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German Pages 213 [216] Year 2000
Burkhard Moennighoff Goethes Gedichttitel
QueUen und Forschungen 2ur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
16 (250)
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2000
Goethes Gedichttite.
Burkhard Moennighoff
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2000
Als Habilitationsschrift auf EmpfeMung der Philosophischen Fakultät der Universität Götüngen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüUt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Moennighoff, Burkhard: Goethes Gedichttitel / von Burkhard Moennighoff. - BerHn ; New York : de Gruyter, 2000 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 16 = (250)) Zugl.: Göttingen, Univ., Habü.-Schr., 2000
ISSN 0946-9419 © Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Beriin Dieses Werk einschließlich aller seiner TeUe ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Veriages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Inhalt
I.
EINLEITUNG
1
II.
BEGRIFF DES TITELS
13
1. 1.1. 1.2. 1.3. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.3.5. 3. 4. 4.1. 4.2.
Der Titel als Textsorte Die benennende Dimension Die prädizierende Dimension Die räumliche Dimension йЬефгйп1п§ der Textsortenbestimmung Die Geschlossenheit des Titelbegriffs Einige Konsequenzen Der Titel im Gattungssystem Das Motto Die Autorangabe Die Anmerkung Das Vor- und Nachwort Die Widmung Der mediale Status des Titels Zur Titeltypologie Thematische Titel Rhematische Titel
13 15 19 22 25 26 28 31 32 32 33 34 35 37 40 44 45
III.
DER JUNGE GOETHE
48
1. 2. 3. 4. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 6. 6.1. 6.2.
Titel und Titellosigkeit: Ein Fallbeispiel Erste Versuche Stammbuchgedichte Briefgedichte Gedichte des Rokoko und der Anakreontik Das Buch „Annette" Oden an Behrisch Neue Lieder Gedichte der Genieperiode Volksballaden aus dem Elsaß Gedichte zwischen 1771 und 1775
48 51 55 59 61 61 65 66 69 69 72
VI
Inhalt
7. 8.
Erste Weimarer Gedichtsammlung Bilanz
80 86
IV.
WEIMAR/ITALIEN
88
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Vermischte Gedichte ( 1789) Elegien Epigramme Xenien Elegien/Idyllen Balladen Bilanz
88 100 104 105 110 112 114
V.
WERKE (1815)
116
1. 2. 3. 4. 5.
Ordnung und Unordnung Lieder/Gesellige Lieder Aus Wilhelm Meister Sonette Bilanz
117 120 121 123 125
VI.
WEST-ÖSTLICHERDIVAN
126
1. 1.1. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 2. 3.
Die Erstausgabe von 1819 Entstehungsgeschichte und Titelgeschichte Die Titelpraxis in der Erstausgabe Buch des Sängers - Buch Hafis - Buch der Liebe Buch der Betrachtungen - Buch des Unmuths - Buch der Sprüche.. Buch des Timur - Buch Suleika - Das Schenkenbuch Buch der Parabeln - Buch des Parsen - Buch des Paradieses Zur Titelpraxis in der Ausgabe von 1827 Bilanz
126 126 128 131 142 146 154 157 159
VII.
DAS SPÄTWERK
161
1. 2. 3.
Werke (1827/1828) Letzte Gedichte Bilanz
161 165 168
VIII.
GOETHES TITELPRAXIS, SCHEMATISIERT
169
IX.
ANHANG
181
Literaturverzeichnis Register
181 203
I. Einleitung
In einer Studie über Gedichte Goethes schreibt Waither Kiliy: „Ein gutes Gedicht kennt nichts Überflüssiges, nicht einmal die vom Dichter gesetzte Überschrift ist ihm entbehrlich."' Dieses Urteil hat vieles fur sich. Der Titel eines Gedichts geht diesem voran, er stellt den ersten Kontakt zwischen Leser und Gedicht her und gibt eine erste Information über das Gedicht. Der Gedichttitel setzt einen Anfang, bevor das Gedicht überhaupt beginnt. Die Vorbereitung auf das Gedicht, die der Titel leistet, kann einfach oder komplex sein und beinahe unerkennbar oder merklich vonstatten gehen; der Titel kann Schwelle oder Portalfigur sein. „Der Titel ist der Ruhm des Werkes", schreibt Adorno^ und meint zumindest wohl dieses: Selbst wenn ein Text in all seinen Einzelheiten gar nicht im Bewußtsein ist, er dort nicht mehr oder noch nie gewesen ist, kennt man ihn gegebenenfalls doch unter seinem Namen. Adornos Diktum meint aber auch: Im Titel kann die Essenz eines Textes mitgeteilt werden. In diesem Punkt stimmt Adorno mit Johann Georg Hamann überein, der in einem Brief schreibt: „Der Titel ist für mich kein Schild zum bloßen Aushängen, sondern der nucleus in nuce, das Senfkorn des ganzen Gewächses."^ Die vielfältigen Möglichkeiten der Titelsetzung machen die Erfindung von Titeln keineswegs immer zu einem leichten Unterfangen. Man hat diese Schwierigkeit reflektiert. Rückert dichtet in diesem Sinn: „Den Titel, ist ein alter Spruch, zu machen, ist das schwerst' am Buch.""* Und bei Werner Milch heißt es: „Schon daß er seinem Werke den rechten Titel zu geben weiß, verrät den Dichter Karl Krolow schreibt in einer Betrachtung zu Gedichtband-Titeln: „Der Titel eines Buches will etwas versprechen. Er wird hinweisen müssen und zugleich auf knappe und geglückte oder auch weitschweifige, erlesene oder beiläufige, auf boshafte oder gelehrte Art das Sagbare und das Unsägliche des diesem innewohnenden Geistes anzubieten und aufzubieten haben. [...] Er muß den Lesenden vor seine Möglichkeiten stellen, die immer wieder überraschend andere sind. Er muß vieldeutig sein, ohne Verblasen zu werden. Immer muß etwas offen bleiben, mit dem man nicht
1 2 3 4 5
Killy 1982: 101. A d o m o 1974: 334. Hamann 1955-1979, Bd. 6: 137. Rückert o.J., Bd. 3; 332. Milch 1957; 138.
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Einleitung
rechnete. Man sieht: es ist nicht wenig, was es in ein paar Worte zu legen gilt, die einmal dem Buch seinen Namen geben sollen."^ Wer die Entstehungsgeschichte von Texten betrachtet, kann Zeuge einer Kunstanstrengung sein, die gar nicht einmal selten der Titelfindung gilt. Eines der berühmtesten und zugleich rätselhaftesten Gedichte in Goethes „Westöstlichem Divan" ist „Selige Sehnsucht": Seiige Sehnsucht Sagt es nieinand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebend'ge will ich preisen Das nach Flammentod sich sehnet. In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest, Ueberfällt dich fremde Fühlung Wenn die stille Kerze leuchtet. Nicht mehr bleibest du umfangen In der Finstemiß Beschattung, Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung. Keine Ferne macht dich schwierig. Kommst geflogen und gebannt. Und zuletzt, des Lichts begierig. Bist du Schmetterling verbrannt. Und so lang du das nicht hast. Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde.'
In der Handschrift von 1814 ist dieser Text mit der Kennzeichnung „Buch Sad. Gasele 1" überschrieben. Später, nämlich in der Inventarliste des „Divans", die Goethe im Mai 1815 angefertigt hat und die heute als „Wiesbadener Register" bezeichnet wird, wird er mit der Kennzeichnung „Selbstopfer" geführt. Im Vorabdruck im „Taschenbuch fur Damen auf das Jahr 1817" trägt der Text den Titel „Vollendung". Der Fall zeigt, welche Aufmerksamkeit Goethe der Titelsetzung beigemessen hat, und er bietet ein Beispiel für das Bemühen, dem sich
6 7
Krolow 1 9 4 3 : 9 7 . FAI/3,l:24i
Einleitung
3
viele Dichter bei der Benennung iiirer Gedichte unterzogen haben. Die Geschichte der deutschen Lyrik ist genauso wie die Geschichte der deutschen Literatur überhaupt reich an Titelvariationen. Nicht nur Bücher, auch Titel können ein Schicksal haben.^ Das erstmals 1637 veröffentlichte Sonett von Andreas Gryphius „Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes" trägt in der späteren Fassung von 1643 den Titel "Threnen des Vatterlandes / Anno 1636". Klopstocks „Die Frühlingsfeier" hieß zuerst „Ode über die emsthaften Vergnügungen des Landlebens", Eichendorffs kleines Wunderwerk „Die zwei Gesellen" zuerst „Frühlingsfahrt". Oskar Loerke hat viele seiner Gedichttitel im Laufe ihrer Entstehungsgeschichte verändert. Aus „Altes Echo" wurde „Sehnsüchtiger Horizont", aus „Sintflut" wurde „Der Crucifixus des Kindes" und schließlich „J. S. Bach spielt Orgel in der Nacht".' Sind solche Veränderungen Verbesserungen oder Verschlechterungen, präzisieren sie einen Sinn, verschieben sie ihn oder verschleiern sie ihn? Lassen sich solche Fragen überhaupt sinnvoll stellen? Oder denkt man immer schon zuviel oder zuwenig bei der Suche nach der Bedeutung von Titeln, wie Harald Härtung zu Beginn seiner Lyrikanthologie „Luftfracht" anmerkt?'" Titelvarianten jedenfalls haben immer wieder zu unterschiedlichen, auch widerstreitenden Reflexionen angeregt. Max Rychner schreibt über die Titelvariationen von Goethes „Selige Sehnsucht": „Der erste, nichtssagende Titel wurde verändert in 'Selbstopfer', später in 'Vollendung', schließlich in 'Selige Sehnsucht': welch suchende Unruhe, für die Bezeichnung höchster Bezüge eine in angemessener Offenbarung hinweisende Chiffre zu finden!"" Und Werner Kraft schreibt unter Bezugnahme auf die Schlußwendung des Gedichts: „Der Wahrheitsmut, ein Gedicht, das so endet, nicht 'Selbstopfer' zu nennen, sondern 'Selige Sehnsucht' ist unüberschätzbar. Goethe scheint sagen zu wollen, daß nur kraft dieses Bekenntnisses zu der eigenen Unseligkeit, zu welcher das Nicht-Haben und der Fremde auf Erden sich reimen, erfüllbar ist -: die selige Sehnsucht."'^ Konrad Burdach zu demselben Zusammenhang, aber mit ganz anderer Akzentuierung: „So konnte Goethe seinem Gedicht als dem mystischen Ausdruck jenseitiger und diesseitiger Metamorphose schließlich den Titel 'Selige Sehnsucht' geben, der die älteren Titel der beiden konvergierenden Gedankenreihen ('Selbstopfer' und 'Vollendung') in eine höhere Einheit zusammenzieht."'^ Hendrik Birus kom-
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9 10 11 12 13
Das kann eingehend auch an Titelübersetzungen belegt werden. Zolas „L'assommoir" ist im Deutschen lange als „Der Totschläger" wiedergegeben worden, bevor der Text passender mit „Schnapsbude" betitelt wurde. Vgl. zu Loerke: Tgahrt 1986: 296f. Vgl. Härtung 1991: 5. Rychner 1994: 422. Kraft 1986: 251. - An anderer Stelle bezeichnet Werner Kraft (Kraft 1986: 72) den Titel „Selige Sehnsucht" als ein „Gedicht ftir sich". JA 5: 338.
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Einleitung
mentiert: „Da sie sich keineswegs (wie früher behauptet) auf verschiedene Fassungen des Gedichts beziehen, sind diese Titel als dessen unterschiedliche, ja gegensätzliche Aspekte zu inteφretieren, wie ja auch der endgültige Titel antithetisch zu verstehen ist."''' Und neuerdings schreibt Gert Ueding: „Vollendung hatte das Gedicht ja auch einmal heißen sollen. G. hat diese Überschrift dann verworfen, wohl auch der Schlußstrophe wegen, die mit ernüchternder Geradheit den Blick vom Sehnsuchtsgebilde weg aufs unvollkommene Dasein zwingt. Die Vertreibung aus dem poetischen Bildersaal ins empirische Dasein und in die Tätigkeit des Lebens ist dabei eine ebenso charakteristische Wendung G.s wie die Vorstellung von der Exterritorialität des Todes zu aller menschlichen Erfahrung."'^ Ein Gedicht - so viele Hypothesen, seine Titelgebung zu verstehen. „Weiß man nicht über Goethes Gedichte gar zuviel?" hat Karl Krolow mit Bangigkeit gefragt.'^ Sicher ist, daß es viel Wissen über Goethes Gedichte gibt. Aber deshalb muß man nicht schon aufhören, Fragen an sie zu richten. Über die Titelpraxis in Goethes Gedichten ist nichts Genaues bekannt. Zwar fehlt es nicht an Empfehlungen, den Titel überhaupt in die Analyse von lyrischen Texten einzubeziehen," zwar werden Goethes Gedichttitel in Einzeluntersuchungen durchaus mit in das Kalkül der Analyse und in Editionen durchaus mit in das Kalkül der textgenetischen Beschreibung und auch in das der Kommentierung gezogen, an einer zusammenhängenden Untersuchung fehlt es jedoch. Die Entscheidung für eine solche Untersuchung läßt sich aus den Qualitäten des lyrischen Œuvres Goethes begründen. Nicht vor ihm und nur selten nach ihm hat ein deutscher Dichter ein solch vielgestaltiges lyrisches Gesamtwerk geschaffen wie es Goethe getan hat. Der metrische Formenschatz seiner Gedichte reicht vom Alexandriner über den Knittelvers bis zum Hexameter und schließt auch noch den Freien Rhythmus sowie madrigalische Verse ein; er umfaßt Kirchenliedstrophen sowie volksliedhafte Strophenformen und die Stanze. Unter den vielen lyrischen Gattungen verwendet Goethe das Lied genauso wie die Ballade in vielen verschiedenen Spielarten und schreibt außerdem noch Elegien, Oden, Sonette und Epigramme. Zu den Zweckformen seiner lyrischen Dichtung gehören Widmungsgedichte, Stammbuchgedichte, Briefgedichte, Huldigungsgedichte, des weiteren satirische, komische und polemische Gedichte, daneben auch Lehrgedichte. Die Stilhöhen und Sprechhaltungen variieren und reichen vom niedrigen Register des Kolloquialen bis zum hohen des Hymnischen. Überdies partizipieren Goethes Gedichte an verschiedenen Epochenstilen. Es gibt Rokokogedichte und Gedichte der Empfindsamkeit, Gedichte des
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FA 1 / 3 , 2 : 966. Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 1: 379. Krolow 1 9 9 4 : 9 6 . Vgl. B u r d o r f l 9 9 7 : 130-134.
Einleitung
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Sturm und Drang und solche der Klassik. Und dann gibt es die epochal schon nicht mehr eindeutig einzuordnenden Gedichte der späten Jahre. Goethe hat sich sicher in der Formen- und Sprachwelt der Lyrik bewegt und kunstvoll über vorgegebene literarische Muster verfugt. Darum kann man auch vermuten, daß er sich der im Gedicht seiner Zeit längst etablierten und bewährten Institution des Titels als einer Kunstform bedient. Man kann vermuten, daß sie einen wichtigen und integralen Bestandteil seines lyrischen Werks bildet. Die Geschichte des Titels im deutschen Gedicht ist nicht annähernd so alt wie die deutsche Lyrik. Die deutsche Lyrik des Mittelalters kennt keinen Titel. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts sind Gedichttitel unbekannt." Und auch in den Jahrhunderten danach ist der Gedichttitel als literarische Institution keineswegs eine solche Selbstverständlichkeit, wie er es heute ist. Aber es hieße, einem Vorurteil stattzugeben, wollte man von einer plötzlichen Geburt des Gedichttitels sprechen. Der Titel entsteht nicht aus dem Nichts. Da es keine Arbeit gibt, die eigens die Anfangsgründe des Gedichttitels in der deutschen Literatur beschreibt, und diese es sich nicht zur Aufgabe macht, sie bis ins Einzelne gehend zu rekonstruieren, können hier unter Bezugnahme auf wenige, allerdings symptomatische Textbeispiele nur sehr grobe Aussagen getroffen werden. Der Begriff der Lyrik ist ein modemer, seine Anwendung auf die Literatur des 14. und 15. Jahrhunderts nur mit Bedacht statthaft. Was ex post vielfach als Lyrik dieser Zeit bezeichnet wird, ist vor allem strophische Dichtung, die für den Gesang bestimmt ist. Zur strophischen Dichtung des 14. und 15. Jahrhunderts zählen das Lied in seinen verschiedenen Erscheinungsformen des Volks-, Kunst- und Gesellschaftsliedes, der Spruch und der Leich. Erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts finden sich in diesem Feld der Literatur zunehmend auch Texte mit Titeln. Beispiele für authentische, vom Autor verantwortete Titel finden sich bei Hans Folz'' und bei Sebastian Brant.^" Es handelt sich in diesen Fällen um gedruckte Titel in gedruckten Schriften, sei es in Buchform, sei es in Form des Flugblattes.^' Vieles spricht dafür, die institutionelle Etablierung des Gedichttitels mit der Erfindung des Drucks, die in der europäischen Kultur auf die Zeit zwischen 1440 und 1450 zu datieren ist, in Verbindung zu bringen. Seitdem hat die Kommerzialisierung des Buchwesens, die freilich auch schon ehedem bestand,
18 Das heißt nicht, daß Gedichttitel vor dieser Zeit überhaupt nicht gebraucht werden. Das mittellateinische Gedicht hat ihn im Einzelfall - etwa bei Baudri von Bourgueil oder bei Hildeberts von Lavardin. 19 Vgl. Killy 1969-1978, Bd. 2: 365. 2 0 Vgl. Brant 1915. 21 Dies ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Gerade in der Übergangszeit von der Handschrift zum Druck gibt es gedruckte Bücher, die einen vom Rubrikator oft kalligraphisch eingetragenen, handschriftlichen Titel enthalten. Vgl. W u l f f ] 9 7 9 : 142 und Kiessling 1929; 12.
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Einleitung
eine neue Dimension erreicht.^^ Die neuen Möglichkeiten der Vervielfältigung haben neue buchhändlerische Vertriebsweisen mit sich gebracht und die Grundlage fur eine weitreichende Distribution des Gedruckten geschaffen. Folge der Erfindung des Drucks ist aber nicht nur die gesteigerte Verbreitung von einzelnen Texten, sondern auch die gesteigerte Verbreitung von vielen Texten. Mit der Erfindung des Drucks und der rasch zunehmenden Zahl der Druckorte (bis 1470 waren es 17, bis 1480 121 und bis 1490 204) nahm die Zahl der Druckerzeugnisse rasant zu. „In den gut 250 Druckorten bis 1500 erschienen nach neueren Berechnungen etwa 27000 Druckwerke in etwa 20 Millionen Exemplaren, davon knapp ein Drittel in Deutschland."" Anders als der Buchtitel, der auch schon vor der Erfindung des Drucks existierte, scheint sich der Gedichttitel erst als Reaktion auf die Erfindung des Drucks und den in diesem Zusammenhang entstehenden Zwang zur Individualisierung der nun vielzählig erscheinenden Texte zu etablieren.^" In der Lyrik des 16. Jahrhunderts setzt sich die im 15. Jahrhundert beginnende Entwicklung fort. Titel von Gedichten setzen sich durch und finden Verbreitung unter den publizistischen Bedingungen, die das Druckwesen mit sich bringt. Diese These, die einstweilen eine Hypothese ist, der Plausibilität zu verleihen, Aufgabe einer anderen Arbeit sein kann, darf sich vor zwei Tatsachen nicht verschließen. Erstens: Es gibt auch in Handschriften Gedichttitel. So ist von Michel Beheim eine Autographensammlung überliefert, deren Gedichte Titel haben.^' Auch Priamelhandschriften des 15. Jahrhunderts enthalten bisweilen Gedichttitel.^® Im Einzelfall sind die Tonangaben, die den Liedtexten des Meistersangs vorangestellt werden und dort über Reim- und Versstruktur, Melodie, Name des Tonerfinders sowie den Namen des Tons informieren,^^ so formuliert, daß sie auch als Titel aufgefaßt werden können.^' Vielfach stammen die Titel in handschriftlich überlieferten Gedichten aus der Hand eines Schreibers. Man hat mit ihnen der Besonderheit einzelner Texte Rechnung tragen wollen. So im Fall von Härders „Goldenem Schilling" und Leschs „Goldenem Schloß".^' Oder man hat redaktionell, einteilend und sichtend, in Sammelhandschriften eingreifen wollen.'" Zweitens: Auch im Druck erschienene Texte sind nicht notwendig mit
2 2 Icli bezielie mich im folgenden auf Wittmann 1991 : bes. 11 -41. 2 3 Wittmann 1 9 9 1 : 2 3 . 2 4 Als 'titulus', der als Zettel einer Buchrolle angeheftet wurde, gab es den Buchtitel schon im Altertum. - Einen allgemeinen Überblick über die Geschichte des Buchtitels gibt Wulff 1979: 129-198. 25 26 27 28
Vgl. Killy 1969-1978, Bd. 2: 2 6 8 - 2 8 9 . Vgl. Killy 1969-1978, Bd. 2: 374-381. Vgl. Rettelbach 1993: 44. Vgl. Schanze 1983/84, Bd. 1: 141 weist auf einen solchen Fall in der Lieddichtung von Suchensinn hin. 2 9 Vgl. Schanze 1983/84, Bd. 1: 265. 3 0 Vgl. Katann 1 9 0 9 / 1 9 1 0 : 4 1 5 .
Einleitung
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einem Titel versehen. Die noch in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vorherrschende Titellosigkeit des Gedichts verliert sich nicht plötzlich. Eher ist es ein allmählicher Übergang, der vom unbetitelten zum betitelten Gedicht führt. Dieser Übergang ist freilich maßgeblich durch die Erfindung des Drucks vorangebracht worden; vorbereitet wurde er durch singulare Titel und titelähnliche Gebilde in handschriftlichen Texten des filihen 15. Jahrhunderts.^' Im 16. Jahrhundert wird der Gedichttitel nicht nur zu einer literarischen Institution, sondern es entwickelt sich auch spätestens in dieser Zeit ein Bewußtsein von dieser Institution. Scaliger widmet das letzte Kapitel des dritten Buchs der „Poetices libri septem" (1561) dem Titel. Er definiert den Begriff des Titels und sucht im übrigen nach Regeln, wie ein Titel zu setzen sei. Obwohl Scaliger hauptsächlich auf Buchtitel eingeht, läßt er Gedichttitel nicht außer Betracht. Jedoch handelt es sich um Titel von allgemeiner Art: „Est et alterum genus inscriptionis a genere poematum: Epigrammata, Lyrica, Galliambi, Dithyrambica, et a modo eorum: Cantus, Ode, Melos, et ab inventoribus aut iis qui eo genere carminis excelluerunt: Anacreontica nostra, Hipponactes nostri, Archilochus noster, Manes Catulliani nostri."^^ Georg Philipp Harsdörffer handelt 1648 im zweiten Teil seines „Poetischen Trichters" wie selbstverständlich über den individuellen Gedichttitel: „Wie nun ein jedes Buch oder jede Schrifft seinen Titel und Obschrifft haben sol / also wird auch zu einem jeden Gedicht ein Gewisser Titel erfordert / und der Name desselben / welchem es zu Ehren verfasset / und gleichsam zugeschrieben worden. Die Büchertittel nimmt man hervon ihrem Inhalt / den sie behandlen / und nicht von der Anzahl ihrer Capitel / oder Abtheilung: Also soll man auch allezeit das Gedicht benamen von seinem Beruff / und nicht von dem Reimmaß / oder der Versarte."^^ In demselben Zusammenhang entwickelt Harsdörffer einen anderen Gedanken zur Titelsetzung. Zur angemessenen Einrichtung eines Gedichts gehöre: „Die Obschrifft / oder den Titel deß Gedichts / dardurch deß
31 Kayser 1962: 192 gibt eine anders akzentuierte, aber mit der hier vorgelegten kompatible Erklärung für das Entstehen des Gedichttitels: „Mittelalterliche Gedichte kennen die Titelgebung nicht. Erst seit dem Humanismus ist der Brauch fest geworden, offenbar als Ausgleich daftlr, daß ein Gedicht (gesteigert durch seinen Sprechcharakter) nicht mehr so fest in die Formen des Gemeinschaftslebens einbezogen war, die für eine Vor-Einstimmung sorgten. So fällt zu einem Teil dem Titel die Aufgabe zu, in dem Aufnehmenden die rechte Stimmung zu schaffen. Was im Theater der Gongschlag und das Erlöschen der Lampen besorgt: die Verzauberung auf die Welt der Dichtung hin, das muß in der Lyrik oft der Gedichttitel allein leisten." 3 2 Scaliger 1995, Bd. 3: 220/222. Ein Indiz daftlr, daß sich im 16. Jahrhundert das Gattungsbewußtsein hinsichtlich des Buchtitels durchgesetzt hat, bilden die satirisch-parodistischen Titellisten im Werk von Johann Fischart; beispielsweise im 17. Kapitel der „Geschichtsklitterung" oder in dem „Catalogus Catalogorum рефе1ио durabilis". Ob es ähnliche Fälle auch im Feld der Lyrik gibt, ist mir nicht bekannt. 3 3 Harsdörffer 1 9 6 9 , 2 . Teil: 6 i
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Einleitung
Lesers Sinn / auf den Anfangs unbekannten Zweck gerichtet wird / und in wenigen Worten bestehen sol."^'* Ais Goethe auftritt und Gedichte schreibt, ist die Geschichte des Titels in der deutschen Lyrik ungefähr drei Jahrhunderte und ein dokumentierbares Bewußtsein von der Gattung des Gedichttitels mindestens zwei Jahrhunderte alt. Natürlich ließe sich auch nach dem Titelgebrauch eines Dichters des 16. Jahrhunderts oder einem des 17. Jahrhunderts fragen. Warum sollen nicht die Gedichttitel von Hans Sachs oder die von Andreas Gryphius Untersuchungsgegenstand sein? Dagegen kann man nur sagen, daß die Lyrik dieser Dichter nicht den Reichtum aufweist, der Goethes Gedichte auszeichnet. Goethes Gedichte versprechen einfach eine vielseitigere Titelkunst als die älterer Dichter. Warum dann aber nicht die Gedichte von Eduard Mörike, Bertolt Brecht oder Rudolf Borchardt zum Gegenstand machen? Die Lyrik dieser Dichter ist entschieden auf Vielseitigkeit hin angelegt und in dieser oder jener Hinsicht dem lyrischen Œuvre Goethes vergleichbar, auch in ihr ein kunstvoller und vielformiger Titelgebrauch wenigstens zu vermuten. Dieselben Gründe, die für die Untersuchung der Goetheschen Gedichttitel sprechen, können auch für die Untersuchung derjenigen von Mörike, Brecht und Borchardt ins Feld geführt werden. Wenn sich diese Arbeit denn doch auf Goethes Gedichte beschränkt, dann aus dem vorrangigen Grund, daß Goethe als erster in der Reihe deutscher Dichter steht, deren Lyrik von Reichtum und Mannigfaltigkeit in der Anknüpfiing an traditionelle Formen, Themen und Schreibweisen geprägt ist, und er solcherart traditionsbildend gewirkt hat.^^ Der Blick auf die Titel von Texten ist ein Blick auf die Peripherie von Texten, auf vermeintlich Unwichtiges und Marginales. Man kann hierin eine gewisse Nähe zum Vorgehen dekonstruktivistischer Literaturkritik sehen, denn auch sie lenkt den Blick auf Marginales, auf die 'Ränder' von Texten. So geschieht es zum Beispiel, wenn Jacques Derrida in einem Aufsatz über den Titel handelt und er in dieser literarischen Institution einen unerwarteten Reichtum an Bedeutungen entdeckt, was er spielerisch an dem Titel seines eigenen Textes „Titel 3 4 Harsdörffer 1969, 2. Teil: 4. 35 Schließlich kann man für die Begründung des hier interessierenden Problems flankierend hinzufügen, daß Goethe, obwohl er im übrigen kein großer Freund von Rahmenstücken gewesen ist - er habe es sich zum Prinzip gemacht, niemals zu widmen, um es niemals bereuen zu müssen, soll Goethe gegenüber Napoleon behauptet haben (vgl. Biedermann 1909-1911, Bd. 1: 542) -, andere textliche Rahmenstücke als den Titel sehr kalkuliert gebraucht hat. Ich begnüge mich mit einem Hinweis auf den umfangreichen Kommentarteil, den Goethe dem „Westöstlichen Divan" beigefügt hat, sowie auf die Widmung, die ihm folgt (dazu: Mommsen 1961: 51-55). Und ich deute auf den Widmungsbrief, den Goethe dem sechsten und letzten Teil des „Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805" voranstellt, in dem unter kalkulierter Wahrung von allerlei Konventionen des Widmens die Diskussion eines wünschenswerten Mäzenatentums geführt wird. Allerdings liegt auf der Hand, daß derjenige, der ungewöhnlich zu widmen versteht, sich nicht auch schon auf das Erfinden ungewöhnlicher Titel verstehen muß. Aber das eine schließt das andere auch nicht aus.
Einleitung
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(noch zu bestimmen)" genauso wie an einigen literarischen Falibeispielen darlegt.^^ In anderen Feldern, in denen Derrida arbeitet, geht er ähnlich vor. Seine Heidegger-Studie „Ousia et grammè" setzt bei einer Fußnote von „Sein und Zeit" ein.^' Auch hier wird eine vermeintlich abseitige Textstelle zum Ausgangspunkt der Reflexion gemacht. In demselben Sinn ftihrt Derridas Studie „La vérité en peinture" eine abseitige Stelle der „Kritik der Urteilskraft" aus, an der Kant über Zieraten von Kunstwerken, Rahmen von Gemälden, Gewänder von Statuen und Säulengänge von Gebäuden schreibt.^' Das Ziel dieses Vorgehens ist unter anderem, die Opposition von wichtig und unwichtig oder zentral und marginal in Frage zu stellen, und zu zeigen, daß diese Oppositionen auf einer axiomatischen und nicht begründbaren Setzung beruhen;^^ Derrida lehnt solche Setzungen als „metaphysisch" ab.'"' Ziel der Textbetrachtung ist es nicht, das vermeintlich Unwichtige oder Marginale in den Rang des Wichtigen oder Zentralen zu heben, sondern den Unterschied zwischen diesen Polen zu erschüttern. Diese Arbeit veφflichtet sich nicht auf die Grundsätze der Dekonstruktion. Das von verschiedenen Seiten gemeinsam geteilte Interesse an einem Gegenstand bildet ja trivialerweise keinen Grund, ihn gleichsinnig zu betrachten und gegebenenfalls gleichstimmig zu beurteilen. Es geht in dieser Arbeit nicht darum, Oppositionen zu dekonstruieren, sondern darum, zu zeigen, daß etwas vermeintlich Unwichtiges, nämlich das C o φ u s der Goetheschen Gedichttitel, zum einen selbst schon ein geeignetes Untersuchungsmaterial und zum anderen auch eine Grundlage für generelle Aussagen über Goethes Lyrik sein kann. Damit ist nichts gegen Derridas Art, über Titel zu handeln, gesagt, sondern lediglich dafür gesprochen, daß sich Vorgehen und Zielsetzung dieser Arbeit von denen Derridas unterscheiden. Eher schon gibt es Berührungspunkte zwischen dieser Arbeit und den Forschungsperspektiven, die Gérard Genette auf die Formel des „offenen Strukturalismus" gebracht hat.'" Gemeint ist damit eine bestimmte Art, Fragen* an Texte zu richten. Es geht dabei vor allem darum, das Wesentliche eines Textes in seiner Relation zu einem oder mehreren anderen Texten zu erkennen.''^ In diesem Sinn spricht Genette von der „relationalen Lektüre" des offenen Strukturalisten.'*^ Was Genette damit zur Diskussion stellt, ist wissenschaftsgeschicht36 37 38 39 40 41 42
Vgl. Derrida 1980: 15-37. Vgl. Derrida 1988. Vgl. Derrida 1978: 44-94. - Vgl. Kant 1983, Bd. 8: 306. Vgl. dazu Culler 1988: 239f. - Spree 1995: 178f. - Stang 1992: 102f Vgl. dazu Eagleton 1992: 115f. Genette 1993: 533. Dies in Abgrenzung etwa zum Strukturalismus Jakobsonscher Prägung, der das Wesentliche eines sprachlichen Kunstwerks aus dem Verhältnis seiner Sprache zu dem Sprachsystem, aus dem es geschöpft ist, zu bestimmen sucht. 4 3 Genette 1993: 533.
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Einleitung
lieh nichts Neues. Es hat es auch früher schon gegeben, daß Texte in Relation zu anderen Texten gelesen worden sind. Aber Genette hat dieser Art, Texte zu betrachten, ein weitreichendes terminologisches Instrumentarium an die Hand gegeben.'·'· Und Genette hat in diesem Zusammenhang auch die Relation von Titel und Text berücksichtigt.'*^ Allerdings erschöpfen sich Genettes Arbeiten fast ganz in der Bereitstellung eines begrifflichen Apparates zur Untersuchung von Texten; die literaturhistorische Arbeit liegt nicht oder nicht vorrangig in Genettes Interesse."^ Hier schließt die vorliegende Arbeit in einem doppelten Sinn an. Sie bezieht sich, soweit es für sie relevant ist, auf Genettes terminologische Vorgaben. In dieser Hinsicht schließt die Arbeit systematisch an Genette an. Sie schließt aber auch in literaturhistorischer Hinsicht an Genette an, indem sie die systematischen Vorgaben für die Analyse der Goetheschen Gedichttitel fruchtbar zu machen sucht. Eines von zwei Zielen der Arbeit ist ein deskriptives; es soll der Gebrauch, den Goethe in seiner Lyrik von Titeln macht, beschrieben werden. Sie wird sich dabei an der Entwicklungsgeschichte seiner Lyrik orientieren. Diese Entscheidung hat Konsequenzen für die Darstellung. Die Beschreibung der Entwicklungsgeschichte des Titelgebrauchs in Goethes Lyrik legt nicht einen im Kern normativen Begriff von Entwicklung zugrunde. Es geht nicht darum, eine präsupponierte, vom jungen bis zum alten Goethe sich vollziehende Vervollkommnung des Titelgebrauchs zu beschreiben - etwa nach Maßgabe Hegels, der eine teleologische Entwicklung in der Lyrik Goethes gesehen hat.'*^ Auch kann es nicht darum gehen, eine allmähliche Vervollkommnung und einen nach Erreichen eines Höhepunktes einsetzenden Verfall im Titelgebrauch zu beschreiben - etwa nach Maßgabe von Gervinus und Vischer, die eine solche Entwicklung in Goethes Dichtung gesehen haben."' Das entwicklungsgeschichtliche Vorgehen wird in dieser Arbeit wert- und wertungsneutral verstanden. Goethes Gedichte werden historisch geordnet und die Unterschiede im Titelgebrauch relativ zu verschiedenen Entwicklungsstufen der Goetheschen Lyrik beschrieben. Die Entwicklungsgeschichte des Titelgebrauchs in Goethes Lyrik zu beschreiben, heißt in dieser Arbeit nichts anderes, als daß Veränderungen und Konstanten in der Goetheschen Titelpraxis beschrieben werden.
4 4 Vor allem in den Studien „Palimpseste" (Genette 1993) und „Paratexte" (Genette 1992). 45 Vgl. Genette 1993: 5 8 - 1 0 2 und 2 8 1 - 3 0 3 . 4 6 In diesem Sinn schreibt Genette 1992: 21, daß seine Studie „Paratexte" einen „provisorischen Dienst" erweise. 4 7 Vgl. Hegel 1953: 54. 4 8 Gervinus 1962: 3-48. - Gervinus 1836: 150 - Vischer 1844: 49-215.
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Dieses Vorgehen kann mit unterschiedlicher Strenge durchgeführt werden. Es kann rein chronologisch sein.'" Die Gedichte würden in diesem Fall in der Reihenfolge der Daten der Fertigstellung ihrer ersten vollendeten Fassung beschrieben werden können. Das chronologische Vorgehen hat den Vorteil, mögliche Zusammenhänge zwischen historisch benachbarten (und möglicherweise verschiedenartigen) Texten erfahrbar zu machen. Es hat allerdings den Nachteil, daß Zusammenhänge zwischen gleichartigen, aber historisch voneinander entfernten Texten (z.B. gattungsgleichen Texten) aus dem Blick geraten können. Als weiterer Nachteil des chronologischen Vorgehens wäre zu verzeichnen, daß es möglicherweise den Zusammenhang zwischen einem Gedicht (samt seinem Titel) und dem Ensemble, in dem es steht, verdeckt. Goethe hat seine Gedichte vielfach in einen Zusammenhang mit anderen Gedichten gestellt. Karl Eibl nennt dies das Verfahren der Ensemble-Bildung: „Die Anordnung von Gedichten nach Gesichtspunkten der Ähnlichkeit, Opposition, Komplementarität, Relativierung, Steigerung, eines thematischen Domino oder auch der epischen Sukzession."'" Das Phänomen der Zusammenstellung von Gedichten findet sich schon früh in der zunächst weitgehend gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Rokokodichtung Goethes, vereinzelt auch in der Dichtung der Genieperiode und später vermehrt in den verschiedenen Werkausgaben, die Goethe veranstaltet hat. Die Berücksichtigung der Goetheschen Ensembles ist von einiger Wichtigkeit auch fflr die Beschreibung der Titelkunst in Goethes Gedichten. Denn Goethes Gedichttitel sind von Bedeutung nicht nur in Relation zum jeweils betitelten Text und in Relation zu der Periode, der das Gedicht zugehört, sondern im Einzelfall auch in Relation zu dem Zusammenhang, in dem das betitelte Gedicht steht. Um der Vermeidung der angedeuteten Schwierigkeiten willen wird die Beschreibung von Goethes Titelkunst sowohl nach historischen als auch nach systematischen Gesichtspunkten verfahren. Sie wird sich an der Entwicklungsgeschichte der Lyrik Goethes orientieren und dabei systematische Zusammenhänge, die durch die Zugehörigkeit mehrerer Texte zu beispielsweise einer Gattung oder einem Ensemble gewährt werden, nicht außer acht lassen. Es wird nicht jeder Titel der rund 3000 Gedichte Goethes in dieser Arbeit eigens untersucht; auch wird nicht jeder der untersuchten Titel in gleicher Intensität beschrieben. Vielmehr sollen anhand ausgewählter, als exemplarisch angesehener Titel typische Elemente der Titelpraxis einer jeweiligen Periode in Goethes Lyrik (beziehungsweise das jeweils Neuartige einer Periode) oder einer bestimmten Gattung oder einer bestimmten lyrischen Gebrauchsform näherhin bestimmt werden. Die Orientierung am Typischen wird aber den Blick auf Son-
4 9 In diesem Fall könnte das Corpus der Goetheschen Gedichte nach Maßgabe der PropyläenAusgabe bestimmt werden. 5 0 F A I / 1:733.
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derfälle nicht versperren dürfen. Die Beschreibung der Goetheschen Titelpraxis wird je nach Erfordernis und Komplexität der Sache entweder summarisch verfahren (wenn das Ganze einen Einblick in das Einzelne gewährt) oder den Einzelfall hervorheben (wenn das Einzelne entweder einen Ausblick auf das Ganze erlaubt oder einen Sonderfall darstellt). Das entwicklungsgeschichtliche Vorgehen schließt ein mögliches anderes, nämlich das rein systematische Vorgehen aus. Es geht in dieser Arbeit nicht darum, ein Titelsystem zu entwickeln und zu prüfen, welche Positionen in diesem System durch die Titel, die Goethes Gedichte tragen, besetzt werden. Die Entscheidung, diesen Weg nicht zu gehen, gründet sich auf die Annahme, daß sich das Individuelle eines so vielgestaltigen Werkes, wie es Goethes Lyrik darstellt, anders als unter Einschluß der historischen Betrachtung nicht erfassen und anders als historisch nicht adäquat darstellen läßt. Das Untersuchungsfeld dieser Arbeit wird im wesentlichen nach den ersten drei Bänden der Frankfurter Ausgabe bestimmt, die die Lyrik Goethes vereinen. Darin sind auch fast all diejenigen Gedichte eingeschlossen, die in die Dramen und die erzählerischen Texte Goethes integriert sind. Nur im Fall der „Xenien" wird eine Ausnahme gemacht. Die Frankfurter Ausgabe der Lyrik Goethes enthält mehr als nur diejenigen Xenien, die unter diesem Namen in Schillers „Musen-Almanach für das Jahr 1797" erschienen sind, auch unterdrückte und als Paralipomena beiseite gelassene Xenien. Diese Arbeit beschränkt sich auf diejenigen Xenien, die für die Zeitgenossen sichtbar waren. Das andere Ziel der Arbeit baut auf dem ersten auf; es besteht in der Auswertung der Beschreibung. Was unter Auswertung zu verstehen ist, kann, da sie die Beobachtungen, die innerhalb des Entdeckungszusammenhangs ja erst noch zu machen sind, voraussetzt, vorab nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Nichts über den Inhalt der Auswertung kann hier gesagt werden, aber doch so viel über ihre Struktur: Sie verfährt einordnend insofern, als sie die Titelkunst in Goethes Gedichten auf Zusammenhänge zu beziehen sucht, die über das Gedichtwerk Goethes hinausgehen. Denn diese Erwartung darf von vornherein bestehen: daß ein Phänomen nicht nur dadurch, daß man eine genaue Anschauung von ihm zu gewinnen sucht, sondern auch durch seine Eingliederung in Kontexte erkennbar wird. Die Auswertung bildet den deutenden Teil dieser Arbeit. Er beschließt sie. Beschreibung und Deutung der Titelpraxis in Goethes Gedichten sind abhängig von der Perspektive, mit der man auf sie blickt. Und diese Perspektive hängt im wesentlichen von den Begriffen ab, die bei der Analyse zur Anwendung kommen. Um der Durchsichtigkeit der Analyse willen sollen diese Begriffe offengelegt werden. Es geschieht dies im methodischen Teil dieser Arbeit. Mit ihm setzt sie ein.
п. Begriff des Titels 1. Der Titel als Textsorte Es ist eine sprachliche Tatsache, daß das Wort „Titel" in verschiedenen Zusammenhängen mit unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht wird. Es wird zur Bezeichnung des Ranges einer Person verwendet, sei er ehrenhalber, durch Prüfimg, durch Verdienst, durch Geburt oder sei er durch siegreichen Wettkampf erworben. In der Fachsprache der Haushaltsführung und Geldwirtschaft versteht man unter „Titel" die „Untergliederung der einzelnen Pläne in fortlaufend numerierten Gruppen von Einnahmen und Ausgaben".' In der Sprache der Rechtswissenschaft versteht man unter „Titel" entweder einen „Rechtsgrund, auf den ein Anspruch gestützt wird", oder eine „Urkunde, die ein Recht verbrieft und eine zwangsweise Durchfiihrung gestaltet", oder - in der Sprache des katholischen Kirchenrechts - einen „Nachweis des gesicherten Lebensunterhalts eines Geistlichen."^ Nach allem, was einleitend und noch vor jeglicher begrifflichen Fixierung über den Titel gesagt worden ist, dürfte deutlich sein, daß diese Vokabeln hier nicht von Belang sind. Titel, wie sie in dieser Arbeit in Betracht kommen, sind Werktitel. Mögliche Gegenstände von Werktiteln sind Texte, Filme, Bildkunstwerke, Fotos und Musikalien. Im Rahmen dieser Arbeit sind nur Titel von Texten, genauer von lyrischen Texten von Interesse. Damit sei nicht verkannt, daß auch Titel in den anderen Bereichen ein geeigneter Gegenstand von Untersuchungen sein können.^ Allein aus Gründen der Zweckmäßigkeit beschränken sich die folgenden grundsätzlichen Überlegungen auf Titel von Texten, genauer noch: auf Titel von literarischen Texten. Die TitelBeispiele, die im weiteren allein dem Zweck der Illustration dienen, stammen wenn irgend möglich - aus dem Bereich der Lyrik und nur ausnahmsweise aus anderen Feldern der Literatur. Wie läßt sich ein Begriff des Titels gewinnen, wie läßt er sich bestimmen? Eine Explikation des Titelbegriffs kann ihr Objekt in einem ersten Schritt als eine Relation bestimmen, und zwar als eine zweistellige Relation: Ein χ betitelt ein y. Anders gewendet: Ein x, nämlich ein Betitelndes, und ein y, nämlich ein
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Brockhaus-Wahrig 1980-1984, Bd. 6: 240. Brockhaus-Wahrig 1980-1984, Bd. 6: 240. Literatur zur Titelgebung in anderen Bereichen ist verzeichnet bei Wulff 1979: 105-113.
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Begriff des Titels
ZU Betitelndes, stehen in Titelreiation. Jedes einzelne Element dieser Bestimmung bedarf der Präzisierung. Es muß deutlich gemacht werden, welche möglichen Individuen die Stellen der gerade angeführten Variablen einnehmen können. Und ebenso muß deutlich gemacht werden, was überhaupt die ratio relationis zwischen den Variablen ist. Ein Titel ist üblicherweise sprachlicher Art und kann aus einem Wort, einer Wortfolge, einem Satz oder aus Kombinationen der gerade genannten Größen gebildet sein. Aber das gilt nicht für jeden Titel. Gerade im Feld der Lyrik weist die Titelgebung allerlei Sonderfälle auf Paul Scheerbarts nur aus Inteφunktionszeichen bestehender Titel „???" in der Sammlung „Die Mopsiade" weist auf die nicht-lexikalischen Möglichkeiten der Titelgestaltung. Weitere Unterscheidungen hinsichtlich der Betitelung von Texten richten sich nach dem Objekt, auf das sich ein Titel bezieht und das nach Maßgabe der soeben getroffenen Entscheidung in jedem Fall ein textliches Gebilde ist. Gilt ein Titel nur einem Teil eines Textes, handelt es sich um einen Zwischentitel. Der klassische Fall ist die Kapitelüberschrift im Erzähltext. Im Bereich der Lyrik sind vergleichbare Zwischentitel selten. Die häufig in der Pindarischen Ode genutzten Kennzeichnungen „Satz - Gegensatz - Zusatz" können als solche gelten. Auch Goethe hat Gedichte mit Zwischentiteln versehen, so zum Beispiel in „Howard's Ehrengedächmis". Gilt ein Titel einem ganzen Text, handelt es sich um einen Einzeltitel. Gilt hingegen ein Titel mehr als nur einem Text, handeh es sich um einen Sammeltitel. Ein Sammeltitel bezieht sich auf mindestens zwei Texte. Er kann sich aber auch auf eine größere Gruppe von Texten beziehen, die ihrerseits durch Sammeltitel intern geordnet ist. In diesem Fall kann man von Sammehiteln verschiedener Stufigkeit sprechen. Ein Sammeltitel der niedrigsten Stufe ist beispielsweise Bertolt Brechts Titel „Naturgedichte", der bloß zwei Gedichte zusammenfaßt. Einen Sammeltitel von höchster Stufe bezeichnet der wahrscheinlich von Erich Trunz verantwortete Titel „Werke" seiner Hamburger Goethe-Ausgabe. Der Titel erfaßt ein vielgestaltiges Œuvre unter sich, insgesamt vierzehn Bände, die wiederum jeweils einen Titel haben. Der erste Band ist beispielsweise mit „Gedichte und Epen 1" betitelt. Unter diesem Titel verzweigen sich fünf Gedichtgruppen - jeweils mit eigenem Titel („Frühe Gedichte", „Sturm und Drang", „Gedichte der ersten Mannesjahre", „Die Zeit der Klassik", „Alterswerke"). Unterhalb dieser Gruppierungen finden sich wiederum Sammeltitel - unterhalb der Gruppe „Frühe Gedichte" beispielsweise die Titel „Gedichte der Knabenjahre" und „Anakreontik" -, und erst auf der in der Titelhierarchie nächstunteren Stufe stehen die Einzeltitel der Goetheschen Gedichte. Innerhalb der vielstufig möglichen Sammeltitel sei zwischen Gesamttitel und Rubrikentitel unterschieden. Von einem Gesamttitel kann dann die Rede
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sein, wenn er eine Mehrzahl von Texten unter sich begreift, die zu einer publizistischen Einheit zusammengefaßt werden, sei es als Buch, als mehrbändige Werkausgabe oder als mehrbändige Reihe. In der Hamburger Goethe-Ausgabe sind danach sowohl „Werke" als auch „Gedichte und Epen I" Gesamttitel. Ein Rubrikentitel, der häufig auch als laufender Kolumnentitel in der Kopfzeile einer Seite auftritt, ordnet eine Mehrzahl von Texten innerhalb einer publizistischen Einheit, sei es ein Buch oder sei es eine Zeitschrift. Mit der begrifflichen Unterscheidung soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß ein Gesamttitel nicht nur ordnende Funktion hat, sondern zum Beispiel auch ein Buch individualisiert und von anderen Büchern abgrenzt. Zu den fünf gewählten Begriffswörtem (Zwischentitel, Einzeltitel, Sammeltitel, Gesamttitel, Rubrikentitel) ist noch zu sagen, daß sie im weiteren vor allem dann verwendet werden, wenn Mißverständnisse anders nicht auszuschließen sind. Sollte jedoch der jeweilige Kontext hinreichende Deutlichkeit gewährleisten, wird im folgenden allein aus Gründen der fachsprachlichen Sparsamkeit nur vom Titel geredet. Die ersten Schritte der begrifflichen Bestimmung haben „Titel" als einen Relationsbegriff bezeichnet und die möglichen Relata des Begriffs erläutert. In einem nächsten Schritt gilt es, die Relation selbst genauer zu bestimmen. Die Frage lautet: Was macht ein Zeichen zu einem Titel? Und da darf die Antwort wohl sein: Die Betitelung eines Textes ist ein sprachlicher Vorgang; er hat drei Dimensionen. Es sind dies eine Dimension des Benennens, eine des Prädizierens und eine des räumlichen Umgebens. Wenn ein Text betitelt wird, dann leistet der Urheber des Titels dreierlei: Er gibt dem Text einen Namen, er prädiziert etwas Uber den Text mittels dieses Namens, und er umgibt den Text mit ihm. Diese drei regelhaften Aspekte des Betiteins werden im weiteren unter zweckmäßiger, das heißt für den Gang der Argumentation nützlicher Einbeziehung bereits formulierter Forschungspositionen zur Sprache kommen. 1.1. Die benennende Dimension Der Ausdruck „Titel" hat in der Geschichte seiner begrifflichen Fundierung nicht gerade viele, aber immerhin doch einige Konzepte erfahren. Mit einer gewissen Häufigkeit wird behauptet: Der Titel eines Textes ist sein Name; der Akt der Betitelung ist ein Akt der Taufe. In diesem Sinn jedenfalls äußert sich Georg Philipp Harsdörffer im zweiten Teil des „Poetischen Trichters".'' Novalis schreibt im „Allgemeinen Brouillon" ohne Umschweife: „Der Titel ist der Namen"^ Volkmann verwendet in seiner Studie zur Geschichte des Romantitels
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Vgl. Harsdörffer 1969, 2. Teil: 6f. Novalis 1960:361.
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die Ausdrücke „Buchname" und „Buchbenennung" als Synonyme von „Titel".® Das Konzept, das sich in diesen Äußerungen ausdrückt, kann man als die Namenstheorie des Titels bezeichnen. Ich möchte mich diesem Konzept anschließen - jedoch nicht, ohne einige Klarheit in möglicherweise strittige Punkte gebracht zu haben, und nur unter einem gewissen Vorbehalt. Die Befürworter der Namenstheorie des Titels machen nicht in jedem Fall hinreichend deutlich, was unter „Name" zu verstehen ist. 1st darunter eine Bezeichnung, ein Appellativum oder ein Eigenname zu verstehen? Wie dem auch sei, das Kemargument dieses Titelkonzeptes ist einfach strukturiert und offensichtlich auch darum vielfach ins Feld gefuhrt worden: Mit Titeln lassen sich Texte von anderen unterscheiden und identifizieren. Insofern gleichen sie am ehesten Eigennamen. Regina Mühlenweg faßt den Titel eines Werkes als seinen Namen auf, „der es kennzeichnet, einordnet und von andern Werken unterscheidet."^ Antoine Compagnon schreibt über den Titel: „C'est un nom, le nom propre du livre."' So wie Eigennamen etwa Personen benennen, benennen Titel Texte. Diese Aussage bedarf einer Erläuterung. Man wird nicht unterstellen wollen, daß dem gerade angeführten Konzept gemäß ein Titel die eindeutige Identifikation nur eines Textes ermöglicht. Gerade in der Lyrik gibt es allerlei titelidentische Texte, die eben darum nicht anhand ihres Titels voneinander unterschieden werden können. „Weltende" heißt nicht nur ein berühmtes Gedicht von Jakob von Hoddis, sondern auch eines von Else Lasker-Schüler. Johann M. Miller, Heinrich Heine, Annette von Droste-Hülshoff und Ludwig Uhland haben jeweils ein Gedicht mit dem Titel „Der Traum" verfaßt. „Meeres Stille" heißt nicht nur ein Gedicht von Goethe, sondern auch - in anderer Schreibung - eines von Eichendorff und eines von Lenau. Heine hat ähnlich wie vorher schon Schiller einem seiner Gedichte den Titel „Die Götter Griechenlands" gegeben. Vollends unübersichtlich wird die Lage, wenn man Gedichte in Betracht zieht, die eine Gattungsbezeichnung als Titel führen. Wollte man nur alle Gedichte anführen, die mit „Ballade", „Sonett" oder „Lied" betitelt sind, es wäre keine leichte Mühe. Wenn schon nicht alle literarischen Titel voneinander verschieden sind, so sind sie es doch innerhalb bestimmter Kontexte. Selten werden innerhalb des Œuvres eines Autors, im Bereich der Lyrik selten im Rahmen eines Buches, Texte mit identischen Titeln versehen. Wenn dies doch geschieht, wie etwa in Baudelaires „Les Fleurs du Mal", in denen der Titel „Spleen" gleich viermal vertreten ist, oder in Hofmann von Hofmannswaldaus „Geistlichen Oden", in denen das Appellativum „Abendlied" dreimal vertreten ist, dann genügt diese Häufung eines Titels bestimmten Zwecksetzungen des Titelerfinders. Sie soll.
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Volkmann 1967: passim. Mühlenweg 1960: 1. Compagnon 1979: 251.
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wenigstens in den genannten Fällen, den spezifischen Zusammenhang der jeweiligen Texte signalisieren. Solche besonderen und einzeln zu betrachtenden Ausnahmen bestätigen die Regeln der Titelgebung. Diese Regeln sind nämlich keineswegs als Gesetze (oder Regularitäten), sondern eher doch als Normen aufzufassen, gegen die von Fall zu Fall auch einmal verstoßen werden darf, ohne daß dadurch ihre Geltung außer Kraft gesetzt wäre.^ Innerhalb bestimmter Kontexte, so läßt sich jetzt zusammenfassend sagen, suchen die Urheber von Titeln nach Differenzen zu anderen Titeln.'" Indes, das Namenskonzept des Titels ist ein problematisches. Es besteht ein erheblicher Unterschied zwischen Titeln und Namen, nämlich darin, daß Namen eigentlich nichts über individuelle Eigenschaften des Namensträgers sagen, Titel hingegen (wenigstens vorgeblich) sehr wohl Individuelles eines Textes zur Sprache bringen. Bei der Klärung des Unterschieds von Titeln und Namen kann es nicht darum gehen, die äußerst komplexe, vor allem philosophisch geführte Diskussion über die Bedeutungshaftigkeit von Namen zu rekapitulieren sowie die Argumente im einzelnen zu nennen und gegeneinander abzuwägen." Hier nur das Nötige. Philosophische Theorien des Namens sind vorwiegend solche des Eigennamens. Die Frage, die sie unterschiedlich beantworten, ist die, ob Eigennamen eine Bedeutung haben. Unter „Bedeutung" wird dabei zumeist „deskriptive Bedeutung" verstanden. (Der Logiker Gottlob Frege hat dafür den Ausdruck „Merkmal" im Unterschied zu „Eigenschaft" vorgeschlagen.'^) Die Befürworter der These von der deskriptiven Bedeutungshaftigkeit von Eigennamen - zu ihnen zählt Bertrand Russell'^ - behaupten, daß Eigennamen verkürzte Beschreibungen des singulären Gegenstandes sind, ftir den sie stehen. Sie behaupten das notwendige Zutreffen einer Beschreibung (beziehungsweise eines Bündels von Beschreibungen - so die Position von Ludwig Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen"''') auf den Träger eines Namens. Dieser Auffassung entsprechend kann der Ausdruck „der Entdecker Amerikas" als die Beschreibung derjenigen Person gelten, die den Namen „Kolumbus" trägt; diese Beschreibung ist - weiterhin im System der Beschreibungstheorie des Eigennamens gedacht - die Bedeutung des Namens, der Referent des Namens derjenige, auf den diese Beschreibung zutrifft. Gegen diese Theorie des Eigennamens hat 9 Zum Begriff der Norm vgl. Fricke 1981: 64-83. 10 Goethe nimmt das Gedicht „An den Mond" (Anfangsvers: „Schwester von dem ersten Licht") unter dem neuen Titel „An Luna" in die Werkausgabe von 1815 auf, um die sonst mögliche Verwechslung mit dem Gedicht „An den Mond" (Anfangsvers: „Füllest wieder Busch und Tal") zu vermeiden. 11 Vgl. hierzu Wolf 1985: 9 - 4 1 . - V g l . auch Birus 1 9 7 8 : 2 1 - 3 1 . 12 Vgl. Frege 1975: 73-77. - Vgl. Patzig 1970: 9 2 f - Vgl. Fricke 1981: 33. 13 Vgl. die Texte dieser Autoren in Wolf 1985. 14 Vgl. Wittgenstein 1980: 6 4 f
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Saul Kripke unter Rekurs auf John Stuart Mill, den spiritus rector der modernen philosophischen Eigennamentheorie, überzeugende Argumente ins Feld gefährt. Wenn irgendein Normanne schon in früheren Zeiten Amerika erreicht hat, erwiese sich die Beschreibung von „Kolumbus" als irrig. Entweder müßte fortan der Name „Kolumbus" auf diesen Normannen referieren oder aber es hätte keinen Sinn, weiterhin an der Existenz des Mannes Kolumbus festzuhalten. Jedenfalls wird die Beschreibungstheorie des Eigennamens fragwürdig,'' denn offensichtlich können wir uns eines Eigennamens ohne Gefahr zu laufen, mißverstanden zu werden, auch dann bedienen, wenn sich die Beschreibung seines Referenten als falsch erweist. Es besteht zwischen Eigenname und Beschreibung keine Synonymie. Zwar ist aus dieser Argumentation noch nicht abzuleiten, daß Namen überhaupt keine Bedeutung haben. Aber es bleibt festzuhalten, daß Eigennamen nichts über individuelle Eigenschaften der Namensträger prädizieren. Eigennamen haben üblicherweise einen Träger, aber - noch einmal mit Frege zu sprechen - keine semantischen Merkmale.'® Titel hingegen haben semantische Merkmale. Einen weiteren Unterschied zwischen Titel und Name hat Hans J. Wulff ins Gespräch gebracht. Anders als Namen seien fast alle Titel übersetzbar. „Echte Namen werden normalerweise nicht übersetzt", behauptet W u l f f . D i e s e Aussage ist zutreffend, wenn der Ausdruck „echte Namen" nicht-lexikalisierte Eigennamen meint. Viele lexikalisierte Eigennamen hingegen sind übersetzbar. „Rotkäppchen" heißt im Englischen „Red Riding Hood", „Däumling" im Französischen „Petit-Poucet". Auch Appellativa sind übersetzbar. Es besteht darum kein prinzipieller Unterschied zwischen Name und Titel hinsichtlich ihrer Übersetzbarkeit. Dafür spricht im übrigen ja auch, daß viele Titel nicht übersetzbar sind, nämlich genau diejenigen Titel, die ausschließlich aus nicht-lexikalisierten Eigennamen gebildet sind. John Donnes Epigramm „Niobe" trägt in der deutschen Übersetzung von Weckherlin denselben Titel, Verlaines „Sappho" heißt in der Übersetzung von Wolf Graf von Kalckreuth ebenso. Auch Namen, die bei der Übertragung eines Textes in eine fremde Sprache an das phonologische System der Zielsprache angepaßt werden, werden nicht eigentlich übersetzt. Rimbauds Gedichtsequenz „Ophélie" frägt sowohl in der Übersetzung von Alfred Wolfenstein als auch in der von K. L. Ammer den Titel „Ophelia". Aus all
15 Vgl. Kripice 1981: 100. 16 Searle 1979: 2 5 3 f. bringt seine instruktive Argumentation zum Eigennamenproblem wie folgt auf den Punkt: „Meine Antwort auf die Frage 'Haben Eigennamen Sinn?' sieht also folgendermaßen aus. 1st mit dieser Frage gemeint, ob Eigennamen verwendet werden, um Eigenschaften von Gegenständen zu beschreiben oder zu bestimmen, so lautet meine Antwort: 'Nein'. 1st mit ihr aber gemeint, ob Eigennamen mit den Eigenschaften des Gegenstandes, auf den sie hinweisen, logisch verknilpft sind, so lautet die Antwort 'Ja, auf eine lockere Weise'." 17 Wulff 1979: 164.
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dem kann man schließen, daß es genausogut Namen wie Titel gibt, die nicht übersetzbar sind, und daß es Namen und Titel gibt, die übersetzbar sind. Nur das Argument, daß Titel im Unterschied zu Eigennamen semantische Merkmale haben, spricht gegen die Namenstheorie des Titels. Gleichwohl hat das Namenskonzept einen rationalen Kern. Denn unbestreitbar ist ja der Sachverhalt, daß ein Text mittels seines Einzeltitels, eine Textsammlung mittels ihres Sammeltitels und ein Textteil mittels seines Zwischentitels identifiziert werden kann. Ein Titel unterscheidet einen Text von anderen und dient nicht ohne Grund in Inhaltsverzeichnissen, Registern und Bibliographien zum Nachweis eines Textes. In diesem Sinn, mit dem man dem Titel Namensftmktion zuspricht, kann man auch davon sprechen, daß er ein Name sei. Ich folge also nicht dem Vorschlag, Titel und Name als etwas voneinander grundsätzlich Verschiedenes anzusehen." Ebensowenig allerdings ist der Titelbegrifif in dem Namenskonzept ausreichend erfaßt. Ein Titel ist ein Name, aber er ist dies nicht allein. 1.2. Die prädizierende Dimension Ein Einwand gegen die Namenstheorie des Titels besteht darin, daß sie das genauere Verhältnis des Titels zum betitelten Text außer Betracht läßt. Gegen diesen Begriff, der sich gelegentlich in buchgeschichtlichen Studien findet, ist nun in der Tat ins Feld zu fuhren, daß ein Titel nicht bloß benennt, sondern sich auch in anderer als nur benennender Art auf einen Text richtet. Ein adäquater Titelbegriff hat der Einsicht Rechnung zu tragen, daß zwischen Titel und Text ein komplexer Zusammenhang besteht, der nicht nur ein Benennungszusammenhang ist. Dieser Zusammenhang wird auch von allerlei Studien zum Thema ins Auge gefaßt. Das in diesen Studien vertretene Konzept sei als die Prädikationstheorie des Titels bezeichnet. Im Rahmen dieser Prädikationstheorie des Titels wird zweierlei behauptet. Für Arnold Rothe, dem wir die bislang ausfuhrlichste Arbeit zur Titelforschung verdanken, ist der Titel ein metasprachliches Zeichen." Leo H. Hoek, der Anreger der neueren Titelforschung, schreibt: „Le titre est un métatexte par rapport au co-texte [...l-''^" Bei Peter Hellwig heißt es: „Titel sind Metatexte."^' Die Metasprachlichkeit beziehungsweise Metatextualität des Titels bedeutet zunächst, daß der Titel nicht auf derselben Ebene wie der betitelte Text steht, sondern ihm hierarchisch vorgeordnet ist.^^ Zudem wird behauptet, daß der
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Vgl. Hellwig 1984; passim. Vgl. Rothe 1986: 15. Hoek 1981: 163. - Vgl. Weimar 1980: 136. Hellwig 1984: 16. Vgl. W u l f n 9 7 9 : 169.
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Begriff des Titels
Titel eine Aussage über einen Text macht,^^ daß er Mitteilungscharakter hat. Das ist natürlich noch sehr unspezifisch gesagt, mit Problemen im Detail behaftet und darum der Präzisierung bedürftig. Was also kann es heißen, daß Titel Aussagen über Texte machen? Trivialerweise kann damit nicht gemeint sein, daß ein Titel in jedem Fall die Form einer Aussage hat. Diese lnteφretation der gerade formulierten Behauptung wäre kaum haltbar. Denn es gibt zwar Beispiele fiir solch eine Titelgebung, sie bilden aber eine Ausnahme. Es kann gemeint sein, daß ein Titel in jedem Fall eine Aussagefunktion hat. In diesem Verständnis der Behauptung müssen Titel nicht die Form einer Aussage haben, aber in Aussagen übersetzt werden können, genauer noch: in Aussagen über den betitelten Text übersetzt werden können. Diese Formel jedenfalls hat vieles für sich. Doch bedarf sie, um nicht im unklaren zu bleiben, der Erläuterung. Daß ein literarischer Titel in eine Aussage übersetzbar sei, besagt nicht, daß er in eine und nur eine Aussage übersetzbar sein soll. Möglicherweise besteht für die Titel von nicht-literarischen Texten, insbesondere von Sachtexten, eine Norm, die eine eindeutige Zuordnung von Titel und Aussage vorsieht^'* - ein Beftmd, der mit dem Hinweis flankiert werden kann, daß gegenüber irreführenden Titeln durchaus Kritik geübt wird.^' Anders aber als bei der nicht-literarischen Titelgebung verhält es sich im Feld der Literatur. Hier ist die Brücke zwischen Titel und Text häufig eine assoziative oder symbolische, manchmal ist die Brücke nur schwer zu erkennen, manchmal stellt der Titel etwas in Aussicht, was durch den betitelten Text nicht eingelöst wird. Die Titelgebung solcher Texte bezieht ihren Sinn und vielfach auch ihren Reiz geradezu aus der Abweichung von der Norm, die in der nicht-literarischen Titelgebung zu herrschen scheint. Darum ist der Aussageinhalt eines literarischen Titels (sein propositionaler Gehalt) nicht in jedem Fall eindeutig festlegbar. Und darum soll die Formel von der Übersetzbarkeit eines literarischen Titels in eine Aussage um der Sache willen einen Spielraum gewährleisten. Verlangt wird nicht die eindeutige Übersetzbarkeit eines literarischen Titels in eine Aussage, sondern seine Übersetzbarkeit in eine Aussage überhaupt., Der Sammeltitel „Sei sanft und höhnisch!" von Paul Scheerbart kann übersetzt werden in: „Die folgenden Gedichte fordern dazu auf, sanft und höhnisch zu sein." Andere Übersetzungen sind möglich.^®
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Vgl. Rothe 1986: 15. Vgl. Hellwig 1984: passim. - Vgl. Dietz 1995: 37. Vgl. Hellwig 1984: 8. - Vgl. Wulff 1979: 15-18. Doch scheint in diesem Zusammenhang eine Art 'Poppersche Regel' Gültigkeit zu haben. Nicht in jedem Einzelfall laßt sich entscheiden, ob eine gegebene Übersetzung eines Titels die einzig richtige ist, und man wird deshalb mehrere gelten lassen. Das heißt aber nicht, daß nicht andere mit Sicherheit falsch sind.
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Nicht anders verhält es sich mit literarischen Titeln, deren Aussagekraft auf ein Weniges reduziert ist. Wolfgang Kayser hat von ihnen als unrhetorischen Titeln insofern gesprochen, als sie eine Mitteilung nahezu verweigern.^' Zu solchen Titeln zählen diejenigen, die ohne Unterschied mit einem Teil des nachfolgenden Textes, zum Beispiel seinem ersten Vers übereinstimmen. Sie gehören vor allem der Domäne der Lyrik an und sind keineswegs immer - wie man meinen könnte - Herausgebertitel. Wie sonst sehr häufig in der Lyrik von Theodor Storm und vielfach in der von Gottfried Benn finden sich solche Fälle auch bei Bertolt Brecht: Einmal, wenn da Zeit sein wird Einmal, wenn da Zeit sein wird Werden wir die Gedanken alier Denker aller Zeiten bedenken Alle Bilder aller Meister besehen Alle Spaßmacher belachen Alle Frauen hofieren Alle Männer belehren^'
Der Titel des Gedichtes kann in folgende Aussage übersetzt werden: Das Gedicht namens „Einmal, wenn da Zeit sein wird" beginnt mit dem Vers „Einmal, wenn da Zeit sein wird". Ähnlich verhält es sich mit Gedichten, deren Titel identisch mit einer anderen als der ersten Verszeile sind. In dem Band „Lusamgärtlein" von Max Dauthendey ist ein Fülle solcher Gedichttitel enthalten. Es gibt keine Gemeinsamkeit aller Titel derart, daß sie die Form einer Aussage haben. Gemeinsam ist ihnen hingegen, daß sie eine Aussagefunktion haben. Zur terminologischen Akzentuierung genau dieses Aspekts des vorgeschlagenen Titelbegriffs sei davon gesprochen, daß der Titel etwas über den nachfolgenden Text prädiziert.^^ Der Satz „Der Titel eines Textes prädiziert etwas über ihn" bedeutet „Der Titel eines Textes kann in eine Aussage über diesen übersetzt werden". Ist es sinnvoll, die prädizierende Funktion des Titels außerdem - so wie es häufig geschieht - als metatextuell zu charakterisieren? Dazu ist zu sagen, daß der Bezug von Titeln auf textuelle Gebilde, wie es Gedichte, epische Texte oder Dramen nun einmal sind, ohne weiteres als metatextuell bezeichnet werden kann. Aber damit ist nichts Substantielles gesagt. Die Metatextualität des Titels beruht ja auf der kontingenten Sprachlichkeit des betitelten Textes. Schon Titel
2 7 Vgl. Kayser 1962: 193. 2 8 Brecht 1988ff., Bd. 15: 293. 2 9 Ähnlich argumentiert Wieckenberg in Betracht von Kapitelüberschriften. Vgl. Wieckenberg 1969: 10-20.
