) 308—310. (S. 7 1 ) Noten und Abhandlungen, 'Hafis'. (S. 72) Hofmannsthal (s. Anm. 4) 27. (S. 72) 'Künftiger Divan', Das Schenken-Buch. (S. 72) A. a. O. 24. (S. 74) Mitgeteilt von Burdach in der Weimarer Ausgabe 6, 485—493; drei davon in der Ausgabe von Th. Friedrich (Reclam) 284—288. Einen der von Marianne ausgegangenen Chiffernbriefe hat Goethe neu geformt und in die 'Noten und Abhandlungen' ('Chiffer') aufgenommen. (S. 77) Die Entstehung des Historismus 574. (S. 82) 'Allgemeines'. (S. 83) Burdach, Divan 402. (S. 84) Daselbst 332—338. (S. 86) Sie trägt die Überschrift 'Buch Sad Gasele 1'; s. die Nachbildung neben dem Titelblatt dieses Buches. — Die persische Vorlage fehlt in der Hafis-Handschrift von 827/1423 (0. 106 mit Anm. 3) und ist dichterisch so minderwertig, daß
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sie sicher nicht von Hafis herrührt. ( D a s Ghasel steht in der Ausgabe der bezeichneten Handschrift von Chalchali im Anhang S. 31 unter N r . 54, im Bulaqer Druck des Sudi — vgl. 0. 108 mit Anm. 6 — Bd. 2, 375—377, in der auf Sudi beruhenden Ausgabe von H . Brodehaus unter N r . 338.) Die Behauptung Burdachs (Divan 332), das Gedicht sei 'völlig sufisch', ist unzutreffend; vgl. noch Anm. 25 zu S. 117. 21 (S. 87) Auf die Bedeutung dieser Stelle für Goethes geschichtliches Denken hat Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus 499, aufmerksam gemacht. 22 (S. 88) Im 11. Buch von 'Dichtung und Wahrheit'. Z u den 'Antizipationen' s. Julius Petersen, Goethe als Gestalter (Berliner Universitätsrede 1932) 26 ff. 23 (S. 90) J. Görres' 'Mythengeschichte der asiatischen Welt' erschien 1810, gleichzeitig mit dem ersten Bande von Fr. Creuzers 'Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen'. Die anderthalb Jahrzehnte seit 1815 bezeichnen die Höhe von Creuzers Wirken,- seine Vorlesungen waren damals die besuchtesten der Heidelberger Universität. Uber ihn und seine Widersacher unterrichtet vortrefflich Ernst Howald, Der Kampf um Creuzers Symbolik (1926). Goethes Stellung wird deutlich aus dem unergründlich tiefen und reichen Aufsatz 'Geistesepochen', den er nach der Lesung des Programms von Creuzers wissenschaftlichem Gegner Gottfried Hermann 'De mythologia Graecorum antiquissima' (1817) verfaßte und im gleichen Jahre in 'Kunst und Altertum' I 3 veröffentlichte. Dem Dichter schenkte um die gleiche Zeit der orphische Spuk die ewigen 'Urworte'. 24 (S. 90) 'Ubergang von Tropen zu Gleichnissen'. 25 (S. 90) 'Mahomet'. 26 (S. 90) Zahme Xenien II ( ' U n d so will ich ein für allemal Keine Bestien in dem Göttersaal !'). Noten und Abhandlungen, 'Ältere Perser' gegen Ende, 'Geschichte', ' M a h mud von Gasna', 'Neuere und neuste Reisende'. 27 (S. 91) Lied der Liebe, das älteste und schönste aus dem Morgenlande, neu übersetzt und ästhetisch erklärt durch Friedrich Wilhelm Karl Umbreit, 1820. 28 (S. 91) Es steht in der Hamasa, einer im 9. Jahrhundert von dem Dichter Abu Temmam gesammelten Anthologie (in der Ausgabe von G . W. Freytag, die außer dem Text die Scholien des Tibrizi enthält — Hamasae carmina 1, 1828 — S. 382—386, in Freytags Ubersetzung 2, 37 ff.). Aus ihr ist es mitgeteilt in der arabischen Grammatik des holländischen Scaliger-Schülers Thomas Erpenius (1613) und ihren Neubearbeitungen durch den Holländer Albert Schultens (1748) und den Deutschen Johann David Michaelis (1771, danach die nur noch Michaelis' Namen tragende 'Arabische Grammatik' 1781). Goethe übertrug jedoch das Gedicht nicht nach Schultens, wie Rückert (s. u.) glaubte, er kannte es auch nicht, wie er selber in einem Brief vom 23- 9. 1818 an den Jenaer Arabisten J . G. L. Kosegarten meint (Otto Jahn, Goethe und Kosegarten. Die Grenzboten 27, 1868, 1. Semester, 2. Band, 396—400), aus einer Reisebeschreibung, sondern seine Vorlage ist die Königsberger Dissertation des späteren Hamasa-Herausgebers G . W . Freytag von 1814, Carmen arabicum perpetuo commentario et versione iambica germanica ill., deren Gegenstand das Gedicht ist. Dabei hat Goethe sich an die wörtliche lateinische Ubersetzung (S. 18—20) gehalten und die deutschen Jamben Freytags (S. 21—25) beiseite gelassen: die in ihnen verschwimmende Knappheit und Schlagkraft des Ausdrucks, die das Gedicht auszeichnet, ist in seiner Wiedergabe erhalten. D a ß er Freytag benutzt hat, haben Gustav Baur — in seiner trefflichen Abhandlung über Ta'abbata Scharran, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 10 (1856) 96—98 — und abschließend
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A. Kodi, Zum west-östlichen Divan (Goethe-Jahrbudi 11, 1890, 17J f.) bewiesen. Eine schöne Fassung des Gedichts in deutschen Versen steht in Friedrich Rückerts Übertragung der Hamasa (2 Bände, 1846) 1, 299—301; das für unser rhythmisches Empfinden fremdartige, wuchtige Versmaß des Arabers (Madid) ahmen die deutsche Wiedergabe bei Baur a. a. O . 100 f. und die englische von Reynold A. Nicholson nach (A Literary History of the Arabs, 2. Aufl. 1930, 98—100). Rückert und Baur haben die Unzulänglichkeit der Gründe gezeigt, um derentwillen einige arabische Kritiker, denen der vorhin erwähnte Sdioliast Tibrizi und auch neuere Forscher, so J. Gildemeister in dem angeführten Aufsatz von O . Jahn, sich anschließen, das Gedicht dem Ta'abbata« Scharran abgesprochen und einem Rhapsoden und geschickten Nachahmer der altarabischen Dichtung im 8. Jahrhundert, dem Chalaf al-Ahmar zugeteilt haben. Goethes Zeitbestimmung 'aus Mahomets Zeit' ist also zutreffend. Außer Freytag hatte auch Graf Reinhard das Gedicht in seiner Dissertation behandelt; das teilt er Goethe am 1. 2. 