Gender und Heilung: Die Bedeutung des Pentekostalismus für Frauen in Costa Rica 9783839451755

Der Missionserfolg des Pentekostalismus verdankt sich nicht zuletzt der zentralen Rolle, die Frauen dort spielen. Doch w

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German Pages 272 Year 2020

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Table of contents :
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Inhalt
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
Erster Teil: Pentekostalismus in Costa Rica
1 Einleitung
1.1 Forschungsstand
1.1.1 Frauen im lateinamerikanischen Pentekostalismus
1.1.2 Frauen im costa‐ricanischen Pentekostalismus
1.2 Ziel der Arbeit
1.3 Forschungsfeld
1.4 Quellen und Methoden
1.5 Terminologie
1.6 Aufbau der Arbeit
2 Identität und Identitätsbildung
2.1 Namenspolitik
2.1.1 Die Kategorie cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch)
2.1.2 Die Kategorie religoso (religiös)/católico (katholisch)
2.1.3 Die Kategorien secta (Sekte) und liberal (liberal)
2.2 Historischer Kontext
2.2.1 Die Konstitution der antikatholischen Koalition: 1890-1965
2.2.2 Der charismatische Frühling: 1965-1980
2.2.3 Die Rezeption der Befreiungstheologie
2.3 Neue Allianzen
2.3.1 Individuelle Anerkennung
2.3.2 Gesellschaftspolitische Allianzen
2.4 Geschichte des Pentekostalismus in Alajuela
2.5 Schlussfolgerungen
Zweiter Teil: Gender und Heilung
1 Themen der Heilung
1.1 Umgang mit Leid
1.1.1 Theologie der Vergebung
1.1.2 Praxis der Vergebung
1.1.3 Handlungsoptionen über die Vergebung hinaus
1.2 Umgang mit Schuld
1.2.1 Vergebung und Bestrafung durch Gott
1.2.2 Selbstvergebung
1.2.3 Vergebung durch andere
1.3 Das Selbstkonzept
2 Orte der Heilung
2.1 Beratung
2.1.1 Praxis
2.1.2 Kontext: El Club 700
2.2 Gottesdienste
2.3 Kongresse und Vorträge
2.4 Gruppen, Kurse und Versammlungen
2.4.1 Bibel- und Gebets-, Zell- und Kreativgruppen
2.4.2 Kurse
2.4.3 Versammlungen nichtdenominationeller Frauenorganisationen
2.5 Rüstzeiten
3 Methoden der Heilung
3.1 Methoden zur physischen Heilung und physische Heilungsmethoden
3.2 Methoden der spirituellen Heilung
3.2.1 Befreiungsdienst
3.2.2 Geistliche Kampfführung
3.3 Methoden der inneren Heilung
3.3.1 Das Heilungsgebet
3.3.2 Das Stellvertretungsgebet
3.3.3 Der Theophostische Gebetsdienst
4 Heilungsberichte
5 Schlussfolgerungen
Dritter Teil: Heilungsdiskurse im Kontext
1 Die katholische Amtskirche
2 Laienreligiosität
3 Die pentekostale Perspektive
4 Schlussfolgerungen
Vierter Teil: Auswertung der Ergebnisse
1 Hauptergebnisse
1.1 Innere Heilung und Agency
1.2 Diskursive Verflechtungen
2 Implikationen
2.1 Pentekostalismusforschung
2.2 Poimenik
2.3 Feministische Theologie
A Verzeichnis der Interviews
B Bibliographie
C Karten
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Gender und Heilung: Die Bedeutung des Pentekostalismus für Frauen in Costa Rica
 9783839451755

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Nora Kim Kurzewitz Gender und Heilung

Religionswissenschaft  | Band 17

Für Christian, Jakob, Thekla und Matthäus

Nora Kim Kurzewitz, geb. 1983, lebt und arbeitet als Pastorin in der Nähe von Hamburg. Die Theologin forschte in Costa Rica zu pentekostalen Bewegungen und wurde von der Universität Heidelberg promoviert.

Nora Kim Kurzewitz

Gender und Heilung Die Bedeutung des Pentekostalismus für Frauen in Costa Rica

Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2019 Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft [DGMW], der Evangelischen Kirche in Deutschland [EKD] und der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5175-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5175-5 https://doi.org/10.14361/9783839451755 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Danksagung .............................................................................. 9 Abkürzungsverzeichnis................................................................... 11

Erster Teil: Pentekostalismus in Costa Rica 1 1.1

1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 2 2.1

2.2

2.3

2.4 2.5

Einleitung........................................................................... 15 Forschungsstand ........................................................................................... 16 1.1.1 Frauen im lateinamerikanischen Pentekostalismus ..................................... 16 1.1.2 Frauen im costa-ricanischen Pentekostalismus ..........................................25 Ziel der Arbeit ............................................................................................... 29 Forschungsfeld.............................................................................................. 31 Quellen und Methoden .................................................................................... 35 Terminologie ................................................................................................. 37 Aufbau der Arbeit........................................................................................... 37 Identität und Identitätsbildung..................................................... 39 Namenspolitik ...............................................................................................40 2.1.1 Die Kategorie cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) .......................... 41 2.1.2 Die Kategorie religoso (religiös)/católico (katholisch) .................................. 43 2.1.3 Die Kategorien secta (Sekte) und liberal (liberal) ........................................ 43 Historischer Kontext .......................................................................................45 2.2.1 Die Konstitution der antikatholischen Koalition: 1890-1965 ............................45 2.2.2 Der charismatische Frühling: 1965-1980.....................................................48 2.2.3 Die Rezeption der Befreiungstheologie......................................................52 Neue Allianzen ..............................................................................................55 2.3.1 Individuelle Anerkennung .......................................................................55 2.3.2 Gesellschaftspolitische Allianzen ............................................................ 58 Geschichte des Pentekostalismus in Alajuela ....................................................... 61 Schlussfolgerungen ........................................................................................65

Zweiter Teil: Gender und Heilung 1 1.1

1.2

1.3 2 2.1

2.2 2.3 2.4

2.5

Themen der Heilung ............................................................... 69 Umgang mit Leid............................................................................................ 70 1.1.1 Theologie der Vergebung........................................................................ 70 1.1.2 Praxis der Vergebung ............................................................................ 75 1.1.3 Handlungsoptionen über die Vergebung hinaus.......................................... 85 Umgang mit Schuld ........................................................................................ 99 1.2.1 Vergebung und Bestrafung durch Gott....................................................... 99 1.2.2 Selbstvergebung.................................................................................. 101 1.2.3 Vergebung durch andere .......................................................................102 Das Selbstkonzept........................................................................................ 103 Orte der Heilung ................................................................... 113 Beratung ..................................................................................................... 114 2.1.1 Praxis................................................................................................ 114 2.1.2 Kontext: El Club 700.............................................................................. 124 Gottesdienste.............................................................................................. 130 Kongresse und Vorträge ................................................................................ 132 Gruppen, Kurse und Versammlungen ................................................................ 133 2.4.1 Bibel- und Gebets-, Zell- und Kreativgruppen............................................ 133 2.4.2 Kurse ............................................................................................... 136 2.4.3 Versammlungen nichtdenominationeller Frauenorganisationen .................... 139 Rüstzeiten ...................................................................................................140

3 Methoden der Heilung .............................................................. 151 3.1 Methoden zur physischen Heilung und physische Heilungsmethoden ....................... 151 3.2 Methoden der spirituellen Heilung ....................................................................156 3.2.1 Befreiungsdienst ................................................................................. 157 3.2.2 Geistliche Kampfführung.......................................................................169 3.3 Methoden der inneren Heilung ......................................................................... 171 3.3.1 Das Heilungsgebet ............................................................................... 171 3.3.2 Das Stellvertretungsgebet .................................................................... 180 3.3.3 Der Theophostische Gebetsdienst ...........................................................184 4

Heilungsberichte.................................................................. 199

5

Schlussfolgerungen............................................................... 207

Dritter Teil: Heilungsdiskurse im Kontext 1

Die katholische Amtskirche........................................................215

2

Laienreligiosität .................................................................. 223

3

Die pentekostale Perspektive ..................................................... 229

4

Schlussfolgerungen............................................................... 235

Vierter Teil: Auswertung der Ergebnisse 1 1.1 1.2

Hauptergebnisse...................................................................241 Innere Heilung und Agency.............................................................................. 241 Diskursive Verflechtungen ............................................................................. 244

2 2.1 2.2 2.3

Implikationen ..................................................................... 247 Pentekostalismusforschung ........................................................................... 247 Poimenik.................................................................................................... 248 Feministische Theologie ................................................................................ 250

A

Verzeichnis der Interviews........................................................ 253

B

Bibliographie ..................................................................... 257

C

Karten ............................................................................ 269

Danksagung

Die Grundlage dieser Studie war, dass zahlreiche Frauen und einige Männer verschiedener, überwiegend pentekostaler Kirchen und Gemeinschaften in und um Alajuela in Costa Rica mir ihre Türen und Herzen öffneten, mir ihre Zeit und ihr Vertrauen schenkten und es mir dadurch ermöglichten, die Welt ein wenig aus ihrer Perspektive zu sehen. Allen meinen Gesprächspartnerinnen und -partnern danke ich herzlich! Gedankt sei der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg für die Ermöglichung der Realisierung meines Forschungsvorhabens durch ein Promotionsstipendium und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst für die finanzielle Unterstützung des Forschungsaufenthaltes. Ich bedanke mich ganz besonders bei meinem Doktorvater Michael Bergunder, der dieses Projekt von Anfang an begleitete, für alles Zutrauen und alle Kritik, und bei meinem Heidelberger Kollegium, das mich trotz erheblicher geographischer Entfernung herzlich aufgenommen hat: Giovanni Maltese beantwortete mir geduldig unzählige Fragen, und dem Austausch mit Judith Bachmann, Anna Kirchner und Johanna Weirich verdanke ich viele wissenschaftliche Impulse. Heike Walz danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Meiner Freundin Inga Krumm danke ich für das Hinein- und Mitdenken, meinem ehemaligen Lehrer Henning Glindemann für das Lektorat und meiner Patentante Karin Petran für inhaltliche Hinweise und die Übernahme eines Teils der Druckkosten. Mein Dank gilt meiner Schwester Esther Kurzewitz für alle moralische Unterstützung und die Möglichkeit, den Wust aus Forschung und Familie temporär zu verlassen. Besonders bedanke ich mich bei meinen Eltern Gisela und Siegfried Kurzewitz, die mich über die Jahre des Forschens und Schreibens durch Gespräche und kritisches Lesen begleitet haben. Meinem Mann Christian gilt mein Dank für die Begeisterung für mein Thema und für die Selbstverständlichkeit, mit der ich diese Arbeit vollenden konnte, nachdem das Stipendium ausgelaufen war. Von ganzem Herzen danke ich ihm und unseren Kindern Jakob, Thekla und Matthäus, die mich teils unfreiwillig und allesamt relativ unvorbereitet während der sechs Monate in Costa Rica ohne Sprachkenntnisse, externe Kinderbetreuung und TÜV-

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Gender und Heilung

gesicherte Spielplätze begleitet haben, so dass der Forschungsaufenthalt nebenbei auch zu einem großartigen Familienabenteuer wurde.   Stade, im Oktober 2019

Abkürzungsverzeichnis

ACOE Asociación Cristiana Oasis de Esperanza AD Asambleas de Dios AE Alianza Evangélica de Costa Rica AIEC Asociación de Iglesias Evangélicas Centroamericanas CAE Comité de Acción Evangélica CAM Central American Mission CBN Christian Broadcasting Network CCBEDN Centro de Consejería Bíblica Emanuel »Dios Con Nosotros« CCCAJ Centro Carismático Católico »Amigos de Jesús« CCFB Centro Cristiano Fuente de Bendición CCSR Centro Cristiano Seguidores del Rey CCVN Centro Cristiano Vida Nueva CE Catedral del Evangelio CMA Centro Mundial de Adoración ESEPA Escuela de Estudios Pastorales FGBMFI Full Gospel Business Men’s Fellowship International FIHNEC Fraternidad Internacional de Hombres de Negocios del Evangelio Completo ICC Iglesia Central Calvario IDEC Iglesia de Dios del Evangelio Completo INAMU Instituto Nacional de las Mujeres IOIB Iglesia Oasis Internacional de Bendición IJS Iglesia Jesucristo es el Señor IM Iglesia Miel IVA Iglesia Vida Abundante MANAIA Misión Apostólica Nido de Águilas Internacional Alajuela MAR Iglesia Manantial de Amor y Restauración ML Misión Latinoamericana MSDJ Iglesia Manos Sanadoras de Jesús MIB Ministerio Internacional Bendiciones MJV Misión Jesucristo Vive

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Gender und Heilung

OA Iglesia Oasis Alajuela PAF Pacto de Amor y Fe PROLADES Programa Latinoamericano de Estudios Sociorreligiosos RCC Renovación Carismática Católica SBL Seminario Bíblico Latinoamericano SEAN Seminario por Extensión a las Naciones TF Tierra Fértil UCR Universidad de Costa Rica

Erster Teil: Pentekostalismus in Costa Rica

1

Einleitung »Ich glaube, dass fast alle Leute, die an die Kirche herantreten, kommen, weil sie Hilfe brauchen. […] Es sind viel mehr Frauen in der Kirche als Männer, […] weil mehr Frauen versuchen herauszufinden, wie sie ihre Lebenssituation verändern können, wie sie durchkommen mit einem drogensüchtigen Ehemann, wie sie durchkommen mit einem alkoholabhängigen Ehemann. Sie kommen zur Kirche, um getröstet zu werden, geheilt zu werden und um zu sehen, wie sie mit ihren Kindern durchkommen können.«1

Mit diesen Worten erklärte die Pastorin der Kirche Iglesia Central Calvario (ICC) in Alajuela, Costa Rica, die Hoffnungen vieler Frauen, die sich pentekostalen Kirchen zuwenden. Die Hoffnungen richten sich auf Unterstützung im Umgang mit suchtkranken Ehemännern und den eigenen Kindern, auf Trost, auf Heilung, auf eine Transformation des Lebens. Diese Hoffnungen speisen sich wiederum aus den Berichten anderer Frauen, die erzählen, all dies in pentekostalen Kirchen erfahren zu haben. Indem die zitierte Pastorin als Grund der Attraktivität pentekostaler Kirchen für Frauen deren Sehnsucht nach Heilung benannte, fasste sie zusammen, was viele Frauen, die für die vorliegende Untersuchung befragt wurden, artikulierten. Diese Studie soll zeigen, inwiefern Frauen in Costa Rica auf der Grundlage pentekostaler Glaubensüberzeugungen und mit Hilfe pentekostaler Praktiken Heilung erfahren und wie sie diese Erfahrung interpretieren. Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Frage nach den Ursachen der Attraktivität des Pentekostalismus für Frauen. Auf diese Frage wurde bereits vielfach geantwortet, jedoch ohne die transformative Kraft der Heilungserfahrung zu erfassen, wie im Folgenden gezeigt wird.

1

Interview Nr. 26, 7.4.2015.

16

Gender und Heilung

1.1 1.1.1

Forschungsstand Frauen im lateinamerikanischen Pentekostalismus

Lateinamerika ist eins der Zentren des Wachstums des Pentekostalismus. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war das religiöse Monopol der katholischen Kirche unangefochten, doch seitdem hat sich die religiöse Landschaft des Kontinents tiefgehend verändert. Die Zahl der evangelischen Pentekostalen wächst seit Jahrzehnten, und unter den aktiven katholischen Gläubigen sind diejenigen besonders stark vertreten, die der Katholischen Charismatischen Erneuerung angehören, der größten und am stärksten wachsenden Bewegung innerhalb der katholischen Kirche in Lateinamerika. Vorausgesetzt, evangelische und katholische Pentekostale werden addiert, zählte sich 2014 laut Pew Foundation gut ein Viertel der lateinamerikanischen Bevölkerung zu einer pentekostalen Gemeinschaft.2 Um das Wachstum des lateinamerikanischen Pentekostalismus zu erklären, wurde im Kontext soziologischer Makrotheorien wiederholt auf durch sozioökonomische Transformationsprozesse entstandene Anomien in den betroffenen Gesellschaften verwiesen.3 Emilio Willems und Christian Lalive d’Epinay, deren grundlegende Werke zum lateinamerikanischen Pentekostalismus 1967 und 1968 erschienen, begründen dessen Wachstum damit, dass er neue Normen in einer Situation gesellschaftlicher Anomie anbietet, gelangen jedoch zu gegensätzlichen Interpretationen seiner gesellschaftlichen Funktion. Willems untersucht anhand eigener Feldforschungen in Brasilien und Chile, welche spezifischen Bedingungen zum Wachstum des Protestantismus und insbesondere des Pentekostalismus geführt haben, und wie dieser wiederum zum Agenten soziokultureller Veränderungen wird. Als entscheidendes Merkmal der vorindustriellen sozialen Struktur Lateinamerikas identifiziert er die Spaltung der Gesellschaft in wenige Besitzende großer Ländereien und viele Landlose. Die soziale Struktur der hacienda sei das Modell für die traditionelle politische Struktur gewesen, und diese präge auch die Republiken: Infolge extremer Zentralisierung seien die Menschen daran gewöhnt, politische Entscheidungen passiv abzuwarten und anzunehmen. Während die katholische Kirche ebenso zentralistisch organisiert und seit Jahrhunderten eng mit der Regierung verbunden sei, sieht Willems in den selbstorganisierten evangelischen Kirchen, die den Individuen Verantwortung für wichtige Entscheidungen zugestehen, ein Gegenmodell zum kollabierenden Feudalsystem. Er beobachtet, dass Entwicklungen wie die Industrialisierung, die Urbanisierung und die Krise des Kaffeeanbaus zu vermehrter Migration führen und dass der Pentekostalismus dort besonders erfolgreich ist, wo viele Migrierte leben, im städtischen wie 2 3

Vgl. Pew Research Center 2014. Vgl. den Überblick über Forschungstendenzen in Bergunder 2000.

1 Einleitung

im ländlichen Bereich. Die protestantische Ethik, zu der Normen wie Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit und die Abstinenz von vor- und außerehelichem Geschlechtsverkehr, Alkohol, Tabak und weltlichen Vergnügungen wie Glücksspiel und Tanzveranstaltungen gehören, hält Willems für ein geeignetes Mittel, um der durch die soziokulturellen Veränderungen entstehenden Anomie zu begegnen. Das Verhalten der Angehörigen der Unterschicht, insbesondere der Männer, verändere sich infolge einer Konversion erheblich und dies ermögliche das Entstehen einer neuen Mittelklasse. Weitere Funktionen, die den Pentekostalismus vor allem für die sozial entwurzelten Migrierten der Unterschicht attraktiv machen, bestehen nach Willems darin, dass die Gläubigen in ihren Gemeinden Gemeinschaft und Sicherheit sowie infolge der Ausstattung mit Geistesgaben Anerkennung und Respekt erleben. Bezüglich der Auswirkungen des Pentekostalismus auf Geschlechterbeziehungen stellt Willems fest, dass die Konversion die traditionelle, patriarchale Familienstruktur verändert. Die protestantische Askese erscheint ihm kompatibel mit dem traditionellen Konzept korrekten weiblichen Verhaltens, während die Doppelmoral hinsichtlich des Sexualverhaltens ein Relikt des agrarischen Patriarchats sei, das weder mit der industriellen Gesellschaft noch mit protestantischen Wertvorstellungen kompatibel sei, so dass außereheliche sexuelle Beziehungen unter den Mitgliedern pentekostaler Kirchen kaum noch existierten. Wenn Ehemänner der pentekostalen Moral nicht entsprächen, werde die Position der Ehefrauen gestärkt, indem den Männern von den Kirchenleitenden Sanktionen auferlegt würden. Dass Männer bereit seien, sich in Familienangelegenheiten externen Autoritäten zu unterwerfen, impliziere gravierende Veränderungen. Auch über das Sexualverhalten hinaus verändere sich das Familienleben: So nähmen pentekostale Familien gemeinsam Mahlzeiten ein, pentekostale Männer übernähmen Verantwortung für die Kindererziehung, und insgesamt nehme die Intimität zwischen den Familienmitgliedern zu. Die Funktion des Pentekostalismus sei es, im Zusammenhang der industriellen Revolution in Brasilien und Chile, die aus seiner Perspektive unvermeidbar zu egalitäreren Familienstrukturen führen werde, die moralischen Veränderungen zu kanalisieren und mit ethischen und übernatürlichen Sanktionen zu besetzen. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass der Pentekostalismus die Gesellschaften in den Bereichen der Familie, der Politik, der Ökonomie und der Bildung grundlegend verändert und so aktiv die Modernisierung fördert.4 Auch Lalive d’Epinay stützt sich auf Feldforschungen in Chile, und auch er fragt nach den Gründen für die Ausbreitung des Pentekostalismus sowie nach dessen Einfluss auf die sozioökonomische Entwicklung des Landes. Hinsichtlich der Gründe kommt er zu ähnlichen Ergebnissen wie Willems: In die Zeit der Krise der 1950er Jahre im Übergang von der traditionellen, feudalen zur säkularisierten, demokratischen Gesellschaft sei das plötzliche Wachstum des Pentekostalismus ge4

Vgl. Willems 1967.

17

18

Gender und Heilung

fallen. Dieser fange den Zusammenbruch der traditionellen sozialen Beziehungen durch spirituelle, solidarische, das Individuum wertschätzende Gemeinschaften auf. Hinsichtlich der Konsequenzen des Pentekostalismus für die chilenische Gesellschaft gelangt Lalive d’Epinay jedoch zu Ergebnissen, die denen Willems‹ entgegengesetzt sind: Die pentekostalen Kirchen füllten das durch den Zusammenbruch des hacienda-Systems entstandene Vakuum aus, indem die Pastoren die paternalistische Rolle der Patrone einnähmen. Die Kirchen stellten folglich kein Gegenmodell zur Gesellschaft dar, sondern übernähmen deren traditionelle Strukturen. Die einzelne Kirche sei eine totalitäre Gemeinschaft, die jeden Lebensbereich ihrer Mitglieder kontrolliere und deren gesellschaftliche Passivität stärke. Der Pentekostalismus stütze so die traditionelle paternalistische Gesellschaftsordnung und verhindere das Entstehen einer modernen, aus verantwortlichen Individuen bestehenden Gesellschaft. Dass sich die Lebensbedingungen der Mitglieder aufgrund der asketischen und familienorientierten pentekostalen Ethik verbessern, nimmt Lalive d’Epinay wahr, bezweifelt jedoch, dass der Protestantismus in Chile soziale Mobilität oder das Entstehen einer Mittelklasse generiert, weil er die dafür notwendigen Voraussetzungen wie ein ausreichendes Maß an Industrialisierung und eine gewisse Währungsstabilität für nicht gegeben erachtet. Wie Willems stellt Lalive d’Epinay fest, dass die Familie in der pentekostalen Doktrin eine hervorgehobene Rolle spielt. Jedoch hält er die fast exklusive Sorge ums Privatleben für ein Symptom der politischen Entfremdung und für ein Hindernis sozialer Transformation. Den Einfluss des Pentekostalismus beurteilt er folglich nicht als transformativ, sondern als restaurativ.5 Zahlreiche soziologische Erklärungen des lateinamerikanischen Pentekostalismus folgen entweder dem von Willems oder dem von Lalive d’Epinay begründeten Interpretationsmuster.6 Cornelia Butler Flora untersucht 1975 aus makrotheoretischer Perspektive erstmals explizit die Auswirkungen des Pentekostalismus auf den Status von Frauen, indem sie die Lebenssituation pentekostaler Frauen der Arbeiter- und Unterschicht in Kolumbien mit der von Katholikinnen der entsprechenden gesellschaftlichen Schichten vergleicht. Als prägend für die katholische Ideologie bezüglich der Rolle der Frauen identifiziert sie das Konzept des Marianismo, das das Gegenüber zum Konzept des Machismo darstellt und die Rolle der Frauen nach dem Vorbild der Jungfrau Maria definiert. Dazu gehören Eigenschaften wie Leidensfähigkeit, Unterordnungs- und Vergebungsbereitschaft, physische Schwäche, spirituelle und moralische Stärke sowie eine Heiligkeit, die sich einerseits aus der Jungfräulichkeit, andererseits aus der Mutterrolle ergibt. Zwar spiele die Jungfrau Maria unter pentekostalen Frauen explizit keine Rolle, doch auch 5 6

Vgl. Lalive d’Epinay 1968. Vgl. Hoffnagel 1983; Martin 1990; Stoll 1990; Bastian 1992, 1993, 1995; Mariz 1994; Hoekstra 1998.

1 Einleitung

das pentekostale Verständnis weiblicher Tugenden sei vom Marianismo geprägt. Wie in der katholischen Kirche agierten auch die Frauen in pentekostalen Kirchen fast gar nicht in höheren Führungspositionen, könnten allerdings niedrigere Ämter ausüben, also evangelisieren, unterrichten und predigen. So erhielten sie neue Möglichkeiten des Statuserwerbs im selben Aktivitätsbereich wie die Männer. Bezüglich der Interaktionen zwischen Eheleuten stellt Butler Flora fest, dass männliche Pentekostale ihrer emotionalen und finanziellen Verantwortung gegenüber der Familie eher nachkommen als Katholiken. Die Dominanz der Männer bleibe jedoch bestehen und werde von den Frauen akzeptiert. In Politik und Ökonomie seien Frauen, die pentekostalen Kirchen angehörten, nicht häufiger vertreten als Katholikinnen. Sie bezeichnet daher die Funktion des Pentekostalismus für den politischen und ökonomischen Kontext als »Opium der weiblichen Massen.«7 Frauen würden durch ihn zwar mit Selbstbewusstsein und Fähigkeiten ausgestattet, die der Aktion für strukturelle Veränderungen dienen könnten, doch der Pentekostalismus selbst verneine die Legitimität solcher Aktionen aufgrund seiner dualistischen Doktrin. Insgesamt sei der Pentekostalismus in Kolumbien als Gewinn für den individuellen Status der Frauen anzusehen, doch dass er den kollektiven Status der Frauen aufwertet, bezweifelt Butler Flora.8 Die skizzierten makrotheoretischen Interpretationen des lateinamerikanischen Pentekostalismus setzen voraus, dass dieser als Epiphänomen politischer, ökonomischer oder sozialer Prozesse mit spezifischen gesellschaftlichen Funktionen wahrgenommen wird. Diese Annahme führt zu Aussagen über politische, ökonomische, soziale, kulturelle, ethnische, genderspezifische und religiöse Kontexte und Implikationen des Pentekostalismus, die sowohl regionale und zeitliche Differenzen hinsichtlich seiner Ausbreitung als auch die Heterogenität des lateinamerikanischen Kontinents sowie die involvierten Individuen, ihre Überzeugungen und Interaktionen ignorieren.9 Elizabeth Brusco stellt fest, dass die makrotheoretischen Interpretationen gegensätzliche Perspektiven einnehmen, insofern sie entweder den Pentekostalismus als Antrieb eines positiv konnotierten Kapitalismus oder als konservative Kraft eines negativ konnotierten Imperialismus verstehen. Sie kritisiert, dass beide Interpretationsmuster Fortschritt und Modernisierung als teleologischen Prozess verstehen, der die Kulturen der Welt zu einer Einheit zusammenführen werde, weil beide auf normativen Ideen über die Richtung des sozialen Wandels beruhen. Des Weiteren relativiert sie Butler Floras These, der Pentekostalismus versetze Frauen in soziopolitische Passivität, indem sie bestreitet, dass die Rolle der Frauen außerhalb von Haushalt und Familie der angemessene Bezugsrahmen ist, um eine Verbesserung ihrer

7 8 9

Butler Flora 1975, 424. Vgl. Butler Flora 1975. Vgl. Droogers 1998, 15; Freston 1998, 347f; Míguez 1998, bes. 7-9. 163-170; Bergunder 2000, 12.

19

20

Gender und Heilung

Position zu beurteilen. Im kolumbianischen Kontext sei weniger entscheidend, wie Frauen durch den Pentekostalismus gestärkt werden, um neue Rollen in der Gesellschaft zu übernehmen, als vielmehr wie Frauen im traditionellen Kontext Subjekte der Veränderung werden. Auch Brusco ordnet ihre Untersuchungen des kolumbianischen Pentekostalismus strukturell ein, indem sie feststellt, dass dessen Wachstum mit dem sozialen Wandel von der bäuerlichen Substitutionswirtschaft zur Modernisierung koinzidierte, der dazu führte, dass Frauen in steigendem Maße abhängig vom Einkommen der Männer wurden und dass die auf Haushalt und Familie beschränkte Frauenrolle abgewertet wurde. Sie untersucht das Sozialverhalten Pentekostaler hinsichtlich der Auswirkungen der Konversion auf die Lebenssituation von Frauen und gelangt zu dem Ergebnis, dass der kolumbianische Pentekostalismus in mancher Hinsicht als strategische Frauenbewegung angesehen werden kann, die als Gegenmittel zum Machismo wirkt. Im Unterschied zum westlichen Feminismus werde hier nicht angestrebt, dass Frauen Zugang zur Männerwelt erhalten, sondern der häusliche Bereich werde für Männer und Frauen aufgewertet. Geschlechterrollen würden verändert und der Status der Frauen würde verbessert, indem die Männer domestiziert würden, weil die pentekostale Männerrolle der vom Machismo geprägten Rolle entgegengesetzt sei. An die Stelle von Aggression, Gewalt, Stolz, Genusssucht und Individualismus träten Friedfertigkeit, Bescheidenheit, Selbstbeherrschung und eine kollektive Orientierung und Identifizierung mit der Kirche und der Kernfamilie. Infolge der Konversion entsprächen sich die Lebenssphären, Werte und Ziele von Männern und Frauen. Durch frei werdende finanzielle Ressourcen werde der Lebensstandard der Frauen und Kinder erhöht und gleichzeitig werde die Position der Männer als Haushaltsvorstände nicht infrage gestellt. Brusco versteht den Machismo nicht nur als Konversionsmotiv für Frauen, sondern auch für Männer, die eine Ideologie favorisieren, die sie von durch den Machismo erzeugten sozialen Zwängen befreit. Sie schlussfolgert, dass überall dort, wo die Männerrolle gesellschaftlich durch den Machismo definiert und diese Definition durch die Konversion infrage gestellt werde, der Pentekostalismus die Funktion habe, den privaten Bereich zu revolutionieren.10 Brusco hat die Debatte über die Auswirkungen des lateinamerikanischen Pentekostalismus auf Frauen maßgeblich geprägt, indem sie argumentiert, dass diese nicht an den Zielen des westlichen Feminismus gemessen werden dürfen, weil dessen Ziele nicht mit den Zielen der von ihr untersuchten Frauen identisch seien. Während der westliche Feminismus anstrebe, dass Frauen Zugang zur Männerwelt erhalten, von Männern dominierte gesellschaftliche Rollen einnehmen und auf diese Weise die sozioökonomische Gleichstellung mit Männern erreichen, entspräche dies nicht den Zielen von Kolumbianerinnen, in deren Interesse es vielmehr stehe, 10

Vgl. Brusco 1993, 1995, 2010.

1 Einleitung

innerhalb der traditionellen Rollen zu Agentinnen der Veränderung zu werden. Solch eine Veränderung der Geschlechterrollen ermögliche der Pentekostalismus durch die Aufwertung des häuslichen Bereichs für Frauen und Männer, die dazu führe, dass Männer sich ihren Familien vermehrt zuwenden. Darüber hinaus glorifiziere und unterstütze der Pentekostalismus das Weibliche an sich. Indem Brusco zeigt, inwiefern Frauen von der Transformation des häuslichen Bereichs durch den Pentekostalismus profitieren, widerspricht sie sowohl der Hypothese, der lateinamerikanische Pentekostalismus sei ein »Opium der weiblichen Massen«11 , als auch der dieser Hypothese zugrunde liegenden Annahme, dass Frauen, die pentekostalen Kirchen angehören, Opfer eines patriarchalen Plans sind, dessen Normen und Praktiken sie instinktiv ablehnen würden, wenn sie aus ihrer ideologischen Gefangenschaft oder von ihrem falschen Bewusstsein befreit würden. Trotz entscheidender Unterschiede zwischen Butler Floras und Bruscos Ansatz beruht jedoch auch Bruscos Analyse und Interpretation auf der Annahme, dass ein Widerspruch zwischen der patriarchalen pentekostalen Doktrin und der Tatsache, dass Frauen diese vertreten, besteht. Auch für Brusco stellt der Feminismus für Frauen letztlich die einzige Alternative zum falschen Bewusstsein dar,12 und es ist ihr Anliegen zu zeigen, dass kolumbianische pentekostale Frauen im Grunde Feministinnen sind. Beide Ansätze vertreten die normative Überzeugung, dass Frauen den angeborenen Wunsch haben sollten, patriarchale Werte zu überwinden, ohne dieses Narrativ historisch zu kontextualisieren, und ignorieren infolgedessen Möglichkeiten des Denkens und Handelns, die nicht der Binarität von Unterwerfung und Subversion entsprechen. Dies führt dazu, dass Brusco die von ihr analysierten Funktionen der Konversion rückwirkend zum Konversionsgrund kolumbianischer Frauen erklärt und damit die Erfahrungen und Interpretationen der Frauen selbst missachtet, die ihre Konversion nicht strategisch mit einem emanzipatorischen Ziel begründen, sondern auch Brusco gegenüber emotional-spirituelle Erfahrungen als Motivation benennen.13 Schließlich ist festzustellen, dass Bruscos Darstellung des sozialen Wandels auf essentialistischen Generalisierungen und geschlechtsspezifischen Stereotypen basiert. So bemüht sie sich, für sogenannte Dritte-Welt-Frauen zu sprechen, indem sie postuliert, dass die Familie für diese so wichtig ist, dass deren Bedeutung in keiner Untersuchung der Lebenssituation dieser Frauen außer Acht gelassen werden darf, und ignoriert dabei Differenzen weiblicher Identität infolge divergierender Merkmale wie der ethnischen Zugehörigkeit, der gesellschaftlichen Schicht, der Sexualität und des Alters.14 Im Gegenüber zu diesem Frauenbild generalisiert sie den Alkoholkonsum kolumbianischer Männer, dessen

11 12 13 14

Butler Flora 1975, 424. Vgl. Brusco 1995, bes. 3. Vgl. Brusco 1995, bes. 8f.108-113. Vgl. Brusco 1995, 3.

21

22

Gender und Heilung

einziger empirischer Beleg aus einer Untersuchung von vier bäuerlichen Haushalten von 1950-51 stammt. Für ihre These, dass der Pentekostalismus den beschriebenen kulturellen Wandel verursacht, fehlt folglich die empirische Basis.15 Auf Brusco Bezug nehmend wird hinsichtlich des lateinamerikanischen Pentekostalismus vielfach auf eine Spannung zwischen einer patriarchalen Doktrin und emanzipatorischen Auswirkungen hingewiesen, die von Bernice Martin als pentekostales Genderparadox bezeichnet wird.16 Verbreitet ist die Interpretation, dass der Pentekostalismus explizit patriarchale Geschlechterrollen verstärkt und gleichzeitig die von Machismo und Marianismo geprägten Geschlechterrollen überwinden hilft oder wenigstens transformiert.17 Jedoch existieren auch kritische Stimmen, denen zufolge die Diskriminierung der Frauen im Pentekostalismus verschleiert wird oder die es ablehnen, wenn feministische Forschende in Strukturen der Unterordnung Agency wahrnehmen.18 Annelin Eriksen kritisiert, dass in den vergangenen Jahren in verschiedenen anthropologischen Untersuchungen zu geschlechtsspezifischen Implikationen des Pentekostalismus von der Existenz des beschriebenen Paradoxes ausgegangen wird, das darin bestehe, dass die Frage, ob der Pentekostalismus eine Frauenbewegung sei, sowohl mit »ja« als auch mit »nein« zu beantworten sei. Diese Fragestellung identifiziert sie als problematisch, da sie so gerahmt ist, dass die Antworten nur als Paradox verstanden werden können.19 Jane Soothill sieht in ihrer Untersuchung von Geschlechterbeziehungen im ghanaischen Pentekostalismus von der paradoxen Bewertung des Pentekostalismus als sowohl emanzipatorisch als auch patriarchal ab und zeigt, dass der soziale Wandel in Form der Reformation des Machismo in Ghana nicht das Schlüsselparadigma für das Verständnis der Anziehungskraft des Pentekostalismus auf Frauen ist, sondern dass spirituelle Faktoren diese begründen. Die Abweichung dieses Ergebnisses von den Ergebnissen der Untersuchungen des lateinamerikanischen Pentekostalismus führt sie auf den divergierenden Kontext zurück.20 Tatsächlich ist jedoch nicht der andere soziokulturelle Kontext der Grund für diese Abweichung, sondern die Tatsache, dass Soothill sich von einem verbreiteten binären Konzept von Agency löst, das im Folgenden analysiert und kritisiert werden soll.21 Die Annahme der Existenz eines pentekostalen Genderparadoxes beruht auf der Binarität von Patriarchat und Unterdrückung versus Emanzipation und Sub-

15 16 17 18 19 20 21

Vgl. Míguez 1998, 11f. Vgl. zum kritisierten Beleg Brusco 1993, 147 und 1995, 5. Vgl. Martin 2001. Vgl. Drogus 1997; Mariz/das Dores Campos Machado 1997; Burdick 1998; Montecino/Obach 2001; Lorentzen/Mira 2005; English de Alminana 2016. Vgl. Gill 1990; Tarducci 2001; Rohr 2010. Vgl. Eriksen 2016. Vgl. Soothill 2007, 223f. Vgl. Soothill 2007, 27-29.

1 Einleitung

version, die nicht nur zur Begrenzung der Wahrnehmungsfähigkeit der Erfahrungen pentekostaler Frauen führt. So stellt Saba Mahmood in ihrer Untersuchung der ägyptischen Frauenmoscheebewegung fest, dass die aktive Unterstützung von sozioreligiösen Bewegungen durch Frauen, die Prinzipien der weiblichen Unterordnung vertreten, ein Dilemma für feministische Analystinnen und Analysten darstellt, weil diese einerseits sehen, dass Frauen ihre Präsenz in männlich dominierten Sphären behaupten, »andererseits die Sprache, die sie verwenden, um in diese Sphären vorzudringen, in Diskursen gründet, die […] ihre Unterordnung unter männliche Autorität absichern.«22 Als Ursache dafür, dass das Dilemma als solches wahrgenommen wird, identifiziert sie die Naturalisierung von Freiheit und Autonomie des Subjekts, infolge derer angenommen wird, dass die Reaktionsmöglichkeiten für Frauen angesichts patriarchaler Wertvorstellungen entweder in passiver Unterwerfung oder in aktiver Subversion bestehen. Folglich wird Agency ausschließlich »als Kapazität verstanden, die eigenen Interessen gegen das Gewicht von Sitte, Tradition, transzendentalem Willen oder anderen Hindernissen«23 durchzusetzen. Wenn also feministische Analystinnen und Analysten das Handeln von Frauen innerhalb patriarchaler Normen positiv bewerten wie Brusco, dann deshalb, weil sie es als Widerstand interpretieren, selbst wenn es nicht das Ziel der Handelnden ist, hegemoniale Normen infrage zu stellen. Mahmood argumentiert, dass es ohne die historische Kontextualisierung der Binarität von Unterwerfung und Subversion nicht möglich ist, Formen des Seins und Handelns wahrzunehmen, die dieser nicht entsprechen. Um das Konzept vom rationalen, selbstbestimmten Subjekt zu dekonstruieren, verweist sie auf Judith Butler, für deren Analyse wiederum zwei Einsichten Michel Foucaults entscheidend sind: 1. Macht ist nicht statisch und kann nicht von souveränen Individuen besessen oder über andere ausgeübt werden, sondern »muss als strategische Machtbeziehung verstanden werden, die das Leben durchdringt und neue Formen von Sehnsüchten, Objekten, Beziehungen und Diskursen schafft.«24 2. Das Subjekt geht den Machtbeziehungen nicht voran, sondern wird durch diese geschaffen. Folglich sind diese die notwendigen Bedingungen seiner Konstitution. Als zentral für diese Argumentation bezeichnet sie Foucaults Paradox der Subjektivierung, das darin besteht, »dass die Prozesse und Bedingungen, die die Unterordnung eines Subjekts bewirken, dieselben Mittel sind, durch die dieses Subjekt zu einer sich selbst bewussten Identität und zu einer Akteurin oder einem Akteur wird.«25 Hiervon ausgehend stellt Butler ein Konzept von Agency infrage, das von einer allen Menschen inhärenten Intentionalität

22 23 24 25

Mahmood 2012, 5f. Mahmood 2012, 8. Mahmood 2012, 17. Vgl. Foucault 1980. Mahmood 2006, 188; 2012, 17. Vgl. Foucault 1978, 1980, 1983.

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24

Gender und Heilung

und Freiheit ausgeht, deren Möglichkeiten durch externe Machtbeziehungen begrenzt werden. Stattdessen verortet sie »die Möglichkeit der Agency innerhalb von Machstrukturen […] [, da] die wiederholende Struktur von Normen nicht nur dazu dient, ein spezielles Diskurs- oder Machtregime zu konsolidieren, sondern auch die Mittel für seine Destabilisierung zur Verfügung stellt.«26 Agency beruht nach Butler auf der essenziellen Offenheit jeder Wiederholung und auf der Möglichkeit, dass sie für andere Ziele als für die Konsolidierung von Normen verwendet werden könnte. Folglich gibt es keine Möglichkeiten, soziale Normen abzuschaffen, die unabhängig vom Tun dieser Normen sind.27 Butler konzeptualisiert Performativität auf der Grundlage des Dualismus von Konsolidierung und Resignifikation, Erfüllen und Zerstören von Normen und betont »die Möglichkeiten des Widerstands gegen die regulierende Macht der Normativität.«28 Im Anschluss an Butler setzt Mahmood voraus, dass Normen keine soziale Auferlegung auf das Subjekt, sondern die »Substanz seiner […] Innerlichkeit«29 sind. Autonomie existiert nicht, weil Strukturen und Bedingungen Handlungen stets beeinflussen und begrenzen. Es ist möglich, Widerstand gegen Strukturen und Bedingungen zu leisten und sie umzuformen, aber es ist nicht möglich, außerhalb der Strukturen und Bedingungen zu handeln. Jedoch stellt Mahmood eine Spannung in Butlers Argumentation fest: Während Butler alle subversiven Handlungen als Produkt der Bedingungen identifiziert, gegen die sie gerichtet sind, privilegiert ihre Analyse von Agency häufig die Momente, die es ermöglichen, die Bedingungen entgegen ihrer Ziele zu resignifizieren.30 Butler entwickelt also ihr Konzept von Agency vor allem dort, wo Normen infrage gestellt oder resignifiziert werden.31 Diese argumentative Spannung in Butlers Konzeptualisierung von Agency erklärt Mahmood durch den Verweis auf deren performative Dimension, insofern sie als politische Praxis zu verstehen ist, die die Überwindung dominanter Geschlechts- und Sexualitätsdiskurse anstrebt. Dieser spezifische Kontext habe dazu geführt, dass Butler die antihegemonialen Ausführungsvarianten von Agency betont, so dass andere in den Hintergrund geraten seien. Mahmoods Ziel ist es nun, »Foucaults Vorstellung von Widerstandsdiskursen und Butlers Auffassung von Performativität«32 zu erweitern, indem sie zeigt, dass Normen nicht nur konsolidiert oder resignifiziert, erfüllt oder zerstört, sondern auch jenseits dieser dualistischen Struktur in der Aktualisierung graduell variierender Handlungsmöglich-

26 27 28 29 30 31 32

Mahmood 2012, 20. Vgl. Butler 1991, 1997. Mahmood 2012, 22. Mahmood 2012, 23. Butler 1997, bes. 305-343. Vgl. Mahmood 2012, 21. Auga 2018, 105.

1 Einleitung

keiten »auf vielfältige Weise […] bewohnt und erfahren«33 , »gelebt […], ersehnt, ergriffen und vollzogen«34 werden. Folglich versteht Mahmood Agency nicht als Synonym für den Widerstand gegen Beherrschung, sondern als Fähigkeit zu handeln, die durch konkrete historisch bedingte Beziehungen der Unterordnung ermöglicht und geschaffen wird. Agency existiert, insofern Menschen mit spezifischen Intentionen, Plänen und Wünschen fähig sind, innerhalb der gegebenen Strukturen zu handeln. In Bezug auf Religion bedeutet dies, dass sie Agency ermöglicht, insofern sie Handlungsmöglichkeiten eröffnet.35 Indem Mahmood am Beispiel der ägyptischen Frauenmoscheebewegung vielfältige Arten von Agency nachzeichnet, die den Praktiken der Teilnehmerinnen dieser Bewegung zugrunde liegen, beabsichtigt sie, »Grundannahmen im Zentrum des liberalen Denkens, durch die solche Bewegungen häufig beurteilt werden«, zu verstören und »der tiefen Unfähigkeit innerhalb des gängigen feministisch-politischen Denkens, sich vorzustellen, wie sich wertvolle Formen des Menschlichen außerhalb der Grenzen einer liberal-progressiven Vorstellungswelt entfalten«36 , abzuhelfen. Von dieser Argumentation ausgehend wird in der vorliegenden Studie untersucht, welche Ressourcen und Fähigkeiten Frauen durch pentekostale Überzeugungen und Praktiken erhalten, um sich innerhalb der gegebenen Strukturen zu entfalten. Welche Handlungsmöglichkeiten eröffnen sich ihnen? Und worin liegen die Plausibilität, die Bedeutung und die Macht des pentekostalen Diskurses für sie?

1.1.2

Frauen im costa-ricanischen Pentekostalismus

Zu geschlechtsspezifischen Implikationen des Pentekostalismus in Costa Rica existieren lediglich einige Fallstudien, die mehrheitlich als unveröffentlichte Hochschulschriften vorliegen und bei variierender Akzentsetzung zu dem einheitlichen Ergebnis gelangen, dass der pentekostale Diskurs dem Status der Frauen schadet.37 Ana Ligia Sánchez und Osmundo Ponce werten in ihrer Examensarbeit Literatur aus verschiedenen pentekostalen Kirchen in Heredia bezüglich der Darstellung von Frauen aus und stellen fest, dass der theologische Fundamentalismus als Unterdrü-

33 34 35 36 37

Mahmood 2012, 22. Mahmood 2012, 23. Vgl. zu den Debatten zwischen Mahmood und Butler über ihre Konzeptionen von Widerstand und Religion Asad/Brown/Butler/Mahmood 2013. Mahmood 2012, 155. Weitere Studien, die den costa-ricanischen Pentekostalismus bezüglich divergierender Fragestellungen untersuchen, sind Kessler 1989, 1995; Piedra Solano 1991; Secretariado Episcopal de América Central (SEDAC) 1995; Anderson 1999; Steigenga 2001; Fernández de Quevedo 2002; Alford 2003; Gómez 2014.

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Gender und Heilung

ckungsmechanismus fungiert.38 María del Socorro Chacón und Zulena Fernández analysieren in ihrer Examensarbeit die Lebenssituation von Frauen, die einer Kirche angehören, die der Asociación Cristiana de las Asambleas de Dios en Costa Rica, kurz Asambleas de Dios (AD), angehören. Ihr Ergebnis ist, dass Frauen im pentekostalen Diskurs als Eigentum eines maskulin dargestellten Gottes, der Kirche, der Familie und der Gesellschaft gelten, so dass sie über keinerlei Selbstbestimmung verfügen.39 Marleny Amaya untersucht auf der Grundlage von jeweils fünf Interviews in einer methodistischen Kirche, einer reformierten Kirche und einer Kirche der AD die Organisationsstrukturen hinsichtlich der Frauenrollen. Sie postuliert, dass in allen dreien, jedoch in der Kirche der AD am stärksten, Frauen diskriminiert werden, insofern sie ausschließlich untergeordnete Tätigkeiten ausüben. Ihre Unfreiheit bemerkten die Frauen jedoch nicht, da ihnen das feministische Bewusstsein fehle.40 Während diesen drei Arbeiten die Annahme zugrunde liegt, Unterordnung und Diskriminierung von Frauen seien essenzielle Merkmale des Pentekostalismus, vertritt die ecuadorianische Pentekostale Senia Pilco Tarira in ihrer Bachelorarbeit, für die sie Interviews mit Frauen aus drei Kirchen der Iglesia de Dios del Evangelio Completo (IDEC) in San José führt, die Position, dass die kirchlichen Strukturen zwar von patriarchalen Normen bestimmt werden, dies aber nicht auf den Pentekostalismus selbst, sondern auf den gesellschaftlich verbreiteten Machismo zurückzuführen ist, so dass es möglich sei, die Unterordnung von Frauen im Pentekostalismus zu überwinden.41 Dem Zusammenhang zwischen Pentekostalismus und häuslicher Gewalt in Costa Rica widmet sich erstmals die Psychologin Michelle Cordero in ihrer Examensarbeit. Sie untersucht, wie der pentekostale Diskurs den Umgang von Frauen mit häuslicher Gewalt beeinflusst. Ihr Ergebnis ist, dass in pentekostalen Kirchen eine patriarchale Doktrin vermittelt wird, die von der Höherwertigkeit der Männer ausgeht und deren Ziel die Aufrechterhaltung der Ehe ist. Dass die Strategien, die den Frauen, die Gewalt erleben, vermittelt werden, um ihre Situation zu verbessern, darin bestehen, zu beten, zu fasten, Dämonen auszutreiben, zu vergeben, ein gutes Zeugnis zu geben, sich den Männern unterzuordnen und Paarberatung zu absolvieren, identifiziert sie als Konglomerat von Rechtfertigungsmechanismen, die eingesetzt würden, um Gewalt zu legitimieren und aufrechtzuerhalten, anstatt sie zu beenden.42

38 39 40 41 42

Vgl. Sánchez Rojas/Ponce Serreno 1989. Die Ergebnisse wurden teilweise veröffentlicht in Sánchez/Ponce 1995. Vgl. Chacón/Fernández 1997. Vgl. Amaya 2002. Vgl. Pilco Tarira 1990. Vgl. Cordero 2003.

1 Einleitung

Dieser Argumentationslinie schließt sich der Soziologe Ariel Calderón in seiner Examensarbeit an.43 Er verbindet die makro- und die mikrotheoretische Interpretation und identifiziert ungleiche ökonomische Machtverhältnisse, die durch ökonomische Krisen ab 1980 und 2007 verstärkt worden seien, als ersten Grund für den Erfolg des Pentekostalismus. Mit Verweis auf den costa-ricanischen Soziologen Jaime Valverde44 erklärt er es zur Funktion des Pentekostalismus, die ideologischen Strukturen des Kapitalismus zu stützen, indem der pentekostale Diskurs den begrenzten materiellen Bedingungen der Unterdrückten einen Sinn gebe. Armut und Not würden als Bestandteile des Plans Gottes verklärt, so dass Ungerechtigkeiten und Leid akzeptiert würden. Als zweiten Grund für den Erfolg des Pentekostalismus identifiziert er ungleiche geschlechtsspezifische Machtverhältnisse, die, häufig im Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen durch deren Partner, persönliche Krisen auslösten, und dazu führten, dass eine Weltsicht, die den Frauen zuvor Sicherheit und Lebenssinn gegeben habe, sich als falsch erweise. Dem Bedürfnis nach Orientierung und Sinn werde in den pentekostalen Kirchen entsprochen, indem die Krisen als von Gott geplante Markierungspunkte auf dem Weg hin zu ihm interpretiert würden. Der Pentekostalismus erfülle die Funktion, die ungleichen geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse zu stützen, indem den Frauen geraten werde, Unrecht zu ertragen und zu vergeben. Calderón postuliert, gewalttätigen Männern werde keinerlei Verhaltensänderung abverlangt, sondern Gewalt werde naturalisiert und akzeptiert. Das größte Verdienst dieser Studie ist, die zentrale Bedeutung von Gewalterfahrungen für viele Konversionen von Frauen zum Pentekostalismus in Costa Rica herauszuarbeiten. Auch Calderóns Bemühungen, Frauen eine Stimme gegen die geschlechtsspezifisch ungleiche Verteilung von Macht zu verleihen, sind zu würdigen. Jedoch übernimmt er erstens das Deprivationsargument zur Erklärung des Erfolgs des Pentekostalismus ohne kritische Interaktion mit alternativen Erklärungsansätzen.45 Zweitens unterstellt er Frauen ein falsches Bewusstsein und naturalisiert den Wunsch zur Überwindung patriarchaler Werte. Folglich wertet er ihre Aussagen als Resultate ideologischer Indoktrination ab. Als intellektueller Mann wendet er die Aussagen subalterner Frauen in ihr Gegenteil und profitiert dabei von der ungleichen Machtverteilung, die er selbst verurteilt.46 Als ein dem richtigen Bewusstsein entsprechendes Verhalten angesichts verschiedener Arten von Beziehungskrisen lässt er ausschließlich den Beziehungsabbruch gelten und erwägt dabei weder dessen mögliche Konsequenzen für Frauen noch die Möglichkeit der Veränderung von Beziehungen. Er nimmt nicht wahr, dass auch in pen-

43 44 45 46

Vgl. Calderón 2015. Vgl. Valverde 1990, 1991. Vgl. Robbins 2004. Vgl. Spivak 1994.

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Gender und Heilung

tekostalen Kirchen in manchen Fällen zur Trennung geraten wird und dass viele in Trennung lebende und geschiedene Frauen dort Unterstützung und Zuspruch erhalten. Er setzt ohne empirische Grundlage voraus, dass nichtpentekostale Frauen ihr Ergehen aktiver als pentekostale gestalten, dass also eine nichtpentekostale Orientierung automatisch mit einer größeren Fähigkeit zusammenhängt, Bedingungen sozialer Ungerechtigkeit zu transformieren. Er übersieht die ethischen Forderungen, die in pentekostalen Kirchen in nahezu redundanter Weise an Männer gerichtet werden und die unzähligen Unterstützungsangebote für Männer zur Überwindung destruktiver Verhaltensmuster. Sein Postulat, pentekostale Frauen würden angehalten, sexuell gefügig zu sein, ist zumindest in dieser Verallgemeinerung falsch, insofern andernorts pentekostale Männer aufgefordert werden, ihre sexuellen Wünsche denen ihrer Frauen unterzuordnen. Und er missversteht die Vergebung der Täterinnen und Täter als Legitimation der Taten. Zwar verweist er auf eine von ihm als fortschrittlich bezeichnete pentekostale Kirche in Cartago und stellt fest, dass dort »die Menschenrechte respektiert«47 werden, insofern kein heteronormatives Konzept von Geschlecht und keine patriarchale Bibellektüre vertreten würden. Jedoch betont er, dass diese Kirche eine Ausnahme ist und, da er sie in der Logik der Binarität von Unterwerfung und Subversion als Ort der Subversion identifiziert, als Vorbild für alle anderen Kirchen des Landes dienen sollte. Von dieser Ausnahme abgesehen wirft er dem costa-ricanischen Pentekostalismus vor, Gewalt zu legitimieren, weil er die Auslöser vieler Konversionen mit deren Auswirkungen verwechselt. Kurzum: Es ist ihm nicht möglich, Formen des Seins und Handelns wahrzunehmen, die dem Narrativ des oppressiven Pentekostalismus nicht entsprechen, so dass er nicht die Bedeutung und die Macht erfasst, die der pentekostale Diskurs für viele Frauen hat. Dies führt dazu, dass er pentekostale Frauen, vermutlich ohne es zu beabsichtigen, als ahnungslose Opfer eines schädlichen religiösen Diskurses darstellt und ihnen die Agency handelnder Subjekte abspricht. Zusammengefasst zeichnen Untersuchungen der Gründe für die Attraktivität des lateinamerikanischen Pentekostalismus für Frauen und seiner Auswirkungen auf sie diesen entweder als Unterdrückungsinstrument, dessen Erfolg auf patriarchaler Indoktrination und mangelhaftem emanzipatorischem Bewusstsein beruht,48 oder als Befreiungsinstrument, dessen Erfolg auf einem vorhandenen emanzipatorischen Bewusstsein oder gar einer feministischen Strategie beruht,49 oder sie identifizieren sowohl oppressive als auch emanzipatorische Auswirkungen und bezeichnen diese daher als paradox.50 Bei zum Teil erheblich divergierenden 47 48 49 50

Vgl. Calderón 2015, 245. Dieses Interpretationsmuster findet sich etwa bei Butler Flora 1975 und Calderón 2015. Dieses Interpretationsmuster findet sich etwa bei Willems 1967 und Brusco 1995. Vgl. Martin 2001 sowie Drogus 1997; Mariz/das Dores Campos Machado 1997; Burdick 1998; Montecino/Obach 2001; Lorentzen/Mira 2005; English de Alminana 2016.

1 Einleitung

Ansätzen und Schlussfolgerungen teilen die Untersuchungen von Butler Flora, Brusco, Martin, Calderón und anderen die Logik der Binarität von Unterwerfung und Subversion sowie die Naturalisierung des Wunsches von Frauen, sich von patriarchalen Werten zu befreien. Dieses Narrativ nicht historisch zu kontextualisieren, sondern unhinterfragt als Interpretationsmuster für die Erfahrungen pentekostaler Frauen zu verwenden, führt dazu, dass Erfahrungen, Interpretationen und Bedürfnisse, die ihm nicht entsprechen, nicht wahrgenommen werden. Mahmood dekonstruiert dieses Konzept, indem sie argumentiert, dass die Autonomie des Subjekts nicht existiert, weil Normen und Strukturen dem Subjekt immer vorangehen, es erschaffen und seine Identität bedingen. Folglich besteht Agency immer innerhalb spezifischer Bedingungen und wird realisiert, indem Normen konsolidiert oder resignifiziert sowie auf vielfältige Weise erfahren, bewohnt und gelebt werden. Was dies für die Untersuchung der Bedeutung des Pentekostalismus für Frauen in Costa Rica bedeutet, wird im Folgenden gezeigt.

1.2

Ziel der Arbeit

Auch die vorliegende Arbeit hat das Ziel, die Gründe der Attraktivität des Pentekostalismus für Frauen und seine Auswirkungen auf sie zu untersuchen. Jedoch wird hier nicht gefragt, ob der Pentekostalismus sich auf Frauen oppressiv oder emanzipatorisch auswirkt, sondern welche Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten er ihnen innerhalb der gegebenen Strukturen durch welche Ressourcen eröffnet. Mit Mahmood51 wird von der Binarität von Unterwerfung und Subversion abgesehen, weil diese Logik missachtet, dass jegliches Handeln durch Machtverhältnisse bedingt ist und innerhalb von Machtverhältnissen geschieht. Mahmoods Konzept von Agency als Handlungsfähigkeit nicht gegen, sondern innerhalb von Machtstrukturen ermöglicht es, Erfahrungen, Sehnsüchte, Denk- und Handlungsmöglichkeiten sowie deren Interpretationen durch die Akteurinnen selbst wahrzunehmen, die der binären Logik nicht entsprechen. Dies ist wiederum die Voraussetzung, um zu verstehen, was der pentekostale Diskurs für die Akteurinnen bedeutet und worin seine transformative Macht für sie besteht, durch die sich ihnen neue Gestaltungsspielräume innerhalb der gegebenen Umstände eröffnen. Von Mahmoods Argumentation ausgehend wird daher gefragt: Welche Ressourcen und Fähigkeiten erhalten Frauen durch die pentekostale Doktrin und durch pentekostale Praktiken, um sich innerhalb der gegebenen Strukturen zu entfalten? Welche Handlungsmöglichkeiten eröffnen sich ihnen? Und worin liegen die Plausibilität, die Bedeutung und die Macht des pentekostalen Diskurses für sie? Um diese Fragen zu beantworten, werden Äußerungen und Praktiken überwiegend weiblicher Pentekostaler dargestellt, 51

Vgl. Mahmood 2012.

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30

Gender und Heilung

um in ihren Begriffen pentekostale Konzepte zu rekonstruieren. Es wird analysiert, wie diese Frauen ihre Konversion, ihre Überzeugungen und die Implikationen ihrer Zugehörigkeit zu einer pentekostalen Kirche oder Gemeinschaft interpretieren, um die Plausibilität und Macht des rekonstruierten Diskurses für sie verständlich zu machen. Des Weiteren werden im Sinne einer historischen Kritik sowohl Aspekte des rekonstruierten Diskurses wie konkrete Praktiken als auch gegenwärtige pentekostale Namenspolitiken genealogisch kontextualisiert, um zu zeigen, auf welche historischen Ereignisse sie reagieren und inwiefern in ihnen lokale und globale Diskurse ausgehandelt werden.52 Im Verlauf der Feldforschung stellte sich heraus, dass die meisten der befragten Frauen, evangelische ebenso wie katholische Pentekostale, thematisierten, dass und wie sich ihr Leben durch Heilungserfahrungen im Zusammenhang ihrer Konversion zum Pentekostalismus oder zu einem späteren Zeitpunkt verändert hatte. Viele erzählten, dass sie eine Heilung emotionaler Verletzungen erfahren hatten, und interpretierten diese Erfahrung als Quelle neuer Ressourcen, Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten. Die Begriffe sanidad interior (innere Heilung) und perdón (Vergebung) dominierten nicht nur die Interviews, sondern auch Predigten, Vorträge und vorgefundenes schriftliches Material. Der während der Feldforschung gewonnene Eindruck von der Bedeutsamkeit der Erfahrung innerer Heilung durch Vergebung soll durch die Analyse des erhobenen Datenmaterials überprüft werden. Es wird gefragt, worin die Plausibilität und Bedeutung des Heilungsdiskurses bestehen und inwiefern dieser Veränderungen im Leben von Frauen ermöglicht. Auf den zentralen Stellenwert der Heilungserfahrung im lateinamerikanischen Pentekostalismus ist wiederholt hingewiesen worden. So betonen Hanneke Slootweg und Frans Kamsteeg, dass das pentekostale Heilungsangebot insbesondere für Arme attraktiv ist, weil für diese andere Optionen wie moderne Medizin und traditionelle Heilungsverfahren nicht finanzierbar sind.53 Brusco stellt fest, dass Heilungen der Hauptkonversionsgrund für Männer sind.54 Beiden Beobachtungen liegt ein Konzept von Heilung als Überwindung körperlicher Leiden zugrunde. Andrew Chesnut, Candy Gunther Brown, Rebecca Pierce Bomann und Luis Lugo stellen hingegen fest, dass Heilungen auch auf die Überwindung sozialer und emotionaler Probleme abzielen.55 Dass zunehmend auf die Bedeutung der Heilung emotionaler Probleme hingewiesen wird, spiegelt die Entwicklung der Heilungsdiskurse wider, insofern Praktiken der körperlichen Heilung in diachroner Perspektive weiter zurückzuverfolgen sind als Praktiken der emotionalen und spirituellen Heilung, die in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen haben.56 52 53 54 55 56

Vgl. Bergunder 2012, 41-47; 2018, 211-215; Maltese 2015, 79. Vgl. Kamsteeg 1991; Slootweg 1998. Vgl. Brusco 1995, 117; 2010, 89. Vgl. Lugo 2006; Brown 2011, 3; Chesnut 2011, 175; Pierce Bomann 2011. Vgl. Hunt 2017.

1 Einleitung

Bisher mangelt es an Untersuchungen zu der Frage, worin die Bedeutung der inneren Heilung im lateinamerikanischen Kontext konkret besteht. Hier schafft diese Studie Abhilfe. Essentialistische Generalisierungen und geschlechtsspezifische Stereotypen wie das feministische Stereotyp, demzufolge nichtwestliche Frauen das unterdrückte Gegenüber westlicher Frauen sind, die der Befreiung und Ermächtigung bedürfen, sollen in dieser Untersuchung vermieden werden. Ebenso sollen Generalisierungen und Stereotypen in Bezug auf Männer vermieden werden, bezüglich derer ein Risiko besteht, weil die Erfahrungen und Interpretationen von Frauen im Fokus stehen, deren erlittene emotionale Verletzungen häufig mit Gewaltanwendung, Alkoholkonsum und Promiskuität von Männern zusammenhängen. Es sollen aber keine Aussagen über das Wesen costa-ricanischer Männer gemacht werden, sondern es soll gezeigt werden, wie Frauen sich selbst, auch in der Beziehung zu Männern, wahrnehmen und auf welche Weise die pentekostale Heilungserfahrung diese Wahrnehmung sowie Handlungsoptionen beeinflusst. Die Bedeutung des pentekostalen Heilungsdiskurses für Männer und seine Auswirkungen auf sie zu analysieren, übersteigt die Möglichkeiten dieser Untersuchung und ist als Forschungsdesiderat festzuhalten. Frauen, die etwa infolge negativer Erfahrungen eine pentekostale Gemeinschaft verlassen haben, werden aus forschungspragmatischen Gründen nicht in die Untersuchung einbezogen. Hier eröffnet sich ein weiteres Forschungsdesiderat.

1.3

Forschungsfeld

Costa Rica, das bei einer seit 1990 relativ stabilen Armutsquote zwischen 20 und 22 Prozent gelegentlich als Schweiz Mittelamerikas bezeichnet wird, zeichnet sich als Forschungsfeld im lateinamerikanischen Vergleich durch einen hohen Lebensstandard, eine trotz zunehmender Einkommensungleichverteilung starke Mittelschicht, eine hohe Qualität des kostenfreien Erziehungs- und Gesundheitswesens, durch eine relative ethnische Homogenität der überwiegend mestizischen Bevölkerung, durch das Fehlen von Streitkräften und durch eine ruhige politische Entwicklung seit 1949 aus. Die Zugehörigkeit zum Pentekostalismus ist in Costa Rica nicht mit ethnischen Zugehörigkeiten verbunden, und für seine Entwicklung sind keine Nachwirkungen politischer Konflikte zu erwarten. Der costa-ricanische Pentekostalismus ist nicht ausschließlich, aber in jedem Fall auch ein Mittelschichtsphänomen. Mit Bezug auf David Martin, der die Dynamik des Pentekostalismus mit der Mobilisierung der Marginalisierten begründet,57 fragt daher Jean-Pierre Bastian: »Wenn also die Erklärungsvariablen für den religiösen Wandel, die man auf andere 57

Vgl. Martin 1990, 2002.

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Gender und Heilung

lateinamerikanische Kontexte anwendet, im Zusammenhang mit Costa Rica keine Gültigkeit haben, sollte man dann nicht vermuten können, daß die katholische Vorherrschaft hier weniger angeschlagen wäre und die neuen religiösen Bewegungen weniger präsent wären als anderswo?«58 Er stellt jedoch fest, dass dies nicht zutrifft: »Es scheint also, als ob sich die religiöse Wirklichkeit des heutigen Costa Rica trotz der Abwesenheit makrosozialer Variablen, wie sie in anderen Kontexten zutage getreten sind, kaum von der im übrigen Lateinamerika unterscheidet.«59 Folglich eignet sich Costa Rica als Forschungsfeld, in dem davon ausgegangen werden kann, dass die genannten externen Faktoren für die Erklärung des Wachstums des Pentekostalismus nicht in besonderer Weise berücksichtigt werden müssen. Alajuela ist mit einer Einwohnerzahl, deren Größe je nach Grenzziehung mit 50.000-266.000 angegeben wird, die zweitgrößte Stadt Costa Ricas und bildet einen Teil der Metropolregion San José, in der mit 2,6 Millionen Einwohnern etwa 60 Prozent der costa-ricanischen Bevölkerung lebt. Als exemplarisches Forschungsfeld bietet Alajuela sich für diese Studie an, weil die Stadt in Bezug auf soziale Indikatoren eine typische costa-ricanische Stadt mittlerer Größe ist60 und über eine lange pentekostale Geschichte verfügt. Entwicklungen, die den costa-ricanischen Pentekostalismus entscheidend geprägt haben und prägen, fokussieren sich hier. So wurden die ersten evangelischen Missionarinnen und Missionare hier positiver aufgenommen als andernorts und die ersten Evangelisationskampagnen wurden von der hiesigen Stadtverwaltung, ganz anders als in San José, Cartago und Heredia, unterstützt. Die zweite methodistische Kirche des Landes wurde hier ebenso erbaut wie die zweite Kirche der AD, und auch das zweite Beratungszentrum des Club 700 wurde hier eingerichtet, jeweils nach den ersten Kirchen und dem ersten Zentrum in San José. Auch die Renovación Carismática Católica (Katholische Charismatische Erneuerung, RCC) breitete sich von San José zunächst nach Alajuela aus, wo schließlich das charismatische Zentrum Centro Carismático Católico »Amigos de Jesús« (CCCAJ) mit überregionaler Ausstrahlungskraft entstand. Des Weiteren entstanden hier auch neue pentekostale Initiativen: Die nichtdenominationelle Frauenorganisation Tierra Fértil (TF) wurde, bevor sie sich landesweit verbreitete, hier gegründet, und der Ausgangspunkt der Verbreitung des Ministerio de Oración Teofóstic (Theophostischer Gebetsdienst) in Costa Rica befindet sich ebenfalls in dieser Stadt. Im Jahr 2015 deutete sich an, dass auch eine mögliche Pentekostalisierung des Katholizismus in Alajuela entscheidende Impulse erhielt. Der Versuch, valide quantitative Daten zu lokalen pentekostalen Kirchen und Gemeinschaften zu erheben, ist aussichtslos, weil diese häufig ihre Versamm-

58 59 60

Bastian/Fanger/Wehr/Werz 2000, 202. Bastian/Fanger/Wehr/Werz 2000, 202. Vgl. Instituto Nacional de Estadística y Censos 2013, 57; Ministerio de Planificación Nacional y Política Económica 2013.

1 Einleitung

lungsräume wechseln, wachsen und sich vermehren, sich gelegentlich auflösen und manchmal äußerlich nicht identifizierbar sind. So lernte die Verfasserin die Kirche Centro de Consejería Bíblica Emanuel »Dios Con Nosotros« (CCBEDN) kennen, als sie ein Geschäft für Kunsthandwerksbedarf aufsuchte, um Farben für die Teilnahme an der Frauengruppe Tardes Creativas (Kreative Nachmittage) in der Kirche Centro Cristiano Vida Nueva (CCVN) zu kaufen. Im Verkaufsraum war das Programm eines evangelischen Radiosenders zu hören, der zum Anlass für ein Gespräch mit der Geschäftsinhaberin wurde. Schließlich führte diese die Verfasserin durch einen Flur in einen im hinteren Bereich des Hauses gelegenen Raum und erklärte, dass sie Pastorin und dies ihr Versammlungsraum war, in dem sie Gottesdienste feierte, Glaubenskurse gab und Beratung anbot. Einen anderen gottesdienstlichen Versammlungsraum identifizierte die Verfasserin, als sie am letzten Sonntagmorgen des sechsmonatigen Forschungsaufenthaltes durch die Straßen der Nachbarschaft ging und feststellte, dass in einem Wohnhaus bei offenen Türen etwa 30-60 Personen Gottesdienst feierten. Obwohl sich gegenüber von diesem Haus ein mit ihren Kindern regelmäßig frequentierter Spielplatz befand, hatte sie bisher nicht bemerkt, dass dieses Haus als gottesdienstlicher Versammlungsort genutzt wurde. Folglich kann es sich bei der folgenden Beschreibung der pentekostalen Landschaft Alajuelas lediglich um den Versuch einer Momentaufnahme handeln, der auf den Erkundungen der Verfasserin sowie auf teilweise unveröffentlichten Dokumenten von Clifton Holland beruht, dem Gründer und Vorsitzenden des Forschungsinstituts Programa Latinoamericano de Estudios Sociorreligiosos (PROLADES). Im Jahr 2015 bezeichneten sich von den über 100 evangelischen Kirchen in Alajuela sieben als baptistisch, fünf als methodistisch und sechs als adventistisch. Manche baptistischen und methodistischen Kirchen hatten eine pentekostale Prägung. Mindestens elf Kirchen in und um Alajuela gehörten den AD an, der größten pentekostalen Denomination des Landes, die 2013 landesweit auf 514 Kirchen und Missionen und 80.000 Mitglieder geschätzt wurde.61 Neun Kirchen gehörten der Iglesia del Evangelio Cuadrangular de Costa Rica (IDEC) an, der zweitgrößten pentekostalen Denomination des Landes. Andere Kirchen bezeichneten sich als unabhängig oder gehörten kleineren pentekostalen Denominationen an, wieder andere gehörten traditionell nichtpentekostalen Denominationen an wie der Asociación de Iglesias Evangélicas Centroamericanas (AIEC). Die größten evangelisch-pentekostalen Kirchen der Stadt, in denen sich sonntags jeweils über 1000 Personen versammelten, waren die Kirchen Iglesia Miel (IM), Ministerio Internacional Bendiciones (MIB), Iglesia Oasis Alajuela (OA), Misión Jesucristo Vive (MJV) und Misión Apostólica Nido de Águilas Internacional Alajuela (MANAIA). Der Pastor der Kirche IM stammte aus der Dominikanischen Republik, hatte dort am 61

Vgl. Holland 2014, 19.

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34

Gender und Heilung

Priesterseminar studiert, war dann konvertiert und mit seiner costa-ricanischen Ehefrau 1998 von einem dominikanischen Ableger der Kirche Misión Cristiana Elim de Guatemala nach Costa Rica geschickt worden.62 Zunächst hatte sich seine Gemeinde in einem Raum im Stadtzentrum versammelt, bis ein Gebäude fertig gestellt war, in dessen Saal etwa 1000 Personen Platz fanden und der sich 2015 sonntags während dreier Gottesdienste füllte. Die Kirche MIB wurde 2004 von einem Pastorenehepaar gegründet, das zuvor einer Kirche der IDEC angehört hatte. Der Versammlungsort war eine Lagerhalle im Stadtzentrum, die etwa 2500 Personen fasste und in der sonntags zwei Gottesdienste gefeiert wurden. Die Kirche OA gehörte der Vereinigung Asociación Cristiana Oasis de Esperanza (ACOE) an, die 1975 in Moravia bei San José gegründet worden war, der im Jahr 2013 20 Kirchen und etwa 14.000 Mitglieder angehörten63 und die wiederum Mitglied der AD war.64 Der Versammlungsraum der Kirche OA war eine Lagerhalle im Stadtteil El Coyol, die etwa 1000 Personen fasste und sich sonntags während zweier Gottesdienste füllte. Die Kirche MJV wurde 1997 von einem Pastorenehepaar, das ebenfalls zuvor einer Kirche der IDEC angehört hatte, gegründet und hatte inzwischen Tochterkirchen in Rialto, Los Angeles und Las Vegas (USA), in Caracas (Venezuela), in León (Nicaragua) und in Guadalajara (Mexiko). Der Versammlungsraum im Stadtzentrum Alajuelas war ursprünglich ein Kinosaal, der bis zu 350 Personen fasste und sich sonntags in vier Gottesdiensten füllte. Die Kirche MANAIA wurde 2003 von einem Ehepaar gegründet, das zuvor der Misión Apostólica Nido de Águilas Internacional San José angehört hatte, die wiederum 1989 von einem Ehepaar aus der Kirche Centro Mundial de Adoración (CMA) in San José gegründet worden war und sich bis 2013 zu einer Denomination mit 15 Kirchen und sieben Gemeinschaften entwickelt hatte.65 Seit etwa 2009 war der Versammlungsraum in Alajuela eine Lagerhalle im Stadtteil Plywood, in der sonntags etwa 1000 Personen Gottesdienst feierten. 61 evangelische Pastorinnen und Pastoren zählten sich zur Pastorenbruderschaft (Fraternidad de pastores) Alajuelas, von denen einige als unabhängig bezeichneten Kirchen oder kleinen Denominationen angehörten, von denen andere den Denominationen AD, IDEC und Iglesia de Dios Pentecostal angehörten und von denen weitere methodistischen und baptistischen Denominationen, der Kirche des Nazareners und der AIEC angehörten. Die Versammlungen der Pastorenbruderschaft fanden monatlich in einem Raum der Kirche CCVN statt, die Mitglied der AD war. Sie dienten der theologischen Diskussion, dem persönlichen Austausch und Gebet und der Planung und Organisation gemeinsamer Projekte.

62 63 64 65

Vgl. Interview 4_1, 12.3.2015. Vgl. Holland 2014, 19. Vgl. Holland/Bullón 2017, 218. Vgl. Holland 2014, 19.

1 Einleitung

Das CCCAJ war das Zentrum der RCC im Bistum Alajuela. Darüber hinaus versammelten sich in mehreren katholischen Gemeinden Gruppen der RCC zu Gebetsversammlungen, Gottesdiensten, Kursen, Beratungssitzungen und weiteren Veranstaltungen. Im inneren Stadtgebiet waren dies die Gemeinden Corazón de Jesús, La Agonía und La Trinidad. Neben den genannten evangelisch-pentekostalen Kirchen und katholisch-pentekostalen Gemeinschaften existierten als Kapitel bezeichnete Gruppen mehrerer nichtdenominationeller Organisationen. Zu diesen gehörten elf Jugendkapitel, mindestens fünf Männerkapitel und mindestens vier Frauenkapitel der Fraternidad Internacional de Hombres de Negocios del Evangelio Completo (FIHNEC). Diese Jugend-, Männer- und Frauenkapitel versammelten sich jeweils wöchentlich in Restaurants in und um Alajuela. Etwa vier Kapitel der Frauenorganisation TF versammelten sich in Restaurants in und um Alajuela, und ein Kapitel der Frauenorganisation Aglow versammelte sich in einem Veranstaltungsraum im Stadtzentrum.

1.4

Quellen und Methoden

Das während eines Feldforschungsaufenthaltes von Februar bis Juli 2015 erhobene Datenmaterial, das dieser Studie zugrunde liegt, besteht in Transkripten von 82 qualitativen Interviews, Mitschriften in Feldforschungstagebüchern und grauer Literatur. Von den genannten Interviews sind 66 narrative Interviews mit Frauen, die sich zu einer pentekostalen Kirche oder Gemeinschaft zählten. Um theoretische Sättigung zu gewährleisten, wurde bei der Auswahl der Informantinnen darauf geachtet, dass diese möglichst verschiedenen Denominationen und sozialen Milieus angehörten und verschiedenen Alters waren.66 Einige der Interviewten lebten im ruralen Umfeld Alajuelas oder besuchten Kirchen im ruralen Umfeld, doch die Mehrheit lebte im Stadtgebiet. Der Durchführung der Interviews kam es zugute, dass die Praxis des Zeugnisgebens ein Schlüsselelement des pentekostalen Konversionsprozesses ist und es üblich ist, bei verschiedenen Anlässen den eigenen Konversionsprozess in Form eines persönlichen Zeugnisses darzustellen, insofern das Zeugnis in vielen Fällen eine hilfreiche Möglichkeit des Interviewauftakts bot. Der Zugriff auf dieses geübte Genre ermöglichte es sicherlich einigen Befragten, Unsicherheiten bezüglich der Frage, was und wie sie erzählen sollten, zu überwinden. Gleichzeitig war damit die Schwierigkeit verbunden, dass das Genre des Zeugnisses durch Narrative wie eine stereotype Aufteilung der Lebensgeschichte in prä- und post-Konversion charakterisiert ist. Folglich war es eine wichtige Aufgabe, während der Interviews die stilisierte Oberfläche des Zeugnisses zu durchdringen, um zu den individuellen Erfahrungen und Interpretationen durchzudringen. 66

Vgl. Lamnek 2010, 167-173.

35

36

Gender und Heilung

Die weiteren 16 Interviews verteilen sich auf eine Angehörige einer evangelischen nichtpentekostalen Kirche, vier Frauen, die sich als der katholischen Kirche jenseits der RCC zugehörig verstanden, acht Pastorinnen und Pastoren pentekostaler Kirchen, zwei römisch-katholische Priester und eine Professorin des Instituts für Anthropologie an der Universidad de Costa Rica (UCR). Die Interviews dauerten zwischen zwölf Minuten und vier Stunden, meistens jedoch anderthalb bis zwei Stunden. Alle Interviews wurden digital aufgezeichnet, im Anschluss an den Forschungsaufenthalt transkribiert und in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet.67 Als Bestandteil der teilnehmenden Beobachtung besuchte die Verfasserin Gottesdienste, Bibelkreise, Gebetsgruppen, eine Kreativgruppe, Versammlungen nichtdenominationeller Frauenorganisationen, Kurse, Schulungen, Kongresse und Feiern sowie Versammlungen der Pastorenbruderschaft und fertigte von diesen Veranstaltungen Gesprächsmitschriften und Beobachtungsprotokolle an. Die graue Literatur besteht in Schulungsmaterialien, Zeitungsartikeln und Handzetteln. Des Weiteren wurde lokale Sekundärliteratur, insbesondere unveröffentlichte Hochschulschriften, in mehreren Bibliotheken68 zwecks Auswertung im Anschluss an den Forschungsaufenthalt digitalisiert. Nacherhebungen führte die Verfasserin per E-Mail und Facebook durch, indem Informantinnen und Informanten um Erklärungen zu konkreten Formulierungen, Kommentare zu spezifischen Themen oder Sachinformationen gebeten wurden. Der Zugang zum Forschungsfeld wurde zunächst per Internetrecherche, in den ersten Wochen der Feldforschung aber vor allem zu Fuß erschlossen, um die Kirchen im Stadtzentrum möglichst vollständig zu erfassen. Durch die Teilnahme an Veranstaltungen in diesen Kirchen entstanden Beziehungen, durch die die Verfasserin Hinweise auf weitere Kirchen innerhalb und außerhalb des Stadtzentrums einschließlich der ruraleren Randbezirke erhielt. Das Ziel bestand darin, einzelne Kirchen näher kennenzulernen, die sich möglichst hinsichtlich Größe, Geschichte, Theologie, Altersverteilung und Geschlechterstruktur unterschieden. Dies war jedoch nicht in einem ausgewogenen Maße möglich, da die Leitenden und Angehörigen der Kirchen und Gemeinschaften sich gegenüber der Verfasserin und ihrem Forschungsinteresse unterschiedlich kooperativ verhielten. So kam es, dass die Verfasserin durch die Teilnahme an zahlreichen Veranstaltungen der Kirche CCVN und durch vertrauensvolle Beziehungen zu mehreren Frauen, die ihr angehörten, einen profunden Einblick in die Strukturen dieser Kirche erhielt und 23 Frauen interviewte, die ihr angehörten, sowie eine Pastorin und den leitenden Pastor. Ganz anders verhielt es sich in den Kirchen Centro Internacional de Teoterapia Integral und

67 68

Vgl. Mayring 2014. Centro de Investigación en Estudios de la Mujer, Universidad Bíblica Latinoamericana, Universidad de Costa Rica, Universidad Nacional, Centro de Información y Documentación del Museo histórico cultural Juan Santamaría.

1 Einleitung

MJV, wo es der Verfasserin nicht gelang, einen tieferen Einblick zu erhalten und aus denen jeweils lediglich eine Informantin befragt werden konnte. Insgesamt wurden Personen aus 29 pentekostalen Kirchen und Gemeinschaften interviewt. Eine wichtige Kontaktperson war Clifton Holland, der seit 1972 in Costa Rica lebte und forschte und den Kontakt zur Pastorenbruderschaft Alajuelas herstellte. Dies ermöglichte es, zahlreiche Pastorinnen und Pastoren kennenzulernen, von denen wiederum mehrere die Verfasserin in ihren Kirchen vorstellten und dadurch weitere Einblicke und Beziehungen ermöglichten. Wo in dieser Studie Namen von Informantinnen und Informanten oder von deren Angehörigen genannt werden, sind sie bis auf Mayra Zapparoli Zecca, die auch als Verfasserin wissenschaftlicher Literatur zitiert wird, geändert, um Anonymität zu gewährleisten.

1.5

Terminologie

Die Bezeichnung »evangelikal« suggeriert die Möglichkeit einer einheitlichen Differenzierung innerhalb des evangelischen Spektrums, beruht jedoch auf intransparenten Kriterien, wird »vielfältig bis widersprüchlich verwendet«69 und verursacht nicht zuletzt Übersetzungsprobleme. So ist unklar, wann evangelical (Englisch) oder evangélico (Spanisch) mit »evangelikal« und wann mit »evangelisch« oder »protestantisch« zu übersetzen ist. Um der suggestiven Kraft vermeintlich eindeutiger Zuschreibungen zu begegnen, wird in der vorliegenden Arbeit auf die Bezeichnung »evangelikal« verzichtet. Stattdessen wird die Bezeichnung »evangelisch« verwendet, um die heterogene Gruppe derer zu benennen, die sich selbst als evangélico (evangelisch) oder häufig auch als cristiano (christlich) bezeichnen und deren distinktives Merkmal im costa-ricanischen Kontext die Abgrenzung vom Katholizismus ist. Als pentekostal werden diejenigen Kirchen und Gruppen bezeichnet, die über synchrone und diachrone Interrelationen zum globalen Pentekostalismus als internationalem diskursivem Netzwerk verfügen.70 Diese Formalkriterien werden von vielen evangelischen Kirchen, nichtdenominationellen Organisationen ebenso wie von den Gruppen der RCC erfüllt, so dass von evangelischen und katholischen Pentekostalen die Rede sein wird.

1.6

Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Das zweite Kapitel des einleitenden, ersten Teils dient der historischen Kontextualisierung des Pentekostalismus in Costa Rica

69 70

Elwert/Radermacher/Schlamelcher 2017, 13. Vgl. Bergunder 2003, 2009.

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38

Gender und Heilung

und Alajuela. Der Schwerpunkt liegt auf der Genealogie der Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und evangelischen Denominationen, weil diese sowohl deren Selbstverständnisse begründen als auch den pentekostalen Heilungsdiskurs prägen. Der zweite Teil enthält die Analyse und Kontextualisierung der vom Heilungsdiskurs geprägten Glaubensüberzeugungen, -praktiken und -erfahrungen von Frauen, die pentekostalen Kirchen und Gemeinschaften angehören. Im Zentrum steht der Diskurs über die innere Heilung, der jedoch mit dem Diskurs über die physische und vor allem auch über die spirituelle Heilung untrennbar verbunden ist. Der dritte Teil verortet den Heilungsdiskurs im religiösen Kontext, der von der katholischen Amtskirche und der Laienreligiosität dominiert wird und für viele der befragten Frauen den biographischen Hintergrund darstellt. Der vierte Teil besteht in der Ergebniszusammenfassung und in Schlussfolgerungen.