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von Gemälden oder Plastiken können nur schlecht für metatextuell gelten. Es sei denn, man erklärt Gemälde oder Plastiken für Texte. Das ist aber nicht zwingend erforderlich. Ich sehe nicht, warum man der Kategorie der Metatextualität im vorliegenden Zusammenhang bedarf. Sie ist redundant.^" 1.3. Die räumliche Dimension Die benennende und die prädizierende Dimension des Titels charakterisieren den Begriff des Titels nicht allein. Hinzu tritt noch ein Drittes, nämlich ein räumliches Kriterium. Ein Titel ist ein Text, der in der räumlichen Umgebung wenigstens eines anderen steht. Er gehört zum Beiwerk eines Textes, ist eines seiner Rahmenstücke. Gewöhnlich steht der Titel vor einem Text, bei Texten kleineren Umfangs meist unmittelbar vor diesem, im Buch separat auf dem Titelblatt, gegebenenfalls auf dem Deckblatt, dem Buchrücken und dem Umschlag. Aber nicht immer verhält es sich so. Ein Titel kann, wie es aus der frühen Phase des Buchdrucks bekannt ist, durchaus im Anschluß an einen Text stehen: im Kolophon. Außerdem kann ein Titel in Form des (auch Seitentitel genannten) Kolumnentitels in Erscheinung treten. Es läßt sich also sagen: Der Titel eines Textes steht in dessen räumlicher Umgebung. Doch diese Bestimmung wirft Probleme auf und läßt Einwände zu. Es ist nicht nur denkbar, sondern in der Geschichte der Literatur auch belegt, daß Titel zu nicht zustandegekommenen Texten existieren. Von Baudelaire sind rund 150 Titel zu nicht geschriebenen Gedichten bekannt.^' Ebenso gibt es Titel zu inzwischen vermutlich unwiderruflich verlorenen Texten. Paul Fleming verzeichnet 162 Titel von Gedichten, die „dem Autori teils auf wehrenden Reisen weggekommen All diese Titel stehen prima facie ohne Text da, auf den sie sich beziehen könnten. Gleichwohl ist es in all diesen Fällen sinnvoll, von Titeln zu sprechen. Darum soll nun präzisierend gesagt werden: Ein Titel ist erst dann einer, wenn er der Absicht seines Urhebers gemäß in der räumlichen Umgebung eines Textes steht - sei dies nun ein ehemals oder ein auch jetzt nachweisbarer oder ein zukünftig möglicher. Da man schlechterdings über die Absichten des Urhebers eines Titels im Einzelfall nichts in Erfahrung bringen kann, sei weiterhin präzisiert: Ein Titel ist erst einer, wenn er der mutmaßlichen Absicht eines Urhebers gemäß in der räumlichen Umgebung eines Textes steht - sei dies ein ehemals 30 Für Hellwig 1984: 8f ist die Metatextualität das unterscheidende Kriterium zwischen Titel und Schlagzeile. Doch kann man den Unterschied darin sehen, daß ein Titel etwas über den betitelten Text prädiziert und ihn benennt, die Schlagzeile hingegen den zugeordneten Text paraphrasiert und benennt. 31 Vgl. Baudelaire 1975-1992, Bd. 8: 309-314. - Über Buchprojekte, von denen teils nur die Titel realisiert worden sind, berichtet das „Marbacher Magazin" 80 (1997). 32 Fleming 1965, Bd. I: 537.
Der Titel als Textsorte
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oder ein auch jetzt nachweisbarer oder ein zukünftig möglicher.^' Weil diese Formulierung so schwerfällig ist, verkürze ich die Formel bei weiterem Gebrauch um den Zusatz nach dem Gedankenstrich. Möglicherweise ist der Ausdruck „räumliche Umgebung" noch nicht hinreichend deutlich. Darum sei ihm einige Aufmerksamkeit gewidmet. Ich nehme bei diesen Überlegungen Bezug auf Gérard Genette, der erst jüngst unter dem neugeprägten Begriff des „Paratextes" auf die Umgebung eines Textes und ihre Bedeutung hingewiesen hat. Genette hat den Begriff des Paratextes zunächst in seiner Untersuchung „Palimpsestes" eher beiläufig eingeführt und ihn dann in der Studie „Seuils" umfassend expliziert. Vor allem aufgrund der Impulse, die diese Studie gegeben hat, ist der Ausdruck in die literaturwissenschaftliche Fachsprache eingegangen.^"* Genette spricht von Paratexten als demjenigen, was einen Text 'präsent' macht." Paratexte bilden danach ein Ensemble von Kanälen, das zwischen Text und Öffentlichkeit vermittelt. Einer dieser Kanäle wird durch diejenigen Texte gebildet, die einen Text innerhalb eines Buches umgeben: der Titel, der Verfassemame, das Motto, die Widmung, das Vorwort und die Anmerkung. Ein anderer Kanal wird durch die publizistische Realisation eines Textes gebildet. Hierher gehören zum Beispiel das Format eines Buches, die Umschlagsgestaltung, das Papier, die Illustrationen und die gewählte Schrifltype. Genette nennt diese beiden Kanäle Peritext. Einen dritten Kanal bezeichnet Genette als Epitext und fuhrt in diesem Zusammenhang öffentliche Äußerungen eines Autors an - zum Beispiel Interviews jedweder Art und Lesungen seiner Werke -, außerdem Notizen des Autors, Skizzen und Entwürfe, auch Eintragungen in Tagebüchern und Ausführungen in Briefwechseln. Des weiteren gehören verlegerische Texte wie Anzeigen, Prospekte und Plakate zum Epitext. Anders als bei Genette werden in dieser Arbeit die Paratexte eines Textes nicht als derart heterogen und vielfältig angesehen. Wenn im weiteren von den Paratexten eines Textes die Rede ist, dann in einem von Genette abweichenden Sinn. Paratexte sind Texte und stehen in der Umgebung eines Textes beziehungsweise einer Mehrzahl von Texten. Zu den Paratexten in diesem Sinn gehören darum nicht Illustrationen, Elemente des Buchschmucks, metrische
33 Vgl. eine ähnliche, wenngleich in entschieden anderem Zusammenhang vorgebrachte Argumentation in Weimar 1980: 47-49. - Von Vorworten kann man dasselbe sagen. Sie stehen mutmaßlich absichtlich in der Umgebung eines Textes. Vorworte, für die dies nicht gilt, sind eigentlich keine. Solche Texte geben sich die Form von Vorworten. Man vergleiche Friedrich Nietzsches „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern" oder Stanislaw Lems „Imaginäre Größe". 34 Schweikle 1990; 342. - Fricke 1991: 79. - Rothe 1986: 276. 35 Genette 1992: 9f
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Schemata und der Bereich der Typographie.'® Für den Fall, daß ein Paratext ein gedrucktes Werk umgibt, läßt sich außerdem sagen, daß er in keinem nichtdefekten Exemplar dieses Werkes ein anderer ist. Zu den Paratexten gehört darum auch alles das nicht, was nur ein Exemplar eines vervielfältigten Werkes enthält: handschriftliche Zusätze ebensowenig wie Signaturen. Die Umgebung eines Textes wird wiederum durch Texte gebildet. Diese Texte (z.B. Titel, Autorangabe, Widmung, Motto, Vorwort) beziehen sich nicht nur aufgrund dessen, was sie sagen, sondern auch kraft ihrer Stellung auf denjenigen Text, den sie umgeben, und vermitteln zwischen dem Text und dem Leser des Textes." Für die Einschränkung des Begriffsumfangs spricht zweierlei. Erstens: Das Gebot der Ökonomie. Eine Arbeit, die sich ausschließlich mit den Titeln von Texten befaßt, braucht sich von nichts anderem als der textuellen Umgebung eines Textes einen Begriff zu machen. Zweitens: Das Gebot der Klarheit. Es ist das Begriffswort „Paratext", das zu Mißverständnissen einlädt. Es suggeriert nämlich, daß unter dem Begriff „Paratext" nur Texte erfaßt werden. Das aber ist in der Genetteschen Begriffsversion nicht der Fall. Genette geht sehr viel weiter. Warum aber soll unter einem Begriff nicht eleganterweise auch verstanden werden, was das gewählte Begriffswort schon andeutet? Als ebenso mißlich wie das von Genette mißverständlich gewählte Begriffswort muß gelten, daß der Begriff des Paratextes selbst alles andere als deutlich konturiert ist. Vielmehr hat der Begriff des „Paratextes" Randbereichsunschärfen - „porös" kann man ihn darum in Anlehnung an Werner Strube nennen.'* Der Paratextbegriff in der Genetteschen Version hat keinen klar umrissenen Umfang. Das wird insbesondere bei den Erläuterungen, die Genette zum Epitext gibt, deutlich. „Alles, was ein Schriftsteller über sein Leben, seine Umwelt oder das Werk der anderen sagt oder schreibt, kann paratextuelle Relevanz besitzen [...]", schreibt Genette." Das aber, so wiederum Genette in demselben Zusammenhang, macht das „Fehlen äußerer Grenzen" des Epitextes deutlich. Denn: Selbst Gespräche eines Autors über anderes als sein eigenes Werk sind paratextuell bedeutungsvoll.'"' Eine solche offene und grenzenlose Bestimmung des Epitextes beläßt auch den Begriff des Paratextes im unscharfen. Damit sei nicht gesagt, daß randbereichsunscharfe Begriffe in der literaturwissenschaftlichen Terminologie grundsätzlich bedenklich sind. Im Gegenteil: sie können einer Sache angemessen und (wie z.B. der Begriff „Lyrik") praktisch im Gebrauch 3 6 Auch ein ganzer Teil dessen, was, seit Roman Ingarden den Begriff geprägt hat, als „dramatischer Nebentext" bezeichnet wird, gehört nicht zu den Paratexten: Szenenanweisungen, Aktkennzeichnungen, Angaben zu Sprecher oder Replik im fortlaufenden Dramentext. Der dramatische Paratext ist Teilmenge des dramatischen Nebentexts. Vgl. Ingarden I960: 220. 37 Daher das Interesse der Literatursoziologie am Paratext. Sie sucht das Verhältnis von Literatur und sozialer Welt zu bestimmen. Vgl. Dömer/Vogt 1994: 151-154. 38 Vgl. Strube 1993: 18-21. 3 9 Genette 1992: 330. 4 0 Vgl. Genette 1992: 330.
0Ьефгйп1п§ der Textsortenbestimmung
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sein. Aber im vorliegenden Fall scheint mir doch allzu Heterogenes terminologisch zusanmiengefaßt zu sein. Aus all diesen Gründen möchte ich nicht an dem Paratextkonzept in der Genetteschen Version festhalten. Der Begriff des Paratextes - so wie er hier gebraucht wird - erfaßt diejenigen Texte, die die Umgebung eines Textes oder einer Mehrzahl von Texten bilden. Zusammenfassend läßt sich folgendes sagen: Die Namenstheorie des Titels ist nicht ausreichend für eine angemessene Bestimmung eines Titelbegriffs, die Prädikationstheorie des Titels im Detail unbestimmt und allein ebenfalls nicht ausreichend. Der Titelbegriff innerhalb des Konzepts von Genette ist anfechtbar aufgrund der Unscharfe des in diesem Zusammenhang zugrundegelegten Paratextbegriffs. Im Unterschied zu diesen Titelkonzepten sei in dieser Arbeit folgende Begriffsbestimmung zugrundegelegt: Der Titel ist der Name eines Textes (bzw. einer Mehrzahl von Texten oder eines Textteiles), steht mutmaßlich beabsichtigt in dessen räumlicher Umgebung und prädiziert etwas über ihn.
2. Überprüfung der Textsortenbestimmung Die nun genauer bestimmte Semantik des Titelbegriffs unterscheidet sich im einzelnen, aber nicht im ganzen von bereits bestehenden Titelkonzepten. Sie legt den Titelbegriff nicht gänzlich neu fest, sondern schließt mit einiger Deutlichkeit an andere Konzepte an. Insofern verhält sich der hier eingeführte Titelbegriff bewahrend gegenüber bereits bestehenden wissenschaftlichen Redeweisen (und entfernt sich wohl auch nicht allzuweit vom alltagssprachlichen Wortgebrauch). So ist sie gegen den Vorwurf der Beliebigkeit gefeit. Definitionstheoretisch gesprochen: Die Titeldefinition enthält ein lexikalisches Element."' Das im Unterschied zu den vorgegebenen Redeweisen Neue an dem TitelbegriflF besteht darin, daß er die drei skizzierten Titelkonzepte integriert. Dafür, daß auch dies nicht beliebig geschieht, müssen freilich noch einige Argumente ins Feld geführt werden. In jedem Fall wird sich der Vorwurf der Beliebigkeit um so weniger berechtigt einstellen können, wenn der Titelbegriff nicht nur sachlich angemessen ist, sondern auch systematisch wohldefiniert und trennscharf von Verwandtem und Ähnlichem differenziert ist. Genau dieses aber muß erst noch erwiesen werden. Darum sei die Titeldefinition in mehreren Schritten einer Prüfung unterzogen.
41 Vgl. Gabriel 1988: 30.
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Begriff des Titels
2.1. Die Geschlossenheit des Titelbegriffs Die Definition eines Begriffs begrenzt die Bedeutung des ihn bezeichnenden Wortes und macht seine Geschlossenheit aus.''^ Der Vorgang der Betitelung ist durch drei Bedingungen definiert; sie mtlssen in jedem Fall erfuüt sein, damit ein Text als ein Titel gelten kann. Das Erfülltsein einer der möglichen Kombinationen von zwei Bedingungen und logischerweise auch das Erfulltsein nur einer Bedingung bestimmen nicht schon den Begriff des Titels. Ein bloß umgebender Name ist kein Titel. Zu solchen umgebenden Namen zählen fortlaufende numerische Kennzeichnungen und Zahlwörter innerhalb einer Reihe von Texten. Sie haben keine prädizierende, sondern nur eine gliedernde Funktion. Anders als Wulff und Rothe fasse ich sie darum nicht als Titel auf/^ sondern allenfalls als Titelsubstitute. Daß sie aber auch dies nicht in jedem Fall sind, zeigen Andreas Gryphius' „Sonnete", in denen eine progrediente Zählung mit der individuellen Betitelung der einzelnen Gedichte kombiniert ist - zwei Systeme der Kennzeichnung von Texten bestehen nebeneinander. Und ebenso bilden Ausdrücke wie „Ein Dito" (Matthias Claudius) und „Ein Anderes" (Rilke) zwar Namen, aber keine Titel, sondern Titelsubstitute, die an die Stelle eines bestimmten Titels treten. Der eine ersetzt „An ein neugebomes Kind, das längst schon erwartet war",·*"* der andere „Zauber".'" Kaum anders ist der Ausdruck „Aliud", der sich zum Beispiel vielfach in den neulateinischen Gedichten von Martin Opitz findet, anzusehen. In all diesen Fällen kann auch von einer Überschrift die Rede sein - ein Ausdruck, den ich als unterminologische façon de parier ansehe. Mit ihm können auch die Headline und die Schlagzeile erfaßt werden. Hingegen kann man Scheerbarts Fragezeichen-Titel als echten Titel gelten lassen, wenn auch als einen ungewöhnlichen. Auch ein Text, der einen anderen umgibt und etwas über ihn prädiziert (ihn aber nicht benennt), ist kein Titel. Andernfalls gäbe es kein unterscheidendes Kriterium zwischen dem Titel und anderen paratextuellen Erscheinungen. In den Liedern des Meistersangs, in der Kirchenlieddichtung wie der Lieddichtung überhaupt finden sich gelegentlich Rezitationsanweisungen, die keineswegs (oder nur in Ausnahmefällen) als Titel fungieren. Auch die Angabe vor dem folgenden kleinen Gedicht von Gottfried Kleiner aus dem Jahr 1732 ist eigentlich kein Titel. Eher schon handelt es sich um ein Lemma, das durch den nachfolgenden Text erläutert wird - vergleichbar der Perikope, die in der homiletischen Praxis durch die Predigt ausgelegt wird:
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Vgl. Strube 1993: 4 4 Í Vgl. Wulff 1979: 177 und Rothe 1986: 34. Claudius 1984:812. Rilke 1996, Bd. 1: 16.
Überprüfung der Textsortenbestimmung
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A d a m versteckte sich mit s e i n e m W e i b e v o r d e m A n g e s i c h t e G O T T e s unter d i e B ä u m e i m Garten. 1. M o s . 3 / 8 . O! w a s wilstu dich verstecken? G O T T durchsiebet alle Hecken. D e i n e S c h u l d m u ß d o c h a n s Licht, Kreuch hervor, und s ä u m e nicht. Alle B ä u m e dieser Erden Müssen helle Fackeln werden. A l l e Gräser, g r o ß u n d k l e i n M ü s s e n die Verkläger seyn. Nichts bedecket deine Sünden, Nirgend kanstu Ruhe
finden.
Jesu W u n d e n ö f f n e n sich, D a h i n e i n v e r s t e c k e dich."^
Überschriften, die in der Position des Titels stehen, aber keine Titel sind, treten allerdings häufig als Ersatzformen des Titels insofern auf, als auch mit ihnen die Identifikation des Textes möglich ist (denn die Identifikation von Texten ist nicht notwendig an ihre Namen gebunden"^). Auch in diesen Fällen spreche ich von Titelsubstituten. Am Rande sei hier die International Standard Book Number (ISBN) erwähnt. Auch sie ist kein Titel. Zwar sagt sie für den, der sie decodieren kann, etwas aus, aber sie bezieht sich nicht auf einen Text. Eher doch auf ein Buch oder eine Ausgabe. Aber nicht Bücher und Ausgaben, sondern Texte sind es, die betitelt werden. Der prädizierende Name eines Textes (der diesen nicht umgibt) ist ebenfalls nicht sein Titel, sondern ein Quasi- oder Pseudo-Titel. Ein Beispiel bildet Goethes sogenannte „Marienbader Elegie". Dieser Name ist eine Erfindung, die in Texten über das eigentlich „Elegie" betitelte späte Gedicht in 'kleinen', nämlich sechsversigen Stanzen Verbreitung gefunden hat - wohl zur besseren Unterscheidbarkeit dieses Textes von den anderen Elegien Goethes, insbesondere den „Römischen Elegien".'** Natürlich ist nicht ausgeschlossen, daß der Ausdruck „Marienbader Elegie" einmal zu einem Titel wird. Es müßte nur ein Separat-
4 6 Kleiner 1732: 11. 4 7 Häufig werden Gedichte mittels ihrer ersten Verszeile identifiziert. Dies besonders dann, wenn sie weitreichende mündliche Verbreitung gefunden haben. Goethes „Ein Gleiches" ist mindestens ebenso bekannt als „Über allen Gipfeln". Die Herausgeber von Gedichtbüchern reagieren insofern auf die Gewohnheit, Gedichte anhand ihrer ersten Verszeile zu identifizieren, als sie im Index ihrer Bücher oft auch (manchmal auch nur) die Gedichtanfänge mitteilen. 4 8 Dieser Titel hat sich erst in der Überlieferungsgeschichte der von Goethe „Elegien" genannten Gedichte eingebürgert. Mehr dazu in Kapitel IV.2.
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druck des gemeinten Gedichts mit diesem Namen erscheinen.'" Ftlr den erst vor wenigen Jahren erschienenen Separatdruck der Urschrift dieser Elegie ist ein anderer Name als Titel gewählt worden: „Elegie von Marienbad".'" - Oskar Loerke hat von seinen sieben Gedichtbüchern gem als seinem „Siebenbuch" gesprochen.^' Auch in diesem Fall handelt es sich um einen Quasi-Titel.'^ Ein prädizierender (und nicht benennender sowie umgebender) Text ist kein Titel. Andernfalls wäre auch die Stellungnahme zu einem Text, etwa in Form einer Kritik, ein Titel. Auch ein textumgebender (und nicht benennender sowie prädizierender) Text ist kein Titel. Das erste Gedicht in Gustav Wustmanns Anthologie „Als der Großvater die Großmutter nahm" - Hagedorns „Johann der Seifensieder" - steht zwar in der räumlichen Umgebung des nachfolgenden Gedichts „Der Zeisig" von Geliert, bildet aber evidenterweise nicht dessen Titel. Ein Textname, der nur Name ist (also nicht auch entweder prädiziert oder umgibt), ist nicht unmöglich. Ein Titelsubstitut vom Typ „1", das um seiner selbst willen erfunden worden ist, wäre ein solcher Textname. Sein Vorkommen dürfte jedoch sehr unwahrscheinlich (aber beispielsweise in einer Reihe von komischen Gedichten gut denkbar) sein. Ein solcher Textname ist in keinem Fall ein Titel. 2.2. Einige Konsequenzen Aus der Textsortenbestimmung und ihrer vorläufigen Übeφrüftlng ergeben sich einige Konsequenzen für die Redeweise vom Titel. Zunächst einmal ist die Titeldefmition neutral gegenüber der Frage nach der Kürze beziehungsweise der Länge eines Titels. Denn vor allem fehlt es an verbindlichen Kriterien, die die Kürze beziehungsweise die Länge eines Textes festlegen. Brechts Gedichttitel „Die Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Emigration" ist deutlich länger als viele Gedichte von Giuseppe Ungaretti, zum Beispiel sein bloß siebensilbiges Gedicht „Mattina": M'illumino d'immenso"
4 9 In der Hamburger Ausgabe gerät der Ausdruck „Marienbader Elegie" annähernd zum Titel. Trunz benutzt ihn nämlich im Titelregister, nicht aber als Titel des in Rede stehenden Textes. (Vgl. HA 1: 796). 50 Goethe 1991. 51 Loerke 1958, Bd. 1 : 6 5 6 . 52 Ebenfalls als Quasi-Titel möchte ich solche Textnamen behandelt sehen, die in den Haupttext inkorporiert sind. Ein Beispiel gibt die Schlußformel des „Nibelungenlieds" in der Handschrift C. 53 Ungaretti 1963: 6.
Übeφrüfimg der Textsortenbestimmung
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Weiterhin wird man wohl sagen icönnen, daß der Titel eines Textes zwar zu diesem gehört, aber im idealtypischen Fall kein Bestandteil des Textes ist.^·* Die grammatische Struktur, die den Ausdrücken „Titel des Textes" und „Gedichttitel" zugrundeliegt, ist die des genitivus possessivus und nicht die des genitivus partitivus. Diese Feststellung wird auch dadurch nicht eingeschränkt, daß die Dichter von Fall zu Fall die Grenze zwischen Titel und Text fließend gestalten, indem sie einen Teil eines Textes zu seinem Titel machen. Die Nähe des folgenden Gedichts von Ezra Pound zu der dreizeiligen japanischen HaikuForm kann man erst dann behaupten, wenn man Titel und Gedicht als ein Ganzes sieht: In a Station of the Metro The apparition of these faces in the crowd; Petrals on a wet, black bough."
Deutlicher noch ist der fließende, nämlich der syntaktisch fließende Übergang zwischen Titel und Text in folgendem Gedicht von Else Lasker-Schüler gestaltet: Siehst du mich Zwischen Erde und Himmel? Nie ging einer über meinem Pfad Aber dein Antlitz wärmt meine Welt Von dir geht alles Blühen aus. Wenn du mich ansiehst, Wird mein Herz süß. Ich liege unter deinem Lächeln Und lerne Tag und Nacht bereiten Dich hinzaubern und vergehen lassen. Immer spiele ich das eine Spiel.'®
Wenn der Titel eines Gedichts im Verlauf der Textgenese oder der Überlieferungsgeschichte Änderungen erfährt, ändert sich außer in Fällen wie diesem hier
5 4 Ähnlich äußern sich Rothe 1986: 15 und Heek 1981: 149, anders hingegen Dressler 1972: 61, Killy 1972: 161 und Weimar 1980: 136. 55 Pound 1959: 172. 56 Lasker-Schüler 1996ff., Bd. 1,1: 114f
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nicht auch schon der Text. Allerdings nimmt die Titeländerung mit ziemlicher Sicherheit Einfluß auf die Wahrnehmung des Textes durch den Leser. Fernerhin liegt die Neutralität der Titeldefinition gegenüber der Frage nach der Urheberschaft des Titels deutlich zutage. Zwar ist es richtig, daß nicht in jedem Fall der Autor eines Textes auch dessen Titel verantwortet - das kann auch ein Herausgeber, ein Verleger oder Lektor leisten -, doch tut dies im Bereich der Definition nichts zur Sache. Daß „Kabale und Liebe" von Ifïland und nicht von Schiller, „Sturm und Drang" von Kaufmann und nicht von Klinger, „Stimmen der Völker in Liedern" von Johann von Müller und nicht von Herder und „Amerika" von Max Brod und nicht von Franz Kafka stammen, ändert nichts an der Tatsache, daß es sich in jedem einzelnen Fall um einen Titel handelt. Ein Einzeltitel wird wohl fast in jedem Fall so gesetzt, als stamme er vom Autor. Ausnahmen sind selten; den Titel „Urfaust" zähle ich zu ihnen. Hingegen sind Sammeltitel wie „Sämtliche Werke" üblicherweise von einem Herausgeber oder Verlag verantwortete Titel. Häufig sind sie postum gesetzt, es sei denn, bei der Ausgabe handelt es sich um ein Vermächtnis zu Lebzeiten oder um die literarische Zwischenbilanz eines erfolgreichen Autors (wie im Fall der 1906 erschienenen „Gesammelten Werke" von Gerhart Hauptmann). Detaillierte Untersuchungen zur Urheberschaft von Titeln gehören in die Analyse des jeweiligen Titelgebrauchs. Hier soll unter Absehung von komplizierten Einzelfällen und Grenzphänomenen geredet werden. Und da gilt es festzuhalten: Von wem der Titel eines Gedichts verantwortet wird, ist dem Titel selbst normalerweise nicht anzusehen. Doch kann einschränkend hinzugefügt werden, daß es nicht der fiktive Sprecher des Gedichts ist, der ihn verantwortet. Dazu einige Indizien." Wenn es in einem gegebenen Fall als gesichert gelten muß, daß der Titel eines Gedichts postum erfunden worden ist, wie soll dann einsichtig gemacht werden können, daß der Sprecher des Gedichts ihn verantwortet?'® In Kommentaren zur Titelsetzung, wie sie sich gelegentlich in Vor- oder Nachworten oder in Anmerkungen finden, wird gelegentlich auf reale Personen als Titelproduzenten hingewiesen. Wenn die Sprecher von Gedichten auch die Urheber von deren Titeln wären, müßten solche Hinweise in jedem Fall Täuschungen oder Irrtümer sein. Das aber wäre zumindest kontraintuifiv.
57 Die Frage nach der Instanz, die einen Titel verantwortet, ist vor allem in der Narratologie diskutiert worden, zuletzt einlaßlich und präzis in Brandt 1996. Ich beziehe mich auf die von Brandt vorgetragenen Argumente. Dies vor allem aus Gründen der Vorbeugung. Die Unsicherheit, die in der Erforschung von Erzählungen darüber herrscht, ob der Erzähler oder der Autor für einen Titel verantwortlich ist, könnte sich mutatis mutandis auf die Analyse lyrischer Texte übertragen. 58 Natürlich Ist es nicht ausgeschlossen, daß ein Herausgeber oder ein Autor einen Titel so setzt, daß er wie vom Sprecher eines Gedichts verantwortet erscheint. Man vergleiche Titel wie „Meine Wahl" (Goethe), „Meine Genesung" (Hölderlin) oder „Mein B e r u f (Droste-HUishoñ).
О Ь е ф г й п т § der Textsortenbestimmung
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Eine Hauptfunktion des Titels ist die des Identifizierens eines Textes. Mit dieser Funktion richtet er sich nicht nur an die Leser des betitelten Textes, sondern auch an eine Gruppe, von der die Menge aller Leser nur eine Teilmenge ist. Diese Gruppe wird durch die Benutzer eines Textes gebildet. Der Ausdruck „Benutzer" schließt ein, was Genette das „Publikum"'^ nennt (und ebenso das, was Harald Weinrich als den „Passanten"®" bezeichnet). Verlagsvertreter, Buchhändler und Bibliotheksangestellte gehören dieser Gruppe an; sie kennen viele Titel, aber man mutet ihnen nicht die Kenntnis ebensovieler Texte zu.®' Auch im Literaturgespräch, sei es privat oder sei es öffentlich, ist die Diskrepanz von Titel- und Textkenntnis vielfach erfahrbar. Die Bekanntheit eines Titels ist größer als die des Textes. Es ist schlecht einzusehen, warum der Sprecher eines Gedichts für den Titel des Gedichts verantwortlich sein soll. Seine Rede richtet sich an den Leser und nicht an die Gesamtheit der Benutzer des Gedichts. Es gibt Gedichte, wie zum Beispiel Bertolt Brechts „Die Ballade vom Knopfwurf', deren Titel das im Gedicht Gesagte als Fiktion qualifizieren, von den Sprechern der Gedichte, die selbst Element der jeweiligen Fiktion sind, aber gar nicht mit Fiktionsbewußtsein gesprochen werden. Derjenige, der in einem solchen Gedicht spricht, ist nicht mit demjenigen identisch, der dessen Titel setzt. 2.3. Der Titel im Gattungssystem Der vorgeschlagene Titelbegriff ist in ein begriffliches System integrierbar, die Paratexte betreffend. Er ist derart konzipiert, daß er wenigstens eine inhaltliche Bestimmung enthält, die die ihm verwandten Begriffe nicht enthalten. Darüber hinaus ist der Titel von den ihm nebengeordneten paratextuellen Phänomenen unter der Voraussetzung von Gemeinsamkeiten begrifflich unterscheidbar. Das sei im weiteren ohne Anspruch auf Vollständigkeit anhand einiger auch in der Umgebung von lyrischen Texten auftretender Paratexte illustriert.^^
59 Genette 1992: 76f. 60 Weinrich 1976: 196. Unter „Passant" versteht Weinrich den hastigen Zeitgenossen, der bestenfalls durch einen kurzen Aufenthalt beim Bouquinisten oder einen flüchtigen Blick durch das Schaufenster von einem Buch Kenntnis nimmt. - Jean Paul, Ähnliches meinend, sagt an einer Stelle in den „Grönländischen Prozessen": „[...] mancher Rennleser bleibt meistens bei dem Titelblatte stehen [...]." (Jean Paul 1927: 140). 61 Die Literatur weiß darüber ein Wort zu sagen. In Musils „Mann ohne Eigenschaften" heißt es: „Es ist das Geheimnis aller guten Bibliothekare, daß sie von der ihnen anvertrauten Literatur niemals mehr als die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis lesen." (Musil 1978, Bd. 2: 462). 62 Vgl. hierzu Moennighoff 1997.
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Begriff des Titels
2.3.1. Das Motto Das Motto, das man gelegentlich auch als Vor- beziehungsweise Leitspruch bezeichnet findet, ist im Regelfall ein Zitat. Aber der Zitatcharakter kann auch bloß vorgetäuscht sein. Überdies kann das Zitat im Wortlaut gegenüber seiner Herkunft variiert sein. Die phänotypische Nähe des Mottos zum Titel ist häufig beobachtet worden.^^ Es teilt mit diesem, daß es einen zweistelligen Relationsausdruck bildet, daß es etwas über einen Text aussagt und in dessen Umgebung steht. Hingegen hat es keine Namensfimktion, ist also zu unterscheiden von solchen Titeln, die außerdem Zitate sind. Das Motto vor einem einzelnen Gedicht steht meist zwischen Titel und Gedicht, dasjenige vor einer Gedichtsammlung steht meist auf dem Titelblatt und wird darum gelegentlich als „Titelmotto" bezeichnet" - oder dessen Rückseite, gegebenenfalls auf einer eigens fiir es vorgesehenen Seite zwischen Titelblatt und erstem Gedicht. Das Motto ist fast immer mit einer Herkunftsangabe versehen und außerdem oft typographisch (durch Kursivsatz oder kleinen Schriftgrad) oder durch seine besondere Stellung im Satzspiegel ausgezeichnet. Für die Wahl eines Mottos ist üblicherweise der Autor des entsprechenden Textes verantwortlich. Die prädizierende Kraft des Mottos kann unterschiedlich stark sein. Aber selbst in der Form mit der geringfügigst ausgeprägten Aussagekraft, der Devise, mit der das Selbstverständnis des Dichters oder eine Lebensmaxime ausgedrückt wird,®' ist der Bezug zum Text nicht ausgelöscht. Und erst recht nicht von der Hand zu weisen ist die prädizierende Funktion des Mottos dort, wo es Schlüssel für den Text ist (Krista Segermann spricht in diesem Fall vom emblematischen Motto^^) oder wo es über den Inhalt des nachfolgenden Textes informiert (nach Segermann: das Motto als Argumentum"). Gelegentlich übernimmt im Bereich der Lyrik ein Motto Titelfunktion. Solche Fälle finden sich kaum in Gedichten neuester Zeit, wohl aber in denen des Barock. 2.3.2. Die Autorangabe Ein einzelnes Gedicht wird eigens mit einem Automamen meistens dann versehen, wenn es separat veröffentlicht wird (T.S. Eliot: „The Waste Land"), und fast immer auch dann, wenn es - wie häufig in einem Almanach, einer Zeitschrift oder einer Anthologie - neben Werken anderer Autoren steht. Die Autorangabe gleicht dem Titel in der Hinsicht, daß auch sie einen prädizierenden Bezug auf einen Text hat und ihn umgibt. Hingegen ist sie nicht wie 63 64 65 66 67
Vgl. Z.B. Segermann 1977: 141-145. Weismann 1981: 544. Vgl. Segermann 1977: 59-71. Vgl. Segermann 1977: 71-88. Vgl. Segermann 1977:88-111.
Oberprüfiing der Textsortenbestimmung
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der Titel als eine zwei-, sondern als eine dreistellige Relation zu denken. Die Autorangabe bezeichnet einen Text als das Werk eines bestimmten Verfassers. Dies kann durch die Angabe des authentischen (des gewissermaßen standesamtlich gültigen) Verfassernamens, aber ebensogut durch einen erfundenen Namen, ein Pseudonym, geschehen. Mittels eines solchen Pseudonyms gibt sich der Autor nicht als die reale Person zu erkennen, die er ist, sondern als eine andere. Klaus Weimar unterscheidet diesbezüglich zwischen dem „Autor des Textes" und dem „Autor im Text".^^ Die Verfasserangabe und der Titel sind zwei deutlich voneinander unterscheidbare paratextuelle Gattungen. Das heißt aber nicht, daß in der Welt der Literatur nicht Übergänge und Interferenzen zwischen beiden Gattungen möglich sind. Bei Gryphius heißt ein Titel: „Andreä Gryphii gedancken über den kirch-hof und ruhe-städte der verstorbenen". Auch folgender Titel in Paul Celans Gedichtband „Die Niemandsrose" gehört in diesen Zusammenhang: Eine Gauner- und Ganovenweise gesungen zu Paris Emprès Pontoise von Paul Celan aus Czemowitz bei Sadagora
2.3.3. Die Anmerkung Ähnlich wie der Titel und das Motto, aber anders als die Autorangabe, ist die Anmerkung als zweistellige Relation zu denken. Neben dem Anmerkungstext ist die Bezugsstelle einer Anmerkung in die Definition einzubeziehen. Wenn ein Text von einem anderen als seinem Verfasser selbst annotiert wird, geschieht dies in der Regel unter Hinweis auf den Urheber der Anmerkungen. Wo dies nicht der Fall ist, ist die Urheberschaft zumeist aus dem Kontext erschließbar. Die Anmerkung steht entweder am unteren Rand einer Druckseite - unterhalb der Gürtellinie eines Textes, wie es Anthony Grafton ausdrückt^' - oder am Ende eines Gedichts, als Glosse oder Marginalie auch am Seitenrand eines Textes. Die Anmerkung bezieht sich auf einen Teil eines Textes. In diesem Punkt unterscheidet sie sich von Vor- beziehungsweise Nachwort. Anders als beim Titel ist die Aufgabe der Anmerkung natürlich nicht die der Benennung. Vielmehr hat sie in vielfachem Sinn kommentierende Funktion. So kann sie Wörter oder Sachen erläutern, wie beispielsweise in Albrecht von Hallers großem Lehrgedicht „Die Alpen". Dabei ist es durchaus möglich, daß die Anmerkung Abhandlungscharakter erhält. Genette weist auf eine fünfundzwanzigseitige Anmerkung hin, das Wort „Agonie" in einem Gedicht von La 68 Weimarl980: 136f. 69 Vgl. Grafton 1995: 117.
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Begriff des Titels
Céppède betreffend.™ Häufig dient eine Anmerkung auch der Quellenangabe, vergleichsweise häufig in den Gedichten des Barock (z.B. bei dem sich auch Laurentius von Schnifis nennenden Johann Martin). Anmerkungen können außerdem, wenn sie wie von einer erfundenen Figur verantwortet erscheinen, fingiert sein. Dieser Anmerkungsgebrauch fällt vor allem in die Domäne der Romanliteratur und findet sich etwa bei Christoph Martin Wieland, Jean Paul und Vladimir Nabokov. In der Anmerkung spricht häufig der Autor des annotierten Textes. Es kann aber auch sein Herausgeber sein. Oder ein Kommentator, der j a nicht mit dem Herausgeber eines Textes identisch sein muß. 2.3.4. Das Vor- und Nachwort Da sich das Vorwort vom Nachwort im Kem nur durch seine Stellung zum Haupttext unterscheidet, kann in diesem Abschnitt allein auf das Vorwort eingegangen werden. Alles hier Gesagte gilt auch für das Nachwort - freilich mit dem Unterschied, daß dieses im Anschluß an einen Text steht. Auf die unterschiedlichen Funktionen, die das Vor- und Nachwort haben können, muß hier nicht eingegangen werden. Das Vorwort ist üblicherweise ein Paratext mittleren Zuschnitts. Es steht sowohl vor Textsammlungen (Opitz: „Teutsche Poemata", Brecht: „Hauspostille") als auch vor einzelnen Texten (Brockes: „Der schönste Thau", Mörike: „Erinna an Sappho") und bezieht sich auf das eine oder das andere als ein Ganzes. Dadurch unterscheidet es sich von der Anmerkung. Vom Motto unterscheidet es sich dadurch, daß es sich nicht um ein Zitat handelt, vom Titel dadurch, daß es nicht benennt. Es ist nicht immer der Fall, daß das Vorwort eines Textes auch von dessen Autor stammt. Es kann auch der kommentierende Philologe, der Übersetzer und natürlich der Herausgeber sein. Ciaire Göll hat einmal ein Vorwort zu einem der Gedichte von Ivan Göll verfaßt: Ode an die Amsel N a c h dem Tode Ivan Gölls fand ich in der Ecke einer Schublade einen Haufen v o n Papierschnitzeln. Es sah aus wie Konfetti. Es waren die sechs verschiedenen Fassungen einer „Ode an die Amsel". Keine dieser Fassungen schien ihm, dem Goldschmied des Wortes, der ein Dichterleben lang um Vollkommenheit des Ausdrucks gerungen hatte, gut genug, um ihn zu überleben. Die Ode entstand im Jahre 1932, wahrscheinlich inspiriert, j a diktiert von der ganz besonders begabten Amsel, die damals in dem Akazienbaum unseres Pariser Hofes wohnte.
70 Vgl. Genette 1992:317.
Ciaire
Göll
О Ь е ф г й п т § der Textsortenbestimmung
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Vor vielen Göttern Hab ich gelcniet Um Segen bettelnd. Ich hab das Öllicht des Glaubens gebrannt, Den Reis der Demut gegessen. Das Lamm des Gehorsams geopfert, Ich hab gefastet an traurigen Tagen Und zu den Jahreswechseln getanzt: Doch immer erwach ich Mit bitterer Lippe Und dürstender Seele Zur Stunde des trächtigen Tags Und rufe vergeblich die Götter. [...]"
2 . 3 . 5 . Die Widmung Ähnlich wie der Titel und all die anderen bislang beschriebenen paratextuellen Formen ist die Widmung auch als Relation zu denken, aber anders als die übrigen paratextuellen Gattungen ist die Widmung eine solche, deren Tiefenstruktur als vierstellige Relation darstellbar ist. Die vier Variablen in der Formel dieser Textsorte stehen für den Urheber der Widmung, den Widmungsgegenstand, den Widmungstext und den Widmungsadressaten. Nicht in j e d e m Fall einer Widmung ist auch j e d e der vier Positionen explizit besetzt. Klopstocks Widmung seiner anonym erschienenen „Oden" - die wohl erste in dieser Hinsicht moderne Widmung - nennt nur den Adressaten: „An B e m s t o r f f " . Femerhin gilt, daß nicht alles, was mit „Widmung" oder einer semantisch äquivalenten Bezeichnung betitelt ist, auch schon eine ist. Die „Zueignung" in Goethes „Faust" gibt ein Beispiel. Der Vorgang des Widmens kann zweifach in Erscheinung treten. Mit der handschriftlichen Widmung, die nur einem Exemplar eines Werkes gilt, wird die tatsächliche Schenkung dieses einen Exemplars vollzogen, mit der gedruckten Widmung hingegen eine symbolische Schenkung des Werkes.'^ V o r allem diese Widmungsform ist für den Literaturwissenschaftler von Interesse. Eine Widmung kann ein einzelnes oder mehrere Gedichte paratextuell umgeben. In diesen Fällen steht sie meist zwischen Titel und Gedicht; selten hingegen am Ende eines Gedichts. Häufiger als in der Umgebung eines einzelnen Gedichts stehen Widmungen in der Umgebung einer ganzen Gedichtsammlung. In diesen Fällen sind sie meist a u f einer eigens Шг sie vorgesehenen Seite piaziert. S o heißt die zwischen Titelblatt und erstem Gedicht befindliche Widmung
71 Göll 1 9 5 2 : 3 3 9 . 72 Vgl. Genette 1992: 115.
Begriff des Titels
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in den frühen Auflagen von Rilkes „Stundenbuch", übrigens in Anlehnung an das Zeremoniell der Überreichung einer Gabe: „Gelegt in die Hände von Lou". Widmungstexte können aber auch umfangreiche Gebilde sein. In der Form des ausführlichen, den Regeln der Briefschreibelehre genügenden Widmungsbriefes können sie mehrere Seiten umfassen. In der Moderne jedoch haben Widmungen im Bereich der Lyrik meist bündigen Charakter. Hier zwei Beispiele aus dem lyrischen Œuvre von Georg Trakl: Gesang des A b g e s c h i e d e n e n An Karl B o r r o m a e u s Heinrich V o l l Harmonien ist der Flug der V ö g e l . E s haben die grünen W ä l d e r A m A b e n d sich zu stilleren Hütten versammelt; D i e kristallenen Weiden des R e h s . [ . . . ] "
Sebastian im Traum Für A d o l f L o o s Mutter trug das Kindlein im weißen M o n d , Im Schatten des Nußbaums, uralten Hollunders, Trunken vom Safte des M o h n s , der K l a g e der Drossel; U n d stille N e i g t e in Mitleid sich über j e n e ein bärtiges Antlitz [ . . . ] ' "
Bei dem ersten Beispiel handelt es sich um den Teil eines Widmungsbriefes. Die Widmung ist auf die bloß präpositional eingeleitete Nennung des Adressaten reduziert. In dieser Hinsicht gleicht sie der brieflichen Adressierung. Sie stellt also keine Anrede dar, denn im Unterschied zu einer Anrede gehört der Widmungsformel auch das zu, was nur aus ihrem Kontext erschließbar ist: Hinweise auf Widmungsspender und Widmungsgegenstand. Der Titel eines Gedichtes in der Form einer Anrede - z.B. Goethes „An Schwager Kronos" oder Trakls „An den Knaben Elis" - ist darum nicht mit einer Widmung zu verwechseln. Die Widmung in dem zweiten Gedicht kann als Schwundform der inschriftlichen Widmung gelten. Mit Abgrenzungs- und Zuordnungsproblemen hat man es ständig zu tun, wenn man sich ein komplexes Feld von literarischen Phänomenen zu ordnen vornimmt. So verhält es sich eben auch im Feld der Faratexte. Darum muß es auch nicht verwundem, wenn im Einzelfall die Unterscheidung zwischen anredendem Titel und Widmung nicht leicht fällt.
73 Trakl 1969, Bd. 1: 144. 74 Trakl 1969, Bd. 1: 88.
Der mediale Status des Titels
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Ein klassifikatorischer Begriff wie der eingeführte Begriff des Titels ist eine Idealisierung. Nicht anders verhält es sich mit den anderen, ihm systematisch nebengeordneten Begriffen im Bereich der Paratexte. Ohne Abstraktion von den vielfältigen paratextuellen Erscheinungsformen wäre eine systematische Klassifikation nicht zu haben. Der klassifizierende Literaturwissenschaftler tut so, als ob die Umfänge seiner Begriffe einander nicht überschneiden, obwohl er weiß, daß die durch die Begriffe erfaßten Sachen sich durchaus miteinander berühren können.^' Darum haben die bisherigen Ausführungen den TitelbegriflF idealtypisch zu bestimmen versucht. Aber natürlich kann eine Vortragsanweisung an die Stelle eines Titels treten (Claudius: „Täglich zu singen"); genauso die Angabe eines rollenhaften Sprechers (Claudius: „Phidile", Fleming: „Für eine Jungfrau"). Bei Rilke treten oft Widmungen oder widmungsähnliche Formeln an die Stelle von Titeln. Doch von solchen oft kuriosen und manchmal schwer zu kategorisierenden Mischformen und Zweifelsfällen, die die Literatur zu bieten hat, wird hier abgesehen.
3. Der mediale Status des Titels An die bisherigen Überlegungen, die den Titel unter gattungstheoretischen gattungssystematischen Gesichtspunkten zu erfassen gesucht haben, lassen noch einige nicht nur interessante, sondern auch für den weiteren Gang Untersuchung wichtige Einzelfi-agen anschließen. Eine davon betrifft den dialen Status des Titels.
und sich der me-
Der Titel gehört dem Medium der Schriftlichkeit an. Dieser Satz läßt sich aus Anschauung gewinnen. Solange ein Text als ein schriftlicher wahrgenommen wird, fällt die Bindung seines Titels an die Schriftlichkeit nicht weiter auf Wohl aber sobald ein Text im Medium der Mündlichkeit in Erscheinung tritt. Wenn ein Drama zur Aufführung kommt, wird sein Titel von den Schauspielern nicht eigens mitgeteilt. Wenn ein Roman im Radio vorgelesen wird, wird der Titel üblicherweise nicht vom Rezitator, sondern vom Ansager mitgeteilt. Er ersetzt die fehlende Instanz der Schriftlichkeit. Der Chansonier singt ebensowenig wie der Schlagersänger die Titel seiner Lieder. All dies sind Indizien dafür, daß sich Titel und Text nicht notwendig auf derselben der möglichen medialen Ebenen sprachlicher Erscheinungen bewegen (nämlich genau dann nicht, wenn der betitelte Text dem mündlichen Medium zugehört^^ ).
75 Vgl. Strube 1993: 47. 76 Auch Referenten beginnen ihren Vortrag nicht mit der Nennung des Vortragstitels. Bei Rothe 1986: 86 heißt es dazu: „Vollends unangebracht ist der Titel in der mündlichen Kommunikation". - Vielleicht gehört auch ein Satz von Derrida in diesen Zusammenhang: „Ich behaupte, daß eine Analyse des Funktionierens bei jedwedem Titel beweist, daß es keinen rein phoni-
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Begriff des Titels
Neben den gerade gegebenen Indizien wäre noch ein mehrfach zu untergliedernder Beleg anzuführen. Dichter verwenden in den Titeln ihrer Texte gelegentlich eine abkürzende Sprache, die nur in der Schriftsprache gebräuchlich ist:
An I. D. d. V. H. V. W. (Christoph Martin Wieland) U. L. F. Litteratura
(Johann Gottfried Herder)"
Und selbst wenn einzelne, in Titeln verwendete Abbreviaturen nicht schriftsprachlich konventionalisiert sind - wie zum Beispiel im Fall von Dieter Kühns Erzählung „N" -, so sind sie doch ebenfalls nur unter der Voraussetzung ihrer Wahrnehmung im Schriftlichen zweckmäßig. Anders wäre der Witz in folgendem Gedicht von Christian Morgenstern gar nicht zu erfassen:
Der E.P.V. ( D e m 2. Garderegiment zu Fuß) Der Exerzieφlatzvogei singt, sobald des Trommlers Fell erklingt. Es nimmt voraus, das kleine Vieh, des Schwegelpfeifers Tirili indem sein Köpflein nicht begreift, warum derselbe noch nicht pfeift. A u f seinem Ast im Himmelsblau sitzt unentwegt der E.P.V., sein Lied zu pfeifen stets parat, ein nie versagender Soldat.^'
In anderen Fällen, in denen ein Ausdruck völlig getilgt ist, signalisieren Gedankenstriche oder Asterisken Schriftlichkeit. Dazu ein Beispiel aus den Gedichten von Eduard Mörike und eines aus denen von Friedrich Schiller:
sehen Titel geben kann, keinen Titel ohne Archivierungsmöglichkeit und I^sbarkeitscode," Vgl. Derrida 1980: 18. - Ähnlich äußert sich auch Katann 1909/10: 502. 77 Im ersten Fall ist die Bedeutung der Abkürzung: Ihre Durchlaucht die Verwitwete Herzogin von Weimar, im zweiten Fall: Unsere liebe Frau. 78 Morgenstern 1987-1992, Bd. 3: 169.
Der mediale Status des Titels
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AnLaß doch dein Dichten! hast ja Geld; Tropfi brauchs, die Poesie lebendig zu betreiben! Was gilts, dich freut das Schönste in der Welt Nur halb, vor lauter Angst, du müssest es beschreiben!''
Am Antritt des neuen Jahrhunderts An»** Edier Freund! Wo öfhet sich dem Frieden, Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort? Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden. Und das neue öftiet sich dem IVIord.
Und natürlich ist ein Sonderling wie „1649-1793-????", den der Herausgeber Adolf Strodtmann über eines von Heines „Zeitgedichten" aus der „Nachlese zum Romanzerò"*' gesetzt hat, ebenfalls nur unter der Voraussetzung seiner Schriftlichkeit sinnvoll. Dasselbe gilt für all diejenigen Titel, die Chronogramme enthalten. Oder für solche, die wie Becketts „Whoroskope" iVlehrdeutigkeiten graphisch realisieren.'^ Damit ist natürlich nicht gesagt, daß schriftlich realisierte Texte notwendig einen Titel haben. Gerade im modernen Gedicht, bei Mallarmé oder Celan beispielsweise, ist die Titellosigkeit, die von Fall zu Fall unterschiedliche Funktionen haben kann, häufig gewollt.'^ In diesem Zusammenhang ist ein Seitenblick auf die Geschichte des Wortes „Titel" insofern aufschlußreich, als sich in ihr der Umstand, daß der Titel eine Instanz des Schriftlichen ist, niederschlägt. „Titel" geht zurück auf das lateinische Wort „titulus", dessen Ursprung unklar ist.''* Es bedeutet „Aufschrift" und „Inschrift" und meint Aufschriften auf Denkmälern, Hauseingängen und Medaillen, aber auch namentliche Kennzeichnungen von Büchern, die diesen meist als schriftliche Notizen auf kleinen Zetteln angeheftet sind. Im Althochdeutschen gibt es das Wort „titul" mit der Variante „titulo", im Mittelhochdeutschen „titel" und „tittel". Im 14. Jahrhundert taucht in Bamberg das Wort „Titel" mit der Bedeutung „Buchtitel" a u f ' ' Auch der gelegentlich als Synonym von „Titel" gebrauchte Ausdruck „Rubrik" ist - wie auch das Wort „Überschrift", das wortgeschichtlich als Eindeutschung gleichermaßen von „inscriptio",
79 80 81 82 83 84 85
Mörike 1993: 212. Schiller 1943fr., Bd. 2,1: 362. Zuerst in Heine 1869: 157. Vgl. Rothe 1986: 79f.. In Celans Gedichten ersetzt oft die Graphie des ersten Wortes oder der ersten Phrase den Titel. Kluge 1995: 826. Trübner 1939-1957, Bd. 7: 56.
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Begriff des Titels
„titulus" und „epigramma" auftritt®^ - ein entsprechendes Indiz. Das Wort „Rubriii" wurde im späten 15. Jahrhundert aus dem mittellateinischen „rubrica" entlehnt, zunächst mit der Bedeutung „(zum Schreiben und Malen dienende) rote Farbe". Seit Anfang des 16. Jahrhunderts dient es außerdem zur Bezeichnung für die in mittelalterlichen Handschriften und frühen Drucken auftretenden, durch rote Schrift hervorgehobenen Überschriften.'^ Aus diesem Zusammenhang kommend, ist das Wort auch in die Kanzleisprache eingegangen. In ihr wird es seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts gebraucht.''
4. Zur Titeltypologie Neben der Frage nach dem medialen Status des Titels ist eine gleichermaßen gewichtige wie umstrittene die nach der möglichen Gliederung der Titelvielfalt in typologische Gruppen. Dazu sind in der Fachliteratur zum Thema einige Vorschläge gemacht worden. Ich werde im folgenden einige wichtige Positionen durchgehen und sie mit Blick auf die Brauchbarkeit für die Analyse von Gedichttiteln prüfen. Doch setzt dies die Klärung dessen voraus, was überhaupt Gegenstand einer Titeltypologie ist - welcher Art sie auch immer sei. Fast allen Typologieversuchen geht nämlich eine Binnendifferenzierung der möglichen Bausteine des Titels voraus und die Entscheidung, nicht jeden dieser Bausteine durch die Typologie zu erfassen. In diesem Zusammenhang werden drei Titelelemente voneinander unterschieden. Je nach dem ins Feld geführten Modell geschieht dies unter wechselnden Bezeichnungen. Genette unterscheidet zwischen Titel, Untertitel und Gattungsangabe,'^ Leo H. Hoek zwischen Haupttitel und sekundärem Titel, den er wiederum in Zweittitel und Untertitel differenziert.^" Arnold Rothe schließ-
86 Grimm 1984, Bd. 23: Sp. 520f. - Vgl. barocke Epigrammtitel wie „Überschrift der Seligkeit" oder „Überschrift der Verdammnis" von Angelus Silesius oder die „Uberschriffte Oder Epigrammata" von Christian Wernicke. Vgl. auch das 59. von Goethes Venezianischen Epigrammen (FA 1/ 1: 456): „Epigramme seid nicht so frech!" Warum nicht? Wir sind nur Überschriften, die Welt hat die Kapitel des Buchs. 87 Vgl. Deutsches Fremdwörterbuch 1913-1988, Bd. 3: 495f. - Vgl. Klenz 1900: 90. - In seiner Kritik der Klopstockschen Oden sagt Matthias Claudius an einer Stelle: „Und die Rubra über die Stücke! j a die sind immer so kurz und wohl gegeben, und 'n gut Rubrum über 'n Stück ist wie 'n Mensch, der 'n gut Gesicht hat." (Claudius 1984: 53). 88 „Rubrizieren" bedeutet nach Maßgabe des „Deutschen Fremdwörterbuchs" 1913-1988, Bd. 3: 497 soviel wie „mit einer Überschrift versehen". 89 Vgl. Genette 1992: 60. 90 Vgl. Hoek 1981:94-97.
Zur Titeltypologie
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lieh unterscheidet zwischen Obertitel, den er in Haupt- und Nebentitel gliedert, und Untertitel.'· Von den drei Vorschlägen erscheint mir der von Rothe der brauchbarste und sachlich angemessenste vor allem darum zu sein, weil er Haupt- und Nebentitel begrifflich zwar voneinander trennt, aber doch auch als Einheit begreift und als solche vom Untertitel unterscheidet. Dagegen wirkt Hoeks Vorschlag gezwungen, der von Genette die Sachlage allzusehr vereinfachend. Der Nebentitel folgt auf den Haupttitel und ist im übrigen syntaktisch selbständig. Dabei kann der Nebentitel durch eine Grenze in der syntaktischen Gliederung des Titels vom Haupttitel geschieden sein. Der Nebentitel kann aber auch mit dem Haupttitel konjunktional koordiniert sein, was meist mit einem „oder" geschieht. Paul Scheerbart hat einmal von dieser heute anachronistisch wirkenden Titelgebung scherzhaft Gebrauch gemacht: Der große Mann U n d der Schlaukopp oder Der g e g e n s e i t i g e Kultus
Im übrigen kann der Nebentitel durch das sekundäre Merkmal der Typographie vom Haupttitel abgesetzt sein: durch die Wahl unterschiedlicher Schriftgrade. Der Untertitel ist durch ein semantisches Kriterium bestimmt: Er enthält eine Angabe zur Gattungszugehörigkeit des betitelten Textes.'^ Er heißt Untertitel, weil er im Allgemeinen dem Oberttitel folgt. Das ist aber nicht immer der Fall. Es sei zur Illustration der Titel eines Gedichts von Hofmann von Hofrnannswaldau (der möglicherweise von Benjamin Neukirch stammt) mitgeteilt: Sonett Vergänglichkeit der Schönheit
Nur um Mißverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle gesagt, was durch zahlreiche Beispiele bereits nahegelegt wurde. Ein Gedichttitel ist nicht obligatorisch ein dreigliedriges Gebilde, bestehend aus Haupt-, Neben- und Untertitel. Dieser Fall ist im Bereich der Lyrik sogar vergleichsweise selten. Soweit ich sehe, sind alle Versuche, die Vielgestaltigkeit von Titeln auf einige wenige Typen zurückzufiihren, auf Haupt- und Nebentitel beschränkt. Nur sie bilden das Material für Typologien. Die Entscheidung ist vernünftig und es gibt keinen Grund, sie in Zweifel zu ziehen. Im Unterschied zum Haupt- und
91 Vgl. Rothe 1986: 17. - Eine ähnliche Binnendifferenzierung findet sich auch bei Duchet 1973: 56f. 92 Ich folge hier Genette, der das, was hier „Untertitel" heißt, „Oattungsangabe" nennt (Genette 1992: 60), und Hoek, der es „sous-titre" nennt (Heek 1981: 94).
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Begriff des Titels
Nebentitel ist der Untertitel nicht flexibel und darum nicht eigentlich typologiefähig.'' Den ersten größeren Versuch zur Konstituierung einer Titeltypologie hat Johannes Kuhnen unternommen.''' Kuhnen ordnet Gedichttitel allerdings in ganz unzusammenhängender Art. Eigentlich handelt es sich bei der Gliederung um eine Aufzählung von Titelerscheinungen. Es seien nur einige der von ihm konstituierten Gruppen genannt. Eine Titelgruppe führt Motive an, wobei zwischen Gefühlsmotiven (als Beispiel dient Liliencrons „Sehnsucht"), Gedankenmotiven (Klopstock: „Der Tod"), Sachmotiven (Klopstock: „Der Zürchersee") und Personenmotiven (Rilke: „Der Engel") zu unterscheiden sei. Eine andere Titelgruppe führt Gattungsnamen an (Schröder: „Sapphische Oden"). Wieder eine andere Gruppe von Titeln führt Rollen an. Hier sei zu unterscheiden zwischen Titeln, die bestimmte Gestalten - etwa aus der Mythologie (Heine: „Helena"), der Geschichte (Hebbel: „Diokletian"), der Dichtung (Goethe: „Mignon") oder dem Leben (M. Claudius: „Die Sternseherin Lise") - anführen, oder solchen, die unbestimmte Gestalten (Rilke: „Der Dichter"), Tiere, Pflanzen, Dinge (hierzu zählt Kuhnen auch Weinhebers „Der Jambus") oder Doppelrollen anführen (M. Claudius: „Der Tod und das Mädchen"). In einer weiteren Titelgruppe faßt Kuhnen Anrede- und Widmungstitel zusammen. Wieder in einer anderen Gruppe werden solche Titel zusammengefaßt, die Auskunft über eine Situation geben, also zum Beispiel eine Ortsangabe (Heine: „Auf dem Brocken"), eine Raumangabe (Droste: „Am Turme") oder eine Zeitangabe machen (Benn: „Sommers"). Kuhnen nennt außerdem noch Titel, die - nach seinen Worten - sachliche (Rilke: „John Keats im Tode darstellend") oder seelische Situationen bezeichnen (Nietzsche: „Vereinsamt") und ebenfalls der gerade angeführten Gruppierung zugehören. Eine andere Gruppe faßt solche Titel zusammen, die mit einem Vers oder Satz, wenigstens aber einem Wort des betitelten Textes identisch sind. Schließlich bilden all diejenigen Titel eine Gruppe - Kuhnen nennt sie die Gruppe der „Sentenz-Überschriften" -, die aus einer allgemeinen Redewendung (Mörike: „Nur zu!"), einem Sprichwort (Bürger: „Heute mir, morgen dir") oder einem Zitat (Weinheber: „Du bist Orplid") gebildet sind. Kuhnen selbst nennt seine Differenzierung eine „Gliederung nach Arten". Damit erhebt er den Anspruch auf eine Ordnung der Titelvielfalt. Man sollte Kuhnen zugute halten, daß er überhaupt den Versuch einer Ordnung unternimmt. Gleichwohl darf man ihm entgegen halten, daß innerhalb dieser Ord93 Es ist gangige Praxis, die Gattungsangabe, wenn sie im Anschluß an einen Obertitel steht, als einen Bestandteil des Titels aufzufassen. Doch möglicherweise kann man in ihr eine völlig selbständige paratextuelle Gattung sehen. Es ist eine Ermessensfrage, ob man die Gattungsangabe zum Titel zählt. Vor allem aus Achtung vor der bisherigen Praxis will ich an ihr festhalten. 94 Kuhnen 1953: passim. - Alle Beispiele in diesem Absatz stammen von Kuhnen.
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nung vieles durcheinandergeht. Die Gruppen werden nach Gutdünken einmal nach sachlich-thematischen Kriterien (Motivtitel, Rollentitel), dann nach funktionalen (Anrede- und Widmungstitel) oder formal zu nennenden Kriterien gebildet (Sentenzüberschriften). Einen anderen Weg geht Hoek. Er unterscheidet mehrere sprachliche Ebenen des Titels und trifft auf jeder dieser Ebenen typologische Unterscheidungen. Damit die Analyse einem einzelnen Titel gerecht werden kann, müssen die einzelnen Teiltypologien aufeinander bezogen werden. Auf der Ebene der Syntax sieht er den nominalen, den adjektivischen, den phrastischen oder verbalen und den interjektionalen Titeltyp. Mit Ausnahme des letzten wird jeder Titeltyp mehrfach subklassifiziert.'' Auf der semantischen Ebene unterscheidet Hoek zwischen zwei Formen von Bedeutungsträgem: den fiktionalen Operatoren (opérateurs fictionnels), die auf die Inhaltsseite des betitelten Textes Bezug nehmen, und den metafiktionalen Operatoren (opérateurs métafictionnels), die eine allgemeine Bezeichnung fur den Typ des betitelten Textes sind. Mehrere solcher Operatoren werden gegebenenfalls durch Formatoren (formateurs) miteinander verbunden. Hoek sieht 29 Beziehungstypen zwischen den Operatoren, darunter Disjunktion, Konjunktion, Opposition, Negation, Inklusion, Exklusion und Kausalität.^^ Auf der sigmatischen Ebene unterscheidet Hoek verschiedene Relationen, die zwischen Titel und Text bestehen können.'^ Auf der pragmatischen Ebene unterscheidet er Titel hinsichtlich ihrer kommunikativen Leistungen.'' Rothe hat die heuristische Fruchtbarkeit von Hoeks Titeltypologie in Zweifel gezogen. Aufgrund ihrer Komplexität sei sie eigentlich unbrauchbar. Vor allem angesichts der Mängel von Hoeks Studie stellt Rothe die Möglichkeit einer sinnvollen Typologisierung von Titeln Uberhaupt in Abrede: „Der Titel läßt sich auch nicht einfach wie Pflanze oder Tier klassifizieren, als kulturelles Phänomen unterliegt er dem historischen Wandel, als literarisches und modisches sogar einem besonders raschen."^' Doch Rothes Skepsis kann entgegengetreten werden. Gérard Genette hat eine Typologie entworfen, die die Mängel der beiden vorgenannten vermeidet. Er konstituiert zwei Titeltypen nach einem Kriterium, nämlich dem des prädizierenden Verweisens auf den betitelten Text. Einer dieser Titeltypen verweist auf den „Gegenstand des Textes", der andere auf den „Text als Gegenstand". Mit Seitenblick auf ein terminologisches Paar in der Sprache der Linguistik bezeichnet er den einen Typ als thematisch, den anderen als rhematisch. Her95 Vgl. Hoek 1981: 72-94. 9 6 Vgl. Hoek 1 9 8 1 : 9 9 - 1 3 2 . 97 Vgl. Hoek 1981: 142-243. 98 Vgl. Hoek 1981: 244-290. 9 9 Rothe 1986: 19. 100 Vgl. Genette 1992: 79.
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mann Ammann hat die in der Sprachwissenschaft seither vielfach diskutierte Differenzierung begründet."" Dieselbe Unterscheidung hat auch Hoek gemacht, allerdings unter Verwendung eines Wortpaares, das auf Charles Hockett zurückgeht.'"^ Hoek unterscheidet zwischen „topique" und „commentaire".'"^ Das Begriffspaar Thema - Rhema ist ein griffiges, aber auch ein problematisches. In der linguistischen Fachsprache bezeichnet der Terminus „Thema" dasjenige, über das etwas gesagt wird, der Terminus „Rhema" dasjenige, was Uber dieses Thema gesagt wird.'""* Der Titel eines Textes sagt in jedem Fall etwas über diesen Text. Insofern läßt sich behaupten, daß das Thema des Titels in jedem Fall der betitelte Text ist und jeder Titel rhematisch, denn er sagt etwas über den Text. Es besteht keine Deckungsgleichheit zwischen der linguistischen Begrifflichkeit und derjenigen von Genette. Gleichwohl sei hier an der Titeltypologie, die Genette vorschlägt, festgehalten. In der Explikation, die er gibt (Gegenstand des Textes - Text als Gegenstand), ist das Begriffspaar für Beschreibungszwecke tauglich. Man wird wohl zugestehen können, daß Genette nicht die Begriffe „Thema - Rhema", sondern nur die Begriffswörter „Thema Rhema" aus der Sprachwissenschaft übernimmt."" Darum sind sie gegebenenfalls auch leicht durch andere Ausdrücke ersetzbar.'"® Nur der Griffigkeit halber sei an Genettes Vorgaben festgehalten. Ähnlich wie die Gliederung der Literatur in fiktionale und nicht-fiktionale oder die in 'prose' und 'verse', so ist auch die Gliederung von Titeln in thematische und rhematische eine auf höchster Ebene - darum ist sie anders als die von Hoek eine einfache. Und sie ist auf nur ein Prinzip gegründet - darum ist sie anders als die von Kuhnen eine homogene. Freilich sind die Vorteile um den Preis erkauft, daß die beiden typologischen Gruppen jeweils sehr Verschiedenes unter sich erfassen. Doch bis auf weiteres, das heißt bis zur Konstitution einer besseren Typologie, ist die von Genette gut geeignet zur Ordnung eines so vielgestaltigen Feldes, wie es der Titel darstellt. Ich will im weiteren die beiden Titeltypen vorstellen und (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) zeigen, welche Erscheinungen des Gedichttitels jeweils unter sie fallen. 4.1. Thematische Titel Ein thematischer Titel nimmt Bezug auf die Inhaltsseite eines Textes; Genette, der vor allem Werke der Erzählkunst im Blick hat, redet vom „diegetischen
101 102 103 104 105 106
Vgl. Ammann 1928:3. Vgl. Hockett 1960: 191-194. Vgl. Hoek 1981: 168. Vgl. Heidolph 1981: 726f. Daher die kritische Invektive von Dietz 1995: 73 gegen das Genettesche Wortpaar. Zu denken wäre beispielsweise an Ausdrücke wie „materialer Titel" und „textualer Titel"
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Universum" eines Textes, auf den sich ein solcher Titel bezieht.'"' Ein thematischer Titel kann auf sehr Verschiedenes zielen: das Thema des betitelten Textes, eines seiner Motive, eine Figur oder einen Gegenstand. Und das Element des Textinhalts kann im Titel auf sehr unterschiedliche Weise aufgegriffen werden. Man kann, wie es Genette tut, diese Weisen mit Begriffen der rhetorischen Figurenlehre o r d n e n . E i n Titel kann in eigentlicher Sprechweise einen Textinhalt beziehungsweise ein Element davon anfuhren. Beispiele dafür sind Legion. Und ein Titel kann einen Textinhalt in uneigentlicher Sprechweise anführen. Das kann durch die Wahl einer metaphorischen Ausdrucksweise geschehen oder im Umfeld davon durch eine Chiffre, ein Symbol oder eine Allegorie (Freiliggrath: „Hamlet"). Es kann auch durch andere als metaphorische Formen der Indirektheit geschehen, z.B. durch eine Antonomasie, eine Metonymie oder eine Synekdoche. Und es kann durch die Wahl einer ironischen Sprechweise geschehen. Aldous Huxleys Titel „Brave New World", der aus Shakespeares „The Tempest" zitiert, ist ein solcher ironischer Titel, denn die im Text beschriebene Welt ist alles andere als prächtig. Auch „Zazie dans le Métro" von Raymond Queneau gehört hierher, denn Zazie hält sich erst am Ende des Erzähltextes in der Metro auf, oder Eugène lonescos „La cantatrice chauve", denn eine kahle Sängerin tritt in dem ganzen Drama nicht auf 4.2. Rhematische Titel Rhematische Titel sind solche Titel, die von dem Inhalt des betitelten Textes absehen und doch einen Bezug zu ihm herstellen, nämlich durch „Ausrichtung auf den Text selbst, der als Werk oder Objekt betrachtet wird."'"' Die Möglichkeiten des rhematischen Verweisens sind vielfältig. Rhematische Titel können die literarische Textgruppe bezeichnen, der der betitelte Text angehört. Es sei dabei nicht streng zwischen literatursystematischen Ordnungsbegriffen (Textsorten) und literaturhistorischen Ordnungsbegriffen (Genres) unterschieden, sondern in lockerer Redeweise von Gattungen gesprochen, die titelweise bezeichnet werden. Zu solchen Gattungsbezeichnungen gehören z.B. Goethes „Ballade", Klopstocks „Elegie" und sein „Psalm" genauso wie Hofmannsthals „Terzinen", Georges „Aufschrift" und Brechts „Epitaph". Auch Rudolf Borchardts „Jamben", die so nach der schon in der Antike bei Archilochos und Horaz verbürgten Dichtungsart benannt werden, wären anzuführen. Andere rhematische Titel beziehen sich auf den pragmatischen Kontext, in dem ein Text steht. Er kann z.B. entweder Ort oder Zeitpunkt der Niederschrift
107 Vgl. Genette 1992: 83. 108 Vgl. Genette 1992: 83-85. 109 Genette 1992: 79.
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Begriff des Titels
eines Textes bezeichnen, natürlich auch beides gemeinsam wie in Goethes „Domburg, September 1828". Er kann sich auf das Material beziehen, auf dem die Urschrift eines Textes geschrieben wurde (Mörike: „Auf ein Ei geschrieben"). Er kann eine Person namentlich benennen, an die der Text gerichtet ist (Mörike: „An O.H. Schönhuth, Herausgeber des Nibelungenliedes und verschiedener Volksbücher"), beziehungsweise nicht-namentlich auf sie verweisen (Rilke: „Mir zur Feier"). Eine andere Gruppe von rhematischen Titeln gibt Auskunft über die Herkunft eines Textes. Als Beispiel der Titel eines Gedichtes von Christian Henrich Postel aus dem Jahr 1700: A u s des vortrefflichen Hispanischen Poeten D. Luis de Gongora seinen Getichten das IX. Sonnet, welches anfänget: Mientras por competir &c.
