Goethes Leipziger Liederbuch [Reprint 2019 ed.] 9783111549576, 9783111180458


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German Pages 186 [196] Year 1893

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
VORWORT
Einleitung
I. Das Neujahrslied
II. Der wahre Genufs
III. Die Nacht
IV. Das Schreyen
V. Der Schmetterling
VI. Das Glück
VII. Wunsch eines jungen Mädchens
VIII. Hochzeitlied
IX. Kinderverstand
X. Die Freuden
XI. Amors Grab
XII. Liebe und Tugend
XIII. Unbeständigkeit
XIV. An die Unschuld
XV. Der Misanthrop
XVI. Die Reliquie
XVII. Die Liebe wider Willen
XVIII. Das Glück der Liebe
XIX. An den Mond
XX. Zueignung
Schlufs
Anhang I (Text der „neuen Lieder")
Anhang II (Zwei französische Vorbilder Goethes)
Quellenverzeichnis
Namen- und Sachregister
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Goethes Leipziger Liederbuch [Reprint 2019 ed.]
 9783111549576, 9783111180458

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GOETHES LEIPZIGER LIEDERBÜCH VON

Dr. A D O L F STRACK, PRIVATDOCENTEN AN DER UNIVERSITÄT GIESSEN.

GIESSEN. J. R I C K E R ' S C H E

BUCHHANDLUNG.

1893.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis. Saite

Einleitung I. D a s Neujahrslied II. Der wahre Genufs III. Die Nacht IV. D a s Schreyen V. Der Schmetterling VI. Das Glück VII. W u n s c h eines jungen Mädchens VIII. Hochzeitlied IX. Kinderverstand X. Die Freuden XI. A m o r s Grab XII. Liebe und Tugend XIII. Unbeständigkeit XIV. A n die Unschuld X V . D e r Misanthrop X V I . Die Reliquie XVII. Die Liebe wider Willen XVIII. Das Glück der Liebe X I X . A n den Mond X X . Zueignung Schlufs Anhang I (Text der „neuen Lieder") Anhang II (Zwei französische Vorbilder Goethes) Quellenverzeichnis Namen- und Sachregister

i i 16 44 64 69 77 81 84 99 103 107 109 m 118 iaa 135 137 131 13g 144 146 151 164 169 173

VORWORT. Vor mehr als zehn Jahren entstanden die Anfänge dieser Schrift in Gestalt einer Reihe von Vorträgen, die ich in Scherers Uebungen zu Berlin hielt. Mancherlei Umstände, vor Allem ein neuer Beruf, der mich völlig in Anspruch nahm, waren die Veranlassung, dafs die Arbeit Jahre lang liegen blieb. Wenn sie auch den Gedanken nie völlig fremd wurde, so war es mir doch erst im vorigen Jahre möglich, mich ihr wieder andauernd zuzuwenden, sie mit Berücksichtigung der inzwischen erschienenen Litteratur umzugestalten und zum Drucke fertig zu machen. Nun es mir endlich vergönnt ist, sie in die Welt zu schicken, drängt es mich, in dankbarer Pietät des teuren Mannes zu gedenken, dem ich die Anregung zu ihr verdankte, W i l h e l m S c h e r e r s . Mit ermutigendem Zuspruch und immer fördernder Teilnahme begleitete er seiner Zeit die Versuche des Studenten, und auch später bewahrte er in liebenswürdiger Weise der Arbeit, die unter seinen Augen entstanden war, sein

IV

Interesse und suchte mich zu ihrem Abschlüsse zu bestimmen. Die Augen, die, wie ich einst hoffte, auf diesen Blättern ruhen sollten, haben sich nun längst für immer geschlossen, und ich kann die Dankesgabe eines treuen Schülers nur auf das Grab des Lehrers legen.

Möchte

sie seines Vorbildes und seiner Lehre nicht ganz unwürdig sein. G i e f s e n im A u g u s t 1893.

Adolf Strack.

Einleitung. Es gewährt einen eigentümlichen Reiz, zu beobachten, wie geistig bedeutende Menschen aus der Durchschnittsbildung ihrer Zeit heraus entstehen und wachsen, wie eine kleine, ihren Genossen scheinbar ziemlich ähnliche Pflanze, allmählich immer mehr dem Himmel entgegenstrebt, wie sie, ihre Aeste immer weiter verbreitend, zum mächtigen Baum wird, der alle ihn umgebenden Sträucher und Gewächse an Gröfse und Schönheit Obertrifft und nicht blofs den Menschen, die ihn haben entstehen sehen, sondern auch deren Kindern und Kindeskindern bis in unabsehbare Zeit Schatten und Erquickung bietet. Die unscheinbaren Anfänge eines der Gröfsten, nicht blofs seines Zeitalters, sollen in der folgenden Arbeit genauer betrachtet und so ein kleiner Beitrag zu der genetischen Erkenntnis des Dichters geliefert werden, der die Goetheforschung unserer Tage zustrebt. Man hat die früheste Lyrik Goethes bereits in Bezug auf ihre Abhängigkeit untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dafs sie sich eng an die sogenannte Anakreontik anschliefst; man hat diese Abhängigkeit im Einzelnen an Sprache und Stoffen der Leipziger Gedichte nachzuweisen versucht. Diese Untersuchungen zu vervollständigen und, wo es Not thut, zu berichtigen, ist eine der Aufgaben, die sich die folgende Arbeit stellt. Eine umfassendere Heranziehung der zeitgenössischen Litteratur, besonders der Lyrik, wird aber zeigen, dafs auch Einflüsse, die aufserhalb jenes engen Kreises liegen, stark auf den Dichter gewirkt haben. Dafs dabei auch die französische Lyrik hin und wieder Berücksichtigung findet, S t r a c k , Goethe L. L.

1

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rechtfertigt sich durch den engen Zusammenhang derselben mit unserer Anakreontik und durch das Interesse, das Goethe, der sich selbst in französischen Versen versuchte, ihr entgegenbrachte. Im Allgemeinen werden nur solche litterarische Erzeugnisse herangezogen werden, deren Entstehung vor Goethes Leipziger Liederbuch fällt; bei den starken Veränderungen, die sich gerade in jenen Jahrzehnten in unserer Dichtung und deren Sprache vollzogen, gebietet dies die Vorsicht'). Dafs die Lyrik unter der von mir durcharbeiteten Litteratur im Vordergrunde steht, bedarf wohl kaum einer besonderen Rechtfertigung. Das nächste Zi;l mufs bleiben, den Leipziger Gedichten Goethes innerhalb ihrer Gattung die richtige Stellung anzuweisen. Wenn Vorgänger von mir sich darauf beschränkten, die nächststehenden anakreontischen Liedersammlungen . zu durchsuchen, so war dies methodisch ebenso gerechtfertigt wie, dafs ich nach diesen Vorarbeiten einen Schritt weiter thue und auch die ältere, sowie die nicht anakreontische Lyrik jener Tage heranziehe. Das für die Zeit und die Gattung Charakteristische wird sich so schärfer erkennen und manche irrtümliche Auffassung der früheren berichtigen lassen. In ähnlicher Weise würde eine umfassende Benutzung der epischen und dramatischen Litteratur in Versen und in Prosa, der Briefwechsel, der moralischen Wochenschriften u. s. w. ergeben, dafs manche sprachliche Eigentümlichkeiten der Anakreontik ihren Grund in einer Stilrichtung haben, die über das enge Gebiet der Lyrik hinausgeht; manches würde sich wohl auch erweisen als beruhend auf der üblichen Ausdrucksweise der Gebildeten jener Tage. Jeder indessen, der den Umfang und die Schwierigkeiten einer solchen Aufgabe zu ermessen weifs, wird es begreiflich finden, dafs ich von einer derartigen Untersuchung vorläufig Abstand genommen habe. Andeutungen in dieser Richtung, die weiter zu verfolgen wären, wird man zur Genüge finden. Besonders habe ich den Kreis der Lyrik da überschritten, wo es sich darum handelte, auf den Zusammenhang gewisser sprachlicher Erscheinungen mit der ganzen Kultur des Zeitalters hinzuweisen, oder wo durch die uns bekannte Lektüre des jungen Dichters eine solche Ausdehnung der Untersuchung gerechtfertigt war. Eine weitere Ausbeutung z. B. der Prosalitteratur würde gewifs auch zu neuen interessanten Ergebnissen führen, aber die Feststellungen der folgenden Untersuchung würden dadurch wenig •) In dem ersten Aufsätze von Minors und Sauere Studien zur Goethephilologie ist in dieser Richtung gefehlt worden.

III

oder gar nicht berührt werden. A u f welcher Grundlage wiederum der Sprachgebrauch der Anakreontik beruht, das ist eine Frage, die ihre eigene, eingehende Untersuchung erfordert und zu deren Beantwortung zahlreiche Vorarbeiten nötig sein werden. Sie kann daher hier nur gestreift werden. A b e r schon bei dem Nachweis dessen, w a s Goethe aus der Dichtung seiner Zeit übernommen hat, mufs unterschieden werden zwischen den Elementen, die in die Dichtung und Persönlichkeit des Dichters dauernd übergegangen sind, und denen, die nur vorübergehend, dem flüchtigen Zeitgeschmacke zu Liebe, Eingang fanden. Daran schliefst sich der Versuch, schon in diesen Erstlingswerken die individuellen Z ü g e des Dichters zu erkennen, die Einheit der sich in gar verschiedener W e i s e offenbarenden Persönlichkeit nachzuweisen. — Neben der litterarischen Tradition und der persönlichen Eigenart erfordern die Erlebnisse des Dichters Berücksichtigung; mit Hilfe der erst seit einigen Jahren uns erschlossenen Briefe aus der Leipziger Zeit wird sich hier Manches richtiger darstellen lassen, als es seither möglich war. Ich beschränke mich bei meiner Untersuchung auf die von dem Dichter selbst als Ganzes in die Welt geschickte erste Liedersammlung, hoffe aber in Kürze eine Behandlung auch der übrigen Leipziger Gedichte folgen zu lassen. Erschöpfend wird meine Arbeit bei weitem nicht sein können; die Voraussetzung davon wäre eine genaue stilistisch-ästhetische Untersuchung der Lyrik des 17. und 18. Jahrhunderts, die noch nicht vorhanden ist und Einzelarbeiten überlassen bleiben mufs. Bis jetzt ist auf diesem Gebiete, abgesehen von einigen wenigen dankenswerten Untersuchungen, noch so wenig geschehen, dafs man fast überall auf eigne Zusammenstellungen angewiesen ist. Eine Beschränkung war dadurch geboten, und so werde ich im Folgenden, im Anschlufs an meine Vorgänger, hauptsächlich die Themen und Motive der L e i p z i g e r Lieder, sowie das sprachliche Moment berücksichtigen, während z. B. das weite Gebiet der poetischen Figuren nur gestreift werden kann. Eine gewisse Ungleichmäfsigkeit der Behandlung läfst sich dabei kaum vermeiden. Das A u g e gewöhnt sich erst allmählich daran, das Charakteristische zu erkennen, und jeder Spätere wird in der L a g e sein, weiter zu kommen, ebenso wie ich dankbar auf das, was Vorgänger mir geboten, zurückblicke. Durch die Eigenart der A u f g a b e , die ich mir stellen mufste, ist auch die gewählte Form der Darstellung bedingt Da ich aus den angeführten Gründen nicht beabsichtige, eine umfassende sprachlich - ästhetische Charakteristik der Leipziger Gedichte l»

IV

Goethes zu geben und noch viel weniger die sprachliche Eigenart der verschiedenen lyrischen Gattungen jener Zeit, oder auch nur der Anakreontik. erschöpfend darstellen will, da ich vielmehr die von mir benutzte Litteratur nur in Bezug auf bestimmte Eigentümlichkeiten der Leipziger Gedichte durchforscht habe, so war es geboten, meinen Ausführungen die Form eines Kommentars zu den einzelnen Gedichten zu geben, wie es meine Vorgänger, in richtiger Erkenntnis der Sachlage, auch gethan haben. Jedes dieser kleinen Kunstwerke stellt für sich einen Mittelpunkt dar, von dem aus wir unsere Blicke in die Litteratur jener Tage und der früheren Zeit schweifen, lassen, und von dem aus wir das Leben und Dichten Goethes betrachten. Und alle Ausblicke sollen wieder dazu dienen, das jeweilig betrachtete Gedicht in seiner Eigenart und seiner Stellung in der Zeit und im Leben und Empfinden des Dichters scharf hervortreten zu lassen. Wenn einmal jene erste Stilperiode Goethes, der bekanntlich nicht blofs die Gedichte des Leipziger Liederbuchs angehören, in allen ihren Einzelheiten dargestellt und andrerseits durch Einzeluntersuchungen uns die Literatursprache des vorigen Jahrhunderts besser bekannt sein wird als jetzt, dann wird auch die Zeit zu Zusammenfassungen gekommen sein, die jetzt doch nur mangelhaft ausfallen könnten und falsche Vorstellungsbilder erzeugen würden. Damit trotzdem jedem die Möglichkeit gegeben wird, sich über das in meiner Arbeit behandelte sprachliche Material rasch zu orientieren, nehme ich in dem beigegebenen Register besondere Rücksicht darauf, ebenso wie ein Quellenverzeichnis über die von mir durchforschte Lyrik übersichtliche Auskunft giebt. Ich habe die Form des Kommentars auch festgehalten bei Darstellung der Textüberlieferung. Der eigenartige Zustand derselben (fast für jedes Gedicht ist sie eine andere) rechtfertigt dies wohl schon zur Genüge. Es kommt dazu, dafs die Fragen der Textkritik bei diesen Gedichten vielfach unzertrennlich verbunden sind, einmal mit richtiger Auffassung des Inhalts, und andrerseits mit der Klarlegung des Sprachgebrauchs. Bei den vielen verschiedenartigen Textrecensionen, die in Betracht kommen, wird ein klarer Einblick in ihr gegenseitiges Verhältnis dem Leser nicht gerade leicht fallen, aber eine gesonderte Darstellung würde diese Schwierigkeit nicht beseitigen. Eine tabellarische Uebersicht findet man in der dankenswerten Arbeit Kögels. Inwiefern ich von seiner Auffassung abweiche, mag am Schlüsse kurz zusammengestellt werden.

