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German Pages 79 [84] Year 1910
QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR
SPRACH- UND CULTURGESCHICHTE DER
GERMANISCHEN VÖLKER.
HERAUSGEGEBEN VON
ALOIS BRANDL, ERNST MARTIN, ERICH SCHMIDT.
cvm. SPRACHLICHE MUSIK IN GOETHES LYRIK.
STRASSBURG. KARL
J. T R Ü R N E R . 1910.
S P R A C H L I C H E MUSIK IN GOETHES L Y ß I K VON
WOLDEMAR
MASING.
STRASSBURG. KARL
J.
TRÜBNER. 1910.
M. DuMont Schauberg, Strassburg.
SPRACHLICHE MUSIK IN GOETHES LYRIK. An einer großen Anzahl unter den lyrischen Dichtungen Goethes ist von je her nicht nur die Anschaulichkeit ihres Vorstellungsinhalts gepriesen worden, sondern auch der Wohlklang ihres sprachlichen Ausdrucks. Diesen Wohlklang darf man als ein musikalisches Element in ähnlichem Sinne bezeichnen, wie jene Anschaulichkeit als ein plastisches und malerisches, und zwar mit noch weit größerer Berechtigung, sofern durch eine derartige, einem fremden Kunstgebiet en tlehnte Bezeichnung etwas hervorgehoben werden soll, was an der ästhetischen Gesamtwirkung der betreffenden Dichtungen nicht spezifisch dichterischer Art ist; denn das musikalisch Wirksame an ihnen wendet sich, gleich der Tonmusik, unmittelbar an das Gehör, steht also dem dichterischen Vorstellungsinhalt weit selbständiger gegenüber als das, was in dessen Ausgestaltung an Plastik und Malerei erinnert. Dieses Letztere ist nur für die Phantasieanschauung vorhanden, nicht aber für den Gesichtssinn, an den sich die Werke der bildenden Kunst in erster Linie wenden. Es läßt sich daher von der spezifisch dichterischen Innenseite jener Dichtungen nur begrifflich trennen, während das musikalisch Wirksame an deren sprachlichem Ausdruck sich auch tatsächlich von ihr trennen läßt, da es zunächst nur der sinnlich wahrnehmbaren Außenseite der Dichtungen angehört. Eine derartige sprachliche Musik ist bis zu einem gewissen Grade aller echten Lyrik, ja aller echten Dichtung überhaupt eigen, sofern deren akustische Form ihrem Vorstellungsinhalt nicht nur in bezug auf den realen Zweck der Sprache, sondern auch den idealen der Kunst entspricht; denn auf akustischem Gebiete gibt es keine andere künstlerische Idealität als die der Musik. QF. CVIII.
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Aber wenn es selbst denjenigen Dichtungsgattungen, die sich der ungebundenen Rede bedienen, nicht ganz an sprachlicher Musik zu fehlen braucht, so ist diese doch in den meisten nur mehr oder weniger latent vorhanden und wird erst in der Lyrik frei genug, um dem Gefühlsinhalt, den die lyrische Dichtkunst mit der Tonkunst teilt, durch eine verhältnismäßig weitgehende Anwendung ähnlicher Mittel gerecht werden zu können, wie sie der Tonkunst zu Gebote stehn. Dies geschieht in der Yers- und Reimkunst, die den Vorstellungs- und Gefühlsinhalt lyrischer Dichtungen, auch wenn diese nur Sprechweise vorgetragen werden, in ähnlicher "Weise begleitet, unterstützt und ergänzt, wie es bei gesanglichem Vortrage von Seiten der Tonmusik geschieht. Natürlich aber muß diese sprachliche Musik in der Anwendung musikalischer Mittel und daher auch in der Selbständigkeit ihrer ästhetischen Wirkungen hinter der Tonmusik weit zurückbleiben; denn sie ist ihrem Wesen nach keine selbständige, sondern nur eine dienende Kunst. Die Tonmusik dagegen braucht selbst da, wo sie sich mit der Dichtkunst zu gemeinsamer Wirkung verbindet, die Selbständigkeit ihres Wesens so wenig zu verleugnen, daß sie es sogar hat wagen können, ihrer mächtigen Bundesgenossin gegenüber die Hegemonie zu beanspruchen. Daß der R h y t h m u s der gebundenen Rede ein wesentlich musikalisches Kunstmittel ist, wird von niemandem geleugnet werden können; und daß die Poesie um so mehr nach einer rhythmischen Gliederung ihres sprachlichen Ausdrucks verlangt, je weiter sie sich von ihrem Gegenteil, der Prosa, ihrem Inhalte nach entfernt, ist eben so allgemein anerkannt, wie der Umstand, daß die Lyrik, als die der Tonkunst am nächsten stehende Dichtungsart, dieses musikalische Kunstmittel am wenigsten leicht entbehren kann. Im gesungenen Liede bildet der Rhythmus das verbindende Glied zwischen Text und Melodie, und erleichtert als solches nicht wenig die Auffassung beider als zwar verschiedener, aber nur relativ selbständiger Glieder eines ästhetisch einheitlichen Ganzen. Dagegen bedarf die zum Gesänge bestimmte Lyrik weit weniger als alle übrigen Dichtungsgattungen
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einer sprachlichen M e l o d i e , da eine solche durch die begleitende tonmusikalische Melodie nicht nur entbehrlich gemacht, sondern auch, wo sie dennoch vorhanden ist, von deren stärker ins Ohr fallenden Klangmitteln nur gar zu leicht überwirkt wird. Aber es gibt eine Kunstlyrik, die von aller Begleitung durch die Tonmusik absieht, und diese tritt in ihrer Selbständigkeit um so wirksamer hervor und befriedigt das ästhetische Bedürfnis um so vollständiger, je mehr sie die Klangmittel ihres sprachlichen Materials nicht nur zu rhythmischer? "Wirkungen verwendet, sondern auch zu solchen, welche die Anwendung des Wortes „melodisch" gestatten. Dieser Art von Kunstlyrik gehört ein großer Teil der lyrischen Dichtungen Goethes an. Das melodische Element pflegt sich in den betreffenden Dichtungen, abgesehen von dem, was in deren Endreimen offen zutage tritt, hinter allem Übrigen, was in ihnen ästhetisch wirksam ist, so tief zu verbergen, daß es nur allzuleicht entweder ganz unbeachtet bleibt, oder doch in seinem eigentümlichen Wesen and seiner relativen Selbständigkeit verkannt wird. Und doch ist die richtige Erkenntnis dieses Elements ihrer Kunstform für die ästhetische Wertschätzung der betreffenden Dichtungen weit wichtiger, als manches andre, worauf "Verehrer und Erklärer Goethes ihr Urteil über sie zu gründen pflegen. Der richtigen Erkenntnis auf diesem Gebiete steht aber nicht nur die ästhetische Genügsamkeit derer entgegen, deren theoretisches Interesse an einem Kunstwerk sich in dem Aufspüren seiner außerästhetischen Entstehungsbedingungen erschöpft, sondern auch das weitverbreitete ästhetische Vorurteil, daß die äußere Form eines dichterischen Kunstwerks als die bloß sinnliche Oberfläche eines wesentlich geistigen Ganzen nur oberflächlich zu wirken imstande ist und daher auch nur oberflächlich behandelt zu werden verdient. Allerdings leitet die Goethesche Lyrik, gleich einem klaren Gewässer, den Blick von ihrer Oberfläche leicht fort bis in ihre tiefsten Tiefen, so daß die innere, geistige Seite ihrer Schönheit durch ihre äußere, sinnliche Form nicht verhüllt, sondern zum nicht geringen Teile erst enthüllt 1*
und damit in ihrer Wirkung unterstützt wird. Daher könnte es scheinen, als tue die Kunst des Dichters hier weiter nichts, als daß sie durch die Wahl des dem Inhalte angemessensten und damit zugleich ausdrucksvollsten und durchsichtigsten sprachlichen Ausdrucks auch die äußere, rein sinnliche Seite der Kunstform mit poetischer Schönheit erfülle. Eine solche Durchgeistigung der sinnlichen Form könnte allerdings zur Folge haben, daß das Ohr des für dichterische Schönheit Empfänglichen veranlaßt, werde, statt auf die rein akustische Seite der Kunstform, nur auf deren symbolische Bedeutsamkeit für den Gefühls- und Vorstellungsinhalt zu achten. Wäre jener Schein aber Wahrheit, dann beruhte die Wahrnehmung eines relativ selbständigen sprachmelodischen Elements in den betreffenden Dichtungen auf einer akustischen Täuschung; denn das völlige Aufgehen der sprachlichen Klangmittel im Dienste spezifisch poetischer Zwecke wäre gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die ihrem akustischen Wesen zunächst liegende musikalische Kunstwirkung. Die sprachliche Melodie der akustischen Form wäre dann für das Ohr derer, die den Inhalt der Dichtung auf sich wirken lassen, nur als die sinnliche Erscheinung dieses Inhalts wahrnehmbar; für das Ohr solcher aber, denen der Genuß des dichterischen Inhalts aus irgend einem Grunde, etwa aus Unkenntnis der deutschen Sprache, versagt ist, wäre sie gar nicht vorhanden. Glücklicherweise kann sich jeder in bezug auf diese Frage durch ein leicht anzustellendes Experiment Sicherheit verschaffen, indem er diejenigen unter den Goetheschen Liedern, die sich nach seinem eigenem Urteil durch ihre sprachmelodischen Wirkungen am meisten auszeichnen, solchen Personen vorträgt, die der deutschen Sprache unkundig, aber mit feinem Gehör für sprachlichen Wohllaut begabt sind. Ich habe dies Experiment oft genug angestellt und dabei mein persönliches Urteil in bezug auf das Vorhandensein, sowie auf das Mehr oder Minder sprachmelodischer Wirkungen fast immer bestätigt gefunden, wenn auch in bezug auf den Grad der ästhetischen Befriedigung, welche diese Wirkungen gewähren, nicht geringe Differenzen zutage traten. Letztere
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erklären sich zur Genüge daraus, daß mein Ohr durch Gewöhnung an die Härten der deutschen Sprache auch gegen die Härten der aus diesem Material gebauten Kunstformen weniger empfindlich ist, als das Ohr von Leuten, die der deutschen Sprache unkundig sind; aber der Umstand, daß diese Kunstformen doch auch von solchen erfaßt und bis zu einem gewissen Grade ästhetisch genossen werden können, ist doch gewiß ein Beweis dafür, daß die Wirkung jener Härten schon im rein akustischen Teile der Kunstform und nicht erst im Inhalt der betreffenden Dichtungen auf eine Gegenwirkung stößt, die stark genug ist, um den Gesamteindruck mehr oder weniger befriedigend gestalten zu können. Es geschieht hier, wenigstens für die subjektive Auffassung, etwas Ähnliches, wie bei der Auflösung einer tonmusikalischen Dissonanz. Die von mir angestellten Versuche haben mich überzeugt, daß der Eindruck, den die akustische Gestaltung Goethescher Lieder auf das Ohr von Italienern macht, in der Tat demjenigen analog ist, welchen auch die deutsche Tonmusik mit ihrem, im Yergleich zur italienischen, großen Reichtum an Dissonanzen, auf italienische Ohren zu machen pflegt. Da somit die Tatsache als feststehend betrachtet werden kann, daß jene Lieder musikalische Wirkungen nicht nur rhythmischer, sondern auch melodischer Art durch sprachliche Mittel auszuüben imstande sind, so könnte die Berechtigung des Ausdrucks „sprachliche Melodie" für eine besondere Art sprachlichen Wohlklangs keinem Zweifel unterliegen, wenn nicht dieser Ausdruck schon in einem andern Sinne gebräuchlich wäre, nämlich für die besondere Art des Tonfalls, durch die sich die gewöhnliche Sprechweise bei verschiedenen Personen, sowie in verschiedenen Sprachen und Mundarten unterscheidet. Um einer Verwechslung mit dieser außerästhetischen Art sprachlicher Melodie vorzubeugen, empfiehlt es sich daher, jene künstlerische als „sprechmusikalische Melodie" zu bezeichnen. Es fragt sich nun, worin das künstlerische Wesen solcher Melodien besteht. Die Untersuchungen, die zur Beantwortung dieser Frage schon seit vielen Jahren von mir angestellt worden sind, haben mich gelehrt, daß der außergewöhnlich
hohe Grad melodischer Wirksamkeit, wie er Goetheschen Liedern eigen ist, im wesentlichen auf einer entsprechend ausgedehnten Anwendung von Kunstmitteln beruht, welche im Prinzip mit denjenigen identisch sind, durch deren Anwendung die sogenannte „gebundene Rede" überhaupt im Gegensatze zur „ungebundenen" dem dafür Empfänglichen erkennbar und wohlgefällig wird. Um diese prinzipielle Übereinstimmung so deutlich als möglich zutage treten zu lassen, sehe ich mich veranlaßt, bei der Begründung des von mir gewonnenen Eesultats weiter auszuholen, als für deren nächsten Zweck nötig erscheinen könnte. Die vielfachen Mißverständnisse nämlich, auf welche die bloß andeutende Behandlung des betreffenden Gegenstandes in einem früher von mir veröffentlichten Vortrage („Über ein Goethesches Lied", Leipzig 1872) gestoßen sind, lassen es mir diesmal notwendig erscheinen, nicht nur das Wesen der „gebundenen Rede" vom sprachmusikalischen Gesichtspunkt aus zu beleuchten, sondern auch das Verhältnis der Sprachmusik zur Tonkunst etwas eingehender, als es bisher geschehen ist, zu erörtern. Wenn ich dabei nicht ganz vermeiden kann, Längstbekanntes zu wiederholen, so mag mir zur Entschuldigung dienen, daß es durch seinen Zusammenhang mit dem Neuen, das ich bringe, nicht nur diesem als Stütze unentbehrlich ist, sondern auch selbst in eine neue Beleuchtung gerückt werden dürfte. Alles, worauf es bei diesen Erörterungen ankommt, läßt sich in die zwei Hauptfragen zusammenfassen: 1. Worin bestehen die musikalisch wirksamen Elemente, welche die Sprache als solche und die deutsche Sprache insbesondere dem Dichter zu Gebote stellt? 2. In welcher Weise gelangen diese Elemente in der Dichtung als solcher und in Goethescher Lyrik insbesondere als Kunstmittel der sprachlichen Musik zur Anwendung? Was die erste Frage anlangt, so können als künstlerisch verwertbare Klangelemente, welche die Sprache mit der Musik gemein hat, nur Töne (d. h. Akzente) und K l a n g f a r b e n (d.h. Laute) in Betracht kommen. Die sprachlichen A k z e n t e sind, gleich den musikalischen Tönen, für die
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ästhetische Auffassung sowohl q u a l i t a t i v (in bezug auf Höhe) als q u a n t i t a t i v (in bezug auf Stärke und Dauer) unterseheidbar und liefern damit die Bedingungen für den Aufbau einer Melodie ebensowohl, wie für den eines Rhythmus. Dagegen sind die sprachlichen L a u t e , gleich den tonmusikalischen Klangfarben, nur qualitativ unterscheidbar, und können deshalb nur zu melodischen Wirkungen verwertet werden, sofern wir unter diesem Ausdruck alle Arten musikalischer "Wirkungen zusammenfassen, die durch ästhetische Ordnung in einem Nacheinander qualitativ verschiedener Klangelemente hervorgerufen werden. Mit rhythmischen und melodischen Wirkungen muß sich die sprachliche Musik begnügen. Von einer Harmonie im spezifisch musikalischen Sinne kann bei keiner Art sprachlicher Darstellung die Rede sein, da die Sprache dem Ohre nicht mehr als eine einzige Aufeinanderfolge verschiedener Klangelemente auf einmal bieten kann, ohne ihren nächsten Zweck: die Verständlichkeit ihres Gefühls- und Vorstellungsinhalts zu verfehlen. Harmonie im weiteren Sinne kann man allerdings in der Dichtung ebensogut, wie auf jedem andern Kunstgebiete finden; so schon in dem ästhetischen Verhältnis, welches den spezifisch dichterischen Inhalt mit der sprachmusikalischen Form zu einträchtigem Zusammenwirken verbindet; aber diese Art von Harmonie geht bereits über das besondere Gebiet des Musikalischen hinaus. Erscheint die sprachliche Musik durch das Fehlen der spezifisch musikalischen Harmonie in ihren Mitteln beschränkter als die Tonmusik, so tritt ihre Armut im Vergleich mit dieser noch mehr darin hervor, daß selbst die ihr übrig bleibenden Mittel rhythmischer und melodischer Art nur in viel bescheidenerem Maße den Zwecken akustischer Schönheit zu dienen imstande sind, als die entsprechenden Mittel der Tonmusik, weil das Klangmaterial der Sprache weder einer solchen Reinheit, noch einer solchen Feinheit der akustischen Formverhältnisse fähig ist, wie das in seinen wesentlichen Bestandteilen nach Bedürfnis teilbare und mit mathematischer Genauigkeit meßbare Material, über welches, die Tonkunst verfügt.
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Die musikalischen Einheiten, d. h. die für die ästhetische Auffassung nicht weiter zerlegbaren Klangelemente, aus denen als aus ihren einzelnen Werkstücken das Ganze eines musikalischen Kunstwerks erbaut wird, sind in der Tonmusik die genau abgemessenen Stufen einer Tonleiter, deren Einzeltöne in bezug auf Höhe, wie auf Stärke und Dauer ausschließlich musikalischen Zwecken zu dienen bestimmt und geeignet sind. Außer den Tönen kommen allerdings auch die Klangfarben der verschiedenen Instrumente für tonmusikalische Wirkungen in Betracht; aber neben jenen spielen sie wenigstens innerhalb des Zentralgebiets der Tonmusik, d. h. des ihr ausschließlich angehörigen Gebiets rein akustischer Schönheit, nur eine untergeordnete Eolle. Allerdings bilden sie für den seelischen Gehalt, dessen auch das Zentralgebiet der Tonkunst nicht entbehren kann, ein das Tonmaterial ergänzendes Ausdrucksmittel, dessen Einfluß auf die Gestaltung der musikalischen Komposition mit der Ausbildung der Orchestermusik fortwährend gewachsen ist; aber als Ausdrucksmittel kommt es, ähnlich den ebenfalls in steigendem Maße verwendeten Dissonanzen, nicht der musikalischen Schönheit im engeren Sinne, sondern zunächst nur der musikalischen Charakteristik zugute. Einen wesentlich maßgebenden Einfluß auf die Komposition üben die Klangfarben innerhalb der Tonkunst nur da aus, wo diese über die Grenzen ihres Zentralgebiets weit genug heraustritt, um in bezug auf die Schärfe der Charakteristik seelischer Zustände oder gar sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände mit der Dichtkunst zu wetteifern. Aber die Klangfarben auch solcher Instrumente, die mehr der T o n d i c h t u n g als der Tonmusik zu dienen bestimmt sind, wie z. B. der Pauke, ordnen sich doch wenigstens dem tonmusikalischen Rhythmus so weit unter, daß das akustisch Mißfällige, das ihnen anhaftet, weniger zur Störung als zur Ergänzung der reinen Tonverhältnisse geeignet erscheint. Spielen somit die Klangfarben selbst in derjenigen Art der Tonkunst, die den Namen T o n d i c h t u n g beanspruchen kann, nur eine allerdings wichtige Nebenrolle, so drängen sie sich in allen Gattungen der Wortdichtung so unabweis-
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lieh ins Gehör, daß die sprachliche Musik mit ihnen als mit Hauptfaktoren ihrer "Wirksamkeit rechnen muß. Diese Art von Musik hat es nicht mit einem Klangmaterial zu tun, welches eigens für musikalische Zwecke geschaffen ist, wie das der Tonmusik, sondern mit einem solchen, dessen ursprünglicher und nächster Zweck außermusikalischer Art ist. Ihre musikalischen Einheiten sind die Silben der Sprache d. h. Komplexe von sprachlichen Lauten, die durch je einen Ton, den S i l b e n a k z e n t , beherrscht und zusammengehalten werden. Dieser Ton aber wird in bezug auf Höhe, wie auf Dauer und Stärke, nicht durch den idealen Zweck der Musik, sondern durch den realen der Sprache bestimmt. Für den musikalischen Charakter der Silben, soweit er objektiv feststeht, sind auch nicht deren Akzente in erster Linie maßgebend, da diese je nach der subjektiven Auffassung, den Stimmitteln und der Mundart des vortragenden Rezitators sich sehr verschieden gestalten können, sondern deren L a u t f a r b e n , d. h. die mit verhältnismäßiger Objektivität feststehenden Klangfarben ihrer einzelnen Laute, am wesentlichsten die des Silbenvokals als des akustisch wirksamsten, daher musikalisch am besten verwertbaren unter ihren Lauten. Es versteht sich von selbst, daß hier unter Silbenakzenten auch die schwachen Akzente der sogenannten „unbetonten" Silben und unter Silbenvokalen auch die der sogenannten „stummen" Silben mitbegriffen werden müssen. Können auch die kaum vernehmbaren Töne und die nahezu verblichenen Klangfarben solcher Silben neben den akustisch stärkeren für die m e l o d i s c h e n Wirkungen der sprachlichen Musik kaum in Betracht kommen, so sind sie doch für die r h y t h m i s c h e Gliederung des sprachmusikalischen Ganzen unentbehrlich, da diese eben auf dem Gegensatz zwischen dem stark und dem schwach ins Ohr Fallenden beruht. Wenn die sprachliche Musik in rhythmischer Beziehung viel mehr als in melodischer sich der Tonmusik nähern kann, so ist ihr doch auch das nur bis zu einem gewissen Grade möglich; denn als bloßes Kompromiß zwischen den gegebenen Quantitäts- und Akzentverhältnissen des Sprachmaterials und den ästhetischen Anforderungen der Musik
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muß der sprachmusikalische Rhythmus hinter dem tonmusikalischen nicht nur in bezug auf Genauigkeit der Messung weit zurückbleiben, sondern auch in bezug auf das Maß der Verwertung, welche die beiden quantitativen Bestandteile des Tons (Stärke und Dauer) in ihm finden, da nur je einer dieser Bestandteile zum Prinzip seiner Gliederung erhoben werden kann, und zwar derjenige, der auch in der ungebundenen Rede des Alltags sich stärker zur Geltung zu bringen vermag. In der antik-klassischen Yerskunst beruht der Rhythmus vorwiegend auf der Tondauer (quantitierendes Metrum), in derjenigen der modernen Literatursprachen auf der Tons t ä r k e (akzentuierendes Metrum). Dieser Unterschied ist in musikalischer Beziehung von großer Bedeutung; denn da die Tondauer als extensive Größe viel genauer gemessen werden kann, als die Tonstärke, die als intensive Größe nur eine sehr ungenaue Schätzung zuläßt, so ermöglicht sie der antiken Verskunst eine so große und dabei so wohlgeordnete Mannigfaltigkeit der rhythmischen Gliederung, wie sie in keiner modernen Literatursprache erreichbar ist. Aber wenn bei den Griechen, wie man mit Sicherheit annehmen kann, schon in der Alltagsprosa der Gegensatz zwischen langen und kurzen Silben sich stärker geltend machte, als zwischen den stark- und den schwachbetonten, so gilt doch die Annahme, daß alle langen Silben gleich lang, alle kurzen gleich kurz seien, ohne Zweifel auch bei ihnen nur für die gebundene Rede, und selbst für diese nicht ausnahmslos. Sie beruht also ebenso gut auf bloßer Konvention, wie die entsprechende Annahme, daß in den Versen, welche moderne Dichter den altgriechischen nachgebildet haben, eine stark betonte Silbe genau das doppelte Maß der Tonstärke oder gar der Tondauer habe, wie eine schwachbetonte. Immerhin kam die altgriechische Sprache den idealen Anforderungen des musikalischen Rhythmus weiter entgegen, als irgend eine der modernen Literatursprachen, und die rhythmische Gliederung der altgriechischen Lyrik konnte sich musikalisch um so wirksamer geltend machen, als auch Gesang und Instrumentalbegleitung sich aufs engste an den Versrhythmus an-
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schlössen. Dagegen kann bei modernen Nachbildungen griechischer Verse, die nicht gleich diesen auf Unterstützung durch die Tonmusik rechnen können, die rhythmische Gliederung nur durch eine pedantische Skansion, die dem lebendigen Flusse der Rede Gewalt antut, zu voller Wirkung gebracht werden, während eine Eezitation, die dem dichterischen Inhalt möglichst gerecht zu werden sucht, in demselben Maße die musikalische Wirksamkeit des Rhythmus schwächen muß. Noch deutlicher, als die Versuche, in einer akzentuierenden Sprache die Wirkungen eines quantitierenden Metrums zu erzielen, zeigt die von antiken Mustern unbeirrte Durchführung des akzentuierenden Prinzips, daß akzentuierende Sprachen in weit geringerem Grade als quantitierende geeignet sind, sich den idealen Anforderungen des musikalischen Rhythmus zu fügen. In der altsächsischen Versmessung z. B. kommen überhaupt nur die starkbetonten Hebungssilben für den Rhythmus in Betracht; unter diesen aber werden hochtonige und tieftonige als gleichwertig behandelt, während das Vorhandensein der Senkungssilben für den Versrhythmus eben so gleichgültig ist, wie deren Anzahl. — In anderer Weise zeigt die sogenannte „silbenzählende" Versmessung der romanischen Völker die Unbotmäßigkeit akzentuierender Sprachen gegenüber den musikalischen Forderungen des Rhythmus. Nur am Versschlusse und unmittelbar vor einer Zäsur pflegen romanische Verse diesen Anforderungen regelmäßig und so vollständig gerecht zu werden, als dies in akzentuierenden Sprachen möglich ist, während sie im übrigen eine zuweilen wechselnde Zahl von Akzenten auf eine stets feststehende Zahl von Silben verteilen. Natürlich sucht diese Verteilung ebenfalls den Forderungen des Wohlklangs möglichst zu entsprechen und erreicht dieses Ziel nicht selten in hohem Grade, und zwar gerade durch die Freiheiten, die sie sich gegenüber dem starren Schema eines regelmäßig durchgeführten Rhythmus erlaubt. Aber die Art des auf diese Weise erreichbaren Wohlklangs steht in rhythmischer Beziehung dem einer leichtflüssigen und wechselreichen Prosarede näher, als dem der Musik.