2 Identität und Identitätsbildung1

Die Erscheinungsformen des Pentekostalismus wurden und werden durch kontinuierliche Interaktionen zwischen Angehörigen verschiedener Denominationen auf lokaler und globaler Ebene maßgeblich geprägt.2 Dies gilt in Costa Rica insbesondere für Interaktionen zwischen Angehörigen evangelischer Denominationen und der katholischen Kirche. Die hegemoniale Position des Katholizismus, der als Staatsreligion privilegiert und trotz aller Mitgliederverluste nach wie vor Mehrheitsreligion ist, führt dazu, dass pentekostale Identität in Costa Rica entscheidend durch das Verhältnis zu ihm bestimmt wird. Auf der Seite der evangelischen Pentekostalen bestimmt nicht die Zugehörigkeit zum Pentekostalismus das Selbstverständnis, da die Bezeichnung pentecostal (pentekostal) eine innerevangelische Abgrenzung sowie eine Verbindung mit Teilen des Katholizismus impliziert. Beides ist identitätspolitisch nicht gewünscht. Anders verhält es sich mit der Bezeichnung evangélico (evangelisch), die sowohl eine Abgrenzung gegenüber dem Katholizismus als auch eine konfessionelle Geschlossenheit impliziert, die es den Angehörigen nichtkatholischer Denominationen ermöglicht, sich als Teil einer Gruppe zu positionieren, die in der Lage ist, die gesellschaftspolitische Hegemonie der katholischen Kirche infrage zu stellen. Dieser Anspruch wird durch die am häufigsten verwendete Selbstbezeichnung evangelischer Pentekostaler cristiano (christlich) artikuliert, der Ausdruck des Wahrheitsanspruchs gegenüber dem Katholizismus ist und diesen theologisch delegitimiert. Andersherum bestimmt auch auf der Seite katholischer Pentekostaler nicht die Zugehörigkeit zum Pentekostalismus das Selbstverständnis, da weder die Verbindung mit Evangelischen noch die Abgrenzung von großen Teilen des Katholizismus angestrebt wird. Stattdessen betonen katholische Pentekostale ihre Katholizität und vertreten durchaus den Anspruch, die wahre Ausprägung nicht nur als Katholikinnen und Katholiken des Christentums, sondern auch als charismatische Katholikinnen und Katholiken des Katholizismus zu repräsentieren.

1 2

Eine ähnliche Version dieses Kapitels erschien mit dem Titel Negotiation Processes of »Pentecostal« and »Evangelical« Identity in Costa Rica in PentecoStudies 18.1 (2019), 79-98. Vgl. Bergunder 2009; Suarsana 2013; Maltese 2017, 49-51, 611-14.

40

Gender und Heilung

In diesem Kapitel wird zunächst die gegenwärtige pentekostale Namens- und Identitätspolitik analysiert und bezüglich ihrer Implikationen für das pentekostale Selbstverständnis oder vielmehr für pentekostale Selbstverständnisse befragt. Dann wird im Sinne einer genealogischen Kontextualisierung3 rekonstruiert, welche historischen Ereignisse und Aushandlungsprozesse zur gegenwärtigen Namens- und Identitätspolitik geführt haben. Es wird sich zeigen, dass die Zusammengehörigkeit derer, die sich als cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) bezeichnen, nicht auf gemeinsamen theologischen Kerninhalten basiert, sondern auf der gemeinsamen Verteidigung eigener Rechte gegenüber dem Katholizismus. In einem weiteren Schritt werden neue gesellschaftspolitische Allianzen zwischen Evangelischen und Katholikinnen und Katholiken analysiert, die wiederum zeigen, wie theologische Inhalte angesichts pragmatischer Erwägungen der Interessendurchsetzung relativiert werden. Daher wird für eine Konzeptualisierung der Bezeichnung »evangelisch« argumentiert, die nicht auf theologischen oder liturgischen Merkmalen beruht, sondern die diese Bezeichnung als Ausdruck der Abgrenzung gegenüber konkurrierenden oder dominierenden religiösen Gruppen versteht. Das Kapitel endet mit einem Ausblick auf die Geschichte des Pentekostalismus in Alajuela, einer Stadt, die sowohl eine im nationalen Vergleich lange evangelische Geschichte hat als auch immer wieder Schauplatz von Entwicklungen gewesen ist, die die Gestalt des costa-ricanischen Pentekostalismus prägten.

2.1

Namenspolitik »Wir bezeichnen uns immer als Christen. Die Zeugen Jehovas und die Adventisten […] sind Sekten. [Die Baptisten und Methodisten] sind auch [Christen]. […] [Die Katholiken] […] sind römisch-katholischapostolisch, denn sie hängen von Rom ab, wir hängen von Christus ab. […] Sie haben ihren Gott und wir haben Christus. […] Es sind verschiedene Götter.«4

Auf diese Weise erklärte die Pastorin der Kirche Manantial de Amor y Restauración (MAR) ihre Namenspolitik: Evangelische Pentekostale, Baptistinnen und Baptisten, Methodistinnen und Methodisten seien Christinnen und Christen und durch den Glauben an Jesus Christus verbunden. Als entscheidendes Gegenüber benannte sie

3 4

Vgl. Bergunder 2012, 41-47; 2018, 211-215; Maltese 2015, 79. Interview Nr. 39, 23.4.2015.

2 Identität und Identitätsbildung

Katholikinnen und Katholiken, die sich dadurch unterschieden, dass das Zentrum ihres Glaubens der Papst sei. Als dritte Kategorie erwähnte die Pastorin Sekten, unter die sie Zeuginnen und Zeugen Jehovas sowie Adventistinnen und Adventisten zählte. Die Namenspolitik evangelischer Pentekostaler ist in Costa Rica wie auch anderswo nicht einheitlich. Dennoch bildet dieses Zitat verbreitete denominationelle Kategorien ab, wie im Folgenden gezeigt wird.

2.1.1

Die Kategorie cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch)

Laut demographischer Forschung gehörten 2012 22,9 Prozent der Gesamtbevölkerung einer evangelischen Kirche an. Von der evangelischen Bevölkerung wurden 2013 62,5 Prozent zu einer Kirche gezählt, die in der von Holland etablierten und in Bezug auf Costa Rica häufig zitierten Klassifizierung als Pfingstkirche bezeichnet wird.5 15,9 Prozent der Evangelischen gehörten einer als adventistisch, 6,5 Prozent einer als baptistisch und 4,9 Prozent einer als methodistisch oder herrnhutisch bezeichneten Kirche an. 1,4 Prozent der evangelischen Bevölkerung wurde einer als anglikanisch, presbyterianisch oder lutherisch bezeichneten Kirche zugerechnet. Weitere kleinere Denominationen und Gemeinschaften waren die AIEC, die Kirche des Nazareners, die Heilsarmee, drei als mennonitisch bezeichnete Denominationen, zwei Quäkergemeinschaften und andere. Die Bezeichnung cristiano (christlich) ist Bestandteil vieler Kirchennamen und die am häufigsten verwendete Selbstbezeichnung evangelischer Pentekostaler. In diese Bezeichnung beziehen diese auch Angehörige von Denominationen ein, die üblicherweise nicht als pentekostal, sondern etwa als baptistisch, methodistisch oder mennonitisch bezeichnet werden. Evangélico (evangelisch) wird seltener und überwiegend als Synonym für cristiano (christlich) verwendet. Die Bezeichnung pentecostal (pentekostal) begegnet in einigen Kirchennamen und Denominationsbezeichnungen, wird im Alltag jedoch selten verwendet. Zwei Informantinnen verwendeten den Begriff pentecostal (pentekostal) als steigerbare Eigenschaft von Kirchen und Menschen. So bezeichnete sich eine Frau selbst als de corte más pentecostal (pentekostaleren Typ) und erklärte, dass sie sich einer nichtpentekostalen, methodistischen Kirche mit dem Ziel angeschlossen hatte, sie pentekostaler zu machen. Als Kriterium der mangelnden pentekostalen Qualität dieser Kirche nannte sie, dass Gott dort nicht die Freiheit gegeben wird, zu offenbaren und zu wirken. Dies zeigte sich aus ihrer Perspektive daran, dass dort keine sanidad interior (innere Heilung) und kein ministerio de liberación (Befreiungsdienst) praktiziert wurden. Um Abhilfe zu schaffen, ließ sie sich im Theophostischen Gebetsdienst ausbilden, mit der Absicht, dessen Praxis in ihre methodistische Kirche einzuführen. Eine andere Frau, die einer Kirche der AIEC angehörte, berichtete, 5

Vgl. hier und im Folgenden Holland 2006, 2007, 2014.

41

42

Gender und Heilung

dass sie en una iglesia más pentecostal (in einer pentekostaleren Kirche) aufgewachsen war. Ihre gegenwärtige Kirche sei más conservadora (konservativer). Conservador (konservativ) fungiert hier innerhalb des evangelischen Spektrums als Antonym von pentecostal (pentekostal). Als Kriterium um zu bestimmen, ob eine Kirche más conservadora (konservativer) oder más pentecostal (pentekostaler) ist, benannte sie die Auswahl der gottesdienstlichen Musikinstrumente und den Musikstil. An anderer Stelle berichtete sie, dass sie, wenn sie der inneren Heilung bedürfe, andere Orte als ihre Kirche aufsuche, da dort keine innere Heilung praktiziert werde. Die Erläuterungen dieser beiden Frauen, die ihre Kirchen als nicht oder wenig pentekostal qualifizierten, stimmten in der Feststellung der Abwesenheit des Diskurses über die innere Heilung überein und sind Indizien dafür, dass die Teilhabe an diesem Diskurs im untersuchten Kontext als entscheidendes Merkmal des Pentekostalismus gilt. Beide Frauen verwendeten die Bezeichnung pentecostal (pentekostal) als Unterkategorie von cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch). Jedoch stellt diese Verwendung gegenüber der anderer Informantinnen und Informanten eine Ausnahme dar, insofern diese pentecostal (pentekostal) kaum verwendeten. Pentecostal (pentekostal) als Unterkategorie von cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) wirkt kaum identitätsstiftend, weil für evangelische Pentekostale nicht die Abgrenzung von evangelischen Nichtpentekostalen, sondern die Abgrenzung von der katholischen Kirche Identität stiftet. Die Selbstidentifikation als pentekostal würde folglich die gemeinsame Identität derer, deren distinktives Merkmal die Nicht- oder Antikatholizität ist, durch die Differenzierung innerhalb des evangelischen Spektrums schwächen. Aus dieser Abgrenzung erfolgen auch die entscheidenden Kriterien der Kategorie cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch), die die Evangelischen aus deren Perspektive vereint, seien sie pentekostal oder nicht: • • • •

Christus ist das Zentrum ihres Glaubens. Sie haben eine persönliche Beziehung zu Jesus, deren Grundlage das individuelle Gebet ist. Sie lesen die Bibel, um Gottes Willen kennenzulernen. Ihre Liebe zu Gott offenbart sich durch ihr Verhalten, das Gottes Willen entspricht.

Die Namenspolitik evangelischer Pentekostaler hat eine so mächtige Wirkung entfaltet, dass auch viele Katholikinnen und Katholiken cristianos (Christen) als Fremdbezeichnung für Evangelische verwendeten. Andere Katholikinnen und Katholiken bezeichneten Evangelische als evangélicos (Evangelische) oder seltener als Angehörige von sectas (Sekten), während pentecostal (pentekostal) auch hier relativ unbekannt war und allenfalls von Priestern verwendet wurde. Im Unterschied zu anderen Katholikinnen und Katholiken bezeichneten Angehörige der RCC Evangelische über-

2 Identität und Identitätsbildung

wiegend als evangélicos (Evangelische), während sie sich selber als cristianos (Christen), cristianos católicos (katholische Christen) oder als carismáticos (Charismatiker) bezeichneten. Mit der Verwendung von cristiano (christlich) brachen sie die sonst binäre Konzeptualisierung der Kategorien cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) und religioso (religiös)/católico (katholisch) auf und betonten den konfessionellen Charakter ihrer katholischen Identität, durchaus auch in Abgrenzung zur kulturellen Kategorie católico (katholisch).6

2.1.2

Die Kategorie religoso (religiös)/católico (katholisch)

2012 zählten sich laut demographischer Forschung 63,4 Prozent der Bevölkerung zur katholischen Kirche.7 Katholikinnen und Katholiken wurden von evangelischen Pentekostalen als católicos (katholisch) und häufig mit eindeutig pejorativer Konnotation als religiosos (religiös) bezeichnet. Die Kriterien der Kategorie religioso (religiös)/católico (katholisch) sind aus evangelisch-pentekostaler Perspektive den eigenen entgegengesetzt: • • • •

Der Papst ist das Zentrum ihres Glaubens. Sie haben keine persönliche Beziehung zu Jesus, weil sie nicht ihn anbeten, sondern Götzen. Ihre Gebetspraxis ist ritualisiert. Sie lesen nicht die Bibel und kennen folglich nicht Gottes Willen. Ihr Verhalten ist weltlich und entspricht nicht Gottes Willen.

Dass die Kriterien der Kategorien cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) und reli-gioso (religiös)/católico (katholisch) direkt aufeinander bezogen sind, zeigt, dass die Grundlage des Selbstverständnisses als cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) die Nicht- bzw. Antikatholizität ist.

2.1.3

Die Kategorien secta (Sekte) und liberal (liberal)

Denominationen, die von evangelischen Pentekostalen weder als cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) noch als religioso (religiös)/católico (katholisch) kategorisiert wurden, galten für diese als secta (Sekte) oder als liberal (liberal). Während die Kategorisierung der Zeugen Jehovas und der Mormonen als secta (Sekte) relativ unumstritten war, wurden die adventistischen Kirchen, zu denen 3,6 Prozent der Gesamtbevölkerung gezählt wurden, von einigen als secta (Sekte) und von anderen als cristiano (christlich) bezeichnet. Eine Informantin erklärte, Adventistinnen und

6 7

Vgl. Egeris Thorsen 2015, 140. Vgl. Holland 2014.

43

44

Gender und Heilung

Adventisten hätten eine Beziehung zu Gott, weil sie die Bibel läsen und ernst nähmen. Ein Zeichen der Anerkennung ist zudem, dass die Kinder zahlreicher evangelischer Pentekostaler und sogar Kinder und Enkel evangelisch-pentekostaler Pastorinnen und Pastoren das Instituto Centroamericano Adventista in Alajuela besuchten, eine adventistische weiterführende Schule, die der US-amerikanische Missionar und Historiker Wilton Nelson als »Errungenschaft der evangelischen Bewegung«8 bezeichnet. Eine Informantin fühlte sich sowohl einer Kirche der AD als auch einer adventistischen Kirche zugehörig. Nach eigener Aussage sagte ihr in der Kirche der AD die Gebetspraxis mehr zu, während sie an der adventistischen Kirche das profunde Bibelstudium schätzte: »In der adventistischen Kirche gefallen mir die Dinge, die mit den Studien zu tun haben, weil es sehr profunde Studien sind. […] Ich liebe das Gebet im evangelischen Stil. Mir gefällt nicht, wie die Adventisten beten. […] Sie beten sehr oberflächlich. […] In einer evangelischen Kirche haben sie vermutet, ich sei ein adventistischer Spion. Und in einer oder zwei, drei adventistischen Kirchen sagten sie mir, ich sei eine evangelische Spionin. Ich habe kein Problem bekommen, weil ich von Anfang an sehr transparent gewesen bin. Wenn ich zu irgendeiner Kirche gegangen bin, habe ich gesagt, wer ich bin, woran ich glaube, […] und dass meine Position christozentrisch ist. […] Die Evangelischen sind offener als die Adventisten.«9 Das Zitat zeigt, dass die Informantin nach dem Kriterium individuelles Gebet versus oberflächliches Gebet zwischen evangélico (evangelisch) und adventista (adventistisch) differenzierte. Von den vier Kriterien für cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) erfüllen die Adventistinnen und Adventisten ihr zufolge drei und bilden somit eher mit den Evangelischen ein Gegenüber zur katholischen Kirche als ein Gegenüber zu den Evangelischen. Die skizzierte Irritation, die die Frage der Klassifizierung der Angehörigen adventistischer Kirchen unter evangelischen Pentekostalen auslöst, ist ein Indiz für die Inkonsistenz der binären Konzeptualisierung. Die Angehörigen der als anglikanisch, presbyterianisch oder lutherisch bezeichneten Kirchen wurden von evangelischen Pentekostalen entweder aufgrund ihrer im costa-ricanischen Kontext geringen Zahl nicht wahrgenommen, oder sie wurden pejorativ als liberales (Liberale) bezeichnet. Diese Kategorisierung beruht ebenso wenig wie die der sectas (Sekten) auf der Abwesenheit von Merkmalen, die häufig erwähnt werden, um den Pentekostalismus zu definieren, wie die Erfahrung der Geisttaufe oder Zungenrede.10 Vielmehr dienen beide Kategorisierungen dazu, kleinere, konkurrierende Gruppen mit strengeren oder weniger

8 9 10

Vgl. Nelson 1983, 331. Interview Nr. 67, 17.6.2015. Vgl. Anderson 1979, 4; Anderson 2010, 25f.

2 Identität und Identitätsbildung

strengen ethischen Regeln theologisch zu delegitimieren. Innerhalb der als cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) kategorisierten Denominationen erscheinen hingegen angesichts der Abgrenzungen sowohl gegenüber den als religioso (religiös)/católico (katholisch) als auch gegenüber den als liberal (liberal) und secta (Sekte) Kategorisierten Differenzen irrelevant.

2.2

Historischer Kontext

Auf die Analyse der evangelisch-pentekostalen Namenspolitik folgt nun ihre historische Kontextualisierung. Es wird gezeigt, dass sich an die Phase der Konstitution und Konsolidierung des gegenwärtigen Verständnisses der Kategorie cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch), die die Zugehörigkeit zu einer antikatholischen Koalition impliziert, in der Zeit des sogenannten charismatischen Frühlings eine Phase der Annäherung zwischen evangelischen und katholischen Laien und offiziellen Vertreterinnen und Vertretern anschloss, die gleichzeitig mit Konflikten innerhalb der katholischen Kirche, zwischen evangelischen Denominationen und innerhalb evangelischer Denominationen verbunden war. Der ökumenische Charakter der charismatischen Bewegung endete jedoch mit gegenseitigen Verwerfungen, die die evangelisch-pentekostale Identität bis in die Gegenwart prägen und ihren Ausdruck in der analysierten Namenspolitik finden.

2.2.1

Die Konstitution der antikatholischen Koalition: 1890-1965

Laut Artikel 54 der Verfassung von 1844 unterstützt und schützt der Freistaat Costa Rica den Katholizismus, und mit Artikel 51 der Verfassung von 1882 wurde die Religionsfreiheit eingeführt. Dieses zweifache Religionsstatut existiert bis heute: Der Katholizismus ist die offizielle Religion und wird vom Staat unterstützt, während andere Kultgemeinschaften den zivilrechtlichen Status von eingetragenen Vereinen haben.11 Die ersten evangelischen Christen in Costa Rica waren Nordamerikaner, Briten, Deutsche und Jamaicaner, die im 19. Jahrhundert aus ökonomischen Gründen nach Costa Rica kamen und unter denen der Protestantismus eine Religion ausländischer Minderheiten blieb, die von der katholischen Kirche toleriert wurde. Die antikatholische Koalition verschiedener Denominationen ist bis in die 1890er Jahre zurückzuverfolgen, als die ersten Missionierenden verschiedenen denominationellen Hintergrunds mit der Missionsgesellschaft Central American Mission (CAM) Costa Rica erreichten und Ablehnung seitens des Klerus und weiter Teile der Bevölkerung erfuhren. Priester gaben während der Messen und 11

Vgl. Bastian/Fanger/Wehr/Werz 2000, 205f.

45

46

Gender und Heilung

in der Presse Anweisungen, die Missionierenden nicht zu grüßen, ihnen keine Lebensmittel zu verkaufen, keine Häuser zu vermieten und ihre Veranstaltungen nicht zu besuchen. Menschen, die die Missionierenden dennoch in ihren Häusern predigen ließen, wurden von ihren Nachbarinnen und Nachbarn bedroht, und manche evangelischen Versammlungen wurden beendet, weil Menschen Steine auf das Gebäude warfen, mit Töpfen lärmten oder die Teilnehmenden körperlich angriffen.12 In den ersten Jahrzehnten erwies sich Costa Rica als mühsames Missionsgebiet: 1922 zählte die CAM lediglich fünf Gemeinden mit etwa 250 Konvertierten. Als Reaktion auf die Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910, bei der Lateinamerika als Missionsgebiet ausgeschlossen worden war, weil der Kontinent als bereits christianisiert galt, fand 1916 eine Konferenz in Panama statt, zu der sich Delegierte verschiedener Denominationen und Missionsgesellschaften überwiegend nordamerikanischer Provenienz versammelten und Mittelamerika in Missionsgebiete aufteilten. Costa Rica wurde der methodistischen Mission zugeteilt, die von nun an dort tätig wurde. Darüber hinaus initiierte die Latin America Evangelization Campaign, die später Misión Latinoamericana (ML) genannt wurde, 1922 und 1927 erstmals größere Evangelisationskampagnen in Costa Rica.13 Im Zusammenhang mit der Kampagne von 1927 entbrannten feindselige Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Klerikern einerseits und Liberalen, Missionierenden und Teilnehmenden an der Kampagne andererseits. In den 1920er Jahren kooperierten Angehörige der CAM, der ML sowie der methodistischen Mission, um ein Instituto Bíblico (Bibelinstitut), das 1941 in Seminario Bíblico Latinoamericano (Lateinamerikanisches Bibelseminar, SBL) und 1997 in Universidad Bíblica Latinoamericana (Lateinamerikanische Bibeluniversität) umbenannt wurde, ein evangelisches Krankenhaus namens Clínica Bíblica und ein Waisenhaus namens Hogar Bíblico zu errichten. Das evangelische Krankenhaus wurde einerseits aus diakonischen Erwägungen errichtet, andererseits sollte seine Errichtung dem Problem entgegenwirken, dass Evangelische in anderen Krankenhäusern diskriminiert wurden. 1929 ließ ein Missionarsehepaar der ML in San José eine Kirche namens Templo Bíblico erbauen, gegen die Angehörige der katholischen Kirche eine Prozession veranstalteten, während derer sie die Kirche als casa de herejía (Ketzerhaus) bezeichneten und verfluchten.14 Bis in die 1940er Jahre gingen die Missionsbemühungen von der CAM, der ML und der methodistischen Mission aus, die sich für spezifische Projekte zusammenschlossen. Ab den 1940er Jahren gewannen verschiedene der häufig als klassische pentekostale Kirchen bezeichneten Denominationen an Einfluss, und auch die Zahl

12 13 14

Vgl. Nelson 1983, 139-167. Vgl. Nelson 1983, 205-232; Hartch 2014, 39-42. Vgl. Nelson 1983, 224f.

2 Identität und Identitätsbildung

der Entsandten baptistischer Denominationen nahm zu.15 Als im Anschluss an die Revolution von 1948 die Verfassung überarbeitet wurde, schlossen sich Repräsentanten der in Costa Rica vertretenen nichtkatholischen Kirchen und Gesellschaften erstmals offiziell zusammen, um als Comité de Acción Evangélica (Evangelisches Aktionskomitee, CAE) die Rechte der Evangelischen gegenüber der verfassungsgebenden Versammlung zu verteidigen und für einen legalen Status einzutreten, der sie vor öffentlichen Angriffen und Diskriminierung schützen würde. So hatten Kleriker immer wieder versucht, die Versammlungsmöglichkeiten Evangelischer einzuschränken, und nachdem der katholische Religionsunterricht 1945 in den Schulen wieder eingeführt worden war, durften evangelische Schülerinnen und Schüler davon zwar fernbleiben, aber es wird berichtet, dass dies zu Übergriffen führte.16 Das CAE erreichte sein Ziel nicht, insofern der Verfassungsartikel bezüglich der Religion nicht modifiziert wurde. Dennoch initiierte der Sekretär des CAE 1950 die Gründung einer Organisation zur dauerhaften Kooperation, so dass sich Delegierte der als methodistisch und baptistisch bezeichneten Denominationen, der AD, der AIEC, die aus der CAM hervorgegangen war, der Asociación de Iglesias Bíblicas Costarricenses (AIBC), die aus der ML hervorgegangen war und der Misión Santa Pentecostal versammelten und die Alianza Evangélica de Costa Rica (Evangelische Allianz Costa Ricas, AE) gründeten. Als deren Ziele galten, das christliche Leben zu unterstützen, eine pastorale und eine Laienvereinigung zu erschaffen, die evangelischen Interessen gegenüber dem Staat zu repräsentieren und zu versuchen, die juristische und faktische Gleichheit der Evangelischen gegenüber dem Rest der Nation durchzusetzen, zu einem besseren Verständnis zwischen den verbundenen Gemeinschaften, zur Annahme gemeinsamer Normen und zur Lösung von Problemen zwischen den Gemeinschaften beizutragen. Weitere Kirchen schlossen sich an, so dass 1955 90 Prozent der nichtkatholischen Denominationen in Costa Rica Kirchen der AE angehörten. Die ersten Jahre der AE waren davon geprägt, dass der gesellschaftliche Einfluss der katholischen Kirche infolge der Aufhebung der antiklerikalen Gesetze von 1884 zunahm. Dies stärkte die Bedeutung der AE für ihre Mitglieder: Sie half bei der Suche nach Versammlungsorten, veranstaltete gemeinsame Gottesdienste, stellte Formulare zur Befreiung vom Religionsunterricht zur Verfügung und schritt in Fällen religiöser Diskriminierung und Verfolgung ein. Sie erreichte die Befreiung von Steuern auf das Eigentum evangelischer Kirchen und organisierte Hilfsaktionen bei Unglücksfällen und Naturkatastrophen.

15 16

Vgl. Nelson 1983, 270.281. Vgl. Nelson 1983, 255.

47

48

Gender und Heilung

2.2.2

Der charismatische Frühling: 1965-1980

Gegen Ende der 1960er Jahre nahm die Bedeutung der antikatholischen Koalition und damit auch der AE ab. Dies hing einerseits mit den versöhnlichen Signalen der katholischen Kirche infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (19621965) und der Generalkonferenz des Lateinamerikanischen Bischofsrats in Medellín (1968) zusammen. So galten die Evangelischen nun offiziell nicht mehr als häretisch, sondern als getrennte Geschwister. Dieser Perspektivwechsel ermöglichte es, dass 1967 der Leiter des costa-ricanischen Priesterseminars am Gottesdienst zur Grundsteinlegung einer lutherischen Kirche teilnahm und dass 1968 ökumenische Gottesdienste in einer katholischen und einer anglikanischen Kirche gefeiert wurden. Andererseits brachte die charismatische Erneuerungsbewegung Menschen verschiedener Denominationen zusammen, wie im Folgenden gezeigt wird. Die charismatische Erneuerungsbewegung ist in Costa Rica bis in das Jahr 1966 zurückzuverfolgen, als das Ehepaar Smith von der ML, das die Bewegung in Neuengland kennengelernt hatte, eine wöchentlich stattfindende Gebetsversammlung am Sprachinstitut Instituto de Lengua Hispana in San José initiierte. Es wird berichtet, dass sich unter den teilnehmden Missionarsehepaaren Geisterfahrungen und Heilungen ereigneten.17 Als evangelische Kirchenleitende vom Erfolg der charismatischen Erneuerungsbewegung in Argentinien erfuhren, luden sie zwei argentinische Pastoren nach Costa Rica ein, die 1969 ein Evangelisationsseminar gaben, an dem Angehörige von als pentekostal, als baptistisch, als methodistisch bezeichneten und anderen Denominationen teilnahmen. Das Seminar fand in der Kirche Templo Bíblico statt, die zu einem Zentrum der Erneuerungsbewegung wurde. Der evangelische Radiosender Faro del Caribe übertrug Ansprachen dieser und anderer Veranstaltungen und trug damit zur Verbreitung der Bewegung bei. Diese wurde um 1970 auch an anderen Orten eingeführt wie etwa durch ein mennonitisches Missionarsehepaar in Puerto Viejo an der Karibikküste.18 1970 lud der Superintendent der Iglesia Santidad Pentecostal in Costa Rica den US-amerikanischen Priester Francis MacNutt zusammen mit zwei US-amerikanischen Pastoren methodistischer Denomination ein, damit diese während einer Rüstzeit sprächen. Francis Mac Nutt besuchte das Land weitere Male, nahm an weiteren Rüstzeiten teil, sprach im Bibelseminar, in der Kirche Templo Bíblico und bei privaten Versammlungen von Katholikinnen, Katholiken und Evangelischen. Auch der US-amerikanische Priester Francis Corbett und die US-amerikanische katholische Schriftstellerin Barbara Shlemon wurden eingeladen. Einige evangelische costa-ricanische Leitungspersonen nahmen 1972

17 18

Vgl. Holland 2009. Vgl. Prieto Valladares/Snyder 2010, 278f.

2 Identität und Identitätsbildung

in Argentinien am Primer Congreso Latinoamericano de Renovación Carismática (Erster Lateinamerikanischer Kongress für Charismatische Erneuerung) teil. Im Anschluss an Francis Mac Nutts Besuch gründeten katholische und evangelische Studierende das Café Ágape in der Nähe der UCR in San José als gemeinsamen Versammlungsort. In jener Zeit entstanden in und um San José mehrere ökumenische Gemeinschaften, die sich auch untereinander zu Gebetsversammlungen trafen. Zahlreiche ökumenische Rüstzeiten für Schülerinnen, Schüler und Studierende wurden in der Einrichtung Campamento Roblealto bei Heredia durchgeführt. An solch einer Rüstzeit nahm auch die im Folgenden zitierte Informantin teil, die zum Zeitpunkt des Interviews einer evangelisch-pentekostalen Kirche in Alajuela angehörte. In jener Zeit hatte sie der katholischen Kirche angehört, studierte Psychologie an der UCR und gelangte von einer katholischen Gruppe über eine Rüstzeit zu einer ökumenischen Studierendengruppe. Sie konvertierte erst Jahrzehnte später zum evangelischen Pentekostalismus: »Ich war an der Universität, und ich komme aus einer katholischen Familie. Ich lernte Kommilitoninnen kennen, die mich zu einer katholischen Kirche einluden. Sie heißt Fatimakirche, in San José. Und wir machten eine Rüstzeit, und dort begann ich, etwas mehr zu erfahren, wer Gott ist, und vor allem über den Heiligen Geist. […] Davor hatte ich alles gemacht, was die Katholiken machen, Erstkommunion, Firmung, ritualisierte Dinge, […] zur Messe gehen und sonst nichts. Aber dieses Mal hatte ich irgendwie […] einen anderen Kontakt, eine andere Beziehung. Es war sehr schön, es gefiel mir. […] Und von da an fand ich auch eine ökumenische Gruppe in der Universität, und dort ging ich weiter hin. Da gab es also Katholiken und es gab Christen. […] Es wurde begonnen, Zellgruppen zu bilden, um zu lernen. Und so begann ich, Gott besser kennenzulernen.«19 Als 1972 die Ordensschwester María Cecilia Arias von einem Studienaufenthalt an der Universität Boston zurückkehrte, berichtete sie, dass sie in einer Gebetsgruppe die Ausgießung des Heiligen Geistes und Wunderheilungen erlebt hatte. In ihrem Umfeld entstand eine Gebetsgruppe, die sich im Haus ihres Bruders José Miguel Arias versammelte. In vielen Teilen des Landes entstanden ähnliche Gebetsgruppen innerhalb der katholischen Kirche, und es wird geschätzt, dass 1978 etwa 62 Priester der charismatischen Bewegung angehörten.20 Weitere Ereignisse, die die Erneuerungsbewegung förderten, waren die nationalen Gründungen der internationalen, nichtdenominationellen Männerorganisation Full Gospel Business Men´s Fellowship International (FGBMFI) als FIHNEC und der internationalen, nichtdenominationellen Frauenorganisation Women´s Aglow

19 20

Interview Nr. 33, 15.4.2015. Vgl. Bastian/Fanger/Wehr/Werz 2000, 83-86.

49

50

Gender und Heilung

Fellowship als Aglow Costa Rica in San José im Jahr 1979, an deren wöchentlichen Versammlungen katholische und evangelische Frauen und Männer teilnahmen. Die Erneuerungsbewegung prägte auf unterschiedliche Weise die AIBC, die AIEC, als baptistisch und methodistisch bezeichnete Denominationen, als klassisch-pentekostal bezeichnete Denominationen und die katholische Kirche. In der Folgezeit entstanden Gegenbewegungen in der katholischen und in den evangelischen Kirchen, die die charismatischen Lehren bezüglich der Geistesgaben ablehnten. Innerhalb der katholischen Kirche entstand zudem eine Kontroverse darüber, wer gewisse Teile der Liturgie übernehmen darf. Die Leitung der katholischen Erneuerungsbewegung wurde von Priester Reinaldo Pol übernommen, der zur Gebetsgruppe um María Cecilia Arias gehörte und zunächst Evangelische integrierte. Doch Ende der 1970er Jahre veränderte sich der Tonfall zwischen Evangelischen und Katholikinnen und Katholiken. Evangelische Leitende erlebten, dass die charismatische Bewegung Spaltungen verursachte, und katholische Kleriker warfen den evangelischen Kirchen Proselytismus vor, weil zahlreiche Katholikinnen und Katholiken, die über die charismatischen Gruppierungen Evangelische kennengelernt hatten, konvertiert waren. Ein Beispiel für durch Evangelische im Zusammenhang mit charismatischen Versammlungen abgeworbene Katholikinnen und Katholiken findet sich in der Geschichte der evangelischen Kirche Iglesia Jesucristo es el Señor (IJS) in Alajuela, die in den 1980er Jahren aus einer ökumenischen Gebetsgruppe entstand. Die Leitung jener ökumenischen Gruppe übernahmen zwei Personen, die einer Kirche angehörten, die kurz zuvor als charismatische Neugründung aus einer Kirche der IDEC entstanden war. Die Gruppe versammelte sich zunächst in privaten Räumen, doch schließlich wurde ein Grundstück gekauft und ein Kirchgebäude erbaut. In der Darstellung dieser Ereignisse verwendete der Pastor der Kirche IJS die Bezeichnung pentecostal (pentekostal) für die zunächst existierende charismatische ökumenische Gruppe, während er die Kirche, die dann entstand, als evangélica (evangelisch) bezeichnete. So wurde aus einer charismatischen ökumenischen Gebetsgruppe eine evangelisch-pentekostale Kirche und so wurden aus katholischen Pentekostalen evangelische: »Zwei oder drei Familien der charismatischen Erneuerungsbewegung begannen sich zu versammeln, und dann begannen zwei Mitglieder einer evangelischen Kirche, diese Leute in ihren […] Bibelstudien und solchen Dingen zu koordinieren und zu leiten. […] Es wurde dort sozusagen aus einer pentekostalen Bewegung eine evangelische Bewegung. […] Sie versammelten sich in Häusern. Nach einiger Zeit kauften sie ein Grundstück. Also […] errichteten sie dort ein kleines Gebäude.«21

21

Interview Nr. 20_3, 27.3.2015.

2 Identität und Identitätsbildung

Die veränderte Stimmung zwischen evangelischen und katholischen Kirchenleitenden kam sowohl in der katholischen Zeitschrift Eco Católico als auch in polemischen Auseinandersetzungen in der Tageszeitung La Nación zum Ausdruck.22 Um den Verlust von Gläubigen an evangelische Kirchen zu beenden, bemühten sich Kleriker in Costa Rica wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas, die katholische Identität zu stärken, indem sie begannen, populäre Praktiken der katholischen Laienreligiosität wie traditionelle Gebete und Bräuche wie die Marienverehrung zu stärken.23 Während Erzbischof Carlos Humberto Rodríguez, der in der Anfangszeit der charismatischen Bewegung in Costa Rica amtierte, bezüglich der Aktivitäten pentekostaler Katholikinnen und Katholiken kaum interveniert hatte, bemühte sich der auf ihn folgende Erzbischof Román Arrieta um die Integration der Erneuerungsbewegung in die katholische Kirche, um einerseits der Gefahr des Proselytismus durch die Evangelischen zu begegnen und andererseits die Attraktivität der Bewegung für die eigene Kirche fruchtbar zu machen.24 1976 wurde auf einem nationalen Kongress der katholischen Kirche bekanntgegeben, dass man bereit sei, die charismatische Erneuerungsbewegung in die Kirche aufzunehmen, und nach einigen Diskussionen gelang es 1979 dem Erzbischof mit Hilfe von Tomas Forrest, dem internationalen Repräsentanten der Bewegung aus Rom, einen Ausgleich zu erzielen, indem er die Laiengemeinschaften Agua Viva und Ágape mit der der Erzdiözese unterstehenden Bewegung Renovación Espiritual vereinigte. Im selben Jahr verabschiedete die Bischofskonferenz eine Erklärung, in der als problematische Aspekte der charismatischen Erneuerung neben anderen die Zungenrede, die spontane Gruppenbildung und die Geringschätzung des Abendmahls genannt wurden, während die Gebetsfreudigkeit, das Interesse für die Bibel und das persönliche Engagement für die Messen positiv betont wurden. Infolge dieses relativen Entgegenkommens der katholischen Kirche hörten die Spannungen zwischen der Hierarchie und den charismatischen Gruppen weitgehend auf, wenn auch einige Kleriker ihnen gegenüber skeptisch blieben. Während die eher ökumenisch ausgerichteten Laiengemeinschaften in der Folgezeit an Ausstrahlungskraft verloren, erlebte die von Beginn an dezidiert katholische Renovación Espiritual einen Aufschwung. Damit war es der katholischen Kirche gelungen, große Teile der potentiell bedrohlichen charismatischen Bewegung als genuin katholisch zu vereinnahmen und die Frontstellung zwischen Evangelischen und Katholikinnen und Katholiken wiederherzustellen.25 Die Ablehnung evangelischer Konvertitinnen durch Katholikinnen und Katholiken wird im Folgenden anhand dreier Zitate von Frauen illustriert, die in den

22 23 24 25

Vgl. Nelson 1983, 334f; Oviedo Cervantes 2003, 56. Vgl. Egeris Thorsen 2016, 465. Vgl. Vargas 2009, zit.n. Holland 2009, 5f. Vgl. Bastian/Fanger/Wehr/Werz 2000, 84f.

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Gender und Heilung

1980er und 1990er Jahren konvertierten. Die Zitate zeugen von der feindseligen Stimmung, die den Frauen in jener Zeit infolge der Konversion entgegen schlug: »Damals war eine Konversion […] eine Schande für das ganze Dorf. Damals […] wurden Unterschriften gesammelt, damit die Kirche geschlossen würde.«26 Dieses Zitat zeigt, dass die Identität der Dorfbevölkerung maßgeblich von der gemeinsamen Zugehörigkeit zur katholischen Kirche bestimmt wurde. Als eine evangelische Kirche erbaut wurde, wurde dies als Angriff auf die Dorfgemeinschaft interpretiert. Ebenso galt die Konversion einzelner Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner als spalterisch. Folglich schloss sich die Bevölkerung zusammen, um die Schließung der neuen Kirche zu bewirken und die Integrität des Dorfes wiederherzustellen. Andere Informantinnen erzählten: »Die Onkel, die Großmutter – die ganze Welt war gegen uns, sie sagten einem sogar: ›Ich kenne dich nicht.‹ Oder: ›Komm nicht zu uns.‹«27   »In jener Zeit wurde man als ›Halleluja‹ oder ›Tamburinspieler‹ bezeichnet. Jetzt hört man so etwas weniger, aber früher war es mehr so der Zeigefinger. […] [Ein] Onkel […] sagte mir: ›Na, waschen sie dir schon das Gehirn?‹«28 Diese beiden Zitate sind Beispiele für Reaktionen von Familienangehörigen auf Konversionen. Konvertierte empfanden Ausgrenzung, und evangelische Kirchen hatten den Ruf, Agenten ideologischer Indoktrination zu sein.

2.2.3

Die Rezeption der Befreiungstheologie

Dass nicht nur das katholische, sondern auch das evangelische Spektrum diverser ist, als es die binäre Konzeptualisierung cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) versus religioso (religiös)/católico (katholisch) suggeriert, zeigt sich sowohl an den beschriebenen Schwierigkeiten der Kategorisierung adventistischer Kirchen als auch an innerevangelischen Konflikten, wie sie im Zusammenhang mit der Rezeption der Befreiungstheologie entstanden. Etwa zur selben Zeit, in der die charismatische Bewegung zu Annäherungen zwischen evangelischen und katholischen Gläubigen sowie zu Konflikten innerhalb der Denominationen führte, führte auch die Positionierung gegenüber der Befreiungstheologie zu Annäherungen zwischen evangelischen und katholischen Theologinnen und Theologen sowie zu Konflikten innerhalb der Denominationen und innerhalb der AE. Zwar hatte die Befreiungstheologie eine quantitativ geringere Gefolgschaft als die charismatische

26 27 28

Interview Nr. 45, 8.5.2015. Interview Nr. 38, 22.4.2015. Interview Nr. 71, 8.7.2015.

2 Identität und Identitätsbildung

Bewegung, doch diese fand sich überwiegend unter Studierenden und Seminaristen und wurde durchaus wahrgenommen. Die Rezeption der Befreiungstheologie führte sowohl am katholischen Priesterseminar29 als auch am SBL zu gravierenden Konflikten. Beide Seminare integrierten schließlich befreiungstheologische Ansätze. Auf evangelischer Seite führte dies dazu, dass die AIBC, der das SBL formal angehörte, sich offiziell von ihm distanzierte, weil sie ihm Sozialismus, Marxismus und Sandinismus vorwarf, und neue Orte der theologischen Ausbildung wie die Escuela de Estudios Pastorales (Schule pastoraler Studien, ESEPA) etablierte.30 Der Pastor der Kirche IJS in Alajuela erlebte diese konfliktiven Entwicklungen mit und gehörte zu den Studierenden, die das SBL wegen der Präferenz der Befreiungstheologie verließen: »Ich begann im SBL. […] Aber [in der] Zeit [der] […] sandinistischen Revolution wurde es irgendwie sehr […] sozialistisch, und deshalb habe ich es verlassen. Dann begann ich in einem Seminar, das auch von der AIBC gegründet wurde, die ESEPA, […] aber weil ich bis nach San José fahren musste, […] habe ich dort nicht abgeschlossen. Und die methodistische Mission hatte ihre theologische Abteilung hier. Also bewarb ich mich […] und wurde angenommen. Also machte ich meinen Bachelor in Theologie an der methodistischen Universität hier in Alajuela.«31 Nelson, der selbst als Dozent und Direktor des SBL tätig war, interpretiert den Konflikt als Resultat einer Polarisierung zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Befreiungstheologie und der charismatischen Erneuerungsbewegung und schreibt 1983: »Zu Beginn der 70er Jahre entstand eine Polarisierung, die die denominationellen Unterschiede überschritt. Auf einem Extrem entstand eine Theologie, die das Säkulare betonte. […] In ihrem Bemühen, soziale Gerechtigkeit zu erreichen, lehnten sie […] die traditionelle Evangelisation ab […] und wandten sich der ›Befreiungstheologie‹ [alle Anführungszeichen im Original] mit ihrer marxistischen Orientierung zu. Ihre Überzeugung war es, dass das Ziel des Christentums nicht die Erlösung des Individuums, sondern der Gesellschaft ist und dass diese Erlösung […] eher politischer und ökonomischer als moralischer und spiritueller Natur ist. […] Auf der entgegengesetzten Seite […] waren diejenigen, die ein ›ultraspiritualisiertes‹ Evangelium vertraten. […] Sie betonen absolut entgegengesetzte Aspekte im Verhältnis zum säkularen Evangelium. Seine Anhänger ersehnen spirituelle Erfahrungen […] wie das Reden in ›Zungen‹, die ›Prophetie‹, das Austreiben von Dämonen und das wundersame Heilen von Kranken. Seine Anhänger werden 29 30 31

Vgl. Bastian/Fanger/Wehr/Werz 2000, 80. Vgl. esepa.org/quienes-somos/historia/ [9.3.2018]. Interview Nr. 20_3, 27.3.2015.

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Gender und Heilung

durch ihre mal fröhlichen, mal mystischen Gesänge charakterisiert, die von Gitarren und Klatschen begleitet werden. Der Neopentekostalismus ist in vielen evangelischen Kirchen beliebt geworden. Die Polarisierung hat die Kirchen gespalten. Die Anführer halten sich für Revolutionäre, soziale die einen, spirituelle die anderen. Die Theologen der ›Befreiung‹ kritisieren die traditionelle Kirche, zu sehr das Himmlische zu betonen und zu wenig das Irdische; die Neopentekostalen werfen ihnen genau das Gegenteil vor.«32 Auch die Stimmung zwischen den Mitgliedern der AE blieb nicht von diesen Konflikten verschont: In den 1970er Jahren verließen die AIEC und die AD die AE, letztere vorübergehend. 1985 traten fünf Pastoren, die mit der Befreiungstheologie sympathisierten, mit ihren Kirchen aus der AE aus und gründeten die Federación de Iglesias Evangélicas Costarricenses.33 Dieser Zusammenschluss wurde 2005 in Asociación Iglesia Evangélica Presbiteriana Costarricense umbenannt und ist inzwischen mit der Presbyterianischen Kirche (USA) assoziiert. Gegenwärtig übt die AE ihren Einfluss vor allem in zweierlei Hinsicht aus: Erstens bietet sie seit 2001 eine theologisch-pastorale Ausbildung an, die über einen Zeitraum von zwei Jahren dezentral in Kirchen an über 100 Orten durchgeführt wird und bis 2017 von über 1100 Personen abgeschlossen wurde.34 Zweitens bemüht sie sich um politischen Einfluss im Zusammenhang mit sexual- und fortpflanzungsethischen Themen und sucht zu diesem Zweck zunehmend die Nähe der katholischen Kirche, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird. Die Beziehungen zur katholischen Kirche prägten die Identität der nichtkatholischen Denominationen maßgeblich. Die Kategorie cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) ist auf den Zusammenschluss verschiedener Denominationen zu einer Allianz zurückzuführen, deren Gemeinsamkeit weniger in theologischen Übereinstimmungen als in gemeinsamen hegemonialpolitischen Interessen bestand, die sich selbst aber in theologischen Begriffen legitimierten und konkurrierende Gruppen in theologischen Begriffen delegitimierten. Phasen der Annäherung zwischen der katholischen Kirche und den nichtkatholischen Denominationen gingen mit Konflikten und Spaltungen innerhalb der antikatholischen Koalition einher, während Phasen der strikten Abgrenzung zwischen der katholischen Kirche und nichtkatholischen Denominationen die gemeinsame Identität letzterer stärkten.

32 33 34

Nelson 1983, 332f. Vgl. Holland 2014, 27. Vgl. alianzaevangelica.org/pastores-y-lideres-mejor-capacitados/und alianzaevangelica.org /decima-quinta-graduacion-del-plan-de-capacitacion-por-extension/ [12.3.2018].

2 Identität und Identitätsbildung

2.3

Neue Allianzen

Nach wie vor existieren einige ökumenische charismatische Gruppen, die sich privat versammeln.35 Darüber hinaus sind die Erinnerungen an die in den Gebetsgruppen, während Rüstzeiten und bei anderen Gelegenheiten erlebte ökumenische charismatische Gemeinschaft der 1970er Jahre den Zeitzeugen vorbehalten. So berichtet Jorge E. Oviedo, der der Gebetsgruppe um die Ordensschwester María Cecilia Arias angehörte, dass diese zahlreiche Kontakte mit evangelischen Pentekostalen verschiedener Denominationen pflegte und in verschiedene evangelische Kirchen eingeladen wurde,36 während in offiziellen katholischen Schriften über den Beginn der RCC in Costa Rica ausschließlich an katholische Personen wie sie, ihren Bruder José Miguel Arias und Priester Reynaldo Pol erinnert und deren Gebetsgruppe in der Retrospektive als Wurzel einer rein katholischen RCC dargestellt wird.37 Andersherum spielen im kollektiven Bewusstsein evangelischer Pentekostaler prägende Katholikinnen und Katholiken keine Rolle und dominiert die binäre Konzeptualisierung cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) versus religioso (religiös)/católico (katholisch) den evangelisch-pentekostalen Diskurs. Dennoch führten in der jüngeren Vergangenheit veränderte hegemonialpolitische Interessen zu neuen Allianzen.

2.3.1

Individuelle Anerkennung

Auf individueller Ebene finden Begegnungen zwischen Evangelischen und Katholikinnen und Katholiken statt, die zur Anerkennung der jeweils Anderen nicht nur in persönlicher Hinsicht, sondern auch bezüglich ihrer Glaubensüberzeugungen beitragen. So erkannten einzelne Evangelische an, dass einzelne Katholikinnen und Katholiken eine persönliche Beziehung zu Jesus hatten, die Bibel lasen und im Einklang mit Gottes Willen lebten. Wenn Evangelische sich auf diese Weise über Katholikinnen und Katholiken äußerten, handelte es sich bei diesen um Angehörige der RCC. Auch wenn die Evangelischen diesen Namen überwiegend nicht kannten, wussten einige doch, dass es katholische Gruppierungen gab, die wenigstens teilweise den Kriterien ihrer Kategorie cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) entsprachen, wie dieses Zitat zeigt: »Ich kenne einen jungen Mann, der sich jeden Tag […] Zeit nimmt, er verlässt das Haus nicht, ohne eine Stunde zu beten. Er ist katholisch. […] Einmal habe ich ihn in ein Haus zu einer Gebetsversammlung begleitet, und Gott wirkt durch 35 36 37

Information aus einem Gespräch mit Clifton Holland am 22.5.2015. Vgl. Oviedo Cervantes 2003, 36f. Vgl. Renovación Carismática Católica de Alajuela 1994; rccdecostarica.com/quienes-somos/ [19.1.2018].

55

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Gender und Heilung

ihn zur Heilung und so. […] Er sagt mir: […] ›Ich bete keine […] Götzen an.‹ […] Es geht um die Beziehung, die jemand mit Gott hat. […] Es gibt Leute, die in der katholischen Kirche sind, und sie sind besonders, […] anders. Und es gibt Leute in den christlichen Kirchen, die furchtbar sind, […] die […] lästern, streiten oder Streit stiften. […] Solche Personen gehen nur zur Kirche, aber […] der Herr lebt nicht in ihnen.«38 Diese Informantin folgte nicht der skizzierten binären Kategorisierung cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) versus religioso (religiös)/católico (katholisch), sondern differenzierte innerhalb beider Kategorien nach den genannten Kriterien, die sonst die Kategorie cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) kennzeichneten. Evangelische und katholische Pentekostale haben am Diskurs über die innere Heilung teil. Vielen war diese Gemeinsamkeit unbekannt. Dennoch ereigneten sich auch bewusste Adaptionen, wie das folgende Zitat einer Informantin zeigt, die dem CCCAJ in Alajuela angehörte. Sie erklärte, dass die Leitenden der Cursos de Iniciación de Vida en el Espíritu (Kurse zum Beginn des Lebens im Geist, kurz: Initiationskurs) den Altarruf und das Annahmegebet von den Evangelischen bewusst übernommen und in den Ablauf jener Kurse integriert hatten: »Es wird über das Thema gesprochen und dann werden die Personen alle nacheinander aufgerufen, um Jesus als Herrn und Retter anzunehmen. […] Das haben wir früher nicht gemacht. Du weißt, dass die Evangelischen alle möglichen Vorträge halten, und am Ende gibt es einen Altarruf. Von uns gehen also immer zwei Personen zu ihnen und wir erklären ihnen: ›Willst du Jesus als Herrn und Retter annehmen?‹ Wir geben ihnen den Text aus dem Römerbrief: ›Wenn du mit deinem Mund bekennst und von ganzem Herzen glaubst, dass Jesus der Herr ist, wirst du gerettet werden.‹«39 Wie diese zeigte sich auch die im Folgenden zitierte Informantin, die ebenfalls dem CCCAJ angehörte, aufgeschlossen für Impulse von evangelischer Seite. Sie kritisierte, dass die Ähnlichkeiten zwischen evangelischen und katholischen Pentekostalen bei vielen Priestern zu einer Ablehnung der RCC führten: »Viele Priester mögen die RCC nicht. Es gibt Priester, die denken, dass wir evangelisch sind. […] Das ist mir egal. […] Bewahre das Gute und verwirf das Schlechte.40 […] Wenn ich eine Predigt von einem evangelischen Bruder höre, und die bringt mir etwas, […] warum sollte ich nicht auf sein Wort hören?«41

38 39 40 41

Interview Nr. 39, 23.4.2015. Interview Nr. 52_1, 21.5.2015. Vgl. den Bibelvers Römer 10,9. Vgl. den Bibelvers 1 Thessalonicher 5,21. Interview Nr. 1, 7.3.2015.

2 Identität und Identitätsbildung

Einzelne evangelische Pentekostale erkannten also die Glaubensüberzeugungen und -praktiken einzelner katholischer Pentekostaler an, und einzelne katholische Pentekostale erkannten evangelische Pentekostale hinsichtlich ihrer Überzeugungen und Praktiken an. In Einzelfällen integrierten katholische Pentekostale bewusst Elemente aus der evangelisch-pentekostalen Glaubenspraxis in ihre eigene Praxis. Ähnlichkeiten zwischen evangelischen und katholischen Pentekostalen provozierten jedoch bei manchen Priestern Skepsis gegenüber der RCC, weil sie befürchteten, dass es sich bei dieser um »ein Trojanisches Pferd innerhalb der einst sicheren römisch-katholischen Mauern [handeln könnte], dass schlussendlich zum Sprungbrett zum Protestantismus für getaufte Katholiken«42 werden könnte. Auch innerhalb der nichtpentekostalen katholischen Mehrheitsgesellschaft war festzustellen, dass immer mehr Katholikinnen und Katholiken persönliche Beziehungen zu Evangelischen pflegten, weil etwa Familienmitglieder konvertiert waren. Evangelische erlebten infolge ihrer Konversion immer weniger Repressionen seitens ihrer Familien. Zwei Beispiele für wertschätzende Anerkennung evangelischer Pentekostaler seitens katholischer Nichtpentekostaler finden sich in den folgenden Zitaten: »Ich war einmal bei den […] Evangelischen, ich hatte das Gefühl, es gab mehr Begeisterung. […] Wir versammeln uns seltener, und sie widmen dem mehr Stunden in der Woche, mehr Tage. Sie schränken sich mehr ein in Dingen, die die Katholiken noch [tun]/dass wir in Diskotheken gehen.«43   »Hier in der Nähe gibt es einen christlichen Kurs. […] Ganz toll. Und wir haben viel gelernt. […] Mich hat das immer erfüllt. […] Eine kolumbianische Christin lud uns ein. […] Eine Methode, um uns da mehr einzugeben, für die persönliche Beziehung mit Gott, um mehr über die Bibel zu lernen. Es geht nicht nur darum, zur Messe zu gehen.«44 Die zuerst zitierte Informantin betonte die emotionale Involviertheit der Evangelischen sowie die konsequenten ethischen Auswirkungen der Glaubensüberzeugungen in deren täglichem Leben, während die zuletzt zitierte Informantin einen evangelischen Glaubenskurs als bereichernde Ergänzung zum Besuch der Messe darstellte. Ein weiteres Indiz dafür, dass Evangelische zunehmend gesellschaftlich anerkannt werden, besteht in der Botschaft und im Erfolg des Kinofilms Hombre de Fé: Keylor Navas (Mann des Glaubens: Keylor Navas). In diesem Film wird das

42 43 44

Egeris Thorsen 2015, 21. Vgl. Chesnut 2003a, 72. Interview Nr. 82, 27.7.2015. Interview Nr. 78, 16.7.2015.

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Gender und Heilung

Leben des costa-ricanischen Fußballspielers Keylor Navas von einer von Entbehrungen geprägten Kindheit bis hin zu einer mit Ruhm und Wohlstand gesegneten Gegenwart gezeichnet, in der er nicht nur für die eigene Nationalmannschaft, sondern auch für den Fußballverein Real Madrid im Tor steht. Keylor Navas wird als ein Mensch dargestellt, der alle Hindernisse überwunden hat, weil er nicht aufgehört hat zu kämpfen und weil er als cristiano evangélico (evangelischer Christ) nicht aufgehört hat zu glauben. Dieser Film wurde ab Dezember 2017 in evangelischen Kirchen, vor allem aber in den großen Kinos des Landes gezeigt. Offensichtlich war es der antihegemonialen Koalition derer, die sich als cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) bezeichneten, gelungen, sich vom sozialen Stigma zu befreien, auch wenn nach wie vor mehr Menschen der katholischen Kirche angehörten.

2.3.2

Gesellschaftspolitische Allianzen

Über die zunehmende Anerkennung der Evangelischen seitens der katholischen Mehrheitsgesellschaft als glaubensstarke Christinnen und Christen hinaus haben sich in den vergangenen Jahren durch den gemeinsamen Einsatz gegen legislative Liberalisierungen in sexual- und fortpflanzungsethischen Fragen gesellschaftspolitische Allianzen zwischen konservativen, evangelischen und katholischen Pentekostalen und Nichtpentekostalen gebildet. Die Legalisierung der In-vitroFertilisation, die Liberalisierung der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch, die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare und zuletzt eine Reform der Sexualerziehung in Schulen sind die Themen, die die Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen jenseits der denominationellen Grenzen zunehmend verschärft haben. Die Debatte um das Verbot der künstlichen Befruchtung mittels In-vitroFertilisation beschäftigte die costa-ricanische Politik, die Medien und die Öffentlichkeit mehrere Jahre lang. Die Technik wurde 2000 verboten, doch 2012 urteilte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte, dass das Verbot zurückgenommen werden müsse, da es gegen die Menschenrechte verstoße. Im September 2015 erreichte die Debatte einen Höhepunkt, als Präsident Luis Guillermo Solís ohne Zustimmung des Parlaments ein Dekret verabschiedete, das die Einführung der Technik erlaubte, das aber nach mehreren Verfassungsbeschwerden vorübergehend wieder ausgesetzt wurde.45 Im März 2016 wurde die In-vitro-Fertilisation schließlich legalisiert, und seit Juli desselben Jahres wird sie praktiziert. Der Schwangerschaftsabbruch ist in Costa Rica ausschließlich unter der Bedingung legal, dass die Gesundheit oder das Leben einer Frau durch eine Schwangerschaft oder Geburt gefährdet ist. Gelegentlich kommt es zu Verlautbarungen einzelner Politikerinnen oder Politiker, die entsprechenden Gesetze seien 45

Vgl. Burgdörfer 2015, 2.

2 Identität und Identitätsbildung

zu liberalisieren, doch solche Vorstöße verursachen stets einen gesellschaftlichen Aufschrei.46 Bezüglich der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare ist Costa Rica aus legislativer Perspektive eins der tolerantesten Länder der Region. Seit Mai 2015 werden eingetragene Lebenspartnerschaften anerkannt. Gleichzeitig haben gerade die Bemühungen, diese Neuerung durchzusetzen, die gesellschaftliche Debatte verschärft und die Polarisierung der Positionen offenbart.47 Seit dem Jahr 2008 wurden regelmäßig Demonstrationen gegen die genannten Liberalisierungen durchgeführt, die zunächst von der AE und der katholischen Kirche getrennt organisiert wurden.48 Seit 2013 vereinen sich regelmäßig mehrere tausend Evangelische, Katholikinnen und Katholiken zu Marchas por La Vida (Märsche für das Leben).49 Die gesellschaftliche Diskussion verschärfte sich im Verlauf des Jahres 2017, nachdem das Bildungsministerium das Programa de Estudio de Afectividad y Sexualidad Integral (Programm für einen ganzheitlichen Affektivitätsund Sexualitätsunterricht) veröffentlichte, durch das die schulische Sexualerziehung entsprechend dem Ideal der Diversität modifiziert werden sollte.50 Die Gegnerinnen und Gegner dieses Programms warfen dem Bildungsministerium vor, die Kinder mit der ideología de género (Genderideologie) indoktrinieren und sich mit der schulischen Sexualerziehung auf illegitime Weise in innerfamiliäre Angelegenheiten einmischen zu wollen. Unter den Schlagworten #AMisHijosLosEducoYo (Meine Kinder erziehe ich) und #ConMisHijosNoTeMetas (sinngemäß: Finger weg von meinen Kindern) demonstrierten im Juli und im Dezember 2017 evangelische und katholische Konservative gemeinsam. Im Dezember beteiligten sich von zwölf Anwärtern und einer Anwärterin für das Präsidentenamt sieben an der Demonstration gegen das genannte Bildungsprogramm. Dass schließlich in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl der TV-Journalist Fabricio Alvarado von der explizit evangelischen Partei Partido Restauración Nacional (PRN), der in der Kirche CMA als Sänger und Prediger tätig war, zum erfolgreichsten Vertreter der Opposition gegen sexual- und fortpflanzungsethische Liberalisierungen wurde und am meisten Stimmen erhielt, hing mit seinem Umgang mit einer Entscheidung des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 9.1.2018 zusammen: Der Gerichtshof hatte geurteilt, dass gleichgeschlechtlichen Paaren dieselben

46 47 48

49 50

Vgl. ameliarueda.com/nota/diputada-del-frente-amplio-prepara-proyecto-de-ley-para-lega lizar-el-aborto [14.3.2017]. Vgl. Smith-Castro/Molina Delgado 2011. Vgl. hazteoir.org/noticia/costa-rica-multitudinaria-defensa-familia-y-vida-proyectos-politic os-14137 [16.3.2018], familiasporlafamilia.blogspot.de/2008/09/costa-rica-los-obispos-y-losprincipios.html?m=0 [16.3.2018] und ceirberea.blogdiario.com/1218166200/miles-de-evang -licos-marcharon-en-defensa-de-la-familia-en-costa-rica/ [16.3.2018]. Vgl. etwa elpais.com/internacional/2013/08/11/actualidad/1376176524_110956.html [16.3.2018]. Vgl. Ministerio de Educación Pública de la República de Costa Rica 2017.

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Gender und Heilung

rechtlichen Privilegien zustehen müssen wie heterosexuellen Eheleuten, weil eine gesetzliche Vorschrift, die allein für heterosexuelle Paare gelte, diskriminierend und daher unzulässig sei.51 Vor der Veröffentlichung dieser Entscheidung wurden Fabricio Alvarado für die Präsidentschaftswahl etwa drei Prozent der Stimmen prognostiziert. Nach der Veröffentlichung machte er den Widerstand gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und den Einsatz für einen Austritt Costa Ricas aus der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, infolge derer Costa Rica an die Rechtsprechung des Gerichtshofes gebunden ist, zu seinen einzigen Wahlkampfthemen, und am 4.2.2018 erhielt er 24,9 Prozent der Stimmen. Obwohl er in der Stichwahl am 1.4.2018 seinem Konkurrenten Carlos Alvarado von der sozial-liberalen Partei Partido Acción Ciudadana (PAC) mit 39,3 Prozent zu 60,7 Prozent unterlag, zeigte sein Erfolg ebenso wie eine gemeinsame Verlautbarung der costa-ricanischen Bischofskonferenz und der AE mit einer eindeutigen Wahlempfehlung für ihn vom 18.1.2018,52 dass der Einsatz für konservative Werte hinsichtlich der Sexual- und Fortpflanzungsethik zu bis vor wenigen Jahren nicht für möglich gehaltenen Allianzen zwischen Evangelischen und Katholikinnen und Katholiken geführt hatte. Auch der seit 1965 amtierende Pastor der Kirche CCVN stellte fest, dass die Gegnerschaft zwischen den evangelischen Kirchen und der katholischen Kirche überwunden war und es nun andere, gemeinsame Gegnerinnen und Gegner gab: »Als ich das Evangelium kennenlernte, hatten wir, […] die wir das Evangelium kannten, den Kampf mit den Katholiken. Die Katholiken griffen uns an. […] Heute nicht, heute ist es das Gegenteil, […] in dem Sinn, dass es heute die Personen sind, die sagen, dass sie an nichts glauben, die die Christen und die Katholiken angreifen, die Gläubigen in anderen Worten, egal, ob es Katholiken oder Evangelische sind. […] Das Kräfteverhältnis hat sich verändert.«53 Als Grund für die Überwindung der Gegnerschaft gab der zitierte Pastor die veränderten Mehrheitsverhältnisse an. Als verbindendes Merkmal derjenigen, die nun sowohl Katholikinnen und Katholiken als auch Evangelische angriffen, identifizierte er, dass diese an nichts glaubten. Es ist zu vermuten, dass viele derer, die er als ungläubig charakterisierte, sich selbst nicht so bezeichnet hätten. Angesichts der skizzierten neuen gesellschaftspolitischen Allianzen und damit einhergehend auch neuen Gegnerschaften ist anzunehmen, dass die vom zitierten Pastor als ungläubig charakterisierte Menschengruppe vielmehr durch die Befürwortung sexual-

51 52 53

Vgl. Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte, konsultative Mitteilung vom 09.01.2018. Vgl. La Conferencia Episcopal de Costa Rica/La Federación Alianza Evangélica Costarricense 2018. Interview Nr. 18, 25.3.2015.

2 Identität und Identitätsbildung

und fortpflanzungsethischer Liberalisierungen geeint war als durch eine explizite Ablehnung christlicher Glaubensinhalte. Ein Beispiel für theologische Begründungen einer evangelisch-katholischen Allianz zugunsten des gemeinsamen Eintretens für gemeinsame gesellschaftspolitische Interessen findet sich beim costaricanischen Schriftsteller Carlos Alonso Vargas, der sich dafür einsetzte, in der genannten Stichwahl als Katholik die eigene Stimme Fabricio Alvarado zu geben, obwohl dieser evangelisch sei. Er argumentiert in einem Facebook-Post, der Jungfrau Maria sei eine konservative Sexual- und Fortpflanzungsethik wichtiger als die konfessionelle Zugehörigkeit: »Als Katholik […] bin ich überzeugt, dass der Jungfrau Maria jemand, der die Abtreibung, die gleichgeschlechtliche ›Ehe‹ [Anführungszeichen im Original], die Euthanasie etc. fördert, mehr zuwider ist als jemand, der nicht an die Verehrung religiöser Bilder glaubt.«54 Gleichzeitig ist festzuhalten, dass der bezüglich Fragen der Sexual- und Fortpflanzungsethik konservative Diskurs unter Pentekostalen zwar der dominante ist, aber sich auch hier keineswegs eine einheitliche politische Haltung findet.55 So nahmen Jugendliche, die der Kirche Iglesia Manos Sanadoras de Jesús (MSDJ) angehörten, am 1. Juli 2018 an der Marcha por la Diversidad (Marsch für Vielfalt) in San José teil. Im Anschluss veröffentlichte eine von ihnen ein Foto von sich auf ihrer Facebook-Seite, auf dem sie mit der Regenbogenfahne zu sehen war und das sie folgendermaßen kommentierte: »Es gibt weder Homosexuelle noch Bisexuelle noch Heterosexuelle, es gibt nur die LIEBE [Großbuchstaben im Original]!«56 Auch die verbreitete binäre Konzeptualisierung pentekostal versus liberal oder politisch linksorientiert ist folglich nicht aufrechtzuerhalten.57

2.4

Geschichte des Pentekostalismus in Alajuela

Nelson bezeichnet Alajuela als im Verhältnis zu den Städten San José, Cartago und Heredia liberale Stadt. Alajuelas liberale Tradition habe dazu geführt, dass die ersten evangelischen Missionarinnen und Missionare dort besser aufgenommen wurden als in den anderen Städten. Die erste evangelische Missionarsfamilie der 54 55 56 57

facebook.com/carlosalonso.vargas?lst=100008853792117 %3A1296078121 %3A1521550536 [18.3.2018]. Vgl. auch Steigenga 2001, 62.122. facebook.com/photo.php?fbid=1870292156367249&set=a.537889036274241&type=3&theater [21.9.2018]. Vgl. Maltese 2017, 255 FN 34.

61

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Gender und Heilung

Missionsgesellschaft CAM McConnell wechselte 1895 ihren Wohnsitz von San José nach Alajuela. Im November desselben Jahres waren in Alajuela 15 Personen konvertiert, und im folgenden Jahr konvertierte neben anderen ein Priester mit seiner Familie.58 1920 nahm die methodistische Mission ihre Arbeit in Alajuela auf und errichtete 1928 im Stadtzentrum die zweite methodistische Kirche des Landes, der 1956 141 Gläubige angehörten.59 Als 1927 der Prediger Angel Archilla Cabrera von der presbyterianischen Kirche in Puerto Rico im Rahmen der von der Missionsgesellschaft ML organisierten Evangelisationskampagne vielerorts auf Ablehnung stieß, verhielt sich Alajuelas Stadtverwaltung anders, indem sie ihn bitten ließ, Konferenzen durchzuführen, für die sie ihm das städtische Theater zur Verfügung stellte und die schließlich auch von der Elite der Stadt besucht wurden.60 1948 begannen Entsandte der AD die Missionstätigkeit in Alajuela, aus der schließlich, wiederum als zweite Kirche dieser Denomination in Costa Rica, die Kirche CCVN hervorging. Der seit 1965 amtierende Hauptpastor der Kirche CCVN stellte ihre Geschichte folgendermaßen dar: »Der Herr hat es mir erlaubt, mehrere Kirchen zu errichten. Dann, mit der Zeit, haben sich die AD geöffnet. […] Es war sehr verschlossen, ein sehr verschlossener Pentekostalismus. […] Ende der 1960er kam eine sehr starke charismatische Bewegung, die aus Südamerika und auch aus Nordamerika kam, und nicht nur die katholische Kirche erfasste, sondern […] die in die verschlossenen Kirchen eindrang, [in] traditionelle pentekostale und traditionelle nichtpentekostale. Das war 1968, 70, 72. Dort entstand also […] das, was wir heute als Asociación […] CCVN bezeichnen. Also, sagen wir, wir/ es gibt […] einen großen Schirm. Dieser große Schirm sind die AD. Unter diesem rechtlichen Schirm gibt es einen kleinen Schirm. Das sind wir und andere, die wir auch eine juristische Person sind. Wir haben Beziehungen zu den AD, aber wir haben andere Arbeitsmethoden […] in der Art zu evangelisieren, in der Art der […] Hierarchie. […] Es ist […] flexibler. […] Und dann entstanden die Kirchen, die zu uns gehören, nicht wahr. Wir haben eine in Quebradas de Tambor, wir haben eine in Cacao de Atenas, Santa Eulalia, La Guácima, Los Altos de Naranjo. Und die vermehren sich wiederum, sie lassen neue Kirchen entstehen. Wir haben sechs organisierte Kirchen, große, mit ihren Kirchgebäuden und allem, und es gibt andere, die gerade erst entstehen. […] Wir Pastoren versammeln uns […] einmal im Monat. Jeder hat seine Besonderheiten. […] Manche sind in ländlichen Gebieten, und jedes ländliche Gebiet ist anders.«61

58 59 60 61

Vgl. Nelson 1983, 144. Vgl. Nelson 1983, 197. Vgl. Nelson 1983, 216-223. Interview Nr. 18, 25.3.2015.

2 Identität und Identitätsbildung

Diesem Pastor zufolge hatte die charismatische Bewegung die Kirche CCVN nachhaltig geprägt und zu einer teilweisen Distanzierung von den AD geführt. Von der Kirche CCVN waren diverse Neugründungen in der Stadt und in der Provinz ausgegangen, die als Asociación (Vereinigung) CCVN verbunden blieben und zu der 2015 sechs als etabliert bezeichnete und weitere jüngere Kirchen in und um Alajuela gehörten, deren Pastorinnen und Pastoren sich monatlich versammelten. Im weiteren Verlauf des Interviews beurteilte der Pastor die Auswirkungen der liberalen Tradition Alajuelas auf die Missionstätigkeit der Evangelischen im Gegensatz zu Nelson als negativ. Dass die Menschen in Alajuela un poco intelectual (etwas intellektuell) gewesen seien und sich daher nicht für das Evangelium interessiert hätten, habe seinen Vorgängern die Verkündigung erschwert. Möglicherweise sind diese gegensätzlich wahrgenommenen Auswirkungen der übereinstimmend als liberal bezeichneten Prägung der Stadt dadurch zu erklären, dass diese Prägung den Evangelischen den Erstkontakt zur Bevölkerung ermöglichte, insofern sie auf aufgeschlossene Bewohnerinnen und Bewohner stießen, zu einem späteren Zeitpunkt aber verbindliche Konversionen erschwerte, als die anfangs interessierte Bevölkerung das Ausmaß der Konsequenzen einer Konversion erahnte. In Alajuela wurde die charismatische Bewegung von einem Pastorenehepaar geprägt, das Ende der 1960er Jahre von einer Kirche der IDEC in San José zur Mission nach Alajuela geschickt worden war und dort begann, auf öffentlichen Plätzen zu predigen, zu heilen und Dämonen auszutreiben. Die Entsendungskirche kritisierte diese Praktiken, so dass es zum Bruch kam. Das Ehepaar lud nationale und internationale Prediger ein und errichtete 1976 die Kirche Catedral del Evangelio (CE) am Rand des Stadtzentrums. Mehrere Informantinnen aus verschiedenen Kirchen berichteten, dass sie während dieser Kampagnen oder in dieser Kirche Heilung erfahren hatten und konvertiert waren, und mehrere Pastoren, die der Pastorenbruderschaft Alajuelas angehörten, bezeichneten diesen Pastor als ihren geistlichen Vater. Der Beginn der charismatischen Bewegung innerhalb der katholischen Kirche wird für Alajuela in das Jahr 1974 datiert, als zwei Ehepaare an einem Initiationskurs in San José teilnahmen und im Anschluss zwei Gebetsgruppen entstanden, die sich in privaten Häusern versammelten. Bald wurde ein entsprechender Kurs in der Maristenschule durchgeführt, an dem über 750 Personen teilgenommen haben sollen. Von da an fanden jeden Dienstagabend Versammlungen der charismatischen Bewegung in der Kirche La Agonía statt.62 Der damalige Priester dieser

62

Der offizielle Name der Gemeinde lautet Santo Cristo de Esquipulas, und der offizielle Name der dazugehörigen Kirche lautet Iglesia del Santo Cristo de la Agonía. Die Gemeinde und die Kirche werden von den Bewohnerinnen und Bewohnern Alajuelas und insbesondere von den ihnen angehörenden Gläubigen als La Agonía bezeichnet. Diesem Sprachgebrauch wird hier gefolgt.

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Gender und Heilung

Gemeinde soll auf Geheiß des Bischofs geholfen haben, die Entwicklung der Bewegung in der ganzen Diözese zu unterstützen. Neue Gebetsgruppen entstanden in mehreren Stadtteilen und Diözesankantonen. 1975 wurde ein Haus als Zentrum der Bewegung innerhalb der katholischen Kirche Alajuelas angemietet, in dem Beratungen und Gebetsversammlungen stattfanden und in dem eine kleine Bücherei eingerichtet wurde. In den beginnenden 1990er Jahren wurde die Stiftung Fundación Amigos de Jesús gegründet, um auf einem erworbenen Grundstück ein zweistöckiges Gebäude zu errichten und zu unterhalten, das dann als CCCAJ bezeichnet wurde und in dem seit der Fertigstellung im Jahr 1998 fast täglich Veranstaltungen wie Beratungen, Gebetsversammlungen und verschiedene Kurse durchgeführt wurden.63 Die pentekostale Beratungspraxis in Alajuela wurde durch ein Beratungszentrum des Club 700 maßgeblich geprägt, das als Filiale des Beratungszentrums des Club 700 in San José spätestens 198764 eröffnet und um 199965 geschlossen wurde. Die Mitarbeitenden berieten, evangelisierten, hielten Vorträge und bildeten für die Beratung aus. Ein prägender Impuls für die pentekostale Landschaft Costa Ricas, der von Alajuela ausging, war die Gründung der nichtdenominationellen Frauenorganisation TF im Jahr 1989. Zwar war auf internationaler Ebene bereits 1967 die Frauenorganisation Women´s Aglow Fellowship entstanden, die inzwischen Aglow International heißt und international die größte nichtdenominationelle Frauenorganisation geworden ist,66 und in den 1990er Jahren entstand mit den Ladies of the fellowship eine Frauenorganisation innerhalb der FGBMFI, deren erste costa-ricanische Lokalgruppe mit dem Namen Damas de la fraternidad im Jahr 2010 gegründet wurde. Dennoch fehlte eine entsprechende Gruppe für Frauen 1989 in Alajuela. Dies motivierte die Ehefrau eines Mannes, der damals begann, dort eine Lokalgruppe der FIHNEC zu besuchen, eine solche Gruppe zu gründen, so dass sie TF initiierte. Sie erklärte, dass einige Frauen, deren Männer an den Versammlungen der FIHNEC teilnahmen, befürchtet hätten, FIHNEC sei eine neue Religion. Um die Frauen davon zu überzeugen, dass das Ziel der Versammlungen der FIHNEC kein Religionswechsel, sondern eine Intensivierung der individuellen Gottesbeziehung sei, habe sie entsprechende Frauenversammlungen initiiert: »Als die Ehemänner anfingen, zu FIHNEC zu gehen, gab es viele Frauen, die nicht wollten, dass sie gingen, weil sie dachten, dass sie dort zu einer anderen Religi-

63 64

65 66

Vgl. Renovación Carismática Católica de Alajuela 1994; Oviedo Cervantes 2003, 39f. Dieser terminus a quo ergibt sich aus der Information einer Gesprächspartnerin in einer E-Mail vom 24.2.2016, derzufolge diese in jenem Jahr im genannten Beratungszentrum Beratung in Anspruch genommen hatte. Vgl. Interview Nr. 45, 8.5.2015. Vgl. Griffith 1997, 27.

2 Identität und Identitätsbildung

on bekehrt würden. Deshalb begannen einige Ehemänner zu sagen, warum wir denn nicht Versammlungen für Ehefrauen machen, damit diese wüssten, was sie dort machten, um keine Konflikte mehr mit ihnen zu haben. So haben wir angefangen, und danach, okay, die Vision hat sich verändert, denn es ging nun darum, die Bedürfnisse der […] Frauen zu befriedigen, nicht einfach nur eine Begleitung für den Mann zu sein. Von Aglow hatten wir gehört, aber in jener Zeit […] war Aglow in Costa Rica nicht bekannt. Das war eine sehr kleine Gruppe, sozusagen ohne Auswirkung auf die Gesellschaft. […] Wir haben mit einer Gruppe von Frauen […] angefangen, uns in einem Haus zu versammeln, und wir haben andere Frauen eingeladen, deren Männer auch dorthin [zu FIHNEC] gingen. Wir haben sie dem Herrn vorgestellt, und wir haben sie eingeladen, am Zeugnis teilzuhaben, und ein bisschen Bibel und solche Sachen. So haben wir angefangen.«67 2015 gehörten 52 Lokalgruppen zu TF, die sich nach dem Vorbild der FIHNEC wöchentlich in Hotels oder Restaurants trafen. Jährlich fand ein nationaler, eintägiger TF-Kongress in San José mit 2000 Teilnehmerinnen statt. Ein weiterer Impuls, der innerhalb des costa-ricanischen Pentekostalismus von Alajuela ausging, war die Einführung des Theophostischen Gebetsdienstes. Diese geht auf eine Pharmazeutin zurück, die der Kirche CCVN angehörte und um 1999 eine Mitarbeiterin des Begründers des Theophostischen Gebetsdienstes kennenlernte. Infolge positiver Erfahrungen mit dieser Methode erlernte sie sie, übersetzte das entsprechende Ausbildungsmaterial ins Spanische und gab seit 2001 eine Vielzahl von Seminaren in verschiedenen Kirchen und Bildungseinrichtungen an verschiedenen Orten. 2015 schätzte sie, dass bis zu diesem Zeitpunkt 250 Personen in Costa Rica die Ausbildung abgeschlossen hatten. Diese Personen gehörten zahlreichen Denominationen einschließlich der katholischen Kirche an, praktizierten den Theophostischen Gebetsdienst sowohl in ihren Kirchen als auch in verschiedenen beruflichen Kontexten und trugen auf diese Weise zu seiner Verbreitung bei.

2.5

Schlussfolgerungen

Die Konstruktion der für evangelische Pentekostale identitätsstiftenden Binarität von cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) versus religioso (religiös)/católico (katholisch) ist das Ergebnis lokaler und globaler kirchenpolitischer Dynamiken und machte für viele Jahre jegliche Allianz zwischen evangelischen und katholischen

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Interview 2.2016. Dieses Interview wurde von der Tochter der Befragten geführt, als Audiodatei aufgenommen und der Verfasserin per E-Mail geschickt.

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Gender und Heilung

Pentekostalen unmöglich. Zwar entwickelten sich im Zusammenhang mit der charismatischen Bewegung der 1960er und 1970er Jahre Beziehungen zwischen diesen, die den pentekostalen Diskurs nachhaltig prägten, doch auf die Phase der Annäherung folgten Jahre gegenseitiger Verwerfungen. Seit einigen Jahren sind nun erneut verschiedene Formen der Annäherung zu beobachten. Evangelische Pentekostale werden zunehmend hinsichtlich ihrer Glaubensüberzeugungen von katholischen Pentekostalen, aber auch von der katholischen Mehrheitsgesellschaft respektiert. Es ist ihnen gelungen, sich vom sozialen Stigma zu befreien. Andersherum nehmen einzelne evangelische Pentekostale anerkennend die Überzeugungen und Praktiken einzelner katholischer Pentekostaler wahr. Über diese individuellen Begegnungen hinaus sind in den vergangenen Jahren infolge gemeinsamer gesellschaftspolitischer Interessen Allianzen entstanden, die zuvor als unmöglich erschienen wären. Die gesellschaftliche und legislative Liberalisierung hinsichtlich Themen der Sexual- und Fortpflanzungsethik eint evangelische und katholische Konservative im Kampf gegen diese Entwicklung, die sie als moralischen und spirituellen Verfall verurteilen. So kommt es, dass Angehörige der evangelischen Kirchen, nachdem sie in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts den gesellschaftspolitischen Einfluss der katholischen Kirche infolge ihrer Position als religiöse Hegemonialmacht kritisierten, sich 2018 um eine Allianz mit ihr bemühten, um eigene gesellschaftspolitische Interessen durchzusetzen. Trotz dieser neueren hegemonialpolitischen Entwicklungen beeinflusst die binäre Konzeptualisierung cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) versus religioso (religiös)/católico (katholisch) nach wie vor die Wahrnehmung religiöser Gruppen in Costa Rica. So führt sie dazu, dass konkurrierende Minderheiten wie die Zeugen Jehovas oder auch Angehörige der sogenannten historischen evangelischen Kirchen von denen, die sich als cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) kategorisieren, theologisch delegitimiert werden. Außerdem führt die Binarität dazu, dass eine Wahrnehmung sowohl der antikatholischen Koalition als auch der katholischen Kirche als homogene Gruppen verbreitet ist, so dass evangelische und katholische Pentekostale in Costa Rica ihre von wechselseitigen Interaktionen geprägte Geschichte sowie geteilte doktrinelle Überzeugungen und spirituelle Praktiken kaum wahrnehmen. Darüber hinaus folgt auch die Mehrheit der Untersuchungen des costa-ricanischen und des lateinamerikanischen Pentekostalismus dieser Konzeptualisierung, die verhindert, dass diachrone Verbindungen zwischen evangelischen und katholischen Pentekostalen untersucht und die daraus resultierenden diskursiven Übereinstimmungen eingeordnet werden können. Hingegen stellt der hier angewandte historisierende Ansatz die Grundlage dafür dar, dass in dieser Untersuchung diskursive Übereinstimmungen und auch Divergenzen, die im vorgefundenen Kontext wahrgenommen wurden, eingeordnet und erklärt werden können, um der Heterogenität, Kontingenz und Fluidität des Pentekostalismus gerecht zu werden.

Zweiter Teil: Gender und Heilung

1

Themen der Heilung

Die historische Kontextualisierung des Pentekostalismus in Costa Rica hat gezeigt, dass die Genealogie der Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und nichtkatholischen Denominationen deren Selbstverständnisse prägt. Außerdem prägten Interaktionen zwischen Vertreterinnen und Vertretern der katholischen Kirche und nichtkatholischen Denominationen im Kontext der charismatischen Erneuerungsbewegung und darüber hinaus Glaubensüberzeugungen und -praktiken evangelischer ebenso wie katholischer Pentekostaler. Dies zeigt sich insbesondere anhand des Heilungsdiskurses, der von zentraler Bedeutung für die für diese Untersuchung befragten Frauen war. Diese beschrieben insbesondere die Erfahrung der sogenannten inneren Heilung als transformierend, wenn sie über die Heilung emotionaler Verletzungen durch Vergebung, über die Bewusstwerdung des Werts ihrer eigenen Person und darüber hinaus auch über den geistlichen Kampf gegen böse Mächte sprachen. Im Folgenden wird auf der Grundlage mündlicher Äußerungen von Informantinnen und Informanten sowie schriftlichen in Alajuela rezipierten Materials der Heilungsdiskurs rekonstruiert und analysiert, um seine Bedeutung für Frauen im spezifischen Kontext verständlich zu machen. Grundlegend für das denominationsüberschreitende pentekostale Heilungssystem ist das Verständnis der Person als dreiteiliges Kompositum aus Körper, Seele und Geist. Nach diesem Verständnis heilt Gott alle Bereiche des Menschen auf je eigene Weise. Durch physische Heilungspraktiken befreit er von physischer Krankheit, und auch die Medizin gilt als Möglichkeit Gottes zu heilen. Die Seele wird als Ort des Verstandes, des Willens und der Emotionen verstanden und seelsorglichpsychotherapeutisch behandelt. Der Geist gilt als spirituelle Dimension des Menschen, die relevant für die Gottesbeziehung und das Ergehen im Jenseits ist. Die Ursache spiritueller Probleme wird in dämonischen Einflüssen gesehen, die im Befreiungsdienst spirituell bekämpft werden. Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass die Komponenten der Person nicht isoliert voneinander sind, sondern dass Körper, Seele und Geist in Beziehung zueinander stehen. Folglich wird angenommen, dass die Ätiologien der Leiden zusammenwirken. Physische Krankheit könne nicht nur physische, sondern auch psychische oder spirituelle Gründe haben. Ebenso könne der Grund für dämonische Einflüsse nicht nur in spirituellen Vergehen

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Gender und Heilung

oder Lasten, sondern auch in der besonderen Verletzlichkeit einer Person infolge psychischer Verletzungen oder einer physischen Erkrankung bestehen. Und psychische Nöte würden nicht nur durch seelische Verletzungen, sondern auch durch physische Ursachen oder Dämonen ausgelöst. Aus der Annahme dieser pneumopsychosomatischen Zusammenhänge folgt, dass auch die Heilungstypen aufeinander bezogen sind und kombiniert werden. Die Berichte der Informantinnen zeigen ebenso wie andere mündliche und schriftliche Quellen, dass innerhalb des pentekostalen Heilungsdiskurses in Alajuela der inneren Heilung die größte Bedeutung gegeben wird. Nicht nur seelsorglich-psychotherapeutische Methoden dienen der Erlangung innerer Heilung, sondern auch die Methoden der physischen und spirituellen Heilung sind letztlich auf sie ausgerichtet. Das Zentrum des Glaubens an die innere Heilung besteht darin, dass Jesus emotionale Wunden ebenso heilt wie Verhaltensmuster und Gedanken, die persönlich und sozial destruktiv wirken. Das Ziel der inneren Heilung besteht nicht in der Veränderung der Bedingungen, wenn auch diese nicht ausgeschlossen ist, sondern in der Veränderung der Einstellung einer Person zu den Bedingungen. Diese Veränderung setzt voraus, dass die Betroffenen einen konstruktiven Umgang mit den Auswirkungen existenzieller Erfahrungen von Leid und Schuld finden und sich mit der eigenen Biographie und ihrem Selbstkonzept versöhnen. Als notwendige Voraussetzungen für diese Versöhnung gelten einerseits das Gewähren und Empfangen von Vergebung und andererseits eine Selbsterkenntnis als Gottes geliebtes, wertvolles Geschöpf, die auf einem durchaus auch marianistisch geprägten Frauenbild beruht.