V

Die Form, die ich für meine Untersuchungen gewählt habe, setzt in der Hand des Lesers zum mindesten das Leipziger Liederbuch Goethes voraus. Ohne die Bemühung, sich in den Inhalt desselben zu vertiefen, wird man weder meine Ausführungen verstehen, noch irgend welchen Genufs davon haben. Auch die Briefe Goethes aus der Leipziger und ersten Frankfurter Zeit wird man fortwährend zur Hand nehmen müssen, da ich meist auf die Stellen, deren Kenntnis vorausgesetzt wird, nur kurz verweise. Bevor ich mich zu den Gedichten selbst wende, sei es gestattet, mit einigen Strichen den Zustand der Lyrik, den Goethe vorfand, zu zeichnen, und im Besonderen einige charakteristische Züge der Anakreontik, an die sich Goethe anschlofs, zusammenfassend hervorzuheben, da bei den einzelnen Gedichten sich hierzu nicht gut die Gelegenheit bietet. Unsere deutsche Lyrik befand sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in einer recht traurigen Verfassung; sie bestand, darin eine Tradition des 17. Jahrhunderts fortsetzend, zum gröfsten Teile aus Gelegenheitspoesieen im engsten Sinne des Wortes. Begräbnisgedichte, Hochzeitsgedichte, Dichtungen zu Magisterpromotionen und Geburtstagen, daneben die elendesten Lobhudeleien vornehmer Gönner füllen die Bände der meisten Poeten. Dabei bedient sich diese Betteldichtung einer plumpen, ungelenken Sprache, die von unserem heutigen Deutsch durch eine tiefe Kluft getrennt ist. Gegen die Mitte des Jahrhunderts hin kam die Gelegenheitsdichterei allmählich in Verachtung. Rabener verspottet 1743 in seiner „Totenliste von Nicolaus Klimen" u. s. w., die zum ersten Male in den „Belustigungen des Verstandes und Witzes" erschien, in der Figur des Gustav Trolle diese Art Dichter in ergötzlicher Weise. Und Dusch konnte in den 60er Jahren sagen: „Die Gelegenheitsgedichte sind bey uns so sehr in Verachtung gekommen, dafs unsere Dichter vom ersten Range sich selten und ungern zu denselben herablassen. — — — Es war eine Zeit, und lange ist sie nicht verflossen! wo unsere Poesie nichts aufzuweisen hatte, als Gelegenheitsgedichte von kleinen Reimern, denen keine Flügel gewachsen waren, und die dennoch herumflatterten, so gut sie zum Trotz ihrer Natur konnten, um den Namen der Dichter zu erhaschen"'). Dazu, dafs sich diese Aenderung des Geschmackes vollzogen hat, haben in hervorragendem Mafse die Anakreontiker beigetragen. Es ist eines ihrer Hauptverdienste, die alten Stoffe der echten weltlichen Lyrik aller Zeiten, Wein, Liebe und Natur, wieder in ihr Recht eingesetzt zu haben; Ge>) Briefe zur Bildung des Geschmacks III. Teil, X. Brief.

VI

legenheitsgedichte sind bei ihnen kaum noch zu finden; sie weisen sie prinzipiell zurück. So feiert Uz „die Muse bei den Hirten", die aus der Stadt gegangen ist, weil man dort Musen d i n g e n will: „Sie sollen jedem singen, Bei jeder Hochzeit leiern Und Namenstage feiern." Und Cronegk fordert in einem Gedicht „An den A m o r " den Liebesgott auf, ihm Chloen zurück zu bringen, sonst werde er statt der Oden „Nach der Art der Mietpoeten Leich- und Hochzeitverse dichten." Ein weiteres Verdienst hat sich die Anakreontik um unsere Dichtersprache erworben. Friedrich der Grofse schreibt am 6. Juli 1737 an Voltaire: „Si on pouvait les (sc. les Allemands) corriger de leur pesanteur et les f a m i l i a r i s e r u n p e u p l u s a v e c l e s G r â c e s , je ne désespérais pas que ma nation ne produisit de grands hommes." Die Anakreontiker haben das in der That besorgt, sie haben die Deutschen mit den Grazien vertraut gemacht. Ihre Sprache ist in der Poesie das erste moderne Deutsch. A b e r das Aufkommen der Anakreontik bedeutet in dem geistigen Leben unserer Nation mehr als eine blofse Veränderung des litterarischen Geschmacks; mit ihr drang die Horazische und Epikurische Lebensweisheit in Deutschland ein und beeinflufste unser gesamtes Kulturleben. Vermittelt wurde uns diese Lebensanschauung durch die Franzosen, wo Hand in Hand mit der Renaissance Epikurs durch Gassendi die Lyrik sich im 17. Jahrhundert der Philosophie des Genusses bemächtigte. Chaulieu, Chapelle, Bachaumont, Lainez, L a Fare und die Dame Deshoulières sind die hervorragendsten aus dieser Schule Epikurs; sie finden ihre Fortsetzer in den zahllosen Petits poètes des 18. Jahrhunderts mit ihren „Poésies fugitives". „Les voluptueux" nannten sich jene Dichter selbst; die Lust (la volupté) im Sinne Epikurs stellten sie als das Ziel des menschlichen Lebens hin. Von ihnen haben unsere deutschen Anakreontiker ihre ganze Lebensauffassung geborgt. Sie wird am schönsten dargestellt in einem Briefe Camusats an Professor d'Orville, der als Vorrede den älteren Ausgaben der Poesieen Chaulieus und la Fares beigegeben ist. Er wurde auch in Deutschland gelesen. Nicolai erwähnt ihn lobend") und Hagedorn, der Dichter, von dem die deutsche Anakreontik des vorigen Jahrhunderts ausgeht, beruft sich ausdrücklich auf ihn. 4 ) Ich gebe einen A u s z u g daraus, damit wir die Luft kennen lernen, in der unsere Anakreontiker

*) Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1756) S. 182 Anm. ') Poetische W e r k e III. Teil, Hamburg 1769, S. XXXIV,

Anm. M.

VII

lebten, die Luft, die auch Goethe in Leipzig eingeatmet hat. Camusat beginnt mit einem Lobe der Georgica des Vergil, in denen entzückend die R u h e und Unschuld geschildert werde, die man auf dem Lande geniefse. Daran knüpft er die Bemerkung, in der Poesie sei meistens der Ausdruck der Empfindungen („des sentiments de l'âme") bei Weitem einer Darstellung von Naturgegenständen vorzuziehen. Unter den Gefühlen wiederum seien es nicht die starken Leidenschaften, welche die meiste und allgemeinste Wirkung ausübten, sondern vielmehr das Vergnügen, die Wollust (la volupté). „Die Zufriedenheit des Horaz, seine goldne Mittelstrafse spricht viel mehr an, als die Thaten aller Eroberer. Von Anakreon ist jeder leicht entzückt. Aber so ansprechend diese Art der Poesie ist, so schwer ist es auch, Gutes in ihr zu leisten. Eine Hauptschwierigkeit liegt in dem Stoffe selbst. Die Wollust ist nicht eine einzelne Leidenschaft, sondern sie besteht vielmehr in einer Vereinigung aller deijenigen Erregungen der Seele, welche das Glück unseres Lebens ausmachen, wenn sie in den rechten Schranken gehalten werden. Die Eigenschaften, die ein solcher Dichter besitzen mufs, sind: Liebe zur Freiheit, Gleichmut, Fröhlichkeit, Humor, Witz und — eine Geliebte. Amor und Bacchus sind die Söhne der Wollust, und von ihnen müssen alle Gedichte, welche die Wollust zum Gegenstande haben, handeln. Aber die Liebe darf weder ausschweifend und wollüstig sein, noch auch heftig, leidenschaftlich und eifersüchtig. Die Liebe des Anakreon und seiner Nachfolger ist von Beidem gleich weit entfernt. Der Liebesgott, der sie begeistert, ist freilich nicht so schön, wie der von Paphos, aber er ist von einer reizenden Fülle; er hat etwas so Feines und Pikantes in seinem Aeufseren, dafs man sich gar nicht mehr von ihm trennen kann. W e n n er vielleicht auch nicht mehr Geist hat, als der von Paphos, so ist er doch viel liebenswürdiger und gewandter, so dafs man ihn nie müde wird. Man sagt ihm auch nach, er sei etwas liederlich und flatterhaft; aber er wahrt immer den Anstand. Er nimmt nicht viel Zeit für sich in Anspruch. T a g s läfst er jeden ruhig thun, was er will, und verlangt nur einige Stunden der Nacht für sich. Bacchus ist ihm ein guter Gesellschafter, der ihn von allen Extremen zurückhält; ebenso mäfsigt er seinerseits die Lust des W e i n e s und hält sie in den Grenzen des Anstands. Die Dichter, die in dieser Art die w e i s e W o l l u s t besingen, gefallen jedem Volk, jedem Alter, jedem Stand. Daher kommt es, dafs Horaz in aller Hände ist; e r lehrt uns tugendhaft sein, ohne Misanthropen zu werden. Die Liebe soll nie zu heftig werden; wenn sie zu stark

VIII

wird, so soll man den Gegenstand der Liebe wechseln. Das ganze System des Horaz ist gegründet auf Vermeidung des Uebermafses in allem; ihm können wenig Menschen nachfolgen."

Soweit Ca-

musat. Eine bessere Charakteristik der Lebensauffassung der anakreontischen Dichter läfst sich nicht geben, deshalb wurde der schwer zugängliche Brief hier teilweise mitgeteilt. W a s der Franzose darin ausführt, trifft W o r t für W o r t auch bei unseren deutschen Anakreontikern zu.

„ L a volupté" wurde von ihnen, wie ich

es auch gethan habe, mit „Wollust" übersetzt; daher die grofse Rolle, die dieses W o r t in seiner besseren, uns heute nahezu verlorenen Bedeutung

damals

spielte.

Die wahre oder die

weise

Wollust priesen Hagedorn, Uz und ihre Genossen, und auch auf ernstere Dichter ging von ihnen dieser Begriff über.

Ganz ahn-

lich w i e Camusat, und wohl von ihm beeinflufst, spricht sich Lessing über die Wollust als Gegenstand der Poesie in den „Rettungen des H o r a z " aus. 5 ) Es sei bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen, dafs die deutschen Anakreontiker überhaupt in einem Mafse von den Franzosen beeinflufst sind, das noch lange nicht genügend gewürdigt ist.

Ein grofser Teil der deutschen leichten Lyrik des

vorigen Jahrhunderts besteht aus Uebersetzungen aus dem Französischen; es wäre zu wünchen, dafs diese Abhängigkeit einmal eingehend untersucht würde.

Daneben wirken ja auch Anakreon,

und v o r A l l e m Horaz direkt, aber ihre Einwirkung ist nicht entfernt so stark, als die der Franzosen. Auch auf eine andere, vielfach benutzte Quelle unserer Anakreontik sei aufmerksam gemacht; es ist die griechische Anthologie, aus der z. B. W e i f s e nach seiner eigenen

Angabe

geschöpft

hat;

ihren Einflufs

näher

zu

be-

leuchten, ist ebenfalls eine Aufgabe, die noch ihrer Lösung harrt. Eis kann hier nicht meine Absicht sein, die geschichtliche Entwickelung der Anakreontik darzustellen, nur auf ein Moment derselben mufs hingewiesen werden. Bei dem verhältnismäfsig engen K r e i s , in dem sich diese Dichter bewegen, konnte es nicht ausbleiben, dafs allmählich eine gewisse Erstarrung des Stils eintrat. Bestimmte Formeln bildeten sich heraus, die immer wiederkehren. Dieselben

Empfindungen

werden

mit

denselben

Worten

aus-

gedrückt; die Substantive haben ihre ständigen Epitheta; Metaphern, Vergleichungen, mythologische Anspielungen, landschaftliche Scenerie, Motive und Stoffe der Behandlung kehren immer wieder. Der Stil wird zur Manier; auch dem nicht dichterisch Be' ) Werke (Hempel) 13 S. 131.