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Die Überzahl der schwachbetonten Silben in den romanischen Sprachen ist für die Strenge des Versrhythmus nicht weniger verhängnisvoll, als die Überzahl der starkbetonten in den altgermanischen, noch mehr aber in jenen die Unbestimmtheit der Grenze zwischen den stark- und den schwachbetonten Silben, auf deren Gegensatz der akzentuierende Yersrhythmus beruht. Allerdings macht sich eben deshalb auch der Mangel an rhythmischer Strenge in den romanischen Versen weit weniger störend bemerkbar, als in den altgermanischen. Kann der sprachliche Akzent schon für rhythmische Wirkungen nur bis zu einem gewissen Grade verwertet werden, so ist er für melodische in noch viel geringerem Grade verwertbar. Für solche kann von seinen verschiedenen Eigenschaften nur die qualitative der Tonhöhe in Betracht kommen. Diese aber steht immer zur Tonstärke in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, welches allerdings nicht in allen Sprachen gleich, aber doch überall, wenigstens in den modernen Literatursprachen, fest genug ist, um eine Anordnung der Verssilben nach der Tonhöhe allein, also unabhängig vom Versrhythmus, nur innerhalb so enger Grenzen zu gestatten, daß von einer melodischen Wirkung dieser Anordnung im musikalischen Sinn des Wortes kaum die Rede sein kann. Ganz besonders eng sind diese Grenzen in den germanischen Sprachen, namentlich im Deutschen, wo die durch logische Bedeutsamkeit unterstützte Stärke des Akzents sich so energisch geltend macht, daß sie nicht nur auf die Tonhöhe, sondern auch auf die Tondauer der Akzentsilben einen maßgebenden Einfluß ausüben kann. Innerhalb der streng akzentuierenden Versmessung, auf welche die deutsche Sprache eben deshalb angewiesen ist und die aus demselben Grunde nicht nur die Tonstärke, sondern zum Teil auch die Tonhöhe und die Tondauer für die rhythmische Gliederung ihrer Verse verwerten kann, wird diese so übermächtig, daß eine melodische Gliederung der Verse nach den verschiedenen Höhengraden ihrer Akzente sich ihr allzusehr unterordnen müßte, um noch eine merkbare Wirkung im musikalischen Sinne neben ihr ausüben zu können.
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Im romanischen Silbenakzent kommt die Tonhöhe gegenüber der Tonstärke weit mehr zur Geltung als im Deutschen, und zwar schon deshalb, weil die verschiedenen Grade dieser beiden Eigenschaften nicht zusammenfallen, wie es im Deutschen fast ausnahmslos geschieht, sondern auf verschiedene Silben verteilt zu sein pflegen. Deshalb spielt auch in der romanischen Yerskunst die Tonhöhe der Akzente eine größere und selbständigere Rolle als in der deutschen. Je weniger die Tonstärke des romanischen Silbenakzents imstande ist, das Ganze des romunischen Yerses einem streng geregelten Rhythmus zu unterwerfen, um so mehr Spielraum bleibt der Tonhöhe innerhalb der rhythmisch freieren Teile dieses Ganzen. Hier kann sie daher auch zu sprachmelodischen "Wirkungen verwertet werden, aber auch hier weder in anderer Weise, noch in höherem Grade, als dies schon innerhalb der gänzlich ungebundenen Prosarede dieser Sprachen möglich ist. Verhältnismäßig am weitesten sind die Grenzen für die melodische Verwertung der Tonhöhe innerhalb der quantitierenden Versmessung; denn da hier der rhythmische (metrische) Akzent nicht, wie es in der akzentuierenden Regel ist, mit dem sprachlichen zusammenfällt und daher die Tonhöhe des letzteren ebenso wenig wie dessen Tonstärke für den Rhythmus in Anspruch genommen wird, so kann sie völlig ungehindert für melodische "Wirkungen verwertet werden, so weit es der Höhenumfang der sprachlichen Akzente gestattet. Ob aber die altgriechische Kunstlyrik eine solche, auf Tonhöhe gebaute sprachmusikalische Melodik wirklich besessen, oder ob sie sich mit ihrer in der Tat sehr kunstvollen Rhythmik begnügt hat, können wir nicht mit Sicherheit feststellen, da wir über die Tonhöheverhältnisse der altgriechischen Sprache, als einer toten, nicht genügend unterrichtet sind. Jedenfalls konnte diese Lyrik, da sie nur gesangsweise vorgetragen wurde, jeder Art sprachmelodischer Wirkungen leichter entraten, als die moderne Kunstlyrik, die auf keine Unterstützung durch die Tonmusik rechnet. Die Möglichkeit aber muß zugegeben werden, daß die griechische Verskunst den Forderungen der begleitenden
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Tonmusik in melodischer Beziehung (durch die Anordnung der sprachlichen Akzente nach ihrer Tonhöhe) nicht weniger weit entgegengekommen ist, als in rhythmischer (durch Anordnung der Yerssilben nach ihrer Tondauer). Was dagegen die Verskunst der modernen Völker, wenigstens der romanischen und der germanischen betrifft, so muß die Verwendung der Tonhöhe zu selbständig melodischen Wirkungen im Sinne der Musik entschieden geleugnet werden. Selbst wo eine darauf abzielende Anordnung der Verssilben durchführbar wäre, müßte sie ihren Zweck verfehlen, denn für das moderne Ohr mit seinen hochgespannten Anforderungen an melodische Fülle ist der Höhenumfang der sprachlichen Akzente viel zu gering, als daß eine nur auf Tonhöhe gebaute sprachmusikalische Melodie ihm genügen könnte, so lange der Umfang der Sprechstimme nicht bis zu dem der Singstimme erweitert wird. Im letzteren Falle aber würde die Melodie aus einer sprachmusikalischen zu einer tonmusikalischen werden. Somit sinkt die Tonhöhe, die in der Tonmusik das allerwesentlichste Element ist, in der sprachlichen Musik zu einem bloß akzidentellen herab, welches für sie nicht wesentlicher ist, als die Klangfarbe für die Tonmusik. Im deutschen Verse kann noch weniger, als im romanischen, von einer sprachmelodischen Verwertung des Silbenakzents in einem anderen Sinne die Rede sein, als sie auch in der ungebundenen Rede stattfindet; und wo sie sich in außergewöhnlich hohem Grade bemerkbar macht, da ist sie mehr das Werk des sprachmusikalischen Virtuosen d. h. des Rezitators, als des sprachmusikalischen Komponisten d. h. des Dichters, da dieser in bezug auf die Tonhöhe seiner Versakzente der subjektiven Auffassung einen sehr weiten Spielraum zu lassen pflegt. Wo dagegen die Lautfärbung der A7erssilben zum Aufbau einer sprachlichen Melodie verwertet wird, da ist diese immer ganz das Werk des Dichters oder vielmehr des mit ihm in einer Person vereinigten Verskünstlers, nicht erst des vortragenden Rezitators. Wegen der symbolischen Bedeutung, welche die lautlichen Klangfarben der Verssilben für die betreffende Sprache besitzen, haben sie einen so
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festen Bestand, daß der Rezitator an ihrer Anordnung durch den Dichter eben so wenig, wie an ihrer ursprünglichen Beschaffenheit etwas ändern kann, ohne nicht nur ihre sprachmelodische Wirksamkeit, sondern auch das Verständnis ihres Yorstellungsinhalts zu gefährden. Eben deshalb kommt die Lautfärbung der Yerssilben für die sprachmelodischen "Wirkungen der modernen Kunstlyrik nicht als bloß akzidentelles, sondern als wesentliches, ja als das allein wesentliche Element in Betracht. Solcher Wirkungen aber kann die akustische Außenseite dieser Lyrik um so weniger leicht entbehren, je weniger sie in rhythmischer Beziehung den idealen Anforderungen der Musik zu genügen vermag. Während die quantitierenden Yerse des klassischen Altertums schon durch ihren kunstvollen rhythmischen Bau allein sich so hoch über die Alltagsprosa erheben, daß sie auf jede Art sprachlicher Melodie verzichten können, sind die akzentuierenden Yerse der modernen Lyrik geradezu auf eine solche angewiesen. Der volkstümlich germanische Yers z. B. nähert sich durch die Unbestimmtheit seiner Silbenzahl, der romanische durch den Mangel an Bestimmtheit in der Zahl und Stellung seiner Akzente so sehr der Alltagsprosa, daß der eine wie der andere, um als gebundene Rede erkannt nnd genossen werden zu können, einer Ergänzung seiner rhythmischen Wirkungen durch irgend eine Art melodischer bedarf. Es ist daher kein Zufall, daß die lateinische Hymnendichtung des Mittelalters, als sie infolge sprachlicher Entwicklung genötigt war, die quantitierende Versmessung mit der akzentuierenden zu vertauschen, den E n d r e i m , der bisher in der Poesie, wie in der Prosa nur inhaltlichen Zwecken gedient hatte, zu einem wesentlichen Element ihrer Verskunst erhob. Gerade während der Übergangszeit, als Sprache und Yerskunst noch zwischen beiden Prinzipien der Silbenmessung schwankten, erwies sich der Endreim als besonders geeignet, den wankenden rhythmischen Bau der Verse zu stützen, indem er deren Schlüsse deutlich als Ecksteine dieses Baus kennzeichnete und zugleich die zu demselben strophischen Abschnitt gehörigen unter einander so fest zusammenfügte,
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daß jeder dieser Abschnitte als relativ selbständiges Bauglied zur Geltung kommen konnte. Ein ähnliches Kunstmittel war der altgermanische Stabr e i m , der innerhalb engerer Grenzen dieselbe Aufgabe erfüllte, indem er je zwei Halbzeilen zu einer Langzeile dadurch verband, daß er die am stärksten betonten unter ihren Hebungssilben durch die Wiederholung eines und desselben konsonantischen Anlauts als zusammengehörig kennzeichnete. Und denselben Dienst versah innerhalb der weitesten Grenzen die A s s o n a n z , wie sie für die spanischen Romanzen des Mittelalters charakteristisch ist. Indem diese Art des Reimes einen und denselben vokalischen Inlaut in den geradzahligen Versschlüssen sämtlicher Strophen wiederholt, gestaltet sie die akustische Außenseite des Gedichtganzen zu einem Bau, der eben so einheitlich und fest gefugt ist, wie die entsprechende dichterische Innenseite durch den Zusammenhang ihres Yorstellungsinhalts. Erscheint hier überall der Reim in seinen verschiedenen Gestaltungen als ein Kunstmittel, das nur dazu bestimmt ist, einem lockeren rhythmischen Bau zu größerer Festigkeit und zu bestimmterer Abgrenzung seiner Hauptglieder zu verhelfen, so ist er doch selbst nicht rhythmischer, sondern melodischer Art, sofern er die Lautfarben der rhythmisch bevorzugten Silben zu einander in eine geregelte Beziehung bringt und damit die qualitativen Verhältnisse des akustischen Materials sprachmusikalisch verwertet, wie der Rhythmus die quantitativen. Die melodische Wirkung, die der Reim in den erwähnten Fällen erreicht, ist allerdings noch geringfügiger, als die des von ihm unterstützten Versrhythmus; aber die sprachmusikalische Bedeutung dieses Kunstmittels darf nicht nach seiner Kindheitsperiode allein beurteilt werden. Nur in der allerältesten Zeit seiner Anwendung in der europäischen Verskunst ging der Kunstzweck des Reimes so gut wie ganz in der Unterstützung des Rhythmus auf; im Laufe seiner späteren Entwickelung aber hat er sich fähig erwiesen, sprachmusikalische Wirkungen von viel feinerer und reicherer Art hervorzubringen, als es bei akzentuierender Versmessung dem Rhythmus möglich ist. Da dieser von den im Sprach-
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material gegebenen quantitativen Tonstufen nur je zwei (eine starke und eine schwache) musikalisch verwerten kann und diese scharf kontrastierende Gegensätze bilden, so muß seine akustische Wirkung bei strenger Durchführung des akzentuierenden Prinzips zwar stärker, aber in demselben Maße auch ärmer und gröber sein, als die, deren der Reim fähig ist, der die ganze Mannigfaltigkeit sprachlicher Lautfarben in den feinsten Abstufungen und den mannigfaltigsten Kombinationen zu sprachmusikalischen Wirkungen verwerten kann. Aus all diesem geht hervor, daß in der sprachlichen Musik, auf welche die moderne Kunstlyrik angewiesen ist, die Klangfarbe das wesentlichste, die Tonhöhe dagegen das unwesentlichste Element ist, während in der Tonmusik gerade das umgekehrte Verhältnis stattfindet. Ein Beispiel mag diesen Gegensatz zwischen beiden Arten von Musik veranschaulichen. Wie das tonmusikalische Kunstwerk, das für ein bestimmtes Instrument gesetzt ist, bei dem Arrangement für ein anderes Instrument oder für ein ganzes Orchester trotz der durchgängigen Veränderung der Klangfarben noch wesentlich dasselbe bleibt, aber schon bei einer geringeren Veränderung seiner Tonhöheverhältnisse zu einem wesentlich andern wird, so bleibt das sprachmusikalische Ganze einer Dichtung beim Vortrage durch verschiedene Rezitatoren trotz aller Modifikationen der Tonhöheverhältnisse, die durch die Verschiedenheit ihrer persönlichen Auffassung bedingt sind, in seinem Wesen unverändert, wird aber bei der Übersetzung in eine fremde Sprache selbst dann, wenn in ihr die Gliederung des Originals und das Schema seiner Reimverschlingung die denkbar genaueste Wiedergabe finden, durch die Veränderung der lautlichen Klangfarben allein schon zu einem wesentlich andern. Allerdings kann im Munde verschiedener Rezitatoren die Klangfärbung der Sprachlaute eben so wenig, wie die Betonungsweise absolut gleich sein; aber gegenüber dem objektiv feststehenden Wesen der Lautfarben sind deren zufällige Modifikationen so geringfügig, daß sie für das Wesen der betreffenden sprachmusikalischen Melodie noch weniger in Betracht kommen können, als die der Betonung. Natürlich verhält sich das Klangmaterial der verschiedenen QF. CVIII.
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Sprachen gegenüber den idealen Anforderungen der Musik nicht nur der Art, sondern auch dem Grade nach verschieden. Die eine Sprache stellt diesen Anforderungen einen größeren, die andere einen geringeren Widerstand entgegen, und dieser Widerstand kann in der einen auf rhythmischem, in der andern auf melodischem Gebiete stärker hervortreten. Wenn man daher wohlklingende Sprachen von mißklingenden unterscheidet, so mag das Urteil hierüber im einzelnen Falle mehr oder weniger subjektiv gefärbt und namentlich von der natürlichen Vorliebe für die eigene Muttersprache des Urteilenden beeinflußt sein; einen Anspruch auf Objektivität d. h. auf denjenigen Grad von Sachlichkeit, dessen ästhetische Werturteile überhaupt fähig sind, hat es immerhin, wenn es sich auf allgemein anerkannte ästhetische Grundsätze stützen kann. Solche Grundsätze gibt es auch auf musikalischem Gebiete. Es fragt sich nur, inwieweit sie auch auf die Sprache anwendbar sind. Bis zu einem gewissen Grade wird dies schon deshalb der Fall sein müssen, weil Sprache und Musik als hörbare Äußerungen von Seelenvorgängen manches mit einander gemein haben. Die Annahme, daß die Musik überhaupt sich nur aus der Sprache entwickelt haben könne, so daß die Tonmusik nur eine Yerselbständigung der sprachlichen Musik wäre, geht allerdings zu weit, namentlich wenn man dabei nur die menschliche Wortsprache im Sinne hat und nicht etwa auch die der Tonmusik weit näher stehende Sprache der Tiere; aber es läßt sich nicht verkennen, daß ein natürlicher und ursprünglicher Zusammenhang zwischen Sprache und Musik sich niemals ganz verleugnet, wenn er sich auch allmählich immer mehr lockert, weil die Zwecke und damit auch die Entwickelungsziele beider weit auseinander liegen. Dies zeigt sich schon darin, daß beide in übereinstimmender Weise, wenn auch in verschiedenem Grade sich national gestalten; denn die Bezeichnung der Tonmusik als einer internationalen Sprache ist nur in dem negativen Sinne berechtigt, daß die Yieldeutigkeit, die ihr infolge ihres Mangels an Wortbestimmtheit anhaftet, für alle Völker vorhanden ist. National bestimmt muß die Tonmusik schon insofern sein, als der Nationalgeschmack bei ihrer allmählichen Ausgestaltung
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einen entscheidenden Einfluß ausübt. Aber auch der seelische Gehalt, der in der Tonmusik zum Ausdruck gelangt, ist bei verschiedenen Völkern und Rassen verschieden. Mögen auch gewisse allgemein menschliche Eigentümlichkeiten des Gefühlslebens in der Tonmusik aller sich mit einer ähnlichen Übereinstimmung äußern, wie etwa in den Interjektionen ihrer verschiedenen Sprachen, so tritt diese Übereinstimmung doch immer nur auf den untersten Stufen der musikalischen wie der sprachlichen Entwickelung deutlich zutage, während auf den höheren Entwicklungsstufen beider das Allgemeinmenschliche immer mehr hinter dem Besonderen der verschiedenen Rassen, Völker und Individuen zurücktritt. So wird z. B. chinesische oder japanische Musik gerade wegen ihrer verhältnismäßig hohen Ausbildung von europäischen Musikfreunden im allgemeinen weniger verstanden und genossen, als die viel primitivere Musik der Naturvölker. Aber die Kultur wirkt nicht nur trennend, sondern auch verbindend, indem sie zunächst zwischen den hervorragenden Individuen verschiedener Völker und Rassen durch Erweiterung ihres geistigen Gesichtskreises über die Schranken des Volkstums und der Rasse hinaus eine gegenseitige Annäherung zustande bringt. Diese Einzelnen wirken zuerst innerhalb ihrer nächsten Umgebung und dann allmählich in immer weiteren Kreisen ausgleichend auf die naturgegebenen wie die kulturgeschaffenen Gegensätze im Völkerleben und bringen dadurch eine internationale Gemeinsamkeit zustande, welche die Bürgschaft für einen festeren und längeren Bestand in sich trägt, als die Gemeinsamkeit der Abstammung, weil sie nicht gleich dieser bloß natürlicher, sondern zugleich und überwiegend geistiger Art ist. Diese Gemeinsamkeit äußert sich zunächst in gegenseitigem Verständnis für die Eigenart fremdländischer Kulturerscheinungen, dann aber auch in einer gegenseitigen Einwirkung der verschiedenen Nationalkulturen auf einander und einer zunehmenden Ausgleichung ihrer Gegensätze, wobei aber diese keineswegs vernichtet, sondern nur soweit gemildert werden, daß die verschiedenen Nationalkulturen je nach ihrer Eigenart und dem Grade ihrer Entwickelung zu einer Gesamt2*
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kultur beitragen können, die natürlich nicht in allen ihren Einzelheiten, aber doch als Ganzes allen gemeinsam ist. Auf tonmusikalischem Gebiete hat sich diese Ausgleichung mit weit größerem Erfolge vollziehen können, als auf sprachlichem, weil die Vieldeutigkeit des tonmusikalischen Ausdrucks ihr eben so förderlich, wie die Wortbestimmtheit des sprachlichen hinderlich ist. Sie ist in der Tat so weit fortgeschritten, daß die Entwickelung wenigstens der europäischen Tonmusik als eine ihrem "Wesen nach einheitliche betrachtet werden kann. Von der sprachlichen Musik läßt sich natürlich eine solche Einheitlichkeit nicht erwarten, da ihre Ausgestaltung viel zu sehr von dem Klangmaterial der verschiedenen Sprachen abhängig ist, als daß auf ihrem Gebiete eine größere gegenseitige Annäherung der verschiedenen Völker möglich sein könnte, als auf dem Gebiete der Sprache selbst. Um so mehr Veranlassung hat die Theorie dieser Art von Musik, nach einem Maßstabe der Beurteilung zu suchen, der auf internationale Allgemeingiltigkeit Anspruch hat. Hierbei kann sie von der Theorie der Tonmusik so weit unterstützt werden, als diese selbst Veranlassung hat, das Klangmaterial der verschiedenen Sprachen in bezug auf seine musikalische Beschaffenheit zu prüfen. Eine solche Veranlassung hat sie wenigstens als Vokalmusik, sofern für diese die Singbarkeit des sprachlichen Textes in Betracht kommt. Nun sind wenigstens in bezug auf die Singbarkeit der einzelnen sprachlichen Laute die Musikverständigen aller europäischen Kulturländer einig, weil unwiderlegliche Erfahrungstatsachen, die beim Gesangunterricht oft genug beobachtet worden sind, ihren gemeinsamen Urteilen zugrunde liegen. Der Grad der Singbarkeit aber ist entscheidend für den Grad des Wohlklangs, dessen die betreffenden Laute überhaupt fähig sind, denn der Gesang bringt nur den Wohlklang, der bereits in dem sprechweise hörbar gemachten Laute wirksam ist, zu einem höheren Grade musikalischer Wirksamkeit. Und was vom einzelnen Sprachlaut inbetreff seines Wohlklangs gilt, das gilt auch vom Ganzen der verschiedenen Sprachen. Je besser in einer Sprache sich singen läßt, um so wohlklingender läßt sich auch in ihr sprechen;
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ein um so besseres Klangmaterial stellt sie daher dem Dichter für die sprachliche Musik seiner Yerse zu Gebote. Wie verhält es sich nun in dieser Beziehung mit der deutschen Sprache? Bekanntlich hat sich Goethe in seinen venezianischen Epigrammen sehr mißliebig über sie geäußert. Einmal sagt er hier, die Natur hätte ihre Absicht, einen Dichter aus ihm zu machen, wohl erreichen können, „hätte die Sprache sich nicht unüberwindlich gezeigt". Ein anderes Epigramm, in welchem er von seinen dilettantischen Versuchen auf verschiedenen Kunstgebieten spricht, endet mit den "Worten: „Nur ein einzig Talent bracht' ich der Meisterschaft nah', Deutsch zu schreiben. Und so verderb' ich unglücklicher Dichter In dem schlechtesten Stoff leider nun Leben und Kunst".