1.1 1.1.1

Umgang mit Leid Theologie der Vergebung

Beruhend auf den Äußerungen von Informantinnen sowie den schriftlichen Unterlagen der Glaubenskurse Nueva Vida en Cristo (Neues Leben in Christus) und Renovada (Erneuert) lässt sich die in Alajuela dominierende pentekostale Theologie der Vergebung folgendermaßen zusammenfassen: Die Vergebung gilt als die conditio sine qua non nicht nur der inneren Heilung (sanidad/sanación interior), sondern ebenso sehr des jenseitigen Heils (salvación), weil die Überzeugung besteht, dass mangelnde Vergebung dazu führt, dass Gott nicht vergeben wird. Der Glaube an Gottes dies- und jenseitige Gerechtigkeit hilft geschädigten Personen, von Rachegedanken abzusehen. Die Gebote der Nächsten- und Feindesliebe werden als Gebote der Vergebung interpretiert. Es wird angenommen, dass der Teufel Fehlverhalten bewirkt, so dass die ausführenden Personen von Verantwortung befreit werden. Gleichzeitig wirke der Teufel in der geschädigten Person der Vergebung

1 Themen der Heilung

entgegen. Durch deren Nichtvergebung gewinne er an Macht, durch deren Vergebung hingegen werde er besiegt. Im Folgenden werden die genannten Aspekte dieser Vergebungstheologie erläutert und belegt. Vergebung als Voraussetzung zur inneren Heilung Die Co-Pastorin der Kirche MSDJ war überzeugt, dass innere Heilung und spirituelles Wachstum ohne Vergebung nicht möglich sind. Um diese Annahme zu belegen, berichtete sie von einer Frau, die nicht bereit war, ihrem Mann zu vergeben. Aufgrund ihrer mangelnden Bereitschaft zu vergeben habe die Pastorin dieser Frau nicht helfen und habe Gott sie nicht heilen können: »Wir hatten auch Fälle […] von einer Frau, […] und sie [die Pastorin] sagte ihr: ›Du musst deinem Mann vergeben.‹ Und sie sagte ihr: ›Das […] kann ich nicht.‹ […] Da sagte ihr die Pastorin: ›Okay, das ist deine Entscheidung und ich respektiere sie, aber ich kann nicht weiter für dich beten, denn du willst nicht vergeben. Da kann ich mich im Gebet für dich verausgaben, aber wenn in deinem Herzen keine Vergebung ist, kann ich nichts tun.‹«1 Die Notwendigkeit der Vergebung als Voraussetzung zur inneren Heilung wird im Kursbuch Nueva Vida en Cristo (Neues Leben in Christus) bestätigt, wenn es heißt, dass Menschen, die nicht vergeben, verbitterte Sklaven des Hasses und der Rachsucht werden.2 Im Kursbuch Renovada (Erneuert) wird die Überzeugung, dass die Heilung die Vergebung voraussetzt, durch persönliche Zeugnisse mehrerer Frauen belegt.3 Vergebung als Voraussetzung für eschatologisches Heil Nach verbreiteter Überzeugung besteht die soteriologische Konsequenz der Nichtvergebung darin, nach dem Tod nicht Gottes Vergebung zu empfangen. Einige Informantinnen berichteten, dass sie, um der möglichen Verdammnis zu entgehen, regelmäßig sich selbst auf bestehende emotionale Verletzungen und daraus resultierende negative Emotionen wie Groll, Hass oder Rachegedanken überprüften. Falls sie diese bei sich feststellten, bemühten sie sich, sie durch Vergebung des sie auslösenden Fehlverhaltens zu überwinden. Die im Folgenden zitierte Informantin erklärte die Vergebung für entscheidend für die Frage nach ewigem Leben oder ewigem Tod. Dies zeigt, dass die Bemühungen um die Vergebung durchaus auch durch die bedrohliche Perspektive der ewigen Verdammnis motiviert sind: »Der Herr befiehlt mir zu vergeben. Denn wenn ich nicht vergebe, ist es sehr ernst, weil mir nicht vergeben werden wird. Es geht um Leben und Tod. Entweder 1 2 3

Interview Nr. 58, 1.6.2015. Robinson 2001, 18. Sumner 2010, 57f.

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72

Gender und Heilung

ich vergebe und gehe mit dem Herrn, wenn der Herr mich ruft […] Ich kann nicht vor dem Herrn erscheinen, wenn ich niemandem vergeben habe.«4 Auch im Kursbuch Renovada (Erneuert) werden in einer Auslegung der Bibelpassage Matthäus 18,21-35 die verheerenden eschatologischen Konsequenzen der Nichtvergebung beschrieben.5 Während diese Argumentation neben der Bibelpassage Matthäus 18,21-35 auch den Passagen Matthäus 6,14f und Lukas 11,4 folgt, insofern hier Gottes Vergebung als von der zwischenmenschlichen Vergebung abhängig dargestellt wird, folgt die Argumentation anderer Informantinnen und des Sohnes einer Informantin eher den Passagen Epheser 4,32 und Kolosser 3,13, insofern hier zur zwischenmenschlichen Vergebung als dankbarer Antwort auf Gottes Vergebung aufgefordert wird. So begründete der Sohn seine Motivation zu vergeben mit dem Wunsch, auf Gottes Vergebung der eigenen Schuld angemessen zu reagieren, anstatt mit der Angst vor der bedrohlichen eschatologischen Perspektive: »Wenn Gott mir für alles, was ich tue, vergeben hat, warum sollte ich dann nicht meinem Vater vergeben? […] Gott hat mir vergeben, trotz all der Fehler, die man begeht. Also, wer bin ich, nicht zu vergeben?«6 Gottes Gerechtigkeit als Horizont der menschlichen Vergebung Dass der Glaube an Gottes Gerechtigkeit sich nicht nur auf ein jenseitiges, sondern auch auf ein diesseitiges Gericht bezieht, zeigt die Aussage einer Informantin, die der Kirche IJS angehörte und sagte, Gott werde wissen, wie mit Täterinnen und Tätern gerecht umzugehen sei. Gerade angesichts häufig unzureichender juristischer Aufarbeitung vertraue sie darauf, dass Gott noch im Diesseits für die angemessenen Strafen sorgen werde. So könne etwa ein tragisches Ereignis in der Familie eines Täters Gottes Strafe für dessen Tat sein. Die Überzeugung solch einer diesseitigen Gerechtigkeit scheint Opfern zu helfen, das eigene Bedürfnis nach Rache zu überwinden, insbesondere angesichts eines geringen Vertrauens in die staatliche Gerichtsbarkeit: »Es gibt eine menschliche Gerechtigkeit, […] die respektiert werden muss. Aber der einzige Richter ist Gott. Und ja, die Mörder erhalten oft nicht das, wovon wir denken, dass sie es erhalten sollten. […] Gott wird sie sich ansehen müssen. Ich kann mich nicht an etwas festklammern, sagen wir, wenn jemand jemanden tötet, wenn jemand jemanden vergewaltigt. Aus menschlicher Perspektive will

4 5 6

Interview Nr. 44, 7.5.2015. Vgl. Sumner 2010, 51. Interview Nr. 62, 5.6.2015.

1 Themen der Heilung

ich, dass er bezahlt. Ich will das vielleicht sehen, aber nur Gott wird es wissen. […] Es gibt Konsequenzen in seinem Leben, […] vielleicht in seiner Familie.«7 In den Kursbüchern Nueva Vida en Cristo (Neues Leben in Christus) und Renovada (Erneuert) wird das Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit als Grund für den eigenen Verzicht auf Strafforderungen genannt. Ob Gottes Strafen im Dies- oder im Jenseits zu erwarten sind, wird nicht expliziert.8 Vergebung als Konsequenz der Nächsten- und Feindesliebe Eine Informantin, die infolge persönlicher Konflikte wenige Monate zuvor die Kirche gewechselt hatte, sprach von Liebe für diejenigen, die sie verletzt hatten. Sie beschrieb diese Liebe als eine, die nicht auf Nähe abzielt, sondern in der Wahrnehmung der Person als Geschöpf Gottes besteht und zur Vergebung führt: »Ich entscheide, ihr zu vergeben, und ich [sage] jeden Tag: ›Herr, heute bringe ich dir den Pastor, ich bringe dir die Pastorin, ich bringe/‹ es war [noch] eine andere Familie […], ›und heute entscheiden wir, ihnen zu vergeben, und wir lieben sie.‹«9 Eine andere Informantin kombinierte das Doppelgebot der Liebe mit der Vergebungsforderung und schlussfolgerte, dass, wer dem Nächsten nicht vergibt, Gott nicht liebt: »Wie kannst du sagen, dass du Gott liebst, wenn du deinem Nächsten nicht vergibst, der hier in der Nähe ist?«10 Es ist zu vermuten, dass Überzeugungen wie diese zur relativen Homogenität des Vergebungsdiskurses beitragen, weil sie dazu führen, dass das Eingeständnis der Nichtvergebung als Ausdruck mangelnder Gottesliebe und mangelnden Gottesgehorsams interpretiert wird. Vergebung als Sieg über den Teufel Der Teufel fungiert als Erklärung, wenn Personen pentekostalen Ansprüchen nicht gerecht werden. Dass Fehlverhalten auf den Teufel zurückgeführt wird, erleichtert die Vergebung. So berichtete die Pastorin der Kirche CCBEDN, dass die Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrer Mutter eskalierten, als sie im Alter von 13 Jahren konvertierte und ihre Mutter mit psychischer und physischer Gewalt versuchte, ihr Engagement in ihrer neuen Kirche zu unterbinden. Als sie jedoch verstanden habe, dass nicht ihre Mutter ihr habe schaden wollen, sondern dass es der Teufel gewesen sei, der sie von Christus habe abbringen wollen, sei es ihr leicht gefallen, 7 8 9 10

Interview Nr. 33, 15.4.2015 Vgl. Robinson 2001, 19f; Sumner 2010, 53. Interview Nr. 37, 20.4.2015. Interview Nr. 44, 7.5.2015.

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ihrer Mutter zu vergeben. Weil die Einsicht, dass nicht Personen selbst Leid verantworteten, sondern der Teufel in ihnen wirke, die Vergebung erleichtere, gebe sie sie allen Personen weiter, die sie nun selbst als Pastorin im Heilungsprozess begleite: »Wenn man versteht, dass es nicht die Person ist, dass es Satan ist, der sich gegen uns erhebt, dass alles, was damals in meiner Mutter gewirkt hat, der Feind war, damit ich den Weg Christi nicht weiter verfolge – mir fiel es [die Vergebung] gar nicht schwer. […] Ich nahm an, dass alles der Feind war und Punkt. Und wenn jemand das so annimmt, dann ist es ganz einfach! Denn dann sieht man nicht die Person. […] Ich sage den Leuten: ›Wenn du nicht die Person ansiehst/ Die Bibel sagt, dass unser Kampf nicht gegen Fleisch und Blut ist, er ist gegen Heere, Fürstentümer und Gewalten.11 Wenn ich verstehe, dass jene Person […] es nicht ist, und ich sehe, dass es ein Dämon ist, dass es Satan durch sie ist, wenn ich es von Anfang an so sehe, muss ich der Person nicht einmal vergeben, denn mein Kampf ist nicht gegen sie. Sie werde ich immer lieben.‹«12 Während die Erklärung von Fehlverhalten durch das Wirken des Teufels die Vergebung erleichtert, gilt es gleichzeitig als Interesse des Teufels, diese zu verhindern. Die Frage nach Vergebung oder Nichtvergebung ist daher gleichbedeutend mit der Frage nach der Herrschaft Gottes oder des Teufels über das Leben eines Menschen. Die Nichtvergebung gilt ebenso wie destruktiv wirkende Emotionen wie Hass, Groll und Rachsucht als puerta espiritual (geistliches Einfallstor), durch das Dämonen Zugang zu allen Bereichen des Lebens einer Person erhalten, und damit als Sieg des Teufels. Die Vergebung hingegen bedeutet den Sieg über den Teufel, weil durch sie geistliche Einfallstore geschlossen und die Dämonen vertrieben würden. Für Menschen, die verletzt wurden, gilt die Frage nach Vergebung oder Nichtvergebung als entscheidend für das spirituelle Heil, denn »zum Beispiel bei einer Vergewaltigung kommen eine Menge Geister herein. Aber eine Menge!«13 Eine Informantin erklärte, dass sie infolge einer Vergewaltigung Hass, Groll und Rachsucht empfunden habe, die dem Teufel als Zugänge in ihr Leben gedient hätten. Infolge der Vergebung habe der Teufel hingegen keinen Anhaltspunkt und keine Möglichkeit der Einflussnahme mehr gehabt: »Die Vergewaltigung hatte Hass, Groll, Rachsucht hervorgerufen, also waren das die Zugänge, über die das dämonische Sein sich halten konnte. Im Moment des Vergebens, im Moment des Verzichts auf Rache, im Moment der Übergabe der 11 12 13

Vgl. den Bibelvers Epheser 6,12. Interview Nr. 45, 8.5.2015. Interview Nr. 73_2, 10.7.2015.

1 Themen der Heilung

Hoheit an Gott, die er in unserem Leben haben soll, damit er derjenige ist, der rächt, der richtet, damit er für uns spricht, dann bleibt kein Zugang, an dem der Feind sich festhalten kann.«14 Im Kursbuch Nueva Vida en Cristo (Neues Leben in Christus) wird mit Verweis auf die Bibelverse Epheser 4,26f und 2 Korinther 2,10f der Zorn als Zugang für den Teufel in das Leben der Menschen genannt, der diesem die Herrschaft darüber ermöglicht. Der Zorn sei zu überwinden, um den Teufel machtlos zu machen.15

1.1.2

Praxis der Vergebung

Reue als Voraussetzung der Vergebung Welche Bedeutung der Anerkennung von Schuld, der Reue und der Bitte um Vergebung seitens einer beschuldigten Person für die Vergebung zukommt, wird kontrovers beurteilt. Die Pastorin der Kirche MANAIA hielt die Vergebung ohne Reue für möglich, doch sie sei sehr viel schwerer zu vollbringen, als wenn Reue erkennbar sei. Um zu unterstützen, dass die beschuldigte Person um Vergebung bitte, praktiziere sie die Konfrontation zwischen den Konfliktparteien, weil sich infolge der Begegnung Emotionen und Verhaltensweisen der beschuldigten Person veränderten: »Wenn wir eine Verbindung herstellen können mit der Person, die Schaden angerichtet hat, dann ist es schön, denn dann zerbricht da etwas, dann gibt es ein face to face, Angesicht zu Angesicht, wir sehen uns an. […] Diese Phase […] heißt […] konfrontative Beratung. […] Nicht in allen Fällen ist das möglich, denn es gibt Menschen, die […] nicht um Vergebung bitten wollen, aber in der Mehrheit der Fälle ist es mir tatsächlich gelungen, dass der Täter kommt und ›Entschuldigung‹ sagt.«16 Eine Informantin beurteilte die Vergebung ohne erkennbare Reue aufgrund eigener Erfahrungen als schwer erreichbar. Sie gestand, wie schwer es ihr falle zu vergeben, weil ihr Mann zeitlebens keine Reue gezeigt habe: »Zu vergeben, wenn es keine Reue gibt, ist sehr schwer.«17 Im Unterschied zu diesen beiden Frauen bestanden andere Informantinnen darauf, dass die Reue der beschuldigten Person für die Vergebung irrelevant ist. Sie argumentierten, dass sie sich durch die Vergebung von dieser Person befreien. Wenn sie hingegen auf Reue angewiesen wären, um vergeben zu können, wären sie 14 15 16 17

Interview Nr. 76, 14.7.2015. Vgl. Robinson 2001, 18. Interview Nr. 61, 4.6.2015. Interview Nr. 43_1, 28.4.2015.

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abhängig von deren Verhalten und würden das Gegenteil der ersehnten Befreiung erreichen. Diese Überzeugung stimmt mit den Ausführungen in den Kursmaterialien überein. Dem Kursbuch Nueva Vida en Cristo (Neues Leben in Christus) zufolge ist eine schuldige Person zwar zur Reue und zur Bitte um Vergebung verpflichtet, doch die Vergebung durch die geschädigte Person ist hiervon nicht abhängig.18 Auch im Kursbuch Renovada (Erneuert) wird betont, dass die Reue die Vergebung nicht bedingen darf.19 Verständnis als Voraussetzung der Vergebung Eine Informantin, die dem CCCAJ angehörte, erzählte von einer Rüstzeit, während derer versucht wurde, Verständnis für den biographischen Hintergrund beschuldigter Personen zu ermöglichen, um den Vollzug der Vergebung zu fördern: »Als wir vor einem Jahr eine Rüstzeit hatten, […] [handelte sie von der] Vergebung vor allem. […] Es gab Rüstzeiten, bei denen wir schrecklich weinen mussten, […] aber es war auch schön, weil man gleichzeitig viel verstanden hat, viel gelernt, und dann lernt man auch, die Personen zu verstehen.«20 Die Annahmen, dass die Gründe für menschliches Fehlverhalten in schädigenden Kindheitserlebnissen bestehen und dass es Geschädigten hilft, dies zu verstehen, liegen der Praxis des Heilungsgebets, des Stellvertretungsgebets und des Theophostischen Gebetsdienstes zugrunde. So wurde im Rahmen der Ausbildung zum Theophostischen Gebetsdienst eine Filmsequenz verwendet, die eine Sitzung von dessen Gründer Edward Smith mit einem Klienten zeigt. Es ist zu beobachten, wie die beiden im Gespräch, von gegenwärtigen Emotionen ausgehend, über mit spezifischen Kindheitserinnerungen assoziierten Emotionen zur Vaterbeziehung des Klienten gelangen. Es wird gezeigt, dass es diesem gelingt, als seelisch verletzend empfundene Verhaltensweisen seines Vaters neu einzuordnen, indem er erkennt, dass dieser ihn nicht absichtlich verletzte, sondern dass dessen Verhalten wiederum durch seine eigenen Kindheitserfahrungen begründet war. Dieses Verständnis für den Hintergrund seines Vaters erleichterte es dem Klienten, ihm zu vergeben.21 Die Entscheidung als Voraussetzung der Vergebung Als noch wichtiger für das Gelingen der Vergebung als die beiden eben genannten Aspekte gilt die aktive Entscheidung einer verletzten Person zur Vergebung, weil es heißt, dass sie kein unverfügbares Gefühl ist. Jene Informantin, die infolge

18 19 20 21

Vgl. Robinson 2001, 19-21; Robinson 2005, 19. Vgl. Sumner 2010, 53. Interview Nr. 3, 10.3.2015. Vgl. Smith 2006.

1 Themen der Heilung

persönlicher Konflikte wenige Monate zuvor die Kirche gewechselt hatte, erklärte, dass es notwendig sei, die eigenen negativen Gefühle anzuerkennen und sich zur Vergebung zu entscheiden, damit Gott beginnen könne, diese Gefühle zu eliminieren und die Seele zu heilen. Ihr Vorbild sei Jesus, der Petrus‹ Verleugnung22 vergab und ihr auf diese Weise helfe, sich für die Vergebung derer zu entscheiden, die sie und ihre Familie verleugnet hätten. Sie verglich die Vergebung mit der Liebe, insofern bei beiden aus einer bewussten Entscheidung im Laufe der Zeit die entsprechenden Gefühle folgten: »Jeden Tag […] musst du sagen: ›Herr, heute vergebe ich ihnen‹, auch wenn du [es] nicht fühlst. Denn es ist nicht so, dass du sagst: ˛Fertig. Ich vergebe.‹ Nein, es ist jeden Tag, und es dauert eine Weile bis zu dem Moment, in dem du an sie denkst und es dir endlich nicht mehr weh tut. Also ist es ein Prozess. […] Jeden Tag in deinem Morgengebet, nimm sie dort hinein, und es wird ein Moment kommen, in dem du endlich sagst: ˛Schau an, das, was ich gefühlt habe, fühle ich nicht mehr.‹ So funktioniert die Vergebung. Fast drei Monate, und jeden Tag entscheiden wir zu vergeben, damit nichts bleibt. […] Es ist eine Entscheidung. Du kannst hören, was du willst, aber wenn du nicht entscheidest und anerkennst, dass du Verbitterung und Mangel an Vergebung hast/ […] [Wenn du] sagst: ›Ja, das ist in mir drin‹, dann fängt Gott an. Dann gibst du Gott die Erlaubnis, herauszuholen, was in dir ist, was nicht in Ordnung ist. […] Gott sagte mir […]: ›Und Petrus hat mich drei Mal verleugnet.‹ […] Also entscheide ich: ›Vergib! Wenn du Petrus vergeben hast, wer bin ich, dass ich nicht vergeben könnte?‹ […] Ich entscheide mich, dich zu lieben, […] dann beginne ich, schöne Dinge an dir zu entdecken, dann verstehe ich, dass du viele […] schöne Dinge in deinem Herzen hast, gute Verhaltensweisen. Es wächst und blüht. […] Mit der Vergebung ist es genauso.«23 Eine Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, berichtete, dass sie sich durch die Erkenntnis, dass die Vergebung kein unverfügbares Gefühl ist, sondern eine Entscheidung voraussetzt, befreit und ermächtigt fühlte. Sie habe ihre eigene Verantwortung erkannt, durch die Entscheidung zur Vergebung ihr Ergehen und ihr Leben zu gestalten. Sie habe sich nun nicht mehr als Opfer der Entscheidungen und Handlungen anderer wahrgenommen, sondern als eigenverantwortliche Akteurin: »Die Vergebung […] ist eine Entscheidung. […] Das habe ich durch die Bibellektüre, durch die Gebete und die Predigten und alles gelernt, ich habe es in der Kirche gelernt. Denn ich hätte niemals verspürt zu vergeben. […] Bis ich lernte,

22 23

Vgl. die Bibelpassagen Markus 14,66-72, Matthäus 26,69-75, Lukas 22,56-62 und Johannes 18,15-18.25-27. Interview Nr. 37, 20.4.2015.

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dass es meine eigene Entscheidung ist, es ist meine Entscheidung, mich zurückzuziehen oder gegen alle Widrigkeiten voranzukommen. Dadurch wurde mein Leben befreit.«24 Die Erfahrung, dass die bewusste Entscheidung zur Vergebung emotionale Befreiung bewirkt, trägt dazu bei, dass ein Selbstkonzept der Hilflosigkeit in ein Selbstkonzept der Selbstwirksamkeit und Kontrolle verwandelt wird. Vergegenwärtigung als Voraussetzung der Vergebung Es gilt als schmerzhafte, aber notwendige Voraussetzung, sich eine Verletzung zu vergegenwärtigen, um sie vergeben zu können. Um dies zu erklären, rekurrierte die Pastorin der Kirche MANAIA auf das Bild eines Dorns in der Hand, den sie mit den Folgen einer emotionalen Verletzung verglich. Die Entfernung des Dorns schmerze ebenso wie die Vergegenwärtigung einer emotionalen Verletzung, doch im Anschluss verschwinde der Schmerz: »Es ist so, wie wenn ich mir einen Dorn aus der Hand ziehe. Du hast einen Dorn drin, du holst ihn raus, und das tat dir weh. Aber es kommt ein Moment, in dem du ihn nicht mehr spürst.«25 Die Erfahrung, dass die Vergebung schmerzt, weil sie die Vergegenwärtigung der Verletzung voraussetzt, ließ eine Informantin die Vergebung mit dem Tod vergleichen: Vergeben »ist, als ob man selber stirbt. Denn manchmal gibt es Leute, die einem wirklich geschadet haben.«26 Die Vergebung Lebender Mehrere Informantinnen berichteten von einer Aussprache mit der Person, die ihnen Leid zugefügt hatte. Ihnen sei es wichtig gewesen, diese mit ihrem Fehlverhalten zu konfrontieren, aber auch selbst um Vergebung für mögliche, manchmal konkret benannte Fehler zu bitten. Der Überzeugung, man solle immer auch selbst um Vergebung bitten, liegt die Überzeugung der eigenen Fehlbarkeit infolge der sündhaften Konstitution des Menschen zugrunde. Es scheint, dass diese Überzeugung der Bereitschaft, das Fehlverhalten anderer zu vergeben, zuträglich ist. Diese Annahme vertrat auch eine Informantin, die der Kirche IJS angehörte und erzählte, dass sie als Kind von ihrem Vater sexuell und emotional misshandelt wurde. Obwohl sie zunächst bereits angenommen habe, ihm vergeben zu haben, sei sie immer wieder von negativen Emotionen überwältigt worden und habe

24 25 26

Interview Nr. 44, 7.5.2015. Interview Nr. 61, 4.6.2015. Interview Nr. 39, 23.4.2015.

1 Themen der Heilung

schließlich festgestellt, dass sie die Vergebung noch nicht vollbracht hatte. Gott habe ihr schließlich mitgeteilt, sie müsse ihren Vater besuchen. Als sie dieser Aufforderung nachgekommen sei, habe sie während der etwa vierstündigen Autofahrt mit ihrer Schwester so offen wie nie zuvor über die gemeinsame Vergangenheit gesprochen. Bereits dieses Gespräch habe zu ihrer Heilung beigetragen. Der Prozess des Vergebens sei schließlich durch die Begegnung mit dem Vater und die Mitteilung der Vergebung an ihn vollendet worden. Ihn um Vergebung zu bitten und sich selbst und ihm zu vergeben, ohne auf die nicht erfolgte Vergebungsbitte oder Reue ihres Vaters angewiesen zu sein, habe ihr ein Gefühl des Befreit- und Geheiltseins vermittelt. Der im Folgenden zitierte Bericht zeigt aber auch, dass die Perspektive, angesichts mangelnder Vergebung selbst keine Vergebung von Gott zu empfangen, sie ängstigte und auf diese Weise ihre Vergebungsmotivation und ihre Bemühungen zu vergeben förderte: »Gott ermöglichte es mir, [dorthin] zu gehen und er war es, der mich schickte, meinem Vater zu vergeben. Nach vielen Jahren musste ich gehen und ihn von Angesicht zu Angesicht sehen. Und ihm sagen: ›Papa, ich vergebe dir.‹ […] Wir vergaben ihm, aber mein Vater akzeptierte nie, was er getan hatte. […] Ich vergab mir selbst und ich vergab ihm. Was ihn selbst angeht, damit hatte ich nichts mehr zu tun. Das war seins. […] Als ich im Herrn beginne, […] beginnt das Wort Gottes zu mir zu sprechen. […] Eines Tages, als ich das Wort lese, dass der Herr sagt: ›Wenn du nicht vergibst, vergebe ich dir nicht,‹ […] beginne ich Albträume zu haben. […] Aber ich wusste, dass Gott in mir arbeitete, dass das, was Gott mir zeigen wollte, war, dass ich frei davon würde. […] Also beginne ich zu beten: ›Herr, ich will meinem Vater vergeben, […] lehre es mich, und danke, […] dass ich ihm vergeben habe.‹ Ich sprach das Gebet und vergab ihm und bin sehr frei, weil ich ihm vergeben habe. Aber die Albträume kehrten zurück. […] Eines Tages […] kam eine venezolanische […] Prophetin […] Sie begann dort zu sprechen und zu beten und die ganze Sache. Und plötzlich fühlte ich, dass ich zusammenbrechen würde. […] Sie kam und begann für mich zu beten. Sie sagte mir: ›Du musst deinem Vater vergeben, vergib deinem Vater und sprich dieses Gebet, im Namen Jesu vergibst du deinem Vater.‹ […] Sie sagte mir alles, was niemand wusste. […] Ich spreche das Gebet mit ihr. Dass ich ihm wirklich vergeben will, ich befreie mich, ich befreie ihn. […] Ich dachte, ich hätte das vollendet. Ich sagte: ›Es ist gut, ich habe es gemacht.‹ Dachte ich. Aber Gott hat andere Wege. Denn es gibt einfache Vergebung und nicht [einfache Vergebung]. […] Eines Nachts träume ich, ich wache auf und spüre Hass. […] Ich ging zur Kirche […] Ich ging zum Altar. Und ich begann zu weinen. Ich sagte: ›Herr, was ist los? Ich fühle Hass auf meinen Vater und ich hatte dich gebeten, dass ich ihm vergebe. Hilf mir!‹ […] Ein […] Junge […] kommt und stellt sich hin: ›Magdalena, der Herr sagt dir, dass du hingehst und ihm vergibst. […] Auf dem Weg wirst du bemerken, dass er große Dinge tun wird.‹

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Und ich sagte ihm: ›Herr, ich will ihm nicht in die Augen schauen.‹ […] Er sagte mir: ›Und wenn du ihm in die Augen schaust, wirst du bemerken, was ich getan habe.‹ […] Mein Vater wohnte in Guanacaste. […] Ich musste [dahin] fahren. […] Das Auto, das wir hatten, war ein Pickup, […] also fuhren meine Schwester und ich hinten mit, wir konnten über alles reden. Also war es das, was Gott gemacht hatte. […] Seitdem wir dort losgefahren waren, […] begannen wir zu sprechen, […] Sachen herauszuholen, die uns verletzt hatten, Sachen, die sie nicht von mir wusste, was ich erlebt hatte. […] Gott heilte uns schon auf dem Weg. […] Als wir es bemerken, kommen wir gerade in Tilarán an. […] Papa […] erwartete uns im Park. […] Wir sind beide hin, er ist da, ich kam an, begrüßte ihn normal. Ich sah ihn und fühlte nichts. Ich fühlte keinen Hass […] Er war ohne Brille, mein Vater benutzte immer […] dunkle Brillen. Ich sah seine Augen und fühlte nichts. Ich fühlte keinen Hass, ich fühlte keine Angst, ich fühlte nichts. […] Ich sagte ihm: ›Wir sind hier, weil wir mit dir reden müssen. Weil Gott uns geschickt hat. Ich will dich um Vergebung bitten und […] ich komme, um dir zu vergeben.‹ […] Als ich seine Augen sah, spürte ich, dass ich frei war. Was Gott mir sagen wollte, dass, wenn du seine Augen siehst, du merken wirst, was ich getan habe. Er hat mich befreit. Meine Schwester auch.«27 Eine Informantin, die der Kirche IM angehörte, erzählte, wie wichtig es ihr war, ihrem Vater mitzuteilen, dass sie ihm seine Geringschätzung vergeben hatte, und ihn selbst um Vergebung für den eigenen Groll zu bitten, bevor er starb. Sie differenzierte zwischen dem akuten Gefühl, vergeben zu haben, das sich in der konkreten Situation der Mitteilung der Vergebung an ihn einstellte, und einem grundsätzlichen Gefühl, durch Vergebung von Groll infolge emotionaler Verletzungen befreit zu sein. Letzteres habe sie zu einem späteren Zeitpunkt während einer Rüstzeit erreicht: »Meine Mutter trennte sich, als sie schwanger war, deshalb sagt er, ich sei nicht von ihm, deshalb war ich sehr wütend auf ihn. […] Ich ging [zum Krankenhaus]. […] Er konnte nicht sprechen. […] Als ich ging, […] hegte ich viel Groll gegen ihn, denn […] er behandelte mich sehr abschätzig. […] Ich war 16 Jahre alt, als er starb. […] Ich sagte ihm, dass […] er mir vergeben möge, weil ich so wütend auf ihn war. Dass ich nicht wollte, dass er denkt, dass ich ihn nicht liebte, denn ich liebte ihn immer, trotz allem. […] Dass er beruhigt gehen könnte, […] dass ich ihm vergab. […] Er weinte. […] Ich nahm seine Hand und er drückte sie so. Bestimmt verabschiedet er sich. Am nächsten Tag ist er gestorben. […] Seitdem bin ich nicht mehr wütend auf ihn. […] Bei einem der Seminare, […] wurde die Befreiung, die ich fühlte, noch stärker. […] Denn es war noch da. […] Das war wie der nächste Schritt, den ich gehen musste, nachdem er gestorben war. Und natürlich ist es nicht von heute 27

Interview Nr. 42, 27.4.2015.

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auf morgen, dass man einfach so vergibt. Aber ja, in dem Moment schon, ich sagte ihm, dass ich ihm vergab und alles und dass er beruhigt gehen könnte. […] Ich: Warum soll ich dahin gehen, wenn er […] mich sowieso nicht liebt? Dabei bin ich die, die ihm am Ähnlichsten sieht, und er sagt, ich sei nicht von ihm. […] Als er mir die Hand gab und ich ihm das sagte, als er weinte, da weiß ich, dass es eine […] gegenseitige Vergebung war. […] Nachdem mein Vater gestorben war und alles, nach einiger Zeit, ich weiß nicht, bei welcher [Rüstzeit] es war, dort fühlte ich eine noch stärkere Befreiung. […] Ich hatte es entschieden, aber an dem Tag gab ich alles ab. Ich fühlte eine gewisse Last und […] gab alles ab. […] Ich fühlte mich leichter. Natürlich weint man. […] Das befreit wirklich sehr. Man fühlt Frieden.«28 Anders als die beiden zuletzt zitierten Informantinnen strebte jene, die sich bemühte, den Angehörigen der aufgrund persönlicher Konflikte verlassenen Kirche zu vergeben, keine Aussprache an. Möglicherweise ist dies mit der geringen verstrichenen Zeitdauer seit den Auseinandersetzungen zu begründen. Sie erzählte, dass sie Gott täglich um seine Unterstützung in ihren Vergebungsbemühungen bat, indem sie ihm ihre Entscheidung zu vergeben mitteilte. Sie ersehne den Tag, an dem die Gedanken an die betroffenen Personen und an mögliche Begegnungen mit ihnen sie nicht mehr schmerzen würden und habe Gott gebeten, dass er sie vor einer Begegnung bewahren möge, bis der Vergebungsprozess abgeschlossen sei. Auch für diese Informantin hing die Vergebung mit einem Eingeständnis eigener Schuld und einer Bitte um Vergebung zusammen, allerdings zum damaligen Zeitpunkt nicht gegenüber der anderen Konfliktpartei, sondern gegenüber Gott: »Wenn ich ihnen auf der Straße begegne/ ja, noch bitte ich Gott, mir Zeit zu lassen. Dass ich sie noch nicht treffe […] damit ich das noch etwas länger verarbeiten kann. […] Denn wenn sie sich von mir wegdreht, tut es mir vielleicht weh. […] Ich muss mich auf all das vorbereiten. Also sagte ich Gott – und Gott ist sehr […] zuvorkommend in diesen Dingen – ich sage: ›Herr, lass sie mich noch nicht treffen. Bis du siehst, dass ich darauf vorbereitet bin, zu grüßen, oder dass sie den Gruß vielleicht nicht erwidern.‹ […] Wir fangen an, um Vergebung zu bitten, und das zu vergeben, was sie uns angetan haben. […] Wir beten: […] ›Herr, vergib ihnen, erbarme dich der Pastoren, der Kirchenleitenden.‹ […] Wir lassen nicht zu, dass das unser Herz erreicht, sondern wir beginnen zu beten und zu vergeben.«29 Die Vergebung Verstorbener Ebenso wie die Informantinnen, die von dem Bedürfnis sprachen, ihre Vergebung den Beschuldigten mitzuteilen, sprachen auch Informantinnen über dieses Be28 29

Interview Nr. 48, 13.5.2015. Interview Nr. 37_1, 20.4.2015.

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dürfnis, deren Beschuldigte bereits verstorben waren. Die im Folgenden zitierte Informantin berichtete, dass, als sie wegen einer postnatalen Depression ihren Pastor zwecks Beratung aufgesucht habe, die Frage der Vergebung ihres verstorbenen Onkels, der sie in ihrer Kindheit sexuell misshandelt habe, virulent geworden sei. Diesem Onkel schließlich ihre Vergebung mitzuteilen, war die Voraussetzung für ihre emotionale Befreiung. Das Problem, nicht persönlich mit ihm sprechen zu können, löste sie, indem sie Gott im Gebet als Vermittler bat, die Nachricht an den Verstorbenen weiterzuleiten: »In meiner Kindheit [gab es] viel Not. […] Die Tante, die für mich sorgte, ihr Mann […] missbrauchte mich. […] Das tat mir weh. […] Dieser […] Mann, der mein Onkel war, den ich Papa nannte, er begrapschte mich. Und das war eine lange Zeit. Und ich [hatte] Angst, ich konnte nichts sagen. […] Mein Selbstwertgefühl wurde so sehr beschädigt. […] Ich sagte, ich hätte diesem Mann vergeben, aber nein. […] Als ich ihn im Krankenhaus besuchte, […] freute ich mich so sehr, ihn so zu sehen, wie er war, überall Schläuche, und in meinem Kopf sagte ich: ›Verdammter Alter. So musstest du aussehen, weil du so schlecht zu mir warst.‹ [Da war ich] schon verheiratet und Christin, nicht wahr. […] Man durchläuft einen Prozess. Aber als ich es später […] [dem Pastor] erzählte, eines Tages, weil ich eine postnatale Depression hatte, und deshalb holte ich mir einen Termin, da also war es, wo der Heilige Geist es herausholte und ich [es] ihm erzählte. […] Dann sagte er […] mir, ich sollte ihm vergeben, dass mir das helfen würde. […] Ich entschied tatsächlich, ihm zu vergeben. Und Gott sei Dank konnte Gott so ein großes Werk an mir wirken. […] Danach sagte ich ihm: ›Vater, […] ich weiß nicht, wo dieser Mann ist, aber du weißt, wo du ihn hast. Sag ihm, dass ich ihm alles vergebe, was er mir angetan hat.‹ Und fertig. Ich hatte mich endlich befreit.«30 Eine Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, berichtete, dass sie von ihrer Beraterin im Heilungsgebet angeleitet wurde, ihrem verstorbenen Vater zu vergeben. Im Unterschied zur eben zitierten Informantin sprach sie nicht Gott als Vermittler, sondern ihren Vater direkt an, teilte ihm ihre Vergebung mit und forderte ihn auf, sie um Vergebung zu bitten und ihr zu vergeben: »Sogar meinem Vater schaffte ich es zu vergeben, als er schon tot war. In einem dieser Heilungsgebete, […] sagte diese Schwester in Christus zu mir: ›Du musst deinem Vater vergeben‹, und wir machten ein Gebet, um zu vergeben. Ihm zu sagen: ›Papa, im Namen Jesu vergebe ich dir von ganzem Herzen alles, was du mit mir gemacht hast‹, denn es waren viele schlechte […] Sachen. […] Ich sagte ihm: ›Papa, ich weiß nicht, wo du bist, aber Gott hat dich irgendwo. […] Ich will

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Interview Nr. 29, 9.4.2015.

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dir von ganzem Herzen vergeben, aber ich will auch, dass/‹ Gegenseitig, dass ich ihm vergebe und er mir vergibt. Dass er mich um Vergebung bittet.«31 Schmerzfreies Erinnern als Folge der Vergebung Mehrere Informantinnen formulierten, dass vergeben nicht zum Vergessen, sondern zu schmerzfreiem Erinnern führt. So erklärte die Pastorin der Kirche MIB: »Wie wenn man etwas festhält […] und wenn die Vergebung kommt, ist es, wie wenn man es loslässt. […] Ich erinnerte die Sachen, aber ohne Schmerz. Jedes Mal, wenn jemand von einer Vergewaltigung gesprochen hatte, weinte ich, hatte ich Angst, etwas Schreckliches ergriff mich. […] Aber als ich vergab, erinnerte ich die Sachen, aber vielmehr um Gott zu loben, vielmehr um zu sagen: ›Schau an, was Gott in meinem Leben gemacht hat.‹«32 Um die Transformation von der schmerzhaften zur schmerzfreien Erinnerung zu erklären, verwendete die Pastorin der Kirche MANAIA das Bild einer Wunde, die nach der Heilung als Narbe sichtbar bleibe, jedoch keine Schmerzen mehr verursache: »Vergeben bedeutet nicht vergessen. Du kannst ohne Schmerz erinnern, […] wie eine Narbe. Du schneidest dir in die Hand und wenn du die Wunde pflegst, damit sie sich nicht entzündet/ denn der […] Prozess des Schmerzes beginnt mit der Wunde. […] Erinnerungen gibt es, natürlich, aber es tut nicht mehr weh.«33 Diese Überzeugung findet sich auch im Kursbuch Renovada (Erneuert).34 Im Unterschied dazu heißt es im Kursbuch Nueva Vida en Cristo (Neues Leben in Christus), dass die Erinnerungen durch die Vergebung zwar nicht sofort, nach einiger Zeit aber schließlich doch verschwinden.35 Nichtvergebung Einige Informantinnen gestanden, dass sie sich bemühten zu vergeben, weil sie um die seelische und spirituelle Bedeutung der Vergebung wüssten, aber dass es ihnen nicht gelänge. Eine Informantin, die seit vielen Jahren der Kirche CCVN angehörte, berichtete, dass ihr Ehemann ihr bis zu seinem Tod psychische und physische Gewalt angetan hatte und dass ihr Vater ihre Familie verlassen hatte, als sie und ihre Geschwister klein waren. Über die dadurch verursachten emotionalen Verletzungen habe sie in Beratungssitzungen und in anderen Kontexten gesprochen, aber

31 32 33 34 35

Interview Nr. 63, 15.6.2015. Interview Nr. 65, 16.6.2015. Interview Nr. 61, 4.6.2015. Vgl. Sumner 2010, 52. Vgl. Camacho/Salas Murillo 2001; Robinson 2001, 18.

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es sei ihr nicht gelungen zu vergeben. Ihre ambivalenten Äußerungen zeigen, dass es sie belastete, der Vergebungsforderung nicht gerecht zu werden: »[Vergeben] ist sehr wichtig. […] Es fiel mir schwer. […] Es ist schwer. […] Mit der Pastorin habe ich es gemacht. […] Sie haben mir eine innere Heilung gemacht […] Aber es ist wirklich sehr schwer […] bis man es schafft, […] ohne Schmerz zu erinnern […] Aber […] im Lauf der Zeit, wenn man sich mehr mit Gott beschäftigt, lesen, Zeugnisse hören, den Pastor anhören, all das hilft einem, dass die Wunden heilen, denn es ist sehr schwer. […] Mit meiner Freundin Patricia, dieser Pastorin, ich habe viel Vertrauen zu ihr, zu ihr und der Freundin, die prophezeit, ihnen vertraue ich sehr. […] Es dauerte lange, bis ich es geschafft habe. […] Es ist sehr schwer, es ist sehr schwer. […] Es war sehr hart. Ich erinnere mich, dass [mein Vater] uns verließ. Und ich habe einen Bruder, der mittlere, der hat eine Behinderung, und meine Mutter zu verlassen, mit Kindern, drei kleine Kinder, das war sehr schwer. […] Es fällt mir immer noch schwer, wenn ich mich erinnere. […] Es ist leicht, zu reden, aber was man in Wahrheit fühlt […]«36 Die Leiterin der Frauengruppe Tardes Creativas (Kreative Nachmittage) der Kirche CCVN berichtete, dass sie anderen Frauen im Vergebungsprozess hilft, indem sie ihre eigene Geschichte von der Vergebung des Ehebruchs ihres Mannes erzählt. Aus ihrer Perspektive liegt die seelische Heilung der Frauen in deren eigener Verantwortung, denn Gott helfe nur dann, wenn man es zulasse, indem man vergebe. Ihre im Folgenden zitierte Aussage zeigt, dass die Notwendigkeit der Vergebung zwar allgemein anerkannt ist, ihre Durchführung aber nicht allen Frauen gelingt. Es ist anzunehmen, dass diese Frauen zusätzlich zu dem durch die seelische Verletzung ausgelösten Schmerz auch unter der Perspektive, die innere Heilung und das eschatologische Heil zu verwirken, sowie unter möglichen sozialen Konsequenzen des vermeintlich mangelnden Gottesgehorsams leiden: »Ich habe oft mein Beispiel vom Ehebruch meines Mannes erzählt, […] wenn ich eine andere Frau beriet und ihr sagte, dass es möglich ist [zu vergeben]. […] Es gibt Frauen, die […] haben gesagt: ›Ich kann es nicht vergeben. Ich habe es versucht, aber […] ich kann nicht.‹ Die lassen das nicht los. Sie wollen weiter in der Vergangenheit leben. […] Der Herr ist ein Gentleman. Wenn wir es ihm erlauben, macht er es. Aber wenn wir es ihm nicht erlauben, hält er sich zurück wie ein Gentleman.«37 Eine Informantin, die vermutete, dass ihr Mann sie mit anderen Frauen betrog, kritisierte den unbedingten Vergebungsanspruch, weil sie meinte, dass die Vergebung Frauen wehrlos mache und dazu führe, dass sie sich ausnutzen ließen. Ihrem 36 37

Interview Nr. 43_1, 28.4.2015. Interview Nr. 28, 8.4.2015.

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Mann zu vergeben, erschien ihr als Zeichen von Schwäche. Eine Beraterin der Kirche CCVN habe hingegen ihr gegenüber die Position vertreten, dass die Vergebung ein Zeichen von Stärke gegenüber dem Teufel, sie aber schwach sei: »Ich weiß, dass man 70 mal sieben Mal vergeben soll, aber wenn ein Ehemann einem das schon drei oder vier Mal angetan hat, nicht mehr, denn das wird zur Gewohnheit. […] Und man selbst als Frau [ist] immer die Dumme, man muss immer vergeben. […] Ich habe Sandra [d.i. die Beraterin] schon gesagt, dass [ich] nicht [mehr vergebe]. Dass an dem Tag, an dem er mir noch etwas antut/ ich nicht mehr. ›Nein, Juana, denk nicht daran, lass uns weiter zum Vater beten‹, sagt sie mir. ›Der Feind hält dich fest, weil du sehr schwach bist.‹ […] Ich bin sehr schwach. Deshalb greift mich der Feind mehr an als ihn. […] Meinem Mann habe ich vergeben. Aber es war keine ehrliche Vergebung, […] sondern nur so gesagt. Denn man lebt noch mit diesem Unmut über das, was er getan hat. Man lebt noch mit diesem Misstrauen.«38 Das Selbstkonzept dieser Informantin wurde neben der emotionalen Verletzung durch die vermutete Promiskuität ihres Mannes zusätzlich durch die Interpretation belastet, dass ihre Nichtvergebung Zeichen ihrer Schwäche gegenüber dem Teufel sei, auch wenn sie dieser Interpretation ihre eigene Interpretation entgegenzusetzen versuchte, die Vergebung sei ein Zeichen der Schwäche gegenüber ihrem Mann.

1.1.3

Handlungsoptionen über die Vergebung hinaus

Mit speziellen Herausforderungen ist die Vergebung von Fehlverhalten verbunden, das eine gegenwärtige Bedrohung darstellt. Zwar existiert im Fall gegenwärtig drohender Misshandlungen die Option der Trennung oder Scheidung, um sich aus der Gefahr weiterer körperlicher oder seelischer Verletzungen zu befreien, aber sie geht mit erheblichen emotionalen, sozialen und materiellen Konsequenzen für die Frauen einher. In diesem Dilemma zwischen emotional, sozial und materiell bedingten Abhängigkeiten einerseits und der Gefahr weiterer körperlicher und seelischer Verletzungen bis hin zur Lebensgefahr andererseits werden Frauen in pentekostalen Kirchen und Gemeinschaften immer auch mit der Notwendigkeit der Vergebung konfrontiert. Über die Vergebung hinaus wird Frauen hier dennoch zu verschiedenen Handlungsoptionen geraten, zwischen denen sie unter Einsatz der Bibel und ihres Verstandes und unterstützt durch Pastorinnen, Pastoren und Beraterinnen abwägen müssen, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

38

Interview Nr. 30, 10.4.2015.

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Gender und Heilung

Unterordnung und spirituelle Autorität Ausführliche Darstellungen von Ehebeziehungen und deren Entwicklung stehen der Verfasserin lediglich von Informantinnen zur Verfügung, die der Kirche CCVN angehörten. Dass der Diskurs in anderen pentekostalen Kirchen und Gemeinschaften Alajuelas ähnlich war, lässt sich aufgrund weniger ausführlicher Äußerungen von Informantinnen anderer Kirchenzugehörigkeit vermuten. Eine Informantin, die als Musikerin und Sängerin im evangelisch-pentekostalen Kontext überregional bekannt war, berichtete von ihrer über Jahre hinweg durch Gewalt und Alkoholmissbrauch belasteten Ehe mit einem no cristiano (Nichtchristen). Sie verstand seine gegen sie gerichtete Gewalt und seinen Alkoholmissbrauch als Strafe Gottes für ihren Ungehorsam, weil sie es als Verstoß gegen Gottes Willen interpretierte, einen no cristiano (Nichtchristen) geheiratet zu haben. Dass er sich eines Tages bekehrt und sein Leben verändert habe, so dass sie nun eine glückliche Ehe führten, führte sie darauf zurück, dass sie Dämonen ausgetrieben und ein tadelloses Zeugnis gegeben habe, indem sie ihren Pflichten gegenüber Gott, dem Mann und den Kindern entsprochen habe. So habe sie sich ihm in wichtigen Entscheidungen untergeordnet und etwa um Erlaubnis für den Kirchenbesuch gebeten. Gleichzeitig habe sie aufgrund ihres Wissens um ihren Wert und ihre Autorität als Tochter Gottes Respekt eingefordert und Übergriffe zunehmend nicht geduldet, sondern im Namen Jesu zurückgewiesen: »Ich war immer sehr unterwürfig. Er war nicht bekehrt, er kannte Christus nicht. […] Ich habe mich ihm untergeordnet, […] wie jede christliche Frau. […] Als ich diese Person heiratete, die nichts mit Gott zu tun haben wollte, […] wusste ich, dass das nicht in Ordnung war, denn von Gottes Wort wusste ich irgendwie, dass ich keine Gemeinschaft mit ihm hatte […] Ich war 19 Jahre alt, und […] er war Alkoholiker gewesen, schon mit 19 Jahren. […] Für ihn gab es ganz normale Sachen, die ich als Sünde bezeichnete. […] Es begann […] ein viele Jahre dauernder Alkoholismus. Also, in der ganzen Zeit versuchte ich, ihm Zeugnis zu geben, ich versuchte, ihm von Christus zu erzählen […] Im Wort Gottes heißt es, dass man mit seinem Zeugnis seinen Ehemann gewinnen kann. […] Es war eine sehr schwierige Zeit, aber Gott sei Dank, durch seine Barmherzigkeit, kam mein Mann zu den Füßen des Herrn. Jetzt ist es natürlich ganz anders, jetzt dient er zusammen mit mir, er ist es, der für mich die Tontechnik macht. […] Ich erlaubte nicht mehr, dass er die Hand gegen mich erhob, dass er mich schlug, also, ich erlaubte nicht, dass er die Stimme gegen mich erhob. Ich sagte ihm: ›Im Namen Jesu, ich bin eine Tochter Gottes, und du respektierst mich.‹ Dann wurde er manchmal wütend, manchmal ging er einfach weg. Wenn er sehr betrunken war, begann ich für ihn zu beten […] und alle Geister des Alkoholismus und alles […] fortzujagen. Ich begann dann, auf eine andere Weise zu kämpfen, weil ich mehr [darüber] lernte, nicht wahr, und weil der Herr mich befähigte. Das war also eine harte Zeit, sehr schwierig,

1 Themen der Heilung

mit meinen Kindern. […] Aber ich lobe den Herrn, denn jetzt sind es wunderbare Zeiten. […] Durch das Zeugnis, das ich ihm gab, konnte er zum Herrn gelangen. Er wollte [zum Herrn] kommen, aber das Laster hatte ihn wie gefangen. Aber er hat immer gesagt, dass ich ihm immer ein gutes Zeugnis gegeben habe. Ich habe ihn nie schlecht behandelt, ich habe ihm nie schlechte Worte gesagt. Er hat mich immer mit meinen Kindern in der Kirche gesehen, […] dieses Zeugnis hat [ihn] ziemlich beeinflusst.«39 Die zitierte Informantin verfolgte eine doppelte Strategie im Verhalten gegenüber ihrem Mann, indem sie sich ihm in wichtigen Entscheidungen unterordnete, für eigene Aktivitäten um Erlaubnis bat und sich bemühte, alle Pflichten als Ehefrau und Mutter zu erfüllen, und sich gleichzeitig durch die Berufung auf ihre spirituelle Autorität gegen Angriffe verteidigte und in Kampfgebeten Dämonen austrieb. Eine andere Informantin teilte einige Erfahrungen der eben zitierten, erlebte einiges aber auch anders. Auch ihr Mann konsumierte Alkohol missbräuchlich, war gewalttätig und eifersüchtig auf ihre aushäusigen Tätigkeiten, die zunächst im Studium, dann in der Berufstätigkeit als Grundschullehrerin und schließlich auch in kirchlichen Aktivitäten bestanden. Auch sie trennte sich nicht von ihrem Mann und erklärte den Teufel zum Urheber seines Verhaltens. Auch ihre Situation hatte sich schon Jahre vor dem Gespräch, aus dem im Folgenden zitiert wird, erheblich verbessert, allerdings nicht, weil ihr Mann konvertiert, sondern weil er an Parkinson erkrankt war und sich sein Verhalten infolge seines Angewiesenseins auf ihre Unterstützung verändert hatte. Auch sie verfolgte die doppelte Strategie aus Unterordnung und spiritueller Autorität, die sich im Detail jedoch von der der eben zitierten Informantin unterschied. Ihre spirituelle Autorität habe sie ähnlich wie die eben zitierte Informantin genutzt, um körperliche Übergriffe abzuwehren. Doch ihre Unterordnung bestand weniger darin, dass sie ihren Mann um Erlaubnis bat, sondern vielmehr darin, dass sie versuchte, ihre Interessen möglichst unauffällig und konfliktfrei durchzusetzen. So habe sie sich darum bemüht, dass er von ihrem Studium möglichst wenig bemerkte. Ihre Berufstätigkeit habe den Mann sehr provoziert, da sie sie nicht habe verheimlichen können. Bezüglich ihres Glaubens habe sie versucht, einen Weg zu finden, der für ihren Mann möglichst gut zu ertragen gewesen sei. So habe sie ihre Töchter begleitet, die bereits die Kirche CCVN besucht hätten, weil sie angenommen habe, dass es ihrem Mann Sicherheit gegeben habe zu wissen, dass sie nicht alleine, sondern mit den Töchtern zur Kirche gegangen sei. Die Bibel habe sie stets heimlich gelesen. Dennoch habe sie seinen Widerstand gegen ihre religiösen Aktivitäten als so Kräfte zehrend empfunden, dass sie manchmal überlegt habe, darauf zu verzichten. Ihr Studium und ihren Beruf hingegen habe sie trotz seines Widerstandes nie erwogen aufzugeben, weil

39

Interview Nr. 8, 18.3.2015.

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Gender und Heilung

sie erstens beides als erfüllend empfunden und zweitens für notwendig gehalten habe, um die Familie finanziell abzusichern. Die Parkinsonerkrankung ihres Mannes interpretierte sie als Gebetserhörung, insofern Gott durch die Erkrankung die Wirkmöglichkeiten der Dämonen in ihm begrenzt habe, so dass er sein Verhalten ihr gegenüber grundlegend verändert habe: »Mit 17 Jahren habe ich geheiratet. […] [Im Alter] von 17 Jahren bis 33 Jahre, als ich den Herrn kennenlernte, erlebte ich eine sehr schwere Zeit in meinem Leben. Ich musste viele Hürden nehmen, um zu studieren. Nicht [aus] wirtschaftlich[en Gründen], sondern gegen den Willen meines Mannes. Ich war auf einer Schule, die Grundschullehrer ausbildet, und studierte [dort], aber es war eine sehr schwierige Zeit. Ich habe in meiner Freizeit studiert, aber wenn mein Mann kam, musste ich die Hefte verstecken. […] Er kam aus einer sehr gewalttätigen Familie. Und das wirkte sich in meinem Leben aus. […] Ich begann dann zu arbeiten, und dann wurde das Problem noch schlimmer, denn die Aggressionen wurden stärker. Er […] trank Alkohol, also kamen noch andere Sachen dazu. Es waren zwanzig sehr schwierige Jahre. […] Meine Töchter, die schon jugendlich waren, hatten Freundinnen gefunden, die zum CCVN gehörten. […] Also dachte ich, damit mein Mann nicht wütend wird, ging ich besser mit meinen Töchtern, denn das würde ihm etwas Sicherheit geben. […] Da also wir drei […] gingen, wurde das Problem etwas kleiner, es war immer noch viel Verfolgung und alles, wie das Wort sagt, dass die ersten Feinde die aus deinem Haus sein werden,40 nicht wahr. Ich blieb also gegen Wind und Wetter dort, aber es war immer noch eine sehr schwierige Situation. Der Teufel war rasend. […] Ich konnte in meinem Haus nicht die Bibel lesen. Ich konnte in meinem Haus keine christliche Musik anstellen. […] Ich begann, seltsame Methoden anzuwenden, ich versteckte mich im Schrank, mit einer Kerze las ich die Bibel. Gut versteckt vor meinem Mann. […] Und danach, im Lauf der Zeit, wurde die Verfolgung weniger, ich hatte schon ein bisschen Freiheit, um mit meinen Töchtern zur Kirche zu gehen. […] Mein Mann […] überwachte sehr genau, was ich machte. Das war sehr sehr schwierig, eine Zeit, in der ich oft, sagen wir, das Handtuch werfen wollte, ich gehe besser zu nichts, […] damit ich nicht verfolgt oder misshandelt werde und so. Aber in Wahrheit ist es so, dass, wenn der Herr in einem ist, er einem die Kraft und die Stärke gibt, und dann endlich, es ist ungefähr 15 Jahre oder 16 Jahre her, erkrankte er an Parkinson. […] Die Verfolgung hörte völlig auf. […] Die Situation hat sich völlig verändert. Seit der Krankheit/ Ich habe es in meinem Leben als Antwort Gottes empfunden, denn ich sagte dem Herrn: ›Ach, Herr, lass irgendetwas zu.‹ Ich weiß nicht, ob Gott die Krankheit erlaubt hat, um seine Aggression zu verringern, seine Gewalt […], also sagen wir, obwohl er heutzutage nicht mehr zur Kirche geht und nichts, er glaubt

40

Vgl. den Bibelvers Matthäus 10,36.

1 Themen der Heilung

stark und er fragt und er hört Enlace [d.i. ein evangelischer Radiosender] und er hört die Lieder und man sieht, dass es eine sehr andere Haltung gibt. […] Also, er hat mir erlaubt, ich kann zur Kirche gehen, ich kann teilnehmen […] Die Situation blieb viele Jahre gleich, ohne sich zu verändern. Aber die, die sich veränderte, war ich. Also, Gott begann mein Leben hinsichtlich der Gewalt sehr zu unterstützen. Es fing so an, dass mein Mann [mir] entgegentrat, und etwas passierte und er […] konnte es nicht machen, es gab diese Macht des Herrn, […] Schutz, […] Unterstützung für mein Leben. Also, […] vor allem, bei ihm änderte sich die Situation nicht, aber sie veränderte sich in mir, in dem Sinn, dass es eine Unterstützung Gottes für mich gab. […] Ich begann […] mich des Wortes zur ermächtigen. […] Ein Wort, […] das sagt, dass der Herr mich vom […] gewalttätigen Mann befreit hat41 und dass die vergangenen Dinge wie Wasser sind.42 All diese Dinge. Ich begann stark, mich des Wortes zu ermächtigen. […] Ich erinnere mich tatsächlich, dass, wenn brenzlige Situationen eintraten, ich sagte: ›Satan, du wirst mich nicht berühren können.‹ Solche Dinge. […] In meinem Inneren wies ich jegliche Aktivität dieser Art zurück […] und der Herr hat [das] vollkommen unterstützt. […] Mich selbst zu ermächtigen, auf der Basis dessen, was das Wort sagt, dass niemand mich berühren konnte, dass niemand mir schaden konnte. […] Da veränderte sich völlig die Situation. Ich glaube, dass Gott begann, mir eine Autorität zu geben, […] Autorität zu sprechen, zu verstehen, das Wort zu verkünden. Also, das half, und alles verschwand. Bis es vollkommen verschwand. […] Ich begann zu sehen, dass im Wort Autorität ist. Und er begann, so eine Angst vor dem Wort zu haben. Und er sah, dass er nicht mehr konnte. Also, dass er gegen etwas kämpfte – er wusste nicht, was es ist, aber es war stark. Ja, viel Rückhalt von Gott sah ich in meinem Leben. Und das, sich des Wortes zu ermächtigen und die Autorität zu ergreifen, die Gott uns gegeben hat, das wusste man vorher nicht.«43 Die zitierte Informantin eignete sich biblische Aussagen an, die ihr Kraft, Geduld, Hoffnung, Selbstbewusstsein und Durchsetzungsfähigkeit verliehen. In ihrer konkreten Situation wägte sie zwischen Handlungsoptionen ab, indem sie sowohl Aussagen der Bibel als auch ihre konkrete Situation und eigene Bedürfnisse berücksichtigte, um zur bestmöglichen Lösung zu gelangen. Im Vergleich mit der zuvor zitierten Informantin gestand der Mann der zuletzt zitierten dieser weniger Freiheiten zu. Dennoch ging sie ihren Interessen nach und löste auf diese Weise Konflikte aus. Während die zweite Informantin die Aussage der ersten, jede christliche Frau müsse sich ihrem Mann unterordnen, nicht so uneingeschränkt formuliert hätte, beriefen sich beide gegenüber ihren Männern auf ihre spirituelle Autorität, um Misshandlungen abzuwehren. Die erste tat dies, indem sie Respekt 41 42 43

Vgl. die Bibelverse 2 Samuel 22,49 und Psalm 18,48. Vgl. den Bibelvers Hiob 11,16. Interview Nr. 44, 7.5.2015.

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aufgrund ihrer Qualität als Tochter Gottes einforderte, und die zweite sprach direkt den Teufel in ihrem Mann an, dem sie untersagte, sie anzurühren. In beiden Fällen war der Rekurs auf die spirituelle Autorität effektiv, insofern die Männer sich durch diesen zurückweisen ließen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sie auch als Nichtpentekostale die Grundüberzeugungen der Existenz und Macht Gottes sowie des Teufels nicht infrage stellten.44 Auf diese Weise verleiht die katholische Autoritätstradition pentekostalen Frauen Macht zur Verteidigung und zur Durchsetzung eigener Interessen gegenüber ihren Männern.45 Eine weitere Informantin sprach über ihren Umgang mit ihrem ehemals gewalttätigen Ehemann. Ihr Umgang unterschied sich von dem der eben zitierten Informantinnen, insofern sie gegen die Probleme nicht mit spiritueller Autorität und geistlicher Kampfführung vorging. Stattdessen habe sie eines Tages erkannt, dass sie selbst schuld an den Problemen gewesen sei, weil sie durch ihre Respektlosigkeit ihm gegenüber sein Fehlverhalten verursacht habe. Ihre Respektlosigkeit habe seinen Alkoholkonsum und seine Gewalt ausgelöst. Seine Verhaltensänderung habe sie durch ihre Verhaltensänderung in Form konsequenter Unterordnung erreicht: »Ich habe ihm nie […] eine Chance gelassen. […] Denn er griff mich oft an, er schlug mich oft, ich […] sagte: ›Du wirst niemals eins meiner Kinder anfassen, nie. […] [Nur] über meine Leiche.‹ Wenn er etwas sagen wollte, […] war ich die, die alles manipulierte. Also, eines Tages ging ich […] zu einer Veranstaltung […] von einem Prediger, […] und ich wurde nach vorne geholt, […] es wurde gebetet und er sagt mir: ›Schwester, der Herr sagt, dass du deinem Mann die absolute Haushalterschaft einräumen musst. Und dass er das Haupt ist und nicht das Hinterteil.‹ […] Ich gab sie ihm. […] Also, ich sagte: ›Ja, Herr, von heute an werde ich gehorchen.‹ […] Ich kam und ich sagte ihm […]: ›Du bist das Haupt der Familie und nicht das Hinterteil. Deshalb will ich von jetzt an nicht mehr das Haupt sein.‹[…] Jetzt kommen sie [d.h. die Kinder] zu mir und ich sage ihnen: ›Nein, […] da ist er. Er ist die Autorität, nicht ich.‹ […] Mein Haus […] hat sich verändert. […] Es gibt hier keine Feiern mehr, es gibt keinen Alkohol mehr. Es gab von ihm aus viel Alkohol. […] Er hat sich komplett verändert. […] Die Art zu leben, die Art sich zu kleiden, die Art zu sprechen. […] Er war sehr eifersüchtig, extrem eifersüchtig. […] Er hat viel getrunken. […] Er arbeitete, […] mittags kam er und schlug mich, weil der Kollege ihm sagte: ›Deine Frau geht bestimmt zu Hause fremd.‹ Er kam

44 45

Vgl. Kessler 1995, 21. Dass eine geteilte Autoritätstradition Frauen als Machtressource in der Auseinandersetzung mit Männern dient, stellt auch Mahmood in Bezug auf die ägyptische Frauenmoscheebewegung fest, vgl. Mahmood 2012, 176-178.

1 Themen der Heilung

und schlug mich. […] Er schlug mir den Mund blutig. […] Jetzt nicht mehr. […] Er hat eine Wendung um 180 Grad gemacht.«46 Zwischen diesen drei Informantinnen bestand Konsens darüber, dass die Frau sich dem Mann unterzuordnen hat, doch ihre konkrete Ausführung des Gebots variierte. Entscheidend für das Verständnis der Doppelstrategie aus Unterordnung und spiritueller Autorität, die die ersten beiden Frauen verfolgten, ist die Überzeugung, dass es Dämonen sind, die in den Männern das Böse bewirkten. Der Glaube an diese externen Kräfte erleichterte es den Informantinnen, ihren Männern zu vergeben und sich ihnen auf unterschiedliche Weise unterzuordnen, weil die Zuschreibung der Verantwortung an die Dämonen die Männer von der Verantwortung für ihr Fehlverhalten befreite. Ihrer Überzeugung nach kämpften die Informantinnen nicht gegen die Männer, sondern gegen die Dämonen. Dass die erste und die dritte Informantin nicht davon sprachen, eigene Interessen gegen den Willen der Männer durchsetzen zu wollen, mag damit zusammenhängen, dass sie das Fehlverhalten ihrer Männer auf ihr eigenes Fehlverhalten zurückführten. Während erstere ihr Leiden unter ihrem Mann als Strafe Gottes deutete, weil sie gegen dessen Willen verstoßen habe, indem sie einen no cristiano (Nichtchristen) geheiratet habe, deutete letztere ihre Respektlosigkeit gegenüber dem Mann als Grund für dessen früheres Fehlverhalten. Im Unterschied zu diesen beiden Informantinnen schien die zweite Informantin den Gedanken des selbst verschuldeten Leids nicht zu teilen, und im Unterschied zu den anderen beiden unterließ sie es daher nicht, eigene Interessen gegen den Willen des Mannes durchzusetzen. Beziehungsabbruch Im sechsten Heft der Reihe zur Ausbildung von Beraterinnen und Beratern Lo básico de la consejería cristiana (Die Grundlagen der christlichen Beratung), die vom Club 700 herausgegeben wurde, wird der beratende Umgang mit Menschen in Ehekrisen und mit Geschiedenen erläutert. Dort heißt es, die Beratung von Eheleuten solle immer auf Versöhnung und Wiederherstellung abzielen, weil die Ehe nach Gottes Willen ein unwiderruflicher Pakt sei. Die einzigen biblisch zugelassenen Gründe einer Scheidung seien der Ehebruch der Partnerin oder des Partners und das Verlassenwerden durch eine ungläubige Partnerin oder einen ungläubigen Partner. Auch im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt soll das Ziel der Beratung letztlich in der Versöhnung bestehen, die ermöglicht werden soll, indem die Eheleute vorübergehend getrennt leben, der Mann sein Leben verändert und die Frau ihm vergibt. Wenn jedoch eine Scheidung vollzogen sei, könne Gott diese unabhängig

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Interview Nr. 21, 30.3.2015.

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von ihren Umständen vergeben. Ebenso sollte auch in der Kirche vergebend und unterstützend mit Geschiedenen umgegangen werden.47 Die Überzeugungen der Informantinnen und Informanten stimmten mit diesen Richtlinien zum Umgang mit Eheleuten in Krisensituationen nur teilweise überein. Eine Übereinstimmung bestand bezüglich des Umgangs mit Geschiedenen. Diese erzählten, dass sie nicht stigmatisiert worden seien, sondern emotionale und teilweise auch materielle Unterstützung erhalten hätten. Im Folgenden wird aus Erfahrungsberichten verschiedener Personen zitiert. Zwei Informantinnen ließen sich trotz körperlicher Misshandlungen nicht scheiden, eine Informantin versuchte vergeblich, eine Scheidung zu verhindern, und zwei Informantinnen initiierten selbst ihre Scheidung. Außerdem werden eine Pastorin und zwei Pastoren zitiert, die erklärten, wie sie im Beratungskontext mit Frauen in Ehekrisen und mit Geschiedenen umgingen. Eine Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, verglich die Beratung, die Frauen in ehelichen Konfliktsituationen in einer Beratungsstelle des staatlichen Fraueninstituts Instituto Nacional de las Mujeres (INAMU) erhalten, mit der, die sie in Kirchen erhalten, und resümierte, dass das Ziel der kirchlichen Beratung die Versöhnung der Ehepaare sei, während das INAMU feministische Scheidungspropaganda betreibe. Ihre Kritik an der wachsenden Zahl von Scheidungen begründete sie überwiegend sozioökonomisch: Scheidungen führten insbesondere die Kinder in die Armut, weil geschiedene Männer ihren Unterhaltsverpflichtungen häufig nicht nachkämen, infolgedessen Freiheitsstrafen erhielten und dann umso weniger Geld verdienen könnten, das sie ihren Kindern zukommen lassen könnten. Ihr eigenes Verhalten stellte sie als vorbildlich dar: Sie habe ihren gewalttätigen Ehemann bis zu seinem Tod ertragen und sich auf diese Weise für ihre sechs Kinder aufgeopfert, die nie hätten Not leiden müssen, weil ihr Mann genug Geld verdient und dieses der Familie habe zukommen lassen. Theologische Argumente waren für diese Informantin den sozioökonomischen untergeordnet: »Es gibt viele [Beratungsangebote für Frauen] außerhalb der […] Kirche. […] Hier in der Gemeindeverwaltung, […] INAMU, […] das ist etwas vom Fraueninstitut. Allerdings gibt es dort viel Feminismus. […] Wenn du einen Mann hast, der dich schlägt oder so etwas, wenn du dahin gehst, sofort/ [macht eine wegwischende Handbewegung] Zu viel Feminismus. […] Im Unterschied dazu, in […] der Kirche, also, das ist es, was sie am wenigsten wollen, dass ein Ehepaar sich trennt, denn das ist nicht Gottes Plan. […] Es gibt welche, da gibt es keine Lösung mehr, […] oder sie wollen die Lösung nicht suchen, aber die Mehrheit schon. […] Ich habe das nie erwogen, denn mit so vielen Kindern, und ich hatte keinen Beruf. Nein, niemals, ich konnte nicht. […] Meine Mutter konnte nicht. […] Früher hat man ausgehalten.

47

Vgl. Club 700, 136-140.

1 Themen der Heilung

[…] Uns hat ja auch nie etwas gefehlt. […] Ich musste nicht arbeiten und nichts, Gott sei Dank. […] Was ich tat, war, meine Männer [d.h. den Mann und die Söhne] zu ertragen. […] Die [heutige] Zeit ist schrecklich, jetzt ist es schlimmer. Jetzt heiraten sie und du siehst, dass sie es einen Moment nicht aushalten und sich scheiden lassen. […] Aber es ist immer die Frau, die [Hilfe] sucht. Vor allem wegen der Kinder. […] Es ist sehr traurig, wenn die Kinder ohne Vater aufwachsen. […] Aber man sieht es viel, […] die Frau geschieden, zieht die Kinder alleine groß. […] Und das Gefängnis ist voll von Männern, die den Unterhalt nicht zahlen. […] Dort [zahlen sie] umso weniger, weil sie nicht arbeiten können. Also sind es die Kinder, die leiden. […] Ich nicht, ich habe alles ausgehalten. Vielleicht, weil ich keine materielle Not litt, denn im Haus gab es keine Not, aber es ist traurig, wenn ein Mann das Geld auf der Straße mit Frauen und Schnaps ausgibt, und wenn nichts zu Hause ankommt, das ist hart.«48 Die Ablehnung des Ansatzes des INAMU ist auch als Ausdruck einer Sehnsucht nach Heilung und Versöhnung zu verstehen, der offenbar der pentekostale Diskurs mehr entspricht. Wie die eben zitierte Informantin lehnte auch eine andere Scheidungen ab, jedoch begründete diese ihr Urteil theologisch: Weil die Ehe unauflöslich sei, sei es Gott, der Kraft zum Aushalten gebe. Trotz dieser Überzeugung habe sie selbst mehrfach eine Trennung erwogen, aber entweder sie habe sich schließlich dagegen entschieden, oder Gott habe eingegriffen, um sie zu verhindern: »Es gab Momente, in denen ich ihn verlassen wollte und […] mich scheiden lassen wollte, aber ich gehöre zu den Personen, die glauben, dass die Ehe für das ganze Leben ist. […] Es gab viele körperliche und emotionale Misshandlungen. […] Ich fühlte, dass Gott einen Plan hatte. Denn in vielen Situationen, in denen ich meinen Mann […] verlassen wollte, passierte etwas. Also begann ich, mehr zu beten. Ich sagte: ›Herr, lass mich keine Entscheidung treffen, die nicht richtig ist, die nicht deine ist. Gib mir die Kraft, auszuhalten bis zu dem Moment, in dem du dieses Herz berührst.‹«49 Dass die zuvor zitierte Informantin vor allem sozioökonomisch argumentierte, während diese Informantin ihre Ablehnung von Scheidungen ausschließlich theologisch begründete, korrespondiert mit dem Grad ihrer Involviertheit in die Kirche CCVN. Während erstere zur distanzierteren Gruppe derer gehörte, die lediglich an ausgewählten Veranstaltungen teilnahmen, gehörte letztere zum engsten Kreis der Mitarbeitenden. Dass beide Frauen dieselbe Position vertraten, diese aber auf

48 49

Interview Nr. 43_1, 28.4.2015. Interview Nr. 8, 18.3.2015.

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unterschiedliche Weise begründeten, weist darauf hin, dass die Opposition gegen Scheidungen und die Präferenz für die Aufrechterhaltung auch problematischer Ehebeziehungen kein Spezifikum des Pentekostalismus darstellt, sondern eine auch darüber hinaus vertretene Überzeugung ist, die von den einen biblischtheologisch und von den anderen anders begründet wird, beispielsweise mit sozioökonomischen Argumenten. Zudem wird sich im weiteren Verlauf zeigen, dass die Positionierungen Pentekostaler angesichts dieses Themas durchaus divers sind. Eine andere Informantin erzählte, dass sie über Jahre, während derer ihr Mann getrennt von ihr lebte, hoffte, eine Scheidung verhindern zu können. Sie berichtete, wie Glaubensgeschwister in dieser Zeit ihre Hoffnung auf seine Rückkehr etwa durch den Zuspruch von Bibelworten gestärkt hätten. Eine Pastorin habe ihr mitgeteilt, ihre Liebe zu ihrem Mann entspräche Gottes Plan, ihn durch sie zu bekehren. Die Pastorin habe sie als Perle bezeichnet, und als sie verstanden habe, dass Perlen durch Verletzungen entstehen, habe die Erkenntnis, dass Gott ihre Verletzung zugunsten seiner Rettung einplane, sie irritiert, doch sie habe die Aufgabe angenommen: »In der Zeit, als wir getrennt lebten, als ich wusste, dass er eine Beziehung mit einer anderen hatte, fühlte ich Ekel, Abscheu, Wut und so weiter. Und in meinem Haus, an einem Donnerstag, bevor ich zur Kirche ging, fragte ich Gott, ob es in Ordnung sei, dass ich meinen Mann auf diese Weise ansah. Denn was ich fühlte, war schrecklich. In der geistlichen Kampfführung sagte mir Lisa, dass sie und Alfonso für jede von uns beten würden, und als sie kam, um für mich zu beten, war das erste, was sie mir sagte: ›Denn du sollst deinen Mann nicht so sehen, wie du ihn siehst. Du wirst die Perle sein, die ich benutzen werde, um ihn zu mir zu bringen. Was er braucht, ist Liebe.‹ […] Ich weinte an dem Tag nicht wenig. Sagen wir, es war, als ich erfuhr, wie eine Perle entsteht, das ist durch Schmerz und Leid.«50 Diesem Bild von der Perle liegt ein marianistisch geprägtes Weiblichkeitsideal der Aufopferung für den Mann zugrunde, das die Informantin darin bestärkte, an der Hoffnung auf seine Rückkehr und Bekehrung festzuhalten. Als diese Hoffnung schließlich durch seinen Scheidungsantrag zunichte gemacht wurde, verstörte sie dies umso mehr, weil sie von der Wahrheit der Botschaften überzeugt war, denen zufolge sie nach Gottes Plan mit ihrem Mann zusammen bleiben sollte. Dennoch fand sie im Gebet einen Ausweg, indem sie zu einer neuen Interpretation der Situation gelangte. Gott habe ihr mitgeteilt, dass er die Scheidung erlaube und dass diese ihr in spiritueller Hinsicht nützen würde, weil sie dadurch von den Dämonen, die durch ihre Ehe mit einem Ehebrecher Zugang zu ihr hätten, befreit werden würde. Diese Erklärung führte zur Hoffnung, nach einer Scheidung Gottes Segen 50

E-Mail vom 7.9.2016.

1 Themen der Heilung

zu empfangen, den sie bisher wegen der Sünde ihres Mannes nicht habe empfangen können: »José schickte mir einen Scheidungsantrag. […] Ich hatte nur zehn Tage Zeit, um beim Gericht zu antworten, es waren sehr harte Tage, obwohl Gott mir schon ein Zeichen gegeben hatte, um das ich ihn gebeten hatte, um zu wissen, ob ich mich scheiden lassen sollte oder nicht. […] Noch fühle ich mich nicht ganz gut, ich dachte, dass Gott es nicht erlauben würde, dass ich eine Scheidung unterschreiben müsste, aber irgendeinen Grund wird es geben, obwohl ich ihn noch nicht kenne. […] An einem Tag, als ich betete, gab Gott mir den Gedanken ein, dass er die Scheidung erlaubte, damit ich nicht weiter stagniere, dass er mich von dem Schlechten, das José durch seine Sünde gebracht hatte, befreien wollte, und dass Gott mir Dinge geben wollte, aber dass diese Verbindung [es] auf gewisse Weise verhinderte, denn vielmehr heiligte ich José durch meinen Segen, und weil ich von ihm verstoßen worden war, erlaubte Gott es. So etwas war es, was er mir sagte, so dass ich mich besser fühlte, denn ich sagte Gott, dass ich gewissermaßen wütend auf ihn war, weil ich mich scheiden lassen musste, und weil er mir erlaubte, es zu tun. Ich bin jetzt nicht mehr wütend, ich habe Gott um Vergebung gebeten, denn ich wusste, dass Gott irgendeinen Grund hatte, den ich nicht kannte, das zu erlauben.«51 Diese spirituelle Interpretation der Scheidung als Befreiung von Dämonen, die durch die Sünde des Mannes Zugang zur Ehefrau fänden, gab auch eine Beraterin der Kirche CCVN der Scheidung von ihrem Mann, die sie im Unterschied zur eben zitierten Informantin selbst initiierte, als er zum wiederholten Mal eine außereheliche sexuelle Beziehung führte. In der Retrospektive erklärte sie die permanente Erschöpfung, unter der sie gelitten habe, mit jenen Dämonen. Nach der Trennung habe sie sich nicht mehr erschöpft gefühlt, weil den Dämonen der Zugang zu ihr versperrt worden sei: »Welchen Sinn hat es, sich zu verunreinigen, indem man eine sexuelle Beziehung mit einem Mann hat, der mit ich weiß nicht wie vielen Frauen unterwegs ist? […] Ich fühlte mich immer sehr müde, sehr ausgelaugt, sehr/ na klar, der Haufen von Dämonen, die mich belästigten! […] Danach begann ich zu wachsen.«52 Eine Informantin, die der Kirche Casa de Oración in San Rafael de Alajuela angehörte und ebenfalls die Scheidung von ihrem Mann initiiert hatte, erzählte, dass sie in dieser Phase von ihrer Gebetsgruppe und von Gott selbst maßgeblich unterstützt worden sei:

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E-Mails vom 27. und 29.4.2016. Interview Nr. 22, 30.3.2015.

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Gender und Heilung

»Und in dieser Zeit, als ich mich scheiden ließ, wenn ich die Gruppe nicht gehabt hätte, weiß ich nicht, was in meinem Leben passiert wäre. […] [Sie halfen mir] auf alle Arten. Durch das Gebet, durch Unterstützung, durch Begleitung. Ja, darin, sie haben mir viel geholfen. Aber wer mich wirklich gestützt hat, ist Gott, denn er hat ein übernatürliches Wunder vollbracht, […] die Güteraufteilung und alles. Nur er, denn nicht mal die Rechtsanwälte. […] Es war nur er, der mich erleuchtete und mir die Sachen zeigte, wie ich mich verhalten sollte.«53 Diese Informantin fühlte sich offenbar durch die Gebetsgruppe keinesfalls verurteilt, sondern auf umfassende Weise unterstützt. Im Folgenden wird gezeigt, wie in der pastoralen Praxis mit Menschen in problematischen Ehebeziehungen und mit Geschiedenen über die Unterstützung zur Vergebung erlittener Verletzungen hinaus umgegangen wird. Die Pastorin der Kirche MANAIA sprach über die Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit bis hin zur Lebensgefahr, der viele Frauen durch ihre Ehemänner ausgesetzt seien. Wenn sie solch eine Bedrohung wahrnehme, rate sie in der Einzelberatung ebenso wie in der Paarberatung zur Scheidung, und zwar auch dann, wenn gewaltbereite Männer um Vergebung bäten, weil diese häufig in die schädlichen Verhaltensmuster zurückfielen. Eine Scheidung verstand sie in solchen Fällen als Chance, das Leben nach den eigenen Bedürfnissen zu gestalten und glücklich zu werden. So könnten manche Frauen sich erst nach einer Scheidung beruflich verwirklichen und führten ein besseres Leben als zuvor, obwohl sie alleinerziehend seien, denn wenigstens müssten sie dann nicht mehr die Last ihrer gewalttätigen, promisken Ehemänner tragen, die sie in keiner Weise unterstützt hätten. Dass in Fällen schädlicher Verhaltensmuster zwecks Selbstschutzes der Beteiligten im Anschluss an die Vergebung nur der Beziehungsabbruch helfe, bezog sie auch auf andere destruktiv wirkende Beziehungen wie Freundschaften. Trotz aller Offenheit gegenüber der aus ihrer Perspektive in einigen Fällen besten Option der Scheidung war auch diese Pastorin überzeugt, dass in den meisten Fällen die Beziehungen gerettet werden sollten. Dies begründete sie mit der pragmatischen Einsicht, dass ein unvollkommener Ehemann mehr Unterstützung biete als gar keiner. Bezüglich des Umgangs mit Menschen in problematischen Ehebeziehungen argumentierte sie nicht biblisch-theologisch, sondern seelsorglich-therapeutisch: »Wir sind keine Schutzherren der Scheidung, aber es gibt Frauen, die einer […] latenten Lebensgefahr […] ausgesetzt sind. Hier in dieser Kirche habe ich den Fall einer Frau betreut, der ich gesagt habe, dass sie den […] Mann verlassen müsste, mit dem sie lebte, weil sie in Gefahr war. Tatsächlich hat er sie getötet. […] Es gibt viel Aggression, viel Gewalt. […] Ich hatte hier Paare, wo ich den Mann dazu brachte, der ihr vielleicht Schaden zugefügt hatte, dass er […] sie um Vergebung 53

Interview Nr. 46, 11.5.2015.

1 Themen der Heilung

bittet, sie vergibt ihm, aber keine Wiederherstellung mehr. ›Du wirst nicht mehr mein Ehemann sein, ich werde den Missbrauch nicht mehr mitmachen, ich werde die Misshandlung nicht mehr mitmachen.‹ […] Da muss es eine sehr feine Linie geben. […] Nicht nur bei Paaren, sagen wir, du und ich, Freundinnen. Und ich habe dir geschadet und geschadet und sehr geschadet. Aber […] ich bin gekommen, um um Vergebung zu bitten. Du sagst mir: ›In Ordnung. Ich vergebe dir, aber […] ich treffe mich nicht mehr mit dir. Ich liebe dich in Christus, du in deiner Welt und ich in meiner, und jeder glücklich und zufrieden, vergeben.‹ Aber wenn wir uns auf der Straße sehen: ›Gott segne dich, wie geht es dir?‹ Aber ich gehe nicht mehr in dein Haus und du nicht in meins, […] denn man muss einen Verteidigungsmechanismus schaffen, […] um […] sich nicht zu verletzen, denn es gibt Menschen, die […] es wieder machen. […] Es gibt Leute, die […] keine schriftliche Scheidung wollen, aber innerhalb eines Hauses sind sie schon geschieden. Er schläft in einem Bett, sie schläft in einem anderen. Sie streiten die ganze Zeit. Ich: ›Schau mal, wäre es nicht schöner, wenn ihr glücklich wärt, vergebt euch, teilt die Güter auf, und jeder lebt gottgefällig für sich alleine.‹ […] Es gibt Frauen, […] die sich scheiden lassen mussten und sie sind allein mit der Kinderbetreuung geblieben, und sie sind […] glücklicher als in der Zeit, als sie mit diesem brutalen Mann zusammen waren, der ihr nicht geholfen hat, der sie nicht unterstützt hat. Frauen, […] von denen der Ehemann mit einem anderen Mann untreu geworden ist, und […] nachdem sie die Entscheidung getroffen hatte, ihn zu verlassen, […] wurde sie eine Unternehmerin. Sie hat sich aufgerichtet, sich selbst übertroffen, ist durchgekommen. […] Sie sind gute Freunde, aber das war’s. Es war nichts zu machen […] Aber die Mehrheit wird wieder hergestellt. Die Mehrheit regelt es. […] Es gibt Paare, die wollen geheilt werden und wir sagen: ›Hier ist nicht mehr viel zu machen. […] Vergebt euch und jeder geht seinen Weg.‹ Aber es gibt andere, wo man sagt: […] ›Ja, es ist okay. Es wird dauern, es ist eine große Reparatur.‹ Oder […] ich nehme das Beispiel von einer Hand. Wenn du einen Unfall mit der Hand hast und dieser Finger bleibt so schief, und der Arzt sagt: ›Gut, der Finger wird so bleiben.‹ […] Ich bevorzuge, dass er schief ist, […] aber ich habe meine fünf Finger. […] Das ist deine Entscheidung. Die Logik sagt mir, dass, obwohl der Finger schief ist, ich ihn da haben will. Obwohl mein Mann nicht der beste Ehemann der Welt ist. […] Es ist zu bevorzugen, dass du weitermachst.«54 Solch deutliche Worte zugunsten von Scheidungen unter spezifischen Umständen fand der Pastor der Kirche CCVN nicht, doch auch er erklärte, in Fällen körperlicher Misshandlungen zur Trennung zu raten: »Wir animieren niemanden, sich scheiden zu lassen, denn die Scheidung ist keine Lösung. Aber wenn es Aggression und die Gefahr […] ernsthafter Konsequenzen 54

Interview Nr. 61, 4.6.2015.

