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German Pages 251 [252] Year 2005
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MLLER
BAND 108
STEFFEN SCHNEIDER
Archivpoetik Die Funktion des Wissens in Goethes »Faust II«
n MAX NIEMEYER VERLAG TBINGEN 2005
Gedruckt mit Untersttzung des Frderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-15108-0
ISSN 0440-7164
Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, Mnchen http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Gulde Druck GmbH, Tbingen Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhaltsverzeichnis
I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Elemente einer Archivpoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Archiv als Wissensordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Archiv und Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Wanderjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vom Roman zum Drama: Vorbemerkungen zum Faust II . . . .
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III. Thessalien – Das Gedächtnis einer Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die thessalische Muse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prosopopoiie – Erichtho als Stimme des Archivs . . . . . . . . . . . . 3. Thessaliens Textnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Das Wissen der Geister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geologie und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mythologie zwischen Wissenschaft und Utopie . . . . . . . . . . . . 4. Die fiktionsimmanente Mythenverwendung. . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Die Immanenz des Schönen und der Versuch ihrer Überwindung: Helena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Autonomie des Trugbilds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eidolon – Euripides im dritten Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Augenblick und Augen-Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Schlußbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 VII. Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. Johann Wolfgang Goethe: Benutzte Ausgaben und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
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I. Einleitung
Zu den Eigentümlichkeiten des Faust II gehört der große Reichtum und die Mannigfaltigkeit der in das Stück eingebauten Bezüge auf andere Texte, Diskurse und sonstige Elemente dessen, was das Wissen der Goethezeit bildete. Der Dramentext kann als ein Gewebe aus Zitaten und Anspielungen erscheinen, als ein Archiv, in dem Spuren von Prätexten und literarischen, musikalischen und ikonographischen Formen, aber auch von wissenschaftlichen und technischen Abhandlungen aufbewahrt sind. Diese Beobachtung der Präsenz heterogenster und vielfältigster Wissenselemente ist an sich keineswegs neu, die Faustforschung hat wohl die meisten der ästhetischen und nichtästhetischen Bezüge des Dramas längst in minutiösen Studien aufgearbeitet. Von den Referenzen auf Euripides bis zur Dramatisierung zeitgenössischer Militärtheorie, von Shakespeare bis zum geologischen Diskurs der Epoche hat man alles verzeichnet und kommentiert, was Goethe in mehr oder weniger offensichtlicher Form in dieses Drama »hineingeheimnisset« hat.1 So eindeutig diese Tatsache der Verarbeitung unterschiedlicher, dem Text vorausliegender Materialien aber auch ist – es bleibt umstritten, welche Funktion, welche Voraussetzungen und welchen literaturgeschichtlichen Stellenwert eine solche Praxis des Schreibens haben könnte, die darin besteht, den poetischen Text im ständigen kommunikativen Austausch mit dem Wissen der Zeit zu vernetzen. Lange Zeit nahm man die zahlreichen Prätexte des Faust höchstens als Quellen, Stoff oder Einflüsse wahr, und ein Vergleich dieser Quellen mit dem Drama konnte dann bestenfalls zum Ziel haben, Einsichten in den Schaffensprozeß, in die geistesgeschichtliche Stellung und in die Originalität des Faust zu gewinnen. In der neueren Forschung hat u.a. Albrecht Schöne aus der Beobachtung der Fülle von Zitaten und Anspielungen poetologische Konsequenzen gezogen.2 Ausgehend von der Vorstellung, es handele sich bei dem Drama um einen »Speicher«,3 folgerte er, die darin enthaltenen Elemente müßten auch eine eigene Bedeutsamkeit besitzen: 1 2
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Die Formulierung stammt aus einem Brief an Karl Friedrich Zelter vom 26./27.7. 1828, in: FA I, 7/1, S. 822. Es gibt jedoch ältere Texte, die hier Vorbildfunktion besitzen; besonders sei an Karl Reinhardts Interpretation der klassischen Walpurgisnacht erinnert, in der Reinhardt die zahllosen Quellentexte nicht nur nachweist, sondern vielmehr als miteinander dialogisierende Stimmen behandelt. Vgl. Karl Reinhardt: Die klassische Walpurgisnacht. Entstehung und Bedeutung. In: Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt a.M. 1965, S. 102–146. FA I, 7/2, 11.
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[...] viele solcher angeeigneten fremden Schätze sind im Faust keineswegs so aufgegangen und unkenntlich geworden, so eingeschmolzen, daß ihre Herkunft belanglos bliebe, sind hier vielmehr in erkennbarer Form aufbewahrt und auf eine herkunftsbezogen bedeutsame Weise eingesetzt worden. 4
Das Neue an dieser Argumentation war, daß dem verarbeiteten Wissen damit der Rang eines Bedeutungsträgers zugewiesen wurde. Der Rezipient muß nicht nur den Kommentar lesen, weil sich ihm bei der Lektüre Schwierigkeiten in den Weg stellen, die sich aus dem historischen Abstand und der Verschiedenheit der Bildung ergeben; auch ist die gelehrte Beschäftigung mit Goethes Wissen nicht mehr nur von geistesgeschichtlicher Bedeutung für Germanisten; der Rückgriff auf den Kommentar gehört vielmehr, so läßt sich aus Schönes Darlegungen folgern, zum Faust selbst, zur Poetik des Dramas, zum Werkbegriff, den er unter Verwendung einer populären Selbstcharakteristik Goethes als den eines être collectif versteht. Diesen Begriff gebrauchte Goethe einmal gegenüber Frédéric Soret, um damit sein Lebenswerk zu beschreiben: Qu’ai-je fait? J’ai recueilli, utilisé tout ce que j’ai entendu, observé. Mes œuvres sont nourries par des milliers d’individus divers, des ignorants et des sages, des gens d’esprit et des sots. L’enfance, l’âge mûr, la vieillesse, tous sont venus m’offrir leurs pensées, leurs facultés, leur manière d’être, j’ai recueilli souvent la moisson que d’autres avaient semée. Mon œuvre est celle d’un être collectif et elle porte le nom de Goethe.5
Diese auf das Gesamtwerk gemünzte Aussage trifft laut Schöne in besonderer Weise auf die Struktur des Faust zu. Er zieht den Begriff des ›Kollektivwesens‹ heran, um die beschriebene Wissensfülle des Dramas als Ergebnis kollektiver Autorschaft darzustellen. Das Werk erscheint als ein Mit- und Nebeneinander verschiedener Stimmen, die unter dem Namen Goethes zu einem Ganzen verwoben wurden, dessen vielfältige Ursprünge von der Rezeption jedoch aufzudecken und bei der Interpretation zu berücksichtigen sind. Schönes Appell an die intertextuelle Sensibilität der Rezipienten bleibt jedoch darin unbefriedigend, daß er nicht wirklich über die Gegenüberstellung von Text und Kommentar hinauskommt. Die entscheidende Frage, wie diese Präsenz heterogener Elemente mit der unbestrittenen Eigenständigkeit des Textes vereinbar sein soll, wie sich der Begriff eines Werkes zu dem eines Speichers verhält, bleibt ungeklärt. In ähnlicher Weise wie Schöne betont auch Ulrich Gaier die Notwendigkeit, bei der Lektüre von Goethes Faust die intertextuellen Verweise mit-
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FA I, 7/2, S. 28f. In: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Bd. III/2. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und herausgegeben von Wolfgang Herwig. Zürich/Stuttgart 1972, S. 839, Nr 6954. (Vgl. auch FA I, 7/2, S. 27.)