1820 mit (Briefwechsel zwischen Goethe und Reinhard in den Jahren 1807 bis 1832, 174). — Herman Krüger-Westend, Goethe und der Orient (1903) 21 f., verficht den absonderlichen Einfall, Goethe habe unmittelbar aus dem Arabischen übersetzt. D a n n hätte er freilich mehr arabisch verstehen müssen als der genannte Schriftsteller, der S. 19 die Worte der Schlußwidmung des Divans an Silvestre de Sacy: sir ilä saijidina'la'azzi 'geh zu unserem herrlichsten H e r r n ' so umschreibt: sir illä saijidunä alaghzu, also nicht einmal des arabischen Alphabets mächtig ist, von den Elementen der Formenlehre zu schweigen. D a ß die mit dieser Schrift wesentlich inhaltsgleidien, mit Fehlern ähnlicher Art durchsetzten Aufsätze 'Goethe und das Arabische' und 'Goethe und Persien' im Goethe-Jahrbuch (24, 1903, 244 bis 248 und 26, 1905, 270—274) haben erscheinen dürfen, gehört in dasselbe schmerzliche Kapitel wie die Entstellung der in die ' N o t e n ' aufgenommenen arabischen und persischen Texte in manchen Divanausgaben (nicht in der Weimarer und der Jubiläums-Ausgabe, wo ihr Satz von Sprachkundigen überwacht worden ist) oder die unangebrachte Pietät der Wiederholung des ursprünglichen Titelblatts in neueren Ausgaben, obwohl die unbeholfene und ganz unarabische Fassung des Titels, der ebenso unarabische Schriftzug, der die ungeübte europäische H a n d verrät, und die armselige Umrahmung wie eine Verspottung orientalischer Buchkunst wirken. 29 (S. 91) Stickeis Berichte über seine Besuche bei Goethe sind mitgeteilt im GoetheJahrbuch 7 (1886) 231—240. — Johann Gustav Stickel (1805—1896) sah 1813 in seinem Heimatstädtchen Buttelstedt (zwischen W e i m a r und Eisenach) den bei Leipzig geschlagenen Napoleon, besuchte Goethe dreimal, in den Jahren 1827, 1829 und 1831, in Weimar und erzählte von diesen Begegnungen in einer Ansprache, die er 1892 als Senior der Universität Jena an Bismarck richtete. Ober ihn Paul Holzhausen, Von Napoleon bis heute, ein Professorenleben (Deutsche Revue 20 Bd. 3, 1895, 233—239), und C. Siegfried, Allgemeine Deutsche Biographie 54 (1908) 5 1 9 bis 522; vgl. oben Anm. 1 1 zu S. 31. 30 (S. 92) 'Mahomet'. — ü b e r Muhammed und die Dichter s. Frants Buhl, Das Leben Muhammeds (1930) 148 f. 318. 3 1 (S. 92) Das große Zitat in dem Abschnitt 'Mahomet', beginnend mit den Worten 'Die Hauptabsicht des K o r a n s . . . ' , stammt, wie J. Minor (Goethes Mahomet 95, Anm. 180) gesehen hat, aus Th. Arnolds Bearbeitung der englischen Koranübersetzung von George Sale (o. 39), Einleitung 79 f., wo J. Golius angeführt wird.
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32 CS. 93) Theodor Wiedemann, Sechzehn Jahre in der Werkstatt Leopold von Rankes, Deutsche Revue, Jahrg. 18 Bd. 4 (1893) 260. 33 (S. 95) 'Regiment'. 34 (S. 93) 'Fortleitende Bemerkung'. 35 (S. 94) 'Zweifel' und 'Despotie'. Die Herkunft der aus Hammers Hafis-Übersetzung angeführten Stellen ist in der Ausgabe G. von Loepers 274 f. angegeben. 36 (S. 94) 'Gegenwirkung'. 37 (S. 94) 'Nachtrag' zu 'Einrede'. 38 (S.95) S. dazu meinen Aufsatz 'Jacob Burckhardt und die geschichtlichen Mächte', Europäische Revue 13 (1937) 283—296. 39 (S. 95) S. den Aufsatz 'Epoche der forcierten Talente', aus dem Nachlaß. 40 (S. 96) 'Geschichte'. 41 (S. 96) Die 'Zeit der Barmekiden' preist schon der Leitspruch vor dem 'Buche des Sängers'; die Erklärung gibt der Abschnitt 'Kalifen' in den 'Noten'. Unter 'Ältere Perser' heißt es von ihnen, daß sie „zuletzt, wie ein ungefähr ähnliches Geschlecht dieser Art zu unsern Zeiten, ausgerottet und vertrieben worden". Worauf diese Anspielung geht, ist unbekannt. 42 (S. 96) Zu den Samaniden vgl. A. Christensen, Fra Samanidernes Tid, in: Studier fra Sprog- og Oldtidsforskning 13 (1903), Heft 61; zu Mahmud meine Aufsätze in 'Menschen die Geschichte machten', hrsg. von P. R. Rohden und G. Ostrogorsky, 1 (1931) 318 ff., und 'Firdosi und die Deutschen', Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 88 (1934). 118—129. 43 (S. 97) Weimarer Ausg. 6, 463—467, abgedruckt in der Ausgabe von H. G. Gräf 279—28I. Die Vorlage ist: 'Probe aus dem Schahname übersetzt von weiland Herrn Grafen von Ludolf', Fundgruben des Orients 2, 60 f. Die 'Probe' ist von Hammer mitgeteilt, der in einer Fußnote seine Bedenken gegen die Übertragung erhebt und ein Stück eigener Obersetzung in Aussicht stellt, das im selben Bande der 'Fundgruben' erschienen ist und die Zustimmung Goethes (s. die nächste Anm.) gefunden hat. 44 (S. 97) 'Übersetzungen'. 45 (S. 98) 'Neuere, Neueste' und 'Endlicher Abschluß'. Das Schreiben des persischen Gesandten erwähnt schon ein Brief an Knebel vom 8. 4. 1812. Treffende Bemerkungen über seine versteckte praktische Bedeutung, die nur ein Kenner orientalischer diplomatischer Ausdrucksweise versteht, enthält der Brief des Prälaten von Diez an Goethe vom 15. 1 1 . 1816 (Goethe-Jahrbuch 1 1 , 1890, 38—41). — Die beiden Gedichte teilte zuerst im persischen Text und deutschen Distichen J. von Hammer in den 'Fundgruben des Orients' 6 (1818) 216 f. mit. Er nannte dort auch den Verfasser: Feth Ali Chan mit dem Beinamen Saba, den 'Dichterkönig' des Feth Ali Schah (1797—1834); vgl. E. G. Browne, A History of Persian Literature in Modern Times (1924) 309 f., wo eine wesentlich bessere, wenn auch ganz unoriginelle Kaside des Mannes mitgeteilt wird. Goethe übernahm die beiden Gedichte ohne Hinweis aus den 'Fundgruben' und veranlaßte seinen Helfer Kosegarten, an die Stelle von Hammers Distichen, die er offenbar als stilwidrig empfand, eine Übertragung in Blankversen zu setzen — was Hammer übel nahm (vgl. seinen Brief an Böttiger vom 16. 9- 1819, Goethe-Jahrbuch 1, 1880, 342). — In der Übersetzung des ersten Gedichtes ist nach dem persischen Text das Komma am Ende der ersten Zeile zu streichen. Die vierte Zeile übersetzt Kosegarten in enger Anlehnung an Hammer: 'Sein Gurt haucht Muscus in Saturns Gehirn' und gibt weiterhin eine nicht zutreffende