Das harte Urteil, welches Goethe hier über seine Muttersprache fällt, hat er durch seine eigenen dichterischen Meisterwerke glänzend widerlegt. Er hätte es auch schwerlich ausgesprochen, wenn er dabei an das spezifische "Wesen der Dichtkunst im Gegensatz zur Vers- und Reimkunst gedacht hätte, denn ihm, dem bisher größten unter den deutschen Dichtern, haben die Vorzüge nicht wohl verborgen bleiben können, welche die deutsche Sprache in bezug auf spezifisch dichterische Verwertbarkeit vor den meisten modernen Literatursprachen voraus hat, und namentlich vor der italienischen, mit welcher sie zu vergleichen er gerade damals, als er jenes Urteil aussprach, eine ganz besondere Veranlassung hatte. Ein dichterischer Hauptvorzug der deutschen Sprache besteht z. B. in ihrer fast unbeschränkten Fähigkeit, Zusammensetzungen zu bilden. In dieser Beziehung steht sie mit der altgriechischen auf wenigstens gleich hoher Stufe, während das Italienische noch hinter dem Lateinischen zurückbleibt. Und von diesem Vorzug hat Goethe schon in der Jugendperiode seines dichterischen Schaffens den ausgedehntesten Gebrauch gemacht. "Wenn er von dem „schlangenwandelnden" Flusse, von der „duftverlornen" Grenze, vom „feuchtverklärten" Blau des Himmels spricht, so gebraucht er selbstgeschaffene Zusammensetzungen, die durch die Energie, mit der sie ganze Reihen konkreter Vorstellungen in ein
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einziges Wort zusammendrängen, der Bündigkeit des dichterischen Ausdrucks nicht weniger zugute kommen, als seiner Anschaulichkeit. Selbst die logische Unbestimmtheit, die solchen Wortbildungen eigen zu sein pflegt, ist ihrer Anwendbarkeit in der Dichtung, namentlich der lyrischen, eher günstig als ungünstig, da sie der ausmalenden und ausdeutenden Phantasie um so freieren Spielraum läßt, und aus ähnlichen Gründen stimmungsvoll wirkt, wie das anbestimmte Ineinanderfließen der Farben und Linien in landschaftlichen Hintergründen, nämlich durch die Verschleierung aller der Härten, die mit einer festen und scharfen Abgrenzung verbunden zu sein pflegen. Auf den Reiz solcher Wortbildungen muß die italienische Dichtung verzichten. Eine Zusammensetzung, wie z. B. das Goethesche „morgenschön", welche die ganze tauige Frische menschlicher wie außermenschlicher Jugendschönheit in einem einzigen Worte veranschaulicht, könnte ein italienischer Übersetzer nur durch wortreiche Umschreibungen wiedergeben, und auch dann nur ihrem Vorstellungsinhalte, nicht aber ihrer vollen poetischen Wirkung nach, da der Stimmungsgehalt dieses Ausdrucks wesentlich an die Form der Zusammensetzung gebunden ist. Eine andere dichterisch verwertbare Eigentümlichkeit, welche die deutsche Sprache vor der italienischen voraus hat, ist das ihr eigene Betonungsprinzip. Indem der deutsche Wortakzent in zwei- und mehrsilbigen Wörtern die Stammsilbe betont, hebt er denjenigen Teil des Wortes hervor, welcher dessen selbständige Bedeutung und damit, bei konkretem Inhalt, dessen dichterisch wirksamsten, weil anschaulichsten Bestandteil enthält. Im Italienischen dagegen werden die Abteilungs- und Flexionssilben, die nur Beziehungen ausdrücken, durch den Wortakzent bevorzugt. Da diese Silben wegen ihres immer abstrakten Inhalts nur in sehr geringem Grade dichterisch zu wirken imstande sind, so kann in italienischen Versen die dichterische Wirksamkeit des Vorstellungs- und Gefühlsinhalts nur ausnahmsweise durch die sinnliche Wirkung des Wortakzents unterstützt werden. Dieser Unterschied zwischen den Betonungsprinzipien
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der deutschen und italienischen Sprache ist für den Rhythmus der Verse von noch größerer Bedeutung, als für deren dichterischen Inhalt; denn um diesem zu seinem Eechte zu verhelfen, bedarf es nicht notwendig eines Zasammenfallens der dichterischen Höhepunkte mit denen der Betonung. Nur im Ganzen müssen dichterischer Inhalt und sprachmusikalische Form einander entsprechen; im Einzelnen dürfen sie auseinandergehen, ja unter Umständen kann eine gegenseitige Durchkreuzung der inhaltlichen Gliederung mit der sprachmusikalischen eine besonders reizvolle Wirkung haben. Allerdings wird dies nur dann der Fall sein, wenn sie inhaltlich genügend. motiviert ist, und dann wird sie dem dichterischen Inhalte mehr zugute kommen, als der sprachmusikalischen Form. Für den Rythmus aber ist es unter allen Umständen ein Vorteil, wenn seine Höhepunkte d. h. die starkbetonten Hebungen der Verse, von deren dichterisch bedeutsamsten Silben getragen worden, und dieser Vorteil ist dem deutschen Betonungsprinzip viel leichter und in viel höherem Grade erreichbar, als dem italienischen. Da jenes nicht nur ein stärkeres Hervorheben der inhaltlich bedeutsamsten Silbe des Wortes mit sich bringt, sondern auch ein längeres Verweilen bei ihr gestattet, als es im Italienischen möglich ist, so muß der Wortakzent auch im deutschen Versrhythmus eine wichtigere Rolle spielen, als im italienischen. Das entschiedene Ubergewicht, welches die Stammsilbe als Trägerin des Wortakzentes über die übrigen Silben des Wortes gewinnt, bringt allerdings den Nachteil mit sich, daß die letzteren im Deutschen viel nachlässiger behandelt zu werden pflegen, als im Italienischen, so daß in ihnen der Silbenton bis zur „Tonlosigkeit" und der Silbenvokal bis zur „Stummheit" herabsinken kann; aber selbst dieser sprachliche Nachteil gereicht dem deutschen Versrhythmus dadurch zum Vorteil, daß durch ihn das gegensätzliche Verhältnis zwischen Hebung und Senkung im Versrhythmus gesteigert wird. Darum ist der deutsche Dichter auf einen regelmäßigen Wechsel zwischen diesen beiden rhythmischen Gliedern viel mehr angewiesen, als der italienische. Dieser darf sich in rhythmischer Beziehung große Freiheiten erlauben, weil
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der geringe Unterschied, der in bezug auf Tonstärke und Tondauer zwischen den verschiedenen Silben des italienischen Wortes wahrnehmbar ist, den mißfälligen Eindruck der Arhythmie kaum aufkommen läßt. Ohne Zweifel bieten diese Freiheiten dem italienischen Dichter große Vorteile; aber je mehr er von ihnen Gebrauch macht, um so weiter entfernt er sich von dem Formideal der Musik, und wenn er ganz auf sie verzichtet, dann kann er sich diesem Ideal doch lange nicht in demselben Grade nähern, wie es dem deutschen Dichter möglich ist. Hieraus erklärt es sich zur Genüge, warum bei der Nachbildung altgriechischer Versund Strophenformen deutsche Dichter so unvergleichlich viel mehr Glück gehabt haben, als italienische. Auch die Verschiedenheit in der Behandlung der Operntexte von seiten deutscher und italienischer Komponisten hat in der Verschiedenheit des Betonungsprinzips beider Sprachen ihren letzten Grund. Da im Italienischen die Gliederung des "Wortes durch den Akzent weder für dessen Inhalt bedeutsam ist, noch besonders stark ins Ohr fällt, so darf der Komponist italienischer Texte es wagen, den "Wortakzent überall da, wo er nicht durch den syntaktischen oder rhetorischen Akzent verstärkt wird, ganz unberücksichtigt zu lassen, ohne daß er fürchten müßte, damit der Sprache Gewalt anzutun. Dagegen verlangt die größere Stärke und Bedeutsamkeit des deutschen "Wortakzentes nicht nur für diesen selbst, sondern auch für den Inhalt der Akzentsilbe, von seiten des Komponisten eine Berücksichtigung, welche die Tonmusik — ähnlich wie es bei der sprachlichen Musik der Fall ist — nur als Dienerin des von ihr begleiteten Textes erscheinen läßt, während einem italienischen Texte gegenüber die Musik sich nur gar zu gern als Herrin gebärdet. Dieser Umstand, liefert einen nicht geringen Beitrag zur Erklärung der aus der Geschichse der Oper bekannten Tatsache, daß bei dem Kompromiß, welches die Vokalmusik mit der von ihr begleiteten Dichtung zu schließen genötigt ist, die Ansprüche des dichterischen Textes hauptsächlich bei deutschen, die der Musik dagegen hauptsächlich bei italienischen Komponisten ihre Vertreter gefunden haben.
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So hängt der Gegensatz zwischen Gluck und Piccini, zwischen "Wagner und Rossini innig zusammen mit dem Unterschied zwischen dem Betonungsprinzip der deutschen und der italienischen Sprache. Diese Erwägungen werden wohl hinreichen, um darzutun, daß die deutsche Sprache ebenso wenig in rhythmischer, wie in spezifisch dichterischer Beziehung der „schlechteste Stoff" für den Dichter sein kann. Wenn aber Goethe unter dem Einfluß der gereizten Stimmung, von der er während seines zweiten Aufenthalts in Italien heimgesucht wurde, über seine Muttersprache ungünstiger urteilt, als ihm billigerweise zugestanden werden kann, so scheint er doch wenigstens in einer Beziehung recht zu haben. In betreff des sinnlichen "Wohlklangs nämlich bleibt die deutsche Sprache in der Tat hinter vielen andern zurück, und namentlich hinter der italienischen, deren Singbarkeit allgemein anerkannt und deren sinnlicher Wohlklang sprichwörtlich ist. Der Grund hierfür liegt nahe genug. Das Italienische bevorzugt weit entschiedener, als das Deutsche, die am leichtesten singbaren und darum wohlklingendsten sprachlichen Laute d. h. die Yokale, vor den Konsonanten, die in musikalischer Beziehung als bloße Geräusche wirken. Außerdem pflegen die italienischen Vokale auch in schwachbetonten Silben viel reiner und volltönender ausgesprochen zu werden, als die deutschen, die dem Einflüsse des Akzents und ihrer Nachbarlaute selbst in starkbetonten Silben mehr unterliegen, als ihrer melodischen Wirksamkeit zuträglich ist. In der altgermanischen Periode der deutschen Sprachentwickelung war letzteres lange nicht in demselben Maße der Fall, wie heutzutage; aber schon damals muß das deutsche Volk wenig Sinn für den Wohlklang und die sprachmelodische Verwertbarkeit der Vokale gehabt haben; denn als die altgermanische Verskunst noch nichts von fremdsprachlichem Einfluß spüren ließ, verwandte sie keine andere Art des Reimes in gesetzmäßiger Weise, als den Stabreim und dieser kann als bloße Wiederholung konsonantischer Laute keinen Anspruch auf melodische Wirksamkeit im musikalischen Sinne erheben. Was aber bei Otfried und seinen endreimenden deutschen Zeitgenossen als Vollreim
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gelten will, erweist sich als verfrühte und darum ungeschickte Nachahmung fremdsprachlicher Kunstübung schon darin, daß er nur allzu oft statt hochbetonter Stammsilben nur tieftonige oder unbetonte Nebensilben trifft, mehr aber noch darin, daß er nicht selten statt des Vokals der Reimsilben nur die auf ihn folgenden Konsonanten wiederholt. Eine solche Art des Endreimes hat auf melodische Wirksamkeit kaum mehr Anspruch, als der Stabreim, auf rhythmische und dichterische aber jedenfalls noch viel weniger. Erst die in mittelhochdeutscher Zeit erreichte Entwickelungsstufe der deutschen Sprache ermöglichte eine Gestaltung des Vollreims, die dem Wesen der Dichtung, wie der sprachlichen Musik angemessen ist, und gerade in der Reimkunst sind die deutschen Minnesänger im allgemeinen am wenigsten weit hinter ihren romanischen Vorbildern zurückgeblieben. Aber auf die Reimkunst der Minnesänger folgte die völlig unkünstlerische Reimerei der Meistersänger und dann eine lange Zeit sprachlicher und sprachmusikalischer Verwirrung und Verirrung, bis endlich in Goethe ein Dichter erstand, der die deutsche Lyrik und mit ihr die deutsche Sprachmusik zur höchsten bisher erreichten Entwickelungsstufe emporhob. Und doch war das Material, welches diesem Dichter seine neuhochdeutsche Sprache darbot, weit weniger wohlklingend, als die mittelhochdeutsche Sprache der Minnesänger. Seine Reimkunst hätte daher in sprachmelodischer Beziehung viel weiter, als die der letzteren hinter der romanischen zurückbleiben müssen, wenn der sinnliche Wohlklang des sprachlichen Materials allein hierbei maßgebend wäre. Dem italienischen Dichter stehen für seine Reime nicht nur reinere und volltönendere Vokale zu Gebote, sondern der Reim bietet sich ihm auch viel leichter dar, als dem deutschen; denn er trifft im Italienischen sehr häufig bloße Flexionsendungen, während er im Deutschen, um tadellos zu sein, immer die Stammsilbe des Reimworts mitumfassen muß. Eine solche aber hat lange nicht so viel grammatische Veranlassung zu äußerlich hervortretender Ubereinstimmung mit andern Stammsilben, wie die Flexionssilben eines Wortes mit den entsprechenden Flexionssilben eines andern.