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zuvollziehen. Jedoch bestimmt er das Verhältnis von Text und Referenztext konkreter als Schöne, wenn er das Drama als »Text über (mitteilende) Texte und eine Dichtung über Dichtungen und Gemälde«, als ein »metapoetisches Werk« charakterisiert.6 Während Schöne die Funktion der Prätexte offen läßt, begreift Gaier das Drama als deren poetischen ›Kommentar‹. Er setzt die Existenz von Spuren aus heterogenen Bereichen des goethezeitlichen Wissens mit der Präsenz der Ursprungskontexte selbst gleich und versucht, aus den Spuren die ursprüngliche Gestalt der zitierten Diskurse wiederherzustellen. Für dieses Vorgehen benutzt er den Begriff der »Lesart«: Die verstreuten Bezüge auf ein je spezifisches Wissensfeld bzw. einen Text werden miteinander zu einem Diskurs verbunden, der im Faust wiedergefunden wird. Eine Lesart ist dann ein »thematischer und gewissermaßen mitteilender argumentativer Zusammenhang des ganzen Textes«,7 die Verbindung einzelner Elemente zu einer zusammenhängenden Aussage über Gegenstände des Wissens. Solche Aussagezusammenhänge, die Gaier verfolgt, sind Religion, Naturphilosophie, Magie, Geschichte, Soziologie, Ökonomie, Anthropologie, Poetik.8 Das hermeneutische Ziel von Gaiers Vorgehen einer umfassenden Diskursrekonstruktion besteht darin, die Widersprüche des Dramas aufzulösen, semantische Überdeterminationen zu vereindeutigen und am Ende Faust als einen kompendienartigen Überblick über das gesamte Wissen der Epoche zu verstehen, noch mehr: als Wissen dieses Wissens darzustellen. Auf diese Weise geht jedoch die Spezifität des intertextuellen Verfahrens verloren. Der Text wird geglättet – denn in Wahrheit kommen die ›fremden‹ Texte nur transformiert, fragmentiert und zerstreut vor. Seine Brüche, Mehrfachcodierungen, Uneindeutigkeiten sind zunächst einmal in ihrer jeweiligen poetischen Gestalt ernstzunehmen und auf ihre Funktion zu befragen. Problematisch bleibt auch die Bestimmung des Dramas als Kommentierung von Wissen; zu klären wäre, welche poetische Funktion dieser Kommentar zum Epochenwissen besitzen könnte – worin also der ›Mehrwert‹ einer Reflexion auf Wissen in der Form eines Dramas bestünde. Zwischen der Beschreibung der gegebenen Form des Textes, die durch kombinatorische Verarbeitung von Prätexten zustandekommt, und der Form kohärenter ›Lesarten‹ klafft eine interpretatorische Lücke, die es zu schließen gilt. Gaier selbst hat an anderer Stelle die Doppelheit der intertextuellen Gestalt des Faust II betont, die einerseits im beständigen Selbstbezug, andererseits im Fremdbezug, nämlich der Kommentierung von Wissen besteht.9 Es wird die Aufgabe dieser Studie 6 7 8 9
Vgl. Ulrich Gaier: Kommentar 2. In: Johann Wolfgang Goethe: Faust-Dichtungen. Hg. u. kommentiert von Ulrich Gaier. Stuttgart 1999. Bd. III, S. 12. Ebd. So lauten die Überschriften in Gaiers Kommentar, der die einzelnen »Lesarten« aufschlüsselt. Vgl. hierzu seinen Aufsatz: Dialektik der Vorstellungsarten als Prinzip in Goethes ›Faust‹. In: Interpreting Goethe’s Faust today. Ed. by. Jane K. Brown u.a. Columbia 1994, S. 158–171,
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sein, beide Seiten miteinander in Beziehung zu setzen und zu zeigen, daß sich das Drama im Medium seiner Intertextualität einen Reflexionsraum schafft, in dem es die eigene Poiesis thematisieren und über den Ursprung des Dargestellten reflektieren kann. Der Akzent liegt dabei nicht auf der Wiederholung, sondern auf der Transformation des vorgefundenen semantischen Materials. Dieses verliert durch die poetische Verarbeitung seinen ursprünglichen Status. Der Universalitäts- und Wahrheitsanspruch der Wissensbestände wird relativiert, indem sie zum Material der Dichtung werden. Die Anleihen Goethes aus dem zeitgenössischen Wissensfundus sind jeweils nur partikular, nur für eine bestimmte Stelle gültig. Die Bezüge wechseln einander ab, überlagern sich, ohne einen stabilen Diskurs zu ergeben. Sie funktionieren nicht als das Ganze umgreifender Kontext.10 Die dramatische Darstellung wird zu einem Prozeß der Relationierung und Transformation von Wissen. Zunächst ist die Verwendung des Wissensbegriffs erklärungsbedürftig. In seiner einfachsten Bedeutung wäre er gleichzusetzen mit dem, was ein Kommentar zum Faust enthalten könnte. Das ›Wissen‹ des Dramas beinhaltete demnach alle Elemente, die der Goethezeit in irgendeiner Weise relevant und daher bewahrenswert schienen – das, was in Zeitschriften, Büchern und anderen Publikationsformen veröffentlicht wurde; was man in Enzyklopädien und Lexika nachschlagen und mit seinen Kommunikationspartnern austauschen und diskutieren konnte. In dieser allgemeinen Form kann die Frage nach der Funktion des Wissens im Faust II nicht zureichend beantwortet werden: zu unspezifisch wäre der Gegenstand. In einem engeren und präziseren Sinn bezeichnet der Begriff des Wissens nicht nur das Geäußerte, sondern die Weise, in der Äußerungen getroffen werden können, und die historischen Bedingungen, denen sie unterliegen müssen, um als ›Wissen‹ gelten zu können. Ein solch restringierter Wissensbegriff betrifft nicht mehr Elemente des Wissens, wie sie die Kommentare auflisten, sondern Diskurs- und Kommunikationsformen, deren Gestalten historisch kontingent sind, die auftauchen und wieder
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bes. S. 169: »Der Faust zeigt nichts, teilt ›unterm Strich‹ nichts außerhalb seiner Liegendes mit, er zeigt auf sich, er teilt sich mit.« Vgl. Christoph König: Wissensvorstellungen in Goethes ›Faust II‹. In: Euphorion 93 (1999), S. 227–249. Auch König sieht, daß »die Traditionen zugunsten der Konstruktion ästhetisch negiert werden« und sich »gelehrtes und literarisches Wissen im dramatischen Gang der Ereignisse kaum über einzelne Sequenzen hinaus Geltung verschaffen [kann].« Ebd., S. 228. Daher ist nach der reflexiven Verwendung dieses Wissens und nicht auschließlich nach dessen Darstellung durch das Drama zu fragen. Dagegen betont Gernot Böhme die Legitimität der Frage, »welche Lehrinhalte der Faust enthält und inwiefern Goethes belehrende Absicht für die Gestalt des Faust bestimmend war. Jedenfalls ist es legitim, den Faust wenigstens in der Tradition der großen Lehrgedichte zu lesen, deren dichterischen Rang Goethe ausdrücklich anerkannte, also beispielsweise in der Tradition von Ovids Metamorphosen und Lukrez’ De rerum natura.« Gernot Böhme: Kann man Goethes »Faust« in der Tradition des Lehrgedichts lesen? In: Goethe-Jahrbuch 117 (2000), S. 67–77, hier S. 70.
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verschwinden, aber zugleich immanente Regeln besitzen, durch die sich ihre Gestalt von den Vorgängern und Nachfolgern unterscheidet. Die Frage nach der Funktion des Wissens im Faust betrifft also das Verhältnis dieser Dichtung zum ›Archiv‹ im Sinne Foucaults und der Diskursanalyse, die sich für die Gesetzmäßigkeiten des wissenschaftlichen und poetischen Wissens interessiert. Als Archiv hat Foucault die transzendentale Möglichkeit diskursiver Regelmäßigkeiten, deren »historische[s] Apriori«11 bestimmt, das wieder verschwindet, wenn es sich erschöpft hat. Es definiert bei Foucault die »Ebene [...] einer Praxis, die eine Vielfalt von Aussagen als ebenso viele regelmäßige Ereignisse, ebenso viele der Bearbeitung und der Manipulation anheimgegebene Dinge auftauchen läßt. [...] [Z]wischen der Tradition und dem Vergessen läßt sie die Regeln einer Praxis erscheinen, die den Aussagen gestattet, fortzubestehen und zugleich sich regelmäßig zu modifizieren. Es ist das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen.«12 Die These der vorliegenden Untersuchung ist, daß Goethe in seinem Spätwerk auf die entscheidenden strukturellen Veränderungen im Archiv der Epoche poetologisch in einer Weise reagiert, die dem zweiten Teil des Faust und auch den Wanderjahren, denen ein kurzer Abschnitt des ersten Kapitels gewidmet ist, einen besonderen Stellenwert innerhalb des Gesamtwerks verleiht. Die für die vorliegende Studie relevanten Veränderungen lassen sich mit den Begriffen Temporalisierung, Evidenzverlust und Krise der Repräsentation, der Beobachtung zweiter Ordnung und Autopoesis bezeichnen. Folgen wir zunächst Michel Foucaults Darstellung der Repräsentation als Weise, die Beziehung zwischen Worten und Dingen zu verstehen. Das ›klassische‹ Denken, d.h. etwa die Zeit zwischen Descartes und Kant, geht von einem Begriff der Repräsentation aus, in der das Wissen als Abspiegelung einer vorausgesetzten Ordnung des Seins verstanden wird.13 Wissen besteht darin, die Aussagen in eine mit der bestehenden Struktur der Wirklichkeit übereinstim-
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Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1981, S. 184ff. Ebd, S. 188. Dagegen versteht er unter ›Episteme‹ »die Gesamtheit der Beziehungen, die man in einer gegebenen Zeit innerhalb der Wissenschaften entdecken kann, wenn man sie auf der Ebene der diskursiven Regelmäßigkeiten analysiert.« Ebd., S. 273. Um ein Mißverständnis zu vermeiden: Man spricht auch später von Repräsentation und erwartet auch im 19. und 20. Jahrundert, daß der einzelne eine allgemeine Ordnung bestätigen soll. Aber hier ändert der Begriff der Repräsentation seine Bedeutung gegenüber der von Foucault vorgeschlagenen Verwendung. Das Individuelle repräsentiert das Allgemeine im 19. Jahrhundert gerade aufgrund seiner unverwechselbaren Eigenart – als eine einmalige Möglichkeit, die nicht nachgeahmt werden kann, allerdings einen Imperativ an andere darstellt, sich ihrer Eigenart ebenso individuell zu bemächtigen. Doch in dieser Form eines »individuellen Allgemeinen« (vgl. hierzu das Humboldt-Zitat S. 46f. Anm. 87) kommt keine allgemeine, unhistorische, transparente Ordnung des Seienden zur Darstellung. Nur in diesem eingeschränkten, terminologischen Sinn wird der Begriff der Repräsentation in der vorliegenden Studie verwendet.