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Erklärung des Bildes. Es muß heißen: 'Sein Staub streut reinen Moschus in Saturns Gehirn'. Das bedeutet: sein, des Herrschers Staub — das ist der vom Hufe seines Rosses aufgewirbelte Staub — wallt empor bis zum höchsten der sieben Planeten, dem Saturn. Dessen Kinder sind, wie bekannt, die Melancholiker; so ist er selber der Träger der Melancholie. Der zu ihm aufsteigende Staub erfrischt sein umdüstertes Hirn wie der Duft von reinem Moschus. Dem persischen Geschmack gilt ein Vers wie dieser für wohlgelungen. In Zeile 7 des persischen Textes ist nach dem Metrum (Mudari') sdhud statt sdhavad zu lesen. — In dem zweiten Gedicht ist die zweite Zeile des Textes verdorben; sie läßt sich weder skandieren (Metrum: Mudschtathth) noch übersetzen; Kosegartens Wiedergabe: 'Die Sonne zieht den Schleier von ihm weg' ist ein Verlegenheitserzeugnis, ebenso Hammers 'das den Sonnenstrahl selber als Schatten zerreißt'. 46 (S. 99) S. den in Anm. 28 angeführten Aufsatz des klassischen Philologen und Mozartbiographen Otto Jahn. 47 (S. 99) In den Abschnitten 'Allgemeines', 'Allgemeinstes', 'Zweifel', 'Despotie' 'Orientalischer Poesie Urelemente', 'Obergang von Tropen zu Gleichnissen'. 48 (S. 99) 'Allgemeinstes'. 49 (S. 99) Mit der Bezeichnung des Geistes als des 'oberen Leitenden' ist eine Äußerung Goethes zu vergleichen, die Fr. von Müller in einem Brief an die Gräfin Julie Egloffstein vom 18. 4. 1 8 1 5 mitteilt: er werde den 'Zauberring' von Fouqui nicht lesen, „denn das ist mir verboten von meinem Obern" — dazu das Tagebuch vom 26. 3. 1780: „Es ist, als ob ein Genius oft unser ^e|j.ovtxov verdunkelte, damit wir zu unsrem und andrer Vorteil Fehler machen." Hier wird der altstoische Begriff griechisch gegeben, den 'das Leitende' deutsch wiedergibt. 50 (S. 99) Dies hält Goethe den deutschen Forschern J. J. Reiske und J . D. Michaelis vor ('Orientalischer Poesie Urelemente'). 51 (S. 99) 'Warnung'. 5 2 (S. 99) 'Vergleichung'. Hammer ist der dort ungenannt bleibende Mann, „der des Orients Breite, Höhen und Tiefen durchdrungen". Er sagt in der 'Geschichte der schönen Redekünste Persiens' 2 7 : „So. haben wir Deutsche einen Jean Paul, dessen Muse sich aus dem Orient nach dem Occident verirrt und, um als Fremdlingin unerkannt zu bleiben, die Larve des Witzes und der Laune vorgenommen zu haben scheint, dessen Phantasie deutscher Poesie wohl als Kronjuwele, aber deutscher Kultur und Bildung nicht als Gemeingut angehört." 53 (S. 101) Vgl. meinen Aufsatz in 'Menschen die Geschichte machten' (s. Anm. 42), 2 0 931) 293 ff. 54 (S. 1 0 1 ) In der Divan-Ausgabe von H. G. Gräf 309. S. auch in den 'Noten' 'Künftiger Divan', Buch des Dichters. 55 (S. 1 0 1 ) Diese Aufschrift hat Hugo von Hofmannsthal für seine Sprüche in Prosa angenommen. 5 6 (S. 101) 'Von Diez'. 57 (S. 102) Das 'Morgenblatt' tat nichts dergleichen, aber der 'Gesellschafter' brachte im Oktober 1825 Auszüge aus dem Buche, die Karl Simrodc mit Geschick besorgt hatte. Dieser veranstaltete fünfzig Jahre später eine Neuausgabe: Goethes Westöstlicher Divan [ohne die Noten und Abhandlungen]. Mit den Auszügen aus dem Buch des Kabus herausgegeben von Karl Simrock, Heilbronn 1875. 58 (S. 102) Briefwechsel zwischen Goethe und v. Diez, mitgeteilt von Carl Siegfried,
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Goethe-Jahrbuch 11 (1890) 24—42. Die Ausgabe der Diezschen Briefe, deren Inhalt dem verdienten Herausgeber ferner lag, bedarf erneuter Durchsicht. (S. 102) Vgl. den Aufsatz 'Die Orientforschung und das abendländische Geschichtsbild' (s. Anm. 29 zu S. 21) 388 f. (S. 102) Die vier oberen Zeilen — über ihnen in arabischer Schrift 'Silvestre de Sacy' — sind in etwas schwungloser arabischer Prosa abgefaßt. Sie bedeuten: „O Buch, geh zu unserm herrlichsten Meister und grüß ihn mit diesem Blatte, das Anfang und Ende des Buches ist, nämlich sein Anfang im Orient, sein Ende im Okzident." Die vier unteren Zeilen sind persische Verse, die Sa'dis Gulistan beschließen. (S. 103) Tagebuch vom 25. bis 28. 3. 1812. Tag- und Jahreshefte 1812: „In Gefolg der Darstellung Mosaischer Geschichte im ersten Band [von 'Dichtung und Wahrheit'] nahm ich den Irrgang der Kinder Israel durch die Wüste aus alten Papieren wieder vor, die Arbeit selbst aber wurde zu andern Zwecken zurückgelegt." Die letzte Bearbeitung erfolgte dann nach den Tagebüchern am 21.—24. (26.) 4. 1819- S. Konrad Burdach, Faust und Moses (s. Anm. 50 zu S. 49) 376 Anm. 1 und 2. (S. 104) Fr. von Müller, Tagebuch 29. 4. 1818.
£ebensansicbt
und lyrische
form
bei Tlafis
{S.ios—122)
Nach einem ungedrudcten Vortrag, gehalten in der Gesellschaft für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft zu Berlin am 13. Dezember 1932, mit Benutzung meiner gleichfalls ungedrudcten Breslauer Habilitationsschrift 'Hafisstudien' (1922). 1 (S. 105) Angeführt nach Erich Seeberg, Goethes Stellung zur Religion (s. Anm. 16 zu S. 129) 204. 2 (S. 105) Die maßgebende Darstellung bei Edward G. Browne, A History of Persian Literature under Tartar Dominion (1920) 271—319- Sie stützt sich hauptsächlich auf das Werk des gelehrten Inders Shibli Nu'mani, Schi'ru'I'Adscham ('Die persische Poesie', in Hindustani, lithographiert in Aligarh 1907, 2 Bände) 2, 212—297. 3 (S. 106) Divan des Chodscha Hafis, nach einer Handschrift vom Jahre 827 [beginnt am 5. 12. 1423] hrsg. von Saijid 'Abdurrahim Chalchali, Teheran 1306 (Sonnenära) = 1928. 4 (S. 107) Er soll in Ungnade gefallen sein, als er auf einen Pagen, den der Sultan hatte einsperren lassen, die folgenden beiden Verse dichtete: „Die Welt soll verbrennen, denn die süß lachende Kerze liegt weinend da, an ihrem Fuße eiserne Bande. Ihre Lippe ist Helva von Schiras — verkaufte sie es, so gewänne sie Kairo, Buchara und Samarkand." (E. J. W . Gibb, A History of Ottoman Poetry 2, 42 Anm. 4). Das spielt auf einen bekannten Vers von Hafis an: „Wenn jener Schiraser Türke mein Herz in die Hand nähme, so verschenkte ich für sein indisches [d. i. schwarzes] Schönheitsmal Samarkand und Buchara." Auf die hübsch erfundene Legende, nach der Timur, der allmächtige Herrscher von Samarkand und Buchara, bei seinem Aufenthalt in Schiras Hafis wegen dieses Verses zur Rede gestellt hätte, bezieht sich Goethes Gedicht 'Hätt' ich irgend wohl Bedenken' im 'Buch Suleika', vgl. Burdach, Divan 388. 5 (S. 107) Eine Prunkausgabe seines Divans, besorgt von Paul Horn, wurde 1904 als Geschenk Kaiser Wilhelms II. für den Sultan Abdul Hamid veranstaltet; vgl. Paul Horn, Der Dichter Sultan Selim I., Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 60 (1906) 97—111. — Den in der letzten Anm. angeführten Vers des Hafis dichtete schon Selims Großvater Mehmed in gleichem Versmaß und Reim so um:
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„Wenn jener fränkische Ungläubige mein Herz in die Hand nähme, so versdienkte ich für sein indisches Schönheitsmal Istanbul und Calata" ; vgl. Georg Jacob, Der Divan Sultan Mehmeds des Zweiten (1904) Nr. 3. 6 (S. 108) Die Hafisausgabe von Hermann Brockhaus (1854/56) beruht auf dem Texte Sudis und teilt zu den ersten 80 Ghaselen seinen Kommentar mit. Von den Ausgaben des ganzen Kommentars ist der Drude von Bulaq 1250/1834 empfehlenswert; am Rande sind alle die Stellen gekennzeichnet, wo Sudi die mystischen Auslegungen des Schem'i und des Sururi (o. 119) kritisiert. Auf ihm fußt die Übersetzung von Joseph von Hammer (2 Bände, 1812) und die ihr an Geschmack überlegene von Vincenz von Rosenzweig-Sdiwannau (mit gegenüberstehendem persischem Text in drei Bänden zu Wien 1856—1864 erschienen, eine der wertvollsten abendländischen Bearbeitungen eines orientalischen Dichters). 7 (S. 108) Notices et Extraits 4, 238 ff. (Auszüge aus Daulatschah, vgl. o. 96). 8 (S. 108) [Karl Emerich Graf Revitzky, Freiherr von Revisnye] Specimen poeseos Persicae sive Muhammedis Schems-eddini notioris agnomine Haphyzi Ghazelae, sive Odae sexdeeim ex initio Divani depromptae, nunc primum latinitate donatae, cum metaphrasi ligata et soluta, paraphrasi item ac notis. Vindobonae 1771. 9 (S. 108) J. von Hammer-Purgstall (1774—1856) hat einen der schwierigen Aufgabe gewachsenen Biographen nicht- gefunden und wird ihn, trotz seiner wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung, schwerlich noch finden, da kein Mensch mehr imstande ist, die von ihm zusammengeschriebene Bibliothek durchzulesen. Leider ist nicht einmal seine druckfertige Selbstbiographie, die C. von Wurzbach (s. u.) 285 erwähnt, aus dem Nachlaß veröffentlicht worden. Der 'Nachruf an Joseph Freiherrn von Hammer-Purgstall' von J. Ph. Fallmerayer (Schriften und Tagebücher, hrsg. von H. Feigl und E. Molden, 1, 1913, 256—271), eine kritiklose Lobeserhebung, und die Schrift von K. Schlottmann, 'Joseph von Hammer-Purgstall, ein kritischer Beitrag zur Geschichte neuerer deutscher Wissenschaft' (Zürich 1857), das Gericht eines zum Richten nicht Berufenen über einen Toten, heben einander auf. Förderlicher sind die Artikel über Hammer in der Allgemeinen Deutschen Biographie 10, 482—487 (von O. von Schlechta-Wssehrd) und bei C. von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich 7 (1861) 267—289. Hammers Schriften sind verzeichnet bei K. Goedeke, Grundriß 7 2 , 747—770. 10 (S. 109) So Burdach, s. 0. Anm. 24 zu S. 19. Der Voraussetzung Burdachs, Goethe sei zu der in den 'Noten' vorgetragenen Auffassung von Hafis erst gegen das Ende der Arbeit am Divan gelangt, widerspricht eine Äußerung, die Sulpiz Boisserée im Tagebuch vom 5. 8. 1815, also auf dem Höhepunkt der Divanpoesie, aufzeichnet: 'Hafis ein anderer Voltaire.' 11 (S. 109) Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen I 3 (1923) 7 f. 1 2 (S. 109) S. dazu Friedrich Veit, Graf Platens Nachbildungen aus dem Divan des Hafis und ihr persisches Original (in: Kochs Beiträge zur vergleichenden Literaturgeschichte Bd. 7 und 8, 1907/08; auch Tübinger Dissertation). Die Schrift ist stoffreich, aber die Kenntnis der persischen Sprache und Dichtung, die sie an den Tag legt, ist nicht so entwickelt wie das sexualpsychologische Interesse, mit dem der Verfasser den handschriftlichen Nachlaß des Grafen durchstöbert und aus Hafis versteckte Unanständigkeiten herausliest, von denen der Text nichts weiß. 13 (S. 110) S. die schönen 'Erinnerungen an Friedrich Rückert' von Paul de Lagarde (in: Mitteilungen 2, 1886, auch besonders).
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(S. 110) Kopenhagener Dissertation 1892. (S. 110) S. unten Anm. 26. (S. 111) 'Ubergang von Tropen zu Gleichnissen' und 'Vergleichung'. (S. 112) Ober die älteren persischen Lehrschriften handelt Mirza Muhammed Qazwini in der Vorrede zu seiner Ausgabe der im 13. Jahrhundert verfaßten Poetik des Schams i Qais (Gibb Memorial Series 10, 1909). Die reichhaltigste deutsche Darstellung ist Friedrich Rückerts 'Grammatik, Poetik und Rhetorik der Perser' (neu herausgegeben von W. Pertsdh, 1874), eine meisterhafte Bearbeitung der freilich späten und unselbständigen Darstellung in dem 1822 geschriebenen 7. Bande des Haft Qulzum, eines von dem Inder Qabul Muhammad verfaßten Wörterbuchs. Qivami von Gandscha, der Bruder des großen Nizami, hat in einer Kaside von 101 Doppelversen alle wichtigen rhetorischen Figuren zusammengestellt. Sie ist von E. G. Browne — der aber in seiner großen persischen Literaturgeschichte auf die Rhetorik im übrigen kaum Rücksicht nimmt — vortrefflich bearbeitet worden (A Literary History of Persia 2, 1906, 47—76). (S. 112) Jan Rypka, 'Beiträge zur Biographie, Charakteristik und Interpretation des türkischen Dichters Säbit' (Prag 1924). 'Baqi als Ghazel-Dichter' (daselbst 1926), das grundlegende Buch. 'Neue Streiflichter auf die persische Metapher' (Orientalistische Literaturzeitung 1928, 942—952). Der letztgenannte Aufsatz ist eine Anzeige der bedeutenden Schrift von Hellmut Ritter, 'über die Bildersprache Nizamis' (1927), die den Versuch macht, die Metaphernbildung des Dichters aus einer dem mythischen Denken verwandten dichterischen Einbildungskraft herzuleiten. (S. 115) Rückertsche Nachdichtungen von Ghaselen und Vierzeilern des Hafis veröffentlichte zuerst Paul de Lagarde (Symmicta 1, 1877, 178—198). Sie wurden abgedruckt in der Rückert-Nachlese, hrsg. von Leopold Hirschberg, 2 (1911) 197—227. Eine um 42 Ghaselen aus Rückerts Nachlaß vermehrte, treffliche Neuausgabe (ohne die Vierzeiler) veranstaltete Herman Kreyenborg (Ghaselen des Hafis, München o. J. [1926]). (S. 113) Man spürt dies, wenn man Rückerts Hafis mit den schönen Nachdichtungen Hellmut Ritters (in der Festschrift für Georg Jacob, 1932, 226—233) vergleicht, hinter denen andre deutsche Versuche weit zurückbleiben. (S. 113) Nach Sudi (s. Anm. 6) 2, 331, 4. 25, unter Berufung auf die Angabe 'einiger Schiraser'. — Das Ghasel von neun Doppelversen, bei Kreyenborg (s. Anm. 19) Nr. 45, S. 90, ist hier in der Versfolge mitgeteilt, in der es in dem Text von Chaldiali (s. Anm. 3) unter Nr. 259 und, mit zwei bedeutungslosen Varianten, bei Sudi 2, 331—333, danach bei Brockhaus unter Nr. 307 steht (Rückert hat die Versfolge 1—3, 6, 7, 4, 5, 8, 9- — In Zeile 12 habe ich, wie der persische Text fordert, das Komma hinter 'Welt' getilgt und hinter 'komm' gesetzt). Zum Vergleich stehe hier eine wörtliche Obersetzung: „Steh auf und wirf in die goldene Schale das Freudenwasser, bevor die Schale des Hauptes zum Staubwerfer (Schaufel) wird. Zuletzt ist unser Rastort das Tal der Schweigenden — jetzt wirf Lärm zur Kuppel der Himmelssphären. Das Auge mit getrübtem Blick ist fern von der Wange des Geliebten — wirf auf seine Wange einen Blick aus reinem Spiegel. Bei deinem grünen Haupte! 0 Zypresse, wenn ich Staub werde, so (schlag dir) den Stolz aus dem Kopf und wirf Schatten auf meinen Staub. Mein Herz, das von der Schlange deiner Lockenpilze verwundet ward, wirf ( = laß ein) in das Heilungshaus des Theriaks (Gegengiftes) von deiner Lippe. Das Gut