IX

anlagten wurde es so möglich, von Liebe und Wein zu singen, und die vielen elenden Nachahmungen haben schliefslich die ganze Gattung in Miskredit gebracht, ein Vorgang, wie er sich ja oft in der Literaturgeschichte aller Völker wiederholt. Eine weitere Schwäche, die zum Verfalle der Anakreontik beigetragen hat, lag in ihrer Unwahrheit, die sie allerdings von der Dichtung des 17. Jahrhunderts ererbt hatte. Man hatte sich daran gewöhnt, die Dichtung als ein Reich für sich zu betrachten, in dem Alles erlaubt sei; man verwahrte sich ausdrücklich dagegen, dafs man aus Gedichten auf die Gefühle oder gar das Leben des Dichters schliefse. Da es für die Beurteilung der Goethischen Jugendgedichte wichtig ist, diese Seite der Anakreontik genau zu kennen, sei es gestattet, einige charakteristische Belege beizubringen. Schon H a g e d o r n sagt in seinem Gedicht „An die heutigen Enkratiten" von dem Pöbel, der „die Wollust der edlen Seelen" nicht kennt, „er leere die Becher wirklich, von denen der Dichter doch nur singe". G l e i m sagt in der Vorrede zum 2. Teil seines „Versuchs in scherzhaften Liedern" (1745): „Schlieffet niemals aus den Schriften der Dichter auf die Sitten derselben. Ihr werdet euch betriegen; denn sie schreiben nur, ihren Witz zu zeigen, und sollten sie auch dadurch ihre Tugend in Verdacht setzen. Sie charakterisieren sich nicht, wie sie sind, sondern wie es die Art ihrer Gedichte erfordert, und sie nehmen das Systema am liebsten an, welches am meisten Gelegenheit giebt, witzig zu seyn." Und im Jahre 1753 schreibt derselbe an Uz: „Der ich der Schönen Lob in hundert Liedern sang, und ihre Küss' und ihre Tugend, o wie bereu ich sie mein Leben lang! Denn welch ein Thor war ich: ich sang der Schönen Lob in unerfahrner Jugend, pries ihre KQss' und ihre Tugend, und kannte Kufs und Tugend nicht" Das Anstöfsigste hat er denn auch später aus seinen Gedichten zu entfernen gesucht. L ö w e n verwahrt sich in dem Vorbericht zu seinen „zärtlichen Liedern und anakreontischen Scherzen" dagegen, dafs man ihn der ZQgellosigkeit und Ausschweifung beschuldige. Er sagt: „Man mufs niemals in den Meinungen einer übertriebenen Sittenlehre den Stoff zu der Beurteilung dieser Tändeleien suchen. Diese verraten ihre Einfalt und Scheinheiligkeit nur allzusehr, welche dem Dichter dasjenige zur Last legen wollen, was doch eigentlich das Wesen seiner Gedichte ausmachen mufs." Auch die dichtenden Damen hatten es auf diese Weise bequem, ihre litterarische ZQgellosigkeit zu entschuldigen. C h a r l o t t e U n z e r meint in dem Vorbericht zu ihren „Scherzgedichten" (1751): „Soll ein Frauenzimmer, das sich zu der erhabnen Art zu dichten nicht

X

aufgelegt findet, gar nicht dichten? Gewifs, das wäre zuviel gefordert. — — — Doch man könnte denken, es wäre unnatürlich, wenn ein Frauenzimmer vom Weine singet, weil es unter uns keine Trinker giebt, oder weil es eine Unartigkeit sein würde, wenn ein Frauenzimmer zechen wollte, und ebenso könnte es nicht wohl angehen, dafs sie die Liebe erhebet, weil es wider die Eingezogenheit unseres Geschlechts ist, auch nur den Schein von sich zu geben, als wenn man viel Werk aus der Liebe machte. Allein ein anakreontischer Trinker und ein anakreontischer Liebhaber rühmt und rät blofs das Lieben und Trinken, um einen Scherz zu machen und ein Lachen zu erregen. Wer mehr bei einer anakreontischen Ode denkt, als dieses, wird sich ohne Zweifel betriegen." C o n s b r u c h sagt in seinen „Scherzen und Liedern" (1752): Der Dichter singt: lebt er drum so? Welch ein verkehrter Schlufs! Oft klingen seine Lieder froh, Und er ist voll Verdrufs. Oft singet er von Lieb und Wein, Von beiden unentflammt. W e r will denn so unbillig sein, Dafs er ihn gleich verdammt? Die Schöne, die mein Lied erhebt, Wird von mir nicht verehrt, So wenig Veit und Mops so lebt, Als uns ihr Eifer lehrt. W e i f s e endlich richtet „an die Kunstrichter" eine Apologie des „unschuldigen Dichters": Ich sang von Chloen und Seiinden: Doch lebt ich unschuldsvoll und rein, Und hafste die beliebten Sünden, Die uns nach dem Genüsse reun. Ich träumte stets in Rosenlauben, Und ward am Schreibetische wach: Ich träumte Most und Hochheims Trauben Und schöpfte meinen aus dem Bach. Es wäre leicht, noch mehr Zeugnisse beizubringen. Auf einen, der gröfser ist, als alle Angeführten, sei indessen doch noch verwiesen, auf L e s s i n g , der am 28. April 1749 seine „Kleinigkeiten" dem Vater gegenüber mit dem Ovidischen „Vita verecuneda, est,

XI

Musa jocosa mihi" entschuldigt, und der in seinen Rettungen des Horaz ähnliche Ausführungen macht, die in dem Ausspruch gipfeln: „Je gröfser Oberhaupt der Dichter ist, j e weiter wird das, was er von sich selbst mit einfliefsen läfst, von der strengen Wahrheit entfernt sein. Nur ein elender Gelegenheitsdichter giebt in seinen Versen die eigentlichen Umstände an, die ein Zusammenschreiber nötig hat, seinen Charakter einmal daraus zu entwerfen." Und sogar derjenige, der, dabei im Bunde mit Klopstock, diese ganze schöne Theorie von der Dichtkunst über den Haufen werfen sollte, G o e t h e , setzt der Schwester, damit sie und der Vater nicht hinter seine Liebschaft kämen, bei Uebersendung von Liebesgedichten jene Grundsätze der dichterischen Unwahrheit auseinander.*) Man braucht nicht blind zu sein gegenüber dem Körnchen Wahrheit, das schliefslich auch in solchen Verirrungen verborgen liegt, um das Verwerfliche einer derartigen Auffassung der P o e s i e , zumal der lyrischen, einzusehen, einer Auffassung, die schliefslich dahin führte, dafs, wie Friederike Oeser es ausdrückte, Poesie und Lügen als Geschwister galten, 7 ) oder dafs G o e t z in einem seiner Erstlingsgedichte sagen konnte: „Ich schreibe nur, was ich empfinde, Und dichte, liebster Bruder, nicht."*) Um die Moral zu retten, verwahrt man sich gegen eine falsche Auslegung der Poesie, und um doch in der Dichtkunst nicht hinter den bewunderten Franzosen zurückzubleiben, singt man vom Trinken und Küssen, als ob man den lieben langen T a g nichts anderes zu thun hättte, und wird in den Gedichten so frivol und unanständig, dafs man dem flottesten französischen Libertin nichts nachgiebt. Dafs die Sammlungen der Anakreontiker meist anonym erschienen, ist kein Zufall. W e n n die Herren älter waren und in Amt und Würden standen, leugneten sie gerne ihre Jugendgedichte ab oder suchten sie wenigstens möglichst zu purifizieren. Dieses Streben, die Grundlagen der Sittlichkeit zu wahren und dabei doch nicht in der Kultur zu rückzubleiben mit allen komischen Konsequenzen, die es hat, ist ein echt deutscher, nicht blofs lächerlicher, sondern in seiner Art auch rührender Zug. Es würde dem Bilde, das wir von dem Zustande der Lyrik zu Goethes Leipziger Zeit zu entwerfen versuchten, ein wesentlicher Zug fehlen, wenn wir nicht wenigstens kurz darauf hinwiesen, dafs die Anekreontik, wenn auch die beliebteste Modegattung, so doch nicht die einzige Art der damals blühenden lyrischen Poesie •) Briefe I, S. 91. S. 11 antra.

*) Goethes Briefe I, 1S9, 28.

•) Gedichte ed. Schdddekopf,

XII

war. Neben der leichten, oft frivolen Dichtung der französischen Nachahmer her geht eine ernst gerichtete, von religiös-sittlichen Idealen erfüllte, oft in düstere Schwermut ausartende Poesie, die sich mehr an die E n g l a n d e r und direkt an das klassische Altertum anlehnt, dabei auch stark nationalen Tendenzen huldigt. Sie wird hauptsächlich von den Schweizern begünstigt. Diese Zweiteilung tritt J e d e m , der sich eingehender mit d e r Litteratur und Kultur des vorigen J a h r h u n d e r t s beschäftigt, nicht blofs in der Lyrik und der Poesie überhaupt, sondern in dem ganzen Leben und Denken der Nation entgegen. Ihre hervorragendsten litterarischen Vertreter haben diese beiden Richtungen in Wieland und Klopstock g e f u n d e n , und in gewisser Art wiederholt sich dieses Verhältnis bei Goethe und Schiller. Beide Richtungen laufen gewifs nicht parallel, sie kreuzen sich vielfach und beeinflussen einander fortwährend gegenseitig. Dichter wie Cronegk und Zachariä, um zwei der bedeutenderen zu nennen, vereinigen diese verschiedenartigen Strömungen in ihren Gedichten. W i e es mit dem Leipziger Studenten Goethe in dieser Beziehung steht, mag uns die Betrachtung seiner jugendlichen dichterischen Versuche zeigen, zu der wir jetzt übergehen." 1 ) *) Die Gedichte des Leipziger Liederbuchs Goethes (L. Ldb.) findet man am bequemsten vereinigt im 1. Bd. von H i r z e i s „Jungem Goethe"; aufserdem mit den damals bekannten Lesarten in O. J a h n s Bach „Goethes Briefe an Leipziger Freunde". 2. Anfl. Leipzig 1867, S. 317—240. Meine Abhandlang schliefst sich hauptsächlich an an den ersten Aufsatz von M i n o r s und S a u e r s Studien zur Goethephilologie. Wien 1880, S. 1 — 32. (M.-S. zitirt) und W e r n e r s Recension im Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Litteratur ed. Steinmeyer 1882, Bd. 8, S 2S8 IT. (zitiert Werner). Die Goethischen Werke und Briefe zitiere ich nach der Weimarer Ausgabe (W. u. Br.), wenn nicht ausdrücklich I. H. angegeben ist, worunter ich die Ausg. letzter Hand in klein 8° verstehe. Für die Textkritik kommen hauptsächlich noch in Betracht: Goethes Leipziger Lieder in ältester Gestalt, herausgegdben von R u d o l f K ö g e l in Studia Nicolaitana, Leipzig 1884, S.91—111, und G e i g e r s Mitteilungen im 7.Bd. des Goethejahrbuchs (G.-Jb.), Bd. 7, S. 147 f. Die Schriften S. S c h n i t z e s „Die Entwickelung der Goetheschen Lyrik", Halle 1892, und „Der junge Goethe", Heft 1—8, Halle 1893, sind mir erat nach völligem Abschluls meiner Arbeit bekannt geworden, und ich linde auch nachträglich keine Veranlassung, auf sie einzugehen.

I. Das Neujahrslied.1) Goethe hat dies Gedicht bekanntlich im Dezember 1768, wie er sagt, „in einem Anfalle von grofser Narrheit gemacht" (Br. I, 184), es zuerst wohl als Flugblatt drucken lassen und schliefslich für seine Liedersammlung nochmals überarbeitet Dabei haben die 5. und 7. Strophe eine decentere Fassung erhalten. Versmais und Reimfolge sind in der Anakreontik sehr beliebt und zwar besonders für die Satire auf alle Stände. Eine solche im strengsten Sinne ist das Goethische Gedicht allerdings nicht, aber es ist der Gattung doch nahe verwandt. Es enthält Wünsche, Devisen für die unschuldige (Str. 2) und die erfahrene Jugend (Str. 3), die Ehepaare (Str. 4), die Witwer (Str. 5, Witwen in der älteren Fassung), die Misogyne (Str. 6) und den Dichter selbst (Str. 7); die durchgehende Beziehung auf das Verhältnis der Geschlechter verleiht dem Gedichte seine Einheitlichkeit, die durch die spätere Fassung der letzten Strophe etwas gestört wird. Neujahrsgedichte sind in der Anakreontik wenig beliebt und gerade das von Minor - Sauer zum Vergleich herangezogene Cronegksche Gedicht „Wünsche"') ist ein Zeugnis hierfür. Es beginnt: „Die Mode, Wünsche herzusagen, Ist zwar ein wenig abgetragen; Das ist schon wahr." Auch wenn der Dichter als Raritätenkrämer oder Leierkastenmann auftritt, so liegt das nicht in den Traditionen der Anakreontik. Erst die Stürmer und Dränger wenden diesen Mefsfiguren ihr Interesse zu. Goethe persönlich hatte von früh auf Gelegenheit, das Treiben dieser Leute auf den Frankfurter und Leipziger Messen zu beobachten.») Aus etwas späterer Zeit läfst sich zum Vergleich heranziehen ein „Neujahrswunsch" des Leipziger Musenalmanachs auf das Jahr 1779 (S. 3 ff.). Nachdem der Dichter allen Ständen der Reihe nach Glück gewünscht hat, schliefst er, ähnlich wie Goethe: ') Vgl. M.-S. S. 6 u. S. 8 ff. Werner S. 258. Jahn 117 IT. •) Schriften II, Reutlingen (1777) S. 162. *) Die aas seinen Briefen nnd Dichtungen heranzuziehenden Stellen sind verzeichnet bei M.-S. S. 10.