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mende Ordnung zu bringen, und zwar durch Ermittlung von Identität und Differenz, die eine Klassifikation der Dinge ermöglicht. Es geht also darum, den Bestand des Seienden durch Zeichen zu repräsentieren: »[D]as Ordnen mit Hilfe der Zeichen [ist] die Konstitution allen empirischen Wissens als Wissensgebiete (savoirs) der Identität und des Unterschiedes.«14 In dieser Vorstellung besitzt die Sprache keine Materialität: Sie bleibt transparent auf die Dinge.15 Das Ideal dieser Wissenschaft ist das Tableau, die gegliederte und hierarchisierte Darstellung der Welt durch Zeichen. Diese Ordnung des Wissens impliziert einen naturalen, atemporalen Zeitbegriff.16 Das Tableau gliedert sich nach Identität und Differenz, nicht aber nach einem als historisch aufgefaßten Zeitverständnis. So ist etwa das Wort ›Geschichte‹ im Terminus der Naturgeschichte nicht historisch zu verstehen: Naturgeschichte heißt, Merkmale der natürlichen Organismen durch die Bestimmung von Identitäten und Differenzen zu klassifizieren,17 aber nicht Evolution, Geschichte im modernen Sinn. Im Zeitalter der Repräsentation sind Veränderungen immer nur in Beziehung auf die feste allgemeine Ordnung zu denken. Die Zeit kann dieser Ordnung nichts anhaben: »[I]m klassischen Denken [durchlief] die Folge der Chronologien den im voraus vorhandenen und fundamentaleren Raum eines Tableaus nur [...], das von vorneherein alle Möglichkeiten dafür bot [...].«18 Erst am Ende des 18. Jahrhunderts beginnt sich ein neuer Begriff von Zeit als geschichtlicher Zeit durchzusetzen, die einen tiefgreifenden Wandel des Bestandes und des Wesens der Dinge – auch des Menschen – erstmals denkbar macht. Die Geschichte wird damit »zum Unumgänglichen unseres Denkens.«19 ›Geschichte‹ ist ein transzendentaler Begriff, in ihr entziehen sich – so Reinhart Koselleck – »die Bedingungen der Erfahrung eben dieser Erfahrung [...]«.20 Diese Entwicklung betrifft keineswegs nur die Geschichtswissenschaft, sondern die »zeitliche Perspektive« überhaupt: Vergangenheit und Zukunft sind in allen Lebensbereichen nicht mehr feststehende Ordnungen, sondern müssen »seitdem stets auf neue einander zugeordnet werden.«21 Diese Temporalisierung kann aufgefaßt werden als Ergebnis verschiedener Entwicklungen. Ein entscheidender Antrieb dürfte der Kulturvergleich der Querelle des Anciens
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Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1974, S. 91. Ebd., S. 91ff. Zu dessen Charakterisierung vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1978, S. 13f. Foucault bestimmt die klassische Naturgeschichte als »eine Wissenschaft von Merkmalen, die die Kontinuität der Natur und ihre Verzahnung gliedern.« (Ordnung der Dinge, S. 109.) Ebd., 270. Ebd., S. 271. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979, S. 13f. Ebd., S. 13.
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et des Modernes gewesen sein, der in die Entdeckung der historischen Relativität von Wertvorstellungen mündete – ein universeller Mensch als Adressat von Normvorstellungen löste sich in partikulare Fälle auf.22 Ein weiterer Faktor war sicher der durch die empirische Forschung gewonnene Datenanstieg.23 Die Temporalisierung stellt eine neue Strategie der Komplexitätsreduktion dar. Lange konnte die Wissenschaft mit einem als sehr kurz angenommenen Alter der Erde auskommen: Die Differenzen der Dinge wurden genetisch nicht aus historischen Veränderungen erklärt, sondern aus der Verschiedenheit der Räume ihres Vorkommens.24 Mit der Explosion empirischen Wissens mußte diese räumliche Klassifikation aufgegeben werden. Es war nicht mehr ausreichend Platz vorhanden, um die Mannigfaltigkeit der Dinge unterzubringen; so mußte auf Temporalisierung umgestellt werden. Das Alter der Erde wurde immer mehr nach hinten erweitert und die Verzeitlichung durchdrang die Disziplinen auf verschiedenen Ebenen: »Verzeitlichungsvorgänge lassen sich im Gegenstandsbereich, in der Theorieform, sowie in der Organisationsstruktur wissenschaftlicher Disziplinen nachweisen.«25 In unserem Zusammenhang wichtig ist daran, daß sich im Zuge dieser Entwicklung auch ein ästhetischer Umbruch vollzieht. ›Ästhetisch‹, d.h. hier zunächst auch auf der Ebene der Wahrnehmung. Geht man von Foucaults Beschreibung der ›Repräsentation‹ aus, dann sind die Gegenstände des Wissens und der Anschauung einem universellen und ahistorischen Zusammenhang zugeordnet. Wissen kann daher als evidente Wahrnehmung, als klare und deutliche Vorstellung26 bestimmt werden: »Die Wahrheit findet ihre Manifestation und ihr Zeichen in der evidenten und deutlichen Wahrnehmung.«27 Das Ergebnis des neuen »Erfahrungsdrucks«28 und der Temporalisierung ist nun in allen Bereichen der Gesellschaft eine allmähliche Auflösung naturge-
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Zu diesem Ergebnis der Querelle des Anciens et des Modernes vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹. In: Charles Perrault: Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. Paris 1688–1697. Reprint München 1964, S. 8–64. Vgl. hierzu Lepenies: Ende der Naturgeschichte, S. 16ff. Lepenies führt einige Beispiele für die neue Datenfülle in den Naturwissenschaften an. Vgl. ebd., S. 12. Ebd., S. 18. So bekanntlich das erste von Descartes Wahrheitskriterien, vgl. René Descartes: Discours de la Méthode [...] / Von der Methode [...]. In: ders., Philosophische Schriften in einem Band. Hamburg 1996: »Le premier [précepte, S.S.] était de ne recevoir jamais aucune chose pour vraie, que je ne la connusse évidemment être telle: c’est-à-dire d’éviter soigneusement la précipitation et la prévention; et de ne comprendre rien de plus en mes jugements, que ce qui se présenterait si clairement et si distinctement à mon esprit, que je n’eusse aucune occasion de le mettre en doute.« (Ebd., S. 30.) S.a. die dritte Regel Descartes in den Regulae ad directionem ingenii / Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. In: ebd., S. 14ff. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 89. Lepenies: Naturgeschichte, S. 16 passim.