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dieses Saatfeldes gibt, du weißt es, keinen Bestand — wirf ein Feuer aus dem Innern des Bechers auf die Güter. Ich habe die Waschung in Tränen vollzogen, denn die 'Männer des (mystischen) Pfades' sagen: 'Werde zuerst rein und hernach wirf das Auge auf den Reinen.' O Herr, dem selbstischen Asketen, der nur Fehler sah, wirf den Rauch des Seufzers (sc. der Liebenden) auf den Spiegel der Wahrnehmung. Wie die Rose zerreiß dein Gewand vor seinem (des Freundes) Dufthaudi, o Hafis, und wirf das zerrissene auf den Weg seines schlanken Wuchses." 22 (S. 114) 'Budi des Sängers', 'Elemente'. 23 (S. 116) Noten und Abhandlungen, 'Hafis' am Ende. 24 (S. 117) 'Buch Hafis', 'Offenbar Geheimnis'. In den weiterhin folgenden Worten 'Du aber bist mystisdi rein, weil sie dich nicht verstehn', ist 'rein' als Adverb in der Bedeutung 'bloß', 'lediglich' zu fassen. Goethe bezeichnet also Hafis nicht als 'mystisch rein', wie Burdach, Divan 341, angibt, ohne zu sagen, was damit gemeint sein könnte. 25 ( S . I i 7 ) Von Adalbert Merx in seiner Heidelberger Prorektoratsrede 'Idee und Grundlinien einer allgemeinen Geschichte der Mystik' (1893) 3—9, dazu 63—68. Zutreffende Einwendungen gegen ihn bei Burdach (Divan XLII ff.), der aber umgekehrt in einem aller Mystik so entrückten Dichtwerk, wie es der Divan ist, überall Mystisches spürt und bis zu der Behauptung geht, daß „der religiöse mystische Pantheismus . . . alle Bücher des Divans fast in gleichem Maße erfüllt" (XLI). Der Wert seiner bewunderungswürdigen Arbeit wird durch eine entsprechende, durchgängige Tendenz seiner Divanauslegung beeinträchtigt. Zur Widerlegung reichen schon die beiden scharfen Verwahrungen gegen die Mystik in den 'Noten und Abhandlungen' aus ('Dsdiami', 'Übersicht' unter 'Dschelal-eddin Rumi'). 26 (S. 117) Von den 6 Sinngedichten bei Sudi hat Chalchali erst drei (bzw. zwei, da das 'Buch des Schenken' und das 'Buch des Sängers' unter der ersteren Aufschrift in eins zusammengezogen sind). 27 (S. 118) Chalchali 134 = Brodehaus 222 (wo zwei weitere, sicher unechte Doppelverse : 5 und 8, hinzugekommen und 4 und 6 umgestellt sind). Das herrliche Gedidit erfordert eine eingehende sprachlich-sachliche Erläuterung, für die hier kein Raum ist. (Die Wiedergabe bei Georg Jacob, Unio mystica [1922] 17 ff., der den Vorgang des Gedichtes irrig als 'mystische Dichterweihe' deutet, enthält mehrere Mißverständnisse.) 28 (S. 118) Merx (s. Anm. 25) 7. Die Äußerung von Vämbery steht in unausgleichbarem Widerspruch zu der genaueren Aussage seines Budies 'Meine Wanderungen und Erlebnisse in Persien' (1867) 243 f. Beim Besuch von Hafis' Grabmal bei Schiras ' habe er mit Erstaunen einmal fröhliche Zecher, ein andermal fromme Wallfahrer angetroffen. „Die einen betrachten ihn als Meister in ihrem lustigen Lebenswandel, die anderen als Heiligen und flehen ihn um seine Vermittlung an. Ja, das Buch Hafis', trotzdem es nur Wein und Liebe mit begeisterten Worten besingt, wird von vielen als das frommste Religionsbuch angesehen. Wein und Liebe, sagt man, wären nur irdisdie Symbole der göttlichen Begeisterung Hafis', der Rausch nur eine solche Extase, in welche ihn die Bewunderung des Allerhöchsten versetzt. So denken die hypokritischen Ausleger seiner Verse; Zeitgenossen Hafis' aber behaupten, daß er wirklich ein Trunkenbold gewesen sei und nur später aus Reue seinen Lebenswandel gebessert habe." 29 (S. 119) Diese Uberlieferung teilte nach Chondemir, einem Geschichtsschreiber des
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frühen 16. Jahrhunderts, C. H. Defrimery im Journal asiatique V 6 ( 1 8 5 8 ) 408 f. mit. S. ferner E. G . Browne (s. Anm. 2) 2 8 1 . 3 0 (S. 1 1 9 ) Hammer (s. Anm. 6) 1, X X X I I I , danach Burdach, Divan 340. Der türkische Text steht in dem bibliographischen Lexikon des Hadschi Qalfa, hrsg. von Gustav Flügel, 3, 2 7 2 unter N r . 5371. D a er fehlerhaft ist und ich eines korrekten Textes nidit habhaft werden konnte, muß ich auf Mitteilung einer wörtlichen Übersetzung verzichten. 31 (S. 120) Einiges bei Hammer 1, X X V f. und Browne (s. Anm. 2 ) 311—3193 2 (S. 1 2 2 ) Nach Rückerts 'Poetischem Tagebuch' von 1863 S. 463 angeführt bei H. Kreyenborg (s. Anm. 1 9 ) , Einleitung 28. 33 (S. 122) Gottfried Benn, Z u r Problematik des Dichterischen (in: Fazit der Perspektiven, 1931) 34TJadbsdhrift. In den nach Abschluß dieses Kapitels durch die Freundlichkeit des Verfassers an mich gelangenden 'Kulturskitser fra Iran' (Kopenhagen 1937) gibt Arthur Christensen, der hervorragende Kenner Irans, eine Würdigung von Hafis (S. 8 8 — 9 0 ) / die hier zum Vergleich deutsch mitgeteilt sei. „Hafis' Divan gehört zu den Meisterwerken der Weltliteratur. Die Sufis betrachten Hafis, die 'Zunge der unsichtbaren W e l t ' (£esan-ol-gbaib) [s. aber o. S. 1 5 5 ] , als einen ihrer größten Führer, und in Kreisen, die Lebenslust suchen, werden Hafis' Verse zum Laut der Saiten des T&r und zu den elegischen Klängen der irakischen Flöte gesungen. Er gehört zu den Dichtern, die sowohl bildlich wie buchstäblich verstanden werden können und verstanden worden sind. Er spielt auf allen sufischen Registern, aber alle diese bekannten Dinge, das Weinhaus als Stätte der Kontemplation, der Magier-Alte als der geistliche Führer, der Saqi, der angebetete Sdienke — der wohlgemerkt bei den wirklichen Trinkgelagen nicht eine Frau, sondern ein hübscher junger Bursche war — , der Sufimantel, der für Wein verpfändet wird, nicht zu reden von der alten Schenke der W e l t und der Tyrannei des ewig sich drehenden Himmelsrades usw., waren längst konventionelles dichterisches Gut geworden, übrigens ist die Frage, wie Hafis zu verstehen ist, eigentlich nur ein Problem für abendländische Literaturforscher [s. u.]