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Und mir, dem's stark im Busen glQht, Sich Eurem Dienst zu weihen, Mir woU' ein gütiges Geschick Ganz Eure Gunst verleihen. So viel von Euch — Du aber nun, Geliebter L e i e r k a s t e n , Hör auf, bis auf ein ander Lied Voll frohen Klangs zu rasten. Auch die Titelvignette des Schwickert*schen Musenalmanachs für 1773 erinnert an die dem Goethischen Gedichte zu Grunde liegende Vorstellung: ein Knabe nimmt aus einem Kasten, der um seinen Hals hängt und auf dem die Jahreszahl 1773 steht, einen Zettel mit dem Worte jc«0) Sämtliche Schriften, Karlsruhe (Schmieder) 1774, III, 462. ") Versach in scherzhaften Liedern, II, Berlin 1745, S. 27 f.

4 Sieh, sie hüpft auf meinem Schofse! Sieh, sie kQtzelt mich und lachet! Lobe doch, indem Du trinkest, Unser T ä n d e l n , unsre Jugend! Sieh nur, wie vergnügt wir tändeln! Den Reichen, der ihm sein Geld für Doris anbietet, fragt derselbe Dichter: 1 *) Kann es scherzen, kann es lachen, Kann es tändeln wie ein Mädchen? Und Gleims „Lebenspflichten" " ) gipfeln in der Frage: Soll ich mit der Schönen tändeln? J a dies soll ich. Von Klopstock, dem zwar das Wort fehlt, der aber die Sache recht wohl kannte, schreibt Bodmer 1750: „Seine Lust war, den Mädchen Mäulchen zu rauben, Handschuhe zu erobern, mit ihnen zu tändeln. — Vgl. noch: Cronegk: 1 4 ) Tanzt, ihr Schönen, scherzt und singet, Tändelt, lärmet, küsset, lacht. P a l t h e n : " ) vom Scherzen und vom Tändeln (S. 3), beim Tändeln und Spazieren (S. 28), mit der Schönen tändeln (S. 31), durch Tändeln und durch Schmeicheln (S. 31), frei zu tändeln (S. 37), so behäglich mit Dir tändeln (S. 54). — Charlotte U n z e r : 1 6 ) tändeln, lachen, scherzen, spielen (S. 58). — L ö w e n : ' 7 ) lachen, tändeln, scherzen, küssen (S. 11). und: Ein Wort, das Tändeln in der Liebe, Das die Verliebten dreister macht, Ein Ausbruch nie verbotner Triebe, Ein Scherz nur hat Dich aufgebracht. (S. 22. An die erzürnte Doris.) Ferner wird mit „ t ä n d e l n " die Thätigkeit des Dichters und besonders des anakreontischcn Sängers bezeichnet, und seine Gedichte heifsen „Tändeleien". Claudius, Gerstenberg und viele Andere geben ihrer ersten Liedersammlung diesen Titel. Nicolai bricht im 335. Litteraturbrief in den Klageruf aus: „O mein Gott! müssen denn die Studenten auf Universitäten tändeln!" Und schon früher gebraucht Uffenbach 1 8 ) von der Dichtkunst ") Gleim, Versuch in scherzh. Liedern, II, 31. •). — Z. 6 e i n K i n d : „Kind" als Bezeichnung der Geliebten ist älter als Mädchen 10I ). Schon im Mittelhochdeutschen kommt es einige Male in diesem Sinne vor. Bei Opitz und den Schlesiern ist es ziemlich häufig, bei Günther ist es zur Manier geworden und auch bei den Anakreontikern noch beliebt. Aus Goethes Leipziger Zeit sind noch anzuführen „my ci.ild" und „l'enfant autant aime" 1 0 1 ); ferner „Laune des Verliebten" V. a, 192 u. 294. Auch spater noch wird das Wort von Goethe öfter fllr junges Mädchen oder Geliebte g e b r a u c h t ' — Z. 7 f. pafst weder zu der folgenden Schilderung, die sich in viel bescheidneren Grenzen hält, noch entspricht dem das wirkliche Verhältnis " ) An Lottchen, W. I, 76. " ) W. IV, 869. Aas den Gedichten ist noch zu vergleichen: W. I, 74. 77. 28«. S54. II, 160. III, «5*. " ) Vers. 8. Teil, Berlin 1753, S. 81. «») Gedichte ed. Schüddekopf, S. 86. (D. Litteratardenkm. 48.) "») Vgl. m ) W. I, 29. 76. 122. 220. Grimms Wtb. 5 Sp. 713 ff. ") Ged. S. 98. •») Ged. S. 14».

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reizt", sagt Kant. Das, was zur Zeit, als die Anakreontik ihre Blüten trieb, besonders reizte, war die Anmut, die Lieblichkeit Daher wird „Reiz" besonders für diese Art der Schönheit gebraucht, für die „Grazie", wie S u l z e r 1 " ) sagt. Die Anakreontik hat das Wort in die Dichtersprache eingeführt, und ihr Gebrauch war von Entscheidung für die Bedeutung des W o r t e s 1 " ) . Das altere „Reizung", das man anfänglich neben und an Stelle von „Reiz" gebrauchte, mufste dem neuen Worte bald Platz machen. Hagedorn wendet es noch manchmal an neben dem häufigeren „Reiz". Bei Gleim, Uz, Weifse, Cronegk sind Reiz und reizend Lieblingswörter; sehr selten werden sie in der Lyrik Klopstocks und Zacharias gebraucht 484 ). Goethe hat „reizend" imL.Ldb. in der Oeserschen Fassung des Hochzeitliedes V. 18 und im 19. Gedicht V. 4 1 8 6 ). Auch in späteren Goethischen Gedichten kehren die beiden Wörter häufig wieder 1 "). In der Stelle des Wahren Genusses, von der wir ausgingen, ist die ursprügliche Bedeutung von Reiz noch deutlich zu erkennen: Der Verstand, der die Geliebte beseelt, reizt und entzückt den Dichter immer von Neuem und verhindert, dafs sich die Empfindung für ihre Schönheit abstumpfe. — Z. 7 f. Ist mehr als eine bescheidene Redewendung zu Ehren der Geliebten, gehört auch nicht in den Phrasenschatz der Anakreontik. Man vergleiche aus dem schon oben zitierten Briefe an Moors vom 1. Okt. 66: „ J a , Sie ist des grofsen Glückes werth, das ich ihr wünsche, ohne jemals hoffen zu können, etwas dazu beyzutragen" 1 "); ferner den ebenfalls oben erwähnten Brief an Behrisch vom 7. Nov. 67: „und wenn ich dann am Ende bin, so bitte ich Gott, sie mir nicht zu g e b e n " ' " ) , und endlich die beiden Briefe vom März 68 und a6. Apr. 6 8 ' " J , besonders den ersteren, wo die Schlufszeilen unserer Strophe wiederkehren in den Worten: „Sie ist ein Engel und ich binn ein Narr." Wer die Briefe an Behrisch liest, wird erstaunt sein, welche Aehnlichkeit dieses erste Liebesverhältnis Goethes, über das wir genauer unterrichtet sind, mit •") Seine Ausführungen in der Allgem. Theorie der schönen K ü n s t e , 4. Teil. 2. Aufl., Leipzig 1791, S. 88 ff. sind hierüber zo vergleichen, a u c h Lessings Definition im 31. Stack des Laokoon. ) Zur Kritik des Textes «ergleiche man die Ausfahrungen Kögels a. a. 0 .

45 die Einzelheiten des Gedichtes erst an ihrer Stelle zur Erörterung kommen werden. Es ist zunächst nötig, auf die allmähliche Ausbildung unseres modernen Naturgefühls im vorigen Jahrhundert hinzuweisen. Naturschilderung und „Empfindung" sind die beiden Elemente, aus denen es erwachsen ist. Brockes, Haller, Kleist schaffen unter englischer Beeinflussung mit ihren breiten Beschreibungen die Vorbedingung zu seiner Entwickelung: warmes Interesse für die Einzelheiten der Natur wird geweckt Die Empfindsamkeit, die Vertiefung des Gemütslebens, die sich zuerst auf religiösem Gebiete zu erkennen giebt, trifft mit diesem neuen Interesse zusammen und so entsteht die Art der poetischen Naturbetrachtung, die uns noch heute eigen ist. Ein charakteristischer Zug derselben ist das Gefühl für die Schönheit der Nacht und den Zauber des Mondlichts. Es wird sich hauptsächlich darum handeln, nachzuweisen, welche Tradition in dieser Beziehung vorhanden war, als Goethe in Leipzig studierte 4 ). Auch hierbei werden wir auf die beschreibende Poesie zurückgeführt. B r o c k e s h a t wiederholt und eingehend die Mondnacht geschildert und die verschiedenartigen Lichteffekte einer solchen studiert*). Auch die Empfindung ihrer Lieblichkeit fehlt nicht: ein sQfser Reiz quillt ihm aus dem Mondlicht, das durch die Augen das Herz erquicket und erfrischt. An einer anderen Stelle heifst es: „Durch ein so sanftes Licht Empfindet man, wie durchs Gesicht Ein reitzendes Vergnügen dringet, Das fast ein' überirdsche Lust der dadurch gantz erfüllten Brust, In süffer Stille, bringet. Es fängt der angenehme Glantz Allmählig an, sich durch die Sehnen Im gantzen Cörper auszudehnen." Die Schilderung der Nacht und ihrer Reize wird dann seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem beliebten Thema der Lyrik, der ernsteren sowohl als der heiteren der Anakreontik, und zwar ist eine doppelte Auffassungsart zu unterscheiden. Der Ernst, die Schwermut, die melancholischen Schauer der Nacht, die die Gedanken zu erhabenem Flug auffordern, werden einerseits dargestellt, eine Richtung, die stark von Young und Ossian beeinflufst wird; andrerseits wird das Anmutige, Schmelzende der Mondnacht, ihr verführerischer Reiz, der das Herz den zarten Empfindungen der Liebe öffnet, geschildert, und hier scheinen mehr südliche, besonders französische Einwirkungen «) Ueber die Schilderung der Nacht im 17. Jhd. Tgl. Waldberg, Renaissancepoesie, S. 125 f. n. Etlinger, H. v. Hofmanswaldau, S. 48 f. •) Z. B. Irdisches Vergnügen 2. Aufl. I, 44 u. 196. II, 148ff, n. 153ff. Von ähnlicher Art sind die Schilderungen Trillers in seinen „Poetischen Betrachtungen" I, 2. Aufl., Hcmburg 1739, S. 9IT., III, Hamburg 1742, S. 55 ff.

stattgefunden zu haben. Die beiden Gedichte des L. Ldb.'s schliefsen sich mehr dieser letzteren Richtung an. Man hat von einem plötzlichen Auftauchen des Mondes in den Gedichten der siebenziger Jahre gesprochen und behauptet, die Nacht sei bei denAnakreontikern nicht sonderlich beliebt, der Mond werde von ihnen fast niemals besungen, ja nicht einmal bei Beschreibungen der Nacht als Zier der Landschaften verwendet Goethes Leipziger Gedichte seien in dieser Beziehung originell und er sei einer der ersten gewesen, bei welchen sich jene Geschmacksrichtung findet*). Dafs dies unrichtig ist, mögen die folgenden Beispiele darthun, zunächst einige aus der eigentlichen Anakreontik. L ö w e n s Gedicht „Der Abend* enthalt folgende Schilderung'): Seht, Morpheus wirft die Schatten aus brauner Hand Auf Flur und grüne Matten, aufs stille Land. Das Bild von holden Träumen, der kalte Mond, Der nur bei stummen Bäumen in Wäldern wohnt, Geht aus dem weiten Meere im Glanz herauf. Der Nächte stille Heere stehn wachsam auf. Auf klaren Silberbächen spielt jetzt ihr Strahl. Der falbe Schimmer zeiget der Thäler Pracht, Die Höh so grenzlos steiget und schwindeln macht. Die U n z e r i n n preist in ihren, im selben Jahre wie die Löwenschen Gedichte erschienenen Scherzgedichten die Sommernacht*) Nein, nichts übertrifft doch die kühlenden Nächte, Die Nächte nach hitzigen Tagen des Sommers! Erquickende Wollust durchdringet die Glieder Und stärkt und belebt) Verführerisch tönen der Nachtigall Lieder. Aus jedem Gebüsch schallt Wollust und Liebe Es rauschen die schwankenden Aeste gelinder Und hören ihr zu. Unzählige Blumen verhauchen hier Düfte. Der wachen Viole, der taumelnden Rose Balsamische, reine, gesunde Gerüche Erfüllen die Luft Am blauen Gewölbe der oberen Lüfte Erscheinet Diana im blassen Gewände. «) Werner a. «. 0. S. MS u. 847. ') Zlrtl. Lieder u. anekr. Scherze, 1761, S. 74 ff. •) Vera, in Scherzfedichten, S. 1711.