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gibt, dann animieren wir sie, […] dass sie sich in diesem Fall besser […] trennen sollte, nicht wahr, damit sie nicht leidet.«55 Dieser Pastor relativierte die Äußerung, er animiere niemanden zur Scheidung, umgehend mit der Erklärung, in Fällen häuslicher Gewalt animiere er die Frauen zur Trennung. Diese widersprüchlichen Aussagen sind Indizien für seine Anstrengung, einen Weg zwischen der biblisch-theologisch begründeten Doktrin und der seelsorglich-therapeutischen Erfahrung zu finden. Ähnlich äußerte sich der Pastor der Kirche IJS: »Ich betone immer, dass es Auswege gibt, dass wir die Lösungen suchen, dass es möglich ist, dass wir einen außergewöhnlichen Gott haben, aber auch einen Gott, der von uns unsere größte Anstrengung einfordert, das Beste zu geben, um die Dinge, die wir haben, voranzubringen. Es ist nicht nur eine passive Angelegenheit, sondern Gottes Wille und meine Bereitschaft zu arbeiten gehören zusammen, um die Dinge voranzubringen. Was leider nicht immer funktioniert. Aber das Geringste, was eine […] Person tun kann, ist, nicht zu arbeiten, um das Beste zu erreichen. Deshalb glauben wir aber nicht, dass es gerecht ist, dass eine Frau einer Situation gewaltsam unterworfen ist, durch Gewalt […] des Ehemannes. […] Wir appellieren an die persönliche Verantwortung, aber wir verstehen auch, dass es Umstände gibt, die manchmal unseren Händen entgleiten, nicht wahr. In solchen Fällen: Zur Freiheit hat Gott uns berufen, nicht in die Sklaverei, nicht wahr.56 Aber es gibt durchaus Situationen, die wir, wenn wir uns anstrengen, lösen können. Ich denke, es wäre ungerecht, sich keine Mühe zu geben. Aber wenn die Mühe nichts gebracht hat, okay.«57 Dieser Pastor betonte das Zusammenwirken der menschlichen Anstrengung zur Lösung von Eheproblemen mit dem göttlichen Wirken, durch das scheinbar aussichtslose Ehen gerettet werden könnten. Gleichzeitig sprach er aus Beratungserfahrung, als er hinzufügte, dass es Situationen wie die der häuslichen Gewalt gebe, in denen eine Frau sich trennen müsse. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Opposition gegen Scheidungen einerseits biblisch-theologisch und andererseits sozioökonomisch begründet wird. Gleichzeitig dienen biblisch-theologische Argumente nicht nur der Ablehnung von Scheidungen, sondern auch deren Begründung, wenn diese nämlich als Befreiungen von Dämonen interpretiert werden, die durch die Sünde eines Mannes zu der durch die Ehe mit ihm verbundenen Frau Zugang erhielten. Um in Ehekrisen Handlungsentscheidungen zu treffen, wägen Frauen individuell ab, indem sie die konkrete Situation, eigene Bedürfnisse und biblische Aussagen berücksichtigen. In 55 56 57

Interview Nr. 18, 25.3.2015. Vgl. den Bibelvers Galater 5,1. Interview Nr. 20_3, 27.3.2015.

1 Themen der Heilung

diesem Prozess werden sie von Beraterinnen und Beratern, Pastorinnen und Pastoren unterstützt, die wiederum selbst zwischen biblisch-theologischen und seelsorglich-therapeutischen Aspekten abwägen. Der unterstützende Umgang mit Geschiedenen in pentekostalen Kirchen basiert auf der Überzeugung der Vergebung Gottes, die als unabhängig von den Gründen der Scheidung gilt.

1.2

Umgang mit Schuld

Mehrere Informantinnen sprachen von der Erfahrung, im Verlauf der eigenen Biographie selbst schuldig geworden zu sein. Sie äußerten entweder, dass sie sich nach Vergebung sehnten, oder dass sie Vergebung erfahren hätten. Während manche die Vergebung durch Gott betonten, war es für andere entscheidend, sich selbst zu vergeben, und wieder andere sprachen von Menschen, die ihnen vergeben hätten oder deren Vergebung sie sich wünschten.

1.2.1

Vergebung und Bestrafung durch Gott

Die Pastorin der Kirche Centro Cristiano Fuente de Bendición (CCFB) verwendete die Begriffe amor (Liebe) und perdón (Vergebung) nahezu synonym, als sie erzählte, dass Gottes großzügige Liebe und Vergebung ihr beschädigtes Selbstkonzept transformiert und sie dadurch befähigt hätten, anderen zu vergeben: »Der Schlüssel war, selbst zu spüren, dass mir vergeben wird. […] Denn ich sagte: ›Ich bin nichts wert‹, und mehrmals […] plante ich, mir das Leben zu nehmen, und dann spürte ich, […] dass mir vergeben wird und ich geliebt werde. Ich konnte Gottes überbordende Liebe erfahren. […] Ich brauchte es, zuerst zu spüren, dass mir vergeben wird, um vergeben zu können.«58 Den schriftlichen Unterlagen eines Kongresses zufolge, der in der Kirche CCVN abgehalten wurde, ist die Voraussetzung für Gottes Vergebung, dass der Mensch sich selbst vergibt und Reue und den Willen zeigt, zukünftig Gottes Willen zu gehorchen. Ähnlich wird im ersten Heft des Kursbuches Nueva Vida en Cristo (Neues Leben in Christus) ein Schuldbekenntnis vorausgesetzt, damit Gott vergibt.59 Neben der Vorstellung eines barmherzigen, vergebenden Gottes existiert auch die Vorstellung von Gott als strafendem Richter. Diesem Gottesbild entsprechen die Ausführungen von Informantinnen, die schmerzhafte Ereignisse als Strafe für ihre Sünden interpretierten. So bekannte eine der Kirche CCVN angehörende Frau, dass sie, nachdem sie seit ihrer Kindheit mit ihren Eltern einer Kirche angehört hätte, sich

58 59

Interview Nr. 77, 15.7.2015. Vgl. Robinson 2004, 11.

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nach ihrer Hochzeit von dieser entfernt habe, weil sie und ihr Mann gerne Feste gefeiert hätten. Doch das weltliche Leben und die Abwendung von Gott habe dieser bestraft, indem er eine ihrer Töchter habe sterben und ihren Mann habe arbeitslos werden lassen. Infolge der Strafen habe sie ihr Fehlverhalten bereut, sei zur Kirche zurückgekehrt und habe fortan gottgefällig gelebt. Als schließlich Gott ihrem Mann eine Arbeitsstelle gegeben habe, habe sie gewusst, dass er ihr vergeben und sie ihre Schuld gesühnt hatte. Sie war überzeugt, dass man, um Gottes Vergebung zu erlangen, zunächst im Diesseits die gerechte Strafe für die eigenen Sünden erleiden muss. Daher warne sie ihre Kinder vor der Sünde. Dass eine ihrer Töchter zwei Mal unehelich schwanger geworden, der Ehemann drogenabhängig geworden und die Ehe gescheitert sei, interpretierte sie als Strafe für die Sünden ihrer Tochter: »Ich wurde erwachsen, ich bekam meine Kinder und alles, ich wurde abtrünnig und kehrte mich der Welt zu. […] Eine Zeit lang entfernte ich mich von der Kirche, denn ich ging gerne aus und mit meinem Mann tanzen. […] Aber da war es, dass […] viele Tragödien begannen. Der Tod meiner Tochter […] war niederschmetternd. […] Die […] Armut. […] Durch den Tod meiner Tochter kam ich zurück, […] denn […] es war […] sehr hart. Ich wurde wütend auf den Herrn, aber […] es war meine Schuld. Es war meine Schuld, ich weiß, dass es deshalb war. […] Was wir tun, bezahlen wir hier. […] Dieses Opfer war meine Tochter. […] Der Tod eines Kindes wegen des eigenen Ungehorsams ist sehr hart. […] Ich bat den Herrn um Vergebung. Ich weiß, dass es wegen meines Ungehorsams war, was passiert ist, und er hat mich richtig hart bestraft. […] Durch meine Tochter bin ich weitergekommen. […] Ich habe gelernt nicht zu lügen, zu […] sein und zu leben, […] wie es sein sollte. Gott sei Dank bin ich vorangekommen, denn mein Leben […] hat sich in allen Bereichen verändert. […] Wir hatten einen Nachbarn, von dem wir nicht wussten, dass er bei Dos Pinos [d.i. ein Molkereiunternehmen] arbeitete, er war der Chef der Personalabteilung von Dos Pinos. Und er kam und […] sagte ihm [d.h. dem Ehemann]: ›Gut, don Carlos, sind Sie es, der Arbeit sucht? […] Es gibt eine Stelle bei Dos Pinos. Gehen Sie hin.‹ Da verstand ich, dass Gott mir vergeben hatte. […] Ich wurde abtrünnig, weil ich es wollte. Deshalb […] ist mir alles passiert, was mir passiert ist. […] Ich bin alleine gegangen und alleine musste ich zurückkehren, schmutzig und am Boden. […] Es ist schwer, […] dass der Herr einem vergibt. […] Man muss ´was durchmachen. […] Ich gebe meinen Kindern Ratschläge. […] Ich habe ihr [d.h. einer Tochter] gesagt: ›Die Sünde bezahlt man mit dem Tod.‹ […] Ihr ist schon alles passiert. Sie wurde schwanger, sie wurde wieder schwanger. Nachdem sie schwanger geworden war, hat sie geheiratet. Die Ehe hat nicht ein Jahr gehalten. Der Mann wurde drogenabhängig.«60

60

Interview Nr. 21, 30.3.2015.

1 Themen der Heilung

Von Gottes sich im Diesseits auswirkender Gerechtigkeit war auch eine andere Informantin überzeugt, die der Kirche Iglesia Casa de Dios im Stadtteil Pueblo Nuevo de Alajuela angehörte. Sie bedauerte, dass es ihr nicht gelang, solch einen festen Glauben und solch eine innige Gottesbeziehung zu haben wie andere Menschen, die ihr ganzes Leben Gott übergäben und ihm vertrauten, dass er einen Plan und die Kontrolle über alle Ereignisse habe. Sie hingegen fühlte sich von Gott distanziert und interpretierte dieses empfundene Defizit als Strafe Gottes für zwei Schwangerschaftsabbrüche. Sie habe ihn um Vergebung gebeten, aber aus der weiterhin empfundenen Distanz schlussfolgerte sie, dass er ihr noch nicht vergeben habe: »Ich glaube, dass er mich nicht [zu sich] kommen lässt, […] weil ich zwei Schwangerschaftsabbrüche hatte. Ich sage, dass er es ist, der mich nicht [zu sich] kommen lässt. Denn ich habe ihn um Vergebung gebeten und ich habe Gott gebeten, dass er mir vergibt, aber tja, ich sage, dass es das sein muss, was dazu führt, dass ich nicht den Glauben haben kann, den ich gerne an ihn hätte.«61

1.2.2

Selbstvergebung

Eine Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, sprach über ihr Fehlverhalten gegenüber ihrem Mann. Sie habe ihn nicht aus Liebe geheiratet, und als bei ihrem Kind eine tödliche Krankheit diagnostiziert und infolgedessen ihr geraten worden sei, auf weitere Schwangerschaften zu verzichten, sei sie von Suizid- und Mordgedanken umgetrieben worden, habe ihren Mann misshandelt und sich schließlich von ihm getrennt. Geheilt sei sie schließlich infolge der Erkenntnis, dass alle Ereignisse Teile des guten Plans Gottes für ihr Leben waren, weil diese Erkenntnis sie von Schuldgefühlen befreit habe, so dass sie sich selbst ihr ungerechtes Verhalten gegenüber ihrem Mann habe vergeben können. Daraufhin sei es möglich gewesen, sich mit ihm und mit Gott zu versöhnen: »Das Wichtigste ist, sich selbst als erstes zu vergeben. Denn oft […] vergeben wir vielleicht nicht diesem und jenem, aber […] das betrifft uns nicht. Was uns betrifft, ist, was zuerst mit meinem Leben ist, denn wenn ich mir selbst vergebe, dann kann ich tatsächlich leicht jedem vergeben. […] Ein Beispiel, mich nicht als Mutter zu fühlen, weil ich keine Kinder haben konnte, und von einem Moment auf den anderen zu spüren: Nein, die Dinge passieren, weil Gott einen Plan hat. Oder über solche Sachen sprechen zu können, ohne […] dass es weh tut, ich habe das Gefühl, das ist es, sich selbst zu vergeben. Denn es gibt Dinge, die man im Inneren mit sich trägt. Man […] teilt sie niemandem mit. Aber in einem drin, […] ich sagte: […] Ich verstehe es nicht, wenn Gott existiert, warum […] kann ich keine 61

Interview Nr. 11_1, 18.3.2015.

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Kinder mehr bekommen? […] Es sind Situationen, die später, […] wenn man sich vergibt, dann kann man endlich erkennen, dass es Situationen sind, die im Leben passieren, die mit einem Plan passieren, den Gott hat. […] Ich habe das Gefühl, [das] ist es, wenn man sich vergibt.«62 Bevor sich diese Informantin die Überzeugung angeeignet habe, dass alles, was geschieht, in Gottes gutem Plan begründet sei, habe sie die Krankheit ihres Sohnes, die Perspektive, keine gesunden Kinder haben zu können und die Ehe mit einem Mann, den sie nie geliebt habe, als Strafe Gottes für ihr Fehlverhalten und folglich als selbstverschuldet interpretiert. Die Erkenntnis des guten Plans Gottes habe sie von Schuldgefühlen befreit. Daraufhin habe sie sich selbst und dann auch anderen vergeben können. Als Gottes Plan interpretierte sie, dass sie zur Leiterin der nichtdenominationellen Frauengruppe Pacto de Amor y Fe (PAF) werden und auf diese Weise vielen Frauen Gottes Liebe vermitteln sollte, so dass jene in schwierigen Lebenssituationen die Hoffnung nicht verlören. Den schriftlichen Unterlagen eines in der Kirche CCVN abgehaltenen Kongresses zufolge ermöglicht es die Selbstvergebung ebenso wie die Vergebung des Fehlverhaltens anderer, spirituell zu wachsen und Gottes Pläne zu realisieren.

1.2.3

Vergebung durch andere

Die Pastorin der Kirche Centro Cristiano Seguidores del Rey (CCSR) betonte die Bedeutung des eigenen Schuldbekenntnisses und der Bitte um Vergebung gegenüber anderen Personen. Sie selbst habe beides als heilsam für die Beziehung zu ihrer Schwiegermutter erlebt, die dann wiederum sie um Vergebung gebeten habe: »Ich sagte ihr: […] ›Ich möchte dich um Vergebung bitten, denn ich weiß, dass ich nicht die Schwiegertochter gewesen bin, die du dir erhofft hast, ich weiß, dass ich eine unverschämte Person gewesen bin, ungehörig, ich habe dich respektlos behandelt.‹ […] Und sie sagte mir, […] dass vielmehr sie mich um Vergebung bitten wolle, und von da an hatten wir nie wieder Probleme. […] Wenn ich nicht um Vergebung bitte, […] schade ich mir selbst.«63 Eine Informantin, die der Kirche IJS angehörte, sprach über ihr Bedürfnis, ihren ältesten, inzwischen erwachsenen Sohn um Vergebung dafür zu bitten, dass sie ihn als Kind misshandelt habe, damit sie beide heilen könnten. Um den Schmerz der eigenen Schuld zu überwinden, reiche Gottes Vergebung nicht aus. Die Schuld ihres Fehlverhaltens laste schwerer auf ihr als das Leid, das sie selbst als Kind durch Misshandlungen seitens ihrer Eltern erfahren und das sie habe vergeben können:

62 63

Interview Nr. 55, 27.5.2015. Interview Nr. 68, 18.6.2015.

1 Themen der Heilung

»Ich habe gebetet und ich habe Gott um Vergebung gebeten, aber es gibt doch etwas, was ich wirklich gerne mal mit einem Pastor oder einer Pastorin besprechen würde, ich glaube, ich muss mit einem meiner Söhne sprechen. […] Da ich so erzogen wurde, und obwohl ich schon das Wort kannte, habe ich meinen ältesten Sohn oft gezüchtigt, und ich war manchmal sehr wütend, weil […] er so schwierig war. Deshalb denke ich, ich fühle immer, […] dass ich meinen Sohn um Vergebung bitten sollte und mit ihm sprechen sollte und versuchen sollte, […] das zu heilen, denn ich sage, ich erkenne an, dass ich sehr hart mit ihm war, deshalb denke ich, dass er auch etwas braucht, nicht wahr, eine Befreiung. […] Denn manchmal tut mir mein Herz weh und ich sage: Ja, ich war sehr hart mit ihm. Und […] manchmal hat man Kinder, und man hat weder die Reife noch die Fähigkeit, seine Kinder großzuziehen.«64 Auch im Kursbuch Nueva Vida en Cristo (Neues Leben in Christus) wird der Bitte um Vergebung an andere existenzielle Bedeutung zugesprochen. In der Darstellung des Kursbuches gilt die Bitte um Vergebung an andere ebenso wie in den Darstellungen der eben zitierten Informantinnen als Voraussetzung für die Heilung einer Beziehung und als Voraussetzung für die innere Heilung beider Beteiligten. Zudem wird im Kursbuch als Ziel der Bitte um Vergebung an andere die Gemeinschaft mit Gott genannt. Um all dies zu erreichen, wird dort in vier Schritten zur Versöhnung mit Menschen, denen gegenüber man schuldig geworden ist, angeleitet: Man müsse zuerst das eigene Fehlverhalten anerkennen, dann Gott um Vergebung dafür bitten, dann sich selbst überprüfen, ob man der anderen Person deren Fehlverhalten vergeben habe, und schließlich eine Gelegenheit suchen, mit der Person zu sprechen. In diesem Gespräch solle man, unabhängig von der möglichen Schuld der anderen Person, auf Erklärungen verzichten, das eigene Fehlverhalten präzise benennen und um Vergebung dafür bitten.65 Die Pflicht, sich gegenseitig die Sünden zu bekennen, wird mit dem Verweis auf den Bibelvers Jakobus 5,16 begründet.66 Unabhängig von der Frage nach eigener oder fremder Schuld wird hier die Überzeugung vertreten, dass zugunsten einer Verbesserung der Situation bei den eigenen Handlungsoptionen anzusetzen und nicht die Kooperation anderer zu erwarten ist.

1.3

Das Selbstkonzept

Eine Informantin, die dem CCCAJ angehörte, differenzierte zwischen zwei Wegen zur inneren Heilung, nämlich dem der Vergebung und dem der Heilung des Selbst64 65 66

Interview Nr. 41, 24.4.2015. Vgl. Robinson 2001, 20f. Vgl. Robinson 2005, 18.

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konzepts. Welcher Weg für einen selbst der richtige sei, sei von der individuellen Biographie abhängig. Sie selbst habe keine Verletzungen durch andere vergeben müssen, weil sie keine Misshandlungen erlebt habe. Ihr Bedürfnis nach innerer Heilung habe sich vielmehr aus den Konsequenzen einer Kindheit in Armut und des Todes ihres Zwillingsbruders ergeben, die ihr Selbstkonzept beschädigt hätten: »Ich […] hatte nicht das Gefühl, dass ich vergeben musste, sondern vielmehr, dass ich genesen musste. Denn nicht, dass man mir viel angetan hätte, sondern es waren vielmehr die Umstände, unter denen ich gelebt hatte. Der Verlust meines Bruders, die Umgebung, in der ich lebte.«67 Während hier die Vergebung und die Heilung des Selbstkonzepts als zwei getrennte Wege zur inneren Heilung dargestellt werden, vertraten andere Informantinnen die Auffassung, dass die Vergebung zur Heilung ihres Selbstkonzepts beigetragen hätte, insofern sie sich durch sie von der Fixierung auf die Personen, durch die sie verletzt worden waren, und aus der passiven Opferrolle im Allgemeinen befreit hätten. Infolge der selbstbestimmten Entscheidung zur Vergebung hätten sie erfahren, durch eine eigene Entscheidung das eigene Leben verändern zu können. Die Vergebung ermöglichte ihnen also eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Kontrolle, die ihr Selbstkonzept ihren Aussagen zufolge transformierte. Als weiterer Aspekt, der die Transformation des Selbstkonzepts ermöglicht, galt die Erfahrung der Liebe Gottes, die den Wert der eigenen Person erkennen lasse. Auf welche Weise diese Erfahrung vermittelt wird und wie sie sich auswirken kann, soll anhand des Beispiels einer neuen Teilnehmerin der Frauengruppe der Kirche MSDJ gezeigt werden. Als diese die Gruppe erstmals besuchte, blickte sie nahezu ununterbrochen auf den Boden und beteiligte sich nicht am Gespräch. Sie wirkte verschlossen und traurig. Während der kommenden Versammlungen betonten die Versammlungsleiterinnen in redundanter Weise, dass die Anwesenden von Gott geliebt, wertvoll und schön seien. Wenn die neue Teilnehmerin sagte, dass niemand sich um sie sorge, erwiderten die Leiterinnen unermüdlich, dass die Gruppe ihre Familie sei, dass die Gruppenmitglieder ihre Schwestern seien und dass diese Familie immer für sie da sei. Erschien die neue Teilnehmerin nicht zu einer der Versammlungen, erkundigten sich die Leiterinnen im Anschluss telefonisch nach ihrem Befinden. Nachdem sie einige Wochen an den Versammlungen teilgenommen hatte, hatten sich ihre Gestik und Mimik verändert. Sie partizipierte, lächelte und lachte. Statt verschlossen und traurig wirkte sie nun aufgeschlossen und fröhlich. Auf diese Transformation angesprochen, erklärte die Co-Pastorin der Kirche, die die Frauengruppe gelegentlich leitete, es sei ein zentraler Auftrag, den Gott ihr und ihrer Kirche gegeben habe, Frauen zu vermitteln, dass sie wertvoll sind: 67

Interview Nr. 52, 21.5.2015.

1 Themen der Heilung

»Man lernt die Schäfchen kennen, nicht wahr. Und sie […] fühlen dieses Vertrauen, also kommen sie vielleicht und sagen dir: […] ›Bei der Arbeit misshandeln sie mich.‹ […] Was man versucht, ist, dass sie merkt, dass sie einen Wert hat, also, dass sie sehr wertvoll ist, dass sie eine Tochter Gottes ist und dass, obwohl das passiert, was passiert, der Herr da ist. […] Denn sie […] fühlt sich […] sehr gering, […] so ›Ich bin nichts wert, und siehst du nicht, wie sie mich misshandeln und demütigen?‹ Deshalb muss man ihnen das eintrichtern. […] Damit sie sagt: ›Ja klar, ich bin wertvoll.‹ […] Sie hat sich sehr verändert im Vergleich dazu, wie sie angekommen ist, als sie nicht geredet hat und nichts, jetzt sieht man es ihr schon aus der Ferne an. […] Sie sagte: ›Ich habe niemanden.‹ […] Ich sagte ihr: ›Nein, aber du hast doch uns.‹ Also, damit sie sieht, dass sie, obwohl sie keine Kinder hat, keine Geschwister, nichts, auf uns zählen kann. […] Sie sagt mir: ›Danke, denn ich habe das Gefühl, ihr seid meine Familie. Dass […] der Herr mir euch schickt.‹ Also, damit sie sich wenigstens auf jemanden verlassen kann, damit sie sich nicht so alleine fühlt. Und damit sie jemanden hat/ wenn ihr etwas passiert, dass sie jemanden hat, auf den sie/ aber es ist Teil der Berufung, denn der Herr hat uns berufen, Frauen aufzurichten.«68 Die Co-Pastorin verstand es als Aufgabe der Gemeinschaft, durch Zuspruch und Fürsorge Frauen erfahren zu lassen, dass sie wertvoll sind. Das folgende Zitat zeigt, dass dies auch für sie selbst die zentrale Erfahrung war, als sie in einer schwierigen Lebensphase zur Gebetsgruppe der Frau hinzustieß, die später die Kirche MSDJ gründen würde. Ihr Selbstkonzept habe sich gänzlich verändert, als sie selbst zur Co-Pastorin berufen worden sei und dadurch verstanden habe, dass der Sinn ihres Lebens nicht auf die Rollen der Ehefrau und der Mutter begrenzt sei, sondern sie über wertvolle spirituelle Gaben verfüge. Dadurch habe sie erkannt, dass sie zu wertvoll sei, um von ihrem Mann misshandelt zu werden, so dass sie diesem zunächst verbot, sie zu misshandeln, und sich schließlich von ihm trennte. Die Autorität und das Selbstbewusstsein, das sie durch ihre spirituellen Gaben und auch durch biblisch-theologische Bildung erhalten habe, gebe sie nun an andere Frauen weiter, indem sie diese zur Übernahme spiritueller Aufgaben und zu Verantwortungsbewusstsein anleite: »In meiner spirituellen Ignoranz […] sagte ich dem Herrn mehrmals: […] ›Gott, was ist mit mir? […] Ich bin schon Ehefrau, ich bin Mutter. […] Was tue ich?‹ Denn wenn man sich total dem Haus widmet, […] den Kindern, dem Ehemann/ Was ist mit mir? […] Aber als ich sie [d.h. die Leiterin der Gebetsgruppe und spätere Gründerin der Kirche] kennenlernte und begann zu dienen, […] da habe ich den Plan für mein Leben entdeckt. […] Es war eine vollkommene Veränderung. […] Der

68

Interview Nr. 58, 1.6.2015.

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Herr hat viele Veränderungen in mir bewirkt. […] Ich lernte, mich als Frau wertzuschätzen. Zu verstehen, […] dass das, was mir vorher normal erschien, nicht normal ist. Einen Ehemann zu haben, der einen kontrolliert. […] Dass ich als Frau sehr wertvoll bin und dass […] niemand das Recht hat, […] mich zu misshandeln, mich zu demütigen, viel weniger eine Hand gegen mich zu erheben. […] Wir sprachen mit ihm und wir sagten ihm, dass es so nicht weiter gehen kann. Ich sagte ihm: ›Ich verdiene es nicht, dass du mich misshandelst. Dass du mich demütigst. […] Dass du mich […] angreifst, körperlich.‹ […] Er versprach, […] sich zu verändern, aber es hat ungefähr eine Woche gedauert. […] Dann tat er wieder dasselbe. Also […] musste ich ihn leider rausschmeißen. Wegen der Gewalt. […] Der Herr hat mir die [Gabe der] Heilung geschenkt. […] Im Moment wächst diese Gabe […] schon in mir. […] Ich merke das, […] wenn ich für jemanden bete. […] Ich sehe […]/ wow, der Herr hat es gemacht, also sage ich: ›Da wächst es.‹ Der Herr spricht viel zu mir durch Träume. Durch Visionen. Ich deklariere im Namen Jesu, dass ich die [Gabe der] Prophetie erwarte. […] Er hat mir die Gabe der Zungenrede gegeben, aber ich habe das Gefühl, das ist irgendwie […] eingeschlafen, dass es noch nicht aktiviert ist. […] Er hat mir die [Gabe] gegeben, Geister zu unterscheiden. […] Mit Frauen zu arbeiten, ist eine Berufung. […] Ich habe das Pastorenamt, und ich weiß nicht, was mein Herr mir noch schenken wird. […] Ich bete und salbe, was auch immer der Heilige Geist sagt. […] Zu fast allem begleite ich die Pastoren. […] Aber wenn sie nicht kann, dann sagt sie mir: ›Du bist dran zu gehen. Geh.‹ […] Es ist normal, […] [als unerfahrene Leiterin einer Versammlung der Frauengruppe] ein bisschen Angst zu fühlen, aber sie [d.h. die Frauen] wachsen, sie verlieren die Angst. […] Am Anfang habe ich ihnen geholfen. Ich sagte: ›Gut, Ana, du stellst die Frage und ich mache das Gebet.‹ […] Und eines Tages sagte ich ihr: ›Nein, Ana, jetzt reicht es. Du kannst beten.‹ Und sie hat es geschafft.«69 Die Erfahrung, dass das Selbstkonzept durch das Vertrauen anderer in die eigenen Fähigkeiten, die Übernahme von Verantwortung und die erfolgreiche Ausführung neuer, herausfordernder Aufgaben, transformiert wird, beschrieb auch eine Informantin, die dem CCCAJ angehörte: »In den Wachtumskursen halte ich Vorträge, […] eine Sache, die für mich unmöglich war, denn ich hielt mich für sehr nervös, [ich dachte,] dass ich nichts wusste. […] Ich weiß nicht, ob ich es gut oder schlecht mache, aber ich halte die Vorträge. Und möglicherweise mache ich es gut, denn ich werde immer wieder darum gebeten.«70

69 70

Interview Nr. 58, 1.6.2015. Interview Nr. 63, 15.6.2015.

1 Themen der Heilung

Auch der Gesang und der Tanz in Gottesdiensten gehörten zu den Tätigkeiten in Kirchen, die Frauen zu Anerkennung verhalfen. Während weltliches Tanzen als Sünde galt, hatten viele Kirchen Tanzgruppen, die in Gottesdiensten zur Ehre Gottes auftraten. Diese Neuinterpretation des Tanzens, die anhand der semantischen Unterscheidung zwischen bailar für weltliches, häufig sexualisiertes Tanzen und danzar für geistliches, dezidiert nicht sexualisiertes Tanzen ersichtlich wird, ermöglichte es überwiegend Frauen, eine mit Freude verbundene Tätigkeit im geschützten Rahmen auszuüben und für ihre Fähigkeiten anerkannt zu werden. Die Pastorin der Kirche MSDJ ermutigte während einer der Versammlungen der Frauengruppe die Anwesenden zu einer gepflegten bis glamourösen Aufmachung in Makeup, Frisur und Kleidung im öffentlichen wie im privaten Raum. Ob sie in dieser Aufmachung ein Mittel zur Transformation des Selbstkonzepts, den Ausdruck eines transformierten Selbstkonzepts oder beides sah, geht nicht eindeutig aus ihrer Aussage hervor: »Zieht euch etwas Schönes an, Ohrringe, frisiert euch, schminkt euch, nicht nur, um nach draußen zu gehen, sondern auch, um im Haus zu sein. Gebt euch selber einen Wert!«71 Als Ausdruck der emotionalen Verfasstheit verstand die Pastorin der Kirche ICC das äußere Erscheinungsbild von Frauen. Sie war überzeugt, dass sich die innere Heilung darauf auswirkt, so dass geheilte Frauen selbstsicherer und fröhlicher würden, sich ihre Gestik und Mimik veränderten und viele begännen, mehr auf ihr Makeup, ihre Frisur und ihre Kleidung zu achten. Andersherum äußere sich ein Selbstkonzept der Wertlosigkeit in einer entsprechenden Selbstdarstellung: »Wenn eine Frau heilt, wenn eine Frau ihre Denkweise verändert, dann verändert sich sogar ihre Art, sich zu kleiden. […] Alles. Ihre Persönlichkeit. Es sind sicherere Frauen, fröhlichere Frauen. […] Ich hatte Frauen, denen man im Gesicht die Traurigkeit angesehen hat. […] Frauen, die älter aussahen wegen all des Leids, das sie mit sich herumschleppten. […] Was in dir ist, wird nach außen reflektiert. […] Einige von ihnen verändern tatsächlich die Art, sich zu kleiden. […] Sie hatten sich weder hübsch noch wichtig gefühlt, dass sie zu nichts nütze sind, deshalb haben sie sich nicht zurechtgemacht. In dem Moment, in dem sie beginnen, sich einen Wert zu geben, beginnen sie, sich zurechtzumachen. […] Sie erscheinen komplett verwandelt. Ich habe immer geglaubt, dass, wenn Gott mich innerlich verwandelt, man es äußerlich sehen muss.«72 Die Pastorin der Kirche MANAIA erklärte, dass sie die Transformation des Selbstkonzeptes von Frauen mit Hilfe eines zweiphasigen Konzepts verfolge. Die erste 71 72

Feldforschungstagebuch 6.4.2015. Interview Nr. 26, 7.4.2015.

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Gender und Heilung

Phase sei die der Identitätsfindung, während derer sie den Frauen vermittle, dass ihr Wert weder von ihrer Gebärfähigkeit noch von ihrer Behandlung durch andere abhänge, sondern allein auf Gottes Liebe zu ihnen beruhe. Um den Frauen ein Selbstkonzept als geliebte Geschöpfe Gottes zu vermitteln, bespreche sie mit ihnen theologische Themen wie Prädestination, Christi Versöhnungstod und geistliche Wiedergeburt. Die zweite Phase lässt sich als die der Persönlichkeitsfindung bezeichnen, insofern die Pastorin den Frauen helfe, ihre Gaben und ihre Berufung zu erkennen und herauszufinden, welcher Handlungsbereich der Kirche ihrer Persönlichkeit und ihren Fähigkeiten entspreche: »Mit den Frauen […] wird […] in zwei Phasen gearbeitet. Die [erste] Phase handelt von der Identität. Wie sie verstehen können, dass sie nicht nur als Frauen geboren wurden, um Kinder zu bekommen, oder […] falls sie schmerzhafte Erfahrungen durchgemacht haben wie Missbrauch, oder falls sie von einem Mann verlassen worden sind. […] Sie müssen […] die Macht ergreifen, die Gott der Frau gegeben hat. […] Jesus selbst […] wurde stark von Frauen unterstützt. […] Die Frauen […] beginnen mit einer Phase, in der sie spirituelle Milch erhalten. Es geht um die pure Bibel, […] Vorherbestimmung, Wiedergeburt, Versöhnung, alles. Was Christus am Kreuz gemacht hat. Der Gott der Bibel. Dann beginnen die Frauen […] zu verstehen, warum sie geschaffen wurden, egal ob sie eine Vergewaltigung erlebt haben, ob […] sie verlassen wurden. Man muss […] zum Kern vordringen, was Christus für sie getan hat. Und warum sie wertvoll und wichtig sind. Danach beginnen wir daran zu arbeiten, die [eigene] Gabe kennenzulernen. Wozu bin ich berufen? Es gibt Frauen, die sind Evangelistinnen, […] sie können einen missionarischen Ruf haben. […] Ein Test wird gemacht. Wir arbeiten auch viel bezüglich der Temperamente, […] sie müssen [ihr eigenes] entdecken.«73 Eine Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, erzählte, dass ihr Selbstwertgefühl durch Misshandlungen ihres Mannes stark beschädigt worden sei. In der Kirche sei ihr bewusst gemacht worden, dass sie als Gottes Tochter und Prinzessin wertvoll sei und keine Verletzungen hinnehmen müsse. Als sie diese Erkenntnis verinnerlicht habe, sei sie zunehmend in der Lage gewesen, ihrem Mann Grenzen im Verhalten ihr gegenüber zu setzen: »Obwohl ich den Herrn kannte, bekam ich ein geringes Selbstwertgefühl […] Einer gewalttätigen Person […] mit Lastern und allem gegenüberzustehen, höhlte mein Selbstwertgefühl aus. Also musste der Herr mich wieder aufrichten und mir erneut sagen: ›Du bist meine Tochter. Du musst keine physische und verbale Verletzung aushalten. Du bist meine Prinzessin.‹ Also begann der Herr, mein

73

Interview Nr. 61, 4.6.2015.

1 Themen der Heilung

Selbstwertgefühl wiederherzustellen, und entsprechend seiner Wiederherstellung meines Selbstwertgefühls erlaubte ich also zu Hause gewisse Dinge nicht mehr.«74 Eine andere Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, beschrieb Gottes Liebe zu den Frauen mit einer Formulierung aus dem Bibelvers Psalm 17,8: »Er liebt uns, nicht wahr. Wir sind super besonders, denn in der Bibel wird so viel über die Frauen gesprochen, nicht wahr. Aber für Gott sind wir alle wichtig, aber in der Bibel heißt es, dass wir wie sein Augapfel sind, nicht wahr. Er liebt uns mit ewiger Liebe.«75 Die Bedeutung der Frauen für Gott wird in Anlehnung an diesen Bibelvers häufig mit der Formulierung la niña de sus ojos bezeichnet, die mit »Augapfel« übersetzt wird. Da niña sowohl »Pupille« als auch »Mädchen« oder »Tochter« bedeutet, konnotiert la niña de sus ojos anders als die deutsche Übersetzung »Augapfel«, aber ebenso wie die hebräische Formulierung bat-ayin das Ideal einer innigen, exklusiven Vater-Tochter-Beziehung. Das gleichnamige Lied des evangelischen venezolanischen Sängers Daniel Calveti gehörte zu den am häufigsten gesungenen Liedern bei evangelisch-pentekostalen Veranstaltungen für Frauen. Eine Informantin, die dem CCCAJ angehörte und im folgenden Zitat Irene genannt wird, erklärte, dass sie während ihres Initiationskurses verstanden habe, dass Jesus für sie persönlich gestorben ist und dass er auch dann für sie gestorben wäre, wenn sie der einzige Mensch auf der Welt wäre. Das Bewusstsein, für Jesus entsprechend wichtig zu sein, ist das Fundament ihres Selbstkonzepts: »Da wird ein Thema behandelt, das heißt Gottes Liebe, und da wird dir dieser Gott vorgestellt, wie sehr er dich liebt. Dieser Gott, der Vater ist. Dieser Gott, der […] dich geschaffen hat. […] Als ich merke, dass Gott Irene so sehr liebte/ denn er sagt: ›So sehr liebte Gott die Welt,‹ nein, […] denn die Welt ist sehr groß; ›so sehr liebte Gott Irene, dass er seinen einzigen Sohn schickte, damit alle, die wir an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern gerettet werden.‹«76 Im Kontext des Heilungsgebets wird die Biographie Hilfe suchender Personen neu als von Gott geplante Hinführung zu ihm interpretiert, während derer er diesen Personen stets liebend und unterstützend nahe gewesen sei. Ähnliches geschieht im Kontext des Theophostischen Gebetsdienstes, wenn in der imaginären Visualisierung von Erinnerungen Jesus die imaginierte Szenerie betritt, so dass die Erinnerungen eine neue Bedeutung erhalten. Diese biographischen Neuinterpretatio-

74 75 76

Interview Nr. 8, 18.3.2015. Interview Nr. 43_1, 28.4.2015. Interview Nr. 52, 21.5.2015. Vgl. den Bibelvers Johannes 3,16.

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Gender und Heilung

nen sollen zu einer Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit und folglich auch zu einer Transformation des Selbstkonzepts beitragen. Der Pastor der Kirche IM, Nelson Paredes, ist Verfasser unter anderem eines Buches mit dem Titel Mujeres que bendicen (Frauen, die segnen), das im Buchladen seiner Kirche verkauft wurde und von den Schwächen und Stärken, spirituellen Bedrohungen und Ressourcen von Frauen handelt. Er betont, dass das Ergehen der Männer, der Familien, des Vaterlandes und der gesamten Zivilisation vom Wirken der Frauen abhängt und widerspricht der Vorstellung, der Wert einer Frau hänge ausschließlich von körperlichen Merkmalen ab. Stattdessen ergebe sich der Wert einer Frau aus ihrer Liebe und ihrem Leiden für ihren Mann, und es sei das größte Privileg einer Frau, aufopferungsvoll und selbstlos für ein Kind und den Vater des Kindes sorgen zu dürfen.77 Mit diesem marianistisch geprägten Frauenideal geht eine Aufwertung traditionell weiblicher Tätigkeiten in Haushalt und Familie einher. So postuliert Paredes, Gott sehe und wertschätze all diese Tätigkeiten, auch wenn sie von anderen Menschen häufig nicht wahrgenommen und wertgeschätzt würden. Der Wert der Aufopferung von Frauen für die Familie war ein zentrales Thema im Rahmen einer Festveranstaltung im Theater von Alajuela am 7.3.2015, die anlässlich des Internationalen Frauentags von Frauen verschiedener Kirchen gestaltet wurde. Mehrere Rednerinnen äußerten, dass die aufopferungsvolle Ausführung von Tätigkeiten im Bereich von Haushalt und Familie Frauen für Gott besonders wertvoll mache. So schilderte eine Rednerin, dass sie sich jahrelang gerne für ihre Kinder und ihren Mann verausgabte, bis sie schließlich gewahr wurde, dass diese ihre Bemühungen als Selbstverständlichkeiten in Anspruch nahmen, aber sie selbst nicht wahrnahmen. In der Enttäuschung über diese Erkenntnis hätte Gott zu ihr gesprochen: »Ich sehe dich. Ich liebe dich. Ich sehe jede Mahlzeit, die du für deine Familie zubereitest. Ich sehe jedes Kleidungsstück, das du für deine Familie bügelst.«78 Dadurch hätte sie verstanden, dass die Frauen nicht geschaffen wurden, um von den Menschen Anerkennung zu erhalten, sondern um von Gott verherrlicht zu werden. Für ihn seien ihre Tätigkeiten auch dann wertvoll, wenn Menschen sie nicht wertschätzten. Sie ermahnte die anwesenden Frauen, daher den Wert des eigenen Tuns und der eigenen Person nicht infrage zu stellen. Sie kritisierte nicht das als missachtend empfundene Verhalten ihres Mannes und ihrer Kinder, sondern beurteilte im Gegenteil ihren Ehemann als guten Ehemann. Was ihr Leben veränderte, war folglich nicht die Veränderung von Beziehungen oder Bedingungen, sondern die Transformation ihres Selbstkonzepts. Durch die Einsicht in die theologische Bewertung ihres Tuns und ihrer Person sei sie sich

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Vgl. Paredes 2008, bes. 13. Feldforschungstagebuch 7.3.2015.

1 Themen der Heilung

ihres Werts bewusst und emotional von der Anerkennung ihrer Mitmenschen unabhängig geworden. Dieselbe Botschaft vermittelte eine andere Rednerin dieser Veranstaltung in einer Auslegung der Bibelpassage Genesis 29,16-30,24. Sie bezog das Schicksal Leas, Jakobs geringgeschätzter Ehefrau, auf das der anwesenden Frauen und erklärte, dass Gott eingriff, um der Geringschätzung durch den Ehemann Ehre entgegenzusetzen, indem er Lea viele Kinder gebären und sie zur Mutter von mehr als der Hälfte der Stämme Israels werden ließ. Sie schlussfolgerte, dass das Selbstkonzept einer Frau nicht von der Achtung des Ehemannes abhängen solle, weil dessen Missachtung durch Gottes Wertschätzung ihrer Tätigkeiten kompensiert werde. Auch diese Rednerin stellte das Verhalten von Männern, die ihre Frauen geringschätzten, nicht infrage, strebte keine Veränderung der Beziehungen oder Bedingungen an und distanzierte sich zudem explizit vom Feminismus. Stattdessen betonte sie, dass Frauen trotz der Geringschätzung durch ihre Männer zu diesen halten sollten. Sie beendete ihren Vortrag folgendermaßen: »Wir sind keine Feministinnen. Wir sind Frauen, die ihre Ehemänner lieben, denn so soll es sein. Das ist der vollkommene Segen.«79 Als eine Angehörige der Kirche CCVN den Kurs Renovada (Erneuert) mit einer Gruppe von Frauen verschiedener Denominationen durchführte, verfolgte auch sie das Ziel der Transformation des Selbstkonzepts der Teilnehmenden, indem sie versuchte dazu beizutragen, dass die Frauen von der Anerkennung der Ehemänner und Kinder unabhängig würden. Sie sagte ihnen, sie sollten ihr Selbstkonzept nicht durch andere, sondern allein durch Gottes Wahrheit, dass sie seine geliebten, wertvollen Töchter seien, bestimmen lassen, denn »die Liebe unserer Kinder und unseres Mannes wird uns nicht erfüllen. Die einzige vollkommene Liebe ist von Gott.«80 Auch bekannte Predigerinnen und Prophetinnen verkündeten, dass häusliche Tätigkeiten für Gott wertvoller sind als kirchliche. Ihr Erfolg geht also damit einher, die eigenen Tätigkeiten abzuwerten. So pries eine Predigerin während eines Frauenkongresses mit dem Titel Dios tiene un propósito para tí (Gott hat etwas mit dir vor) am 27.2.2015 in der Kirche IM die Hingabe von Frauen an die Familie und den Haushalt und bezeichnete diese als wertvoller als alle kirchlichen Ämter: »Du bist kein Zufall! […] Du bist Gottes Schöpfung! […] Es gibt einen göttlichen Plan! […] Vielleicht gibt es Frauen, die Pastorinnen, Evangelistinnen, Apostelinnen […] sind. Aber das höchste Amt ist meine Familie, ist mein Haus!«81 79 80 81

Feldforschungstagebuch 7.3.2015. Feldforschungstagebuch 19.5.2015. Vgl. auch Sumner 2010, 2-10. Feldforschungstagebuch 27.2.2015.

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Gender und Heilung

Das Konzept, häusliche Tätigkeiten seien für Gott wertvoller als kirchliche, wird mit der häufig zitierten Formulierung La primera iglesia es la casa (Die erste Kirche ist das Haus) zusammengefasst und wertet nicht nur traditionell weibliche Tätigkeitsbereiche im Haus auf, sondern auch entsprechende Tätigkeitsbereiche wie Reinigung und Dekoration in den Kirchen. Diese Aufwertung erleichtert es wiederum Männern, zu Hause ebenso wie in den Kirchen Tätigkeiten auszuüben, die traditionell weiblich geprägt sind. So waren in den Kirchen Männer zu beobachten, die den Boden wischten oder Geschirr spülten. Es lässt sich daher zusammenfassen, dass die Aufwertung traditionell weiblicher Tätigkeiten im Haus das Selbstkonzept von Frauen ebenso wie die männliche Dominanz in öffentlichen Tätigkeitsbereichen wie der Kirche und darüber hinaus stärkt, aber gleichzeitig auch dazu führt, dass häusliche und familiäre Tätigkeiten mehr Wertschätzung erhalten und dadurch attraktiver werden. Zwar besteht das primäre Ziel nicht in einer Veränderung der Bedingungen, doch es ist nicht auszuschließen, dass sich durch das genannte Konzept Bedingungen verändern, weil durch die Aufwertung häuslicher und familiärer Tätigkeitsbereiche auch Männer motiviert werden, sich an diesen zu beteiligen.

2 Orte der Heilung

Die Themen der inneren Heilung dominieren Beratungssitzungen, Gottesdienste, Kongresse, Vorträge, Versammlungen denominationeller Frauengruppen und nichtdenominationeller Organisationen, Kurssitzungen und Rüstzeiten. Überall dort wird über die Vergebung gesprochen und zum Vollzug der Vergebung angeleitet, wird der Wert der einzelnen Frau als geliebtes Geschöpf Gottes thematisiert und erfahrbar gemacht. Gelten diese Themen als existenziell für alle Gläubigen, so gilt ihre Vermittlung im Kontext der Konversion als besonders wichtig, weil sie die Voraussetzung für Heilung und Heiligung darstellt. Folglich dominieren diese Themen die Veranstaltungen für Konvertierte in besonderer Weise, damit diese von spirituellen und seelischen Lasten aus dem Leben vor der Konversion befreit werden und der Übergang vom alten zum neuen Leben ermöglicht wird. Eine Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, erklärte die Dominanz des Themas der Vergebung in den Veranstaltungen ihrer Kirche mit der Notwendigkeit der Vergebung als Voraussetzung für seelisches und spirituelles Heil: »Und danach, wenn man den Herrn empfangen hat und alles, dann muss man diese Dinge angehen, die verhindern, dass man im Leben wächst, weil es einen Mangel an Vergebung gibt. […] Die Vergebung wird viel behandelt, in fast allen Versammlungen der Kirche. Sie ist sehr wichtig, weil wir wissen, dass er [d.h. der Mangel an Vergebung] verhindert, dass die Person wächst und Heil empfängt. […] Indem ich Vorträge und Vorträge und Predigten hörte und die Bibel las, begriff ich die Bedeutung der Vergebung.«1 Im Folgenden werden die genannten Orte und Settings der Heilung untersucht. Wie sind sie organisiert? Wie werden sie von Leitenden und Teilnehmenden wahrgenommen? Auf welche Weise werden die Themen der inneren Heilung angesprochen? Wie wird Heilung erfahrbar gemacht? Worin besteht jeweils der diskursive Hintergrund?

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Interview Nr. 44, 7.5.2015.

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Gender und Heilung

2.1

Beratung

2.1.1

Praxis

Voraussetzungen und Organisation Consejería (Beratung) ist ein zentraler Dienst in evangelischen pentekostalen Kirchen wie auch in den Gemeinschaften der RCC. In kleineren Kirchen steht für diesen Dienst in erster Linie der Pastor, die Pastorin oder das Pastorenehepaar zur Verfügung. In größeren evangelischen Kirchen und in den Gemeinschaften der RCC sind Beraterinnen und Berater tätig, die sich Beratungsmethoden und psychologische Grundlagen in kircheninternen oder nichtdenominationellen sowie in einigen Fällen auch in universitären Seminaren angeeignet haben. Diese Personen genießen in ihren Kirchen und Gemeinschaften und gelegentlich darüber hinaus Anerkennung und Respekt für ihre Tätigkeit. Manche Informantinnen sprachen von ihrer Beraterin als ihrer spirituellen Mutter, von der sie die Grundlagen des Glaubens erlernt und mit deren Hilfe sie ein verändertes Leben begonnen hätten. Der genuine Zeitpunkt für die Beratung ist im Anschluss an die Konversion. Entsprechend der Bedeutung der Vergebung im Moment des Übergangs vom alten zum neuen Leben als Voraussetzung für Heilung und Heiligung gilt die Beratung im Zusammenhang mit diesem Wendepunkt als besonders wichtig, um die seelischen Verletzungen des alten Lebens zu heilen und dann auch auf das neue Leben vorzubereiten, indem ethische Richtlinien vermittelt und eigene Tätigkeiten als Teil der kirchlichen Gemeinschaft vorbereitet werden. Über den zeitlichen Kontext der Konversion hinaus nehmen Pentekostale die Möglichkeit der Beratung auch Jahre nach der Konversion in Krisensituationen jeglicher Art in Anspruch. Im Folgenden wird dargestellt, wie mehrere Beraterinnen und eine Pastorin in der Beratungstätigkeit vorgingen und welche Überzeugungen und welche Ausbildung dieser Tätigkeit zugrunde lagen. Eine Beraterin, die zum Zeitpunkt des zitierten Gesprächs seit etwa 20 Jahren der Kirche CCVN angehörte, stand nun als pensionierte Lehrerin nach vier Jahren des Abendstudiums kurz vor dem Abschluss ihres Bachelors in Theologie an der privaten Bibelschule Universidad Bíblica Word in Heredia. Sie hatte im Kontext ihres Lehramtsstudiums Lehrveranstaltungen in Psychologie an einer staatlichen Universität besucht sowie an mehreren Beratungskursen des Club 700 teilgenommen. Sie versammelte sich regelmäßig mit den anderen Beraterinnen und Beratern ihrer Kirche unter der Leitung des Pastors zu Austausch und Fortbildung. Zu diesen Versammlungen wurden auch Fachleute wie Pastorinnen und Pastoren, Psychologinnen und Psychologen zu Vorträgen eingeladen. Als Voraussetzungen für den Beratungsdienst nannte sie Verschwiegenheit und das Wissen um die eigene Berufung, doch das Wichtigste sei, dass man über eine persönliche Beziehung zu Jesus

2 Orte der Heilung

und über eine profunde Bibelkenntnis verfüge, weil es in der Beratung nicht um die Vermittlung persönlicher Erfahrungswerte oder Gewohnheiten gehe, sondern um Gottes in der Bibel offenbarten Willen, der im Gebet durch den Heiligen Geist seine Kraft für spezifische Situationen entwickle: »Die Arbeitstechniken kann man in Kursen und von Leitungspersonen lernen. […] Aber wenn da keine Abhängigkeit vom Herrn ist, keine Gemeinschaft mit dem Herrn, dann ist es nur der Buchstabe,2 dann wird es bei der anderen Person keinen Eindruck hinterlassen. […] Es ist der Heilige Geist, der genau dorthin gelangt, wo diese Person Heilung braucht. Deshalb glaube ich, dass das Wichtigste eine gute Beziehung zum Herrn ist.«3 Im Gebet lasse der Heilige Geist sie die Gefühle der ratsuchenden Person nachempfinden und gebe ihr die richtige Handlungsweise ein. Sie verstand sich als Instrument des Heiligen Geistes, dessen Zweck es sei, zwischen Gott und den Ratsuchenden zu vermitteln. Diese Funktion wird in folgendem Zitat deutlich: »Einmal sagte mir der Herr: ›Hol eine Decke, bete für diese Decke und leg sie ihr über.‹ Ich fing an für die Decke zu beten, während ich mit dem Mädchen redete, und als der Moment kam, dass ich die Decke brauchte/ Das Mädchen war vergewaltigt worden, aber ich wusste es nicht. […] Und später sagte mir der Herr: ›Deck sie zu, deck sie zu.‹ Und es war sehr schön, weil es Gott war, der alles aus ihr herausholte, was sie fühlte, die Scham, die Beschmutzung, die Ablehnung, die Angst.«4 Als Instrument Gottes könne sie die Last der Ratsuchenden an Jesus abgeben. Dies entlaste sie selbst: »Man ist ein Instrument und […] keine Abstellkammer. […] Du kommst und lässt mir die Last, aber ich werfe sie auf das Kreuz, denn sonst fängt man an krank zu werden oder zu leiden, weil man keinen Ausweg findet.«5 Dass diese Beraterin sich als Instrument des Heiligen Geistes verstand, verlieh ihr ein spirituelles Machtbewusstsein, infolgedessen sie innerhalb und außerhalb des Beratungskontextes Prophetien und Dekrete für andere formulierte, von deren Wirkung und Wahrheit sie überzeugt war:

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Vgl. den Bibelvers 2 Korinther 3,6. Interview Nr. 73_2, 10.7.2015. Interview Nr. 73_2, 10.7.2015. Interview Nr. 73_2, 10.7.2015.

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»Ich habe ein Wort der Macht. […] Was ich sage, tritt ein, […] was ich für eine Person dekretiere. Denn das ist das, was Gott mir gesagt hat, dass er jedes meiner Worte unterstützen wird.«6 Sie erklärte, dass sie Hilfe suchende Personen im Regelfall während bis zu vier Sitzungen begleite, einzelne Frauen jedoch auch schon über Jahre hinweg beraten habe. Ein wichtiger Bestandteil der Beratungssitzungen sei die Aufarbeitung der Familiengeschichte, weil diese entscheidend das seelische und geistliche Ergehen bestimme. Abhängig von den spezifischen Problemen einer Person und deren Ursache rekurriere sie in der Beratung auf Methoden der inneren Heilung wie das Heilungsgebet oder das Stellvertretungsgebet oder auf Methoden der spirituellen Heilung wie Kampf- und Befreiungsgebete. Zum Abschluss der Beratungssitzungen identifiziere sie die Gaben der Person, salbe die Person und weise sie auf ihre ethische Verantwortung hin: »Es ist, wie Gottes Siegel zu machen. Und ich rede auch mit ihnen über ihre Verantwortung, die sie haben sollten, weil sie nun sauber sind und den Tempel Gottes hüten sollten. Dass es nicht mehr ihr Haus ist, sondern dass es der Tempel des Herrn ist und dass wir hüten sollen, was wir sagen, was wir denken und sogar was wir hören. […] Ich salbe sie und wir bitten den Herrn, dass er die Gaben beleben möge, denn manchmal wissen die Leute nicht einmal, wozu sie taugen. Manchmal, während die Person redet, kann man schon ihre Gaben wahrnehmen.«7 Die Pastorin, deren Beratungstätigkeit im Folgenden dargestellt wird, gründete mit ihrem Mann die Kirche ICC, die zum Zeitpunkt des im Folgenden zitierten Interviews etwa 300 Mitglieder hatte. Die Mehrheit der Mitglieder waren Frauen, die sich in Problemsituationen an die Pastorin gewandt hatten. Diese erklärte, dass sie, wenn Frauen sich Hilfe suchend an sie wandten, mit diesen zunächst über einen Zeitraum von vier Monaten in wöchentlich stattfindenden Einzelsitzungen ein discipulado (Jüngerschaftskurs) durchführe, in dem sowohl Glaubensinhalte vermittelt würden als auch individuelle Beratung stattfinde. Ihr Mann verfahre ebenso mit Männern. Sie betonte, dass es, um Probleme zu lösen, entscheidend sei, das Familiensystem wahrzunehmen. Daher bemühe sie sich, nicht nur mit den Frauen selbst, sondern auch mit deren Familienangehörigen zu sprechen. Auslöser der Suche nach Hilfe seien häufig Ehe- oder Erziehungsprobleme, die mit einem falschen Selbstkonzept zusammenhingen, das wiederum durch biographisch bedingte, seelische Verletzungen verursacht sei. Daher reflektiere sie mit den Frauen deren Biographie, ihr Selbstkonzept und ihre Verhaltensmuster. Aus den im Folgenden zi-

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Interview Nr. 22, 30.3.2015. Interview Nr. 73_2, 10.7.2015.

2 Orte der Heilung

tierten Ausführungen geht hervor, dass das Ziel der Pastorin darin bestand, negative Selbstkonzepte durch im Glauben begründete positive Selbstkonzepte und destruktive Verhaltensweisen durch produktive zu ersetzen. Um letzteres zu erreichen, bemühte sie sich, vorhandene Ressourcen der Frauen zu aktivieren und mit diesen konkrete Handlungsoptionen zu entwickeln: »Wenn die Frauen zur Kirche kommen, […] mussten wir viel mit ihnen arbeiten, ihre Gefühle, […] lernen zu vergeben, Verletzungen heilen. […] Falsche Verhaltensmuster, sehr schlechte Gewohnheiten, […] die sie schon von ihren Großmüttern, von ihren Müttern mitbringen. […] Wir mussten die Heilung der Seele bearbeiten, wie wir lernen, uns als […] Töchter Gottes zu verhalten. […] Es ist wie ein Aggressionsentgiftungsprozess gewesen und dass sie lernen, sich einen Wert zu geben. […] Mit einigen habe ich dazu gearbeitet, wie sie ihre […] Kinder erziehen. Ich musste mit Müttern und mit Kindern arbeiten. […] Ich habe den Fall einer Schwester, die vom Ehemann verlassen wurde. […] Das hat die zehnjährige Tochter sehr betroffen. […] Die Tochter begann zu rebellieren und andere unangenehme Dinge und die Mutter brüllte sie aus Frustration an, das Mädchen brüllte, es war ein Chaos. […] Mit der Mutter arbeiten, […] die Heilung, die sie erleben musste, mit der Tochter auch arbeiten. […] Es war ein Segen, dass die Mutter mich aufgesucht hat, um Hilfe für beide zu erbitten. Viele Frauen suchen keine Hilfe, sondern sind nur aggressiv. Und die, die Hilfe suchen, sind die Töchter. Wenn du mit der Tochter arbeitest, […] geht die Gewalt zu Hause weiter, denn die, die sich verändern müssen, sind die Eltern. […] Ich rede viel mit ihnen, ich höre ihnen zu. […] Sie beginnen, einem alles zu sagen, […] was ihnen gesagt wurde, wie sie sind. […] Du beginnst, all diese Muster aufzuschreiben […] und man macht ein Profil. Wenn ihr falsches Selbstkonzept vervollständigt ist, […] holen wir das Gute heraus, denn das wird verstärkt, aber dann müssen wir am Schlechten arbeiten. […] Wir beginnen, das Schlechte durch Gutes zu ersetzen, […] was ihr hilft, ihr Leben zu verändern. Es ist ein Prozess und sie übernehmen neue Verhaltensmuster, zum Beispiel gibt es Mütter, die, um ein häusliches Problem zu lösen, nur brüllen können, denn so wurden sie erzogen. […] Wir machen Regeln für zu Hause. Wenn du deine Kinder diese Regeln lehrst, musst du nicht schreien, wenn sie nicht auf dich hören. Du hast Regeln. ›Okay, du hast diese Regel missachtet, das hat eine Konsequenz.‹ […] Wir beginnen, zu erziehen. […] Viele Ehemänner haben mir gesagt […]: ›Wie hast du es geschafft, meine Frau zu verändern?‹ ›Nein, […] sie brauchte eine Orientierung über etwas, das sie nicht wusste.‹ Hier gibt es viele Leute, die glauben, dass sie die Dinge sehr schlecht machen, und sie machen sie gut, aber sie haben niemanden, der ihnen sagt, dass sie sie gut machen. Und einige Kleinigkeiten, die nicht in Ordnung sind, man hilft […] sie zu kanalisieren, und dann werden sie zu Hause ganz super. […]

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Gender und Heilung

  In Krisensituationen suchen die Leute Gott eher als in Momenten, in denen alles in Ordnung ist. […] Ich habe Frauen gesehen, die wegen einer Krise zu uns gekommen sind und im Prozess haben sie Jesus Christus als Herrn kennengelernt, und er wurde Teil ihres Lebens, und das wird ihnen niemals jemand wegnehmen, auch wenn die Krise vorbei ist. […] Ich habe Leute gesehen, die sich der Kirche angenähert haben […] ausschließlich im Moment der Krise, und wenn die Krise vorbei ist, entfernen sie sich von der Kirche. Viele Frauen kommen zum Herrn, wenn sie Hilfe für ihre Familien suchen. […] Gott heilt sie, er reinigt sie und macht etwas Wunderbares. Andere, wenn das Problem vorbei ist, gehen sie wieder. […] Viele Leute sehen Gott wie die 112, wie einen Rettungswagen. In Krisenmomenten: Gott. Aber dann vergesse ich es. Aber die meisten Leute bleiben in der Kirche. Sie lernen Gott kennen und machen ihre ersten Schritte im Christentum. […]   Es gibt viele junge Leute, die zuerst kommen und später bringen sie ihre Eltern. Wir haben es auch erlebt, dass Ehepaare zusammen kommen. Weil sie ihn mitbringt oder weil sie ihm ein Ultimatum gegeben hat: ›Wenn wir nicht zur Kirche gehen, trennen wir uns.‹ Wenn der Mann sich nicht trennen will, kommt er also zur Kirche. Ich hatte Fälle von Frauen, […] die alleine zur Kirche kommen und später kommen ihre Männer. Wenn sie sehen, dass die Frauen sich verändert haben, dass sie anders sind, dann kommen die Männer zur Kirche. Und ihre Kinder auch. […] Wir haben auch Frauen, die alleine zur Kirche gekommen sind und ihre Männer haben ihnen nicht verboten, zur Kirche zu kommen, aber sie haben sie nie zur Kirche begleitet. […] Vielleicht begleiten ihre Kinder sie und integrieren sich, aber der Mann will nicht. […] Das Muster ist unterschiedlich, es ist nicht immer dasselbe.«8 Auch für die Gemeinschaften der RCC stellt die Beratung einen Grundpfeiler der Aktivitäten dar und dient sowohl seelsorglich-therapeutischen als auch missionarisch-evangelisierenden Zielen. So wurde das Beratungsangebot des CCCAJ nicht nur von katholisch-pentekostalen, sondern auch von nichtpentekostalen Katholikinnen und Katholiken wahrgenommen. Seit der Gründung des Zentrums im Jahr 1998 waren montags bis freitags von 14 bis 17 Uhr jeweils zwei Personen für den Beratungsdienst eingeteilt. Wer Beratung wünschte, konnte diese Personen innerhalb des genannten Zeitraums mit oder ohne Termin konsultieren. Die Zusammensetzung der Zweierteams sowie die tageweise Verteilung der Schichten waren auf Beständigkeit angelegt, so dass nur dann eine neue Person für den Dienst ausgewählt wurde, wenn eine andere dauerhaft, im Regelfall aufgrund von Krankheit oder Tod, ausfiel.

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Interview Nr. 26, 7.4.2015.

2 Orte der Heilung

Die auswählende Instanz war das Leitungsgremium des CCCAJ, das Equipo Timón, das durch Gebet und Gespräch eruierte, wer für das Amt geeignet sei. Eine Informantin nannte als Auswahlkriterien den Abschluss der aufeinander aufbauenden Glaubenskurse und Eigenschaften wie Verantwortungsbewusstsein, Zuverlässigkeit, Beständigkeit, Ernsthaftigkeit, Hingabe an Gott und spirituelle Reife. Da der Ruf in ein Amt durch das Equipo Timón als Ruf Gottes galt, war es üblich, diesem zu folgen. Eine andere Informantin, die zum Zeitpunkt des im Folgenden zitierten Interviews seit einem halben Jahr als Beraterin tätig war, erzählte, dass sie sich davor gefürchtet hätte, diesem Ruf nachzukommen. Doch nachdem Gott ihr durch verschiedene Personen mitgeteilt habe, dass er sie für dieses Amt vorgesehen habe, habe sie sich gefügt: »Ich hatte immer viel Angst vor diesem Dienst, […] denn es kommen Leute mit furchtbaren Problemen. […] Die Koordinatorin sagte mir: ›Wir haben gedacht, dass du in diesem Dienst sein kannst‹, und ich sagte ihr: ›Gib mir Zeit.‹ […] Ich habe nicht auf Gott und nicht auf sie gehört, auf niemanden, ich hatte Angst. […] Eines Tages, als ich in meinem Haus war, ruft mich eine Dame an […]: ›Kannst du mich beraten? […] Ich habe ein Problem.‹ Ich sagte ihr: ›Aber warum gehst du nicht zum Haus [d.h. zum CCCAJ]? Da gibt es eine Gruppe für Beratung und Gebet.‹ ›Nein, ich will, dass du mich berätst.‹ […] Ungefähr drei Tage später ruft mich eine andere an, mit derselben Situation. […] ›Ich will, dass du mich berätst‹, sagten sie. Also merkte ich, dass es nicht nur eine war, nicht zwei, sondern dass es drei Personen waren, und ich sagte: ›Das ist eine Botschaft Gottes. Gott will, dass ich in diesem Dienst tätig bin.‹ […] Also rief ich die aktuelle Koordinatorin an und erzählte ihr, was mir passiert war. […] Ich sagte: […] ›Ich kann freitags.‹ Da wurde ein Herr krank, der freitags mit einer anderen Kollegin dran war, also bin ich freitags gekommen. Das ist sechs Monate her. Es ist ein wunderschöner Dienst, aber sehr schwierig, […] denn […] es kommen Leute mit furchtbaren Problemen.«9 Dass diese Beraterin des CCCAJ sich ebenso wie die oben zitierte Beraterin der Kirche CCVN als Instrument Gottes versteht, der ihr durch die Bibel seinen Willen für die Ratsuchenden offenbare, zeigt dieses Zitat: »Ich bitte Gott eindringlich, bevor ich zu diesem Dienst komme. […] Man kann einer Person keinen Rat geben, wenn er nicht vom Wort Gottes herkommt. […] Das erste, was ich ihnen sage, ist: ›Hier sind es nicht wir, hier ist es der Herr, der spricht.‹ […] Die Leute fangen an, ihre Probleme zu erzählen, […] und […] Gott fängt an zu sprechen. Durch das Wort Gottes. […] Für mich ist es sehr wichtig, Bibelzitate zu wissen, um den Personen entsprechend der Situation etwas sagen zu können. Ihnen einen Rat geben und für sie beten […] und ihnen sagen, dass

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Interview Nr. 63, 15.6.2015.

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es [d.h. die Beratung] nicht nur einmal ist […] und dass Gott das Werk an ihnen vollbringt.«10 Wer im CCCAJ zur Beraterin oder zum Berater ausgebildet wurde, hospitierte bei anderen Beraterinnen und Beratern und besuchte Beratungsseminare. Hefte und Bücher, die zu Schulungszwecken im CCCAJ auslagen, handelten vom Umgang mit Scham und Schuld, vom Umgang mit Depressionen, von der Heilung physischer Leiden, von der Vergebung und von geistlicher Kampfführung. Die im Folgenden zitierte Beraterin des CCCAJ erklärte, dass die aktive und die passive Beratungserfahrung, die Lebenserfahrung, das Gebet und die Bibellektüre für die Beratungstätigkeit von weitaus größerer Bedeutung seien als alles theoretische Wissen. Als zentrale Elemente der Beratung galten im CCCAJ ebenso wie in der Kirche CCVN das Gespräch, das Gebet und die Vermittlung des Wortes Gottes entsprechend der spezifischen Situation. Damit eine Hilfe suchende Person sich selbst verändern und eine Lösung finden könne, sei der Gehorsam gegenüber Gottes Wort unbedingt notwendig: »Man lernt es, indem man es macht. Und indem man selbst Beratung durch andere Personen in Anspruch nimmt. […] Und durch die Praxis. […] Ich berate eine Person, an dem Tag berichtet sie mir über ihre Situation, ihr Problem, aber ich gehe dann nach Hause, beginne, das Wort Gottes zu lesen, und ich sage: ›Dieses Zitat hilft dieser Person. Gott wird durch diese Textstelle zu ihr sprechen.‹ […] Wenn die Person wiederkommt, dann wird man ihr sagen: ›Guck, Gott sagt das. […] Gott sagt das, nicht ich.‹ Und wenn sie gehorsam sind, werden sie sich verändern. Wenn sie bereit sind, […] dass Gott in ihnen wirkt, natürlich verändern sie sich, und viele Frauen wurden/ ich wurde so geheilt, durch den Gehorsam.«11 Die im Folgenden zitierte Beraterin berichtete, dass der ehemalige leitende Priester der Kirchengemeinde La Agonía, der das CCCAJ zugeordnet war, selbst der RCC angehörte und immer wieder Beichtenden empfahl, sich im CCCAJ beraten zu lassen. Einige, die diesem Rat folgten, hätten im Anschluss an die Beratung an einem Initiationskurs teilgenommen und sich dem CCCAJ angeschlossen. Doch der neue leitende Priester sei kein Sympathisant der RCC, so dass Sorge über die zukünftige Kooperation mit der Kirchengemeinde und über die Zukunft der missionarischen Möglichkeiten des Beratungsangebotes bestehe: »Es gibt Priester, die glauben an die Heilung, und andere nicht. Zum Beispiel hatten wir einen leitenden […] charismatischen Priester. […] Er sagte immer: ›Geht zur Erneuerung [d.h. zur RCC], da können sie dir helfen zu heilen.‹ […] Aber jetzt

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Interview Nr. 63, 15.6.2015. Interview Nr. 54, 27.5.2015.

2 Orte der Heilung

haben wir einen Priester, der […] ist nicht charismatisch, wir haben gewisse Konfrontationen, denn er […] versteht uns nicht. […] Wenn jemand zu dem Priester geht, […] dann werden sie uns keine Leute mehr herschicken. Der andere schon. […] Er hat Initiationskurse gemacht. […] Und er schickte die Leute, aber jetzt mit dem Priester, ich glaube nicht.«12 Der Begriff »Heilung« steht in diesem Zitat für innere Heilung. Aus der Perspektive dieser Informantin gilt der Glaube an die innere Heilung als Merkmal der Zugehörigkeit zur RCC. Dies zeigt, dass der Diskurs über die innere Heilung katholische und evangelische Pentekostale verbindet, während er Anhängerinnen und Anhänger der RCC von anderen Katholikinnen und Katholiken trennt. Dass die Teilhabe oder Nichtteilhabe an diesem Diskurs auch eine Grenzziehung zwischen evangelischen Pentekostalen und Nichtpentekostalen ermöglicht, zeigt das folgende Zitat einer Informantin, die der Iglesia Linaje Escogido angehörte, die wiederum der AIEC angehörte. Die Informantin erklärte, dass in dieser Kirche zwar Beratung angeboten wird, aber ausschließlich als konkrete Unterstützung in Problemsituationen und nicht mit dem Ziel umfassender Heilung biographisch bedingter, seelischer Verletzungen. Sie unterschied zwischen consejería (Beratung), die in ihrer Kirche angeboten werde, und sanidad interior (innere Heilung), die sie durch Mitarbeitende des Club 700 erfahren habe. Den Unterschied zwischen diesen Konzepten erklärte sie folgendermaßen: »Beratung ist zum Beispiel, wenn du ein Problem hast, und sie geben dir einen Rat, sie suchen Abhilfe. Sagen wir, wenn es Drogen sind, dann bringen sie dich zu so einem Ort, wo sie dich entgiften und all das. Und wenn es eher Eheprobleme sind, dann gehen sie von ihren eigenen Erfahrungen aus oder auf der Grundlage der Bibel, um ihnen zu sagen: ›Nein, ihr müsst euch vergeben für diese Sachen.‹ Im Unterschied dazu […] ist die innere Heilung sehr anders, denn es kann sein, dass Sachen, die mir geschadet haben, seitdem ich ein Mädchen war, mich immer noch betreffen.«13 Die Beobachtungen, dass einerseits eine Angehörige des CCCAJ die Teilhabe am Diskurs über die innere Heilung zum Kriterium der Zugehörigkeit zur RCC erklärte und dass andererseits eine Angehörige einer Kirche der AIEC diese Teilhabe für ihre Kirche ausschloss, zeigen, dass »pentekostal« eine denominationell übergreifende Kategorie ist, die vermeintliche Grenzziehungen wie die Bezeichnung »evangelikal« ad absurdum führt.

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Interview Nr. 63, 15.6.2015. Interview Nr. 71, 8.7.2015.

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Beratung als Ort der Vergebung Eine Beraterin der Kirche Iglesia Oasis Internacional de Bendición (IOIB) erklärte, wie sie in Beratungsgesprächen zur Vergebung anleitete, um innere Heilung zu ermöglichen. Nachdem die Hilfe suchende Person dargestellt habe, welche seelischen Verletzungen sie erlitten habe, sei es der erste Schritt, den biographischen Hintergrund der für die Verletzungen verantwortlich gemachten Person zu analysieren, um die Gründe ihres Handelns zu verstehen, weil dieses häufig durch herencia generacional (generationelles Erbe) verursacht sei. Das Konzept des generationellen Erbes fungiert als Erklärung für die Beobachtung, dass gewisse Verhaltensmuster oder Probleme in mehreren Generationen innerhalb einer Familie zu beobachten sind. Die Beraterin war überzeugt, dass das Wissen um die Gründe für das Fehlverhalten einer Person es erleichtert, dieser zu vergeben. Wenn also die Gründe analysiert seien, frage die Beraterin die Hilfe suchende Person, ob sie zur Vergebung bereit sei. Wenn diese dies bejahe, spreche sie ihr eine entsprechende Deklaration vor, damit die Hilfe suchende Person im Nachsprechen der Deklaration die Vergebung vollziehen könne. Wenn die Deklaration von einer Person nachgesprochen werde, die Christus angenommen habe und aus Überzeugung zur Vergebung bereit sei, reagiere der Heilige Geist, indem er alle negativen Gefühle eliminiere, den Verstand befreie und auf diese Weise Frieden für die Person herstelle. Die Wirkung des Heiligen Geistes auf ein verletztes Herz verglich sie mit dem Herausziehen eines Pflocks aus einem Herzen, das wegen dieses Pflocks nicht aufgehört habe zu bluten, und der heilenden Wirkung von Balsam auf die Wunde im Anschluss an das Herausziehen: »Sie muss sich mit dir hinsetzen und erzählen, was ihr passiert ist und du musst ihre Vergangenheit anschauen, was sie erlebt hat, ob sie vergewaltigt wurde, seit ihrer Kindheit Drogen konsumiert hat, ob sie Alkohol trinkt. Dann beginnt sie, dir zu erzählen, was sie erlebt hat. Dann kommst du und fragst sie: ›War jemand bei dir zu Hause Alkoholiker?‹ ›Ja, mein Vater.‹ ›War jemand im Haus deines Vaters Alkoholiker?‹ ›Ja, mein Onkel.‹ ›Und i[n seine-]m Haus?‹ ›Ja, mein Großvater.‹ Oder: ›Meine Urgroßmutter.‹ Dann verstehst du, dass es ein generationelles Erbe ist. Dann kommst du und sagst ihr: ›Willst du deinem Vater vergeben?‹ Oder: ›Willst du deiner Mutter vergeben?‹ Oder: ›Willst du deinem Freund vergeben?‹ […] Mit wem auch immer […] das Problem besteht. Aber sie muss es selbst entscheiden, zu heilen und frei sein zu wollen. Wenn sie aus ganzem Herzen sagt: ›Ja, ich will frei sein, ich will vergeben‹, […] dann sagst du ihr, dass sie es mit dir sagen soll, wiederholen soll: ›Ich vergebe. Ich vergebe der Person, die mich vergewaltigt hat.‹ Oder: ›Ich vergebe der Person, die mich geschlagen hat. […] Ich vergebe ihr von Herzen, Herr.‹ […] Wenn sie sagt: ›Ich vergebe ihr von Herzen‹, kommt sofort der Heilige Geist, um zu beginnen. Aber sie muss Christus haben, als erstes muss sie Christus in ihrem Herzen angenommen haben. Es ist wie ein Pflock, der ins

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Herz geschlagen ist, und an diesem Pflock ist Blut. […] Dann kommt der Heilige Geist und reißt ihn heraus und […] bringt den Balsam, um [ihn] aufzustreichen, und bringt Heilung über diese Seele. […] Und dann kommst du und betest für ihren Geist. Und du sagst […]: ›Heiliger Geist, komm und bring ihrem Geist Freiheit, komm und nimm alles, alles weg, was den Sinn blockiert hat, […] Heiliger Geist, komm und reinige, komm und reiße heraus, komm und heile, komm und bringe Frieden.‹ Und der Heilige Geist tut es.«14 Die Pastorin der Kirche MANAIA erklärte, dass es ihr wichtig sei, nach Möglichkeit die beschuldigte und die verletzte Person miteinander zu konfrontieren. Es sei ihre Erfahrung, dass beschuldigte Personen durch diese Βegegnung eher dazu bereit seien, um Vergebung zu bitten, und dies helfe wiederum den Verletzten zu vergeben. Wie sie vorgehe, erklärte sie anhand des Falls einer Frau, die jahrelang von ihrem Vater sexuell missbraucht worden sei: »Vor kurzem habe ich eine behandelt, die von ihrem Vater im Alter von neun bis 13 Jahren vergewaltigt wurde. […] Also beteten wir, wir fasteten eine Weile. Und ich sagte zu ihr: ›Können wir deinen Vater anrufen, um mit ihm zu sprechen?‹ Sie sagte mir: ›Es ist schwierig, wenn mein Vater kommt, denn ich fürchte und ekle mich vor ihm.‹ […] Wir riefen ihn an. […] Und der Mann willigte ein zu kommen. Er stritt alles ab, gegenüber allen. […] Bei mir akzeptierte er alles, er bat seine Tochter um Vergebung für jede Kleinigkeit. […] Die Tochter weinte sehr viel. […] Ich schenkte ihr einen Ring und sagte ihm: ›Steck ihr den Ring an als Zeichen der Restitution, als Zeichen der Vergebung, dass du ihr irgendwie die Würde zurückgibst.‹ Und stell dir vor, es gab Vergebung! […] Sie sagt mir: ›Ich kann dir nicht sagen, dass ich es schon vergessen habe, aber […] jeden Tag fühle ich weniger Schmerz.‹ […] Die Vergebung geschieht nicht plötzlich. […] Es ist bei jeder Person anders. […] Man muss das Temperament behandeln. […] Es gibt Leute, denen es nicht schwerfällt […] zu vergeben, es gibt andere, denen es schwerfällt. […] Was man dann macht, sind bestimmte Therapien, etwas auf ein Papier zu schreiben oder mit einer Person zu üben: ›Wie würdest du der Person sagen, was du ihr gerne sagen würdest? Üb mit dieser Person, sag ihr alles, was du sagen willst.‹ […] Zachäus sagte: ›Den Schaden, den ich verursacht habe, werde ich vierfach zurückgeben.‹15 […] Nicht in allen Fällen ist das möglich, denn es gibt Menschen, die […] nicht um Vergebung bitten wollen, aber in der Mehrheit der Fälle ist es mir tatsächlich gelungen, dass der Täter kommt und ›Entschuldigung‹ sagt.«16 Das Zitat lässt erahnen, dass diese Pastorin auf eine Vielzahl von Methoden rekurrierte, über deren Auswahl sie situations- und personenabhängig entschied, immer 14 15 16

Interview Nr. 75, 13.7.2015. Vgl. die Bibelpassage Lukas 19,1-10. Interview Nr. 61, 4.6.2015.

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Gender und Heilung

mit dem Ziel, seelisch Verletzte darin zu unterstützen, zu vergeben. So habe sie im skizzierten Fall während der persönlichen Konfrontation die beschuldigte Person als Zeichen der Wiederherstellung von Würde und der Wiedergutmachung nach dem Vorbild des Zachäus der verletzten Person einen Ring anstecken lasse. Andere lasse sie Briefe schreiben oder sich in Rollenspielen aussprechen üben. Die Pastorin der Kirche MAR erklärte, dass sie in der Paarberatung festgestellt habe, dass es Paaren, in denen beide cristianos (Christen) seien, leichter falle, sich gegenseitig zu vergeben, als anderen. Daher hätten diese eine größere Chance auf Beziehungsheilung, weil deren wichtigste Voraussetzung die Vergebung sei. Beratungssitzungen in Ehekrisen lasse sie zweiwöchentlich stattfinden, um regelmäßig überprüfen zu können, ob die Beteiligten ihre Vorsätze erfüllt hätten: »Wenn wir von Christen sprechen, ist es einfacher. Man arbeitet mit ihnen, und man packt diese Geschwister, man nimmt sie mit. Nach 15 Tagen wollen wir wissen: ›Wie läuft es, was ist passiert, wie geht es?‹ […] Denn wir hören nie nur einen an, denn einer alleine sagt, was er will. Wir hören die beiden an. Noch mal und noch mal. […] ›Du hast etwas versprochen, hast du es eingehalten?‹ […] Es gibt viele Paare, […] die Gott heilt.«17

2.1.2

Kontext: El Club 700

Praxis Das Beratungszentrum des Club 700 in Alajuela existierte als Filiale des Beratungszentrums in San José etwa von 1987 bis 1999 und prägte den Heilungs- und Beratungsdiskurs in Alajuela erheblich. Mehrere Informantinnen berichteten von direkten oder indirekten Erfahrungen mit der Beratung durch den Club 700. Um die Arbeitsweise des alajuelensischen Zentrums darzustellen, wird im Folgenden die Pastorin der Kirche CCBEDN vorgestellt, die im Laufe ihres Lebens auf unterschiedliche Weise mit dem Beratungszentrum des Club 700 in Berührung kam. Ihr Erstkontakt ereignete sich über ihre Schwester, mit der gemeinsam sie im alajuelensischen Zentrum des Club 700 an Veranstaltungen teilnahm, während derer über innere Heilung und spirituelle Befreiung gesprochen worden sei. Im Anschluss an solch eine Veranstaltung sei sie während einer individuellen Beratungssitzung geheilt worden. Nachdem sie einige Zeit später von einer Kirche, die der IDEC angehörte und in der keine innere Heilung praktiziert worden sei, zur Kirche IM gewechselt hätte, habe deren Pastor sie dem Club 700 als Beraterin empfohlen. Daraufhin sei sie im Beratungszentrum ausgebildet worden und anschließend sowohl in der eigenen Kirche als auch dort als Beraterin tätig gewesen. Nachdem das alajuelensische Zentrum aufgegeben worden war, übernahm sie als Mieterin dessen

17

Interview Nr. 40, 23.4.2015.

2 Orte der Heilung

ehemaliges Haus und verkaufte seitdem im vorderen Bereich Kunsthandwerk und Kunsthandwerksbedarf, während sie im hinteren Bereich des Hauses einen Raum einrichtete, in dem sich die von ihr gegründete Kirche C C BEDN versammelte. Sie leitete dort Gebets- und Fastenversammlungen sowie Gottesdienste, doch als Zentrum ihres pastoralen Handelns verstand sie die Beratung, die sie in der von ihr gegründeten Kirche entsprechend ihrer Ausbildung durch den Club 700 praktizierte. Zur Beratungspraxis des Club 700 und zu einigen dieser Praxis zugrunde liegenden Überzeugungen erklärte sie: »Wir haben montags bis freitags Beratung angeboten. Wir waren Berater aus verschiedenen Kirchen, […] die wir den Ruf für die Beratung hatten, und die wir […] von den Pastoren empfohlen worden waren. […] Vormittags und nachmittags war geöffnet. […] Es gab ungefähr fünf Telefone, denn beim Club 700 gehen viele Anrufe ein. […] Denn es ist offen für Christen, Nichtbekehrte und Katholiken und jede Religion. […] Es wurde viel telefonisch beraten, aber auch persönlich. […] Von uns Beratern war immer jemand da, manche waren an einem Tag da, andere an einem anderen Tag, das war eine Zeit, die man dem Herrn gegeben hat ohne finanziellen Gewinn. […] Ich kam, weil meine Schwester […] begann zu kommen, dann lud sie mich ein. Sie machten hier Vorträge über Befreiung, […] über innere Heilung. Dort begann ich zu hören, was Heilung und Befreiung ist, denn in meiner Kirche wurde das nicht gemacht. […] In den Versammlungen wurde oft […] für Heilung und Befreiung gebetet. Und dann, wenn man wollte, machte man einen Termin für sich alleine mit den Beratern. […] Ich machte einen Termin und alles, und dann später kam ich nicht mehr. […] Einige Zeit später luden sie mich ein, […] ob ich ihnen in der Beratung hier helfen wollte. […] Innere Heilung ist […] ein Prozess der Befreiung von all diesen Dingen, […] von den Schmerzen. […] Der erste Schritt ist die Vergebung, […] denn wenn sie nicht vergeben, können sie nicht frei von den Fesseln sein. […] Manchmal brauchen die Leute Befreiung von der Verbitterung, von den Ängsten, von der Idolatrie, von der Hexerei, von satanischen Pakten, denn es kommen viele Leute zu Jesus, die schlimme Sachen praktiziert haben, Lesbianismus, Homosexualismus. […] Der Club 700 […] ist für alle, […] deshalb […] ist das erste, was gemacht wurde, wenn sie keine Christen waren, sie zu Jesus zu bringen. […] Man brachte sie zuerst dahin, dass sie Jesus Christus annehmen, um sie Christi Frieden empfangen zu lassen. […] Und dann wurde ihnen eine christliche Kirche vermittelt. […] Wir hatten die Liste der Kirchen, wo man sie hinschicken konnte. […] Und man sagte ihnen, […] dass sie dahin gehen sollen, dass sie sich einer Gemeinde anschließen sollen. Und soweit es möglich war, hat man mit ihnen einen Prozess durchlaufen. Ein Prozess, der Wochen, Monate, ein Jahr dauern konnte. […] Es gibt Gemein-

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Gender und Heilung

den, die nicht – die bis heute nicht an die Befreiung glauben, deshalb machten wir mit ihnen den Prozess, bis wir sehen, und der Herr es sagt: ›Es ist genug.‹«18 Die Ausführungen dieser Pastorin enthalten einige der bereits dargestellten Aspekte des vorgefundenen Heilungsdiskurses: Innere und spirituelle Heilung gelten als komplementär. Als Voraussetzungen für die Heilung gelten die Konversion und die Vergebung. Es wird nicht nur ein seelsorglich-therapeutisches Ziel verfolgt, sondern auch ein missionarisch-evangelisierendes. Laienberaterinnen und -berater werden für diese Tätigkeit ausgebildet und so eingeteilt, dass das Beratungszentrum unter der Woche täglich besetzt ist. Ein weiteres Ziel der Beratungstätigkeit im Kontext des Club 700, das auch nichtdenominationelle Organisationen wie FIHNEC und TF verfolgten, war die explizit nichtdenominationell orientierte Förderung der individuellen Beziehung des Einzelnen zu Jesus. Wer von Beraterinnen und Beratern des Club 700 beraten wurde, sollte im Anschluss an eine Kirche weiter vermittelt werden, weil diese als die Orte galten, an denen die Gottesbeziehung stabilisiert und gelebt wird. Die Ausrichtung auf die lokalen Kirchen zeigt sich auch daran, dass die Empfehlung durch eine Pastorin oder einen Pastor Voraussetzung für die Beratungstätigkeit für den Club 700 war. Im Fall der zitierten Pastorin führte das dazu, dass, als sie nach der Schließung des Zentrums in Alajuela als Beraterin im Zentrum in San José tätig werden wollte, aber nach einem erneuten Kirchenwechsel zur Kirche MJV der dort zuständige Pastor sie für die Beratungstätigkeit beim Club 700 nicht freistellte, sie dort nicht als Beraterin zugelassen wurde. Theorie Das Kompendium Lo básico de la consejería cristiana (Die Grundlagen der christlichen Beratung) ist die Zusammenstellung der Theorie und Methodik, die der Beratungsarbeit des Club 700 in Costa Rica zugrunde lag. Es besteht aus acht Heften, in denen erklärt wird, wie in der telefonischen und in der persönlichen Beratung vorzugehen ist. Die Pastorin der Kirche CCBEDN erklärte: »Als wir hier anfingen, […] gaben sie einen Kurs mit acht kleinen Heften, wie man Berater ist, ein effektiver Berater. […] Jetzt auch, von diesen Büchlein, die ich da habe, ich verteile sie den Schwestern, die hierher zu mir kommen. […] Es zeigt dem Berater, wirklich effektiv zu sein, in allen Gebieten. In Bezug auf das Familienleben, in der inneren Heilung, in der Befreiung, was macht man, wenn jemand anruft, wie berät man die Person, die anruft, oder wenn es persönliche Beratung ist.«19

18 19

Interview Nr. 45, 8.5.2015. Interview Nr. 45, 8.5.2015.