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Da nun die neuhochdeutsche Sprache in melodischer Beziehung so viel weniger begünstigt ist, als in rhythmischer, so ist es wohl begreiflich, daß es noch immer deutsche Dichter gibt, die den Endreim als „leeren Klingklang" verachten und daß einzelne unter ihnen den längst begrabenen Stabreim zu neuem Leben zu erwecken suchen, während andere auf jede Art sprachmusikalischer Gestaltung ihrer Verse glauben verzichten zu dürfen. Noch leichter läßt es sich begreifen, daß es auch unter den dichtenden Zeitgenossen Goethes deutsche Nachahmer antiker Odenmaße hat geben können, die das Ohr durch möglichst kunstvolle Rhythmen für den Mangel an sprachmelodischen Reizen zu entschädigen suchten. In der Tat verlangt das Zurücktreten eines der beiden musikalisch wirksamen Elemente der Verskunst ein um so stärkeres Hervortreten des andern, wenn die sprachliche Musik der Dichtung zu voller Geltung kommen soll. Daher erscheint der Reim als störender oder wenigstens als entbehrlicher Putz, wo er, wie in einzelnen Versuchen deutscher Lyriker, sich mit der festgefugten und reichgestalteten Rhythmik griechischer Odenstrophen verbindet, während er den einfachen und zwanglosen Rhythmen der volksmäßig deutschen Liederstrophe als Schmuck wohlansteht und den strophischen Gebilden der romanischen Dichtung als kaum entbehrliche melodische Hülle für ihre rhythmischen Blößen dient. In bezug auf das ästhetische Verhältnis von Rhythmus und Reim zu einander hat Goethe besser als irgend einer seiner Vorgänger in der deutschen Kunstlyrik das Rechte getroffen. Im Gegensatz zu den Stürmern und Drängern, die alle Formenstrenge als Willkür verabscheuten, und in noch größerem Gegensatz zu deren Gegenfüßlern, die von der Versmessung fremder Völker verführt, mit ängstlicher Pedanterie die Silben auch der Senkungen zählten und ihre Verse in mechanisch geregelte Versfüße abteilten, kehrte er zur rhythmischen Freiheit des deutschen Volksliedes zurück, welches dem Geiste der deutschen Sprache gemäß nur die starkbetonten Hebungssilben zählt, die Zahl der schwachbetonten Senkungssilben aber von inhaltlichen und sprach-
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musikalischen Rücksichten abhängig macht. Mit dieser Lockerung der rhythmischen Fesseln, welche früher den Yers der deutschen Kunstlyriker eingezwängt hatten, schuf Goethe nicht nur dem Ausdruck des dichterischen Inhalts die Möglichkeit einer freieren Bewegung, sondern auch die Bedingungen für eine Wirksamkeit des Reimes, welche diesen nicht als müßiges Beiwerk erscheinen lassen, sondern als diejenige melodische Ergänzung des Rhythmus, durch welche beide Elemente der sprachlichen Musik in ihr ästhetisches Gleichgewicht kommen. Daß er hierin mit der instinktiven Sicherheit des Genies ebenso sehr dem Wesen der deutschen Sprache gerecht geworden ist, wie den Forderungen der lyrischen Kunst, wird durch den eigenartigen melodischen Reiz bewiesen, den seine deutschen Lieder vor allen griechischen Oden in deutscher Sprache voraus haben. Der Mangel an Wohlklang, den Goethe an seinem sprachmusikalischen Rohmaterial, der deutschen Sprache beklagt, hat ihn also nicht daran hindern können, seine Lieder mit einer sprachlichen Musik auszustatten, die ganz das Werk unbewußt schaffender Kunst und darum nur um so vollständiger sein eigenstes Werk sind. Das Rohmaterial spielt allerdings in aller Kunst, also auch in der sprachlichen Musik, eine wichtige Rolle, aber viel wichtiger noch ist für sie der Geist des Künstlers, von dem es geformt wird. So gut wie ein Architekturwerk aus Backstein einen größeren Kunstwert haben kann, als ein Marmorbau, eben so gut kann eine deutsche Sprachmelodie kunstvoller gebaut sein, als eine italienische. Das deutsche Betonungsprinzip bietet dem Dichter nicht nur in rhythmischer und dichterischer Beziehung gewisse Vorteile, sondern mittelbar auch in melodischer. Er braucht nur die inhaltlich gewichtigsten und deshalb am stärksten betonten Wörter seiner Verse zu Reimwörtern zu machen; dann müssen natürlich die nicht bloß dichterisch, sondern auch melodisch wirksamsten Glieder des Versrhythmus am stärksten ins Ohr fallen. An sinnlichem Wohlklang wird der deutsche Reim dadurch allein freilich noch nichts gewinnen; aber der Wohlklang, dessen er aus andern Gründen fähig
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ist, kommt dann zu stärkerer und den Gesamteindruck stärker bestimmender Geltung, abgesehen davon, daß dadurch die Bedeutsamkeit des Reimes für den Vorstellungs- und Gefühlsinhalt der Dichtung nicht wenig in ihrer Wirkung unterstützt wird. Daß in der Geltendmachung dieser Vorteile Goethe eine unübertreffliche Meisterschaft bekundet, hat Caspar Poggel in seiner verdienstvollen Schrift „Grundzüge einer Theorie des Reims und der Gleichklänge" (Hamm 1834) zur Genüge dargetan. Aber Poggel bleibt bei der Bedeutsamkeit des Reimes stehen und räumt der formalen Seite desselben, die er nur in der architektonischen Gliederung der Rede, also nur in der Unterstützung des Rhythmus sieht, einen geringeren Wert ein, als sie verdient. Auch er sieht sich veranlaßt, die melodische Wirkung anzuerkennen, durch welche viele der besten unter den lyrischen Dichtungen Goethes sich auszeichnen; worauf aber diese melodische Wirkung beruht, das bleibt ihm der Hauptsache nach ein Geheimnis. Allerdings dient auch schon die Bedeutsamkeit der einzelnen Reime dazu, die melodische Wirkung des aus ihnen zusammengesetzten Ganzen — der Reimverschlingung — zu verstärken. Je mehr nämlich die einzelnen Reimsilben durch die ihrer Bedeutsamkeit entsprechende starke Betonung ins Ohr fallen, um so eindringlicher muß sich auch das melodisch Wirksame in ihrer Anordnung vernehmbar machen; aber diese Anordnung selbst bleibt doch die Hauptsache dessen, was an einer Reimverschlingung ästhetischer Beobachtung zu unterliegen hat, wenn ergründet werden soll, worauf ihre melodische Wirksamkeit beruht. Nicht von jeder Reimverschlingung, selbst wenn sie aus lauter tadellosen Reimen zusammengesetzt ist, kann eine in sprachmelodischer Beziehung befriedigende Wirkung erwartet werden, sondern nur von einer solchen, deren einzelne Reime nach Gesetzen der Harmonie (im weiteren Sinne dieses Wortes) geordnet sind. Mit andern Worten: die Reimverschlingung muß nicht nur eine Mannigfaltigkeit verschiedener Reime enthalten, sondern zugleich etwas, wodurch der Hörer veranlaßt wird, diese Mannigfaltigkeit zu einer Einheit zu-
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sammenzufassen, die nicht abstrakt begrifflicher (logischer), sondern konkret gefühlsmäßiger (ästhetischer) Art ist. In bezug auf den einzelnen Endreim ist die Forderung eines derartigen sukzessiv harmonischen Verhältnisses zwischen seinen Gliedern so selbstverständlich, daß nur da, wo sie erfüllt ist, die Anwendung des Wortes „Reim" berechtigt erscheint. Die Einheitlichkeit wird hier durch die Übereinstimmung der Eeimsilben in bezug auf ihren Hebungsvokal und die ihm folgenden Laute vertreten, die Mannigfaltigkeit durch den von Rudolf Hildebrand sogenannten „ünreim" d. h. den nicht übereinstimmenden Teil der Reimwörter. Dieser bildet einen so wesentlichen Bestandteil des Endreims, daß der sogenannte „identische Reim", dem er fehlt, vom sprachmusikalischen Standpunkt aus betrachtet, gar kein Reim ist und überhaupt als solcher nur dann empfunden werden kann, wenn die völlig gleichlautenden "Wörter, aus denen er besteht, wenigstens ihrer Bedeutung nach verschieden sind. Aber nicht nur der Unreim kommt für die sprachmelodische Wirkung des Endreims in Betracht, sondern in gewissem Maße auch das Ganze der durch ihn verbundenen Yerse, da mit deren Länge die Mannigfaltigkeit wächst, die durch den Endreim mit seiner vorwaltenden Einheitlichkeit zur Harmonie ergänzt werden soll. Eben deshalb ist ja der Endreim ein besonders bevorzugtes Glied dieses Ganzen, weil er mehr als jedes andere zu dessen "Vereinheitlichung beitragen kann. Aber er ist zugleich ein Glied der Reimverschlingung, welche für das strophische Ganze, dem die einzelnen Reimverse angehören, eine entsprechende Aufgabe zu erfüllen hat, und es ist klar, daß diese um so besser wird erfüllt werden können, je mehr dabei ein entsprechendes Mittel in Anwendung kommt. Wenn nämlich das Ganze der Reimverschlingung durch ein sukzessiv harmonisches Verhältnis zwischen den einzelnen Endreimen, die seine Glieder bilden, deren Zusammengehörigkeit ebenso deutlich zu hörbarer Geltung bringt, wie es mit den einzelnen Lauten geschieht, welche die Glieder des Endreimes bilden, dann ist auch die harmonische Wirkung des strophischen Ganzen gesichert. In den kunstvoll gebauten Strophen der antikklassischen
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Lyrik sorgt schon das metrische Schema für deren Vereinheitlichung durch eine Art sukzessiver Harmonie, da deren einzelne Verse durch die Verschiedenheiten, wie durch die Übereinstimmungen in ihrem metrischen Bau ihre Zusammengehörigkeit als verschiedene Glieder eines und desselben Ganzen bekunden. In den einfacheren und metrisch freieren Versen der deutschen Liederdichtung aber fällt diese Aufgabe zum größten Teil, in den noch freier gebauten Versen der romanischen Lyrik fast ganz der Reimverschlingung zu, und das Streben nach einer Gestaltung derselben, welche sie zur Erfüllung derselben fähig macht, zeigt sich in der Entwicklung der modernen Reimstrophe deutlich genug. Den Keim zur Reimstrophe enthalten schon die einfachen Reimpaare, die in der althochdeutschen Dichtung an die Stelle der zu Langzeilen vereinigten beiden Halbzeilen der Stabreimdichtung traten. Der Endreim ist hier noch sehr unvollkommen und daher wenig wirksam; aber die Kürze der viermal gehobenen „kurzen Reimpaare" sorgt dafür, daß die Mannigfaltigkeit der in ihnen vereinigten Laute nicht groß genug werden kann, um den Eindruck der durch den Endreim vertretenen Einheitlichkeit völlig zurückdrängen zu können. Einen Fortschritt in der Entwickelung der Reimkunst über die regellos aneinander gereihten Reimpaare hinaus zeigen schon diejenigen alten lateinischen Kirchenhymnen, deren vierzeilige Strophen entweder bloß die Verdoppelung eines solchen Reimpaares aufweisen (a a a a) oder je zwei verschiedene Reimpaare (a a b b) enthalten. Jene aber rufen durch das Ubermaß von Einheitlichkeit in ihrer Reimbindung leicht den ermüdenden Eindruck der Einförmigkeit hervor, diese durch den Mangel eines einigenden Bandes zwischen beiden Reimpaaren den beunruhigenden der "Willkür, da ebenso gut, oder vielmehr ebenso schlecht, drei oder noch mehr solcher Reimpaare zu einer Strophe vereinigt werden könnten. Wenn man von der begleitenden Tonmusik absieht, die ihre graphische Vereinigung wohl verursacht haben wird, so fallen die beiden Reimpaare als zwei selbständige Ganze auseinander, wenigstens bei der rhythmischen
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Übereinstimmung, wie sie bei ihnen Regel ist. Ein einigendes Band zwischen ihnen wird aber sofort hergestellt, sobald irgend eine rhythmische Ungleichartigkeit die beiden Hälften der Strophe als verschieden erscheinen läßt. "Wenn z. B. die eine von ihnen einsilbige (stumpfe, männliche), die andere zweisilbige (klingende, weibliche) Reime enthält, dann bewirkt die Ungleichheit beider Reimpaare, daß sie einander ergänzen d. h. als verschiedene Glieder eines und desselben Ganzen empfunden werden. Ästhetisch vollkommener als die paarweise gereimten Yierzeiler sind diejenigen mit gekreuzter (a b a b) und umarmender (a b b a) Reimverschlingung, weil in ihnen die einzelne Reime nicht einfach aufeinander folgen, sondern sich gegenseitig durchdringen, wodurch ihre Harmonie inniger und lebendiger wird. Die umarmende Reimverschlingung hat man als Symmetrie bezeichnet und ihre ästhetische Wirkung damit für genügend charakterisiert und erklärt gehalten, aber beides nur mit scheinbarem Rechte. Unter dem Worte „Symmetrie" versteht man bekanntlich die Harmonie zwischen zwei gleichgestalteten, aber in ihrer Richtung einander entgegengesetzten Formen. Eine derartige Harmonie zeigen allerdings auch die umarmenden Reime (a b b a), aber nur in ihrem graphisch dargestellten und daher sichtbaren Schema, nicht in ihrer nur hörbaren Wirklichkeit. Symmetrie im eigentlichen Wortsinn ist nämlich nur im Nebeneinander des Raumes möglich, nicht aber im Nacheinander der Zeit; denn da dieses nur in einer einzigen Richtung erfolgen kann, so hat es in ästhetischer Beziehung viel mehr mit dem Übereinander als dem Nebeneinander des Raumes gemein. In ihrer Wirkung unterscheidet sich die umarmende Reimverschlingung von der räumlichen Symmetrie sehr wesentlich dadurch, daß ihre zweite Hälfte einen weit stärkeren Eindruck hinterläßt als die erste, und zwar nicht bloß aus dem allgemeinen Grunde, weil der sinnliche Eindruck des zuletzt Gehörten überhaupt deutlicher und länger in der Erinnerung nachhallt als alles Vorhergehende, sondern auch aus dem besonderen, weil die beiden Reime der Strophe erst in deren zweiter Hälfte als
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Gleichklänge erkannt werden und wirken können. In der räumlichen Symmetrie dagegen können beide Hälften gleich stark wirken, weil das Auge ungehindert von einer zur andern und wieder zurück gehen kann, bis das Bedürfnis nach dem ästhetischen Gleichgewichte beider befriedigt ist. Immerhin haben die umarmenden Keime, wenn sie nicht durch allzulange Verse von einander getrennt sind, eine Wirkung, die in bescheidenem Maße derjenigen der räumlichen Symmetrie entspricht. In viel höherem Maße aber als diese ist die räumliche Proportion, wie sie etwa in den über einander gelagerten Teilen eines Architekturwerks sich zeigt, den in den Zeitkünsten wirkenden Arten sukzessiver Harmonie analog. So lassen sich z. B. die bisher betrachteten zweiteiligen und zweireimigen Strophen mit einem zweistöckigen Bauwerk vergleichen. Auch in einem solchen dürfen die beiden Hauptglieder (Stockwerke) einander nicht völlig gleichen, wenn das Ganze harmonisch wirken soll, sondern das Erdgeschoß muß als tragendes, das Obergeschoß als getragenes und durch seinen Abschluß nach oben als krönendes Glied gekennzeichnet sein. Wie hier jedes der beiden Geschosse durch eine besondere, nur ihm eigene Funktion zur Harmonie des architektonischen Ganzen beiträgt, so hat auch jedes der beiden Strophenglieder seine besondere Bedeutung für das Strophenganze, und nicht minder hat eine solche die Reimverschlingung, die gleichsam als Fassade des strophischen Baus dessen innere Gliederung zu einem äußern Abschluß bringt und zugleich durch das Ornament melodisch wirksamer Reimklänge mit neuer, nur ihr eigener Schönheit schmückt. Die Analogie zwischen dem architektonischen und dem strophischen Bau hat freilich ihre Grenzen. Von einem tragenden und einem getragenen Baugliede kann hier nicht in demselben Sinne die Rede sein wie dort, sondern nur von einem Haupt- und einem Nebengliede. Die zweite Hälfte der Strophe ist nämlich schon deshalb die wichtigere, weil sie als Endglied des Ganzen dessen Gesamteindruck stärker beeinflußt als die erste; sie muß daher aus demselben Grunde QF. CVIII.
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als das Hauptglied der Strophe behandelt werden, wie im einzelnen Verse dessen durch den Reim oder sonst irgendwie ausgezeichnetes Endglied. Das kann schon dadurch geschehen, daß der inhaltlich bedeutsamste Teil des Strophenganzen erst an dessen Schluß zum Ausdruck gelangt. Soll aber die Bedeutung des Strophenschlusses auch in sprachmusikalischer Beziehung zur Wirkung kommen, dann wäre dies etwa durch eine Verkürzung oder Verlängerung des Schlußverses erreichbar. So folgt z. B. in der sapphischen Strophe auf drei lange Verse ein kurzer, der als krönender Abschluß des Ganzen ähnlich wirkt, wie die Krönung eines Architekturwerks durch das Giebeldach oder durch eine Kuppel. Einen ganz andern Eindruck bringt die alte Nibelungenstrophe hervor, deren letzter Vers über die drei vorhergehenden herausragt, wie das Dach eines altflorentinischen Palastes über dessen Fassade. In beiden Fällen aber wird die Zweiteiligkeit der Strophe im Prinzip bereits verlassen, da der letzte Vers durch seine von den übrigen abweichende Länge, wie durch seine Bedeutsamkeit für das Ganze den Anspruch darauf gewinnt, als selbständiges Strophenglied zu gelten. Das ästhetische Bedürfnis nach einer umfassenderen Ausgestaltung dieses krönenden Gliedes hat wohl auch am meisten dazu beigetragen, daß nicht nur in der deutschen, sondern auch in der altgriechischen, sowie in der mitteldeutschen und romanischen Lyrik sich schon frühzeitig die Dreiteiligkeit der Strophe entwickelt hat, und mit dieser Entwickelung ist überall, soweit es beobachtet werden kann, auch eine Fortentwickelung der sprachlichen Musik ihrer Reimverschlingung und der sie begleitenden Tonmusik Hand in Hand gegangen. Die dreiteilige Strophe enthält bekanntlich zwei gleichgestaltete Teile (Stollen), die zusammen den „Aufgesang" bilden, und einen von ihnen abweichend gestalteten, den „Abgesang". Man pflegt die beiden Stollen — entsprechend der ursprünglichen Bedeutung ihres Namens — mit zwei einander gleich gebildeten Säulen oder Pfeilern zu vergleichen, und den Abgesang mit dem Gebälk oder dem Bogen, der sie verbindet. Dieser Vergleich ist aber aus demselben Grunde
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irreführend, wie die Bezeichnung der umarmenden Reimverschlingung als einer Symmetrie, weil er ebenfalls den Unterschied zwischen dem räumlichen Nebeneinander und dem zeitlichen Nacheinander außer acht läßt. Immerhin wäre er nicht ganz unzutreffend, wenn der Abgesang ebenso, wie das verbindende Glied zwischen zwei Säulen oder Pfeilern, seine Stelle regelmäßig zwischen den beiden Stollen fände. Dies aber ist nur ausnahmsweise der Fall. Schon der Name „Abgesang" deutet darauf hin, daß die seinem Wesen gemäßeste Stelle sich am Ende der Strophe befindet. Aber auch, wenn er an deren Anfang versetzt wird, kann er bei entsprechender Behandlung seine Hauptfunktion d. h. die Yerbindung der durch ihre Gleichheit selbständig erscheinenden Stollen, in befriedigender Weise vollziehen. Das geschieht z. B. im griechischen Distichon, wo der Hexameter durch seine rhythmische Übereinstimmung mit dem ihm folgenden Pentameter die beiden einander gleichen und außerdem durch eine Pause getrennten Hälften des letzteren als zusammengehörig kennzeichnet. Auf andere Weise geschieht etwas Ähnliches im italienischen Ritornell, wenn der nicht seltene Fall eintritt, daß die Halbzeile, die den Anfang dieser Strophenform bildet, nicht nur mit der zweiten der ihr folgenden beiden Langzeilen durch den Endreim, sondern auch mit der ersten durch eine andere Art des Gleichklangs verbunden ist. Drängt sich dagegen der Abgesang zwischen die beiden Stollen, dann ist er mehr geeignet, sie zu trennen als sie zu verbinden. Doch kann unter Umständen auch eine solche Trennung von guter Wirkung sein. Bei außergewöhnlicher Länge des Abgesangs z. B. erscheint die ästhetische Verhältnismäßigkeit des Strophenganzen am besten gewahrt, wenn er zwischen den beiden Stollen steht. Ist die Beziehung dieser aufeinander, und damit des Endes zum Anfang, dann überhaupt noch merkbar, so erscheint das Strophenganze wohlabgerundet, aber die ursprüngliche Funktion des Abgesangs als eines zugleich verbindenden und krönenden Gliedes ist dabei zu einer andern geworden. Alle Strophenformen von literaturgeschichtlicher Bedeutung, deren Verse über die Dreizahl hinausgehen, lassen 3*
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sich entweder als zweiteilige oder als dreiteilige auffassen, nicht selten auch als beides zugleich.
Selbst die umfang
reichsten und künstlichsten sind nur Fortentwickelungen der allereinfachsten unter ihnen, nämlich der kurzen Reimpaare, von denen jedes einzeln als eine zweiteilige Strophe in ihrer Urform gelten kaim. In der Verbindung eines solchen Reim paares mit einer reimlosen Zeile (Waise), z. B. dem "kyrie eleison" der sogenannten "Leisen" des Mittelalters, ist schon der Fortschritt zur Dreiteiligkeit deutlich wahrnehmbar. Die Fortentwickelung dieser Urformen der lyrischen Strophe mit ihrem Minimum an sprachlicher Musik zu den umfangreichen strophischen Gebilden der Troubadourgesänge und der italie nischen Kanzonen mit ihren künstlichen Reimverschlingungen mannigfachster Art hat am Prinzip der Zwei- und Dreiteilig keit nichts
zu ändern vermocht.
Nur die Anwendung des
betreffenden Prinzips modifiziert sich natürlich je nach den besonderen Aufgaben, die aus den mannigfachen Gestaltungen beider Strophenarten erwachsen. Als Beispiele für die sprachliche Musik romanischen Charakters greife ich drei Strophenformen heraus, die durch ihre weite Verhreitung in der Literaturwelt sich auszeichnen und beim deutschen Volke, besonders durch den Einfluß der romantischen Schule, nicht nur eine außergewöhnliche Wert schätzung, sondern auch einen gewissen Grad von Volks tümlichkeit sich erworben haben:
die Terzine, die Oktave
und das Sonett. Die T e r z i n e ist in ihrer Vereinzelung ein einfaches, nur durch einen reimlosen Vers getrenntes Reimpaar, also eine dreiteilige Strophe, die mit der
ursprünglichsten
und
einfachsten Form des volkstümlichen Ritornells identisch ist. Sie unterscheidet sich von diesem aber dadurch,
daß sie
nicht zum Einzeldasein bestimmt ist, sondern zur Einfügung in ein längeres Gedichtganzes. Diese Bestimmung verrät sich schon in der Reimlosigkeit des zweiten Verses. Das Fehlen eines Reims
in
einer
sonst
gereimten Strophe
erscheint
nämlich dem verwöhnten Ohre des Italieners als ein Mangel, den es sich - wenigstens in der Kunstpoesie - nur dann gefallen läßt, wenn damit eine besondere Kunstwirkung er-
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zielt wird, wie z. B. im Madrigal. Um ihm bei der Terzine abzuhelfen, bedarf es einer Fortsetzung über die erste Terzine hinaus. So entstand das durch den Reim engverbundene Ganze der Terzinenreihe, in welcher das Fehlen des Reims in der einzelnen Terzine kaum weniger vorwärtsdrängend wirkt, als der Mangel an Symmetrie im Einzelgliede des architektonischen Mäanderornaments; denn wie hier das Auge im folgenden Gliede die Herstellung des im vorhergehenden vermißten Gleichgewichts sucht, so sucht dort das Ohr den in der einen Terzine vermißten Reim in der ihr folgenden. Die dadurch angeregte Bewegung würde schon in der zweiten Terzine zum Stillstande kommen, wenn diese ihren zweiten Vers auf den entsprechenden der ersten reimen ließe; denn dann wäre aus den beiden Terzinen eine einzige sechszeilige Strophe (a b a c b c) geworden, die nichts vermissen läßt und daher nicht zum Fortschritt drängt. Eine solche Strophenform aber würde sich für lyrische Dichtungen besser eignen, als für die epischen und didaktischen, deren Dichter sich in Italien der Terzine zu bedienen pflegen. Für den stetig fortschreitenden Inhalt solcher Dichtungen ist die Terzinenreihe eine weit besser entsprechende Form, als es eine Reihe in sich abgeschlossener Strophen sein könnte, da ihre Reimverschlingung ein Ornament ist, welches nicht minder deutlich als der Mäander eine Vorwärtsbewegung zu symbolischem Ausdruck bringt. Sie ist dadurch entstanden, daß der in der ersten Terzine noch reimlose Vers mit den beiden Reimversen der zweiten durch denselben Reim verbunden wurde; denn da diese nun wieder einen reimlosen Vers enthielt, mußte sie aus demselben Grunde vorwärts drängen, wie die erste. So ging die Bewegung stetig weiter, bis der endlich doch nötige Abschluß zu dem Auskunftsmittel führte, der letzten Terzine einen Vers hinzuzufügen, der ihrem zweiten Verse zu einem Reime verhalf (a b a | b c b | c d c . . . y z y z ) . Durch diese Veränderung verlor die Schlußstrophe zwar allen Anspruch auf den Namen ,,'Terzine", aber nur um so deutlicher war damit der Abschluß des Gedichtganzen zu sprachmusikalischem Ausdruck gekommen. Der Mäander bedarf eines solchen Abschlusses nicht, da er
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in sich selber zurückkehren kann; aber es bietet sich ein anderes architektonisches Analogon für das Endglied der Terzinenreihe. Die Yeränderung nämlich, welche die Voluten der Säulenkapitäle an den Ecken ionischer Peripteraltempel erleiden, dient ebenso gut dem doppelten Zwecke, einen formalen Mangel zu beseitigen und zugleich einen Abschluß zu markieren, wie die Yeränderung, welche die Schlußstrophe einer Terzinenreihe sich gefallen lassen muß. Ähnlich wie die Terzine enthält auch die Oktave in ihrem Bau etwas Unharmonisches und weist dadurch ebenso gut über sich hinaus auf etwas Anderes, von dem die Herstellung der vermißten Harmonie erwartet werden kann. Die ßeimverschlingung (a b | a b | a b || c c) fügt zu drei gleichgebauten und durch gekreuzte Reime untereinander verbundenen Strophengliedern ein selbständiges Reimpaar als viertes hinzu. Die enge Verbindung der drei ersten Strophenglieder untereinander macht die Strophe zu einer zweiteiligen, welche einem sechszeiligen Teile einen zweizeiligen folgen läßt. Das Verhältnis 6 : 2 ist aber erfahrungsgemäß in ästhetischer Beziehung wenig befriedigend. Auf sprachmusikalischem Gebiete wirkt es wie eine Dissonanz, die irgend einer Auflösung bedarf. Eine solche aber kann von einer bloßen Wiederholung derselben Strophenform nicht erwartet worden, da dieselbe Dissonanz sich in jeder folgenden Strophe wiederholt und das Reimpaar, mit dem jede endet, einen so entschiedenen Abschluß bildet, das es — im Gegensatz zur reimlosen Zeile der Terzine — eher ein Hemmnis, als eine Förderung des Fortschritts zur folgenden bedeutet. Die Ausgleichung des Mißverhältnisses zwischen den beiden Teilen kann aber auch schon innerhalb einer und derselben Oktave erfolgen, allerdings nur durch ein Mittel, welches nicht sprachmusikalischer Art ist. Wenn z. B. der im Verhältnis zum ersten Teile allzuleicht wiegende zweite Teil ihrer Form durch ein um so größeres Gewicht seines dichterischen Inhalts für diesen Mangel entschädigt wird, dann ergibt sich aus der gegensätzlichen Gewichtsverteilung zwischen Form und Inhalt eine Gesamtwirkung, die dem Geiste einen Ersatz für das
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bietet, was das Ohr vermißt. Eine solche Ausgleichung findet sich z. B. in der ersten Oktave von Goethes „Zueignung" Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, Daß ich erwacht, aus meiner stillen Hütte Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; Ich freute mich bei einem jeden Schritte Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, Und alles war erquickt, mich zu erquicken.