Wieder andere rhematische Titel beziehen sich auf die weitere kontextuelle Umgebung, in der er selbst steht, wie z. B. Catharina Regina von Greiffenbergs „Erklärung des Kupferbilds". Die Reihe der Beispiele thematischer und rhematischer Titel hat vergleichsweise unzweideutige und einfache Fälle ins Feld geführt. Damit soll aber nicht verkannt werden, daß sowohl Überschneidungen zwischen den beiden Titeltypen als auch thematisch oder rhematisch komplexe Titel möglich sind. Und es soll auch nicht der Eindruck erweckt werden, als wäre es immer ein Leichtes, einen Titel dem einen oder dem anderen Typus zuzuordnen. Zuordnungsprobleme können daher rühren, daß dem Titel allein der semantisch determinierende Kontext fehlt. Meint der Titel „1900" von Ludwig Klages eine bestimmte Menge von Elementen oder eine Jahreszahl? Gesetzt den Fall, es handelt sich um eine Jahreszahl, verweist sie thematisch oder rhematisch auf den betitelten Text? Werden Johann Burkhard Menckes Titel „Kein Sonnet", Christian Weises „Ein Abriß der Schönheit selber", Heinrich Heines „Zur Beruhigung" und August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens „Unpolitische Lieder" eigentlich oder uneigentlich gebraucht? Kann man in dem kleinen experimentellen Prosatext von John Barth mit dem Titel „Title" etwas über Titel erfahren oder wird er selbstreflexiv gebraucht? Die Zuordnung setzt in problematischen Fällen die Lektüre des betitelten Textes voraus, denn erst die Wahrnehmung des Zusammenspiels von Titel und Text kann sicheren Aufschluß über die typologische Eigenart eines Titels geben. Von Fall zu Fall wird die genauere Bestimmung eines Titels nicht nach der Erstlektüre, sondern erst nach der mehrfachen Lektüre möglich sein. Einen Gedichttitel wie Trakls „Grodek" wird man nach erster Lektüre vermutlich als bloße Ortsangabe und erst nach wiederholter Lektüre und Versenkung in die Welt des Gedichts als Chiffre für die Barbarei des Weltkriegsgeschehens lesen.
Zur Titeltypologie
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Ein möglicher Einwand gegen die Entscheidung, einen Titel im Zusammenhang mit dem betitelten Text zu betrachten, könnte auf das entdynamisierende Element, das mit ihr einhergeht, zielen. Titel, so könnte man sagen, werden ebenso wie Texte in einem zeitlichen Kontinuum wahrgenommen. Darauf habe auch die Konstitution einer Typologie des Titels Rücksicht zu nehmen. Dagegen wiederum kann mit Entschiedenheit erwidert werden, daß in unserer Kultur eigentlich keine, wenigstens keine dominante orale literarische Tradition besteht. Schon die Tatsache, daß Texte überwiegend in schriftlicher Form vorliegen, begünstigt die relationale Wahrnehmung ihrer Teile und damit einhergehend die Mehrfachlektüre von Titel und Text. Man wird wohl sagen können, daß literarische Titel und Texte auf beides hin angelegt sind: auf die erste Lektüre und auf die M e h r f a c h l e k t ü r e . ' D i e Dichter rechnen mit beiden Lektüreformen. Nur so ist es jedenfalls auf der einen Seite sinnvoll, Erwartungen im Titel aufzubauen und im folgenden zu enttäuschen (aber auch: sie zu erfüllen), mit Textelementen der Irritation im Textverlauf oder am Textende'" zu arbeiten, und auf der anderen Seite sinnvoll, den Zusammenhang zwischen Titel und Text komplex und möglicherweise mehrschichtig oder gar sperrig zu gestalten. Die Entscheidung, eine Titeltypologie auf die Art der Bezugnahme des Titels auf den betitelten Text zu gründen, schließt im übrigen ja auch nicht aus, daß Qualitäten eines Titels, die insbesondere bei seiner ersten Lektüre wirksam sind (z.B. Aspekte der Suggestivität"^), gebührend zur Sprache kommen. Doch das gehört in die Einzelanalyse. Und der wende ich mich jetzt mit Blick auf Goethes Gedichttitel und nach Maßgabe der drei Voraussetzungen dieser Arbeit zu: Titel sind Texte; sie sind an das Medium der Schriftlichkeit gebunden und in zwei Hauptklassen differenzierbar.
110 Eine systematische Unterscheidung zwischen diesen beiden Formen der Lektüre findet in der Rezeptionsasthetik kaum statt. Nur Riffaterre 1980: 4 - 6 und andeutungsweise auch Iser 1975; 2 6 0 bilden eine Ausnahme. Vgl. außerdem die ausführliche Diskussion in Küper 1988: 88-101. 111 Vgl. Herrnstein-Smith 1968: passim. 112 In „A la recherche du temps perdu" kann sich Marcel einer solchen Suggestivitat, als er den Titel „François de Champi" hört, nicht widersetzen. Der ihm unverständliche Titel wirkt auf ihn geheimnisvoll. Vgl. Proust 1977, Bd. 1: 59 und Bd. 13: 291-294. - Baudelaire schreibt über den Titel eines Kapitels von Buffon: „[...] der kurze, geheimnisvolle, gedankenreiche Titel hat mich immer ins Träumen gestürzt [...]". Vgl. Baudelaire 1975-1992, Bd. 5: 77.
III. Der junge Goethe 1. Titel und Titellosigkeit: Ein Fallbeispiel „Irgendein Literaturhistoriker wird eines Tages die Geschichte eines der jüngsten Genres schreiben: des Titeis", heißt es an einer Stelle bei Jorge Luis Borges.' Dieser Literaturhistoriker hätte eine vielgestaltige und in jedem Fall gewaltige Aufgabe zu lösen. Unter anderem hätte er den geschichtlichen Anfangspunkt des Titels gehörig darzustellen und doch wohl auch Einsicht in den Vorgang der Institutionalisierung dieser in der Tat jungen paratextuellen Instanz zu geben. Es soll nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, diesen Vorgang genauestens zu erschließen, aber auf einen Punkt, den der von Borges imaginierte Titelhistoriker gewiß auch in Betracht ziehen würde, muß auch sie zu sprechen kommen: was nämlich überhaupt vor sich geht beim Übergang von der Titellosigkeit zur Titelsetzung. Allerdings soll das hier nur anhand eines Beispiels geschehen. Aus Goethes früher Dramenproduktion sticht „Claudine von Villa Bella" hervor. Nicht so sehr weil dieses Stück ganz im Horizont des innovationsfreudigen Sturm und Drang geschrieben worden ist und dabei gleichwohl konventionelle dramaturgische Mittel bewahrt, sondern weil es der Tradition des Singspiels verpflichtet ist. Der junge Goethe hat sich dieser dramatischen Form auch sonst gelegentlich bedient. „Erwin und Elmire" wäre noch zu nennen. Später kamen noch „Jery und Bätely", „Die Fischerin" und „Scherz, List und Rache" hinzu. Goethe hat „Claudine von Villa Bella" im Untertitel als „Schauspiel mit Gesang" bezeichnet. Mit gutem Recht. Empfindsame Liebeslieder, rauher Räubergesang, Duette und ans Hymnische reichende Chorgesänge sind in das Stück eingebaut. Auch ein Lied erzählenden Charakters findet sich. Es wird von Crugantino, einem Vagabunden edler Herkunft, vor einer Zuhörerschaft, die das Ohr dafür hat, gesangsweise zum besten gegeben. Hier die erste Strophe: Es war ein Buhle frech genung, War erst aus Frankreich kommen, Der hat ein armes Maidel jung
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Borges 1995: 330.
Titel und Titellosigkeit: Ein Fallbeispiel
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G a r o f t in A r m g e n o m m e n ; U n d liebgekos't und liebgeherzt; A i s Bräutigam herumgescherzt; U n d e n d i i c h s i e verlassen.^
Goethe hat das Gedicht unter leichter Veränderung des Wortlauts in seine Gedichtsammlung von 1800 aufgenommen. Dabei hat er es außerdem mit einem Titel versehen. Fortan heißt es „Der untreue Knabe". Zu bedenken ist beides: sowohl die Betitelung der späten Fassung als auch die Titellosigkeit der frühen. Das Drama fingiert die Grundsituation des Liedes. Crugantino wird in kleiner Gesellschaft dazu aufgefordert, ein Lied zu singen. Er hat eine wohlgeftllige Stimme und ist mit der Begabung ausgestattet, die Zither aufs angenehmste zu spielen. Die Zuhörerschaft ordnet sich um einen Tisch und erwartet gespannt die Bestätigung seiner bereits kurz zuvor bewiesenen Könnerschaft. Ein Licht wird gelöscht. Die Bedingungen für die Rezitation sind perfekt. Und dann das Lied, das eigentlich eine Schauerballade ist. „Der allemeuste Ton ist's wieder, solche Lieder zu singen und zu machen", hatte Crugantino gerade noch kommentiert und gleich darauf hinzugefugt: „Alle Balladen, Romanzen, Bänkelgesänge werden jetzt eifrig aufgesucht, aus allen Sprachen übersetzt. Unsere schönen Geister beeifem sich darin um die Wette."^ Genaugenommen fingiert das Drama zweierlei, den Text eines balladesken Volksliedes und die Vortragssituation. Der Text ist einer aus der Überlieferung - Crugantino ist nicht sein Erfinder, sondern sein Rezitator. Und das Gedicht hat - um mit Kommereil zu reden - seinen Ort im Leben, ist nicht nur Gebilde, sondern auch Vorgang: indem es nämlich bei bestimmter Gelegenheit erklingt.'' In beiderlei Zusammenhang steht die Titellosigkeit des Textes. Wie dieses Lied, so ist auch das mündlich überlieferte und zum Gesang bestimmte Volkslied überhaupt von alters her titellos. So verhält es sich nicht nur mit der Volkslieddichtung des Mittelalters, sondern auch mit der des 16. Jahrhunderts. Viele ältere Volksliedsammlungen dokumentieren diese Konvention mündlicher Literatur, an die Goethe in der Fiktion seines Dramas anschließt.^ Georg Forsters „Frische Teutsche Liedlein" (1539-1556) enthalten nicht einen Text, der betitelt
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WAI/38:156. WAI/38:155. Vgl. Kommereil 1956: 9. - Goethe spricht in einem Brief an Kayser vom 29. Dezember 1779 mit Blick auf „Jery und Bately" von Liedern, „von denen man supponiret, dass der Singende sie irgendwo auswendig gelernt und sie nun in ein und der andern Situation anbringt." (WA IV / 4 : 156).
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Ahnlich verfährt Goethe übrigens mit dem Lied „Cupido, loser eigensinniger Knabe", das sich in der „Italienischen Reise" und in der zweiten Fassung von „Claudine von Villa Bella" findet. Georg Btichner, der in seine Dramen sogar tatsächliche Volkslieder einlegt, schließt ebenfalls an diese Praxis an. - Auch das Kirchenlied im Gesangbuch ist titellos.
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wäre.^ Auch das Ambraser Liederbuch aus dem Jahr 1582 enthält fast keinen Titel/ Und noch diejenigen Volkslieder, die Jacob und Wilhelm Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus mündlicher Überlieferung aufgezeichnet haben, sind weitgehend titellos.' Wenn in anderen Sammlungen Volkslieder doch mit Titeln präsentiert werden, geht dies - wie etwa in Herders Volksliedsammlung und in von Arnims und Brentanos „Des Knaben Wunderhom"' - zumeist auf deren Herausgeber zurück. Der tiefere Grund für die Titellosigkeit des fingierten Volksliedes (sowie der für die literarische Konvention, in deren Bann sie steht) erhellt sich im Licht der betitelten Fassung. Entscheidend ist, daß das Gedicht in dieser Fassung der fingierten Rezitationssituation enthoben und in das Medium der Schriftlichkeit versetzt ist. Hier erscheint es nicht mehr als Volkslied, sondern als ein Kunstprodukt. Zum Beleg nur dieses eine: Das vor seinem geregelten Ende im Drama durch eine von außen kommende Störung des Rezitationsvorgangs abgebrochene Gedicht ist auch in seiner späteren Fassung nicht vollendet, doch ist hier das Fehlen des Schlusses eine Sache des Kalküls. Das Gedicht endet mit einer Aposiopese. Erich Trunz kommentiert das so: „Dem Gehalt nach ist das Wichtigste gesagt Darum könne das Gedicht vor der Zeit abbrechen. Doch noch mehr läßt sich dazu sagen. Denn entweder trägt der Abbruch des Gedichts in der späteren Fassung auch parodistische Züge, weil die Erwartungen, die der Leser auf die Schauerballade richtet, nicht erflillt werden. In diesem Sinn hat sich Walter Hinck geäußert." Oder der Abbruch des Gedichts signalisiert die Erstarrung der Sprache in dem Moment höchster Gespanntheit der Balladenhandlung. Diesen Gedanken hat Nicholas Boyle in seiner groß angelegten Goethe-Biographie geäußert.'^ Auch die Erwartungen der Zuhörer im Drama werden enttäuscht, aber dieses geschieht nicht eigentlich parodistisch oder als Zeichen des äußersten Entsetzens, denn es ist der situative Kontext, aus dem sich die Enttäuschung erklärt. Ein bedauerlicher Zwischenfall führt sie herbei. Der Unterschied zwischen den beiden Textfassungen fußt auf den je verschiedenen medialen Aggregatzuständen, in denen sie sich befinden. Der Text des Volkslieds in der Fiktion des Dramas gehört für den Zeitraum des mündlichen Vortrags ganz dem Rezitator, der Schöpfer des Textes ist aus ihm verbannt. Doch so wenig die Instanz des Autors im Rezitationszusammenhang am Werke ist, so deutlich ist ihre Stimme in der späteren, im Medium der Schrift-
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Vgl. Forster 1903. Vgl. Bergmann 1845. Vgl. Grimm 1985-1989, Bd. 1; 3-82. Vgl. außerdem Uhland 1881. - Erk/Böhme 1893-94. - Böhme 1913. - Steinitz 1979. HA 1: 512. Vgl. Hinck 1962. Vgl. Boyle 1995ff., Bd. 1: 268. - Ähnlich äußert sich auch Wolff o.J.: 590.
Erste Versuche
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lichkeit mitgeteilten Gedichtfassung vernehmbar: nicht nur am Ende des Gedichts, sondern auch vor seinem Anfang, im Titel. Der Zwang zur Identifikation eines Textes ist offensichtlich überhaupt erst im schriftlichen Medium des Buches gegeben. Nicht nur, daß ein Text von anderen in demselben Buch unterscheidbar sein soll. Er soll auch, da er vor ein anonymes Publikum tritt, von anderen literarischen Texten außerhalb des Buches unterscheidbar sein. Darum wird dem Gedicht ein Name gegeben. Dabei ist die namensgebende Instanz, wie ja schon grundsätzlich gesagt werden kann, nicht identisch mit der Sprecherinstanz im Gedicht. Es ist der Autor Goethe, der das Namensrecht an seinem Text ausübt." Volkslieder hingegen sind titellos vor allem darum, weil sie von ihren (heute unbekannten) Urhebern für den mündlichen Gebrauch erfunden worden sind. Noch die Titellosigkeit vieler Gedichte in Heinrich Heines „Buch der Lieder", die nur unvollständig mit dem Umstand in Verbindung gebracht werden kann, daß die Gedichte unter einem Sammeltitel stehen, schließt in allerdings stilisierender Absicht an die Praxis der alten Volkslieddichtung an und bestätigt sie dadurch post festum. Der Titel, der wesentlich eine Erscheinung der Schriftkultur ist, fugt sich nicht zu Texten, die einer mündlichen literarischen Kultur angehören.'" Der Unterschied zwischen Titellosigkeit und Titelgebung konnte an einem Beispiel beschrieben und erklärt werden. Zwar gibt es Vergleichbares unter den Goetheschen Gedichten, doch bezeichnet das Beispiel keineswegs einen repräsentativen Fall, eher schon auf sprechende Weise ein Problem. Es wird im weiteren Gang der Betrachtung wiederkehren. Denn von Goethes filihen lyrischen Werken an bis zu den späten finden sich immer wieder und nicht einmal selten Gedichte ohne Titel. Außerdem werden viele Gedichte, die in ihren frühen Fassungen keine Titel tragen, später betitelt. Am Anfang kann darum die Aufgabe stehen, die Gedichte des jungen Goethe im Licht der aufgezeigten Polarität von Titel und Titellosigkeit und ihre Titel im Licht der Bedingungen ihres Gebrauchs zu lesen.
2. Erste Versuche In seinem Tagebuch, das Franz Kafka im Sommer 1912 während einer Reise von Weimar nach Jungbom gefuhrt hat, findet sich unter dem Datum des 5. Juli
13 In anderem Zusammenhang sagt Derrida ÄhnHches (Derrida 1980: 27): „Demgegenüber fällt der Titel nicht in die Verantwortung des unterstellten Erzählers [...]. Man muß vielmehr von Rechts wegen unterstellen, daß der Autor Maurice Blanchot den Titel [...] verantwortet." 14 Die Titel in den Volksliedsammlungen neueren Datums, die von den Herausgebern verantwortet werden, müssen als Konzessionen an die Schriftlichkeit der Sammlungen bewertet werden.
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neben anderem folgender kurze Eintrag: „1757 'Erhabene Großmama!...'"'^ Das geht auf ein Gedicht des siebenjährigen Goethe; Kafka hat es im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar eingesehen. Schon in jüngsten Jahren hat Goethe viel und vieles gedichtet. Im Sommer 1767 schreibt er an seine Schwester Cornelia, er habe jährlich ein 500seitiges Konvolut eigener Schriften zusammengestellt.'® Doch das meiste davon ist durch eigene Hand verbrannt'^ und nur das wenigste bis auf heute überliefert. Das Gedicht, das Kafka erwähnt, ist das älteste. Und wohl nur darum erwähnt er es. Das Gedicht ist ein nach vorgegebenen metrischen und rhetorischen Mustern verfaßtes poetisches Übungsstück. So und ähnlich hat Goethe bis zur Aufnahme seines Studiums in Leipzig gedichtet. In den „Tag- und Jahresheften" schreibt er rückblickend: „Bei zeitig erwachendem Talente, nach vorhandenen poetischen und prosaischen Mustern, mancherlei Eindrücke kindlich bearbeitet, meistens nachahmend, wie es gerade jedes Muster andeutete. Die Einbildungskraft wird mit heiteren Bildern beschäftigt, die sich selbstgefällig an Persönlichkeit und die nächsten Zustände anschlossen. Der Geist näherte sich der wirklichen wahrhaften Natur, durch Gelegenheits-Gedichte Der Gattung nach ist sein iilihes Gedicht ein Casualgedicht: eine Dichtung in Versen, die auf ein Vorkommnis (casus) des menschlichen Lebens bezogen ist, von einem Absender (der nicht mit dem Autor identisch sein muß) verantwortet wird und sich unter Preisung, Huldigung oder Beglückwünschung an einen Adressaten richtet." Der siebenjährige Goethe adressiert sein in Alexandrinern verfaßtes Gedicht an seine Großeltem anläßlich des Jahreswechsels 1756/57. Sein Titel, der wahrscheinlich von Goethes Schreiblehrer stammt,^" gibt all dies schon zu erkennen:
Bei dem erfreulichen Anbruche des 1757. Jahres woite seinen hochgeehrtesten und hertzlichgeliebten Gros Eltern die Gesinnungen kindlicher Hochachtung und Liebe durch folgende Segens Wünsche
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Kafka 1990: 1032. Vgl. WA I V / 1 : 9 7 . Vgl. WA 1/27: 68. WA 1 / 3 5 : 3 . Ich beziehe mich auf die Definition des Begriffs „Gelegenheitsgedicht" in Segebrecht 1977: 68. Vgl. Wolff O.J.: 227.
Erste Versuche
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zu erkennen geben deroselben treugehorsamster Enckel Johann Wolfgang Goethe Fast alles an diesem Titel ist konventionell und entspricht der in der Casualdichtung herkömmlich geübten Titelpraxis. Die Nennung der Adressaten, der Name des Absenders und die Devotionsformel - das sind Elemente, die in der Gelegenheitsdichtung herkömmlicherweise gebräuchlich oder zumindest doch gängig sind. Auch der nachweisbare Einfluß der Rhetorik auf die Gestaltung des Titels ist nicht neu. Wie man ein Casualgedicht zu schreiben hatte, darüber war man im 18. Jahrhundert genauso wie schon im 17. durch poetische Anweisungen gut unterrichtet. Oberstes Ziel ist es, daß es ganz seinen situativen Zwecken dient. Ein Hochzeitsgedicht hat ein neuvermähltes Paar zu feiern, ein Begräbnisgedicht den Verstorbenen zu ehren, ein Gedicht aus Anlaß der akademischen Auszeichnung mit der Doktorwürde den Absolventen zu beglückwünschen. Der poetische Erfindungsgeist kann sich dazu allerlei Hilfe bedienen, die er in den 'Fundorten', den sogenannten loci hat, was nichts anderes als standardisierte Bausteine filr die Behandlung eines Themas sind.^' In dem Goetheschen Gedicht finden sich allerlei dieser loci repräsentiert, einige davon auch in seinem Titel. In seinem ersten Glied schöpft der Titel aus dem locus circumstantiarum temporis: Es vergegenwärtigt die zeitlichen Umstände des bedichteten Anlasses. Die am ehesten wohl akzidentiell zu nennenden Eigenschaften der Großeltern („hochgeehrtest", „hertzlichgeliebt") sind aus dem locus adjunctorum hergeleitet (und nicht aus dem locus generis, aus dem wesentliche Eigenschaften von Personen, die sie amts-, berufs- oder standeshalber haben, hergeleitet werden). Ein Wort noch zur graphischen Gestaltung des Titels. Sie ist nicht ganz konventionell, aber auch nicht ungewöhnlich. Sie verstößt nicht gegen die Erwartungen der Zeit. Die Orientierung an der Mittelachse ist in der Casualdichtung nicht auf Schritt und Tritt anzutreffen, aber es gibt sie.^^ Was ist die Funktion dieses Titels? Ganz gleich ob der Gedichttext nur für den mündlichen Vortrag gedacht war oder auch in schriftlicher Form überreicht wurde, der Titel ersetzt den okkasionellen Kontext. Er selbst ist eigentlich nicht ftir die bedichtete Gelegenheit verfaßt. Denn die Informationen, die er enthält, gehen kaum über das hinaus, was auch situativ evident ist. Der Titel ist anders als der Text nicht für die Gegenwart des Neujahrstages 1757, sondern für den
21 Vgl, z.B. Uhse 1705: 112-115; Menantes 1707: 540-558; Wahll 1715: 88-109. Ober die rhetorische Gestaltung der Casualdichtung schreibt sehr ausführlich Segebrecht 1977: 111-151. 2 2 Vgl. Segebrecht 1977: 163 und 166.
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Leser gemacht, der nicht an der Gelegenheit teilhat. Auf jeden Fall ist er nicht allein für den Moment des Vortrags oder die Überreichung gemacht. Im Titel des Textes drückt sich die Ewigkeit aus, für die dieser im Medium der Schriftlichkeit gemacht ist. Hinzu tritt die Ausrichtung des Titels an der Mittelachse. Die graphische Gestaltung nämlich ist nach dem Vorbild gedruckter Titel gebildet. Der Titel ist im Licht der Praxis des Titelblattdrucks geschrieben. Er will nicht vornehmlich auf das Gelegenheitsgedicht vorbereiten, sondern vielmehr die Situation wachrufen, in der das Gedicht seinen ursprünglichen Platz hat. Der Titel informiert über den ursprünglichen Gebrauchszusammenhang des betitelten Textes. Nicht anders liegt der Fall in dem zweiten der drei Gedichte, die aus der frtihesten Produktion von Goethe überliefert sind: Bey diesem neuen Jahres Wechsel überreichet seinen verehrungswürdigen Gross Eltern dieses Opfer aus kindlicher Hochachtung Joh: Wolfg: Goethe den 1. Jenner. 1762.
Hingegen stellt das dritte Gedicht einen anderen Sachverhalt vor: Poetische Gedancken über die Höllenfahrt Jesu Christi. Auf Verlangen entworfen von J.W.G.
Das ist der (mit der abgekürzten Angabe des Automamens kombinierte) erste Gedichttitel Goethes, der auch thematisch auf den betitelten Text Bezug nimmt. Er bestimmt recht genau den Stoff, über den das Gedicht handelt: den zwischen seiner Kreuzigung und seiner Auferstehung (und unter Berufung auf 1. Petrus 3,18 für möglich gehaltene) von Christus unternommenen Abstieg in das Reich der Toten. Daß der Text überdies ein „poetischer" sei, besagt nicht viel mehr, als daß er in Versen verfaßt ist. In demselben Sinn hatten z.B. schon Christian Hofmann von Hofmannswaldau „Poetische Grabschriften" (1679) und Johann Ulrich König „Poetische Einfälle, Bey dem Königlichen Vogel-Schiessen in dem Königlichen Schießhause zu Dreßden" (1728) verfaßt.
Stammbuchgedichte
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3. Stammbuchgedichte Von früh an hat Goethe Gedichte in Stammbücher eingetragen. Das früheste überlieferte stammt aus dem Jahr 1764 und findet sich im Stammbuch des Freundes Johann Christoph Claras: C e s lignes mon ami, q u e j e vais V o u s ecrire. V o u s marquent m o n amour, quand V o u s irez les lire. Le seul de m e s souhaits c'est: j u s q u ' à mon trepas Ami m ' a i m e z toujours, et ne m ' o u b l i e z pas. celSAvrill
JWGoethe
1764."
Die Form des Stammbuchgedichtes ist nicht so alt wie die Institution des Stammbuches. Ursprünglich handelt es sich bei einem Stammbuch um einen Träger genealogischer Einfragungen eines Adelsgeschlechts. Neben diese ursprüngliche Form fritt im 16. Jahrhundert ein Stammbuch anderen Typs. Es ist ein Erinnerungs- und Gedenkbuch. Das erste überlieferte Stammbuch in diesem Sinn stammt aus der Mitte des 16. Jahrhunderts.^'' Der Name „Stammbuch" ist erstmals für 1573 nachweisbar;^^ gleichbedeutende Bezeichnungen sind „Album amicorum", „Liber amicorum" und „Philothekon". Die Stammbücher, die von adligen wie bürgerlichen Besitzern, von Gelehrten genauso wie von Studenten während ihrer Reisen geführt wurden, enthalten in ihrer Anfangszeit kaum je ein Gedicht. Diejenigen, denen die Stammbücher zum Eintrag vorgelegt wurden, haben in sie vor allem Zitate aus der Bibel oder aus Werken antiker Autoren, Sprichwörtliches oder Merksprüche notiert.^® In der Goethezeit hingegen finden sich wie selbstverständlich auch Gedichte in Stammbüchern. Nicht nur Goethe hat solche Gedichte verfaßt, auch Schiller und die Dichter der romantischen Periode haben sich in dieser Praxis geübt. Die Stammbuchgedichte des jungen Goethe richten sich vor allem an Freunde und einmal an die Mutter. Im allgemeinen sind sie datiert und mit Unterschrift versehen. Der Charakter dieser Gedichte ist von Privatheit geprägt; sie drücken den Wunsch nach Fortdauer von Freundschaft und Zuneigung aus oder dienen, wie folgendes Stammbuchgedicht für Jakob Michael Reinhold Lenz, zur Erinnerung an eine gemeinsam verbrachte Zeit:
23 FAI / 1:22. 24 Es handelt sich nach Wolfgang Kloses Recherchen um das Stammbuch des Waatländer Edelmanns Claude de Senarclens. Der erste Eintrag darin ist auf das Jahr 1546 datiert. Vgl. Klose 1985: 155. - Auch: Heinzer 1989: 95-124. 25 Vgl. Klose 1985: 157. 26 Vgl. Henning 1989: 35-42.
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Zur Erinnerung guter Stunden, Aller Freunde, aller Wunden, Aller Sorgen, aller Schmerzen, In zwei tollen Dichter Herzen, N o c h im letzten Augenblick Laß ich Lenzgen dies zurück Goethe"
Einige der später verfaßten und nicht mehr dem jungen Goethe zuzuschreibenden Stammbuchgedichte (auf die ich gleichwohl hier und im weiteren Verlauf der Arbeit allenfalls summarisch eingehen will) erweitern das Spektrum. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts schreibt Goethe Verse zunehmend auch in Stammbücher femstehender oder wenigstens nicht zu seinem engsten Kreis gehörender Personen: zum Beispiel in das der Münsteraner Fürstin Amalie Gallitzin^' und in das des Schauspielers und späteren Berliner Theaterdirektors August Wilhelm Iffland.^' In diesen Gedichten hat Goethe den Ton der Vertrautheit nicht selten zugunsten einer eher unpersönlichen Haltung aufgegeben: Sentenzen und Devisen als Stammbucheintragungen nehmen zu. In das Stammbuch des Schauspielers Heinrich Beck hat Goethe folgenden Vers geschrieben: Blumen reicht die Natur, es windet die Kunst sie zum Kranze.'"
Fast allen Stammbuchgedichten von Goethe ist eines gemeinsam: ihre Titellosigkeit.^' Und diese teilen sie mit Stammbuchgedichten auch anderer Dichter.^^ Die Titellosigkeit von Stammbuchgedichten ist eine Konvention. Mittels der Stammbuchgedichte richtet sich eine Person an eine bestimmte andere. Die Gedichte haben ihren Sitz im privaten Leben. Die Privatheit dieser eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Texte erklärt wohl auch ihre Titellosigkeit. Ein Titel ist eben vor allem dann gebräuchlich, wenn ein Text vor die anonyme Öffentlichkeit tritt oder wenigstens fur sie gedacht ist." Dieser Befund bestätigt sich an gegenteiligen Fällen. Mit Titeln überlieferte Stammbuchgedichte sind im Druck überlieferte Gedichte. Die Privatheit dieser
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F A I / 1 : 168. Vgl. FA I / 1 : 704. Vgl. F A I / 1:706. FA 1 / 1 : 701. Man vergleiche die vielen Stammbuchgedichte, die Eibl in seiner Goethe-Ausgabe geschlossen mitteilt. Vgl. FA I / 2: 772-837. 32 Man vergleiche z.B. die Stammbuchgedichte von Schiller - die Titel in der „Nationalausgabe" sind Herausgebertat. 33 Im übrigen wird die Unterscheidung zwischen mehreren Gedichten in einem Stammbuch durch die Namensnennung der Einträger, die ihnen oft beigegeben ist, gewährleistet.
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Gedichte wird durch den Druck öffentlich gemacht. Hier ein Stammbuchgedicht, das in „W. G. Beckers Taschenbuch" so publiziert worden ist: Aus dem Stammbuche der verewigten Gräfin Tina Brühl Warum siehst du Tina verdammt, den Sprudel zu trinken? Wohl hat sie es verdient an allen, die sie beschädigt. Und zu heilen vergessen, die an der Quelle der Lethe Becher auf Becher nun schlürfen, die gichtigen Schmerzen der Liebe A u s den Gliedern zu spülen, und, will es ja nicht gelingen. Bis zum Rheumatismus der Freundschaft sich zu kuriren. Carlsbad, d. 24. Jul. 1785. Goethe.'"
Genaugenommen erhält in diesem Fall nicht das Gedicht, sondern das Zitat der Verse einen Titel, der gewissermaßen als Quellenangabe fungiert. Weitere betitelte Stammbuchgedichte Goethes finden sich in der Abteilung „Inschriften, Denk- und Send-Blätter" im vierten Band der „Ausgabe letzter Hand". Daraus ein Beispiel: In ein Stammbuch Z U M B I L D C H E N RUINE PLESS bei Göttingen A u f diesen Trümmern hab' ich auch gesessen. Vergnügt getrunken und gegessen, Und in die Welt hinaus geschaut: War aber w e n i g nur davon erbaut. Kein liebes Kind gedachte meiner, Und ich fürwahr gehörte keiner; So war die ganze Welt umgraut. Ihr wißt ja selbst was sie erheitert. Die Horizonte stufenklar erweitert.''
Der Sinn der Titel liegt auf der Hand. Gedruckte Stammbuchgedichte wie die gerade zitierten stehen nicht in ihren ursprünglichen Zusammenhängen. Als Stammbuchgedichte wären sie gar nicht erkennbar, wenn nicht ihre Titel die Aufgabe übernähmen, den ursprünglichen Gebrauchszusammenhang der Verse im letzten Beispiel sogar unter Hinweis auf ein Ausstattungsstück eines Stammbuches - anzuzeigen. Solche Titel sind elliptische Kommentare. Sie haben annähernd dieselbe Funktion wie folgender Text. Michael Kosmeli berichtet an
34 Kind 1826: 323. - Vgl. FA 1 / 1: 270. 35 FA I / 2: 608f Weitere Beispiele vgl. FA 1 / 2: 595, 609 und 709.
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einer Stelle in seiner Beschreibung einer Reise, die ihn auch nach Petersburg geführt hat, über ein Stammbuchgedicht Goethes, zitiert es gar, ohne einen Titel hinzuzuerfinden: Das interessanteste Stammbuch, welches mir j e vor Augen gekommen, bekam ich hier zu sehn. Es ist die Silhouetten-Sammlung eines gewissen Herrn v. Anthing. Es ist mit den Schattenrissen gekrönter Häupter, merkwürdiger Männer Rußlands und andrer vornehmer Herren und Frauen und ihren Einschriften angefüllt. Auch unser Goethe steht darinn, unter seine Silhouette schrieb er mit lateinischen Buchstaben folgende Zeilen: e s mag ganz artig seyn, wenn Gleich und Gleiche in P r o s e φ i n e n s Park spazieren gehn; doch besser scheint es mir im Schattenreiche Herrn Anthings sich hier oben wiedersehn. Weimar, den 7. Sept. 1789.
de G o e t h e . "
Dann wieder gibt es betitelte Gedichte in Stammbüchern, deren Titel nicht den Gebrauchszusammenhang der Gedichte anzeigen. Oft handelt es sich in solchen Fällen schon nicht mehr um Stammbuchgedichte im eigentlichen Sinn. Wenn man den heute ипйЬефгйЛагеп Angaben von Robert Schück Glauben schenken darf - die von Schück benutzte Quelle gilt heute als verschollen" -, dann hat Goethe das Rokokogedicht „Annette an ihren Geliebten", noch bevor es in das Buch „Annette" aufgenommen wurde, in das Stammbuch eines Studenten eingetragen, mit Titel, Datum und Unterschrift. Es handelt sich in diesem Fall um ein betiteltes lyrisches Gedicht, das als Stammbuchgedicht gebraucht wird. Ganz ähnlich ist folgendes Gedicht zu bewerten, das Goethe 1827 in ein Stammbuch eingetragen hat: Rosenknospen Wenn der Sommer sich entzündet Rosenknospe sich verkündet, Wer mag solches Glück entbehren Das Versprechen, das Gewähren! Das beherrscht in Florens Reich Blick und Sinn und Herz z u g l e i c h . "
36 Kosmeli 1822: 84f. Vgl. F A I / 1: 700. 37 Vgl. Nordheim 1967: 83. 38 Vgl. Schück 1883: 496f. - Nordheim 1967: 83 zieht die Datierung von Schück (24. September 1766) in Zweifel. Wenn Schücks Datierung tatsächlich falsch ist und, wie Nordheim meint, das Gedicht erst im September 1767 in das Stammbuch eingetragen worden ist, dann handelt es sich um eine Zweitverwertung des vermutlich im Juli/August 1767 verfaßten und zuerst für das Buch „Annette" gedachten Gedichts. 39 FA 1 / 2: 820f - Das Gedicht ist faksimiliert wiedergegeben in Grünstein 1908: 37.
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4. Briefgedichte Goethe ist ein rastloser Briefschreiber gewesen und darin ganz ein Sohn des 18. Jahrhunderts. 50 Bände der Weimarer Ausgabe seiner Werke enthalten Briefe. (Und dies sind nur diejenigen Briefe, die den Herausgebern der 143 Bände umfassenden Ausgabe zugänglich waren.) Manch einer dieser Briefe enthält ein Gedicht, der vom 11. Mai 1767 sogar mehr als eins. Diese Gedichte sind, einer von Frankreich herkommenden Erscheinung folgend,"" in den meisten Fällen in den fortlaufenden Brieftext integriert. Prosarede wechselt in den Briefen mit Partien in gebundener Rede. Andere Briefe gehen mit Ausnahme der Anrede und gegebenenfalls der Unterschrift sowie der Datumsangabe ganz in der Form des Gedichts auf, z.B. der Brief vom 6. November 1768. Aber nicht jedes in einen Brief integrierte Gedicht ist auch schon ein Briefgedicht. Zu einem solchen wird es erst dadurch, daß es selbst den Charakter einer brieflichen Äußerung hat. Ein Briefgedicht ist genauso wie ein Brief eine schriftliche Mitteilung, die den Charakter des Redesubstituts hat; ein unterzeichnender Absender richtet sich mit ihm unter Angabe von Datum und Adresse an einen räumlich-zeitlich getrennten Empfänger.'" Diese Bestimmung läßt Abgrenzungen zu. Ein Gedicht, das einem Brief beiliegt, kann darum nicht auch schon als Briefgedicht gelten. Und auch ein im Brief mitgeteiltes Gedicht (das beispielsweise zitiert und über das im Brief gesprochen wird) fällt nicht zwingend unter die Kategorie „Briefgedicht". In beiden Fällen fehlt den Gedichten die Eigenschaft, Redesubstitut zu sein. Die ersten Briefgedichte des jungen Goethe stammen aus den Anfängen seiner Leipziger Studentenzeit. In den Briefen an seinen Freund Johann Jacob Riese (20. Oktober 1765 / 8. November 1765 / 28. April 1766), an Trapp (2. Juni 1766), an seinen Leipziger Mentor Behrisch (12. Oktober 1766) und immer wieder an seine Schwester Cornelia (7. Dezember 1765 / I I . Mai 1766 / 13. Oktober 1766 / 11. Mai 1767) sind sie zu finden. Spätere, in Frankfiirt verfaßte Briefgedichte richten sich an Friederike Oeser (6. November 1768), an J. C. und Charlotte Kestner (Januar 1773 / 15. September 1773), an Johann Heinrich Merck (März/April 1773) und an Friedrich Wilhelm Gotter (Juni 1773). Keines dieser fnlhen Briefgedichte ist betitelt. Da in einem Brief zumeist nur ein Gedicht steht, besteht auch kein Unterscheidungszwang zu anderen Gedichten neben diesem einen Gedicht. Und vom umgebenden Brieftext ist es schon durch den Wechsel von der Prosa zum Vers, meist auch graphisch, genügend deutlich abgesetzt. Hinzu kommt, daß das Briefgedicht für eine bestimmte sin-
40 Vgl. Wolff o.J: 243. 41 Vgl. zur Briefdefinition Joost 1993: 43. - Vgl. Nickisch 1991: 9-12. - Julius Bab 1930 und Kommereil 1956: 140-148 haben sich zu Goethes Briefgedichten geäußert, aber nichts davon ist ftlr den vorliegenden Zusammenhang relevant.
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guläre Kommunikationssituation gedacht ist. Wohl darum war es in der Witzund Saionkuitur des Rokoko, in deren Umfeld die frühen Goetheschen Briefgedichte entstanden sind, so beliebt. Briefgedichte sind gewöhnlich titellos.·*^ Goethes Briefgedichte machen da keine Ausnahme. Nur eines seiner ganz frühen Briefgedichte hat eine Oberschrift. Goethe hat es in den langen Brief vom 11. Mai 1767 eingelegt: An meine Mutter Obgleich kein Gruß, obgleich kein Brief von mir. S o lang dir kömmt, laß keinen Zweifel doch Ins Herz, als wär die Zärtlichkeit des Sohns, Die ich dir schuldig bin, aus meiner Brust Entwichen. Nein, so wenig als der Fels Der tief im Fluß, vor ewgem Ancker liegt. Aus seiner Stätte weicht, obgleich die Fluht, Mit stürmschen Wellen bald, mit sanften bald Darüber fließt, und ihn dem Aug entreißt, S o wenig weicht die Zärtlichkeit für dich Aus meiner Brust, obgleich des Lebens Strom, Vom Schmerz gepeitscht bald stürmend drüber fließt. Und von der Freude bald gestreichelt, still Sie deckt, und sie verhindert daß sie nicht Ihr Haupt der Sonne zeigt, und ringsumher Zurückgeworfne Strahlen trägt, und dir Bey jedem Blicke zeigt, wie dich dein Sohn verehrt."'
Der Brief als Ganzes ist an Goethes Schwester Cornelia gerichtet, dieses eingelegte Gedicht aber an seine Mutter. Eigentlich handelt es sich um einen Brief in einem Brief Und dieser Umstand ist es, der die Überschrift motiviert. Sie weist auf den Wechsel in der Adressierung der Verse hin. Um einen Titel handelt es sich allerdings nicht, denn die Adressierung benennt den Text nicht eigentlich. Ein gegebener Ausdruck ist nicht aufgrund seiner sprachlichen Form, sondern aufgrund der Bedingungen seiner Verwendung ein Titel. Darum kann eine Adressierung wie „An meine Mutter" in anderen Zusammenhängen durchaus ein Titel sein. In den separaten Drucken des Briefgedichts, wie sie sich in den Goethe-Ausgaben finden,'*'' kann sie als ein solcher gelten. Andere Gedichte, die in die frühen Briefe eingelegt sind, haben einen Titel. Aber sie fallen nicht unter die Kategorie „Briefgedicht", denn sie haben keine
4 2 S o verhält es sich beispielweise auch im Briefwerk von Clemens Brentano, Heinrich Heine und Detlev von Liliencron. Natürlich gibt es Ausnahmen. Sie bedürfen der besonderen Betrachtung. 4 3 FA 1 / 1 : 4 1 . 4 4 Vgl. z.B. H A I : 13 und F A I / 1 : 41.
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Brieffunktion. Es handelt sich um Gedichte, die wahrscheinlich längst vor der Abfassung der jeweiligen Briefe verfaßt wurden. Es sind keine Briefgedichte, sondern Gedichte in Briefen.'" Die aufgezeigten Tendenzen setzen sich auch in späteren Zusammenhängen fort. Die Titellosigkeit von Briefgedichten besteht fort, Gedichte als Briefbeilagen·*^ und Gedichte in Briefen''^ werden gelegentlich betitelt.
5. Gedichte des Rokoko und der Anakreontik 5.1. Das Buch „Annette" Bevor 1894 das Buch „Annette" im Nachlaß von Louise von Göchhausen entdeckt wurde, wußte man von der Existenz dieser kleinen Gedichtsammlung vor allem durch Goethes Hinweise darauf in „Dichtung und Wahrheit". Dort heißt es an einer Stelle, an der er sich an seinen Leipziger Jugendfi-eund Behrisch erinnert: „Meine eigenen Sachen nahm er mit Nachsicht auf und ließ mich gewähren; nur unter der Bedingung, daß ich nichts sollte drucken lassen. Er versprach mir dagegen, daß er diejenigen Stücke, die er fur gut hielt, selbst abschreiben und in einem schönen Bande mir verehren wolle. Dieses Unternehmen gab nun Gelegenheit zu dem größtmöglichsten Zeitverderb. Denn ehe er das rechte Papier finden, ehe er mit sich über das Format einig werden konnte, ehe er die Breite des Randes und die innere Form der Schrift bestimmt hatte, ehe die Rabenfedem herbeigeschafft, geschnitten und Tusche eingerieben war, vergingen ganzen Wochen, ohne daß auch das Mindeste geschehen wäre. Mit eben solchen Umständen begab er sich denn jedesmal an's Schreiben, und brachte wirklich nach und nach ein allerliebstes Manuscript zusammen. Die Titel der Gedichte waren Fractur, die Verse selbst von einer stehenden sächsischen Handschrift, an dem Ende eines jeden Gedichtes eine analoge Vignette, die er entweder irgendwo ausgewählt oder auch wohl selbst erfunden hatte, wobei er die Schraffiiren der Holzschnitte und Druckerstöcke, die man bei solcher Gelegenheit braucht, gar zierlich nachzuahmen wußte."''* An die (um 1900 im Dienst der biographischen Deutung gebrauchte) Kategorie der „Erlebnislyrik" gewöhnt und mit dem streitbaren Rüstzeug, das sie gibt, urteilend, konnte die ältere Goethe-Philologie den Gedichten des Sieb-
4 5 Es handelt sich um „A Song over the Unconfidence towards my s e l f , „Vaudeville a. Mr Pfeil", „А Monsieur le Major General de Hoffmann" und „Le veritable ami". 4 6 Vgl. FA I / 1: 2 3 4 („An den Mond"); FA I / 1: 235 („Mit einer Hiazynthe"); FA I / I: 245 („Nach dem Lateinischen"); FA 1 / 1: 2 6 2 („Deinem Schreibtisch"). 4 7 Vgl. FA 1 / 1 : 2 4 9 („Dem Schicksal"). 4 8 W A 1 / 27: 1 3 3 Í - Weitere Hinweise enthalten Goethes Briefe vom 11.-15. Mai 1767 und August 1767 an seine Schwester Cornelia.
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zehn- und Achtzehnjährigen, die Goethe mit diesen Worten rückschauend erwähnt, zunächst nicht viel abgewinnen. Von Bernhard Suphan stammen die Worte „[...] Niemand würde [...] auf den Gedanken kommen, das kleine Buch mit dem französirten Mädchennamen enthalte Dichtungen Goethe's.""" Und Suphan weiter: „Nirgends eigenartige Gestaltung inneren Lebens [ . . U n d dann noch: „Charakterlose Minderjährigkeit, das ist völlig das Wesen des Buches 'Annette'."^' Ähnlich mißfäilig hat sich Albert Leitzmann geäußert.'^ Für die Konventionen der Rokokodichtung, denen Goethe in den Gedichten des Buchs „Annette" weitgehend folgt, hatten sowohl Suphan wie Leitzmann keinen Sinn: nicht für das Graziöse und Scherzhafte dieser Spielwerke, nicht fur ihren witzigen Pointenreichtum und ihre schlüpfrigen Neckereien. Ihr ausgeklügeltes Sprach- und Formenspiel" wurde nicht geschätzt. Gar nicht erst erkannt wurde ihr Titelgebrauch. Nun muß man den Titelgebrauch von Goethes frühen Rokokogedichten nicht in Superlativen beschreiben, aber es deutet sich in ihm bereits etwas von dem an, was im weiteren Verlauf der Goetheschen Gedichtproduktion wiederkehrt: die Indienststellung des Titels für die Konfiguration von Gedichten, sein Beitrag zur Komposition eines aus mehreren Gedichten bestehenden Ganzen. Konfiguration im Buch „Annette" heißt vor allem Gruppenbildung, und Gruppenbildung heißt hier vor allem Paarbildung. Einige Gedichte tragen paarweise identische Obertitel. Auf der Titelebene sind sie allein durch die je verschiedenen Untertitel voneinander differenzierbar. Kunst die Spröden zu fangen. Erste Erzählung Kunst die Spröden zu fangen. Zwote Erzählung Triumph der Tugend. Erste Erzählung Triumph der Tugend. Zwote Erzählung
Die Titelidentität stellt eine Ähnlichkeit der jeweiligen Gedichtinhalte in Aussicht, die tatsächlich auch gegeben ist. Anders die Titel „Madrigal. Aus dem Französischen" und „Madrigal. Aus dem Französischen des Herrn v. Voltaire". Die Obertitel stellen eine gleichartige lyrische Form in Aussicht: Gedichte mit dem systematisch variablen Gedichtmaß des Madrigals, das zwar den Reim, aber nicht die Art der Reimstellung und auch nicht die Anzahl der Hebungen im Vers sowie die Länge des Gedichts vorschreibt. Da diese metrische Form in der lyrischen Dichtung (z.B. Gleim, „Die Macht des Weins") und der Verserzäh-
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Suphan 1895: 141. Suphan 1895: 144. Suphan 1895: 144. Vgl. Leitzmann 1897: 794-804. Dazu Zeman 1972: 267-274. - Anger 1963: passim. - Nordheim 1967: passim.
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lung des Rokoko (z.B. Wieland, „Musarion") schon beliebt war und viel gebraucht wurde, bevor Goethe sie verwendete, konnten die Titel seiner Gedichte nicht nur auf die zu erwartende metrische Form, sondern auch auf zu erwartende Gegenstände und Stilvaleurs vorbereiten. Der zeitgenössische, literarisch gebildete Leser von Goethes Gedichten konnte allein nach Maßgabe des Titels „Madrigal" kleine unbekümmerte und unterhaltsame Causerien erwarten, denn die madrigalischen Dichtungen des Rokoko waren durch sie gekennzeichnet. Titel- und damit zusammenhängend Gedichtpaarung muß nicht auf Titelidentität, sondern kann auch auf Titelähnlichkeit beruhen. Die Titel „ L y d e " und „Ziblis" sind einander ähnlich. Beide sind aus j e einem Eigennamen gebildet, und beides sind Eigennamen, die als Phantasienamen von Kunstfiguren der Rokokodichtung erkennbar sind.^'* Namen wie Doris, Thirsis, Phyllis, Daphne, Chloris, Damon und Lisille sind zwar ein literarisches Erbe der barocken Schäferdichtung (und im weiteren ein Erbe der antiken Dichtung), im 18. Jahrhundert aber als konventionelle Namen der Rokokodichtung geläufig. „ L y d e " und „Ziblis" fügen sich in diese Reihe ein. Komposition ist dort möglich, wo mehrere Texte in einem Zusammenhang erscheinen. Da Gedichte, sieht man von Einblattdrucken und Veröffentlichungen in Zeitschriften und Zeitungen ab, selten allein stehen, sind sie für eine komponierende Zusammenstellung prädestiniert. Komposition muß aber nicht nur Gruppierung, sie kann auch Pointierung des Anfangs oder Endes einer Gedichtreihe bedeuten. Im Buch „Annette" findet sich beides - auch auf der Titelebene. Der Titel des ersten Gedichts „An Annetten" bildet nicht nur den Anfang des Buchs „Annette", es markiert ihn auch; und zwar dadurch, daß er unmittelbar an den ungewöhnlichen Sammeltitel des ganzen Buchs anschließt. Für eine Sammlung lyrischer Texte des Rokoko ist dieser aus einem Eigennamen gebildete Titel in der Tat ungewöhnlich. Sonst heißen Gedichtsammlungen der Zeit „Versuch in scherzhaften Liedern" (Gleim), „Lieder" (Gleim), „Lyrische Gedichte" (Uz), „Kleinigkeiten" (Lessing), „Versuch in kleinen Gedichten" (Unzer) oder „Scherzhafte Lieder" (Weisse). Die Palette der Variationen ist vergleichsweise klein, Eigennamen bilden in jedem Fall eine Besonderheit. Der Sammeltitel macht aufmerksam, irritiert gar, indem er vom Gewöhnlichen abweicht, und gibt im übrigen nicht schon preis, was es mit ihm auf sich hat. Der Leser aber will wissen. Der Titel des ersten Gedichts kommt diesem Bedürfnis entgegen, denn die Titelanrede „An Annetten" verspricht Erhellung. Im Gedicht wird sie dann auch gegeben. Der Titel ist Ausdruck persönlicher Zurede. Annette, die Angesprochene, die die literarische Verköφerung von Goethes jugendlicher Leidenschaft Anna Katharina Schönkopf ist, hat in der Rolle der Muse den sprechenden Dichter in den Stand gesetzt, seine Gedichte zu schreiben. Dafür
54 Vgl. Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. I: 38.
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wird sie bedankt. Diese Geste, deren Privatheit die literarischen Muster des Rokoiio bereits überschreitet/' weist auch dem Sammeltitel des Buchs „Annette" eine Bedeutung zu. Der nämlich besagt nicht etwa, daß die Gedichtreihe von Annette handelt (so wie Mörikes „Peregrina"-Zyklus von Peregrina handelt), sondern daß sie sich ihr verdankt.'® Auch der Schluß des Buchs „Annette" wird titelweise pointiert. Der Titel des letzten Gedichts „An meine Lieder" ist eine Anrede an die vorhergehenden 18 Gedichte; er signalisiert die auf das ganze Buch „Annette" gerichtete Rückbezüglichkeit dieses Gedichts. Aber es gibt im Buch „Annette" auch Titel, die sich vom übrigen abheben. Einige von ihnen, wie zum Beispiel „Die Liebhaber" und „Annette an ihren Geliebten", lassen den zeitgenössischen Leser immerhin Rokokodichtungen erwarten - doch dies vor allem aufgrund des Kontextes, in dem sie situiert sind. Denn abgesehen vor allem von dem Einleitungsgedicht sind fast alle Gedichte des Buchs „Annette" im Geist der in der Mitte des 18. Jahrhunderts florierenden Rokoko-Lyrik verfaßt. Nur zwei Titel (samt den dazugehörigen Texten) sperren sich der rokokohaften Gesamterscheinung des Buchs „Annette": „Elegie auf den Tod des Bruders meines Freundes" und „Ode an Herrn Professor Zachariae". Wieder ist es der persönliche Bezug, der in den Titeln und in den Gedichten selbst ausgedrückt wird, der ihre Sonderstellung im Gesamtkontext des Buchs „Annette" begründet. Es ist nicht ganz klar zu entscheiden, welchen Anteil Goethe an der Zusammenstellung der Gedichte im Buch „Annette" hat. Vielleicht geht diese ganz allein oder wenigstens doch vornehmlich, wie Nordheim meint,'^ auf Behrisch zurück. Jedenfalls wird im Buch „Annette" im Ansatz und erstmalig im Goetheschen Gedichtwerk eine sich auch auf der Titelebene spiegelnde Technik der Komposition ефгоЫ - eine Technik, die nur sehr unvollkommen beim Vortrag, sondern vollauf erst bei der Lektüre der Gedichte erfahrbar wird. Goethes Gedichtbuch präsentiert sich in anderer Form, als es die der meisten anderen Rokokodichter tun.'' Zwar haben fast alle Gedichte des Buchs „Annette" den geselligen Charakter mit denen von z. B. Gleim oder Gerstenberg gemeinsam. Insofern eignen auch sie sich für das gesellige Leben im Rokoko-Salon. Indem aber die Gedichte teilweise geordnet und in Gruppen gegliedert sind, verlangen sie stärker als viele andere Rokoko-Dichtungen danach, Gegenstand konzentrierter Lektüre zu sein. Denn sie müssen als Ganzes und im Zusammenhang wahrgenommen werden, wenn die Relationen zwischen den Einzelgedichten
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Vgl. Nordheim 1967: 128. - Z e m a n 1972: 272. - Minor/Sauer 1880: 2. Vgl. Nordheim 1967: 117-129. Vgl. Nordheim 1967: 87. Weisses „Scherzhafte Lieder" bieten Vergleichbares. Am Anfang steht das Gedicht „An die Musen", am Ende eines mit demselben Titel.
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erkennbar sein sollen. Das Buch „Annette" geht nicht nur durch seine Elemente von Privatheit, sondern auch durch seinen Publikumsbezug über andere Rokokolyrik hinaus. Freilich hat Goethe sich reserviert gegenüber der Möglichkeit der öffentlichen Wirksamkeit des Buchs „Annette" geäußert. An seine Schwester Cornelia schreibt er: „Ich schickte euch gem die Annette wenn ich nicht befurchten müßte daß ihr mir sie abschriebt. Denn auch sogar das Büchelgen das ich sosehr ausgeputzt und verbessert habe, wollte ich niemanden communicirt haben. Bißhierher hat es zwölf Leser und zwo Leserinnen gehabt, und nun ist mein Publicum aus. Ich liebe gar den Lärm nicht."^' 5.2. Oden an Behrisch Die Titel der drei Oden, die Goethe 1767 anläßlich der bevorstehenden Trennung von seinem Leipziger Vertrauten Behrisch verfaßt hat, sind jeweils aus einem Kardinalzahlwort und der Gattungsangabe „Ode" gebildet. Was motiviert die Schlichtheit der Einzeltitel? Abgesehen von der Tatsache, daß die Titel nur einem Formulierungsmuster folgen und darum einen Zusammenhang zwischen den drei Gedichten stiften, stellen sie zunächst kaum mehr in Aussicht, als einen bestimmten Typ von lyrischer Dichtung. Aber um welchen Typ es sich dabei handelt, bleibt im unklaren. Mit ziemlicher Sicherheit konnte der zeitgenössische Leser (wenn er denn über Kenntnisse des Barockzeitalters verfügte) von vornherein nur die noch im 17. Jahrhundert von Georg Rodolf Weckherlin, Philipp von Zesen, Johann Rist und Andreas Gryphius gebrauchte Pindarische Ode mit ihrer eigentümlichen strophischen Gestaltung ausschließen. Sie nämlich war im 18. Jahrhundert nahezu in Vergessenheit geraten und wurde von den Dichtem der Zeit nicht mehr benutzt. Ob es sich aber um einfache Lieder handelt, die ja vielfach im 18. Jahrhundert unter dem Namen „Ode" auftreten, oder um Oden nach antikem, vor allem horazischem Vorbild, das kann allein anhand der Titel nicht entschieden werden. Eine verläßliche Aussage über Thema, Stoff und Sprache der Oden kann anhand dieser Titel ebenfalls kaum getroffen werden. Denn die Ode wird im 18. Jahrhundert inhaltlich vielfältig gestaltet. Religiöse Themen stehen neben philosophisch-moralischen und geselligen; Oden auf hohe oder hochgeschätzte Personen neben solchen auf Institutionen oder Ereignisse. Auf ihrer sprachlichen Ebene kann die Odendichtung ebenso an der Gesellschaftskunst des Rokoko wie an der zarten Innigkeit pietistisch beeinflußter Lyrik partizipieren. Und dann wäre noch der enthusiastische und hymnische Stil der Klopstockschen Oden zu nennen, unter dessen Einfluß die drei Oden Goethes entstanden sind.
59 W A I V / 1 : 114.
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Allerdings hat der Titel in der Odendichtung Eindeutigkeit zu schaffen versucht. Über den Hauptinhalt einer Ode läßt er doch selten Zweifel aufkommen. Mit einer bloßen Gattungsangabe läßt man es wenigstens nur selten bewenden. Unter Gottscheds Oden finden sich zwei mit folgenden Titeln: Ode auf das zweyte protestantische Jubelfest, weiches wegen des zu Augspurg
überge-
benen Bekenntnisses Evangel. Fürsten und Stände, im Jahre 1730 den 25sten Junius gefeyert ward. Jubelode auf das dritte Jahrhundert der edlen Buchdruckerkunst, als solches im 1740 Jahre zu Königsberg gefeyert worden.
Von Albrecht von Haller gibt es die „Trauerode beim Absterben seiner geliebtesten Mariane", von Gottfried August Bürger die „Ode der fünfzigjährigen Jubelfeier der Georgia Augusta", von Karl Wilhelm Ramler die „Ode an die Stadt Berlin", von Johann Andreas Cramer die „Ode auf den Geburtstag des Königes" und von Friedrich Gottlob Klopstock die (später „Frühlingsfeier" genannte) „Ode über die emsthaften Vergnügungen des Landlebens". Von diesem Titelmuster, das die Gattungsangabe mit einer näheren Bestimmung des Gedichtinhalts kombiniert, weichen die Titel der drei Goetheschen Gedichte ab. Die Betitelung der Goetheschen Oden mit der Angabe der Gattung ohne thematische Ergänzung ist für das 18. Jahrhundert ungewöhnlich.^" Aber sie ist in dem Kontext dieser drei Gedichte erklärbar. Sie stehen ja unter dem Sammeltitel „Oden an meinen Freund. 1767". Und mit diesem Titel werden ja immerhin Gedichte in Aussicht gestellt, die sich an eine Person richten, sich möglicherweise sogar thematisch auf sie beziehen. Johann Peter Eckermann und Friedrich Wilhelm Riemer nennen die Oden im Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes der sogenannten Quartausgabe, in dem die drei Gedichte zuerst im Druck erschienen sind: „Drei Oden an meinen Freund". 5.3. Neue Lieder Nur ein kleiner Ausschnitt der Gedichte des jungen Goethe ist erhalten geblieben. Als Student wollte er sich nicht gedruckt sehen. Alles bis zu seinem Weggang aus Leipzig Geschriebene kursierte, wenn es überhaupt an eine kleine Öffentlichkeit gelangte, in handschriftlicher Form.^' Noch der erste Druck von Gedichten Goethes trägt das Zeichen der Verschwiegenheit. Die „Neuen Lieder 60 In den „Tändeleyen" von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg findet sich ein Gedicht mit dem Titel „Ode". In der vierten Auflage von 1815 ist der Titel in „Die Tejer" umgewandelt worden. 61 Neben dem Buch „Annette" z.B. auch die „Lieder mit Melodien Mademoiselle Frideriken Oeser gewiedmet von Goethen", die fast alle wenig später in die „Neuen Lieder" aufgenommen wurden.
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in Melodien gesetzt von Bernhard Theodor Breitkopf' tragen ja nur den Namen des Komponisten der beigefflgten Melodien, nicht aber den des Autors der Gedichte. „Neue Lieder" heißen sie, weil Breitkopf kurz vor ihrem Erscheinen ein Buch mit dem Titel „Lieder mit Melodien" in Druck gegeben hatte. Die 20 Gedichte von Goethe, die in den „Neuen Liedern" vorliegen, fuhren fort, womit der Dichter im Buch „Annette" begonnen hatte. Motivik und Sprache, die metrischen Eigenarten und das Spektrum der Gattungen sind noch der Rokokodichtung verpflichtet. Aber einzelne Gedichte stellen überdies Übungen im Singspiel-Ton dar. Der künstliche Gesellschaftston der Rokokodichtung wird in den „Neuen Liedern" um alltagssprachliche Stilregister erweitert.^^ Die Andersartigkeit gegenüber „Annette" betrifft auch die Titelgebung einzelner Gedichte.®^ Nur noch einzelne Titel versprechen auch rokokohafte Themen: Amors Grab. N a c h dem Französischen D i e Freuden Unbeständigkeit An die Unschuld
Der Großteil aller Titel der „Neuen Lieder" verhält sich hingegen neutral gegenüber rokokohaftem Wortmaterial. Ein gehäuftes Auftreten des aus bestimmtem Artikel und Nomen gebildeten Titels ist zu verzeichnen: D i e Nacht Das Schreien Der Schmetterling Das Glück Die Freuden Der Misanthrop Die Reliquie
Der aus einem artikellos gebrauchten Nomen gebildete Titel erscheint in den „Neuen Liedern" fünfmal: Neujahrslied Hochzeitslied Kinderverstand
62 Vgl. FA 1/ 1:794. 63 Die „Neuen Lieder" enthalten die Gedichte übrigens in zweifacher Weise, einmal als zum Gesang bestimmte Texte mit Melodien, ein anderesmal als zum Lesen bestimmte Texte. Im ersten Fall haben die Gedichte keine echten Titel; sie werden bloß durchgezählt. Die Texte mit Melodien sind mit Rücksicht auf ihren gesanglichen Gebrauch titellos gedruckt.
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Unbeständigkeit Zueignung Die Titel in beiden Gruppen sind lakonisch, die der zweiten Gruppe sind es in elementarster Form. Solche auf das Wenigste reduzierte Titel geben dem Leser Rätsel auf. Indem sie Einblick in einen Text versprechen, machen sie doch auch bewußt, daß sie Information vorenthalten." Sie sind ergänzungsbedürftig. Allerdings fällt die Ergänzungsbedürftigkeit von Fall zu Fall unterschiedlich aus. Bei einem gemischt thematisch-rhematischen Titel, der auf den Inhalt eines Gedichts vorbereitet und seine Gattungszugehörigkeit anzeigt (wie „Neujahrslied"), ist die Ergänzungsbedürftigkeit einerseits vergleichsweise gering. Man weiß ja schon ziemlich genau, was man zu erwarten hat. Andererseits ist die Sicherheit, die solch ein Titel vermittelt, nur auf weniges bezogen. „Neujahrslied" besagt rhematisch j a lediglich, daß der Text für den Gesang bestimmt ist; thematisch stellt er Gedanken anläßlich des Jahresbeginns in Aussicht. Ein Ausdruck wie „Misanthrop" läßt zumal in Verbindung mit dem bestimmten Artikel kaum mehr als die typenhafte Behandlung eines Charakters erwarten, wie sie dem Leser des 18. Jahrhunderts aus der Komödiendichtung, aber auch der Rokokolyrik bekannt sein konnte.^' Vor allem aber Abstrakta fordern zur Ergänzung auf Was weiß man schon, wenn man „Das Glück" liest? Auf das Ganze gesehen folgen die Regeln der Titelsetzung in den „Neuen Liedern" denen der Titelsetzung im Buch „Annette". Differenzen gegenüber dem Buch „Annette" sind im einzelnen nur geringfügig und ihrer Bedeutung nach nicht zu hoch zu veranschlagen. In einer Hinsicht jedoch weist die Titelpraxis deutliche Unterschiede zum Buch „Annette" auf Zwar kann auch in den „Neuen Liedern" bedingt von einer Rahmenbildung die Rede sein. Denn auch in den „Neuen Liedern" ist das Ausgangsgedicht durch seinen Titel („Zueignung") hervorgehoben. Aber im übrigen haben die Titel in den „Neuen Liedern" keine ensemblebildende Funktion. Etwas anderes in dieser Hinsicht bringen erst die Volksballaden aus dem Elsaß.
64 Vgl. Rothe 1986: 113. - Weinrich 1976: 196 spricht von einer durch den Titel motivierten „semiologischen Verunsicherung" - man weiß eben nicht genau, was er bedeutet -, der man sich potentiell dadurch entziehen kann, daß man den zugehörigen Text liest. 65 Z.B. Lessings Lustspiel „Der Misogyn" und Gleims Gedichte „Der Geizhals" und „Der Verschwender" in den 1749 erschienenen „Liedern".
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6. Gedichte der Genieperiode 6.1. Volksballaden aus dem Elsaß Nach fast dreijährigem Aufenthalt in Leipzig, seinem physischen und psychischen Zusammenbruch und seiner Genesung in Frankfurt ging Goethe nach Straßburg, um dort sein Studium fortzusetzen und zu beenden. Unter dem Einfluß Herders, den er in Straßburg kennenlemte, hat sich seine Dichtung gewandelt. Von Herder hat Goethe viel Anregung empfangen.^ Aber auch Herder hat von Goethe empfangen: ein Dutzend von Goethe gesammelte Volksballaden aus dem Elsaß - als Zeichen der Dankbarkeit und als Bezeugung von Goethes Schülerschaft. Goethe schreibt an den Mentor im Herbst 1771 : „Daß ich Ihnen geben kann, was Sie wünschen, und mehr als Sie vielleicht hoffen, macht mir eine Freude, deren Sie mich so wenig als eines wahren Enthusiasmus fähig glauben können, nach dem Bilde, das Sie sich einmal von mir haben machen müssen. Genug, ich habe noch aus dem Elsaß zwölf Lieder mitgebracht, die ich auf meinen Streifereien aus denen Kehlen der ältesten Mütterchens aufgehascht habe. Ein Glück! denn ihre Enkel singen alle: 'Ich liebte nur Ismenen.' Sie waren Ihnen bestimmt, Ihnen allein bestimmt, so daß ich meinen besten Gesellen keine Abschrift aufs dringendste Bitten erlaubt habe."^^ Die zwölf Lieder, von denen Goethe hier spricht, sind ohne Ausnahme betitelt. Abgesehen von zwei Fällen folgen die Titel einem Muster. Eine stets wiederkehrende und mit dem bestimmten Artikel eingeführte Gattungsangabe wird mit einer Präpositionalphrase kombiniert, die eine Personenangabe enthält: Das Das Das Das Das Das Das Das Das Das
Lied Lied Lied Lied Lied Lied Lied Lied Lied Lied
vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom
Herrn von Faickenstein Pfalzgrafen iungen Grafen eifersüchtigen Knaben Herren und der Magd verkleideten Grafen Zimmergesellen Lindenschmidt Grafen Friederich braun Anne!
Die Titel folgen einem Muster, aber sie sind nicht stets gleich gebaut. Denn die Fräpositionalphrasen der einzelnen Titel unterscheiden sich weitgehend voneinander. In ihnen ist die invariant wiederkehrende Präposition beispielsweise mit einem Nomen („vom Zimmergesellen"), zwei koordinierten Nomina („vom 66 Vgl. z.B. Albrecht 1972: 12-17. 67 WA IV/2: If,
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Herren und der Magd") oder einem Namen („vom Lindenschmidt") iiombiniert. Die Namen oder Nomen sind fallweise um ein Adjektiv erweitert. Innerhalb des uniformen Titelmusters gibt es Variationen, was leicht unter Hinweis auf die verschiedenen Inhalte der betitelten Texte erklärt werden kann. Warum aber wird dieses uniforme Titelmuster hier verwendet, welchem Zweck dient es und woher rührt es? Das wiederkehrende Titelmuster signalisiert Reihenbildung und Zusammenhang der betitelten Texte. Die Gemeinsamkeit dieser Texte betrifft neben ihrem Gattungscharakter auch ihre Herkunft. Die Texte stammen aus dem weiten Feld der mündlich überlieferten Dichtung. Sie sind anonym weitergegeben worden, haben im Laufe der Überlieferung vielfach Veränderungen erfahren - die Fachforschung spricht vom „Zersingen" der Dichtung^' - und liegen häufig in verschiedenen, teils erheblich voneinander abweichenden Fassungen vor. Daß Goethe den Volksballaden überhaupt Titel gegeben hat, ist aufgrund der Transposition der Texte in das Medium der Schriftlichkeit geschehen. Jedoch lassen die Titel die mündliche Herkunft der Texte noch durchschimmern, nämlich dadurch, daß Goethe fast jede der Volksballaden als Lied bezeichnet. Denn die Volksballaden sind nicht nur mündlich, sondern häufig auch als „Liedballaden" überliefert worden: Sie wurden gesungen. Auch die Formel „Das Lied vom" dürfte ihre Wurzeln im Mündlichen haben. Diese Formel, ergänzt um die Angabe über den Hauptgegenstand einer Ballade, läßt sich als konventionalisierte Formel zur Identifikation von Texten auch im Mündlichen auffassen.^' Neuere Dichter wie Brecht und Biermann, die in der Tradition der Volkslied- und Volksballadendichtung schreiben, benutzen vielfach die Titelformel „Das Lied vom". Doch tun sie dies bereits im Bewußtsein der schriftlichen Konventionalisierung dieser Formel in Volkslied- und Balladensammlungen, in denen solche Titelformeln als Werk der Herausgeber stehen. Auch in den filihen 70er Jahren des 18. Jahrhunderts konnte man diese Titelkonvention kennen. Als Einblattdrucke und Flugschriften waren Lieder und Balladen mit solchen Titeln durchaus im Umlauf.™ Ob allerdings die wiederkehrende Titelformel in den Volksballaden aus dem Elsaß als Erfindung Goethes (die er möglicherweise einem Modus mündlichen Identifizierens von Texten abgelauscht hat) oder als Fortfuhrung eines Musters vorgegebener schriftlicher Zeugnisse zu gelten hat, ist nicht leicht zu entscheiden. Pinck und Albrecht jedenfalls, die sich zu Goe-
68 Dessauer 1928. 69 In diesem Sinn läßt sich eine Gesprächssituation verstehen, die Brecht 1988ίΓ., Bd. 6: 23f. in „Mutter Courage und ihre Kinder" auf die Bühne bringt: EILIF [...] Da kann ich ein Lied. DER FELDHAUPTMANN Sings uns! Brüllend. Wirds bald mit dem Essen! EILIF Es heißt; Das Lied vom Weib und dem Soldaten. Er singt es, einen Kriegstanz mit dem Säbel tanzend. 70 Proben solcher Drucke aus älterer Zeit bringen Ecker 1981: 282-303 und Brednich 1974/1975, Bd. 2: passim.