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gebener Normvorstellungen. Einerseits kommt es zur Ausdifferenzierung von Spezialdisziplinen, andererseits etabliert sich ein verstärktes Bewußtsein für den konstruktiven bzw. theorieabhängigen Charakter von Erkenntnis, mit dem die Bedeutung der evidenten Wahrnehmung eingeschränkt wird. Der Datenanstieg bringt nämlich eine erhöhte Interpretierbarkeit der empirischen Fakten mit sich. Mit dem Einbruch geschichtlichen Wandels in den fixen Bestand des Seienden verliert die Evidenz, verstanden als Ansichtigwerden der Zusammenhänge der Dinge an Geltung. Das neue Paradigma heißt Hermeneutik, die den Sinn ihrer Objekte nur unter Berücksichtigung von deren Geschichte deuten kann. Da diese Geschichte den Blicken größtenteils entzogen ist, muß sie im Unanschaulichen operieren: Das ›Ganze‹ muß immer wieder neu bestimmt werden, als sich verändernder Kontext der Gegenstände. Das gilt für alle Erfahrungswissenschaften. Begleitet wird dieser Wandel von einer neuen Konzeption der Subjektivität: Foucault spricht vom Auftauchen des modernen Menschen, den er als ein Konstrukt der Humanwissenschaften versteht – und zugleich als deren Bedingung. Denn dieses neue Wesen ist eine Einheit von transzendentalem und empirischem Bewußtsein, gleichermaßen Objekt der Erforschung wie Bedingung ihrer Möglichkeit: Die Verbindung der Positivitäten mit der Endlichkeit, die Reduplizierung des Empirischen im Transzendentalen, die ständige Beziehung des Cogito zum Ungedachten, der Rückzug und die Wiederkehr des Ursprungs definieren für uns die Seinsweise des Menschen. Auf die Analyse dieser Seinsweise und nicht mehr auf die der Repräsentation versucht die Reflexion seit dem neunzehnten Jahrhundert die Möglichkeit des Wissens philosophisch zu gründen.29
Foucaults Begriff des ›Menschen‹ entspricht dem, was von Soziologen und insbesondere von Niklas Luhmann als neue Form der Individualität beschrieben wurde. Dem beim Umbau von der stratifikatorischen zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaft aus traditionellen Rollen freigesetzten Individuum schreibt man zunehmend eine Einzigartigkeit zu, die sich nicht mehr als vorgegebene Identität begreifen läßt. Das Wesen des Individuums bestimmt sich jetzt aus der Differenz zu allem andern und aus der Reflexion dieser Differenz.30 In der Transzendentalphilosophie wird es darum nicht mehr als Sub-
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Foucault: Ordnung der Dinge, S. 404. Vgl. hierzu u.a.: Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. 1982, sowie ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. III. Frankfurt 1989, S. 149–259, bes. S. 159f. Luhmanns Analysen haben sich in der Literaturwissenschaft als äußerst fruchtbar erwiesen. Vgl. z.B. die neue Studie von Andrejs Petrowski: Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer. Problematische Individualität in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts. Heidelberg 2002, die die Semantik des Individuums unter dem Aspekt ihrer impliziten Machtstrukturen untersucht.
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stanz, sondern als reflexives Bewußtsein verstanden.31 Es begründet seine Welt aus seiner je besonderen Verfaßtheit heraus und ist zugleich jeweils das empirische Ergebnis dieser Selbstbegründung: Es spaltet sich in ein empirisches Objekt und ein transzendentales Subjekt und hat die Aufgabe, beides in einem unabschließbaren Prozeß der Selbstvermittlung zur Identität zu bringen. Es kann dabei seiner selbst nie ansichtig werden, da es als Produzent seiner Welt von dieser nie adäquat dargestellt werden kann. »Der Mensch als dichte und ursprüngliche Realität, als schwieriges Objekt und souveränes Subjekt jeder möglichen Erkenntnis«32 läßt sich auf die Formel der »empirischtranszendentalen Dublette«33 bringen. Foucault weist selbst darauf hin, daß es auch zuvor bereits möglich war, das menschliche Produzieren zu untersuchen, zu verstehen, wie der Mensch als Hervorbringender sich zu dem Hervorgebrachten verhält.34 Allerdings richtet sich das neue Wissen vom Menschen nicht mehr auf die allgemeine menschliche Natur, die sich selbst transparent bleibt, sondern gerade auf das, was als Instanz des Ursprungs sich selbst nicht gegenwärtig werden kann, eben weil es die Form der Subjektivität hat.35 Philosophie- und geistesgeschichtlich prägt sich diese Entwicklung in den Konzeptionen der kritischen und idealistischen Philosophie, im Geniebegriff und in der romantischen Transzendentalpoesie aus.36 Das Produkt soll die Züge seines Schöpfers annehmen, Urkunde der transzendentalen Instanz sein, wobei im Verlauf der Entwicklung das Bewußtsein für die Unerreichbarkeit dieser Aufgabe immer klarer wird. Die Foucaultsche Präsentation des Menschen als empirisch-transzendentale Dublette läßt sich durch Luhmanns Begriffspaar der Beobachtung erster und zweiter Ordnung ergänzen. Luhmann sieht es als Charakteristikum des modernen Wissens an, daß die Beobachtung erster Ordnung zunehmend begleitet wird von der Beobachtung der Beobachter: Mit der Zunahme der
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Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt a.M. 1987, S. 349: »Erst die Transzendentalphilosophie proklamierte das absolute Verbot, Dingbegriffe auf das anzuwenden, was den Menschen eigentlich ausmacht: sein selbstreferentielles, sich selbst Gesetze gebendes Bewußtsein.« Foucault: Ordnung der Dinge, S. 375. Ebd., S. 384. Ebd.: »Der Mensch ist in der Analytik der Endlichkeit eine seltsame, empirisch-transzendentale Dublette, weil er ein solches Wesen ist, in dem man Kenntnis von dem nimmt, was jede Erkenntnis möglich macht. Aber die menschliche Natur der Empiriker spielte ja im achtzehnten Jahrhundert die gleiche Rolle.« Vgl. ebd. S. 391: »Im modernen Cogito handelt es sich dagegen darum, in ihrer größtmöglichen Dimension die Distanz gelten zu lassen, die das sich selbst gegenwärtige Denken zugleich von dem trennt und mit dem verbindet, was vom Denken sich im Nichtgedachten verwurzelt.« Vgl. zur transzendentalphilosophischen Begründung der romantischen Ästhetik Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt a.M. 1989. Ders.: Philosophische Grundlagen der Frühromantik. In: Athenäum 4 (1994), S. 37–130.
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Daten steigt z.B. in der Wissenschaft der Bedarf an Theorie, um die Vervielfältigung von Erklärungsmöglichkeiten zu kompensieren. Der Begriff der Beobachtung erster Ordnung ersetzt bei Luhmann das Paar von Erleben und Handeln. ›Beobachten‹ bezeichnet eine Operation, in der Unterscheidungen getroffen werden: dies und das, das eine und das andere werden bezeichnet. Dabei verfährt der Beobachter erster Ordnung nicht reflexiv. Er betrachtet nicht seine eigenen Verfahrensweisen, sondern er operiert in einer gegenständlichen Welt.37 Solange die Wirklichkeit als konstanter Bestand von Dingen, die eine allgemeine Ordnung repräsentieren, gedacht wird, ist die Selbstbeobachtung nur zur Beseitigung von Fehlerquellen erforderlich, da der Beobachter erster Ordnung nichts Wesentliches zu dem Bestand der Dinge hinzufügen kann. Die Welt kann nur richtig erkannt werden und was abweicht, ist auf Irrtum zurückzuführen – es sei denn, man hält sie überhaupt nur für ein Trugbild, was der Standpunkt eines erkenntnistheoretischen Solipsismus wäre. Daß aber die Welt wesentlich eine systemeigene Konstruktion ist, die gleichwohl Gültigkeit beanspruchen kann, wird erst sichtbar, wenn man das Bewußtsein bzw. die laufende Kommunikation38 nicht mehr auf ihre Inhalte – ihr ›Was‹ –, sondern auf das ›Wie‹ ihres Produzierens hin beobachtet. Die Beobachtung zweiter Ordnung ist nicht identisch mit dem traditionellen Begriff der Selbstreflexion, schließt ihn aber ein: Eine Beobachtung zweiter Ordnung kann sowohl fremd- als auch selbstreferentiell geschehen. Die Kunst z.B. kann beobachten, wie andere handeln, aber auch, wie sie selbst handelt – in diesem Falle hätte man es mit Selbstreflexivität zu tun. Jedoch muß beachtet werden, daß Luhmann nicht auf die Identität des reflektierenden und des reflektierten Bewußtseins abstellt, wie dies ein philosophischer Begriff der Selbstreflexion impliziert. Die Beobachtung zweiter Ordnung adressiert nicht den Geist als Identität zweier Bewußtseine, sondern hält die Differenz zweier Operationsweisen fest – mithin verzichtet Luhmann auf die ›Aufhebung‹ der Differenz der beiden Beobachtungen. Daher stellt die Beobachtung zweiter Ordnung auch keine ›höhere‹ im Sinne einer wertvolleren Operation dar, denn sie ist ihrerseits ein Operieren, das beobachtet werden kann. Die Tätigkeit des Beobachters zweiter Ordnung liest sich als ein Kenntlichmachen der Kontingenz der Selektionen des Beobachters erster Ordnung. D.h. sie macht deutlich, daß
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»Der Beobachter erster Ordnung konzentriert sich auf das, was er beobachtet, und erlebt bzw. handelt in einem Horizont relativ geringer Information. Er mag in spezifischen Hinsichten überrascht sein und nach Erklärungen suchen, wenn sich seine Erwartungen nicht erfüllen; aber das ist eher Ausnahme als die Regel und ist auf seine Informationverarbeitungsfähigkeit abgestimmt. Er lebt in einer ›wahr-scheinlichen‹ Welt.« Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, S. 103. Mit dieser Alternative wird darauf angespielt, daß Beobachtung keine Handlung von Personen, sondern die Operationsweise psychischer oder sozialer Systeme, also von Bewußtsein oder Kommunikation ist.