Die beiden letzten Zeilen enthalten den Inhalt der sechs vorhergehenden in sentenziöser Bündigkeit zusammengefaßt, und da auch der Inhalt der vorhergehenden Verse in ihnen, als dem Schlußgliede der Strophe, noch nachwirkt und dadurch ihren Inhalt zugleich anschaulicher und reicher gestaltet, als er für sich allein ist, erhalten diese beiden Zeilen eine Bedeutsamkeit, die schwer genug wiegt, um den sechs vorhergehenden Yersen das Gegengewicht halten zu können. Um so mehr aber sind sie geeignet, den Fortschritt zur folgenden Strophe zu hemmen, da ihre inhaltliche Bereicherung und Verselbständigung den Hörer zum Verweilen bei ihnen noch mehr veranlassen muß, als es schon durch ihre formale Gestaltung geschieht. Eine solche Behandlung der Oktave ist daher nur dort an ihrem Platze, wo der Vorstellungsverlauf des dichterischen Inhalts eine längere Pause verlangt oder wenigstens gestattet, wie es in der betreffenden Goetheschen Oktave in der Tat der Fall ist. In sprachmelodischer Beziehung viel vollkommener, als die Oktave, und darum für einen lyrischen Inhalt viel geeigneter ist das S o n e t t , wie es sich z.B. in folgendem, von Goethe ausschließlich angewandtem Reimschema darstellt: a b b a | a b b a | | c d e | c d e . Von den vier Gliedern dieses vierzehnzeiligen Ganzen treten je zwei durch die Gemeinsamkeit ihrer Reime in eine engere Verbindung untereinander, so daß das Ganze als zweiteilige Strophe erscheint. Dem achtzeiligen Anfangsteil folgt ein sechsteiliger Schlußteil. Diese Ungleichheit der beiden Teile entspricht der Verschiedenheit ihrer Funktionen, und ihr quantitatives Verhältnis zu einander (8 : 6) erweist sich als ein in metrischer Beziehung wohl-
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gefälliges schon dadurch, daß es in der Yolkspoesie verschiedener Yölker eine wichtige Rolle spielt. So zeigt z. B. die ebenfalls zweiteilige Strophenform der spanischen Seguidilla in der Gliederung ihrer sieben Yerse das Verhältnis von 4 : 3, welches dem von 8 : 6 mathematisch genau entspricht. Ferner gibt es ein bei den meisten slavischen Völkern, sowie bei den Litauern sehr beliebtes vierzehnsilbiges Versmaß, welches innerhalb der engeren Grenzen eines und desselben Verses wesentlich dieselbe metrische Gliederung zeigt wie das Sonett als strophisches Ganzes. Diese Kunstform bedarf daher in metrischer Beziehung eben so wenig, wie jene volkstümlichen Formen, einer Ausgleichung zwischen seinen beiden Hauptteilen; in melodischer aber erfolgt eine solche dadurch, daß der sechszeilige Schlußteil durch seine Dreireimigkeit eine Ausstattung erhält, die reich genug ist, um ihm dem achtzeiligen, aber nur zweireimigen Anfangsteile gegenüber die sprachmelodische Gleichwertigkeit zu sichern. Natürlich muß die syntaktische und stilistische Gliederung des dichterischen Inhalts auch im Sonett mit der sprachmusikalischen Gliederung der Form im Einklänge stehen, wenn der Gesamteindruck des Ganzen harmonisch sein soll. Damit ist aber nicht gesagt, daß die Grenzen der inhaltlichen und der formalen Einzelglieder überall zusammenfallen müssen. Das harmonische Verhältnis zwischen Form und Inhalt wird durchaus nicht beeinträchtigt, sondern nur um so reicher und lebensvoller gestaltet, wenn z. B. der sprachmusikalischen Zweiteiligkeit eine inhaltliche Dreiteiligkeit zugrunde liegt, oder wenn das Zusammenfallen der syntaktischen und stilistischen Hauptakzente mit den sprachmusikalischen Höhepunkten d. h. den Hebungssilben der Reimwörter vermieden wird. Eine gegenseitige Durchkreuzung der inhaltlichen und der formalen Gliederung bietet dem Dichter dieselben Vorteile vor der Übereinstimmung zwischen ihnen, wie die gekreuzte Reimverschlingung gegenüber den aneinander gereihten Reimpaaren. Wie in den letzteren jedes einzelne Reimpaar durch seine Absonderung von den andern den Eindruck eines nicht nur relativ, sondern absolut selbständigen sprachmusikalischen Ganzen macht, so erscheint
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im Sonett jedes strophische Glied, an dessen sprachmusikalischem Schlüsse ein syntaktischer oder stilistischer Ruhepunkt eintritt, von den übrigen Gliedern so entschieden getrennt, daß es den Eindruck einer selbständigen Strophe macht; und wo dies bei allen vier Gliedern durchgeführt ist, da erscheint das Sonett nicht mehr als eine viergliedrige Strophe, sondern als ein vierstrophiges Gedicht, in welchem je zwei Strophen durch gemeinsame Reime mit einander verbunden sind. Das ist z. B. bei folgendem Sonett von Goethe der Fall: Am jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen, Und alles aus ist mit dem Erdenleben, Sind wir verpflichtet, Rechenschaft zu geben Von jedem Wort, das unnütz uns entfallen. Wie wird's nun werden mit den Worten allen, In welchen ich so liebevoll mein Streben Um deine Gunst dir an den Tag gegeben, Wenn diese bloß an deinem Ohr verhallen? Darum bedenk', o Liebchen! Dein Gewissen, Bedenk' im Ernst, wie lange Du gezaudert, Daß nicht der Welt solch Leiden widerfahre. Werd' ich berechnen und entschuld'gen müssen, Was alles unnütz ich vor Dir geplaudert, So wird der jüngste Tag zum vollen Jahre.
Eine solche Behandlung des Sonetts ist vielleicht nicht die denkbar vollkommenste, jedenfalls aber die dem -Wesen der deutschen Sprache denkbar gemäßeste, sofern sie mit der rhythmischen Gliederung des deutschen Yerses im Gegensatz zu der des italienischen prinzipiell übereinstimmt; denn auch im deutschen Verse ist die verhältnismäßig scharfe gegenseitige Abgrenzung der Einzelglieder nur eine Folge des Zusammenfallens und Zusammenwirkens der inhaltlichen Gliederung mit der formalen, wie es schon im einzelnen deutschen "Worte zutage tritt, wenn es mehr als eine einzige Silbe enthält. Auch italienische Dichter streben nur ausnahmsweise nach einer engeren Verbindung der vier Glieder des Sonetts durch die gegenseitige Durchkreuzung der inhaltlichen und der formalen Gliedernng, obgleich diese dem Wesen des italienischen Verses mit seinem "Widerstreit zwischen den musikalischen Forderungen des Rhythmus und den sprach-
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liehen des italienischen Wortakzents viel näher zu liegen scheint. Es zeigt sich aber hier recht deutlich, daß die ästhetische Wirkung dieses Widerstreits, so anziehend sie im einzelnen Falle sich gestalten mag, im allgemeinen nicht sowohl eine beabsichtigte Kunstwirkung ist, als vielmehr nur ein natürliches Ergebnis des Widerstandes, den die italienische Sprache den Forderungen der rhythmischen Formenstrenge entgegenstellt; denn wo dieser Widerstand so leicht und vollständig überwunden werden kann, wie bei der gegenseitigen Abgrenzung der vier Glieder des Sonetts, da wird offenbar, daß dem italienischen Dichter — allgemein genommen — die Strenge der Kunstform nicht weniger erstrebenswert erscheint, als dem deutschen. Daher stimmt das Goethesche Sonett in bezug auf die Abgrenzung seiner vier Glieder mit seinen italienischen Vorbildern viel mehr überein, als die Verschiedenheit der betreffenden Sprachen erwarten läßt. Aber der Unterschied zwischen dem deutschen und dem italienischen Versrhythmus ist allein schon genügend, um einen wesentlichen Unterschied zwischen dem deutschen und dem italienischen Sonett in bezug auf ihren sprachmusikalischen Charakter zu bewirken; Durch den Eeiz des Pikanten und doch zugleich unbefangen Natürlichen, dessen» der italienische Vers mit der spielerischen Freiheit seines Rhythmus fähig ist, würde der schalkhafte Inhalt des angeführten Sonetts vielleicht unmittelbarer zum Ausdruck gelangen können, als durch den gewichtigen Ernst der Vortragsweise, die dem strengeren deutschen Versrhythmus zunächst liegt, ob aber auch wirksamer? Diese Frage läßt sich wohl zugleich mit der allgemeineren beantworten, ob die Komik eines Scherzes besser dann zur Geltung kommt, wenn er mit lachendem Munde, oder dann, wenn er mit ernster Miene vorgetragen wird. Der Kontrast zwischen der Komik des Scherzes und dem Ernste seiner Vortragsweise scheint mir eher geeignet, die Wirkung der Komik zu unterstützen, als sie zu beeinträchtigen. Wie die Form des Sonetts, so hat Goethe noch viele andere Dichtungsformen der Fremde entlehnt. Er eignete sich aber von Fremdem nur das an, was seinem eigenen
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Wesen in einem gewissen Sinne und Grade gemäß war. Dies aber war dem Wesen des deutschen Volkes und der deutschen Sprache nicht minder gemäß; denn was er einmal über Yoltaire gesagt hat — daß sich in diesem die poetischen Kräfte der Franzosen vereinigten —, läßt sich auf ihn selbst in seinem Verhältnis zum deutschen Volke anwenden. So war er auch in seinem literarischen Kosmopolitismus, der ihm den Gedanken an eine künftige „Welt-* literatur" eingab, ein typischer Deutscher. Zur Verwirklichung dieses Gedankens ist in der Tat von seiten des deutschen Volks am meisten geschehn. Goethe aber hat, einer Anregung Herders folgend, nicht nur den Weg dazu gewiesen, sondern ist auch ein gutes Stück dieses Weges seinen dichtenden Volksgenossen vorangegangen. Wie die Kunstpoesie der europäischen und asiatischen Kulturnationen, so mußte auch die schlichte Volkspoesie von Naturvölkern ihm Vorbilder für seine eigene Dichtung liefern; aber er hat diese nicht sklavisch nachgeahmt, sondern so weit zu verdeutschen vermocht, daß sie für seine Volksgenossen bis zu einem gewissen Grade den Reiz des Anheimelnden gewinnen konnten, ohne dabei den Reiz des Fremdartigen völlig einzubüßen. So viel er aber auch von seinem geistigen Eigentum in diese Nachbildungen fremdländischer Poesie hinein gelegt hat, selbst die hervorragendsten unter ihnen gehören ebensowenig zu seinen besten, wie zu seinen eigensten Werken. Vielmehr ist ihm in sprachmusikalischer, wie in dichterischer Hinsicht am besten gelungen, was in seinem und damit im deutschen Wesen selbst seinen Ursprung hatte: die Gefühlslyrik des deutschen Liedes in seinen volkstümlich einfachen Eormen. Diese gewannen unter seinen Kiinstlerhänden einen melodischen Reiz, dessen Wirkungen sich den weitesten Kreisen des deutschen Volkes offenbart haben, dessen Ursachen aber auch dem engsten Kreise seiner Verehrer ein kaum geahntes Geheimnis geblieben sind. Dies ist nicht zum Verwundern, denn je einfacher eine Kunstform ist, und je unmittelbarer ihre ästhetische Wirkung sich fühlbar macht, um so leichter bleibt dem nüchtern beobachtenden und urteilenden Verstände verborgen, was an
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Kunst in ihr steckt. In den Liedern Goethes verbirgt sich seine persönliche Kunst so tief hinter alledem, was an der deutschen Liedform als ästhetisch wirksam längst anerkannt ist, daß sie dem Dichter selbst schwerlich zu klarem Bewußt sein gekommen sein kann. Es war dies glücklicher Weise auch nicht nötig. Sein genialer dichterischer Instinkt und sein sprachmusikalisch geübtes Gehör führten ihn sicherer, als das bewußte Streben nach bestimmten Kunstwirkungen und die wohlüberlegte Auswahl der dazu geeigneten Mittel gerade in dieser Dichtungsgattung es hätten tun können. Der Reiz naiver Unmittelbarkeit, der für die Wirkung des volkstümlich deutschen Liedes die allerwesentlichste Bedeutung hat, geht nur allzuleicht da verloren, wo diese Wirkung absichtlich erstrebt wird. Dem Theoretiker wird es leichter, als dem schaffenden Künstler, die Mittel, die dieser verwendet, und die Wirkungen, die er mit ihnen erreicht, sich zum Bewußtsein zu bringen, weil die Theorie einer Kunst deren Praxis bereits voraussetzt. Wenn wir erfahren wollen, wie sich die Praxis Goethes in bezug auf das sprachmelodische Element seiner Lieder gestaltet hat, so müssen wir das Material, aus dem er es erbaut hat, näher als bisher betrachten. Es besteht zunächst aus den stark betonten Vokalen der Eeimsilben. In ihrer idealsten Gestalt, d. h. als r e i n e Vokale, bilden diese sprachmusikalisch wirksamsten Laute zusammen eine Skala, die von dem dunkelsten Vokal u bis zum hellsten i in regelmäßigen Intervallen folgendermaßen aufsteigt: u, o, a, e, i. In der Mitte steht der Vokalissimus a, der reinste, singbarste und wohllautendste unter allen. Das o bezeichnet eine Aufhellung des u, das e eine Verdunkelung des i. Die Analogie dieser Lautfarben mit den optischen Farben des Spektrums wird in ihrer Allgemeinheit vielfach empfunden und ist oft hervorgehoben worden; aber bei ihrer Durchführung im einzelnen sind so große Differenzen zutage getreten, daß eine Theorie, die auf objektive Giltigkeit Anspruch macht, mit ihr nichts anfangen kann, oder wenigstens nicht mehr, als mit der Analogie zwischen dem Sichtbaren und bem Hörbaren überhaupt.
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Anders verhält es sich mit der Bedeutung der vokalischen Lautfarben als ursprünglicher, d.h. entweder ursprachlicher oder vorsprechlicher Äußerungen menschlichen Seelenlebens. Alle die aufgezählten Yokallaute haben nämlich in ihrer Vereinzelung die Bedeutung von Interjektionen, und zwar zum Teil in übereinstimmendem Sinne bei den verschiedensten, nach Abstammung, Sprache und "Wohnort weit von einander getrennten Völkern. Im Zusammenhange mit den übrigen Lauten, mit denen sie sich zum Ganzen des "Wortes, des Satzes usw. verbinden, geht ihnen allerdings diese interjektionale Bedeutung verloren, aber vollständig nur in der Prosarede, da diese ihren verstandesmäßigen Hauptzweck nur dann erreichen kann, wenn sie die Gefühlsbestimmtheit des einzelnen Lautes zugunsten der Begriffsbestimmtheit des "Wortes möglichst unterdrückt, d. h. unter die Schwelle des Bewußtseins hinabdrückt. In der Prosa aber, namentlich in der Lyrik, ist vielfach das Umgekehrte der Fall, da dem ästhetischen Zweck der Poesie die Gefühlsbestimmtheit ihres Materials besser zu dienen vermag, als dessen Begriffsbestimmtheit. Die Poesie als Kunst aber kann sich nicht in interjektionalen Naturlauten allein ergehn. Ihr Material ist ebensogut, wie das der Prosa, die ausgebildete "Wortsprache; aber innerhalb dieser bringt sie die einzelnen Laute, aus denen die "Wörter der Sprache zusammengesetzt sind, wieder mehr zur Geltung, und zwar nicht bloß in bezug auf ihren sinnlichen Klang, sonderü auch in bezug auf ihre unsprüngliche, d. h. interjektionale Bedeutung. Ermöglicht oder wenigstens erleichtert wird ihr das durch Rhythmus und Reim, die den verstandesmäßigen Zusammenhang der Wörter und Sätze bis zu einem gewissen Grade aufheben, um deren Urelemente, die einzelnen Laute, in einen neuen Zusammenhang gefühlsmäßiger Art zu bringen. Da können dann diese Elemente ihre in der Prosarede unterdrückte Gefühlsbestimmtheit wenigstens als Gefühlsbetontheit wieder zur Geltung bringen. Daß dieses in der Goetheschen Lyrik vielfach geschieht und daß es zu deren ästhetischer Wirkung nicht wenig beiträgt, ist längst anerkannt und von den Kommentatoren der betreffenden Dichtungen genügend hervorgehoben
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worden. Die Gefühlsbetontheit der Laute kommt aber nur dem Inhalt dieser Dichtungen zugute; ihre Wirkung ist daher wesentlich dichterischer, nicht musikalischer Art im spezifischen Sinne dieses Worts. Sie hängt allerdings mit der sprachmusikalischen Wirkung, die von denselben Lauten ausgeht, so eng zusammen, daß sie sich nur in der Theorie von ihr trennen läßt; in dieser aber ist eine solche Trennung notwendig, wenn das spezifische Wesen des sprachmelodischen Elements der Dichtung erkannt werden soll. Außer den einfachen Yokalen werden auch D i p h t h o n g e für sprachmelodische Wirkungen verwertet. Man kann sie mit den Akkorden der Tonmusik vergleichen, aber wegen des sukzessiven Erklingens der beiden, unter der Herrschaft desselben Silbenakzents vereinigten Yokale, nur mit den gebrochenen Akkorden. Im Deutschen ist ihre Zahl auf fünf beschränkt: ai, au, eu, ei, ui. Von diesen kommt der Diphthong ui so selten vor, daß man von ihm ganz absehen kann, und den ebenfalls seltenen Diphthong ai läßt Goethe und mit ihm die meisten deutschen Dichter unbedenklich mit ei und eu reimen, so daß sich die Zahl der für den Reim in Betracht kommenden deutschen Diphthonge eigentlich nur auf zwei beschränkt. Auch die sogenannten U m l a u t s v o k a l e ä, ö, ü vergrößern die Zahl der hier in Betracht kommenden Laute nicht, denn ä und ö reimen auf e, welches von ä kaum anders, als bloß graphisch verschieden ist; und zwischen i und ü macht der Reim auch keinen Unterschied. So beträgt die Zahl der vokalischen Laute, die für den deutschen Reim verwandt werden, eigentlich nur sieben, nämlich die fünf einfachen: i (ü), e (a, ö), a, o, u und die zwei doppelten: ei (ai, eu), au. Die Klangfarben dieser sieben vokalischen Laute erscheinen in deren Stellvertretern (ü, ä, ö, ai, eu) allerdings modifiziert; aber auch die mit ihnen zu einer Silbe vereinigten Konsonanten, sowie der in bezug auf Länge, Stärke und Höhe verschiedene Silbenton bewirken kaum minder bemerkbare Modifikationen, so daß man die Zahl der vokalischen Laute bis ins Unendliche vermehren könnte, wenn alle
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überhaupt denkbaren Modifikationen der Klangfarben ästhetisch in Betracht kämen. Allerdings leidet die Reinheit des Reimes darunter, wenn statt des gleichen Vokallauts nur ein ähnlicher wiederkehrt, aber so lange die Ähnlichkeit noch wahrnehmbar ist, so lange ist auch Harmonie der Reimsilben und damit genügender Anlaß zu ästhetischer Befriedigung vorhanden. "Wenn auch der Grad dieser Harmonie bei einem reinen Reime natürlich größer sein muß, als bei einem unreinen, so kann doch auch schon ein geringer Grad desselben in kunstvoller Weise verwertet werden, z. B. durch einen gesetzmäßigen "Wechsel zwischen reinen und unreinen Reimen. Aber auch schon der völlig regellose Wechsel zwischen ihnen oder die ausschließliche Anwendung unreiner Reime kann durch Steigerung des Reizes der Mannigfaltigkeit eine befriedigende Wirkung haben, wenn durch andere Mittel für genügende Einheitlichkeit gesorgt wird. Dasselbe gilt auch von den meisten übrigen Arten schwächer wirkender Reime und Gleichklänge. Dem V o l l r e i m , in welchem außer dem Tonvokal auch die diesem folgenden konsonantischen und vokalischen Laute übereinstimmen, kommt der rein vokalische Gleichklang, die A s s o n a n z , in der Wirkung am nächsten. Sie kann, gleich ihm, sowohl einsilbig als zweisilbig sein, während die All i t e r a t i o n immer nur einsilbig ist. Diese letztere Art des Gleichklangs ist von den beiden andern so sehr verschieden, daß sie sich mit ihnen nicht zu einer einheitlichen Wirksamkeit sprachmelodischer Art verbinden läßt. Nur eine von aller selbständigen Beobachtung unbeeinflußte philosophisch-ästhetische Konstruktion konnte den Vollreim als Synthese von Assonanz und Alliteration betrachten. Wo der rein konsonantische Gleichklang innerhalb einer vollreimenden oder assonierenden Dichtung vorkommt, dient er nur dazu, verwandte oder sonst irgendwie korrespondierende Vorstellungen mit einander auch formell in Beziehung zu bringen, so daß seine ästhetische Wirkung weit mehr auf seiner Bedeutsamkeit f ü r den dichterischen Inhalt, als auf seiner Klangfärbung beruht. Wo er aber, wie in der altgermanischen Poesie und in den Stabreimen-
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den Versuchen moderner Dichter als regelndes Formprinzip auftritt, da geht seine Funktion so gut wie ganz in der Unterstützung des Rhythmus auf. Zu den schwächer wirkenden Gleichklängen gehört auch der, welcher einen einsilbigen und einen zweisilbigen Wortoder Yersschluß durch die Gleichheit ihres Tonvokals mit einander verbindet; aber als vokalischer Gleichklang fällt er immer noch weit mehr ins Ohr, als die Alliteration, und kommt daher in viel höherem Grade, als diese für sprachmelodische Wirkungen in Betracht. Ich will ihn „ H a l b a s s o n a n z " nennen. Alle diese Arten von Gleichklängen spielen, einzeln genommen, in Goethes Lyrik keine andere Eolle, als die, welche sie schon im deutschen Yolksliede spielen. Aber ihre verschiedenen Rollen sind in jener so verteilt, daß sie durch ihr Zusammenspiel dem Wohlklang des Ganzen in außergewöhnlichem Grade zu dienen imstande sind, ohne die symbolische Bedeutsamkeit der durch den Gleichklang verbundenen Laute irgendwie zu beeinträchtigen. Um das Zusammenwirken der einzelnen Gleichklänge zu einem spfachmelodischen Ganzen zu deutlicher Anschauung zu bringen, versuche ich eine graphische Darstellung, in welcher die Hebungsvokale der Versschlüsse des betreffenden Gedichts in einer Reihe zusammengestellt, die einzelnen Strophen durch vertikale Striche von einander geschieden und, wo zweisilbige Yersschlüsse mit einsilbigen wechseln, die ersteren unterstrichen sind. Den Vollreim deute ich durch einen Giebel ( / \ ) an, dessen Enden über den Hebungsvokalen des Reimes stehen, die A s s o n a n z durch eine Bogenlinie ( n ) und die H a l b a s s o n a n z durch einen punktierten Bogen (/"••). Wo die Yerschlingung der Gleichklänge einer Strophe in einer andern vollständig oder zum Teil wiederkehrt, da sind die einander entsprechenden Teile des Ganzen unterstrichen und durch eine Bogenlinie unterhalb der Reihe verbunden. — Eins der Goetheschen Lieder, deren außergewöhnlicher Wohlklang am allgemeinsten anerkannt ist, ist folgendes:
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An die E n t f e r n t e . So hab' ich wirklich dich verloren? Bist du, o Schöne, mir entflohn ? Noch klingt in den gewohnten Ohren Ein jedes Wort, ein jeder Ton; So wie des Wandrers Blick am Morgen Vergebens in die Lüfte dringt, Wenn, in dem blauen Raum verborgen, Hoch über ihm die Lerche singt: So dringet ängstlich hin und wieder Durch Feld und Busch und Wald mein Blick; Dich rufen alle meine Lieder; 0 komm, Geliebte, mir zurück!