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thes Volksliedern geäußert haben, geben keinen Hinweis darauf, ob Goethe Kenntnisse von Einblattdrucken oder Flugschriften hatte." Aber auch unabhängig von einer Entscheidung in dieser Sache wird man sagen können, daß die von Goethe gewählte Titelform erstens eine vergleichsweise einfache ist. Und selbst unter Erwägung der möglichen Vermittlung durch eine schriftliche Überlieferung wird man sagen können, daß die Titelform zweitens eine am Mündlichen orientierte ist. Denn die schriftliche Überlieferung einer ursprünglich mündlichen Form kann deren urspünglichen Charakter ja durchaus bewahren. Insofern ftigt sich die Titelform zum Charakter der Volksballaden. Auch die nach Goethes frühen Bemühungen einsetzenden Sammlungen von Volksliedern und Volksballaden durch andere Autoren verzeichnen Gedichte mit Titeln der in Rede stehenden Art, so vielfach Friedrich Nicolais „Kleyner feyner Almanach" von 1777 und 1778, ebenfalls gelegentlich Herders Volksliedsammlung von 1778 und 1779. Im Unterschied zu Goethe weiß man von Nicolai, daß er sein Material aus Einblattdrucken geschöpft hat.^^ Auch Herder kannte solche Drucke. Im zweiten Teil seiner „Volkslieder" beschreibt er einen Sammelband mit gedruckten Liedem.^^ Das elfte Gedicht in Goethes Volksliedsammlung trägt den Titel „Vom plauderhaflften Knaben". Es ist dies eine elliptische Abwandlung des in den zehn vorherigen Fällen angewendeten Titelmusters und gehört noch in die Reihe dieser Titel. Der Titel des zwölften Gedichts - „Zugabe" - weicht vollständig von dem vorherigen Muster ab. Seine abweichende sprachliche Form markiert das Ende der Gedichtreihe. Die Markierung der Schlußstellung des Gedichts durch seinen Titel erlaubt Vermutungen hinsichtlich der Eigenheiten des Gedichts. Der Titel bereitet möglicherweise auf ein Gedicht anderen als desjenigen Typs vor, dem die vorhergehenden Texte angehören. Und tatsächlich gehört Goethes „Zugabe" nicht dem Gattungstyp der Ballade an, wie er durch die vorhergehenden Texte vertreten wird. Das Lied vom 'bucklichten Männlein' ist eine scherzhafte Dichtung. Es bringt am Ende der Balladenreihe einen neuen, einen dem Vorhergehenden 71 Vgl. Pinck 1932 und Albrecht 1972. - Auch Paul von der Aelsts Liedersammlung "Blumen und Aussbund allerhandt ausserlesener Weltlieder, Züchtiger Lieder und Rheymen..", die Goethe folgt man Emst Jennys Vermutung (vgl. Jenny 1900: 2 1 - 2 2 ) oder Gerhard Sauders Behauptung (vgl. Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 1: 130) - kannte, führt nicht weiter. Die Lieder in dieser 1602 erschienenen Sammlung sind titellos, auch diejenigen erzählenden Charakters. 72 Vgl. Nicolai 1888: XXI. 73 Vgl. Herder 1877-1913, Bd. 25: 3 2 0 - 3 2 3 . 74 Darin unterscheidet sich das Gedicht von seinem Seitenstück, das durch „Des Knaben Wunderhom" berühmt geworden ist. In ihm erscheint das bucklicht Männlein nicht als hedonistischer Liebhaber, sondern als dämonenhafter Kobold. Walter Benjamin hat sich in „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" seiner kindlichen Ergriffenheit von der Figur des bucklichten Männleins erinnert (vgl. Benjamin 1972-1987, Bd. 4,1: 302-304). - In Thomas Manns „Buddenbrooks" (Achter Teil, Drittes Kapitel) erscheint das Männlein des Nachts dem jungen Hanno Buddenbrook und läßt ihn aus dem Schlaf fahren. Vgl. Mann 1995: 4 7 2 f
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gegenläufigen Ton, einen Kontrast. Man sollte es darum auch nicht mit Pinck halten, der dieses gesagt hat: „Wohl hat Goethe selbst ihm [dem Liede, B.M.] auch keinen besonders großen Wert beigemessen, wie aus der Liederüberschrift allein schon ersichtlich wird."'' Zutreffender kommentiert Hermann Strobach den Goetheschen Titel: „Goethes Bezeichnung des Liedes als Zugabe bezieht sich auf die Erfahrung, daß im gemeinschaftlichen und geselligen Gesang auf ernste Lieder ein 'Draufliedchen' oder Sprüche und Verse oft heiterer Art als 'Nachstückelchen' (Abgesang) folgen."'^ Der durch Goethes „Zugabe" gegebene Fall des gesonderten Titelgebrauchs in dem letzten von mehreren zusammengehörigen Gedichten ist in der Geschichte des Lyrik nichts Außergewöhnliches. Die Markierung der Schlußstellung eines Textes durch seine außergewöhnliche Betitelung findet sich auch bei Christian Gryphius. Das vierte Buch seiner „Poetischen Wälder" endet in der zweiten Auflage mit dem einzig bekannten Stück des Dichters, dem „Ungereimten Sonnett". Die Schlußstellung eines Textes kann auch durch die in seinem Titel kenntlich gemachte abschließende Reflexion über das Vorhergehende markiert werden. Das vierte Buch von Andreas Gryphius' Sonn- und Feiertagssonetten, das in seiner zweiten Fassung von 1657 „Sonnette. Das Vierdte Buch. Uber die Fest-Tage" heißt, schließt mit dem Gedicht „Andreas Gryphius Uber seine Sonn- vnd Feyertags Sonnette." Überdies kann die Schlußstellung eines Textes in seinem Titel selbst ausgedrückt werden. Andreas Gryphius nennt das Schlußgedicht seiner „Lissaer Sonette" von 1637 „Beschluß Sonnet"; Brecht beschließt seine „Hauspostille" mit einem „Schlußkapitel", das das Gedicht „Gegen Verfuhrung" enthält. Die Reihe ließe sich leicht durch weitere Beispiele mehren." 6.2. Gedichte zwischen 1771 und 1775 Die im Elsaß gesammelten Volksballaden stellen in Goethes Œuvre etwas Neues dar. Aber sie sind nicht von Goethe geschaffen; allenfalls ihre Titel stammen von ihm - weshalb sie hier in Betracht gezogen werden. Nur ganz allmählich löst sich Goethe von vorgegebenen Mustern und ефгоЫ seit Beginn der 70er Jahre auch in eigenen Gedichten Innovationen. Es geschieht dies vor allem in
75 Pinck 1932: 119. 76 Goethe 1982: 89. 77 Zu ergänzen wäre noch, daß der an das Ende einer Textreihe gestellte Text häufig mit gesonderter Akzentuierung auch ohne Markierung durch einen besonderen Titel gebraucht wird. Das letzte Stück im ersten Buch von Lessings Fabeln reflektiert die Gattung der Fabel. - Werner Kraft setzt an das Ende seiner Anthologie „Wiederfmden" das Gedicht „Man frage nicht" von Karl Kraus nicht nur deswegen, weil es das jüngste der versammelten Texte ist, sondern auch, weil es das Motiv des Schweigens Sprache werden läßt. - Goethe setzt an das Ende des letzten Bandes der „Ausgabe letzter Hand" die „Pandora"; nach der vorhergehenden Prosa erscheint so noch einmal die Poesie.
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denjenigen Gedichten, die heute als „Sesenheimer Lieder" oder „FriederiicenLieder" geführt werden,'* später auch in Gedichten, die auf Wanderungen und Reisen entstehen. Doch bewahrt Goethes lyrisches Werk in dieser Zeit vielfach auch konventionelle Elemente. Goethe schreibt weiterhin Gelegenheitsgedichte herkömmlicher Art, Stammbuchgedichte und Briefgedichte. Andere Gedichte enthalten unverkennbar rokokohafte Elemente. Goethes Innovationen fallen nicht vom Himmel. Aus allen bis zum November 1775, dem Monat von Goethes Eintreffen in Weimar, verfaßten Gedichten treten in der ersten Hälfte der 70er Jahre einige Gedichte Goethes insofern hervor, als sie im Druck publiziert sind. Einige sind in Jacobis Zeitschrift „Iris", andere in Wielands „Teutschem Merkur", wieder andere im „Göttinger Musenalmanach" erschienen. Fast jedes dieser frühen, gedruckten Gedichte ist betitelt, nur einige sind titellos. Hier das Verzeichnis der Titel bzw. (in Klammern) der Anfangswörter der titellosen Gedichte mit Angabe ihres jeweiligen Publikationsortes: (Da hatt ich einen Kerl zu Gast) - Der Wandsbecker Bothe, 9 . 3 . 1 7 7 4 Der Adler und die Taube - Göttinger Musenalmanach 1774 Sprache - Göttinger Musenalmanach 1774 Maifest - Iris, Januar 1775 Der neue Amadis - Iris, Januar 1775 Lied, das ein selbstgemaltes Band begleitete - Iris, Januar 1775 (Mir schlug das Herz) - Iris, März 1775 An Belinden - Iris, März 1775 N e u e Liebe, neues Leben - Iris, März 1775 Rettung - Iris, Mai 1775 (Ob ich Dich liebe weiß ich nicht) - Iris, Juli 1775 Den Männern zu zeigen - Iris, August 1775 Mit einem goldnen Halskettchen überschickt - Iris, August 1775 Im Herbst 1775 - Iris, September 1775 Brief an Lottchen - Teutscher Merkur, Januar 1776 Bundeslied - Teutscher Merkur, Februar 1776
Zunächst zu dem regelhaften Fall der Betitelung. Er bestätigt nur einmal mehr die Konvention, daß gedruckte Texte nicht ohne Namen auftreten - zumal dann, wenn sie nicht allein stehen, wie es in Zeitschriften und Almanachen der Zeit häufig der Fall ist. Einige Titel gehen vermutlich auf das Konto der Herausgeber. Das Gedicht „An Belinde" trägt in Goethes Handschrift keinen Titel, ebensowenig das Gedicht „Neue Liebe, neues Leben."''
78 Vgl. MA 1,1: 158-161 und 162-164. - Vgl. HA 1: 25-32. 79 Vgl. FL 5: 27-28.
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Viele Titel folgen Titelkonventionen der Dichtung des 18. Jahrhunderts. Der Kopulativtitel „Der Adler und die Taube", dessen nominale Glieder durch Gattungsnamen aus der Tierwelt besetzt sind, folgt einer konventionellen Titelformel in der Fabel - nicht nur der Prosafabel, sondern auch der versifizierten Fabel. Man vergleiche beispielsweise Michaelis' „Die Biene und die Taube" und Lessings „Der Adler und die Eule". Der Titel „Maifest" lehnt sich an die Titelsetzung vieler der im 18. Jahrhundert beliebten Frühlingslieder an. Man vergleiche Hagedoms „Der Mai" und „Der erste Mai", Höltys „Mailied" und Uz' „Der Mai". Auch Ramlers Gedicht „Der Mai. Ein Wettgesang" gehört in diesen Zusammenhang. Andere Titel wie „An Belinde" sind rokokohaft - wie ja auch der dazugehörige Text Elemente des Rokoko in sich einschließt. Von Hagedorn stammt ein Gedicht namens „An die schlafende Belinde", von Gleim eines namens „Belinde". Der Titel „Mit einem goldnen Halskettchen überschickt" ist der Sache nach, die er ausdrückt, rokokohaft. Die Übersendung eines Liebespfands oder einer schriftlichen Gunstbezeugung mitsamt einem Gedicht ist eine Praxis des Rokoko und der Anakreontik. Goethe läßt sie in seinem Gedicht fortleben.'® Was von den meisten frühen Goetheschen Titeln im gedruckten Gedicht gilt, daß sie nämlich konventionellen Charakters sind, das gilt von „Im Herbst 1775" in keinem Punkt. Der Titel stellt ein Novum dar, zumindest im Rahmen der gedruckten Gedichte Goethes, und zwar im Hinblick auf seine sprachliche Form und seinen Gebrauch. Gewiß ist die Datumsangabe im Titel auch vor Goethe nicht unbekannt. Doch wüßte ich keinen Fall zu nennen, in dem sie (abgesehen von der präpositionalen Einleitung) ohne weitere Ergänzung auftritt. Hinzu kommt, daß Datumsangaben im Titel meist entweder thematisch gebraucht werden wie in dem Gedicht „Von einem erschrecklichen Wetter zu Bremen / den 5. Augusti 1647" von Georg Greilinger oder rhematisch unter Bezug auf den Anlaß, dem ein Gedicht gilt, beziehungsweise unter Bezug auf die Entstehungsbedingungen eines Gedichts; so in Gottscheds Gedichttitel „Lehrgedichte. Daß der Mensch selbst an seiner Verdammung Schuld ist. Bey Gelegenheit eines Donnerwetters. 1718". Auch „Im Herbst 1775" ist ein rhematischer Titel, aber er bezieht sich nicht auf den Anlaß des Gedichts, sondern auf den Zeitpunkt seiner Niederschrift.®' Wer Vergleichsfälle sucht, kann in das Barockzeitalter zurückgehen, doch auch dort wird man nur ausnahmsweise fündig. Der Titel der außergewöhnlichen Grabschrift von Paul Fleming, der allerdings wohl nicht vom Autor selbst stammt, ließe sich ins Feld führen: „Des seligen Herrn D. PAUL FLEMINGI
80 Vgl. Goethes Bemerkung dazu im 11. Buch von „Dichtung und Wahrheit"; W A I / 28: 32. Vgl. auch Eibls Kommentar dazu; FA I / 1: 835. 81 Vgl. Weimar 1982: 123.
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Grabschrifft / So er ihm selbst drey Tage vor seinem Tode gemachet. In Hamburg den 28. Tag des Mertzen 1640." Aber in viel höherem Maße als dieser Titel, der durch die Gattungsangabe Erwartungen weckt, verhält sich Goethes Titel neutral gegenüber dem Text. Man weiß nicht, was folgen wird. Allenfalls könnte man sagen: Dadurch, daß der Titel den Zeitpunkt der Niederschrift ins Spiel bringt, der ja der Zeitpunkt von Goethes Niederschrift des Gedichts ist, ist die Identifikation der realen Person Goethe mit dem im Text redenden Ich nicht ausgeschlossen.'^ Vor dem Hintergrund der Titelkonvention im gedruckten Text muß die im Einzelfall abweichende Titellosigkeit mit gesonderter Aufmerksamkeit betrachtet werden. In zwei Fällen ist sie vergleichsweise einfach erklärt. Das Gedicht mit dem Anfangsvers „Ob ich Dich liebe weiß ich nicht", das seit Bergk Goethe zugeschrieben wird,'^ steht im Juli-Heft 1775 von Jacobis „Iris", und zwar im Anschluß an mehrere Liebesgedichte von Gleim. Jedes dieser Lieder ist entweder mit einem Titel („Der Frauentanz. Nach Her Ulrich von Liechtenstein", „Freundin aus der Wolke") oder einem Titelsubstitut („Nach eben demselben", „Nach Her Johans Hadloub") versehen. Goethes Gedicht steht separat auf einer Seite. Ohne Titel schließt es an die Liebeslieder an, scheint es ganz zu ihnen zu gehören.*'* Auch das am 9. März 1774 im „Wandsbecker Bothen" von Matthias Claudius erschienene (und später „Rezensent" genannte) Gedicht „Da hatt ich einen Kerl zu Gast" trägt keinen Titel. Es ist unter dem Rubrikentitel „Poetischer Winkel", der sich auch sonst gelegentlich im „Wandsbecker Bothen" findet, sortiert: Da hatt ich einen Kerl zu Gast, Er war mir eben nicht zur Last, Ich hatt so mein gewöhnlich Essen. Hat sich der Mensch pump satt gefressen Zum Nachtisch was ich gespeichert hatt! Und kaum ist mir der Kerl so satt. Tut ihn der Teufel zum Nachbar fuhren, Über mein Essen zu raisonnieren. Die Supp hätt können gewürzter sein. Der Braten brauner, fimer der Wein. Der tausend Sackerment! Schlagt ihn tot den Hund! Es ist ein Rezensent.®'
82 Es verwundert, daß biographische Deutungen des Gedichts wie die von Wolff o.J.; 655-658 und Düntzer 1875-1876, Bd. 2: 128-130 nicht darauf rekurrieren. 83 Vgl, Bergk 1857: 32-38. 84 Vgl. Eibls Kommentar in FA I / 1 : 846. - Vgl. auch Bergk 1857: 32. 85 F A I / 1 : 183.
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Der Rubrikentitel, unter dem das Gedicht steht, grenzt das Gedicht gegenüber seiner Umgebung ab: gegenüber den mannigfaltigen politischen Nachrichten und der einen Buchanzeige, die ihm vorangehen, und den Lotterie- und Börsenmeldungen, die ihm nachfolgen. Insofern begünstigt der Rubrikentitel die Titellosigkeit des Gedichts. Aber er macht die Titellosigkeit noch nicht begreiflich. Auch die Tatsache, daß das Gedicht als einziges Stück unter dem Rubrikentitel steht, bietet noch keine hinreichende Erklärung für die Titellosigkeit. An anderer Stelle im „Wandsbecker Bothen" sind unter der Rubrik „Poetischer Winkel" einzeln stehende Gedichte durchaus mit Titel abgedruckt.^® Nichts spricht darum daftr, daß sich ein individualisierender Gedichttitel in dieser Rubrik genau dann erübrigt, wenn in ihr nur ein Gedicht enthalten ist. Es ist nicht eindeutig zu klären, warum das Gedicht im „Wandsbecker Bothen" keinen Titel trägt. Vielleicht beruht die Titellosigkeit auf einer bloßen Zufälligkeit. Eine andere Erklärung wäre, daß Goethe das Gedicht titellos an Claudius geschickt hat und dieser es ohne Herausgeberzutat gedruckt hat - anders als Boie, der das Gedicht im Göttinger Musenalmanach 1775, wo es neben anderen Gedichten steht, unter dem Titel „Der unverschämte Gast" mitteilt.'^ Die Erklärung der Titellosigkeit des Gedichts „Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde" muß eine andere, wohl auch eine komplexere sein, als die gerade vorgetragene. Hier das Gedicht: Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde, Und fort, wild, wie ein Held zur Schlacht! Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht; Schon stund im Nebelkleid die Eiche, Ein aufgetürmter Riese, da. Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. Der Mond von seinem Wolkenhügel, Schien kläglich aus dem Duft hervor; Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr; Die Nacht schuf tausend Ungeheuer Doch tausendfacher war mein Mut; Mein Geist war ein verzehrend Feuer, Mein ganzes Herz zerfloß in Glut.
86 Vgl. Wandsbecker Bothe 1774 ( 1 6 . 3 . 1 7 7 4 und 22.3.1774). 87 Anders auch als es Goethe in dem Brief an Schönbom (1. Juni - 4. Juli 1774) getan hat. D e m Brief liegt das Gedicht mit dem Titel „Ein Gleichniss" bei. Vgl. Morris 1909-1912, Bd. 4: 3 1 f
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Ich sah dich, und die milde Freude Floß aus dem süßen Blick auf mich. Ganz war mein Herz an deiner Seite, Und jeder Atemzug fúr dich. Ein rosenfarbes Frühlings Wetter Lag auf dem lieblichen Gesicht, Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter! Und hofft' es, ich verdient' es nicht. Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe! Aus deinen Blicken sprach dein Herz. In deinen Küssen, welche Liebe, 0 welche Wonne, welcher Schmerz! Du gingst, ich stund, und sah zur Erden, Und sah dir nach mit nassem Blick; Und doch, welch Glück! geliebt zu werden. Und lieben, Götter, welch ein Glück.''
Es sind mehrere Gründe, die zur Erklärung der Titellosigkeit vorgebracht werden können. Allerdings sind sie nicht sämtlich im gleichen Maße zureichend. Man könnte die Titellosigkeit mit Platzmangel in der Zeitschrift erklären. Das Gedicht folgt zwei betitelten Gedichten („An Belinden", „Neue Liebe, neues Leben") separat auf zwei Seiten, die es vollständig ausfüllt, die ersten zwei Strophen linksseitig, die zweiten zwei Strophen rechtsseitig. Text und zur Verfügung stehender Raum stehen in so ungünstigem Verhältnis, daß die einzelnen Strophen nicht durch ein Spatium getrennt sind. Nur eine Einrückung des ersten Verses in jeder Strophe markiert auch den Strophenbeginn. Platz für einen Titel ist auf diesen beiden Seiten gewiß nicht. Das gilt auch dann, wenn der vor dem Gedicht stehende Balken, der in den anderen Gedichten Titel und Gedichttext trennt, getilgt wäre und ein möglicher Titel in kleinerer Drucktype gesetzt wäre, als es sonst in der „Iris" der Fall ist. Aber es hätte Platz für einen Titel geschaffen werden können, wenn der Seitenumbruch anders gelöst worden wäre. Auch redaktionelle Nachlässigkeit ist als Grund für die Titellosigkeit kaum anzunehmen. Gesetzt den Fall, daß Jacobi überhaupt für die Titellosigkeit des Gedichts verantwortlich ist: Warum sollte er aus Sorglosigkeit oder Mutwillen dem Gedicht keinen Titel gegeben haben, wo er doch sonst recht bemüht mit den ihm anvertrauten Texten umgegangen ist? Die Inteφunktion der Goethe-
88 FAI /1: I28f
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sehen Gedichte jedenfalls hat Jacobi mit Goethes Erlaubnis'^ unter üppiger Verwendung von Satzzeichen geregelt.'" Vielleicht, so könnte man des weiteren vermuten, wird im Druck die Nähe zur Handschrift gesucht. Zwar ist Goethes Handschrift des Gedichts nicht Uberliefert, wohl aber die Abschrift der ersten Strophe mitsamt zwei weiteren Versen aus der Hand Heinrich Kruses." Das Ganze ist titellos. Man kann annehmen, daß auch Goethes Handschrift keinen Titel enthält. Aber diese Erklärung bleibt auf halbem Wege stehen. Denn sie sagt noch nichts darüber aus, warum gerade in diesem Gedicht die Nähe zur Handschrift gesucht wird und nicht auch in anderen. Der Grund für seine Titellosigkeit, so scheint es, liegt in dem Gedicht selbst. „Erster Eindruck?", fragt Klaus Weimar, die Lektüre des Gedichts betreffend, und er antwortet: „Vielleicht so: man ist unmittelbar dabei."'^ Das Ich in dem Gedicht spricht über sich selbst, über etwas, das es in der Vergangenheit erlebt hat. Es ist ein 'redendes Ich', das über sich als ein 'erlebendes Ich' spricht.'^ Die Art seines Sprechens ist dafür verantwortlich, daß der Eindruck von Unmittelbarkeit entstehen kann. Das Ich spricht über das Vergangene so, als sei es gegenwärtig. Zwischen sprechendem Ich und erlebendem Ich scheint überhaupt keine Distanz zu bestehen. Die sprachlichen Entsprechungen daftir sind vor allem die prädikatlosen Satzkonstruktionen (z.B.: „geschwind zu Pferde", „Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!"), die die zeitliche Distanz zwischen sprechendem und erlebendem Ich aufzuheben scheinen. Auch die wahrgenommene Innen- und Außenwelt wird in den ersten Strophen durch Ausrufe und eine Metaphorik so beschrieben, wie sie in ruhiger und gelassener, retrospektiver Distanz (wahrscheinlich) nicht beschrieben würde. All dies trägt dazu bei, daß das im Gedicht Gesagte als unmittelbar erlebt und die Rede des Gedichts als unmittelbar gesprochen erscheinen. Das Gedicht, so kann man Marianne Wünsch folgend behaupten, suggeriert die Erlebnishaftigkeit des in ihm scheinbar „spontan-unmittelbar-natürlich" Ausgedrückten.(Marianne Wünsch würde sagen: In ihm ist das 'Erlebnispostulat' wirksam.) Auch das Fehlen eines Titels trägt zu der Suggestion bei. Es verhält sich nicht so wie im Volkslied oder in der Volksballade, in denen die Titellosigkeit konventionsgemäß Indiz für Mündlichkeit ist. Die Titelsetzung ist gegen die literarische Konvention mit einer bestimmten Zwecksetzung unterlassen worden. Insofern hat der Heraus-
89 Vgl. WA I V / 2 : 211. 90 Man vgl. z.B. die von Morris faksimilierte Goethe-Handschrift des Gedichts „Im Herbst 1775" (Morris 1909-1912, Bd. 5: Tafel 9) und den Iris-Druck vom September 1775. 91 Vgl. F A I / 1 : 128. 92 Weimar 1982: 22. 93 Weimar 1982: 8f 94 Vgl. Wünsch 1975: 102. - Vgl. Wünsch 1975: 124: Erlebnishaftigkeit' ist also nichts als der Name für eine Textstruktur."
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geber, als er sich dafür entschieden hat, dem Gedicht keinen Titel zu geben, Feinspürigkeit für die Eigenart des Textes bewiesen. Die Titellosigkeit des Goetheschen Gedichts ist Indiz dafür, daß der Text wie ein gesprochener, der ein gerade Erlebtes ausdrückt, verstanden werden soll. Es ist dieses keine mit literarischen Konventionen erklärbare Titellosigkeit, sondern eine für das einzelne Gedicht semantisch funktionale Titellosigkeit. Unter den vielen nicht gedruckten Gedichten der in Rede stehenden Zeit sind die meisten unbetitelt. Es sind dies neben weiteren Briefgedichten,'^ einigen Briefen beigelegten Gedichten'® und Stammbuchgedichten:'' Gedichte, die Goethe in Einzelexemplare des „Werther"" und der „Stella"" eingetragen hat, eine I n s c h r i f t , e i n e subscriptio unter einer Zeichnung"" und eine Eintragung in Mercks Z e i c h e n m a p p e . A u c h die meisten lyrischen Gedichte der Zeit sind unbetitelt: das berühmte Gedicht „Ich saug an meiner Nabelschnur", das Goethe in sein Schweizer Reisetagebuch eingetragen hat,'"^ das später „Wandrers Stumilied" betitelte Gedicht („Wen du nicht verlassest Genius") und die Gedichte, die in Kruses Handschrift überliefert sind, darunter auch das titellose Seitenstück zu „Lied, das ein selbst gemaltes Band begleitet".'"^ Aber nicht alle in der Zeit verfaßten und nicht gedruckten Gedichte sind titellos, zum Beispiel das Hochzeitsgedicht „Dem Passavant- und Schüblerischen Brautpaare. Die Geschwister des Bräutigams pp." Der Titel folgt den Konventionen der Gelegenheitsdichtung. Daß das Gedicht überhaupt einen Titel trägt, wird im Zusammenhang mit der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Textes verständlich. Das Gedicht, um das Goethe gebeten wurde, konnte den Adressaten nicht rechtzeitig übersendet werden. Es wurde dem Paar erst zu seiner goldenen Hochzeit überreicht. Der Titel kennzeichnet den ursprünglichen Anlaß des Gedichts.'"^ Auch die drei Darmstädter Oden, die so genannt werden, weil sie sich auf den Darmstädter Freundeskreis um Merck beziehen, sind betitelt („Pilgers Morgenlied / an Lila", „Elisium / an Uranien", „Fels-Weihegesang / an Psyche"). Die Titel individualisieren die einzelnen Texte, die Goethe von Wetzlar aus geschlossen nach Darmstadt geschickt hat. In zwei Fällen geschieht dies unter Verwendung eines Wortmaterials, das sich zu dem antikisierenden Stil der 95 Vgl. FA 1/ 1:153-155, 170, 187, 188. 96 Vgl. FA 1/ 1: 156, 175. 97 Vgl. FAI / 1: 162, 164, 168. 98 Vgl. FAI / 1: 157, 158. 99 V g I . F A I / 1 : 176, 100 Vgl. FAI / 1: 170. 101 Vgl. F A I / 1 : 178. 102 Vgl. F A I / 1 : 189. 103 Koetschau/Morris 1907 bringen ein Faksimile des Gedichts. 104 Vgl. F A l / 1: 127, 130-134. 105 Vgl. F A I / 1 : 8 8 4 .
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Gedichte fügt. Ein Titelwort - „Elisium" - schöpft aus dem Griechischen, ein anderes - „Fels-Weihegesang" - lebt von einem Stil, den man als gewählt oder erlesen bezeichnen kann; es ist, wie ja die Ode selbst auch, an Klopstock orientiert. Klopstock selbst hat Titel wie „Weihtrunk an die toten Freunde" oder „Morgengesang am Schöpfungsfeste" verwendet. Im Anschluß an die Titel werden die Adressaten verschlüsselt bezeichnet („an Lila", „an Uranien", „an Psyche"), an die Goethe die einzelnen Gedichte richtet. „Concerto Dramatico Composto Dal Sigr Dottore Flamminio Detto Panurgo Secondo" - so heißt ein weiteres Gedicht, das Goethe ebenfalls flir den Darmstädter Kreis geschrieben hat. Karl Eibl bezeichnet es als ein „parodistisches Capriccio".'"® Es handelt sich um ein wahrscheinlich schnell hingeworfenes, zur belustigenden Unterhaltung gemachtes Gedicht; Sprache und Inhalt sind komisch. Der Titel bereitet auf den scherzhaften Charakter des Ganzen schon dadurch vor, daß sich Goethe im Titel als zweiter Panurg bezeichnet: nach dem schelmengleichen Tunichtgut in Rabelais' komischem Roman „Gargantua und Pantagruel". Daß sich Goethe bei der Titelsetzung des Italienischen bedient, macht den Fall in seiner Lyrik zu einem Sonderfall. Er kann nicht anders als im Zusammenhang mit dem Gattungscharakter des Textes recht erfaßt werden. Das Gedicht ist eigentlich schon ein Dramolett.'"^ Es ist fur die musikalisch begleitete Aufführung vorgesehen. Im fortlaufenden Text hat Goethe einzelne Partien mit italienischen Bezeichnungen für Vokal- („Choral") und Instrumentalformen („Capriccio con Variationi") sowie Tempi („Allegretto", „Presto fugato", „Molto andante", „Allegro con spirito", „Allegro con furia") versehen. Und auch das Ganze hat er nach einem Benennungsmuster von Musikalien bezeichnet.
7. Erste Weimarer Gedichtsammlung Die erste größere, aus eigener Hand stammende und überlieferte Handschrift einer Gedichtsammlung (nach der kleinen Sammlung „Oden an Behrisch") hat Goethe in einem seiner ersten Weimarer Jahre veranstaltet. Es muß hier nicht diskutiert werden, ob sie in der zweiten Hälfte des Jahres 1777 entstanden ist (wie Julius Wahle meint'"') oder erst 1778 (woflir sich Karl Eibl ausspricht'"'). Und es muß hier auch nicht näher in Betracht gezogen werden, ob die Sammlung für Charlotte von Stein gedacht war (wovon Bernhard Suphan überzeugt
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FA 1/ 1:868. Gerhard Sauder erfaßt das Stück unter „Dramatische Arbeiten". Vgl. MA 1,1: 510-515. Vgl. Suphan/Wahle 1908: 10. Vgl. Eibl 1994: 269-275.
Erste Weimarer Gedichtsammlung
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ist"") oder es sich um die Goethesche Abschrift einer von Charlotte von Stein zusammengestellten Sammlung Goethescher Gedichte handelt (so E i b l ' " ) . Denn unabhängig von all diesen Fragen läßt sich der Titelgebrauch in dieser Sammlung beschreiben. Die Sammlung vereint 28 Gedichte und bietet einen kleinen Querschnitt der frühen Lyrik Goethes. In fast allen Fällen kann zweifelsfrei gesagt werden, daß sie vor Goethes Übersiedlung nach Weimar entstanden sind. Einzelne Gedichte sind auch schon vor der Übersiedlung in Zeitschriften oder dem „Göttinger Musenalmanach" publiziert worden. Das älteste Gedicht ist das Schlußgedicht „Zu einem gemalten Band". Es ist 1771 entstanden und im Jahr 1775 in der Zeitschrift „Iris" erschienen - dort unter dem Titel „Lied, das ein selbst gemaltes Band begleitete". Das jüngste Gedicht in der Sammlung ist „Seefahrt". Wenn man die Datumsangabe, mit dem das Gedicht unterzeichnet ist, als Hinweis auf den Tag seiner Entstehung nimmt, ist es in Weimar entstanden. Die 28 Gedichte sind sehr verschieden hinsichtlich Themen, Formen und Gattungen. Wahle gliedert sie, ohne freilich alle Gedichte explizit zu berücksichtigen, in Oden, Kunstgedichte, satirisch-humoristische Gedichte, Liebesgedichte und in eine Reihe verschiedenartiger Einzeltexte, die eine Restklasse bilden."^ Eibl macht es sich einfacher. Er faßt die ersten elf Gedichte, denen er einen Gemeinsamkeit stiftenden programmatischen Charakter zuspricht, zu einer Gruppe zusammen. Die anderen 17 Gedichte bilden keine vergleichbare Einheit. Eibl faßt sie als „Varia" zusammen."^ Von einem programmatischen Charakter der ersten elf Gedichte kann Eibl insofern sprechen, als sich in ihnen thematisch, sprachlich und metrisch ein neues Kunstverständnis ausdrückt. Es handelt sich um die berühmten freirhythmischen Hymnen des jungen Sturmund-Drang-Goethe (z.B. „Mahomets Gesang", „An Schwager Kronos", „Prometheus") sowie diejenigen Gedichte, die sich nicht des freien Rhythmus bedienen und eher der konventionellen metrischen Formensprache nahestehen, aber thematisch aus dem Geist des Sturm und Drang schöpfen, indem sie ein selbstgewisses Ich reflektieren (z.B. „Menschengefilhl", „Königlich Gebet"). Nicht jedes der 28 Gedichte fuhrt einen Titel mit sich. An zwei Stellen ersetzt eine Art von Regieanweisung den Titel („Ein lutherischer Geistlicher spricht", „Ein Reicher dem gemeinen Wesen zur Nachricht"). In beiden Fällen informiert die Regieanweisung über die redende Origo des jeweiligen Gedichts und bereitet überhaupt auf eine Rollendichtung vor. Man könnte dasselbe für „Prometheus" und „Ganymed" behaupten. Und dagegen wäre dann nichts ein-
110 111 112 113
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Suphan/Wahle 1908: 6. Eibl 1994: 2 6 9 - 2 7 5 . Suphan/Wahle 1908: 13-22. FA 1 / 1 : 912.
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zuwenden, wenn die beiden Namen die Sprecher der jeweiligen Gedichte benennen würden. Doch genau dies steht in Frage. Obgleich der Titel des Gedichts „Prometheus" die gleichnamige mythische Figur in den Mittelpunkt des Gedichts zu stellen scheint, spricht doch sehr viel dagegen, den Sprecher des Gedichts mit ihr zu identifizieren. Zu sehr erscheint der vorgegebene mythische Stoff in abgewandelter Form, als daß er noch er selbst wäre. Die höhnische Opposition gegen Zeus und die Götterwelt ist im Mythos nicht vorgeprägt. Dieser ist die Folie, vor der sich das Goethesche Gedicht entfaltet."'* Klaus Weimar schreibt in diesem Zusammenhang: „Das sprechende Ich bringt sich (...) mit dem mythischen Vorbild Prometheus in Übereinstimmung und gewinnt so (...) die gottähnliche Selbstbestimmung als Schöpfer und Geschöpf zugleich.""' Der Sprecher des Gedichts, der nach Lage der im Text gegebenen Indizien nicht identisch ist mit dem mythisch verbürgten Prometheus, setzt sich mit diesem so weit in Beziehung, daß er als eine Version des Modells Prometheus angesehen werden kann. Ähnlich verhält es sich mit „Ganymed". In dem Gedicht spricht ein enthusiastisch die Natur feierndes Ich, das im Naturerlebnis das Göttliche als Objekt seiner Sehnsucht erfährt. Dies alles ist im Mythos nicht vorgegeben. Das Aufwärtsbegehren zu Gott hat nur von fernem eine Entsprechung im mythischen Geschehen. Weimar versteht den Titel so: Der „Titel 'Ganymed' deutet an, daß - wie beim mythologischen Vorbild - nach der Himmelfahrt der Phantasie nichts als Ewigkeit kommt Es ist in diesem Verständnis nicht Ganymed, der das Gedicht spricht (und der Titel darum nicht eine Regieanweisung), sondern ein Ich, dem Ähnliches bevorsteht, wie es Ganymed im Olymp bevorsteht. Der Sprecher des Gedichts ist nicht Ganymed, aber er soll als Ganymed angesehen werden. Welches sind weiterhin die Eigentümlichkeiten der Titelgebung in dieser Sammlung? Die Titelgebung der Gedichte ist so wenig einheitlich wie es die Sammlung als Ganzes ist. Innerhalb der Uneinheitlichkeit jedoch gibt es Auffälligkeiten. Einige Titel bereiten auf Stil- und Sprechhaltung der betitelten Gedichte vor. Die Titel einiger Hymnen bereiten auf ihren antikisierenden Charakter insofern vor, als sie - ähnlich den Titeln der Darmstädter Oden - aus dem Griechischen oder dem griechischen Mythos schöpfen („An Schwager Kronos", „Prometheus", „Ganymed").
114 Vgl. Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 1:111. 115 Weimar 1982: 94. - Inka Mülder-Bach äußert einen ahnlichen Gedanken (Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 1: 1 lOf.): „Der Sprecher der Hymne (...) steht sowohl innerhalb wie außerhalb seiner eigenen mythologischen Geschichte: er bleibt ihr durch seinen Namen verbunden, aber er löst sich zugleich von ihr, indem er ihr interpretierend gegenübertritt." 116 Weimar 1982: 100.
Erste Weimarer Gedichtsammlung
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„Der neue Amadis" würde von Hoek möglicherweise als ein intertitularer Titel klassifiziert: als ein Titel, der Bezug entweder nur auf einen anderen Titel oder auch auf den betitelten Text nimmt."' Eine solche Bezugnahme kann sehr unterschiedlich funktionieren."® Ein Titel kann beispielsweise aus einem vorgegebenen Text zitieren. Ein Titel kann das Wortmaterial, aber auch das Lautmaterial eines anderen Titels variieren. Ein Titel kann außerdem Bezug nehmen, indem er ein in einem vorgegebenen Titel enthaltenes Substantiv oder einen Eigennamen erweitert. Wenn Goethes Titel in diesem Sinn Uberhaupt Bezug nimmt, dann tut er es in vergleichsweise einfacher Form: indem er auf einen vorgegebenen Titel, Wielands „Der neue Amadis", ohne Abwandlung aufbaut. Aber möglicherweise ist die Titelidentität bloß zufällig. Vielleicht bezieht sich Goethes Titel auf die Figur Amadis und nicht auf Wielands Verstext. Zu den Denkwürdigkeiten der Goetheschen Gedichtsammlung gehört gewiß das Gedicht „Vor Gericht": Vor Gericht Von wem ich's habe das sag ich euch nicht Das Kind in meinem Leib, Pfui speit ihr aus die Hure da! Bin doch ein ehrlich Weib. Mit wem ich mich traute das sag ich euch nicht Mein Schatz ist lieb und gut Trägt er eine goldne Kett am Hais Trägt er einen strohernen Hut. Soll Spott und Hohn getragen sein Trag ich aliein den Hohn, Ich kenn' ihn wohl, er kennt mich wohl Und Gott weiß auch davon. Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr Ich bitt laßt mich in Ruh, Es ist mein Kind und bleibt mein Kind, Ihr gebt mir ja nichts dazu."'
117 Vgl. Hoek 1981: 190-199. - Die mögliche Kritik, daß hier besser zu unterscheiden sei zwischen intertextuellen und intertitularen Titeln - die einen beziehen sich auf Haupttexte, die anderen auf Titel - kann man zurückweisen. Die Unterscheidung ware eine 'akademische'. Der Bezug eines Titels auf einen anderen Titel schließt im Normalfall auch den Bezug auf den betitelten Text mit ein. 118 Vgl. Bergengruen 1960: 103-108. 119FAI/I:2I9.
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Der Titel des Gedichts macht eine szenische Angabe. Insofern gleicht er einer Erscheinungsform des Nebentextes im Drama. Sodann ist zu sagen, daß es sich um eine szenische Angabe handelt, die Informationen über einen bestimmten Raum enthält. Der Titel bezeichnet einen Schauplatz und stellt ein szenisches Geschehen in Erwartung. Und in der Tat: Was in dem balladenartigen Gedicht vor sich geht, ist Bestandteil eines allerdings nicht näher ausgeführten Geschehens. In dem Gedicht spricht eine Frau. Sie ist schwanger, ohne in der Ehe zu leben. Gegen die Vertreter von kirchlicher und staatlicher Obrigkeit verteidigt sie sich mit einer Entschlossenheit, wie sie in vergleichbaren Balladen des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht zu finden ist. Das Ganze ist ein Rollengedicht; es besteht allein aus der Rede der Frau. Vor allem durch den Titel wird deutlich, daß die Rede vor Gericht gesprochen wird, daß sie eine Verteidigungsrede ist, der die Anklage von Pfarrer und Amtmann vorausgeschickt zu denken ist, und nicht etwa ein innerer Monolog oder eine in Abwesenheit eines Adressaten gesprochene Rede. Der Titel stellt ein szenisches Geschehen in Aussicht, das in dem Gedicht weitgehend ausgespart ist. Obwohl Balladen gewöhnlich erzählende Gedichte sind, ist es dennoch nicht ausgeschlossen, daß sie nur aus Figurenrede bestehen (wie „Vor Gericht"). Aber genauso wie der Gesamtcharakter des Gedichts, so weicht auch sein Titel von den in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts sich gerade erst herausbildenden Konventionen der Balladendichtung ab. In anderen Bailäden der Zeit - den Volksballaden aus dem Elsaß, Herders wenigen betitelten Musterstücken in dem „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker" oder der prototypischen Kunstballade „Lenore" von Bürger - werden die Hauptfiguren der jeweiligen Gedichte im Titel angeführt. Sie haben in dieser Hinsicht konventionsbildend gewirkt. Hätte Goethe diese Konvention befolgt, wäre der balladeske Charakter des Gedichts weniger deutlich wahrnehmbar. Er befolgt sie aber nicht. In dieser Hinsicht (und nur in dieser) kann man sagen, daß der Titel „Vor Gericht" den Gattungscharakter des Gedichts wesentlich bestimmt. Auch die Titelvariante „Verantwortung eines schwängern Mädchens", die sich in dem Titelverzeichnis von Bäbe Schulthess f i n d e t , b e l ä ß t es nicht bei der reinen Sprecherangabe. Hingegen wird in anderen Gedichten der Goetheschen Sammlung die Gattungszugehörigkeit der einzelnen Texte im Titel explizit zum Ausdruck gebracht. Es geschieht dies durch eine titelweise Gattungsangabe, mit der die Zugehörigkeit eines Textes zu einer bestimmten Gattung behauptet wird. Philippe Lejeune nennt es einen Pakt, den der Urheber eines solchen Titels mittels dieses Titels mit dem Leser s c h l i e ß t . M a n sollte aber besser davon reden, daß der Urheber mit einem solchen Titel dem Leser Imperativisch begegnet: Lies den folgenden Text als das Exemplar einer bestimmten Gattung! Freundlicher 120 Vgl. WA 1/ 1:365 und 407. 121 Vgl. Lejeune 1994: 27-38.
Erste Weimarer Gedichtsammlung
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gewendet: Der Titelurheber gibt ein Versprechen hinsichtlich dessen ab, was kommt. Im einzelnen handelt es sich um folgende Titel: Ein Gleichnis Legende Ein Gleichnis A n e k d o t e unsrer Tage Bundeslied Jägers Nachtlied
Die Spezifikationen, die in den letzten drei Titeln enthalten sind, sind insofern erheblich, als sie genauere Bestimmungen hinsichtlich des zu erwartenden Inhalts der Gedichte enthalten, sie sind aber unerheblich hinsichtlich der Bestimmung des Gattungscharakters der betitelten Texte. Titel können Informationen über den außersprachlichen Kontext eines Gedichts enthalten. Im Untertitel des Gedichts „An Schwager Kronos" heißt es: „In der Postchaise d 10 Oktbr 1774". Das ist möglicherweise die Angabe von Ort und Zeit der Erfindung des Gedichts; sie bezieht sich auf den Tag, an dem sich Goethe auf dem Weg von Darmstadt nach Frankfurt befand, nachdem er Klopstock von seiner Heimatstadt aus ein Stück auf dessen Reiseweg nach Karlsruhe begleitet h a t t e . A n d e r s als in den Gelegenheitsgedichten, die fiir eine bestimmte Gelegenheit gemacht werden, steht die Orts- und Zeitangabe in diesem Gedicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Gelegenheit, aus der heraus es entstanden ist. Aber der Untertitel leistet noch ein Weiteres. Da in dem Gedicht von einer Postkutschenfahrt die Rede ist, die in feurigem Tempo und nur mit kurzer Unterbrechung unternommen wird und schließlich im Orkus endet, wird durch den Untertitel nicht nur der situative Kontext des Gedichts mitgeteilt, sondern auch eine Entsprechung zwischen der Postkutschenfahrt im Gedicht und der realen, über die paratextuell informiert wird, suggeriert: Die Postkutschenfahrt wird als eine erlebte hingestellt. Was in der ersten Fassung von „Willkomm und Abschied" die Titellosigkeit leistet, leistet hier die Ortsund Zeitangabe. Sie erweckt den Anschein von Erlebnishaftigkeit des im Gedicht Gesagten. Das kleine Gelenk zwischen der Welt des Dichters und der Welt des Textes, das der Titel bildet, stellt im Fall von „An Schwager Kronos" eine Entsprechung zwischen diesen Welten her. Auch das Gedicht „Seefahrt" ist datiert. Die Datierung schließt an das Gedicht an: „d. 11 Sept. 76". Der Erstdruck des Gedichts in der Zeitschrift „Deutsches Museum" (September 1777) setzt die Datierung als Überschrift: „G. den 11. September 1776". Karl Eibl sieht in der Datumsangabe des Erstdrucks mehr als nur die Datierung der Niederschrift des Gedichts; er sieht auch eine 122 Vgl. Goethes Leben 1982-1996, Bd. I: 684.
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Entsprechung zwischen dem im Gedicht ausgedrückten Gedanken und der Situation des Autors; diese Entsprechung sei im Titel begründet: „Die Überschrift im 'Deutschen Museum' läßt vermuten, daß auch die Publikation eine persönliche Botschaft an das literarische Publikum war, von dem die Berufting nach Weimar anhaltend diskutiert wurde."'^^ Der Blick auf die Textgeschichte des Gedichts kann ein Argument ftir diese Vermutung gewähren. Die erste, mit Datumsangabe in Titelposition versehene Fassung des Gedichts (gesetzt den Fall, sie ist autorisiert und dem Gedicht nicht aufgrund eines Versehens seitens des Setzers vorangestellt worden) steht in größerer zeitlicher Nähe zu Goethes Wechsel nach Weimar als die zweite Fassung, die mit „Seefahrt" betitelt ist und die eine Datumsangabe am Ende mit sich führt. Darum kann man wohl auch sagen, daß das Thema des Gedichts - die mit Hoffnung auf eine glückliche Reise verbundene, jedoch von widrigen Winden und Sturm begleitete Seefahrt des im Herzen durch die erlebten Unbilden nicht zu erschütternden Schiffers -, als die erste Weimarer Gedichtsammlung entstand, nicht mehr von unmittelbarer biographischer Bedeutung war. Weil die Erfahrung der nicht in jedem Punkt kalkulierbaren Wechselhaftigkeit und Veränderung im Leben fur Goethe bereits historisch geworden ist, ist die ursprüngliche Überschrift des Gedichts durch „Seefahrt" ersetzt worden. Während sich dieser spätere Titel thematisch auf das Gedicht bezieht (und nichts anderes besagt als: folgendes Gedicht handelt von einer Seefahrt), bezieht sich der frühere Titel rhematisch auf das Gedicht und läßt sich wie folgt übersetzen: Das folgende Gedicht ist am 11. September 1776 niedergeschrieben worden. Wenn man Eibl folgt, kann man hinzufügen: Und die Seefahrt, von dem das Gedicht spricht, ist ein Bild ftir die Situation des Autors zu dieser Zeit. Die Angabe unter dem Gedicht in seiner zweiten Fassung ist hingegen kaum etwas anderes als die Datierung seiner Niederschrift. Der biographischen Deutbarkeit der zweiten Fassung des Gedichts ist durch die Hintanstellung der Datierung nicht der Boden entzogen worden, aber sie ist nur von nachrangiger Bedeutung.
8. Bilanz Viele Gedichte des jungen Goethe sind titellos. Es steht dies mit der Mündlichkeit im Zusammenhang, die in der einen oder anderen Weise in fast allen diesen Gedichten gesucht wird. Das gilt insbesondere für die Lieder in Goethes Singspielen, die zwei (von Fassung zu Fassung verschiedenen) Lieder im „Götz von Berlichingen"'^'* und natürlich auch für diejenigen Lieder im „Urfaust", die von 123 F A I / l : 9 3 1 f . 124 In der 1773 im Selbstverlag erschienenen Fassung singt Liebetraut am Bamberger Hof das rokokohafte Lied „Mit Pfeilen und Bogen" (das das im „Urgötz" von 1771 enthaltene Gedicht
Bilanz
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Margarete, und diejenigen, die von Mephistopheles und den Studenten (in der Szene „Auerbachs Keller in Leipzig") gesungen werden. Während die Titellosigkeit in all diesen Gedichten die Fiktion von Mündlichkeit markiert, beruht diejenige der vielen Briefgedichte auf der Nähe zur Mündlichkeit. Die Titellosigkeit der Stammbuchgedichte beruht auf der Privatheit ihres Gebrauchs. Im übrigen ефгоЫ der junge Goethe in seinen Gedichten dort, wo er ihnen Titel gibt, die Möglichkeiten der Titelsetzung in mehrfacher Hinsicht. Dreierlei Gebrauchsweisen des Titels sind hervorzuheben. Goethe setzt viele Titel in Abhängigkeit von literarischen Usancen der Zeit. Das gilt zum Beispiel fiir viele Gedichte des Rokoko. Andere Titel sind mit Rücksicht auf den Ensemblecharakter mehrerer, in einen Zusammenhang gestellter Gedichte gesetzt. So verhält es sich beispielsweise im Buch „Annette" und in den Volksballaden aus dem Elsaß. Wieder andere Titel markieren die Gattungszugehörigkeit von Texten. Das gilt trivialerweise in all den Fällen, in denen eine Gattung titelweise beim Namen genannt wird („Madrigal", „Ode"). Es gilt aber auch in den Fällen, in denen die Titel den Gattungscharakter wenn nicht bezeichnen, so doch andeuten. Beispiele geben die Volksballaden aus dem Elsaß. Goethes lyrische Produktion setzt unter Orientierung an einer vorgegebenen literarischen Welt ein. Goethe bedient sich in seinen Anfängen konventioneller literarischer Muster. Auch seine Titelpraxis im Gedicht ist von Mustern geprägt. Erst vor diesem Hintergrund entwickelt Goethe seit seiner Straßburger Zeit eine neuartige Form lyrischen Sprechens. Die Neuartigkeit betrifft auch die Titelpraxis. Die Titelpraxis des jungen Goethe war für das anonyme Publikum weitgehend aus dem einfachen Grund nicht erkennbar, daß der größte Teil seiner Lyrik nicht oder doch zunächst nicht publiziert wurde. Seit seiner Zeit in Leipzig drängte Goethe ein Unbehagen gegenüber dem Medium des Drucks. Wenn überhaupt etwas veröffentlicht wurde, handelte es sich fast immer um konventionelle und selten um innovatorische Lyrik. Seine Neuerungen waren im wesentlichen nur für eine private Öffentlichkeit bestimmt. Noch am 12. Juli 1786 schreibt Goethe in einem Brief an Jacobi: „Jetzt plagt michs ein wenig daß ich meine Schrifften herausgeben muß. Es ist mir von jeher eine unangenehme Empfindung gewesen, wenn Dinge, die ein einzelnes Gemüth, unter besondern Umständen beschäflftigten, dem Publiko hingegeben werden sollen."'^^ Aber dieser retrospektiv gesagte Satz stammt aus einer Zeit, in der sich Goethes Skepsis gegenüber dem Druck schon aufzulösen begann - wenigstens zeitweilig.
„Berg auf und Berg ab" ersetzt), und Georg singt im Stall das fingierte Volkslied „Es fing ein Knab ein Vögelein" (das im „Urgötz" mit dem Vers „Es fing ein Knab ein Meiselein" beginnt). 125 WA I V / 7 : 243.
IV. Weimar/Italien 1. Vermischte Gedichte (1789) Nicht alle Gedichte, die Goethe nach seiner Übersiedlung nach Weimar und bis zu seiner heimlichen Abreise nach Italien im September 1786 verfaßt hat, sind überliefert. Das ist mit dem Umstand in Verbindung zu bringen, daß Goethe in dieser Zeit kaum ein Gedicht publiziert hat. Er hat sie in Stammbücher eingetragen, Briefen beigelegt oder als Briefe formuliert. Fast jedes der überlieferten Gedichte steht im Zusammenhang mit dem privaten Freundeskreis in Weimar, ein großer Teil wird durch Beilagen zu Briefen an Frau von Stein gebildet, darunter die berühmte Liebesdichtung mit dem Anfangsvers „Warum gabst du uns die Tiefen Blicke" und das Gedicht „An den Mond". Außerdem sind aus dieser Zeit Casualdichtungen erhalten: Huldigungs-, Begrüßungs- und Abschiedsverse.' Die Tatsache, daß seine Lyrik in dieser Zeit fast ausschließlich im privaten Kreis lebt, ist wohl auch als Resultat von Goethes Aversion gegen das kommerzielle Verlagswesen zu begreifen. Seine Erfahrungen mit den vielen unrechtmäßigen Drucken seiner Werke, darunter der Himburgsche Druck von „Goethes Schriften" (1775/1779), haben Goethe satirisch auf das Verlagswesen seiner Zeit reagieren^ und ihn im übrigen publizistisch fast ganz verstummen lassen. Erst als durch Himburg erneut eine Ausgabe der Goetheschen Schriften geplant wurde, hat sich Goethe, um dem Berliner Verleger zuvorzukommen, von Bertuch dazu anregen lassen, eine Ausgabe seiner Werke zu veranstalten. Die Arbeiten an dem achten Band von „Goethe's Schriften", der 1789 bei Göschen erschienen ist und neben kleinen dramatischen Stücken die
Kaum eines der Gedicht ist betitelt. Nur die gedruckten Dichtungen tragen Titel (Vgl. FA I / 1: 258, 262, 269). Bei anderen Gedichten, deren Erstfassung nicht erhalten ist, kann nicht eindeutig entschieden werden, ob die Titel schon von vornherein feststanden oder erst im Verlauf der Überlieferungsgeschichte entstanden sind. Im übrigen treten Titel vielfach dann auf, wenn sie den Adressaten eines Gedichts benennen („An den Geist des Johannes Sekundus", „An den Mond", „Dem Schicksal", „Deinem Schreibtische") oder über den Kontext informieren, in dem das Gedicht steht („Mit einer Hiazynthe"). - Die Erklarungsmuster für die Titellosigkeit gehen genauso wie die fìir die Titelsetzung nicht über das hinaus, was schon im Kapitel über den jungen Goethe gesagt wurde. Zum Beispiel in dem dramatischen Stück „Das Neueste von Plundersweilern" ( 1 7 8 1 ) und in dem Spottgedicht „Der vierte Teil meiner Schriften. Berlin. 1779 bei Himburg."
Vermischte Gedichte ( 1789)
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„Vermischten Gedichte" enthält, fallen hauptsächlich in die Zeit von Goethes erster italienischer Reise. Der Titel der mehrbändigen Werkausgabe - „Goethe's Schriften" - ist bedenkenswert nicht so sehr, weil der authentische Name des Autors ein Teil von ihm ist, sondern vielmehr, weil die Angabe im Titel den Vornamen vermeidet. Das ist nicht nur im 18. Jahrhundert, sondern bis heute ungewöhnlich. Die Titelblattsammlung von Alfred Estermann und Hans-Albrecht Koch enthält nur ganz wenige Fälle, in denen der authentische Automame um den Vornamen verkürzt ist.^ „Wallenstein" fuhrt in der Ausgabe von 1800 als Autornamen „Schiller" mit sich. „Der gute Mensch von Sezuan" erscheint in der SuhrkampAusgabe von 1953 mit dem Automamen „Brecht". In dem Titel „Goethe's Schriften" - so Arnold Rothe - spiegelt sich die große Bekanntheit des Autors und die Unverwechselbarkeit seines Namens.'' Estermann und Koch sprechen in ähnlichem Zusammenhang vom Nachnamen als einem Markenartikel.' Der vierzigjährige Goethe war nach dem Erfolg des „Götz" und vor allem des „Werther" unstreitig eine Berühmtheit im literarischen Leben seiner Zeit. Anders als der Gesamttitel der Ausgabe bildet der Titel „Vermischte Gedichte" keinen Sonderfall. 1758 sind in Berlin und Leipzig anonym „Vermischte Gedichte eines Franzosen" erschienen. „Vermischte Gedichte" gibt es von Christian Fürchtegott Geliert (1770) und von Karl August Vamhagen von Ense (1816). „Vermischte Gedichte" - der Titel verspricht eine Vielzahl von Texten und deren Verschiedenartigkeit; sie gehören weder nur einer Gattung zu, noch sind sie thematisch oder sprachlich-stilistisch homogen gestaltet.^ Die Gedichte, die in Goethes Sammlung enthalten sind, lösen das Versprechen, das der Titel gibt, ein. Es finden sich liedartige Gedichte, Hymnen, Epigramme und Balladen, es finden sich Rokoko-Gedichte und Gedichte des Sturm und Drang. Goethe hat auf die Gedichtsammlung, die er verschiedentlich, da sie ihm als Bilanz seines bisherigen lyrischen Schaffens galt, als „Summa Summarum" bezeichnet hat, ^ sehr viel Sorgfalt gewendet. Goethes Sorgfalt bei der Einrichtung galt der Überarbeitung, der 'Feilung'* einzelner Gedichte, die zum Teil 3 4 5 6
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Vgl. Estermann/Koch 1978. Vgl. Rothe 1 9 8 6 : 3 8 7 . Vgl. Estermann/Koch 1978: XII. "Vermischte Gedichte" ist nur von ungefähr ein jüngeres Äquivalent für das noch im 17. Jahrhundert gebräuchliche „Sylvae" (oder „Silvae"). Unter diesem Ausdruck, der sich von einer entsprechenden Sammlung des Statius herleitet, werden zwar auch verschiedenartige Gedichte zusammengefaßt (z.B. bei Jacob Balde), aber nur solche, die nicht den ranghohen lyrischen Gattungen der Zeit wie zum Beispiel dem Sonett zugehören. Für Martin Opitz fallen vor allem Gelegenheitsdichtungen unter die Sylven (vgl. Opitz 1978: 3 6 8 f ) . Daß aber auch geistliche Dichtungen unter sie fallen können, zeigt das Werk von Paul Fleming. Vgl. WA 1 / 3 2 : 273 und WA I V / 9 : 44. A m 12. September 1788 schreibt Schiller an Körner: „Jetzt arbeitet er an Feilung seiner Gedichte " (Graf 1967, Bd. I: I I I ) .
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ganz erhebliche Veränderungen erfahren haben. Auch in die Titelsetzung hat Goethe eingegriffen. In einer großen Anzahl von Gedichten sind die ursprünglichen Titel verändert worden. Hier die Mehrzahl der neu gefundenen Titel (und in Klammem die älteren Fassungen mitsamt der Angabe über ihr erstes Auftreten): Die schöne Nacht (Die Nacht; Neue Lieder) Wechsel (Unbeständigkeit; Neue Lieder) Mailied (Maifest; Iris 1775) Mit einem gemalten Bande (Lied, das ein selbst gemaltes Band begleitete; Iris 1775) Mit einem goldnen Halskettchen (Mit einem goldnen Halskettchen überschickt; Iris 1775) An Lottchen (Brief an Lottchen; Teutscher Merkur 1776) Bundeslied (Bundeslied einem jungen Paar gesungen von Vieren; Teutscher Merkur 1776) Herbstgefühl (Im Herbst 1775, Iris 1775) Jägers Abendlied (Jägers Nachtlied; Teutscher Merkur 1776) Der Fischer (Das Lied vom Fischer; Herder: Volkslieder 1779) Einschränkung (Dem Schicksal; Brief an Lavater vom 3.8.1776) Mut (Eislebens Lied; Teutscher Merkur 1776) Liebebedürfhis (An den Geist des Johannes Sekundus; Einzelmanuskript vom 2. 11. 1776) An Schwager Kronos (An Schwager Kronos. In der Postchaise d 10 Oktbr 1774; Erste Weimarer Gedichtsammlung) Philomele (Die Nachtigall; Brief an Charlotte von Stein vom 26. 5. 1782) An die Zikade (An die Heuschrecke; Tiefurter Journal 1781) Künstlers Abendlied (Lied eines physiognomischen Zeichners; Lavater: Physiognomische Fragmente 1775) Kenner und Enthusiast (Der Kenner; Musenalmanach für 1776) Monolog des Liebhabers (An Kenner und Liebhaber; Teutscher Merkur 1776) Guter Rat (Guter Rat auf ein Reisbrett auch wohl Schreibtisch etc.; Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche 1775) Weitere Titeländerungen sind als Korrekturen in die handschriftlichen Hefte (H^ und H") eingetragen, die den gedruckten „Vermischten Gedichten" entstehungsgeschichtlich vorhergehen. Vermutlich handelt es sich um Korrekturen, die im Zuge der Erstellung der Druckvorlage entstanden sind. Hier die Titel (und in Klammern die entstehungsgeschichtlich älteren Varianten): Erster Verlust (Der erste Verlust) An die Entfernte (Feme Lieder) Anliegen (Wunsch) Geweihter Platz (Der geweihte Platz)
Vermischte Gedichte (1789)
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Es sind zwei Mechanismen, die in den Titeländerungen wirksam sind. Einer von ihnen ist der der sprachlichen Reduktion. Einige neu geftindene Titel zeichnen sich gegenüber ihrer Vorstufe durch Verkürzung des Sprachmaterials aus. Neben den Verkürzungen der einfachsten Art (aus „Brief an Lottchen" wird „An Lottchen"; aus „Der erste Verlust" wird „Erster Verlust"), die, indem sie das Entbehrliche tilgen, die Konzentration auf das Wesentliche suchen, gibt es solche Verkürzungen, die semantisch Bedeutsames tilgen. In dem Titel „Bundeslied" taucht nicht wie in der früheren Fassung der Zusatz „einem jungen Paar gesungen zu Vieren" auf Mit diesem Titel ist das Gedicht zwar immer noch als Hochzeitsgedicht erkennbar (dies auch gegen Goethe, der sich des Gedichts in einem Schema zu „Dichtung und Wahrheit" als eines Geburtstagsliedes erinnert'), aber der persönliche Bezug ist ihm genommen. Mit den „Vieren" sind Goethe selbst, sein frühe Geliebte Anna Elisabeth Schönemann, der Komponist Johann André und dessen Frau gemeint.'" Ähnliches gilt für „An Schwager Kronos". Die Tilgung der Orts- und Zeitangabe vermeidet die Beziehbarkeit des Gedichts auf die individuelle Situation, die dem Gedicht möglicherweise oder tatsächlich zugrundeliegt. Die Texteingriflfe sind unterschiedlich verstanden worden. Hans Keipert sieht in der Beseitigung des Subjektiven einen Ausdruck von „Goethes Streben nach Humanität"." Terence James Reed sieht darin eine in den achtziger Jahren sich abzeichnende Tendenz Goethes, in den Gedichten vorrangig ein Allgemeines ausdrücken zu wollen,'^ Reiner Wild spricht von einer „Tendenz zur Objektivierung".'^ Der zweite Mechanismus ist der der Ersetzung eines Titels durch einen anderen.''* Diese wird beispielsweise um der stilistischen Abwandlung eines vorgegebenen Titels willen durchgeführt. Über die genaueren Gründe fiir die jeweilige Variation ist von Fall zu Fall zu entscheiden. „Philomele" wird um der fremdsprachlichen Wortform willen, die im Unterschied zu seiner deutschen Entsprechung auch mythisch gefärbt ist, gewählt worden sein. Die Titelersetzung kann aber auch der Anpassung eines Titels an einen veränderten Gedichttext dienen. Das ursprünglich „An den Geist des Johannes Sekundus" betitelte Gedicht erscheint in der Sammlung von 1789 vor allem auch darum unter anderem Namen („Liebebedürfhis"), weil in dieser Fassung der Bezug auf den neulateinischen Dichter Johannes Secundus getilgt ist. Ein weiterer Grund für die 9 10 11 12 13 14
Vgl. W A 1 / 2 9 : 215. Vgl. FA 1 / 1 : 8 9 6 . Keipert 1933: I I I . Vgl. Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 1: 6-8. Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 1: 220. Das Produkt der Titelersetzung ist nicht mit dem zu verwechseln, was in dieser Arbeit als Titelsubstitut bezeichnet wird (vgl. Kapitel II.2.1.). Ein Titelsubstitut tritt an die Stelle eines Titels, ohne selbst Titel zu sein. Bei dem Vorgang der Titelersetzung tritt ein Titel an die Stelle eines anderen.
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Weimar/Italien
Ersetzung e i n e s Titels liegt darin, daß mit d e m n e u e n Titel auf einen anderen A s p e k t d e s G e d i c h t s vorbereitet w e r d e n soll. D a z u f o l g e n d e s B e i s p i e l : Einschränkung Ich weiß nicht was mir hier gefällt. In dieser engen, kleinen Welt Mit holdem Zauberband mich hält? Vergeß' ich doch, vergeß' ich g e m . Wie seltsam mich das Schicksal leitet; Und ach! ich fühle, nah' und fern Ist mir noch manches zubereitet. О wäre doch das rechte Maß getroffen! Was bleibt mir nun, als eingehüllt. Von holder Lebenskraft erfüllt. In stiller Gegenwart die Z u k u n f t zu e r h o f f e n ! " D i e ursprüngliche F a s s u n g in e i n e m B r i e f an Lavater lautet w i e folgt: Dem Schicksal W a s weiß ich was mir hier gefällt In dieser engen kleinen Welt Mit leisem Zauberband mich hält! Mein Carl und ich vergessen hier Wie seltsam uns ein tiefes Schicksal leitet Und, ach ich ftihls, im Stillen werden wir Zu neuen Szenen vorbereitet. Du hast uns lieb du gabst uns das Gefühl: Daß ohne dich wir nur vergebens sinnen. Durch Ungeduld und glaubenleer Gewühl Voreilig dir niemals was abgewinnen. Du hast fur uns das rechte Maß getroffen In reine Dumpfheit uns gehüllt, Daß wir, von Lebenskraft erfüllt. In holder Gegenwart der lieben Zukunft h o f f e n . "
D i e spätere F a s s u n g ist kein n e u e s Gedicht. D e r Wortlaut der früheren ist in ihr, o b w o h l stark verändert, i m m e r n o c h erkennbar. A u c h thematisch sind b e i d e F a s s u n g e n einander ähnlich. In b e i d e n G e d i c h t e n reflektiert der fiktive Sprecher s e i n e g e g e n w ä r t i g e Lage. G l e i c h w o h l sind d i e U n t e r s c h i e d e z w i s c h e n b e i d e n
15 FA 1/ 1:305. 16 FAI / 1:249.
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Fassungen groß. Der Bezug auf Carl August und Goethe; daneben die ehrerbietige Geste gegenüber dem im Gedicht Angesprochenen, dem der Großherzog und der Dichter die Gewißheit verdanken, im rechten Maß zu leben - das sind die Bestimmungsstüciie in der ersten Fassung. In der zweiten Fassung hingegen spricht ein Ich, über dessen Identität nichts zu erfahren ist. Ein Du wird nicht angesprochen. Nicht mehr die Gewißheit, sondern nur noch die Hoffnung, im rechten Maß leben zu können, wird ausgedrückt. Der Kontrast zwischen den Fassungen ist auch den Titeln ablesbar. Der Titel „Dem Schicksal" weist auf eine Kraft, der sich zumindest das bisherige Leben verdankt. Der Titel „Einschränkung" rückt eine Devise, ein Lebensmotto ins Zentrum, das Orientierung und Maß geben will. Der Titel „Wechsel" des ursprünglich „Unbeständigkeit" genannten Gedichts läßt kaum noch ein Gedicht des Rokoko erwarten. Die Ersetzung von „Maifest" durch „Mailied" nimmt dem Gedicht die mögliche Beziehbarkeit auf eine mutmaßlich bestimmte F e i e r . Ä h n l i c h e s gilt für „Herbstgefiihl": Herbstgefühl Fetter grüne, du Laub', A m Rebengeländer Hier mein Fenster herauf; Gedrängter quellet, Zwillingsbeeren, und reifet Schneller und glänzend voller. Euch brütet der Mutter Sonne Scheideblick; euch umsäuselt D e s holden Himmels Fruchtende Fülle; Euch kühlet des Mondes Freundlicher Zauberhauch, Und euch betauen, ach! Aus diesen Augen Der e w i g belebenden Liebe Vollschwellende Tränen.