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Joh. Aug. B e y e r , dessen .Vermischte Poesien* 1756 erschienen, besingt wiederholt die Nacht und erwähnt häufig den Mond: Der heifse Titan weicht und angenehme Stille Und kahles Abendrot umfliefst den schwärzern Wald, Der müde Scherz, der träge West, Und Amor sucht der Schatten Aufenthalt9). Der Mond sieht freundlicher hernieder Und sucht Endymion schon wieder, Und Zephir scherzet um den Strauch 10 ). Wie ruhig wallt die Nacht um mich! Der Silbermond erhebet sich. Der West erquickt sich dort im Thal, Da ruht er aus am Wasserfall. Bald aber kommt er munter wieder, Und spielt in BQschen kleine Lieder 1 1 ). Nicht eine Sommernacht im bunten Veilchenthal, Am kleinen Wasserfall, dem Sitz der Nachtigall, Bey dir und beim Tiren verschenkt ich fllr die Freuden Der schönsten Residenz, die Sklaven nur beneiden 1 '). O Freund, jetzt kommen schon die Abendwolken wieder, Die grofse Welt schläft meist schon mit dem Tag auch ein, Uns lockt der leise West, uns locken sanfte Lieder, Uns winkt jedweder Zweig in jenem Birkenhain 1 *). Nichts stört das Thal voll sichrer Dunkelheit, Der Hochmut schläft und bei ihm wacht der Neid, Doch in mein Herz führt, muntrer, jeder Sinn, Ruh und Zufriedenheit und sQfse Wollust hin 14 ). In einem Gedichte von Uz .Der Abend* finden wir folgende Strophen: Ich will zu jenen Büschen gehn, Die sanft von Zephyrs Ankunft beben. Da hoff ich Lesbien zu sehn, Wann sichre Schatten uns umgeben. Bereits ertönt in stiller Luft Der Nachtigall verliebte Klage: Sie hflpft von Zweig auf Zweig und ruft Mit sQfsern Liedern als am Tage 1 *). •) Venn. P. Frankf. u. Leipzig 1758, S. 5. ») A. a. O. S. 39. ekommen und sie dann abdruckten, kann eigentlich nicht in Erstaunen setzen'). In J wurden nur Kleinigkeiten geändert. In Z. 1 tritt „Einst" an Stelle von „Jüngst"; die Beziehung auf die Gegenwart mit bestimmterer Bezeichnung der Zeit wird entfernt, :benso wie „heute" im 2. Ged. Str. 6 (s. oben); in Z. 5 wird die Wiederholung des „ J a " vermieden, indem an Stelle des ersten ') Der Schwickertsche Leipziger Musenalmanach auf das J a h r 77 druckt so die }de a n Zachariä ab.

65 „Da" gesetzt wird; in Z. 8 endlich wird die Pointe durch das an Stelle von „damit" getretene „dafs ja" verschärft Zu der Ueberschrift wird in J bemerkt: „Nach dem Italiänischen." Die „Nachgelassenen Schriften" drucken die Fassung von J ab, nur dafs der Zusatz zur Ueberschrift fehlt — Der Umstand, dafs das Gedicht schon in H ' überliefert ist, weist auf Entstehung in Leipzig hin, genauere Anhaltspunkte fehlen. Die früher herrschende Ansicht, Goethe habe Frideriken das Liederbuch in Leipzig hinterlassen, hat Werner*) zu erschüttern versucht, indem er aus einer Stelle der Epistel von Fr. Oeser vom 6. Nov. 68a) schlofs, Goethe habe erst von Frankfurt aus seiner Freundin das Liederheft überschickt Kögel ging einen Schritt weiter mit der Behauptung, jene Epistel sei das Begleitschreiben zu dem Liederbuch 4 ). Die ganze Streitfrage hat nur insofern Wert, als ihre Entscheidung für einige noch zweifelhafte Lieder entweder Entstehung in Leipzig beweist, oder die Möglichkeit läfst, sie nach Frankfurt zu setzen. Von einigen in diesem Liederheft überlieferten Gedichten, wie dem fünften („Dem Schmetterling") und dem Lied „An Venus" liefs sich früher in der That die Frankfurter Entstehung recht wahrscheinlich machen. Seit Veröffentlichung der Briefe an Behrisch weifs man, dafs gerade diese zwei nach Leipzig fallen. Schon der Umstand, dafs bei sämtlichen Liedern des Oeserschen Heftes die Breitkopfischen Melodien stehen, hätte bedenklich machen sollen. Wären einige davon erst in Frankfurt gedichtet worden, so wäre ihre Komposition und die Zusammenstellung zu einem Heft in der kurzen Zeit kaum möglich gewesen. Dafs die Lieder Friederiken nicht mit jenem poetischen Brief übersandt worden sein können, läfst sich mit genügender Sicherheit darthun. Aeufsere und innere Gründe sprechen dagegen. Ein Heft von 7 Bogen in kleinem Notenfolio von Frankfurt nach Leipzig zu schicken, war damals keine so einfache Sache wie heutzutage. Goethe wartete zur Uebersendung von Packeten gewöhnlich eine „Gelegenheit" ab. So schickte er Käthchen im September 68, offenbar durch einen Bekannten, der nach Leipzig reiste, eine Scheere, ein Messer und Leder zu Pantoffeln, nebst einem scherzhaften Begleitbrief. Er verspricht ihr am 1. Okt., ein Halstuch werde „mit ehster Gelegenheit folgen" 6 ). Er verzichtet am 9. Nov. 68 in einem Brief an Oeser darauf „ein Paquet Briefe und ein Paquet Kleinigkeiten" nach Leipzig zu schicken, da die Rückreise des Tischlers Jung sich verzögert habe; ») A. a. O. S. 254 r.

") Br. I, 170 IT.

«) A. a. 0. S. 101 f.

») Br. I, 162 f. 165, 27 f.

66 die Sachen, meint e r , möchten nun auf eine andere Gelegenheit warten; und als derselbe später doch noch durch Frankfurt kommt, giebt er ihm in der That einiges an Oeser mit11). Und gerade jenem Brief vom 9. Nov. ist die poetische Epistel an Friederike vom 6. Nov. eingelegt worden. („Inliegender Brief, den ich mich unterstanden habe, an Ihre Mademoiselle Tochter zu schreiben.")') Und diesem eingelegten Briefe sollte noch das 7 Bogen in kleinem Notenfolio starke Liederheft beigelegen haben? Und Goethe sollte dem alten Oeser gegenüber wohl des eingelegten Briefes, aber nicht des mitgeschickten starken Heftes gedenken? — Ebenso wie durch diese äufseren Gründe wird aber auch durch den Inhalt der Epistel selbst die Möglichkeit ausgeschlossen, dafs das Liederbuch beigelegen habe. Der Brief ist auch nicht entfernt ein Widmungsschreiben, sondern sein Hauptinhalt ist eine Schilderung des Gesundheitszustandes Goethes und seines Lebens in Frankfurt"). Erst am Schlüsse, ganz beiläufig, kommt der Dichter auf die Liedersammlung zu sprechen, die er, wie ich annehme, Friederiken bei dem Abschiedsbesuch, von dem er in der Epistel redet, überreicht hatte. E r beschreibt ausführlich seine üble Lage und sein trauriges Leben in Frankfurt. Der einzige Trost für ihn ist seine gute Laune und die Gewifsheit, dafs die Leipziger Freunde seiner gedenken. Dafs sie an ihn denken m ü s s e n , besonders wenn sie sich in Dölitz auf ihrem Landgute befinden, das will Goethe Friederiken durch den Schlufs des Briefes, in welchem von den, teilweise in Dölitz entstandenen, Liedern die Rede ist, erklären. Es ist das erste Mal, seitdem er von ihr Abschied genommen, dafs der Dichter sich mit der Freundin unterhält Und der Lieder gedenkt er an erster Stelle mit den Worten „ d i e L i e d e r , die ich Dir gegeben". Wenn Kögel") bekennet, nicht zu verstehen, wie man aus diesen Worten habe schliefsen wollen, dafs das Liederheft noch in Leipzig überreicht sein müfste, so mufs ich im Gegenteil gestehen , es nicht begreifen zu können, wie Goethe mit diesen Worten zum ersten Male auf eine Liedersammlung hätte hindeuten sollen, die er zugleich mit dem Briefe der Empfängerin überschickt. Meiner Meinung nach entscheidet allein diese Stelle schon gegen Kögel. Goethe sagt: Die Lieder, die ich Dir bei meinem letzten Besuche überreicht habe, gehören Dir und Deinem lieben Dölitz als Eigentum. Dort auf den Wiesen; am Bache, im Walde sind •) Br. I, 177, 12ff.; 181, 18IT. n. 182, 17f. *) Br. I, 178, 4ff. •) Goethe selbst bezeichnet dies auch als Inhalt seiner Epistel dem Vater gegenüber (Br. I, 178, Gf.). •) A. a. 0 . S. 101 f.

67 d i e s e L i e d e r entstanden, am Abend zu Hause habe ich sie aufgeschrieben: D u b e s i t z s t s i e j e t z t . Zur Belohnung nimm sie manchmal mit nach Dölitz und singe sie dort. In der Antwort auf diesen Brief ergreift Friederike die erste Gelegenheit, die sie hatte, um ihr Mifsfallen über einige Lieder auszusprechen; erst nachdem er sie lange hatte warten lassen, antwortet Goethe wieder, am 13. Febr. 1769. Das alles liegt völlig klar; und damit gewinnen wir einen sicheren terminus ad quem für alle in H * enthaltenen Gedichte. Sie fallen in der That, wie sich zeigen wird, zum gröfsten Teile in die Zeit der Bekanntschaft Goethes mit der Oeserschen Familie. — Wenn ich etwas lange bei dieser Kontroverse verweilt habe, so hoffe ich sie dadurch wenigstens endgiltig erledigt zu haben. Das kleine vierte Gedichtchen des L. Ldbs. ist also jedenfalls in Leipzig entstanden. Dafs es aus dem Italienischen übersetzt sei, kann man dem Dichter wohl glauben, zumal es völlig auf litterarischer Tradition beruht, und Eigenes vermissen läfsL Nur in dem Ausdruck „ G e l i e b t e r " (Z. 6) weicht Goethe von der üblichen Redeweise der Anakreontiker ab. Das substantivisch gebrauchte Partizip von lieben ist bei ihnen recht selten; bei Klopstock dagegen findet es sich häufig. Goethe hat es noch im 16. Gedicht V. 15 und im 18. V. 6; aufserdem in der Laune des Verl. V. 76 u. 291, in den Mitschuldigen 261 u. 279. Auch später wird es gerne von ihm gebraucht, besonders oft in den antikisierenden Gedichten. — Das dem Gedichte zu Grunde liegende Motiv ist, wie bekannt, in der Anakreontik sehr beliebt. Die Schöne, die sich blos sträubt, um besiegt zu werden und dadurch den Genufs erhöht, ist uns schon aus den Bemerkungen zum zweiten Gedichte bekannt Dafs Goethe gerade das Weifsesche Gedicht „Der Kufs" nachgeahmt habe, ist bei der Verschiedenheit beider Gedichte und der weiten Verbreitung des Motives nicht anzunehmen 1 0 ). Ich füge noch einige schwerer zugängliche Gedichte als Belege zu dem von Anderen beigebrachten Material. Ein Gedicht von J . Ch. Krüger, die Spröde überschrieben, lautet: Ach dürft ich einen Kufs — Nein, nein, Schrie Phyllis; Dämon bath, sie möcht es ihm verzeihn. Sie gab ihm den Verweis: Ich mufs mich vor Dir schämen, Du bittest erst und warst so nah schon, ihn zu nehmen 1 1 ). ») M.-S. S. 18 f. Werner im Archiv fdr Litteratnrgesch. X. Bd. S. 74—81. E. Schmidt GJb. VI, 325 f. Minor GJb. VIII, 229. Englert Zs. f. vgl. Litteratnrgesch. N. F. V, 120 f. ») Poet. u. theatr. Sehr. S. 76.

68 In einem Gedicht des oben genannten J . A. Beyer findet sich die Strophe: Ihr Blick bedrohte schon Mirtillen, Allein, was that Mirtill? Er kofste Doris wider Willen, Und Doris hielt auch still"). Günther schon behandelt das Thema eingehend in seinem Gedicht „Auf die Verstellung derer Frauenzimmer" 13 ). Der früheste Beleg, den ich in der neueren Litteratur gefunden habe, ist ein lateinisches Gedicht des Thomas Morus, das mir allerdings nur in einer Uebersetzung Burkhard Menkes bekannt i s t Es trägt die Ueberschrift „Chloris läfst sich zwingen*: Strephon kommt zu der einsamen Chloris und bittet sie um Liebe. Doch sie wehrt sich. Zuletzt brach Strephon noch in vollem Eifer aus: So schwör ich bei mir selbst und meinem blanken Degen, Und hiermit zog er auch zugleich den Degen raus, Wo Chloris sich einst läfst zur Gegengunst bewegen, So geh ich zornig fort; das war ein Donnerwort Drum sprach sie ganz entzückt: ach Deine Chloris liebet, Bleib edler Strophon bleib und fahre weiter fort. Doch thust Du mit Gewalt, was Dir zu thun beliebet 14 ). Zu weiteren Bemerkungen bietet das Goethische Gedicht keine Veranlassung. — " ) Verm. Poesien. S . 16. •») Gedichte (1735) S. ü i l f . Linde, Galante Gedichte, 2. Aull., Leipzig 1710, S . 73.