Die Zusammenstellung der in den Endreimen dieses Liedes enthaltenen Vokale zeigt in der graphischen Darstellung folgende Gestalt:
o
o
o
o
o
i
o
i
i
i
t
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Drei volksliedartig einfache vierzeilige und zweireimige Strophen wachsen in diesem Liede durch verbindende Gleichklänge zu einem Ganzen zusammen, welches in seinen Bndreimen eine fortschreitende Aufhellung der vokalischen Lautfarben vom dunkeln o zum hellen i aufweist. In der ersten Strophe herrscht das o allein; in der zweiten kämpft es mit dem i; in der dritten hat dieses vollständig gesiegt. Daß diese Folge eine symbolische Bedeutung für den Inhalt hat, versteht sich bei Goethe von selbst. Eine der verschiedenen interjektionalen Bedeutungen des o, die eines Ausdrucks der Sehnsucht, und die symbolische Bedeutung des i als eines freundlich lockenden Lautes, sind hier in einer Weise verwertet, die dem unmittelbar gefühlsmäßigen Verständnis leicht zugänglich ist. Für die Gesamtwirkung des Gedichts ist es von großer Bedeutung, daß dessen Gefühlsinhalt nicht nur mittelbar d. h. durch den Vorstellungsinhalt vermittelt, sondern zugleich unmittelbar durch interjektionale Naturlaute zum Ausdruck gelangt, und daß diese gerade in den HebungsQF. cviii.
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vokalen der Reim Wörter enthalten sind; da sie an diesen rhythmisch am meisten bevorzugten Stellen der Yerse natürlich am besten zur Geltung gelangen müssen. Für die sprachmelodische Wirkung, sofern sie innerhalb jener Gesamtwirkung eine relativ selbständige Rolle spielt, kommt aber aus den bereits erörterten Gründen nicht die symbolische Bedeutsamkeit der Reimvokale in Betracht, sondern nur deren sinnlicher Klang. "Wir müssen daher ausschließlich diesem unsere Aufmerksamkeit zuwenden, wenn uns die sprachmelodische Einheitlichkeit des Liedes zu deutlichem Bewußtsein kommen soll. Sie beruht zunächst darauf, daß die Gleichklänge der drei Strophen in gleicher Weise zusammengeordnet sind, wie die einer einzigen dreiteiligen Strophe. Einen höheren Grad von Einheitlichkeit aber, als die bloße Dreiteiligkeit allein schon mit sich bringt, erreicht das Lied dadurch, daß dessen „ungleicher" Teil, d. h. die zweite Strophe, mit jedem der beiden „gleichen" Teile je einen Gleichklang gemein hat, während zugleich innerhalb der letzteren die beiden sich kreuzenden Reime durch je eine Halbassonanz mit einander verbunden sind; und in diesen wird nicht nur hierdurch die Wirksamkeit der für sie charakteristischen Vokale verstärkt, sondern auch dadurch, daß dieselben Vokale in der Schlußhälfte dieser Strophen als Binnenassonanzen wieder auftreten und zwar an Stellen, wo sie besonders stark ins Ohr fallen müssen: Noch klingt in den gewohnten Ohren Ein jedes Wort, ein jeder Ton.
Dich rufen alle meine Lieder 0 komm, Geliebte, mir zurück!
Daß der „ungleiche" Teil des Liedes zugleich der mittlere ist, während er in der dreiteiligen Strophenform meist an anderer Stelle steht, hat seinen guten Grund in der Vermittlerrolle, die er hier zu spielen hat; denn der Ausgleich des starken lautlichen Gegensatzes zwischen den beiden, nur in bezug auf ihr abstraktes Schema „gleichen" Teilen erfolgt am besten in der Mitte zwischen ihnen, weil nur diese den beiden zu vermittelnden Gegensätzen gleich nahe sein kann. Aber wenn infolgedessen die graphische Darstellung dieser lautlichen Verhältnisse eine vollkommene Symmetrie zeigt,
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so darf uns das über das wahre Wesen ihrer Art von Einheitlichkeit ebensowenig täuschen, wie das Fehlen einer solchen Symmetrie in der graphischen Darstellung anderer, von mir noch vorzuführender Gedichte. Das zeitliche Nacheinander läßt sich eben nur sehr unvollkommen graphisch d. h. durch ein räumliches Nebeneinander darstellen. Ist die sprachliche Musik des Liedes „An die Entfernte" ihrem ganzen "Wesen nach ebenso deutsch, wie dessen Inhalt, so erinnert die des ebenfalls dreistrophigen Gedichtes „Nachg e f ü h l " stärker, als es sonst in Goethes Gefühlslyrik der Fall zu sein pflegt, an romanische Yorbilder. Wenn die Reben wieder blühen, Rühret sich der Wein im Fasse; Wenn die Rosen wieder glühen, Weiß ich nicht, wie mir geschieht. Tränen rinnen von den Wangen, Was ich tue, was ich lasse; Nur ein unbestimmt Verlangen Fühl' ich, das die Brust durchglüht. Und zuletzt muß ich mir sagen, Wenn ich mich bedenk' und fasse, Daß in solchen schönen Tagen Doris einst für mich geglüht.
Daß die enge Verbindung der drei Strophen untereinander hier mit bewußter Absicht durchgeführt ist, geht schon daraus hervor, daß dies nicht durch Assonanzen geschieht, sondern durch Yollreime, von denen zwei in sämtlichen Strophen wiederkehren. Die Einheitlichkeit des sprachmelodischen Ganzen tritt dadurch noch unverkennbarer hervor, wirkt aber auch aufdringlicher als da, wo sie nur durch Assonanzen oder Halbassonanzen vertreten wird, die sich bescheiden hinter den Yollreimen der einzelnen Strophen verbergen. Aber auch hier fehlt es nicht an verbindenden Gleichklängen dieser bescheidenen Art und an einem Verhältnis der drei Strophen zu einander, welches dem der drei Hauptglieder einer dreiteiligen Strophe entspricht. Der leichteren Übersichtlichkeit wegen lasse ich in der graphischen Darstellung die Vollreime unberücksichtigt, da diese sich schon von selbst bemerklich genug zur Geltung bringen.
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Die beiden letzten Strophen entsprechen einander vollständig in bezug auf die Vokale ihrer Versschlüsse. Schon dadurch stellen sie sich als die beiden „gleichen" Teile zur ersten Strophe in einen Gegensatz. Diese aber erscheint außerdem noch dadurch als der „ungleiche" Teil, daß in ihr das Zahlenverhältnis der beiden einzigen Hebungsvokale, welche die Reime des Gedichts aufweisen (3 ü : 1 a) dem der beiden andern Strophen (3 a : 1 ü) entgegengesetzt ist. Und dieser Gegensatz wird noch einigermaßen dadurch verstärkt, daß zur innern Einheitlichkeit der einzelnen Strophen in der ersten nur eine Halbassonanz, in den beiden folgenden aber vollständige Assonanzen beitragen. Unter solchen Umständen kann hier von einer Vermittlerrolle des „ungleichen" Teils natürlich nicht die Rede sein, und es bedarf hier einer solchen auch nicht, da die „gleichen" Teile keinen zu vermittelnden Gegensatz enthalten, wie die des Gedichts „An die Entfernte", und die durchgehenden Reime für die Einheitlichkeit des Ganzen schon mehr als genügend sorgen. Letzteres aber geschieht hier in einer Weise, die im deutschen Volksliede wohl schwerlich jemals vorkommt, im romanischen dagegen sehr gebräuchlich ist. Sie stimmt im Prinzip mit derjenigen überein, welche die einzelnen Strophen einer Terzinenreihe zusammenhält; denn wie in dieser der durchgehende Reim erst in der zweiten Terzine als Reim erkennbar wird, so bleiben im Goetheschen Gedichte die beiden geradzahligen Verse, von denen die beiden durchgehenden Reime getragen werden, in der ersten Strophe noch reimlos und wecken dadurch ein Bedürfnis, welches erst in der zweiten Strophe befriedigt wird. Dadurch erscheint der „ungleiche" Teil mit den beiden „gleichen" in diesem Gedichte noch unauflöslicher verbunden, als im vorher betrachteten, und zwar durch ein Mittel ganz anderer, dem Wesen des volkstümlich deutschen Liedes weit weniger entsprechender Art. In diesem pflegt die einzelne Strophe dem Ganzen gegenüber weit selbständiger dazustehn, als im romanischen,
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und zwar zunächst aus einem inhaltlichen Grunde. Das deutsche Lied enthält nämlich in viel größerem Maße unmittelbare Gefühlslyrik, und bedarf daher einer verstandesmäßigen Verknüpfung seines Vorstellungsinhalts lange nicht in demselben Grade wie das romanische, welches in der Art des Epigramms oder des Dramas nach einem Schlußeffekte zu streben pflegt, und dazu nicht nur einer verständlichen Motivierung der Schritte bedarf, die zu diesem Ziele führen, sondern auch einer möglichst stetigen Steigerung des Interesses. Einem solchen Inhalte aber entspricht am besten eine Form, in welcher die einzelnen Glieder des fortschreitenden Ganzen möglichst enge mit einander verknüpft sind, auf die Gefahr hin, daß darüber die relative Selbständigkeit der Glieder ganz verloren geht. Die Mittel dazu bieten die durchgehenden Reime und die deutliche Markierung des Schlusses als des Endziels, nach welchem das Ganze hinstrebt. Die dadurch erzielte Einheitlichkeit des Gedichtganzen kann aber nur auf Kosten der Mannigfaltigkeit erreicht werden, und das zielbewußte Streben nach einem starken Schlußeffekt kann leicht den Eindruck des Gesuchten und Gekünstelten hervorrufen, wenigstens beim Deutschen, der an eine andere Art von Lyrik gewöhnt ist. Das deutsche Volkslied in seiner typischen Erscheinung reiht nämlich seine einzelnen Strophen einfach aneinander, wie es die mehr vom Gefühl, als vom Verstand und Willen geleitete Vorstellungsverbindung seines Inhalts mit sich bringt, ohne irgend einer eine herrschende Stellung einzuräumen. Dadurch erreicht jede einzelne Strophe eine größere Selbständigkeit, das Liedganze aber eine größere Mannigfaltigkeit, als das romanische Volkslied in seiner typischen Erscheinung zeigt. Natürlich kann das nur auf Kosten der Einheitlichkeit des Ganzen geschehen, und der Mangel an dieser, sowie der mit ihm zusammenhängende Mangel an wohlvorbereiteten und starkwirkenden Effekten kann dann leicht als künstlerischer Mangel unangenehm empfunden werden; aber andrerseits kann gerade die Kunstlosigkeit des deutschen Volksliedes seinem Gefühlsinhalt durch den Eindruck naiver Unmittelbarkeit eine Überzeugungskraft geben, wie sie keiner bewußt schaffenden Kunst erreichbar ist.
Dieser Gegensatz zwischen deutscher und romanischer Volkslyrik trennt natürlich nur die Zentralgebiete beider d. h. diejenigen, in denen ihr typischer Charakter am entschiedensten zur Geltung kommt, durch eine unüberbrückbare Kluft. Seine Schroffheit mildert sich in gleichem Grade mit der Entfernung von diesen Zentralgebieten. Daher ist innerhalb gewisser Grenzen die Vereinigung der Vorzüge und die Vermeidung der Mängel beider Arten von Volkslyrik nicht unerreichbar. Für die Kunstlyrik aber ist eine Versöhnung ihres Gegensatzes schon deshalb erstrebenswert, weil deren Gefühlsinhalt ebensowenig der Überzeugungskraft entbehren kann, wie ihre innere und äußere Form der künstlerischen Gestaltung. Die Kunstlyrik Goethes hat dem Einfluß romanischer, namentlich italienischer Volkslyrik manches zu verdanken, und zwar nicht nur in dichterischer, sondern mehr noch in sprachmusikalischer Beziehung. Nicht überall, wo dieser Einfluß sich bemerkbar macht, wird er dem Dichter selbst zum Bewußtsein gekommen sein; wo dies aber unverkennbar der Fall ist, da hat er nicht immer mit gleichem Erfolge danach gestrebt, die sprachliche Musik seiner romanischen Vorbilder zu verdeutschen. Besonders gut gelungen ist es ihm im „Nachtgesang", den er bekanntlich einem italienischen Volksliede direkt nachgebildet hat. Daß er dazu nur durch die Form dieses Liedes verlockt worden ist, geht daraus hervor, daß der Inhalt seiner Nachbildung ein ganz anderer ist, als der seines Vorbildes, während an dessen Form nur so viel geändert ist, als geeignet erscheint, sie ihrem neuen Inhalt und damit dem Wesen des deutschen Liedes anzupassen. Um die Vergleichung der Nachbildung mit dem Vorbilde zu erleichtern, setze ich beide unmittelbar nebeneinander: Tu sei quel dolce fuoco, L'anima mia sei tu! E degli affetti miei — Dormi, che vuoi di piü? E degli affetti miei Tien le chiavi tu! E di sto cuore hai — Dormi, che vuoi di piü?
0 gieb vom weichen Pfühle, Träumend, ein halb Gehör? Bei meinem Saitenspiele Schlafe, was willst Du mehr? Bei meinem Saitenspiele Segnet der Sterne Heer Die ewigen Gefühle; Schlafe! was willst du mehr ?
55 E di sto cuore hai Tutte le parti tu ! E mi vedrai morire — Dormi, che vuoi di più? E mi vedrai morire Se lo comandi tu! Dormi, bel idol mio — Dormi, che vuoi di più?
Die ewigen Gefühle Heben mich hoch und hehr Aus irdischem Gewühle. Schlafe, was willst du mehr? Vom irdischen Gewühle Trennst du mich nur zu sehr, Bannst mich in diese Kühle. Schlafe! was willst du mehr? Bannst mich in diese Kühle, Giebst nur im Traum Gehör, Ach, auf dem weichen Pfühle Schlafe, was willst du mehr?
Yon den vier Strophen des italienischen Liedes sind die drei ersten unselbständig, weil Sinn und Satz — durch den Refrain unterbrochen — in jeder von ihnen unvollständig bleiben und erst in der folgenden ihre Ergänzung finden. Von den fünf Strophen der Goetheschen Nachbildung dagegen ist jede in sich abgeschlossen; denn Sinn und Satz finden im Refrain ihren Abschluß, wenn sie ihn nicht schon vor ihm gefunden haben, und die gekreuzten Endreime binden die einzelnen Verse fester aneinander, als es die unterbrochenen in den Strophen des italienischen Liedes tun können. Jede der Goetheschen Strophen bildet also, für sich betrachtet, ein nach Inhalt und Form selbständiges Ganzes, welches in nichts einen fremdländischen Einfluß verrat. Dieser macht sich erst in der Art bemerkbar, wie die einzelnen Strophen zum Gedichtganzen verbunden werden. Der Refrain allein würde ihn noch nicht verraten, denn er ist ein internationales Kunstmittel. Auch die Widerkehr des dritten Verses der einen Strophe als erster der folgenden könnte nicht befremden, wenn sie vereinzelt aufträte, denn sie ist im deutschen Volksliede nicht selten; ungebräuchlich in diesem ist nur ihre regelmäßige, durch sämtliche Strophen des Gedichtes durchgeführte Anwendung. Aber auf diese kann ebensowenig, wie der durchgehende Reim hier in demselben Maße befremdend wirken, wie die enge Verbindung sämtlicher Strophen im „Nachgefühl", weil die Selbständigkeit der einzelnen Strophen dabei gewahrt bleibt. Der Reiz des Fremdartigen verbindet sich hier nur mit dem
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Reiz des Anheimelnden zu einer um so mehr befriedigenden Wirkung. Und zu dieser Verbindung trägt nicht wenig der Umstand bei, daß der zweite Endreim, den die deutsche Nachbildung zum einzigen des italienischen Originals hinzufügt, ebensogut der Vereinheitlichung des Gedichtganzen dient, wie der Verselbständigung der einzelnen Strophen; denn auch er ist ein durchgehender Endreim. Allerdings ist der italienische Reim wirksamer, als es einer der beiden deutschen allein sein könnte; denn abgesehen davon, daß er immer rein ist,, sind es immer dieselben Wörter, die in allen Strophen als Reime wiederkehren (tu und piü). Diese stetige Wiederholung übt einen in hohem Grade vereinheitlichenden Einfluß auf das Gedichtganze. Ihre Eintönigkeit aber würde ermüdend wirken, wenn nicht die fortgehende Steigerung des inhaltlichen Interesses das „tu" fortwährend in einen neuen Zusammenhang brächte, bis mit der Versicherung, daß das liebende „Ich" zu sterben bereit sei, falls das geliebte „Du" es befehlen sollte, der erstrebte Schlußeffekt erreicht ist. Dieser aber wird sprachmusikalisch nicht nur durch die Wiederholung des Wortes „Dormi" markiert, sondern auch durch die rhythmische Veränderung, die damit verbunden ist. Sonst nämlich wechselt in sämtlichen Strophen der steigende Rhythmus (im ersten und dritten Verse) mit dem fallenden (im zweiten und vierten Verse) regelmäßig ab; nur die beiden Schlußverse des Ganzen sind infolge der Wiederkehr desselben Wortes an deren Anfang auch in rhythmischer Beziehung einander gleich geworden. Die Goethesche Nachbildung hat denselben rhythmischen Wechsel ebenfalls in den drei ersten Strophen regelmäßig durchgeführt; in der vierten aber ersetzt er ihn durch einen schwachen Anfangsgleichklang (Trennst: Bannst) und im fünften und letzten durch eine mehr inhaltliche, als formale Rückbeziehung auf den Anfang des Gedichts; denn die Verse: „Gibst nur im T r a u m Gehör" und „Ach! auf dem w e i c h e n P f ü h l e " erinnern nur leise, wie unabsichtlich, an die beiden Anfangsverse „0 gib vom w e i c h e n P f ü h l e , T r ä u m e n d , ein halb Gehör!" Aber dies sanfte und allmähliche, durch zwei Strophen sich hinziehende Ausklingen
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entspricht nicht nur der sprachmelodischen, sondern auch der inhaltlichen Bewegung des Goetheschen Liedes besser, als es die kürzere und schärfere Wirkung des Abschlusses tun könnte, den die beiden Schlußverse seines italienischen Vorbildes enthalten; denn während in diesen die sich fortwährend steigernden Beteuerungen der Liebe mit leidenschaftlicher Hast und darum in möglichst gerader Linie auf ihr Ziel losstürmen, fließt die Bewegung in jenem ruhig und zuletzt sogar zögernd dahin, wie es sich für den Ausdruck „ewiger Gefühle" geziemt, die sich von der träumenden Geliebten bis zu „der Sterne Heer" versteigen, um dann resigniert zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren. Durch diese Yerschiedenheit der Bewegung gewinnt selbst der Refrain, der beiden Gedichten gemeinsam ist, in beiden eine verschiedene "Wirkung. Im Italienischen erscheint er als ein Hemmnis der Bewegung, welches übersprungen wird, im deutschen als ein Ruhepunkt, der am Schlüsse jeder Strophe zum Yerweilen einladet. Dem Gesamtcharakter beider Gedichte aber entspricht es gleichermaßen, wenn das italienische sich zuspitzt, wie ein Pfeil, das deutsche sich abrundet, wie ein Ring. Der Einfluß Italiens auf Goethes Lyrik tritt nur ausnahmsweise so unverkennbar hervor, wie im „Nachgefühl" und besonders *im „Nachtgesang"; aber wir dürfen annehmen, daß er überall mitgewirkt hat, wo in einem lyrischen Gedichte Goethes sämtliche Strophen durch Vollreime miteinander verbunden sind, so z. B. in dem Liede „An Mignon", dessen erste Strophe lautet: Über Tal und Fluß getragen, Ziehet rein der Sonne Wagen. Ach, sie regt in ihrem Lauf So wie deine, meine Schmerzen Tief im Herzen Immer morgens wieder auf.
In jeder der fünf Strophen kehrt der Reim „Herzen: Schmerzen" wieder, ebenso wie das „tu : piü" im italienischen Vorbilde des Nachtgesangs. Neben dieser stark wirkenden Verbindung sämtlicher Strophen durch einen identischen
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Reim spielen aber hier auch Assonanzenverbindungen, die natürlich viel schwächer wirken und deshalb leicht unbemerkt bleiben, innerhalb engerer Grenzen eine bescheidene, aber nicht ganz verdienstlose Rolle. Die graphische Darstellung zeigt folgendes Bild:
Die Assonanzen verbinden die erste Strophe mit der dritten, die zweite mit der vierten; die fünfte Strophe allein bleibt einsam, abgesehen von dem identischen Reim, der sie mit allen übrigen Strophen verbindet. Wir können das Ganze als ein dreiteiliges betrachten, in welchem die beiden „gleichen" Teile durch sich kreuzende Assonanzen mit einander verbunden sind, so daß es innerhalb weiterer Grenzen dasselbe Verhältnis seiner Teile zeigt, wie eine Strophe mit der Reimverschlingung a b | a b | | c . Man könnte einwenden, daß durch eine so große Erweiterung dieses Verhältnisses die verbindenden Assonanzen zu weit auseinandergerückt werden, als daß ihr Gleichklang noch wahrnehmbar sein könnte, und es muß zugestanden werden, daß ein für sprachmusikalische Wirkungen außergewöhnlich empfängliches und geübtes Ohr dazu gehört, um ihre Wirkung empfinden zu können; aber wir haben alle Ursache zu der Annahme, daß Goethe solch ein Ohr besessen hat. Die Anwendung des Prinzips der Dreiteiligkeit auf das Ganze mehrstrophiger Gedichte liegt natürlich den zahlreichen dreistrophigen Gedichten Goethes am nächsten, und sie zeigt hier noch andere Kombinationen, als in den Liedern „An die Entfernte" und „Nachgefühl". So hat z. B. die „ V o r k l a g e " („Wie nimmt ein leidenschaftlich Stammeln") folgende Gestalt:
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Der „ungleiche" Teil in der Mitte enthält gekreuzte Keime, die beiden „gleichen" umarmende. Durch Assonanzen ist aber jeder von diesen letzteren mit dem „ungleichen Teile" verbunden. Das Gedicht „An L i n a " („Liebchen, kommen diese Lieder") zeigt keine Yerschiedenheit seiner Strophen in bezug auf das Schema der Reimverschlingung.
e a. d ay Hier bildet die erste Strophe den ungleichen Teil; denn sie ist mit jeder der beiden folgenden Strophen durch je eine Assonanz verbunden, während die beiden andern keine unmittelbare Verbindung untereinander aufweisen. Eine gegenseitige Durchkreuzung von zwei verschiedenen Arten der Dreiteiligkeit zeigt das Gedicht „Beherzigung". Ach, was soll der Mensch verlangen? Ist es besser, ruhig bleiben, Klammernd fest sich anzuhangen? Ist es besser, sich zu treiben? Soll er sich ein Häuschen bauen? Soll er unter Zelten leben? Soll er auf die Felsen trauen? Selbst die festen Felsen beben. Eines schickt sich nicht für alle! Sehe jeder, wie er's treibe, Sehe jeder, wo er bleibe, Und wer steht, daß er nicht falle!