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dessen Operation eine unter anderen Möglichkeiten darstellt und daher auch anders hätte ausfallen können: Der Beobachter zweiter Ordnung sieht dagegen die Unwahrscheinlichkeit des Beobachtens erster Ordnung. Jeder Handgriff, der getan, jeder Satz, der gesprochen wird, ist extrem unwahrscheinlich, wenn er als Auswahl aus allen anderen Möglichkeiten betrachtet wird. Aber da dies für jede Operation gilt, ist diese Unwahrscheinlichkeit zugleich ganz normal und unproblematisch. Sie bleibt für die Operation selbst und auch für die Operation des Beobachtens erster Ordnung latent.39
In dem Maße, in dem das Individuum in seiner Unverwechselbarkeit aufgewertet und als selbstreferentielles Subjekt bestimmt wird, setzt sich eine Bevorzugung der Beobachtung zweiter Ordnung durch: Selbstreflexion begleitet alles Handeln und Erleben und wird zur Voraussetzung von Identität, die die Form eines unendlichen Reflexionsprozesses annimmt. Sowohl in der Analyse Foucaults als auch derjenigen Luhmanns ist Erkennen seit dem späten 18. Jahrhundert nicht mehr als ein Abspiegeln, nicht mehr als Repräsentation, sondern als eine Konstruktion zu verstehen, die im zeitgenössischen Verständnis auf die Subjektivität verweist, die sie hervorbringt. Doch anders als in der philosophischen Selbstbeschreibung des Idealismus wird das Subjekt in den diskursgeschichtlichen Analysen nicht mehr ernstgenommen: Es erscheint als Effekt epistemischer und gesellschaftlicher Prozesse, die es nicht steuern kann. Das besagt nicht, daß es eine Illusion darstellt. Denn ist diese Form der sich selbst produzierenden und sich entziehenden Subjektivität erst einmal in der Geschichte aufgetaucht, kann sie durch verschiedene Maßnahmen (z.B. durch Erziehung) implementiert werden. Historisch kontingent bleibt sie dennoch: Vielleicht wird sie tatsächlich einmal verschwinden wie »am Meeresufer ein Gesicht im Sand«.40 Das Umstellen von Repräsentation auf Konstruktion markiert einen Einschnitt auch in der Geschichte der Kunst, der mit dem Begriff der ›Autonomieästhetik‹ noch nicht zureichend erfaßt ist. Die Autonomie des Ästhetischen besagt zunächst nur, daß die Kunst nach ihren eigenen Gesetzen verfährt und sich nicht mehr an andere Systeme anlehnt. Das Schöne dient nicht länger anderen Zwecken – etwa der politischen Herrschaft oder der Illustration von Moral.41 Auf die Krise der Repräsentation können autonomieästhetische Pro-
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Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 103. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 462. Vgl. z.B. diese Formulierungen Schillers: »Von allem, was positiv ist und was menschliche Conventionen einführten, ist die Kunst wie die Wissenschaft losgesprochen, und beyde erfreuen sich einer absoluten Immunität von der Willkühr der Menschen. Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darinn herrschen kann er nicht. Er kann den Wahrheitsfreund ächten, aber die Wahrheit besteht; er kann den Künstler erniedrigen, aber die Kunst kann er nicht verfälschen.« (Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Brie-
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gramme mit der Forderung reagieren, daß das Wirklichkeitsganze durch exemplarische Darstellungen der Kunst doch noch repräsentiert und normativ aufgefaßt werden müsse. Goethes klassische Kunsttheorie wird im zweiten Kapitel dieser Studie als Beispiel für diese Reaktion auf die Krise der Repräsentation angeführt. Selbstbegründung im Sinne von Autopoesis dagegen muß die dargestellte Welt ohne eine solche ontologische Stütze hervorbringen: Sie muß nur mit ihren Operationen anfangen, mit dem radikalen Bewußtsein ihrer Kontingenz, und wird ihre Begründung nicht mehr auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung finden können. Wenn nämlich die Welt von einem darstellbaren Ganzen zu einer Gesamtheit sich überlagernder systemeigener Konstruktionen wurde, dann kann sie in ihrer Totalität nicht mehr dargestellt werden: Die Welt ist das Unbeobachtbare, und was die Kunst zeigt, ist das Wie des Beobachtens – sowohl des eigenen als auch des fremden.42 Dieser Übergang von der symbolischen Repräsentation mit Hilfe exemplarischer Gegenstände zur selbst- und fremdreferentiellen Beobachtung zweiter Ordnung charakterisiert den Übergang von Goethes klassischen Werken zum Spätwerk und rechtfertigt die Beschränkung auf den zweiten Teil des Faust.43 Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen kann die These präziser formuliert werden, die besagt, daß Goethes Alterswerke diese Veränderungen im Epochenarchiv poetologisch umsetzen. Davon betroffen ist zunächst Goethes Naturbegriff. Lange hat die Goetheforschung am Paradigma der Naturphilosophie festgehalten und versucht, die Form des Dramas in Analogie zu Goethes Naturforschung zu verstehen,44 bzw. die Darstellung der Natur im Drama als normatives Korrektiv zu modernen Entwicklungen aufzufassen.45
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fen. In: ders., Werke. Nationalausgabe. Bd. XX. Hg. von Benno von Wiese unter Mitwirkung von Helmut Koopmann. Weimar 1962, S. 309–412, hier S. 333.) Zur Unbeobachtbarkeit der Welt vgl. Niklas Luhmann: Weltkunst. In: Niklas Luhmann, Frederick Bunsen und Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld 1990, S. 7–45. Peter Matussek hat jedoch gezeigt, daß sich die Folgen der Temporalisierung bereits im ersten Teil der Tragödie erkennen lassen; sie führt zum Nebeneinander heterogener Naturvorstellungen: »Unter dem interpretatorischen Gesichtspunkt der Zeit liest sich das Drama somit als eine Konstellation von Problemfiguren, die unterschiedliche Stadien im historischen Prozeß der Temporalisierung zum Ausdruck bringen.« Peter Matussek: Faust I. In: Goethe-Handbuch. Bd. II. Hg. von Theo Buck, S. 352–390, hier S. 387; vgl. auch ders.: Naturbild und Diskursgeschichte. Faust-Studie zur Rekonstruktion ästhetischer Theorie. Stuttgart 1992. So etwa Dorothea Lohmeyer: Faust und die Welt – Der zweite Teil der Dichtung. Eine Anleitung zum Lesen des Textes. München 1974. Vgl. Jochen Schmidt: Goethes Faust, erster und zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. München 1999: »Da für Goethe wie für seine Zeitgenossen Kultur und Natur in spannungsreicher Beziehung zueinander stehen, entwirft er im Faust II ein großes naturphilosophisches Spektrum, hauptsächlich in der Klassischen Walpurgisnacht. Er versinnbildlicht darin die universellen Naturgesetzlichkeiten und die Gestaltungskräfte der Natur. Im ganzen Faust II bildet die Natur den Inbegriff des Organischen als einen wesentlichen Parameter. Alles, was ökonomisch, sozial, militärisch, kolonisatorisch, künstlerisch, wissenschaftlich geschieht, steht im Spannungsfeld von Natur und widernatürlicher ›Magie.‹« (Ebd., S. 214.)