2 Orte der Heilung

Grundlegend für den Inhalt dieses Kompendiums ist die Überzeugung, dass der Glaube und das richtige Verhalten dazu führen, dass Gott einen in finanzieller und persönlicher Hinsicht segnen wird. Evangelisation, Gebet, biblisch begründete individualethische Richtlinien sowie konkrete Handlungsanweisungen für ein gelingendes Ehe- und Familienleben gehören nach diesem Verständnis zusammen. Grundlegend ist auch hier das Verständnis der Person als dreiteiliges Kompositum aus Körper, Seele und Geist. Folglich gilt es in der Beratung zunächst als notwendig, die Ursache der zu behandelnden Probleme zu identifizieren, um die Methodik darauf abzustimmen: Ist das Fehlverhalten oder das Leiden einer Person psychisch oder spirituell begründet? Ist es psychisch zu begründen, müsse der die Sünde verursachende Teufel bekämpft werden, indem der Hilfe suchenden Person Jesu Liebe vermittelt werde. Ist es spirituell zu begründen, müsse der verantwortliche Dämon durch den Befreiungsdienst bekämpft werden.20 Zwar wird für beides der Teufel verantwortlich gemacht, doch seinem Wirken soll, abhängig von seiner Wirkweise, auf unterschiedliche Weise entgegen getreten werden. Im Kompendium wird konkretisiert, welche Art der Beziehungen zwischen Ehepaaren sowie zwischen Eltern und Kindern Gottes Willen entspreche und auf welche Weise Familienmitglieder zu beraten seien, wenn diese Beziehungen nicht gelängen. Als erlaubte Scheidungsgründe gelten ausschließlich der Ehebruch der Partnerin oder des Partners und das Verlassenwerden durch eine ungläubige Partnerin oder einen ungläubigen Partner.21 Um dem Scheitern der Ehe vorzubeugen, wird Frauen eine Kriterienliste für die Partnerwahl an die Hand gegeben, der zufolge sie Nichtchristen, Alkoholiker, eifersüchtige und streitsüchtige Männer meiden sollten. Die Pflichten der Eheleute werden expliziert und biblisch begründet: Die Frau soll unterwürfig, gehorsam, abhängig, anpassungsfähig und bescheiden sein, den Ehemann respektieren, bewundern und lieben. Das Haus soll das Zentrum ihrer Welt sein, denn andernfalls schwäche sie ihre Ehe, verliere den Einfluss auf ihre Kinder und setze sich gefährlichen Versuchungen aus. Sie solle das Haus sauber halten und sich selbst schön kleiden. Dem Mann in der Rolle des Hauptes der Frau werden wiederum große Verantwortung und eine Vielzahl von Pflichten und Verhaltensregeln zugesprochen: Er soll gute Manieren haben, treu, kontrolliert, respektabel, großzügig, beispielhaft, streng und liebevoll sein. Er soll seine Frau lieben, beschützen, ihr vertrauen, sie verstehen, respektieren und loben. Er soll den Alkohol meiden, Steuern zahlen und für das materielle Wohlergehen der Familie sorgen. Er soll die Kirche auswählen und zu Hause das Gebet und die Bibellektüre anleiten. Seine sexuellen Wünsche soll er ihren unterordnen, um ihr Lust und Befriedigung zu bereiten. In seiner Freizeitgestaltung soll er die Wünsche und

20 21

Vgl. Club 700, 68-101. Vgl. Club 700, 136-149.

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Bedürfnisse der Familie berücksichtigen. Er soll mit seiner Familie kommunizieren, um ein Klima der Liebe und des gegenseitigen Verständnisses zu schaffen. Für beide Eheleute gilt, dass die Partnerin oder der Partner die wichtigste Bezugsperson sein soll und sie weder den Eltern noch irgendjemand anderem erlauben sollen, diese zu kritisieren. Diese Hinweise zielen auf die Distanzierung von der Großfamilie und die Fokussierung auf die Kernfamilie. Außerdem sei das Zentrum einer gelingenden Ehe die beidseitige Vergebung. Alle Richtlinien werden durch spezifische Verhaltensregeln konkretisiert. So werden Regeln für gelingende Kommunikation eingeführt und, um einen besseren Umgang mit Finanzen zu vermitteln, wird empfohlen, die Erstellung eines Kostenvoranschlags zu üben.22 Zum Verhältnis zwischen Eheleuten ist festzuhalten, dass die Rolle des Mannes als Haupt nicht infrage gestellt wird. Gleichzeitig ist die Frage, wie eine Ehebeziehung gelingen kann und wie sich der Mann und die Frau darin wohlfühlen können, weitaus zentraler als Fragen nach Hierarchien und Autorität. Der Anspruch an den Ehemann, sich einfühlsam und verantwortungsbewusst zu verhalten, wird ausführlicher thematisiert als der Anspruch an die Frau, sich ihm unterzuordnen. Ausführlich wird auch erörtert, wie mit Opfern, Täterinnen und Tätern von Misshandlungen umzugehen ist. Misshandelte Ehefrauen sollen zur Vergebung angeleitet werden und gleichzeitig vier bis sechs Monate getrennt von ihrem Mann leben. Während dieser Zeit sollen ihre Ehemänner mit Hilfe von Beratern ihr Leben verändern. Auf diese Weise soll das eheliche Zusammenleben von beiden Seiten neu ermöglicht werden.23 Das abschließende Kapitel handelt von der Kindererziehung. Um Kinder vor dem Satan zu schützen, sollen beide Elternteile Zeit mit ihnen verbringen, sich als Vorbilder von der Sünde fernhalten, ihre Autorität durchsetzen und die Kinder zu Disziplin und Verantwortung erziehen. Sie sollen ihre Kinder nicht aus der Wut heraus und zu häufig bestrafen, sondern ihnen unbedingte Akzeptanz vermitteln, sie loben, ermutigen und ihnen täglich durch einen Kuss, eine Umarmung oder ein Lächeln ihre Liebe zeigen. Es folgen wiederum biblisch begründete Anweisungen, wie mit konkreten Problemen in der Erziehung umzugehen sei.24 Der Inhalt des Kompendiums besteht zu einem großen Teil aus biblisch begründeten Verhaltensregeln, die folglich einen zentralen Inhalt der Beratungssitzungen darstellten. Zwar bildete dieses Kompendium die Grundlage der Beratungstätigkeit im Zentrum des Club 700 in Alajuela, doch die Beraterinnen und Berater beschränkten sich nicht auf dessen Inhalte. Dies geht aus der Aussage einer Informantin hervor, die belegt, dass im Zentrum des Club 700 auch das Heilungsgebet praktiziert wurde, das im Kompendium nicht erwähnt wird:

22 23 24

Vgl. Club 700, 152-168. Vgl. Club 700, 108-134. Vgl. Club 700, 172-202.

2 Orte der Heilung

»Da [d.h. im Zentrum des Club 700] waren eine Frau und ein junger Mann. […] Ich ging hin. […] Es fiel mir sehr schwer, meiner Mutter wegen ihrer Verhaltensweisen zu vergeben. Es fiel mir auch schwer, meinem Vater zu vergeben, weil er mich verlassen hat. […] Ich ging dorthin und dann sagten sie mir: […] ›Du musst deiner Mutter wegen dieser Dinge vergeben, und deinem Vater.‹ […] Sie machen ein Gebet für einen, seitdem man im Bauch der Mutter ist.«25 Die methodischen und inhaltlichen Beratungsrichtlinien des Club 700 wurden mündlich und schriftlich auch 16 Jahre nach der Schließung des Zentrums in Alajuela tradiert und prägten die in pentekostalen Kirchen und Gemeinschaften verbreiteten Praktiken und Überzeugungen. Im Verlauf der Feldforschung begegnete die Verfasserin immer wieder Frauen, die entweder selbst im Zentrum des Club 700 beraten worden oder zur Beraterin ausgebildet worden waren, die durch eine Frau beraten wurden, die dort ausgebildet worden war, oder die durch eine Frau ausgebildet wurden, die dort ausgebildet worden war. Viele hatten sich auf der Grundlage des Kursmaterials Lo básico de la consejería cristiana (Die Grundlagen der christlichen Beratung) das Beratungskonzept des Club 700 angeeignet und tradierten nicht nur dessen Beratungsprinzipien, sondern auch die diesen zugrunde liegenden Glaubensinhalte und ethischen Überzeugungen. Hintergrund Seit 2005 wird in Costa Rica durch den evangelischen Fernsehsender Enlace wöchentlich die Sendung El Club 700 Hoy ausgestrahlt, das aktuelle auf das lateinamerikanische Publikum abgestimmte Format der von der Sendergruppe Christian Broadcasting Network (CBN) produzierten, in den USA täglich ausgestrahlten Sendung The 700 Club. Selbsterklärtes Ziel der Sendung ist es, durch Berichte über Menschen, die schwierige Lebenssituationen überwanden, die Zuschauenden zu motivieren, ihre Lebensqualität in spiritueller, emotionaler, physischer und finanzieller Hinsicht zu verbessern.26 Verschiedene ähnliche Sendungen wie El Club 700 Latino werden in Costa Rica und ganz Lateinamerika seit Jahrzehnten ausgestrahlt. Die Talkshow The 700 Club startete 1966 in den USA mit Jim Bakker, der Pastoren und Prominente interviewte, die berichteten, wie sich durch Christus ihr Leben verbessert habe. Anhand ihrer Erzählungen wurde gezeigt, dass Gott diejenigen segne, die stark genug an ihn glaubten und ihr Leben optimistisch in die Hand nähmen. Bakker prägte die konservative evangelische Theologie mit seinem Wohlstandsevangelium und der Konzentration auf die Familie. Zentrale Themen seiner Sendungen waren Kindererziehung und Eheleben.27 Er entwickelte mit dem Gründer des CBN Pat Robertson die Praxis, während der Show The 700 Club Reihen von 25 26 27

Interview Nr. 71, 8.7.2015. Vgl. www.club700hoy.com/index.php/nosotros [17.3.2016]. Vgl. Weinberg 2012, 71f.

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sogenannten Beraterinnen und Beratern an Tischen mit Telefonen auf der Bühne zu platzieren. Bakker berichtete den Zuschauerinnen und Zuschauern von Heilungen und teilte ihnen mit, dass diese Wunder auch ihnen geschehen könnten, wenn sie anrufen und um ein Gebet bitten würden. Die Menschen riefen an, die Beraterinnen und Berater hörten sich ihre Gebetsanliegen und Sorgen an, beteten für sie und erbaten im Anschluss Spenden.28 Um das Angebot der telefonischen Beratung aufrechtzuerhalten, waren für The 700 Club in den USA nach wie vor mehrere Beraterinnen und Berater angestellt. In Costa Rica wurde in San José und Alajuela jeweils ein Zentrum eröffnet, in dem Mitarbeitende des Club 700 für die telefonische und persönliche Beratung zur Verfügung standen. Neben dem Beratungsdiskurs hat der Club 700 auch die evangelische Fernsehlandschaft Costa Ricas geprägt: Das Prinzip, dass während einer Sendung Zuschauerinnen und Zuschauer zum Anrufen aufgefordert werden, um für sich beten zu lassen, wurde nachgeahmt. So produzierte der Sender Enlace inzwischen auch selbst täglich solche Gebetssendungen. Der Pastor der Kirche IM gestaltete wöchentlich eine solche Sendung und wurde stets von einer Gruppe von Frauen zur Aufzeichnung nach San José begleitet, die im Hintergrund die, laut Aussage einer dieser Frauen aus allen spanischsprachigen Ländern eingehenden, Anrufe entgegen nahmen und für die Anliegen der Anruferinnen und Anrufer beteten.

2.2

Gottesdienste

Die innere Heilung wird in allen Phasen des Gottesdienstes thematisiert. Während allerdings in Predigten neben der inneren Heilung auch doktrinelle Topoi wie die Wiederkehr Christi, das Gericht, die Macht Gottes, des Teufels und der Sünde, wohlstandstheologische Verheißungen und ethische Anforderungen behandelt werden, dominieren die Themen der inneren Heilung die Phasen des individuellen Gebets. Hier wird Gottes Liebe und Nähe zugesprochen, die Biographie reflektiert und neu interpretiert und Vergebung vollzogen. Individuelle Gebete folgen häufig auf einen impliziten oder expliziten Altarruf im Anschluss an eine Predigt. Manche Predigerinnen und Prediger gehen auch schon vor der Predigt, etwa während des Lobpreises, zu einzelnen Personen in die Stuhl- oder Bankreihen, um für sie zu beten. Den Gebeten geht häufig ein kurzes Gespräch voran. Sie werden von physischen Heilungsmethoden wie Handauflegen und Umarmungen sowie gelegentlich Anpusten und Salbungen begleitet und führen häufig zu physischen Reaktionen wie der Ruhe im Geist, Weinen, Schütteln oder Springen. Die Inhalte der Gebete ergeben sich einerseits aus den Inhalten der Predigt, andererseits aus der individuellen Situation der Person, für die gebetet wird. 28

Vgl. Weinberg 2012, 75.

2 Orte der Heilung

Die Pastorin der Kirche MIB erzählte von solch einem Gebet in einem Gottesdienst im Anschluss an eine Predigt über die Vergebung, durch das sie geheilt worden sei, weil sie infolge dieses Gebets habe vergeben können. Die Predigt und das Gebet stellte sie als dialogisches Ereignis dar, an dem ausschließlich sie und Gott beteiligt waren. Nach anfänglichem innerem Widerstand sei es ihr während des Gebets gelungen, Gottes Aufforderung, sich die Missbrauchserfahrungen zu vergegenwärtigen, nachzukommen. Dann habe sie den Schmerz loslassen und dem Täter vergeben können. Die Heilungserfahrung beschrieb sie in spiritueller Terminologie als Zerreißen von Ketten: »Und eines Tages, in einem Gottesdienst, […] begannen sie, über die Vergebung zu sprechen, und dort begann der Herr mich zu berühren. […] Ich sah sein [d.h. des Täters] Gesicht, und dann sagte ich: ›Herr, was machst du, warum sein Gesicht, warum? Herr, ich kann nicht, Herr, tu mir das nicht an, bitte tu mir das nicht an!‹ […] Und es fiel mir sehr schwer. […] Ich hörte die Stimme und sie sagte mir: ›Du musst vergeben.‹ Ich sagte: ›Nein. Nein, wenn er mir so viel Leid angetan hat.‹ […] ›Du musst vergeben.‹ […] Ich ging nach vorne an dem Tag, ich weinte, ich lud alles ab, erlebte alles nochmal, und es heilte, heilte, heilte, heilte. […] Als ich sagte: ›Ja, ich vergebe ihm‹, und […] den Namen der Person, […] war es, als würden Ketten zerreißen.«29 Die Pastorin der Kirche MAR war überzeugt, dass Gott in der Predigt und im Gebet durch sie an den Hörenden wirkt. Sie verstand sich als Medium, insofern Gott ihr eingebe, worunter die Anwesenden litten und worüber sie folglich predigen und beten solle. Durch ihr Gebet, währenddessen sie die Hände auflegte oder die entsprechende Person umarmte, dringe er in die Person ein, hole deren Probleme aus ihrem Innersten heraus und heile sie, wenn sie vergeben habe. Heilung und Vergebung setzte diese Pastorin gleich: »Ich tue es, weil Gott es mir zeigt. […] Ich habe die [Gabe der] Geisterunterscheidung. Der Heilige Geist offenbart es mir. Ich sehe eine Frau, und Gott fängt an: ›Sie hat das und das und das und das.‹ Dann fange ich an zu beten […] Die Frau beginnt zu weinen, und da befreit Gott sie. […] Gott zeigt es mir. […] Du hast es niemandem gesagt, […] auch nicht mir, es ist Gott, der das aus dir herausholt, weil es das ist, was dir schadet. […] Es gibt viele, die verwundet aus der Welt kommen. […] Gott will Wunden heilen. Gott gibt mir eine Predigt und ich beginne zu […] beten und Gott beginnt, die Wunden zu heilen. […] Ich sage: ›Heiliger Geist, geh hinein bis zum Innersten und hol es raus.‹ […] Gott beginnt zu wirken […] und dann […] kommt der Moment, in dem ich sage/ Es gibt viele, die ihrer Mutter vergeben müssen: […] ›Vergib deiner Mutter.‹ […] Dann: ›Nein, ich kann

29

Interview Nr. 65, 16.6.2015.

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nicht.‹ ›Meine Liebe, streng dich an.‹ […] Bis sie sagt: ›Gut, ich vergebe.‹ Und sie beginnt zu weinen. Es gibt welche, die sind verletzt vom Mutterleib her, andere, die sind verletzt seit ihrer Kindheit. […] Gott beginnt, den ganzen Schmerz aus ihrem Herzen herauszuholen. […] Dann sind sie frei. Wenn sie sich erheben – manchmal fallen sie um – […] dann ist es eine ganz andere Person.«30

2.3

Kongresse und Vorträge

Die Themen der inneren Heilung dominieren die Mehrheit geschlechtsspezifischer ebenso wie geschlechtsunabhängiger Kongresse und Vorträge und werden darüber hinaus selbst dann angesprochen, wenn scheinbar sachliche Themen wie finanzielle oder medizinische Fragen im Vordergrund stehen. Congresos (Kongresse) sind einmalige, mehrstündige Veranstaltungen, die überwiegend in größeren Kirchen stattfinden. Lokal oder regional bekannte sowie internationale Prophetinnen und Propheten, Predigerinnen und Prediger werden zu den Kongressen eingeladen und werbewirksam angekündigt. Die Kongresse bestehen aus Vorträgen, Predigten, Lobpreis und Gebet. Sie kulminieren im Altarruf mit der Aufforderung, das Leben Jesus zu übergeben, und in einer Vielzahl individueller Gebete, die eine kollektive Katharsis zu bewirken scheinen. Die Teilnehmerinnen erhalten einen Imbiss und Geschenke von dekorierten Papiertaschen über professionell bedruckte Kugelschreiber und Notizblöcke bis hin zu neuer Kleidung. Die Pastorin der Kirche MAR erzählte, wie sie und ihr Mann ganztägige Kongresse gestalteten, die von ganzen Familien besucht würden. Die Kongresse behandelten Themen der inneren und der spirituellen Heilung und kulminierten in kathartischen Vergebungs- und Versöhnungserfahrungen: »Wir mieten einen […] großen Saal. Wir beginnen um 10 Uhr morgens. […] Ich koche für alle Leute, es sind ungefähr 300 Leute, die kommen. […] Sie bekommen das Mittagessen, nachmittags bekommen sie den Kaffee. Und dort bemerkst du die Befreiungen, die Gott wirkt. Wie die Leute sich um Vergebung bitten. Wie die Kinder ihren Eltern vergeben. Wie die Eltern ihren […] Kindern vergeben. Die Ehemänner den Ehefrauen. Dort gibt es eine Versöhnung, denn wir haben drei […] Themen: Spirituelle Autorität, damit sie die Lüfte reinigen. Die Vergebung und die Fülle des Heiligen Geistes. Und dann ist es fast 18 Uhr und niemand will gehen. Ich musste ihnen sagen: ›Geschwister, Gott segne euch.‹ […] Alle sind mit dieser Fülle, mit diesem Feuer. Es ist ein gewaltiges Feuer, denn es ist etwas Schönes. Gott befreit dort, dort verehren sie Gott, dort loben sie Gott, dort tanzen und springen sie. […] Niemand will gehen.«31 30 31

Interview Nr. 40, 23.4.2015. Interview Nr. 40, 23.4.2015.

2 Orte der Heilung

Kongresse für Frauen behandeln überwiegend grundsätzliche Themen der weiblichen Identität. Dies wird an Kongresstiteln wie El propósito de Dios para la mujer (Gottes Plan für die Frau, Kirche IM, 27.2.2015), La hija del rey (Die Tochter des Königs, Kirche MANAIA, 23.9.2017) und Ahora me toca a mí (Jetzt bin ich dran, Kirche MIB, 7.2.2018) deutlich. Charlas (Vorträge) für Frauen behandeln hingegen eher spezifische Themen aus den Bereichen Kindererziehung, Eheleben und Gesundheit. Als Vortragende fungieren hier Pastorinnen und Pastoren oder auch Fachleute für bestimmte Themen wie Therapeutinnen und Therapeuten, Ärztinnen und Ärzte. Das folgende Zitat zeigt, dass die Vergebung auch in Vorträgen thematisiert wird und dass auch Vorträge im Altarruf und in individuellen Gebeten kulminieren: »Wenn eine Person kommt oder der Prediger selbst, der den Vortrag […] hält, dann rufen sie dich zum Beispiel zum Altar, sie machen einen Aufruf zu irgendeinem Thema, über das sie sprechen, […] sie sprechen über die Vergebung […] Dann rufen sie dich: ›Falls du einen Mangel an Vergebung hast, nähere dich dem Altar und komm und leg vor dem Herrn diese Personen und dieses Problem hin.‹ Dann kommt jemand und betet für dich.«32

2.4

Gruppen, Kurse und Versammlungen

Bibel- und Gebets-, Zell- und Kreativgruppen sowie Glaubenskurse evangelischpentekostaler Kirchen sind überwiegend geschlechtsspezifisch konzipiert. Außerdem werden Gruppen und Kurse für Paare angeboten. Die Veranstaltungen der katholisch-pentekostalen Gemeinschaften sind überwiegend geschlechtsunabhängig konzipiert. Darüber hinaus existieren mehrere nichtdenominationelle Frauenorganisationen. Ob Gruppe oder Kurs, geschlechtsspezifisch oder nicht, evangelisch oder katholisch: Das Selbstkonzept und die Vergebung sind zentrale Themen.

2.4.1

Bibel- und Gebets-, Zell- und Kreativgruppen

Frauengruppen zeichnen sich gegenüber Kongressen und Vorträgen durch die Regelmäßigkeit ihrer Versammlungen, durch eine geringere Teilnehmerinnenzahl und folglich durch eine größere Intimität aus. Im Folgenden werden exemplarisch eine Bibel- und Gebetsgruppe sowie eine Kreativgruppe der Kirche CCVN und eine Frauengruppe der Kirche MSDJ vorgestellt. Die Bibel- und Gebetsgruppe Mujeres Creciendo en el Espíritu (Im Geist wachsende Frauen) der Kirche CCVN wurde von neun bis 15 Teilnehmerinnen zwischen etwa 30 und 85 Jahren besucht. Die Leiterin erklärte, dass die Gruppe neun Jahre zuvor

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Interview Nr. 44, 7.5.2015.

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Gender und Heilung

für bildungsferne Frauen gegründet worden war. Seitdem hätten sich die Frauen nicht nur spirituell weiterentwickelt, sondern einige hätten auch lesen gelernt. Die Versammlungen fanden donnerstags nachmittags statt, dauerten zwei Stunden und begannen mit einem gemeinsamen Kaffeetrinken und Einzelgesprächen. Darauf folgte ein Gruppengespräch über einzelne Bücher der Bibel, überwiegend die Evangelien, auf das die Frauen sich mit Hilfe von Kursbüchern des Seminario por Extensión a las Naciones (SEAN)33 vorbereitet hatten. Abschließend wurde mitund füreinander gebetet. Die Gruppe zeichnete sich durch eine langjährige Kontinuität in der Zusammensetzung und infolgedessen durch Vertrautheit der Teilnehmerinnen aus. Im Zentrum der Versammlungen stand die Vermittlung biblischer Inhalte, doch im Kontext gemeinsamer Gebete wurden auch Themen der inneren und der spirituellen Heilung angesprochen. Die Existenz der Gemeinschaft, die sich auch zwischen den Versammlungen per WhatsApp über Gebetsanliegen austauschte und durch Gebete miteinander verbunden wusste, vermittelte den Frauen das Bewusstsein, kontinuierlich spirituell unterstützt zu werden. Die in der Gruppe erworbene Bildung verlieh nicht nur den bildungsferneren Teilnehmerinnen Selbstbewusstsein. Die Frauengruppe der Kirche MSDJ wurde von etwa sieben bis elf Frauen zwischen 18 und 40 Jahren besucht und bestand erst seit wenigen Monaten. Im Unterschied zur Frauengruppe der Kirche CCVN war diese Gruppe als Zellgruppe konzipiert und zielte auf Wachstum und Vermehrung. Diese Kirche hatte nach Aussage der Co-Pastorin zuvor nach dem Modell der G12 Vision-Bewegung gearbeitet, sich dann aber von deren Organisationsform distanziert.34 Die Kirche war erfolgreich in Bezug auf die Vermehrung von Zellgruppen für Jugendliche, während die Leitungspersonen bedauerten, dass dies in Bezug auf die geschlechtsspezifischen Gruppen

33

34

Das SEAN wurde 1971 vom anglikanischen Missionar Antonio Barratt gegründet, um die theologische Bildung in lokalen Kirchen und Gemeinden Lateinamerikas zu unterstützen. Vgl. www.seancostarica.org/ [25.4.2017]. Facebook-Nachricht vom 26.5.2016. Die G12 Vision-Bewegung hat ihre Wurzeln in Bogotá, Kolumbien, wo Pastor César Castellanos 1983 in seiner Kirche Misión Carismática Internacional eine Zwölferzellgruppenstruktur nach dem Vorbild der Yoido Full Gospel Church in Südkorea einführte, in der jede und jeder nach einer sogenannten Konsolidierungsphase als Gläubige oder Gläubiger selbst Leiterin oder Leiter einer Zwölferzellgruppe werden soll. Die Popularität der G12 Vision-Bewegung sank in Costa Rica nach anfänglicher Verbreitung und die Zwölferzellgruppenstruktur in ihrer ursprünglichen Form nach César Castellanos wird kaum mehr realisiert, aber einige Kirchen modifizierten das System und machten es weniger autoritär. Viele andere Kirchen sind in einer Zellgruppenstruktur organisiert, ohne auf das System der G12 Vision-Bewegung zurückzugreifen. Es ist kaum nachzuverfolgen, welche Kirchen von G12 inspiriert sind, da deren Methoden umstritten sind und Pastorinnen und Pastoren die Inspiration für die Organisation ihrer Kirchen eher auf göttliche Offenbarung als auf irdische Vorbilder zurückführen.

2 Orte der Heilung

für Erwachsene weniger gelang. Dennoch war die Vervielfachung der Frauengruppe deren erklärtes Ziel. Im Unterschied zur vorgestellten Frauengruppe der Kirche CCVN stießen zu dieser Gruppe häufig neue Teilnehmerinnen hinzu, und diejenigen, die während einiger Wochen an den Versammlungen teilnahmen, wurden in die Ausbildung für die Übernahme von Leitungsfunktionen integriert. Die Zusammensetzung und Leitung der Frauengruppe der Kirche MSDJ war von Veränderung gekennzeichnet. Der Ablauf der Versammlungen dieser Gruppe folgte hingegen einer festen Struktur: Auf eine Eingangsfrage an alle Teilnehmerinnen, die häufig darauf abzielte, dass jede eine Anekdote aus ihrem Leben erzählte, folgten ein Eingangsgebet und eine Predigt, deren Aussage durch eine Aktion wie ein Anspiel veranschaulicht wurde. Auf die Predigt folgte eine Phase des Lobpreises, der individuellen Gebete und der Ruhe im Geist. Die Versammlungen endeten mit einem Schlussgebet und mit Zeit für Einzelgespräche. Im Unterschied zur Frauengruppe der Kirche CCVN standen in dieser Gruppe Themen der inneren und der spirituellen Heilung wie die weibliche Identität, familiäre und spirituelle Verpflichtungen, die Sünde und der Teufel im Zentrum. Der Aussage der Co-Pastorin zufolge bestand das Ziel dieser Gruppe darin, Frauen zu stärken. Ein weniger verbreitetes Format stellte das der Tardes Creativas (Kreative Nachmittage) in der Kirche CCVN dar. Im Zentrum dieser Veranstaltung stand seit ihrer Gründung zehn Jahre zuvor das kreative Gestalten mit Materialien wie Pappe und Papier, Stoff, Pappmaché und Gebrauchsgegenständen wie Flaschen oder Verpackungen. Wöchentlich versammelten sich etwa 20 bis 25 Frauen zwischen 13 und 80 Jahren, die teilweise anderen Kirchen angehörten und jeweils für einen Zeitraum von mehreren Wochen unter Anleitung an einem von drei zur Wahl stehenden Projekten arbeiteten. In den Arbeitspausen wurden Vorträge über theologische, ethische und psychologische Themen gehalten und es wurde mit- und füreinander gebetet. Die etwa 45 Jahre alte Gründerin und Leiterin der Gruppe, die sich mit einem Geschäft für Handarbeits- und Kunsthandwerksbedarf selbstständig gemacht hatte, erklärte, dass sie mit dieser Gruppe ein missionarisches und ein therapeutisches Ziel verfolge. Ihre missionarischen Absichten richteten sich an Frauen, die keiner pentekostalen Kirche angehörten und denen sie zu einer lebendigen Gottesbeziehung verhelfen wollte. Ihr therapeutisches Ziel verfolgte sie mit der Anleitung zu den Handarbeiten, weil diese eine heilende Wirkung auf die Seelen der Frauen hätten, insofern viele durch die Handarbeiten zum ersten Mal in ihrem Leben erführen, dass sie fähig sind, etwas Gutes zu vollenden: »Wir sehen, was es für eine Frau bedeutet, eine Kette fertig zu stellen, wenn sie vielleicht eine Frau ist, der es in ihrem ganzen Leben noch nicht gelungen ist, etwas abzuschließen. Die Bedeutung, die es für eine Frau hat, sagen zu können: […] ›Ich konnte etwas fertig machen.‹ Sie in diesem Bereich total wiederhergestellt zu sehen. Vielleicht [sind es] Frauen, denen das ganze Leben lang gesagt wurde:

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Gender und Heilung

›Ihr Nutzlosen‹, ›Du bist zu nichts nütze‹, ›Dass es dich gibt, ist purer Zufall.‹ […] Deshalb haben wir uns auf die Handarbeiten konzentriert, in Kombination mit dem Wort.«35 Dieses Beispiel zeigt, dass auch Veranstaltungsformate, die auf den ersten Blick nicht den Zusammenhang mit der inneren Heilung vermuten lassen, durchaus mit diesem Ziel verbunden sein können.

2.4.2

Kurse

Die im Folgenden vorgestellten Kurse unterscheiden sich von den eben skizzierten Gruppen dadurch, dass sie zeitlich begrenzt sind. Es gibt geschlechtsgemischte Kurse, Frauenkurse und Kurse für Ehepaare. Zu den geschlechtsgemischten Glaubenskursen gehört der Kurs für Konvertierte Nueva Vida en Cristo (Neues Leben in Christus), den die Pastorin der Kirche CCBEDN durchführte und der vor allem auf die Vermittlung biblisch-theologischer Topoi zielte. Der Kurs wurde in spanischer Sprache vom US-Amerikaner Mark Robinson im Rahmen seiner Tätigkeit für die Missionsgesellschaft CAM International, die dann in Camino Global umbenannt wurde, und in Zusammenarbeit mit Angehörigen der Denomination AIEC entwickelt. Im Rahmen dieses Kurses wird in sieben Schritten zum Vollzug der Vergebung angeleitet: 1. Die Teilnehmenden sollen sich ihrer negativen Gefühle bewusst werden. 2. Sie sollen sich an die unverdient von Jesus empfangene Vergebung erinnern. 3. Sie sollen entscheiden zu vergeben, unabhängig vom eigenen Willen, von den eigenen Gefühlen und vom Verhalten der anderen Person. 4. Diese Entscheidung sollen sie im Gebet aussprechen und dabei den Namen der Person und deren Schuld benennen. 5. Sie sollen entscheiden, der Person die Tat nicht mehr vorzuhalten. 6. Sie sollen sich bemühen, nicht mehr über das verletzende Ereignis nachzudenken. 7. Sie sollen nicht erwarten, dass die andere Person sich verändert, denn das Entscheidende sei, dass man sich durch die Vergebung selbst von den Konsequenzen der Sünde der oder des anderen befreit. Über diese sieben Schritte hinaus findet sich im Kursmaterial eine Suggestivfrage nach der persönlichen Entscheidung. Als mögliche Antworten werden einerseits »Ich werde vergeben« und »Frieden« und andererseits »Ich werde nachtragend bleiben« und »Verbitterung« vorgegeben.36 Hier stellt sich die Frage, ob eine suggerierte Entscheidung für die Vergebung effektiv sein kann. Zu den Frauenkursen gehört der Kurs Renovada (Erneuert), den eine Mitarbeiterin der Kirche CCVN zum wiederholten Mal durchführte. Er zielt weniger auf die Vermittlung biblisch-theologischer Topoi als auf Selbstreflexion und Identitätsfindung. Die zentrale Aussage des schriftlichen Kursmaterials ist, dass Frauen 35 36

Interview Nr. 28, 8.4.2015. Vgl. Robinson 2001, 19; 2005, 18.

2 Orte der Heilung

wertvoll sind, weil sie Gottes geliebte Töchter und Jesu Bräute sind. Auch die geistliche Kampfführung und die Vergebung werden thematisiert. Der Kurs wurde ursprünglich auf Englisch von Mary Sumner und Joyce Ter Horst entwickelt. Diese gehören zu den Gründerinnen und Leiterinnen von Revive and Restore Ministries mit Sitz in Whitestown, Indiana, einer Initiative, die als ihr Ziel die weltweite Frauenevangelisation benennt. Im Namen dieser Initiative wurden in Costa Rica wie in anderen Ländern Konferenzen durchgeführt, um die Kooperation mit lokalen kirchlichen Fraueninitiativen zu ermöglichen. Im Kontext solch einer Konferenz begegnete die Mitarbeiterin der Kirche CCVN Joyce Ter Horst und lernte durch diese das genannte Kursmaterial kennen. Daraufhin besuchte Joyce Ter Horst mehrfach die in Alajuela durchgeführten Kurse. Im Material dieses Kurses findet sich im Anschluss an die theoretische Darlegung der Bedeutung der Vergebung eine praktische Anleitung zur Vergebung, die in einem Gebet besteht, das den ersten vier Schritten der Anleitung zur Vergebung im Kursbuch Nueva Vida en Cristo (Neues Leben in Christus) entspricht: Die Teilnehmerinnen sollen im Gebet zunächst die eigenen Sünden bekennen und um Vergebung dafür bitten. Dann sollen sie die Namen und Taten derer, denen sie vergeben wollen, aufschreiben und sich die verletzenden Ereignisse und die dadurch verursachten Emotionen vergegenwärtigen. Schließlich soll die Vergebung deklariert und die negativen Emotionen sollen Jesus übergeben werden.37 Die Option der Nichtvergebung wird nicht genannt. Kurse für Ehepaare dienen der Heilung von Ehebeziehungen, der nach allgemeiner Überzeugung zuerst die innere Heilung der Eheleute und dann deren gegenseitige Vergebung vorangehen muss. Mit diesen Zielen wurden innerhalb des Projekts Juntos por siempre (Für immer zusammen), das von derselben Mitarbeiterin der Kirche CCVN, die auch den Kurs Renovada (Erneuert) leitete, gegründet wurde, neben Kursen auch Vorträge, Kinoabende, Abendessen und Rüstzeiten für Ehepaare organisiert. Auf der inneren Heilung und gegenseitigen Vergebung aufbauend sollte den Paaren ein biblisch begründetes eheliches Ethos vermittelt werden, indem Themen wie Kommunikation, Sexualität und Finanzen besprochen wurden. Die Mutter einer Frau, die mit ihrem Ehemann an mehreren dieser Veranstaltungen teilgenommen hatte, erklärte, dass auf diese Weise viele Ehen gerettet worden seien: »Sie machen dort Nachfolgeveranstaltungen, nach einer Rüstzeit vermitteln sie ihnen die Bibel, drei Monate lang zeigen sie den Paaren, wie sie bessere Paare werden können. […] Sie müssen sich verpflichten, zu dieser Rüstzeit von einem Wochenende zu gehen, danach […] drei Monate lang an Versammlungen teilzunehmen, bei denen eine Leitungsgruppe ihnen zeigt, wie sie ein besseres Paar werden. […] Wir haben so viele wiederhergestellte Ehen gesehen, innerhalb und

37

Vgl. Sumner 2010, 54f.

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Gender und Heilung

außerhalb der Kirche. Manche nicht, manche nehmen an so einer Rüstzeit teil, weil sie kurz davor stehen, sich scheiden zu lassen, und am Ende lassen sie sich scheiden, es war nicht zu verhindern. […] Es kommt drauf an, dass es eine Bereitschaft des Herzens gibt, die Lehren des Herrn anzunehmen, sie zu bewahren und in die Praxis umzusetzen.«38 In der Kirche MANAIA versammelten sich Ehepaare zweiwöchentlich zu einem Kurs, in dessen Rahmen verschiedene Kursmaterialien teils individuell, teils als Paar bearbeitet wurden. Auch hier wurden Fragen der Finanzen und der Sexualität thematisiert. Als Ziel des Kurses nannte die Pastorin sowohl die Vorbeugung von Ehekonflikten als auch Vergebung und Heilung: »Die Ehepaare kommen alle zwei Wochen. Wir arbeiten paarweise und individuell. […] Wir arbeiten mit einem Buch, das ›Vor dem Jawort‹ heißt. Das ist ein Buch für unverheiratete Paare, aber auch für verheiratete Paare. […] Vielen muss man die Zeit vor der Ehe zurückgeben, weil sie schlecht war. Dann muss man sich wiedererobern. […] Und heilen. Wir arbeiten mit einem anderen Buch, […] das vom Sex in der Ehe […] handelt. […] Wir sprechen über Finanzen, Sexualität. […] Und wir haben dieses andere Buch, das das Vorbild für die Ehe ist. […] Jeder muss sein eigenes Buch haben, und sie bearbeiten es zusammen als Paar. […] Es kommt zu Vergebung, Heilung, es gibt auch Rüstzeiten für Ehepaare. Vorträge. […] Es ist eine Werkstatt, und du gehst nicht nur zur Werkstatt, wenn dein Auto kaputt ist, […] sondern es ist klug, das Auto vorsorglich zur Werkstatt zu bringen. […] Es gibt Ehepaare, die erst zur Beratung gehen, wenn […] das halbe Auto kaputt ist. Aber ich sage ihnen: ›Solange müsst ihr nicht warten. Geht zu einer Werkstatt für Paare, um Dinge zu lernen und aufzufrischen und das Versprechen zu erneuern. […] Bevor ihr […] ins Chaos verfallt, beugt lieber vor.‹ […] Wartung ist besser als Reparatur.«39 Im Rahmen des Projekts Juntos por siempre (Für immer zusammen) wurde auch ein Kurs über den Umgang mit Geld angeboten, der auf Unterlagen der Organisationen El Instituto para la Cultura Financiera und Conceptos Financieros Crown basierte, die als Ziel angeben, auf der Grundlage biblischer Überzeugungen ökonomisch verantwortungsvolles Verhalten zu vermitteln.40 Eine Teilnehmerin fasste das Erlernte zusammen, indem sie berichtete, dass es entscheidend für den Umgang mit Gütern sei, sich bewusst zu sein, nicht selbst Eigentümerin, sondern von Gott als Verwalterin über alle Bereiche des Lebens eingesetzt worden zu sein. Aus der Verantwortung gegenüber Gott erwachse die Verpflichtung zum klugen Umgang mit Eigentum. Entscheidende Prinzipien dafür seien Selbstbeherrschung, Verzicht, Geduld 38 39 40

Interview Nr. 44, 7.5.2015. Interview Nr. 61, 4.6.2015. Vgl. www.culturafinanciera.org und www.conceptosfinancieros.org/pagina/ [26.4.2017].

2 Orte der Heilung

und Barmherzigkeit. Außerdem betonte sie den Zusammenhang zwischen dem finanziellen und dem seelischen Wohlergehen. Weil viele Menschen versuchten, ihre seelischen Verletzungen durch den Erwerb von Gütern zu kompensieren, sei auch für den verantwortungsbewussten Umgang mit Geld die innere Heilung die Voraussetzung: »Ich glaube, […] dass es den finanziellen Bereich stark betrifft, wenn eine Person nicht gesund ist, es kann sogar sein, dass die Person sich immer mehr kaufen will, um eine emotionale Erleichterung zu empfinden, Glück, wenn sie Sachen kauft, was Lust verursacht. Die Leute versuchen auf diese Weise, Überzeugungen wie ein schwaches Selbstwertgefühl zu kompensieren, und sich aufzuwerten durch die materiellen Dinge, die sie haben, Haus, Auto, Schmuck, Reisen etc.«41 Im CCCAJ wurden geschlechtsgemischte Initiationskurse als Rüstzeiten und im Anschluss daran insgesamt acht wöchentlich stattfindende, geschlechtsgemischte Cursos de Crecimiento (Wachstumskurse) angeboten, die jeweils mehrere Wochen dauerten, aufeinander aufbauten und dogmatische, liturgische, ethische und psychologische Themen behandelten. Darüber hinaus existierte eine wöchentlich stattfindende, geschlechtsgemischte Schulungsveranstaltung namens Escuela de Formación (Bildungsschule) für diejenigen, die dem Zentrum seit längerer Zeit angehörten und als Leitende galten. Sie diente der theoretischen Vermittlung theologischer und psychologischer Inhalte. So wurden Vorträge über Fragen der Selbsterkenntnis, der emotionalen und spirituellen Befreiung, aber auch über lebenspraktische Themen wie den Umgang mit Geld oder mit Arbeitslosigkeit gehalten.

2.4.3

Versammlungen nichtdenominationeller Frauenorganisationen

In Alajuela versammelten sich regelmäßig mehrere als Kapitel bezeichnete Frauengruppen, die den nichtdenominationellen Organisationen FIHNEC, TF und Aglow angehörten. Diese Organisationen haben gemeinsam, dass sie als Ziel die Entstehung oder Intensivierung der individuellen Gottesbeziehung benennen, das sie vor allem durch das Teilen von Glaubenszeugnissen in Verbindung mit Gesprächen bei gemeinsamen Mahlzeiten zu erreichen beabsichtigen. Außerdem betonen sie ihre Nichtdenominationalität und verbieten, während der Versammlungen über die eigene Kirchenzugehörigkeit zu sprechen oder für die eigene Kirche zu werben. Personen, die keiner Kirche angehören, sollen motiviert werden, sich einer Kirche anzuschließen, weil die Kirchen als die Orte verstanden werden, an denen die Gottesbeziehung in der Gemeinschaft gelebt wird. Auch der Ablauf der Versammlungen der Kapitel dieser drei Organisationen ähnelt sich und folgt jeweils einem 41

E-Mail vom 17.4.2017.

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Gender und Heilung

festen Schema. Im Folgenden wird der Ablauf der Versammlungen der Kapitel von TF dargestellt. Für die wöchentlichen Treffen der 52 costa-ricanischen TF-Kapitel, die in Hotels oder Restaurants stattfanden, waren wechselnd jeweils sechs Frauen für das Podium eingeteilt. Eine dieser Frauen war für die Moderation zuständig. Eine andere erläuterte im Anschluss an die Begrüßung jede Woche aufs Neue die Vision von TF, die auf deren Gründungslegende beruht. So seien in der Anfangszeit der Organisation einige Frauen von Sterilität geheilt worden. Daraus wird abgeleitet, dass es ihr Auftrag sei, dazu beizutragen, dass das Leben der Frauen transformiert und in jeglicher Hinsicht fruchtbar wird. Auf die Vision folgte stets die sogenannte Bärenumarmung. Die dritte Frau legte eine Bibelpassage aus. Die vierte Frau erklärte die theologische Bedeutung der Kollekte, die dann eingesammelt wurde. Die fünfte stellte ein Lied vor, indem sie erklärte, was es ihr persönlich bedeutete, um es dann gemeinsam zu singen. Bereits in die Darstellung der Vision, in die Auslegung der Bibelpassage und in die Erläuterung des Liedes ließen die Frauen ihr persönliches Zeugnis einfließen. Doch all diese kurzen Zeugnisse kulminierten nach einer Pause, in der gemeinsam gespeist wurde, im Zeugnis der sechsten Frau, die in der Darstellung ihrer Biographie ihr Leid und ihre Schuld herausarbeitete, um aufzuzeigen, wie Gott ihr Leben transformiert habe, indem er sie von allem Schmerz infolge von Leid und Schuld geheilt habe. Die Zeugnisse illustrieren, dass sich Gottes Gnade an Menschen umso deutlicher erweist, je größer vorher deren Leid und Schuld waren, und sie vermitteln, dass die Einzelnen mit ihrem Schicksal nicht alleine sind. Den Abschluss der Versammlungen bildete der anillo de oración (Gebetsring), für den sich etwa fünf Frauen im Kreis stehend umarmten, gegenwärtige Sorgen miteinander teilten und füreinander beteten. An den Versammlungen des Kapitels Iztarú in Alajuela, das nach dem Restaurant benannt war, in dem die Versammlungen stattfanden, nahmen zwischen 30 und 40 Frauen zwischen 20 und 70 Jahren teil. 2000 Frauen, die Kapiteln im ganzen Land angehörten, versammelten sich einmal im Jahr zu einem Kongress in San José im Hotel Herradura. Mehrere Teilnehmerinnen berichteten von den katharischen Erfahrungen während dieses Kongresses, der für sie einen Höhepunkt des Jahres darstellte.

2.5

Rüstzeiten

Retiros (Rüstzeiten) gehören in vielen evangelisch-pentekostalen Kirchen ebenso wie in Gemeinschaften der RCC zum Standardrepertoire. Es gibt Rüstzeiten für Frauen, für Männer, für Paare, für Jugendliche und für Kinder. Insbesondere für Frauen stellen Rüstzeiten häufig die einzige Möglichkeit dar, eine Art Kurzurlaub ohne die Familie zu verbringen. Einige Kirchen konzipieren Rüstzeiten aufeinander aufbauend, um die Gläubigen von der Konversion an kontinuierlich zu beglei-

2 Orte der Heilung

ten. Diese Rüstzeiten dürfen jeweils nur einmal besucht werden. Andere Kirchen konzipieren Rüstzeiten, die nicht aufeinander aufbauen. Diese haben wechselnde inhaltliche Schwerpunkte und können wiederholt besucht werden. Wieder andere Kirchen kombinieren beide Konzepte. Die Häufigkeit von Rüstzeiten, die sich exklusiv an Konvertierte richten, ist ein Indikator für die Wachstumsorientierung einer Kirche. So veranstaltete die Kirche MJV etwa viermal im Jahr als Encuentro con Dios (Treffen mit Gott) bezeichnete Rüstzeiten für Konvertitinnen mit 50 bis 60 Teilnehmerinnen sowie entsprechende Rüstzeiten für Männer und Kinder. Die Kirche MSDJ kam immerhin auf zwei Rüstzeiten für Konvertierte pro Jahr mit etwa 20 bis 30 weiblichen und männlichen Teilnehmenden. Die Kirche CCVN hingegen organisierte lediglich alle ein bis zwei Jahre eine Rüstzeit für Frauen, an denen viele mehrmals teilnahmen. Die Vergebung wird während der Rüstzeiten für Konvertierte in besonderer Weise thematisiert, doch Themen der inneren Heilung sind bei allen Rüstzeiten bedeutsam. Die Rüstzeiten dauerten stets von Freitag oder Samstag bis Sonntag und fanden überwiegend in Heimen oder Hotels in der Umgebung Alajuelas statt. Ein ähnliches Veranstaltungsformat ist das campamento (Lager). Die Lager unterscheiden sich von den Rüstzeiten dadurch, dass das Gemeinschaftserlebnis der Teilnehmenden stärker im Vordergrund steht und Themen der inneren oder spirituellen Heilung weniger zentral sind. Sie richten sich überwiegend an Jugendliche und Familien. Die für Konvertierte konzipierten, nicht geschlechtsspezifischen Rüstzeiten der Kirche MSDJ, an denen überwiegend Jugendliche teilnahmen, verliefen stets nach demselben Ablauf. Thematisiert wurden die eigene Kindheit, die Beziehung zu den Eltern, emotionale Verletzungen, deren Vergebung, das Wirken des Heiligen Geistes und die Befreiung von den Folgen der emotionalen Verletzungen. Phasen des Lobpreises wechselten sich wiederholt mit Predigt- und Gebetsphasen ab, es wurden Spiele gespielt, und darüber hinaus wurden vielfältige Methoden angewandt, um die zu vermittelnden Inhalte affektiv erfahrbar zu machen. So berichtete die im Folgenden zitierte Informantin, dass während ihrer Rüstzeit szenische Anspiele präsentiert wurden, dass die Teilnehmenden aufgefordert wurden, ein Kissen zu umarmen und sich vorzustellen, es sei die Mutter, und dem Vater einen Brief zu schreiben und diesen Brief an ein Kreuz zu nageln. Am nächsten Tag hätten sie den Brief zurückerhalten, eingefärbt mir roter Tinte, die das Blut Jesu symbolisierte, und versehen mit einem persönlichen Satz der Zusage der individuellen Erlösung: »Es sind ungefähr neun Versammlungen […] wie Gottesdienste. […] Da gibt es Lobpreis, Anbetung, dann die Predigt und die Gebete. […] Es gibt die ›Wieder Kinder sein‹, […] die vom Vergeben, […] die von der Mutter, […] da haben sie uns ein Kissen gegeben, und wir haben es umarmt. Für mich war das schön, denn […] während man betet, geben sie einem das Kissen, und […] meine Mutter war

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Gender und Heilung

tot, […] und da habe ich die Umarmung gespürt. Da weint man mit dem Kissen, man lässt alles raus. […] Und dann kommt ›Die Fülle des Heiligen Geistes‹. Das ist normalerweise die letzte, da bewegt sich der Heilige Geist. […] Es sind neun Predigten. […] Es gibt auch Theaterstücke. […] Und es gibt auch Spiele. […] Ein Kreuz wird mitgenommen. Und zum Beispiel, um dem Vater zu vergeben, schreibt man ihm einen Brief, in dem man sagt, was du willst. […] Dann geht man und nagelt [den Brief] an das Kreuz. […] Dann […] am nächsten Tag, die ›Wir sind gereinigt durch das Blut Christi‹, […] irgendwie so heißt die Predigt, […] was wir da festgenagelt haben, empfangen wir mit einem […] geschriebenen Wort. Mit den Zetteln, sie färben das mit Tinte, etwas Rotes, […] das das Blut Christi symbolisiert, und dass das Blut Christi das alles weggenommen hat. […] Ein Wort, ›Gott hat dein Leben verändert‹ oder ›Gott hat dir vergeben‹, ›Gott hat dich gerettet‹.«42 Die Rüstzeiten der Kirche MJV fanden im Hotel Martino etwa sieben Kilometer vom Stadtzentrum Alajuelas entfernt statt und kosteten die Teilnehmerinnen jeweils 40.000 Colon.43 Die Teilnehmenden der Rüstzeiten für Konvertierte mussten sich verpflichten, nichts über die Inhalte und den Ablauf dieser Rüstzeiten zu erzählen. Die Notwendigkeit dieser Verpflichtung wurde damit begründet, dass zukünftige Teilnehmende unvoreingenommen sein sollen, um eigene überraschende Erfahrungen machen zu können. Der Pastor erklärte, die Rüstzeit diene der Reinigung und Befreiung. Von außen wahrnehmbar waren lediglich die physischen Auswirkungen der Rüstzeit, wenn die Teilnehmenden während des Sonntagnachmittagsgottesdienstes mit mehreren Bussen zurückkehrten, nacheinander ausstiegen und sich durch die jubelnde, applaudierende und singende Gottesdienstgemeinde zur Bühne begaben. Auf diesem Weg wurden manche der Teilnehmenden gestützt und andere getragen, weil sie andernfalls hinzufallen drohten, andere sprangen, lachten ekstatisch, schrien oder weinten. Danach bezeugten die Teilnehmenden die Gotteserfahrungen, die sie während der Rüstzeit gemacht hätten, erklärten, dass sie neue Menschen seien, baten die anwesenden Angehörigen um Vergebung und beteuerten ihre Liebe zu ihnen. Manche weinten oder lachten so sehr, dass sie nicht sprechen konnten, andere sprachen in Zungen, und stets wurde von den moderierenden Personen Gottes Wirken an ihnen gepriesen. Nach dem Ende des Gottesdienstes durften sie sich zu ihren Angehörigen begeben, die sie mit Luftballons, Blumen und Schildern begrüßten. Ebenso wie die skizzierte Rückkehr der Frauen von der Frauenrüstzeit gestalteten sich auch die der Kinder von der Kinderrüstzeit und die der Männer von der Männerrüstzeit. Insbesondere bei den Kindern stellt sich hier die Frage der Manipulation.

42 43

Interview Nr. 50, 15.5.2015. Dieser Betrag entsprach 2015 etwa 65 €.

2 Orte der Heilung

Die Teilnahme an einer Rüstzeit dieser Kirche wurde Personen nahegelegt, die seit mehreren Wochen an Gottesdiensten und an Versammlungen einer der Zellgruppen teilnahmen. Die Rüstzeit galt als Initiation der festen Zugehörigkeit zur Kirche. Als die im Folgenden zitierte Informantin an einer dieser Rüstzeiten teilnahm, hatte sie bereits an Rüstzeiten anderer Kirchen teilgenommen, doch diese Rüstzeit habe ihre Gottesbeziehung verwandelt. Sie erklärte außerdem das Evangelisationskonzept dieser Kirche: Auf die Rüstzeit folge die Academia de Transformación (Transformationsakademie), die in wöchentlichen Sitzungen bestehe und etwa ein Jahr dauere. Die Teilnehmenden würden hier in die Bibel und in grundlegende Glaubensinhalte eingeführt. In dieser Zeit solle man sich taufen lassen und erste Dienste in der Kirche etwa im Begrüßungsdienst oder in der Kinderbetreuung übernehmen. Die Transformationsakademie ende wiederum mit einer Rüstzeit, die als Lanzamiento de Discípulos (Jüngeraussendung) bezeichnet wurde. Wer daran teilgenommen habe, dürfe höherwertige Aufgaben wie die Mitwirkung im Gottesdienst und die Leitung von Rüstzeiten übernehmen: »Es war die beste Rüstzeit […] in meinem Leben. Es sind wirklich die drei besten Tage, obwohl man viel Geld bezahlen muss. […] An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal bei Misión zum Gottesdienst gegangen bin, wurden die Männer von ihrer Rüstzeit empfangen. Sie waren ganz anders, als ich es vorher erlebt hatte. Sie hüpften und sprangen, andere weinten, manche mussten gezogen werden, weil sie völlig versunken […] in der Gegenwart Gottes waren. […] Es wird einem verboten, zu erzählen, was während einer Rüstzeit passiert, und die Erfahrungen, die man macht, damit, wenn jemand mitfährt, diese Person wirklich überrascht wird. […] Es ist ein Pakt, den man macht, bevor man zur Rüstzeit fährt. […] Du nimmst an einer Rüstzeit teil und bist überwältigt. Also, Gott spricht zu dir. […] Nach der Rüstzeit geht man zur Transformationsakademie. […] Man lernt, […] dass man vergeben muss. […] Das dauert ungefähr ein Jahr. […] Es ist sehr anstrengend, die Menschen zu empfangen, die gerade von ihrer Rüstzeit wiederkommen, denn man muss sie tragen, […] vielleicht ziehen sie dich an den Haaren, weil sie voll vom Heiligen Geist sind.«44 Berichte über Rüstzeiten von Kirchen, die die G12-Struktur praktizierten, lassen vermuten, dass auch die Rüstzeiten der Kirche MJV nach diesem Vorbild konzipiert sind, und auch die Abfolge von Rüstzeit, Schulung und Rüstzeit sowie die graduell zunehmenden Aufgaben in der Kirche erinnern an G12. Der Pastor dieser Kirche stritt diesen Zusammenhang auf Nachfrage nicht ab, sondern verwies lediglich darauf, dass sein Modell biblisch begründet sei.45

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Interview Nr. 13, 19.3.2015. Facebook-Nachricht vom 26.5.2016.

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Gender und Heilung

Möglicherweise ähnelten einige der geheimen Methoden der Rüstzeiten der Kirche MJV denen, die von einer Informantin beschrieben wurden, die an einer Rüstzeit für weibliche Jugendliche der Kirche Visión de Multitudes in Cartago teilnahm. Als Ziel dieser Rüstzeiten benannte sie die Förderung der inneren Heilung durch das Erreichen der Vergebung und die Transformation des Selbstkonzepts. Sie betonte, dass es wichtig sei, während der Rüstzeit kein Handy und keine Uhr bei sich zu haben, um isoliert vom alltäglichen Kontext zu sein und sich ganz Gott widmen zu können. Sie beschrieb einen ähnlichen Phasenwechsel wie die Informantin der Kirche MSDJ, insofern sich Predigten, Bibelarbeiten, Gebet, Lobpreis, Phasen der individuellen Reflexion sowie gruppendynamische Spiele abwechselten. Sie habe schriftlich formulieren sollen, wer sie verletzt und welche Emotionen dies ausgelöst habe. Außerdem sei sie aufgefordert worden, ihre eigenen Sünden aufzuschreiben. Der entsprechende Text sei im Anschluss als Zeichen der Befreiung verbrannt worden. Dieselben Themen wurden außerdem bearbeitet, indem sie angeleitet worden sei, an einem einsamen Ort herauszuschreien, wer sie verletzt und welche Sünden sie selbst begangen habe, um hinzuzufügen, welchen Personen sie welche Taten vergebe. Sie beschrieb dies als eine überwältigende Erfahrung der Befreiung. Den Frauen sei einzeln Gottes Liebe zugesagt worden, aufgrund derer sie sich selbst so annehmen sollten, wie sie seien. Außerdem sei das Verbot des vorehelichen Geschlechtsverkehrs betont worden. Die Informantin beschrieb die Vorbereitung auf die Rückkehr von der Rüstzeit so wie die Teilnehmerinnen anderer Rüstzeiten: Sie hätten Briefe von Familienangehörigen, Freundinnen und Freunden sowie Kirchenangehörigen erhalten, die zu schreiben diese zuvor aufgefordert worden seien. Schließlich seien sie in einem Gottesdienst, währenddessen Filmaufnahmen und Fotos von der Rüstzeit gezeigt worden seien und die Teilnehmerinnen Zeugnis des Erlebten gegeben hätten, ähnlich wie in der Kirche MJV unter Jubel und Applaus empfangen worden: »Es ist ein Treffen mit Gott. […] Man isoliert sich total. […] Es ist fast immer Freitag, Samstag und Sonntag. Am Sonntag kommt man zum Gottesdienst zurück und wird empfangen. Bei der Rüstzeit geht es darum, eine persönlichere Gemeinschaft zu haben. […] Die Uhr wird einem abgenommen, das Handy. […] Du widmest dich Gott. […] Es wird gesungen, getanzt, gebetet, geweint. […] Einige Personen beten speziell für dich. Vorträge werden gehalten […] über Sexualität, dass man keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr haben soll. […] Wir haben einen Ring bekommen, als Pakt, dass wir keinen Geschlechtsverkehr haben, bevor wir heiraten. […] Bibelarbeiten, aber auch Anbetung, Lobpreis, vielleicht gibt es ein paar Spiele. […] Gruppen werden eingeteilt, […] und sie bereiten eine Choreographie oder etwas anderes vor, was sie vorführen. […] Man verbringt Zeit mit den Leuten, aber wenn es Zeit fürs Gebet ist/ […] Manchmal finden die Rüstzeiten an Orten wie in den Bergen statt, dann sagen sie einem: ›Geh ein bisschen

2 Orte der Heilung

weiter weg, damit du mit Gott zusammen sein kannst.‹ […] Es sind immer entweder nur Frauen oder nur Männer. […] Bei manchen […] sollst du aufschreiben, wer dich verletzt hat. […] Alles, was du gefühlt hast. Das Schlechte, was du getan hast. Die Sünden. […] Sie machen ein Feuer, und da wirft man alles hinein und verbrennt es, um zu leben. […] Manchmal soll man schreien, […] um alles herauszulassen. […] Sie bringen einen irgendwohin, wo niemand einen hört, und man schreit: ›Warum hat diese Person mir das angetan, warum ist das passiert?‹ Oder: ›Warum habe ich jene Sünde begangen?‹ […] Das befreit dich. […] Man sollte auf einem Zettel alle Sünden aufschreiben, die man begangen hat. […] Und auf einem anderen Zettel alle Personen, die dir auf irgendeine Weise geschadet haben. Gegen wen du Groll hegst und gegen wen nicht. […] Manchmal unterdrückt man viele Sachen. Wir sollten alle schreien: […] ›Ich vergebe jener Person, weil sie mir das und das und das und das angetan hat.‹ Obwohl niemand es hört, […] fühlt es sich an, als würde man befreit. […] Dann […] sagen sie: ›Schreit so laut, wie ihr könnt‹, um sich zu befreien, und wir haben alle geschrien. […] Die Befreiung [war so stark], manche sind sogar umgefallen, haben geweint. Dann […] sagen sie einem: […] ›Kniet nieder. […] Niemand darf die Augen öffnen.‹ […] Dann haben sie gefragt: ›Wer hatte Sex vor der Ehe?‹ Dann musste man die Hand heben. ›Wer hat jene Sünde begangen?‹ Niemand hat etwas gesehen. […] Und […] sie haben einem […] so etwas wie ein Döschen gegeben […] und gesagt: ›Öffnet es, aber niemand [anders] darf es sehen.‹ […] Alle mussten die Augen schließen, und man durfte es öffnen, wenn das Döschen zu einem kam. Und das Döschen war ein Spiegel, und da stand: […] ›Nimm dich an, wie du bist, denn Gott liebt dich.‹ […] Da haben alle geweint. […] Normalerweise bekommt man Briefe. Die Familienangehörigen werden darum gebeten. […] Die Leiter […] sagen deiner Mutter oder wem auch immer: ›Schreib ihr einen Brief.‹ Und so kommt am Ende […] der Moment, in dem du die Briefe liest. […] Auch die Leiter schreiben dir Briefe, alle dort, deine Bekannten, […] Familienangehörige, Freunde […] schreiben Briefe. […] Manchmal gibt es Leute, denen die Familienangehörigen keine Briefe schreiben. Dann schreiben auch die Leute aus der Kirche […] Briefe. […] Und zu einer bestimmten Uhrzeit, kurz bevor man zurückkommt, liest man sie. Man hat etwas Zeit für sich alleine. […] Bei der letzten Rüstzeit […] [habe ich] ungefähr 30 Briefe [bekommen]. […] Und die Familienangehörigen, wenn Sonntag ist, kommen sie, um dich zu empfangen. […] Dann werden die Fotos gezeigt. Von allem, was man erlebt hat, Filme und Zeugnisse.«46 Auch in der Kirche MANAIA wurden Rüstzeiten für Konvertierte durchgeführt und auch dort wurde die Vergebung kognitiv thematisiert und affektiv erfahrbar gemacht. Auch dort erhielten die Teilnehmerinnen Briefe von ihren Angehörigen und

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Interview Nr. 48, 13.5.2015.

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Gender und Heilung

kulminierten die Rüstzeiten in gottesdienstlichen Empfängen. Die Pastorin erklärte, dass es bei diesen Empfängen häufig zu Vergebung und Versöhnung zwischen den Konvertitinnen und ihren Angehörigen komme. Um zu illustrieren, wie Beziehungen durch die Vergebung verwandelt werden, erzählte sie von einer Frau, die an einer Rüstzeit für Konvertierte teilnahm. Der Ehemann habe mit Drohungen versucht, ihre Teilnahme zu verhindern, sie habe sich ihm widersetzt, die Pastorin habe mit ihm gesprochen und für das Paar gebetet. Schließlich habe er sie in seinem Brief um Vergebung gebeten und sei mit den Kindern zum Empfang gekommen: »Die Konferenz endet in der Kirche. Wir laden ihre Familienangehörigen ein, Christen oder nicht, dass sie herkommen, um [sie] zu empfangen. Sie schicken ihnen […] Briefe und […] sie kommen her, um sie hier zu empfangen und hier gibt es viel Vergebung mit ihren Familienangehörigen. Denn vielleicht hatten sie nicht damit gerechnet, dass die Tante kommt. […] Oder sie hatten nicht damit gerechnet, dass der Ehemann ihnen einen Brief schreibt, denn er war vielmehr wütend gewesen, weil sie zur Rüstzeit fuhr. […] Ich hatte eine Schülerin, die viel weinte, weil sie zur Rüstzeit musste und der Ehemann sagte ihr, wenn sie führe, würde er sie verprügeln und ihr die Kinder wegnehmen. Und trotzdem fuhr sie. Dann redete ich mit dem Mann […] und ich habe viel gebetet. […] Er hatte einen Brief geschrieben, indem er sie um Vergebung bat. […] Die größte Überraschung war, als sie ihn hier sah mit […] dem Haufen Kinder, […] die sie empfingen, und es gab Vergebung.«47 Der Sohn einer Informantin erklärte die Notwendigkeit der aufeinander aufbauenden Abfolge von Rüstzeiten für Menschen unterschiedlicher spiritueller Reife. So handelten die Rüstzeiten für Konvertierte von der persönlichen Bekehrung, Vergebung und Heilung, während seelisch und spirituell reifere Personen, die etwa Gruppen leiteten, bereits vergeben haben müssten. Die Rüstzeiten für diejenigen, die schon länger zur Kirche gehörten und dort mitarbeiteten, seien daher »nicht so sehr auf die Vergebung fokussiert, weil man davon ausgeht, dass diese Personen sie schon erreicht haben.«48 Auch die RCC verfolgte ein aufeinander aufbauendes Konzept. So wurden im CCCAJ an mehreren Wochenenden im Jahr Initiationskurse durchgeführt, zu denen Menschen eingeladen wurden, die erst seit Kurzem Veranstaltungen des Zentrums besuchten. Diese Rüstzeiten fanden im Unterschied zu denen der evangelisch-pentekostalen Kirchen, deren Rüstzeiten in Hotels oder Unterkünften in der Umgebung Alajuelas stattfanden, im CCCAJ selbst ohne Übernachtung statt. Außerdem 47 48

Interview Nr. 61, 4.6.2015. Interview Nr. 62, 5.6.2015.

2 Orte der Heilung

unterschieden sie sich dadurch, dass sie nicht geschlechtsspezifisch konzipiert waren. Inhaltlich und methodisch ähnelten sie sich jedoch. Thematisiert wurden die Liebe Gottes, die Sünde der Menschen, Gottes Vergebung, Jesu Herrschaft und die individuelle Konversion. Die im Folgenden zitierte Informantin erklärte, dass es entscheidend sei, den Teilnehmenden diese dogmatischen Topoi auf persönliche Weise zu vermitteln, damit diese überwältigt von der unermesslichen Liebe Gottes, betrübt über die eigene Sünde und dankbar für Gottes Vergebung würden, Jesu Herrschaft über das eigene Leben bereitwillig anerkannten und mit Überzeugung konvertierten, indem sie einzeln versprächen, Jesus als Herrn und Retter anzuerkennen. Fester Bestandteil dieser Rüstzeiten sei das persönliche Zeugnis einer Person, das von der Verwandlung des eigenen Lebens infolge der Konversion handelte. Zugunsten der affektiven Erfahrbarkeit der Vergebung eigener Schuld würden Zettel an Kreuze genagelt oder verbrannt, auf die die Teilnehmenden zuvor ihre Sünden notiert hätten. Die Rüstzeiten kulminierten sonntagnachmittags in der Eucharistie, für die ein Priester hinzustoße: »Es wird ein Thema behandelt, das heißt Gottes Liebe, und es wird dir dieser Gott vorgestellt, wie sehr er dich liebt. […] Dann handelt das zweite Thema von der Sünde. Du merkst, dass du ein Sünder bist. Dass du Gott gegenüber versagt hast, dass du Jesus begegnen musst, damit er dir vergibt. […] Dann geht es um die Vergebung. Und dann kommt der nächste Vortrag, der davon handelt, dass wir uns bekehren müssen, dass wir unsere Art zu sein verändern müssen. […] Wir fangen zum Beispiel am Freitag […] um sechs Uhr nachmittags an, es werden zwei Themen behandelt, die Liebe Gottes und […] die Rettung. Am nächsten Tag werden Glaube und Konversion behandelt, dann wird noch ein Thema behandelt, das ist wie ein Zeugnis […] von irgendjemandem, von einer Lebensverwandlung. […] Und dann wird die Vergebung behandelt. Die Person wird mit der Tatsache konfrontiert, dass wir es brauchen, dass Jesus uns vergibt. […] Das wird mit verschiedenen Spielen gemacht, manchmal nehmen wir ein Kreuz und nageln einen Nagel [daran] oder wir schreiben unsere Sünden auf einen kleinen Zettel und später verbrennen wir sie. Es wird gebetet, und dabei wird um Vergebung gebeten und anerkannt, dass Jesus gekommen ist, um uns zu vergeben. […] Und dann […] kommt ein Thema, das heißt Herrschaft Jesu. […] Da wird mir erzählt, dass ich nicht meine Eigentümerin bin, sondern dass es Jesus ist. […] Denn er hat sein Leben für mich geopfert. […] Er verlangt von mir, […] dass ich die Rettung annehme. […] Das Thema wird behandelt. Und dann werden die Personen einzeln aufgerufen, damit sie Jesus als Herrn und Retter annehmen. […] Dann gehen wir, zwei Personen, mit ihnen und erklären ihnen: ›Willst du Jesus als Herrn und Retter annehmen?‹ Wir geben ihnen den Text aus dem Römerbrief: ›Wenn du

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Gender und Heilung

mit deinen Mund bekennst und im Herzen glaubst, dass Jesus der Herr ist, wirst du gerettet werden.‹«49 Eine Informantin, die an solch einer Rüstzeit teilgenommen hatte, erzählte, dass sie dort von der Erkenntnis der Liebe Gottes überwältigt worden sei: »Ich kam an, und das erste Thema, das behandelt wurde: Gottes Liebe. […] Das Thema hat mich durchdrungen. […] Ich begann zu weinen. Ich glaube, bei dem Kurs habe ich drei Tage lang geweint. […] Es gibt jemanden, der mich so liebt, dass er sein Leben für mich gegeben hat, trotz allem. […] Sie sagten mir: ›Komm zu den Versammlungen.‹ Und ich fing an.«50 Das CCCAJ organisierte über diese Initiationsrüstzeiten hinaus gelegentlich auch andere Rüstzeiten für Personen, die jene bereits absolviert und sich der RCC schon länger zugehörig fühlten. Als Themen dieser Rüstzeiten wurden die innere und die spirituelle Heilung benannt. Die Kirche CCVN organisierte keine Rüstzeiten, die sich dezidiert an Konvertierte richteten, sondern Rüstzeiten für alle Frauen, unabhängig von der seit ihrer Konversion verstrichenen Zeit. An der im August 2015 durchgeführten Rüstzeit mit dem Titel Del Desierto al Oasis (Von der Wüste zur Oase) nahmen 190 Frauen teil. Die Rüstzeit dauerte von Samstagmorgen bis Sonntagnachmittag und fand erstmalig im selben Hotel statt wie die Rüstzeiten der Kirche MJV. Während ihres Verlaufs wechselten sich Phasen der Kleingruppenarbeit mit Plenarphasen ab. In den Kleingruppen sollten ausgewählte Bibelpassagen besprochen werden, indem die Leiterinnen diese für die Teilnehmerinnen historisch kontextualisierten und sie dann mit den Teilnehmerinnen auf ihre spirituelle Bedeutung und auf ihre Aussagekraft für persönliche Fragen und Nöte befragten. Für die Plenarphasen war die in evangelisch-pentekostalen Kreisen landesweit bekannte Prophetin Alexandra Quesada von der Kirche Iglesia Manantial de Vida in San José eingeladen, um zum genannten Thema zu predigen und für die Teilnehmerinnen zu beten. Außerdem gab es eine Phase der kreativen Gestaltung. Eine Angehörige des Organisationsteams berichtete von den Vorbereitungen für die Rüstzeit und benannte als deren Ziel, dass die Frauen innerlich heilten: »Wir machen sie [d.h. die Rüstzeit] […] in einem Hotel, […] und eine Leiterin ist drei Zimmern zugeordnet. […] Die Methode besteht darin, eine Predigerin einzuladen, die für den starken spirituellen Teil des Gebets zuständig ist. […] Am Samstag wird sie morgens predigen und dann für die Leute beten, also, die gehen nach vorne und sie betet für sie, wir essen Mittag, ruhen uns ein bisschen aus, am Nachmittag […] treffen wir uns, um andere Sachen zu machen […] Abends predigt 49 50

Interview Nr. 52_1, 21.5.2015. Vgl. den Bibelvers Römer 10,9. Interview Nr. 63, 15.6.2015.

2 Orte der Heilung

sie noch einmal, betet noch einmal für die Leute, und damit ist der Samstag zu Ende. […] Am Sonntag […] haben wir morgens […] eine Gebetszeit. Wir stehen früh auf, laden zur Fürbitte ein, […] danach kommt ihre Predigt und sie betet wieder für die Leute. […] Das Bibelstudium, das zwei oder drei Mal stattfindet, […] machen wir, die Leiterinnen. Wir treffen uns mit den sieben Personen, für die wir zuständig sind, wir lesen den Abschnitt, […] wir besprechen ihn zu acht. […] Wir erklären ihnen den historischen Kontext des Abschnitts. […] Jede beantwortet die Fragen hier auf dem Zettel. […] Zum Beispiel erklären wir ihnen zuerst, was eine Wüste ist. […] Der physische Aspekt einer Wüste, dass nichts wächst, dass es kein Wasser gibt, dass man Durst hat, dass die Sonne scheint, […] all das. Um sie dann dahin zu bringen, dass es spirituelle Wüsten in unserem Leben gibt. Dann wird der physische Aspekt mit dem spirituellen Aspekt verbunden. […] Zu sehen, dass wir alle in unserem Leben Wüsten durchquert haben. Und dass meine Wüste nicht die gleiche ist wie deine. Dass meine Wüste die Gewalt war, oder es gibt Probleme mit Kindern, die nicht in die Kirche gehen, was auch immer. […] Sie dahin zu bringen, durch dieses Bibelwort, damit sie verstehen, dass es in Gott Hoffnung gibt, dass diese Wüste sich in eine Oase verwandelt. Dann kommt die Erklärung, was eine Oase ist. […] Dass es dort endlich Wasser gibt und dass unser Herr die Oase ist, und all das. Wir haben auch ein Mottolied von der Gruppe Hillsong, […] das von der Wüste handelt. […] Vorher machen und durchleben wir all das, was wir mit ihnen durcharbeiten, selber als Gruppe. […] Die Leiterinnen bilden wir aus und bereiten sie vor für das, was sie den Frauen weitergeben. [Im Leitungsteam] […] sind wir sechs. […] Jede Gruppe hat zwei Leiterinnen. […] Die erste […] hat etwas mehr Autorität und die zweite […] hilft ihr. […] Es gibt viel Heilung.«51 Inhaltlich und methodisch fanden sich die entscheidenden Unterschiede zwischen Rüstzeiten nicht zwischen evangelisch-pentekostalen Kirchen und katholischpentekostalen Gemeinschaften, sondern innerhalb des evangelisch-pentekostalen Spektrums.

51

Interview Nr. 44, 7.5.2015.

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3 Methoden der Heilung

Konkrete Methoden der physischen, spirituellen und inneren Heilung, die in der Praxis aufgrund der Überzeugung der pneumopsychosomatischen Zusammenhänge nicht eindeutig voneinander zu trennen sind und die in verschiedenen der eben skizzierten Kontexte angewandt werden, werden im Folgenden analysiert, kontextualisiert und auf diachrone und synchrone Verbindungen innerhalb des globalen pentekostalen Heilungsdiskurses befragt. Zuerst werden einige physische Heilungsmethoden wie Umarmungen, Handauflegen und Salbungen sowie deren Auswirkungen dargestellt, die nicht ausschließlich der physischen, sondern auch der inneren und der spirituellen Heilung dienen. Dann werden als Methoden der spirituellen Heilung einige Methoden der individualistischen Praxis des Befreiungsdienstes und der korporativen Praxis der geistlichen Kampfführung erläutert. Es folgen drei exemplarisch erläuterte Methoden der inneren Heilung. Von diesen waren das Heilungs- und das Stellvertretungsgebet besonders verbreitet, während der Theophostische Gebetsdienst auf einen kleineren Personenkreis begrenzt war, weil es sich hier um eine relativ junge, in Costa Rica bisher nicht weit verbreitete Methode handelte.

3.1

Methoden zur physischen Heilung und physische Heilungsmethoden

Für physische Heilung wurde in allen der beschriebenen Kontexte sowie darüber hinaus aus der Ferne, zum Beispiel per Telefon oder im privaten Gebet, gebetet. Es bestand Konsens darüber, dass Gott auf Gebete reagiert, indem er physische Leiden heilt, doch die Bedeutung, die der physischen Heilung gegeben wurde, variierte. So nahm das Thema in der Kirche MSDJ und in der Kirche MJV eine Zentralstellung ein. Diese führten explizite Veranstaltungen zur physischen Heilung mit Titeln wie Recibe tu Milagro! (Empfang dein Wunder!) oder Congreso de milagros y sanaciones (Wunder- und Heilungskongress) durch, in den dort gehaltenen Predigten wurde häufig über die Heilung physischer Leiden gesprochen und bei Straßenkampagnen wurde sie verheißen. Die Realität solcher Wunder wurde demonstriert, in-

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Gender und Heilung

dem Betroffene die Heilung ihrer Leiden durch Berichte und Demonstrationen wie das beschwerdefreie Gehen nach der Überwindung einer Beinerkrankung öffentlich bezeugten. Wenn für physische Heilung gebetet wurde, war damit meistens das Auflegen der Hände verbunden. Jedoch dient dies ebenso wie andere physische Heilungsmethoden nicht ausschließlich der Heilung eines spezifischen körperlichen Leidens, sondern auch der Vermittlung des Heiligen Geistes, der Liebe und Kraft Gottes im Allgemeinen. Es symbolisiert einerseits Intimität und Schutz, andererseits Kontrolle und Macht seitens der eine Hand oder beide Hände auflegenden Person. Es ist eine Imitation der heilenden Berührung Jesu und symbolisiert gleichzeitig die Solidarität der christlichen Gemeinschaft.1 Im Anschluss an die Versammlung einer nichtdenominationellen Frauengebetsgruppe im Vorort La Guácima de Alajuela berichteten zwei Teilnehmerinnen, dass an der Körperstelle, auf die die eingeladene Predigerin eine Hand aufgelegt hatte, ein starkes Wärmegefühl entstanden sei. Andere äußerten, dasselbe empfunden zu haben, nachdem sie angepustet worden seien. Anpusten ist eine weitere Methode, um das Wirken des Heiligen Geistes sensorisch erfahrbar zu machen. Während der genannten Versammlung hatte die Predigerin eine Teilnehmerin aufgefordert, sich hinzulegen, damit sie demonstrieren könne, wie Jesus Menschen durch seinen Atem vom Tod erweckte. Sie betete über der liegenden Frau und pustete ihr schließlich kräftig auf die Brust. Die Frau schluchzte: »Ich habe mich verbrannt.« Die Predigerin erklärte: »Das ist das Feuer des Geistes.«2 Die Erfahrung der Wärme als Reaktion auf das Handauflegen oder Anpusten wird als unción (Salbung) bezeichnet und als Manifestation göttlicher Macht interpretiert. Es wird angenommen, dass solche Salbungen mit einer Aktivierung endogener Opioide einhergehen, infolge derer Angst- und Schmerzempfindungen unterdrückt werden.3 Dem entspricht die Erfahrung der Verfasserin, der die Pastorin der Kirche MSDJ die Hände auflegte, um eine Bänderdehnung im Sprunggelenk zu heilen. Unter den aufgelegten Händen entstand ein Wärmegefühl, das den Schmerz überdeckte. Nach dem Abklingen der Wärme war der Schmerz jedoch wieder spürbar. Eine dritte Methode der physischen Vermittlung des Wirkens des Heiligen Geistes und der Liebe und Kraft Gottes sind Umarmungen. So erklärte eine Sängerin, die während eines Frauenkongresses der Kirche IM alle Anwesenden aufgefordert hatte, sich paarweise zu umarmen, diese körperliche Zuwendung als Gottes Zuwendung:

1 2 3

Vgl. Csordas 2002, 30. Feldforschungstagebuch 13.4.2015. Vgl. Kane 1982.

3 Methoden der Heilung

»Wie lange ist es her, dass dein Mann dich umarmt hat? Wie lange ist es her, dass dein Sohn dich umarmt hat? Diese Frau, die dich umarmt und die du umarmst, ist Gott!«4 Umarmungen waren feste Bestandteile der Versammlungen sowohl der Kapitel der Frauenorganisation TF als auch der Frauengruppe PAF. Während der Kapitelversammlungen war stets ein Zeitraum von fünf Minuten für den abrazo del oso (Bärenumarmung) vorgesehen, währenddessen alle Frauen im Saal umhergingen und sich gegenseitig mit festen Umarmungen begrüßten. Diese Umarmungen wurden ebenfalls als Umarmungen von Gott interpretiert, wie die Ansage der Moderatorin einer Versammlung des Kapitels Iztarú zeigt: »Jetzt kommt dieser besondere Teil, nämlich die Bärenumarmung. Für die Frauen, die es nicht gewohnt sind, umarmt zu werden: Hier handelt es sich um eine Umarmung durch Gott, die wir uns geben. […] Wir haben fünf Minuten, um den Segen zu empfangen.«5 Die Leiterin der Frauengruppe PAF erklärte, dass die Umarmungen, die sie empfangen habe, als sie das erste Mal an einem Treffen dieser Gruppe teilgenommen habe, ihr eine Liebe vermittelt hätten, die sie seit Jahren nicht gespürt habe. Gott selbst habe sie in jenen Momenten umarmt und dadurch ihre Perspektive auf sich selbst und auf ihr Leben verwandelt. Infolge dieser Erfahrung sei es ihr wichtig, Frauen, die die Gruppe aufsuchten, ebenfalls durch Umarmungen Gottes Liebe zu vermitteln: »Das erste, was ich in dieser Gruppe fühlte, als ich ankam, […] als sie mich umarmten, […] da fühlte ich die größte Liebe, die man empfangen kann, wenn man sie braucht. Und tatsächlich erinnere ich mich, dass ich an dem Tag sagte: ›Gott, […] du lebst wirklich und bist bei mir gewesen und hast mich […] bewahrt.‹ Seit dem Tag […] hat Gott […] mein Herz verändert. […] Als ich diesen Kontakt in diesem Moment empfing, diese Umarmung, die sie mir gaben, konnte ich empfangen, was ich viele Jahre lang nicht gespürt hatte. Ich weiß, dass in dem Moment, in dem sie mich umarmt haben, da waren es nicht sie, die mich umarmten, es ist der Herr, der einen umarmt. Und ich weiß, dass, wenn wir die Frauen, die kommen, umarmen, […] die […] vielleicht am Boden zerstört sind wegen einer schwierigen Situation, denn es ist die Wahrheit, viele Frauen, die kommen, kommen so wie ich. Sie kommen zur Gruppe, weil sie eine schwierige Situation durchmachen. […] Die Umarmung ist vor allem, damit sie sich geliebt fühlen. Dass sie fühlen, dass es jemanden gibt, der […] sie liebt, dass es Gott ist, der sie umarmt, denn

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Feldforschungstagebuch 27.2.2015. Tonaufnahme vom 20.5.2015.

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Gender und Heilung

sie sagen mir sogar: ›Jeanette, deine Umarmungen!‹ ›Nein, nicht ich bin es, es ist der Herr, der euch durch mich umarmt.‹«6 Eine vierte Methode zur körperlichen Vermittlung des Wirkens des Heiligen Geistes und der Liebe und Kraft Gottes ist das Salben mit Öl, das im Vergleich zu den anderen Methoden seltener praktiziert wurde. Während in den Diskursen einiger weniger Kirchen wie der Kirche MSDJ und der Kirche MJV die Heilung spezifischer körperlicher Leiden eine zentrale Rolle spielte, stand in den meisten Kirchen eher die sensorische Erfahrung des Wirkens des Heiligen Geistes und der Liebe und Kraft Gottes im Allgemeinen im Vordergrund. Die genannten Methoden vermitteln das Gefühl, umsorgt zu werden, und ermöglichen Entspannung. Sie verkörpern eine göttliche, intime Gegenwart, die menschliche Begleitung in ihrer Unbedingtheit übertrifft. Sie können zur Ersatzquelle oder auch zum Prototyp von Intimität werden.7 Ebenso körperlich wie die Methoden sind auch deren Auswirkungen, die neben der Konstatierung der Heilung eines spezifischen körperlichen Leidens in der Ruhe im Geist, im Weinen, Lachen oder Springen bestehen können. Der reposo en el espíritu oder descanso en el espíritu (Ruhe im Geist) ist eine spontane Erfahrung, bei der eine Person, von göttlicher Macht überwältigt, umfällt, auf dem Boden liegt und Frieden und Entspannung empfindet. Sie ereignete sich während Gottesdiensten, Kongressen, Frauengruppen, Gebetsversammlungen und Rüstzeiten, wenn Einzelne oder Gebetsteams für andere beteten. Dabei wurden die Hände auf die Stirn, die Brust, den Rücken oder die Schulter gelegt oder über die oder vor den empfangenden Personen erhoben. Manchmal wurden diese angepustet oder ihnen wurde Luft zugefächelt, um den Heiligen Geist erfahrbar zu machen. Fängerinnen und Fänger stellten sich hinter den Personen auf, fingen sie auf, wenn sie nach hinten fielen, legten sie auf den Boden und deckten sie manchmal zu. Die Personen lagen meistens mehrere Minuten. Csordas fasst das Empfinden während der Ruhe im Geist seitens Angehöriger der Katholischen Charismatischen Erneuerung in den USA auf eine Weise zusammen, die den Aussagen der Informantinnen in Alajuela überwiegend entspricht: In motorischer Hinsicht wird die physische Entspannung von manchen als Gefühl der Leichtigkeit und Beschwingtheit, von anderen als Gefühl der Schwere und Benommenheit beschrieben. In sensorischer Hinsicht wird berichtet, man fühle Wellen der Liebe, die die Arme hoch und hinunter fließen, Wärme oder auch Schwindel. Man sei bei Bewusstsein, aber ohne Wahrnehmung der Umgebung und des Körpers. In affektiver Hinsicht wird erklärt, man fühle sich beruhigt, geliebt, gereinigt, erleichtert, frei und fröhlich. In spiritueller Hinsicht heißt es, man fühle sich umgeben von Gottes Gegenwart.8

6 7 8

Interview Nr. 55, 27.5.2015. Vgl. Csordas 1994, 246. Vgl. Csordas 1994, 241f.