In bezug auf die Reimstellung bildet die dritte Strophe den „ungleichen" Teil, in bezug auf die Lautfarben der Reimvokale die zweite.
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Die Stellung des ungleichen Teils ist in beiden Arten der Dreiteilung durch den Inhalt bestimmt. Die beiden
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ersten, gekreuzt reimenden Strophen haben auch das mit einander gemein, daß sie die Frage stellen, die in der dritten umarmend reimenden beantwortet wird. Dagegen stellt sich diese der ersten nicht nur durch die Gleichheit ihrer vokalischen Lautfarben näher, als der zweiten, sondern auch dadurch, daß sie sich direkt nur auf die in ihr enthaltene Frage bezieht, während die Frage der zweiten Strophe, die bloß eine versinnlichende Ausführung des in der ersten Strophe schon Gesagten enthalten, eine direkte Bezugnahme von Seiten der Antwort nicht beansprucht. So erweitert Goethe die Bedeutsamkeit des Reimes, wie sie anerkanntermaßen, weil unverkennbar in den einzelnen Versen seiner Gedichte hervortritt, zur Bedeutsamkeit der Reimverschlingungen ganzer Strophen. Hier wie dort wird, was innerlich zusammengehört, durch äußerliche Übereinstimmung auch für die sinnliche Wahrnehmung als zusammengehörig gekennzeichnet. Dies aber ist echt deutsche Art und Kunst, da es im Prinzip mit der ursprünglichsten germanischen Dichtung übereinstimmt, nur daß Goethe statt des unmelodischen Stabreims alle Arten vokalischer Gleichklänge zu einem sprachmelodischen Ganzen vereinigt, welches dem entsprechend gegliederten dichterischen Inhalt nur um so vollkommener zu dienen imstande ist. Es versteht sich von selbst, daß Liedern mit gerader Strophenzahl die zweiteilige Anordnung der Reim vokale näher liegt, als die dreiteilige. Als Beispiel mag das Gedicht: „Mit e i n e m g e m a l t e n Band" (Kleine Blumen, kleine Blätter) dienen:
Strophe 1 und 3, Strophe 2 und 4 sind durch die Assonanz der zweisilbigen Versschlüsse, Strophe 1 und 4 durch die der einsilbigen aufeinander bezogen. Das Gedicht ist in einer älteren, inhaltlich vollständigeren Gestalt fünf-
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strophig und die Hebungsvokale seiner Endreime zeigen in ihrem Zusammen folgende Gestalt:
/XX Die neu hinzutretende vierte Strophe bringt keine neuen Vokale, sondern wiederholt nur die der zweiten Strophe, so daß diese beiden Strophen in noch engerer Beziehung zu einander stehen, als Strophe 1 und 3. Aber Strophe 1 ist auch mit Strophe 5 und diese zugleich mit Strophe 2 und 4 verbunden. So sind sämtliche Strophen durch eine doppelte Assonanzenverbindung miteinander verknüpft, bis auf die dritte, die nur eine einfache aufweisen kann. Soll das Gedichtganze als dreiteilig aufgefaßt werden, dann kann nur diese, verhältnismäßig am meisten isolierte, als der ungleiche Teil gelten. Daß in der zweiten Hälfte dieser Strophe das sonst alles verbindende Gewebe der Assonanzenverschlingung unterbrochen wird, findet im Inhalt seine genügende Motierung; denn hier findet ein schroffer Übergang statt. Mit den Worten: „Einen Kuß! geliebtes Leben" redet der Dichter hier direkt die Geliebte an, während er sich früher nur in der Vorstellung mit ihr beschäftigt hat. Aber für sich allein betrachtet zeigt die sprachliche Melodie dieser älteren Version des Gedichts trotz ihres größeren Reichtums an Assonanzenverbindungen eine weniger vollständige, deutliche und überzeugende Gesetzmäßigkeit, als die jüngere, und es ist nicht unmöglich, daß dies der Grund gewesen ist, weshalb der Dichter sich endgültig für diese entschieden hat. Sechsötrophige Gedichte haben den Vorteil, daß ihnen die Dreiteiligkeit eben so nahe liegt, wie die Zweiteiligkeit. In dem Gedichte „Gegenwart" („Alles kündet dich an!") hat Goethe von diesem Vorteil Gebrauch gemacht. Es ist reimlos, und dieser Umstand kommt seinen Assonanzenverbindungen insofern zugute, als sie hier leichter als in gereimten Gedichten zur Geltung kommen können.
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Das Ganze ist zunächst zweiteilig, jede der beiden Hälften aber dreiteilig mit dem ungleichen Teile in der Mitte. Die gleichen Teile sind hier nur in der Anordnung, nicht in der Qualität der Vokale einander gleich; dafür aber sind die beiden Hälften des Ganzen durch die völlige Gleichheit ihrer Anfangsglieder um so enger mit einander verbunden. Auch die einzelnen Strophen sind dreiteilig, und zwar in doppeltem Sinne d. h. nicht nur metrisch dadurch, daß in jeder ein klingender Yersschluß von zwei stumpfen umschlossen wird, sondern auch lautlich dadurch, daß jede zwei gleiche Vokallaute und einen ungleichen enthält. Beide Arten der Dreiteiligkeit decken sich in der ersten und dritten, sowie in der vierten und sechsten Strophe, während sie in der zweiten und fünften einander durchkreuzen. Die beiden letzteren bilden infolgedessen die „ungleichen" Teile innerhalb der beiden dreiteiligen Hälften des Gedichts. In den beiden letzten Strophen häufen sich die Gleichklänge nicht nur, sondern verstärken sich zugleich, indem an Stelle der Assonanz einmal ausnahmsweise der Vollreim tritt, um den Anfang der letzten Strophe mit dem Ende der vorletzten zu verbinden. Dadurch erhalten diese beiden Strophen eine Bevorzugung, die ihrer Bedeutung als des Schlußgliedes nicht bloß der dreiteiligen zweiten Hälfte, sondern zugleich des sechsstrophigen Ganzen entspricht. Alle diese Gesetzmäßigkeiten sind mit denen durchaus gleichartig, die ich in den früher von mir angeführten Gedichten hervorgehoben habe. Sie stimmen also gleich diesen im Prinzip mit derjenigen Gesetzmäßigkeit überein, welcher die Reimverschlingung einer zwei- oder dreiteiligen Strophe ihre befriedigende "Wirkung auf das Ohr verdankt. Daraus folgt mit Notwendigkeit, daß sie in gleicher Art wirken müssen, wie diese, wenn auch natürlich nicht in gleichem Grade, da die Assonanz, und besonders die deutsche, viel
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schwächer wirkt, als der Vollreim. Diese Wirkung aber kann sich bei dem überhaupt für sie Empfänglichen auch dann noch geltend machen, wenn sie ihm nicht zum Bewußtsein kommt, da das ästhetische Gefühl nicht notwendig der Vermittelung durch das Bewußtsein bedarf, sondern auch durch den unmittelbaren Sinneseindruck gesetzmäßiger Formvorhältnisse geweckt werden kann. Außer den gesetzmäßig angeordneten Assonanzen enthalten aber die Yersschlüsse des Gedichts „Gegenwart" noch andere, unregelmäßig verteilte Gleichklänge, welche die erste Strophe mit der zweiten, die dritte mit der fünften, die vierte mit der sechsten verbindet. Sie bilden einen sprachmnsikalischen Überfluß, der zwar wegen seines Mangels an selbständiger Gesetzmäßigkeit noch schwächer wirkt, als die gesetzmäßig angeordneten Assonanzen, aber dadurch, daß er sich ihnen unterordnet, immerhin geeignet ist, sie in ihrer Wirkung zu unterstützen. Dagegen wäre die Unterbrechung der gesetzmäßigen Anordnung ein Mangel, der auf ein empfindliches Ohr entschieden störend wirken müßte. Eine ältere Version des Gedichts enthält in der Tat eine solche Unterbrechung. Hier lassen die Versschlüsse der dritten Strophe die drei ungleichen Vokale o i e aufeinander folgen, welche das Gesetz der Dreiteiligkeit verletzen, während an der entsprechenden Stelle der jüngeren Version die Vokale e i e es befolgen. Durch diese Unterbrechung seines gesetzmäßigen Zusammenhalts gerät der ganze, sonst so kunstvolle Bau der sprachlichen Melodie ins Wanken. Ich halte es daher für sehr wahrscheinlich, daß dieser Umstand die hauptsächlichste, wenn nicht die ausschließliche Ursache gewesen ist, die den Dichter zur Abänderung der betreffenden Strophe veranlaßt hat. In seiner Form ist dieses Gedicht einem andern von W. F. Ueltzen nachgebildet, welches mehr um seiner tonmusikalischen Begleitung, als um seiner selbst willen die Beachtung Goethes fand. In der Ausgabe der Goetheschen Gedichte von Fr. Strehlke, der einzigen, die ich augenblicklich zur Hand habe, finde ich das Gedicht nach K. Goedeke („Elf Bücher deutscher Dichtung") mitgeteilt. Die Schreibung,
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die der Herausgeber wahrscheinlich seiner nächsten Quelle entnommen hat, teilt die Verse des Gedichts in einer Weise ab, welche seine befremdliche Behauptung erklärlich erscheinen läßt, daß es in bezug auf das Versmaß nicht mit dem Goetheschen Gedichte übereinstimme. Ich erlaube mir daher eine Schreibung, welche die Verse so abteilt, daß die metrische Übereinstimmung beider Gedichte, die ich ihrem vollen Umfange nach nebeneinander setze, sich dem Auge ebenso leicht verraten kann, wie dem Ohre. Alles kündet dich an! Erscheint die herrliche Sonne, Folgst du, so hoff' ich es, bald. Trittst du im Garten hervor, So bist du die Rose der Rosen, Lilie der Lilien zugleich. Wenn du im Tanze dich regst, So regen sich alle Gestirne Mit dir und um dich umher. Nacht, und so wär' es den Nacht! Nun übersteigst du des Mondes, Liebchen, ladenden Glanz. Ladend und lieblich bist du, Und Blumen, Mond und Gestirne Huldigen, Sonne, nur dir. Sonne, so sei du auch mir Die Schöpferin herrlicher Tage! Leben und Ewigkeit ist's.
Namen nennen dich nicht, Doch bilden Griffel und Pinsel Sterblicher Künstler nicht nach. Lieder singen dich nicht. Sie alle reden wie Nachhall Fernester Zeiten von dir. Wie du lebest und bist, So trag' ich einzig im Herzen, Theuerstes Mädchen, dein Bild. Wäre Herzensempfindung Hörbar, jeder Gedanke Würde dann Hymnus von dir. Lieben kann ich dich nur, Die Lieder, wie ich die liebe, Spar' ich der Ewigkeit auf.
Mit Recht tadelt Goethe an dem Ueltzenschen Gedichte die vielen Negationen und Verheimlichungen als unlyrisch. Auch sein eigenes, ihm nachgebildetes Gedicht gehört nicht gerade zu den in spezifisch dichterischer Beziehung hervorragendsten unter seinen lyrischen Dichtungen. Aber daß es seiner sprachmelodischen Gestaltung nach in hohem Grade kunstvoll ist, dürfte schon das bisher darüber Gesagte zur Genüge dargetan haben. Wie verhält es sich nun in dieser Beziehung mit dem Ueltzenschen Gedichte?
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Wenn für die künstlerische Gestaltung einer sprachmusikalischen Melodie nur die Zahl der in ihr vorhandenen Gleichklänge in Betracht käme, so würde das Ueltzensche Gedicht nicht allzu weit hinter dem Goetheschen zurückbleiben, aber es kommt für sie vor allem auf die Gesetzm ä ß i g k e i t in der Anordnung der Gleichklänge an, und eine solche findet sich bei jenem nur in einzelnen Gliedern, nicht aber in seinem Ganzen. Dieses läßt sich nämlich weder als zweiteilig noch als dreiteilig auffassen. Die drei mittleren Strophen sind so eng miteinander verbunden, daß sie zusammen als ein dreiteiliges Ganzes gelten könnten, wenn sie allein stünden. Allerdings sind sie auch mit der ersten und der fünften Strophe durch Halbassonanzen verbunden; aber diese Verbindung ist so locker, daß sie mehr den Eindruck einer mechanischen als einer organischen macht, denn da die Anfangs- und die Schlußstrophe einander ungleich sind, so können sie nicht mit dem dreistrophigen Mittelgliede zu einem dreiteiligen Ganzen zusammenwachsen. Sie erscheinen daher nur als tote Anhängsel, nicht als lebendige Glieder an dessen Leibe. Die einzelnen Strophen sind, für sich betrachtet, allerdings dreiteilig, die vier ersten sogar in demselben doppelten Sinne, wie die des Goetheschen Gedichts; aber die Schlußstrophe, die in diesem die ihr gebührende Auszeichnung erfährt, ist im Ueltzenschen Gedichte gerade am stiefmütterlichsten behandelt, da ihre Yersschlüsse durch keinen Gleichklang mit einander verbunden sind; und die vorletzte Strophe, die in jenem durch ihre enge Verbindung mit der Schlußstrophe fähig wird, sich an deren Punktion als Endglied zu beteiligen, enthält in diesem eine metrische Unregelmäßigkeit, die an der oben erwähnten falschen Abteilung der Verse wahrscheinlich die Hauptschuld trägt. Ihr erster Vers hat nämlich eine Silbe zu viel, ihr zweiter eine zu wenig. Infolge dessen muß sie sich mit einer Halbassonanz begnügen, wo die ihr durchaus entsprechende zweite Strophe eine Vollassonanz hat. Alle diese Abweichungen von der sprachmusikalischen Gesetzmäßigkeit können durch die tonmusikalische Begleitung leicht verdeckt werden, und auch bei rezitatorischem Vortrage QF. CVIII.
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würden sie nicht als Mängel empfunden werden können, wenn sie durch den dichterischen Inhalt motiviert oder sonst irgendwie ausgeglichen wären; aber abgesehen davon, daß das nicht der Fall ist, würde dadurch nur der Gesamteindruck des Gedichtes ästhetisch gewinnen, nicht aber der Eindruck seiner sprachmelodischen Gestaltung in ihrer relativen Selbständigkeit. Durchaus anders verhält es sich damit im Goetheschen Gedichte. Sprachmelodische Gestaltung und dichterischer Inhalt ergänzen sich hier nicht nur gegenseitig, sondern unterstützen einander auch in ihren spezifischen Wirkungen trotz der relativen Selbständigkeit und Ganzheit beider. Dies aber ist nur eine Folge davon, daß sie in ihrer Gliederung einander kaum minder entsprechen, als Form und Inhalt im einzelnen deutschen Worte und in der einzelnen Langzeile der altgermanischen Stabreimdichtung. So entspricht der sprachmusikalischen Zweiteilung des Gedichts eine inhaltliche. In der ersten Hälfte geht der Dichter von der Sonne und dem Tagesanbruch aus, um bei den Gestirnen anzulangen, deren Tanz von der Sonne, um die sich für ihn alles dreht, d. h. von der tanzenden Geliebten, beherrscht wird. In der zweiten Hälfte geht er von dem Monde und der Nacht aus, um zur Sonne als dem Bilde der Geliebten zurückzukehren. Die durch ihre vollkommene formale Übereinstimmung in die engste Beziehung zu einander gesetzten Anfangsstrophen beider Hälften entsprechen einander inhaltlich darin, daß in ihnen die beiden Hauptgestirne, in der einen die Sonne, in der andern der Mond, zur Geliebten in Beziehung gesetzt werden. Ebenso entspricht der sprachmusikalischen Dreiteiligkeit jeder der beiden Hälften eine inhaltliche Dreiteiligkeit. In der ersten Hälfte besteht die gegenseitige inhaltliche Beziehung der sprachmusikalisch gleichen Teile darin, daß in ihnen von der Sonne und den Gestirnen nur mit Beziehung auf die Geliebte die Rede ist, in der zweiten Hälfte darin, daß die beiden Hauptgestirne direkt mit der Geliebten verglichen werden, das eine Mal der Mond um der Lieblichkeit seiner Erscheinung willen, das andre Mal die Sonne wegen ihrer wohltätigen Schöpfermacht. Die Schlußstrophen beider Hälften sind als Endglieder dadurch
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aasgezeichnet, daß in ihnen die Geliebte gradezu mit der Sonne identifiziert wird, in der ersten indirekt, in der zweiten direkt. Der inhaltliche Höhepunkt, nach welchem das Ganze zustrebt, erscheint damit im Endgliede der ersten Hälfte angedeutet, in dem der zweiten erreicht. Selbst die in rein formaler Beziehung nicht gesetzmäßigen Assonanzenverbindungen des Gedichts haben eine gewisse, ihrer schwächeren sinnlichen Wirkung entsprechende inhaltliche Bedeutung; so die Verbindung der ersten mit der zweiten Strophe durch den Zusammenhang zwischen der tagverkündenden Sonne und den von ihren Strahlen erweckten Blumen des Gartens; so ferner die Verbindung der dritten mit der fünften Strophe durch den Zusammenhang zwischen der Herrschermacht der als Sonne gedachten Geliebten und der Huldigung, die ihr deshalb zuteil wird. Selbst die Halbassonanz zwischen den beiden gleichen Teilen der vierten Strophe und dem ungleichen der sechsten findet in dem gegensätzlichen Verhältnis zwischen einer lieblichen Mondnacht und einem herrlichen Sommertage ein inhaltliches Analogon. Die enge Verbindung endlich, die der Vollreim zwischen den beiden letzten Strophen des Gedichts herstellt, ist inhaltlich dadurch motiviert, daß es sich in beiden um eine Huldigung gegenüber der als Sonne gedachten Geliebten handelt, in der einen von Seiten der Blumen, des Mondes und der Gestirne, in der andern von seiten des Dichters. Nicht immer brauchen sich an einem Kunstwerke Form und Inhalt in allen ihren Einzelheiten so genau zu entsprechen, wie in diesem Goetheschen Gedichte; wo es aber der Fall ist, da wirkt das betreffende Kunstwerk ähnlich wie ein beseelter Naturorganismus, an welchem alle einzelnen Glieder seelisches Leben offenbaren und alle Seelenvorgänge in sinnlich wahrnehmbarer Erscheinung zutage treten. Dies bringt für die ästhetische Auffassung den Vorteil mit sich, daß auch die an sich schwach wirkenden Elemente der Form durch ihren Zusammenhang mit dem, was ihnen am Inhalte entspricht, in ihrer Wirksamkeit unterstützt werden, und ebenso umgekehrt. Assonanzen und Halbassonanzen erhalten dann durch die inhaltlichen Beziehungen, denen ihr schwacher 5*
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Gleichklang zum Ausdruck dient, eine Wirksamkeit, die stark genug ist, um den Vollreim selbst da nicht vermissen zu lassen, wo er erwartet wird; und Gefühle und Vorstellungen, die an sich nur ein geringes oder ein bloß außerästhetisches Interesse zu erregen imstande sind, gewinnen dann durch den idealen Zusammenhang, in den sie durch die Kunstform gebracht werden, ein Interesse idealer d. h. ästhetischer Art. Ist das Goethesche Gedicht ein derartiges Kunstwerk, dann ist auch dessen Form, da sie von dem entsprechenden Inhalt sich nicht trennen läßt, ganz das eigene Werk Goethes. Was er dem Ueltzenschen Gedichte entlehnt hat, ist nur das tote Schema dieser Form. Zur lebendigen und beseelten Kunstform ist es erst durch ihn geworden. In noch vollkommenerem Sinne freilich ist die Kunstform sein geistiges Eigentum überall da, wo er auch nicht einmal ihr totes Schema einem Andern entlehnt hat, sondern wo sie mit dem entsprechenden Inhalt zugleich entstanden ist, so wie es bei dem echten Volksliede der Fall zu sein pflegt. Dann ist es aber auch in gleichem Sinne wie dieses ein Produkt nicht nur seines persönlichen Geistes, sondern zugleich des Volksgeistes, dessen Art und Kunst sich in ihm konzentriert. Solcher Art ist unter den bisher von mir besprochenen Liedern vor allen andern das Lied „ A n die Entfernte". Darum hat die sprachliche Musik dieses Liedes auch mehr als alle übrigen vom Charakter spezifisch deutscher Tonmusik an sich, d. h. einer solchen, in der nicht nur das musikalische Ganze und seine Hauptteile, sondern auch die kleinsten Glieder einen seelischen Inhalt zum Ausdruck bringen und durch diese seelische Bedeutsamkeit den sinnlichen Reiz ihrer Klangwirkungen ebenso wohl unterstützen wie ergänzen. Bedarf im Gedichte „Gegenwart" der an sich schwache Reiz seiner Gleichklänge einer solchen Unterstützung, um überhaupt zu genügender Wirkung gelangen zu können, so ist in nicht wenigen andern lyrischen Gedichten Goethes die sinnliche Wirkung der Gleichklänge so stark, daß ihre gesetzmäßige Anordnung von dem für sprachliche Musik Empfänglichen unmöglich überhört werden kann, wenn sie auch nicht notwendig jedem zum Bewußtsein kommen muß,
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der sie hört und sich, von ihr ästhetisch befriedigt fühlt. Zu diesen Gedichten gehört z. B. das Lied aus „Egmont": Freudvoll Und leidvoll, Gedankenvoll sein, Langen Und bangen In schwebender Pein, Himmelhoch jauchzend, Zum Tode betrübt — Glücklich allein Ist die Seele, die liebt.