" ) Philander von der

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V. Der Schmetterling. Während die drei vorhergehenden Gedichte ein glückliches Liebesverhältnis vorauszusetzen scheinen, blickt das neue Gedicht wehmütig auf das Verlorene zurück. D e r Dichter denkt sich als gestorben, und in Gestalt eines Schmetterlings flattert er zu den altbekannten Plätzen, wo er mit seinem Mädchen einst geweilt. Er findet auch jetzt wieder ein zärtliches P a a r dort und giebt dem Mädchen durch sein Umherflattern Gelegenheit, sich von dem allzu stürmischen Liebhaber zu befreien. Dafs dies auch seine Absicht war, wird erst durch die spätere Ueberschrift „Schadenfreude" ausgesprochen. Ebenso läfst das Gedicht unentschieden, ob das Mädchen des Dichters frühere Geliebte ist. Das Gedicht gehört zu den drei Liedern, die im Mai 68 an Behrisch gesandt wurden. Es mufs kurz vorher, im Frühjahr 68, entstanden sein, gerade wie „Die Nacht" und „ A n Venus". Mit dem letzteren Gedichte zeigt es auch inhaltlich Verwandtschaft; der Gedanke an den Tod findet sich in beiden, und wenn er in dem einen Venus anruft, ihm auch nach dem Tode die Erinnerung an das genossene Glück zu lassen, so sieht er in dem andern seinen Wunsch erfüllt, indem er im Bilde wiedersieht, was der Tod ihm raubte. „Es ist ein zweytes Glücke, eines Glücks Erinnerung," hatte er in der Bitte an Venus ausgerufen; „bin so glücklich wie ich war," heifst es im „Schmetterling". — Den Gedanken an den Tod treffen wir an verschiedenen späteren Briefstellen. Er mufs Goethe beschäftigt haben in Leipzig im Sommer 68 bei und nach seiner schweren Krankheit. Darauf beziehen sich die Stellen aus zwei Briefen an Friederike Oeser (6. Nov. 68 u. 13. Febr. 69)'). Der Gedanke kehrt wieder bei seiner Erkrankung in Frankfurt in einem Briefe an Käthchen Schönkopf vom 30. Dez. 68'). A u f diese Parallelen gestützt, wollte man früher das Gedicht entweder in den Sommer oder in den A n f a n g des Winters 68 setzen. Durch °) II, 309. >>) II, 325. ») II, 303 • ) Gedichte (1736) S. 889.

91 zitternde Braut und der Abschied von der Mutter fehlen gleichfalls nicht. In einem Hochzeitsgedicht H a l l e r s vom Jahre 1731 treffen wir wieder Hymen mit der Fackel („Vertrautes Paar! dem heut zur Liebe des Hymens holde Fackel brennt")'*)• 1748 erschien in den Bremer Beiträgen ein Gedicht „An die Liebe. Bei einer Vermählung"* 6 ), das aufser dem Fackel tragenden Hymen eine Reihe von Zügen mit Goethes Gedicht gemeinsam hat: Dann so Iafs den Hymen rufen, Dessen Fackel dir die Stufen Zu der Lagerstatt entdeckt, Wo die Wollust sich versteckt. Stelle zu des Bettes Seiten Jugendliche Fröhlichkeiten, Das verschmitzte Widerstreben, Nebst der Neigung, nachzugeben, Das verschwiegene Bemühen, Und die Kunst, nur schwach zu fliehen. Lafs von Cyperns sanften Lüften Noch das ganze Zimmer düften, Und sobald die Braut erschienen Eile du ihr selbst zu dienen. Gieb den Kranz von ihren Haaren Dann der Tugend zu bewahren, Lafs den Liebling, voll Entzücken, Halb den schönen Hals erblicken, Lafs ihn mit verwegnen Händen Ihr den Gürtel frisch entwenden, Und gebiete dem Geniefsen Erst die Kammer zuzuschliefsen, Dann mit lauschendem Bemühen, Auch den Vorhang zuzuziehen, Und zuletzt doch bey dem Lieben Wird das Letzte nie beschrieben. Das zögernde Widerstreben der Braut, der „stille Scherz", wohlriechende Düfte, das Abbrechen am Schlufs finden sich hier und bei Goethe. Und wenn die Liebe aufgefordert wird, mit dem Bräutigam gemeinsam die Braut zu entkleiden, so braucht man nur Amor an Stelle der Liebe zu setzen, und man hat das Goethische Motiv. — Endlich mufs noch der Schlufs eines Hochzeitsgedichtes von L ö w e n (1751) angeführt werden: Seht, Amor will euch selbsten führen, Verliebte Z w e y ! nun seyd vergnügt, Wie mufs sein Schmeicheln euch nicht rühren, Sein Bogen, der gebietrisch siegt. U) Gedichte (1768) S. 139. » ) Bd. V , S. 81 f. Ich verweise hier noch auf ein Gedicht T r i l l e r e , in dem sich Hymen, die Hochzeitsfackeln und die weinende Mutter linden. Poet. Betrachtungen III (17*2), S. 451.

92

Der Venus leichtes Volk fliegt um das Bette. Der eine thut mit euch vertraut, Der dritte trocknet ihr die Thränen Und färbt die W a n g e n , blafs vom Sehnen Begleitet Euch zur süfsen Ruh Und zieht den dfinnen Vorhang z u " ) . Unter anderen bereits bekannten Zügen treffen wir hier auch wieder den discreten Schlufs. — Man sieht aus den angeführten Stellen, dafs der die Fackel tragende und die Liebenden geleitende A m o r in der vorgoethischen Litteratur allerdings anzutreffen ist, nur mufs man sich immer, um diese Citate nicht zu überschätzen, die ungeheuere Masse von

Hochzeitsgedichten

vergegenwärtigen,

in

denen der Liebesgott ganz fehlt oder doch nicht in jener Rolle auftritt.

Man wird auch bemerkt haben, dafs die Aehnlichkeit mit

dem Goethischen Gedicht wächst, j e mehr wir uns der Zeit des Dichters nähern. Kehren wir nun, nach einzelnen Vorblicken, zu denen uns die Citate nötigten, zu der

ersten Strophe des

Hochzeitsliedes

zurück. — W e n n A m o r bei Goethe wacht, „dafs nicht die List mutwilliger Gäste des Brautbetts Frieden untergräbt", so fanden wir oben

schon bei Günther Aehnliches; der Schlesier Daniel

Stoppe beschreibt einen solchen Scherz in einem Gedicht:

„Im

Nahmen eines Andern, als sie ihm einen Flederwisch in das Bette heimlich practicieret hatte" 8 1 ).

Und Henrici giebt in einem Hoch-

zeitsgedichte den R a t : „Es giebt zuweilen lose Gäste, Die stöhren die verliebte Ruh, Drum schlüsse stopfe fein die Löcher z u " ' 8 ) .

man die Kammer feste Und

Das in der damaligen Poesie sonst

wenig übliche Beiwort „ m y s t i s c h " , das erst in Frankfurt in das Gedicht kam, erinnert an Goethes Beschäftigung mit Magie und Mystik.

W i e l a n d spricht im Idris, den Goethe damals in Frank-

furt las, von Seelen, die „in mystischer Entzückung schweben" " ) . Mit dem „ W e i h r a u c h W i r b e l " sanfte Lüfte" in

verglichen wir schon „Cyperns

dem Gedichte der Bremer Beiträge; in etwas

anderem Zusammenhang

finden

sich die Weihrauchdämpfe

in

einem Gedichte Zachariäs „ A n Seiinden"; an ihrem Namenstag, sagt er, soll der schönste Weihrauch sein heitres Zimmer durch-

* ) Zärtl. Lieder a. anakr. Sch. S. 39. " ) Erste Sammlung von Daniel Stoppens Siles. Teutschen Gedichten, Frankfurt und Leipzig 1743. S. 67. • ) Picanders ErnstSchertzhafte und SatYrische Gedichte I, 3. Aufl. Leipzig 1736, S. 463. » ) Idris uZenide III, 115.

93 dampfen, „dafs Gram und schwere Dünste fliehn**0). Von „sOfsen Balsamwirbel* spricht Wieland in Zemin und Gulindy")" Die Ungeduld des Bräutigams am Hochzeitstag, die in der zweiten Strophe geschildert wird, erwähnt auch Günther in dem schon genannten »Hochzeitsscherz*: Jetzt schilt er des Tages beschwerliche Länge; Jetzt wird ihm der Kleider Gefängnifs zu enge; E r dehnt sich, er wartet, er sehnet und schreyt: Ach! komm doch du Auge der nächtlichen Z e i t ! " ) An Str. 2, 3 f. klingen Verse Hagedorns aus seinem Gedichte „Die Nacht" an: Der schöne Mund, den man verehrt, Bestrafet, zürnt gelinder, Wird zärtlich, küfst geschwinder, Wann nichts die sichern Küsse stört"). Die Abschied nehmende Mutter, die in der ältesten Fassung der Strophe genannt wurde, findet sich auch in der Rostschen „Brautnacht": Die holde Mutter gab jetzt den Gesetzen nach, Sie leuchtete voran bis in das Schlafgemach® 4 ). Auch in dem lateinischen Gedicht Günthers trafen wir sie an. — „ S t i l l " in Z. 8 ist ein echt Goethisches Epitheton und wird bis ins späte Alter hinein mit grofser Vorliebe von ihm gebraucht, bezeichnend für den innersten Kern seines Wesens. In der Oeserschen Fassung des Hochzeitsliedes stand es noch einmal in der 3. Str. bei „Scherz". Aehnliche Verbindungen wie in unserem Gedicht finden sich auch später bei dem Dichter: „Mit stillen Freuden", „bei stillem Dämmerlicht", „die stille Freude", „bei stiller Kerze Schimmer", „Wenn die stille Kerze leuchtet"» 6 ). Das Wort ist bei Klopstock und den unter dessen Einflufs stehenden Dichtern, wie z. B. bei Cronegk, sehr beliebt und von dieser Seite auch wohl auf Goethe übergegangen. — In Z. 1 von Str. 3 ist „ b e b t " (auch in Str. 1) eingesetzt worden. Das Wort findet sich zwar auch in der Anakreontischen L y r i k , ist aber besonders bezeichnend für Klopstock. In Goethes Gedichten ist es später ziemlich s e l t e n " ) . Die z i t t e r n d e Braut (Z. 3) fanden wir schon in anderen Gedichten erwähnt; mit dem Goethischen •>) III, 111. " ) V. 840 Supplemente II, S. 91. • ) Ged. S. 926. " ) W. III, 166. ") Vermischte Gedichte von Herrn J. C. Rost, herausgegeben 1769, S. 112. ») III, 365. IV, 30. 115. 174. VII, 28. «) W. I, 58. 81. 330. II, 73. IV, 190; vgl. auch Laune des Verl., V. 455.

94 Verse (in beiden Fassungen) läfst sich eine Stelle aus einem Hochzeitsgedichte HofFmannswaldaus vergleichen; Venus redet der Braut zu: Dies, was dein Ohr itzund nicht ohne schrecken höret, Und dein gesichte nur mit zittern schauen will, Wird bald dein lust-lied seyn und sQfses possenspiel"). Auch Ganther hat das Motiv in seinem Hochzeitsscherz: Nun schleichet dein Schätzgen mit wankendem Schritte, Nun schleicht sie zu Bette, nun mifst sie die Tritte. Sie zittert, sie bebet, verkleinert die Blicke, Vor Warten der Dinge, die itzo geschehn; Sie grämt sich zu fühlen, und scheut sich zu sehn, Verhüllet den Wohlstand der züchtigen Röthe; u. s. w.'"). Dafs der Bräutigam die Braut entkleiden hilft, ist ein Zug, den auch Rost in seinem Gedichte ziemlich breit ausgeführt hat. „ S c h a l k " und „ s c h a l k h a f t " gehören ebenso wie „lächeln" zu der Grazie der Anakreontik, ihr scheinen die Wörter erst ihre gute Bedeutung zu verdanken 8 0 ). Mit dem Schlüsse verglichen wir oben schon einige Stellen'; auch an das Ende des im Anhange mitgeteilten Gedichtes Rochons sei erinnert Das vorhin erwähnte Hoffmannswaldauische Hochzeitsgedicht läfst am Schlüsse das Liebespaar durch Amoretten mit Rosen bestreuen, die es fast völlig bedecken: Man schaute nichts von ihm, ein sanfft gereusch allein, Das wollte lispelnde fast ihr verräther seyn, Als wann sie sich nunmehr der höchsen lust befliessen: Doch Rosen lassen nicht geheime Sachen wissen *"). Pietsch schliefst ein derartiges Poem mit den Versen: Komm, Hymen! komm! Dianens Licht Versteckt sich schon am Wolkenbogen, Man sieht auch die Verliebten nicht, Der Vorhang ist schon zugezogen 4 1 ). Breckes bricht ein Hochzeitsgedicht ab mit den Worten: Hie aber lafs ichs Reimen bleiben; Die Feder wird mir weggerückt, «) Neuk. Sammig. r v (1708), S. 179. ») A. a. 0. S. 927. ») Vgl. Gleim, Vers. I, 60 „Seht, wie schalkhaft kann er lächeln"; Uz S. 16 „Ihr Auge sieht mich schalkhaft a n " ; der anakreontischen Muse schreibt Uz „schalkhaftes Tändeln" zu, S. 60. Von Oleim sagt er, er scherze schalkhaft, S. IM. Aus Thaliens Blicken „spricht die Schalkheit", der«. S. 76. ) Herrn D. Johann Valentin Pietschen Gesamiete Poetische Schriften, Leipzig 1735, S. 210.