3 Methoden der Heilung

Die Ruhe im Geist lässt Gottes Nähe körperlich empfinden und demonstriert Gottes Macht ebenso wie den Glauben der fallenden Person. Es wird davon ausgegangen, dass sie jegliche Art von Heilungsprozess unterstützt, weil Gott in ihr direkt am Menschen wirke. Eine Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, beschrieb das Empfinden während der Ruhe im Geist folgendermaßen: »Ich habe es als ein starkes Friedensgefühl erlebt, ein Moment, in dem Gott alle Traurigkeit, Belastungen, Schmerz wegnimmt, für mich ist es ein Moment, in dem Gott uns sozusagen von unserem Körper befreit […] und man genießt seine Gegenwart, seine Fülle, seinen Geist in einem selbst. Es ist eine Zeit, in der ich weine, oder ich sage Gott danke und danke. […] Es ist ein Moment, in dem sozusagen das, was um mich herum ist, egal ist. […] Es ist wie ein Treffen mit Gott, und man will nicht, dass es endet.«9 Ähnlich beschrieb eine Informantin, die dem CCCAJ angehörte, wie sie die Ruhe im Geist empfand. Sie sei im Fallen getragen worden, nicht bewusstlos gewesen, habe sich schwerelos und im Anschluss erholt gefühlt. Sie erzählte, dass während der Initiationskurse im Anschluss an das Heilungsgebet unter Handauflegen für die Teilnehmenden um den Heiligen Geist gebeten wird. Wenn dieser auf die Personen komme, erlebten einige von ihnen die Ruhe im Geist: »[Nach dem Heilungsgebet] kommt das, um den Heiligen Geist zu bitten. […] Das wird in kleinen Gruppen gemacht, zum Beispiel zehn bis 15 Personen […] und drei oder vier Personen gehen mit und legen die Hände auf. […] Es gibt Personen, die ruhen im Geist. […] Die Person legt ihr die Hände auf und die Person fällt auf den Boden. […] Die Ruhe im Geist, […] du verlierst alle Schwere. Du fällst und kannst dich nicht halten. Du fällst, als ob jemand dich trägt. Du glaubst nicht, wie herrlich das ist! Du fällst und fällst und wirst wie eine Feder. Und fällst auf den Boden. […] Du verlierst nicht das Bewusstsein, du hörst alles. […] Du ruhst dich aus. Und der Herr ist bei dir und ruht dich aus. Du hörst die Musik weiter, du hörst alles weiter. Du wirst nicht […] ohnmächtig. […] Du stehst total ausgeruht auf.«10 Bei der Ruhe im Geist basiert das Verhältnis zwischen fangender und fallender Person auf Vertrauen. Das Fallenlassen und Aufgefangenwerden kann sowohl als Symbol für die vertrauensvolle Hingabe des eigenen Lebens an Gott als auch als Symbol für die vertrauensvolle Gemeinschaft der Gläubigen interpretiert werden. Einer Informantin war es wichtig zu betonen, dass die Ruhe im Geist nicht vom Wirken anderer Personen abhängt, sondern allein durch Gott bewirkt wird. Um

9 10

E-Mail vom 6.4.2017. Interview Nr. 52_2, 21.5.2015.

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Gender und Heilung

dies zu belegen, erzählte sie, dass sie zweimal die Ruhe im Geist erlebt hatte, ohne dass andere für sie gebetet und sie aufgefangen hatten: »Einmal ist es mir passiert, dass ich in der Kirche nach vorne gegangen bin, und die Gegenwart Gottes war so stark zu spüren, dass ich mich besser hinkniete, und dann ist die Gegenwart noch stärker geworden, und ich bin zur Seite gefallen und auf dem Boden liegen geblieben. Ein anderes Mal […] gab es in einer Kirche […] so etwas wie ein christliches Konzert, und es war genauso, wir haben gesungen und gebetet, und ich endete auf dem Boden, ziemlich lange, und niemand hat für mich gebetet, außer Gott. […] Andere Male haben andere für mich gebetet, aber es ist nichts, was oft passiert ist. Ich weiß nur, dass es supergut ist, wenn man es erlebt, denn es ist wie ein sehr tiefer Frieden.«11 Die Ruhe im Geist ist unter evangelischen wie unter katholischen Pentekostalen bekannt. Wie oft die Gläubigen sie erleben, variiert weniger von Person zu Person als von Kirche zu Kirche. Während die Ruhe im Geist sich für Angehörige der Kirche CCVN und des CCCAJ selten ereignete, gehörte sie in der Kirche MSDJ zum rituellen Ablauf der wöchentlichen Frauentreffen. Dort folgte auf einen inhaltlichen Beitrag stets eine musikalisch begleitete Gebetszeit, während derer alle Teilnehmerinnen nacheinander von den Versammlungsleiterinnen zur Pastorin oder Co-Pastorin geführt wurden, die sich nach dem persönlichen Ergehen erkundigte, entsprechend der spezifischen Situation und konkreter Sorgen für die Person betete, ihr die Hände auflegte, sie anpustete und ihr Luft zufächelte. Mehrere Teilnehmerinnen fielen bei jeder der wöchentlichen Versammlungen um und wurden aufgefangen, hingelegt und zugedeckt. Sobald sie aus diesem Zustand erwachten, wurde ihnen aufgeholfen, sie wurden zu ihrem Platz geführt und, nachdem sie sich gesetzt hatten, gesalbt. In anderen Kirchen wie etwa in den Kirchen MJV und MAR war es hingegen üblicher, dass sich das Empfinden der Gegenwart Gottes in Weinen, Lachen und Springen ausdrückte als in der Ruhe im Geist.

3.2

Methoden der spirituellen Heilung

Spirituelle Heilung geht mit der Befreiung von dämonischer Bedrängnis oder Besessenheit einher. Der ministerio de liberación (Befreiungsdienst) ist Teil des geistlichen Kampfes gegen böse Mächte, der gemeinhin als geistliche Kampf- oder Kriegsführung bezeichnet wird und zu dem neben der individualistischen Praxis des Befreiungsdienstes auch die korporative Praxis der guerra espiritual (geistliche Kampfführung) gehört. Durch den Befreiungsdienst werden individuelle Nöte

11

E-Mail vom 3.3.2017.

3 Methoden der Heilung

bekämpft, während das Ziel der geistlichen Kampfführung ist, gesellschaftlichen und politischen Problemen entgegen zu wirken.12

3.2.1

Befreiungsdienst

Der Befreiungsdienst wird praktiziert, wenn ein chronisches Problem besteht, das als Symptom dämonischer Gegenwart gedeutet wird. Es wird zwischen Bedrängnis durch und Besessenheit von Dämonen differenziert. Konvertierte Christinnen und Christen können als von Dämonen bedrängt oder beeinflusst gelten, üblicherweise aber nicht als von diesen besessen. Heterogen wird die Frage beantwortet, ob die innere der spirituellen oder die spirituelle der inneren Heilung vorangeht. Konsens besteht hingegen darüber, dass spirituelle und innere Heilung zusammenhängen und dass ihr genuiner, aber nicht ausschließlicher zeitlicher Kontext die Konversion ist, da sie Voraussetzung sind, um das alte Leben zu beenden und ein neues zu beginnen. Die im Folgenden zitierte Pastorin der Kirche MANAIA vertrat die Position, dass die innere Heilung der Befreiung vorangehen muss, um Einfallstore für Dämonen zu schließen, die infolge seelischer Probleme geöffnet seien. Wenn etwa durch Vergebung eine emotionale Verletzung heile, würden die Einfallstore des Grolls, der Verbitterung und der Rachsucht geschlossen, so dass Dämonen, die diese Einfallstore nutzten, keinen Zugang mehr hätten: »Ich behandle zuerst das Thema der inneren Heilung, danach die Befreiung. […] Die Geister können sich eines Christen nicht ermächtigen. […] Sie beeinflussen dich, aber sie können dich nicht […] unterwerfen. […] Aber […] es gibt Personen, die tatsächlich dämonische Einflüsse haben, weil sie eine Verletzung haben. Sie haben nicht vergeben, sie haben irgendetwas nicht geheilt, sie grollen, sie sind verbittert, sie sehnen sich nach Rache. Dort kann es tatsächlich einen Zugang für Geister geben, die der Person schaden können. Deshalb thematisiere ich zuerst, wie die Verletzung heilt, wie man vergibt. […] Und dann kommt die Befreiung.«13 Eine Beraterin der Kirche CCVN betonte andersherum, dass emotionales Leid häufig durch Dämonen verursacht sei. Die Reihenfolge von spiritueller und innerer Heilung beschrieb sie daher entgegengesetzt zur eben zitierten Pastorin und erklärte, dass sie in ihren Beratungssitzungen zuerst nach spirituellen Ursachen von Problemen der Hilfe Suchenden suche, indem sie diese auf diverse spirituell relevante Aspekte der Familiengeschichte, der eigenen Biographie und aktueller Glaubenspraktiken befrage. So berichtete sie von einer Frau, die sie zwecks Beratung aufgesucht habe, weil sich in ihrem Leben seit ihrer Konversion Ereignisse mit für 12 13

Vgl. Währisch-Oblau 2012, 63. Interview Nr. 61, 4.6.2015.

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Gender und Heilung

sie negativen Konsequenzen in ungewöhnlicher Weise gehäuft hätten. Ihr Mann habe sie verlassen, ihr Auto sei angefahren und in ihr Haus sei eingebrochen worden. Um mögliche spirituelle Ursachen dieser Häufung zu ergründen, habe die Beraterin zunächst überprüft, ob die Frau Gott gegenüber ungehorsam gewesen sei. Letztlich habe sie jedoch herausgefunden, dass die Ursache für diese Ereignisse in einem Pakt mit dem Teufel bestanden habe, den die Mutter der Frau geschlossen und der Fluchketten bis zur Tochter verursacht habe. Von cadenas generacionales (generationelle Ketten), cadenas espirituales (geistliche Ketten) oder cadenas de maldición (Fluchketten) wird gesprochen, wenn mehrere Generationen innerhalb einer Familie durch dieselben Dämonen bedrängt werden. Die Existenz der Fluchketten wird mit dem Bibelvers Exodus 34,7b begründet. Als im skizzierten Fall der Teufel bemerkt habe, dass es ihm nicht gelingen würde, die Konvertitin von Gott abzubringen, obwohl er durch den Pakt der Mutter ein Anrecht auf sie gehabt habe, habe er begonnen, sie zu bestrafen. Die Beraterin erklärte, dass sie Kampf- und Befehlsgebete verwendete, um die Fluchketten zu zerstören und die Hilfe suchende Frau vom Teufel zu befreien. Kampf- und Befehlsgebete sind performative Akte der Befreiung, bei denen der Befehl an den Teufel zu verschwinden mit seiner Vertreibung gleichgesetzt wird: »Da hat die Beratung mit der geistlichen Kampfführung zu tun. […] Einer Person […] waren viele schlechte Dinge passiert, […] und sie sagte zu mir: ›Ich gebe den Zehnten, ich faste, ich bete, ich gehe zur Kirche, ich halte meine Andacht‹, und man fragt sich: Was ist da los […]? […] Dass bei ihr eingebrochen wurde, dass ihr Auto angefahren wurde, der Mann hat sie verlassen, viele Sachen, nicht wahr, und man sagt: Okay, entweder sie lügt bezüglich ihrer Beziehung zum Herrn oder da stimmt etwas nicht, […] und es kommt heraus, dass ihre Mutter Hexe war. Von dort also kam alles, nicht wahr. Als sie sich zum Herrn bekehrte, begann der Teufel, Ansprüche zu erheben. Und weil es ihm nicht gelang, sie aus der Kirche herauszuholen, fing es an mit den Unfällen und dem Einbruch. […] Und was der Teufel am wenigsten will, ist, dass man den Schlüssel für die Probleme findet, […] das wäre eine Serie von Kampfgebeten, dem Teufel zu befehlen: ›Du kommst raus, du lässt dieses Leben los!‹«14 Die Pastorin der Kirche ICC erzählte von einer Familie, in der alle Frauen unverheiratet schwanger geworden seien, und erklärte dies mit geistlichen Ketten, die ursprünglich die Folge sexueller Vergehen der Vorfahren gewesen seien. Sie sprach auch von einer anderen Familie, in der die Söhne mehrere Mädchen missbraucht hätten, und führte dies ebenfalls auf eine Fluchkette zurück, die infolge des Konsums von Pornographie durch den Vater entstanden sei. Sie erklärte, dass durch das Erleiden sexueller Gewalt Einfallstore geöffnet würden, durch die die Dämonen 14

Interview Nr. 73_2, 10.7.2015.

3 Methoden der Heilung

der Homosexualität, des Ehebruchs, des Inzests und der Vergewaltigung ebenso wie die Dämonen der Nichtvergebung, des Hasses, der Rachsucht, der Verbitterung, der Scham, Schüchternheit und Selbstablehnung eindringen könnten: »Es gibt eine Familie, in der alle Mädchen unverheiratet schwanger wurden. […] Wenn wir uns die Geschichte der Tanten angucken, wurden alle Tanten unverheiratet schwanger. Die Mutter wurde unverheiratet schwanger. […] Wenn wir anfangen, mit dieser Person zu arbeiten, die leidet, weil sie zwei oder drei Töchter hat, die fünf, neun Jahre alt sind, sie leidet schon, weil das Verhaltensmuster sagt, dass, wenn sie älter sind, sie schwanger werden, denn das ist der generationelle Fluch. […] Das geht Hand in Hand, […] das Spirituelle und das Emotionale. […] Ein Vater, […] der sich immer Pornofilme ansehen musste. […] Wenn er rausging, merkte er nicht, dass seine […] zwei großen Söhne […] alle Filme ihres Vaters ansahen. […] Diese Jungs wollten mit Klassenkameradinnen und Freundinnen nachmachen, was sie in den Filmen des Vaters sahen. Also missbrauchten sie einige Mädchen, […] sie schwängerten einige. […] Weil der Vater ein Einfallstor geöffnet hatte und seine Söhne ihm folgten. […] Ein sexuell missbrauchter Junge wird potentiell missbrauchen. Und wenn diese Person nicht geheilt wird, wenn sie nicht in all diesen Dingen behandelt wird, die sich in ihrem Leben geöffnet haben, […] dann wird diese Person jemanden missbrauchen, und das ist eine Kette.«15 Die Pastorin der Kirche CCFB erzählte, dass ihr Mann sie misshandelt und dass sich infolgedessen ihre Persönlichkeit verändert hatte, weil durch die Misshandlungen die Dämonen der Rachsucht und der Eifersucht in der Lage gewesen seien, sie einzunehmen. Außerdem sei sie von Hass, Zorn, Verbitterung, Nichtvergebung, Stolz, Eitelkeit, Egoismus, Fitness- und Kaufsucht erfüllt worden. Dämonen werden nach den destruktiv wirkenden Emotionen und Verhaltensweisen benannt, die ihnen zugeschrieben werden. Die Tatsache, dass wie in diesem Fall meistens die Anwesenheit mehrerer Dämonen angenommen wird, zeigt, dass die kognitiven und affektiven Folgen des Zufügens und des Erlebens von Leid als komplex wahrgenommen werden:16 »Nach all dieser Zeit, dieser Misshandlung, […] ergriff mich […] ein Geist der Rachsucht. Ich begann ihn zu hassen. […] Ich war voller Zorn, voller Verbitterung, […] voller Hass, voller Nichtvergebung. […] Ich wurde stolz und eitel. […] Eine Sucht nach Fitness, nach Schönheit, mir [Dinge] zu kaufen. […] Mein Herz begann zu hassen. […] Ich wurde egoistisch. […] Mit einem Geist schrecklicher Eifersucht.«17

15 16 17

Interview Nr. 26, 7.4.2015. Vgl. Csordas 2002, 39. Interview Nr. 77, 15.7.2015.

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In Costa Rica ist es ein verbreiteter Brauch, Neugeborene der Jungfrau Maria, einer oder einem Heiligen oder dem mystifizierten Arzt Ricardo Moreno Cañas zu widmen und nach diesen zu benennen, in der Hoffnung, dass diese Verbindung dem Kind nützt. Im pentekostalen Sprachgebrauch wird diese Praxis mit pactar alguien (einen Pakt über jemanden abschließen) bezeichnet. Eine Informantin erzählte, dass sie erst nach ihrer Konversion verstanden habe, dass über sie ein Pakt abgeschlossen worden sei, als sie als Neugeborene der Virgen del Carmen (Jungfrau Maria vom Berg Karmel) gewidmet worden sei. In der Retrospektive interpretierte sie viele Momente ihres Lebens vor der Konversion als Erfahrung dämonischer Belästigungen, die sie nun darauf zurückführte, dass infolge des Paktes ein Dämon Anspruch auf sie erhoben habe. So habe sie sich häufig beobachtet gefühlt und unter visuellen und auditiven Wahrnehmungen sowie unter psychosomatischen Beschwerden wie Schlafstörungen und Atemnot gelitten: »Bevor ich den Herrn kennenlernte, […] wurde ich oft belästigt. […] Zu fühlen, […] dass du beobachtest wirst, […] dass dir plötzlich jemand erscheint und verschwindet. Sie stören deinen Schlaf, […] ich hatte das Gefühl, ich würde ersticken, ich hatte das Gefühl, als wenn ich eine Katze hier oben hätte, und ich bekam keine Luft. […] Im Schlaf fühlte ich hier einen Druck, der mir die Luft nahm. […] Belästigungen, […] dass ich Stimmen hörte, dass ich Dinge sah, […] Erscheinungen. Plötzlich hörte oder fühlte ich etwas, oder ich sah etwas im Spiegel. […] Das hatte ich, solange ich mich erinnern kann, bis zu jenem Tag [d.h. bis zur Konversion]. Von da an, Gott sei Dank, nicht mehr.«18 Die Informantin berichtete weiter, dass der Dämon nicht sofort nach ihrer Konversion verschwunden sei, weil auch danach noch eine kleine Skulptur der Jungfrau Maria vom Berg Karmel auf einem Altar neben ihrem Bett gestanden habe. Schließlich habe sie erkannt, dass diese Skulptur das Einfallstor für den Dämon zu ihr gewesen sei. Daher sei es notwendig gewesen, einen möglichst großen räumlichen Abstand zu der Skulptur herzustellen, um nicht mehr über diese in der Reichweite des Dämons zu sein. Also sei sie in die Berge gefahren und habe die Skulptur in ein Tal geworfen. In der folgenden Nacht habe sie durch ein Gefühl von Kälte körperlich erlebt, wie der Dämon ihr noch einmal nahe kam und sich von ihr verabschiedete. Das Erleben des dämonischen Wirkens beschrieb sie als körperliches Unwohlsein, während die Befreiung vom Dämon zu einem positiven körperlichen Empfinden von Leichtigkeit geführt habe: »In meinem Schlafzimmer hatte ich neben meinem Bett […] einen Altar […] für die Jungfrau Maria vom Berg Karmel. […] Als ich jene Begegnung mit dem Herrn hatte, seitdem ich in mein Zimmer kam, fühlte ich mich unwohl mit der Jungfrau

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Interview Nr. 74, 13.7.2015.

3 Methoden der Heilung

Maria. […] Ich kniete mich nicht mehr hin, ich betete nicht mehr zu ihr, ich habe ihr keine Blumen mehr hingestellt und die Kerze nicht mehr angezündet. Aber ich fühlte mich immer noch unwohl. […] Ich baute den Altar ab, ich verpackte die Jungfrau Maria, […] ich verstaute sie. […] Ich fühlte mich immer noch unwohl. […] Ich wollte das loswerden. […] Wir sind mit dem Auto in die Berge von Heredia gefahren, dort haben wir sie weggeworfen. […] Ich hatte das Gefühl, das mir etwas abgenommen wird, wie ein Gewicht, das auf mir lag. […] In der Nacht […] fühle ich eine Kälte […] wie ein Kühlschrank. […] Ich fühlte eine Gegenwart, […] die dort eine Weile blieb […] und mich beobachtete. […] Ich konnte mich nicht bewegen. […] In mir drin sagte ich: ›Mein Gott, hilf mir.‹ […] Diese Gegenwart […] bewegte sich […] bis zu meinen Füßen, sie blieb stehen, hielt an, […] kehrte zurück […] zum Kopfende, […] verweilte noch einmal, […] kehrte zu meinen Füßen zurück, […] verschwand. Und in demselben Moment verschwand die Kälte. […] Ich fühlte mich leicht. […] Bis zum heutigen Tage […] wurde ich nie wieder heimgesucht. […] Ich interpretiere das so, […] dass es der Dämon war, der Geist, dem ich übergeben worden war. […] Als ich den Herrn annahm, wurde dieser Pakt aufgelöst, annulliert, […] er hatte keinen […] Anspruch mehr auf mich. […] Ich interpretiere das so, […] jener Geist kam damals sozusagen, um sich zu verabschieden. […] Es war sozusagen seine letzte Intervention.«19 Als Voraussetzung für die Befreiung von Dämonen gilt deren Identifikation. Zu diesem Zweck wird die eigene Biographie ebenso analysiert wie die Biographien der Vorfahren, weil Einfallstore für Dämonen auf eigenes Fehlverhalten oder Leid ebenso wie auf das Fehlverhalten oder Leid der Vorfahren zurückgeführt werden. Die Pastorin der Kirche CCBEDN erzählte, wie zwei Mitarbeitende des Club 700 in einer Beratungssitzung eine Liste mit möglichen Gründen für Einfallstore für Dämonen zu ihrer Person erstellt hätten. Besonders gravierend sei gewesen, dass ihre Mutter sie Moreno Cañas gewidmet hätte. Im Anschluss an diese spirituelle Inventur sei sie angeleitet worden, den identifizierten Pakten abzusagen und die Ketten zu zerreißen oder zu zerschneiden. Auch die Absage an Pakte und das Zerreißen oder Zerschneiden von Ketten sind performative Befreiungsakte, insofern das Aussprechen der Absicht der Loslösung von den Pakten und des Zerreißens oder Zerschneidens der Ketten mit deren Vollzug einhergeht. Das Zerschneiden der Ketten wird häufig von einer entsprechenden imaginären Tat begleitet. All dies geschieht im Namen Jesu, in der Überzeugung, dass die Dämonen diesem nicht standhalten können: »Meine Mutter hat mich Moreno Cañas gewidmet. […] Als ich hierher [d.h. zur Beratungssitzung im Beratungszentrum des Club 700] kam, begannen sie, all diese Pakte zu annullieren. […] Normalerweise, in der Befreiung, […] während man die 19

Interview Nr. 74, 13.7.2015.

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Person befragt, macht man eine kleine Liste. Ob du als kleines Mädchen jemandem gewidmet wurdest, ob du missbraucht wurdest, […] oder nur begrapscht, oder ob du große Gewalt erlitten hast, oder ob deine Eltern Hexerei praktiziert haben, denn das sind Ketten, die man zerreißen muss, auch wenn du es selbst nicht praktiziert hast. Also beginnt man, [sie] zu zerschneiden. Genauso haben sie es mit mir gemacht. Sie begannen, alles aufzuschreiben, […] und als sie fertig waren, begannen sie, […] allen Pakten, den Hexereien abzusagen. […] Im Namen Jesu muss man [all dem] absagen. Also habe ich zum Beispiel widerrufen: ›Ich löse den Pakt, den meine Mutter über mein Leben mit diesem Arzt Moreno Cañas gemacht hat, mit dem Teufel ist es, im Namen Jesu.‹ […] Also habe ich diesen Pakt gelöst und alle Dinge, die ich […] wusste. […] Und fertig.«20 Die Vorstellung von der Entstehung von Fluchketten ist bildlich: Durch eine anfängliche Sünde öffne sich ein geistliches Einfallstor, durch das verschiedene Dämonen eindringen könnten und auf diese Weise eine Fluchkette initiierten. Um geistliche Einfallstore zu schließen und auf diese Weise den Dämonen den Zutritt zur eigenen Person zu verwehren, existieren zwei Methoden. Einerseits soll um die Vergebung der Sünden der Vorfahren, eigener Sünden und der Sünden anderer gegenüber einem selbst gebeten werden, »denn das einzige, was sie [d.h. die Dämonen] dort hält, ist die Sünde. In dem Moment, in dem ich um Vergebung bitte, verschwindet die Sünde.«21 Aus dieser Perspektive ist die Bitte um Vergebung eine Waffe der geistlichen Kampfführung. Andererseits werden die geistlichen Einfallstore durch einen performativen Befreiungsakt geschlossen, in dem das Aussprechen der Absicht des Schließens mit der entsprechenden imaginären Tat einhergeht. Im Anschluss an das Schließen der Einfallstore werden manchmal die Dämonen zum Kreuz Christi geschickt, damit sie dort unschädlich gemacht werden. Dies ist eine Vorsichtsmaßnahme, damit die Dämonen, nachdem sie einen Menschen verlassen haben, sich nicht in der Umgebung aufhalten oder andere Menschen befallen können: »Man muss anfangen, die geistlichen Ketten zu zerreißen, die mit generationellen Flüchen zu tun haben. […] Dann muss man kommen und beten und das zerschneiden, es zum Kreuz Christi bringen, denn er hat all unsere Flüche und Verurteilungen auf sich genommen, damit die Leute geistliche Einfallstore schließen können.«22

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Interview Nr. 45, 8.5.2015. Interview Nr. 73_2, 10.7.2015. Interview Nr. 26, 7.4.2015.

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Der Befreiungsdienst wurde zunächst im evangelischen und erst später im katholischen Pentekostalismus populär.23 So war der Kampf gegen Dämonen auch für Angehörige des CCCAJ Bestandteil der Heilung der gesamten, dreiteiligen Person. Eine Informantin, die dort als Beraterin tätig war, erklärte, dass sie zur Identifikation von Dämonen fähig sei, weil sie über die Gabe der Geisterunterscheidung verfüge, die im Bibelvers 1 Korinther 12,10 genannt wird. Die von ihr erläuterten Techniken des Befreiungsdienstes richteten sich weniger gegen Bedrängnis als gegen Besessenheit durch Dämonen. Um einen Dämon, dessen Anwesenheit sie vermute, zu identifizieren, provoziere sie ihn durch ein Gebet, in dem sie Jesu Namen nenne. Dass Dämonen darauf und auf andere christliche Praktiken wie Evangelisation und Heilung reagieren, sei an den körperlichen Reaktionen der von ihnen geplagten Personen zu erkennen, die etwa begännen, tief zu atmen, sich zu krümmen, unverständliche Worte zu stammeln, das Gesicht zu verzerren, die Augen zu verdrehen, mit veränderter Stimme vom Dämon in der ersten Person Singular zu sprechen, sich aggressiv zu verhalten oder die Gläubigen zu verspotten. Die Beraterin praktizierte unter Berufung auf die Bibelverse Matthäus 16,19 und 18,18 im Anschluss an die Identifikation des Dämons das Binden von Geistern. Dies ist eine verbale Technik, die von katholisch-pentekostaler Seite als im Verhältnis zur evangelisch-pentekostalen Befreiungspraxis distinktiv reklamiert wird. Es handelt sich auch hier um einen performativen Akt, in dem das Binden des Dämons im Namen des Herrn Jesus Christus deklariert wird, um den Dämon zu schwächen und von Manifestationen wie physischer Gewalt, Schreien oder Beleidigungen abzuhalten, so dass dann ungestört mit der durch den Dämon bedrängten Person gearbeitet werden kann, indem diese etwa durch ein Befreiungsgebet vom Dämon befreit wird. Die Übergänge zwischen dem Binden und dem Austreiben eines Geistes sind nicht immer eindeutig:24 »Ich habe […] Geschichten erlebt von Leuten, die schwere Traumata hatten, Satanismus, und für diese Personen gebetet, und ich habe gesehen, wie sie merkwürdige Körperhaltungen einnahmen. […] Wenn ich für eine Person bete, die […] mit einer schwierigen Situation zu tun hat, […] sage ich: […] ›Jesus Christus ist unser Herr. Jesus Christus hat Macht. Er hat den Satan besiegt, den Tod.‹ […] Leute, die kommen und sagen: ›Ich komme, damit Sie beten, weil […] meine Schwiegertochter böse ist.‹ […] Man muss die Wurzel der Dinge finden, […] um zu wissen, in welche Richtung das Gebet wirken wird. […] Ich sage ihr: ›Du weißt, dass Jesus Christus lebt.‹ Sofort, wenn ich nur das gesagt habe, und die Person macht/ [die Informantin macht schwere Atemgeräusche], dann sage ich ihr: ›Ja, Jesus Christus lebt und hat Macht.‹ Und schon höre ich sie […] seltsame Sachen stammeln,

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Vgl. Csordas 1994, 166. Vgl. Csordas 1994, 175-177.

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dann sage ich ihr: ›Im Namen Jesu Christi werden wir für dich und nicht für deine Schwiegertochter beten.‹ Und dann beten wir und die Person wird befreit. […] Ein […] Mann, […] der […] anfängt, sich über einen lustig zu machen, und man betet und er macht sich lustig. […] Er macht Fäuste, aggressiv. […] Ich habe eine Person gesehen, die hat die Hände zu Fäusten geballt und will sich gegen uns werfen, und […] wir sagen ihm: ›Im Namen Jesu Christi, der lebt und regiert, berühr mich nicht! Ich fessle dich und ich kneble dich und du berührst mich nicht!‹ […] Als ob es etwas gibt, dass sie sich nicht gegen einen werfen lässt. ›Ich bin eine Tochter Gottes im Namen Jesu Christi‹, […] und ein Gebet, noch eins, und die Person hat sich schon befreit und erzählt später, […] dass sie nie glücklich war, die Mutter jenes, aber nun ist sie schon bereit zu vergeben. Denn das, was uns an viele Dinge fesselt, sind die Sünde, diese Traumata […] durch Hass, durch Rachsucht. Das macht die Person krank. Es kann sogar zu Krebs führen.«25 Viele Frauen praktizierten den Befreiungsdienst an ihren Ehemännern oder Kindern im Verborgenen, weil sie unter diesen litten oder sich um sie sorgten. Verbreitet waren Gebete am Bett des schlafenden, alkoholisierten Ehemannes, um den Dämon des Alkoholismus auszutreiben. Eine Informantin sprach über die Sorgen um ihren Sohn, der anorektisch gewesen sei, sich isoliert habe und schließlich Opfer eines Mordversuchs geworden sei. In seinem eigenen destruktiven Verhalten sah sie ebenso wie in dem Überfall auf ihn das Wirken des Teufels, das sie damit begründete, dass der Teufel um ihren Sohn gekämpft habe, weil dieser eine göttliche Berufung habe, deren Ausübung der Teufel habe verhindern wollen. Durch Fasten und Beten sei es ihr schließlich gelungen, ihren Sohn von den Dämonen zu befreien: »Für dieses Kind […] habe ich gekämpft. […] Denn […] Satan kämpft um ihn, aber ich weiß, dass er zu Christus gehört und [Satan] ihm nichts anhaben kann. Er wurde überfallen, er wurde mit Messern angegriffen und sollte getötet werden, aber ihm ist nichts passiert. Ein Todesgeist wollte ihn töten. Magersüchtig. Er hat sich einen Monat lang in seinem Zimmer eingeschlossen, aber ihm ist nichts passiert. Der Herr hat es mir offenbart, ich habe gefastet, ich habe ihn befreit. […] Ich habe für ihn gekämpft, und ich habe gesehen, wie Gottes Macht in ihm wirkt. […] Ich musste für ihn kämpfen […] durch fasten und beten.«26 Als Manifestation des Ausfahrens werden vielfältige körperliche Zeichen interpretiert. Csordas stellt fest, dass insbesondere in den 1970er Jahren im Kontext der Katholischen Charismatischen Erneuerung in den USA berichtet wurde, dass die

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Interview Nr. 54, 27.5.2015. Interview Nr. 75, 13.7.2015.

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Besessenen im Moment der Befreiung schrien, sich auf dem Boden krümmten, erbrachen oder Schlangen ausspuckten, dass aber seit den 1980er Jahren wohl auch in Anbetracht der Außenwahrnehmung die Austreibungspraxis domestiziert wurde und erheblich an Wildheit verlor.27 Dieser Entwicklung entsprechen die Berichte pentekostaler Frauen in Alajuela. Zwar erzählte eine Informantin, die der Kirche IOIB angehörte, wie sie auf dem Boden liegend unter Schreien und Weinen vom Dämon der Nichtvergebung befreit wurde: »In einer Fastenversammlung der Kirche kam Gott und handelte zwei Stunden lang an mir, die Leute wussten nicht, was mit mir los war. Es dauerte zwei Stunden, es waren Schreie in der Gegenwart Gottes, ich lag auf dem Boden und ich weinte und weinte […] und er sagte mir: ›Vergib deinem Vater.‹ […] Und ich sagte ihm: ›Herr, ich vergebe ihm von ganzem Herzen.‹ […] Gott handelte direkt an mir […] bezüglich der Vergebung. […] Ich heulte Rotz und Wasser […] in der Gegenwart Gottes. […] Es waren zwei Stunden, und ich kam da ′raus mit ganz geschwollenen Augen von der Befreiung von der Nichtvergebung, die er an mir gewirkt hatte.«28 Doch dieser Bericht stellt im Verhältnis zu den Aussagen anderer Informantinnen und zu Feldforschungsbeobachtungen eine Ausnahme dar. Von ähnlich ausgeprägten körperlichen Zeichen der Dämonenaustreibung sprach nur die Pastorin der Kirche CE, als sie über die Anfänge ihrer Kirche in den 1970er Jahren berichtete. In dieser Zeit hätten ihr Mann und sie viele Menschen geheilt und viele Dämonen ausgetrieben. Den Höhepunkt ihrer Erzählungen über jene Zeit stellte die Geschichte einer Frau dar, die infolge eines Zaubers unfruchtbar gewesen sei, im Anschluss an ein Befreiungsgebet den Dämon der Unfruchtbarkeit in Form einer Eidechse ausgespuckt habe und kurze Zeit darauf schwanger geworden sei. Als Beweis für die Glaubwürdigkeit der geschilderten Ereignisse fügte die Pastorin hinzu, dass die geheilte Frau die Eidechse in einem Glas, eingelegt in Alkohol, während einer Versammlung demonstriert und inzwischen eine große Zahl von Kindern zur Welt gebracht habe: »Dieser Frau war eine Hexerei auferlegt worden, damit sie keine Kinder bekommen könnte. Und als wir beteten, […] begann sie etwas zu spüren, dass ihr aus dem Bauch hoch kam. […] Sie hatte das Gefühl, sie würde ersticken. […] Das Gebet führte dazu, dass der Zauber, den sie hatte, immer weiter aufstieg, und es war eine lebendige Eidechse. […] Und sie selbst fing sie mit einem Tuch, und sie nahm sie und steckte sie in ein Glas, und sie brachte sie mit als Zeugnis, in etwas Alkohol, […] damit sie sie sähen. Einen Monat später war die Frau schwanger. Und seitdem muss sie sogar verhüten, denn sie hat einen Haufen Kinder. Und in

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Csordas 1994, 173-175. Interview Nr. 75, 13.7.2015.

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dieser Art haben wir Fälle von Leuten gesehen, die erbrochen haben, Hexereien, die befreit wurden.«29 Da mehrere Informantinnen von den erstaunlichen Wundern und Heilungen, die in jener Zeit in Alajuela geschehen seien, sowie dem starken Geist, der damals gewirkt habe, berichteten, ist anzunehmen, dass auch für den Pentekostalismus in Alajuela gilt, dass die Befreiungspraktiken in den 1970er Jahren wilder waren. Von körperlichen Manifestationen dämonischer Gegenwart wie dem Verzerren des Gesichts oder dem Sprechen mit veränderter Stimme wurde zwar nach wie vor berichtet, doch das Ausfahren eines Dämons wurde üblicherweise lediglich dadurch ersichtlich, dass ein Problem oder Symptom plötzlich abwesend war. Abschließend werden zwei evangelisch-pentekostale Kampf- und Befreiungsgebete und ein katholisch-pentekostales Kampf- und Befreiungsgebet zitiert und zusammenfassend erläutert. Die evangelisch-pentekostalen Gebete wurden von einer Informantin verwendet, die der Kirche CCVN angehörte. Das erste Gebet lautet: Ich erstarke durch die große Macht des Herrn Jesu Christi. Ich ziehe die Rüstung Gottes an und leiste Widerstand gegen alle List des Teufels, und wenn der Tag des Unheils kommt, werde ich standhaft bleiben und widerstehen, bis der Kampf zu Ende ist. Ich gürte mich mit dem Gürtel der Wahrheit und ich schütze mich mit dem Panzer der Gerechtigkeit, und als Schuhe ziehe ich die Bereitschaft an, das Evangelium des Friedens zu verkünden. Jetzt nehme ich das Schild des Glaubens, mit dem ich die feurigen Geschosse des Bösen auslöschen werde. Ich nehme den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das das Wort Gottes ist. Als Kämpfer bete ich jeden Tag und bleibe wachsam und harre aus im Gebet der einen für die anderen.30 Das zweite Gebet lautet: Im mächtigen Namen Christi und mit dem vergossenen Blut des heiligen Lammes zerschneide ich alle generationellen, von den Vorfahren herkommenden Ketten, die meinem Leben Flüche, Ungerechtigkeiten, […] Sünden, Fesseln von Geist, Seele und Körper gebracht haben, die Erzeugnisse familiärer Traumata sind, von Überzeugungen, Verleumdungen, Heiligenverehrung, Hexerei, Zauberei, Aberglauben, Pocomía, Voodoo, Umbanda, Candomblé etc.31

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Interview Nr. 32, 14.4.2015. Aus den persönlichen Aufzeichnungen der Informantin, die diese Gebetsformulierungen entnommen und geringfügig verändert hatte aus www.oraciones-intercesion.blogspot.de/2009/09/oracion-para-pedir-un-milagro.html [7.3.2016]. Aus den persönlichen Aufzeichnungen der Informantin.

3 Methoden der Heilung

Das erste Gebet ist eine Deklaration, die aus Zitaten der Bibelpassage Epheser 6,1018 besteht und dem imaginären Anlegen der geistlichen Waffenrüstung dient, um für den geistlichen Kampf vorbereitet zu sein. Das zweite Gebet ist ebenfalls eine Deklaration, die aber dem performativen Zerschneiden von Fluchketten dient. Mit diesem Ziel wird das Blut des Lamms zum Schutz und zur Mobilisierung der göttlichen Kraft in Jesu Blut angerufen. Die Dämonen werden als Ursache negativer Widerfahrnisse, schlechter Eigenschaften, Verhaltensweisen und Taten sowie spiritueller, psychischer und physischer Probleme identifiziert. Als Ursache für den Einfluss der Dämonen werden familiäre Traumata, falsche Überzeugungen der Vorfahren, schlechte Verhaltensweisen wie Verleumden und jegliche Art religiöser Verfehlungen wie Heiligenverehrung, Hexerei, Zauberei, Aberglauben, die Praxis der afrokaribischen costa-ricanischen Religion Pocomía sowie der Religionen Voodoo, Umbanda und Candomblé genannt. Zu den erwähnten familiären Traumata werden üblicherweise insbesondere Alkoholismus, sexuelle Gewalt, die von Vorfahren erlitten oder ausgeübt wurde, sowie tödliche Unfälle gezählt. Als falsche Überzeugungen werden neben einer hedonistischen Lebensweise im Allgemeinen insbesondere sexuelle Verfehlungen wie vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr, nichtheterosexuelle Orientierungen, die Unterstützung nichtheterosexueller Orientierungen von Kindern durch ihre Eltern, Pornographie und inzestuöse Praktiken verstanden. Die Formulierungen einer katholisch-pentekostalen Variante eines Befreiungsgebets lagen als Gebetsformular einschließlich der Anführungszeichen und in Klammern genannten Angaben der Bibelpassagen schriftlich im CCCAJ aus. Als Autor wird der US-amerikanische charismatische Priester Robert de Grandis angegeben: Gebet zur Heilung und intergenerationellen Befreiung   Ich begebe mich in die Gegenwart Jesu Christi und unterwerfe mich seiner Herrschaft. Ich bin standhaft, aufrecht, »umgürtet an der Hüfte mit Wahrheit und angezogen mit dem Panzer der Gerechtigkeit« (Epheser 6,14), »stets das Schild des Glaubens ergreifend, um mit ihm alle feurigen Pfeile des Bösewichtes auslöschen zu können« (Epheser 6,16). Ich nehme auch »den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes« (Epheser 6,17).   Im Namen des gekreuzigten, gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus binde ich alle Geister der Luft: die Atmosphäre, das Wasser, das Feuer, den Wind, die Erde, die Abgründe und die Hölle. Ich binde auch den Einfluss jeglicher irrender oder verlorener Seele, die anwesend sein könnte, und jegliches Abgesandten des Teufels oder jeglicher Versammlung von Hexen, Hexern oder Teufelsanbetern, die auf irgendeine vornatürliche Art anwesend sein könnten.

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  Ich beanspruche das Blut Jesu in der Luft, in der Atmosphäre, im Wasser, im Feuer, im Wind, in der Erde und ihren Früchten, die uns umgeben; in den Abgründen und in der Hölle. […]   Im Namen Jesu versiegle ich diesen Ort und alle Anwesenden und die ganze Familie und alle Freunde der hier Anwesenden und ihre Häuser und ihren Besitz und ihre Einkommensquellen mit seinem Blut. […]   Im Namen Jesu Christi verbiete ich allen verlorenen Geistern, Hexern, satanischen Gruppen oder Abgesandten oder Mitarbeitern [des Teufels], niedrigere oder höhere, dass sie mir Schaden zufügen oder sich an mir, meiner Familie oder meinen Freunden rächen, oder dass sie […] irgendetwas beschädigen, was wir besitzen.   Im Namen Jesu Christi und durch den Verdienst seines kostbaren Blutes zerreiße und löse ich jeglichen Fluch, Hexerei, Versiegelung, […] Falle, Fessel, List, Lüge, […] Hindernis, Enttäuschung, Entgleisung oder Ablenkung, geistlichen Einfluss oder geistliche Kette, auch jede Krankheit unseres Körpers, von Seele oder Verstand, die uns Anwesenden oder jegliche der zuvor erwähnten Personen, Dinge oder Orte erreichen kann, durch jeglichen Geist, der sich in uns aufgrund unserer eigenen Sünden und Fehler gegenwärtig machen kann. […]   Ich stelle jetzt das Kreuz Jesu Christi zwischen mich und alle Generationen meines Stammbaums und beanspruche im Namen Jesu Christi, dass es keine direkte Kommunikation zwischen jeglicher dieser Generationen gibt. Jegliche Kommunikation wird durch das kostbare Blut Jesu gefiltert.   Unbefleckte Maria, umkleide mich mit Licht, Macht und Energie deines Glaubens. Vater, bitte befiehl den Engeln und den Heiligen, dass sie mir helfen. Danke, Herr, dass du meine Weisheit, meine Gerechtigkeit, meine Heiligung, meine Erlösung bist. Ich ergebe mich vor deinem Heiligen Geist und ich empfange mit Respekt und Dankbarkeit deine wahre Heiligung und intergenerationelle Befreiung.   Ein Vaterunser, ein Avemaria und ein Gloria. Diese Gebetsformulierungen zeigen, dass sich katholische Pentekostale derselben biblischen Motive und Formulierungen bedienen, um sich auf den Kampf gegen Dämonen vorzubereiten und sich von diesen zu befreien, wie evangelische Pentekostale. Jesu Blut kommt auch hier eine mächtige, schützende Funktion zu.

3 Methoden der Heilung

Darüber hinaus wird zur typisch katholisch-pentekostalen Praxis des Bindens von Geistern angeleitet und auch Maria kommt eine Funktion im geistlichen Kampf zu. Das Gebet wird durch den Rekurs auf klassische Formulierungen der katholischen Liturgie abgeschlossen.

3.2.2

Geistliche Kampfführung

Ziel der korporativen Praxis der geistlichen Kampfführung ist der Kampf gegen Dämonen, die Politik und Gesellschaft negativ beeinflussen. Im Fokus stehen insbesondere espíritus territoriales (Gebietsdämonen), die aufgrund spezifischer Sünden von Costa-Ricanerinnern und Costa-Ricanern oder von Angehörigen anderer Nationalitäten im Staatsgebiet Costa Ricas derechos legales (Anrechte) auf das Land, die Gesellschaft und die Politik erworben hätten. So erklärte eine Informantin, dass Alkoholismus und Prostitution Lateinamerikas Hauptsünden seien, die nicht nur, wie beschrieben, individuelle Fluchketten verursachten und auf diese Weise Individuen in die Armut und in die Homosexualität führten, sondern die als kollektive Sünden Gebietsdämonen das Recht gäben, Lateinamerika im Allgemeinen und Costa Rica im Speziellen mit Armut und Homosexualität zu beherrschen. Auch die Existenz von Dämonen, die Anrechte auf eine Provinz oder eine Stadt haben, wird angenommen. Wo immer sich Ereignisse mit gravierenden negativen Konsequenzen häufen, wird dies auf Gebietsdämonen zurückgeführt, die aufgrund der spezifischen Sünden der Bevölkerung ihr Unheil trieben. So seien Gebietsdämonen der Provinz Limón für die sich dort ereignende hohe Zahl tödlicher Verkehrsunfälle verantwortlich: »Es gibt Dämonen, die bestimmten Gebieten zugeteilt sind. […] Zum Beispiel ereignen sich […] in der Provinz Limón […] sehr viele Unfälle. […] Dort gibt es eine Macht. Es sind Dämonen, so dass die Leute durch Unfälle sterben, tragische Todesfälle.«32 Um solche Gebietsdämonen zu bekämpfen, existierten in vielen Kirchen eigens mit diesem Dienst betraute Gruppen. In der Kirche CCVN versammelten sich zwei solcher Gruppen wöchentlich, um für Alajuela, Costa Rica, einzelne Politikerinnen und Politiker, für Israel, für andere Länder, für die ganze Welt, aber auch für den eigenen Pastor und die eigene Familie zu beten. Der geistliche Kampf wird als Kampf zwischen zwei Welten vorgestellt, der gleichzeitig auf der Erde und im Himmel stattfindet. Durch die Kampfgebete auf der Erde sollen die Engel in ihrem himmlischen Kampf gegen die Dämonen angeregt und gestärkt werden. Über Gruppen für geistliche Kampfführung in den Kirchen hinaus existierten auch mehrheitlich aus Frauen bestehende, nichtdenominationelle Gruppen, 32

Interview Nr. 77, 15.7.2015.

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die sich häufig in privaten Häusern für den geistlichen Kampf versammelten. Die Gruppe Mujeres sin fronteras (Frauen ohne Grenzen) versammelte sich monatlich im Parlamentsgebäude in San José, um für die costa-ricanische Politik und Gesellschaft zu beten. Der Vorläufer dieser Gruppe war 1980 von einer Frau initiiert worden, die der Kirche CMA in San José angehörte und in den Parlamentswahlen 2014 für die dezidiert evangelische Partei Partido Renovación Costarricense (PRC) kandidierte. 2012 hatte sie über persönliche Kontakte zu Abgeordneten Zugang für die Gruppe zum Parlamentsgebäude erhalten. Manchmal versammelte sich die Gruppe auch an anderen Orten wie im Gebäude des Obersten Gerichtshofs, um für die dort Tätigen zu beten. Die Teilnehmerinnen reklamierten für sich einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftspolitischen Ergehen des Landes. Die Angehörigen dieser Frauengruppe bewerteten legislative Liberalisierungen bezüglich der Sexual- und Fortpflanzungsethik als Werke des Teufels. Die im Folgenden zitierte Informantin, die sowohl dieser Gruppe als auch einer der beiden Gruppen für geistliche Kampfführung in der Kirche CCVN angehörte, bezog sich in ihrem Gebet während einer Versammlung letzterer Gruppe auf gesellschaftspolitische Bestrebungen, die In-vitro-Fertilisation zu legalisieren, die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch zu liberalisieren und die rechtliche Anerkennung homosexueller Paare einzuführen. Aus ihrer Perspektive stärkt der geistliche Kampf gegen die Dämonen, die die Liberalisierungen anstreben und gleichzeitig durch diese an Macht gewinnen, den entsprechenden politischen Kampf. Neben diesen legislativen Bestrebungen identifizierte sie einige kollektive Sünden als Ursache dafür, dass Gebietsdämonen Anrechte auf Costa Rica und insbesondere auf die Provinz Guanacaste hätten. Sie betete: »Vergib die Sünden dieser Nation, die die göttlichen Gesetze verändern will, die die Gesetze zur Homosexualität, zur Abtreibung, zur In-vitro-Fertilisation verändern will. […] Feind, verschwinde aus denen, die in der Sauferei gefangen sind, im Lesbianismus, in der Abtreibung, im Missbrauch. […] Ich sage allen Vorhaben des Satans ab. Wir befreien und heilen die Nation. […] Ich sehe einen Behälter, gefüllt mit denen, die im Nebel sind. Hol sie raus, hol sie raus! Wir zerreißen die Ketten dieser Nation. Vergib die Sünden von Guanacaste, die Hexerei und den Alkoholismus an den Stränden. Befreie Guanacaste! Vergib den Katholiken! Segne die Priester, die glauben, sie sind Priester Gottes, obwohl sie es nicht sind. Vernichte alle Lügen des Feindes!«33 Im Alkoholkonsum an den Stränden Guanacastes und in der Hexerei sah diese Informantin die Gründe für die Macht der Gebietsdämonen in dieser Provinz, die deren Unglück in Form von Armut und Dürre verantworteten. Als religiöse Verfehlung benannte sie außerdem den Katholizismus, den sie zu den Lügen des Teu33

Feldforschungstagebuch 28.5.2015.

3 Methoden der Heilung

fels zählte. Als Opfer dieses Betrugs hielten sich die Priester irrtümlicherweise für Priester Gottes. Sie bat Gott um Befreiung für diejenigen, die sich für die Liberalisierung der genannten Gesetze einsetzten, und um Vergebung für diejenigen, die Alkohol konsumierten und dem Irrglauben der Hexerei oder des Katholizismus anheimgefallen seien. Trotz aller Kritik am Verhalten der einheimischen und ausländischen Touristinnen und Touristen, der Politikerinnen und Politiker, der Praktizierenden der sogenannten Hexerei, der Katholikinnen und Katholiken, der Homosexuellen und anderen gab sie all diesen letztlich nicht die Verantwortung für ihre Verfehlungen, weil sie als Urheber aller Irrtümer den Teufel identifizierte, der bei aller Unterstützung durch die geistliche Kampfführung schlussendlich durch Gott zu besiegen sei.

3.3

Methoden der inneren Heilung

Im Folgenden werden die Praxis der Methoden zur inneren Heilung sowie deren diskursiver Hintergrund analysiert. Zentrale Elemente des Heilungsdiskurses wurden durch Einflüsse überwiegend, aber nicht ausschließlich US-amerikanischer Provenienz geprägt. Um zu verstehen, warum die entsprechenden Schlagworte und Überzeugungen in Alajuela rezipiert und wie sie transformiert werden, werden drei Methoden der inneren Heilung erläutert, genealogisch kontextualisiert, auf Aneignungsstrategien und Transformationen untersucht und bezüglich ihrer Bedeutung und Auswirkungen im spezifischen Kontext befragt.

3.3.1

Das Heilungsgebet

Praxis Die oración de sanación (Heilungsgebet) besteht in einer Rekapitulation der Biographie einer Person von ihrer Zeugung bis zur Gegenwart. Gott wird für die Schöpfung dieser Person und für alles Wirken an ihr gepriesen, ihm wird gedankt, und der Person wird rückblickend Gottes Nähe und Liebe insbesondere im Kontext leidvoller Erfahrungen, die explizit benannt werden, zugesprochen. Die Vergangenheit wird als Teil des Plans Gottes neu interpretiert, dessen Ziel es gewesen sei, durch die individuelle Biographie die Person zu sich zu führen. Der Person wird Gottes Vergebung für Schuld zugesprochen und sie wird aufgefordert, selbst zu vergeben. Das Hauptziel des Gebets besteht darin, Verletzungen infolge bewusster und unbewusster Erfahrungen der Ablehnung und Demütigung zu heilen, die als Ursache eines Selbstkonzepts der Wertlosigkeit identifiziert werden. Pränatalen Erfahrungen der Ablehnung etwa aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft oder eines versuchten Schwangerschaftsabbruchs wird erheblicher Anteil an diesen Verletzungen zugesprochen. Durch das Gebet soll der Sinn des bisherigen Lebens trans-

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formiert und eine neue Vergangenheit konstruiert werden, um auf dieser Grundlage die Konstruktion eines neuen Lebens zu ermöglichen.34 Eine Beraterin der Kirche CCVN erklärte, wie sie in der Beratung das Heilungsgebet praktizierte: »Im Allgemeinen wird es gemacht, wenn es Ablehnung gab, Ablehnung vom Mutterleib an. […] Wir bitten den Herrn, dass er dieser Person hilft, sich wie im Mutterleib zu fühlen. Dann sagen wir: ›In diesem Moment wird die Eizelle durch die Samenzelle befruchtet.‹ […] Da muss man immer wieder bestärken, dass sie ein Sieger ist. […] Dann, nach einem Monat, anderthalb Monaten, bemerkt die Mutter vielleicht, dass sie schwanger ist, und sie wollte gar nicht schwanger sein. […] Dann bestärken wir erneut: ›Es ist nicht, weil irgendetwas an dir schlecht ist, weil du etwas Schlechtes getan hast, sondern weil sie Angst hatte. Angst, noch ein Kind zu bekommen.‹ […] Und das kommt auch häufig bei alleinstehenden Frauen vor. Aus Angst, es zu Hause zu sagen. So heilen wir also, […] und arbeiten mit Psalm 139: ›Deine Augen sahen, wie ich entstand.‹ […] ›Also, Herr, danke, denn dir gefiel es, Marianela so zu machen, wie sie ist, ihr diese Haarfarbe zu geben. […] Im Alter von sechs Monaten, Herr, machst du ihre Nägel, du formst ihre Zehen, […] Herr, du sorgst dafür, dass sie die Wärme deiner Liebe spürt, Gott, und der siebte Monat, und der achte, und der neunte, und dann die Geburt.‹«35 Wie diese Beraterin rekurrierte auch eine Informantin, die dem CCCAJ angehörte, auf Psalm 139, um die dem Heilungsgebet zugrunde liegende Überzeugung zu belegen, Gott habe die Zeugung jedes Individuums aufgrund eines Plans für diese veranlasst und sie ab diesem Moment begleitet. Auch diese Informantin erklärte, dass pränatale Bedingungen wie die Gedanken und Gefühle der Mutter während der Schwangerschaft einen Menschen dauerhaft prägten. Sie schilderte, wie während eines Heilungsgebetes, das während einer Evangelisationskampagne der RCC für eine große Menschengruppe öffentlich gebetet wurde, die Teilnehmenden angeleitet wurden, das eigene Leben seit der Zeugung Monat für Monat und seit der Geburt Jahr für Jahr Revue passieren zu lassen, um mögliche Ursachen für prägende emotionale Verletzungen zu identifizieren. Sie selbst habe dabei herausgefunden, dass ihre Bitterkeit und Aggressivität dadurch verursacht worden seien, dass sie als Vierjährige die Trauer ihrer Eltern um ihren verstorbenen Bruder als Ausdruck mangelnder Liebe zu ihr und ihren Geschwistern fehlinterpretiert habe. Gott habe ihr im Heilungsgebet eine Vision eingegeben, infolge derer sie diese Fehlinterpretation erkannt und überwunden habe. Auf diese Weise sei sie von Bitterkeit und Aggression geheilt worden:

34 35

Vgl. dazu auch Csordas 2002, 34-37. Interview Nr. 73_2, 10.7.2015.

3 Methoden der Heilung

»Und sie erklären uns, […] dass ich geboren wurde, weil Gott es erlaubte. Dass es nicht war, weil Vater und Mutter sich vereinigt hatten, sondern dass Gott der Eigentümer meines Lebens ist, wie es in Psalm 139 heißt. […] Als sie anfangen, darüber zu sprechen, […] dass wir geboren wurden, weil Gott uns ins Leben brachte, und dass wir so besonders sind, dass wir einzigartig sind, […] als sie dieses ganze Gebet sprechen vom Moment der Empfängnis an, als du dort entstandest, der erste Monat, der zweite Monat, was hat deine Mutter gemacht, wurde sie misshandelt, ob deine Mutter sehr besorgt war, weil sie schon viele Kinder hatte, und dieses war schon Nummer neun oder Nummer vier oder Nummer sieben, und ob […] sie sehr besorgt war, denn womit sollte sie sie ernähren? All das bekommt man mit. Ich wusste das nicht, dass man absolut alles mitbekommt. Und dann kommt schon der Moment der Geburt, wie empfangen sie dich, und es ist Gott, der dich empfängt, und er richtet dich auf und sagt dir: ›Irene, ich habe dir das Leben gegeben, sei glücklich.‹ […] Es ist wunderschön. […] Dann beginnen sie schon mit dem ersten Jahr, […] wo du beginnst, […] die Dinge in deiner Umgebung wahrzunehmen, zwei Jahre, drei Jahre. Als sie zum vierten Jahr kommen, beginne ich zu weinen. […] Der Herr gab mir eine Vision, in der ich meinen Bruder sah, als sie den Sarg noch nicht gebracht hatten, auf einem Tisch, und ich brachte ihm einen bizcocho [d.i. ein Maisgebäck] oder ein Brot. […] Ich wusste nicht, dass mein Bruder tot war. […] Dieser Verlust war schrecklich für mich. […] Ich war sehr verletzt. Und ich sagte meiner Mutter: […] ›Wegen dieses Ereignisses musstest du uns alleine lassen. Und du musst viel gelitten haben und mein Vater auch.‹ […] Wir fühlten uns, als ob sie uns nicht liebten, denn der, den sie liebten, war Luis und nicht wir. Denn sie weinten viel um diesen Sohn. Es muss schrecklich sein, ein Kind zu verlieren. Für mich war das eine Heilung, so dass ich anders von dort zurückkam. […] Ich verlor […] diese Bitterkeit, diese […] Aggressivität.«36 Auch die Pastorin des CCFB berichtete, nach ihrer Konversion mit Hilfe des Heilungsgebets, durch das sie nun andere heile, geheilt worden zu sein. Sie betonte, dass auch die Umstände der Geburt bleibenden emotionalen Schaden hinterlassen könnten, der geheilt werden könne: »Was wir als Erwachsene werden, ist das, was uns als Kinder passiert ist, und durch die Empfängnis. Ich bin Zwilling und ich war nicht gewollt. […] Ich praktiziere die innere Heilung von der Empfängnis an. Dann die Kindheit, nicht wahr. Wenn du geboren wirst. […] Wenn es mit Kaiserschnitt ist, dann spritzen sie dir diese Injektion […] und die betrifft das Kind emotional, nicht wahr, mit Ängsten, mit Traumata. […] Ich habe dieses Gebet von der Empfängnis bis zum Erwachsenenalter empfangen.«37 36 37

Interview Nr. 52_2, 21.5.2015. Interview Nr. 77, 15.7.2015.

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Die Bedeutung des Heilungsgebets als Beginn des auf die Konversion folgenden Prozesses der Heilung und Heiligung wird anhand des Konversionsberichts einer Informantin deutlich. Diese sei im Kontext eines Gesprächs konvertiert, das sie in einer persönlichen Krisensituation mit ihrer Vermieterin geführt habe. Die Vermieterin habe sie die oración de aceptación (Annahmegebet) sprechen lassen, die in der Vorstellung der Konvertitin durch die anleitende Person gegenüber Jesus, im Bekenntnis Jesu als Herrn und in der Bitte um Sündenvergebung besteht. Danach habe die Vermieterin sie zu sich nach Hause eingeladen. Bei diesem Besuch habe sie zusammen mit anderen für die Konvertitin gebetet. Deren Aussage zufolge handelte es sich um ein umfassendes Gebet, das sowohl Elemente des Heilungsgebets als auch der spirituellen Befreiung enthielt und ihrer umfassenden Initiation diente. Es war ein Gebet der »Vergebung, Heilung, und am Schluss erbat ich mein Wunder. Wir haben mehr als eine halbe Stunde gebetet, weil ich ihnen viele Dinge aus meinem Leben erzählte. […] Ich hatte ihr erzählt, wir hatten aufgeschrieben, die Dinge, die in meinem Herzen schmerzten, […] es gab Situationen aus der Kindheit. […] Wir baten den Herrn, diesen Teil zu heilen. […] Wir machten ein Befreiungsgebet, zehn Generationen zurück, dass die Ketten zerschnitten werden, spirituelle Fesseln, all diese Dinge. […] Sie leiteten mich an, meiner Schwester zu vergeben.«38 Während unter evangelischen Pentekostalen das Heilungsgebet eine Heilungsmethode neben anderen darstellte, war es unter katholischen Pentekostalen die am häufigsten praktizierte Methode, so dass die Begriffe sanación (Heilung), sanación interior (innere Heilung) und oración de sanación (Heilungsgebet) hier oft synonym verwendet wurden. Folgendes Zitat zeigt, dass eine Angehörige des CCCAJ das Heilungsgebet als Abgrenzungsmerkmal zwischen der RCC einerseits und der katholischen Amtskirche und anderen katholischen Bewegungen andererseits verstand: »Die Stärke der Erneuerung [d.h. der RCC] ist die Heilung, die Freude. Wir sind die Bewegung der Freude der Kirche. Und eins der Charakteristika der RCC ist die innere Heilung, die die anderen Bewegungen nicht haben. Weder die cursillistas, noch die jornadas, noch die catecúmenos, niemand, sondern nur die Erneuerung hat die innere Heilung.«39

38 39

Interview Nr. 67, 17.6.2015. Interview Nr. 52_1, 21.5.2015. Cursillistas bezeichnet Anhängerinnen und Anhänger der Cursillo-Bewegung. Jornadas ist die Abkürzung von als jornadas de evangelización bezeichneten Evangelisationsveranstaltungen. Catecúmenos bezieht sich auf die Anhängerinnen und Anhänger des Neokatechumenalen Weges. Während erstere und letztere katholische Bewegungen mit missionarischer Zielsetzung sind, stellen die jornadas de evangelización eine Veranstaltungsform dar, die von verschiedenen katholischen Bewegungen und Gemeinden praktiziert wird.

3 Methoden der Heilung

Eine andere Informantin, die dem CCCAJ angehörte, ergänzte diese Aussage: »Das Gebet und die Annahme und die Heilung sind das Zentrum der […] Realität des Christen.«40 Diese Informantin verstand unter oración (Gebet) das individuelle Gebet, unter aceptación (Annahme) die persönliche Annahme Jesu als des Herrn und unter sanación (Heilung) die innere Heilung durch das Heilungsgebet. Diese drei Elemente bezeichnete sie als Spezifika der RCC, deren Angehörige sie als cristianos (Christen) bezeichnete. Der Ablauf und Inhalt des Heilungsgebets in der katholisch-pentekostalen Praxis entspricht der evangelisch-pentekostalen. Hier wie dort liegt dem Gebet die Überzeugung zugrunde, dass der Heilige Geist der betenden Person Einsichten über das Leben und die Probleme der Hilfe suchenden Person eingibt, so dass auf bekannte und unbekannte emotionale Verletzungen eingegangen werden kann, und hier wie dort ist es die Zusage des Plans, der Liebe und Nähe Gottes, die eine Neuinterpretation der Biographie und die Vergebung ermöglichen soll. Eine Informantin erzählte, dass sie ihr Leben lang von einer als unbegründet empfundenen Angst geplagt worden sei. Infolge einer Offenbarung gegenüber der für sie betenden Frau habe sie verstanden, dass die pränatale Ursache ihrer Angst darin bestanden habe, dass ihre Mutter in jener Zeit erhebliche Sorgen gehabt habe, die sich auf sie übertragen hätten: »Als ich das Heilungsgebet empfing, habe ich viel geweint. Ich sagte: ›Warum habe ich so viel geweint?‹ […] Die das Gebet gesprochen hatte, […] sagte mir: ›Frag deine Mutter, was passiert ist, als du geboren werden solltest.‹ […] Meine Mutter […] sagt mir: […] ›Als du geboren werden solltest, in der Woche […] erkrankte dein Vater […] an einem Fieber. […] In der Zeit gab es hier in Costa Rica eine Revolution, ′48, und deshalb konnten die Medikamente aus dem Ausland nicht geholt werden, um sein Fieber zu bekämpfen. Deine Schwester war an […] Tetanus erkrankt. Stell dir vor: Ich in jenen Tagen kurz vor der Entbindung und mit zwei Kranken […], einer im Krankenhaus, ich hatte […] sehr viel Angst. Ich glaube, dass deshalb/ denn es gestaltete sich auch schwierig, dass du geboren würdest.‹ […] Ich erzählte es der, […] die das Heilungsgebet machte, und sie sagt mir: ›Ja, die Angst, die deine Mutter erlitt, die hast du empfangen und deshalb [ist] das in deinem Leben.‹ Deshalb hat der Herr sie [d.h. die Angst] im Moment des Heilungsgebetes geheilt.«41 Im Unterschied zur evangelisch-pentekostalen Praxis wurde das Heilungsgebet in der katholisch-pentekostalen Praxis auch in einer allgemeinen, öffentlichen und infolgedessen anonymeren Form gebetet. Während dem privaten Gebet stets ein 40 41

Interview Nr. 54, 27.5.2015. Interview Nr. 54, 27.5.2015.

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intimes Beratungsgespräch voranging, das die konkrete Behandlung individuell erlittenen Leids ermöglichte, war dies im öffentlichen Gebet nicht möglich. Allerdings sind die Grenzen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Gebet fließend, insofern es einen Unterschied macht, ob ein Priester das öffentliche Heilungsgebet für eine ihm bekannte Gruppe von Gemeindemitgliedern oder im Rahmen einer Evangelisationsveranstaltung vor hunderten oder tausenden Menschen betet. In ersterem Fall ist es ihm durchaus möglich, auf persönliche Hintergründe einzugehen. So habe es der ehemalige charismatische Priester der Kirchengemeinde La Agonía praktiziert, der jeden Donnerstag eine hora santa (heilige Stunde) in der Kirche abgehalten habe, in der er ein Heilungsgebet für die Anwesenden gesprochen habe. Eine Leiterin des CCCAJ berichtete, selbst mehrfach das Heilungsgebet während Rüstzeiten zur Vorbereitung Jugendlicher auf die Firmung für diese im Plenum gesprochen zu haben. Auch im Rahmen der Initiationskurse hatte das Heilungsgebet eine zentrale Bedeutung, die seiner Bedeutung im Kontext der evangelisch-pentekostalen Konversion glich, insofern diese Kurse dem Ziel dienten, die Teilnehmenden zu unterstützen, das alte Leben zurück zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Eine Informantin berichtete über ihre Erfahrung mit dem Heilungsgebet während ihres Initiationskurses, dass das Gebet in diesem Kontext zunächst inhaltlich allgemein gehalten werde, doch der Heilige Geist offenbare der betenden Person Konkretes über die Teilnehmenden, so dass Verletzungen und Schuld benannt, geheilt und vergeben würden: »Es wird begonnen im Moment der Empfängnis. Und man geht Schritt für Schritt. […] Man betet: ›Herr, wir bitten für den Fall, […] dass irgendjemand, Bruder, Schwester, als Kind misshandelt oder vergewaltigt wurde. […]‹ Was der Herr eingibt. Denn früher wurde ein Gebet gelesen, aber jetzt hat man […] die Spontanität zugelassen. Und der Herr […] gibt Charismen und oft gibt er eine Vision. Und jemand sagt zum Beispiel: ›Hier gibt es eine Person, die Hellseher konsultiert hat, die Karten gelesen hat […] und das hält ihn gefangen. […] Und in seiner Brieftasche hat er […] ein rotes Tuch mit einer Münze, […] weil er glaubt, dass, wenn er das in seiner Brieftasche trägt, er nie zu wenig Geld haben wird.‹ […] Oder der Herr offenbart uns, dass eine Person von ihrem Vater oder von ihrer Mutter misshandelt wurde, und […] dass sie es nicht vergeben konnte. […] Es ist ein Wort der Weisheit. […] Diese Person sagt es nicht öffentlich, sondern sie geht hin und sagt: […] ›Das, was der Herr dir offenbart hat, bezieht sich auf mich.‹ […] Es wird über fast alle Phasen gebetet, […] als Kind, als man zur Schule ging, die Unsicherheit, die es auslöst, zur Schule zu gehen. […] Wenn die Lehrer […] dich misshandelt haben, […] dann wird auch dafür gebetet. Wenn als Jugendlicher dein Vater oder deine Mutter dich mit deinen Geschwistern verglichen haben und dir gesagt haben, du bist zu nichts […] nütze, dann wird darüber gebetet. Und so geht man durch alle Phasen bis zur Ehe. […] Es gibt Leute, die furchtbar weinen, weil sie so

3 Methoden der Heilung

verletzt sind. Sie tragen so viele Dinge in ihrem Herzen. Weil der Vater sie verlassen hat, weil die Mutter sie verschenkt hat. […] Am Ende, wenn um ein Zeugnis gebeten wird, erzählen manche. [Jemand] sagt: ›Der Herr hat mich geheilt, weil ich verlassen wurde.‹«42 Praktizierende der inneren Heilung hielten das Heilungsgebet sowie andere Methoden der inneren Heilung für säkularen Psychotherapiemethoden überlegen, wie das folgende Zitat illustriert. Die Co-Pastorin der Kirche MSDJ begründete diese Überzeugung damit, dass in einer Psychotherapie immer um dieselben Themen zirkuliert und nichts verändert werde, während der Heilige Geist den Schmerz eliminieren und ein neues Herz einsetzen könne:43 »Wenn man zu einem Psychologen geht, wühlt der Psychologe alles auf, was da ist. Aber er heilt nicht. Der Psychologe kommt also und sagt: ›Komm in einer Woche, dann reden wir weiter.‹ Aber alles bleibt da und dreht sich im Kreis. Im Unterschied dazu hat der Heilige Geist die Macht, hineinzugehen und all den Schmerz herauszuholen, all den Mangel an Vergebung und all das, was er sieht, was er entfernen muss. Und wenn der Heilige Geist ein neues Herz einsetzen will, die Bibel sagt es […], der Heilige Geist hat diese Macht, es zu tun.«44 Kontext Die theoretische Grundlage der Ausbildung für den Beratungsdienst im CCCAJ, in dessen Kontext das Heilungsgebet die zentrale Methode zur inneren Heilung darstellte, bestand in erster Linie in einem Teil des Werkes des Jesuitenpriesters Benigno Juanes, der in Cuba, Venezuela und in der Dominikanischen Republik wirkte. Zwei seiner Bücher, deren Inhalte in den Seminaren für Beraterinnen und Berater gelehrt wurden, behandelten ausschließlich und ausführlich das Heilungsgebet, das er auch sanación de recuerdos (Heilung der Erinnerungen) nennt.45 Juanes betont, dass psychische und physische Heilung ohne den Glauben daran nicht möglich seien, so dass zunächst die Konversion der oder des Hilfe Suchenden festzustellen oder herbeizuführen sei.46 Er unterscheidet drei Arten des Gebets zur inneren Heilung und bezieht sich dabei auf die chilenische, der RCC angehörenden Autorin Nelly Astelli Hidalgo.47 Diese sind la oración de paz (das Friedensgebet), die dem inneren Frieden im Allgemeinen dienen soll, la oración puntual (das punktuelle Gebet), durch die die Folgen einzelner traumatisierender Erfahrungen geheilt werden sollen, und la oración de curación cronológica (das Gebet der chronologischen 42 43 44 45 46 47

Interview Nr. 52_2, 21.5.2015. Vgl. den Bibelvers Ezechiel 36,26. Interview Nr. 58, 1.6.2015. Vgl. Juanes 1994a, 1994b. Vgl. Juanes 1994a, 55f. Vgl. Astelli 1987.

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Heilung) oder la oración por la historia de una persona (das Gebet für die Geschichte einer Person).48 Die Darstellung des Gebets der chronologischen Heilung oder für die Geschichte einer Person entspricht der in Alajuela unter der Bezeichnung des Heilungsgebets vorgefundenen Praxis. Juanes erklärt dieses Gebet folgendermaßen: »Das chronologische Gebet nimmt die Geschichte einer Person vom Moment ihrer Empfängnis bis in die Gegenwart auf. Wir wissen, dass der Herr alle Ereignisse berühren wird, die in diesem Moment geheilt werden können.«49 Der Heilungsprozess könne bis zu ein Jahr dauern, denn mit einem einmaligen Gebet sei die Heilung üblicherweise nicht abgeschlossen. Besondere Aufmerksamkeit sollte die Lebenszeit von der Empfängnis bis zum Alter von sieben bis zehn Jahren erhalten. Zur Orientierung empfiehlt Juanes den von Barbara Shlemon Ryan dargestellten Ablauf der sieben Phasen des Lebens,50 die während des Gebets auf traumatisierende Ereignisse zu überprüfen seien, um durch diese verursachte Verletzungen zu heilen. Ziel des Gebets sei nicht das Vergessen der Ereignisse, sondern die Versöhnung mit den Erinnerungen.51 Juanes spezifiziert, wie im Rahmen dieses Gebets Problemen wie dem Mangel an Vergebung oder einem negativen Selbstkonzept zu begegnen sei und erklärt, wie erreicht werden könne, dass die Hilfe suchende Person schmerzhafte Erinnerungen im Lichte Christi sehen und sie durch seine Liebe ersetzen könne: Zunächst sei dem Herrn für alle Gaben des Hilfe suchenden Menschen zu danken. Dann solle dieser Mensch sich emotional in die schmerzhafte Situation zurückversetzen und Gott mitteilen, wie er sich darin fühle. In der Vorstellung erscheine nun Christus, spreche zu der Person und handle, indem er tröste und versöhne. Der Heilige Geist werde nun gebeten zu heilen und verwandle alle negativen Gefühle in die Liebe Christi. Allen Personen, die zu den schmerzhaften Erinnerungen beigetragen haben, solle vergeben werden. Wenn dies zunächst nicht möglich sei, sei für mehr Liebe für den Hilfe suchenden Menschen zu beten. Es helfe auch, Worte nachsprechen zu lassen, das Vaterunser zu beten oder sich eine Szene vorzustellen, in der Jesus vergeben habe, um selbst vergeben zu können.52 Juanes’ Ausführungen sind ebenso wie die der von ihm zitierten Astelli Hidalgo und Shlemon Ryan in einen relativ einheitlichen, internationalen Heilungsdiskurs innerhalb der Katholischen Charismatischen Erneuerung einzuordnen, innerhalb dessen unterdrückte, insbesondere vorgeburtliche, aber auch andere unbewusste und bewusste Erinnerungen als bedeutsame Bestandteile der Person gelten und im Zusammenhang der inneren Heilung wie etwa im Heilungsgebet viel Beachtung

48 49 50 51 52

Vgl. Juanes 1994a, 65-74. Astelli 1987, zit.n. Juanes 1994a, 72. Vgl. Shlemon Ryan 1982. Vgl. Juanes 1994b, 15. Vgl. Juanes 1994b, 71-78.

3 Methoden der Heilung

erfahren. Der Diskurs beruht auf einer Kombination psychologischer Erkenntnisse bezüglich Traumata und Entbehrungen mit theologischen Konzepten der Sünde und des Dämonischen. Die relative Einheitlichkeit des Diskurses ist darauf zurückzuführen, dass ab 1974, als Francis MacNutt ein Buch mit dem Titel Healing veröffentlichte, innerhalb weniger Jahre in den USA zahlreiche Bücher und Audiokassetten erschienen und Heilungsseminare angeboten wurden, die breitenwirksam rezipiert wurden. Die Schriften von MacNutt, von den Jesuiten Dennis und Matthew Linn, von Shlemon Ryan und anderen wurden zu Klassikern innerhalb der US-amerikanischen Bewegung und trugen zusammen mit Organisationen wie den Christian Healing Ministries, die 1980 in Jacksonville, Florida, von Francis und Judith MacNutt gegründet wurden, zur Entstehung eines konsistenten Systems ritueller Heilung und zu einem relativ einheitlichen Repertoire von Heilungspraktiken mit Ausstrahlungskraft über die USA und über die Katholische Charismatische Erneuerung hinaus bei.53 Die Verfasserinnen und Verfasser der Klassiker der charismatischen Heilung entwickelten wiederum ihre Systeme in der Tradition der Methodistin Agnes Sanford, die erstmals 1947 in ihrem Buch The healing light die göttliche Heilung psychischer Probleme beschrieb und als Mutter der inneren Heilung bezeichnet wird. Dass das Heilungsgebet zunächst insbesondere durch katholische Praktizierende und Lehrende der inneren Heilung geprägt worden war, zeigte sich im untersuchten Kontext anhand dreier Indizien: Erstens galt das Heilungsgebet im Beratungsdienst des CCCAJ als das Heilmittel schlechthin, während es in den evangelisch-pentekostalen Kirchen lediglich eine Heilungsmethode neben anderen war. Zweitens gehörten die Autorinnen und Autoren grundlegender Literatur bezüglich des Heilungsgebets der Katholischen Charismatischen Erneuerung an. Dies gilt nicht nur für die genannten Klassiker und Organisationen,54 sondern auch für die genannte nachweislich in Alajuela rezipierte Literatur. Und drittens wird im evangelisch-pentekostalen Sprachgebrauch bis auf wenige Ausnahmen von sanidad interior (innere Heilung) gesprochen, während in der RCC die Formulierung sanación interior (innere Heilung) verwendet wird. Die Begriffe werden synonym verwendet, wenn auch aus semantischer Perspektive sanidad den Zustand des Heilseins und sanación den Prozess des Heilwerdens bezeichnet. Das Heilungsgebet hingegen wird von Angehörigen aller Denominationen mit dem katholisch-charismatisch geprägten Begriff oración de sanación benannt. Die Verbreitung des Heilungsgebets über

53 54

Vgl. Csordas 1994, 25.110. Vgl. auch Garzon 2005, 149. Die Formulierungen des Heilungsgebets, die sich auf der Homepage der Christian Healing Ministries finden, gleichen denen der in Alajuela vorgefundenen Praxis. Vgl. christianhealingmin.org/images/CHM/downloads/Conception %20to %20Birth %20Prayer %20Updated.pdf [21.09.2018].

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die denominationellen Grenzen hinweg ist vermutlich in die Zeit des sogenannten charismatischen Frühlings zwischen 1965 und 1980 zu datieren.

3.3.2

Das Stellvertretungsgebet

Praxis Die hier als Stellvertretungsgebet bezeichnete Heilungsmethode wurde in nahezu allen als Orte der Heilung bezeichneten Kontexten eingesetzt. Der Ablauf des Gebets gestaltet sich folgendermaßen: Die betende Person fordert die Hilfe suchende Person auf, sich vorzustellen, die betende Person sei eine abwesende dritte Person, die die Hilfe suchende Person im Verlauf ihrer Biographie emotional verletzt hat. Dann fordert sie die Hilfe suchende Person auf, die verletzenden Ereignisse und die dadurch ausgelösten Emotionen zu beschreiben. Wenn dies erfolgt ist, bekennt die betende Person stellvertretend die Schuld der abwesenden dritten Person, bittet stellvertretend um Vergebung und versichert stellvertretend ihre Liebe zur Hilfe suchenden Person, die sie dann auffordert zu vergeben. Dieses Gespräch wird als Gebet verstanden, weil es als Gespräch in der Gegenwart Gottes, währenddessen dieser heilend an der Hilfe suchenden Person wirkt, interpretiert wird. Eine Informantin erzählte, das Stellvertretungsgebet sei für sie die erste Gelegenheit in ihrem Leben gewesen, ihre negativen Erfahrungen und dadurch verursachten Emotionen zu verbalisieren. Mehrere Informantinnen erklärten, dass diese Erfahrung ihnen half zu vergeben und zu heilen. Eine Beraterin, die der Kirche CCVN angehörte, berichtete, wie sie die Methode im Rahmen ihrer Beratungstätigkeit infolge göttlicher Eingebung angewandt habe: »Ich sagte ihr: ›Wir machen jetzt etwas anderes als das, was wir bisher gemacht haben. Ich bin deine Mutter und ich werde dich um Vergebung bitten.‹ […] Also bat ich sie um Vergebung, als wäre ich ihre Mutter, und ich bat sie um Vergebung für die Sachen, alles, was sie mir erzählt hatte, das Verlassen der Familie und wie die Mutter Unterschiede in der Behandlung der Kinder machte. […] Sie wollte sich immer an ihrer Mutter rächen. […] Und als ich sie dann um Vergebung bat, das war eine Technik, die Gott mir in dem Moment gab.«55 Die Pastorin der Kirche MAR erklärte, dass sie während Gottesdiensten in individuellen Gebeten das Stellvertretungsgebet praktizierte. Während sie betete, umarmte sie die Hilfe suchende Person: »Vielleicht lebt die Mutter woanders, dann wird für sie gebetet, […] damit sie der Mutter vergibt. Ich umarme sie, und ich sage: ›Denke, dass ich deine Mutter bin‹, und ich sage ihr: ›Tochter, ich liebe dich.‹ […] Und dann beginnt sie zu sagen:

55

Interview Nr. 73_2, 10.7.2015.

3 Methoden der Heilung

›Mami, warum hast du das getan? Warum, Mami?‹ Denn in diesem Moment fühlt sie, dass ihre Mutter zu ihr redet. Und dort beginnt Gott zu wirken und er befreit und heilt sie.«56 Die Co-Pastorin der Kirche MSDJ berichtete, dass sie selbst und andere leitende Personen ihrer Kirche von der Pastorin durch das Stellvertretungsgebet geheilt wurden. Inzwischen praktizierten sie diese Methode selbst in Gottesdiensten, um emotional Verletzten zu helfen zu vergeben. Sie erklärte, dass der Heilige Geist sie zu den Personen führe, die dieser Methode bedürften: »Manchmal schickt einen der Heilige Geist: ›Geh, denn da ist jemand, der vergeben muss‹, und dann schickt er einen, und man sagt ihm: ›Du musst vergeben, du hast Mangel an Vergebung. Also, wenn du willst‹, denn niemand ist verpflichtet, […] ›sag dieser Person, was du ihr sagen musst und vergib ihr. Binde sie los und binde dich selbst los‹, denn wer nicht vergibt/ […] Manchmal während der Gebetszeit im Gottesdienst fühlt man im Geist, dass man zu einer Person gehen und mit ihr reden sollte, über Dinge, die nur der Geist und sie selbst wissen. Das hilft sehr, zu vergeben.«57 Auch die Pastorin der Kirche CCSR erzählte, dass sie, während sie für andere betete, auf die beschriebene Weise die Rollen Dritter einnehme, die jenen Leid zugefügt hätten. Während andere keinen Unterschied zwischen der Stellvertretung Lebender und Verstorbener machten, war es dieser Pastorin wichtig zu betonen, dass sie ausschließlich die Rollen lebender Personen einnehme. Sich in die Rollen Verstorbener hineinzubegeben, würde bedeuten, die Geister der Toten zu rufen, und dies wäre in spiritueller Hinsicht gefährlich. Folglich verstand sie die Repräsentation Abwesender nicht ausschließlich als Repräsentation, sondern als spirituelle Vergegenwärtigung: »Wir sollen nicht die Geister der Toten holen, wir sollen sie nicht rufen.«58 Eine Informantin berichtete, dass das Stellvertretungsgebet fester Bestandteil des Programms einer Frauenrüstzeit der Kirche IM war, an der sie teilgenommen habe. Die Durchführung des Stellvertretungsgebets für die große Zahl von Teilnehmerinnen sei effektiv organisiert worden, indem sich im Anschluss an eine Predigt mehrere Leiterinnen aufgestellt hätten, die nacheinander jeweils eine Mutter, einen Vater, einen Bruder oder eine Schwester repräsentiert hätten. Die Teilnehmerinnen seien aufgefordert worden, sich der Leiterin oder nacheinander den Leiterinnen zuzuordnen, die das Familienmitglied oder die Familienmitglieder repräsentierte oder repräsentierten, in Bezug auf das oder die die Teilnehmerinnen destruktiv 56 57 58

Interview Nr. 40, 23.4.2015. Interview Nr. 50, 15.5.2015. Interview Nr. 68, 18.6.2015.

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wirkende Emotionen verspürt hätten. Daraufhin hätten die Leiterinnen nacheinander für alle Teilnehmerinnen gebetet, die sich ihnen zugeordnet hätten, indem sie die Rollen der Personen eingenommen hätten, die diese verletzt hätten, so dass Gott die emotionalen Verletzungen habe heilen können. Die Informantin berichtete, wie sie die Leiterin wählte, die einen Vater repräsentierte und ihr gegenüber ihre Anklagen gegen ihren Vater formulierte. Infolge dieser Erfahrung habe sie ihm vergeben und seelisch heilen können: »Die Schwestern, die in den Vollversammlungen sprechen, beginnen vom Thema zu reden. Dann fängt man an zu weinen. Und dann kommen sie manchmal und beten für einen. Jede für sich. […] Bei mir war es das Fehlen meines Vaters, der nicht bei uns war. Das eine Mal sagte die Schwester: ›Komm und stell dir vor, dass ich dein Vater bin.‹ […] Ich kannte sie nicht einmal. […] Sie sagte einem: ›Stell dir vor, dass ich dein Vater bin und sag mir, was du mir gerne gesagt hättest.‹ Und dann sagt man Sachen, warum er nicht da war und all das. Und dann kommt Gott und heilt einen, denn danach, wenn jemand mit einem darüber spricht, spürt man nicht mehr diesen Schmerz oder diesen Groll, den man gespürt hat. […] Wir sind alle dorthin gekommen, wir waren in einer Reihe, vier oder fünf. […] Genauso wurde es gemacht mit einer, die die Mutter repräsentierte. Und danach repräsentierte eine den Bruder oder die Schwester. […] Die Schwester sagt: ›Ich will, dass du mir vergibst für das, was ich getan habe. […] Es tut mir leid, dass ich mich nicht um dich gekümmert habe, es tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen habe.‹ […] Ich bin sozusagen nur zu meinem Vater zum Reden gegangen. […] Und so wurden Viele von diesen Verletzungen der Vergangenheit geheilt.«59 Eine Informantin berichtete, dass der Pastor der Kirche MANAIA sie stellvertretend für ihren Vater um Vergebung bat und dass sie in seiner Umarmung die Reue ihres Vaters spürte. Ihr Sohn erklärte, dass die Methode hilft, verborgene Emotionen auszudrücken und sich dadurch von biographisch bedingten Verletzungen zu befreien: »Er kommt und fragt dich: ›Wie fühlst du dich mit deinem Vater? Wenn du ihm irgendetwas sagen wollen würdest, was würdest du ihm sagen?‹ Und dann kannst du es loswerden, du sagst ihm die Sachen, die du sagen willst. Das befreit einen, denn wenn du redest und es formulierst, wirst du es los, das hilft dir zu vergeben. Denn zu schweigen und alles für sich zu behalten, ist schlimmer.«60 Die zitierten Aussagen zeigen, dass das Stellvertretungsgebet eine kathartische Wirkung entfalten kann, indem es dazu führt, dass bezüglich des biographischen

59 60

Interview Nr. 39, 23.4.2015. Interview Nr. 62, 5.6.2015.