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Demgegenüber hat sich die Forschung in neuerer Zeit verstärkt den Auswirkungen der geschilderten Temporalisierung auf Goethes Naturbegriff und seine literarische Praxis gewidmet.46 Die Ausdifferenzierung der naturwissenschaftlichen Disziplinen, der empirische Datenanstieg und das Bewußtsein für die Abhängigkeit der Naturdeutungen von den methodischen Prämissen führen dazu, daß die Natur nicht mehr als Geltungsbereich ewiger Normen galt. In der Forschung wurde daher zunehmend die Vorstellung modifiziert, Goethe habe die kulturelle und geschichtliche Welt durch Naturgesetze begreifen wollen.47 Hieran anschließend und diese Thesen zuspitzend, wird im folgenden am Beispiel der geologischen Debatte gezeigt, daß die im Drama gezeigte Natur bereits vollständig diskursiviert ist. D.h. sie wird in divergierende Naturmodelle überführt, hinter denen sich die Einheit des Gegenstandes auflöst. Der Gegensatz von ›widernatürlichen‹ und ›natürlichen‹ Verfahren, von magischer und biologischer Schöpfung, von Evolution und Revolution kommt zwar als Opposition im Drama vor, aber das sind keine Gegensätze, die im Gegenstandsbereich der Natur selbst zu suchen wären, sondern es handelt sich um diskursgeschichtliche Zitate. Und das bedeutet eine konsequente Umstellung von der Repräsentation einer außerkünstlerischen Wirklichkeit auf die autopoietische Selbstkonstitution des Dramas. Autopoiesis wiederum heißt, daß die Elemente des Archivs nicht einfach in das Drama hinüberkopiert werden, sondern von diesem nach Maßgabe der eigenen Darstellungsbedürfnisse recodiert werden.48 Die Form des Dramas läßt sich daher weder aus traditionellen Gattungsbegriffen noch aus seiner Gegenständlichkeit ableiten, sondern sie besteht in der In-Beziehung-Setzung unterschiedlicher Archiv-Elemente (Text- und Wirklichkeitsbezüge) in einem Prozeß, der seine eigene Konstruiertheit und Kontingenz thematisiert. Der hier zugrundegelegte Formbegriff versteht also Form als Prozeß, als eine Abfolge von autonomen Formentscheidungen, die rekursiv aneinander
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Vgl. die Beiträge in dem Sammelband: Goethe und die Verzeitlichung der Natur. Hg. von Peter Matussek. München 1998, und die Studie von Elisabeth von Thadden: Erzählen als Naturverhältnis. »Die Wahlverwandtschaften«. Zum Problem der Darstellbarkeit von Natur und Gesellschaft seit Goethes Plan eines »Romans über das Weltall«. München 1993. Vgl. Peter Matussek, der betont, daß auch Goethe an den Aporien, zu denen die »Transfomationen der Naturgeschichte« führten, Anteil habe: »Die Hoffnung auf eine ›höhere Kultur‹ [...], die solche Aporien überwunden hätte, äußert sich bei Goethe weniger in illustrativen Gegenbildern als vielmehr in illuminierenden Konstrasteffekten.« Peter Matussek: Einleitung. In: Goethe und die Verzeitlichung der Natur. Hg. von Peter Matussek. München 1998, S. 7– 14, hier S. 9. Zum Begriff der Autopo(i)esis vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, S. 65ff.: »Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen.« Den Begriff übernimmt Luhmann aus der Biologie. Vgl. Humberto Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig 1982.
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anschließen.49 Der Text differenziert sich durch dieses Prozessieren von Formen gegenüber der Umwelt aus und konstituiert sich als eine Kommunikation, die in der Lektüre auch als solche verstanden werden kann. Rezeption bedeutet das »Mitmachen«50 der getroffenen Unterscheidungen im Sinne der Rekonstruktion des in das Werk inskribierten Formprozesses.51 Das impliziert im Unterschied zur Diskursanalyse, daß der Text nicht in die Vielzahl seiner Diskurse auflösbar ist, sondern als eine Einheit bestehen bleibt.52 Über dieses Prozessieren von Formen hinaus verdoppeln sich im Faust II die Darstellungsverfahren. Selbstbeobachtung – mithin Textreflexivität – wird möglich, weil sich die dargestellte Welt immer (auch) als Beobachtung zweiter Ordnung lesen läßt: Viele der dramatischen Personen wiederholen in ihren Sprechakten die Verfahren des ganzen Textes, spiegeln dessen Entstehung, verstanden als Prozessieren von Formentscheidungen, in die dargestellte Welt hinein. Diese Auffassung der Form gibt dem von Foucault übernommenen Begriff des Archivs eine spezifische Bedeutung. Aus systemtheoretischer Perspektive kann man sagen, daß das Archiv ein Begriff der Beobachtung zweiter Ordnung ist, denn erst durch ihre Beobachtung ›enthüllen‹ sich die Regeln und Gesetzmäßigkeiten der untersuchten Diskurse. Der Status der Regeln wäre dann kein in den Diskursen selbst liegender, sondern verwiese auf die Ope-
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Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 48ff. und bes. S. 57ff. Luhmann erläutert hier, daß jede getroffene Formentscheidung des Künstlers zukünftige Formentscheidungen dirigiert. Der erste Satz einer Erzählung oder der erste Pinselstrich konstituiert ein Innen der Form, an das die nächste Operation anzuschließen hat: »[D]as operative Geschehen bleibt immer nur auf der Innenseite der Form, aber es kann in den Sequenzen seines Vollzugs Formen an Formen, Unterscheidungen an Unterscheidungen anschließen, etwa eine Linie ziehen und beobachten, was sich dadurch im zu malenden Bild ändert, nämlich die Linie selbst und das, was das Bild sonst noch erwartet, wenn es diese Linie ertragen muß.« (Ebd., S. 59.) Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 92. Kritisch hierzu Georg Stanitzek: Im Rahmen? Zu Niklas Luhmanns Kunst-Buch. In: Systemtheorie und Hermeneutik. Hg. von Henk de Berg. Tübingen 1997, S. 11–30, der zu Recht Luhmanns Abwertung des Lektürebegriffs bemängelt. (Ebd., S. 20f.) Niklas Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 54: »Die eingebaute Zeitlichkeit muß vielmehr als Rekonstruktion der Unfertigkeit des Kunstwerks erfahren werden. Man muß Formen so beobachten können, als ob über ihre andere Seite noch nicht disponiert worden wäre, um dann feststellen zu können, wie, das heißt: durch welche anderen Formen, der Dispositionsspielraum ausgenutzt worden ist. Anders gesagt: es geht um Rekonstruktion der Kontingenzen und ihrer wechselseitigen Reduktionen, und ein Zeitschema kann zu der Vorstellung verhelfen, es könnte alles anders gemacht werden – aber nicht so überzeugend, wie es im Kunstwerk tatsächlich entschieden ist.« Der systemtheoretische Begriff der Kunst und des Kunstwerks bindet die Beobachtung bzw. im Fall von Texten die Lektüre nicht an Intentionen, sondern an Formen. Luhmanns Formulierungen, die vom Beobachter »Gleichsinnigkeit« (vgl. ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 92) und »Mitmachen« (ebd.) der getroffenen Unterscheidungen fordern, legen den Beobachter keineswegs auf bestimmte Formen oder Kontexte fest: dekonstruktive Freiheiten, intertextuelle Überschreitungen können durchaus in diese Theorie integriert werden. Das konzediert auch Georg Stanitzek: Im Rahmen? Zu Niklas Luhmanns Kunst-Buch, S. 26.