. Für den Orientalen ist es das natürlichste Ding von der Welt, daß der Dichter sowohl das eine wie das andre 'gemeint' hat, daß irdische Erotik und Gottesliebe sidi zu einer gemeinsamen Inspirationsquelle vereinigen, daß dem Rausche die gleiche begeisternde Kraft eignet, gleichviel ob er dem Wein oder ekstatischer Selbstsuggestion verdankt wird. W i e die Liebesverse eines Dichters von einem jeden Verliebten auf ein neues, von der Person, an die der Dichter gedacht hat, verschiedenes Individuum angewendet werden, so können diese Verse Stimmungen ausdrücken, die Analogien zum Liebesverhältnis bieten, so wie umgekehrt mystische Verse mit individuellem Inhalt erfüllt werden können. Für den begeisterten Dichter selber können die verschiedenen Anwendungen in eins zusammenfließen. Hafis ist eigentlich unübersetzbar. Seine Lieder sind ein Traumspiel mit rasch wechselnden Bildern und Gedankenfragmenten, ein feines und luftiges, hintergründiges Spiel mit Gedanken, zugleich lebensfroh und wehmütig, aber so an Sprache und Stil gebunden, daß jede Wiedergabe in einer fremden Sprache im Vergleich mit dem Original plump erscheinen muß. Manches in Hafis' Poesie erinnert an die Fayence-Ornamentik, wie sie die Architektur der Mongolenzeit charakterisiert und ihre höchste Vollkommenheit in den folgenden Jahrhunderten erreicht, mit ihrer Ausnutzung der Flächen in einer 12 S c h a e d e r , Goethe
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Unendlichkeit symmetrisch geordneter Arabesken, geometrischer Figuren und stilisierter Pflanzen- und Blumenmotive, unterbrochen von Bandverzierungen mit Koransprüchen und frommen Anrufungen in monumentalen Buchstabenverschlingungen." Daß die Frage, ob Hafis allegorisch oder wörtlich zu verstehen ist, nur für die europäische Forschung ein Problem sei, läßt sich wenigstens für das 15. und 16. Jahrhundert nicht aufrecht erhalten: damals war sie im Orient lebhaft umstritten; vgl. 0. 118—120. Es verlohnt, auch das Urteil Edward G. Brownes zu hören. Er sagt in dem in Anm. 2 genannten Buche S. 229 f.: „Daß manche Lieder in symbolischer und mystischer Bedeutung zu nehmen sind, werden wenige leugnen; daß andere das meinen, was sie sagen, und eine nicht-himmlische Schönheit, einen nicht-allegorischen Wein feiern, kann schwerlich in Frage gestellt werden; daß auf diese Weise — wie Sdiah Sdiudscha' beklagte [0. 119] — Geistiges und Stoffliches vermischt wird, überrascht niemanden, der Charakter, Psychologie und Weltanschauung der Perser kennt, unter denen man ohne weiteres Menschen treffen kann, die sich im Laufe eines einzigen Tages abwechselnd als fromme Muslime, rücksichtslose Freigeister, überzeugte Skeptiker und mystische Pantheisten oder gar als Inkarnationen der Gottheit darstellen. (Ich habe diesen Typus des Persers in dem Kapitel 'Amongst the Qalandars' meines 'Year amongst the Persians' zu schildern versucht.) Der Hafisleser, der nicht selber zu entscheiden vermag, welche Verse buchstäblich und welche symbolisch zu verstehen sind, wird schwerlich viel von einem Kommentator gewinnen, der unentwegt wiederholt, Wein bedeute geistige Ekstase, die Schenke das Sufikloster, der Magier-Alte den geistlichen Führer und so fort." In jüngster Zeit tritt bei gebildeten Persern wieder eine deutliche Neigung hervor, Hafis durchgängig mystisch zu verstehen. Das entspricht der auffallenden Steigerung des religiösen Interesses, in der wohl die unbewußte oder bewußte Reaktion gegen die autoritäre Staatsführung der letzten zwölf Jahre und die entschieden weltliche Richtung ihrer Kulturpolitik zu erkennen ist.
Die Religion
im West-östlichen
Divan
(S. 123-138.)
Mit Benutzung eines ungedruckten Vortrags, gehalten in der Berliner Ortsgruppe der Goethe-Gesellschaft am 9. November 1931. 1 (S. 123) Sprüche in Prosa, 519 Hecker. 2 (S. 123) Daselbst 442/43. 3 (S. 125) Die beste Auslegung des Fragments und der von Goethe dazu 1816 mitgeteilten Erläuterung enthält die Schrift von Hermann Baumgart, Goethes 'Geheimnisse' und seine 'Indischen Legenden' (1895). 4 (S. 125) Die eine steht am Schlüsse des Briefes vom 24. 8. 1784, die andere, unter der Aufschrift 'Für ewig', wurde zuerst 1820 in 'Kunst und Altertum' II 3 mitgeteilt. 5 (S. 125) Brief an Lavater vom 29. 7. 1782. 6 (S. 125) Brief an Jacobi vom 6. 1. 1813; danach Sprüche in Prosa, 807 Hecker. 7 (S. 125) Brief an S. Boisserie vom 22. 3- 1831 8 (S. 126) Brief an die Gräfin Auguste Stolberg vom 17- 4- 1825. 9 (S. 126) Entwurf zu einem Brief, vermutlich der Antwort auf Schillers Brief vom 27. 4. 1798; zusammen mit der oben S. 56 f. mitgeteilten Charakteristik veröffentlicht von Bernhard Suphan, Goethe-Jahrbuch 16 (1895) 28. 10 (S. 126) Ranke und Hegel (1928) 71. Simon fährt fort: „Sie ist deshalb vornehmlich
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eine Bewegung der Literatur, überall wo sie darüber hinaus Fruchtbares geschaffen hat, wie in der Wissenschaft, ist sie schnell und gründlidi über sich emporgewachsen." 11 (S. 127) Kierkegaards Brief an seinen Bruder Peter vom 27. 2. 1842 (Die Tagebücher, ausgewählt und übersetzt von Th. Haecker 1, 192J, 175 f.). Burckhardts Brief an Gottfried Kinkel vom 13. 6. 1842 (Briefe, hrsg. von F. Kaphahn, Kröners Taschenausgabe Bd. 134, 58). 12 (S. 128) Eckermann 6. 6. 1831. 13 (S. 128) Daselbst. 14 (S. 128) S. die Abhandlung von Konrad Burdach, Das religiöse Problem in Goethes Faust, Euphorion 33 (1932) 3—83. 15 (S. 128) Sprüche in Prosa, 279 Hecker. 16 (S. 129) Außer der Sammlung von Theodor Vogel, Goethes Selbstzeugnisse über seine Stellung zur Religion und zu religiös-kirchlichen Fragen (3. Aufl. 1903), die freilich, da die einzelnen Stellen außer Zusammenhang erscheinen, mit Vorsicht benutzt sein will, sei hier von der umfangreichen Literatur zu diesem Gegenstand, die durch das Goethejahr 1932 bereichert worden ist, mit Dank der Aufsatz von Erich Seeberg, Goethes Stellung zur Religion (Zeitschrift für Kirdiengesdiichte 51, 1932, 202—227) genannt; dort sind S. 202 Anm. 1 die neueren Arbeiten verzeichnet. 