Die starke akustische Wirkung dieser kurzen Verse ist eine Folge der Dichtigkeit ihrer starkbetonten Yollreime. Zur ästhetisch befriedigenden Wirkung einer sprachlichen Melodie aber wird sie erst durch die Gesetzmäßigkeit in deren Anordnung. Da diese Gesetzmäßigkeit durch die bisher von mir angewandte graphische Darstellungsweise nicht leicht eu- a & eizu deutlicher Anschauung zu bringen a a ist, so erlaube ich mir eine kleine Änderung derselben, indem ich die vier £\ ?? Hauptglieder des Ganzen, von denen ¿ j ^ jedes vier Hebungen . enthält, unter statt ~ neben einander-setze. Leider muß auch so noch einiges unbezeichnet bleiben, was zur melodischen Wirkung des Ganzen beiträgt. In dieser Darstellung erscheint das Ganze deutlich genug als zweiteilig. Die beiden Teile sind verschieden gebaut; der erste durch starkwirkende und nahe zusammengerückte Reime ausgezeichnet, der zweite in seinem ersten Gliede am bescheidensten ausgestattet d. h. mit einer einzigen Halbassonanz außer dem Endreime und der Anfangsassonanz, durch die sie mit dem zweiten Gliede verbunden wird; dieses aber ist dafür um so reicher an ebenso klangvollen, wie bedeutsamen Gleichklängen. Im ersten Teile bleibt kein einziger betonter Vokallaut ohne Gefährten; denn das a in „gedankenvoll" assoniert deutlich genug mit dem a in „langen" und „bangen". Ich habe diese Assonanz unbezeichnet ge-
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lassen, um die Übersichtlichkeit der graphischen Darstellung nicht zu gefährden. Aus demselben Grunde habe ich den Vollreim nicht bezeichnet, der das Schlußglied des Ganzen zum ersten Teile in eine unverkennbare Beziehung setzt, nämlich den Reim des Wortes „allein" auf die Wörter „sein" und „Pein". Wie das vierte Glied durch diesen Yollreim in den Stand gesetzt wird, seine Aufgabe als Schlußglied des Ganzen zu erfüllen, so wird es durch die starkwirkende Assonanz der Wörter „schwebender" und „Seele" in der Erfüllung dieser Aufgabe nicht wenig unterstützt, da Assonanz nnd Yollreim hier zusammenwirken, um das Ende des Gedichts mit seinem Anfang zusammenzuknüpfen. Infolge dieser Verbindung bleibt auch im Schlußgliede kein betonter Vokallaut ohne Gefährten und dieser Reichtum an Gleichlauten muß hier um so stärker ins Ohr fallen, je ärmer an solchen das unmittelbar vorhergehende Glied ist. In allen bisher vorgeführten Gedichten erscheinen die für die Reimverschlingung der einzelnen Strophe geltenden Gesetze auf das Ganze des Gedichts ausgedehnt, sodaß dessen sämtliche Versschlüsse zu einer einzigen Verschlingung von Gleichklängen verschiedener Stärke zusammenwachsen. In kurzen Gedichten, namentlich wenn sie aus kurzen Versen gebaut sind, ist die sprachmelodische. Einheitlichkeit einer solchen Verschlingung natürlich am leichtesten wahrnehmbar, da alle einzelne Gleichklänge hier so nahe beisammen liegen, daß auch ein ungeübtes Ohr ihren Zusammenhang untereinander erfassen kann, und zwar um so leichter, je mehr die Wirkung der Gleichklänge durch den Rhythmus unterstützt wird. In hohem Grade ist das z. B. im zweistrophigen Gedichte „Feiger Gedanken" der Fall: Feiger Gedanken Bängliches Schwanken, Weibisches Zagen, Aengstliches Klagen Wendet kein Elend, Macht dich nicht frei. Allen Gewalten Zum Trutz sich erhalten, Nimmer sich beugen,
71 Kräftig sich zeigen Rufet die Arme Der Götter herbei.
Die Gleichklänge sind hier so dicht gesäet, daß in der graphischen Darstellung die Vokallaute sämtlicher Hebungen hier ebenso gut ihren Platz verlangen, wie im Gedichte „Freudvoll und Leidvoll". Ich setze daher auch hier die beiden Strophen unter- statt nebeneinander, wobei ich zur Erleichterung der Übersicht je zwei der kurzen Yerse zu einer Langzeile zusammenfasse:
Beide Strophen entsprechen einander nicht nur in bezug auf das Schema ihrer Reimverschlingung, sondern sind, abgesehen von dem stumpfen Vollreime ihrer Schlüsse (frei : herbei) auch noch durch Assonanzen an rhythmisch einander entsprechenden Stellen verbunden. Im übrigen bildet jede Strophe für sich ein dreiteiliges Ganzes, dessen ungleicher Teil am Schlüsse steht, also ein Abgesang im ursprünglichen und vollkommensten Sinne des Wortes ist. In der ersten Strophe ist dieser Teil durch einfache, in der zweiten durch doppelte Assonanzen mit den beiden gleichen Teilen verbunden, sodaß auch hier das Schlußglied des Ganzen sprachmusikalisch bevorzugt erscheint. Der feste rhythmische Bau dieses didaktisch-lyrischen Gedichts verhilft nicht nur der trotzigen Entschlossenheit, die seinen Stimmungsgehalt bildet, zu angemessenem Ausdruck, sondern kommt auch der tonmusikalischen Begleitung, auf die das Gedicht als Teil eines Singspiels („Lila") angewiesen ist, nicht wenig entgegen. Dagegen kann ich nicht finden, daß die an sich schon fast aufdringliche Einheitlichkeit in seiner sprachlichen Melodie an ästhetischem Reize dadurch gewinnt, daß ihre akustische Wirksamkeit durch den Rhythmus noch verstärkt
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wird. Der Mangel an sprachmusikalischer Mannigfaltigkeit, der diesem Gedichte im Vergleich zum „Freudvoll und leidvoll" anhaftet, kann freilich durch die tonmusikalische Begleitung ebenso gut verdeckt werden, wie die sprachmelodischen Vorzüge beider Gedichte; aber musikalische Wirkungen aller Art sind in beiden ganz besonders deshalb an ihrem Platze, weil es ihnen gleichermaßen an dem plastischen und malerischen Elemente fehlt, welches sonst den lyrischen Dichtungen Goethes in- hohem Grade eigen zu sein pflegt. Um so mehr treten diese Elemente in dem Gedichte „Wanderers Nachtlied" hervor. Dennoch ist zugleich die sprachmusikalische Wirkung dieses einstrophigen Liedes ganz besonders mächtig, und zwar zunächst dadurch, daß auch hier die Gleichklänge von den Versschlüssen aus in das Innere der Verse hineindringen. Ueber allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde Warte nur, balde Ruhest du auch.
Neben der reichen Melodik dieses Liedes kommt dessen nicht minder reiche Plastik nur dadurch zu genügender Geltung, daß der Rhythmus, der hier eine noch viel freiere Bewegung hat, als es sonst in Goethes Liedern der Fall zu sein pflegt, ganz in die Dienste des Inhalts tritt und damit auf selbständige Beachtung verzichtet. Indem die sprachliche Musik sich hier also wesentlich auf das melodische Element beschränkt, bleibt für die poetische Plastik der Raum übrig, den im Gedichte „Feiger Gedanken" der streng geregelte Rhythmus in Anspruch nimmt. Hiermit soll aber nicht gesagt sein, daß der Rhythmus des Liedes „Ueber allen Wipfeln" gänzlich regellos sei und daher zu dessen sprachlicher Musik nichts beitragen könne. Die rhythmische Freiheit seiner Verse ist keineswegs identisch
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mit der rhythmischen Gesetzlosigkeit der Reimprosa oder der nur wenig mehr geregelten Knittelverse. Auch solche Yerse hat Goethe nicht selten angewandt, z. B. in seiner Spruchdichtung, wo sie durchaus am Platze sind, weil hier der dialektische Inhalt sich nicht weniger der Prosa nähert, als die rhythmische Form. In der Lyrik aber wäre diese Art von Versen schon deshalb übel angebracht, weil bei nahezu völliger Gesetzlosigkeit des Ehythmus auch die etwa vorhandene melodische Gesetzmäßigkeit nicht zu genügender d. h. dem Wesen der Lyrik entsprechender Wirkung gelangen könnte. Auch die „freien Rhythmen", die Goethe während seiner Sturm- und Drangperiode gern in lyrischen Dichtungen verwendete, haben einen anderen Charakter, da sie nicht nur reimlos sind und der strophischen Gliederung entbehren, sondern auch Verse von verschiedener Hebungszahl regellos mit einander wechseln lassen. Unter den lyrischen Dichtungen dieser Art ragen die Hymnen Goethes („Prometheus", Ganymed" usw.) in spezifisch dichterischer Beziehung besonders hervor. Sie sind zugleich die in rhythmischer Beziehung am wenigsten regellosen und an sprachlichem Wohlklang reichsten. Zu einer Wirkung im musikalischen Sinne des Wortes kommt dieser Wohlklang aber erst durch eine, ihrem Inhalt angemessene, pathetische Vortragsweise, die den Höhenumfang ihrer sprachlichen Akzente über das sonst übliche Maß hinaus soweit steigert, daß ihre Anordnung melodische Wirkungen hervorbringen kann; diese sind dann aber mehr tonmusikalischer als sprachmusikalischer Art. J e leidenschaftlicher der Inhalt und je freier die rhythmische Form solcher Dichtungen ist, um so mehr drängen sie zu einer Vortragsweise, die mehr vom Gesänge an sich hat, als von der Rezitation. Es ist daher wohl begreiflich, was Goethe über das unter dem Titel „Wanderers Sturmlied" erhaltene Gedicht dieser Art berichtet: er hätte auf der Wanderung, der es seine Entstehung verdankt, diesen „Halbunsinn" bei Sturm und Regen leidenschaftlich vor sich hin „gesungen". Die Stimmung, die in diesem Liede nach Ausdruck ringt, ist wegen der gedanklichen Unklarheit, die seinen Inhalt zu einem „Halbunsinn" macht, mehr musika-
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lischer als dichterischer Art; die Ungebundenheit seiner Form aber gestattet ihm nur eine tonmusikalische Melodie, da eine sprachmusikalische ohne strenge Gebundenheit der Form nicht denkbar ist. Im Gegensatz zu „Wanderers Sturmlied" bedarf „Wanderers Nachtlied" keines tonmusikalischen Vortrags, um musikalisch wirken zu können. Die leidenschaftslose Ruhe seines Inhalts gelangt zu dem ihr entsprechenden Ausdruck am besten durch eine Vortragsweise, die sich damit begnügt, die sprachliche Musik seiner Form zu voller Wirkung zu bringen. Was die Anordnung seiner Gleichklänge betrifft, glaube ich mich in dem bereits zitierten Vortrage „Ueber ein Goethesches Lied" darüber genügend ausgesprochen zu haben; in bezug auf die Anordnung seiner Akzente aber bleibt mir noch um so mehr zu sagen übrig, je weniger das rhythmische Element seiner sprachmusikalischen Form neben dem stärker wirkenden melodischen zu selbständiger Geltung gelangen kann und je größer daher die Gefahr seiner Verkennung ist. Der Rhythmus zeigt hier eine ähnliche Unbestimmtheit in der Abgrenzung zwischen den verschiedenen Stärkegraden der Akzente, wie sie romanischen Versen eigen zu sein pflegt; er begünstigt dadurch die wesentlich melodische Wirksamkeit ihrer Tonhöhe in kaum geringerem Maße, als es von Seiten des romanischen Versrhythmus geschieht; aber daß der Versbau echt germanisch ist, zeigt schon die Verschiedenheit der mit einander korrespondierenden Verse in bezug auf ihre Silbenzahl. Wir müssen daher annehmen, daß diese Verse dafür in bezug auf ihre Hebungszahl um so besser mit einander übereinstimmen, wenn die befriedigende Wirkung erklärt werden soll, die das Gedicht bei sinngemäßem Vortrage auch in rhythmischer Hinsicht ausübt. Ich nehme daher keinen Anstand, dem Verse „Ist Ruh" zwei Hebungen und damit zwei ganze Takte (Versfüße) zuzuerkennen, da der mit ihm korrespondierende Vers „Spürest du" unzweifelhaft zweihebig und zweitaktig ist. Was dem Worte „Ist" an Tonstärke abgeht, kann durch genügendes Verweilen bei ihm metrisch ersetzt werden. Es wird dadurch an Gewicht
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genug gewinnen, um in bezug auf akustische Wirksamkeit nicht hinter dem „Du" des vierten Verses zurückzustehen, welches trotz seiner geringen Tonstärke als Reimwort ebenso gut eine Hebung muß tragen können, wie das entsprechende weit stärker betonte Reimwort „Ruh". "Wenn aber das einsilbige und schwach betonte Anfangswort des zweiten Verses eine Hebung tragen kann, so muß das zweisilbige und weniger schwach betonte „Ueber" des ersten Verses dazu wenigstens ebenso gut imstande sein; dann aber auch das mit ihm korrespondierende „In" des dritten Verses, welches zu dem „Ueber" in bezug auf akustische Wirksamkeit in keinem ungünstigeren Verhältnis steht, als das „Ist" zu dem „Spürest". Es könnte ferner zweifelhaft sein, ob der fünfte, der siebente und der achte Vers zwei oder drei Hebungen enthalten. Meiner Ansicht nach verlangt das Wort „nur" im Verse „Warte nur, balde" wegen dessen Korrespondenz mit dem unverkennbar dreihebigen Verse „Die Vögelein schweigen im Walde" gebieterisch die Geltung eines Hebungswortes. Durch die Länge seines Vokals und die vom Sinn geforderte Pause, die ihm folgt, wird es in mehr als genügender Weise befähigt, einen Takt zu füllen. Im letzten Verse „Ruhest du auch" muß das Wort^ „du" — wie mir selbstverständlich scheint — eine Hebung tragen und einen Takt vertreten, da der Sinn des Verses eine Betonung für dieses Wort verlangt, die an Stärke selbst die der übrigen beiden Hebungswörter übertrifft. Dann aber muß auch das Wort „einen" in dem mit dem letzten Verse korrespondierenden fünften „Kaum einen Hauch" trotz seines schwachen Akzents als Hebungswort betrachtet und beim Vortrage behandelt werden d. h. einen metrischen Akzent erhalten. Es bedarf dazu weder einer Erhöhung noch einer Verstärkung seiner natürlichen Betonung, da es als zweisilbiges Wort imstande ist, neben den beiden stärker betonten, aber nur einsilbigen Hebungswörtern des Verses seine metrische Gleichwertigkeit zu behaupten, wenn seine Zweisilbigkeit beim Vortrage zu genügender Geltung gebracht wird. Da die bloß metrischen Akzente nur als Tieftöne in Betracht kommen können, so könnten sie allerdings bei leidenschaftlichem Vortrage des Gedichts neben den stärker wirken-
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den syntaktischen und stilistischen Akzenten, die hier meist hochtönig sind, nicht zu genügender "Wirkung kommen, wohl aber können sie es bei der ruhigen und langsamen Vortragsweise, die dem Inhalt des „Ruheliedes" am nächsten liegt. Dasselbe gilt auch von den schwächeren Gleichklängen des Gedichts. Das langsame Tempo wirkt auf melodischem Gebiete nicht weniger, als auf rhythmischem ausgleichend auf die vorhandenen dynamischen Gegensätze, indem es den Eindruck des Starken mildert und den des Schwachen steigert. Wenn in der angegebenen Weise der sinngemäße Vortrag des „Ruheliedes", dessen sprachliche Musik aus seinem gebundenen Zustande befreit, dann wird offenbar, daß hinter der weitgehenden rhythmischen Freiheit des Gedichts sich eine metrische Gesetzmäßigkeit verbirgt, die sich allerdings auf die Herstellung einer annähernden Gleichheit der Taktdauer beschränkt, aber genügend ist, um seiner sprachlichen Musik nicht weniger zugute kommen zu können, als die rhythmische Freiheit dem plastischen Element seines dichterischen Inhalts. Um das Zusammenwirken dieser metrischen Gesetzmäßigkeit mit der sprachmelodischen zur Anschauung zu bringen, stelle ich in der graphischen Darstellung der letzteren die Hebungsvokale der einzelnen Verse nebeneinander, deren Gesamtheiten aber so untereinander, daß die Endreime in eine und dieselbe vertikale Reihe fallen. Zugleich versehe ich sämtliche Hebungsvokale mit den Akzentzeichen, die meiner Auffassung nach ihnen zukommen, indem ich mich in üblicher Weise des Akutus (/) für die Hochtöne und das Gravis (\) für die Tieftöne bediene. Die feineren Akzentunterschiede lasse ich außer Acht, da es mir hier nur um das Auf- und Absteigen des Rhythmus zu tun ist und nicht um die einzelnen Höhe- und Stärkegrade der Akzente. Auch den Unterschied zwischen Voll- und Halbassonanzen lasse ich unbezeichnet, da er mir hier in formaler, wie in inhaltlicher Beziehung unwesentlich erscheint. Der leichteren Übersicht wegen stelle ich eine graphische Darstellung der Akzente allein neben die vollständigere:
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Die Anordnung der Hebungsakzente ist keine rhythmische in demselben Sinne, wie die des regelmäßigen Wechsels zwischen Hebungen und Senkungen; aber sie verdient den Namen einer melodischen wenigstens insofern, als sie die Höhenunterschiede zwischen Hoch- und Tieftönen in geregelte Beziehungen zueinander bringt. Wenn auch ihre melodische Wirkung so geringfügiger Art ist, daß sie hinter der sehr bedeutenden der vokalisehen Gleichklänge so gut wie ganz verschwindet, so ist sie doch immerhin stark genug, um diese in ihrer Wirksamkeit unterstützen zu können. Dies geschieht nicht sowohl durch direktes Zusammenwirken mit ihr, denn die Anordnung der Akzente stimmt nur ausnahmsweise mit der Anordnung der Hebungsvokale zusammen, sondern vielmehr dadurch, daß sie ihr in genügendem Grade entgegengesetzt ist, um modifizierend auf sie einwirken zu können. Und diese Einwirkung ist keineswegs bedeutungslos für den dichterischen Inhalt, da die Akzente noch viel unmittelbarer mit dem Stimmungsgehalt der Dichtung zusammenhängen, als die vokalischen Laute der Hebungen. Bedeutsam wird die Anordnung der Akzente hier besonders dadurch, daß sie gerade die inhaltlich wie formal wichtigsten unter den Versen des Gedichts d. h. die Schlußverse seiner beiden Teile (den vierten und den achten) zu den mit ihnen korrespondierenden (dem zweiten und dem fünften) in eine Beziehung bringt, welche der durch den Endreim herbeigeführten entgegengesetzt ist. Indem nämlich im vierten Verse („Spürest du") absteigende Betonung an
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die Stelle der aufsteigenden im zweiten Verse („Ist Ruh") tritt, wird der Schlußvers des ersten Teils für das Gehör ebenso eng an den Anfangsvers des zweiten Teils angeschlossen, wie durch Sinn und Satz für die Vorstellung. Während der Akzent hierdurch die in der Reimverschlingung voneinander getrennten beiden Teile des Gedichts zusammenbindet, trennt er die durch den Endreim miteinander verbundenen Verse 5 („Kaum einen Hauch") und 8 („Ruhest du auch") dadurch, daß die in dem einen Verse tieftonigen Hebungssilben in dem andern hochtonig sind und umgekehrt. Der achte Vers aber tritt als Schlußvers nicht nur des zweiten Teils, sondern zugleich des Ganzen dadurch bedeutsam hervor, daß sein Hauptakzent nicht, wie gewöhnlich, auf den Versschluß („auch"), sondern auf dessen Mitte („du") fällt, weil damit diejenige Vorstellung sinnlich wirksam hervorgehoben wird, die für das Ganze des Gedichts eine größere Bedeutung hat, als alle übrigen, die in ihm eine Rolle spielen; denn um dieses „du"d. h. um des Menschen willen wird hier die abendliche Ruhe in der ganzen außermenschlichen Natur mit dichterischer Plastik geschildert. Wie hier, so trägt auch in vielen andern Dichtungen Goethes die rhythmische Freiheit dazu bei, die melodischen, wie die dichterischen Reize des betreffenden Gedichts zu erhöhen, indem sie einerseits die vorhandenen Gleichklänge dadurch vermannigfaltigt, daß sie deren einzelne Vokallaute je nach inhaltlichen Erfordernissen bald mehr, bald minder stark hervortreten läßt, während andererseits die gegenseitige Durchkreuzung der rhythmischen und inhaltlichen Bewegung mit der melodischen den Gesamteindruck des Gedichtganzen vereinheitlicht. Die besprochenen Beispiele werden hoffentlich genügen, um zu zeigen, worauf im wesentlichen die musikalische Wirksamkeit derjenigen unter Goethes Dichtungen beruht, deren Inhalt Veranlassung gibt, das melodische Element der gebundenen Rede vor dem rhythmischen, dem plastischen und dem gedankenhaften zu bevorzugen. Es ist ein Hinübergreifen der sprachlichen Melodik, die sonst auf die Verschlingung der Schlußreime in den einzelnen Strophen beschränkt zu sein pflegt, über diese Schranke nach zwei
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einander entgegengesetzten Richtungen hinaus, indem verbindende Gleichklänge von der einen Strophe aus über die andere und von den Versschlüssen aus ins Innere der Verse hinein sich verbreiten und zwar in Anordnungen, deren Gesetzmäßigkeit derjenigen der Endreimverschlingung in ihrem Prinzip entspricht. Da alle die einzelnen Gleichklänge, die auf diese "Weise den melodischen Eindruck der Endreimverschlingung unterstützen, in viel schwächerem Grade wirken, als diese Endreimverschlingung selbst, so bleibt ihre Sonderwirkung ebenso leicht unterhalb der Schwelle des Bewußtseins liegen, wie die der harmonischen Obertöne, die sich in der Tonmusik den mit bewußter Absicht verwendeten Tönen zugesellen; dem aber widerspricht es durchaus nicht, daß sie in ihrem Zusammen mit der Endreimverschlingung und miteinander eine starke Wirkung auszuüben imstande sind, die gerade deshalb, weil sie unmittelbar bloß die Stimmung, nicht aber das Bewußtsein des Genießenden trifft, nur um so mehr Anspruch darauf hat, als spezifisch musikalische "Wirkung zu gelten. Die sprachmusikalische Kunst Goethes hat also nichts gemein mit den nach musikalischen Wirkungen strebenden Künsteleien der Pegnitzschäfer des sechzehnten und der Romantiker des neunzehnten Jahrhunderts. Statt des leeren Klingklangs der bei diesen den Erfolg der Bemühungen bildet, in deutscher Sprache Klangwirkungen ähnlicher Art zustande zu bringen, wie sie nur in den Sprachen ihrer romanischen Muster erreichbar sind, enthalten die Formen der Goetheschen Lyrik eine seelenvolle Musik, die wesentlich das ungesuchte Ergebnis eines geistigen Vorgangs ist, der mit einem Naturprozeß die größte Ähnlichkeit hat. Ihre Schönheit ist aus der deutschen Sprache als ihrem Nährboden und aus der dichterischen Idee als ihrem Keime hervorgewachsen, wie eine Blume aus den Naturbedingungen ihres Daseins, und ihre seelische Bedeutsamkeit ist nur die Folge eines ähnlichen Verhältnisses zwischen dem dichterischen Inhalt und der sprachmusikalischen Form, wie er zwischen den Stoffen und den Formen eines Kristalls oder eines natürlichen Organismus besteht.