Die erste Fassung des berühmten Gedichts heißt „Im Herbst 1775". Der Titel der späteren Fassung löst das Gedicht zumindest von zwei Verstehensmöglichkeiten: daß es im Herbst 1775 verfaßt worden ist (was im übrigen entstehungsgeschichtlich als gesichert gelten kann) oder daß es über etwas spricht, was sich im Herbst 1775 abspielt (was als weniger zwingend erscheint). Der Titel
17 Vgl. Keipert 1933: 108. 18 F A I / 1:298.
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„Herbstgefiihl" meidet im Unterschied zu seiner Vorgabe Bestimmtheit in der zeitlichen Angabe. Neben der Anpassung eines Titels an einen geänderten Gedichttext und der semantischen Verschiebung bei vollständig oder doch wesentlich bestehen bleibendem Gedichttext ist noch ein drittes Motiv für eine Titelersetzung zu nennen. Gemeint sind solche Titelvariationen, die aus Rücksicht auf den Zusammenhang, in dem die jeweiligen Gedichte stehen, vorgenommen werden. Die Sorgfalt, mit der Goethe die Publikation seiner Gedichte vorbereitet hat, gilt neben der Überarbeitung der Gedichte auch ihrer Anordnung. „Die Vermischten Gedichte zum letzten Bande habe ich auch schon gesammelt und meist zusammengeschrieben; doch will auch dieser achte Band wohl ausgedacht und ausgeziert seyn", schreibt Goethe am 9. Februar 1788 an Göschen." Und an Herder schreibt er am 1. März 1788: „Zur Stellung der verschiedenen kleinen Gedichte habe ich mir deine Sammlungen der zerstreuten Blätter zum Muster dienen lassen und hoffe zur Verbindung so disparater Dinge gute Mittel gefunden zu haben, wie auch eine Art, die allzu individuellen und momentanen Stükke einigermaßen genießbar zu machen.''^" Von Herders „Zerstreuten Blättern" waren bis 1787 drei Bände, jeweils als „Sammlungen" bezeichnet, erschienen. „Die Eintheilung in Sammlungen mag daher Goethe aus Herder entnommen haben", stellt Wilhelm Scherer fest.^' Ebenso mag Herder für Goethe ein Vorbild bei der Anordnung der Gedichte gewesen sein. Was Herder nämlich in den „Zerstreuten Blättern" ефгоЫ hat, die Zusammenrückung motivisch verwandter oder gegensätzlicher Gedichte,^^ das hat auch Goethe praktiziert. Über die Anordnung der „Vermischten Gedichte" ist verschiedentlich nachgedacht worden. Scherer erkennt zumindest in der ersten Sammlung der Gedichte einen „epischen Faden".^^ In der Abfolge der Gedichte erkennt er aufeinanderfolgende biographische Situationen gespiegelt. In diesem Sinn gliedert Scherer, ohne zu verkennen, daß einzelne Gedichte sich in diese Abfolge nicht einpassen lassen, die vorwiegend gereimten Gedichte nacheinander in die Gruppen „Kindliche Spiele", „Jugendliche Schmerzen", „Reflexionen", „Glück ohne Ruh" und „Friede". In der zweiten Sammlung kann Scherer allerdings keinen 'epischen Zusammenhang' erkennen. Die Gedichte in dieser Sammlung sind weitgehend ungereimt, Hymnen und Epigramme finden sich. Einige Gedichte thematisieren die Kunst. Erst am Ende der zweiten Sammlung treten wieder gereimte Gedichte auf gipfelnd in den beiden Schlußgedichten, die sich wohl aufgrund ihrer Länge auch dadurch vom übrigen abheben, daß ihre Titel
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WA I V / 8 : 342. WA 1 / 3 2 ; 289. Scherer 1883: 71. Vgl. Scherer 1883: 71-73. Scherer 1883: 69 und 73. - Regine Otto spricht von einer locker chronologisch-genetischen Folge. Vgl. Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 1: 19.
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auf jeweils separaten Blättern gedruckt sind („Erklärung eines alten Holzschnittes vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung", „Auf Miedings Tod"). Im Fall von „Auf Miedings Tod" wird der Titel sogar nicht nur auf ein separates Blatt, sondern noch einmal vor die erste Strophe gesetzt - ein Fall von doppelter Titelsetzung, der einen emphatischen Akzent auf das schon durch Stellung und Thema vom übrigen sich abhebende Gedicht legt. Elisabeth Reitmeyer hat Scherers Beobachtungen im wesentlichen bestätigt und im übrigen verfeinert, indem sie nicht nur die Reihenfolge der Gedichte, sondern auch ihre Anordnung im Druck näherhin zu bestimmen versucht hat.^'* Als Beispiel für die Bedeutung der Gedichtsammlung wird in der GoetheLiteratur mehrfach auf das Epigramm „Herzog Leopold von Braunschweig" hingewiesen,^' das zu dem vorhergehenden Gedicht „Das Göttliche" in demselben Verhälmis steht wie das Besondere zum Allgemeinen. Goethe selbst hat in einer Druckanweisung auf diese Anordnung gedrungen. Das Epigramm solle gegenüber dem Ende des Gedichts „Das Göttliche" stehen. In seinem Brief an Göschen vom 28. Oktober 1788 heißt es: „Bey zwey einzigen Gedichten, welche auf einander folgen, möchte eine Schwierigkeit entstehn, welche aber zu heben ist. Die Gedichte: G r ä n z e n d e r M e n s c h h e i t p. 116 und das G ö t t l i c h e p. 118 nehmen f ü n f Seiten ein. Sollten sie, wie ich vermuthe, im Druck nicht auf 5 Seiten gehn; so müssen sie beyde um eine Seite ausgedehnt werden, damit sie s i e b e n Seiten füllen und das Epigramm H e r z o g L e o p o l d gegen das Ende des vorhergehenden Gedichts über zu stehen komme, auch alle Epigramme so gegeneinander über stehen, wie sie im Manuscripte geschrieben sind. Hieran ist mir s e h r viel gelegen, und ich bitte also g e n a u darauf acht zu haben und wenn sich ein Hindemiß zeigte mir es zu schreiben."^^ Andere Fälle sind diesem zur Seite zu stellen. Auf einer Seite (Seite 160 der Ausgabe von 1789) stehen nacheinander die komplementären Gedichte „Hoffnung" und „Sorge". Hier kommt auch schon die Titelsetzung ins Spiel, denn die Zusammengehörigkeit der Gedichte wird doch durch das Verhältnis der Titelwörter wenigstens angedeutet. In diesem Sinn ist ebenfalls die Zusammengehörigkeit der aufeinanderfolgenden Gedichte „Prometheus" und „Ganymed" angedeutet: dadurch, daß in jedem Titel ein mythisch vorgeprägter Name als Titelwort gebraucht wird. Die Bedeutung der Titelgebung im Zusammenhang mit der Anordnung der Gedichte ist insbesondere in solchen Fällen erkennbar, in denen ein Titel um der Ensemblebildung willen verändert worden ist. Der Titel „Lied, das ein selbst gemaltes Band begleitete" ist nicht nur der Verkürzung wegen in „Mit
24 Vgl. Reitmeyer 1935: 48-57. - Auch Karl Eibl (FA 1 / 1: 1002-1007) und Regine Otto (GoetheHandbuch 1996-1999, Bd. 1: 18-21) haben sich in diesem Sinn zu dem Thema geäußert. 25 Vgl. z.B. FA I / 1: 1049f. und Boyle 1995ff., Bd. 1: 702. 26 WA I V / 18:33f.
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einem gemalten Bande" verwandelt worden, sondern auch aus dem Grund, daß er in dieser Formulierung mit dem Titel des nachfolgenden Gedichts „Mit einem goldnen Halskettchen" ein Paar bildet (das aus demselben Grund aus „Mit einem goldnen Halskettchen überschickt" hervorgegangen ist). „Kenner" ist in „Kenner und Enthusiast" variiert worden, um mit „Kenner und Künstler" ein auch im Titel erkennbares Paar bilden zu können. Aus „Lied eines physiognomischen Zeichners" ist „Künstlers Abendlied" geworden. Der neue Titel stellt einen Bezug zu „Künstlers Morgenlied" her. Konzentration bei der Titelformulierung, Auflösung der konkreten Bindung eines Gedichts an eine bestimmte Situation oder eine bestimmte Person und Indienststellung für das Gedichtensemble - das sind die wesentlichen Kennzeichen der Titelvariationen, die Goethe bei der Zusammenstellung der „Vermischten Gedichte" vorgenommen hat. Neun Gedichte sind überhaupt erst bei der Aufnahme in die „Vermischten Schriften" getauft worden. Es handelt sich entsprechend der Reihenfolge ihres Auftretens in den „Schriften" um folgende Titel: Willkomm und Abschied Auf dem See Geistes-Gruß Wonne der Wehmut Erlkönig Nachtgedanken Ferne An Lida Künstlers Abendlied Die Gedichttaufen sind das Resultat der Einbindung der Texte in einen größeren publizistischen Zusammenhang. Der Titel „Erlkönig" ist dabei außerdem (wie der Titel „Der untreue Knabe") Resultat eines Medienwechsels, denn in dem Singspiel „Die Fischerin" (1782), in dem die Ballade eingangs von Dortchen gesungen wird, hat sie um der Mündlichkeit in der Fiktion des Textes willen keinen Titel. Fast alle in den „Vermischten Gedichten" neu gefundenen Titel sind einfachster thematischer Art - sie zielen auf den Kemgedanken oder ein Kernmotiv der jeweiligen Gedichte. Wenn man Eckhardt Meyer-Krentler folgt, dann hat es allerdings mit dem Titel „Willkomm und Abschied" etwas Besonderes auf sich. Er bringt nach Meyer-Krentler eine semantische Komplexität in das entsprechende Gedicht, die es in der unbetitelten Fassung nicht hat. In der Forschungsliteratur zu diesem Gedicht wird der Titel vielfach nur auf die dritte und die vierte Strophe bezogen, in denen von der Begegnung und Trennung zweier
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Liebender die Rede ist.^^ Und in der Tat ist der Bezug des Titels auf das Wilikommenheißen und den Abschied der zwei Liebenden plausibel. Mit dieser Bedeutung sei aber, so Meyer-Krentler, noch eine weitere verkettet.^' Der Ausdruck „Willkomm und Abschied" ist in der Sprache des Rechts und des Strafvollzugs vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts geläufig. Er zielt auf einen Usus des Strafvollzugs, nämlich den des Auspeitschens bei Antritt einer Gefängnisstrafe beziehungsweise bei der Entlassung aus dem Gefängnis. Diese Prügelpraxis, die in zahlreichen zeitgenössischen Berichten dokumentiert wird, hat bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend keine gesetzliche Grundlage. Erst in dem „Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuchs fiir die Preußischen Staaten" von 1786 wird sie vorgesehen. Dort wird auch deutlich, daß es vor allem sittliche Vergehen sind, die neben der Haftstrafe mit dem „Willkomm und Abschied" zu bestrafen seien. Insbesondere Hausbediente, die die Tochter der Herrschaft verfuhren, seien dieserart unter Strafe zu stellen. Goethe kannte diesen Entwurf des Gesetzbuchs mit ziemlicher Sicherheit nicht, aber er kannte, zumal als ausgebildeter Jurist, gewiß die rechtssprachliche Formel vom „Willkomm und Abschied". Daß er diese Formel als Titel vor sein ursprünglich titelloses Gedicht setzt, gibt dem Text eine strafrechtliche Bedeutungsnuance. Die Begegnung des Reiters mit der Geliebten, die mit der Vokabel „Zärtlichkeit" angedeutete Art der Beziehung der beiden und das im Gedicht nicht mitgeteilte Geschehen zwischen Abend und frühem Morgen werden durch den Gedichttitel als justiziable Angelegenheiten bestimmt. Eckhardt MeyerKrentler behauptet in seinen Überlegungen zu „Willkomm und Abschied", daß dem Gedicht durch seinen Titel die Assoziation der Strafbarkeit und das Thema von Schuld und Sühne beigefügt werden.^' Das Gedicht „Willkomm und Abschied" hat Parallelen vor allem im 10. und 11. Buch von Goethes Autobiographie „Dichtung und Wahrheit", in denen die erste Begegnung Goethes mit Friederike Brion, bei der er sich als Theologiestudent ausgibt, sodann der nächtliche Ritt, die Wiederannäherung in der Festtagskleidung eines Bauemburschen und das Liebeswerben des scheinbar sozial niedrigstehenden Mannes um die höherstehende Pfarrerstochter Friederike Brion beschrieben werden. Im 12. Buch wird das ganze Geschehen als schuldhaft hingestellt.^" Unter Hinweis auf „Dichtung und Wahrheit" kann man dem
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Vgl. Weimar 1982; 30. - Wiegand 1956: 103. Vgl. Meyer-Kremler 1987: passim. Vgl. Meyer-Kremler 1987: 108. WA 1 / 28: 118: „Die Antwort Friederikens auf einen schriftlichen Abschied zerriß mir das Herz. Es war dieselbe Hand, derselbe Sinn, dasselbe Gefühl, die sich zu mir, die sich an mir herangebildet hatten. Ich fühlte nun erst den Verlust den sie erlitt, und sah keine Möglichkeit ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwärtig; stets empfand ich, daß sie mir fehlte, und was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eignes Unglück nicht verzeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Annette mich verlassen, hier war ich zum ersten Mal schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche ei-
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Befund Meyer-Krentlers eine gewisse Plausibilität zusprechen. Doch hat Goethe die Erinnerung an die eisässische Begebenheit rund zwei Jahrzehnte, nachdem er den Titel „Willkomm und Abschied" vor sein Gedicht gesetzt hat, notiert. Das Schuldbewußtsein, das in „Dichtung und Wahrheit" ausgedrückt wird, muß nicht auch in dem Gedicht gesehen werden. Die Skepsis gegenüber Meyer-Krentlers Befund kann sich auf zwei weitere Argumente stützen. Das Gedicht ist an seinem Ende gerade nicht Schuldbekenntnis. In den beiden letzten Versen („Und doch, welch Glück geliebt zu werden! / Und lieben, Götter, welch ein Glück!") spricht ein Unverbesserlicher oder besser: ein Nicht-Disziplinierbarer. Gegen die gesetzlichen und moralischen Regeln behauptet sich in ihnen der uneingeschränkte Anspruch auf Liebe.^' Hinzu kommt: Der Ausdruck „Willkomm und Abschied" hat eine rechtssprachliche Bedeutung, aber diese Bedeutung muß nicht bei jedem Gebrauch des Ausdrucks auch aktualisiert werden.^^ Es läßt sich für MeyerKrentlers Deutung von „Willkomm und Abschied" argumentieren, aber gewichtige Argumente sprechen gegen sie. Die Gedichttaufen und die Titelvariationen in den „Vermischten Gedichten" sind in vielen Fällen Ausdruck einer sich wandelnden poetischen Praxis. In Weimar und später in Italien ist Goethe nicht nur in neue geographische Welten, er ist auch in neue ästhetische Welten eingetreten. Erich Trunz spricht davon, daß in Goethes Schaffen neben das Subjektive das Objektive, neben das Individuelle der Zusammenhang des größeren Ganzen tritt.^^ Dieser Wandel war durch vieles motiviert. Etwa durch Einflüsse, denen Goethe sich aussetzte: zum Beispiel der Person Karl Philipp Moritz und den Schriften Johann Joachim Winckelmanns. Er war auch motiviert durch Goethes Studium der Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die er im Funktionieren der menschlichen Gemeinschaft, in den Erscheinungen der Kunst und in den Vorgängen der Natur wirken sah. Die „Italienische Reise" legt davon Zeugnis ab. Die kunsttheoretischen Schriften, die Goethe in dieser Zeit geschrieben hat, dokumentieren ein Bewußtsein, das den Stilwandel in Goethes Werk begleitet: die 1788 in Wielands „Teutschem Merkur" erschienene Schrift „Zur Theorie
ner düsteren Reue, bei dem Mangel einer gewohnten erquicklichen Liebe, höchst peinlich, j a unerträglich." 31 Vgl. Meyer-Krentler 1987: 107f. 32 Goethe selbst gebraucht die Ausdrücke „Willkommen" und „Abschied" vielfach in ihrer alltagssprachlichen Bedeutung. Im Wortgebrauch der folgenden Stelle in „Wilhelm Meisters Wanderjahren" jedenfalls kann ich keinen rechtssprachlichen Nebensinn erkennen: „Des andern Morgens sagte ich ganz getrost und liebevoll: Du hast so manchmal, durch gute Gesellschaft aufgefordert, gesungen, so zum Beispiel gestern Abend das rührende Abschiedslied; singe nun auch einmal mir zu Liebe ein hübsches fröhliches Willkommen in dieser Morgenstunde, damit es uns werde als wenn wir uns zum erstenmal kennen lernten." (WA 1 / 2 5 , 1 : 149) 33 Vgl. HA 11: 561.
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der bildenden Kunst: Baukunst" und die im folgenden Jahr in demselben Organ publizierten Schriften „Von Arabesken" und „Über die bildende Nachahmung des Schönen von Carl Philipp Moritz"; vor allem aber die ebenfalls 1789 erschienene Schrift „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil", in der Goethe eine Stufenfolge künstlerischen Vermögens entwickelt. Der Stilwandel in Goethes Gedichten ist natürlich nicht nur in den Titeln erkennbar. „An Schwager Kronos" erhält in der Fassung von 1789 einen weniger selbstherrlichen Schluß. Die metrische Struktur des ursprünglich „An den Geist des Johannes Sekundus" betitelten Gedichts wird geglättet. An die Stelle der freien Verse in der frühen Fassung treten in der späten regelmäßige Trochäen. Die kühne Wortbildung in der fichen Fassung von „Prometheus" wird in der Fassung von 1789 gemildert. Nicholas Boyle glaubt in all diesen Veränderungen vor allem eines erkennen zu können: „Anzeichen für den Vorrang der Kunst vor der Persönlichkeit".'" Diese Einsicht ist auf Goethes Begriff des „Stils" beziehbar, den er in „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil" entwirft. Mit „Stil" bezeichnet Goethe die höchste Stufe künstlerischer Könnerschaft. Es ist eine Stufe der Könnerschaft, die das genaue Studium des zur Kunst erhobenen Gegenstandes voraussetzt. Es bedeutet dies das Erkennen seiner Gestalt, des Zusammenwirkens seiner Teile und seiner Stelle in dem System, dem er zugehört. Und es ist eine Könnerschaft, die all dies im Kunstwerk erkennbar werden läßt.^' Kunst in diesem Sinn ist nicht als Ausdruck von Persönlichem zu begreifen.'^ Der Wandlungsprozeß in Goethes poetischer Praxis ist nicht nur einer der sprachlichen Gestaltung, sondern auch einer, der mit der Publizität seiner Schriften in Zusammenhang steht. Die Bereitschaft zur Versöhnung mit dem Publikum, die die Ausgabe seiner Schriften j a auch bedeutet, hat Folgen. Die ftlihe Dichtung Goethes, die vielfach aus 'Gelegenheiten' erwachsen ist oder ursprünglich für einen persönlichen Kreis bestimmt war, wird mit einemmal öffentlich. Die Veröffentlichung ist eine Vermittlung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Durch den Wechsel in das Medium der Werkausgabe, die der anonymen Öffentlichkeit zugänglich ist, und die Änderungen einzelner Gedichte löst Goethe viele seiner Texte von der 'Gelegenheit'. Diese Loslösung hat einen Gewinn. Die Texte treten in der Ausgabe der Schriften untereinander in einen Zusammenhang. Und es sind nicht zuletzt die Gedichttitel und ihre Stellung zueinander, die zur Stiftung von Zusammenhängen zwischen einzelnen Texten beitragen.
34 Boyle 1995ff.,Bd. 1:699. 35 WA 1 / 4 7 : 77-83, bes. 79-80. 36 Vgl. Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 3: 570-577.
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Goethe hat mit der Ausgabe seiner Schriften seine erste „SchriftstellerEpoche" zu Ende gehen sehen/^ Die Ausgabe markiert aber nicht nur einen Abschluß, sondern auch einen Anfang. Denn die semantisch bedeutsame Zusammenstellung von Gedichten ефгоЬ! Goethe auch fernerhin. Aber nicht nur dies. Goethe konzipiert zunehmend von vornherein Gedichte für Ensembles.
2. Elegien Nach seiner Rückkehr aus Italien im Juni 1788 beginnt Goethe neue lyrische Muster zu erproben.
Es entstehen
zum Beispiel
die unter dem
Namen
„Römische Elegien" berühmt gewordenen klassizistischen Dichtungen. Die „Römischen Elegien" wurden nicht immer schon unter diesem Sammeltitel geführt. In der Handschrift erscheint zunächst der Titel „Erotica Romana". Er wird später durch „Elegien" ersetzt. Darunter steht „Rom 1788". In seiner ersten brieflichen Erwähnung der Elegien am 6. April 1789 nennt Goethe sie „Erotica".^' Und so setzt es sich an anderen Briefstellen fort.^' Später, 1790, in Briefen, die er in Venedig schreibt, gibt Goethe seinen Gedichten den Namen „Elegien".'*" Gleichfalls 1790 taucht in den „Tag- und JahresHeften" der Name „Römische Elegien" auf;·*' auch in der „Campagne in Frankreich 1792""^ und in dem Brief an Schiller vom 7. August 1799 gebraucht Goethe ihn.'*' 1791 erscheint in der von Karl Philipp Moritz herausgegebenen „Deutschen Monatsschrift" eine der Elegien unter dem Titel „Elegie. Rom 1789." 1795 erscheinen in Schillers Zeitschrift „Die Hören" 2 0 Elegien nur mehr unter dem Titel „Elegien". In den „Neuen Schriften" von 1800 heißt das Ensemble „Elegieen 1". Im Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes der „Werke" von 1806 erscheint unter dem Rubrikentitel „Elegien" der Sammeltitel „I) römische. Zwanzig." Doch ist dies eigentlich ein Quasi-Sammeltitel, denn innerhalb des Bandes werden die zwanzig Gedichte mit „Elegien 1" betitelt. In der Ausgabe von 1815 und in der „Ausgabe letzter Hand" verhält es sich ebenso. Zwischenbilanz: Zu Goethes Lebzeiten existiert „Römische Elegien" als Name, nicht aber als Titel. Daß sich in der Geschichte eines Textes ein anderer als der ursprünglich gesetzte Titel einbürgert, ist fi-eilich nichts Besonderes. In der Überlieferungsgeschichte der Goetheschen Elegien hat sich der Titel „Römische Elegien" aus 37 WA I V / 8 : 241. 3 8 W A I V / 9 : 102. 3 9 Vgl. z.B. W A I V / 9 : 146. 4 0 W A I V / 9 : 198 und 199. 41 W A 1 / 3 5 : 14. 4 2 W A 1 / 3 3 : 189. 4 3 W A I V / 1 4 : 145.
Elegien
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dem Grund der besseren Unterscheidbarkeit dieses Ensembles von anderen Elegien Goethes durchgesetzt.'''' In diesem Sinn ist der Titel durch die Eintragungen in den Inhaltsverzeichnissen seit der Ausgabe von 1806 vorbereitet worden. Mit der Kombination eines aus einem Städtenamen abgeleiteten Adjektivs und einer Gattungsangabe, das Ganze im Plural, hat der Titel „Römische Elegien" musterbildend gewirkt. Hier einige Titel, die demselben (im letzten Fall: annähernd demselben) Muster veφflichtet sind: Wiener Elegien (Ferdinand von Saar) Münchner Elegien (Gottfried Kölwel) Dresdner Elegien (Max Bewer) Buckower Elegien (Bertolt Brecht) Zürcher Novellen (Gottfried Keller) Meraner Novellen (Faul Heyse) Venezianische Novellen (Franz Freiherr Gaudy) Venezianische Sonette (August Graf von Platen) Moabiter Sonette (Albrecht Haushofer)"' Eine sachgerechte Erklärung fur die in der Handschrift vorgenommene Ersetzung des ursprünglichen Titels „Erotica Romana" durch „Elegien. Rom 1788" ist nicht leicht zu geben. Vielleicht hat Goethe den ursprünglichen Titel aus Rücksicht auf den Publikumsgeschmack ersetzt. Herder hat ihm von der Veröffentlichung der Texte abgeraten,''^ auch Carl August hat ihr widerraten."^ Die Elegien sind gewagte Dichtung, aber nicht witzig-tändelnd, wie die erotische Rokokodichtung. Die Elegien enthalten kaum ein Element von Distanz gegenüber ihrem Thema, keine Pointe, die das Ganze ins Komische wendet, keinen Vorbehalt, der es einer moralischen Ordnung unterwirft. In den Gedichten spricht ein Ich, das die Identifikation mit dem Autor nahelegt beziehungsweise nicht ausschließt; es ist Dichter (wie Goethe) und es schreibt Hexameter (wie Goethe). In dem Horen-Druck hat Goethe zwei der Elegien nicht aufgenommen, und zwar aus Schicklichkeitsgründen, um der Vermeidung der „anstößigen Stellen"'" willen. Auch die Tilgung des ursprünglichen Titels könnte aus Schicklichkeitsgründen vorgenommen worden sein. „Erotica Romana" läßt sich, da
4 4 Z.B. in der Jubiläumsausgabe und in der Propyläen-Ausgabe der Werke Goethes. 45 46 47 48
Vgl. hierzu die Titelliste in Bergengruen 1960: 43-46. Vgl. W A I V / 9 : 239. V g l . G r ä f l 9 6 7 , B d . 1: 160. W A IV / IG: 256. - Vgl. den Brief von Schiller an Körner vom 20. Juli 1795: „Von Goethes Elegien sind die derbsten weggelassen worden, um die Decenz nicht zu sehr zu beleidigen." (Leitzmann 1912: 52). - Um nicht der Überschreitung geschmacklicher Grenzen bezichtigt zu werden, hatte Goethe die Walpurgisnachtszene des „Faust" nicht in der ursprünglichen Fassung und die Verserzählung „Das Tagebuch" überhaupt nicht erscheinen lassen.
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„Rom" für Goethe weitgehend mit „Antike" gleichbedeutend war, übersetzen als „Liebesgedichte im antiken Stil"."' Liebesgedichte im antiken Stil: Das sind Gedichte, die sich thematisch und motivisch an den augusteischen Elegikem (den „Triumvim", wie Goethe sie in der fünften Elegie nennt'" ) Catull, Tibull und vor allem Properz orientieren. In einem Schriftenverzeichnis für Louis Bonaparte hat Goethe seine Elegien in diesem Sinn „Elegies Romaines dans le gout de Properçe" genannt.'' Der Titel „Erotica Romana" stellt einen Bezug zwischen Goethes Elegien und den römischen Erotikem her." Der Titel „Elegien. Rom 1788" macht ihn nicht sichtbar. Der Ausdruck „Elegie" bezeichnet im 18. Jahrhundert vielfach eine lyrische Gattung, in der sich Trauer oder von Wehmut begleitete, oft rückwärtsgewandte Sehnsucht ausdrückt. Der Titel verspricht darum nicht von vornherein Liebesdichtung. Erst in Kenntnis der Gedichte wird deutlich, daß der Ausdruck „Elegien" in ihrem Titel mit Bezug auf die antike Liebesdichtung gebraucht wird. Die Hinzufügung der Orts- und Zeitangabe in dem Titel ist wichtig zu nehmen. Karl Eibl erkennt in dem Titel „Elegien. Rom 1788" etwas von der poetischen Stilisierung, die auch die Elegien selbst bestimme: „Die ihnen eigentümliche Art des Schwebens zwischen Zeitbewußtsein und Zeitaufhebung."'' Dieser Gedanke - gesetzt den Fall, er ist von Bestand - schränkt die Gültigkeit oder zumindest die alleinige Gültigkeit einer anderen Deutung des Titels ein. Wenn der Titel im Sinne Eibls auf die Elegien vorgreift, dann bezeichnet er nicht Ort und Zeit der Entstehung oder Niederschrift der Gedichte. Wenn er dies täte, würde es irrtümlich geschehen. Denn die Elegien sind weder in Rom noch sämtlich im Jahr 1788 entstanden. Oder die Orts- und Zeitangabe wäre in täuschender Absicht mitgeteilt - etwa um der biographischen Deutung des in den Elegien thematisierten Liebeslebens von vornherein den Grund zu entziehen. Zeitgenossen haben die Elegien in diesem Sinn auf Goethe und Christiane Vulpius bezogen.'" 49 Goethe 1989: 66. 50 FA I / 1: 407. - Der Ausdruck „Triumvim" rührt nicht nur daher, daß alle drei Autoren Erotiker sind, sondern auch daher, daß ihre Werke in Buchausgaben sehr häufig gemeinsam auftreten. 51 G r ä f l 9 6 7 , B d . 2 , l : 4 9 6 . 52 Dies ist der Ansatzpunkt flir die Quellenforschung gewesen, die zahlreiche Abhängigkeiten der „Römischen Elegien" von den augusteischen Elegikem ausmachen zu können glaubte (z.B. Bronner 1893). Doch haben ihre Befunde das Verständnis der „Römischen Elegien" nicht weit vorangebracht. Dazu Luck 1967 und Rüdiger 1978. 53 FAI / 1: 1096. 54 In diesem Zusammenhang hat der Brief von Böttiger an Schulz vom 27. Juli 1795 Berühmtheit erlangt: den merkwürdigsten Erscheinungen an unserm literarischen Himmel gehören Göthes Elegien im 6. Stück der Hören. Es brennt eine genialische Dichtergluth darinnen, und sie stehn in unserer Literatur einzig. Aber alle ehrbaren Frauen sind empört über die bordellmäßige Nacktheit. Herder sagte sehr schön: 'er habe der Frechheit ein kaiserliches Insiegel aufgedrückt. Die Hören müßten nun mit dem и gedruckt werden.' Die meisten Elegien sind bei seiner Rückkunft im ersten Rausche mit der Dame Vulpius geschrieben. Ergo -" (Leitzmann 1912: 52). - Vgl. zur zeitgenössischen Wirkung der „Römischen Elegien" Oettinger 1983.
Elegien
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Eibls Titeldeutung zielt auf anderes. Die Orts- und Zeitangabe bezieht sich nicht auf die Entstehung der Elegien. Vielmehr sei es die Leistung des Titels, Ort und Zeit der Entstehung (Weimar, Ende 1788 bis Frilhjahr 1790) in Übereinstimmung mit „Rom 1788" zu bringen - als ein literarisches Spiel der Welten- und Zeitenmischung.'^ Man kann sich fur diese Deutung mit dem Hinweis auf die Elegien aussprechen. Auch in ihnen mischen sich Welten und Zeiten: Weimar und Rom, Gegenwart und Antike. Aber damit ist die Deutung, es handele sich um eine Titelsetzung in täuschender Absicht, nicht entkräftet.'^ Beide Deutungen stehen nicht kontradiktorisch zueinander, sie schließen einander nicht aus; sie konkurrieren miteinander. Darüber, ob zwei konkurrierende Deutungen eines Textphänomens gleichermaßen gültig sind, kann nicht in jedem Einzelfall deutlich entschieden werden. Hingegen kann eine Rangordnung zwischen zwei konkurrierenden Deutungen dann festgelegt werden, wenn eine von beiden nicht durch den Text gesichert ist (diese ist falsch oder sinnlos und deshalb kein emstzunehmender Konkurrent).'' Doch wüßte ich nicht, warum in dieser Hinsicht eine der beiden Deutungen der Orts- und Zeitangabe „Rom 1788" der anderen vorzuziehen sei. Außerdem sind beide Deutungen intern plausibel, nämlich widerspruchsfrei. Und doch scheint mir die Deutung von Eibl den Vorzug zu verdienen. Sie wirkt weniger gezwungen. Denn es ist kaum anzunehmen, daß Goethe bloß mit der Orts- und Zeitangabe die biographische Deutbarkeit seiner Gedichte vermeiden konnte. Warum hat er es dann überhaupt versuchen sollen? Die geänderte, auf „Elegien" reduzierte Titelgebung im Horen-Druck, die in den nachfolgenden Ausgaben beibehalten wird, ist halbwegs eine Besinnung auf den ursprünglichen Titel „Erotica Romana". Dies aber nur im paratextuellen Zusammenspiel mit dem Motto aus der „Ars amatoria" des Ovid: „Nos venerem tutam concessaque flirta canemus, / Inque meo nullum carmine crimen erit."'^ Durch das Motto wird die Erwartung geweckt, daß es sich bei den Elegien um Erotika handele. In der Handschrift tragen die Elegien keine Einzeltitel; sie sind fortlaufend numeriert. Im Horen-Druck sind sie fortlaufend als „Erste Elegie", „Zweite Elegie" usw. betitelt. Spätere Ausgaben der Werke Goethes, wie beispielsweise die Weimarer Ausgabe, die Jubiläumsausgabe und die Hamburger Ausgabe, setzen wie schon die handschriftliche Fassung der „Römischen Elegien" Ziffern vor die einzelnen Gedichte. Man kann in beiden Formen der Überschrift ein Element von Nachahmung sehen. Antike Lyrik ist zwar üblicherweise nicht
55 Vgl. FA 1/ 1: 1097. 56 Ich lasse die mögliche Deutung, die Orts- und Zeitangabe sei irrtümlich gesetzt, als wenig plausibel beiseite. 57 Vgl. Eco 1995: 51-53. - Vgl. Strube 1993: 127. 58 F A I / 1:393.
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betitelt oder mit einer Ziffer überschrieben/' beides aber findet sich in neueren Ausgaben antiker Dichtung. Und beides findet sich auch in solchen Ausgaben, die Goethe benutzt hat. Ein Beispiel. Knebel hat Goethe eine Ausgabe mit den Dichtungen der augusteischen Elegiker geschenkt. Die Elegien des Tibull und die des Properz darin sind fortlaufend mit „Elegie 1", „Elegie II" usw. betitelt.^" Aber die Titel beziehungsweise die Überschriften der einzelnen Goetheschen Elegien müssen nicht allein als Nachahmungen gesehen werden. Ihre Schlichtheit kann außerdem damit erklärt werden, daß die Gedichte unter einem Sammeltitel erfaßt werden.
3. Epigramme Die sogenannten „Venezianischen Epigramme" sind ein Seitenstück zu den „Römischen Elegien". Auch sie bedienen sich einer in der antiken Literatur vorgegebenen Gattung sowie einer vorgegebenen metrischen Form. Sie sind aber auch ein Gegenstück zu den „Römischen Elegien". Während sich in den „Römischen Elegien" ein komplexes Rollenspiel in einem komplexen raumzeitlichen System vollzieht, sind die Epigramme aus einer vergleichsweise klar konturierten Sprechsituation heraus formuliert. Der Wanderer, wie er im 2. und 82. Epigramm genannt wird, redet über italienische Zustände und die Französische Revolution, äußert sich kritisch über Kirche und Christentum und redet ohne Umschweife über Sexuelles. Der Wanderer ist Beobachter in einer fremden Stadt; Wolfdietrich Rasch sieht in ihm den modernen Typus des Flaneurs vorgeprägt.^' Die Physiognomie eines Urbanen, stets scharfsichtigen und bei Gelegenheit melancholischen Beobachters seiner Zeit und Umgebung wird erkennbar. Durch ihre Titellosigkeit unterscheiden sich die „Venezianischen Epigramme" von den Epigrammsammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Epigramme von Czepko, Logau, Angelus Silesius, Wernicke bis Lessing sind betitelt. Die Abweichung von der Gattungskonvention, die die Betitelung des einzelnen Epigramms im 18. Jahrhundert vorsieht, ist vor allem mit der Tatsache in Verbindung zu bringen, daß die meisten Epigramme nicht aus einem
59 Ausnahmen gehen z.B. auf die alexandrinischen Philologen zurück, die bei der Archivierung von Texten titelgebend wirksam gewesen sind. So soll Aristarchos Titel für Gedichte des Bakchylides gefunden haben. Vgl. Archilochos 1959: 178. - „Die Numerierung der Gedichte ist natürlich nicht antik", schreibt ein neuerer Herausgeber des Catull (Vgl. Catull I960: 229). Eine Ausnahme bildet auch das „Carmen Saeculare" des Horaz. 60 Catullus Tibullus Propertius 1762. - Ruppert 1958 verzeichnet diesen Band unter Nummer 1366. - In vergleichbarer Schlichtheit hat Goethe 1795 in den „Hören" zwei nach antikem Muster verfaßte Texte „Erste Epistel" und „Zweite Epistel" genannt (FA I / 1: 479-485). 61 Vgl. Rasch 1977: 130. - Ähnlich äußert sich Dietze 1981: 191.
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Distichon, sondern aus zwei oder mehr Distichen gebildet sind. Anders als die „Xenien" (über die gleich zu sprechen sein wird), sind die „Venezianischen Epigramme" nicht kürzeste Texte. Sie sind nicht auf den Titel als Träger wichtiger Information angewiesen. Eine weitere Rolle bei der Erklärung der Titellosigkeit spielt die Unterordnung der Epigramme unter einen Sammeltitel. In der ersten Publikation von 24 Epigrammen im Juni- und Juli-Heft der Zeitschrift „Deutsche Monatsschrift" 1791 war dies der Titel „Sinngedichte" - ein Wort, das 1649 von Philipp von Zesen als Eindeutschung von „epigramma" geprägt worden ist und noch im 18. Jahrhundert weitgehend üblich war.^^ Erst in Schillers „Musen-Almanach auf das Jahr 1796" trägt das um ein Beträchtliches angewachsene Ensemble den Titel „Epigramme. Venedig 1790". In den Ausgaben von 1800, 1806, 1815 und der „Ausgabe letzter Hand" wird diese Titelgebung beibehalten. In den Inhaltsverzeichnissen der letzteren drei steht „Epigramme. Von Venedig. Hundert und drey". In Anwendung des Musters, das auch den Titel „Römische Elegien" regiert, ist dann im Verlauf der Überlieferungsgeschichte der Titel „Venezianische Epigramme" eingeführt worden." Goethe selbst hat diesem Titel Vorschub geleistet. In dem Werkverzeichnis, das er 1823 für Louis Bonaparte zusammengestellt hat, steht: „Epigrammes Venetiens d'après le sens de Martial".^
4. Xenien In der Geschichte der literarischen Erscheinungen des Streitens nehmen die „Xenien" eine herausragende Stellung ein. Goethe hat sie angeregt. Als widersetzliche Reaktion auf vielfältige Angriffe gegen die von Schiller herausgegebene Zeitschrift „Die Hören" sind sie entstanden und als Gemeinschaftsprojekt von Goethe und Schiller sind sie verfaßt worden. Weil nicht in jedem Einzelfall zweifelsfrei entschieden werden kann, welches Xenion (bzw. welcher Titel®' ) von welchem der beiden Autoren stammt, werden sie hier geschlossen nach Maßgabe des Erstdrucks in Schillers „Musen-Almanach für das Jahr 1797" zugrundegelegt. Eine ältere Studie sieht in den „Xenien" einen kritischen Affront gegen Mittelmäßigkeit.®^ Erich Trunz hebt an den „Xenien" die Kritik an
6 2 Vgl. Grimm 1984, Bd. 16: 1177. 63 Daneben existiert die zum Beispiel in der „Hamburger Ausgabe" gebrauchte (nicht glücklich gewählte) Variante „Venetianische Epigramme". 64 Oräf 1967, Bd. 2 , 1 : 4 9 6 . 65 Vgl. Schillers Brief an Goethe vom 27. Juni 1796: „Von den Xenien sende ich durch den Boten, was fertig ist [...]. Fallen Ihnen Überschriften ein, so bitte ich sie mit dem Bleistift zu bemerken." (Gräf 1967, Bd. 1 : 2 1 8 - 2 1 9 ) . 66 Vgl. Boas 1851, Teil 1:2.
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Typen hervor (die Kritik am platt-nüchternen Kunstbeurteiler, am geschäftigen Literaten und am unfähigen Philosophen).^' Friedrich Sengle sieht Goethe und Schiller in den „Xenien" einen Generationenkampf führen.®^ In einer eindrucksvollen Dokumentation des Xenien-Komplexes stellt neuerdings Franz Schwarzbauer dar, daß Goethe und Schiller die „Xenien" als Medium im Kampf um die Machtstellung im literaturpolitischen Geschehen des ausgehenden 18. Jahrhunderts gebrauchen. „Den Einfall auf alle Zeitschriften Epigramme, iedes in einem einzigen Distiche, zu machen, wie die Xenia des Martials sind, der mir dieser Tagen gekommen ist, müssen wir cultiviren und eine solche Sammlung in Ihren Musenalmanach des nächsten Jahres bringen. Wir müssen nur viele machen und die besten aussuchen."™ Diese frühe Erwähnung der „Xenien" in Goethes Brief an Schiller vom 23. Dezember 1795 lenkt den Blick auf den Sammeltitel der späteren Epigramme. Er ist in Anlehnung an das gleichnamige Buch der Epigrammsammlung des Martial gewählt worden, das in der Hauptsache gallige Spottverse enthält. Anders als die „Venezianischen Epigramme" sind fast alle „Xenien" mit Einzeltiteln versehen. Man muß sich des geschichtlichen Ursprungs des Epigramms vergewissem, um Aufschluß über die Titelsetzung dieser Stichelgedichte zu erhalten. Die literarische Gattung des Epigramms hat ein nicht-literarisches Herkommen. Ursprünglich ist das Epigramm eine inschriftliche Gattung - eine Gattung, die als Inschrift auf Gegenständen wie Grabsteinen, Weihegaben, Geschenken und Denkmälern dient.'' Als solch eine Inschrift bezieht sich das Epigramm des näheren auf den Gegenstand, auf den es eingetragen ist (zum Beispiel das Denkmal, auf dessen Tafel es steht), oder des ferneren auf ein mit dem Gegenstand Verbundenes (zum Beispiel auf den Verstorbenen, dessen Grabstein das Epigramm ziert). Die epigrammatische Inschrift bezieht sich auf einen Gegenstand, sie hat einen Objektbezug.'^ Die literarische Gattung des Epigramms hat diesen Objektbezug ebenfalls, allerdings in übertragenem Sinn.'^ Literarische Epigramme beziehen sich auf Gegenstände (wie die Inschriften), sind aber, da sie im Buch auftreten, nicht auch realiter mit ihnen gepaart. Ein Gedanke in Lessings „Zerstreuten Anmerkungen über das Epigramm" kann auf diesen Zu-
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Vgl. HA 1: 626. Vgl. Sengle 1984. - Vgl. auch Sengle 1983. Vgl. Schwarzbauer 1993: passim. WA I V / 10: 353. Zur Geschichte des Epigramms vgl. Pfohl 1969. Vgl. Hess 1989: 5. Vgl. Hess 1989: 5. - Doch auch im literarischen Epigramm ist im Einzelfall ein Bewußtsein von seinem Herkommen aufbewahrt. Stefan George filhrt in „Der siebente Ring" einzelne Epigramme als „Tafeln", Goethe und Schiller gebrauchen den Sammeltitel „Tabulae votivae", Karl Kraus gebraucht „Inschriften".
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sammenhang bezogen werden: „[...] das Sinngedicht ist ein Gedicht, in weichem, nach Art der eigentlichen Aufschrift, unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzeln Gegenstand erregt, und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen."^" In Herders „Anmerkungen über das griechische Epigramm" heißt es: „Als Aufschrift betrachtet, wird also das Epigramm nichts als die p o e t i s c h e Exposition eines g e g e n w ä r t i g e n oder als g e g e n w ä r t i g gedachten G e g e n s t a n d e s zu irgend einem g e n o m m e n e n Ziel der Lehre oder der E m p f i n dung."'^ Der Objektbezug der Inschrift wird durch den außersprachlichen Kontext deutlich. Wodurch aber wird der Objektbezug des literarischen Epigramms, das einen vergleichbaren Kontext nicht hat, kenntlich? Peter Hess gibt diese Antwort: „Der Objektbezug wird durch den Titel eines Epigramms hergestellt."'^ An die Stelle des realen Objektbezugs der Inschrift tritt im literarischen Epigramm ein im Titel vermittelter Objektbezug. Das gilt vielfach für die „Xenien". Fast jeder Titel gibt an, worüber das Epigramm spricht. Es ist dies häufig eine Sache oder ein Sachverhalt, der durch ein einzelnes oder ein erweitertes Substantiv oder eine Doppelformel im Titel mitgeteilt wird. Wie es in polemisch-aggressiven Kurzgedichten, die die „Xenien" sind, nicht anders zu erwarten ist, sind es häufig auch Personen, die im Titel genannt werden - durch vollständige Nennung oder abgekürzte Anfiihrung ihrer Eigennamen. Die Abkürzungen in den Titeln einzelner Xenien beziehen sich in fast jedem Fall auf Eigennamen: aber nicht nur auf Namen von Personen, sondern auch auf solche von Städten oder von Zeitschriften. Die Abkürzungen haben soziale Funktion. Sie machen den Leser, der sie dechiffrieren kann, zum Eingeweihten. Einen solchen Fall stellt folgendes Xenion dar, dessen Titel den Schriftsteller Heinrich Stilling meint: H. S. Auf das empfindsame Volk hab ich nie was gehalten, es werden. Kommt die Gelegenheit, nur schlechte Gesellen daraus."
Ohne ihre Titel wären einzelne Epigramme schwer verständlich, vielleicht sogar ohne erkennbare Bedeutung oder uneindeutig. Allerdings schützt nicht in jedem Fall der Titel eines Xenions auch schon vor dessen Un- oder Mißverständlichkeit. In anderen Fällen ist der Titel für die Bestimmung dessen, über das ein einzelnes Epigramm handelt, weitgehend entbehrlich:
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Lessing 1886-1924, Bd. 11:217. Herder 1877-1913, Bd. 15: 344. Hess 1989: 7. Schiller 1943ff., Bd. 1 : 3 1 1 .
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Griechheit Griechheit was war sie? Verstand und Maaß und Klarheit! drum dächt' ich Etwas Geduld noch ihr Herrn, eh ihr von Griechheit uns sprecht/'
Aber in all diesen Fällen gilt: Titel und Text gehen eine enge Bindung ein. Der Text baut sich um den Titel auf, oder besser: Der Titel bezeichnet das eigentliche Zentrum des Textes - in diesem Punkt vergleichbar den aphoristischen „Erfahrungsfrüchten" von Carl Gustav Jochmann. Der Zusammenhang von Titel und Text ist in den „Xenien" weitgehend einer der semantischen Kohärenz. Über den im Titel genannten Gegenstand wird im Epigramm etwas gesagt.^' Der Gestus des Epigramms ist der der Explikation. Lessing, der die Zweiteiligkeit des in der Tradition Martials stehenden Epigramms deutlich erkannt und benannt hat, sagt dazu: „Am schicklichsten werden sich also auch die Theile des Epigramms, E r w a r t u n g und A u f s c h l u ß nennen lassen."'" Im Einzelfall stiften syntaktische Elemente Zusammenhänge zwischen Titel und Text; wenn etwa ein Epigramm durch ein anaphorisch gebrauchtes Personalpronomen an den Titel anschließt: Der Purist Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern. Nun so sage doch Freund, wie man P e d a n t uns verdeutscht."
Auch kontrastierend an den Titel anschließende Epigramme wären hier zu nennen: Beyspielsammlung Nicht bloß Beyspielsammlung, nein, selber ein warnendes Beyspiel, Wie man nimmermehr soll sammeln für guten Geschmack.'^
Titel und Text können zueinander aber auch in einem Verhältnis stehen, wie es bisweilen bei sprachlichen Handlungen in Sprechsituationen der Fall ist. In folgendem Xenion stehen Titel und Text wie Aussage und Erkundigungsfrage zueinander:
78 Schiller 1943ff., Bd. 1:348. 79 Dieser Vorgang gleicht dem, was in der Textlinguistik gelegentlich als „Topikalisierung" bezeichnet wird. Vgl. Dressler 1978: 354f. und Glück 1993: 6 4 6 Í 8 0 Lessing 1886-1924, Bd. 11: 220. 81 Schiller 1943ff., Bd. 1:328. 82 Schiller 1943fT., Bd. 1:326.
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Das deutsche Reich D e u t s c h l a n d ? a b e r w o liegt e s ? Ich w e i ß d a s L a n d n i c h t zu
finden.
W o das gelehrte beginnt, hört das politische a u f . "
Nicht alles, was in den „Xenien" in Titelposition steht, ist auch Titel. Vielfach treten Sprecherangaben als Titelsubstitute auf. Aber auch in diesen Fällen gilt, daß die Information über Sprecher und Sprechsituation, die das Titelsubstitut vermittelt, für das Verständnis des einzelnen Epigramms bedeutsam ist: Martial X e n i e n n e n n e t ihr e u c h ? Ihr g e b t e u c h fiir K ü c h e n p r ä s e n t e ? Ißt m a n d e n n , m i t V e r g u n s t , s p a n i s c h e n P f e f f e r b e y e u c h ?
Xenien N i c h t d o c h ! A b e r e s s c h w ä c h t e n d i e vielen w ä ß r i g t e n S p e i s e n So den Magen, daß jetzt Pfeffer und Wermuth nur hilft.'"
Steht nicht der Befund, daß gerade in den „Xenien" die einzelne Überschrift, wo sie als Titel in Erscheinung tritt, keineswegs eine textliche Marginalie, sondern Mittelpunkt des jeweiligen Epigramms ist, im Widerspruch zu dem Grundsatz, der Titel sei kein Element des Gedichts? Dagegen läßt sich ins Feld führen: Ein Epigramm ist auch dann eines, wenn es keinen Titel trägt. Möglicherweise ist es in einem solchen Fall schwer verständlich (schwerer verständlich, als es auch mit Titel vielfach ist), weshalb wie schon Lessing anmerkt - ursprünglich titellose Epigramme im Verlauf der Überlieferungsgeschichte von Herausgebern häufig Titel erhalten.'' Was Peter Hess in seiner Epigrammtheorie in den Rang eines Merkmals des Begriffs Epigramm hebt,'® ist eigentlich eine bestens bewährte Konvention in der Geschichte des Epigramms. Und die kann von Fall zu Fall außer Kraft gesetzt werden.
83 Schiller 1943ff., Bd. 1:320. 84 Schiller 1943fF., Bd. 1:354, 85 Lessing 1886-1924, Bd. 11: 236: „In dem ganzen M a r t i a l wüßte ich mich keines einzigen Epigramms zu erinnern, welches von der fehlerhaften Art wäre, daß es der Erläuterung eines Titels bedürfe. Alle seine Titel bestehen daher in den bloßen A n , V o n und A u f , mit Beyfügungen des Namens derjenigen, die das Epigramm betrift, oder an die es gerichtet ist. Alle L e m m a t a , welche den nähern Inhalt angeben sollen, sind nicht von ihm, sondern ein Werk der spätem Abschreiber, daher sie auch in der einen Ausgabe so, und in der andem anders lauten. Jeder Umstand, auch der allerkleinste, der zu dem Verstände des Epigramms nothwendig gehöret, ist bey ihm in dem Epigramme selbst enthalten; und wenn wir jetzt einen solchen j a darin zu vermissen glauben, so können wir nur gewiß versichert seyn, daß er sich zu der Zeit des Dichters von selbst verstanden hat. -" 86 Vgl. Hess 1989: 12. 87 Andere Epigrammdefmitionen kommen im übrigen bequem und triftig ohne das Definiens 'Titer aus. Vgl. Reallexikon 1997fF., Bd. 1: 459-461.
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ohne daß dadurch der einzelne Text seine Gattungszugehörigiceit verliert. Ein Beispiel geben die „Venezianischen Epigramme". Der Titel als paratextuelle Konvention in Epigrammen wie den „Xenien" hat sich vor allem deshalb durchsetzen können, weil er der Textökonomie dient. Die Titel in den „Xenien" ersparen, indem sie semantisch Gewichtiges mitteilen, den einzelnen Epigrammen sprachlichen Aufwand und schaffen so beispielsweise Raum für die Gestaltung der sprachlichen oder sachlichen Pointe.
5. Elegien/Idyllen Neben den „Römischen Elegien", den „Venezianischen Epigrammen", den „Episteln" und den „Xenien" hat sich Goethe in der klassischen Periode auch anderweitig klassisch verbürgter poetischer Muster bedient. Er schreibt Idyllen, darunter die Idylle „Alexis und Dora", die er im Erstdruck auch als solche untertitelt, und „Herrmann und Dorothea". Daneben schreibt er weitere Elegien, zum Beispiel „Amyntas" und „Euphrosyne", die er beide im Erstdruck auch als Elegien untertitelt. Der Titelgebrauch in diesen Texten setzt in vielen Punkten fort, was Goethe zuvor ефгоЫ hatte. Durch die Wahl eines bestimmten Wortmaterials signalisieren einzelne Titel Klassizität. Euphrosyne ist (neben Aglaia und Thalia) eine der Grazien. Amyntas hingegen ist kein mythisch, sondern ein literarisch vorgegebener Name. In einer der Idyllen des Theokrit tritt eine Figur namens Amyntas auf Auch der Titel des Dialoggedichts „Der neue Pausias und sein Blumenmädchen", das ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört, setzt antikes Wissen voraus; er bezieht sich auf Plinius, der an einer Stelle seiner naturwissenschaftlichen Enzyklopädie „Historia naturalis" über den Maler Pausias berichtet. Die antikisierende Titelgebung setzt dabei auf Exklusivität. Das Publikum, dem das entsprechende literarische und mythologische Wissen fehlt, kann die Bedeutung der jeweiligen Titel nicht erkennen. Der Titel signalisiert, von wem das Gedicht gelesen werden soll,'* nämlich von dem Gebildeten, der im antiken Mythos und in antiker Literatur beschlagen ist. Potentiell haben diese Titel auch schmeichelnde Wirkung. Der Kenner kann, indem er sie liest, seiner Kennerschaft versichert sein. Die Titel der Elegien und Idyllen sind vielfach nicht nur so gesetzt, daß sie einen Bezug zum Altertum herstellen und auf ein bestimmtes Publikum zielen. Hinzu kommt im Einzelfall noch anderes. So wäre das Gedicht „Euphrosyne" nicht recht erfaßt, wenn sein Titel nur als antikisierend und publikumsselektierend verstanden würde.
Über die publikumsselektierende Funktion von Titeln schreibt auch R o t h e 1986: 115-124.
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Euphrosyne erscheint dem Sprecher dieser Elegie im Gebirge. Sie, die icürziich Verstorbene, richtet eine lange Rede an ihn. Sie daniit ausgreifend für die Lehre und Anleitung, die sie als Schauspielerin von ihm erfahren hat, und bittet darum, nicht vergessen zu werden. Schließlich bringt sie einen letzten Wunsch vor: Nicht ungerühmt will sie von der irdischen Welt scheiden. Darauf nimmt Hermes, der Götterbote und Totenfilhrer, sie mit sich. Das Gedicht ist eine Preisung der am Weimarer Theater erfolgreichen, früh verstorbenen Schauspielerin Christiane Becker - Goethe selbst nennt es ein „Gedicht auf die Beckern."'' Und wie es die Schauspielerin preist, das deutet Goethe in einem Brief an Carl Wigand Maximilian Jacobi vom 16. August 1799 an: „Es freut mich daß Sie Euphrosynen auszeichnen. Ich bin sowohl wegen des Stoffs, als wegen den Umständen, welche die Behandlung und Ausführung begleiteten, diesem kleinen Gedicht sehr mit Freundschaft zugethan. Ich erhielt in der Schweiz die Nachricht von dem Tode dieser geliebten Person. Überhaupt traf bey diesem Gedicht glücklicherweise zusammen daß das Poetische durchaus auf dem Wirklichen ruht, und dieses doch nichts für sich selbst gilt, sondern erst dadurch etwas wird daß es als Folie durch den poetischen Кофег durchscheint."'" Das Gedicht ist eines auf Christiane Becker, aber es erschöpft sich nicht in dem, was man in dieser Hinsicht von ihm sagen kann. Denn die Schauspielerin in dem Gedicht tritt nur andeutungsweise als die historisch verbürgte Person auf, die Christiane Becker ist, deutlich hingegen als die mythische Figur der Grazie Euphrosyne, die sie verköφert. Das Gedicht erfüllt die Konventionen der Elegie (in einer ihrer möglichen Erscheinungsformen, der threnetischen Elegie), indem es Trauer und Wehmut über den Tod der Schauspielerin ausdrückt. Aber auch ein Hofftiungs- und Erlösungsgedanke ist in das Gedicht eingeschlossen, vor allem in das mythische Schlußbild und in den Namen Euphrosyne, der Frohsinn bedeutet. Der Titel des Gedichts, der übersetzbar ist in „Das Gedicht handelt von Euphrosyne" oder „Das Gedicht handelt von einer Schauspielerin, die in der Gestalt der Euphrosyne erscheint", lenkt die Aufmerksamkeit - mit Goethe zu reden - auf den „poetischen К0фег" und nicht auf das „Wirkliche". Er sieht von den privat-persönlichen und individuellen Zügen ab, die das Gedicht in sich birgt, oder verschweigt sie gar, und bereitet auf den mythischen Zusammenhang vor, in den dieses Individuelle gekleidet ist. Der Titel ist nicht nur antikisierend und publikumsselektierend, sondern auch verrätselnd gesetzt." 89 W A I V / 1 3 : 176. 9 0 W A IV / 14: 152. - Im Register von Schillers „Musen-Almanach für das Jahr 1799" heißt es: , / u m Andenken einer jungen, talentvollen, für das Theater zu früh verstorbenen, Schauspielerin in Weimar, Madame Becker, gebohme Neumann." 91 Vgl. Miller 1996: 151-167. - Dasselbe gilt für das Gedicht „Amyntas" - freilich nur unter der Voraussetzung, daß mit dem Namen Amyntas Goethe gemeint ist, was die biographische Deu-
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Die Elegien und Idyllen, von denen hier die Rede ist, werden zusammen mit dem Lehrgedicht „Die Metamorphose der Pflanzen" seit den „Neuen Schriften", in deren 1800 erschienenem siebenten Band sie enthalten sind, unter dem Rubrikentitel „Elegien 11" geführt. Die Untertitelungen, die einzelne Gedichte bei ihrer separaten Publikation mit sich fuhren, sind aufgelöst. Daß Goethe ein Lehrgedicht und Idyllen unter die Rubrik „Elegien" bringt, spricht dafür, daß er mehr das Verbindende als das Trennende zwischen all diesen Gedichten gesehen hat und gesehen wissen will. Gemeinsam ist den Texten ihre metrische Gestalt. Sie alle bedienen sich des elegischen Distichons. Dies allein erklärt ausreichend die Subsumtion der ansonsten stark differierenden Texte unter einen Sammeltitel. Der Begriff der Elegie ist von alters her ein mehrdeutiger Begriff. Auch im 18. Jahrhundert wird unter „Elegie" Verschiedenes verstanden. Die Elegie wird inhaltlich bestimmt - die Elegie ist Trauerdichtung oder erotische Dichtung - oder sie wird halb metrisch bestimmt - die Elegie ist ein nicht-epigrammatisches Gedicht in Distichen. Eben in diesem zuletzt genannten Sinn handelt es sich bei den in Rede stehenden Gedichten um Elegien. Karl Eibl sieht außerdem Gemeinsamkeiten zwischen einigen Texten insofern, als sie das Motiv der Epiphanie des Augenblicks enthalten.'^ Gemeint ist eine augenblickliche Erfahrung, in der sich ein sonst von Geheimnissen umgebenes Ganzes offenbart, die Erfahrung dessen, was Goethe in anderem Zusammenhang als die „lebendigaugenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen" bezeichnet hat.^^ Doch ist dies Motiv nicht in jedem Text mit gleicher Deutlichkeit enthalten. Als gemeinsamkeitsstiftendes Element ist es allenfalls von untergeordneter Bedeutung.
6. Balladen Nicht alles, was Goethe in der klassischen Periode geschrieben hat, folgt antikem Vorbild. Hier sind die Lieder zu nennen, von denen viele zunächst nicht für die Publikation vorgesehen waren (z.B. „An die Günstigen", „Der Musensohn", „An Lina" und „An die Erwählte"), andere hingegen in Zeitschriften und in anderen Periodika, vor allem in Schillers „Musen-Almanach" erschienen sind (z.B. „An Mignon", „Meeres Stille", „Glückliche Fahrt" und „Kophtisches Lied"). Und auch die Balladen, die in dieser Zeit entstanden sind, gehören in diesen Zusammenhang. Sie sind, wie Goethe in einem Brief vom 22. Juni 1797
tung des Gedichts vielfach behauptet hat (z.B. Gundolf 1920: 425-426). Aber dem muß man nicht folgen. 92 Vgl. Eibl 1984: 131-135. - Vgl. auch FA 1 / 1 : 1191. 93 FA I / 1 3 : 33.
Balladen
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schreibt, aus dem von Goethe und Schiller gemeinsam betriebenen „Balladenstudium" hervorgegangen.''* Schiller bezeichnet das Jahr 1797 als das „Balladenjahr".'^ Musterbildend wollte man wirken und der in der Zeit immer noch weitgehend subliterarischen Gattung eine ästhetisch reflektierte Gestalt geben. Die Titel derjenigen Balladen Goethes, die im Jahr 1797 entstanden sind oder begonnen woirden, folgen weitgehend einem Muster insofern, als sie einen oder mehrere Handlungsträger der jeweiligen Ballade anfuhren: Der Schatzgräber Der Zauberlehrling Der Edelknabe und die Müllerin Der Müllerin Verrat Der Müllerin Reue Die Braut von Corinth Der Gott und die Bajadere Diese Art der Titelgebung ist nicht bestimmend flir die Balladendichtung, aber in ihr empirisch häufig; sie ist für die Ballade nicht konstitutiv, sondern charakteristisch. Man kann von den genannten Titeln nicht mit Gewißheit auf die Balladenhaftigkeit der Gedichte schließen, sondern sie bestenfalls vermuten. Umgekehrt gilt nicht, daß im Titel einer Ballade stets eine im erzählten Geschehen handelnde Person angeführt wird. Gegenbeispiele lassen sich ohne weiteres nennen. Auch in Goethes Gedichtwerk kann man sie finden („Der Totentanz", „Ballade"). Die Häufigkeit solcher Balladentitel, die einen oder mehrere Handlungsträger des Balladengeschehens anfuhren, ist wohl mit ihrer Eignung, das Interesse am Stoff des Gedichts zu wecken, zu erklären. Das Geschehen, das in Balladen erzählt wird, ist nun einmal eines, in das Menschen verwickelt sind. Und darum werden gerade sie häufig bereits im Titel angeführt. Weitere Informationen, die einzelne Titel geben, bereiten ebenfalls auf die stoffliche Seite der jeweiligen Ballade vor, indem sie Hinweise auf das Geschehen selbst geben („Der Müllerin Verrat", „Der Müllerin Reue"). Andere Balladentitel bereiten außer auf Figuren- und Handlungselemente auch auf den Schauplatz des Balladengeschehens vor. Dies kann, wie im Fall der „Braut von Corinth" auch Hinweis auf die spezielle Erscheinungsform einer Ballade sein. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich einbürgernde Unterscheidung zwischen Ballade und Romanze weist die Ballade als ein Erzählgedicht aus, dessen Handlung sich in nördlichen Regionen abspielt, und die Romanze
94 WA I V / 1 2 : 167. 95 Vgl. Graf 1967, Bd. 1:292.
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als ein Erzählgedicht, dessen Handlung sich im Süden abspielt. Insofern weist bereits der Titel „Die Braut von Corinth" das zugehörige Gedicht als eine Romanze aus. Daß das Gedicht in seinem Erstdruck in Schillers „MusenAlmanach" überdies im Untertitel als „Romanze" bezeichnet wird, steht möglicherweise mit dem Vorbildcharakter in Zusammenhang, den es mit anderen Balladen aus dieser Zeit teilt. Der Untertitel wäre dann nicht allein Gattungsangabe (mit der Bedeutung: Dieser Text ist ein Exemplar der Gattung Romanze), sondern auch Unterweisung (mit der Bedeutung: Was als Romanze zu gelten hat, kann man beispielhaft an diesem Text erkennen). Der Untertitel wäre unter anderem in der Absicht gesetzt, zur Durchsetzung des Romanzenbegriffs beizutragen. In den späteren Werkausgaben seiner Gedichte von 1800 und 1806/08 hat Goethe den Untertitel getilgt. Das Gedicht steht dort zusammen mit anderen Texten jeweils in der Rubrik „Balladen und Romanzen". In den Ausgaben von 1815 und 1827 heißt die Rubrik nur noch „Balladen".
7. Bilanz Es wäre unangemessen, in der Titelpraxis seiner Gedichte, die Goethe in der 'vorklassischen' Periode (1775-1786) und nachfolgend in der klassischen Phase (1787-1805) geübt hat, nur ein Zugeständnis an die Schriftlichkeit der Texte sehen zu wollen. Goethe nimmt die Schriftlichkeit der Gedichte dieser Zeit nicht einfach nur in Kauf, sondern setzt vielfach auf sie. Die Lyrik dieser Zeit ist in großen Stücken eine, die ftir das Medium der Schriftlichkeit gedacht ist. Natürlich gibt es Ausnahmen. Die Balladen genauso wie die Lieder, die zwischen 1775 und 1805 entstanden sind, sind ftir den Gesang bestimmt. Die 1813 begonnene, 1816 ergänzte und 1820 in der Zeitschrift „Über Kunst und Ahertum" gedruckte „Ballade" kann davon einen Eindruck geben. Goethe hat diesem Gedicht programmatischen Charakter zugebilligt. Schon in seinem Kommentar zu diesem Gedicht („Ballade, Betrachtung und Auslegung") äußert er sich in diesem Sinn, aber auch der Gedichttitel ist Hinweis darauf Nicht eigentlich aus Verlegenheit ist dieser Titel gewählt worden, wie Erich Trunz meint,'^ sondern um die Mustergültigkeit des Textes anzuzeigen.'^ In dem Gedicht tritt ein Sänger auf, der eine Ballade vor einem kleinen Publikum in einem Ritterschloß singt. Der Text macht nicht nur vor, welcher Art eine Ballade zu sein hat, sondern auch, daß der gesungene Vortrag zur Ballade gehört.
9 6 Vgl. HA 1 : 6 7 0 . 9 7 Ähnlich: Goethes „Novelle". - Eckermann und Riemer ersetzen im übrigen in der Quartausgabe den Titel „Ballade, Betrachtung und Auslegung" durch „Ueber die Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen". Vgl. Q, Bd. 1: 423.
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Hingegen macht sich Goethe in den „Vermischten Gedichten" von 1789 viele Möglichkeiten der Schriftlichkeit zueigen: Die Gedichte stehen teils in Wechselbeziehung zueinander, sie ergänzen sich oder stehen im Kontrast. Häufig sind es die Gedichttitel, die die Zusammengehörigkeit mehrerer Gedichte herstellen oder die diese Beziehungen wenigstens andeuten. Die „Römischen Elegien" und die „Venezianischen Epigramme" treten als Ensembles auf. Die Wahrnehmung ihrer internen Zusammenhänge setzt ihre schriftliche Realisierung voraus. Auch die „Xenien" sind für das Medium der Schriftlichkeit gemacht. Goethes schon früh bekundetes Mißtrauen gegenüber der schriftlichen Publizität seiner Gedichte scheint sich zumindest im Zusammenhang mit den „Vermischten Schriften" von 1789 aufgelöst zu haben. Aber es ist fortan nicht aus dem Horizont seines Denkens verschwunden. Daftir spricht die Motivik des Gedichts „An Lina", das er während der Vorbereitung des siebenten Bandes der „Neuen Schriften" von 1800 verfaßt hat: An Lina Liebchen, kommen diese Lieder Jemals wieder dir zu Hand, Sitze beim Klaviere nieder. W o der Freund sonst bei dir stand. Laß die Saiten rasch ericlingen. Und dann sieh in's Buch hinein. Nur nicht lesen! immer singen! Und ein jedes Blatt ist dein. Ach, wie traurig sieht in Lettern, Schwarz auf weiß, das Lied mich an. Das aus deinem Mund vergöttern. Das ein Herz zerreißen kann!''
Goethes Lieddichtung tritt zwar in den 90er Jahren hinter seine klassizistische Lyrik zurück, aber sie verliert sich nicht ganz. Die Rede über die Lied- und die Gesangskultur, die sich in diesem Gedicht mit einem Vorbehalt gegen die Schriftlichkeit verbindet, liest sich wie eine Reminiszenz an Herders Verdikt gegen die 'Lettemkunst', wie dieser es, gepaart mit der Empfehlung, nur gelten zu lassen, was gesungen werden kann, in dem „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker" formuliert hat.'' 98 F A I / I : 6 4 5 f . 99 Vgl. Herder 1877-1913, Bd. 5: 159-203. - Herder verwendet in mißbilligender Weise Ausdrükke wie „Lettemart" und „Lettern Verse".
V. Werke (1815) Mehrmals nach 1789 hat Goethe im Rahmen von Werkausgaben auch Gedichte publiziert. 1800 erscheint der siebente Band der „Neuen Schriften". In einem Brief an seinen Verleger Unger schreibt Goethe während der Vorbereitungen zu dem Band: „Dürfte ich Sie ersuchen zu denen Exemplaren welche Sie mir bestimmen noch einen besondern Titel drucken zu lassen und zwar folgender maßen: Goethe's neuste Gedichte. Ich würde Personen, die auch die ersten Bände nicht besitzen, dadurch eine Artigkeit erzeigen können."' Unger entsprach dem Wunsch und druckte eine Titelauflage des Gedichtbands mit dem Titel „Göthe's neueste Gedichte". Gegenüber der Ausgabe von 1789 sind die in dem Band vereinten Gedichte in der Tat neu. Er bringt bis auf wenige Ausnahmen wie zum Beispiel „Der Fischer" und „Erlkönig" nur solche Gedichte, die zwischen 1790 und 1799 entstanden sind. In diesem Sinn schreibt Goethe am 17. September 1799 an Knebel: „Ich habe sechs Wochen in meinem alten Garten zugebracht [...] In der ziemlichen Abgesondertheit, in der ich daselbst lebte, nahm ich meine kleinem Gedichte vor, die etwa seit 10 Jahren das Licht der Welt erblickten. Ich stellte sie zusammen und suchte ihnen sowohl an Gehalt als Form was fehlen mochte zu geben und ich werde noch eine Zeit lang zu arbeiten haben, wenn ich mir genug thun will. Es ist indessen eine angenehme Beschäftigung."^ Nur wenige Gedichte sind bei der Vorbereitung des Bandes überhaupt erst entstanden („An die Günstigen", „Der Musensohn", „An Lina"). Die meisten Gedichte waren bekannt: nicht nur durch Bekanntgabe in privaten, vorwiegend Weimarer Zirkeln, sondern auch durch den vorherigen Druck in Zeitschriften. Der Gedichtband in den „Neuen Schriften" ist eine Zwischensumme von Goethes lyrischer Produktion. Er enthält Lieder, Balladen und Romanzen, Elegien, Epigramme und anderes. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem ersten und dem achten Band von „Goethes Werken", die 1806 und 1808 bei Cotta erschienen sind. Hier sind die Gedichte, die auch schon in der Ausgabe von 1800 enthalten sind, erneut ver-
W A I V / 1 5 : 52. W A I V / 1 4 : 184.
Ordnung und Unordnung
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sammelt und ergänzt um die „Episteln", eine Vielzahl von Liedern und (im achten Band) um zwei Parabeln und einige Stücke aus älterer Produktion („Legende", „Erklärung eines alten Holzschnittes", „Auf Miedings Tod"). Erst die beiden Gedichtbände, die 1815 die zweite Cottasche Werkausgabe („Goethes Werke", 1815-1819) eröffnen, bringen neben vielem Bekannten substantiell Neues. Darum seien von den Gedichtbänden der drei Werkausgaben diese genauer in den Blick genommen.