17 (S. 129) In dem Abschnitt über 'Mahmud von Gasna', der zu ihr Anlaß gab, da eingangs Mahmud als eifriger Vorkämpfer des Islam gewürdigt wird. Danach heißt es (im ersten Absatz) : „Der Glaube an den einigen Gott wirkt immer geisterhebend, indem er den Menschen auf die Einheit seines eignen Innern zurückweist. Näher steht der Nationalprophete, der nur Anhänglichkeit und Förmlichkeiten f o r d e r t . . . " Das geht auf Muhammed, als dessen Anhänger Mahmud sich betätigt — aber die Einführung des zweiten Satzes, zumal die Worte 'näher steht', verstehe ich nicht. 18 (S. 130) Weimarer Ausg. 42 Abt. 2, 422. S. jetzt Franz Koch, Goethe und die Juden 0937). 19 (S. 130) Weltgeschichtliche Betrachtungen (Kröners Taschenausgabe 55) 102. 20 (S. 130) S. die 'Bemerkungen zum modernen Islam', Süddeutsche Monatshefte 33 (1936) 5 4 9 - 5 5 3 21 (S. 131) Umgekehrt wird in den 'Noten' ('Hafis') das der Koranauslegung widerfahrene ähnliche Mißgeschick hervorgehoben. 22 (S. 131) 9. 6. 1831: „Das leidige Marterholz, das Widerwärtigste unter der Sonne." 23 (S. 131) 8. 8. 1815- Dort ist Chosru (dies die Goethesdie Schreibung des Namens) zu 'Cosken' entstellt. Chosraus Verbindung mit der Christin Sdiirin wird in den 'Noten' ('Altere Perser' und 'Geschichte') hervorgehoben. 24 (S. 132) Brief an den Grafen Reinhard vom 13. 8. 1812. 25 (S. 133) Max Kommerell, Faust zweiter Teil, Zum Verständnis der Form (Corona 7, 1937) 373. 26 (S. 133) 'Noten und Abhandlungen', 'Ältere Perser'. 27 (S. 134) Daselbst. 28 (S. 134) Anquetil Duperron, Zend-Avesta, ouvrage de Zoroastre, 3 Bände, Paris 1771. Joh. Fr. Kleuker, Zend-Avesta, Zoroasters lebendiges Wort, 3 Bände, Riga 1776/77; dazu: Anhang zum Zend-Avesta, Riga 1781/83. 29 (S. 134) S. den Aufsatz 'Gott und Mensch in der Verkündigung Zarathustras', in: Corolla Ludwig Curtius zum 60. Geburtstag dargebracht (1937) 187—200. 30 (S. 135) 'Budi der Spruche'. Die verwandten Äußerungen aus Gesprächen und Brie12*
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fen bei J. Minor, Goethes Mahomet 63 f.; der Versuch K. Burdachs (Faust und Moses 744), diese Auffassung des 'Islam' mit den religiösen Erlebnissen der Frankfurter Zeit in Zusammenhang zu bringen, ist nicht stichhaltig. 31 (S. 1J5) Sprüche in Prosa, 806 Hecker. 32 (S. 135) Daselbst 1001. Erst im Lichte dieses Spruches wird der folgende (1002) verständlich, der nicht für sich gesondert betrachtet werden darf: „Poesie deutet auf die Geheimnisse der N a t u r und sucht sie durchs Bild zu lösen; Philosophie deutet auf die Geheimnisse der N a t u r und sudit sie durdis W o r t zu lösen (Naturphilosophie, Experimentalphilosophie) ; Mystik deutet auf die Geheimnisse der N a t u r und Vernunft und sucht sie durch W o r t und Bild zu lösen." 33 (S. 135) 'Dsdiami'. 34 (S. 136) Louis Massignon, La Passion d'al-Hosain-ibn-Mansour al-Hallaj, martyr mystique de l'Islam (1922) ; Essai sur les origines du lexique tedinique de la mystique musulmane ( 1 9 2 2 ) ; Akhbar al-Hallaj (mit P. Kraus, 1936). Die beiden ersten W e r k e habe ich in 'Der Islam' 1 5 (1925) 1 1 7 — 1 3 5 zu würdigen versucht. — S. jetzt Franz Taesdiner, Die Erlösungssehnsucht in der islamischen Mystik des Mittelalters (in den von ihm herausgegebenen 'Orientalischen Stimmen zum Erlösungsgedanken', 'Morgenland' Heft 28, 1936, 55—79). 35 (S. 136) 336—338 Hecker.
Paria
(S. 139—155)
Bisher ungedruckt. 1 (S. 139) Sprüche in Prosa, 314 Hecker. 1 (S. 139) S. auch Sulpiz Boisserées Tagebuch vom 3- 8. 1815. Goethe hat von der Metamorphosenlehre gesprochen und schließt: „Die Torheit der indischen Büßer, wie sie die Einheit suchen, ist mir ein Beweis, wie die Menschen immer, wenn sie etwas von der Wahrheit gemerkt, dann gleich wieder den irrigen W e g dahin einschlagen, das ist nun so die Welt." 3 (S. 139) Tag- und Jahreshefte 18174 (S. 140) Eckermann 10. 1 1 . 1823. 5 (S. 141) O . Dapper, Asia, oder: Ausführliche Beschreibung des Reiches des Großen Mogols usw., deutsch von Joh. Chr. Beer (Nürnberg 1681 ) , S. 67. 6 (S. 1 4 1 ) Das hat zuerst 1858 Heinrich Düntzer gezeigt; s. seine Erläuterungen zu Goethes W e r k e n XXI—XXIII: Lyrische Gedichte, Band 2, 2. Aufl. 1876, 447 ff. Ohne Kenntnis von seinem Beweis suchte der Göttinger Indologe Theodor Benfey 1862 in seiner Zeitschrift 'Orient und Occident' 1, 719 f . , die Quelle Goethes in dem W e r k von Dapper (s. die letzte Anm.), was er, auf Düntzer hinweisend, daselbst 2, 97 widerrief. Sein Aufsatz ist dadurch wertvoll, daß er die Legende in der Sanskritliteratur verfolgt. Im M a h a b h a r a t a (3, 11071 ff.) tötet der Brahmane Jamadagni erst seine Gattin Renuka, da er durchschaut, daß sie beim Baden im Anblick des Königs Citraratha von Liebe ergriffen ward, und dann vier seiner Söhne, die sich weigern, die M u t t e r zu richten. Erst der fünfte, Rama, folgt dem Geheiß und empfängt zum Lohn f ü r seinen Gehorsam die Wiederbelebung der M u t t e r . Eine etwas abweichende Fassung hat das Bhagavata-Purana 9, 6. Das Motiv der Vertauschung der Köpfe zweier Toter, die ins Leben zurückgerufen werden, wies Benfey