3 Methoden der Heilung

Kontextes Emotionen wie Trauer, Schmerz, Wut und Ekel angeregt und ausgedrückt werden. Die mit dem Gebet verbundenen Umarmungen tragen möglicherweise dazu bei, nachträglich einen erlittenen Mangel an Bedürfniserfüllung zu kompensieren. Kontext Die dargestellte Praxis ähnelt Gebeten, die als A father´s blessing oder A mother´s blessing bezeichnet und wie das Heilungsgebet von charismatischen Organisationen wie den Christian Healing Ministries praktiziert und gelehrt werden. Auf deren Homepage finden sich entsprechende Formulierungen, die mit einer Aufzählung möglicher Verfehlungen des Vaters oder der Mutter durch die betende Person beginnen, die zunächst von diesem oder dieser in der dritten Person Singular spricht, um dann mit folgenden Worten dessen oder deren Rolle einzunehmen: »Wenn du bereit bist, die Worte eines gebrochenen Vaters/einer verletzten Mutter zu hören, der/die mit dir spricht, bitte schließ deine Augen für ein paar Minuten. Mir ist klar, dass ich nicht dein Vater/deine Mutter bin, aber bitte erlaube mir, ihn/sie zu vertreten.«61 Daraufhin wird Gott gebeten, die Hilfe suchende Person von Verbitterung zu befreien und ihr das Bewusstsein der Liebe des Vaters oder der Mutter zu vermitteln. Die betende Person benennt in der ersten Person Singular dessen oder deren Fehlverhalten, wiederholt mehrfach, dass es ihm oder ihr leid tut und bittet Gott, die Hilfe suchende Person von allen aus diesem Fehlverhalten resultierenden Schmerzen zu befreien. Diese Methode basiert auf den Überzeugungen, dass erstens die Gründe für menschliches Fehlverhalten in schädigenden Kindheitserlebnissen bestehen und dass zweitens es denjenigen, die unter dem Fehlverhalten gelitten haben, hilft, diese Gründe zu verstehen, um vergeben und heilen zu können. Daher folgt diese Formulierung: »Ich bete dafür, dass Gott dir hilft zu verstehen, dass die Verletzungen und der Schmerz, die ich dir verursacht habe, aus meiner eigenen Kindheit stammen. Das hat mich eingeschränkt, und es tut mir so leid, wenn es dich eingeschränkt hat.«62 Es folgt eine Bitte um Vergebung. Das Gebet endet:

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www.christianhealingmin.org/index.php/personal-ministry/sample-prayers-and-blessings/ a-father-s-blessing [27.9.2017]; www.christianhealingmin.org/index.php/personal-ministry/ sample-prayers-and-blessings/a-mother-s-blessing [27.9.2017]. www.christianhealingmin.org/index.php/personal-ministry/sample-prayers-and-blessings/a -father-s-blessing [27.9.2017]; www.christianhealingmin.org/index.php/personal-ministry/ sample-prayers-and-blessings/a-mother-s-blessing [27.9.2017].

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»Meine geliebte Tochter, ich liebe dich. Ich bin so stolz auf dich. Ich bin so glücklich, dass du geboren wurdest. Sei befreit, um die Person zu sein, als die Gott dich geschaffen hat. Sei frei, meine Liebe, und lebe!«63 Vom Einsatz von Rollenspielen in Heilungssitzungen, in denen die betende Person stellvertretend die Rolle einer abwesenden Person einnimmt, kann spätestens seit 1976 ausgegangen werden, als die US-amerikanische baptistische Predigerin Ruth Carter Stapleton dieses Vorgehen beschrieb.64 Die Methode verbreitete sich unter katholischen und evangelischen Pentekostalen. Dies zeigt sich daran, dass sowohl die Organisation Christian Healing Ministries als auch die G12 Vision-Bewegung auf sie rekurriert.65 In Alajuela schien die Methode hingegen ausschließlich in evangelisch-pentekostalen Kirchen und nicht in den Gemeinschaften der RCC praktiziert zu werden. Obwohl sie in mehreren evangelisch-pentekostalen Kirchen Alajuelas praktiziert wurde, fand die Verfasserin im Unterschied zum Heilungsgebet und zum Theophostischen Gebetsdienst sowie zur Beratungspraxis im Allgemeinen kein Schulungsmaterial für die Praxis des Stellvertretungsgebets. Es scheint, dass die Methode dort durch Praxis und Erfahrung tradiert wird.

3.3.3

Der Theophostische Gebetsdienst

Praxis El Ministerio de Oración Teofóstic (der Theophostische Gebetsdienst) ist in Costa Rica eng mit einer gebürtigen Alajuelenserin und Pharmazeutin verknüpft, die hier Marta genannt wird und es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, für die Verbreitung dieses Dienstes zu sorgen. Als dessen Zweck gab sie an, Menschen von negativen Emotionen und Gedanken infolge seelischer Verletzungen, die ihnen im Verlauf ihrer Biographie zugefügt wurden, zu heilen. Die Methode dient dazu, durch spezielle Fragetechniken von einer gegenwärtig empfundenen, persönlich oder sozial destruktiv wirkenden Emotion zu deren Ursache vorzudringen, die in einem infolge emotionaler Verletzungen entstandenen falschen Selbstkonzept bestehe, dessen Einzelaspekte als mentiras (Lügen) bezeichnet werden. Im Gebet werden diese Lügen Jesus präsentiert, und dieser offenbare den Hilfe Suchenden durch

63

64 65

www.christianhealingmin.org/index.php/personal-ministry/sample-prayers-and-blessings/a -father-s-blessing [27.9.2017]; www.christianhealingmin.org/index.php/personal-ministry/ sample-prayers-and-blessings/a-mother-s-blessing [27.9.2017]. Vgl. hierzu auch Althouse 2016, 378f. Vgl. Stapleton 1977, 21f. Vgl. dazu auch Harrison 1989, 125f. Die Information, dass Rollenspiele in Gebeten zur inneren Heilung während Rüstzeiten nach dem Konzept der G12 Vision-Bewegung praktiziert werden, stammt von Kimberley Alexander, Professorin an der Regent University School of Divinity. E-Mail vom 25.5.2016.

3 Methoden der Heilung

Visionen, Auditionen oder das Gefühl von Frieden seine Wahrheit, die die Lügen widerlegen und ersetzen soll, so dass das Selbstkonzept transformiert wird. Marta konvertierte 1997 vom Katholizismus zur Iglesia Unidos por Cristo in San José. Etwa 1999 lernte sie Andrea Panozzo kennen, eine Mitarbeiterin des Gründers des Theophostischen Gebetsdienstes Smith, als diese ihren Mann während einer Geschäftsreise nach Costa Rica begleitete. Panozzo und ihr Mann hätten für Martas sterbenskranken Bruder gebetet, der dadurch zwar keine körperliche, aber seelische Heilung erfahren habe: »1997 verkaufte ich sehr erfolgreich medizintechnische Produkte. […] Aber ich hatte zwei Ehemänner verloren, trank viel Alkohol und rauchte und trotz des Erfolgs […] war ich auf einem schiefen Weg. Ich empfand immer mehr Schmerz, immer mehr Leid. […] Schwere Momente des Lebens, die noch schwerer wurden, als mein Bruder, der mein bester Freund war, […] an AIDS erkrankte. […] Er verfiel in eine Depression, so dass er die Medikamente nicht nahm. Also verschlechterte sich sein Zustand. […] Und es kamen Nordamerikaner, […] sie waren die rechte Hand von Doktor Edward Smith. […] Der Mann war der Chef meines Schwagers in Chicago. […] Sie mussten kommen, um ein Projekt der Firma in Costa Rica zu beaufsichtigen, und mein [anderer] Bruder erzählte ihnen von meiner Last. […] Sie besuchten mich in der Apotheke. Und sie erzählten mir von all dem […] und sie entschieden […] mir alle Materialien zu schenken, […] ungefähr 1999. Und sie entschieden, für meinen Bruder zu beten. […] Ich sah Gottes Herrlichkeit. Mein Bruder wurde nicht nur erlöst, sondern er empfing auch eine große Heilung und seine Klage verwandelte sich in Freude. […] Er starb, aber er hinterließ den Theophostischen Gebetsdienst.«66 Marta erklärte, dass es ihr Wunsch gewesen sei, die Methode von offiziell kirchlicher Seite beurteilen zu lassen, bevor sie sich ihr eingehender gewidmet habe. Daher habe sie die entsprechenden Materialien Juan Kessler, einem in evangelischen Kreisen Costa Ricas renommierten Theologen und Schriftsteller, vorgelegt und er habe sie für gut befunden. Er habe sie auch an die Kirche CCVN und an deren Pastor weiterempfohlen, der sie seitdem in allen Vorhaben unterstütze. Dieser Kirche gehörte sie nun an, wenn auch ihre Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Theophostischen Gebetsdienst offiziell nicht als Dienst dieser Kirche galten, sondern im Rahmen der von ihr gegründeten Stiftung Fundación Raphá67 stattfanden. Dennoch gehörte die Mehrheit der Personen, die sie mit Hilfe des Theophostischen Gebetsdienstes behandelt und dafür ausgebildet hatte, der Kirche CCVN an und in deren Räumen führte sie überwiegend die Schulungen durch. In einigen Kirchen habe man jedoch misstrauisch auf den Theophostischen Gebetsdienst reagiert: 66 67

Interview Nr. 53, 26.5.2015. Vgl. www.facebook.com/fundacion.rapha [26.2.2016].

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»Mit viel Argwohn von den Kirchen, sie sahen das als New Age, es sei satanisch, es sei hypnotische Regression. […] Viel Widerstand gegen die Einführung des Theophostischen Gebetsdienstes in Costa Rica.«68 Nach weiteren Reisen Panozzos nach Costa Rica habe Marta 2001 ein Seminar zur Ausbildung im Theophostischen Gebetsdienst organisiert, das Panozzo und Smith in der Iglesia Vida Abundante (IVA) in San Antonio de Coronado durchgeführt hätten. Marta erzählte, wie sie sich während des Seminars als Freiwillige zur Präsentation der Methode durch Smith angeboten habe: »Wir machten eine erste Veranstaltung […] 2001. Es kamen Leute aus Europa, aus Chile, aus Venezuela, […] aus Panama, aus den USA und so weiter, wir waren ungefähr 300 Personen. […] Er war sympathisch, denn in einem großen Saal, nachdem er die Methode erklärt hatte, sagte er: ›Gut, jetzt brauche ich eine Person.‹ Ich zuerst, es war mir egal, ich wollte meine Seele heilen. Vor dem Publikum, egal: ›Das bin ich, lernt mich kennen.‹ […] Er hat oft für mich gebetet.«69 Smith sei bis zum Zeitpunkt der zitierten Gespräche fünfmal in Costa Rica gewesen, um Seminare zur Ausbildung im Theophostischen Gebetsdienst zu geben. Marta sei fünf Mal in die USA gereist, um sich für den Theophostischen Gebetsdienst aus- und fortbilden zu lassen. 2005 habe sie mit der Übersetzung der Unterrichtsmaterialien ins Spanische begonnen: »Es war sehr hart, denn Doktor Smith veröffentlichte zuerst das Buch von 2000. 2005 haben wir angefangen zu übersetzen, mit dem ganzen Material, das Ausbildungsprogramm für 16 Wochen. […] Alles haben wir ins Spanische übersetzt. Wir waren fertig um auszubilden, und da rief mich Andrea Panozzo an und sagte mir: ›Fang nicht an mit der Ausbildung, denn Doktor Smith hat gerade das von 2007 herausgebracht.‹ Und wir fingen an, das von 2007 zu übersetzen und das ganze Ausbildungsprogramm. Die DVDs, die wir mit Untertiteln versehen mussten und alles, alles.«70 Der ursprüngliche Zweck der Fundación Raphá bestand darin, der institutionelle Rahmen für Ausbildungskurse im Theophostischen Gebetsdienst in verschiedenen Kirchen zu sein. Jedoch erklärte Marta, dass die Stiftungstätigkeit nicht auf den Theophostischen Gebetsdienst begrenzt sei, sondern der Heilung von Körper und Seele insgesamt diene. Um Menschen besser zu dieser Heilung verhelfen zu können, studiere sie nun auch Psychologie. Zudem sei sie interessiert an unterschiedlichen medizinischen und spirituellen Verfahren:

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Interview Nr. 53, 26.5.2015. Interview Nr. 53, 26.5.2015. Interview Nr. 53, 26.5.2015.

3 Methoden der Heilung

»Da ich Pharmazeutin bin, interessiert mich die ganzheitliche Gesundheit sehr. […] Uns interessiert die alternative Medizin. Ich komme gerade von einer Versammlung von Herbalife, um ein bisschen ihre Produkte kennenzulernen, die natürliche Medizin. Auch, die gesunde Ernährung anzubieten, denn es gibt Unwissenheit. […] Im Radio über die Probleme des Suizids zu sprechen, […] Überbringer der Wahrheit und der Bedeutung von Heilung zu sein. […] Die Reinheit der Seele und des Herzens sind sehr wichtig. […] Die innere Heilung interessiert uns sehr in Theophostik.«71 Im August 2012 provozierte die Ankündigung eines von der Fundación Raphá geplanten Vortrags mit dem Titel Cómo prevenir la homosexualidad (Wie beugt man der Homosexualität vor) einen medialen Aufschrei.72 Infolge von Drohungen wurde die Veranstaltung schließlich abgesagt. Dennoch war Marta überzeugt, dass Homosexualität der Heilung bedarf: »Es ist mir ein wichtiges Anliegen, Personen zu begleiten, die das brauchen aufgrund von […] Umständen der sexuellen Identität, […] wir helfen hier möglichst allen Personen.«73 Des Weiteren erklärte sie, dass die Stiftung und der Theophostische Gebetsdienst ihr so wichtig seien, dass sie ihre Arbeit als Apothekerin aufgegeben habe und sich nun überwiegend durch Spenden für ihre fast täglich praktizierte gebetstherapeutische Tätigkeit sowie durch Kursgebühren finanziere: »Ich habe den Herrn so viele Wunder an so vielen Personen wirken sehen, dass ich mich entschied, hier zu bleiben. Es ist schwierig gewesen, weil ich kein Einkommen habe, wie ich es früher hatte. Manchmal erhalte ich […] Spenden. […] Es gibt Leute, die nicht bezahlen können. Denen werde ich nichts berechnen. […] Es gibt Leute, die eine freiwillige Spende geben. Von den Leuten, die aus San José kommen, erbitte ich immer […], dass sie mir eine Spende von 12.000 Colon74 pro Stunde geben. […] Ich will nicht in einer Apotheke sein. Ich bitte Gott: Ich will hier sein. […] Es gibt 1000 Pharmazeuten, die ausgebildet sind, um in einer Apotheke zu sein, [aber nur] sehr wenige Leute kennen dies.«75 Zur Durchführung der Seminare zur Ausbildung im Theophostischen Gebetsdienst kooperierte Marta von Anfang an mit verschiedenen Kirchen. In mehreren Kir-

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73 74 75

Interview Nr. 53, 26.5.2015. Vgl. www.youtube.com/watch?v=ooGfWkcnQ-g; www.lomioes.com/recomendaciones/fundacion-rapha-te-dice-como-prevenir-la-homosexualidad [25.1.2019]; www.ladetestable.wo rdpress.com/tag/fundacion-rapha/ [25.1.2019]. Interview Nr. 53, 26.5.2015. Dieser Betrag entsprach 2015 etwa 20 €. Interview Nr. 53, 26.5.2015.

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chen, insbesondere in der Kirche IVA in San Antonio de Coronado, hatte dies dazu geführt, dass die Methoden des Theophostischen Gebetsdienstes in regulären Beratungssitzungen praktiziert wurden. Die Seminare dauerten bei wöchentlichen Sitzungen von etwa zweieinhalb Stunden drei bis vier Monate.76 Außer in der Kirche IVA in San Antonio de Coronado hatte Marta Kurse in der Kirche IVA in Cariari, in der methodistischen Kirche El Mesías im Stadtzentrum Alajuelas, in der Kirche CCVN, in einer weiteren den AD angehörenden Kirche im alajuelensischen Stadtteil Barrio San José und an der Bibelschule ESEPA in San José geleitet. Um einen Kurs in Liberia im Nordwesten des Landes zu geben, sei sie vier Monate lang jede Woche etwa 200 km dorthin und wieder zurück gereist, doch das Ergebnis sei frustrierend gewesen, weil nur fünf oder sechs Personen am Ende gut ausgebildet gewesen seien. Über den Kurs, den sie an der Bibelschule ESEPA gab, urteilte sie hingegen: »Das war der wichtigste. 80 Personen haben sich eingeschrieben und 70 Personen haben erfolgreich abgeschlossen. Aber es war ein anderes Niveau. Da waren viele Theologen, […] Psychologen, Berater. […] Bei den nächsten Ausbildungskursen muss das das Ziel sein. Personen, die schon einen Ruf haben zu handeln, zu heilen, den Gefangenen Freiheit zu geben.«77 Sie schätzte, dass etwa 250 Personen in Costa Rica die Ausbildung abgeschlossen hatten, von denen einige Katholikinnen und Katholiken seien, aber die meisten verschiedenen evangelischen Kirchen angehörten. Einige seien Psychologinnen und Psychologen, Pastorinnen und Pastoren, doch überwiegend nähmen Laien teil. Diese praktizierten den Theophostischen Gebetsdienst sowohl in ihren kirchlichen als auch in ihren beruflichen Kontexten wie im Kinderkrankenhaus in San José, im evangelischen Krankenhaus Clínica Bíblica und in der Arbeit für die Nichtregierungsorganisation Fundación Rahab, die sich für Opfer von Frauenhandel und Sexgewerbe einsetzt. Auch ein Gefängniskaplan habe das Seminar abgeschlossen, der die Methode in der Betreuung von Häftlingen anwende. Eine Seminarteilnehmerin, die als Herbalifevertreterin tätig war, sagte, sie habe sich für diese Ausbildung entschieden, um ihren Kundinnen und Kunden nicht nur in Gesundheitsfrage, sondern in umfassenderer Weise helfen zu können. Zur Zeit der zitierten Gespräche bereitete Marta einen Vortrag über den Theophostischen Gebetsdienst für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Krankenhauses in Alajuelas vor. Ihr Kontakt zum Krankenhaus war über eine Unterstützerin entstanden, die als medizinische Laborantin dort arbeitete. Diese erzählte:

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Vgl. Panozzo/Smith 2007; Valverde 2015. Interview Nr. 53, 26.5.2015.

3 Methoden der Heilung

»Ich habe mich verpflichtet, dass ich Marta in Theophostik helfen werde. […] Im Moment mache ich Werbung im Krankenhaus, ich sage allen Personen Bescheid, […] damit sie zur Versammlung im Juli kommen, […] die sich für Sachen von Gott interessieren. […] Zum Beispiel die Leute, die in der Palliativbetreuung arbeiten. […] Mit den Krebspatienten. Die Patienten, die im Krankenwagen transportiert werden. Die Patienten von einem Ort zum anderen bringen, die reden viel mit den Patienten, dann kommen die Patienten manchmal aufgewühlt, traurig. […] Sie brauchen Handwerkszeug. Es gibt auch viele mystische Krankenschwestern. […] Die Dame aus der Personalabteilung, die Christin ist, die aus der Sozialarbeit, mentale Gesundheit, Psychologie, der Krankenhausdirektor, also, ich mache Werbung, […] damit sie zur Theophostikversammlung kommen, die hier in dieser Kirche [d.h. die Kirche CCVN] stattfinden wird, damit sie am Kurs teilnehmen. […] Ich will dem Herrn dienen […] in der Kirche und im Krankenhaus.«78 Eine katholische Psychologin, die stellvertretende Vorsitzende der Fundación Raphá war, hatte die Methoden des Theophostischen Gebetsdienstes im Rahmen eines Psychologieseminars an der evangelischen Hochschule Universidad Cristiana del Sur gelehrt. Obwohl es Psychologinnen und Psychologen in Costa Rica offiziell verboten war, in der Therapie religiöse Praktiken anzuwenden, war dies in der Praxis verbreitet, und nach Martas Aussage praktizierten mehrere professionelle Psychologinnen die Methoden des Theophostischen Gebetsdienstes in ihrer therapeutischen Praxis. Sie bedauerte, dass die Quote derer, die im Anschluss an die Seminare das Gelernte praktizierten, gering sei. Daher begrüßte sie es, dass Smith die Methoden unter dem neuen Namen Ministerio de Oración Transformación (TransformationsGebetsdienst) vereinfacht und die Ausbildung entsprechend verkürzt hatte. Für den November 2015 war ein Seminar mit Smith in der Kirche IVA in San Antonio de Coronado geplant, dessen Ziel es war, die einfachere Ausbildung vorzustellen. Darüber hinaus plante auch Marta selbst einen Strategiewechsel: Sie wolle die Kurse räumlich auf die Kirche CCVN konzentrieren, um zusätzliche Übungstreffen und Rüstzeiten zur Vertiefung sowie eine weiterführende Begleitung und Supervision gewährleisten zu können. Außerdem wolle sie Kursteilnehmende ermutigen, ihr zuzuschauen, wenn sie selbst den Theophostischen Gebetsdienst in Sitzungen mit Hilfe Suchenden praktiziere. Kontext Der ursprüngliche, englische Name des Theophostischen Gebetsdienstes Theophostic Prayer Ministry setzt sich aus den Begriffen theos (Gott) und phos (Licht) zusammen. Der damit verbundene Seelsorgeansatz wurde 1995 in den USA von

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Interview Nr. 67, 17.6.2015.

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Edward Smith vorgestellt, einem Pastor der Southern Baptist Church. Dieser erklärte, dass er jahrelang mit Frauen gearbeitet hatte, die in der Kindheit sexuell missbraucht worden waren. Er habe erlebt, dass er mit Hilfe der ihm bekannten Formen der Begleitung und Beratung ihren Schmerz letztlich nicht habe heilen können. Als er daher Gott um Hilfe gebeten habe, habe er erfahren, dass er als Berater sich selbst zurücknehmen und stattdessen Christus einladen müsse, um zu heilen.79 Von da an habe er begonnen, den Theophostischen Gebetsdienst zu entwickeln. Diese Methode definiert er als »absichtliches, zielgerichtetes Gebet, das zu einer authentischen Begegnung mit der Gegenwart Christi führt, aus der eine Erneuerung des Denkens und in der Folge ein verwandeltes Leben resultiert.«80 Der 2015 vollzogene Namenswechsel zu Transformation Prayer Ministry (Transformations-Gebetsdienst) soll für eine Vereinfachung des Gebetsdienstes und der Ausbildung in dieser Methode stehen.81 Hier wird dennoch vom Theophostischen Gebetsdienst gesprochen, weil dies dem zum Zeitpunkt des Forschungsaufenthaltes in Costa Rica verwendeten Namen entspricht. Wie das Heilungs- und das Stellvertretungsgebet beruht auch der Theophostische Gebetsdienst auf der aus der Psychoanalyse stammenden Annahme, dass der gegenwärtige emotionale Schmerz eines Menschen, der durch das Gebet geheilt werden soll, meistens nicht aus seiner gegenwärtigen Situation resultiert, sondern seine Wurzeln in Kindheitserfahrungen hat. Das Ziel des Theophostischen Gebetsdienstes ist ebenso wie das des Heilungs- und des Stellvertretungsgebets die Heilung von sozial und persönlich destruktiv wirkenden Emotionen. Um dieses Ziel zu erreichen, rekurrieren alle drei Gebetsmethoden auf die Vergegenwärtigung schmerzhafter Erinnerungen und auf die Bitte, dass Gott die damit verbundenen seelischen Schmerzen heilen möge. Das theoretische Spezifikum des Theophostischen Gebetsdienstes besteht in der Ausdifferenzierung möglicher Überzeugungen, die einem negativen Selbstkonzept zugrunde liegen können. Diese Überzeugungen bezeichnet Smith als Lügen, und er führt sie auf seelische Verletzungen in der Kindheit zurück, denen das verletzte Kind eine negative Deutung in Bezug auf sich selbst gab. Das dadurch entstandene negative Selbstkonzept wirke sich im späteren Leben in Konfliktsituationen aus.82 Smith unterscheidet zwischen Angstlügen wie »Wenn ich vertraue, werde ich wieder verletzt werden«, Befleckungslügen wie »Ich bin schmutzig«, Entwertungslügen wie »Ich bin nichts wert« und anderen.83 Um diese Lügen aufzudecken, wird der oder die zu Heilende aufgefordert, eine Situation in der Vergangenheit zu erinnern, in der eine gegenwärtige 79 80 81 82 83

Vgl. die Audiodatei unter www.theophostic.com/page122161022.aspx [24.2.2016]. Smith 2007, 11. Vgl. www.theophostic.com/new_training.aspx [3.3.2016]; www.transformationprayer.org/ [3.3.2016]. Vgl. Smith 2007, 23-30. Vgl. Smith 2007, 55-75.

3 Methoden der Heilung

Emotion möglichst erstmalig empfunden wurde. In diesem Moment der Behandlung kommt das praktische Spezifikum des Theophostischen Gebetsdienstes zum Tragen, nämlich spezielle Fragetechniken bezüglich der empfundenen Emotion, um in der erinnerten Situation die Lüge an ihrem Ursprungsort zu identifizieren. Ist die Lüge ausgesprochen, wird Jesus um seine Wahrheit gebeten, um die Lüge durch sie zu ersetzen. Menschen berichten, in diesem Moment in Gedanken einen Satz wahrgenommen zu haben, der die Lüge widerlegt, innere Bilder gesehen zu haben, Jesu Nähe oder lediglich inneren Frieden empfunden zu haben. Um den Erfolg der Behandlung zu überprüfen, werden die Personen dann aufgefordert, sich die zuvor als schmerzhaft empfundene Erinnerung erneut zu vergegenwärtigen. Fühlen sie keinen Schmerz mehr, gilt die Behandlung als erfolgreich. Fühlen sie den Schmerz erneut, wird angenommen, dass weitere Lügen bezüglich des Selbstkonzepts existieren, die behandelt werden müssen.84 Obwohl Marta sich als überzeugte Vertreterin des Theophostischen Gebetsdienstes und Anhängerin seines Gründers Smith gab, ging sie im Zusammenhang der Lehre und Praxis des Theophostischen Gebetsdienstes durchaus auch eigene Wege, indem sie Methoden der spirituellen Befreiung in den Theophostischen Gebetsdienst integrierte und diesen auf diese Weise transformierte. Smith’ Position zur geistlichen Kampfführung hatte sich zwischen 1999, als das erste Handbuch über den Theophostischen Gebetsdienst erschien, und 2007, als das letzte erschien, gewandelt. Während er früher häufig selbst im Rahmen des Theophostischen Gebetsdienstes Dämonen ausgetrieben und auch dazu angeleitet habe,85 rät er 2007 außer in seltenen Ausnahmefällen davon ab. In Smith’ Distanzierung von der geistlichen Kampfführung spiegelt sich die in jenen Jahren stattfindende Diskussion innerhalb der Southern Baptist Church wider, der er angehörte, insofern deren Missionsorganisation International Mission Board und deren Universität Southwestern Baptist Theological Seminary 2005 und 2006 die Glossolalie und Praktiken der charismatischen Bewegung im Allgemeinen ablehnten.86 Charles E. Lawless, Professor jener Hochschule, schrieb 2001 über die geistliche Kampfführung, dass der Teufel nicht durch diese, sondern allein durch die mächtige Gegenwart gläubiger Christen bedroht wird und dass die Fokussierung auf den Teufel das Wachstum mächtiger Kirchen behindert. Vor dem Teufel brauche ein Christ sich nicht zu fürchten, weil Gott mächtiger sei.87 Ähnlich begründet auch Smith seine Distanzierung von der geistlichen Kampfführung: Der Teufel und die Dämonen hätten seit 84 85 86

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Vgl. Smith 2007, 101-125. Vgl. Smith 2007, 140f. Weil die vorherigen Ausgaben nicht erhältlich sind, sind diese Informationen dem entnommen, was Smith 2007 bezüglich seiner früheren Position erläutert. Vgl. www.imb.org/updates/storyview.aspx?StoryID=3834#.Vz6_nvmLTtQ [20.5.2016]; www. imb.org/updates/storyview.aspx?StoryID=3839#.Vz6_xfmLTtQ [20.5.2016]; www.swbts.edu/ news/releases/wrap-seminary-trustees-fall-2006-meeting [20.5.2016]. Vgl. Lawless 2001, 40f.

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Gender und Heilung

Jesu Kreuzestod keine eigene Macht mehr, sondern lediglich die, die der Mensch ihnen zugestehe. Daraus folgert Smith, dass der Teufel Macht über einen Menschen nur erhalten kann, indem er ihm falsche Überzeugungen oder Lügen bezüglich seines Selbstkonzeptes einpflanzt.88 Also seien Dämonen nicht durch geistliche Kampfführung zu besiegen, sondern indem die Lügen durch Gottes Wahrheit ersetzt würden. Smith unterscheidet nicht zwischen spirituellen Problemen, die durch Dämonen verursacht und spirituell zu bekämpfen sind, und seelischen Problemen, die seelsorglich zu behandeln sind, sondern er unterscheidet zwischen Dämonen, die spirituelle Macht haben und mit dem Hinweis auf Jesus Christus leicht und schnell zu vertreiben sind, und Dämonen, deren Macht psychisch begründet ist, insofern sie auf einer Lüge basiert. Solche Dämonen seien durch die seelsorgliche Zuwendung zu vertreiben, indem die Lüge durch Jesu Wahrheit ersetzt werde. Wenn im Verlauf einer Sitzung, in der der Theophostische Gebetsdienst praktiziert wird, ein Dämon der erstgenannten Art durch die Hilfe suchende Person spreche oder handle oder diese Person ihn höre oder sehe, müsse nicht die Theophostikbegleiterin oder der -begleiter diesen bekämpfen, sondern die Person selbst müsse ihm befehlen zu verschwinden, weil der freie Wille einer Person Macht über Dämonen habe. Nur in seltenen Fällen lasse sich die Manifestation auf diese Weise nicht beenden, so dass geistliche Kampfführung durch die Begleiterin oder den Begleiter notwendig sei. In diesem Fall sei folgendermaßen vorzugehen: »Zuerst: Sieh der Person in die Augen und sprich sie mit ihrem Namen an, […] als zweites bitte sie um Erlaubnis, den Dämon direkt anzusprechen. […] Sag: ›Ich befehle dir im Namen Jesu, dass du schweigst und aufhörst, auf irgendeine Weise zu handeln. Andernfalls forderst du vorsätzlich den Herrn Jesus heraus. Gina hat gesagt, dass sie nicht will, dass diese Manifestation weitergeht.‹«89 Die spirituelle Macht eines Dämons sei mit diesen Sätzen besiegt. Falls die Manifestation nun nicht ende, liege das Problem in einer falschen Überzeugung der Person, also in einer Lüge, die zu entlarven sei, um dem Dämon seine Macht zu nehmen. Personen hätten in Wahrheit meistens keine Probleme mit Dämonen, sondern mit ihren eigenen Überzeugungen und Entscheidungen.90 Marta kannte Smith’ ältere und neuere Aussagen über die Praxis des Befreiungsdienstes im Rahmen des Theophostischen Gebetsdienstes. Sie erklärte die Veränderung seiner Position folgendermaßen: »Früher war es viel geistliche Kampfführung. […] Aber Doktor Smith hat die Bedeutung der Überzeugung und der Entscheidung erkannt, des freien Willens. […]

88 89 90

Vgl. Smith 2007, 53f. Smith 2007, 142. Vgl. Smith 2007, 140-145.

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Das [Buch von] 200791 ist voll mit geistlicher Kampfführung, es war viel mit Dämonen, jetzt nicht. Jetzt ist es/ es kann schon vorkommen, aber es wird lediglich als Hindernis angesehen, warum ist er [d.h. der Dämon] dort? […] Er klammert sich an Lügen fest, an falschen Überzeugungen. Deshalb lernen wir, wie [wir ihn vertreiben,] ohne zu schreien. […] Wir kennen unsere Autorität in Christus Jesus.«92 Marta stellte ihr Vorgehen im Fall einer Frau, durch die ein Dämon gesprochen habe, so dar, wie Smith es empfiehlt: Sie habe ihr fest in die Augen gesehen und sie gefragt, ob sie wolle, dass der Dämon verschwinde. Die Frau habe dies bejaht, daraufhin diesem befohlen zu verschwinden, und es sei geschehen. Marta kannte also Smith’ Argumentation und stimmte ihm darin zu, dass der freie Wille eines Christen stärker sei als ein Dämon. Gleichzeitig hielt sie an der Ergänzung des Theophostischen Gebetsdienstes durch den Befreiungsdienst fest: »Wir haben uns auch in einem anderen Dienst ausgebildet, der heißt Freedom Encounters und handelt von geistlicher Kampfführung, ich habe ihn hier mit Vollmacht angewendet. Es gab Manifestationen und alles. […] Ich werde mich nicht nur an Theophostik festklammern.«93 Der US-amerikanische Dienst Freedom Encounters wurde von Ken und Sylvia Thornberg gegründet und propagierte eine Kombination aus Befreiungsdienst und innerer Heilung. Der Homepage zufolge hat das Paar Teams an vielen Orten der USA und in 13 anderen Ländern zur Leitung ihrer Seminare ausgebildet, deren Ziel darin bestehe, den Teilnehmenden die Fesseln der übernatürlichen Welt zu offenbaren, die diese bisher bei ihren Kämpfen für ein erfolgreiches Leben missachtet hätten, und sie Methoden und Strategien zu lehren, um den dämonischen Mächten zu begegnen.94 Der Sitz des costa-ricanischen Teams war in San Isidro de Heredia, und an einem Seminar unter Anleitung dieses Teams hatte Marta teilgenommen. Aus diesem Seminar stammten einige Gebete, die sie verwendete, wenn sie im Verlauf einer Theophostiksitzung hinter den Problemen einer Person eine dämonische Ursache vermutete. Die Gebetsformulierungen zielten darauf ab, durch Proklamation Schutzblasen95 und -barrieren zu errichten, durch die kein Feind eindringen könne, Flüchen und Hexereien abzusagen und generationelle Ketten zu zerschneiden, eine andere Person oder sich selbst mit dem Blut Jesu und dem Feuer des Heiligen

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Mit dieser Jahresangabe scheint sie sich zu irren und stattdessen Smith’ Buch von 1999 zu meinen. Interview Nr. 53, 26.5.2015. Interview Nr. 53, 26.5.2015. Vgl. www.encuentrosdelibertad.com [4.3.2016]. Vgl. die Bibelverse Jesaja 4,5f.

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Geistes zu bedecken, zu reinigen und zu schützen. Weitere Gebete aus Martas Gebetszusammenstellung entstammten der Homepage von Cristina Blanc-Ramirez aus Paraguay, die in Memphis, Tennessee, lebte und sich auf Jim Staley bezog, einen Prediger, der dem Hebrew Roots Movement zugerechnet wird.96 Marta verwendete Blanc-Ramirez‹ Formulierungen mit geringfügigen Veränderungen, um ihre Klientinnen und Klienten generationelle Ketten zerschneiden zu lassen. Die Verfasserin wurde von Marta während einer Gebetssitzung aufgefordert, die Kette des Schmerzes imaginär zu visualisieren, die das Herz gefangen halte, um sie von Jesus zerreißen zu lassen. Auf diese Weise sollten durch dämonische Lügen verursachte Emotionen wie Wut oder Schmerz eliminiert werden: »Jetzt machen wir etwas, was nicht Theophostik ist, sondern geistliche Kampfführung. Stell dir den Schmerz wie eine Kette vor. Welche Farbe hat die Kette? Ist sie lang oder kurz? Schwer oder leicht? Stell dir vor, dass diese Kette um dein Herz gebunden ist. Wir bitten Jesus, sie zu zerreißen.«97 Im Anschluss an diesen Akt spiritueller Befreiung kehrte Marta zur regulären Methodik des Theophostischen Gebetsdienstes zurück. Sie erklärte, dass sie hinter jedem Schmerz eine seelische und eine spirituelle Ursache sehe und beide mit den jeweils adäquaten Mitteln behandle, also die seelischen Probleme mit den Methoden des Theophostischen Gebetsdienstes und die spirituellen mit den Methoden der geistlichen Kampfführung. Martas ambivalenter Umgang mit Smith’ Instruktionen zum Umgang mit Dämonen wird anhand ihrer Darstellung der Sitzung mit einer Klientin deutlich, bei der sie generationelle Fluchketten infolge schwerwiegender Sünden der Vorfahren identifiziert hatte. Sie habe sich Christi Waffenrüstung angelegt und die Fluchketten zerschnitten. Dies habe den Teufel provoziert, der sich daraufhin offenbart und seine Ansprüche auf die Klientin geltend gemacht habe: Mit wilden Kopfbewegungen, den Haaren im Gesicht und mit Männerstimme habe er durch die Frau gesagt: »Sie gehört mir.« Marta habe entsprechend der Vorgaben Smith’ reagiert, indem sie zur Klientin gesagt habe: »Schau mir in die Augen. Willst du, dass das weitergeht?« Die Klientin habe dies verneint. Daraufhin habe Marta den Sieg des Willens der Klientin über den Teufel festgestellt: »Dann ist es schon vorbei, denn ohne deinen Willen kann er nicht.« Sie rekurrierte hier einerseits auf die Methoden des Befreiungsdienstes und setzte sich damit über Smith’ Anweisungen hinweg, und andererseits befolgte sie diese, indem sie den Teufel für allein durch die Willensäußerung der geplagten Frau besiegt erklärte. Auf diese Transformation

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Vgl. www.misionavivamiento.blogspot.de/ [4.3.2016]; www.cris-videos.blogspot.de/ [19.5.2016]. Feldforschungstagebuch 22.6.2015.

3 Methoden der Heilung

des Theophostischen Gebetsdienstes zugunsten einer Integration des Befreiungsdienstes angesprochen, distanzierte Marta sich von Smith: »Doktor Smith will es alles pur, aber ich empfinde das nicht so. Ich mache es, weil es funktioniert.«98 Der Umgang der Personen, die den Theophostischen Gebetsdienst praktizierten, mit Methoden des Befreiungsdienstes war heterogen. Das zeigen die Erläuterungen einer Informantin, die an mehreren Seminaren teilgenommen hatte, die von Marta und Smith geleitet worden waren, die den Theophostischen Gebetsdienst selbst praktizierte und Marta in ihren Seminaren als Co-Leiterin unterstützte. Sie gehörte dem Dienst für geistliche Kampfführung der Kirche CCVN an, kannte aber Smith’ Instruktionen zum Umgang mit Dämonen. Zwar hielt sie im Unterschied zu Smith den Befreiungsdienst für ein wichtiges Mittel, um Dämonen auszutreiben und generationelle Ketten zu zerschneiden. Aber im Unterschied zu Marta vermischte sie den Theophostischen Gebetsdienst und die geistliche Kampfführung nicht, sondern betrachtete beide als getrennte Methoden zur Heilung verschiedener Probleme: Dämonen, die sich in einer Person halten, weil der Teufel eine Lüge eingepflanzt habe, seien mit den Methoden des Theophostischen Gebetsdienstes zu bekämpfen. Dämonen infolge generationeller Ketten hingegen seien mit geistlicher Kampfführung außerhalb des Theophostischen Gebetsdienstes zu bekämpfen: »In Bezug auf Theophostik […] und geistliche Kampfführung gibt es keinen Zusammenhang, glaube ich, weil Doktor Smith glaubt, dass die Dämonen nur Kontrolle über die Personen haben, weil die Personen eine falsche Überzeugung haben, und dass, wenn man sie mit Theophostik behandelt und die Überzeugung vernichtet, man auch die Kontrolle, die dieser Dämon über die Person hat, vernichtet. […] Sie glauben, dass es nach Jesu Auferstehung kein Gebet mehr gab, um irgendjemanden von Dämonen zu befreien. Ich glaube das nicht, als sogar einmal Doktor Smith in einem Seminar gesagt hat, dass nach seiner [d.h. Jesu] Auferstehung niemand mehr befreit wurde, hatte ich Zweifel, also habe ich mich mit meinem Pastor […] getroffen, und ich fragte ihn, und er hat mir mehrere Bibelstellen gezeigt, wo es sehr wohl Befreiung von Dämonen gegeben hat.   Meine Position ist, dass ich glaube, Gott vollbringt ein vollkommenes Werk an den Personen, wenn ich für jemanden bete, über den ein Dämon die Kontrolle hat, sei es wegen einer Lüge, die der Teufel ihm in den Kopf gesetzt hat, sei es, dass ich ihn mit Theophostik behandle oder in der geistlichen Kampfführung bete und ihm [d.h. dem Dämon] befehle, die Person zu verlassen, oder dass ich bete

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Feldforschungstagebuch 1.7.2015.

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Gender und Heilung

und Gott bitte, sein Herz zu heilen, alle Wut, Schuld und so weiter zu entfernen, wird Gott die Person mit der einen oder anderen Methode befreien. […]   Gott heilt und befreit die Personen, wie er will. […] Es gibt Dämonen und Flüche, die die Person aufgrund falscher Überzeugungen hat, Lügen, die der Teufel ihr in den Kopf gesetzt hat, Wut und so weiter, was mit Theophostik behandelt werden kann, aber ich glaube auch, dass es Flüche gibt, für die die Person nichts kann, sondern die von unseren Vorfahren herkommen, von früher, es sind generationelle Ketten, die Bibel sagt, dass das bis zur dritten und vierten Generation reicht. In diesen Fällen glaube ich, kann Theophostik der Person nicht helfen, weil das, was sie erlebt, nicht das Ergebnis von etwas aus ihr selbst ist, es ist keine Lüge, die direkt in sie gepflanzt wurde, sondern von ihren Vorfahren, in diesem Fall denke ich, muss man diesen Fluch zerschneiden, in geistlicher Kampfführung beten und dass die Person zu Gott weiter betet und um Vergebung bittet für das, was die Vorfahren getan haben mögen, indem sie Gott bittet, dass er jeden Pakt, den sie gemacht haben mögen, annulliert, indem sie Gott bittet, dass er alles herausreißt, was da ist, dass der Heilige Geist ans Licht bringt, was praktiziert wurde, damit man dafür um Vergebung bitten kann. Deshalb glaube ich, dass es zwischen den beiden Methoden keinen Zusammenhang gibt.«99 Marta selbst gab ihre Überzeugungen und Erfahrungen bezüglich der Kombination aus Befreiungsdienst und Theophostischem Gebetsdienst in ihren Seminaren weiter. So bot sie im Juni 2015 den Teilnehmenden ihres Seminars an, an einem darüber hinausgehenden Wochenendseminar teilzunehmen, währenddessen der Befreiungsdienst fokussiert werden sollte. Eine Informantin, die sowohl am Seminar zur Ausbildung im Theophostischen Gebetsdienst als auch am Wochenendseminar zum Befreiungsdienst teilgenommen hatte, berichtete, dass sie während letzterem das Zerschneiden von Ketten erlernt hätte. Dies erachtete sie als hilfreich für ihren Umgang mit dem spirituellen Erbe ihrer Vorfahren, da sie eine Reihe von Unfällen und gewaltsamen Todesfällen in ihrer Familie darauf zurückführte, dass ihre Großmutter und ihre Mutter in Praktiken der sogenannten Hexerei und der katholischen Laienreligiosität involviert gewesen seien. Zwar habe sie bereits zuvor an einem Seminar über geistliche Kampfführung der Kirche CCVN teilgenommen, aber negative spirituelle Einflüsse seien geblieben. Sich von diesen zu befreien, sei das Ziel gewesen, das sie mit ihrer Teilnahme am Wochenendseminar verfolgt habe: »Jetzt, als wir das Seminar mit Theophostik hatten, wurde auch darüber gesprochen, Ketten und all diese Fesseln zu zerreißen, und ich sagte: ›Das ist schon

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E-Mail vom 2.3.2016.

3 Methoden der Heilung

zerrissen, aber zur Sicherheit annulliere ich alles für mich und meine Generation.‹ […] Das war […] in […] einer allgemeinen Anbetungszeit, […] in der ganzen Gruppe. […] Jeder […] sollte solche Ketten aufschreiben, Hexereien, aus der Vergangenheit, Ehebrüche oder gewaltsame Tode. […] Ich habe tatsächlich eine Vorgeschichte mit vielen gewaltsamen Toden in meiner Familie. […] Ich […] habe es schon annulliert. […] Mein Papa, der diesen Unfall hatte, wir haben mehrere heftige Unfälle erlitten, aber Gott sei Dank hat uns der Herr bewahrt. Mein Bruder, an dem Tag, als er 16 Jahre alt wurde, hat ihn ein Auto angefahren und getötet, […] meine Mutter starb, als meine beiden Brüder auch einen Unfall mit einem Bus erlitten und […] ernste Folgen hatten, obwohl […] sie überlebten. Aber das führte dazu, dass sie einen Infarkt hatte. […] Es ist wie eine Kette von gewaltsamen Sachen. […] Ich habe das schon zerschnitten, […] ich fühle, dass ich seit dem Moment [d.h. seit ihrem ersten Seminar zur geistlichen Kampfführung in der Kirche CCVN] befreit bin, aber zur Sicherheit habe ich auch dieses Gebet gemacht.«100 Es ist zu vermuten, dass die Tatsache, dass mit Marta die einflussreichste Vertreterin des Theophostischen Gebetsdienstes in Costa Rica die Kombination von diesem mit dem Befreiungsdienst vertrat und praktizierte, dazu führt, dass sich diese Kombination unter Praktizierenden des Theophostischen Gebetsdienstes in Costa Rica durchsetzt.

100 Interview Nr. 74, 13.7.2015.

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4 Heilungsberichte

Mehrere Informantinnen sprachen über die positiven Auswirkungen der inneren Heilung auf ihre Emotionen, ihr Verhalten und ihre Beziehungen. Sie erzählten, dass sozial und persönlich destruktiv wirkende Emotionen wie Hass, Rachsucht, Neid und Ungeduld infolge der Vergebung durch Liebe, Barmherzigkeit, Wohlwollen und Geduld ersetzt worden seien. So erklärte eine Informantin, die sich wenige Monate zuvor von ihrem Mann getrennt hatte, dass die Vergebung es ihr ermögliche, das Leben zu genießen, anstatt von Groll beherrscht zu werden: »Ich habe ihm vergeben. […] Ich werde nicht aufgeben, all die wunderschönen Dinge zu erleben, die Gott uns gegeben hat, unsere Kinder, alles, zu viele Dinge, um mit Groll zu leben.«1 Eine Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, erklärte, inwiefern sich durch die innere Heilung ihre Emotionen sowie ihre Beziehungen zu ihrem Ehemann und zu anderen verändert hätten: »Ich war sehr arrogant, sehr überheblich, und Gott gab mir sozusagen Barmherzigkeit. […] Ich war auch sehr perfektionistisch und ich wollte alles sofort. […] Aber Gott kam und begann, […] meine Seele zu heilen und mir Ruhe zu schenken. Das erste, was ich von Gott kennenlernte, war der Frieden. […] Das hat mein Leben transformiert. […] Man beginnt auch, sich zu ermächtigen. […] Grenzen zu setzen […] zum Beispiel im Haus machte ich die ganze […] Arbeit. Ich habe studiert, gearbeitet, das Geld nach Hause gebracht. […] Ich machte immer die Hausarbeit, und währenddessen las mein Mann […] die Zeitung. Er im Auto und ich zu Fuß. Ich mit den Kindern, zum Arzt, […] wohin es nötig war. Und ich zu Fuß, und er im Auto. Also, diese Art von Ermächtigung. […] Mein Selbstwertgefühl [veränderte sich]. Aber auch Grenzen zu setzen. ›Das werde ich nicht mehr tun. Dieses […] Haus gehört zwei Personen, oder vier, also werden wir teilen.‹ […] Ich fühlte mich heil. Ich war nicht mehr depressiv. Ich war geduldiger. […] Ich hörte auf, perfektionistisch zu sein.«2 1 2

Interview Nr. 46, 11.5.2015. Interview Nr. 22, 30.3.2015.

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Gender und Heilung

Während diese Informantin ihr Verhalten gegenüber anderen vor der Heilung als arrogant beschrieb, beschrieb sie das gegenüber ihrem Ehemann als unterwürfig und resignativ. Während ihr Verhalten gegenüber anderen durch den Heilungsprozess barmherzig geworden sei, habe sie sich ihrem Mann gegenüber ermächtigt gefühlt, so dass sie begonnen habe, eine ausgewogene Verteilung von Rechten und Pflichten einzufordern und ihm Grenzen im Verhalten ihr gegenüber aufzuzeigen. Der Ermächtigung sei eine Stärkung des Selbstwertgefühls vorangegangen, die auch dazu geführt habe, dass sie ihr Bedürfnis nach Perfektion und ihre Ungeduld abgelegt habe, die durch Gelassenheit ersetzt worden seien. Eine Informantin, die dem CCCAJ angehörte, erzählte, dass sie durch die innere Heilung von einer schüchternen, verbitterten zu einer aufgeschlossenen, zuversichtlichen Person geworden sei und dass sich diese Veränderung auch auf ihr äußeres Erscheinungsbild ausgewirkt habe. Außerdem habe sie Konflikte mit mehreren Familienangehörigen überwinden können: »Ich habe fantastische Veränderungen erlebt, denn […] man wird wirklich […] neu geboren. Denn […] ich fühlte mich verbittert, verzweifelt, […] praktisch tot. […] Aber dann kommt man zu dem Moment, in dem Jesus ins Leben eintritt. […] Es ist eine wahnsinnige Veränderung, auch physisch, denn das wird bemerkt. […] Sogar im Äußeren. […] Es gibt Leute, […] die mich lange kannten, aber wahrscheinlich nahmen sie mich als sehr traurig wahr. […] Und dann sehen sie, dass ich anders bin, verändert. […] Vorher habe ich fast nicht geredet. […] All das ist wunderbar. […] Die Schüchternheit zu überwinden. […] Es gibt viel Frieden. […] Auch […] mit der Mutter, mit den Schwestern, schließlich hat man Probleme, wie alle Familien. […] Das überwindet man.«3 Mehrere Informantinnen erzählten, dass sich infolge der inneren Heilung ihr Verhalten gegenüber den eigenen Kindern und infolgedessen die Beziehungen zu diesen verändert hatten. So gestand eine Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, ihre Kinder misshandelt zu haben. Infolge der inneren Heilung sei es ihr gelungen, ihre destruktiven Verhaltensmuster zu überwinden: »Man verändert sich nach und nach. Denn ich war wie rasend mit meinen Kindern. Weil ich Probleme mit dem Ehemann hatte, dann sind es die Kinder, die alles ausbaden. […] Schrecklich. […] Ich habe sie schlecht behandelt. […] Die Kinder bezahlen die Probleme, die man hat. Also, ich war dauernd zornig. Ich wusste, dass er betrunken nach Hause kam, dass er mit Frauen zusammen war. […] Ich habe mich nach und nach verändert, meinen Charakter. […] Die Armen, sie haben schlechte Erinnerungen an die wahnsinnige Mutter, die sie hatten.«4

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Interview Nr. 3, 10.3.2015. Interview Nr. 43_1, 28.4.2015.

4 Heilungsberichte

Ähnliches hatte eine andere Informantin erlebt, die dem CCCAJ angehörte. Weil eheliche Konflikte und finanzielle Probleme sie belastet hätten, habe sie ihre Kinder misshandelt. Seitdem sie selbst innerlich geheilt sei, habe sie ihre Kinder viele Male um Vergebung gebeten, so dass auch die Beziehung zu ihnen geheilt sei: »Das Schlimmste ist, dass ich es meinen Kindern weitergegeben habe. Wenn man deprimiert ist, schlecht gelaunt, mit schwierigen Situationen zu Hause, finanziellen Problemen, schlechten Ehebeziehungen, wer bezahlt, sind die Kinder. […] Und ich habe meine Kinder sehr schlecht behandelt, als sie größer wurden, wegen all dieser Dinge, die ich hatte. […] Als ich befreit war, ging ich hin und bat sie um Vergebung. Und immer wenn ich kann, bitte ich sie weiterhin um Vergebung. […] Deshalb haben wir jetzt so eine gute Beziehung. Aber früher hatten wir keine gute Beziehung, denn ich lebte sehr verbittert.«5 Die letzten beiden Berichte finden ihre Entsprechung in den Erläuterungen der Pastorin der Kirche ICC, die die destruktiven Verhaltensweisen von Frauen gegenüber deren Kindern darauf zurückführte, dass diese selbst misshandelt worden seien. Sie unterstütze die Frauen, erlernte Verhaltensmuster zu überwinden, indem sie ihnen helfe innerlich zu heilen und mit ihnen praktische Handlungsoptionen angesichts konkreter Problemkonstellationen erarbeite: »Diese Frauen ziehen Töchter groß, die sie behandeln, wie sie behandelt wurden. Die Gewalt, die sie empfangen haben, die reproduzieren sie. Also ist es ein Teufelskreis, der sich von Generation zu Generation wiederholt. […] Die Frauen werden aggressiv, denn weil sie einen aggressiven Ehemann haben, können sie es an niemandem auslassen und wenn sie explodieren, […] lassen sie es an ihren Kindern aus. Die Kinder schlagen sie, misshandeln sie, brüllen sie an, behandeln sie schlecht. […] Sie reproduzieren dasselbe Verhaltensmuster, das sie erlebt haben. […] Ich kann jemandem nicht geben, was ich nicht habe. […] Viele Mütter haben mir weinend gesagt: ›Ich will mich meinen Kindern gegenüber anders verhalten, aber ich weiß nicht, wie ich es machen soll.‹ Das ist eine Orientierung, die man ihnen gibt.«6 Auch der Pastor der Kirche Comunidad Cristiana La Casa de mi Padre beschrieb das Phänomen der erlernten Gewalt und erzählte, dass seine Frau andere Frauen heile, so dass diese ihr aggressives Verhalten gegenüber den eigenen Kindern überwänden: »Vor Jahren haben wir gelernt, dass der Verletzte verletzt. Wenn die Mutter verletzt ist, ist ihr Verhalten gegenüber den Kindern verletzend. Aber in diesem

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Interview Nr. 63, 15.6.2015. Interview Nr. 26, 7.4.2015.

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Gender und Heilung

Prozess […], den wir als Heilung der Seele bezeichnen, in dem Gott die inneren Schäden heilt, […] wenn da keine Wunden mehr sind, ist das Verhalten gegenüber den Kindern anders. […] Es ist eine Atmosphäre, die beginnt sich zu verändern.«7 Beziehungen zwischen Müttern und Kindern veränderten sich jedoch nicht ausschließlich infolge der Heilung der Mütter. So erzählte die Pastorin der Kirche CCBEDN, die im Folgenden Claudia genannt wird, wie sich infolge ihrer Heilung ihr Verhalten gegenüber ihrer Mutter und infolgedessen schließlich auch das Verhalten ihrer Mutter ihr gegenüber verändert habe. Die Auseinandersetzungen zwischen ihnen seien vor ihrer Konversion stets eskaliert, weil sie sich gegen Provokationen gewehrt habe. Infolge ihrer Konversion und Heilung habe sie ihr Konfliktverhalten verändert, indem sie fortan auf Angriffe der Mutter mit Rückzug reagiert habe. Als ihre Mutter schließlich bemerkt habe, dass sie mit ihrer Tochter nicht mehr streiten könne, habe sie aufgehört sie anzugreifen. Auf diese Weise habe ihr verändertes Verhalten dazu geführt, dass die gewaltsamen Auseinandersetzungen verschwunden seien: »Die Beziehung zu meiner Mutter veränderte sich vollkommen, als ich den Herrn kennenlernte. […] Als sie die Veränderung an mir sah, dass ich mich nicht mehr provozieren ließ/ Ich war nicht mehr das schlecht erzogene, streitende Mädchen, obwohl ich Recht hatte, nicht wahr. Sie sah also die Veränderung an mir und das war sehr schön. […] Dann vergebe ich, dann ist mein Herz gereinigt von aller Rebellion, von allem schlechten Verhalten, […] also existierte die Claudia, der Mami vorher etwas sagte und die sich dann erzürnte, nicht mehr. Und wenn Mami mir etwas sagte oder zum Beispiel, als sie mir die Schriften verbrannte, die für mich so wertvoll waren, da war Claudia ganz still, ich bin einfach nur ins Zimmer zum Beten gegangen und habe nichts gesagt.«8 Die Leiterin der Frauengruppe PAF, die im Folgenden Gloria genannt wird, erzählte, dass sie sich infolge ihrer Heilung ihrem Mann gegenüber anders verhalten und dass sich daraufhin ihre Beziehung grundlegend verändert habe. Sie habe sich zuvor ungeduldig und ungerecht verhalten, und er habe darauf impulsiv reagiert. Es habe eine permanente Konfliktatmosphäre geherrscht, bis sie ihm vergeben habe und infolgedessen nachsichtiger geworden sei. Daraufhin habe auch er sich kooperativer verhalten, so dass ihre Beziehung nun weitaus harmonischer sei: »Ich glaube, Eheprobleme entstehen immer wegen des Mangels an Vergebung. Wenn ich heute vergebe, die Bibel selbst sagt es, dass wir […] uns nicht mit unserem Ärger schlafen legen sollen. […] Fehler werden wir alle immer haben. […] Das Problem ist, […] dass wir die Gewohnheit haben, nur die Fehler des anderen 7 8

Interview Nr. 23, 31.3.2015. Interview Nr. 45, 8.5.2015.

4 Heilungsberichte

zu sehen und nicht […] die eigenen. […] Als ich schon die andere Gloria war, die nicht die vorherige Gloria war, hat mein Mann sich auf eine Weise verändert/ Ich kann dir nicht sagen, dass ihn nichts stört, […] aber er ist komplett anders. Denn er selbst hat gesehen/ […] Ich konnte zeigen, was für eine Person ich bin, anders als früher.«9 Die Co-Pastorin der Kirche MSDJ erzählte, dass sie sich gegenüber ihrem Exmann infolge der Vergebung anders verhielt als vorher. Nach ihrer Trennung hätten sie sich häufig während Telefongesprächen gestritten, doch seitdem sie ihm vergeben habe, empfinde sie solch eine innere Ruhe, dass sie sich nicht mehr provozieren lasse. Anders als zuvor sei es nun möglich, konstruktive Gespräche zu führen: »Er ruft manchmal wütend an, […] und ich sage ihm: ›Okay, wir reden an einem anderen Tag, denn so nicht.‹ […] Er hat jetzt niemanden mehr, mit dem er streiten kann, denn zum Streiten braucht es zwei Personen. Und alleine wird er nicht streiten. […] Zwei Tage später ruft er an, schon anders.«10 Mehrere Informantinnen sprachen davon, dass Gott sie von schwerwiegenden psychischen Erkrankungen geheilt hat. So berichtete eine Informantin, die der Kirche CCVN angehörte, dass traumatisierende Kindheitserfahrungen dazu geführt hatten, dass sie im Anschluss an die Geburten ihrer Kinder an Depressionen und Panikattacken litt. Zwar sei sie psychiatrisch behandelt worden, aber geheilt habe sie Gott, als sie denjenigen, die sie verletzt hätten, vergeben habe: »Ich begann an […] Krankheiten zu leiden […] wegen all der Dinge. […] Ich hatte eine sehr belastete Kindheit. Meine Mutter hat uns verlassen, mein Vater erlitt einen Mordversuch, meine Schwester und ich waren vergewaltigt worden. Das war schlimm. Abgesehen davon hat meine Mutter […] in der kurzen Zeit, die sie bei uns war, uns viel misshandelt. […] [Nach der Geburt meiner ersten Tochter] begann ich sozusagen psychisch zu erkranken, […] ich fühlte eine schreckliche Verzweiflung. […] Später […] bekam ich meine zweite Tochter. […] Da wurde es schlimm, […] ich bekam eine Depression. […] Ich sagte: ›Nein. Ich werde eine Kirche suchen.‹ […] So begann ich mich dort einzubringen, den Herrn zu suchen, und ich kam schon zu der Kirche, wo ich bin. […] Eine Zeit lang beruhigte sich die Depression, und dann, als ich mein drittes Kind bekam, erwischte es mich schrecklich. […] Ich ging zum […] Fasten und zum Gebet, […] zur geistlichen Kampfführung. […] In der Kirche wurde für mich gebetet. […] Denn es war eine fürchterliche Depression und ich fühlte mich nicht mehr wie ich selbst. Ich hatte so eine Panik, […] denn […] zwei Mal war ich verfolgt worden um […] vergewaltigt zu werden, […] abgesehen von diesem anderen Mal. […] Wenn ich auf die Straße ging, hatte 9 10

Interview Nr. 55, 27.5.2015. Interview Nr. 58, 1.6.2015.

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Gender und Heilung

ich panische Angst. Ich sah den Leuten ins Gesicht. […] Ihr Gesicht kam mir gelbgrün vor, mit Flecken im Gesicht. Und so […] sah ich das Gesicht in der Straße […] von den Männern. […] Und wenn ich auf die Straße ging, da ich keine Kraft hatte zu laufen, […] sagte ich: ›Im Namen Jesu, ich werde gehen.‹ […] Ich suchte Gott immer mehr, ich ging zu Versammlungen, und so holte mich der Herr da langsam raus. […] Es war ein […] langer Prozess, über Jahre. […] Die Psychiater sind nur dazu da, um Medikamente zu verschreiben. […] An sich machen sie nichts. Sie hören dir nur zu, wenn du ihnen etwas erzählst, und was sie tun, ist, dass sie dir ein Rezept schicken. […] Ein paar Mal war ich bei doña Carla [d.i. eine Laienberaterin]. […] Mein Psychologe ist Gott. […] Ich nahm die Medikamente. Vier Jahre lang nahm ich Fluoxetin. […] Eine Zeit lang nahm ich […] Amitriptylin. […] Die Psychiater, […] dass sie einem helfen, […] nein. Es war Gott, der das vollbracht hat. […] Nach und nach wurde ich gesund. […] Zuerst, den Leuten zu vergeben, die einen verletzt haben, ihnen vergeben und sie segnen. […] Weitermachen und sich fest an Gottes Hand festhalten.«11 Entsprechend der im Verhältnis zu den meisten anderen Kirchen in Alajuela größeren Bedeutung, die der physischen Heilung in der Kirche MSDJ gegeben wurde, begegneten hier vermehrt Berichte über die Heilung physischer Leiden. So erzählte die Co-Pastorin, dass sie beim ersten Besuch einer Gebetsversammlung von Gebärmutterkrebs geheilt worden sei: »Das erste Mal, dass ich [zur Gebetsversammlung] ging, heilte mich der Herr […] von Gebärmutterkrebs. Denn ich hatte einen Prozess hinter mir, […] in dem ich eine Behandlung nach der anderen erhielt, und nichts half. Und meine Vorgeschichte war, dass meiner Mutter im Alter von 32 Jahren wegen Krebs alles herausgenommen wurde. Also sagte die Ärztin: ›Okay, wir machen diese Behandlung. […] Wenn die nicht hilft, werden Sie wie Ihre Mutter operiert werden müssen.‹ Und der Herr sagte mir: ›Ich werde dich heilen. Und dein Körper wird nie wieder mit Krebs zu tun haben.‹ Und ich glaubte dem Herrn und sagte: […] ›Ich werde mich untersuchen lassen und alles, um den Menschen zu zeigen, dass ich gesund bin. Denn ich weiß, dass der Herr mich geheilt hat.‹ Und tatsächlich kamen sie zu mir nach Hause, […] um mir zu sagen, es sei nicht möglich, dass […] ich komplett geheilt war. Und dass das nicht möglich sei, denn egal wie sehr sie mich behandelt hätten, etwas hätte in der Untersuchung noch gefunden werden müssen. Also machten sie sie noch zwei Mal, und dann wurde ich entlassen. Ich galt als gesund. […] Der Herr hatte ein Wunder vollbracht.«12

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Interview Nr. 14, 23.3.2015. Interview Nr. 58, 1.6.2015.

4 Heilungsberichte

Obwohl die Überzeugung, dass Gott physische Leiden heilt, konstitutiv für den Glauben dieser Co-Pastorin und für die Verkündigung in ihrer Kirche schien, war sie in der Lage, ausstehende Heilung in ihren Glauben zu integrieren. So war ihr Sohn von Geburt an taub, und sie war überzeugt, dass Gott ihn zu seiner Zeit heilen würde. Den Sinn seiner Taubheit erkannte sie darin, dass Gott sie durch diese Erfahrung für den Umgang mit Frauen befähigt habe, deren Kinder Behinderungen hätten: »Der Herr gab mir einen Sohn mit einer Behinderung. Und ich weiß, dass der Herr irgendwann solche Frauen auf meinen Weg führen wird. Und ich werde sie verstehen können. Denn […] es ist sehr hart, […] die Diskriminierung. Zu fühlen/ […] mein Sohn hört nicht, aber er ist nicht zurückgeblieben und nichts, er ist superintelligent. […] Aber die Leute […] grenzen sie aus. Wenn also eine Frau kommt, die ein behindertes Kind hat, werde ich verstehen können, worunter sie möglicherweise leidet. Also, ich weiß, dass es Gottes Plan ist, dass er zugelassen hat, dass ich das erlebe. Irgendwann wird der Herr mir solche Frauen schicken.«13 Wie ausstehende Heilung in den Glauben an den heilenden Gott integriert wird, zeigt auch das Beispiel der Pastorin derselben Kirche, deren Sehkraft zunehmend abnahm. Sie war während des Forschungsaufenthaltes bereits fast erblindet, doch beharrte darauf, dass Gott sie zu seiner Zeit heilen würde. Die Angehörigen ihrer Kirche schien die ausstehende Heilung nicht zu irritieren. Vielmehr schien ihr fester Glaube an die zukünftige Heilung auf die Kirchenangehörigen sowohl in Bezug auf die Qualität als auch auf den Inhalt ihres Glaubens überzeugend zu wirken.

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Interview Nr. 58, 1.6.2015.

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5 Schlussfolgerungen

Die Untersuchung des pentekostalen Heilungsdiskurses in Alajuela hinsichtlich seiner Bedeutung für Frauen hat erstens gezeigt, dass die Heilung seelisch-emotionalen Leids für diese der zentrale Aspekt ist. Die sogenannte innere Heilung kann allerdings aufgrund pneumopsychosomatischer Ätiologien vielfältiger Arten von Leid nicht strikt von physischer und vor allem nicht von spiritueller Heilung getrennt werden. Zweitens hat sie gezeigt, dass das Leid, dessen Heilung viele Frauen ersehnen, zu einem großen Teil durch Gewalterfahrungen verursacht ist. Es handelt sich dabei einerseits um Erfahrungen physischer, psychischer und sexueller Gewalt in der Kindheit, die überwiegend durch Väter, Mütter und andere männliche Familienangehörige verursacht wurden, und andererseits um Erfahrungen physischer, psychischer und sexueller Gewalt im Erwachsenenalter, überwiegend verursacht durch die eigenen Partner. Cordero und Calderón ist folglich Recht zu geben, insofern sie in Bezug auf Costa Rica einen Zusammenhang zwischen Pentekostalismus und häuslicher Gewalt feststellen.1 Jedoch ist ihnen hinsichtlich ihrer Schlussfolgerung, der Pentekostalismus trage zur Legitimation und Aufrechterhaltung, Naturalisierung und Akzeptanz häuslicher Gewalt bei, zu widersprechen. Zwar ist es richtig, dass pentekostale Beraterinnen und Berater, Pastorinnen und Pastoren zurückhaltend darin sind, Frauen im Abbruch von Beziehungen zu Personen, die ihnen Leid zufügten oder zufügen, zu unterstützen, wenn auch nicht ausgeschlossen ist, dass die beratenden Personen in Einzelfällen dafür plädieren. Ihr vorrangiges Ziel besteht weder in der Veränderung konkreter Bedingungen noch in der Überwindung grundsätzlicher Strukturen. Dennoch beruht der Vorwurf, der Pentekostalismus fördere häusliche Gewalt, auf der Verwechslung der Folgen von Konversionen mit ihren Ursachen. Viele der Informantinnen stellten seelischemotionale Krisensituationen infolge von Gewalterfahrungen als Ursache für ihre Suche nach Hilfe dar, die sie zu pentekostalen Kirchen und Gemeinschaften geführt habe. Dort stehen in verschiedenen Kontexten Personen zur Verfügung, die geübt sind, den Hilfe suchenden Frauen zuzuhören, so dass viele erstmals persönliche

1

Vgl. Cordero 2003; Calderón 2015.

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Gender und Heilung

Erfahrungen und Emotionen verbalisieren und reflektieren können, und die versuchen, diesen Frauen mit Hilfe verschiedener Methoden durch die Vergebung des Fehlverhaltens anderer, durch Selbstvergebung und durch die Transformation ihres Selbstkonzepts neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Hilfe suchende Frauen erleben hier ein Heilungsverständnis, das von der Überzeugung geprägt ist, dass ein Individuum sich mit sich selbst versöhnen und sich selbst verändern muss, um sich mit anderen zu versöhnen und ein problematisches System zu verändern. Dieser Ansatz bietet eine pragmatische Anleitung zum Umgang mit den Bedingungen und verleiht Unabhängigkeit von der möglicherweise mangelnden Bereitschaft anderer, sich zu verändern. Den Aussagen von Informantinnen zufolge wirkt sich die Heilungserfahrung in der Überwindung destruktiv wirkender Emotionen, in konstruktiven Verhaltensweisen gegenüber den eigenen Kindern, Ehemännern, Eltern und anderen und schließlich auch in veränderten Beziehungen aus. Die Vergebung gilt als notwendige Voraussetzung innerer Heilung und eschatologischen Heils und steht daher im Fokus sowohl der seelsorglichen Praxis als auch der Verkündigung. Der Vollzug der Vergebung wird durch die Überzeugungen, dass Gott im Dies- und im Jenseits für Gerechtigkeit sorgt und dass es der Teufel ist, der Fehlverhalten bewirkt, gefördert, weil beide Überzeugungen emotional Verletzten helfen, Bedürfnisse nach Rache zu überwinden. Zudem gilt die Vergebung als Verpflichtung der Konvertierten, weil sie als Ausdruck der Nächstenund Gottesliebe sowie des Gottesgehorsams verstanden wird. Dies bedeutet, dass die Nichtvergebung nicht nur mangelnde seelische Heilung und eine bedrohliche eschatologische Perspektive für das Individuum impliziert, sondern auch von Angehörigen der Gemeinschaft als Ausdruck mangelnder Gottesliebe, mangelnden Gottesgehorsams und des Sieges des Teufels im Kampf um die Herrschaft über das Leben der betroffenen Person interpretiert wird. Zweifelsohne kann die Drohung dieser Folgen der Nichtvergebung zu religiös und sozial begründeten Ängsten führen und trägt daher zur Homogenität des Vergebungsdiskurses bei. Wo es gelingt zu vergeben, wird die Erfahrung, sich durch die Entscheidung zur Vergebung aktiv von emotionalem Leid befreien zu können, als Erfahrung der Selbstwirksamkeit und Kontrolle erlebt, die dazu beiträgt, ein Selbstkonzept der Hilflosigkeit zu überwinden. Während die Vergebung des Fehlverhaltens anderer als zentral für den Umgang mit erlittenen Verletzungen gilt, gilt die Vergebung durch andere, durch sich selbst und durch Gott als entscheidend, um einen konstruktiven Umgang mit eigener Schuld zu finden. Heterogen wird beurteilt, ob Gott unter der Bedingung der Reue Fehlverhalten vergibt, oder ob Schuld im Diesseits gesühnt werden muss. Frauen, die gegenwärtig von Misshandlungen bedroht sind, werden, abgesehen davon, dass die Vergebung auch für ihre seelische Heilung als notwendig gilt, durch Pastorinnen, Pastoren und Beraterinnen darin unterstützt, unter Rekurs

5 Schlussfolgerungen

auf die Bibel und Einsatz ihres Verstandes angesichts der spezifischen Situation und individueller Bedürfnisse zu entscheiden, welche Handlungsstrategie für sie die richtige ist. Eine verbreitete Strategie besteht in einer Kombination aus Unterordnung und spiritueller Autorität. Die spirituelle Autorität der Frauen beruht darauf, dass auch nichtpentekostale Ehemänner infolge der katholischen Autoritätstradition die Grundüberzeugungen der Existenz und Macht Gottes sowie des Teufels nicht infrage stellen, und stärkt Frauen für die Verteidigung und Durchsetzung eigener Interessen gegenüber ihren Männern. Zur Frage der Legitimität und des Nutzens von Ehescheidungen existiert eine Vielfalt von Interpretationen, Bewertungen und Umgangsweisen. Pastorinnen und Pastoren begründen ihre Beratungsansätze sowohl mit biblisch-theologischen als auch mit seelsorglich-therapeutischen Argumenten. Als konstitutiv für die Transformation des Selbstkonzepts gelten der Zuspruch der biblisch-theologisch begründeten Liebe Gottes sowie die Erfahrung dieser Liebe in einer von gegenseitiger Verantwortung geprägten Gemeinschaft. Auch die erfolgreiche Umsetzung herausfordernder Aufgaben trägt zur Transformation des Selbstkonzepts bei. Diese geht zudem mit der Vermittlung eines spezifischen, aber nicht einheitlichen Frauenbildes einher. Sowohl die Aneignung eines marianistisch geprägten Ideals der Selbstaufopferung der Frau für ihre Kinder und ihren Mann, das zu einer Aufwertung traditionell weiblicher Tätigkeiten im Haushalt und für die Familie führt, als auch die Aneignung des Bewusstseins, über wertvolle spirituelle Gaben zu verfügen, das zu einer Loslösung von der Fixierung auf traditionell weibliche Tätigkeiten führt, wurden von Frauen als stärkend beschrieben. Das zuerst genannte marianistisch geprägte Ideal impliziert, dass das Verhalten von Männern, die ihre Ehefrauen geringschätzen, nicht infrage gestellt wird, solange sie diese nicht körperlich misshandeln oder sich promisk verhalten. Gleichzeitig war zu beobachten, dass häusliche und familiäre Tätigkeiten, indem sie theologisch als wertvoll interpretiert wurden, nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer attraktiver wurden. Die Bedeutung, die der physischen Heilung zukam, variierte zwischen den untersuchten Kirchen und Gemeinschaften. Auch Kirchen und Gemeinschaften, in denen der physischen Heilung eine nachgeordnete Bedeutung gegeben wird, rekurrieren auf physische Heilungsmethoden wie Umarmungen und Handauflegen, weil diese nicht ausschließlich der physischen Heilung, sondern auch der Vermittlung des Heiligen Geistes, der Liebe und Kraft Gottes im Allgemeinen und damit der inneren und der spirituellen Heilung dienen sollen. Spirituelle Heilung in Form des Befreiungsdienstes wird praktiziert, wenn ein chronisches Problem besteht, das als Symptom dämonischer Gegenwart gedeutet wird. Während der Zusammenhang zwischen spiritueller und innerer Heilung unbestritten ist, wird die Frage nach der richtigen Reihenfolge dieser beiden Heilungstypen heterogen beurteilt. Um eine Person von Dämonen zu befreien, gilt es zunächst als notwen-

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Gender und Heilung

dig, diese zu identifizieren. Die Identifikation bedarf der Benennung des konkreten Problems und seiner Ursachen, die in eigenem Fehlverhalten oder Leid oder im Fehlverhalten oder Leid der Vorfahren bestehen können und als Einfallstore für Dämonen bezeichnet werden. Um wiederum diese Ursachen zu identifizieren, wird zu Beginn des Befreiungsdienstes die eigene Biographie ebenso analysiert wie die Biographien der Vorfahren. Für misslingende Beziehungen und emotionale Verletzungen wird dem Teufel und den Dämonen die Urheberschaft zugesprochen. Fehlverhalten, sei es von Männern oder Frauen, gilt als Teil einer satanischen Strategie, um Ehen und Familien zu zerstören. Frauen werden für die Rettung ihrer Männer durch Religiosität und geistliche Kampfführung verantwortlich gemacht. Sie sollen ihren Ärger auf den Teufel richten und im Gebet gegen ihn kämpfen, anstatt den Ärger gegen die Ehemänner zu richten, weil es zur Strategie des Teufels erklärt wird, zuerst Fehlverhalten zu verursachen und dann die Vergebung des Fehlverhaltens zu verhindern. Nichts weist darauf hin, dass die Zuschreibung von Problemen an böse Mächte den Einsatz für das individuelle oder das gesellschaftliche Wohlergehen hemmt. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Aufforderung, konkret wirkende Dämonen zu identifizieren, dazu beiträgt, dass Hilfe Suchende sich aktiv mit ihren Problemen und der Frage nach deren Lösung auseinandersetzen und sich der Interpretation und Beratung durch heilende Personen öffnen. Die Zuschreibung des Bösen an den Teufel ermöglicht ein positives Menschenbild, ohne Fehlverhalten zu relativieren.2 Frauen, die den Befreiungsdienst oder die geistliche Kampfführung praktizieren, erfahren spirituelle Macht in Bereichen, in denen sie sich sonst häufig machtlos fühlen. Das Vertrauen in die eigene Handlungsmacht verleiht ihnen Kraft und Geduld. Die Äußerungen von Informantinnen weisen darauf hin, dass sie sich durch die geistliche Kampfführung für die Konfrontation privater Probleme gestärkt fühlten und für gesellschaftspolitische Themen sensibilisiert wurden. So war es möglicherweise das durch die geistliche Kampfführung geweckte gesellschaftspolitische Interesse und Selbstbewusstsein, das die Gründerin der Gruppe für geistliche Kampfführung Mujeres sin fronteras motivierte, 2014 im Kontext der Parlamentswahlen zu kandidieren, und das auch viele andere Frauen motivierte, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren, indem sie an Demonstrationen gegen die legislative Liberalisierung von In-vitro-Fertilisation, Schwangerschaftsabbrüchen und Homosexualität teilnahmen.3 Dass die geistliche Kampfführung den Einsatz für individuelle und gesellschaftliche Belange nicht mindert, sondern möglicherweise sogar fördert, ist selbst dann anzuerkennen, wenn die konkreten Ziele dieses Engagements in einem zweiten Schritt kritisch daraufhin befragt werden müssen,

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Vgl. Csordas 2002, 35.55. Vgl. hierzu auch Steigenga 2001, 122f.

5 Schlussfolgerungen

welche Subjekte durch die diesen Zielen zugrundeliegenden Normen produziert und welche ausgeschlossen und verworfen werden.4 Die historische Kontextualisierung der gegenwärtigen seelsorglich-therapeutischen Praxis hat gezeigt, dass diese das Ergebnis von Interaktionen zwischen Angehörigen vielfältiger denominationeller Hintergründe auf lokaler und globaler Ebene ist. Seelsorglich-therapeutisch Tätige in Alajuela partizipieren an einem internationalen Heilungsdiskurs, innerhalb dessen unterdrückte, vorgeburtliche, aber auch andere unbewusste und bewusste Erinnerungen als bedeutsame, heilungsrelevante Bestandteile der Person gelten, insofern der gegenwärtige emotionale Schmerz eines Menschen auf diese zurückgeführt wird. Um das Ziel der Heilung von sozial und persönlich destruktiv wirkenden Emotionen zu erreichen, werden mit Hilfe spezifischer Methoden schmerzhafte Erinnerungen vergegenwärtigt, um diese im Licht der Gotteserfahrung neu zu interpretieren. Die Beratungsansätze und Heilungsmethoden teilen die zentrale Bedeutung des Gesprächs, des Gebets und der situationsspezifischen Vermittlung des Wortes Gottes. Eine Wurzel der vorgefundenen Beratungspraxis stellt die im Zusammenhang mit der Fernsehsendung Club 700 etablierte Beratungspraxis einschließlich ihrer Gesprächs- und Gebetsmethoden sowie der ihr zugrunde liegenden doktrinellen und ethischen Überzeugungen dar. Andere Wurzeln der vorgefundenen Beratungspraxis sind anhand konkreter Methoden zurückzuverfolgen. Die Methode des Heilungsgebets, deren Spezifikum die Betonung vorgeburtlicher und unbewusster Erinnerungen ist, fand zunächst besondere Verbreitung unter katholischen Praktizierenden der inneren Heilung, verbreitete sich aber im Kontext der charismatischen Bewegung über die denominationellen Grenzen hinweg. Im untersuchten Kontext war das Heilungsgebet unter evangelischen wie katholischen Praktizierenden der inneren Heilung verbreitet und wurde hier wie dort mit Befreiungsgebeten kombiniert. Das Spezifikum des Stellvertretungsgebets besteht in der Praxis des Rollenspiels, dessen Einsatz mit dem Ziel der inneren Heilung bis zur baptistischen Predigerin Ruth Carter Stapleton zurückzuverfolgen ist. Auch diese Methode verbreitete sich international unter katholischen wie unter evangelischen Pentekostalen, wurde aber in Alajuela ausschließlich von evangelischen Heilenden praktiziert. Die relativ junge Methode des Theophostischen Gebetsdienstes, deren Spezifika in der direkten Ansprache Jesu, in einer differenzierten Fragetechnik und in einer Klassifizierung von Lügen, die das Selbstkonzept schädigen, bestehen, wurde vom baptistischen Pastor Smith entwickelt. Die Praxis des Theophostischen Gebetsdienstes konzentrierte sich zum Zeitpunkt des Forschungsaufenthaltes auf Angehörige der Kirche CCVN und begann, sich von dort aus über die denominationellen Grenzen hinweg auszubreiten. Im Zusammenhang mit dieser Methode waren Adaptions- und Transformations-

4

Vgl. Butler 1993, 122-133; 2002, 249-265.

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Gender und Heilung

prozesse zu beobachten, die mit Aushandlungsprozessen zwischen Smith und costa-ricanischen Praktizierenden einhergingen. Smith hatte versucht, den Theophostischen Gebetsdienst durch die Distanzierung von der geistlichen Kampfführung gewissermaßen zu entcharismatisieren. Als dieser aber in Alajuela in einen Kontext integriert wurde, in dem der Befreiung von bösen Geistern durch Kampf- und Befreiungsgebete erhebliche Bedeutung gegeben wurde, wurde er gewissermaßen recharismatisiert, indem seine einflussreichste costa-ricanische Vertreterin ihn in der Kombination mit von ihr als hilfreich erachteten Methoden der spirituellen Befreiung praktizierte und lehrte. Die Frage einer Reinheit der Lehre erschien ihr als dem Ziel der umfassenden Heilung nicht förderlich. Da die Verbreitung des Theophostischen Gebetsdienstes maßgeblich durch sie betrieben wurde, war seine Praxis in Costa Rica von Anfang an durch entsprechende Adaptionen und Transformationen gekennzeichnet. Neben den genannten Methoden wurden auch andere Impulse wie einzelne Gebetsformulierungen oder ganze Glaubenskurse überwiegend US-amerikanischer, denominationell nicht begrenzter Provenienz von Praktizierenden der inneren Heilung in Alajuela rezipiert und kombiniert und wurden auf diese Weise Teil eines Heilungsdiskurses, der dem Pentekostalismus im vorgefundenen Kontext seine transformative Kraft verlieh.

Dritter Teil: Heilungsdiskurse im Kontext

1

Die katholische Amtskirche

Im Anschluss an die Untersuchung des pentekostalen Heilungsdiskurses soll dieser im Folgenden innerhalb des religiösen Kontextes verortet werden, der von der katholischen Amtskirche und der Laienreligiosität dominiert wird und für viele Frauen, die einer pentekostalen Kirche oder Gemeinschaft angehören, den biographischen Hintergrund darstellt. Es wird nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen den Heilungsdiskursen des Pentekostalismus, der katholischen Amtskirche und der Laienreligiosität sowie nach Interaktionen zwischen denjenigen, die diese vertreten, gefragt. Der Vergleich dient auch dazu, das Spezifikum des pentekostalen Heilungsdiskurses herauszuarbeiten. Willems stellt im Anschluss an seine Feldforschungen in Brasilien und Chile fest, dass der Pentekostalismus die Erwartung der Intervention übernatürlicher Mächte und die rituelle Abwehr dämonischer Bedrohungen sowohl mit der katholischen Laienreligiosität als auch mit dem Spiritualismus und Umbanda teilt.1 Bastian bestätigt die These der Kontinuität zwischen Laienreligiosität und Pentekostalismus in Bezug auf Costa Rica: »Die Pfingstbewegung konnte in gewisser Hinsicht an den Volkskatholizismus und den religiösen Synkretismus anknüpfen«2 , insofern beide sich jenseits der Strukturen der Amtskirche entwickelten, das Konzept einer religiösen Selbstständigkeit des Volkes voraussetzten und die Bedeutung von Wunderheilungen und mystischen Erfahrungen teilten. An anderer Stelle bezeichnet Bastian den lateinamerikanischen Pentekostalismus als volksreligiöse Form eines »Katholizismus ohne Priester«3 . Während die Gegenteile der beiden von Bastian erstgenannten Merkmale eher die katholische Amtskirche kennzeichnen, als dass ihre Feststellung auf eine Kontinuität zwischen denen, die sich von dieser unterscheiden, schließen lässt, soll das dritte Merkmal, nämlich die These, dass der Pentekostalismus und die Laienreligiosität in der zentralen Bedeutung, die Heilungen hier einnehmen, übereinstimmen, untersucht werden.4 In diesem Teil der 1 2 3 4

Vgl. Willems 1967, 36f, 133. Bastian/Fanger/Wehr/Werz 2000, 69. Bastian 1993, 35. Ähnlich stellt Egeris Thorsen in Bezug auf das Verhältnis zwischen der RCC und der Laienreligiosität in Lateinamerika fest, dass das verbindende Element neben der Ekstase die Heilung

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Gender und Heilung

Studie wird exemplarisch das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche jenseits der RCC, der katholischen Laienreligiosität einschließlich Praktiken, die von offiziell kirchlicher Seite nicht anerkannt sind, und dem Pentekostalismus in Bezug auf den Heilungsdiskurs untersucht. Wie nehmen diejenigen, die die Amtskirche vertreten, den pentekostalen Heilungsdiskurs wahr und welche Bedeutung geben sie der Heilung seelischer Verletzungen? Wird der pentekostale Heilungsdiskurs in der katholischen Kirche rezipiert? Welche Themen dominieren die Laienreligiosität? Wie positionieren sich wiederum Pentekostale angesichts der Heilungsansätze der Amtskirche und der Laienreligiosität? Worin ähneln sich die Diskurse und worin bestehen ihre Spezifika? Ein Priester der Gemeinde La Agonía schlussfolgerte aus der statistischen Feststellung, dass Frauen in Costa Rica weniger misshandelt werden als in anderen mittelamerikanischen Ländern,5 dass diese kein nennenswertes Bedürfnis nach innerer Heilung haben. Diese Einschätzung sowie die Überzeugung, dass die Doktrin und gelegentlich gesellschaftspolitische Fragen das Zentrum der Verkündigung bilden sollten, nannte er als Gründe dafür, dass er emotionale Verletzungen, deren Heilung oder andere Inhalte, die Frauen besonders beträfen, nicht explizit thematisierte: »Wir betonen das [d.h. die innere Heilung] nicht sehr. […] Wir konzentrieren uns auf die kerygmatische Dimension, vom Evangelium her, vom Wort her und von der doktrinellen Situation her. Und manchmal sprechen wir wirtschaftlich-soziale Themen an. […] Denn wir glauben, dass die Frauen hier nicht so misshandelt werden. Hier ist es eine andere Realität. Im Unterschied dazu in anderen Ländern schon. […] Ich habe das Gefühl, dass die Frauen mutiger sind. Sie sind mächtiger geworden, sie klagen an.«6 Ein Priester der benachbarten Gemeinde Corazón de Jesús nahm die seelsorglichen Bedürfnisse von Frauen anders wahr als der eben zitierte Priester. Als er über seinen Umgang mit Personen in Ehekrisen sprach, betonte er, wie wichtig es ist, dass die Betroffenen seelisch heilen. Er hielt jedoch seine Möglichkeiten, zur Heilung beizutragen, für auf das Beichtgespräch begrenzt. Wenn er bei Beichtenden einen größeren Beratungsbedarf wahrnehme, delegiere er sie an eine Gruppe von Laienberaterinnen und -beratern seiner Kirchengemeinde, von denen einige der RCC angehörten: »Es gibt viele Verletzungen. Wegen Ehebruchs, wegen Misshandlungen, […] es gibt viel Einsamkeit im Leben der Ehepaare. […] Ihnen wird ein bisschen geholfen,

5 6

ist und dass diese Elemente beide Strömungen von einer katholischen Theologie unterscheiden, die »de facto eine entzauberte moderne Weltsicht vertritt«, Egeris Thorsen 2015, 56. Vgl. Martínez Rocha 2006; Carcedo Cabañas 2010, 34. Interview Nr. 64, 16.6.2015.