SS Denn dies nach Würde zn beschreiben, Ist Amors Kiel allein geschickt 4 '). In einem Hochzeitsgedicht Patzkes endlich lautet der Schlufs: Schön wird dir jeder Frühling grünen, Dir wird ein dauernd Glücke dienen, Das nie ein strenger Wechsel trennt! O Brautnacht! — nein! hier mufs ich schweigen; Die Brautnacht weifs von keinen Zeugen 4 *); Man sieht, fast alle Einzelheiten des Goethischen Gedichtes sind, wenn auch an den verschiedensten Orten verstreut, bereits in der Tradition vorhanden. Beim Durchlesen der älteren Hochzeitsdichtung hat man, zumal wenn man auf die hervorgehobenen Einzelheiten achtet, den Eindruck, als schimmere vielfach ein gemeinsames Urbild hindurch, dessen schöne Züge aber von unkünstlerischer Hand übermalt und durch elende Schmiererei, in der sich die eigene Dürftigkeit besonders gefiel, bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind. Goethes Gedicht nimmt sich dem gegenüber fast wie eine Wiederherstellung jenes Vorbildes aus. Wo aber ist dieses zu finden? Der fackeltragende Amor führt uns in das Altertum zurück; es ist der Hymen Hymenaios der Griechen, und bildliche Darstellungen, vielleicht auf Gemmen, auf die wir schon oben bei der Erklärung des 4. Gedichtes geführt wurden, mögen auch auf Goethe gewirkt haben. Das dichterische Vorbild, das undeutlich bei den früheren und deutlicher bei Goethe sich erkennen läfst, scheinen die beiden Epithalamien Ca tu Iis gewesen zu sein. Carm. L X I und LXII. In dem ersten wird Hymen angerufen zu kommen, um die Braut in das Haus des neuen Gatten zu führen: „manu pineam quate taedam" (V. 14f.); in der Aufforderung an die Braut, zu erscheinen, wird das Flammen der Fackeln wiederholt erwähnt: „viden ut faces splendidas quatiunt comas" (61, 77 f.) [und „vide ut faces aureas quatiunt comas" (61, 98f. „ihr flammend Gold, der Flammen blasses Gold", Goethe); die „procax fescennina jocatio" (61, 126) erinnert an „die List mutwillger Gäste"; das Brautbett wird gepriesen (61, 111—119); die Ungeduld des Gatten, der sich nach der Stunde des Alleinseins sehnt, wird wiederholt erwähnt: „aspice, ut vir tuus totus immineat tibi (61, 171fr.); illi non minus ac tibi pectore uritur intimo flamma, sed penite magis (61, 176 ff.); quid datur a divis felici optatius hora?" (62,30). In dem Hochzeitsgesang der Parzen ) Br. I, 43, 1 ff. *) Br. I, 38 ff. •) Damit and zugleich mit der Schilderung in Str. 2 des Gedichtes stimmt merkwürdig fiberein das Urteil des Herrn von Loen in seiner Beschreibung der Stadt Frankfurt: „Das Blut ist hier nicht hefslich: es gibt schöne Weibsbilder in dieser Stadt, allein die groffe Gemütsneigungen stOren nicht

IOO

Am 30. März 1766 schildert er der Schwester die Leipziger Madchen. Er ruft den Sächsinnen zu: „Vous prennez de soins extravagans de votre exterieur; Mais je leur passerois volontairement toutes ces fautes, si elles n'etoient couronnées de la plus grande et la plus meprisable folie, qu'on peut trouver chez une femme, savoir de la coqueterie." „Le beau sexe est porte generalement a aimer les choses, qui occupent les sens, il regarde la beaute et toute autre apparence exterieure, comme le plus grand mérité dont il est capable, qui peut s'en etonner, s'il cherche a s'en donner autant qu'il peut" 4 ). In dem Brief vom 12. Okt. desselben Jahres kommt Goethe bei Gelegenheit der Verlobung seiner jüngsten Tante mit dem Oberst Schuler wieder auf das Thema zu sprechen. Er entschuldigt ihren Schritt mit ihrer mangelhaften Erziehung. In Folge davon sei sie für geistigen Genufs unempfindlich geworden : „corporal, grosser joys, dance, companies pp. were her paradise, and she learned never to be her own companion, to amuse her spiritually with h e r s e i f 5 ) . Man wird zugeben, die Aehnlichkeit dieser Stellen mit der zweiten Strophe unseres Ge-, dichtes ist grofs genug, um die Entstehung desselben schon im Jahre 66 wahrscheinlich zu machen. Aber die Parallelen passen nur zu der einen Strophe; wie kommt der Dichter zunächst zu dem Gegensatz der Bauernmädchen? Dadurch, dafs man im Allgemeinen auf den in der Anakreontik behandelten Gegensatz von Stadt und Land hinweist, kommen wir nicht weiter, denn dort werden die Einfalt, Gesundheit und Reinheit der Landsitten dem Reichtum und dem Lasterleben der Städte gegenüber gestellt (Hütte : Palast), hier aber handelt es sich um einen ganz anderen Gegensatz, den die Anakreontik nicht behandelt. Das junge Mädchen d i e s e r Lyriker sehnt sich immer nach dem Liebesgenufs, ein Unterschied zwischen Dorf und Stadt wird dabei nicht gemacht. Eigene Beobachtungen über das Treiben in den Dörfern hat, soviel wir wissen, der Dichter nicht anstellen können. Ich glaube, dafs auf unser Gedicht eine viel ihre R a h e . W e n n sie nur gefallen, so ist ihnen dieses schon genug. W i e viel Ehre ist also denen jungen Marquisen nicht vorbehalten, welche mit dem Marschall von Belleisle ankommen sollen, wenn sie diese träge und kaltsinnige Schönen werden empfindlich machen können ?" In „Des Herrn von Loen gesammelten Kleinen Schriften" ed Schneider, II. Teil, 2. Aufl., F r a n k f u r t u. Leipzig 1751, S. 83. Man vergleiche damit Goethes: „Der Stolz verjagt die Triebe der Wollust und der Liebe. Sie sinnt nur drauf, wie sie sich ziert." Die Schriften Loens mochten dem jungen Goethe wohlbekannt sein (vgl. die betreffenden Stellen in Loepcrs Commentar zu DW.). Br. 1, 48 f. ') Br. I, 75, 10 IT. Man vergleiche auch noch die Schilderung der F r a n k f u r t e rinnen in der poet. Epistel an Fr. Oeser v. 6. Nov. 68.

IOI

Stelle aus H o l b e r g s Bramarbas eingewirkt hat, und auch das wfirde auf eine frohe Entstehungszeit hinweisen. Holbergs Stack scheint im Goethischen Familien- und Bekanntenkreise beliebt gewesen zu sein. Ein Citat daraus spielt eine besondere Rolle: „Was würde der König von Holland sagen, wenn er mich in dieser Positur sehen sollte?" rief Hr. von Bramarbas aus. So schreibt Goethe den 12. Okt. 65 an die Schwester, und am 12. Okt. 66 kehrt das Wort englisch wieder: »What would the king of Holland say?"") Ich habe die Vermutung, dafs noch ein besonderer Scherz hinter diesen Citaten steckt. Horn schildert in einem Brief an Moors Goethes Geckenhaftigkeit, seine merkwürdige Kleidung und seinen auffallenden Gang. Dabei wendet er ebenfalls jenes Citat an7). Und noch einmal scheint es anzuklingen in einem Brief an Cornelie vom 27. Sept. 66 an einer Stelle, die uns zugleich den Schlüssel zu seinem Verständnis giebt. Goethe spricht von seinen früheren italienischen Studien und gedenkt dabei des Vaters, der besonderen Wert auf diese gelegt hatte. In den zwei französischen Versen, die diese Mitteilung einleiten, findet sich ,le Roi mon pere"; ich schliefse daraus, dafs »König von Holland" ein im engeren Kreis der Goethischen Freunde bekannter Scherzname für den alten Goethe war; die öftere Wiederkehr des Citates würde so erst völlig verständlich werden. Hier handelt es sich blofs darum, auf die genauere Bekanntschaft Goethes mit dem Holbergischen Stücke hinzuweisen. In dem 3. Auftritt desselben sagt Katharine, ein Landmädchen, zu der Städterin Leonore: »Ich kann es nur nicht begreifen, warum Sie sich doch immer nur darum putzen, um sich selbst zu gefallen? Wären keine jungen Mannsleute in der Welt, so wollte ich meinem Schminknäpfchen, meiner Puderschachtel und meinen Schönheitspflästerchen bald gute Nacht geben. — — — Achl Jungfer Leonorchenl Sie sind wohl sehr schön, aber Sie sind auch, wie ich wohl merke, in Liebessachen sehr einfältig und wie ich höre, sehr schlecht erzogen. Manches Bauernmädchen ist hierin viel gelehrter. Ich bin nur eines armen Pachters Tochter, aber ich wufste die Dinge auf meinen Fingern herzuzählen, da ich nur noch zwölf Jahre alt war, und ich danke meinen Eltern noch in der Erde dafür"'). Hier findet sich der Zug, der gerade für Goethes Gedicht charakteristisch ist, die Unerfahrenheit der Städterin in Liebessachen gegenüber dem hierin viel gelehrteren Bauernmädchen. Dafs Goethe, wenn er •) S. Br. t, 8, 8 ff. o. 74, 87. Jahn, Goethes Briefe u. s. w. S. 64. Dethardings Ueberaetzung in Gottscheds Deutscher Schaubühne, III, 308 f. S t r a c k , Goethe'« L. L. 8

•) Nach

ioa die Putzsucht der Mädchen geiselt und eine bessere Geistesbildung verlangt, einer Tendenz seiner Zeit folgt, ist schon früher erwähnt worden. Die von M.-S. angeführten Verse von Uz aus dessen gar nicht anakreontischem Gedicht . A n die Deutschen" liegen auch in dieser Richtung*). Der zweite Gegensatz des Goethischen Gedichtes zwischen den Knaben der Stadt und den Dorfjungen beruht ebenfalls zum Teil auf eigner Erfahrung; es genügt wohl ein Hinweis auf die allbekannten, von dem Dichter selbst erzählten Liebesabenteuer des frühreifen Knaben. Aber auch in der Anakreontik findet sich das Motiv der i. Strophe unseres Gedichtes häufig; ein Hinweis auf Gedichte wie Gleims „Rechenschüler", „Die Schule", „Lockspeise", „Kinderfragen" 1 0 ), Weifses „Der K n a b e " 1 1 ) und Gerstenbergs gleichnamiges Gedicht 1 ') mag genügen. Der Dorfjunge scheint dem Gegensatze zu Liebe in das Gedicht gekommen zu sein. W a s den sprachlichen Ausdruck betrifft, so zeichnet sich das Gedicht durch eine gewisse volkstümliche Derbheit aus; Ausdrücke wie „Die liebe Not", „Den macht nichts heifs" hat Goethe nicht bei seinen anakreontischen Vorbildern gefunden. „ S c h o c k e r n " (Str. 4, 5) oder schäkern, wie es auch damals gewöhnlich heifst, ist nach Weigand ein erst im vorigen Jahrhundert aus dem Hebräischen aufgenommenes Wort. Es ist nach Adelung nur im gemeinen Leben und in der vertraulichen Sprechart üblich. — Auf den Parallelismus im Bau der Strophen hat Werner 1 3 ) mit Recht hingewiesen. Vielleicht sind auch Operetten hierauf von Einflufs gewesen. Das Gedicht ist besonders interessant, weil es Goethe in seiner Auffassung des Landes unabhängig von der Tradition der Anakreontik zeigt Gegenüber der idealistischen Verklärung, wie sie üblich war, zeigt Goethe eine stark realistische Auflassung. Seine Schilderung des Stadtmädchens steht ebenso im Widerspruch zu dem Mädchentypus jener Lyrik. Auch im sprachlichen Ausdruck erkannten wir eine gewisse Selbständigkeit. E s ist das um so bemerkenswerter, als, wenn ich recht vermute, das Gedicht eines der ältesten der Sammlung ist. Das 7. Gedicht konnte vielleicht in dieselbe Zeit fallen. •) Vgl. auch Biedermann, Deutachland im 18. Jhd., 2. Aufl., II, 1, S. 528 f. ») Vers. I, 2. 23. 36 IT., III, 18. '•) Sch. L. S. 16. •>) Tändeleyen S. 48. •*) A. a. O. S. 258.