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in dem Erzählungswerk Vetalapancavimsatika nach; daraus ging es in das persische Tutiname ('Papageienbuch') über, das Goethe in der 1822 erschienenen Übersetzung von Karl Iken kennen lernte. 7 (S. 145) Franzensbad 27- 5- 1807. 8 (S. 145) Den Grund zur Sacherklärung hat H. Düntzer gelegt (s. Anm. 6). Das Beste über den Paria hat wohl Hermann Baumgart, Goethes 'Geheimnisse' und seine 'Indischen Legenden' (1895) 82—110, gesagt (s. schon Anm. 3 zu S. 125). Die anscheinend neueste Erklärung von Karl Bornhausen, Wandlungen in Goethes Religion (o. J. [1923] 47—62, geht vielfach in die Irre. 9 (S. 146) Eckermann 1. 12. 1831. 10 (S. 147) Brief an Karl J. L. Iken vom 27. 9. 1831. 11 (S. 147) S. den Leitspruch zu diesem Kapitel. 12 (S. 148) Tagebuch vom 30. 10. 177513 (S. 150) Zur gnostischen Symbolbildung s. meine Abhandlung 'Urform und Fortbildungen des manichäischen Systems', in: Vorträge der Bibliothek Warburg 4(1927) 65—157, und weitere Arbeiten, zuletzt 'Der Manidiäismus nach neuen Funden und Forschungen', in: Orientalische Stimmen zum Erlösungsgedanken. Morgenland 28 (1936) 80—109; ferner den Aufsatz 'Bardesanes von Edessa in der Überlieferung der griechischen und der syrischen Kirche', in: Zeitsdirift für Kirchengeschichte 51 (1932) 21—74, besonders die dort S. 64 mitgeteilte Charakteristik der gnostischen Mythen von Robert P. Casey. 14 (S. 151) Anzeige von Don Alonzo ou l'Espagne, histoire contemporaine par N . A. de Salvandy (1824) in 'Kunst und Altertum' V 1, 1824. 15 (S. 151) Tagebuch Karlsbad 17- 5- 1808. 16 (S. 152) Goethes Werke, Hempelsche Ausgabe 21 (0. J.) 357—361; der Hinweis auf den 'Paria' S. 360. 17 (S. 152) 'Dichterische Vermengung gnostischer und neuplatonischer Motive' nimmt Franz Koch, Goethe und Plotin (1925) 45, an; ähnlich Franz Saran, Goethes Mahomet und Prometheus (1914) 124, im Zusammenhang einer wertvollen Untersuchung des Verhältnisses der Prometheus-Bruchstücke zu dem Mythos. 18 (S. 153) Brief vom 7. 5. 1781. Es heißt dort weiter: „Oder vielmehr, mein Lieber, möcht ich das Element, woraus des Menschen Seele gebildet ist und worin sie lebt, ein Fegfeuer nennen, worin alle höllisch und himmlischen Kräfte durcheinander gehn und wirken." Man halte daneben einen Brief des siebzehnjährigen Dostojevskij an seinen Bruder Michail: „Dem Menschen ist dieser einzige Seelenzustand beschieden: die Atmosphäre seiner Seele besteht aus einer Vermengung des Himmlischen mit dem Irdischen . . . Unsere Erde erscheint mir als ein Fegefeuer für himmlische Geister, die von sündigen Gedanken getrübt worden sind" (angeführt bei Alexander Eliasberg, Russische Literaturgeschichte 54). 19 (S. 153) Gespräch mit Riemer 3- 7- 1810. 20 (S. 153) Andreas Fischer, Goethe und Napoleon 95. 21 (S. 154) An Egmont denkt offensichtlich Leopold Ranke, wenn er in der Charakteristik Karls II. von England (Englische Geschichte, 16. Buch 12. Kap. am Ende) sagt: „Es erinnert an Goethes Charaktere, wie Karl II. das Leben nahm und genoß." 11 (S. 154) Ilias Z 407; dafür Fritz Reuter (Dördiläuchting Kap. 8) vortrefflich: 'Du Düwelskirl'. 23 (S. 155) Eckermann 2. 3. 1831. Eckermanns eigene Betrachtungen über das Dämo-
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nisdie helfen nicht weiter; was er am 28. 2.1831, nadi der Lesung der Charakteristik des Dämonischen im vierten Teil von 'Dichtung und Wahrheit' zu Papier bringt, zeigt, daß sie ihm unverständlich geblieben ist. — Die Bestimmung des Dämonischen in der 'Vierteljahresschrift der Goethe-Gesellschaft' 1 (1936) 165 als „Einheit von Grund und Abgrund, von Niditmehr und Nochnidit, von Menschlichem und Ubermenschlichem, kurz ein 'Stehen im Intervall'", ist mir nicht recht klar geworden. 24 (S. 155) Sure 2, 109.
Sdhtußbemerkung Beim Abschluß der Arbeit freue ich mich, f ü r viele Hilfe und Förderung danken zu dürfen. Der Verleger, Herr Leopold Klotz, hat durch freundliches Interesse den Anstoß zu ihr gegeben und für ihre äußere Gestalt Sorge getragen. Frau Katharina Kippenberg, die in dem 'Insel-AImanach auf das Goethejahr 1932' eines der schönsten GoetheLesebücher geschaffen hat, und Herr Hans Wahl, der Herausgeber der 'Vierteljahresschrift der Goethe-Gesellschaft', haben bereitwillig Benutzung und Wiederabdrudc von Aufsätzen freigestellt, die unter ihrer Obhut erschienen waren. Das Goethe- und SchillerArchiv zu Weimar hat die Nachbildung von Goethes Handschrift der 'Seligen Sehnsucht' gestattet. Die Beamten der Berliner Universitätsbibliothek und der Preußischen Staatsbibliothek haben sich mir wieder unermüdlich und zuvorkommend hilfreich erwiesen. Herr Julius Petersen hat eine Anfrage mit wertvollem Rat beantwortet. Mein Freund Hans Georg Opitz hat die Korrekturen mitgelesen,- der Gedankenaustausch mit ihm, der seit Jahren unsere Einmütigkeit in geschichtlich-gegenwärtigen Fragen bekräftigt, ist auch dieser Arbeit zugute gekommen. Meine Frau hat an ihr von den ersten Versuchen der Gedankenprägung bis zur letzten Korrektur tätigen Anteil genommen und hat aus Eigenem ein Stüde zu ihr beigesteuert. Wannsee, 1. Advent 1937.
nisdie helfen nicht weiter; was er am 28. 2.1831, nadi der Lesung der Charakteristik des Dämonischen im vierten Teil von 'Dichtung und Wahrheit' zu Papier bringt, zeigt, daß sie ihm unverständlich geblieben ist. — Die Bestimmung des Dämonischen in der 'Vierteljahresschrift der Goethe-Gesellschaft' 1 (1936) 165 als „Einheit von Grund und Abgrund, von Niditmehr und Nochnidit, von Menschlichem und Ubermenschlichem, kurz ein 'Stehen im Intervall'", ist mir nicht recht klar geworden. 24 (S. 155) Sure 2, 109.
Sdhtußbemerkung Beim Abschluß der Arbeit freue ich mich, f ü r viele Hilfe und Förderung danken zu dürfen. Der Verleger, Herr Leopold Klotz, hat durch freundliches Interesse den Anstoß zu ihr gegeben und für ihre äußere Gestalt Sorge getragen. Frau Katharina Kippenberg, die in dem 'Insel-AImanach auf das Goethejahr 1932' eines der schönsten GoetheLesebücher geschaffen hat, und Herr Hans Wahl, der Herausgeber der 'Vierteljahresschrift der Goethe-Gesellschaft', haben bereitwillig Benutzung und Wiederabdrudc von Aufsätzen freigestellt, die unter ihrer Obhut erschienen waren. Das Goethe- und SchillerArchiv zu Weimar hat die Nachbildung von Goethes Handschrift der 'Seligen Sehnsucht' gestattet. Die Beamten der Berliner Universitätsbibliothek und der Preußischen Staatsbibliothek haben sich mir wieder unermüdlich und zuvorkommend hilfreich erwiesen. Herr Julius Petersen hat eine Anfrage mit wertvollem Rat beantwortet. Mein Freund Hans Georg Opitz hat die Korrekturen mitgelesen,- der Gedankenaustausch mit ihm, der seit Jahren unsere Einmütigkeit in geschichtlich-gegenwärtigen Fragen bekräftigt, ist auch dieser Arbeit zugute gekommen. Meine Frau hat an ihr von den ersten Versuchen der Gedankenprägung bis zur letzten Korrektur tätigen Anteil genommen und hat aus Eigenem ein Stüde zu ihr beigesteuert. Wannsee, 1. Advent 1937.