1. Ordnung und Unordnung Die vielen Einzeltexte in den Gedichtbänden der zweiten Cottaschen Werkausgabe treten geordnet in Erscheinung. Goethe gruppiert die Gedichte. Den einzelnen Gedichtgruppen gibt er Rubrikentitel. Einige Gedichtgruppen betitelt Goethe mit Gattungsnamen. Diese treten mit oder ohne Ergänzung auf: „Lieder", „Gesellige Lieder", „Balladen", „Elegien 1", „Elegien II", „Epigramme. Venedig 1790", „Sonette", „Kantaten" und „Vermischte Gedichte". Auch die aus Adverbien gebildeten Titel „Sprichwörtlich" und „Epigrammatisch" gehören in diesen Zusammenhang. Auch sie werden in dem Bewußtsein gebraucht, eine Gattungszugehörigkeit zu signalisieren. Freilich geschieht dies im Fall von „Epigrammatisch" in vergleichsweise lockerer Form. In der Rubrik sind neben formgerechten Epigrammen auch liedähnliche Gebilde („Schneider-Courage"), Dialoggedichte und ein Sonett enthalten. Was in loser Familienähnlichkeit unter dem Rubrikentitel vereint ist, das sind zugespitzte, geistreich pointierte, reflektierende und oft ans Satirische heranreichende Dichtungen. Was für „Sprichwörtlich" und für „Epigrammatisch" gilt, kann auch für „Parabolisch" in Anspruch genommen werden. Die Rubrik vereint gleichnishafte Gedichte, deren Besonderes, das sie mitteilen, als je ein Beispiel für je ein Allgemeines aufgefaßt werden soll. Die Rubrikentitel anderer Gedichtgruppen geben thematische Orientierung über die zusammengefaßten Gedichte: „Weissagungen des Bakis", „Vier Jahrszeiten", „Kunst" und „Gott, Gemüt und Welt". Die Rubrikentitel „Aus Wilhelm Meister" und „Antiker Form sich nähernd" stellen SonderfUlle vor. Der eine bezieht sich auf den Roman, aus dem die Gedichte in der so benannten Gruppe entnommen sind. Der andere drückt eine ästhetische Haltung aus. Er kündigt Gedichte an, die sich eines klassisch vorgeprägten Bestands an Formen in der Absicht bedienen, der für gewichtig und mustergültig gehaltenen klassisch-antiken Dichtung etwas Gleichgewichtiges zur Seite zu stellen. Der Titel bereitet auf klassizistische Dichtungen vor.
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Werke ( 1 8 1 5 )
Auch der Rubrikentitel „An Personen" bildet einen Sonderfall. Er sagt etwas über den Gebrauch, für den die Gedichte in der Rubrik gemacht sind. Es sind Gelegenheitsgedichte, die ursprünglich für Personen, denen Goethe nahestand, gemacht waren. In dem Motto dieser Rubrik nennt Goethe sie „meine Lieben".^ Auch unterhalb der Rubrikenebene gibt es im Einzelfall eine Ordnung der Gedichte. Hier spielt die Verteilung der Gedichte auf der Druckseite eine Rolle. Üblicherweise beginnt jedes Gedicht mit einer neuen Seite. Aber gelegentlich wird die Zusammengehörigkeit von Gedichten dadurch erkennbar, daß sie auf einer Seite stehen. Goethe hat das Verfahren schon in der Ausgabe von 1789 ефгоЫ. Die Zusammengehörigkeit vieler Gedichte wird außerdem auf ihrer Titelebene signalisiert. In den „Liedern" folgt auf „Wandrers Nachtlied" das berühmte Gedicht mit dem Titelsubstitut „Ein Gleiches",'* in den „Geselligen Liedern" folgt auf „Kophtisches Lied" „Ein Andres" und in der Rubrik „An Personen" folgen auf das Gedicht „An Tischbein" drei Gedichte mit dem Namen „An denselben". Die Gedichte in der zweiten Cottaschen Werkausgabe erscheinen geordnet. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen dieser Ausgabe und den Werkausgaben von 1800 und 1806/08. Aber das Bemühen um Ordnung ist nicht rigoros. Es gibt in der zweiten Cottaschen Werkausgabe allerlei Elemente von Unordnung, die die beiden früheren Werkausgaben nicht haben. Und das ist auch an den Titeln einzelner Gedichte oder im Zusammenspiel eines Rubrikentitels mit einem Einzeltitel zu erkennen. Unter den „Geselligen Liedern" befinden sich die Gedichte „Dauer im Wechsel" und „Weltseele" - zwei Gedichte, deren Titel philosophisches oder doch wenigstens gedankliches Schwergewicht im Kontext thematisch einfach gehaltener Texte ankündigen. Unter den „Balladen" stehen gleich zu Beginn zwei Lieder aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre", von denen zumindest das erste (Anfangsvers: „Kennst du das Land? wo die Citronen blühn"), dessen Überschrift „Mignon" dem Kenner die ursprüngliche Einbettung des Gedichts in Goethes Roman andeutet, kaum als Ballade gelten kann.^ In der Rubrik „Kantaten" steht das Gedicht „Johanna Sebus". Möglicherweise wegen seines Refrains hat Goethe das Gedicht in diese Rubrik aufgenommen. Da es sich bei „Johanna Sebus" doch wohl um eine Ballade handelt, ist allerdings zu fragen, warum es nicht in die Abteilung „Balladen" eingegliedert worden ist.
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FA 1 / 2 : 334. Daß diese Formel in anderem Kontext nicht Titelersatz, sondern Titel sein kann, zeigt Ernst Jandls Lautgedicht „Ein gleiches" in dem Band „der künstliche bäum". Oerade damit, daß Goethe dieses Gedicht in die Rubrik „Balladen" einordnet, sei angezeigt, so Oskar Seidlin, daß es sich um eine Ballade handelt (vgl. Seidlin 1950: 83-88). Diese Einschätzung ist nicht zwingend. Der Balladenbegriff des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist noch kein fest umrissener. Deshalb muß nicht schon alles Ballade sein, was so genannt wird.
Ordnung und Unordnung
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All diese Zuordnungen zu den jeweiligen Gruppen beruhen nicht auf Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit. Es handelt sich nicht um Fälle von mangelhafter Systematik, eher schon um Fälle von Anti-Systematik. Im Unterschied zu jenen sind diese keineswegs ftmktionslos. Die Gedichte „Dauer im Wechsel" und „Weltseele" geben der Geselligkeit, für die die „Geselligen Lieder" gemacht sind, Tiefe. Das Band, das die Lieder zwischen denen knüpfen wollen, die sie singen, soll nicht nur überhaupt „zivilisierte Formen menschlichen Zusammenseins" stiften.^ Es soll die Geselligkeit auch philosophisch durchdringen. Die Aufnahme des Mignon-Liedes in die Rubrik „Balladen" kann plausibel nur unter Einbeziehung seiner Stellung innerhalb dieser Rubrik erklärt werden. Wer die Rubrik „Balladen" linear von vorn nach hinten liest, wird in mehrfacher Weise auf die Rezeption der Texte vorbereitet. Der Rubrikentitel informiert über das vorliegende literarische Textsystem und seinen Namen. Das Motto („Märchen, noch so wunderbar / Dichterkünste machen's wahr.") bereitet auf mögliche inhaltliche Bestimmungsstücke der nachfolgenden Balladen vor; in ihnen darf Märchenhaftes und Wunderbares erwartet werden. Und das Mignon-Lied, das keine Ballade ist, denn es erzählt kein konflikthaltiges Geschehen,^ löst ein, was das Motto ankündigt. Rubrikentitel, Motto und erstes Gedicht sind Anfangssignale; sie steuern die Rezeption der nachfolgenden Balladen. Außerdem schafft das Mignon-Lied einen weichen Übergang zwischen der vorhergehenden Rubrik „Gesellige Lieder" und der Rubrik „Balladen".' Es ist Lied und nicht Ballade, hat aber Qualitäten, die Goethe der Balladenform zuschreibt. „Die Ballade hat etwas Mysteriöses", schreibt Goethe in „Ballade, Betrachtung und Auslegung".' Dieses 'Mysteriöse' wird man dem Sehnsuchtslied Mignons nicht absprechen wollen. Das Gedicht „Johanna Sebus" ist wohl aus Rücksicht auf die Unterschiede zu den dort versammelten Gedichten nicht unter die „Balladen" gefallen. Zwar ist es eine Ballade, aber doch eine mit sehr spezifischen Qualitäten. Der Text hat eine reale Begebenheit als stoffliche Grundlage. In Sprache und Diktion ist es einfach. Erich Trunz bezeichnet das Gedicht als schlicht, kraftvoll und volksnah.'" Goethe selbst hat es eine „naive Production" genannt." Vermutlich darum hat Goethe es nicht in die Rubrik „Balladen" aufgenommen.
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Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 1: 280. Auch die „Jubiläums-Ausgabe" sieht in dem Mignon-Lied keine Ballade. Die Herausgeber bringen es editorisch eigenmächtig in der Rubrik „Aus Wilhelm Meister". 8 Vgl. M e y e r l 9 5 2 : 158. 9 WAI/41,1:223. 10 Vgl. HA 1 : 6 6 8 . 11 W A I V / 2 1 : 199.
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Werke (1815)
2. Lieder/Gesellige Lieder Viele Lieder, die die Ausgabe von 1815 (aber auch schon die von 1806) enthält, sind im Titel als solche gekennzeichnet (z.B. „Wechsellied zum Tanze", „Novemberlied", „Schäfers Klagelied", „Sicilianisches Lied"). Diese Titelgebung ist konventionell. Es handelt sich um eine in der Lieddichtung überhaupt häufig befolgte Titelpraxis. Daneben zeichnen sich einige Liedtitel durch Wiederholungsstrukturen aus als würde in diesen Fällen das iterative Vorkommen klanglicher Elemente, das dem Lied wesentlich ist, auf der Titelebene abgebildet. Es lassen sich Alliterationen finden: Trost in Tränen Geistes-Gruß Wonne der Wehmut Die glücklichen Gatten Musen und Grazien in der Mark
Auch Wiederholungen lexikalischen Sprachmaterials gibt es: Gleich und gleich Neue Liebe, neues Leben
Im übrigen ist unter den Titeln der Lieder wenigstens einer zu verzeichnen, der aus der Rolle fällt. Es handelt sich um „An Mignon". Er läßt sich mühelos in eine Serie ihm gleich- oder ähnlichgebauter Liedtitel einordnen: An die Günstigen An Luna An die Erwählte An die Entfernte An Belinden An Lottchen An ein goldnes Herz, das er am Halse trug An den Mond An Lina
Und doch weicht der Titel „An Mignon" in einem wesentlichen Moment von den übrigen ab. Werner Kraft bezeichnet ihn als „rätselhaft".'^ Denn während sich die Masse der Gedichttitel dieses Typs an Dinge oder Personen richtet, von denen in den Gedichten die Rede ist, richtet sich das Gedicht „An Mignon" 12 Kraft 1986: 83.
A u s Wilhelm Meister
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mittels seines Titels an eine Figur, von der im Gedicht nicht weiter die Rede ist; zudem an eine Figur aus einer vorgegebenen Fiiction. Das Gedicht ist ein Rollengedicht; in ihm spricht sich ein schmerzensreiches Ich aus. Warum ist Mignon die Adressatin der Rede? Man wird sagen können, daß Mignon der Sprecherin des Gedichts Gewährschaft zu leisten vermag. Es wird der Anschein erweckt, als bestünde zwischen der Sprecherin und Mignon - in Goethes Roman die Person gewordene Unerflilitheit und Sehnsucht - ein Band. Die heftig fühlende Sprecherin richtet sich an Mignon - eine Gestalt, die ihrerseits befähigt ist, starken Empfindungen Ausdruck zu geben. Der Gedichttitel steht im Dienst der Emphase. Die Äußerung des Äußersten im Gedicht erhält ein Echtheitssiegel dadurch, daß es an jemanden gerichtet ist, der zu Ähnlichem in der Lage ist. Karl Eibl dazu: „Indem Goethe dieses Rollengedicht einer Frau an Mignon, die Figur aus dem Wilhelm Meister, sprechen läßt, kann er es an dessen Voraussetzungen partizipieren lassen."''
3. Aus Wilhelm Meister Eine gesonderte Betrachtung verdienen die sieben Gedichte, die Goethe unter dem Rubrikentitel „Aus Wilhelm Meister" zusammenfaßt. Die Reihenfolge der Gedichte folgt nicht ihrer Abfolge im Romangeschehen; nicht einmal alle Lieder, die in dem Roman gesungen werden, sind hier versammelt. Goethe ordnet drei Mignon-Lieder und drei Harfher-Lieder zusammen; am Schluß folgt das Lied, das Philine im fiinften Buch des „Wilhelm Meister" singt. Das erste Mignon-Lied heißt „Mignon", die übrigen „Dieselbe". Das erste Harfher-Lied heißt „Harfenspieler", die übrigen „Derselbe". Philines Lied heißt „Philine". Die Überschriften „Mignon", „Harfenspieler" und „Philine" haben dieselbe Erscheinungsform wie Sprecherangaben. Da sie nicht eigentlich benennen - so könnte man bei flüchtiger Anschauung konstatieren -, handelt es sich nicht um Titel, sondern um Titelsubstitute (und bei den Angaben „Dieselbe" und „Derselbe" um Titelsubstitute zweiter Stufe, um Substitute von Substituten). Bei isolierter Betrachtung würde man ihnen dieselbe Funktion zuschreiben, wie sie Sprecherangaben im Drama haben. Tatsächlich aber wäre ihre Funktion damit nicht vollständig bestimmt. Die Sprecherangaben ersetzen den Romankontext, in dem die Lieder ursprünglich stehen. Die Bedeutung von „Mignon" ist nicht mit „Es ist Mignon, die das folgende Lied singt" zu umschreiben, sondern eher mit „Dieses Lied singt Mignon, das junge Wesen in 'Wilhelm Meisters Lehrjahre'". Die paratextueile Umgebung - der Rubrikentitel und das Motto („Auch
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Werke ( 1 8 1 5 )
vernehmet, im Gedränge / Jener Genien Gesänge"''') - icann als Argument für diese Paraphrasierung der Überschrift genommen werden. Aber auch ohne das Zusammenspiel der Überschrift mit seiner Umgebung ist die Funktion von „Mignon" (genauso wie die von „Harfenspieler" und „Philine") die Ersetzung des nicht mitgeteilten Romanzusammenhangs. Die sieben Gedichte aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre" werden in der Fiktion des Romans gesungen. Dort erscheinen sie um der Fiktion der Mündlichkeit willen ohne Titel und stehen in dieser Hinsicht - um nur einige Beispiele zu nennen - zusammen mit dem Lied des Einsiedels in Grimmelshausens Simplicissimus-Roman, den Liedern in Novalis' „Heinrich von Ofterdingen", denen in Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts" sowie denen in Mörikes „Maler Nohen" und Goethes Lied „Mit einem gemalten Bande", das am Ende von Gottfried Kellers „Sinngedicht" gesungen wird, in einer Vergleichsklasse. Die Überschriften in der Ausgabe von 1815 sind ein Resultat der Isolierung der Gedichte aus der Romanfiktion. Der Identifizierbarkeit halber sind die Gedichte mit Überschriften versehen worden. Darin gleichen sie zum Beispiel den stets thematischen Titeln, die Mörike den Liedern im „Maler Nolten" bei ihrer separaten Publikation gegeben hat. Der hier außerdem gegebene Fall, daß Gedichtüberschriften einen erzählten Kontext ersetzen - wenn auch nur in einem Punkt: der Angabe über eine Person in einer vorgegebenen Fiktion - findet sich auch anderswo. Dasselbe Phänomen liegt bei einigen Titeln vor, die Johann Thomas seinem Roman „Dämon und Lisille" in einem Register (als Ergänzung zu den in der Romanfiktion unbetitelt enthaltenen Gedichten) beiftlgt.'^ Auch für einige Titel, die Eichendorff den Gedichten aus seinen Romanen und Erzählungen bei der separaten Publikation gegeben hat, gilt dasselbe. Das in „Ahnung und Gegenwart" von einem 'schönen italienischen Mädchen' gesungene Lied heißt in der später erschienenen Publikation von Eichendorffs Gedichten „Die Kleine"; das anfangs in der Erzählung „Aus dem Leben eines Taugenichts" von der umherziehenden Hauptfigur gesungene Lied heißt später „Der frohe Wandersmann". All diese Sprecherangaben tendieren, da sie nicht nur die Mündlichkeit des jeweiligen Gedichts anzeigen, sondern auch Ersatz des im Roman erzählten Kontexts sind, dazu, rhematische Titel zu sein. Denn sie sagen etwas über die jeweiligen Ge-
14 F A l / 2 : 321. 15 Es gibt auch - sei es in epischen, sei es in dramatischen Fiktionen - gesungene Lieder, die im Druck mit Titeln erscheinen. Solche Zugeständnisse an das Auge können ästhetische Mißgriffe sein; eine solche Gattungsverfehlung liegt mehrfach in Tiecks „Franz Stembalds Wanderungen" vor. Oder sie dienen bestimmten Zwecksetzungen, zum Beispiel der Hervorhebung eines Liedes innerhalb seines Kontextes. Die Liedtitel in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan" dienen dem Verfremdungseffekt. 16 Thomas nennt ein Gedicht „Der vergnügte Damon" - der vergnügte Damon singt es -, ein anderes „Der kranke Damon" - der kranke Damon singt es -; wieder ein anderes heißt „Der verlangende Damon" - der begehrende Damon singt es.
Sonette
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dichte, was die Sprecherangabe der gewöhnlichen Art nicht leistet. Solche Überschriften sind keine reinen Sprecherangaben, sondern Titel, die in Gestalt von Sprecherangaben auftreten.
4. Sonette Die Rubrik „Sonette", mit der der zweite Band der Ausgabe von 1815 beginnt, enthält Texte, die im Winter 1807/08 entstanden sind. Es ist nicht das erste Mal, daß Goethe hier die romanische Form des Sonetts wählt. Bereits 1802 sind das programmatische Gedicht „Das Sonett" und das unbetitelte Gedicht „Natur und Kunst sie scheinen sich zu fliehen" entstanden. Während das erste dieser beiden Einzelstücke ein Mißtrauen gegenüber dem als statuarisch eingeschätzten Gedichtmaß ausdrückt, weist das zweite auf die produktive Kunstübung, die das Schreiben von Sonetten bedeuten kann.'^ Hier schließen die „Sonette" von 1807/08 an. Auch sie sind das Resultat eines produktiven Umgangs mit dem romanischen Gedichtmaß. Nach 1800 hat Goethe kaum noch antikisierend gedichtet. Eine der wenigen Ausnahmen ist das große Hexametergedicht „Metamoφhose der Tiere". Werkgeschichtlich markieren die „Sonette" insofern einen poetischen Neuanfang wie es in je anderer Hinsicht auch „Die Wahlverwandtschaften", „Pandora" und „Wilhelm Meisters Wanderjahre" tun. In der Entwicklungsgeschichte der Goetheschen Lyrik kann man die „Sonette" freilich auch als eine Zwischenstation ansehen. Die dialogische Struktur, die die „Sonette" auszeichnet, bestimmt vereinzelt auch schon fillher entstandene Gedichte von Goethe (z. B. „Der Wandrer", „Kenner und Künstler"). Aber erst nach den „Sonetten", im „Westöstlichen Divan", treibt Goethe diese Technik zur Blüte. Die „Sonette" waren von vornherein als ein zusammenhängendes Gedichtensemble geplant. Aber keine durchgehende Handlung bindet die fünfzehn Gedichte aneinander, sondern eine Kette aufeinander bezogener Motive und Themen. Zwischen dem männlichen Sprecher und einem Mädchen entwickelt sich ein Liebesverhältnis (Sonett II). Von Entsagung (Sonett VI) und von der Trennung der Liebenden (Sonett VII) ist die Rede. Drei Sonette in Briefform folgen (Sonette VIII, IX, X). Am Ende des Ensembles steht das Thema Dichtung. In einem Dialog, an dem der männliche Sprecher, der Dichter ist, sich beteiligt, wird über das Dichten von Sonetten reflektiert (Sonette XIV, XV).
17 Dasselbe gilt für das in „Die natürliche Tochter" (2. Akt, 4. Szene) eingelegte Sonett. 18 Vgl. Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 1: 298f.
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Werke (1815)
Die Titelpraxis in den „Sonetten" ist weder einförmig noch einfach, sondern heterogen und insofern icompiex. In dieser Komplexität spiegeln sich Eigenheiten der „Sonette". Der Rubrikentitel „Sonette" stellt nicht mehr als die gleichartige Form der einzelnen Gedichte in Erwartung; einen inneren Zusammenhang zwischen den Texten stiftet er nicht. Dies allerdings leisten einige ihrer Titel. Zum Beispiel die Titel der ersten beiden Gedichte. „Mächtiges Überraschen" und „Freundliches Begegnen" sind syntaktisch gleichartig gebaut und metrisch gleichförmig darin, daß beide Syntagmen daktylisch beginnen. Die Titel folgen einem Muster. Freilich verbinden sie sehr verschiedene Gedichte. Das erste Sonett spricht von einem Strom, dessen Lauf plötzlich gehemmt wird. Was der Titel „Mächtiges Überraschen" in diesem Zusammenhang sagt, ist nicht ganz eindeutig. Es ist ein opaker Titel. Denn die menschliche Reaktion, die er doch wohl bezeichnet, bezieht sich auf einen Vorgang in der Natur. Der Zusammenhang zwischen der Sphäre des Menschlichen und der Sphäre der Natur ist nicht ohne weiteres klar. In dem zweiten Sonett spricht ein Ich über seine Begegnung mit einer jungen Frau. Darauf zielt auch der Titel des Gedichts. Da die sprachliche Ähnlichkeit zwischen den Gedichttiteln der ersten beiden Sonette einen Zusammenhang zwischen ihnen stiftet, setzen die beiden Gedichte innerhalb der Gesamtheit der „Sonette" einen zusammenhängenden Anfang. Wo aber innerhalb einer Reihe von Gedichten ein zusammenhängender Anfang gesetzt ist, da wird die Disposition dafür geschaffen, daß auch das Folgende mit diesem Anfang verkettet gesehen wird. In der Goethe-Forschung wird ein Zusammenhang zwischen dem ersten Sonett und den übrigen Gedichten gesehen. Der in seinem Lauf gehemmte Strom wird als Bild erkannt, das sich auf das überraschende Liebeserlebnis, von dem in den „Sonetten" die Rede ist, und das überraschende Kunsterlebnis, das die Begegnung des Dichters mit dem Sonett bedeutet, b e z i e h t . D i e Titelpraxis in den ersten beiden Sonetten deutet den Zusammenhang an. Andere Titel in dem Sonettenensemble tragen ebenfalls zur Stiftung von Textzusammenhängen bei. So reicht von dem Titel „Freundliches Begegnen" eine Brücke bis zu dem Titel des siebenten Gedichts, „Abschied". Die Titel „Die Liebende schreibt", „Die Liebende abermals" und „Sie kann nicht enden" bilden prima facie einen Zusammenhang. Sowohl der Rubrikentitel als auch einige Einzeltitel des Sonettenensembles stiften einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Texten. Aber in der Titelpraxis des Goetheschen Gedichtœuvres ist nicht dies das Neue, was die „Sonette" bringen. Auch vorher schon hat Goethe gattungsgleiche Gedichte
19 So W o l f r i 9 5 2 : 141 und Schlutter 1969: 124 und Wünsch 1 9 7 5 : 2 1 3 - 2 2 0 .
Bilanz
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zusanmengestellt und ihre Zusammengehörigkeit in der Titelgebung signalisiert. Es sei an die Volksbaliaden aus dem Elsaß erinnert. Ebenfalls nicht als neu kann gelten, daß motivisch-thematische Zusammenhänge zwischen den Gedichten des Ensembles bestehen und sich diese auf der Titelebene spiegeln. Vereinzelt hat es so etwas in der Goetheschen Lyrik auch schon vorher gegeben. Neu hingegen ist, daß eine bestimmte Art innerer Strukturiertheit des Sonettenensembles auf der Titelebene abgebildet wird. Es betrifft dies die Erscheinungen von Kommunikation, von denen die „Sonette" durchsetzt sind. Das vierte Sonett ist als mündliche Rede des Mädchens zu verstehen. Das signalisiert sein Titel, der eigentlich Regieanweisung ist: „Das Mädchen spricht". Das achte, neunte und zehnte Sonett sind Rede in Briefform. Auch dies wird paratextuell signalisiert, durch Titel. Einzelne Partien des vierzehnten und fiinfzehnten Sonetts werden von jeweils verschiedenen Sprechern gesprochen, die durch Sprecherangaben identifizierbar sind. Die Welt der Goetheschen „Sonette" ist eine, in der es mündliche und schriftliche Rede gibt. Dort, wo die Suggestion der Unmittelbarkeit der Rede am größten ist - in der mündlichen Rede -, gebraucht Goethe allerdings nicht Titel zur Kennzeichnung der Gedichte, sondern Titelersatzformen, Regieanweisungen. Dies ist das Besondere: daß innerhalb eines Gedichtensembles die Suggestion von Kommunikation und Mündlichkeit auf der Titelebene markiert wird. Das Phänomen wird im Zusammenhang mit dem „West-östlichen Divan" an Deutlichkeit gewinnen.
5. Bilanz Der Titel ist an das Medium der Schriftlichkeit gebunden. Daß sich Goethe in den Gedichten, die in der Werkausgabe von 1815 erscheinen, des Titels in vielfältiger Weise bedient, ist darum nicht ungewöhnlich. Weiterhin hat es nicht als ungewöhnlich zu gelten, daß Goethe seine Titelpraxis in den Dienst der Ensemblebildung stellt. Goethe hat ja auch schon früher einen solchen Gebrauch von Titeln gemacht. Hinzuzufügen ist nur, daß Goethe diese Praxis, vergleicht man die Ausgabe von 1815 mit der von 1789, um viele Möglichkeiten erweitert. Ungewöhnlich hingegen ist, daß innerhalb der homogenen Zusammenhänge, die einzelne Gedichtensembles der Werkausgabe bilden, Erscheinungen von Inhomogenität vorliegen. An beidem - der Stiftung von Homogenität und der Stiftung von Inhomogenität - sind Gedichttitel beteiligt. Das Letztere ist ein spezifisches Attribut der Titelpraxis in der Ausgabe von 1815. Des weiteren kann die Titelpraxis in der Werkausgabe als ungewöhnlich dort gelten, wo im Medium des Titels („Mignon") oder durch Titelsubstitute Mündlichkeit suggeriert wird.
VI. West-Östlicher Divan
1. Die Erstausgabe von 1819 1.1. Entstehungsgeschichte und Titelgeschichte Der „Divan" ist eine Ausnahmeerscheinung in Goethes Werk. Als er nämlich 1819 bei Cotta erschien, war dies - abgesehen von den Huldigungsgedichten „Im Namen der Bürgerschaft von Carlsbad" - Goethes einzige separate Veröffentlichung eines großen Gedichtkonvoluts. Seine übrigen Gedichte waren, wenn sie überhaupt zum Druck gelangten, stets integriert in Zeitschriften oder Werkausgaben oder als Bestandteile von Romanen oder Dramen erschienen. Die Entstehungsgeschichte der Divan-Gedichte ist auch die Geschichte ihrer Betitelung. Darum sei sie knapp skizziert, zunächst freilich nur bis zum Erscheinungstermin der Erstausgabe des „Divans". Die ersten Gedichte hat Goethe im Mai/Juni 1814 verfaßt, während der Arbeit an dem Festspiel „Des Epimenides Erwachen" und nachdem er die Gedichte des persischen Dichters Hafis in Joseph von Hammer-Purgstalls Übersetzung kennengelemt hatte.' Ende Juli 1814 hat Goethe die ersten Gedichte nach ihrer Entstehungsfolge geordnet. In einem Brief an Christiane (28. Juli 1814) nennt er sie „Gedichte an Hafis"; sie zeichnen sich durch einen engen Bezug auf die Dichtungen von Hafis aus. Bis zum Ende des Jahres 1814 erweitert sich rasch das Konvolut der Gedichte, die nun nicht mehr nur im Zusammenhang mit Goethes HafisLektüre, sondern auch im Zusammenhang umfassender Orientstudien entstehen; im Tagebuch vom 14. Dezember 1814 spricht Goethe vom „Deutschen Divan". Bis zur Mitte des Jahres 1815 wächst der „Divan" abermals; viele Gedichte und Sprüche entstehen. Ende Mai ordnet Goethe die bis dahin entstandenen Gedichte, die er „Des Deutschen Divans manigfaltige Glieder" nennt, nach Stichwörtem in dem sogenannten „Wiesbadener Register". In der zweiten Jahreshälfte entstehen dann die Liebesgedichte, aus denen später das „Buch Suleika" gebildet wird. Hinzu kommen auch weitere Spruchdichtungen. Am 24. Februar 1816 kündigt Cottas „Morgenblatt ftir gebildete Stände" das Erscheinen des „Westöstlichen Divans oder Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient" an - ein vorläufiger Titel, den Hermann Hettner als „unbegreiflich
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Zur Entstehungsgeschichte vgl. Burdach 1955. - Solms 1974: 20-28. - FA 1 / 3,1: 725-736.
Die Erstausgabe von 1819
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unbeholfen" bezeichnet.^ Doch statt der baldigen Veröffentlichung kommt es nur zu Vorabdrucken einzelner Divan-Gedichte vor allem in Zeitschriften. Nach längerer Unterbrechung setzt seit Ende des Jahres 1817 Goethes Arbeit am „Divan" wieder ein. Weitere Gedichte entstehen, vor allem aber fügt Goethe dem Ganzen den großen Prosateil hinzu. Im August 1819 erscheint die Erstausgabe des „Divans". Während der Arbeit am „Divan" standen die Gedichttitel nicht von vornherein fest. Vielmehr hat die Titelsetzung durch alle Vorstufen des „Divans" bis zu seiner ersten Veröffentlichung vielfache Veränderungen erfahren. Goethes Arbeit am „Divan" ist auch eine an den Gedichttiteln. Wer die Veränderungen beschreiben will, wird sich vor allem an die Titel halten müssen, die Goethe den Gedichten in „Des Deutschen Divans manigfaltige Glieder", in den Vorabdrukken und in der Erstausgabe gegeben hat. Nur bedingt zur Beschreibung der Titelgenese geeignet sind die Kennzeichnungen, die Goethe im „Wiesbadener Register" gegeben hat. Hierbei handelt es sich nämlich nicht um Titel, sondern lediglich um Textnamen. Birus bezeichnet sie als Titelstichworte, Kenn- und Merkworte.^ Hingegen sind die handschriftlichen Vorstufen des „Divans" geeignet. Allerdings ist zu bedenken, daß die Titel, soweit sie in den handschriftlichen Texten überhaupt vorliegen, häufig erst nachträglich in sie eingetragen worden sind und in diesen Fällen nicht mit Gewißheit einer Textstufe angehören, die den „Manigfaltigen Gliedern" vorhergeht.'' Die Titelpraxis zeichnet sich im Verlauf der Entstehungsgeschichte des „Divans" durch konstante und durch variierende Elemente aus. Zu den Konstanten zählt durch alle Textstufen hindurch die Bewahrung der Titellosigkeit vieler Gedichte. Das betrifft viele Gedichte im „Buch der Betrachtungen", die überwiegende Zahl der Gedichte und Sprüche im „Buch des Unmuths" und des „Buchs der Sprüche", außerdem einige Gedichte im „Schenkenbuch". Die Veränderungen in der Titelpraxis lassen sich mehrfach typisieren. Erstens: Zunächst titellose Gedichte - und das sind in den Handschriften fast alle Gedichte - werden in späteren Fassungen betitelt. - Zweitens: Zunächst mit Titelsubstituten versehene Gedichte werden auf einer späteren Textstufe betitelt. Dem Gedicht „Elemente" stand zunächst die Überschrift „Buchstabe Sin Gasele XIII" voran. In demselben Sinn war „Erschaffen und Beleben" mit „Buchstabe Dal 18te Gasele", „Selige Sehnsucht" mit „Buchstabe Sad. Gasele 1" und „Unvermeidlich" mit „Buchstabe Sa Gasele ΧΧΠ" überschrieben. Das unbetitelte Gedicht im „Schenkenbuch" mit dem Anfangsvers „So lang' man nüchtern ist" wurde vorher unter „Buchstabe Nun. XXV Gasele" geführt. Diese Kennzeichnungen der filihen Textfassungen beziehen sich auf die Vorgaben, die Hammer-Purgstalls Hafis-Übersetzung für
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H e t t n e r l 9 7 9 , Bd. 2 : 7 2 0 . Vgl. FA 1 / 3 , 2 : 1676 und 1678. Das gilt z.B. für „Hegire", „Vier Gnaden", „Phaenomen", „Allleben" und „Lesebuch".
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West-östlicher Divan
Goethe bildet. Goethe hat sie seinen Gedichten zugrundegeiegt.^ Die frühen Gedichtkennzeichnungen deuten auf die Nähe der Goetheschen Gedichte zu Hafis' Ghaseien, die die später erfundenen Titel nicht mehr zu erkennen geben. - Drittens: Ein Titel wird zugunsten der Titellosigkeit aufgegeben. Dieser Fall tritt im „Divan" selten auf In den „Manigfaltigen Gliedern" gibt es ein Gedicht mit dem Titel „Herrenrecht und Dienstpflicht"; das Gedicht, aber nicht sein Titel wird in das „Buch der Betrachtungen" übernommen. - Viertens: Ein Titel wird durch einen anderen ersetzt. Nicht in den Handschriften, denn in ihnen liegen nur wenige Titel vor, sondern erst in einem späteren Stadium der Entstehungsgeschichte des „Divans" finden solche Ersetzungsoperationen statt: zwischen den „Manigfaltigen Gliedern" und den Vorabdrucken, zwischen den Vorabdrucken und der Erstausgabe oder zwischen den „Manigfaltigen Gliedern" und der Erstausgabe. Hier nur ein Beispiel. Das Gedicht „Geständniß" heißt ursprünglich im Vorabdruck „Drey Fragen". Die Wahl des ursprünglichen Titels ist mehr durch den Zusammenhang motiviert, in dem das Gedicht steht, als durch dieses selbst. Der Titel schließt das Gedicht an das vorstehende Gedicht, das „Vier Gnaden" heißt, an. Beide Titel haben dieselbe syntaktische Struktur. Allerdings macht der Titel „Drey Fragen" Mißverständnisse möglich, denn in dem Gedicht wird nur eine einzige Frage gestellt. Der geänderte Titel beugt solchen Mißverständnissen vor. 1.2. Die Titelpraxis in der Erstausgabe Am 17. Mai 1815 schreibt Goethe an Zelter: „Eh ich abschließe seh ich meinen Divan nochmals durch, und finde noch eine zweyte Ursache, warum ich dir daraus kein Gedicht senden kann, welches jedoch zum Lobe der Sammlung gereicht. Jedes einzelne Glied nämlich ist so durchdrungen von dem Sinn des Ganzen, ist so innig orientalisch, bezieht sich auf Sitten, Gebräuche, Religion und muß von einem vorhergehenden Gedicht erst exponirt seyn, wenn es auf Einbildungskraft oder Gefühl wirken soll. Ich habe selbst noch nicht gewußt, welches wunderliche Ganze ich daraus vorbereitet."^ Es ist viel darüber gerätselt worden, worin der behauptete Zusammenhang zwischen den einzelnen Gedichten des „West-östlichen Divans" denn zu sehen sei. Zumeist wird er als ein zyklischer Zusammenhang verstanden. Was aber unter „Zyklus" zu verstehen ist, darüber scheiden sich die Geister. Hugo von Hoftnannnsthal spricht in diesem Sinn vom „innem Leben" des „Divans".' Daß der „Divan" ein Organismus sei, schreibt schon Konrad Burdach: „[Die Gedichte des 'Divans'] sind vielmehr Ausstrahlungen einer dem Dichter in seiner Phantasie vorschweben-
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Vgl. Hafis 1812/13. WA I V / 2 5 : 333. Hofmannsthal 1950-1959, Bd. 3: 159.
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den einheitlichen künstlerischen Konzeption. Sie sind innerlich ein einziger Organismus, gehören zusammen, weil eins durch das andere bedingt, j a vielfach eins durch das andere hervorgerufen ist."^ Das Problematische der KreisMetaphorik besteht in der Hypostasierung eines Mittelpunkts, um den die Gedichte sich organisch anordnen. Worin aber dieser Mittelpunkt zu sehen sei, darüber schweigen sich sowohl Hoftnannsthal als auch Burdach aus. Auch Kommereils Aussagen zu diesem Komplex helfen nicht viel weiter. Kommereil sieht in der „Plötzlichkeit", worunter er den Beginn eines neuen Zustands und die Erschließung einer geistigen Welt versteht, das „Gesetz der Zyklenbildung".' Strukturell orientierte und nach kompositioneilen Prinzipien der Gedichtanordnung suchende Studien neuerer Zeit sehen von dem Organismus-Modell ab, behalten aber vielfach den Begriff des Zyklischen bei und betonen statt die Ein- die Vielfbrmigkeit des „Divans".'" Um Mißverständnisse zu vermeiden, geht die jüngste Divan-Forschung ganz von dem Zyklus-Begriff ab und erfaßt den „Divan" als Versammlung oder Ensemble von Gedichten." Diese begriffliche Akzentverschiebung darf sich auf den Gesamttitel „West-östlicher Divan" berufen. Denn das aus dem Persischen stammende Wort „Divan" bedeutet soviel wie „Versammlung" und „Sammlung". Die Kennzeichnung des „Divans" als eine Versammlung von Gedichten befreit von solchen Vorstellungen, die in ihm so etwas wie ein Zentrum sehen wollen und öffriet den Blick für eine eher formale Bestimmung: daß nämlich der „West-östliche Divan" eine Zusammenstellung von Gedichten ist, die allenfalls Gedichte ähnlichen Typs oder locker thematisch miteinander verbundene Gedichte vereint. In diesen Hinsichten ist der „Divan" nämlich tatsächlich eher eine offene Gedichtsammlung als ein geschlossener Zyklus. Marianne Wünsch spricht von einem „manifest gewordene[n] Zyklenproblem" im „Divan". Im „Divan" gibt es viele liedhafte Gedichte, daneben aber auch vereinzelt freirhythmische Gedichte und solche, die der orientalischen Form des Ghasels angenähert sind. Die Reimtechniken folgen konventionellen Mustern und weichen nur an manchen Stellen von diesen Mustern ab: sei es ein lässiger Reim wie „zeugtest" auf „leuchtet"," den Werner Kraft als Dreiviertelreim bezeichnet hat,''* sei es ein überraschender Reim wie „bewhelmen" auf „Schelmen" oder sei es ein verfehlter Reim wie „Morgenröthe" auf „Hatem", der gerade
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Burdach 1911: 12. Kommerelll956:222. Vgl. Ihekweazu 1971: 361. Vgl. FA 1 / 3 , 1 : 740f. Wünsch 1 9 7 5 : 2 3 8 . FA 1 / 3 , 1 : 24. Kraft 1986: 245. FA1/3,1:86.
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darum ein semantisch bedeutsamer ist, weil er das Reimwort „Goethe" zwar vermeidet, aber doch an es denken läßt.'^ Der „Divan" ist auch in sprachlicher Hinsicht von Heterogenität bestimmt. Erlesene und seltene, exotisch wirkende Ausdrücke finden sich genauso wie solche der Alltagssprache, eine uneigentliche Sprechweise steht neben saloppen, phraseologischen Wendungen, auch Fremdsprachliches und anachronistische Wörter mischen sich stellenweise in den „Divan" ein." Zu seiner Buntheit zählt auch die große Vielfalt an Themen und Motiven, die in diese Sammlung eingebunden sind. Die Mischung von Formen, Stilregistem, Gattungen, Motiven und Themen im „Divan" ist eine Eigentümlichkeit von Goethes Spätstil." Diese Heterogenität erlaubt es, den „Divan" als eine offene Gedichtsammlung zu bezeichnen. Ganz ähnlich verhält es sich mit „Faust II", der durch Offenheit gekennzeichnet ist, und mit den „Wanderjahren", die Goethe in diesem Sinn im Gespräch mit Kanzler von Müller am 18. Februar 1830 als ein „Aggregat" bezeichnet hat." Goethe hat die Gedichte des „Divans" in Gruppen geordnet. Begonnen hat er damit schon früh. Im Tagebuch vom 6. Oktober 1815 steht die Notiz: „Divan in Bücher eingetheilt."^° Wenige Monate später, im Februar 1816, hatte er im „Morgenblatt fiir gebildete Stände" sämtliche deutschen Buchttitel und teils auch die persischen Betitelungen bekanntgegeben.^' Die restlichen persischen Titel hat Goethe, wie Katharina Mommsen nachgewiesen hat, kurz vor der Drucklegung des „Divans" hinzugefügt.^^ Man muß es nicht mit Gundolf halten, der behauptet, daß diese Buchtitel teils „vage, fast verlegene Titel" sind,^^ denn was will das schon besagen? Zu bedenken ist mehr als die Formulierung der Buchtitel ihre Funktion. Sie gliedern das Ensemble der Divan-Gedichte und gruppieren einzelne Gedichte nach thematischen Gesichtspunkten oder ihrer Gattungszugehörigkeit. Sie bringen Ordnung in die Vielfalt des „Divans". Daß die persischen Titel überdies einem Muster folgend („... Nameh") formuliert sind und die deutschen mit nur wenigen, geringfügigen Abweichungen ebenfalls („Buch ..."), wirkt reihenbildend und stiftet insofern einen Zusammenhang zwischen den Büchern. Während die Titel der einzelnen Bücher im „Divan" einheitsstiftend wirken sollen und auch einheitlich formuliert sind, sind die Einzeltitel der DivanGedichte ähnlich bunt wie es das Gedichtensemble als ein Ganzes ist. Die Darstellung dieses Aspekts des „Divans" orientiert sich an der Abfolge seiner ein-
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FAl/3,l;87f. Vgl. Dill 1987: V I I - L . Vgl. T r u n z 1990: 139-146. K a n z l e r v o n Müller 1982: 184. W A I I I / 5 : 186. Vgl. FA 1 / 3 , 1 : 549-551. Vgl. M o m m s e n 1 9 6 1 : 3 2 5 - 3 3 3 . G u n d o l f 1920: 647.
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zelnen Bücher, faßt diese in Dreiergruppen zusammen und beschreibt die Titelpraxis innerhalb dieser Dreiergruppen, ohne dabei den Blick auf den Zusammenhang, in dem sie jeweils steht, zu verlieren. Das Vorgehen orientiert sich an zwei Beobachtungen. Erstens: Die zusammenfassende Beschreibung der Divan-Bücher in Dreiergruppen erklärt sich aus thematisch-motivischen Blockbildungen.^'* Das „Buch des Sängers", das „Buch Hafis" und das „Buch der Liebe" konzentrieren sich auf die Begegnung des westlichen Dichters mit dem Orient und insbesondere seine Begegnung mit Hafis. Das „Buch der Betrachtungen", das „Buch des Unmuths" und das „Buch der Sprüche" enthalten Lehrhaftes und Sentenziöses. Das „Buch Timur", das „Buch Suleika" und das „Schenkenbuch" konzentrieren sich auf Personen: den mongolischen Herrscher Timur, der auch Napoleon verkörpert; die orientalische Geliebte Suleika, die auch Marianne von Willemer verkörpert; den Jüngling, der möglicherweise Goethes Reisebegleiter Sulpiz Boisserée verköφert. Die abschließenden drei Bücher der Parabeln, des Parsen und des Paradieses enthalten lehrhaft-religiöse Dichtungen. Zweitens: Die Titel in den jeweiligen Dreiergruppen weisen gewisse Homogenitäten auf Die Beschreibung der Titelpraxis im „Divan", die sich an der Abfolge der Gedichte orientiert, muß darum den Anspruch auf Systematik nicht ausschließen. 1.2.1. Buch des Sängers - Buch Hafis - Buch der Liebe „Möchtest du aus diesem Büchlein dich wieder a u f s neue erbaut fühlen. Es steht viel drin, man kann viel herausnehmen und viel hineinlegen."" Diese Worte über den „Divan" hat Goethe in einem Brief vom 7. Oktober 1819 an Zelter geschrieben; sie richten sich auf die mannigfache Deutbarkeit vieler Seiten des „Divans". Max Rychner hat im Vorwort seiner Divan-Ausgabe auf ganz Ähnliches zielend gesagt: „Es läßt sich kein Ende finden mit diesem Buch Vieles herausnehmen und vieles hineinlegen und dann doch kein Ende mit dem „Divan" finden können - solche Einschätzungen gründen im Kern auf eine Textqualität: auf das Zusammenspiel verschiedener Formen von Verrätselung. Der „Divan" ist eine Gedichtsammlung, die sich nicht schnell und auch beim zweiten Hinsehen nicht leicht erschließt. Das erklärt sich zum Teil aus der Bildsprache des „Divans", die semantische Bestimmtheit zugunsten einer oft ans Unauflösbare reichenden Verschlüsselung aufgibt. Hierher gehört auch das Ineinandergreifen der Kulturen, die einander in vielen Gedichten derart überblenden, daß man nicht eindeutig sagen kann, ob in den Gedichten noch aus der
24 Vgl. Goethe-Handbuch 1996-1999. Bd. 1:312. 25 WA I V / 3 2 : 52. 26 Rychner 1994: XLVll.
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Perspektive des Westens oder schon aus der des Ostens gesprochen wird. Zu nennen wäre des weiteren die weitverzweigte, motivische und thematische Verflechtung vieler Divan-Gedichte mit anderen Gedichten der Sammlung. Die Gedichte spiegeln sich in- und verweisen aufeinander. Vieles herausnehmen und vieles hineinlegen und dann doch kein Ende mit dem „Divan" finden können - das kann auch auf eine ganze Reihe von Titeln der Divan-Gedichte bezogen werden. Um das zu zeigen, gehe ich zunächst auf die Gedichttitel im „Buch des Sängers", im „Buch Hafis" und im „Buch der Liebe" ein. Diese drei Bücher bilden einen vergleichsweise homogenen Zusammenhang. Der deutsche Dichter beginnt seine imaginäre Reise in den Orient; schon der Titel des Eingangsgedichts - „Hegire", die fremdartige und wohl deshalb gewählte französische Schreibung des arabischen Wortes „higra", das „Emigration" bedeutet^^ - bereitet darauf vor. Sitten und Gebräuche des Orients kommen zur Sprache („Buch des Sängers"). Dann begegnet der deutsche Dichter dem hochgeschätzten persischen Dichter Hafis; sein Verhältnis zu ihm wird ausgesprochen („Buch Hafis"). Das dritte Buch spricht von Liebe, diese in verschiedenen Spielarten zeigend, ohne sich, wie im „Buch Suleika", auf zwei Gestalten zu beschränken. Außerdem treten Hafis und der deutsche Dichter auf. „Manche dieser Gedichte", so schreibt Goethe, „verläugnen die Sinnlichkeit nicht, manche aber können, nach orientalischer Weise, auch geistig gedeutet werden."^^ Bis auf eine bedeutsame Ausnahme - ich sehe von den Mottoversen, über die noch zu sprechen sein wird, ab - sind alle Gedichte in diesen drei Büchern betitelt. Das meist mehrsilbige, stets artikellos und ohne jede andere Ergänzung gebrauchte Substantiv herrscht in den drei ersten Büchern des „Divans" als Titeltyp vor: Hegire Segenspfänder Freysinn Talismane Geständniß Elemente Zwiespalt Phaenomen Dreistigkeit Allleben Beyname Anklage Fetwa
27 Vgl. FA 1 /3,2: 883. 28 FA 1/3,1: 549f.
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Fetwa Nachbildung Wink Musterbilder Lesebuch Gruß Ergebung
Andere Ein-Wort-Titel sind hiervon zu differenzieren, da sie aus Adjeictiven gebildet sind. Da iiinen auf der Titelebene der sprachliche Kontext fehlt, ist Genaueres über ihre zu denkende syntaktische Position nicht zu sagen. Sie können im Einzelfall als adnominal oder als prädikativ gebrauchte Adjektive gelesen werden; auch ist es möglich, einige Titelwörter als substantivierte Adjektive zu sehen: Liebliches Unbegrenzt Gewamt Versunken Bedenklich Genügsam Unvermeidlich Geheimes Geheimstes
Zahlreiche andere Titel werden als Wortgruppe gebildet. Einige Titel treten in der Form von Nominalphrasen auf: Vier Gnaden Selige Sehnsucht Offenbar Geheimniß Schlechter Trost
Andere Titel sind als Kopulativphrasen gebildet: Erschaffen und Beleben Lied und Gebilde Derb und tüchtig
Ein Titel bedient sich des Musters der Präpositionalphrase: Im Gegenwärtigen Vergangenes
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Ein anderer Titel iiat Satzform: Der Deutsche dankt
Das häufige Auftreten des Ein-Wort-Titels, der grammatischen Variationsspielraum nur im Detail, nämlich in der Wahl der Wortklasse und im Bereich der Wortbildung zuläßt, ist nicht ausreichend erfaßt, wenn man in ihm nur Kargheit und Nüchternheit erkennt. Es ist ein emphatischer Lakonismus, der die Titelsetzung bestimmt - eine leidenschaftliche Nüchternheit. Aber damit ist nicht alles über diese konzisen Titel gesagt. Überdies nämlich bergen sie in mehrfacher Hinsicht ein Irritationspotential in sich. Viele Titel zielen auf sehr Allgemeines. Goethe hat sie in vielen Fällen erst im Verlauf der Textgenese geftinden. Wenn man die Titelvorstufen sowie die Titelstichwörter im „Wiesbadener Register" mit den endgültigen Titeln vergleicht, kann man sehr leicht zu demselben Ergebnis wie Rothe kommen, der vom Drang zur Themenangabe in Goethes Alterslyrik (bei Vermeidung der Verwendung von Konkreta) spricht.^^ Aus „Liebe und Krieg" wird „Zwiespalt", aus „Liederstoff' wird „Elemente", aus „Seltenes Meteor" wird „Phaenomen", aus „Staub" wird „Allleben". Solche Abstrakta, besonders aber das Titelwort „Allleben", das eine Neubildung ist, sind auf Deutung angewiesen. Sie informieren, tatsächlich oder vorgeblich, über komplexe Inhalte. Und in vielen Fällen, in denen die substantivischen Titel nicht auf Abstraktes zielen, haben sie mit jenen gemeinsam, daß sie nichts Gegenständliches meinen. „Hegire", „Gruss" und „Ergebung" bezeichnen Vorgänge. In diesen Zusammenhang gehört auch der Titel „Nachbildung", der ja nicht das Produkt, sondern den Prozess eines Nachbildens meint, nämlich das Nachbilden der Verskunst des Hafis. Auch diejenigen Ein-Wort-Titel, die aus einem Adjektiv gebildet sind, widersetzen sich den am Gewöhnlichen ефгоЬ1еп Leseerwartungen. Nur ganz selten vor dem Erscheinen des „Divans" und nirgends im Frühwerk gebraucht Goethe ein singulares Adjektiv als Titelwort. Ein Xenion heißt „Dringend". Unter den Sammeltiteln in der Werkausgabe von 1815 finden sich „Parabolisch", „Sprichwörtlich" und „Epigrammatisch" - Wörter, die auch als Adverbien gelten können. Überhaupt ist der Gebrauch von Adjektiven oder Adverbien als Titelwörtem in der Lyrik ein äußerst seltener Fall. Es gibt ihn nicht bei Clemens Brentano, nicht bei Eichendorff, nicht bei Conrad Ferdinand Meyer und nicht bei Rilke. Erst in neuerer und vor allem in neuester Lyrik scheinen diese Titeltypen vermehrt in lyrischen Texten vertreten zu sein.^° Bei
2 9 Vgl. Rothe 1986: 187, 3 0 Bei der Durchsicht der Lyriksammlung „Epochen der deutschen Lyrik" finde ich in dem Zeitraum vor 1800 keinen einzigen Beleg für solch einen Titel. Vgl. Killy 1969-1978. - Adolf Muschg 1992: 2 7 hat wie überhaupt in Goethes Spätwerk, so auch im „Divan" einen Keim
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Detlev von Liliencron findet sich ein Gedicht mit dem Titel „Betrunken" und ein anderes mit dem Titel „Einsam". Bei Oskar Loerke findet sich „Schlaflos" und „Unerreichbar", bei Hermann Hesse „Schizophren" und „Kopflos", bei Gottfried Benn „Auferlegt", „Eingeengt", „Grenzenlos", und „Unanwendbar", bei Paul Celan „Gut", „Chymisch", „Erratisch", „Sibirisch" und „Irisch". Aber keineswegs kann davon die Rede sein, daß dieser Titeltyp in den Werken all dieser Dichter häufig realisiert ist. Der Fassungsvergleich zwischen den Titelvorstufen und den endgültigen Titelsetzungen in den ersten drei Büchern des „Divans" zeigt, daß Goethe einige adjektivische Titel nicht schon von vornherein, sondern erst im Verlauf der Textgenese gefunden hat. „Unbegrenzt" heißt im Vorabdruck „Hafis", „Unvermeidlich" heißt „Ungeduld" und „Geheimes" „Glückliches Geheimnis". Im Unterschied zu den separaten Veröffentlichungen der jeweiligen Gedichte im „Taschenbuch flir Damen auf das Jahr 1817" handelt es sich bei diesen Titeln um Innovationen besonderer Art. Das vergleichsweise häufige Auftreten adjektivischer Gedichttitel ist zumindest im Goetheschen Gedichtoeuvre neu und mit ziemlicher Sicherheit in der Gattungsgeschichte des Titels im deutschen Gedicht auch. Vielleicht hat gerade der Ensemblecharakter des „Divans" diese Titelinnovationen begünstigt. Anders als bei der Einzelveröffentlichung eines Gedichts, bei der eine solche Neuerung sehr ins Auge fallen würde, wirkt sie im Zusammenhang des Divan-Ensembles behutsam. Was solche adjektivischen Titel leisten, wird am ehesten greifbar, wenn man sie durch andere Ausdrücke ersetzt, die Ähnliches bedeuten. „Unbegrenzt" könnte durch „Grenzenlosigkeit", „Gewarnt" durch „Warnung" und „Versunken" durch „Versunkenheit" ersetzt werden. In anderen Fällen ließe sich durch einen Wechsel der Wortklasse ähnlich verfahren. Nur „Geheimstes" würde bei solch einer Ersetzungsoperation der einfachen Art zu viel von seiner Bedeutung verlieren. Er könnte beispielsweise durch „Größtes Geheimnis" ersetzt werden. In diesem Fall wäre der Wert des adjektivischen Titels vor allem in seiner Kürze zu sehen. Überdies zielt die Wahl des adjektivischen Titelworts - in diesem wie den anderen Fällen auch -, gerade weil es ungewöhnlich ist, auf Ergänzung. Der Leser kennt zwar jedes einzelne von Goethe als Titelwort gewählte Adjektiv, aber er ist mit ihnen in der Position des Titels nicht vertraut. Er nimmt das Vertraute als ein Fremdes wahr. Dies wiederum dürfte als Voraussetzung dafür gelten, daß die semantische Unschärfe dieser Titel wahrgenommen wird und nach Ergänzung oder dem Zusammenhang mit dem betitelten Gedicht gefragt wird.^'
modemer Poesie angelegt gesehen. Auch mit Blick auf die adjektivischen Titel im „Divan" ist dem zuzustimmen. 31 Den Ausdruck der „semantischen Unschärfe" übernehme ich aus Ullmann 1973: 147-161.
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Neben den adjektivischen Titelbildungen wirken im „Divan" all diejenigen Titel irritierend, die eine Inkongruenz stiften.^^ Zwar geht Goethe an keiner Stelle so weit, daß er einen Titel als Paradoxie formuliert (so wie es später Morgenstern in den Palmström-Gedichten mit „Die unmögliche Tatsache" gemacht hat), sondern zieht es vor. Ausdrücke aus verschiedenen Bereichen, die als Oppositionen oder Polaritäten (nicht aber als Antinomien) beschreibbar sind, miteinander zu kombinieren. So geschieht es in „Schlechter Trost", in „Offenbar Geheimniß" und in „Selige Sehnsucht". Auch in diesen Titeln wirkt das Stilprinzip der Kürze, denn sie bringen, besonders die beiden zuletzt genannten Titel, eine komplexe Einsicht, die ein Ein-Wort-Titel kaum j e vermitteln
könnte,^^
auf
kleinstem
sprachlichen
Raum
zum
Ausdruck.
In
abgeschwächter Weise läßt sich Ähnliches zu den als Doppelformeln konstruierten Titeln (z.B. „Erschaffen und Beleben") sagen. Hoher Allgemeinheitsgrad, Absehung vom Gegenständlichen,
unübliche
Wortklassenzugehörigkeit und semantische Komplexität, alles dies auf sprachlich engstem Raum - das sind die Merkmale, die viele Titel der ersten drei Bücher des „Divans" kennzeichnen. Quintilian hat in seiner Redelehre die Fähigkeit zur Knappheit im Ausdruck als eine Tugend des Redners gelobt und sie als Kennzeichen von Witz und Urbanität bestimmt.^'' Er hat aber auch vor einer allzu starken Verkürzung des Ausdrucks als einer möglichen Quelle dunkler und unverständlicher Rede gewamt.^^ Doch obwohl Titel sprachliche Kleingebilde sind, wird man ihnen nicht gerade diesen Vorwurf machen, wenigstens nicht von vornherein und nicht ohne Ansehung des betitelten Textes. Die Kürze des Titels, seine daraus resultierende Unbestimmtheit und sein Angewiesensein auf Deutung sind j a kalkuliert.^' Ein semantisch unbestimmter Titel provoziert die Frage nach seinem Sinn, vom betitelten Text erwartet man die Antwort. Genau diese Erwartung wird aber im „Divan" vielfach enttäuscht. Viele Titel zeichnen sich nicht nur bei isolierter Betrachtung durch Unbestimmtheit aus, sondern auch dann, wenn man ihren Zusammenhang mit den betitelten Gedichten berücksichtigt.
32 Vgl. Rothe 1986: 75-79. 33 Schlaffer 1993: 108 macht auf einen Titel von Borges aufmerksam („Ewigkeiten"), der, weil er ein Wort im Plural gebraucht, das aus Gründen semantischer Restriktionen diese Form üblicherweise nicht hat, eine komplexe Bedeutung auf engstem Raum vermittelt. In ähnlicher Weise könnte die semantisch nicht erlaubte, aber grammatisch mögliche Steigerung einzelner Adjektive komplexe Titel erzeugen. Goethes Titel „Geheimstes" streift diesen Zusammenhang. - Solche Steigerungen gehören zu Goethes Altersstil. Man vergleiche den 'letztesten Kuß' in der Marienbader „Elegie" (FA 1 / 2: 459) oder den Vers 7198 im „Faust": „Die letztesten hat Hercules erschlagen" (WA I /15.1: 119). 34 Vgl. Quintiiianus 1995, Bd. 1: 731 und 757. 35 Vgl. Quintiiianus 1995, Bd. 2: 147. 36 Derrida 1980: 25 formuliert das so: „Ein Titel ist stets eine Ökonomie in Erwartung ihrer Bestimmung [...]."
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Das häufige Auftreten dieses Titelgebrauchs im „Divan" wird man als Neuerung im lyrischen Œuvre von Goethe verzeichnen dürfen. Neben die Kategorie des zur Abstraktion neigenden Titels, die des unüblichen, j a eigentlich seltenen Titels und die des semantisch komplexen Titels tritt des weiteren die des semantisch offenen Titels. Gemeint ist damit eine Form von Offenheit, wie sie Umberto Eco denkt, wenn er von einer herbeigeführten Ambiguität im modernen Kunstwerk, einer in diesem wirkenden Poetik des Andeutens spricht.^^ Diese Offenheit und Unbestimmtheit kann in unterschiedlicher Weise in Erscheinung treten, was an einigen exemplarischen Fällen gezeigt sei. Das Gedicht „Wink" zeichnet sich wie kein anderes im „Divan" durch eine vielschichtige Offenheit aus: Wink Und doch haben sie Recht die ich schelte: Denn daß ein Wort nicht einfach gelte Das müßte sich wohl von selbst verstehn. Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben Blicken ein Paar schöne Augen hervor. Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor, Er verdeckt mir zwar das Gesicht; Aber das Mädchen verbirgt er nicht. Weil das schönste was sie besitzt Das Auge, mir in's Auge blitzt.'*
Der Titel dieses Gedichts zielt auf das im Gedicht konkret Gemeinte: auf den Fächer, der zwar wie ein Schleier das Gesicht des Mädchens verdeckt, aber gleichwohl sein Wichtigstes, die Augen des Mädchens, um so deutlicher hervortreten läßt. Der Fächer vermag unter Verschleierung des Unwesentlichen gerade das Wesentliche einer Erscheinung hervortreten zu lassen. Er läßt den Kem dessen erkennen, was er im übrigen verbirgt. Der Titel zielt aber auch auf das, was mit dem Fächer bildlich gemeint ist. Das dichterische Wort gleicht dem Fächer. Es kann etwas aussprechen, was anders als im Gedicht nicht aussprechbar ist, was - wie Waither Killy sagt nicht „auf die prosaische Sprache des Begriffs zu bringen" ist.'' Die Sprache der Poesie gebraucht Wörter, um anzudeuten, was sprachlich eigentlich gar nicht zu erfassen ist. Sie deutet an, sie lüftet den Zipfel eines Vorhangs, ohne diesen ganz zu heben. In diesem Sinn heißt es in einem Goetheschen Aphoris-
37 Vgl. Eco 1990: 27-59, bes. 37. 3 8 FA 1 / 3 , 1 : 33. 3 9 Killy 1982: 104.
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mus: „Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen."'"' Die Gestaltung des 'ineffabile', die ein Grundzug des „Divans" ist, und von der sich beispielsweise Verbindungen zurück zur schlesischen Mystik, etwa zu der Dichtung von Czepko, oder nach vorn zu Rilkes Erfahrungen mit den Grenzen des Sagbaren ziehen lassen, wird schon im Titel des Gedichts angedeutet. Außerdem kann der Titel reflexiv verstanden werden. Der Titel sagt und verschweigt, indem er offenläßt, auf welche von beiden Schichten des Gedichts - die buchstäbliche oder die bildliche - er sich bezieht, oder ob er sich gar auf beide bezieht. Der Titel hat dieselbe Doppelstruktur wie das Gedicht. Er ist verhüllende Andeutung."" In ähnlicher Weise wie „Wink" ist auch „Allleben" ein offener, nämlich mehrfach deutbarer Gedichttitel. Er läßt sich auf die buchstäbliche Schicht des Gedichts beziehen, deren Thema er meint: den Staub, Uber den das Gedicht spricht, und den Gewitterregen, der mit jenem eine Verbindung eingeht und ein Fluidum des Lebendigen schafft. Erich Trunz erkennt in dem Gedicht sehr zu Recht auch eine symbolische Schicht; er sieht sie in der Wendung „Heile mich Gewitterregen" angedeutet."^ Das Gedicht handele nicht nur von der Verbindung von dürstender Erde und lebensspendendem Regen, sondern auch von einem Regen, der auf den Menschen kathartisch wirke. Man kann diese symbolische Schicht bereits im Titel des Gedichts angedeutet sehen. Goethe hat All-Komposita häufig gebraucht, nicht nur im „Divan". „Alliebend" gebraucht er schon in dem frühen Gedicht „Ganymed"; „Alliebender" im „Werther" (Briefe vom 10. Mai 1771 und 30. November 1771 ); „Allheilender" in „Der Adler und die Taube", „Allumfasser" und „Allerhalter" in Fausts Rede in der Szene „Marthens Garten". Stets handelt es sich um eine sprachliche Steigerungsform, Umfassendes an- oder bedeutend."^ Der Titel „Allleben" bezieht sich nicht nur auf den Bereich der Natur, sondern auch auf den des Menschlichen. Als ein Titel, der eine Inkongruenz stiftet, ist „Selige Sehnsucht" schon bezeichnet worden. Er ist zudem ein offener. Dies vor allem darum, weil die Inkongruenz, die auch in dem Gedicht enthalten ist, dort nicht eigentlich aufgelöst wird. Gert Ueding hält das Gedicht für das „vielleicht schwierigste Gedicht
4 0 FA I / 13: 39. - In einem Schema zu einem naturwissenschaftlichen Vortrag schreibt Goethe (WA 11 / 1 1 : 167): „Im gemeinen Leben kommen wir mit der Sprache nothdürftig fort, weil wir nur oberflächliche Verhaltnisse bezeichnen. Sobald von tiefem Verhältnissen die Rede ist, tritt sogleich eine andre Sprache ein, die poetische." 41 Aber es ist nicht schon der Titel allein, was ihn so vielfältig beziehbar macht. Daß dies erst im Zusammenspiel mit dem betitelten Gedicht erreicht wird, zeigt ein Vergleich mit Klopstocks Gedicht „Wink". Dessen Titel ist deshalb nicht so komplex wie der Goethesche, weil das Gedicht nicht so komplex ist. 42 Vgl. HA 2: 581. 43 Christa Dill zahlt bei Goethe 120 verschiedene Composita mit all-. Vgl. Goethe-Wörterbuch 1978«·., Bd. l : S p . 348.
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Goethes".'*·' Rudolf Borchardt spricht von einer absichtlichen Rätseihaftigiceit des Gedichts"^, Wilhelm Schneider von seiner „geheimnisvollen Vieldeutigkeit"."^ Werner Kraft: „[...] der Gesamtgehalt gerade dieses Gedichts [wird] wohl immer wesentlich dunkel bleiben [...]."''' Dunkel, vieldeutig, rätsei-, ja chiffrenhaft und in diesem Sinn offen ist eben auch der Gedichttitel. Läßt sich mehr über ihn sagen? Die erste Strophe des Gedichts bringt sein Thema nicht eigentlich zur Sprache, sondern kreist es ein und deutet es als ein exklusives, schützenswertes Geheimnis an. In den darauffolgenden Strophen wird es symbolisch entfaltet. Das Bild des vom Kerzenlicht angezogenen und in ihm verbrennenden Schmetterlings (das Goethe aus Hammers Hafls-Übersetzung kannte·*' ) wird in der letzten Strophe auf den Bereich des Menschlichen bezogen. Wilhelm Schneider sieht ein „Lebensgesetz", Max Rychner ein „tiefstes Geheimnis des Lebens" in dieser Strophe angedeutet.·*' Orientalische Mystik spielt, wie Katharina Mommsen gezeigt hat, in das Gedicht hinein.^" Florens Christian Rang sieht in ihm auch Elemente christlichen Denkens" (wogegen Rudolf Borchardt argumentiert, ohne explizit auf Rang Bezug zu nehmen^^ ). Auch Goethes Metamoφhose-Gedanke darf mit Fug auf das Gedicht bezogen werden. „Alles ist Metamoφhose im Leben - bei den Pflanzen und bei den Tieren bis zum Menschen und bei diesem auch", hatte Goethe am 3. August 1815, rund ein Jahr nach der Entstehung von „Selige Sehnsucht", gegenüber Boisserée geäußert." Der Titel teilt von all diesem nur wenig mit. Von dem Wort „Sehnsucht" geht eine Brücke zum Ende der ersten Strophe aus: Ein Begehren nach dem Tod scheint es dort, eines nach dem Tod, aus dem neues Sein hervorgeht, scheint es mit Blick auf die letzte Strophe des Gedichts zu meinen. „Selig" gehört zum religiösen Wortschatz. Das Grimmsche Wörterbuch fuhrt es in einer seiner Bedeutungen als „des ewigen heils theilhaftig"'" an; Adelung übersetzt: „Der himmlischen Glückseligkeit nach diesem Leben theilhaftig."^^ Wie dieses Begehren, das auf höchste religiöse Sphären verweist, genauer vorzustellen ist, darüber schweigt sowohl das Gedicht als auch sein Titel. Auch hier gilt wohl: Das Gedicht wie auch sein Titel reichen an einen Bezirk, über den zu sprechen
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Ueding 1994:338. Vgl. Borchardt 1957: 473. Schneider 1963: 306. Kraft 1986:244. Vgl. Mommsen 1988: 300 und Schaeder 1942: 93-102. Schneider 1963: 304. - Rychner 1994: 425. Vgl. Mommsen 1988: 300-303. Vgl. Rang 1973: 1-38. Vgl. Borchardt 1957: 472-475. Boisserée 1978-1995, Bd. 1: 229. Grimm 1984, Bd. 16: Sp. 520. Adelung 1774-1786, Bd. 4: Sp. 429.
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die Grenzen des sprachlich Möglichen überschreitet. Das Gedicht will eine Lehre mitteilen, aber eine, die eigentlich nicht mitteilbar ist und über die nicht anders als andeutungsweise gesprochen werden kann. Es will zum Glauben an diese Lehre verfuhren.'® Der Titel dieses Gedichts, dessen lyrischer Sprecher seinen Hörer prophetengleich in eine Geheimlehre einweihen will, gibt nur Bruchstücke des Gedichts preis. Der Titel „Selige Sehnsucht" deutet wie schon „Wink" und „Allleben" an und weist hin, vermeidet aber Eindeutigkeit.'^ Die frühere Fassung dieses Titels im „Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1 8 1 7 " „Vollendung" - und ebenfalls die Kennzeichnung „Selbstopfer", die Goethe im „Wiesbadener Register" wählt, leisten Vergleichbares nicht. Adolf Muschg hat von einer „Poetik des Winks" gesprochen, die Goethe im „Divan" praktiziere.'^
Gemeint
ist damit ein ästhetischer
Grundzug
des
„Divans": der des verbergenden und verhüllenden Sprechens. Dieses Sprechen ist aber keines, das täuschen, sondern eines, das aufmerken lassen will, eines, das den wiederholten Blick auf das Gebilde des Gedichts fordert und auf diesem Wege ästhetisches Bewußtsein schafft. Soweit Muschg. Die Applikation dieses Gedankens auf das Gedicht „Selige Sehnsucht" kann so aussehen: Es spricht über etwas, über das Genaues gar nicht sagbar ist. Man kann darauf hinwirken, durch viel deutende Anstrengung wenigstens versuchsweise das nicht Sagbare in Sagbares zu übersetzen. Die Offenheit, die in dem Gedicht angelegt ist, wäre in diesem Fall Anreiz zur inhaltlichen Analyse. Aber mit der Inhaltsanalyse allein ist das Gedicht möglicherweise nicht zu erfassen. Das Gedicht kann nämlich auch, gerade weil es im wesentlichen nicht auflösbar ist, - Hannelore Schlaffer hat darauf aufmerksam gemacht'' - hinsichtlich seines auf Suggestion zielenden sprachlichen Raffinements wahrgenommen werden. Es muß nicht notwendigerweise 'verstanden', sondern kann, da eine Kohärenz in der gedanklichen Struktur des Gedichts nur schwer auszumachen ist, auch als Gebilde erkannt werden. In diesem Fall wäre das Gedicht Anlaß zur Reflexion über seine sprachliche Artistik. Man kann diesen Beftind auch anders nuancieren und sagen, daß das Gedicht auf sich selbst, auf seinen Zeichencharakter aufmerksam macht. Diesen Weg der Deutung hat Adolf Muschg vorgezeichnet; er sieht im „Divan" angedeutet, was später die „absolute Dichtung" kennzeichnet.®"
Was für das Gedicht „Selige Sehnsucht" gilt, gilt auch für seinen Titel.
Er bietet Grund zur Nachfrage nach seiner Bedeutung, aber auch Grund zur Nachfrage nach seiner Gestalt und wohl auch nach seiner Wirkungsweise als
5 6 Vgl. Schlaffer 1 9 8 4 : 3 3 5 - 3 4 1 . 5 7 Werner Kraft spricht an einer Stelle von diesem Titel als einem „Fingerzeig des D i c h t e r s " (Kraft 1 9 9 0 : 87). 5 8 M u s c h g 1 9 8 6 : 7 3 - 1 0 4 , bes. 9 4 . 5 9 Vgl. S c h l a f f e r 1 9 8 4 : 3 3 5 - 3 4 1 . 6 0 Vgl. M u s c h g 1 9 9 1 : 2 7 .