1 Die katholische Amtskirche

die Wunden zu heilen, das Herz zu befreien, die Gefühle zu ordnen, […] von der Erfahrung Gottes her, denn wenn ich nicht heile, […] werde ich keine Klarheit haben können, um die beste Entscheidung treffen zu können. […] Es wird viele Verletzungen geben, viel Schmerz, viele Enttäuschungen, und ich werde nicht klar sehen können. […] Eine verletzte Frau, mit viel Schmerz, wenn das nicht heilt, […] wird es nicht gehen. […] Was nicht geheilt ist, wird in irgendeinem Moment herauskommen.«7 Ein Indiz dafür, dass die Cursillo-Bewegung in Costa Rica Elemente des pentekostalen Heilungsdiskurses rezipierte, war eine von dieser durchgeführte Veranstaltung mit dem Titel Familia: Primera escuela del perdón (Familie: Erste Schule der Vergebung) im Mai 2018 in San José. Und in Alajuela war der Versuch einer Katholikin zu beobachten, zentrale Inhalte des pentekostalen Heilungsdiskurses in die Frauenpastoral der katholischen Kirche einzuführen. Sie war deren nationale Leiterin und bezeichnete sich selbst als bekehrte Katholikin. Sie hatte die RCC kennengelernt, aber distanzierte sich von ihr. Sie war studierte Werbefachfrau, als Coach, Beraterin und Rednerin tätig und hatte die Einrichtung Isha Mujer im Zentrum Alajuelas gegründet, in deren Rahmen sie sich bemühte, Frauen durch Beratung und Kurse umfassend zu unterstützen. Außerdem moderierte sie wöchentlich für den katholischen Radiosender Radio María eine Sendung für Frauen. Sie erzählte, dass sie infolge eigener Konversions- und Heilungserfahrungen mit Priestern, Psychologinnen und Beraterinnen den Wunsch habe, diese weiterzugeben. Daher habe sie Grundlagen der inneren Heilung und der geistlichen Kampfführung erlernt und im Jahr 2004 mit der Erlaubnis der costa-ricanischen Bischofskonferenz einen Plan entworfen, um ihre Vorstellungen einer Frauenpastoral zu realisieren.8 Sie kritisierte, dass die Unterstützung von Frauen durch die katholische Kirche üblicherweise psychische und spirituelle Bedürfnisse vernachlässige, weil ausschließlich versucht werde, durch sozialdiakonische Maßnahmen die ökonomische Situation von Frauen zu verbessern, indem sie materiell unterstützt und ihnen Kurse wie zum Erlernen handwerklicher Tätigkeiten angeboten würden. Sie hingegen war überzeugt, dass psychologische und spirituelle Bildung effektiver sind. Wenn die Frauen sich der Liebe Gottes bewusst würden, entwickelten sie ein starkes Selbstwertgefühl. Indem sie lernten zu vergeben, heilten sie innerlich. Durch beides würden sie sich ihrer Würde und Berufung in Kirche und Gesellschaft bewusst und in die Lage versetzt, stark und mutig den Herausforderungen des Lebens zu begegnen. Sie berichtete von ihrem mühsamen Weg durch die Instanzen der katholischen Kirche, von ihrer Ernennung zur nationalen Leiterin der Frauenpastoral,

7 8

Interview Nr. 70, 2.7.2015. Vgl. Salas Torres 2016.

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Gender und Heilung

von ihrer ausführlichen Vorbereitung auf die damit verbundenen Aufgaben und von der Gründung einer Versuchsgruppe in der Gemeinde La Agonía im Jahr 2010. Dort werde seitdem jede Woche ein Thema aus den entsprechend dem genannten Plan sich abwechselnden Bereichen Spiritualität, Psychologie, innere Heilung und Theologie behandelt. Inzwischen habe sie einige potentielle Leiterinnen für Frauengruppen in verschiedenen Landesteilen gefunden, die auf ihre Ausbildung zu Gruppenleiterinnen warteten. Kurze Zeit, nachdem das Interview, aus dem im Folgenden zitiert wird, stattfand, initiierte sie eine zweite Frauengruppe in einem benachbarten Stadtviertel. »Ich bin die nationale Koordinatorin der Frauenpastoral für die katholische Kirche in ganz Costa Rica. Das ist ein Projekt, das Gott mir vor vielen Jahren eingegeben hat. Die Absicht, mich einer Gruppe anschließen zu wollen, wo ich mich als Frau bilden kann, wo ich verstehen kann, was mit mir los ist, wie ich heilen kann, wie ich wachsen kann. Und ich hatte […] dieses Bedürfnis und eh ich mich´s versah, bin ich in der Bischofskonferenz von Costa Rica gelandet und habe gefragt, ob es hier in Costa Rica eine Frauengruppe gibt, die so etwas macht. Und der Priester, der der Direktor des […] Nationalausschusses für Frauenarbeit war, sagte mir: ›Das gibt es nicht. Aber das kann es geben. Denn in der Kirche können wir alles machen. […] Verfasse eine Projektbeschreibung.‹ […] Ich verfasste die Projektbeschreibung […] 2004. […] In der Zeit gab es im Land viel Aufruhr, weil es viele misshandelte Frauen gab, mit vielen Problemen, und dann gab es in der […] Zeitung La Nación eine viel beachtete Kritik an der Kirche, die besagte: ›Die Frauen werden misshandelt […] und was macht die katholische Kirche für sie?‹ Genau in der Zeit präsentierte ich meine Projektbeschreibung. […] Der leitende Priester [des Nationalausschusses für die Frauenpastoral,] […] kümmerte sich darum, [das Projekt] den Bischöfen vorzustellen. In der Vollversammlung im Februar 2004 wurde das Projekt als Ursprung einer Frauenpastoral in der katholischen Kirche vorgestellt mit dem Ziel zu versuchen, dass die Frauen ihre Würde und ihre Berufung innerhalb der Kirche und der Gesellschaft entdecken. Indem sie lernen, ausgebildet werden durch verschiedene Texte. Die Themen der Spiritualität, der Psychologie, des Lehramtes, der Theologie […] sollten behandelt werden, […] dass es eine Möglichkeit gäbe, die nicht das Typische ist, was die Kirche gemacht hatte, was die Förderung der Frau war, indem […] ihr nur in materieller Hinsicht geholfen wurde. […] Ihnen wurde gezeigt, wie man Brot macht oder ihnen wurde gezeigt, wie man näht, oder man schenkt ihnen Dinge des täglichen Bedarfs, aber das Innere, was dazu führt, dass diese Frau sagt: ›Ich kann weiter kommen, ich werde [hier] herauskommen, der Mann hat mich verlassen, aber ich mache weiter, ich gehe noch einmal zur Schule‹, das ist das, was durch die Begegnung mit mir selbst entsteht und durch das Kennen der Wahrheit, das bekommt man nur […] durch solch eine Ausbildung. […] Am Anfang dachte ich,

1 Die katholische Amtskirche

es würde sehr leicht sein, aber dann habe ich gemerkt, dass in der Kirche alles schwierig ist. […] Und dass jeder Priester seinen Kopf hat und ›ja‹ oder ›nein‹ sagt. […] Und außerdem muss man die richtigen Frauen suchen, die die Gruppen leiten können. […] Da ich zu dieser Diözese von Alajuela gehöre, haben wir entschieden, einen Pilotversuch von diesem Projekt hier in La Agonía zu machen, da es eine sehr große Gemeinde ist, wo viele Frauen hinkommen. […] Aber die erste kirchliche Gruppe wurde erst 2010 eröffnet. Es vergingen viele Jahre, in denen ich mich fortgebildet und vorbereitet hatte. Und jetzt […] sind es vier Jahre, die Methode wurde geprüft und bestätigt. […] [Sie enthält] Ausbildung, uns im Kreis hinzusetzen und uns anzusehen, um ein bisschen Therapie auf psychologischer Ebene machen zu können, lernen, Texte lesen, sie [d.h. die Frauen] bewegen, […] indem Zeugnis gegeben wird, […] jede Woche ein anderes Thema. Die erste Woche Spiritualität, die zweite Woche Psychologie, die dritte Woche innere Heilung, […] die vierte Woche Theologie oder die Bibel, […] irgendein bestimmtes Thema, ein Text vom Lehramt der Kirche, wir variieren und haben besondere Veranstaltungen, Gebetsnachmittage, Filme oder Feiern oder Vorträge von Personen, die zu uns über etwas Bestimmtes sprechen, und […] jetzt arbeiten wir schon an der zweiten Phase, die darin besteht zu beginnen, die Gruppen zu erweitern […] im ganzen Land. Wir haben schon eine Liste mit Frauen in Guápiles, in Limón, in Atenas, in verschiedenen Orten, die [Gruppen] leiten wollen. Jetzt versuchen wir, uns zu organisieren, um ihnen diese Ausbildung zu geben und sie zu befähigen, dass sie mit den Gruppen anfangen können. […] Die Gruppe an sich, dazu gehören ungefähr 100 Frauen. Normalerweise kommen 40, 45. […] [Wir wachsen] ständig. […] Und das Thema der inneren Heilung […] ist etwas, was man in der Kirche schon kennt, das ein bisschen Psychologie mit dem Spirituellen mischt. Aber nach dem, was ich in meinen zehn Jahren als spirituelle Beraterin herausfinden konnte, ist es eine grundlegende Methode, um die Seele zu heilen, das Herz, die Bereiche, zu denen die Psychologie nicht hinkommt. Und auch nicht die Psychiatrie. […] Es geht darum, […] diese Verletzungen zu entdecken, um sie dem vollkommenen Heiler zu übergeben, und dass durch das konstante Gebet und das Zu-ihm-Gehen diese innere Heilung kommt, aber auch, dass es ein Prozess ist, der mir in meiner Konversion hilft, denn letztlich ist es das, was Jesus will, dass ich mich bekehre. Aber ich kann mich nicht bekehren, wenn ich innerlich krank bin. […] Das gehört zusammen. Innere Heilung ist, das Leben zu beten. Es ist ein Glaubensprozess, aktiv, ich spreche mit ihm und er mit mir über das, was in mir ist. […] Und die geistliche Kampfführung in dem Sinn, nicht alles wirkt der Teufel, denn wir denken darüber […], dass es ebenso schlimm ist, den Teufel überall zu sehen, wie ihn nirgendwo zu sehen. Mit einem Gleichgewicht, denn ich kann dir eine psychologische Erklärung für das geben, was passiert, und ich kann dir eine spirituelle Erklärung geben. Und das Wort im Epheserbrief besagt, dass wir nicht gegen Menschen aus Fleisch kämpfen, sondern gegen geistliche böse

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Gender und Heilung

Mächte. […] Deshalb versuche ich, das hier zu erklären, damit sie sich nicht zu sehr darauf […] fokussieren […], denn es gibt Geschwister in anderen Religionen, da ist es immer Teufel, Teufel und […] Dämonen, du hast alle Dämonen der Welt. Und so ist es auch nicht. […] Ich habe eine unabhängige Einrichtung, die mir gehört, aber ich arbeite dort in Kooperation mit der Kirche, es ist eine Einrichtung zur ganzheitlichen Versorgung der Frau. Sie heißt Isha Mujer. Ich bin die Direktorin und mache Psychotherapie. Die Kosten belaufen sich auf 50 Prozent von dem, was es normalerweise kostet, um den Leuten zu helfen, und in besonderen Fällen versuchen wir auch gratis zu helfen. Und dort, ja, durch die Beratung führe ich sie zu einem Heilungsprozess. Wie? Indem sie über die Vergebung lernen, […] das Thema der Liebe Gottes entdecken, das Selbstwertgefühl, grundlegende Dinge, die fundamental sind, um mich neu zu ordnen, wenn ich mich verloren habe oder wenn ich mich nicht kenne, nicht wahr. So arbeite ich.«9 Das in diesem Zitat artikulierte Heilungsverständnis stimmt mit dem pentekostalen überein, insofern der Vergebung und auch der geistlichen Kampfführung zentrale Bedeutung für die psychische und die spirituelle Heilung gegeben und als Ziel benannt wird, das Selbstwertgefühl von Frauen durch die Vermittlung der Liebe Gottes zu stärken. Gleichzeitig sprechen aus diesem Zitat Abgrenzungen vom Pentekostalismus. So warf die Leiterin der Frauenpastoral diesem vor, dem Teufel zu viel Macht zu geben. Zwar stimmte sie zu, dass der Mensch gegen dessen Einfluss kämpfen muss, lehnte es aber ab, alle negativen Ereignisse auf sein Wirken zurückzuführen, denn für viele Probleme gebe es psychologische Erklärungen, und letztlich sei die Macht des Teufels durch Christus begrenzt. Darüber hinaus grenzte sie sich durch die Aussage, es sei das Ziel der inneren Heilung, dass die Frauen sich ihrer Berufung in Kirche und Gesellschaft bewusst würden, vom evangelischen Pentekostalismus ab, insofern diese Aussage Ausdruck eines universalen katholischen Kirchenbegriffs, einer bewussten Wertschätzung der institutionalisierten Kirche und eines positiven Gesellschaftsverständnisses ist, das an die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils erinnert.10 Die ekklesiologischen Differenzen werden auch anhand ihrer Projektorganisation deutlich, bezüglich derer sie stets nicht nur die Ortsgemeinde im Blick hatte, sondern die katholische Kirche in ganz Costa Rica. Folgende Sequenz illustriert, dass der Diskurs, den die Leiterin der Frauenpastoral sich bemühte in dieser zu etablieren, katholischen Frauen, die sich Hilfe suchend an die katholische Kirche wandten, noch mehrheitlich unbekannt war und diese durchaus auch irritierte: Während einer Versammlung der Frauengruppe in La Agonía sprach die Leiterin über innere Heilung, das Selbstwertgefühl und

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Interview Nr. 79, 16.7.2015. Vgl. Lumen gentium 36.

1 Die katholische Amtskirche

geistliche Kampfführung und erklärte, es sei gut, den Rosenkranz zu beten, aber es müsse auch einen persönlichen Dialog mit Gott geben. Auf diese Ausführungen folgte eine Phase des offenen Gebets, an dem sich im Unterschied zu pentekostalen Veranstaltungen nur wenige der Anwesenden aktiv beteiligten. Und nachdem die Leiterin die Versammlung mit denselben Worten, die bei den Versammlungen der Kapitel von TF und anderen Veranstaltungen pentekostaler Kirchen und Gemeinschaften für Frauen verwendet werden, beendet hatte – »Auf dass keine Frau, die durch diese Tür hineinkommt, als dieselbe wieder hinausgeht!«11 –, näherten sich ihr drei der Teilnehmenden, um sie um finanzielle Unterstützung zu bitten. Sie antwortete, dafür müssten sie sich an die Sozialpastoral wenden, denn sie selbst biete keine finanzielle Unterstützung, sondern Beratung an. Daraufhin entfernten sich die Bittstellerinnen. Es bleibt abzuwarten, ob Bemühungen wie die der Leiterin der Frauenpastoral zu einer Pentekostalisierung der katholischen Kirche in Costa Rica führen werden, wie Jakob Egeris Thorsen sie bezüglich der katholischen Kirche in Guatemala beschreibt.12

11 12

Feldforschungstagebuch 16.7.2015. Vgl. Egeris Thorsen 2015, 2016.

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2 Laienreligiosität

Die katholische Laienreligiosität ist von Feiern an Gedenktagen zahlreicher Schutzpatrone und von Wallfahrten geprägt, allen voran die Wallfahrt nach Cartago zur Basilika der Schutzpatronin Costa Ricas Nuestra Señora de los Ángeles. Der kleinen schwarzen Madonnenstatue La Negrita, die die Schutzpatronin verkörpert, werden starke Heilungskräfte zugesprochen. Um sie um Heilung zu bitten oder sich bei ihr für erfolgte Heilung zu bedanken, pilgern hunderttausende Menschen jedes Jahr am 2. August dorthin. Manche bewegen sich streckenabschnittsweise auf Knien voran und manche bringen metallene Votivgaben dar, die überwiegend Körperteile, aber auch Tiere, Werkzeuge, Waffen und Musikinstrumente abbilden. Unter einem Stein neben der Kathedrale, auf dem die Statue 1635 entdeckt worden sein soll, entspringt eine Quelle, und im Glauben an die heilende Wirkung des Wassers waschen sich die Menschen damit, trinken davon und füllen Flaschen damit, um es erkrankten Angehörigen zu bringen. Auch andere Heilige werden bei Problemen emotionaler, gesundheitlicher und finanzieller Art sowie in Alltagsangelegenheiten entsprechend ihrer Zuständigkeit um Hilfe gebeten, und um sie zur Fürsprache oder zur Heilung zu motivieren, werden Gelübde abgelegt. Darüber hinaus werden Personen verehrt, die bisher nicht von der katholischen Kirche als Heilige anerkannt sind, wie María Isabel Acuña und der Arzt Ricardo Moreno Cañas. María Isabel Acuña, die als la niña Marisa (das Mädchen Marisa) bezeichnet wird, verstarb 1954 im Alter von 14 Jahren und wurde bekannt für ihre feste Glaubensüberzeugung und ihre Zuwendung zu den Armen. Bald nach ihrem Tod wurden verschiedene Wunder ihrer Fürsprache zugeschrieben und bis heute bringen Menschen Briefe mit Bitten um Hilfe und Opfergaben zu ihrem Grab in Heredia. 2018 begann der Prozess ihrer Seligsprechung und viele hoffen, dass sie die erste costa-ricanische Heilige wird. Auch Moreno Cañas wird wie ein Heiliger verehrt und angebetet. Der Arzt und Politiker war bekannt für seine medizinischen Erfolge und für seine Zuwendung zu den Armen. 1938 wurde er ermordet. Die Mythenbildung begann unmittelbar nach seinem Tod, indem ihm Wunderheilungen zugeschrieben wurden. Ein verbreiteter Brauch besteht darin, abends neben seiner Fotographie eine Kerze zu entzünden, dort ein Glas mit Wasser hinzustellen und ihn um Heilung zu bitten. Das Wasser wird am kommenden Morgen getrunken, im Glauben, dass

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Gender und Heilung

Moreno Cañas es über Nacht in Medizin verwandelt hat. Es wird auch berichtet, dass er sich einzelnen Personen offenbart oder sie mit heilenden Medikamenten versorgt hat. Die Anthropologinnen May Brenes Marín und Mayra Zapparoli Zecca zitieren eine Frau, die erzählte, wie Moreno Cañas ihr in einer Arztpraxis erschienen sei. Dort seien ein Foto von ihm nebst Wasserglas und Kerze aufgestellt gewesen. Er habe durch eine Mitarbeiterin, die überraschend den Bewusstseinszustand gewechselt habe, mit heiserer Stimme zu ihr gesprochen und hellseherisches Wissen über ihre Familie kundgetan: »Ich ging in eine Praxis, auf dem Tisch befanden sich ein Glas mit Wasser, ein Foto von Doktor Moreno Cañas, eine Kerze und ein weißes Tuch. Die Frau, die mich empfing, fiel plötzlich in Trance, streckte ihre Hand aus, begrüßte mich mit heiserer Stimme und begann, mir Sachen über meine Familie zu sagen.«1 Der Glaube an übernatürliche Mächte über Gott und die Heiligen hinaus, an verschiedene Arten, diese zu beeinflussen, und an übernatürliche, positiv und negativ wirkende Kräfte bestimmter Personen ist verbreitet. 1996 gaben 46 Prozent der Katholikinnen und Katholiken in Costa Rica an, an Hexerei und Magie zu glauben.2 Die entsprechenden Glaubensinhalte und Praktiken werden auf indigene, spanische und afrikanische Wurzeln zurückgeführt und variieren von Region zu Region. Auch die Bezeichnungen für die Personen, die diese Praktiken ausüben, variieren. Es gibt chamanes (Schamanen) überwiegend indigener Herkunft, obeahmen (Obeah-Männer) afrokaribischer Herkunft, curanderas und curanderos (Heilerinnen und Heiler) sowie brujas und brujos, hechiceras und hechiceros (Hexen und Hexer). Die meisten Costa-Ricanerinnen und Costa-Ricaner wissen, wen sie konsultieren könnten, wenn sie übernatürliche Hilfe benötigten, aber wenige geben zu, dies getan zu haben.3 Brenes Marín und Zapparoli Zecca erklären, dass der Wunsch verbreitet ist, sich in Glaubensfragen möglichst nicht festzulegen, sondern sich alle spirituellen Möglichkeiten offenzuhalten. Sie zitieren eine Frau, die auf die Frage, ob sie an Hexen glaube, antwortete: »Nein, nein, ich glaube nicht an Hexen, aber es heißt, sie fliegen, und es stimmt – sie fliegen!«4 In ihrer Untersuchung der Laienreligiosität begrenzen sich Brenes Marín und Zapparoli Zecca auf den Großraum San José. Sie erklären, dass die sogenannten Hexen sich selbst überwiegend als consejeras espirituales (spirituelle Beraterinnen) bezeichnen, der katholischen Kirche angehören und die Heilige Barbara als ihre Schutz-

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Brenes Marín/Zapparoli Zecca 1991, 89. Vgl. Biesanz/Biesanz/Biesanz 1999, 242. Vgl. Biesanz/Biesanz/Biesanz 1999, 242f. Brenes Marín/Zapparoli Zecca 1991, 86.

2 Laienreligiosität

patronin verstehen.5 Im Interview erklärte Zapparoli Zecca, dass die spirituellen Beraterinnen eine wichtige soziale Funktion erfüllen, indem sie als Psychologinnen des Volkes wirkten, die die Sprache der überwiegend, aber nicht ausschließlich weiblichen Hilfe Suchenden sprächen, ihnen zuhörten und jederzeit zur Verfügung ständen. Sie nähmen sich mehr Zeit für Gespräche als Ärzte und versprächen im Unterschied zu Psychologen und Priestern eine baldige Lösung. Im Unterschied zu all jenen verhülfen die spirituellen Beraterinnen den Frauen zu innerer Ruhe: »Der Psychologe […] wird dir sagen, […] dass du im Anschluss an einen langen Prozess deine eigene Lösung suchen musst. Die Priester […] werden dir sagen, wenn eine Frau kommt, weil sie Probleme mit dem Ehemann hat oder so etwas […]: ›Die Frau muss leiden, weil die Jungfrau Maria die Leidende war und wir alle sein müssen wie Maria.‹ Und die Hexen bieten dir eine kurzfristige Lösung an. […] Die Personen gehen beruhigt nach Hause. Weil sie dir sagen: ›Mach dir keine Sorgen, es dauert ein Weilchen, ich kümmere mich sofort um das Problem.‹ […] Und ich warte ab, was passiert.«6 Die spirituellen Beraterinnen selbst führten ihre Gaben auf Gott zurück. Manche berichteten, diese zunächst nicht anerkannt haben zu wollen und ihretwegen verspottet worden zu sein. Dass sie die Gaben nun dennoch praktizierten, begründeten sie mit der Überzeugung, dass mit ihnen die Verantwortung verbunden sei, sie zum Wohl anderer zu nutzen: »Wir haben über 100 Hexen gefunden, die sagten, dass Gott ihnen die Fähigkeit gab. […] Sie sagten: ›Ich habe Gott gebeten, dass er mir diese Fähigkeit wegnimmt. Aber nein, es ist etwas von Gott Gegebenes, um dem Nächsten zu helfen.‹«7 Die spirituellen Beraterinnen werden in Krisensituationen konsultiert. Viele Frauen suchen Hilfe bei ihnen, weil ihr Ehemann sie verlassen hat, untreu ist oder missbräuchlich Alkohol konsumiert. Andere leiden an Konflikten mit ihren Kindern.8 Wenn jemand sich an eine spirituelle Beraterin wendet, identifiziert diese häufig einen Fluch als Grund für das Unglück der Person, der von einer anderen Person mit der Intention, Schaden zuzufügen, durchgeführt worden sei. Während der Glaube an die Wirksamkeit solcher Flüche unter Angehörigen aller gesellschaftlichen Schichten existiert und der Verdacht, Opfer eines Fluches geworden zu sein, verbreitet ist, findet die Anthropologin Maria Eugenia Bozzoli de Wille unter 100 befragten Personen keine, die berichtet, selbst einen Fluch praktiziert zu haben.

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Vgl. Brenes Marín/Zapparoli Zecca 1991, 82. Interview Nr. 59, 2.6.2015. Interview Nr. 59, 2.6.2015. Vgl. Brenes Marín/Zapparoli Zecca 1991, 100.135-149.

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Gender und Heilung

Daher benennt sie es als zentrale Funktion von Flüchen, persönliches Scheitern und persönliche Probleme zu erklären und eine praktikable Anleitung zum Umgang mit diesen zu ermöglichen, die in konkreten Akten der symbolischen Reinigung und des symbolischen Schutzes besteht und auf diese Weise ein Gefühl von Sicherheit und Harmonie erzeugt. Dies könne sogar die Heilung psychosomatischer Erkrankungen bewirken.9 Die Mittel und Methoden, die die spirituellen Beraterinnen verwenden, um Flüche unschädlich zu machen, Probleme zu lösen und Wünsche zu erfüllen, entstammen teilweise der offiziell anerkannten oder tolerierten katholischen Laienreligiosität. Dazu gehören Gebete zur Jungfrau Maria, zu diversen Heiligen, zum Mädchen Marisa und zu Moreno Cañas sowie der Rekurs auf Amulette, Kerzen, Räucherstäbchen, Votive und heiliges Wasser. Mit diesen werden weitere Mittel und Methoden wie das Karten-, Hand- und Eiweißlesen, das Vergraben oder Deponieren spezifischer Gegenstände oder Kräuter und das Trinken, Verabreichen, Aufstreichen oder Verspritzen spezifischer Flüssigkeiten kombiniert. Zapparoli Zecca, die selbst regelmäßig eine spirituelle Beraterin konsultierte, erzählte, dass sie ihr Universitätsseminar zur Einführung in die Anthropologie stets mit einer Präsentation in Costa Rica gebräuchlicher magisch-religiöser Mittel und Methoden begann. Einige dieser Mittel und Methoden erklärte sie während des Interviews: »Das Gebet zum Heiligen Alexius […] hilft, um die Nachbarn fernzuhalten. […] Der Zimt/ Wenn du Geld haben möchtest, kannst du diese Zimtsplitter in Wasser kochen, du tust einen kleinen Zypressenzweig dazu und etwas Zucker. Du kochst es, du tust es in einen Mixer. Das Wasser, das übrig bleibt, trägst du dir selbst auf oder gießt es auf den Boden des Hauses. Dies ist ein rotes Bändchen, […] das dient dem Schutz vor dem bösen Blick. Die Frauen befestigen ihren Kindern das hier drinnen am Hemd. […] Der böse Blick ist eine Sache, die manche Personen haben, die einem mit dem Blick Schaden zufügen können. […] Das […] hier heißt […] legitimes Komm-zu-mir-Pulver. […] Einmal habe ich es herumreichen lassen, und am Ende des Semesters kommt ein Paar zu mir, und sie sagen mir: ›Professorin, Sie haben ihr […] dieses Pulver gegeben, und jetzt sind wir ein Paar.‹ […] Das ist das Pulver des Kleinen Schwalbenseglers für Liebe, Glück und Geld. Alles ist für Liebe, Glück und Geld.«10 Der Heilige Alexius ist dafür bekannt, dass er alles Böse wie Feinde, Neid, Flüche und üble Nachrede fernhalten kann. Dass Zapparoli Zecca als Ziel des Gebets zu ihm die Herstellung größtmöglicher Distanz zu den Nachbarn nennt, ist ein Indiz für verbreitetes Misstrauen. Von diesem zeugt auch der Glaube an die Macht des mal de ojo (böser Blick), demzufolge manche Menschen mit magischen Kräften 9 10

Vgl. Bozzoli de Wille 2003. Interview Nr. 59, 2.6.2015.

2 Laienreligiosität

durch ihren Blick anderen Schaden wie Krankheit oder sogar den Tod zufügen können. Insbesondere Kinder sollen durch ihn gefährdet sein und durch rote Bänder am Handgelenk oder in der Kleidung davor geschützt werden. Das polvo de macuá (Pulver des Kleinen Schwalbenseglers) besteht aus dem gemahlenen Nest dieses Vogels, der als Symbol für Liebe, Glück und Geld gilt. Die von Zapparoli Zecca genannten magisch-religiösen Mittel sind in spezialisierten Geschäften erhältlich. Ein Journalist, der 1992 die Vorgänge im Geschäft El Arcano im Zentrum San Josés beobachtete, schreibt: »Die Zahl von Menschen, die El Arcano während der Stunde, die wir dort verbrachten, betraten, war unglaublich; vor allem Frauen mit Rezepten ihrer Hexen. Manche wollten einen bestimmten Mann für sich gewinnen, während andere einen Vorgesetzten fernhalten wollten, der sie sexuell belästigte. […] Eine sehr hübsche, ungefähr 23 Jahre alte Frau fragte nach den sieben Düften, um einen Mann zu erobern, und nach etwas Quecksilber. Der Verkäufer sagte mir: ›Dieser junge Mann wird im Nullkommanichts vor dem Altar stehen; wenn er da rauskommen will, muss er eine Superhexe finden.‹   Das Geschäft öffnete in den späten 1970ern mit einem Angebot von 132 Düften, und jetzt stehen in den Regalen mehr als 1500 mit suggestiven Namen wie Harmonie, Glück, sieben Düfte, sieben Machos, Wegöffner, Geh-weg-von-mir und Geldregen. Um einen Ehemann vom Herumstreunen abzuhalten, wird Bleib-zuHause angeboten, das auf seine Schuhsohlen gestrichen werden soll.«11 Auf die Frage, was eine spirituelle Beraterin tun könne, um einer Frau zu helfen, die unter häuslicher Gewalt leidet, antwortete Zapparoli Zecca, die Grenze der Wirkmacht spiritueller Beraterinnen sei der freie Wille der Menschen. Sie könnten Menschen graduell beeinflussen, aber nicht grundlegend verändern: »Es gibt […] den freien Willen. Ich kann dich nicht verändern. Also, sie […] können den Charakter einer Person weicher machen. Aber sie können ihn nicht ändern. […] Ich kann eine Plastikflasche nehmen, den Namen der Person darauf schreiben, Honig hineintun und in die Tiefkühltruhe legen. Damit friere ich ihn ein und mache ihn süß, damit er mich nicht mehr belästigt. Aber das Verhalten verändern, dass er geprügelt hat und nicht mehr prügelt, das nicht.«12 Vertreter der katholischen Amtskirche verzichten überwiegend auf Positionierungen gegenüber den Praktiken der spirituellen Beraterinnen. Dies führte Zapparoli

11 12

Luis Fernando Mata, »Brujas«, Revista Perfil, November 1992, 21-29, zit.n. Biesanz/Biesanz/ Biesanz 1999, 243. Interview Nr. 59, 2.6.2015.

227

228

Gender und Heilung

Zecca darauf zurück, dass letztere keine direkten Konfrontationen provozieren, sondern im Verborgenen arbeiten: »Die katholische Kirche […] mischt sich nicht ein. […] Es kann sein, dass mal in einer Predigt gesagt wird, […] dass die Bibel sagt, dass die Hexerei vom Teufel kommt und sowas. Aber nein. Und außerdem erzählen wir es nicht herum. […] Es gibt viele Leute, die hingehen [d.h. zu den spirituellen Beraterinnen] und es nicht gerne sagen, denn […] [andere Personen könnten denken oder sagen]: ›Wer weiß, was sie machen‹, oder ›was sie mit dem Ehemann machen‹ oder solche Sachen.«13 Diese Aussage wird durch die des Priesters der Gemeinde Corazón de Jesús in Alajuela bestätigt. Ihm war der Rekurs von Katholikinnen und Katholiken auf kirchlich nicht anerkannte Formen der Laienreligiosität bekannt. Er lehnte diese zwar ab, zeigte aber Verständnis für die Gründe dieses Verhaltens: »Es gibt Leute, die auf solche Praktiken zurückgreifen. […] Warum suchen sie diese Art von Hilfe? […] Wegen der Probleme, die sie haben. […] Ich ermahne sie, dass wir die größte Medizin in Gott haben. […] Die Leute greifen darauf zurück aus Ignoranz und […] manchmal aus Verzweiflung. […] Man weiß nicht, wohin, und dann sieht man einen Ausweg.«14 Während also diejenigen, die die katholische Amtskirche und diejenigen, die die teils offiziell anerkannte und teils nicht offiziell anerkannte Laienreligiosität vertraten, überwiegend in wechselseitigem, stillschweigendem Einvernehmen agierten, gestaltete sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Gruppen und den Angehörigen pentekostaler Kirchen und Gemeinschaften gänzlich anders.

13 14

Interview Nr. 59, 2.6.2015. Interview Nr. 59, 2.7.2015.

3 Die pentekostale Perspektive

Zu den Abgrenzungsstrategien evangelisch-pentekostaler Frauen gegenüber dem Katholizismus gehörte neben anderen die negative Bewertung der Kompetenz von Klerikern im Umgang mit familiären Konflikten und dem damit verbundenen seelischen Leid. Mit entsprechenden negativen Erfahrungen kontrastierten sie die positiven Erfahrungen, die sie diesbezüglich schließlich in pentekostalen Kirchen gemacht hätten. So berichtete eine Informantin: »Seitdem ich 17 Jahre alt war, […] ging ich mit allen Problemen zu den Priestern. […] Aber sie haben mich nie angemessen empfangen und mich nicht ins Zentrum durchgehen lassen, sie ließen mich in einem Abstellraum Platz nehmen und sagten: ›Ja, ich bete für dich.‹ Das war alles, was er mir sagte. […] Ich hatte das Gefühl, dass es dort keine Hilfe für mich gab. Und später erkannte ich, dass es viel Hilfe gab, als ich zur Kirche kam, zum CCVN. Dort […] haben wir viel Hilfe, viel Wachstum und viel Beratung empfangen.«1 Eine andere Informantin, die bis zum Tod ihres Mannes unter dessen Misshandlungen gelitten hatte, schilderte ihre Suche nach Hilfe, die sie zunächst von der katholischen Kirche zur sogenannten Hexerei und schließlich zu einer pentekostalen Kirche geführt habe:2 »Wie lernt man Gott kennen? Immer, wenn man Probleme hat. […] Probleme mit dem Ehemann. Ich ging zur katholischen Kirche, zu einem Priester, weil mein Mann zu viel trank und sehr gewalttätig und sehr eifersüchtig und sehr machohaft war. […] Ich betete zu den Heiligen. […] Und ich ging zu Priestern. […] Und was sagte er mir? […] Er sagt mir: ›Wenn Julio seit 60 Jahren so ist, wer wird ihn ändern?‹ […] Das entmutigte mich so sehr. […] Und Gott sei Dank kam ich zu diesem Gebetshaus, […] um jemanden kennenzulernen, den man bitten kann und der einem antwortet. […] [Ich hatte Hilfe gesucht] sogar bei Hexern. […] Wenn man

1 2

Interview Nr. 44, 7.5.2015. Chesnut beschreibt ähnliche Prozesse der Suche nach Hilfe in Brasilien, die über den Katholizismus und Umbanda zum Pentekostalismus führen, vgl. Chesnut 2003b, 2011.

230

Gender und Heilung

verzweifelt ist. […] Ich suchte wie verrückt, überall. Und dann kam der Moment, als ich zu diesem Mädchen kam, […] und diese Frau war ein Segen für mich.«3 Für beide Informantinnen bestand der Mehrwert des Pentekostalismus gegenüber dem Amtskatholizismus ebenso wie gegenüber der Laienreligiosität im Umgang mit familiären Konflikten und seelischem Leid. Die zuletzt zitierte Informantin berichtete, dass ihr Mann sie auch nach ihrer Konversion misshandelte. Folglich war es ihrer pentekostalen Unterstützerin ebenso wenig möglich wie zuvor Priestern und sogenannten Hexern, ihn zu verändern. Dennoch veränderte sich ihre Situation. Evangelische Pentekostale beurteilten die von katholischer Seite offiziell anerkannten ebenso wie die nicht offiziell anerkannten Praktiken der Laienreligiosität als Pakte mit dem Teufel und waren überzeugt, dass von ihnen eine destruktive Macht ausging. So führten sie den Brand einer evangelischen Kirche darauf zurück, dass in der Nachbarschaft eine sogenannte Hexe gewohnt hätte. Auch katholische Pentekostale kritisierten anerkannte ebenso wie nicht anerkannte Praktiken der katholischen Laienreligiosität. Ihr negatives Urteil über anerkannte Praktiken war durchaus deutlich, wurde aber vorsichtiger formuliert als ihr Urteil über nicht anerkannte Praktiken. Manche Pentekostale, die vor ihrer Konversion die als Hexerei bezeichneten Praktiken ausgeübt hatten, erklärten, dass sie sich damit seit jeher unwohl gefühlt, aber erst nach der Konversion verstanden hätten, dass der wahre Grund für dieses Unwohlsein im teuflischen Ursprung der Praktiken bestehe. Im Folgenden werden zwei Informantinnen zitiert, die evangelisch-pentekostalen Kirchen angehörten und vor ihrer Konversion Erfahrungen mit Praktiken der anerkannten und der nicht anerkannten Laienreligiosität gemacht hatten. Die erste wuchs bei ihrer Großmutter auf, die ihrer Darstellung zufolge sowohl eine überzeugte Katholikin als auch eine spirituelle Beraterin war. Ihr Bericht illustriert die Vermischung offiziell anerkannter Praktiken der katholischen Laienreligiosität mit solchen, die die Grenze des offiziell Anerkannten überschreiten. Auf dem Hausaltar ihrer Großmutter hätten Bilder von spirituellen Meistern wie Moreno Cañas neben Heiligenbildern gestanden, und die dargestellten Personen hätten jeweils das erhalten, was sie laut Überlieferung motiviert, helfend einzugreifen. So habe sie selbst oder die Großmutter zwischen die Kerzen für die Heiligen stets ein Glas mit Wasser für Moreno Cañas gestellt. Die Großmutter wurde von Frauen besucht, denen sie die Hand las und aus Eiweißen weissagte. Sie habe sich in Trance begeben, um andere durch sich sprechen zu lassen, und mit Verstorbenen kommuniziert. Um ihre Enkeltochter vor dem bösen Blick zu schützen, habe sie Bäder mit pflanzlichen Zutaten bereitet und mit Gebeten versehen und habe ihr Armbänder mit roten Bohnen umgebunden. Gleichzeitig habe sie aktiv in der katholischen

3

Interview Nr. 43, 28.4.2015.

3 Die pentekostale Perspektive

Gemeinde mitgewirkt. Ihrer Enkeltochter habe sie mitgeteilt, dass diese von ihr die spirituellen Gaben erben würde. Diese erklärte nun rückblickend das religiöse Verhalten der Großmutter mit einer Täuschung des Teufels, der sie habe glauben lassen, sie handle gottgefällig: »Meine Großmutter war einerseits sehr, sehr katholisch, mit vielen Heiligen, also, sie hatte einen Tisch, den nannte sie den Tisch der Heiligen, dort waren viele Madonnen und Heilige und all das, sie hatte immer ihre Kerzchen angezündet, […] zwischen diesen Heiligen hatte sie Bilder von Meistern, die sie Meister Ali nannte, Meister Moreno Cañas, die waren ihre spirituellen Führer. […] Andere Frauen besuchten […] meine Großmutter, und sie haben die Hand gelesen, […] nahmen das Eiweiß […] und lasen es. […] Sie begab sich in Trance und begann zu sprechen, einmal hörte ich sie sogar wie ein Mann sprechen, in anderen Sprachen sprechen, italienisch sprechen, sowas wie chinesisch sprechen, […] seltsame Sprachen, die sie nicht kannte. […] Meine Mutter war tot und mein Großvater auch, und sie kommunizierte viel mit ihnen, sie kommunizierte mit den Toten, und sie sagte mir: ›Deine Mutter sagt dies oder jenes.‹ […] Sie bereitete mir viele Bäder mit seltsamen Pflanzen und Gebeten und Dingen, nicht wahr, also ließ sie mich in diesem Wasser baden und sagte, das ist, um den bösen Blick zu heilen. […] Sie sagte, ich würde die Gaben von ihr erben. Kleine Armbänder mit kleinen roten Bohnen, die […] ein Symbol hatten, […] das band sie mir um die Hand. […] Sie war Leiterin der katholischen Kirche. […] Mit neun, zehn Jahren, war ich Beterin des Rosenkranzes, mit der ganzen Litanei, […] also wurde ich zu allen Rosenkranzgebeten an das Jesuskind eingeladen. […] Das wird stark mit der Religion vermischt, deshalb bringt es viel Verwirrung mit sich, ich habe das Gefühl, das ist es, was meiner Großmutter passierte, denn sie glaubte an die katholische Kirche, […] sie war sehr religiös, […] aber mit dem ganzen Kram mit all diesen Heiligen, […] das war Teil ihrer Religion. […] Sie praktizierte all das als Teil der katholischen Religion. Sie hatte das Gefühl, dass das alles gut war, richtig war und dass sie damit Gott gefiel. Also war es diese Täuschung. […] Im Fall meiner Großmutter war es eine Mischung aus sehr sehr starker Religiosität, die auch dazu gehört, nicht wahr, die Täuschung des Feindes, aber sie praktizierte all diese Dinge innerhalb des katholischen Rahmens als Teil ihrer Religion.«4 Die im Folgenden zitierte Informantin nannte eheliche und finanzielle Probleme als Gründe, aus denen sie Hexen und Hexer konsultiert habe. Diese hätten ihr verschiedene Mittel gegeben, um die Promiskuität ihres Mannes zu beenden, die eheliche Liebe zu erneuern und die finanzielle Not zu lindern. Rückblickend stellte sie fest, all diese Versuche hätten nicht geholfen, weil durch sie lediglich der Teufel wachsenden Einfluss erhalten und in zunehmendem Umfang habe destruktiv 4

Interview Nr. 74, 13.7.2015.

231

232

Gender und Heilung

wirken können. Erst infolge der Konversion sei ihre Ehe geheilt worden, weil die Absage an die Hexerei und die Hinwendung zu Gott dem Teufel den Einfluss genommen hätten, so dass Gott habe konstruktiv wirken und heilen können, was der Teufel zerstört hätte. Doch als zwei ihrer Söhne drogenabhängig geworden seien, habe sie erneut Hilfe in der Hexerei gesucht, bis ihr offenbart worden sei, dass dies Gottes Wirkmöglichkeiten verhindere, so dass sie ein Mittel, das ein Hexer ihr zur Heilung eines der Söhne gegeben hätte, entsorgt habe. Dies habe die Heilung des Sohnes ermöglicht: »Ich hatte drei Kinder, und mein Mann hat mich sehr misshandelt. Ich kannte Gott nicht, also begann ich, […] Orte der Hexerei zu besuchen, um meine Ehe in Ordnung zu bringen. […] Manchmal war mir mein Mann untreu, also ging ich zu Hexen, damit sie irgendetwas für mich taten. Wenn ich ein Foto von irgendeiner Frau fand, nahm ich es mit zu einer Hexe, damit sie etwas tut, und sie schickte mich, um Quecksilber zu kaufen, Friedhofserde zu besorgen und schwarze Nadeln. […] Sie gab es mir, eingeschlagen in ein Stück Stoff, und ich habe es vergraben. Das habe ich nur einmal gemacht, um eine Frau zu entfernen, die meinem Mann begegnet war. Dann, bei anderen Gelegenheiten, wurde ich angeleitet, […] ein Stück Papier mit dem Namen des Ehemannes unter der Fußsohle zu befestigen, um es immer dabei zu haben, damit mein Mann sich mir unterordnet. Aber vielleicht zwei Tage lang war mein Mann zärtlich und dann wurden die Dinge […] noch schwieriger. […] Wir waren sehr arm. […] Ich arbeitete so viel ich konnte im Haus und mein Mann arbeitete als Busfahrer, und manchmal bat er selbst mich darum, einer Hexe zu sagen, dass sie ihm etwas gibt, was er im Bus versprühen konnte, damit die Leute einsteigen. Und manchmal waren wir zusammen bei einem Hexer, damit er die Ehe in Ordnung bringt, wenn er merkte, dass wir kurz davor waren, zu/ weil wir viel stritten, und sie gaben uns ein Parfum, das wir uns auftragen sollten. Ein fürchterlicher Gestank. Und das machte die Sachen noch schlimmer. Wir wurden angeleitet, Zitronen kreuzförmig aufzuschneiden und unter das Bett zu stellen, Wassergläser unter das Bett zu stellen. Von all dem hat nichts, nichts, nichts funktioniert. […] Manchmal wurden uns Tarotkarten gelesen, […] und die Zukunft wurde uns vorhergesagt, und wir bekamen einen Glücksbringer, den wir in unsere Tasche legen sollten, damit wir genug Geld hätten. […] Dann kamen wir beide zum Herrn, […] es wurde für uns gebetet, für unsere Ehe, und wir lernten Gottes Wort kennen. […] Zwei meiner Söhne […] bekamen Alkohol- und Drogenprobleme. Es waren zehn sehr harte Jahre, in denen ich, die ich Gottes Wort kannte, […] das Gefühl hatte, Gott antwortete nicht […] und ich fiel zurück in die Hexerei. Ich habe sie wieder konsultiert, um zu sehen, ob sie eine Antwort hätten, um meine Söhne da heraus zu holen. […] Einmal gaben sie mir ein Wasser mit Kräutern, das ich ihnen geben sollte. […] Jeden Tag erwartete ich, dass mein Sohn kam, um ihm einen Löffel von der Medizin in sei-

3 Die pentekostale Perspektive

nem Saft zu geben. […] Eines Morgens, als ich betete, […] sagte ich dem Herrn: ›Herr, bitte, hol meinen Sohn von den Drogen weg‹, und der Herr sagte mir: ›Das Problem ist, du hast zwei Herren.‹ […] Ich verstand das nicht, und am nächsten Morgen betete ich wieder und der Herr sagte mir: ›Das Problem ist, du hast zwei Herren, ich kann nichts tun.‹ Und ich sagte ihm: ›Was soll ich tun? Wer ist der andere Herr?‹ Und der Herr zeigte mir die Flasche mit der Medizin, die ich ihm [d.h. dem Sohn] gab. Also ging ich, nahm sie mit, warf sie weg, und zwei Wochen später entschied mein Sohn, in ein Zentrum zu gehen, um geheilt zu werden.«5 Während katholische Pentekostale ihre Zugehörigkeit zur katholischen Amtskirche betonen, kritisieren sie die Laienreligiosität, insbesondere die sogenannte Hexerei, vehement. Im Anschluss an die dargestellten Erfahrungsberichte stellt sich die Frage, was dazu führte, dass die zitierten Informantinnen im Anschluss an die als enttäuschend beschriebenen Erfahrungen mit Personen, die die Amtskirche und die Laienreligiosität repräsentierten, schließlich im Pentekostalismus Hilfe und Heilung fanden.

5

Interview Nr. 80, 18.7.2015.

233

4 Schlussfolgerungen

Das skizzierte Spektrum der Positionierungen innerhalb der katholischen Kirche jenseits der RCC gegenüber dem Anliegen, zur seelischen Heilung von Hilfe Suchenden, insbesondere von Frauen, beizutragen, ist erheblich. Während ein Priester kein Bedürfnis nach seelischer Heilung sah, nahm ein anderer dieses Bedürfnis durchaus wahr. Die Cursillo-Bewegung rezipierte Schlüsselbegriffe des pentekostalen Heilungsdiskurses und die nationale Leiterin der Frauenpastoral bemühte sich, die Frauenpastoral mit bischöflichem Einverständnis nach den zentralen Prinzipien des pentekostalen Heilungsdiskurses umzugestalten. Es bleibt zu untersuchen, in welcher Weise pentekostale Elemente im Allgemeinen und der pentekostale Heilungsdiskurs im Besonderen die katholische Kirche in Costa Rica auch jenseits der RCC prägen und ob von einer beginnenden Pentekostalisierung der katholischen Kirche in Costa Rica gesprochen werden kann.1 Die dargestellte Laienreligiosität kombiniert von der katholischen Kirche offiziell anerkannte mit nicht anerkannten Praktiken. Die Grenzen zwischen offiziell Anerkanntem und nicht Anerkanntem sind fluide. Die Laienreligiosität zielt auf die Lösung emotionaler, gesundheitlicher und finanzieller Probleme, als deren Fachfrauen Katholikinnen mit besonderen spirituellen Gaben gelten, die sich selbst überwiegend als spirituelle Beraterinnen bezeichnen und häufig, nicht nur von Pentekostalen, als Hexen bezeichnet werden. Die spirituellen Beraterinnen wirken therapeutisch, indem sie Gespräche ermöglichen, persönliche Probleme und Leiderfahrungen ernst nehmen, sie interpretieren und praktische Lösungsanleitungen in Form von Akten der Reinigung und des Schutzes geben. Auf diese Weise erzeugen sie bei den Hilfe Suchenden ein Gefühl von Kontrolle, Geduld und Zuversicht. Berichte über Priester, die ihre emotionalen Bedürfnisse nicht wahrnahmen, waren Teil des Abgrenzungsnarrativs pentekostaler Frauen gegenüber der katholischen Kirche. In Bezug auf spirituelle Beraterinnen berichteten Frauen, die inzwischen pentekostalen Kirchen angehörten, hingegen durchaus, dass jene ihre emotionalen Bedürfnisse wahrgenommen hätten, aber dass sie die Lösungsstrategien

1

Vgl. Egeris Thorsen 2015, 2016.

236

Gender und Heilung

als unwirksam erlebt hätten. Worin bestehen also die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen dem laienreligiösen und dem pentekostalen Heilungsdiskurs? Auslöser für die Konsultation einer spirituellen Beraterin ist ebenso wie für die Konsultation einer pentekostalen Beraterin üblicherweise eine Krisensituation infolge emotionaler, gesundheitlicher oder finanzieller Probleme. Akute emotionale Krisen der Frauen hängen oft mit dem Verlassen- oder Misshandeltwerden durch den Partner, Promiskuität oder missbräuchlichem Alkoholkonsum des Partners oder mit Konflikten mit den Kindern zusammen. Eine spirituelle Beraterin ermöglicht ebenso wie eine pentekostale Beraterin ein Gespräch, das für viele Frauen erstmals die Gelegenheit bietet, Emotionen und Erfahrungen zu verbalisieren und zu reflektieren. Eine spirituelle Beraterin führt die Probleme ebenso wie eine pentekostale Beraterin auf das Wirken negativer spiritueller Mächte zurück und befreit dadurch die Beteiligten von Schuld. Um die Probleme zu lösen, werden hier wie dort positive spirituelle Mächte angerufen, um die negativen zu besiegen. Was den laienreligiösen und den pentekostalen Heilungsansatz im Umgang mit diesen Problemen unterscheidet, sind die Ziele und die Methoden, die dem Erreichen der Ziele dienen sollen. Während laienreligiöse Praktiken auf eine Veränderung der Bedingungen zielen, zielen die pentekostalen Praktiken der inneren Heilung auf eine innere Veränderung der Person und auf einen veränderten Umgang mit den Bedingungen. Während laienreligiöse Praktiken auf konkrete Akte der symbolischen Reinigung und des symbolischen Schutzes begrenzt sind, bedient sich das pentekostale Heilungssystem, insbesondere im Kontext spiritueller Heilung, ebenfalls konkreter Akte der symbolischen Reinigung und des symbolischen Schutzes, darüber hinaus aber auch eines umfangreichen Repertoires seelsorglich-psychotherapeutischer Methoden. Zwar unterscheidet auch die Frage der Bezahlung spirituelle von pentekostalen Beraterinnen, insofern spirituelle Beraterinnen im Unterschied zu pentekostalen üblicherweise für ihre Beratungsdienste bezahlt werden. Aber da die Zugehörigkeit zu einer pentekostalen Kirche durchaus auch mit finanziellen Ansprüchen verbunden ist, scheint dies nicht der entscheidende Unterschied zu sein. Vielmehr macht der therapeutische Ansatz den Unterschied. So entspricht Zapparoli Zeccas Aussage, spirituelle Beraterinnen könnten gewalttätige Ehemänner nicht grundlegend verändern, den Berichten pentekostaler Frauen, die gerade in Bezug auf dieses Problem erklärten, dass Hexen ihnen ebenso wenig geholfen hätten wie Priester, während sie schließlich in einer pentekostalen Kirche Hilfe gefunden hätten, obwohl auch mit Hilfe pentekostaler Unterstützerinnen und Unterstützer es oft nicht und wenn, dann nicht sofort gelingt, dass etwa Ehepartner ihr Fehlverhalten überwinden. Folglich liegt das Spezifikum des pentekostalen Heilungsdiskurses im untersuchten Kontext sowohl gegenüber der katholischen Amtskirche als auch gegenüber der Laienreligiosität erstens in der pragmatischen Überzeugung, dass es notwendig ist, sich selbst und den eigenen Umgang mit den Bedingungen zu verändern, um Ressourcen zu aktivieren, Handlungsoptionen zu

4 Schlussfolgerungen

erhalten und die Situation beeinflussen zu können, und zweitens in dem umfangreichen seelsorglich-psychotherapeutischen Methodenrepertoire, das der Umsetzung dieser Überzeugung dient.

237

Vierter Teil: Auswertung der Ergebnisse

1

Hauptergebnisse

1.1

Innere Heilung und Agency

Untersuchungen der Frage, worin die Anziehungskraft des Pentekostalismus auf Frauen in Lateinamerika besteht, setzen wiederholt ein dualistisches Konzept von Agency voraus, demzufolge Frauen angesichts patriarchaler Überzeugungen ausschließlich die beiden Möglichkeiten haben, sich diesen entweder zu unterwerfen oder gegen sie aufzubegehren. Von dieser Grundüberzeugung ausgehend wurde die Beobachtung, dass im Pentekostalismus sowohl patriarchale Geschlechterrollen verstärkt als auch überwunden oder transformiert werden, vielfach als paradox bezeichnet.1 Des Weiteren wurden auf der Grundlage eines funktionalistischen Religionsverständnisses die Auswirkungen des Pentekostalismus auf Frauen zu deren Konversionsgründen erklärt, so dass eine verbreitete Antwort auf die Frage nach der Anziehungskraft des Pentekostalismus in dessen emanzipatorischem Potential besteht. Der skizzierten Argumentation liegt eine Naturalisierung von Freiheit und Autonomie des Subjekts zugrunde, die dazu führt, dass Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten jenseits des Dualismus von Unterdrückung und Subversion nicht wahrgenommen werden. Machtbeziehungen und Strukturen sind aber notwendige Bedingungen der Subjektwerdung, außerhalb derer es nicht möglich ist zu handeln2 und innerhalb derer sowohl Normen konsolidiert oder resignifiziert3 als auch auf vielfältige Weise erfahren, bewohnt und gelebt werden können.4 Von dieser Überzeugung ausgehend wurde untersucht, auf welche Weise Frauen in Costa Rica jenseits des genannten Dualismus pentekostale Überzeugungen erfahren und welche Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten diese ihnen eröffnen, um zu verstehen, worin die transformative Macht des pentekostalen Diskurses für sie besteht. Mit diesem Ziel wurden die Artikulationen und Praktiken pentekostaler Frauen genau wahrgenommen und analysiert, um ihre Glaubensüberzeugungen 1 2 3 4

Vgl. bes. Martin 2001; außerdem Drogus 1997; Mariz/das Dores Campos Machado 1997; Burdick 1998; Montecino/Obach 2001; Lorentzen/Mira 2005; English de Alminana 2016. Vgl. Foucault 1978, 1980, 1983. Vgl. Butler 1991, 1997. Vgl. Mahmood 2012, bes. 22f.

242

Gender und Heilung

zu rekonstruieren und ihre Interpretationen eigener Erfahrungen verständlich zu machen. Das erste der beiden zentralen Ergebnisse dieser Arbeit ist, dass die transformative Macht des Pentekostalismus für Frauen im untersuchten Kontext vom Heilungsdiskurs ausgeht, und zwar in erster Linie von dem Teilbereich des Heilungsdiskurses, der als innere Heilung bezeichnet wird. Vorausgesetzt, Agency wird nicht als Synonym für Widerstand gegen Beherrschungsbeziehungen konzeptualisiert, sondern als Fähigkeit, innerhalb konkreter historisch bedingter Beziehungen der Unterordnung mit spezifischen Intentionen, Plänen und Wünschen zu handeln, ermöglicht die Erfahrung innerer Heilung Agency, insofern sie Handlungsoptionen schafft. Diese Handlungsoptionen sowie die ihnen zugrunde liegenden Überzeugungen und Praktiken werden im Folgenden zusammenfassend dargestellt. Eine grundlegende Überzeugung des Heilungsdiskurses besteht darin, dass der Mensch ein dreiteiliges Kompositum aus Körper, Seele und Geist ist, die miteinander interagieren. Weil vielfältigen Arten von Leid pneumopsychosomatische Ätiologien zugeschrieben werden, werden in der Heilungspraxis Methoden der spirituellen, seelischen und körperlichen Heilung kombiniert. Im vorgefundenen Kontext stand die Heilung seelischen Leids, das durch Erfahrungen physischer, psychischer und sexueller Gewalt verursacht war, im Zentrum sowohl des wahrgenommenen seelsorglich-therapeutischen Handelns an Frauen als auch der Erfahrungsberichte der Informantinnen. Eine weitere grundlegende Überzeugung besteht darin, dass es notwendig ist, sich selbst zu verändern, um die Lebenssituation zu verändern und dass dies wiederum voraussetzt, sich mit sich selbst und der eigenen Biographie zu versöhnen. Die umfassende Versöhnung soll durch die Vergebung des Fehlverhaltens anderer und eigenen Fehlverhaltens sowie durch eine Transformation des Selbstkonzepts erreicht werden. Der Vergebung kommt im Heilungsprozess die zentrale Bedeutung zu, insofern ihr Gelingen als entscheidend dafür gilt, dass persönlich und sozial destruktiv wirkende Emotionen und Verhaltensweisen durch konstruktiv wirkende ersetzt werden. Daher besteht das Ziel vielfältiger seelsorglich-therapeutischer Methoden darin, Vergebung zu ermöglichen. Zur Transformation des Selbstkonzepts tragen die Bewusstwerdung der Liebe Gottes etwa durch biographische Neuinterpretationen sowie positive Gemeinschaftserfahrungen und die Identifikation eigener Fähigkeiten bei. Es heißt, dass sich auch die Entscheidung zur Vergebung auf das Selbstkonzept auswirkt, insofern die Erfahrung, sich selbst durch eine aktive Entscheidung von der emotionalen Fixierung auf den Täter oder die Täterin zu befreien, als Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Kontrolle interpretiert wird, die dazu beiträgt, erlernte Hilflosigkeit zu überwinden. In vielen Fällen speist sich das transformierte Selbstkonzept zudem aus der Aneignung eines marianistisch geprägten Frauenbildes, infolgedessen traditio-

1 Hauptergebnisse

nell weibliche Tätigkeitsbereiche in den Augen der Frauen selbst und in den Augen anderer aufgewertet werden. Ist die Versöhnung mit sich selbst durch die umfassende Vergebung und die Transformation des Selbstkonzepts erfolgt, führt dies nach pentekostaler Überzeugung zur Überwindung persönlich und sozial destruktiv wirkender Emotionen und Verhaltensmuster und infolgedessen in vielen Fällen zu transformierten Beziehungen. Darüber hinaus helfen einige der seelsorglich-therapeutisch Tätigen Hilfe suchenden Frauen, konkrete Verhaltens- und Kommunikationsstrategien im Umgang mit dem Ehemann, mit den eigenen Kindern, mit anderen Menschen oder auch mit materiellen Gütern wie Finanzen zu entwickeln. Nichts weist darauf hin, dass die vorgefundenen Heilungspraktiken Frauen hinsichtlich ihres Einsatzes für die Überwindung privater Konflikte oder ihres gesellschaftspolitischen Engagements hemmen.5 Vielmehr verleihen sie ihnen eine emotionale Basis, aus der konkrete Handlungsoptionen für die Lebensgestaltung erwachsen. Die Erfahrungen pentekostaler Frauen in Alajuela auf der Grundlage der Binarität von Unterwerfung und Subversion zu interpretieren, würde bedeuten, ihre Ziele nicht wahrzunehmen. Ihr Ziel besteht nicht in der Überwindung der Autorität ihrer Ehemänner, weil sie nicht deren Autorität kritisieren, sondern den Missbrauch dieser Autorität. Ihr Ideal besteht nicht in der Abwesenheit von Autorität über sie, sondern in einer verantwortungsvollen Gestaltung dieser Autorität. Sie verfolgen nicht das Ziel der Subversion patriarchaler Normen, sondern das Ziel, sich im Rahmen der Normen entfalten zu können. Aus der Konversion ergibt sich für viele Frauen sowohl eine durch die Überzeugung, dass die Ehe nach Gottes Willen nicht aufzulösen ist, gefestigte Bindung an ihre Ehemänner, die auch mit Unterordnung verbunden ist, als auch eine gestärkte Position ihnen gegenüber. Die Stärkung ist einerseits durch das transformierte Selbstkonzept zu begründen und beruht andererseits auf der neuen Ressource der spirituellen Autorität. Diese ergibt sich aus dem in den Kirchen erworbenen bibelkundlichen Wissen und aus der wachsenden Fähigkeit, biblisch-theologisch zu argumentieren, und wirkt sich effektiv in der Auseinandersetzung mit den Partnern aus, weil diese die christliche Autoritätstradition teilen und die christliche Wahrheit, an der ihre Frauen durch ihre persönliche Beziehung zu Jesus Christus partizipieren, nicht infrage stellen. So führt die katholische Autoritätstradition dazu, dass die Mehrheit selbst solcher Männer, die die Kirchen ihrer Ehefrauen und deren Engagement kritisieren oder verspotten, christliche Grundannahmen wie die Existenz, die Macht und das Gericht Gottes, die Autorität der Bibel und die Existenz und Macht des Teufels nicht infrage stellen und es als spirituelles Risiko interpretieren würden, die moralische

5

Gegen Cordero 2003 und Calderón 2015.

243

244

Gender und Heilung

und spirituelle Überlegenheit ihrer Ehefrauen zu missachten.6 Obwohl also die Position von Frauen in der Beziehung zu ihren Partnern in mancher Hinsicht infolge ihrer Konversion gestärkt wird, ist die Erlangung von Macht über sie nicht der Zweck ihrer Konversion. Auch die Frage der Geschlechterhierarchie im Allgemeinen steht nicht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Vielmehr bilden patriarchale Überzeugungen im untersuchten Kontext vor ebenso wie nach ihrer Konversion den normativen Rahmen ihrer Lebensgestaltung, und die Rolle des Mannes als Haupt in einer Ehebeziehung wird nicht infrage gestellt. Die Frage, wie eine Ehebeziehung gelingen kann und welche Verantwortung beide Eheleute dafür tragen, gilt jedoch als zentraler als die Frage nach der Hierarchie. Die Untersuchung des religiösen Kontextes des Pentekostalismus in Costa Rica, der in erster Linie durch die katholische Amtskirche und die katholische Laienreligiosität einschließlich der sogenannten Hexerei geprägt ist, bestätigt, dass das als transformativ erfahrene Spezifikum des pentekostalen Heilungsdiskurses erstens in der Überzeugung besteht, dass es notwendig ist, die eigene Person zu verändern, um zu einem veränderten Umgang mit den Bedingungen zu gelangen, und zweitens im seelsorglich-psychotherapeutischen Methodenrepertoire, das dazu dient, diese Überzeugung umzusetzen. Ob und inwiefern dieser Ansatz zunehmend in die katholische Kirche jenseits der RCC Eingang erhält, bleibt abzuwarten und zu untersuchen.

1.2

Diskursive Verflechtungen

Im Sinne einer genealogischen Kontextualisierung7 wurden die identitätspolitischen Aushandlungsprozesse untersucht, deren Ergebnisse die vorgefundenen Selbstverständnisse konkurrierender kirchlicher Gruppen sind. Es wurde gezeigt, inwiefern sedimentierte Abgrenzungspraktiken8 dazu führten, dass evangelische und katholische Pentekostale existierende diskursive Übereinstimmungen, die auf Interaktionen im Kontext der charismatischen Erneuerungsbewegung und darüber hinaus zurückzuführen sind, mehrheitlich nicht wahrnehmen. Die binäre Konzeptualisierung cristiano (christlich)/evangélico (evangelisch) versus religioso (religiös)/católico (katholisch) wirkt sich auch auf wissenschaftliche Untersuchungen des lateinamerikanischen Pentekostalismus aus, insofern historische Verflechtungen und die daraus resultierenden diskursiven Übereinstimmungen zwischen evangelischen und katholischen Pentekostalen kaum wahrgenommen werden. 6

7 8

Vgl. zur geteilten Autoritätstradition als Machtressource für muslimische Frauen in Ägypten Mahmood 2012, 178. Vgl. zur verbreiteten Anerkennung christlicher Grundannahmen in Costa Rica infolge der katholischen Autoritätstradition Kessler 1995, 21. Vgl. Bergunder 2012, 41-47; 2018, 211-215; Maltese 2015, 79. Vgl. Maltese 2017 u.a. 359.361.430.

1 Hauptergebnisse

Hier wurde hingegen das Gewordensein des lokalen Heilungsdiskurses untersucht. Das zweite zentrale Ergebnis dieser Studie ist, dass der lokale pentekostale Heilungsdiskurs das Ergebnis denominationsüberschreitender Interaktionen auf lokaler und globaler Ebene ist. Das umfangreiche Repertoire psychotherapeutischseelsorglicher Methoden entstand, indem evangelische und katholische Praktizierende der inneren Heilung Erfahrungen austauschten, Methoden voneinander übernahmen und letztere an ihren Kontext adaptierten, miteinander kombinierten und auf diese Weise transformierten. Die Dominanz des Heilungsdiskurses mit dem Fokus auf der inneren Heilung ist im untersuchten Kontext ein zentrales Merkmal des pentekostalen diskursiven Netzwerks. Die Teilhabe an diesem Diskurs verbindet katholische und evangelische Pentekostale und unterscheidet sowohl evangelische Pentekostale von evangelischen Nichtpentekostalen als auch Angehörige der RCC von anderen Katholikinnen und Katholiken. Anhand der Genealogie des Heilungsdiskurses wurde gezeigt, dass erstens »pentekostal« eine denominationell übergreifende Kategorie ist und dass zweitens nicht die katholische Kirche als passive Empfängerin einer Pentekostalisierung durch evangelische Kirchen zu verstehen ist, sondern dass die Gestalt des pentekostalen Diskurses das Ergebnis wechselseitiger Beeinflussungen ist.

245

2 Implikationen

2.1

Pentekostalismusforschung

Am Beispiel des costa-ricanischen Pentekostalismus wurde gezeigt, dass essentialistische Definitionen von »pentekostal« oder »evangelikal« nicht dazu beitragen, spezifische Interessen verschiedener Gruppen sowie synchrone und diachrone Verbindungen zwischen diesen wahrzunehmen. Dennoch sind sie in der Erforschung des costa-ricanischen Pentekostalismus1 sowie in der Pentekostalismusforschung im Allgemeinen verbreitet, wenn etwa der Pentekostalismus als »evangelikale Erneuerungsbewegung«2 definiert wird und auch wenn Kriterien von »pentekostal«, »evangelisch« oder »evangelikal« als »Familienähnlichkeit[en]«3 verstanden werden. Die Feststellung, dass der Pentekostalismus eine heterogene Bewegung ist, gehört zum Konsens der Pentekostalismusforschung, und gleichwohl werden daraus »keine ernsthaften Konsequenzen gezogen.«4 Ein historisierender Ansatz hingegen, der »pentekostal« und »evangelisch« oder »evangelikal« als Namen versteht, die von verschiedenen Menschen, die spezifische Ziele verfolgen, mit spezifischen Inhalten gefüllt werden und der den Pentekostalismus als globalen Diskurs versteht, ermöglicht es, der Heterogenität, Kontingenz und Fluidität des Pentekostalismus gerecht zu werden. Dies bedeutet für die Pentekostalismusforschung, dass politische Dynamiken auf lokaler Ebene ebenso wie Verwicklungen in globale Prozesse zu berücksichtigen sind, um Verbindungen und Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Gruppen untersuchen und daraus resultierende diskursive Entwicklungen einordnen zu können. Diesem Ansatz entspricht »eine genealogisch-ethnographische Rekonstruktion, die pfingstliche Schlagworte und Narrative ausgehend von ihrem gegenwärtigen Gebrauch auf ihr historisches Geworden-

1

2 3 4

Vgl. Valverde 1991; Bastian/Fanger/Wehr/Werz 2000; Calderón 2015. Dies gilt auch dort, wo Ähnlichkeiten zwischen Evangelischen und Katholikinnen und Katholiken beobachten werden, vgl. Steigenga 2001; Dawley 2018. Köhrsen 2017, 133. Anderson 2010, 15.17.26. Maltese 2017, 612.

248

Gender und Heilung

sein hin erforscht und in den konkreten Kontext einfügt«5 und deren Anwendung in verschiedenen Regionen es ermöglichen würde, »Mehrheitspraxis und Devianzen innerhalb der weltweiten Pfingstbewegung so miteinander in Beziehung [zu] bringen, dass dies auch eine Gesamtdarstellung des globalen Pentekostalismus ermöglichen würde«6 .

2.2

Poimenik

Auf zwei Aspekte der Ergebnisse dieser Untersuchung sei als Impulse für die Poimenik und die evangelisch-landeskirchliche Seelsorgepraxis in Deutschland verwiesen. Der erste besteht im Heilungspotential der Vergebung, deren Praxis in der Praktischen Theologie bisher wenig Aufmerksamkeit erhalten hat, obwohl die Vergebung sowohl in der christlichen Dogmatik einen festen Platz hat als auch ihre therapeutische Wirksamkeit durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien bestätigt wird.7 Während sich »in religiöser Erbauungsliteratur […] vielfältige Hinweise auf die Notwendigkeit der Vergebung«8 finden und in der Psychologie »vergebungsorientierte therapeutische Interventionen«9 entwickelt wurden, sind praktisch-theologische Überlegungen dazu, »wie sich Vergebung konkret vollziehen kann, welche einzelnen Schritte notwendig sind, um den Prozess möglichst wirksam zu gestalten, welche heilsamen Auswirkungen daraus erwachsen können, mit welchen Widerständen und Schwierigkeiten aber auch zu rechnen ist, und wie das Ganze so zu systematisieren wäre, dass man Menschen, die gerne vergeben möchten, sich jedoch aus inneren Gründen dazu nicht in der Lage sehen, […] anleiten und unterstützen kann«10 , kaum zu finden. Beate Weingardt untersucht die zwischenmenschliche Vergebung in ihrer Dissertation theologisch und empirisch,11 doch weiter geht der Psychotherapeut Konrad Stauss, der auf der Basis christlicher Grundüberzeugungen ein siebenphasiges Vergebungs- und Versöhnungsmodell entwickelt.12 In seinen Erläuterungen zur Bedeutung und Praxis der Vergebung finden sich zahlreiche Überschneidungen mit dem pentekostalen Heilungsdiskurs in Alajuela, von denen einige exemplarisch genannt werden 5 6 7

8 9 10 11 12

Maltese 2017, 613. Maltese 2017, 614. Neben anderen Tausch 1993; Worthington/Scherer 2004; Enright/Hildenbrand 2006; Stammel/Knaevelsrud 2009; Worthington/Sandage 2016. Zu den Auswirkungen psychotherapeutischer Vergebungsarbeit mit Frauen, die sexuellen Missbrauch erlitten vgl. Freedman/Enright 1996. Klessmann 2010, 17. Stauss 2010, 24. Klessmann 2010, 17. Weingardt 2003. Stauss 2010.

2 Implikationen

sollen. So erklärt Stauss wie einige der Informantinnen dieser Untersuchung, dass die Vergebung nicht die Reue der Person, die einen verletzt hat, voraussetzt, aber Verständnis für den Hintergrund dieser Person.13 Er rekurriert auf das Bild der Narbe, um zu erklären, dass vergeben nicht zum Vergessen, sondern zum schmerzfreien Erinnern führt,14 und verwendet damit dasselbe Bild wie eine costa-ricanische Pastorin, als diese die Auswirkungen der Vergebung erläuterte. Er erwähnt die Technik des leeren Stuhls, die Hilfe Suchenden einen Dialog mit dem Täterintrojekt ermöglichen soll, in dem Anklagen verbalisiert und emotional ausgedrückt werden.15 Trotz Differenzen im Detail erinnert diese Methode an die des in dieser Arbeit untersuchten Stellvertretungsgebets. Und schließlich betont Stauss die Bedeutung eines Rituals für den Vollzug der Vergebung und beschreibt dessen spirituelle Auswirkungen mit christlich-theologischen Begriffen: »In der Regel entsteht bei diesem Ritual eine sehr dichte emotionale und spirituelle Atmosphäre und man kann das Heilige förmlich mit Händen greifen. Dies ist eine Verdichtung von spiritueller Energie, wie ich sie in meiner dreißigjährigen Praxis als Psychotherapeut selten erlebt habe. […] Dieses Phänomen würde man religiös mit der spürbaren Präsenz des Heiligen Geistes oder als Erlebnis der ›Gegenwärtigkeit des Reichs Gottes‹ [Anführungszeichen im Original] beschreiben.«16 Die Überschneidungen zwischen Stauss’ psychologisch-theologisch begründeter therapeutisch-spiritueller Vergebungs- und Versöhnungsarbeit und der pentekostalen Heilungspraxis in Alajuela, die von vielen Frauen als erlösend erfahren wird, mögen trotz aller Unterschiede im Detail und notwendiger theologischer Kritik etwa an der Drohung mit den eschatologischen Konsequenzen der Nichtvergebung als Plädoyer dafür gelesen werden, in der hiesigen seelsorglichen Praxis dem Bedürfnis nach Heilung emotionaler Verletzungen und nach Versöhnung vermehrt mit einer konkreten Unterstützung zur Vergebung zu begegnen und in der Praktischen Theologie die Grundlagen dafür zu schaffen.17 Der zweite Aspekt, auf den hier als Impuls für Poimenik und Seelsorgepraxis verwiesen sei, ist die Frage nach dem Umgang mit dem Bösen in der Seelsorge. Dämonen die Verantwortung für destruktiv wirkende Emotionen, für konkretes Fehlverhalten, für gesellschaftspolitische Missstände und Naturkatastrophen zu geben, stellt das »postaufklärerische Weltbild der nordatlantischen bildungsbürgerlichen Mittelschichten radikal in Frage«18 , denen überwiegend nicht bewusst ist, dass der Glaube an Geister und Dämonen auch in Europa und Nordamerika verbreitet ist,19 13 14 15 16 17 18 19

Vgl. Stauss 2010, bes. 114-199. Stauss 2010, 118. Vgl. Stauss 2010, 142f.145. Stauss 2010, 154. Vgl. auch Klessmann 2017, 72-74. Währisch-Oblau 2012, 66. Vgl. Währisch-Oblau 2012, 66f ; 2015, bes. 203-207.

249

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Gender und Heilung

dass ihr »Weltbild […] im ökumenischen Kontext […] eine Minderheitenposition«20 darstellt und »dass weltweit gesehen, die Abgrenzung und Austreibung des Bösen und Lebenswidrigen einen wesentlichen Anteil dessen ausmacht, was […] unter christlicher Seelsorge verstanden wird.«21 Claudia Währisch-Oblau leitet aus den wahrnehmbaren Auswirkungen des Glaubens an Dämonen die Forderung an die Praktische Theologie ab, das Thema der Vollmacht im pastoralen und gemeindlichen Handeln zu enttabuisieren und eine stärkere, theologisch begründete seelsorgliche Praxis von Lossprechung zu entwickeln.22 Wolfgang Drechsel kritisiert eine unzureichende Reflexion des Umgangs mit Geisterfahrungen, mit denen auch Seelsorgerinnen und Seelsorger evangelischer Landeskirchen in Deutschland konfrontiert werden. Dieses Defizit führe dazu, dass das Eingeständnis entsprechender Erfahrungen schambesetzt und mit der Angst verbunden sei, nicht ernst genommen zu werden. Er stellt fest, dass in der hiesigen Seelsorgepraxis im Umgang mit destruktiv wirkenden Erfahrungen ausschließlich auf eine »innerpsychische Integrationsleistung […] oder auf die Eigenständigkeit der Verarbeitung durch das Individuum im Sinne einer Ressourcenorientierung«23 gesetzt wird, und kritisiert, dass dies Menschen, die die Begegnung mit dem Bösen als übernatürlich erleben, nicht gerecht wird. Aus Währisch-Oblaus und Drechsels Einschätzungen lässt sich zweierlei ableiten: Erstens ist es zugunsten eines ökumenischen Dialogs im lokalen ebenso wie im globalen Kontext notwendig, den Glauben an Dämonen sowie Möglichkeiten des Umgangs damit theologisch zu reflektieren, anstatt entsprechende Überzeugungen und Praktiken als voraufklärerisch abzuwerten und zu ignorieren. Zweitens käme es in seelsorglicher Perspektive sowohl jenen Menschen, die Begegnungen mit dem Bösen als übernatürlich erleben, als auch Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die mit entsprechenden Erfahrungen konfrontiert werden, zugute, wenn dadurch entstehende Fragen nicht tabuisiert, sondern theologisch reflektiert würden. Das Ziel sollte keinesfalls darin bestehen, Praktiken der geistlichen Kampfführung schlichtweg zu übernehmen, sondern darin, entsprechende »Glaubensaussagen, die unserer Tradition fundamental eigen sind, in eine konkrete und verantwortete pastorale und gemeindliche Praxis umzusetzen.«24

2.3

Feministische Theologie

Für die feministische und genderbewusste Theologie stellt diese Untersuchung eine Herausforderung dar, insofern hier gilt, was bereits in Bezug auf die Analy20 21 22 23 24

Währisch-Oblau 2012, 66. Drechsel 2017, 435f. Währisch-Oblau 2012, 67. Drechsel 2017, 436. Währisch-Oblau 2012, 67. Vgl. als weiterführenden Ansatz Josuttis 2000, bes. 39-43.181-184.

2 Implikationen

se religiöser Bewegungen durch feministische Forschende im Allgemeinen festgestellt wurde. So bedeutet für feministische und genderbewusste Theologinnen und Theologen die Beobachtung, dass Frauen mit dem Pentekostalismus eine Bewegung aktiv unterstützen, die Prinzipien der weiblichen Unterordnung vertritt, ein Dilemma, weil dieses Verhalten einem vermeintlich natürlichen Streben nach Befreiung zu widersprechen scheint. Dass die Auseinandersetzung mit diesem Dilemma bisher überwiegend vermieden wurde, belegt Heike Walz’ Feststellung: »Ein völlig unbearbeitetes Feld ist, wie die theologische Geschlechterforschung auf fundamentalistische, evangelikale und konservative Theologien reagiert.«25 Sie fragt: »Ist hier ein Dialog möglich, auch wenn beide Seiten kaum davon ausgehen werden, dass die andere Seite auch Recht haben könnte?«26 Solch ein Dialog könnte gefördert werden, indem versucht würde zu verstehen, worin die Bedeutung des Pentekostalismus aus der Perspektive pentekostaler Frauen selbst besteht. Hingegen kann eine feministische Theologie, die ein dualistisches Konzept von Agency auf der Grundlage einer Naturalisierung des Strebens nach Befreiung von Normen vertritt, Interpretations- und Handlungsoptionen angesichts patriarchaler Normen jenseits des Dualismus von Widerstand und Unterwerfung nicht wahr-, geschweige denn ernst nehmen. Vielmehr lässt solch ein Konzept ausschließlich die beiden Optionen zu, entweder den in dieser Untersuchung skizzierten Pentekostalismus als Instrument einer patriarchalen Ideologie abzulehnen oder zu zeigen, inwiefern Frauen, die pentekostalen Kirchen angehören, Widerstand leisten, auch wenn sie ihr Verhalten nicht feministisch begründen. So identifiziert etwa Mary McClintock Fulkerson einen verdeckten Widerstand in den explizit submissiven Einstellungen pentekostaler Predigerinnen der Church of God (Cleveland), dessen Form sie mit deren Sozialisierung als marginalisierte Angehörige der Arbeiterklasse erklärt.27 Diese Interpretation wird jedoch den Anliegen der Untersuchten ebenso wenig gerecht wie Bruscos Analyse pentekostaler Frauen in Kolumbien, die sie zu heimlichen Feministinnen erklärt.28 Auch die postkoloniale feministische Theologie, die die Begrenzung der feministischen Theologie auf die Perspektive von Frauen aus dem nordatlantischen Raum kritisiert und deren Verdienst es ist, dass Perspektiven aus anderen Regionen der Welt in den feministisch-theologischen Diskurs einbezogen wurden,29 sowie die genderbewusste Theologie, die mit Verweis auf Butler die Binarität der Geschlechter hinterfragt,30 halten am Dualismus von Unterdrückung und Subversion fest. Aus dieser Untersuchung ergibt sich daher die Frage an die feministische und genderbewusste Theologie, wie sie mit Frauen umgeht, 25 26 27 28 29 30

Walz 2008, 32. Walz 2008, 32. Vgl. McClintock Fulkerson 1996. Vgl. Brusco 1993, 1995, 2010. Vgl. neben anderen Dube 2013; Pui Lan 2013. Vgl. den Überblick in Tiplady Higgs 2017. Vgl. Karle 2006; Wendel 2010.

251

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Gender und Heilung

die sich selbst als nicht feministisch bezeichnen, ohne diesen entweder die eigenen Ziele zuzuschreiben oder ihnen jegliche Agency abzusprechen. Auch zugunsten eines ökumenischen Dialogs, dessen Ziel darin besteht, gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen, ist es dringend erforderlich, diese Frage zu beantworten.

A Verzeichnis der Interviews

1. Alajuela, 7.3.2015 2. Alajuela, 9.3.2015 3. Alajuela, 10.3.2015 4. Alajuela, 12.3.2015 5. Alajuela, 12.3.2015 6. Alajuela, 12.3.2015 7. Alajuela, 13.3.2015 8. Alajuela, 18.3.2015 9. Alajuela, 16.3.2015 10. Alajuela, 17.3.2015 11. Alajuela, 18.3.2015 12. La Garita, 19.3.2015 13. Santa Bárbara, 19.3.2015 14. Alajuela, 23.3.2015 15. Alajuela, 23.3.2015 16. Pilas, 24.3.2015 17. Pilas, 24.3.2015 18. Alajuela, 25.3.2015 19. Alajuela, 26.3.2015 20. Alajuela, 27.3.2015 21. Desamparados, 30.3.2015 22. Alajuela, 30.3.2015 23. Coyol, 31.3.2015 24. Alajuela, 1.4.2015 25. Alajuela, 4.4.2015 26. Ciruelas, 7.4.2015 27. Jacaranda, 7.4.2015 28. Alajuela, 8.4.2015 29. Alajuela, 9.4.2015 30. Alajuela, 10.4.2015 31. Alajuela, 11.4.2015

254

Gender und Heilung

32. Alajuela, 14.4.2015 33. Alajuela, 15.4.2015 34. Alajuela, 15.4.2015 35. Alajuela, 17.4.2015 36. Alajuela, 18.4.2015 37. Alajuela, 20.4.2015 38. Alajuela, 22.4.2015 39. Alajuela, 23.4.2015 40. Alajuela, 23.4.2015 41. Alajuela, 24.4.2015 42. Alajuela, 27.4.2015 43. Alajuela, 28.4.2015 44. Alajuela, 7.5.2015 45. Alajuela, 8.5.2015 46. La Guácima, 11.5.2015 47. Alajuela, 12.5.2015 48. Alajuela, 13.5.2015 49. Alajuela, 14.5.2015 50. San Pedro, 15.5.2015 51. Alajuela, 19.5.2015 52. Alajuela, 21.5.2015 53. Alajuela, 26.5.2015 54. Alajuela, 27.5.2015 55. Alajuela, 27.5.2015 56. Alajuela, 28.5.2015 57. San José de Alajuela, 29.5.2015 58. Alajuela, 1.6.2015 59. San José, 2.6.2015 60. Alajuela, 3.6.2015 61. Alajuela, 4.6.2015 62. Alajuela, 5.6.2015 63. Alajuela, 15.6.2015 64. Alajuela, 16.6.2015 65. Alajuela, 16.6.2015 66. Alajuela, 17.6.2015 67. Alajuela, 17.6.2015 68. Alajuela, 18.6.2015 69. Alajuela, 23.6.2015 70. Alajuela, 2.7.2015 71. Alajuela, 8.7.2015 72. Alajuela, 9.7.2015

A Verzeichnis der Interviews

73. Alajuela, 10.7.2015 74. Alajuela, 13.7.2015 75. San José de Alajuela, 13.7.2015 76. Alajuela, 14.7.2015 77. Alajuela, 15.7.2015 78. Alajuela, 16.7.2015 79. Alajuela, 16.7.2015 80. Alajuela, 18.7.2015 81. Alajuela, 27.7.2015 82. Alajuela, 28.7.2015

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C Karten

Religionswissenschaft Frederik Elwert, Martin Radermacher, Jens Schlamelcher (Hg.)

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Religionswissenschaft Antje Mickan, Thomas Klie, Peter A. Berger (Hg.)

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Religion, Spiritualität, Medizin Alternative Religiosität und Palliative Care in der Schweiz 2018, 218 S., kart., 9 SW-Abbildungen, 3 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4165-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4165-7

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