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rationen eines Beobachters, der bestimmte Kriterien anwendet, bestimmte Eigenschaften seines historischen Materials hervorhebt, andere als geringfügig einstuft usw. Das Archiv bedeutet also eine spezifische Weise, operativ mit gegebenem Material zu verfahren – und diese Operation ist nicht nur eine wissenshistorische, sondern kann ebensogut eine poetische sein. Denn auch im Faust II wird das vorausliegende Wissen durch die Formen seiner poetischen Recodierung beobachtet. So werden bestimmte Züge der goethezeitlichen Geologie, Mythologie, Philologie etc. durch ihre poetische Transformation herausgestellt und andere nicht. Diese eigenständige Rekonstruktion des Materials impliziert eine bestimmte Auffassung von dem, was an diesen Wissensformen als typisch aufgefaßt wird. Der Begriff der Archivpoetik, den diese Studie entwickeln wird, erfüllt mehrere Funktionen. Erstens richtet er sich gegen die Naivität, es werde im Faust II nur zitiert oder (Wissen) repräsentiert; es wird vielmehr nach Maßgabe der Autopoiesis des Dramas recodiert und damit verändert. Zweitens schließt diese Veränderung eine Beobachtung dieses Wissens ein. Faust II trifft bis zu einem gewissen Grad Aussagen über das Archiv – das erst in der Beobachtung entsteht.53 Diese Aussagen aber enthalten nur in sehr beschränkter Form einen Kommentar über das Wissen der Zeit – das unterscheidet diese Ausführungen von dem oben zitierten Begriff der Lesart von Ulrich Gaier – sondern sie führen drittens zu einer poetologischen Selbstreflexion im Medium dieses Wissens. Dies ist eine Behauptung, die durch die Analysen noch erhärtet werden muß. Viertens bedeutet die Recodierung des Archivs dessen Ästhetisierung: Es kommt zum Exzeß des Archivs, zu einer Verausgabung und Verlebendigung in seiner dramatischen Präsentation. Diese vier Funktionen können nur erfüllt werden, weil die Präsentation des vorausliegenden diskursiven Materials als ein Prozeß der Codierung und Recodierung gedacht wird: nur so ist die Beobachtung des Archivs mit der Autopoiesis des Werkes vereinbar. Vor der Darstellung der methodischen Implikationen der ›Archivpoetik soll zunächst die Differenz zum eher traditionellen Formbegriff der neueren Faustforschung herausgestellt werden. Was den Begriff einer Form als Prozeß von anderen Formbegriffen unterscheidet, kann auch an einigen neueren Gesamtinterpretationen des Faust II, etwa von Heinz Schlaffer,54 Gerd Mattenklott,55 Jochen Schmidt,56 oder Karl Eibl,57 gezeigt werden. In der neueren Forschung ist das Interesse an Natur-
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Beobachten und Konstruieren, Subjekt und Objekt also sind gleichzeitig; aber es ist schwierig, diese Gleichzeitigkeit sprachlich anders als in temporaler Abfolge darzustellen. Heinz Schlaffer: Faust zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1981. Gert Mattenklott: Faust II. In: Goethe-Handbuch. Bd. II. Hg. von Theo Buck, S. 391–477. Jochen Schmidt: Goethes Faust, erster und zweiter Teil. Karl Eibl: Das monumentale Ich. Wege zu Goethes Faust. Frankfurt a.M./Leipzig 2000.
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philosophie zunehmend der Geschichte gewichen. In den genannten Interpretationen herrscht weitgehende Einigkeit darüber, daß sich die Form des Dramas von dem Gegenstand der Geschichte ableiten läßt.58 Bei den meisten Interpreten dürfte unumstritten sein, daß Goethe in diesem Werk ein historisches Panorama der Moderne entfaltet habe. Diese werde von ihm als das Ergebnis eines historischen Prozesses aufgefaßt, der mit der Emanzipation menschlicher Subjektivität und Produktivität sowie einsetzender Verwissenschaftlichung in der Renaissance begann. Faust stelle die moderne Subjektivität in ihren technologischen, ökonomischen und kulturellen Verstrickungen und Voraussetzungen dar und spiegele die Geschichte der Moderne durch die zahlreichen symbolisch-allegorischen Repräsentationen vergangener Epochen in das Werk hinein. Der Einsatz der Dramenhandlung nach dem Prolog der »Anmutigen Gegend« am Hofe eines Renaissancekaisers verorte den Beginn der Moderne in der Epoche der Emanzipation des Individuums aus einer feudalen Gesellschaftsordnung; und der Schluß, Fausts große Gesellschaftsvision, wäre entweder als utopischer Vorschein einer neuen Ordnung zu verstehen, in der die Rebellion des einzelnen gegen die Ordnung in einer neuen Form von Allgemeinheit und Gemeinschaft aufgehoben wäre, oder aber als radikale Kritik an den Besitz- und Machtansprüchen einer aggressiven Form der Subjektivität. Eine klare Zusammenfassung dieses Verständnisses bietet Gerd Mattenklott: Das Thema des Werks ist – scheinbar ebenso eindeutig wie prosaisch – die Geschichte des bürgerlichen Subjekts von seiner mittelalterlichen Präfiguration im Geiste der Hexenmeister bis zur imperialen Durchsetzung seiner ökonomischen und gesellschaftlichen Ansprüche im 19. Jh. Seine Durchführung aber konnte »prosaisch«-aristotelisch, konnte linear und folgerichtig nicht mehr gelingen. Sie wird allegorisch in einer sich der älteren literarischen Tradition nähernden Weise.59
Eine Geschichtsreflexion in poetischem Gewand also stellt Faust II laut Mattenklott dar, und die immanente Poetik des Werkes dient der Reflexion der Schwierigkeiten, die sich einstellen müssen, wenn der Versuch unternommen wird, ein komplexes Ganzes im poetischen Bild zur Anschauung zu bringen. Mattenklott leitet die ästhetischen Innovationen des Faust II aus der Struktur des Gegenstandes ab: Die Geschichte der neuzeitlichen Subjektivität wird
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Die folgenden Ausführungen reduzieren die genannten Interpretationen auf den Gesichtspunkt der Gegenständlichkeit und dem daraus sich ergebenden Verständnis der poetischen Form. Sie können daher den komplexen Überlegungen der einzelnen Forscher nicht gerecht werden; was ich ihnen schulde, wird in der Interpretation des Dramas noch deutlich werden. Die Vereinfachung ist an dieser Stelle dennoch notwendig, um mein eigenes Formverständnis in gedrängter Kürze darzustellen. Gerd Mattenklott: Faust II, S. 394.
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nur noch durch eine Pluralität ästhetischer Formen darstellbar, die Aspekte des Ganzen repräsentieren und sich in ihrer Gesamtheit zur Totalität zusammenschließen. Damit wird, trotz der Erkenntnis der Innovativität des Dramas, letztlich an einer traditionellen Bestimmung der Poesie festgehalten. Denn ob aristotelisch oder allegorisch: Absicht der Poesie bleibt Repräsentation einer Realität, die ihr vorausliegt. Wo Mimesis nicht mehr aristotelisch gelingen kann, muß sie mit anderen Mitteln erreicht werden. Die bedeutenden Leistungen der neueren Faustphilologie seit Schlaffers Einführung des Allegoriebegriffes bestehen vor allem in der Erkenntnis einer Pluralität von Darstellungsmitteln, deren konkurrierendes Nebeneinander nicht mehr von den traditionellen Gattungen ästhetisch bewältigt werden kann. Auf diese Weise wurde ein neues Verständnis der Form erforderlich, das diese als Integration unterschiedlicher Formen zu einer neuen Totalität erklärte.60 Problematisch bleibt, daß dabei der poetische Text als Darstellung historischer Realität aufgefaßt wird, daß Poesie als Widerspiegelung und Wissen noch einmal die Totalisierung leisten soll, die allen anderen gesellschaftlichen Wissensformen nicht mehr möglich ist. Mit der Formulierung eines Formverständnisses, das von der Umstellung auf Beobachtung zweiter Ordnung ausgeht, wird diese Vorstellung von Totalisierung hinfällig. Was im Faust II erscheint, bezeichnet autoreferentiell dessen Darstellungsverfahren. Unbestreitbar zeigt das Drama auch Formen und Diskurse der Außenwelt, aber deren Totalisierung wird durch die Beobachtung der eigenen poetischen Konstruktion verhindert, denn mit der selbstreferentiellen Beobachtung wird auch die Kontingenz des eigenen Wissens ausgestellt. Die Erfahrungen aus Modernisierungsprozessen werden im Faust II daher nicht in erster Linie auf der Gegenstandsseite des Kunstwerks sichtbar – also sofern es als Darstellung von Ökonomie, Politik, Militärtechnik usw. aufgefaßt werden kann. Denn wenn das Wissen der Moderne durch die erwähnten Prozesse der Ausdifferenzierung, Verzeitlichung und Verwissenschaftlichung sich in partikulare Diskurse bzw. Systeme auffächert, dann kann es kein Wissen mehr geben, das alles übergreift. Mit der Vervielfältigung von Deutungsmöglichkeiten und Kontextualisierungen der gegebenen Wirklichkeit tritt die Bedeutung der Gegenständlichkeit überhaupt zurück. Elemente aus der gegenständlichen Wirklichkeit, die im Drama gezeigt werden, wie etwa historische Orte und Personen, Architektur und Landschaften, werden gleichrangig behandelt neben Zitaten, Anspielungen, ästhetischen Formen und Inhalten. Die Differenz zwischen einer abgebildeten Wirklichkeit und intertextuellen Referenzen verschwindet ganz, weil kaum unterschieden werden kann, ob ein Element aus Texten oder aus der Wirklichkeit stammt. Im
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Eine vergleichbare Entwicklung vollzog sich in der Wanderjahreforschung durch die Aufwertung der Archivfiktion, vgl. dazu Abschnitt II.3 dieser Studie.