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Paratext. Warum hat der Titel antithetische Struktur? Bereitet er auf das ganze folgende Gedicht oder nur auf Teile des Gedichts vor? Zwischen dem Titel und dem Gedicht besteht ein komplexes Verhältnis. Der Titel bereitet thematisch auf das Gedicht vor. Er sagt, daß es von seliger Sehnsucht handelt. Daneben besteht eine Art von Homologie zwischen Titel und Gedicht. Beide fordern den Blick auf ihre jeweilige sprachliche Form. Darüber hinaus läßt sich in Ergänzung des von Hannelore Schlaffer entwickelten Gedankens sagen: Indem der Titel den Blick des Lesers auf seine sprachliche Gestalt lenkt, lenkt der Titel auch die Rezeption des Gedichts. Er stimmt unter anderem darauf ein, auch das Gedicht als sprachliches Gebilde wahrzunehmen. Goethe hat das 'Reflexionspotential' des „Divans" erkannt. Fast ein Jahr nach der ersten Niederschrift von „Selige Sehnsucht", am 17. Mai 1815 schreibt Goethe an Zelter: „Um dir ein neues Gedicht zu schicken, habe ich meinen orientalischen Divan gemustert, dabey aber erst klar gesehen, wie diese Dichtungsart zur Reflexion hintreibt, denn ich fand darunter nichts Singbares Man kann diese globale Aussage über den „Divan" auch auf seine Titelkunst beziehen. Mit „Selige Sehnsucht" kommt das „Buch des Sängers" zum Ende, nur ein kleiner Anhang folgt dem Gedicht: Thut ein Schilf sich doch hervor Welten zu versüßen! M ö g e m e i n e m Schreibe-Rohr Liebliches e n t f l i e ß e n ! "
Warum trägt dieser Vierzeiler, von dem Walter Benjamin unter Verwendung Goethescher Worte gesagt hat, er folge der „Seligen Sehnsucht", „wie eine Perle, die der geöffiieten Muschelschale entrollt ist",^^ keinen Titel? Man könnte sagen, daß der Anhang keinen selbständigen Textstatus hat und die Reichweite des Titels „Selige Sehnsucht" auch den Vierzeiler umfaßt. Dem ließe sich freilich entgegenhalten, daß Gedicht und Anhang in Stillage und gedanklicher Komplexität zu verschiedenartig sind, um als Einheit begriffen zu werden. Und unter Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte läßt sich hinzufügen: Goethe hat den Vierzeiler mehrere Monate nach dem fiinfstrophigen Gedicht „Selige Sehnsucht" verfaßt: als eigenständiges Gebilde. Daß es als ein solches gelten kann, zeigt auch das Druckbild in der Divan-Ausgabe von 1819. Der Vierzeiler steht auf einer eigens fiir ihn vorgesehenen Seite und nicht als unmittelbare Fortführung der letzten Strophe von „Selige Sehnsucht". 61 WA I V / 2 5 : 330. 62 FA 1/3,1: 25. 63 Benjamin 1972-1987, Bd. 4,1: III. Es handelt sich um ein fast wörtliches Zitat der Anfangszeilen eines Gedichts aus dem „Buch der Parabeln".
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Gleichwohl ist der Zusammenhang zwischen Gedicht und Anhang augenfällig. Den höchsten Bezügen, die in „Selige Sehnsucht" anklingen, und dem mahnenden Ton, mit dem dieses Gedicht endet, setzt das vierzeilige Gedicht etwas entgegen: nämlich Leichtigkeit und Heiterkeit. Man wird wohl sagen müssen, daß „Selige Sehnsucht" in das Gedicht mündet; vorher aufgebaute Dissonanzen lösen sich auf.^ Ja, der Zusammenhang ist gar ohrenfällig, denn das Strophenmaß des Anhangs setzt die metrische Form der letzten Gedichtstrophe fort. Die Unmittelbarkeit des Bezugs auf „Selige Sehnsucht" wäre gestört, wenn das angehängte Gedicht einen Titel trüge. Nicht einmal der Ausdruck „Wunschbogen", der Benjamin als Titel seiner kleinen Notiz zu diesem Gedicht dient, und der sich als Titel des Gedichts selbst denken läßt, könnte leisten, was seine Titellosigkeit leistet. Der Titel würde eine wechselseitige Isolation von „Selige Sehnsucht" und diesem Gedicht betonen. Ähnliches müßte man zu möglichen, freilich weitaus neutraler gewählten Titeln wie „Nachtrag" oder „Nachschrift" sagen. Anders ist die Titellosigkeit zu erklären, die sich bei den Motto-Gedichten des „Divans" findet. Die ersten zwei Bücher und des weiteren das „Buch Suleika" sind wie auch die „Noten und Abhandlungen" mit versifizierten Motti versehen. Die Titellosigkeit des Mottos entspricht einer Gattungskonvention. Da das Motto wie schon seine Vorformen - die Inschrift auf Denkmälern, Tafeln, Medaillen und die mittelalterliche Devise^' - meist ganz allein steht, entbehrt es der Notwendigkeit zur textindividualisierenden Betitelung. Goethe befolgt diese Konvention, und die Dichter und Schriftsteller befolgen sie gewöhnlich auch heute. Thomas Mann, der seinem Roman „Lotte in Weimar" ein Spruchgedicht aus dem „Divan" als Motto voranstellt, tut dies unter Vernachlässigung seines Titels und verhält sich insofern gattungskonform. 1.2.2. Buch der Betrachtungen - Buch des Unmuths - Buch der Sprüche Die Dichtungen in den drei Büchern „Buch der Betrachtungen", „Buch des Unmuths" und „Buch der Sprüche" sind versifizierte Spruchdichtungen. Insofern bilden sie eine Einheit. Gnomisches, Sentenziöses, Sprichworthaftes, der knapp gefügte Ausdruck von Lebenserfahrung, die konzise Zusammenfassung von Befunden oder Reflexionen herrschen in ihnen vor. Goethe hat sich vor allem durch die Lektüre orientalischer Spruchdichtungen anregen lassen, auch solche Texte für den „Divan" zu verfassen.^^ Im einzelnen unterscheiden sich jedoch die drei Bücher. Das „Buch der Betrachtungen" enthält vorwiegend solche Sprüche, die der Lebenspraxis gelten. Im Einzelfall tendieren sie zum
64 Vgl. Kraft 1986: 252. 65 Vgl. Rehm 1 9 6 4 : 2 1 5 - 2 4 8 . 66 Vgl. vor allem Mommsen 1961: 105-113 und 120-131 und 186-210.
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Didaktischen. In der Vorankündigung des „Divans" hatte Goethe geschrieben: „Das Buch der Betrachtung ist practischer Moral und Lebensklugheit gewidmet, orientalischer Sitte und Wendung gemäß."^' Max Rychner faßt wie folgt zusammen: „Aufgefächert liegt das Dasein vor dem betrachtenden Blick, der es fem und kühl, mit einemmal wieder heiß belebt, wahrnimmt. Der Dichter ordnet Erfahrungen, stuft ein, scheidet aus und hebt noch an geringsten Dingen - Blick, Gruß, Vorbeiritt an der Schmiede - ihren Zeichensinn, ihren Hinweis auf Lebensgesetze hervor. Er tut es auf seine westliche Weise, doch immer wieder vom Orient angelockt und seiner Schätze bewußt sich freuend."^* Der Umfang der Gedichte in diesem Buch überschreitet durchaus die Grenzen des Gewöhnlichen. Während Spruchdichtung üblicherweise strophisch nicht gegliedert ist und kaum je mehr als vier Verse umfaßt, sind einige Texte im „Buch der Betrachtungen" mehrstrophig, einige strophisch nicht gegliederte Texte haben einen Umfang von zehn Versen. Die Texte im „Buch des Unmuths" sind polemischen Charakters. Dem Ton, nicht der Gattung nach stehen sie den „Xenien" und den „Invektiven" nah. In der Vorankündigung charakterisiert Goethe die Gedichte, die ebenfalls länger als das Normalmaß sind, wie folgt: „Das Buch des Unmuths enthält Gedichte, deren Art und Ton dem Osten nicht fremd ist. Denn gerade ihre Dichter, welche Gönnern und Beschützern die herrlichsten Lobpreisungen ertheilen, verlieren alles Maß, wenn sie sich zurückgesetzt sehen, oder nicht hinreichend belohnt glauben. Femer liegen sie immer mit Mönchen, Heuchlern und dergleichen im Streit; auch mit der Welt, wie sie den verworrenen Gang der Dinge, der beynahe von Gott unabhängig erscheint, nennen, sind sie immerfort im Kampf begriffen. Auf gleiche Weise verfährt der deutsche Dichter, indem er das, was ihn widerwärtig berührt, heftig und gewaltsam abweist."^' Das „Buch der Sprüche" enthält Spruchdichtung im engeren Sinn: elementare Weisheiten und Erfahrungen, meist in Form eines Zwei- oder Vierzeilers. Alle Gedichte im „Buch der Sprüche" und fast alle in den beiden vorangehenden Büchern sind titellos. Es verhält sich damit wie schon mit den Texten, die Goethe in der Werkausgabe von 1815 unter dem Sammeltitel „Gott, Gemüt und Welt" sowie "Sprichwörtlich" vereint hat. Die Titellosigkeit wird dadurch begünstigt, daß mehrere Texte unter einem gemeinsamen Gattungsnamen auftreten. Hinzu kommt, daß der Spruch durch seine Titellosigkeit etwas von seiner ursprünglichen Mündlichkeit bewahrt. Ein Spruch setzt wie auch eine Sentenz oder ein Phraseologismus nicht auf Originalität. Er gehört gewissermaßen jedem und kann von jedem gebraucht werden. Der Spruch gibt sich, wenn er nicht ohnehin schon aus dem Mündlichen stammt, als ein Text, der aus der Rede zu
67 FA 1 / 3 , 1 : 5 5 0 . 6 8 Rychner 1994: 462. 6 9 FA 1 / 3 , 1 : 550.
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stammen scheint und ohne großen Aufwand wieder in sie einfließen icann. In der Rede aber gebraucht niemand einen Spruch mit Titel. In dieser Hinsicht ist der Spruch dem Aphorismus (der üblicherweise keinen Titel trägt und in diesem Punkt dem bon mot nahe ist) verschwistert, nicht aber dem literarischen Epigramm (das üblicherweise einen Titel trägt).^° Anders aber als die Texte in den Rubriken „Gott, Gemüt und Welt" und „Sprichwörtlich" (und später die „Zahmen Xenien") sind einige der Goetheschen Sprüche im „Divan" betitelt/' Das für die Gattung ungewöhnliche Phänomen bedarf der genaueren Betrachtung. Die beiden aufeinanderfolgenden Spruchgedichte „Fünf Dinge" und „Fünf andere" bilden durch die syntaktisch parallele Konstruktion und die Bezugsetzung des zweiten auf den ersten Titel ein Kleinstensemble. Während die übrigen unbetitelten Spruchgedichte beliebig in ihrer Reihenfolge ausgetauscht werden können, ist in diesem Fall die Sukzession der Texte schon durch ihre Titelwahl streng vorgegeben. Im übrigen ahmt der Wortlaut denjenigen Titel nach, den Silvestre de Sacy dem 46. Kapitel („De cinq choses qui ne se trouvent jamais avec cinq autres choses") seiner Übersetzung der Spruchweisheiten des persischen Mystikers Faridu 'd-din 'Attar gab. Bei ihm hat Goethe die Vorlage für den ersten der beiden Sprüche gefunden.^^ Der Titel „An Schach Sedschan und seinesgleichen" markiert die Sonderstellung des zugehörigen Gedichts innerhalb des „Buchs der Betrachtungen". Es ist nämlich mehr Huldigungsgedicht als reflektierender Spruch, sein Gestus ist der der Ehrerbietung, nicht der des weisen Sprechens aus Erfahrung. Überdies ist der Titel Verstehenshinweis für den Leser. Er ist nicht nur offenkundiger Hinweis darauf, daß sich das Gedicht an Hafis' Herrscher richtet, sondern auch verdeckter Hinweis darauf, daß es sich an den Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar richtet. So jedenfalls läßt sich die Wendung „und seinesgleichen" verstehen. Derselbe Fall liegt bei der Titelgebung des nächstfolgenden Gedichts vor: „Höchste Gunst". Auch dieses Gedicht ist ein Huldigungsgedicht, das sich nach Gehalt und Stellung zum vorhergehenden Gedicht sowie seiner superlativischen Formulierung geurteilt wieder an höchstes Personal wendet: sicherlich an den Großherzog Carl August und wahrscheinlich - Erich Trunz macht das mit guten Argumenten plausibel^^ - an die Kaiserin Maria Ludovica. Die nachfolgenden, letzten Sprüche sind mit Titelsubstituten, nämlich Sprecherangaben, versehen. Sie stiften zwischen den einzelnen Sprüchen einen Zu-
70 Vgl. Schlaffer 1996: 1116. 71 Ein ahnlicher Fall liegt bei Peter Gans „Sprüchen" vor. Auch sie sind betitelt. Vgl. Gan 1997, Bd. 1 : 3 8 7 - 3 9 5 . 72 Vgl. FA 1 / 3 , 2 : 1060. 73 Vgl. HA 2: 6 0 7 f
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sammenhang. Im übrigen sind beide Sprecherangaben schon auf dem Weg zum rhematischen Titel, denn sie fungieren auch als verknappte Quellenangabe. Die Angabe „Ferdusi spricht" bezieht sich vor allem auf den nachfolgenden Zweizeiler. Es handelt sich um eine wörtliche Übernahme aus Ludolfs Übersetzung des persischen Dichters Ferdausi.''* Der Titelersatz markiert „fremde Rede".^^ Erst in dem letzten vierzeiligen Spruchsegment, nach der einleitenden Frage, kommt der persische Dichter wieder zu Wort. Inmitten spricht der westliche Dichter.^^ Auch die Sprecherangabe „Dschelâl-eddîn Rumi spricht" in dem nächsten Spruch markiert fremde Rede. Der Spruch ist eine Anverwandlung vorgegebener Verse des genannten persischen Dichters.^' Der Spruch „Suleika spricht" schließt das „Buch der Betrachtungen" ab, thematisch schließt er an den vorangehenden an. Der Name „Suleika" allerdings hebt ihn aus der Reihe der letzten Sprüche heraus, denn er weist auf das Gedicht „Musterbilder" im „Buch der Liebe" zurück und weist auf das „Buch Suleika" voraus. Das Titelsubstitut steht nicht nur im Dienst der Ensemblebildung, sondern auch im Dienst der Vernetzung voneinander entfernt stehender Texte im „Divan". Nur noch ein weiterer Text in den drei Spruchbüchem ist mit einem Titel versehen: das Gedicht „Wanderers Gemüthsruhe" im „Buch des Unmuths". Das Gedicht ist nicht das persönlichste in diesem Buch. Auch andere Gedichte in seinem Umfeld sind persönlich im Ton. Aber der Titel läßt es als das persönlichste erscheinen. Das Gedicht wendet sich gegen die Niedertracht in der Welt, gegen die zu kämpfen sich allerdings nicht lohnt, und erteilt den Rat, allen Unbilden zum Trotz seinen eigenen Weg zu gehen. Der Rat gilt dem Leser, aber in gleichem Maße auch dem lyrischen Sprecher, dem Dichter. „Wanderer" ist ein Ausdruck, den Goethe schon in der Rede „Zum Shakespeares-Tag" gebraucht, als bildliche Bezeichnung für den englischen Dichter. Auch in den frühen Hymnen tritt er auf, sogar titelweise („Wandrers Sturmlied", „Der Wanderer"), sodann in „Wandrers Nachtlied". Als Figur erscheint ein Wanderer in der Philemon-und-Baucis-Szene im zweiten Teil des „Faust". In der zweiten und der siebenten „Römischen Elegie" nennt sich der Sprecher „Wanderer". Der Wanderer - das ist bei Goethe vielfach das Bild für den vom Genius Begabten, für den Dichter.'* Der Ausdruck „Wanderer" in dem Titel des Gedichts ist aber auch eine Anspielung auf Goethe selbst. Schon der Kreis um Johann Heinrich Merck, die
74 75 76 77 78
Vgl. FA 1 / 3 , 2 : 1080f. Bachtin 1979: 192-219. Vgl. Rychner 1 9 9 4 : 4 6 0 . Vgl. FA 1 / 3 , 2 : 1082f. Vgl. Schrimpf 1952/53: 11-23.
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„Gemeinschaft der Heiligen", hatte Goethe zu Beginn der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts aufgrund seiner vielfachen Wanderungen zwischen Frankfurt und Darmstadt den Namen „Wanderer" gegeben.'' Schließlich hat Goethe sich selbst als „Wanderer" bezeichnet, in einem Brief an Jacobi vom 31. August 1774 beispielsweise und später in „Dichtung und Wahrheit".'" 1.2.3. Buch des Timur - Buch Suleika - Das Schenkenbuch Ursprünglich sollte das „Buch des Timur" in einer Hinsicht ein Buch wie jedes andere im „Divan" werden: ein aus vielen Einzelgedichten bestehendes. Hingegen sollte es eine Sonderstellung insofern einnehmen, als es in der Gestalt des Mongolenherrschers Timur Kriegerisches, Zerstörerisches und weltgeschichtlich Bedrohliches thematisch in den „Divan" integrieren sollte. In der Vorankündigung im „Morgenblatt für gebildete Stände" hat Goethe Worte zu diesem Buch geftinden, die keinen Zweifel daran zulassen, daß es auch als Anspielung auf Napoleons Wirken in Europa gedacht war: „Timurname, Buch des Timur, fasst ungeheure Weltbegebenheiten, wie in einem Spiegel auf, worin wir, zu Trost und Untrost, den Wiederschein eigner Schicksale erblicken."*' Tatsächlich besteht das „Buch des Timur" nur aus zwei Stücken. Adolf Muschg erklärt die planwidrige Knappheit des Buchs unter Hinweis auf die Zeitgeschichte so: „[...] zu Timur mochte Goethe, nach Napoleons Sturz, aus Unlust oder politischer Scheu, kein 'Buch' mehr einfallen Man könnte sagen: Weil das „Buch des Timur" ein solch kurzes geblieben ist und überdies das zweite der beiden Stücke - „An Suleika" - auch schon vorverweist auf das nächste Buch und im übrigen, wie Kurt Krolop schreibt, der „Haß-, Kriegs- und Todeswelt" des Timurgedichts eine „Liebes-, Friedens- und Kulturwelt" entgegenstellt,'^ ist es möglich, es zusammen mit dem „Buch Suleika" und dem „Schenkenbuch" als eine Einheit zu begreifen. Es geht aber auch einfacher. In den drei Bücher dominiert Rollendichtung. In dieser Hinsicht bilden sie eine Einheit. Überdies stehen die Titel in den drei Büchern wesentlich mit der Rollenhaftigkeit der Gedichte im Zusammenhang. Im Hinblick auf die Titelsetzung sind vor allem die letzten beiden Bücher ergiebig. Eine Grundstruktur des „Buchs Suleika" ist die des Dialogischen. Gisela Henckmann hat sie mit dem Begriff der Geselligkeit zu erfassen gesucht.*'' Goethe schreibt in der Ankündigung des „Divans" im „Morgenblatt fiir gebildete Stände": „Das Buch Suleika, leidenschaftliche Gedichte enthaltend, unter-
79 80 81 82 83 84
Vgl. W A 1 / 2 8 : 118. - Vgl. Boyle 1995ff., Bd. 1: 155f., 163, 191. Vgl. W A 1 / 2 8 : 91. FA 1 / 3 , 1 : 550. Muschg 1986: 88. Krolop 1982: 115. Vgl. Henckmann 1975: 13-15.
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scheidet sich vom Buch der Liebe dadurch, daß die Geliebte genannt ist, daß sie mit einem entschiedenen Charakter erscheint, ja persönlich als Dichterinn auftritt und in froher Jugend mit dem Dichter, der sein Alter nicht verleugnet, an glühender Leidenschaft zu wetteifern scheint. Die Gegend, worin dieses Duodrama spielt, ist ganz persisch. Auch hier dringt sich manchmal eine geistige Bedeutung auf und der Schleier irdischer Liebe scheint höhere Verhältnisse zu verhüllen."'' Die Gedichte des „Buchs Suleika" sind in eine Gesprächssituation eingebunden. Korflf spricht vom „Duett-Charakter" der Gedichte.'^ Fast alle Gespräche finden zwischen Hatem und Suleika statt, einige zwischen Hatem und den Mädchen, einmal spricht Suleikas Dienerin („Vollmondnacht").'^ Die wenigsten Gedichte sind betitelt, eine ganze Reihe führt Sprecherangaben als Titelsubstitute mit sich, viele sind titellos. Die Titellosigkeit vieler Gedichte im „Buch Suleika" suggeriert Mündlichkeit. In diesem Punkt ähneln sie den titellosen Liedern, die Goethe in seine Romane und Dramen eingelegt hat, der frühen Fassung des Gedichts „Willkomm und Abschied" und zahlreichen seiner Gelegenheitsdichtungen. „Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede", hat Goethe an einer Stelle in seiner autobiographischen Schrift „Dichtung und Wahrheit" gesagt.^' Insbesondere die titellosen Gedichte des „Buchs Suleika" erscheinen von diesem „Mißbrauch der Sprache" befreit. Der Vorbehalt gegen das Medium der Schriftlichkeit, den Goethe mehrfach vorgebracht hat (z.B. in „Vorklage", dem einleitenden Gedicht der Sammlung von 1815, in dem es heißt: „Wie nimmt ein leidenschaftlich Stammeln / Geschrieben sich so seltsam aus!"''), trifft diese Gedichte nicht. Sie sollen beim Lesen aufhören, als geschriebene Gedichte wahrgenommen zu werden. Die Suggestion der Mündlichkeit dieser Gedichte bezweckt die Suggestion ihrer Unmittelbarkeit. Wer die Sprecher der titellosen Gedichte jeweils sind, wird in fast allen Fällen aus dem Kontext der Gedichte oder diesen selbst hinreichend deutlich. Wo dies nicht der Fall ist, da wird den Gedichten der Sprechername vorangestellt: als Regieanweisung zur Orientierung des Lesers. Dasselbe geschieht in solchen Gedichten, in deren Verlauf ein Sprecherwechsel vorgenommen wird. Wo das Gedicht deutlich genug macht, wer der Sprecher ist, und kein Spre-
85 F A I / 3 , l : 5 5 0 f . 86 K o r f f l 9 5 8 , Bd. 2 : 2 8 9 . 87 Seit Herman Grimms 1869 erschienenem Aufsatz „Goethe und Suleika" ( 1971 ) hat die biographistisch angelegte Literaturwissenschaft in dem Gespräch zwischen Hatem und Suleika ein Rollenspiel zwischen Goethe und Marianne von Willemer sehen wollen. 88 W A I / 27: 373. - Man vergleiche das Vorwort der „Farbenlehre", w o es heißt: „Denn eigentlich sollte der Schreibende sprechen [...]" (WA 11 / 1 : XVlll). 89 F A l / 2 : I I .
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cherwechsel innerhalb des Gedichts vorliegt, ist die Sprecherangabe vor allem Ankündigung von Rede („Suleika / Ach! um deine feuchten Schwingen, [...]", „Suleika / Wie! Mit innigstem Behagen, [...]"'")· Die Orientierung über den Sprecher fehlt eigentlich nur in den ersten beiden Gedichten des „Buchs Suleika"; sie wird ja erst im dritten Gedicht gegeben, denn erst dort gibt sich der Sprecher seinen Namen. Bei soviel Titellosigkeit und Titelersatz haben die wenigen Titel im „Buch Suleika" um so mehr Gewicht. Mit ihnen kann es, so darf unterstellt werden, eine besondere Bewandtnis haben. Weder Hatem noch Suleika, die Mädchen oder die Dienerin sprechen in ihnen. Es ist die Instanz des Autors, die sich im Medium des Titels in das „Duodrama" einmischt. Zu welchem Zweck? Der Titel des Eingangsgedichts „Einladung" übernimmt mehrere Aufgaben. Er sagt etwas von dem, was das Gedicht selbst enthält. In dem Gedicht bringt der liebende Sprecher die Liebe und das Dichten in einen Zusammenhang; es ist die angesprochene Geliebte, die für die Stiftung des Zusammenhangs die Voraussetzung schafft. Darum lädt er sie zum Verweilen ein. Da das Eingangsgedicht betitelt ist und keines der nächstfolgenden Gedichte, dient sein Titel außerdem zur Markierung des Anfangs des „Buchs Suleika" als ein Besonderes, dem Folgenden Vorgeordnetes und es Umgreifendes. Die thematisierte wechselseitige Bedingtheit von Liebe und Dichtung ist ja nichts weniger als ein Zentralthema des Buchs. In dem insbesondere durch seine freirhythmische Form aus dem Kontext des übrigen herausgehobenen Gedicht „Die schön geschriebenen, / Herrlich umgüldeten" wird dieses Thema ausgeführt. Desgleichen in dem Gedicht „Behramgur, sagt man, hat den Reim erfunden", das eine Reimkunst thematisiert, der man Karl Kraus' Reimlehre oder einigen Andeutungen Oskar Loerkes zum Reim folgend, durchaus das Beiwort erotisch zusprechen kann.'' Schließlich dürfte der Titel des Eingangsgedichts auch an den Leser des „Buchs Suleika" gerichtet sein; dieser soll sich eingeladen sehen, am Dialog zwischen Hatem, Suleika und den Mädchen teilzuhaben. Weniger vielschichtig verhält es sich mit dem Titel „Gingo biloba", aber ein außergewöhnlicher ist er zweifellos. Dies weniger dadurch, daß er aus einem fremdsprachlichen, sondern vielmehr dadurch, daß er aus einem fachsprachlichen Ausdruck gebildet ist. (Die fehlerhafte Schreibung des Ausdrucks lasse ich außer Betracht. In der Reinschrift hatte Goethe noch richtig „Ginkgo biloba" geschrieben.) Der botanische Name „Ginkgo" wurde 1712 in Europa eingeführt, das epitheton specificum „biloba" (zweilappig) fügte Carl von Linné hinzu.'^
90 FA 1/3,1: 95 und 100. 91 Vgl. Kraus 1987; 323-358. - Loerke 1958, Bd. 1: 713-730. 92 Debon 1979: 234 sagt dazu: „Auch die Frage, warum Goethe jene Wortform gewählt hat, wird kaum zu klären sein." 93 Vgl. Debon 1979: 228f.
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Goethe kannte Linnés Pflanzensystem, und vielleicht hat er von dort auch den Namen übernommen.''* Einen Titel, der aus einem fachsprachlichen Ausdruck gebildet ist, gibt es in Goethes Gedichten sonst nur sehr selten, im „Divan" abgesehen von diesem einen Fall überhaupt nicht. Innerhalb des „Divans" und erst recht innerhalb des „Buchs Suleika" bildet der Titel eine expressive Abweichung. Deren Bedeutung wird man im Zusammenhang mit der Vielsinnigkeit des Gedichts sehen müssen. In einem Brief vom 27. September 1815 schreibt Goethe an Anna Rosine Städel, die Stieftochter von Marianne von Willemer, bezugnehmend auf das im Brief übrigens ohne Titel mitgeteilte Gedicht „Gingo biloba": „Hiermit nun, liebe Rosette, [...] überliefre ich Ihnen, mit den sämmtlichen Geheimnißen der neuem Philologie, auch meine eignen, zu beliebigem Privatgebrauch."'^ Das geht auf den mannigfachen Sinn, den das Gedicht hat. Die in sich geteilte Gestalt des Ginkgobaumblattes läßt sich im Kontext des „Buchs Suleika" als Sinnbild für die erotische Begegnung zwischen Hatem und Suleika verstehen.'^ Sie läßt sich im Kontext des „Divans" aber auch auf die Begegnung zwischen Hafis und dem westlichen Dichter beziehen. Birus sieht außerdem die Möglichkeit zu einer natuφhilosophischen Auslegung der Symbolebene des Gedichts.'^ Der Titel gibt von all diesem wenig, j a eigentlich nichts zu erkennen. Allenfalls fordert er aufgrund seiner Ungewöhnlichkeit die Erwartung, daß ein ungewöhnliches Gedicht folge. Aber nicht einmal die Thematisierung des Ginkgobaumblattes wird durch den Titel in Aussicht gestellt, sondern nur die des Baums überhaupt. Der Titel sagt etwas, aber er verschweigt auch. Das „Buch Suleika" ist zweigeteilt, nicht mit strenger Zäsur an einer Stelle, aber durch die Verlagerung der thematischen Gewichte deutlich akzentuiert. In den ersten Gedichten, die sich um „Gingo Biloba", „Die schön geschriebenen" und „Locken! haltet mich gefangen" gruppieren, sind die Liebenden gegenwärtig. Der zweite Teil der Gedichte handelt von Trennung und setzt sie fast durchgehend voraus. Das dialogische Element bleibt gewahrt, aber die Sprecher der Gedichte reden fast nur aus der Entfernung zueinander. Nicht mehr nur der Enthusiasmus der Liebe bestimmt diese Gedichte. Höhere Sphären klingen an. Mythisches und Kosmogonisches. Es sind dies die von Goethe gemeinten „höheren Verhältnisse", die in der irdischen Liebe erfahrbar werden. In der zweiten Hälfte des „Buchs Suleika" häufen sich die Titel. Dadurch wird sie markiert. Außerdem sind einige Titel der thematischen Gewichtung der zweiten Hälfte angepaßt. Das gilt für den Titel „Hochbild". Das Wort, das eine 94 Ruppert 1958: 691-693 verzeichnet zahlreiche Werke Linnés in Goethes Bibliothek 95 WA I V / 2 6 : 85. 96 Sulpiz Boisserée hat es, wie aus seiner Tagebuchnotiz vom 15.9.1815 hervorgeht, als Freundschaftssymbol verstanden. Vgl. Boisserée 1978-1995, Bd. 1: 269. - Vgl. im übrigen Beutler 1946/47, Bd. 1:311-349. 97 Vgl. FA 1 / 3 , 2 : 1195.
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Goethesche Neuschöpfung ist, geht auf das Zentrum des Gedichts. Es bezieht sich auf das gegenständlich Gesagte: Auf die Sonne und den Regenbogen am Firmament, die eine explizit als Helios, der andere implizit als Iris mythisch уегкофеЛ, die einander nicht berühren. Der Titel bezieht sich aber auch auf das symbolisch Ausgedrückte: die Trennung der Liebenden. „Nachklang", der Titel des nachfolgenden Gedichts, hat anaphorische Funktion. Er weist zurück auf das Gedicht „Hochbild". Beide Gedichte bilden ein Kleinstensemble. Weil der Kontext fehlt, läßt sich nicht entscheiden, ob „Wiederfinden" als Verb zu nehmen ist, ohne syntaktische Ergänzung und in der Infinitivform, oder als nominalisiertes Verb. In beiden Fällen aber ist das Gemeinte ein Vorgang, kein Zustand,'® keine Relation, auch nichts Abstraktes (und ähnelt darin „Hegire"). Wieder läßt sich der Titel doppelt fassen. Einmal bezieht er sich auf die kurzfristige Wiederbegegnung mit der Geliebten, von der der Sprecher sich gerade noch getrennt sah. Er bezieht sich aber auch auf mehr, nämlich auf den Schöpfungsmythos, der in dem mittleren Teil des Gedichts als etwas in der Liebe Erfahrbares, ja durch sie Hervorgebrachtes dargestellt wird: als die Vereinigung voneinander getrennter Elemente - dies unter vielfacher Ausspielung von Gedanken, die Goethe in der „Farbenlehre" formuliert und die er aus antiker Natur- und Weltlehre und aus mystisch-alchimistischer Lehre bezogen hat.'' Goethe hat dem dichten und bezügereichen Gedicht besonderes Gewicht dadurch verliehen, daß er es noch einmal in anderem Zusammenhang hat erscheinen lassen; in der Sammlung von 1827 unter der Rubrik „Gott und Welt"."^ Dort ist der scheinbar mündliche Charakter des Gedichts, der im „Divan" noch vorherrscht, durch die anderen Kontextbedingungen um vieles abgeschwächt. Nach den vielschichtigen Gedichten „Hochbild", „Nachklang" und „Wiederfmden" wird das „Buch Suleika" wieder leichter und heiterer, gleichsam irdischer. Der Titel des nachfolgenden Gedichts - „Vollmondnacht" - ist nicht auf Mehrdeutigkeit hin angelegt, sondern sagt etwas über den Zeitraum, in dem die Verse gesprochen werden. „Geheimschrift" - in den „Noten und Abhandlungen" nennt Goethe das Gedicht „Chiffer"'®^ - zielt auf die Rätselsprache zweier Liebender, die für niemanden außer fiir diese selbst verständlich ist: durch Verabredung eines Buches, aus dem Seiten- und Zeilenzahlen vom Ab-
9 8 Whaleys nicht ganz treffsichere Übersetzung des Titels ins Englische ist „Re-United". Vgl. Goethe 1979: 139. 99 Vgl. hierzu Schneider 1963: 232-247. - Marg 1952. - Luther 1973. 100 Vgl. FA 1 / 2 : 490f. 101 Werner Kraft hat dem Gedicht hohen Rang beigemessen und das dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er die von ihm veranstaltete Anthologie deutscher Poesie und Prosa ebenfalls „Wiederfinden" genannt hat. Vgl. Kraft 1954. 102 Vgl. FA 1 / 3 , 1 : 213.
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sender mitgeteilt und vom Empfanger entschlüsselt werden. Goethe und Marianne von Willemer haben solchergestalt Briefe gewechselt.'"' Anders als „Vollmondnacht" ist dieser Titel gewichtig, weil er einen schon im Zusammenhang des „Buch Hafis" benannten Grundzug des „Divans" auf sich bezieht. Die in geheimnisvoller Rede und Rätselspiel praktizierte Verschleierung des allenfalls für Eingeweihte Offenbaren ist ja poetische Praxis im „Divan", wie strekkenweise auch sonst in Goethes Alterswerk. Der letzte Titel im „Buch Suleika", „Abglanz", zielt in konzentrierter Weise auf zweierlei: auf Goethes Erkenntnislehre sowie einen poetologischen Gedanken. Das Titelwort ist in Goethes „Farbenlehre" vorgeprägt. Goethe gebraucht es im „Didaktischen Teil" der „Farbenlehre" unter der Rubrik „Katoptrische Farben". Da heißt es, daß das Licht im Abglanz der Farben wahrnehmbar sei.'"^ Der Satz hat beispielhaften Charakter. Goethes allgemeine Lehre ist diese: Das Wesen eines Dinges ist nur in seinen Manifestationen, oder - wie das Nachwort zur „Farbenlehre" in der Hamburger Ausgabe sagt - in seinen Wirkungen wahrnehmbar.'"^ Goethe äußert denselben Gedanken noch einmal in anderem Zusammenhang, nämlich in der Einleitung zu dem „Versuch einer Witterungslehre": „Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direct erkennen, wir schauen es im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; [...]."'"' Doch dies ist nur die eine Seite, die dem Titel „Abglanz" eigen ist. Hinzu kommt außerdem dieses: Das Gedicht reflektiert das „Buch Suleika". Zwar herrscht in der Forschung kein Einvernehmen darüber, ob es als ein Ganzes oder nur in Teilen gemeint ist. Nach Loeper ist in dem Gedicht von Suleikas Liedern die Rede,"" nach Trunz sind Hafis' Gedichte in der Hammerschen Übersetzung gemeint."" Aber man kann es auch anders nehmen und behaupten, daß die Gedichte von Hatem und Suleika gemeint sind."" In ihnen wird die Liebe zwischen Hatem und Suleika, in ihnen wird die abwesende und entfernte Geliebte erkennbar. - Gedichte im „Buch Suleika", die einen Titel tragen - so läßt sich an dieser Stelle bilanzieren - sind vor allem symbolisch verdichtete.
103 Vgl. Grimm 1971. 104 In „Wilhelm Meisters Wanderjahre" heißt es an einer Stelle (WA 1 / 24: 233f.): „Außerdem hat das Geheimniß sehr große Vortheile: denn wenn man dem Menschen gleich und immer sagt, worauf alles ankommt, so denkt er, es sei nichts dahinter. Gewissen Geheimnissen, und wenn sie offenbar wären, muß man durch Verhüllen und Schweigen Achtung erweisen, denn dieses wirkt auf Scham und gute Sitten." 105 Vgl. WA 11/1: 1 5 4 f 106 Vgl. HA 13: 627. 107 W A 11/12: 74. 108 Vgl. Hempel 1868-1879, 4. Teil: 165. 109 Vgl. HA 2: 645. 110 FA 1 / 3 , 2 : 1 2 9 9 f
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Im Anschluß an „Abglanz" finden sich keine Titel mehr, das folgende Gedicht ist allein mit einer Sprecherangabe überschrieben. Die abschließenden Gedichte wirken ohne Vermittlung durch einen Titel. Das gilt insbesondere fiir das an Wiederholungsstrukturen so überaus reiche und auf diese Weise die Geliebte, von der die Rede ist, auch sprachlich preisende Schlußgedicht „In tausend Formen magst du dich verstecken". In diesem Gedicht, das die Geliebte so hochstellt, signalisiert der Verzicht auf den Titel nicht nur Mündlichkeit, sondern auch schon Verzicht auf Anknüpfung an Vorstellungen jeglicher Art, die durch ihn vorweggeschickt werden könnten. In diesem Punkt, auf den Hugo Friedrich in seiner Studie zur Lyrik der Moderne aufmerksam gemacht h a t , ' " ist die Titellosigkeit des Gedichtes mit derjenigen zahlreicher Gedichte der Moderne verschwistert - von vielen Gedichten Mallarmés bis hin zu einer Vielzahl von Celans Dichtungen. Als weiterer Erklärungsgrund der Titellosigkeit kann ein kontextuelles Argument ins Feld gefuhrt werden. Das Gedicht ist das Schlußgedicht im „Buch Suleika". Der Verzicht auf einen Titel bedeutet den Gewinn, daß alle übrigen Gedichte des Buchs als Vorbereitung auf das Schlußgedicht erscheinen. Die Abfolge von vorwiegend titellosen Gedichten im ersten Teil des „Buchs Suleika", dann von vorwiegend betitelten Gedichten im zweiten Teil und schließlich wieder, nun aber qualitativ neu akzentuierten, titellosen Gedichten am Schluß kann mit Goethes Begriffspaar Polarität und Steigerung in Verbindung gebracht werden. Goethe hat diese Begriffe insbesondere in seiner „Farbenlehre" ausgeführt,"^ aber auch an anderer Stelle in seinen naturwissenschaftlichen Schriften: „Was in die Erscheinung tritt, muß sich trennen, um nur zu erscheinen. Das Getrennte sucht sich wieder, und es kann sich wieder finden und vereinigen; im niedem Sinne, indem es sich nur mit seinem Entgegengestellten vermischt, mit demselben zusammentritt, wobei die Erscheinung Null oder wenigstens gleichgültig wird. Die Vereinigung kann aber auch im höhern Sinne geschehen, indem das Getrennte sich zuerst steigert und durch die Verbindung der gesteigerten Seiten ein Drittes, Neues, Höheres, Unerwartetes hervorbringt.""^ Die Begriffe Polarität und Steigerung, die nach Goethe 'zwei große Triebräder aller Natur' bezeichnen,"'' sind aus naturwissenschaftlicher Betrachtung gewonnen. Goethe hat sie auch auf den Bereich der Kunst und Dichtung übertragen. Riemer teilt folgende Äußerung Goethes vom 24. März 1807 mit: „Die Formel der Steigerung läßt sich auch im Ästhetischen und Moralischen verwenden.""^ Und gegenüber Eckermann erklärt Goethe bezüglich
111 Vgl. Friedrich 1956: 130. 112 Vgl. WA 11 / 1: 277-279, 298, 305. - Goethes Wortgebrauch von „Steigerung" hat Wilkinson 1951 untersucht. 113 WA I I / 1 1 : 166. 114 Vgl. WA 11/11; I I . 115 Riemer 1921: 271.
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der „Novelle" am 18. Januar 1827: „Ein ideeller, j a lyrischer Schluß war nötig und mußte folgen; denn nach der pathetischen Rede des Mannes, die schon poetische Prosa ist, mußte eine Steigerung kommen, ich mußte zur lyrischen Poesie, j a zum Liede selbst übergehen. Um fur den Gang dieser Novelle ein Gleichnis zu haben [...], so denken Sie sich aus der Wurzel hervorschießend ein grünes Gewächs, das eine Weile aus einem starken Stengel kräftige grüne Blätter nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume endet. - Die Blume war unerwartet, überraschend, aber sie mußte kommen; ja, das grüne Blätterwerk war nur für sie da und wäre ohne sie nicht der Mühe wert gewesen.""^ Diese Worte vermitteln die Vorstellung, daß eine qualitative Veränderung und Intensivierung aus einer quantitativen Differenz resultiere."' Sie läßt sich an die Abfolge Titelsetzung, Titellosigkeit und wiederum, nun aber neu gewonnene Titellosigkeit herantragen. Dies aber wohl nur im Sinn einer Analogie. Diese Analogie kann erhellend wirken, nicht aber eine poetische Regel liefern, nach der Goethes Dichtung verfaßt ist. Goethe selbst hat darauf aufmerksam gemacht: „Sie sehen, wie alles aneinanderhängt und wie sogar ein Gesetz der Farbenlehre auf eine Untersuchung der griechischen Tragödie führen kann. Nur muß man sich hüten, es mit einem solchen Gesetz zu weit zu treiben und es als Grundlage für vieles andere machen zu wollen; vielmehr geht man sicherer, wenn man es immer nur als Analogon, als ein Beispiel gebraucht und anwendet.""^ Das „Schenkenbuch" ist dem „Buch Suleika" in vielem vergleichbar. Wie dieses ist auch jenes dialogisch angelegt. Hatem und ein junger Schenke sprechen, einmal auch Suleika. Ein Kellner wird angesprochen, kommt aber nicht selbst zu Wort. Wieder treten allerlei Sprecherangaben in Erscheinung, die sich gelegentlich, dann allerdings nur im Detail, von denen im „Buch Suleika" unterscheiden. Einmal ist eine Sprecherangabe durch ein Verb ergänzt („Schenke spricht"). Neu ist, daß gelegentlich der Adressat einer Rede als Titelsubstitut angeführt wird („Dem Kellner", „Dem Schenken"). Neu ist auch, daß im „Schenkenbuch" einzelne Sprecherangaben Varianten haben. In diesem Sinn wird der Schenke einmal als „Saki" gefuhrt. Eine der ersten Sprecherangaben im „Schenkenbuch" führt den Dichter als „Hatem". Darin klingt das vorhergehende Buch noch nach. Danach aber wird er ausschließlich als „Dichter" geführt. Im übrigen herrscht im „Schenkenbuch" Titellosigkeit vor. Nur der Schlußdialog zwischen dem Dichter und dem Schenken ist betitelt: „Sommernacht". Anders als im Fall des „In tausend Formen"-Gedichts, dessen Titellosigkeit nach vorhergehenden betitelten Gedichten die Position eines Gedichts in einem
116 E c k e r m a n n 1988: 184. 117 Vgl. Wilkinson 1 9 5 1 : 4 2 . 118 E c k e r m a n n 1 9 8 8 : 2 0 3 .
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Ensemble markiert, ist es hier die Titelsetzung im Anschluß an titeiiose Gedichte, die den Schluß eines Buches betont. Bis zu diesem Schlußdialog kreist das Gespräch zwischen dem Dichter und dem Schenken um Wein, Trunkenheit und das Treiben in der Schenke. Das Verhältnis zwischen den beiden wird auch hier schon als ein pädagogisches, wohl auch als ein erotisches angedeutet, aber erst im Schlußdialog wird das voll ausgeführt. Das Gedicht, dessen sprachliche Form Emil Staiger als einen „Sturz durch die Möglichkeiten der Sprache" bez e i c h n e t , ' " ist zugleich End- und Höhepunkt des „Schenkenbuchs". Auch in diesem Fall kann von einer Steigerung bis hin zum Schluß des Buches geredet werden. Die Titelsetzung markiert sie. Erich Trunz schreibt: „Der Titel sagt, daß es die Zeit der kürzesten Nächte ist."'^° Bei Einbruch einer dieser Nächte begegnen einander der Dichter und der Schenke - in Erwartung der kurzen Zeitspanne, in der sich bei Dunkelheit der Sternenhimmel beobachten läßt. 1.2.4. Buch der Parabeln - Buch des Parsen - Buch des Paradieses Die drei abschließenden Bücher des „Divans" sind wesentlich religiöse Bücher. Ihre Themen und Motive bezieht Goethe vor allem aus Religion, Theologie und Mystik, aber auch Kunst und Moral spielen in sie hinein. Die weitgehende Titellosigkeit im „Buch der Parabeln" erklärt sich wie die Titellosigkeit im „Buch der Sprüche". Gleichartige Gedichte treten unter einem Gattungsnamen auf und sind darum von der individuellen Betitelung dispensiert. Es spielt dabei keine Rolle, daß die Texte, die Goethe in diesem Buch vereint, keine Parabeln im neuerdings literaturwissenschaftlich präzisierten Sinn sind.'^' Im einzelnen wird man die Texte entweder als Gleichnisse (z.B. „Vom Himmel sank, in wilder Meere Schauer") oder als Beispielerzählungen (z.B. „Ein Kaiser hatte zwey Cassire") bezeichnen dürfen. Ihnen unterliegt die Struktur des Vergleichs oder sie illustrieren am besonderen einen allgemeinen Fall. Wichtig ist, daß Goethe die Texte im Bewußtsein, es handele sich um gleichartige Texte, nämlich um gleichnishafte Texte, geordnet hat. Allerdings unterscheiden sich die letzten beiden Gedichte von den gleichnishaften Texten im „Buch der Parabeln". Indem sie die Ursprünge der christlichen Lehre sowie die Schöpfung der Welt thematisieren, verbinden sie das „Buch der Parabeln" mit den beiden anschließenden, dominant religiös bestimmten Büchern und bereiten auf sie vor. Das letzte Gedicht trägt einen Titel: „Es ist gut". Das ist wieder finale Titelsetzung innerhalb einer Gedichtsequenz und außerdem Einstimmung auf die nachfolgenden Bücher. Der Titel nämlich ist Anspielung auf den Schöpfungsbericht in der „Genesis", indem er sich auf
119 Staiger 1 9 7 3 : 4 3 . 120 HA 2: 654. 121 V g l . Z y m n e r 1991.
Die Erstausgabe von 1819
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die dort auftretenden Formeln „Und Gott sähe, daß es gut war" beziehungsweise „Und Gott sähe an alles, was er gemacht hatte: und siehe da, es war sehr gut" bezieht. Das „Buch des Parsen" enthält lediglich zwei Gedichte. Das erste ist betitelt, das zweite nicht. „Vermächtniß alt persischen Glaubens" ist religiöse Botschaft des sterbenden Parsen, sein Glaubenstestament flir seine Glaubensgenossen. Gott offenbart sich in der Helligkeit der Sonne, alles Lebendige ist auf Sonne und Licht gerichtet. Was nicht darauf gerichtet ist, gehört dem Bereich des Unreinen an. Nicht aus diesem, sondern nur aus dem Bereich des Reinen kann menschliche Kultur entstehen. Dieses Gedicht, das nach Ernst Beutler auch ein persönliches Bekenntnis Goethes e n t h ä l t , e r h ä l t nicht nur durch sein Thema und seinen Umfang, sondern auch durch seine Betitelung Gewicht. Und außerdem dadurch, daß das nachfolgende Gedicht unbetitelt ist. Die Differenzqualität der beiden Gedichte auf ihrer Titelebene betont die Gewichtigkeit des ersten. Was ihm folgt, ist heitere Arabeske. Das Schlußgedicht preist die Weinrebe, die die Parsen nach Goethes Auskunft in den „Noten und Abhandlungen" als das „eigentlichste Kind der Sonne" gepflegt haben. Der „Divan", dessen Welt in dem Eingangsgedicht „Hegire" betreten und danach weiträumig durchschritten wird, endet mit dem „Buch des Paradieses".'^"* Von ihm spiegeln Bilder vollkommenen Friedens mit der Welt, ja von Erlösung zurück auf das ganze Gedichtkonvolut. Alle sechs Gedichte dieses Buchs sind betitelt. Die ersten drei sind syntaktisch analog gebildet und überdies semantisch verwandt: Berechtigte Männer Auserwählte Frauen Begünstigte Thiere
Nur der erste hebt sich von den übrigen Titeln ab, denn er besteht neben dem Haupt- auch aus einem Nebentitel, der Sprecher und Sprechsituation bezeichnet: Berechtigte Männer N a c h der Schlacht von Bedr, unterm S t e m e n h i m m e l
Mahomet
spricht
122 Vgl. Beutler 1973: 61. 123 F A l / 3 , 1 : 150. 124 Die Flucht ins Orientalische, an deren Ende Erlösung steht, hat Goethe schon früh bildhaft auf seine orientalischen Studien bezogen. In einem Brief an Voigt heißt es im Januar 1815: „Genau besehen sind solche neue Studien in die man sich hineinwirft, eine Art Hegire, man flüchtet aus der Zeit in ferne Jahrhunderte und Gegenden, wo man sich etwas Paradiesähnliches erwartet." ( W A l V / 2 5 : 154).
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Die Ähnlichkeit und die Vei4vandtschaft der drei Titel fügen die drei Gedichte zu einer Gruppe. Und in der Tat bilden sie j a einen thematischen Block innerhalb des „Buchs des Paradieses". Die Gedichte handeln von Kriegern, die in der Schlacht bei Bedr im Jahr 624 gefallen sind und nun Einlaß in das Paradies erbitten, und von Frauen und Tieren, die dort schon leben. Daß auch der Dichter, wie aus der letzten Strophe von „Auserwählte Frauen" hervorgeht, im Paradies einen Platz beansprucht, ist freilich titelweise nicht erkennbar. Die drei übrigen Titel im „Buch des Paradieses" weichen von dem zunächst etablierten Titelmuster ab. Die als Doppelformel vereinten Steigerungsformen in dem Titel „Höheres und Höchstes" lassen eine Steigerung der in den vorangehenden Gedichten aufgebauten religiösen Thematik erwarten. Im übrigen ist der Titel wieder ein offener, denn er spricht allenfalls in Andeutungen. Die hohen Erwartungen, die der Titel weckt, löst das Gedicht ein. Goethe schreibt in den „Noten und Abhandlungen": „Scherz und Ernst verschlingen sich hier so lieblich in einander, und ein verklärtes Alltägliche verleiht uns Flügel zum Höheren und Höchsten zu gelangen. Und was sollte den Dichter hindern, Mahomets W u n d e φ f e r d zu besteigen und sich durch alle Himmel zu schwingen?"'^' Das geht vor allem auf die Sprachthematik des Gedichts. Der Dichter, dessen Dichtersprache keine selbständige Sprache ist, sondern der von den zur Verñigung stehenden sprachlichen Mitteln besonderen, nämlich poetischen Gebrauch macht, besitzt außerdem die Fähigkeit, aus der Sphäre der poetischen, der höheren Sprache aufzusteigen in die Sphäre einer paradiesischen, einer höchsten Sprache. Diese Sprache spricht nicht nur den Ohrensinn an, sondern einen einzigen, alle fünf menschlichen Sinne umfassenden Sinn. Diese Sprache berührt von göttlicher Grammatik geregelte göttliche Sprache; mit ihr erbittet der Dichter Einlaß ins Paradies und Teilhabe an ewiger Liebe. Die zwei Gedichte, die noch folgen, bewegen sich nicht auf demselben Niveau wie „Höheres und Höchstes"; auch ihre Titel sind weit weniger komplex gewählt. Während der Titel „Höheres und Höchstes" auf engstem Raum einen vielgestaltigen Gedanken andeutet, sagt der Titel „Siebenschläfer" direkt, wovon das Gedicht handelt. Der Leser, der in christlicher Tradition zu denken versteht, wird durch den Titel an die Legende der Siebenschläfer erinnert. „Gute Nacht!", der Titel des letzten Gedichts ist kolloquiale Wendung an den Leser, von dem der Dichter an dieser Stelle Abschied nimmt. Zugleich ist er, indem er sich sachlich und stilistisch von den hohen religiösen Themen der vorangehenden Gedichte abhebt, auch Arabeske, omamentaler Zusatz als Schlußpunkt.
125 FA 1 / 3 , 1 : 228.
Zur Titelpraxis in der Ausgabe von 1827
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2. Zur Titelpraxis in der Ausgabe von 1827 Goethe hat den „Divan" von 1819 nicht als abgeschlossen betrachtet. Schon während der Revisionsarbeiten für die Drucklegung hat er erneut zahlreiche Gedichte geschrieben, die freilich in das Ensemble nicht mehr aufgenommen werden konnten. In den „Noten und Abhandlungen" schreibt Goethe unter der Rubrik „Künftiger Divan" dazu: „Man hat in Deutschland zu einer gewissen Zeit manche Druckschriften vertheilt, als Manuscript für Fremde. Wem dieses befremdlich seyn könnte, der bedenke daß doch am Ende jedes Buch nur für Theilnehmer, für Freunde, für Liebhaber des Verfassers geschrieben sey. Meinen Divan besonders möcht' ich also bezeichnen, dessen gegenwärtige Ausgabe nur als unvollkommen betrachtet werden kann. In jüngeren Jahren würd' ich ihn länger zurückgehalten haben, nun aber find' ich es vorteilhafter ihn selbst zusammenzustellen, als ein solches Geschäft, wie Hafis, den Nachkommen zu hinterlassen. Denn eben daß dieses Büchlein so da steht, wie ich es jetzt mittheilen konnte, erregt meinen Wunsch ihm die gebührende Vollständigkeit nach und nach zu verleihen."'^^ Was Goethe an Änderungen und Ergänzungen vorgenommen hat, ist in die Neuausgabe des „West-östlichen Divans" von 1827, den sechsten Band der „Ausgabe letzter Hand", eingegangen. Jedoch ist auch in dieser Ausgabe das „Buch der Freunde", das Goethe 1816 im „Morgenblatt für gebildete Stände" angekündigt hatte, nicht enthalten, und auch das „Buch Timur" hat keine Erweiterungen erfahren. Der „Divan" ist, so kann man mit Muschg sagen, als Fragment v o l l e n d e t . D i e Titelpraxis der hinzugefügten Gedichte bewegt sich auf den Bahnen, die in der Erstausgabe vorgezeichnet sind. Einige Titel haben konfigurierende Funktion innerhalb der Sequenz von Gedichten, in der sie stehen. „Vorschmack" markiert den Anfang des „Buchs des Paradieses". Der Titel verspricht eine Einstimmung auf das Buch. Der Gedichttitel „Buch Suleika", der sich, da er poetologische Reflexion verspricht, vollständig von den übrigen Gedichttiteln im „Buch Suleika" unterscheidet, markiert ungefähr die Mitte dieses Buchs. Der Titel des Gedichts „Noch ein Paar", das Goethe bereits in den „Noten und Abhandlungen" der Erstausgabe, dort aber ohne Titel mitteilt,'^® steht im Dienst der Ensemblebildung. Er schließt das Gedicht mit dem vorangehenden Gedicht „Musterbilder" zusammen. Auch in sprachlicher Hinsicht folgen die Titel der in der Ausgabe von 1827 neu hinzugekommenen Gedichte den Maßgaben der Ausgabe von 1819. Der lakonische Ein-Wort-Titel herrscht vor. „Wunderglaube" heißt ein Gedicht im 126 F A I / 3 , l : 2 1 4 f . 127 Vgl. Muschg 1986: 89. 128 Vgl. F A I / 3 , 1 : 2 1 8 .
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„Buch der Parabeln", „Vorschmack", „Einlass" und „Anklang" heißen drei Gedichte im „Buch des Paradieses". Einige neue Gedichte sind mit Sprecherangaben versehen. Viele sind titellos; im „Buch der Liebe" sind das die Gedichte mit diesen Anfangsversen: Ja! die Augen waren's, ja der Mund Liebchen, ach! im starren Bande Eine Stelle suchte der Liebe Schmerz Im „Buch der Betrachtungen": Den Gruss des Unbekannten ehre ja! Haben sie von deinen Fehlen Märkte reizen dich zum Kauf Wie ich so ehrlich war Frage nicht durch welche Pforte Woher ich kam? Es ist noch eine Frage Es geht eins nach dem andern hin Das Leben ist ein schlechter Spass „Die Jahre nahmen dir, du sagst, so vieles: Vor den Wissenden sich stellen Im „Buch des Unmuths": Sich selbst zu loben ist ein Fehler Sonst wenn man den heiligen Coran citirte Im „Buch der Sprüche" Was wird mir jede Stunde so bang? Prüft das Geschick dich weiss es wohl warum Was machst du an der Welt sie ist schon gemacht Mein Erbtheil wie herrlich, weit und breit Schlimm ist es, wie doch wohl geschieht Im „Buch Suleika" Mag sie sich immer ergänzen Lass den Weltspiegel Alexandem: Im „Schenkenbuch":
Bilanz
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Du kleiner Schelm du Was, in der Schenke, waren heute Im „Buch der Parabeln": Zum Kessel sprach der neue Topf Die Gründe für die Titellosigkeit sind von Fall zu Fall verschieden, bringen aber gegenüber der Ausgabe von 1819 nichts Neues. Entweder ordnen sich die titellosen Gedichte unter einem Gattungsnamen, wie im „Buch der Betrachtungen", dem „Buch des Unmuths", dem „Buch der Sprüche" und dem „Buch der Parabeln", oder sie sind in eine Dialogfiktion eingebettet, wie im „Buch Suleika" und im „Schenkenbuch". Die zwei titellosen Gedichte, die Goethe ergänzend in das „Buch der Liebe" aufgenommen hat, sind titellos geblieben wohl vor allem, um den engen Anschluß an die jeweils vorhergehenden Gedichte kenntlich zu machen.
3. Bilanz Die Titelkunst des „Divans" läßt sich weitgehend entweder in Relation zum Ensemble-Charakter dieser Goetheschen Spätdichtung oder in Relation zu Einzelzügen dieses Ensembles begreifen. Auf der Ebene der Einzeltitel werden Zusammenhänge zwischen unmittelbar aufeinanderfolgenden Gedichten gestiftet („Geheimes" und „Geheimstes", „Musterbilder" und „Noch ein Paar", „Hochbild" und „Nachklang", „Fünf Dinge" und „Fünf andere") oder es werden Anfänge beziehungsweise Schlußpunkte von einzelnen Büchern im „Divan" markiert. Dasselbe gilt in bestimmten Fällen für die Titellosigkeit vieler Gedichte im „Divan". Wo sie eine meist gattungsbedingte Gemeinsamkeit zusammen auftretender Texte ist, wirkt sie auch schon gruppenbildend. Auf der Titelebene spiegelt sich aber auch anderes. Erstens: Die Rätselhaftigkeit, die viele Divan-Gedichte kennzeichnet, ist vielfach auch ihren Titeln eigen. Diese Titel vermeiden Eindeutigkeit in ihrem Bezug auf die betitelten Texte und deuten einen meist komplexen Inhalt allenfalls an. Dabei finden unterschiedliche sprachliche Mittel Verwendung. Allem voran stehen die Tendenz zur Vermeidung von sprachlichen Redundanzen und der oft indirekte, bildliche Bezug des Titels auf den Text. Zweitens: Die fingierte Mündlichkeit vieler Divan-Gedichte wird vielfach durch Titellosigkeit beziehungsweise durch Titelsubstitute markiert. Innerhalb des Goetheschen Gedichtceuvres ist mit dem „Divan" endgültig eine Abwendung von der Dichtung der klassizistischen Periode vollzogen. Der
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„Divan" ist ein vielfältiges Gebilde. Eine einheitliche und kohärente Struktur des Ganzen ist nahezu aufgelöst. Die Abfolge der Divan-Gedichte ist von Diskontinuitäten bestimmt. Aspekte der metrischen und sprachlichen sowie der inhaltlichen Gestaltung könnten in diesem Zusammenhang als Beleg angeführt werden. Vor allem aber ist es das Fehlen einer lückenlosen oder auch nur locker aufeinanderfolgenden Ereigniskette, was den „Divan" bestimmt, auch wenn das Einleitungsgedicht „Hegire" nicht nur durch seine Stellung, sondern auch thematisch einen Anfang und das „Buch des Paradieses" auf dieselbe Weise einen Schluß setzt. Aber auch eine alle Gedichte regierende einheitliche Sprecherrolle fehlt. Im „Divan" besteht eine vergleichsweise hohe Selbständigkeit der Einzelgedichte gegenüber dem Ganzen. Vielfalt und Auflösung von Zusammenhang bestimmen auch die Titelsetzung im „Divan". Es ist dies eine Vielfalt an Titelformen und Gebrauchsweisen des Titels, unter denen wiederum der rätselhafte und bloß andeutende Titel der hervorstechendste ist. Diese Vielfalt an Formen und Funktionen des Titels, selbst einige Erscheinungen von Titellosigkeit sind neu und überdies singulär in Goethes Gedichtceuvre. Wenn Buntheit und Vielfalt und Formen des rätselhaft-andeutenden Sprechens Kennzeichen dessen sind, was als Goethes Altersstil bezeichnet werden kann,'^' dann wird man auch der Titelpraxis im „Divan" diese generalisierende Stilbezeichnung nicht versagen können.
1 2 9 S o T r u n z 1990: 139-146.
VII. Das Spätwerk I.Werke (1827/1828) Spätestens im Mai 1822 hat Goethe erneut mit der Sichtung seines Werices und den Vorbereitungen für eine neue Wericausgabe begonnen. In sein Tagebuch notiert Goethe am 1. Mai 1822: „Nach Tische Gedanken an eine neue Ausgabe meiner Werke."' Tags darauf heißt es: „Vorschlag zu einer neuen Ausgabe meiner Werke schematisirt."^ Die Gedichte, die schließlich in die „Vollständige Ausgabe letzter Hand" aufgenommen wurden, verteilen sich über mehrere Bände. Der Textbestand in den ersten beiden, 1827 erschienenen Bänden ist annähernd identisch mit den ersten beiden Bänden der Ausgabe von 1815, nur die Rubrik „Sonette" erfährt eine Ergänzung um zwei weitere Gedichte. Der 1828 erschienene dritte Band enthält viele Gedichte, die Goethe nach 1815 geschrieben und teils an verstreuter Stelle auch publiziert hat. Sie sind in die Rubriken „Lyrisches", „Loge", „Gott und Welt", „Kunst", „Epigrammatisch", „Parabolisch" und „Zahme Xenien" (l-Ill) eingeteih. Der vierte Band enthält u.a. die „Inschriften, Denk- und Sende-Blätter" und wieder „Zahme Xenien" (IV-VI), der fünfte und sechste Band den „West-östlichen Divan" und die „Noten und Abhandlungen". Der dreizehnte, ebenfalls 1828 erschienene Band enthält u.a. „Parabeln", die Einzeltexte „Legende", „Erklärung eines alten Holzschnittes", „Auf Miedings Tod" und die Huldigungsgedichte „Im Namen der Bürgerschaft von Carlsbad". Auch in der zweiten Cottaschen Werkausgabe der Goetheschen Schriften waren diese Gedichte nicht im Zusammenhang mit der übrigen Lyrik erschienen, sondern dort in dem achten und neunten Band untergebracht. Als Grundlage für die Beschreibung der Titelpraxis in Goethes Spätwerk ist vor allem der dritte Band der „Ausgabe letzter Hand" von Belang. Wie die Ausgabe überhaupt, so ist auch dieser Band das Produkt einer Gemeinschaftsarbeit. Johann Peter Eckermann hat Goethe vor allem bei der Zusammenstellung der Texte zur Seite gestanden, der Altphilologe Carl Wilhelm Göttling hat bei der Revision einzelner Texte mitgewirkt. Auch Friedrich Wilhelm Riemer, seit 1812 Lehrer am Weimarischen Gymnasium, seit 1824 Bibliothekar an der Großherzoglichen Bibliothek, konnte mit Vorschlägen dienen. Von ihm ist
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W A I I I / 8 : 191. W A III / 8: 192. - Das S c h e m a ist in W A I / 41,2: 4 0 0 - 4 0 2 abgedruckt.
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Das Spatwerk
bekannt, daß er titelgebend auf die Ausgabe eingewirirt hat. Über das Gedicht „Liebe Mutter, die Gespielen" schreibt Riemer in seinen „Mitteilungen über Goethe": „Als G. mir das Gedicht ohne Überschrift übergab, um eine solche dafür auszudenken - wie er es mit den meisten kleinem Gedichten, zumal in der spätem Zeit zu halten liebte, daß er mich Titel und Überschriften finden ließ, die er meist approbirte - ich aber von jener filiheren nichts wußte, er selbst auch deren sich nicht zu erinnem schien, so kam ich, bei der Kenntniß seiner Abneigung gegen Parkanlagen unmittelbar an der Wohnung, statt eines Blumen und Gemüse hegenden Hausgartens, auf den Einfall, es 'Hauspark' zu betiteln: denn jene empfindsame Gärtnerin wünscht sich ja prächtige Pappeln um das Haus und verbittet sich die niederträchtigen Zwiebeln und vor allem den Kohl. G. hatte nichts dagegen zu erinnem, [...]."' Der Passus dokumentiert Riemers Urheberschaft eines Goetheschen Gedichttitels und weist auf die Tatsache, daß Riemer die Titel, die in diesem Band in der Rubrik „Epigrammatisch" enthalten sind, vorbereitet hat."* Dazu heißt es lakonisch in Goethes Tagebuch am 17. Juni 1825: „Nach Tische nähere Betrachtung des dritten Bandes. Abends Professor Riemer, mit demselben das Geschäft fortgesetzt. Rubriken zu den epigrammatischen Gedichten."' Die Titelgebung im dritten Band der „Ausgabe letzter Hand" ist, wie schon die im „West-östlichen Divan", vielfältig. In dieser Vielfältigkeit läßt sich vieles von dem wiedererkennen, was schon vorher in Goethes Gedichttiteln angelegt ist, aber auch Neues. Es gibt viele Einworttitel und darunter einige, deren Wortmaterial eher selten in Titelposition steht (z. B. „Gegenwärtig", „Herkömmlich", „Allerdings", „Modernes", „Ländlich", „Genug"). In solchen Titeln setzt sich das Streben nach sprachlicher Konzentration und der Wille zur Vermeidung von sprachlichen Redundanzen fort. Aber natürlich gibt es auch in anderer Hinsicht ungewöhnliche Titel; nicht nur solche, die sich durch ein ungewöhnliches Wortmaterial auszeichnen. Zu ihnen zählt „Äolsharfen". Das Gedicht gibt zwei räumlich voneinander getrennten Sprechern in abwechselnder Folge Stimme. Jeder äußert seinen Schmerz über die Trennung vom anderen. Und sie tun dies, als würden sie unmittelbar miteinander sprechen. Die Bedeutung des Titels, von dem Max Kommerell sagt, er sei „ein halbes Gedicht",^ ist nicht leicht zu bestimmen. Vielleicht sagt er, daß das Gedicht der Text zu den zarten Klängen von Äolsharfen ist, die diese unter der Einwirkung der Windkraft hervorbringen.
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Graf 1967, Bd. 2,1: 578 (Fußnote 2). Riemers Vorschlage, die Goethe teils übernommen hat, sind abgedruckt in WA I / 3: 41 If. WA III / 10: 69. - DünUer vermutet, daß auch die Titel „Parabase", „Die Metamorphose der Pflanzen", „Epirrhema", „Metamorphose der Tiere" und „Antepirrhema" von Riemer stammen. Vgl. HA 1:719. Kommereil 1956:93.
Werke ( 1 8 2 7 / 1 8 2 9 )
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Auch im dritten Band der „Ausgabe letzter Hand" werden Gedichte zu Ensembles zusammengestellt. Vielfach haben die Gedichte, mit denen einzelne Rubriken eröffnet werden, auch einleitende und auf das Folgende vorbereitende Funktion. Und in einigen Fällen ist dies schon an den Gedichttiteln zu erkennen. Das erste Gedicht in der Rubrik „Loge" heißt „Symbolum". Das Titelwort, das in antikem Wortschatz „Kennzeichen" oder „Sinnbild" bedeutet, wird hier im Sinn des neulateinischen Wortes gebraucht und bedeutet „Wahlspruch" und „Losungswort".^ Das Gedicht steht der kleinen Reihe von Freimaurergedichten mit der Funktion voran, Losungswort zu sein. Darum setzt es in der Rubrik nicht nur einen Anfang, sondern es stiftet - neben dem Rubrikentitel - auch eine Einheit. Denn eine Einleitung bezieht sich üblicherweise auf ein Ganzes und nicht auf einen oder mehrere Teile eines Ganzen. Dasselbe gilt für „Proœmion", das erste Gedicht in der Rubrik „Gott und Welt". Neu gegenüber den älteren Goetheschen Werkausgaben und zugleich ungewöhnlich ist in der „Ausgabe letzter Hand", daß einzelne Gedichte zweimal in ihr auftreten. Dabei sind in einigen Fällen die Titel identisch. In der Rubrik „Gott und Welt" steht das Gedicht „Wiederfinden", das auch im „Buch Suleika" im „West-östlichen Divan" steht. In derselben Rubrik stehen die Gedichte „Weltseele" und „Dauer im Wechsel", die beide auch in den „Geselligen Liedern" enthalten sind. „Die Metamoφhose der Pflanzen" steht sowohl in der Rubrik „Gott und Welt" als auch in der Rubrik „Elegien II". Vor allem diejenigen doppelt auftretenden Gedichte sind im vorliegenden Zusammenhang interessant, die mit jeweils verschiedenem Titel erscheinen. In der Abteilung „Lyrisches" steht das Gedicht „Für's Leben", das in den „Geselligen Liedern" „Die glücklichen Gatten" heißt. In den „Inschriften, Denkund Sende-Blättem" steht „An Madame Marie Szymanowska". Das Gedicht ist auch in die Rubrik „Lyrisches" eingegangen. Es ist dort das dritte Stück der „Trilogie der Leidenschaft" und heißt „Aussöhnung". Goethe hat die Dubletten einzelner Gedichte in der „Ausgabe letzter Hand" so kommentiert: „Auch ist hier wohl der Ort noch mehrere Wiederholungen einzelner Gedichte wo nicht zu rechtfertigen doch zu entschuldigen. Das erstemal stehen sie im Allgemeinen unter ihres Gleichen, denen sie nur überhaupt durch einen gewissen Anklang verwandt sind; das zweitemal aber in Reih' und Glied, da man sie denn erst ihrem Gehalt und Bezug nach erkennen und beurteilen wird. Weitersinnenden und mit unsem Arbeiten sich emstlicher beschäftigenden Freunden glauben wir durch diese Anordnung etwas gefälliges erwiesen zu haben."' Durch ihr doppeltes Auftreten, das nicht das Resultat einer Zufäl-
7 8
HA 1: 702. FA 1 / 2 : 594.