103

X. Die Freuden. Das Gedicht ist in den bekannten drei Fassungen aberliefert, der Leipziger, repräsentiert durch H* (Oesersches Ldb.) und J* (Musenalmanach 76), der Frankfurter in dem Druck der neuen Lieder und der endgiltigen der Werke seit 1789 (S). H» und J" stimmen wiederum nicht völlig Qberein; in der letzten Zeile liest J ' .Zergliederer der Freuden" (vgl. das oben über J* Gesagte). J hat nur in Z. 11 geändert, indem es „Da hab ich ihn" nur einmal setzt. Bedeutsamer sind die Abweichungen von S. Wie Goethe zum Zwecke des Druckes das Gedicht für S umgearbeitet hat, läfst sich deutlich aus der dem Druck zu Grunde liegenden Handschrift und ihren Korrekturen ersehen (H' der Weimarer Ausg.) 1 ). In Zeile 1 trat an Stelle von „Da* „Es"'); man kann zweifelhaft sein, ob es eine Besserung ist Der zopfige Ausdruck „Wasserpapillon" in Z. 3 wird entfernt, daher mufste in Z. 9, 11 u. ia das Genus geändert werden, und das bedingte wiederum die Umänderung der auf Z. 11 reimenden Z. 9. Ziemlich gleichgiltig sind die Varianten von Z. 5, 6 u. 7. In Z. ia wird die Verdoppelung, gegen J , wieder eingesetzt, offenbar der metrischen Gleichheit zu Liebe. Der Vergleich mit dem C h a m ä l e o n (Z. 5) findet sich schon früher in dem Briefe Goethes an Buri (Br. 1,4,19) und kehrt später wieder im „Goetz" (JG. II, 390). In Z. 10 treffen wir das schon oben besprochene Beiwort „still". Aehnliche Verbindungen finden sich auch sonst, so bei Hagedorn „O Nacht der stillen Wälder""), Weifse „ihr stillen Bäume" 4 ), Cronegk „im stillen Haine", „bei stillen Buchen"*), auch später bei Goethe „im stillen Hain", „ein stilles Blümchen"*). Dafs das Gedicht in Leipzig entstanden ist, beweist die Ueberlieferung. Nähere Anhaltspunkte lassen sich schwer gewinnen. Das Gedicht wendet sich gegen die Zergliederer der Freude. Werner 7 ) hat es falsch verstanden, wenn er meint, es lehre den •) W. I, 62 n. 888. *) Auch J* hat „Da", waa im Apparat von W. ver|e«»en ward« anzn|«ben. *) III, 1*8. ) Br. I, 60,11 ff. a. 106, 15 f. >>) s. Waldberg a. a. O. 119 f. ) Vgl. M.-S. S. 6 f. ») Br. I, 20, 7 ff., 27, 21 ff., 55, 1 f. 182, 9. 192, 16. ' ) Br. I, 198.

«) Br. I, 174, 1.

H9 eigentümlichen Gebrauch der Wörter „zärtlich" und „Zärtlichkeit" in Str. i> a u. 6 sei hier nochmals hingewiesen, ebenso auf die Betonung des Gefühls als einer unbewufst thätigen Seelenkraft. (Str. i, 7 f.) Das Wort „ I d e a l " (i, 4) ist im J. 1775 noch so ungebräuchlich, dafs Adelung es nicht in sein Wörterbuch aufgenommen hat Es scheint aus der Aesthetik und Kunstgeschichte damals allmählich in die Sprache des Lebens übergegangen zu sein. Goethe verdankte Oeser „das Gefühl des Ideals" 6 ). Auf die anakreontische Szenerie der a. Str. ist von M.-S. hingewiesen worden 4 ). Die Strophe verdient indessen noch besondere Beachtung. Wenn Goethe die Unschuld als Göttin frQh Morgens dem Dichter erscheinen läfst, so ist das nicht ohne Analogien in der zeitgenössischen Lyrik. Zachariä erinnert in der an den Freiherrn von Gemmingen gerichteten Widmungsode den Freund an den seligen T a g , „als sie in himmlischer Lust in einem ländlichen Garten die göttliche Freundschaft auf hellem Gewölk lächelnd über sich sahn" 7 ). Uz sieht so die Wollust „Die Königin der Weisen": Ich sehe sie, und Morgen-Rosen schmücken Die heitre Stirn und glänzen um ihr Haupt. Wie ruhig strahlt aus ihren Blicken Die reinste Lust, die kein Verhängnis raubt. In einem anderen Gedicht erscheint ihm, als er sorgenvoll im Schatten finstrer Buchen liegt und seine „scherzgewohnte Hand* sich zu „trauervollen Tönen verirrt1', die Muse, und ermahnt ihn, der Fröhlichkeit getreu zu bleiben*). Auch das Naturphänomen der die Nebel durchbrechenden Sonne ist zwar nicht gerade für die Anakreontik charakteristisch, wird aber überhaupt in der Litteratur des vorigen Jahrhunderts häufig bildlich verwandt, bezeichnend für die Zeit der „Aufklärung*. Christian Wolff wählte gern für seine Bücher Titelkupfer welche die durch Nebelwolken durchbrechende Sonne darstellten*). Consbruch braucht das Bild zur Bezeichnung der Aufklärung seines Jahrhunderts: So flieht, wenn früh bei wannen Frühlingstagen Die Nebel uns Aurorens Licht versagen, Auf einmal ihr umwölkter Duft, Wenn Titans Strahl sie siegreich stark verdringet, Der bangen Welt den schönsten Morgen bringet, Und schnell erfüllet er die Luft 10 ). •) Br. 1,808, »5. «) A- a. 0 . S. «8. ») P. Sehr. III, S. •) „Die Wollust" a. a. ü . S. 68 and „die fröhliche Dichtkunst" a. a. O. S. 113. •) Kawerau, Aus Hailea Littera,0 turleben, S. 146. ) Versuche in westphälischen Gedichten, S. 65.

r

120 Uz vergleicht in seiner „Theodicee" das von Leibniz gebrachte Licht mit der Sonne, die die Finsternis zerstreut, und in den „Empfindungen an einem Fr&hlingsmorgen" spricht er von dem menschlichen Geiste, der wie die Sonne „mit angebohrenem Lichte" durch dicke Finsternis strahlet „Wenn vor der Weisheit Angesichte Die Nebel fliehn, worinn er sich verlohr" 11 ). Bei Goethe handelt es sich um mehr als um blofse Anlehnung an einen Zeitgebrauch. Schon in der zweiten Strophe der „Ode an Zachariä" findet sich das Bild bei ihm. Von früh auf hatte er das lebhafteste Interesse für Wolken- und Nebelbildungen, das ihn später zu seinen meteorologischen Studien veranlafste. An diese müssen wir anknüpfen, wenn wir die Stellen aus den Leipziger Gedichten richtig würdigen wollen. In dem Aufsatz „Wolkengestalt nach Howard" weist Goethe selbst auf den Zusammenhang dieser Studien mit frühen Jugendneigungen hin: „Mit kindlichem, jugendlich-frischem Sinne, bei einer städtisch-häuslichen Erziehung, blieb dem sehnsuchtsvollen Blick kaum eine andere Ausflucht, als gegen die Athmosphäre. Der Sonnenaufgang war durch Nachbarshäuser beschränkt, desto freier war die Abendseite — Das Abglimmen des Lichtes bei heiteren Abenden, der farbige Rückzug der nach und nach versinkenden Helle, das Andringen der Nacht beschäftigte gar oft den einsamen Müfsiggänger. Bedeutende Gewitterregen und Hagelstürme, die auch meist von der Westseite heranziehen, erregten verschiedene Aufmerksamkeit, und es sind noch frühere Zeichnungen übrig in seltsamen Wolkengebilden verschiedener Jahreszeiten. Weder dem Auge des Dichters, noch des Mahlers können athmosphärische Erscheinungen jemals fremd werden" 1 *). In die erste Jugendzeit des Dichters führt uns diese Stelle zurück, in das Gartenzimmer des alten Goethischen Hauses, in dem der Knabe seine Lektionen lernte und sich an der untergehenden Sonne nicht satt sehen konnte"). In den auf den erwähnten Aufsatz folgenden Tagebüchern der Carlsbader Reise v. J. 1820 wird wiederholt der frühe Morgen geschildert mit seinen Nebelbildungen, die die Sonne zerstreut. Das Ergebnis seiner meteorologischen Beobachtungen ist der „Versuch einer Witterungslehre" aus dem Jahre 1825. In dem Abschnitt „Jahreszeiten" bespricht Goethe die Nebel- und Wolkenbildungen, die im Sommer bei hohem Barometerstand morgens früh sich zeigen; das Spiel dieser Dünste, sagt er, gewähre „die herrlichsten Ansichten kurz vor und gleich nach Sonnenaufgang" 14 ). Wer die Tagebücher ») A. a. 0 . S. 145 u. 157. " ) W. 1. H. 51, S. 278.

" ) W. 1. H. 51, S. 201 f.

" ) DW., 1. Bnch, W. 26,15 f.

iai des Dichters kennt, der weifs, wie oft dort Aufzeichnungen meteorologischer Art wiederkehren. In dem Leipziger Gedicht erscheint die Göttin am Morgen dem Dichter im Nebelkleide. Die phantastischen Gestaltungen, die Nebel und Wolken oft annehmen, gewähren der Einbildungskraft weiten Spielraum. Goethe läfst mit Vorliebe Oberirdische Gestalten im Nebelkleide erscheinen, oder aus Nebel und Wolken, die die natürliche Welt verschleiern, glänzend hervortreten. Auf die altbekannten Visionen in der Zueignung, Euphrosyne und Ilmenau sei nur kurz hingewiesen. In Ergo bibamus „glänzen die Wolken, es theilt sich der Flor, da scheint uns ein Bildchen ein göttliches vor". So sieht er Lilis Bild um sich „in leichten Wolken wehen". Die Frau von Stein erblickt er, wie eine Göttin, „immerfort in Wolken" „durch den leichten Flor der lärmenden Bewegung" des Lebens hindurch. Aus dem Nebel heraus tritt die schöne Landschaft, die Amor malt Nach der Trennung von Ulrike von Levetzow erscheint die Geliebte auf der Reise dem Auge des Dichters nochmals: Wie leicht und zierlich, klar und zart gewoben, Schwebt, Seraph gleich, aus ernster Wolken Chor, Als glich es ihr, am blauen Aether droben, Ein schlank Gebild aus lichtem Duft empor"). Wenn man in diesem Zusammenhang auf das Leipziger Gedicht zurückblickt, wird man es von neuem bestätigt finden, dafs die Gedichte des Jünglings doch mehr von den Zügen des Mannes und Greisen zeigen, als man bisher gewöhnlich angenommen hat. «) W. I, 3 IT., 145. 381 ff., II, 109. 141 IT., 182 ff., III, 88, IV, 804. Dazu vergleiche man noch die Verse zu Howards „Ehrengedächtnis". W. in, 98 ff, ferner I, 128 , 46. IV, 30. 61. 109. 111, ai IT., 113, 64. 833; endlich den Monolog Fauats im II. Teil zn Beginn des 4. Akts, W. 15, 1, S. 245 f.

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XV. Der Misanthrop. Das kleine Gedicht ist in zwei Fassungen Uberliefert, in den „Neuen Liedern" (J) und dem 7. Bd. der „Nachgelassenen W e r k e " (C). Der Unterschied ist nicht so unwesentlich, als man bisher angenommen zu haben scheint. In J ist es auf drei Personen verteilt. A . beobachtet das Aprilwetter in dem Gesichte des Dichters und schildert e s , um Aufklärung darüber zu erhalten. Ein anderer, B., giebt Antwort darauf und läfst nur unentschieden, ob Liebe oder Langeweile die Ursache davon sei. (Daher: „Sie fragen" und der Punkt nach Z . 7.) C. endlich, wohl der Dichter selbst, entscheidet endgiltig, wodurch das Gedicht zugleich eine hübsche Pointe erhält. In C ist die Verteilung auf drei Rollen entfernt, daher mufste Z. 6 „Ihr fraget" geändert werden und Z. 7 an Stelle des Punktes ein Fragezeichen treten. In wie weit diese Aenderung von dem Dichter selbst veranlafst ist, bleibt zweifelhaft. Jedenfalls darf man nicht, wie vielfach geschehen, eine Mischung aus beiden Fassungen herstellen, die ganz sinnlos ist 1 ). Da das Gedicht nicht in dem Oeserschen Liederbuch enthalten ist, war man früher geneigt, es nach Frankfurt zu setzen, wohin es seiner Stimmung nach wohl gehören könnte, denn auch dort wurde er häufig von verdriefslicher Laune befallen. Parallelstellen indessen aus den Leipziger Briefen machen jetzt eine frühere Entstehung wahrscheinlich. Dafs Goethe es nicht in das Friederiken gewidmete Liederheft aufnahm, liefse sich wohl damit erklären, dafs der Dichter vor ihr, die solche Stimmungen zu verlachen pflegte, nicht mit misanthropischem Gesicht erscheinen mochte. Die Stelle, die am meisten an unser Gedicht erinnert, findet sich bereits in einem Briefe vom 11. Mai 1766: „Many time I become a melancholical one. I know not whence it comes. Then I look on every man with a starring o w l like countenence"'). A m 37. September kommt er auf diese Briefstelle zurück und erklärt der Schwester zur Beruhigung: „Pour mon visage, il ne faut pas qu'il