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ligkeit ist,^ werden einzelne Gedichte in unterschiedlichen Zusammenhängen in verschiedener Hinsicht erfahrbar gemacht. So erscheint „Die Metamoφhose der Pflanzen" einmal vorrangig als das Exemplar einer Gattung, das andere Mal vorrangig als ein Gedicht von ernster und gewichtiger Thematik. Das Gedicht „An Madame Marie Szymanowska" ist ein Gelegenheitsgedicht und an seinem Titel als solches zu erkennen. Als Glied in der „Trilogie der Leidenschaft" ist es eigentlich nicht mehr Gelegenheitsgedicht, auch nicht nur Schlußgedicht der „Trilogie", sondern, indem es von der Erleichterung des Herzens durch die Kraft der Musik spricht, auch Gegenstück zu der dunklen, keinen Trost enthaltenden Welt der vorhergehenden „Elegie". Goethe hat dem Gedicht seinen ursprünglichen Gebrauchscharakter genommen und es in einen neuen Kontext gestellt. Der neue Titel ist ein Resultat dieses Vorgangs. In dem mehrfachen Druck einzelner Gedichte wird ein allgemeiner Zug vieler spät entstandener Gedichte sichtbar. Sie setzen vielfach auf die wiederholt überdenkende Wahrnehmung durch den Leser. Anders wären sie, die oft dunkel und schwierig („Urworte. Oφhisch"), verwickelt („Ballade") oder mehrdeutig („Vermächtnis") sind, gar nicht zu erfassen. Schon die Tatsache, daß Goethe viele späte Gedichte gegen seine sonst übliche Gewohnheit annotiert („Inschriften, Denk- und Sende-Blätter") oder kommentiert (z.B. „Urworte. Orphisch" und „Howard's Ehrengedächtnis"), weist in diese Richtung. In diesen Fällen begleitet Goethe den Reflexionsgang des Lesers; der mehrfache Druck einzelner Gedichte in verschiedenen Zusammenhängen setzt auf die Wahrnehmung dieser Gedichte unter wechselndem Gesichtspunkt. Neben den teils identischen, teils differierenden Titeln der in der „Ausgabe letzter Hand" doppelt erscheinenden Gedichte gehört gewiß der Titel „Urworte. ОфЬ15сЬ" zu den Ungewöhnlichkeiten der Ausgabe. Ungewöhnlich ist die syntaktische Struktur des Titels - die Kombination eines Substantivs mit einem nachgestellten Adjektiv. Ungewöhnlich ist aber auch das Gedicht selbst. Schon die Tatsache, daß es Zwischentitel enthält, macht es unter den Goetheschen Gedichten zu einem besonderen.'" Der Erstdruck (1820) in der Zeitschrift „Zur Moφhologie" enthält nur griechische Zwischentitel. Seit dem Zweitdruck (ebenfalls 1820) in der Zeitschrift „Über Kunst und Altertum" bestehen die Zwischentitel aus griechischen und deutschen Wörtern. In der Hinzufügung der deutschen Entsprechungen zu den ursprünglichen griechischen Zwischentiteln kann man wohl ein Zugeständnis an das Publikum sehen. In seinem Kommentar zum Gedicht schreibt Goethe: „Nachstehende fünf Stanzen sind schon im zweiten Heft der Moφhologie abge-
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In dem Briefwechsel zwischen Reichel und Goethe, in dem das Phänomen der Dubletten zur Sprache kommt, spricht Goethe Uber sein diesbezügliches Kalkül. Vgl. Quellen und Zeugnisse 1966-1986, Teil 2: 4 2 7 - 4 2 9 . 10 Kraft 1986: 196 hält die fünf Strophen von „Urworte. O φ h i s c h " für eigentlich fllnf Gedichte.
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druckt, allein sie verdienen wohl einem größeren Publicum bekannt zu werden; auch haben Freunde gewünscht, daß zum Verständniß derselben einiges geschähe, damit dasjenige, was sich hier fast nur ahnen läßt, auch einem klaren Sinne gemäß und einer reinen Erkenntniß übergeben sei."" Goethe hat das Verständnis des Textes durch den Kommentar aus eigener Hand, aber auch durch die Übertragungen der ursprünglich griechischen Zwischentitel befördern wollen. „Dämon", „Das Zufällige", „Liebe", „Nötigung" und „Hoffhung" - das sind die Grund-, Leit- und Urworte, über die das Gedicht handelt. Erich Trunz nennt sie „heilige W o r t e " . I n seinem Tagebuch bezeichnet Goethe sie als „Oφhische Begriffe".'^ Das von Theo Buck umfassend und textgenau analysierte''* Gedicht ist konzise Formulierung von Lebensweisheit und Andeutung von Motiven und Gedanken, die auch sonst in Goethes Œuvre bedeutenden Rang einnehmen. Darum kann Emil Staiger zu „Urworte. ОфЬ15сЬ" sagen: „[...] wirklich ist hier alles, was der Dichter und Forscher jemals über den Menschen gedacht hat, mit größter Kraft in wenige Zeilen zusammengedrängt."" Das sprachliche Muster, das den Titel regiert, findet bis heute Anwendung, zum Beispiel in Rudolf Borchardts „Dante Deutsch". Aber Goethe hat es nicht erfunden. Es ist in Herders Volksliedsammlung vorgeprägt. Dort finden sich Titel wie „Das Lied vom jungen Grafen. Deutsch", „Die schöne Rosemunde. Englisch", „Die kranke Braut. Litthauisch", „Zaid und Zaida. Spanisch" oder „Wiegenlied einer unglücklichen Mutter. Schottisch". Und auch solche Titel, die allein aus Nomen und nachgestelltem Adjektiv gebildet sind, sind in Herders „Volksliedern" enthalten: „Schlachtgesang. Deutsch", „Liebe. Deutsch" oder „Wunsch. Griechisch". Goethe hat das Muster wenige Jahre vor „Urworte. Orphisch" bei der Betitelung eines von ihm übersetzten Gedichts eφrobt: in „Klaggesang. Irisch".
2. Letzte Gedichte Neben und nach dem Erscheinen der Gedichtbände der „Ausgabe letzter Hand" hat Goethe nur noch wenige Gedichte geschaffen. Dazu gehören einige Gelegenheitsgedichte. Sie sind erst aus dem Nachiaß erschienen. Vor allem aber ist der kleine Zyklus „Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten" zu nennen, der ähnlich dem „West-östlichen Divan" das literarische Produkt eines produk11 12 13 14 15 16
WAI/41,1:215. HA 1:722. WA I I I / 6 : 119. Vgl. Buck 1996. Staiger 1952-1959, Bd. 3: 99. Vgl. FA 1 / 2 : 562f.
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tiven Umgangs mit einem fernen Kuiturkreis ist und als Beispiel für das gelten kann, was Goethe in seinen letzten Jahren „Weltliteratur" genannt hat. An dem zunehmenden Austausch zwischen den Kulturen und den Anfängen einer wechselseitigen Befiuchtung der Literaturen im weltweiten Ausmaß, die Goethe im Kleinen bereits verwirklicht und im Großen kommen sah, hat der Dichter selbst teil. Vor allem in dem Jahr 1827 hat sich Goethe viel mit chinesischer Dichtung befaßt. In „Über Kunst und Altertum" ist in dieser Zeit sein Aufsatz „Chinesisches", ein Kommentar zu Übersetzungen aus dem Chinesischen, erschienen. Der Titel der „Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten" hat ebenso wie der des „West-östlichen Divans" programmatischen Charakter. Auch die sogenannten Dornburger Gedichte sind späteste Gedichte. Das erste dieser beiden Naturgedichte hat Goethe am 23. Oktober 1828 an Marianne von Willemer geschickt: Dem aufgehenden Vollmonde! Dornburg d. 25. August. 1828 Willst du mich sogleich verlassen! Warst im Augenblick so nah. Dich umfmstem Wolkenmassen, Und nun bist du gar nicht da. Doch du fühlst wie ich betrübt bin, Blickt dein Rand herauf als Stern, Zeugest mir daß ich geliebt bin. Sei das Liebchen noch so fem. So hinan denn! Hell und heller. Reiner Bahn, in voller Pracht! Schlägt mein Herz auch schneller, schneller, Überselig ist die Nacht.'®
Bemerkenswert an dem Titel des Gedichts ist das Ausrufzeichen, das der Erstdruck (in dem von Chamisso und Schwab herausgegebenen „Deutschen Musenalmanach für das Jahr 1833") nicht übernimmt und das auch in den meisten späteren Drucken fehlt. Goethe hat nur ganz selten Gedichttitel mit Ausrufzeichen gesetzt. Diese Ausrufzeichen markieren Emphase. So hat schon Lessing den Titel „Pope - Ein Metaphysiker!" gesetzt. Bei Andreas Gryphius findet sich der Titel „Eitelkeit Menschlichen Lebens!" und bei Bertoh Brecht „Mond!". Unter den Goetheschen Gedichttiteln finden sich:
17 Vgl. hierzu Schrimpf 1968. 18 Goethe 1995: 199. - Ein Faksimile der Handschrift bietet Goethe o.J.: Tafel 9 (nach Seite 344).
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Vanitasi vanitatum vanitasi Kore. Nicht gedeuteti Kein Vergleichi Es gibt Ausrufzeichen gelegentlicii in Titeln, die außerdem den Charaicter der Redewendung oder des Phraseologismus haben: Gute Nachti Ergo bibamusi" Der Titel „Dem aufgehenden Vollmonde!" gehört sicherlich nicht in die zweite Titelgruppe. Eher schon in die erste. Gewiß dient das Ausrufzeichen auch in diesem Fall der Intensivierung des Gesagten, aber damit ist noch nicht viel über seinen Sinn ausgesagt. Man muß wissen, daß das Gedicht vor dem Hintergrund der zwischen Goethe und Marianne von Willemer bestehenden Verabredung entstanden ist, sich bei Vollmond aneinander zu erinnern. Goethe dazu: „Mit dem freundlichsten Willkomm die heitere Anfrage: wo die lieben Reisenden am 25. August sich befunden? und ob Sie vielleicht den klaren Vollmond beachtend des Entfernten gedacht haben? Beykommendes giebt, von seiner Seite, das unwiderstehlichste Zeugniß. [...]" Die Worte stehen in dem Brief an Marianne von Willemer, dem das Gedicht beiliegt.^" Im Juli 1828, kurz nach dem Tod des Großherzogs Carl August, hatte sich Goethe um der Stabilisierung des offenbar gefährdeten inneren Zustands willen in die Abgeschiedenheit der Domburger Schlösser begeben. Die Haltung, mit der das letzte, dort entstandene Mondgedicht Goethes gesprochen wird, ist die des Hoffenden, dem ein punktuelles Naturerlebnis zur Erfahrung eines augenblicklichen Glücks wird. Günter Hess, der das Gedicht in seinem biographischhistorischen Zusammenhang sieht, behauptet, daß das Gedicht „gegen den Schatten des Todes angeschrieben [sei], der nach dem Hinscheiden des Großherzogs Carl August über Weimar lag."^' Das Gedicht ist poetische Reaktion und poetische Antwort auf eine Krise im Leben. In dem Ausrufzeichen des Titels drückt sich das besondere Gewicht aus, das Goethe dem Gedicht deshalb beigemessen hat. Im übrigen hat Goethe hin und wieder Titel auch dann mit einem Ausrufzeichen versehen, wenn sie die Schlußstellung eines Textes innerhalb eines En-
19 Dieser Titel hat anekdotischen Wert. Der trinkfreudige Basedow soll gesagt haben, daß in scherzhafter Rede der Satz „Ergo bibamus" als 'Conclusio' zu jedweder Prämisse passe (nach dem Muster: Es ist schönes Wetter, ergo bibamus! Es ist ein häßlicher Tag, ergo bibamus! Wir sind gute Freunde, ergo bibamus!). Davon haben sich Riemer und Goethe dazu anregen lassen, j e ein Trinklied mit dem Refrain „Ergo bibamus" zu dichten. Vgl. Graf 1967, Bd. 1: 428f 20 WA I V / 4 5 : 29. 21 Hess 1996: 357.
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sembles markieren. „Gute Nacht!" heißt eben das letzte Gedicht des „Divans" in der Fassung von 1819. Der Titel „Endlicher Abschluß!" leitet das Ende der „Noten und Abhandlungen" des „Divans" ein. Aber nichts spricht dafür, daß „Dem aufgehenden Vollmonde!" als Titel eines Schlußstücks gedacht war - sei es als der Titel des Schlußstücks eines 1828 noch gar nicht existierenden Ensembles, sei es als der Titel des letzten Gedichts in Goethes lyrischem Œuvre überhaupt. Wie ein möglicher letzter Titel hingegen erscheint „Vermächtnis". Goethe hat das so benannte Gedicht, das Friedrich Gundolf neben „Prooemion", „Weltseele", „Eins und Alles" und „Urworte. ОфЬ18сЬ" zu den „knappsten Formeln für Goethes Weltanschauung" zählt,^^ zu Beginn des Jahres 1829 geschrieben. Daher konnte es nicht in die Gedichtbände der „Ausgabe letzter Hand" aufgenommen werden. Es steht im 22. Band dieser Ausgabe, im Anschluß an den zweiten Teil der „Wanderjahre". Der Titel hat zumindest diesen Sinn: Er sagt, daß das Gedicht über ein Vermächtnis spricht. Alles Wahre, so ein Gedanke des Textes, bleibt erhalten, kann aber nur ererbt werden, wenn man es unter eigenem Hinzutun erkennt, sich seiner produktiv bemächtigt. Erkennmis, so wird der Gedanke fortgeführt, setzt Anschauung voraus, bedarf aber auch der synthetisierenden Verstandesleistung. Wem die Anverwandlung des Wahren gelingt, darf sich zu einem kleinen Kreis zählen, dem es aufgetragen ist, in einem Sinn tätig zu werden, daß andere davon empfangen können. Noch eine zweite Bedeutung mag in dem Titel enthalten sein. Sie dürfte darauf zielen, daß das Gedicht selbst Vermächtnis ist. Das Gedicht ist als Ermutigung des alten Goethe zu verstehen, ein Wahres zu erkennen.
3. Bilanz Von Tendenzen in der Titelgebung des alten Goethe, die sich von Früherem deutlich abheben, läßt sich nur sehr vorsichtig sprechen. Zu klein ist die lyrische Produktion in den letzten Jahren, um solche Tendenzen mit Gewißheit ausmachen zu können. Abgesehen von dem Novum der je unterschiedlichen Betitelung von doppelt gedruckten Gedichten in der „Ausgabe letzter Hand" lassen sich eher Kontinuitäten als Brüche und Innovationen erkennen. Auch unter den letzten Gedichttiteln finden sich enigmatische Titel und solche, die auf Prägnanz und sprachliche Sparsamkeit setzen.
22 Gundolf 1920: 671.
vili. Goethes Titelpraxis, schematisiert Goethe durchschreitet die Möglichkeiten der Titelsetzung weiträumig. Er nutzt eine im Medium der Schriftlichkeit gegebene paratextuelle Gattung in vielförmiger und vielsinniger Weise. In diesem Sinn kann die eingangs formulierte Hypothese, Goethe gebrauche den Gedichttitel als Kunstform, Bestätigung finden. Goethe setzt Titel nach Maßgabe epochaler Muster oder nach gattungsabhängigen Titelmustern, vielfach auch in Relation zum Ensemble, in dem ein Gedicht steht. Viele Titel des klassischen Goethe bezeichnen ein Allgemeines. Viele Gedichttitel des alten Goethe tendieren zur Rätselhaftigkeit. Und damit sind die Grundzüge der Goetheschen Titelpraxis nur grob skizziert und individuell zu betrachtende Einzelerscheinungen gar nicht wiederholt worden. Der Durchgang durch die Welt der Goetheschen Gedichttitel bringt aber auch eine Erweiterung der Hypothese. Goethe gebraucht den Gedichttitel planvoll, aber er vermeidet ihn auch planvoll, indem er vielen Gedichten Ersatzformen des Titels, etwa Sprecherangaben, voranstellt oder sie im Einzelfall titellos läßt. Es läßt sich folgendes Schema erkennen: Goethe nutzt eine im Medium der Schriftlichkeit gegebene literarische Institution in vielförmiger und vielsinniger Weise, aber er gibt dabei den Kontakt zur mündlichen Form des lyrischen Sprechens nicht auf Denn die Sprecherangaben vor Gedichten und auch die Titellosigkeit einzelner Gedichte suggerieren Mündlichkeit. Dies gilt für die „Sonette" und vor allem für den „West-östlichen Divan". Aber auch andere Fälle konnten entdeckt werden. Die Suggestion von Mündlichkeit im Medium der Schriftlichkeit soll die Polarität von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wenigstens scheinhaft auflösen. Die Dichtung, in der Goethe dies zur Geltung bringt, ist eine schriftlich fixierte, aber sie soll wie eine mündliche erscheinen. Es ist dies keine singuläre Erscheinung in Goethes Dichtung. Eine gewisse Nähe des Phänomens kann zu der Sprache von „Dichtung und Wahrheit" konstatiert werden. Dort ist es allerdings nicht die Titel-, sondern die Zeichensetzung, in der sich die Orientierung an der gesprochenen Sprache ausdrückt. Kommata, Semikola und Doppelpunkte sind vielfach so gesetzt, als müsse der Text laut gelesen werden, um erfaßbar zu sein. Die Zeichensetzung ermöglicht (beziehungsweise erfordert) Phrasierungen und Intonationen, die in mündlicher
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Rede gebräuchlich sind.' Auch die Prosa in Goethes Briefen bewahrt Elemente von Mündlichkeit. In diesem Sinn schreibt Zelter über Goethes Briefe aus Rom aus dem Jahr 1786: „Das Wort des Mundes ist ein Anderes als das Wort in Buchstaben; doch Deine Buchstaben sind neue Worte des Lebens ich weiß es nicht anders auszudrücken aber wahr ist es."^ Ähnliches ließe sich auch über viele Werther-Briefe sagen. In der Entscheidung, schriftliche Texte als mündliche erscheinen zu lassen, und in den poetischen Hervorbringungen, die auf sie zurückgehen, drückt sich eine Haltung aus. Das Gedicht „Vorklage" gibt davon an prominenter Stelle, nämlich gleich zu Beginn der Sammlung von 1815, etwas zu erkennen: Vorklage Wie nimmt ein leidenschaftlich Stammeln Geschrieben sich so seltsam aus! Nun soll ich gar von Haus zu Haus Die losen Blätter alle sammeln. Was eine lange weite Strecke Im Leben von einander stand, Das kommt nun unter Einer Decke D e m guten Leser in die Hand. D o c h schäme dich nicht der Gebrechen, Vollende schnell das kleine Buch; Die Welt ist voller Widerspruch, Und sollte sich's nicht widersprechen?^
Das Gedicht vermittelt nicht nur eine Skepsis gegenüber der Publikation lyrischer Texte, sondern deutet auch auf eine als widersprüchlich gesehene Polarität zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit hin. Diese besteht j a auch in gewisser Hinsicht, da das, was eigentlich für die Mündlichkeit gedacht ist, nur unter Verzicht auf Mündlichkeit vor ein anonymes Publikum gebracht werden und weiteste Verbreitung finden kann. Goethe ist in verschiedenen Phasen seines lyrischen Schaffens sehr unterschiedlich mit diesem Widerspruch umgegangen. Der junge Goethe hat einen solchen Widerspruch so gut wie gar nicht erkennbar werden lassen. Er hat kaum etwas von seinen frühen Gedichten publiziert. Jedoch wird in einzelnen Gedichtpublikationen die Polarität von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sichtbar. Die fhihe Fassung von „Willkomm und Abschied" wäre zu nennen, die wie gesprochen erscheinen soll, oder das
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Vgl. HA 9: 856-859. MA 20,1: 914-917. FA 1 / 2 : 11.
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Gedicht „Sprache", von dem Karl-Joachim Krüger sagt, es sei ein „Beiienntnis zum gesprochenen Wort"'*, und Erich Trunz, es fange an, „als stünde der Sprecher mitten im Gespräch mit anderen [...]"' : Sprache Was reich und arm! Was stark und schwach! Ist reich vergrabner Urne Bauch? Ist stark das Schwert im Arsenal? Greif milde drein, und freundlich Glück, Fließt Gottheit von dir aus! Faß an zum Siege, Macht, das Schwert, Und über Nachbarn Ruhm!'
Deutlicher als der junge hat der klassische Goethe die Schriftlichkeit seiner Lyrik gelten lassen. Insbesondere Goethes Bemühen um die Ensemblebildung, das spätestens mit der Ausgabe von 1789 deutlich einsetzt und von da an nicht wieder aufgegeben wird, setzt auf die Schriftlichkeit seiner Lyrik. Aber auch in der klassischen Phase gibt Goethe einigen Gedichten den Anschein von Mündlichkeit. So filhren einige „Xenien" Sprecherangaben in Titelposition. Eine aus dem Jahr 1824 stammende Notiz mag als Beleg dafür gelten, daß Goethe die Schriftlichkeit von Dichtung nicht vorbehaltlos akzeptiert hat. Sie bezieht sich auf ein Vorkommnis in der Weimarer Freitagsgesellschaft im Jahr 1794: „Nun war damals die Vossische Uebersetzung der Ilias an der Tages-Ordnung und über die Lesbarkeit und Verständlichkeit derselben mancher Streit, daher ich denn nach alter Ueberzeugung, daß Poesie durch das Auge nicht aufgefaßt werden könne, mir die Erlaubniß ausbat, das Gedicht vorzulesen, mit dem ich mich von Jugend auf mannigfaltig befreundet hatte. [...] Und gewiß schwarz auf weiß sollte durchaus verbannt seyn; das Epische sollte rezitirt, das Lyrische gesungen und getanzt und das Dramatische persönlich mimisch vorgetragen werden."' In der nachklassischen Phase hat Goethe den Widerspruch zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gelten lassen und ihn sogar, wie die „Sonette" und der „West-östliche Divan" zeigen, in seiner Dichtung poetisch produktiv zu machen versucht. Auch das Gedicht „Vorklage" weist in diese Richtung. Die von Bedauern und Skepsis begleitete oder unter Konstitution des Scheins von Mündlichkeit betriebene Publikation eines Teils seiner Gedichte (und wohl auch der zögerliche Umgang des jungen Goethe mit dem Druck)
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Krüger 1936: 206. HA 1:503. FAI/1:178. Goethe 1898: 15.
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kann im Licht der Bedeutung, die Goetiie dem Vortrag seiner Dichtung beigemessen hat, gesehen werden. Viele seiner Gedichte sind nämlich für den Vortrag, die Deklamation und auch den Gesang, gedacht. Goethe hat nicht nur die gekonnte Rezitation seiner Gedichte durch andere hochgeschätzt, sondern, schenkt man den Zeugnissen Glauben, sich auch selbst um sie bemüht. Jean Paul schreibt über Goethes Vortrag seiner Elegie „Alexis und Dora": „Zuletzt las er uns, d.h. spielte er uns ein ungedrucktes herrliches Gedicht vor, wodurch sein Herz durch die Eiskruste die Flammen trieb [...]" und fiigt noch hinzu: „Sein Vorlesen ist nichts als ein tieferes Donnern, vermischt mit dem leisesten Regengelispel; es giebt's nichts Ähnliches."^ Die Wertschätzung des Vortrags und die Bestimmung seiner Lyrik für die Rezitation bestätigt sich in einem Brief Goethes an Charlotte von Schiller schon deshalb, weil in ihm Gedichte, deren Vortrag sich verbietet - gemeint sind wohl Erotica -, für verfehlt erklärt werden: „Indessen muß ich nothwendig noch einmal meine Weimarerischen Lieben besuchen und sehen: denn ich finde höchst nöthig mich von gewissen hypochondrischen Einflüssen zu befreyen. Denken Sie einmal, daß mir seit einiger Zeit nichts mehr Vergnügen macht, als Gedichte zu schreiben, die man nicht vorlesen kann! Das ist denn doch, wenn man's genau besieht, ein pathologischer Zustand, von dem man sich je eher je lieber befreyen soll."^ Aber die Bedeutung solcher Quellen sollte nicht zu hoch veranschlagt werden. Wichtiger für die Argumentation sind Goethes Dichtungen selbst. In ihr nämlich drückt sich in vielfacher Weise die Hochschätzung von Mündlichkeit aus. Ein großer Teil von Goethes Lyrik ist zum Gesang bestimmte Lieddichtung. Allein die Quantität der Lieddichtung in Goethes lyrischem Œuvre ist Indiz für die Wertschätzung der Mündlichkeit, in diesem Fall: der S a n g b a r k e i t . D a ß Goethe der Sangbarkeit seiner Lyrik hohe Bedeutung beigemessen hat, ist außerdem daran zu erkennen, daß er viele seiner Gedichte zusammen mit Kompositionen hat erscheinen lassen (beziehungsweise der um Kompositionen ergänzten Publikation einzelner Gedichte nicht widersprochen hat). Die „Neuen Lieder" sind 1769 mit Kompositionen erschienen. Der Iris-Druck von „An Belinde", „Meeres Stille", „Glückliche Fahrt", „Musen und Grazien in der Mark" und „Der Gott und die Bajadere" in Schillers „Musen-Almanach" - das 8 9
Biedermann 1909-1911, Bd. 1: 248. WA IV / 21: 249. - Graf 1967, Bd. 1: 4 8 8 und Mandelkow (HABr 3: 565) beziehen den Brief allein auf Goethes Erotikon „Das Tagebuch". Zurecht? 10 Flankierend sei auf die zum Teil ausfuhrlichen Beschreibungen von Gesängen in Goethes Schriften hingewiesen. An einer Stelle der „Italienischen Reise" spricht sich in der Beschreibung von Gondolieri-Gesängen (vgl. W A 1 / 3 0 : 129-131) eine Empfänglichkeit für den Gesang aus. In „Wilhelm Meisters Lehrjahre" unterstreichen einige Beschreibungen der Gesänge Mignons (z.B. W A I / 21: 2 3 4 f ) und des Harfhers (z.B. W A 1 / 21: 2 0 4 - 2 0 7 ) die Bedeutung, die Goethe ihnen im Romanganzen beigemessen hat.
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sind nur einige beispielhaft angeführte Texte, denen Kompositionen beigegeben sind. Auch im Erstdruck von „Wilhelm Meisters Lehrjahre" sind Kompositionen in Form von Notenbeilagen enthalten, darunter die von Reichardt stammende, musikalisch vergleichsweise variationsreiche und dem Text besonderes Gewicht verleihende Komposition des Mignon-Liedes „Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen". Die Hochschätzung des Gesangs spricht auch aus Goethes Bemühungen um das Singspiel. Er hat mehrere Textbücher für Musikdramen geschrieben: Einfache Singspiele, in denen der dramatische Dialog durch Liedeinlagen ergänzt wird (z.B. „Erwin und Elmire"), und komplexere Singspiele nach dem Vorbild der italienischen Opera buffa mit Arien, Ensembles, Finali und gesungenen Rezitativen (z.B. „Die ungleichen Hausgenossen")." Goethe hat sich zu den opemästhetischen Anforderungen, die die Gattung des Singspiels stellt, verschiedentlich geäußert. Immer wieder geht es ihm darum, daß im Singspiel eine gesangliche Vielfalt geboten und die Sprachgestaltung seiner Libretti dieser Vielfalt dienlich sei. In einem Brief vom 29. Dezember 1779 an den Komponisten Philipp Christoph Kayser unterscheidet Goethe drei Arten von Gesängen: solche Gesänge, die im Drama als Stegreifstücke vorgetragen werden; solche, die eine Situation oder eine Figur im Drama charakterisieren, und solche, die wie ein Mittelding zwischen Rezitativ und Arioso auf verschiedene, miteinander dialogisierende Sänger verteilt sind.'^ Am 25. April 1785 schreibt Goethe an Kayser unter Bezug auf sein Singspiel „Scherz, List und Rache" über den Gebrauch des Reims: „Ich habe im Rezitativ weder den Reim gesucht noch gemieden. Deswegen ist es meist ohne Reim, manchmal aber kommen gereimte Stellen in demselben vor, besonders wo der Dialog bedeutender wird, wo er zur Arie übergeht, da denn der Reimanklang dem Ohre schmeichelt."" Unter dem Eindruck der Tonkunst Glucks schreibt Goethe am 23. Januar 1786, wieder an Kayser: „Ich fing also an den fließenden Gang der Arie wo Leidenschaft eintrat zu unterbrechen, oder vielmehr ich dachte ihn zu heben, zu verstärcken, welches auch gewiss geschieht, wenn ich nur zu lesen zu deklamiren brauche. Eben so in Duetten wo die Gesinnungen abweichen, wo Streit ist, wo nur vorübergehende Handlungen sind den Paralellismus zu vernachlässigen, oder vielmehr ihn mit Fleis zu zerstören, und wie es geht wenn man einmal auf einem Weege oder Abweege ist man hält nicht immer Maas."''* In den Briefen ist von metrischer Vielfalt die Rede. Sie ist kein Selbstzweck, sondern steht im Dienst der gesanglichen Darbietung der Singspiele. Es ist dies erheblich, weil im Licht der Metrik in den Singspielen ein strukturelles Element
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Vgl. Goethe-Handbuch 1996-1999, Bd. 2: 173-194. Vgl. W A I V / 4 : 156f. WAlV/7:47f. W A I V / 7 : 165f.
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einiger Dramen Goethes verständlich wird. Auch ein Teil von Goethes übrigen dramatischen Werken nämlich ist verstechnisch komplex gestaltet. Das Festspiel „Pandora" und der zweite Teil des „Faust" sind metrisch so reich, daß sie für Opemlibretti gehalten werden können. Über den „Faust" und insbesondere den Helena-Akt im zweiten Teil des Weltdramas hat Goethe laut Eckermann gesprächsweise am 25. Januar 1827 folgendes gesagt: „'Der erste Teil', sagte Goethe, 'erfordert die ersten Künstler der Tragödie, so wie nachher im Teile der Oper die Rollen mit den ersten Sängern und Sängerinnen besetzt werden müssen. Die Rolle der Helena kann nicht von einer, sondern sie muß von zwei großen Künstlerinnen gespielt werden; denn es ist ein seltener Fall, daß eine Sängerin zugleich als tragische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung i s t . ' " " Der zweite Teil des „Faust" ist nicht allein für die AufRihrung durch Schauspieler gedacht. Insbesondere der Helena-Akt nämlich ist auch für den Vortrag durch Sänger bestimmt. Ähnliches kann für die „Pandora" geltend gemacht werden. Goethe thematisiert die Mündlichkeit von Dichtung; es gibt Quellen und Zeugnisse, die seine Wertschätzung der Mündlichkeit belegen; viele seiner Dichtungen sind für die Mündlichkeit, viele insbesondere für den Gesang bestimmt; viele Briefe und teils auch seine Prosa weisen Elemente von Mündlichkeit auf, etwa solche der lnteφunktion oder bestimmte Appellformen. Und in diese Reihe gehören eben auch die Gedichttitel, die wie Sprecherangaben in Erscheinung treten, und vielfach auch die Titelsubstitute in der Umgebung einzelner Gedichte. Diese Titel und Titelsubstitute sind nicht nur der paratextuelle Ort, der Mündlichkeit markiert, sondern auch in sprachlichen Ausdruck verwandeltes Bewußtsein davon, daß geschriebene Lyrik solange als defizitär zu gelten hat, wie sie nicht stimmlich realisiert ist. Es stellt sich die Frage nach den Voraussetzungen für diesen Sachverhalt. Goethe ist in der heterogenen Geselligkeitskultur des 18. Jahrhunderts'^ aufgewachsen und hat in ihr das mündliche Leben lyrischer Texte kennenlernen können. Geselligkeit ist ein Kennwort vor allem des 18. Jahrhunderts. Goethe selbst gebraucht es in wechselnden, aber durchaus miteinander verbundenen Bedeutungen. Es dient ihm als Kennzeichnung einer Grundeigenschaft des Menschen. „Der Mensch ist ein geselliges, gesprächiges Wesen", heißt es an einer Stelle in „Wilhelm Meisters Wanderjahren".'' Das Wort dient ihm aber auch zur Charakterisierung von Nationen. In einer seiner Anmerkungen zu „Rameau's N e f f e " schreibt er: „Der Franzose ist ein geselliger Mensch, er lebt und wirkt, er steht und fällt in Gesellschaft."" Vor allem aber ist Geselligkeit
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Eckermann 1988: 193f Vgl. dazu: Im Hof 1982: passim. W A l / 2 4 : 113. WA 1 / 4 5 : 210.
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eine soziale Fähigkeit des Einzelnen, eine Fähigkeit, zweckfrei und spielerisch mit anderen in Beziehung zu treten." In dieser geselligen Welt hat der Gesang seinen Platz. Im Vorwort von Karl Wilhelm Ramlers „Oden mit Melodien" von 1753 heißt es: „Schon jetzt sieht man, daß unsere Landesleute nicht mehr trinken, um sich zu berauschen, und nicht mehr bey Tische sitzen, um sich eine Menge Speisen aufzudringen. Wir fangen in unsern Hauptstädten an, artige Gesellschaften zu halten. Wir leben mit mehrern Leuten gesellig, als blos mit unserer Familie. Wir gehen spatzieren in Alleen, in Feldern, in Gärten. Und was ist bey diesen Gelegenheiten natürlicher, als daß man singt? Man will aber keine emsthaften Lieder singen; denn man ist zusammen gekommen, um seinen Emst zu unterbrechen.''^" In diesem Sinn hat der junge Goethe in Leipzig gedichtet: fiir die Zwecke des geselligen Lebens. Unter der Ägide Herders hat Goethe später ein ästhetisches Bewußtsein von der Mündlichkeit als dem eigentlichen Medium von Lyrik entwickeln können. In vielen seiner Schriften betont Herder den Vorrang der Mündlichkeit von Dichtung vor ihrer schriftlichen Realisation. Das sei mit wenigen Strichen angedeutet. In der dritten Sammlung der Herderschen „Fragmente, die neueste Literatur betreffend" heißt es: „Wenn bei sinnlichen Begriffen, bei Erfahrungsideen, bei einfachen Wahrheiten und in der klaren Sprache des natürlichen Lebens der Gedanke am Ausdrucke so sehr klebt: so wird für den, der meistens aus dieser Quelle schöpfen muß [...], für ihn muß der Gedanke zum Ausdrucke sich verhalten, nicht wie der КОфег zur Haut, die ihn umziehet; sondem wie die Seele zum Körper, den sie bewohnet: und so ists für den Dichter. Er soll Empfindungen ausdrücken: - Empfindungen durch eine gemahlte Sprache in Büchern ist schwer, ja an sich unmöglich. [...] Hier sieht man, daß bei dieser Sprache der Empfindungen, wo ich nicht s a g e n , sondem s p r e c h e n muß, daß man mir glaubt, wo ich nicht schreiben, sondem in die Seele reden muß, daß es der andre fühlt: daß hier der eigentliche A u s d r u c k unabtrennlich sey."^' Mit der Vorrangstellung der Mündlichkeit vor der Schriftiichkeit korrespondiert der Primat der Wahmehmung durch das Ohr vor derjenigen durch das Auge. In den „Kritischen Wäldern" schreibt Herder: „Das Ohr ist der Seele am nächsten Und in demselben Zusammenhang heißt es: „Mit eben dem erklärt sich die Macht des Gehörs vor andem Sinnen. Das Auge, die äußere Wache der Seele, bleibt immer ein kalter Beobachter; es sieht viele Gegenstände, klar, deutlich, aber kalt und wie von Außen. Das Gefühl, ein starker und
19 „Wenn Freunde, wenn Geschwister / Bei Fest und Spiel gesellig sich erfreuten [...]" heißt es in „Torquato Tasso" (WA I / 1 0 : 178). 20 Ramler 1753 {Vorbericht, unpaginiert). 2 ! Herder 1877-1913, Bd. 1: 394f. 22 Herder 1877-1913, Bd. 4: 110.
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gründlicher Naturforscher unter den Sinnen, gibt die richtigsten, gewißesten und gleichsam vollständigsten Ideen: es ist sehr mächtig, um die Leidenschaften zu erregen und mit dieser vereint, übertrieben; immer aber bleibt noch sein Gefiihl außen. Die Einbildungskraft muß sich gleichsam an die Stelle des Geftihls setzen, um es redend zu machen; mit aller ihrer Macht kann sie es nicht in ihren Sitz ziehen. Das Gehör allein, ist der Innigste, der Tiefste der Sinne. Nicht so deutlich, wie das Auge ist es auch nicht so kalt: nicht so gründlich wie das Gefiihl ist es auch nicht so grob; aber es ist so der Empfindung am nächsten, wie das Auge den Ideen und das Gefühl der Einbildungskraft. Die Natur selbst hat diese Naheit bestätigt, da sie keinen Weg zur Seele beßer wußte, als durch Ohr und - Sprache."" Und weil in Herders Denken Dichtung einerseits Ausdruck von Seele ist und andererseits auf die Seele wirken soll, und sie erst als gesprochene Sprache Ausdruck sein und Wirkung haben kann, versteht Herder sie als Rede. „Poesie ist mehr als stumme Malerei und Skulptur; und noch gar Etwas ganz anders, als beide, sie ist Rede Goethe hat sich von Herders Denken inspirieren lassen. In der autobiographischen Schrift „Dichtung und Wahrheit", in der Goethe sein Verhältnis zu Herder in äußerst verkürzter Form beschreibt, bezeugt er seine Bekanntschaft mit Herders fnlh veröffentlichten Schriften.^' Was aber in der Rokokoperiode als ein eher zufällig zu nennendes kulturelles Erbe und in der Genieperiode als die dichterische Anverwandlung eines fremden Gutes, nämlich des Dichtungsbegriffs Herders, angesehen werden kann, steht außerdem in verwandtschaftlicher Beziehung zu einem bestimmten anthropologischen Denken. Es ist vor allem der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, der davon Zeugnis ablegt. Zelter, der Komponist und Musikpädagoge, hat an vielen Stellen dieses Briefwechsels seine Vorstellung von der menschlichen Stimme einfließen lassen.^^ Zu Zelters Maximen gehört, daß die mündliche Kommunikation vor der schriftlichen rangiert. In einem seiner letzten Briefe an Goethe heißt es: „Daß die Sprache ein Sprechen ist und die Rede vom Munde zu Munde über alles Lesen stehe."^^ Für Zelter ist das Maß der Sprache und der Kommunikation der menschliche К0фег.^' Die mündliche Äußerung hat den Vorrang vor der schriftlichen, weil in ihr Mensch und Rede unverbrüchlich miteinander in Beziehung stehen. Die geglückte Artikulation ist Ausdruck der geglückten Integration aller psychophysischen Anteile des Menschen. Das Mißlingen dieser
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Herder 1877-1913, Bd. 4: U l f . H e r d e r l 8 7 7 - 1 9 1 3 , Bd. 4; 166. Einschlägig ist das 10. Buch von „Dichtung und Wahrheit". Vgl. W A I / 27: 302-319. Um die Dokumentation und Auswertung dieses Komplexes hat sich in jüngster Zeit Bettina Hey'l verdient gemacht. Vgl. Hey'l 1996 und Hey'l 1996a. 2 7 M A 20,2: 1623. 2 8 Hey'l 1996a: 194.
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Integration kann Ausdruck des Scheitems der Biographie eines Menschen sein. Zelter bringt in dem Brief vom 16. Februar 1832 den Fall einer Sängerin in seiner Singschule zur Sprache: „Zu meinen Erfahrungen gehört auch daß ein echtes Naturell ohne Gelegenheit sich fortzubilden sich nemesisch an der ganzen Organisation rächt, da es nicht jedem Individuum gegeben ist, sich aus eigener Kraft aus- und durchzuarbeiten [...]. Vorgestern haben wir in der Singakademie das Andenken eines 21jährigen liebenswürdigen Mädgens, von erklärtem Talente, durch ein Requiem gefeiert die an einer Nervenkrankheit gestorben ist. Als ich sie unter uns aufnahm sang sie hohe Sopranarien und bezwang sie mit aller Kraft eines jugendlichen Köφers. Ich riet ihr, sie möge ihrem schönen Mezzosopran keine Gewalt antun. Die Freunde aber und Freundinnen und wie sich das Geschmeiß nennt wußten es besser und ich kann die Ahnung nicht los werden, meine liebe Ulrike Peters habe sich totgesungen."^' An den Gesang seiner Frau erinnert sich Zelter als eine geglückte Erscheinung von stimmlicher Äußerung. Am 20. März 1806 schreibt Zelter: „O mein Freund, warum haben Sie diese wohltuende mächtige süße Stimme nicht gehört! Aus ihrem Gesänge ging ein Gefühl der Gesundheit in das unbesorgte Ohr, woftir ich nur den einen Ausdruck kenne den sie mit ins Grab genommen hat. Das reine Herz strömte wie eine frische stärkende Luft aus ihrem Munde; rührend, erleichternd."^" In Zelters Briefen wird ein bestimmtes Verständnis von Individualität mitgeteilt. Was Zelters Frau Julie hat und der jungen Sängerin in seiner Singakademie fehlt, ist die harmonische Verbindung aller menschlichen Vermögen, die Einheit von Кофег und Seele, von Natur und Kultur, von Privatheit und Öffentlichkeit. Die geglückte Artikulation ist in Zehers Verständnis die stimmliche Erscheinung, in der diese Einheit Ausdruck findet. Unter Verwendung einer zeitgenössischen Formel kann man sagen: In der geglückten Artikulation drückt sich das Ideal des ganzen Menschen aus.^' Der Ausdruck „ganzer Mensch" wird im 18. Jahrhundert (und auch später) anti-cartesianisch gebraucht. Er ist Formel nicht für ein dichotomisches, sondern fiir ein auf Einheit setzendes Bild vom Menschen. Die Formel vom ganzen Menschen ist wesentlich ein Postulat, nicht eigentlich ein gut geklärter Begriff.^^ Sie ist Ausdruck für ein historisch verbürgtes Ideal vom Menschen, das von verschiedenen Autoren in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen vertreten worden ist. Die zeitgenössische Medizin in Gestalt etwa von Emst Platner und Christoph Wilhelm Hufeland ist an dieser Diskussion beteiligt." 29 30 31 32 33
MA 20,2: 1615f. MA 20,1: 125. Vgl. Hey'l 1996a: 184. Vgl. Historisches Wörterbuch 1971fr., Bd. 5: 1106-1 I I I . Vgl. folgenden SaU Goethes in „Dichtung und Wahrheit": „Die Medicin beschäftigt den ganzen Menschen, weil sie sich mit dem ganzen Menschen beschäftigt." (WA I / 27: 237).
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Aber auch die philosophische Anthropologie der Zeit gehört in diesen Zusammenhang/·* schließlich auch die Ästhetik.^' Stets wird das Ganze des Menschen gegenüber seiner Aufspaltung in Sinnenwelt und Vernunft, Materie und Geist als Ideal reklamiert: das commercium mentis et coφoris und nicht die distinctio mentis et софог18. Zelters Briefe an Goethe lassen sich vor dem Hintergrund dieses Denkens verstehen; sie lassen sich als ein Dokument dieses Denkens begreifen. In Goethes Briefen an Zelter gibt es kein Indiz dafiir, daß er sich diesem Denken verschlossen oder gar widersetzt hätte. Im Gegenteil. Goethe stimmt in vielem mit Zelter überein. Einig sind sich die beiden Briefpartner unter anderem in der Einsicht, daß geschriebene Dichtung erst in ihrer stimmlichen Erfüllung ein wirkliches Leben entfaltet. In seinem Brief vom 9. Januar 1824 bezieht sich Goethe auf Zelters Vortrag der Marienbader „Elegie": „Daß Du mir die Mitteilung des Gedichtes durch innige Teilnahme so treulich wieder gabst war eigentlich nur eine Wiederholung dessen was Du durch Deine Kompositionen mir so lange her verleihest; aber es war doch eigen daß Du lesen und wieder lesen mochtest, mir durch Dein geftihlvolles sanftes Organ mehrmals vernehmen ließest was mir in einem Grade lieb ist den ich mir selbst nicht gestehen mag, und was mir denn doch jetzt noch mehr angehört da ich fühle daß Du Dirs eigen gemacht hast. Ich darf es nicht aus Händen geben, aber lebten wir zusammen so müßtest Du mirs so lange vorlesen und vorsingen bis Dus auswendig könntest."'^ Diese Worte sagen doch dies: Erst durch den Vortrag kann man sich das Gedicht aneignen; erst die Befreiung von seiner schriftlichen Realisation, die das Auswendigkönnen des Gedichts erfordert, macht es als Sprachkunstwerk vollständig erfahrbar." Es sind drei Voraussetzungen, die die Suggestion von Mündlichkeit in Goethes Gedichten motivieren: die gesellige Kultur des 18. Jahrhunderts, der Einfluß Herders und zumindest ansatzweise ein bestimmtes anthropologisches Denken der Zeit. Mit den Hinweisen auf diese drei Voraussetzungen ist auch schon ein Schritt zur Bestimmung des Sinns, den die Suggestion von Mündlichkeit in Goethes Gedichten hat, getan.'^ Zwei Aspekte äußern sich in der suggerierten Mündlichkeit. Die Gedichte sollen wie mündlich hervorgebrachte und wie hörbar wahrzunehmende erschei34 Vgl. hierzu den Sammelband von Schings 1994. 35 In Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen" heißt es an einer berühmten Stelle: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." (Schiller 1943ff., Bd. 20: 359). 36 MA 29,1: 775. 37 Vgl. Hey'l 1996a: 207. 38 Diese drei Voraussetzungen sind um der Deutlichkeit willen voneinander getrennt dargestellt worden. Aber natürlich ist die Trennung des Herderschen Denkens von der Anthropologie der Zeit eine künstliche Trennung.
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nen. Die Gedichte erscheinen als sinnliche Texte, wie erfüllt von Stimme und К б ф е г . Insofern berühren sie sich mit dem, was Lyrik im Wortsinn ist: Dichtung, die unter Musikbegleitung und als Gesang für die Wahrnehmung durch das Ohr gemacht ist. Zugleich widersetzen sich die Gedichte einer Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert, die von Erich Schön als „Verlust der Sinnlichkeit" beschrieben worden ist.^' Erich Schön sieht diese Entwicklung im Anschluß an neuere Theorien der Geschichtsschreibung als eine mentalitätsgeschichtliche Entwicklung.·*" In ihr zeichnet sich eine Wandlung im Umgang des Lesers mit der Literatur ab. Diese Veränderung besteht vor allem darin, daß Texte zunehmend leise statt laut gelesen werden. Damit gehen die mnemotechnische und die diätetische Funktion, die dem lauten Lesen bis in das 18. Jahrhundert hinein vor allem in Lesepropädeutiken zugesprochen wurden, verloren. Hinzu kommt des weiteren ein sozialer Aspekt. Das leise Lesen entzieht sich evidenterweise der geselligen Funktion, die das Vorlesen hat. Verloren geht aber auch eine ästhetische Funktion des lauten Lesens, die Schön als die Steigerung des sinnlichen Rezeptionserlebnisses beschreibt.·*' Die klangliche Seite der dichterischen Rede ist bei der leisen Lektüre nicht eigentlich erfahrbar."^ Der Titel in Goethes Gedichten ist eine Mitgift ihrer Schriftlichkeit. Die Titellosigkeit und die Titelersatzformen, die im Dienst der Suggestion von Mündlichkeit stehen, bilden Gegenstücke zu den Titeln. Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Goethes Gedichten stellen eine Polarität dar. Die schriftliche Fixierung der Gedichte bietet die Möglichkeit zur potentiell unbegrenzten Verbreitung der Gedichte. Die suggerierte Mündlichkeit konstituiert den Schein der einzigartigen, mündlich geäußerten Rede. Was in jenem Zusammenhang die Ausrichtung des Gedichts auf die anonyme Öffentlichkeit ist, ist in diesem das scheinbar nicht Wiederholbare, die unmittelbare Situation des scheinbar aktuell gesprochenen lyrischen Worts. Die Polarität von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Goethes Gedichten ist keine Paradoxic, sondern ein Widerspruch in der Sache. Aber auch dieses nur in scheinhafter Weise. Denn die Gedichte, die wie gesprochen erscheinen sollen, werden j a schriftlich mitgeteilt. Die Mündlichkeit der in Rede stehenden Gedichte ist eine konstruierte. Die Polarität von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bildet eine Signatur der Lyrik Goethes. Das abwehrende Element, das sich darin ausdrückt, ist zugleich ein bewahrendes. Die
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Schön 1987. Schön bezieht sich u.a. auf Reichardt 1978. Vgl. Schön 1987: 108f. In diesem Sinn schreibt Goethe in der „Italienischen Reise": „Freilich ist die Poesie nicht für's Auge gemacht." (WA I / 30: 260). - Poesie ist, so kann man mit einem Wort Andreas Heuslers hinzufügen, eine „Gehörgröße". (Heusler 1925-1929, Bd. 1 : 6 . ) - Halb scherzhaft hat Goethe in einem Brief an Zelter einen Ausdruck geprägt, der hier am Platz ist: Goethes Gedichte sollen „Ohren". (MA 2 0 , 1 : 2 3 3 ) .
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Lyrik Goethes widersteht dem Verlust der Sinnlichkeit'*^ und bewahrt das scheinbar in bestimmter Situation gesprochene lyrische Wort. Goethe selbst hat sich nur einmal dezidiert, wenn auch nicht mit wünschenswerter Ausführlichkeit, zum Wesen des Titels geäußert. In den Aufzeichnungen Eckermanns heißt es: „'Wenn man es recht bedenkt', sagte ich, 'so entsteht doch ein Gedicht immer ohne Titel und ist ohne Titel das, was es ist, so daß man also glauben sollte, der Titel gehöre gar nicht zur Sache.' - 'Er gehört auch nicht dazu', sagte Goethe, 'die alten Gedichte hatten gar keine Titel, es ist dies ein Gebrauch der Neueren, von denen auch die Gedichte der Alten erst in einer späteren Zeit Titel erhalten haben. Doch dieser Gebrauch ist von der Notwendigkeit herbeigeführt, bei einer ausgebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und voneinander zu unterscheiden.'""'' Diese Worte sind nach einem Gespräch über Goethes „Novelle" gesagt worden. Es ist fraglich, ob Goethe genauso geredet hätte, wenn das Gespräch auf seine Lyrik gebracht worden wäre.
4 3 Gisela Henckmann spricht mit Bezug auf den „West-östlichen Divan" von der „Abwehr der ungeselligen Welt". (Henckmann 1975: 150-159.) 4 4 Eckermann 1988: 195.
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Register
203
Register Adelung, Johann Christoph 139 Adorno, Theodor W. 1 Aelst, Paul von der 71 Albrecht, Michael von 69-71 Ammann, Hermann 43 f. Ammer, K.L. 18 André, Johann 91 Angelus Silesius [d.i. Johannes Scheffler] 40, 104 Anger, Alfred 62 Archilochos 45, 104 Aristarchos 104 Arnim, Achim von 50 Bab, Julius 59 Bachtin, Michail M. 145 Bakchylides 104 Balde, Jacob 89 Barth, John 46 Basedow, Johann Bernhard 167 Baudelaire, Charles 16, 2 2 , 4 7 Baudri von Bourgueil 5 Beck, Heinrich 56 Becker, Christiane 111 Becker, W.O. 57 Beckett, Samuel 39 Beheim, Michel 6 Behrisch, Wolfgang 59, 61, 64f., 80 Benjamin, Walter 7 1 , 1 4 1 f. Benn, Gottfried 2 1 , 4 2 , 135 Bergengruen, Werner 83, 101 Bergk, Theodor 75 Bergmann, Joseph 50 Bertuch, Friedrich Justin 88 Beutler, Ernst 149, 155 Bewer,Max 101 Biedermann, Flodoard von 8, 172 Biermann, Wolf 70 Birus, Hendrik 3, 17, 126, 149 Blanchot, Maurice 51 Boas, Eduard 105 Böhme, Franz M. 50 Bole, Heinrich Christian 76 Boisserée, S u l p i z l 3 1 , 139, 149 Borchardt, R u d o l f s , 45, 139, 165 Borges, Jorge Luis 48, 136 Böttiger, Carl August 102 Boyle, Nicholas 50, 95, 99, 146 Brandt, Wolfgang 30 Brant, Sebastian 5 Brecht, Bertolt 8, 14, 2 1 , 2 8 , 31, 3 4 , 4 5 , 70, 72, 101, 122, 166 Brednich, Rolf Wilhelm 70 Breitkopf, Bernhard Theodor 67
Brentano, Clemens 50, 6 0 , 1 3 4 Brion, Friederike 97 Brockes, Bartholt Heinrich 34 Brod, Max 30 Bronner, Ferdinand 102 Brühl, Tina 57 Büchner, Georg 4 9 Buck, Theo 165 Burdach, Konrad 3, 126,128f Burdorf, Dieter 4 Bürger, Gottfried August 42, 66, 84 Carl August von Sachsen-Weimar 93, 101, 144, 167 Catull [Gaius Valerius Catullus] 102, 104 Celan, Paul 33, 39, 135, 152 Chamisso, Adelbert von 166 Christus 54 Clarus, Johann Christoph 55 Claudius, Matthias 26, 3 7 , 4 0 , 42, 7 5 Í Compagnon, Antoine 16 Cotta, Johann Friedrich 116f, 118, 126, 161 Cramer, Johann Andreas 66 Culler, Jonathan 9 Czepko von Reigersfeld, Daniel 104, 138 Dauthendey, Max 21 Debon, Günther 148 Descartes, René 177 Der Harder 6 Derrida, Jacques 8 f , 3 7 ί , 51, 136 Dessauer, Renata 70 Dietz, Gunther 20, 44 Dietze, Walter 104 Dill, Christa 130, 138 Donne, John 18 Dömer, Andreas 24 Dressler, Wolfgang 29, 108 Droste-Hülshoff, Annette von 1 6 , 3 0 , 4 2 Dschelâl-eddîn Rumi 145 Duchet, Claude 41 Düntzer, Heinrich 75, 162 Eagleton, Terry 9 Ecker, Gisela 70 Eckermann, Johann Peter 66, 114, 152f, 161, 174, 180 Eco, Umberto 103, 137 Eibl, Karl 11, 56, 7 4 f , 8 0 f , 8 5 f , 95, 102f, 112, 121 Eichendorff, Josef von 3, 16, 122, 134 Eliot, T S. 32 Erk, Ludwig 50 Estermann, Alfred 89 Ferdausi 145 Faridu 'd-din 'Attar 144
204 Fischart, Johann 7 Fleming, Paul 22, 37, 74, 89 Folz, Hans 5 Forster, Georg 49f, Frege, Gottlob 17f. Freiliggrath, Ferdinand 45 Fricke, Harald 17,23 Friedrich, Hugo 152 Gabriel, Gottfried 25 Gallitzin, Adelheid Amalie 56 Gan, Peter 144 Gaudy, Franz Freiherr 101 Geliert, Christian Fürchtegott 28, 89 Genette, Gerard 9f., 23-25, 31, 33-35,40f., 43-45 George, Stefan 45, 106 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 64, 66 Gervinus, Georg Gottfried 10 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 62Í, 64, 68, 74f Gluck, Christoph Willibald 173 Glück, Helmut 108 Göchhausen, Louise von 61 Göschen, Georg Joachim 88, 94 Goethe, Cornelia 52, 59-61, 65 Goethe, Johann Wolfgang passim Göttling, Wilhelm 161 Göll, Ciaire 34 Göll, Ivan 34f Gotter, Friedrich Wilhelm 59 Gottsched, Johann Christoph 66, 74 Gräf, Hans Gerhard 89, 101 f , 105, 113, 162, 167, 172 Grafton, Anthony 33 Greilinger, Georg 74 Greiffenberg, Catharina Regina von 46 Grimm, Jacob und Wilhelm 40, 50, 105, 139 Grimm, Herman 147, 151 Grimmelshausen, Hans Jacob von 122 Grünstein, Leo 58 Gryphius, Andreas 3, 8, 33, 65, 72, 166 Gryphius, Christian 72 Gundolf, Friedrich 112, 130, 168 Hafis, Mohammed Schemseddin 126, 128, 132, 134, 139, 144, 149, 151 Hagedom, Friedrich von 28, 74 Haller, Albrecht von 33, 66 Hamann, Johann Georg 1 Hammer-Purgstall, Joseph von 126f, 139, 151 Harsdörffer, Georg Philipp 7 f , 15 Härtung, Harald 3 Hauptmann, Gerhart 30 Haushofer, Albrecht 101 Hebbel, Friedrich 42 Hegel, Friedrich 10
Anhang
Heidegger, Martin 9 Heidolph, Karl Erich 44 Heine, Heinrich 16, 39,42, 46, 51, 60 Heinrich, Karl Borromaeus 36 Heinzer, Felix 55 Hellwig, Peter 19f, 22 Henckmann, Gisela 146, 180 Henning, Hans 55 Herder, Johann Gottfried 30, 38, 50, 69, 71, 84, 94, l O l f , 107, 1 15, 165, 175, 178 Hermstein-Smith, Barbara 47 Hess, Günter 167 Hess, Peter 106f, 109 Hesse, Hermann 135 Hettner, Hermann 126f Heusler, Andreas 179 Hey'l, Bettina 176-178 Heyse, Paul 101 Hildeberts von Lavardin 5 Himburg, Christian Friedrich 88 Hinck, Walter 50 Hockett, Charles 44 Hoddis, Jakob von 16 Hofmann von Fallersleben, August H, 46 Hofmannsthal, Hugo von 45, 128Í Hofmannswaldau, Hofmann von 16,41, 54 Hoek,LeoH. 19, 2 9 , 4 0 f , 4 3 f , 83 Hölderlin, Friedrich 30 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 74 Horaz [Quintus Horatius Flaccus] 45, 104 Howard, Luke 14, 164 Hufeland, Christoph Wilhelm 177 Huxley, Aldous 45 Iffland, August Wilhelm 30, 56 Ihekweazu, Edith 129 Ingarden, Roman 24 Im Hof Ulrich 174 Ionesco, Eugène 45 Iser, Wolfgang 47 Jacobi, Carl Wiegand Maximilian 111 Jacobi, Friedrich Heinrich 87, 146 Jacobi, Johann Georg 73, 75, 77f Jakobson, Roman 9 Jandl,Emst 118 Jean Paul 31, 34, 172 Jenny, Emst 71 Jochmann, Carl Gustav 108 Joost, Ulrich 59 Kafka, Franz 30, 51f Kalckreuth, Wolf Graf von 18 Kant, Immanuel 9 Katann, Oskar 6, 38 Kaufmann, Christoph 30 Kayser, Philipp Christoph 49, 173 Kayser, Wolfgang 7, 21 Keipert, Hans 91, 93
Register
Keller, Gottfried 101,122 Kestner, J.C. und Charlotte 59 Kiessling, Gerhard 5 Killy, Walther 1, 5f., 29, 134, 137 Kind, Friedrich 57 Klages, Ludwig 46 Kleiner, Gottfried 26f. Klenz, Heinrich 40 Klinger, Friedrich Maximilian 30 Klopstock, Friedrich Gottlob 3, 3 5 , 4 0 , 4 2 , 4 5 , 6 5 f „ 80, 85, 138 Klose, Wolfgang 55 Knebel, Karl Ludwig von 104,116 Koch, Hans-Albrecht 89 Kölwel, Gottfried 101 König, Johann Ulrich 54 Kömer, Christian Gottfried 89, 101 Koetschau, Karl 79 Kommerell, Max 49, 59, 129,162 Korff, Hermann August 147 Kosmeli, Michael 57f. Kraft, Werner 3, 7 2 , 1 2 0 , 129, 139f., 142, 150, 164 Kraus, Karl 7 2 , 1 0 6 , 1 4 8 Kripke, Saul 18 Krolop, Kurt 146 Krolow, Karl If., 4 Krüger, Karl-Joachim 171 Kruse, Heinrich 78f. Kühn, Dieter 38 Kuhnen, Johannes 4 2 , 4 4 Küper, Christoph 47 LaCéppède, Jean d e 3 3 f . Lasker-Schüler, Else 16, 29 Lavater, Johann Kaspar 90, 92 Leitzmann, Albert 62, lOlf. Lejeune, Philippe 84 Lern, Stanislaw 23 Lenau, Nikolaus 16 Lenz, Jakob Michael Reinhold 55 Lesch, Albrecht 6 Lessing, Gotthold Ephraim 63, 68, 72, 74, 104, 106-109, 166 Liliencron, Detlev von 42, 60, 135 Linné, Carl von 148f. Loeper, Gustav von 151 Loerke, Oskar 3 , 2 8 , 1 3 5 , 148 Logau, Friedrich von 104 Loos, Adolf 36 Louis Bonaparte 102, 105 Luck, Georg 102 Luther, Gisela 150 Mahomet 156 Mallarmé, Stéphane 39, 152 Mandelkow, Karl Robert 172 Mann, Thomas 71, 142
205 Marg, Walter 150 Maria Ludovica 144 Martial [Marcus Valerius Martialis] 105f, 108f Martin, Johann 34 Menantes [d.i. Christian Hunold] 53 Mencke, Johann Burkhard 46 Mercier, Louis-Sébastien 90 Merck, Johann Heinrich 59, 7 9 , 1 4 5 Meyer, Conrad Ferdinand 134 Meyer, Herman 119 Meyer-Krentler, Eckhardt 96-98 Michaelis, Johann David 74 Milch, Werner 1 Mill, John Stuart 18 Miller, Johann Martin 16 Miller, Norbert 111 Minor, Jacob 64 Moennighoff, Burkhard 31 Mommsen, Katharinas, 130, 139, 142 Morgenstern, Christian 38, 136 Mörike, Eduard 8 , 3 4 , 3 8 f , 4 2 , 4 6 , 64, 122 Moritz, Karl Philipp 98, 100 Morris, Max 76, 78f Mühlenweg, Regina 16 Mülder-Bach, Inka 82 Müller, Friedrich Theodor [Kanzler von Müller] 130 Müller, Johann von 30 Muschg, Adolf 134, 140, 146, 157 Musil, Robert 31 Nabokov, Vladimir 34 Napoleon 8 , 1 3 1 , 146 Neukirch, Benjamin 41 Nickisch, Reinhard M.G. 59 Nicolai, Friedrich 71 Nietzsche, Friedrich 2 3 , 4 2 Nordheim, Werner von 58, 62, 64 Novalis 15, 122 Opitz, Martin 26, 34, 89 Oeser, Friederike 59, 66 Oettinger, Klaus 102 Otto, Regine 94f Ovid [Publius Ovidius Naso] 103 Patzig, Günther 17 Pausias 110 Pinck, Louis 70-72 Pindar 65 Pfohl, Gerhard 106 Platen, August Graf von 101 Platner, Emst 177 Popper, Karl R. 20 Postel, Christian Heinrich 46 Pound, Ezra 29 Properz [Sixtus Propertius] 102, 104 Proust, Marcel 47
206 Queneau, Raymond 45 Quintilian [Marcus Fabius Quintiiianus] 136 Rabelais, François 80 Ramler, Karl Wilhelm 66, 74, 175 Rang, Florens Christian 139 Rasch, Wolfdietrich 104 Reed, Terence James 91 Rehm, Walther 142 Reichardt, Johann Friedrich 173 Reichardt, Rolf 179 Reichel, Wilhelm 164 Reitmeyer, Elisabeth 95 Rettelbach, Johannes 6 Riemer, Friedrich Wilhelm 66, 114, 152, 161f,167 Riese, Johann Jacob 59 Riffaterre, Michael 47 Rilke, Rainer Maria 26, 3 6 f , 42,46, 134, 138 Rimbaud, Artur 18 Rist, Johann 65 Rothe, Arnold 19f, 23, 26, 29, 37, 39f, 41, 43,68, 89, lOOf, 110, 134, 136 Rücken, Friedrich 1 Rüdiger, Horst 102 Ruppert, Hans 104 Russell, Bertrand 17 Rychner, Max 3, 131, 139,143 Saar, Ferdinand von 101 Sachs, Hans 8 Sacy, Silvestre de 144 Sauder, Gerhard 71, 80 Sauer, August 64 Scaliger, Julius Caeser 7 Schaeder, Hans Heinrich 139 Schanze, Frieder 6 Scheerbart, Paul 14, 20, 26,41 Scherer, Wilhelm 94 Schiller, Charlotte 172 Schiller, Friedrich 8, 12, 16, 30, 38f, 55f, 89, 105-109, 111-114, 178 Schings, Hans-Jürgen 178 Schlaffer, Hannelore 140f Schlaffer, Heinz 136, 144 Schlutter, Hans-Jürgen 124 Schneider, Wilhelm 139, 150 Schnifis, Laurentius von s. Martin, Johann Schön, Erich 179 Schönborn, Gottlob 76 Schönemann, Anna Elisabeth 91 Schönkopf Anna Katharina 63 Schrimpf, Hans Joachim 145, 166 Schröder, Rudolf Alexander 42 Schück, Robert 58 Schulthess, Bäbe 84 Schulz, Fr. 102
Anhang
Schwab, Gustav 166 Schwarzbauer, Franz 106 Schweikle, Günther und Irmgard 23 Searle, John R. 18 Secundus, Johannes 91 Segebrecht, Wulf 52f Segermann, Krista 32 Seidlin, Oskar 118 Senarclens, Claude de 55 Sengle, Friedrich 106 Shakespeare 45 Solms, Wilhelm 126 Spree, Axel 9 Städel, Anna Rosine 149 Staiger, Emil 154, 165 Stang, Harald 9 Statius [Publias Papinius Statius] 89 Stein, Charlotte von 80Í, 88,90 Steinitz, Wolfgang 50 Stilling, Heinrich 107 Storm, Theodor 21 Strobach, Hermann 72 Strodtmann, Adolf 39 Strube, Werner 24, 26,37, 103 Suchensinn 6 Suphan, Bernhard 62, 80f Szymanowska, Maria 163f Tgahrt, Reinhard 3 Theokrit 110 Thomas, Johann 122 Tibull 102, 104 Tieck, Ludwig 122 Timur 131, 146 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 118 TrakI, Georg 36, 46 Trapp, Augustin 59 Trunz, Erich 14, 28, 50,98, 105, 114, 119, 130, 138, 144, 151, 154, 165, 171 Ueding, Gert 4, 138f Uhland, Ludwig 16, 50 Uhse, Erdmann 53 Ullmann, Stephen 135 Ungaretti, Guiseppe 28 Unger, Johann Friedrich 116 Unzer, Leopold August 63 Uz, Johann Peter 63, 74 Vamhagen von Ense, Karl August 89 Verlaine, Paul 18 Vischer, Friedrich Theodor 10 Vogt, Ludgera 24 Voigt, Christian Gottlob von 155 Volkmann, Herbert 15-16 Vulpius, Christiane 102, 126 Wahle, Julius 80f Wahll, Johann Samuel 53 Weckherlin, Georg Rodolf 18, 65
207
Register
Weimar, Klaus 19,23, 29, 33, 74, 78, 82, 97 Weinheber, Josef 42 Weinrich, Harald 3 1 , 6 8 Weise, Christian 46 Weismann, Christoph 32 Weisse, Felix Christian 63f. Wernicke, Christian 40, 104 Whaley, J. 150 Wieckenberg, Emst-Peter 21 Wiegand, Julius 97 Wieland, Christoph Martin 34, 38, 63, 73, 83,98 Wild, Reiner 91 Wilkinson, Elisabeth M. 152f. Willemer, Marianne von 131,147, 149, 151, 166f. Winckelmann, Johann Joachim 98
Wittgenstein, Ludwig 17 Wittmann, Reinhard 6 Wolf, Ursula 11 Wolfenstein, Alfred 18 Wolff, Eugen 50, 52, 59, 75, 124 Wünsch, Marianne 78, 124, 129 Wulff, Hans J. 5 f , 13, 18-20,26 Wustraann, Gustav 28 Zachariä, Just Friedrich Wilhelm 64 Zelter, Julie 177 Zelter, Karl Friedrich 128, 131,141, 170, 176-179 Zeman, Herbert 62, 64 Zesen, Philipp von 6 5 , 1 0 5 Zola, Emile 3 Zymner, Rüdiger 154
QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR LITERATUR- UND KULTURGESCHICHTE FRIEDEMANN SPICKER
Der Aphorismus
Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912 1997. XIII, 484 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-015137-5 ( B a n d i i [245])
KLAUS RIDDER
Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ,Reinfried von Braunschweig', ,Wilhelm von Österreich', ,Friedrich von Schwaben' 1998. XII, 462 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-015414-5 (Band 12 [246])
JÖRG PAULUS
Der Enthusiast und sein Schatten Literarische Schwärmer- und Philisterkritik im Roman um 1800 1998. X, 382 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-015908-2 (Band 13 [24η)
UTA STÖRMER-CAYSA
Gewissen und Buch im Mittelalter über den Weg eines Begriffs in die deutsche Literatur 1998. X, 438 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-016206-7 (Band 14 [248])
STEFFEN MARTUS
Friedrich von Hagedorn — Konstellationen der Aufklärung 1999. VIII, 582 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-016623-2 ßand 15 [249])
Walter de Gruyter
W DE G
BerHn · New York
Goethe — Begegnungen und Gespräche Begründet von Ernst Grumach und Renate Grumach Band VI: 1 8 0 6 - 1 8 0 8 H e r a u s g e g e b e n v o n Renate G r u m a c h 1999. IV, 714 Seiten. Mit 2 Karten. Leinen. ISBN 3-11-012862-4 Zum Goethejahr 1999 erscheint der 6. Band dieser umfangreichen Zeugnissammlung, die mit einer Fülle von Quellen die ereignis- und begegnungsreichen Jahre 1806 - 1 8 0 8 dokumentiert. Die Schlacht bei Jena und Goethes Unterredungen mit Napoleon beim Erfurter Kongreß prägen diese produktive Epoche, die bewährterweise auch durch bisher ungedrucktes Material anschaulich wird.
Der junge Goethe Neu bearbeitete Ausgabe Herausgegeben von Hanna Fischer-Lamberg B a n d 1 bis 5 und Registerband 1999. XXXIV, 2420 Seiten. Broschiert. ISBN 3-11-016512-0 Die Schriften und Briefe des Vorweimarer Goethe erscheinen zum Goethe-Jahr 1999 in einer einmaligen broschierten Sonderausgabe. Sie beruht auf der vöШgen Neubearbeitung der legendären Ausgabe von Max Morris durch Hanna Fischer-Lamberg, die jeden Band mit Anmerkungen versehen hat. Die fünf Bände enthahen Briefe und Schriften des jungen Goethe aus den Jahren 1757 bis Oktober 1775. Sie reichen von den Schularbeiten des Knaben Goethe bis zu ersten Gedichten, Briefen, Rechtsanwalts-Eingaben und seinen frühen dramatischen Arbeiten, darunter die erste und die zweite Fassung des „Götz von Berlichingen", „Stella", „Clavigo", „Ur-Faust", und nicht zuletzt „Die Leiden des jungen Werther". Band VI enthält ein von Hanna Fischer-Lamberg und Renate Grumach bearbeitetes Namen-, Werk- und Sachregister sowie ein Gesamtinhaltsverzeichnis, das zugleich eine Konkordanz zur Ausgabe von Max Morris ist.
Walter de Gruyter
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Berlin · New York