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Faust II ist nicht nur alles Naturale als kulturelles Phänomen dargestellt, sondern darüber hinaus erscheint die gegenständliche Welt als entgrenzter Bereich möglicher Verknüpfungen. Der beschriebene Formbegriff hat seine Erklärung in einer als zunehmend komplexer empfundenen Realität. Bereits Hegel hat in seinen Vorlesungen über die Ästhetik hervorgehoben, daß die Kunst als sinnliche Repräsentation von Wahrheit gegenüber dem diskursiven Wissen an Bedeutung verlieren mußte, begründete dies aber nicht wissenshistorisch, sondern geschichtsphilosophisch, was zur Folge hat, daß für den Philosophen die Kunst überhaupt an ihr Ende gelangt ist.61 Goethes Ästhetik sieht sich dagegen weniger durch die philosophische als durch die empirische Wissenschaft und ihre neue Dynamik herausgefordert und begründet sich aus der Konkurrenz zu dieser neu – nicht, indem sie deren Vehikel wird, sondern indem sie diese aufgreift und zur Selbstkonstitution nutzt. Diese Entwicklung belegen neben Faust II die Wanderjahre. Die Herausforderungen gestiegener gesellschaftlicher Komplexität an die Poesie führten Goethe dort zur Reformulierung der Romanpoetik unter dem Stichwort der ›Archiv- und Redaktorfiktion‹. Deren Pointe besteht in der Abwendung von der unmittelbaren Repräsentation der Wirklichkeit. Die Archivfiktion stellt den entstandenen Roman als Bearbeitung von semantischem Material dar; durch die Redaktorfigur wird dieser Schaffensprozeß in die Romanhandlung hineingeblendet. Der Roman stellt sich als prozessuale Selektion, Kombination und Transformation vorausliegender Texte dar. Um dem hier erarbeiteten Formverständnis einen Namen zu geben, greift das zweite Kapitel auf die ›Archiv- und Redaktorfiktion‹ in den Wanderjahren zurück. Beide Seiten – der Bezug auf vorliegende Texte und deren Transformation – werden im folgenden unter dem Stichwort der Archivpoetik verhandelt. Rezeptivität und Produktivität, Archiv und Redaktion werden in diesem Begriff als Einheit gedacht. Dadurch wird das Mißverständnis vermieden, es handele sich bei den Texten Goethes selbst um Archive oder Speicher. Die Archivpoetik meint eine Poetik, die sich nur aus dem Formprozeß des Dramas als Transformation vorausliegender Diskurse erkennen läßt. Der Begriff des Archivs wird im zweiten Kapitel anhand von Goethes Sprachgebrauch entwickelt. Goethe benutzt das Archiv nicht nur als Speicher- und Kommunikationsmedium, sondern auch als eine Metapher, mit deren Hilfe er die Operationen der Beobachtung zweiter Ordnung als Reaktion auf die Datenexplosion um 1800 beschreiben kann. Goethes Archivierungspraxis und
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»[Die Kunst] ist und bleibt nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als daß sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höheren Platz einnähme.« Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. von Friedrich Bassenge. 2. Aufl., Frankfurt a.M. o.J. (1965), S. 22.
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-reflexion bezeugt den beschriebenen Umbruch des Wissens. Dies ist die Grundlage für die Aufwertung des Archivbegriffes zu einer poetologischen Kategorie in den Wanderjahren, die so in einen Zusammenhang mit den ästhetischen Reflexionen von 1797 gestellt werden. Der Archivbegriff ermöglicht jetzt neben der Beobachtung von Wissensformen auch deren Integration in den poetischen Text. Vor der Untersuchung der Archivpoetik im Faust II erläutert ein Abschnitt die beim Übergang vom Roman zum Drama zu berücksichtigenden Gattungsdifferenzen bezüglich der Wissensintegration. Im dritten Kapitel werden die Verfahren der Integration der Wissenselemente im Drama untersucht. Am Beispiel des Bezugs zu Lucans Epos Pharsalia in der »Klassischen Walpurgisnacht« zeigt sich, daß die dramatische Welt eine räumliche Wissensordnung entwirft, in die die Archivelemente eingetragen werden können. Zugleich wird an der Figur Erichthos nachgewiesen, daß diese Verfahren durch die Figuren der Handlung verdoppelt und daher beobachtet werden. Erichtho wird so zu einer poetologischen Schlüsselfigur des Dramas. Im vierten Kapitel werden, gleichfalls am Beispiel der »Klassischen Walpurgisnacht«, zwei wissenschaftliche Diskurse untersucht, die im Faust II zentrale Bedeutung haben: die Geologie und die wissenschaftliche Mythologie. Gezeigt wird, wie diese, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, zum Medium der dramatischen Poiesis werden. Dabei kommt es zur Herausbildung einer Opposition, die sich als ambivalente Reaktion auf die Veränderungen im Wissen der Epoche deuten läßt. Während durch die Umstellung auf die Beobachtung zweiter Ordnung das Wissen als theorieabhängig, mithin als kontingent erfahren wird, kommt es zugleich zu Remythisierungswünschen, die eine neue Einheit des Wissens anzielen. Diese Opposition fächert sich in einen poetologischen Widerstreit zwischen Poetiken der Differenz und solchen der Identität auf: Während Faust als Handelnder Remythisierung anstrebt, stellen andere Figuren differenzbewußte Ironie als Gegenmittel zur Verfügung. Abschließend untersucht das fünfte Kapitel die Auswirkungen dieses poetologischen Widerstreites an der Figur Helenas, die diese drameninterne Spannung symbolisiert. Helena erscheint gleichermaßen als Signifikant des selbstreferentiellen Wissens wie als Signifikant des Wunsches, dieses in einem neuen Mythos zu überwinden. In der Helenahandlung wird dieser Gegensatz nicht gelöst, sondern bezeichnet und damit poetologisch fruchtbar gemacht. Zugleich ist Helena ein Archiv der Literaturgeschichte, die neben den Wissenschaften eines der wesentlichen Reflexionsmedien im Faust II darstellt. Das Interesse dieser Studie richtet sich, wie nach allem Gesagten deutlich geworden sein sollte, nicht auf eine Gesamtinterpretation des Faust II und insbesondere nicht auf das Thema der Gelehrtentragödie. Vielmehr soll an einigen ausgewählten Textstellen die Verfahrensweise der Archivpoetik untersucht werden. Zunächst ist hierbei nach der dramatischen Recodierung von Wis19
sensfragmenten zu fragen. Danach wird der Referenztext oder -diskurs zum Vergleich herangezogen. Anhand von Differenz und Ähnlichkeiten zwischen beiden Texten wird gezeigt, worin die Bedeutsamkeit des Prätextes für das Drama besteht. So läßt die archivpoetische Rekonstruktion des vorausliegenden semantischen Materials erkennbar werden, daß der poetische Text an den zitierten oder alludierten Wissensformen partizipiert, daß diese eine bestimmte poetologische Relevanz besitzen, die jedoch jeweils von neuem bestimmt werden muß. Bei der Untersuchung der Archivpoetik werden die Darstellungsebene und die dargestellte Welt gleichermaßen berücksichtigt, da sich beides nicht trennen läßt. Nur in der einläßlichen Interpretation der Äußerungen der dramatischen Personen wird erkennbar, inwiefern es sich dabei um Semantisierungen der Verfahren handelt. Aus dieser Verschränkung der Textebenen ergibt sich die Notwendigkeit ›regionaler‹ Analysen: Thematisierung der Poetik findet im Faust II ebenso wie im Faust I ständig statt; aber nicht solche Thematisierungen schlechthin, sondern nur die selbstreferentiellen Beobachtungen im Medium zeittypischer Wissensformen ist Gegenstand dieser Untersuchung. Da diese Form der Beobachtung jedoch nur durch einen genauen Vergleich mit dem Archiv vollzogen werden kann, ist diese Untersuchung zu einer Auswahl einzelner Gebiete des Archivs gezwungen, um lesbar zu bleiben. Aus diesem Grund beginnt die Analyse des Faust II unmittelbar mit der »Klassischen Walpurgisnacht«, ohne z.B. auf die vorausliegenden Szenen weiter einzugehen. Zwar unterhält sich Mephistopheles dort mit dem Bakkalaureus über Wissen und Wissenschaften, und man könnte meinen, dieser Studie hätte das nicht entgehen dürfen. Doch es geht nicht um hermeneutische Vollständigkeit, vielmehr um archäologische Einzeluntersuchungen, die notwendigerweise beschränkt, dafür aber detailliert sein müssen. Andererseits wäre die Beweiskraft der folgenden Analysen gering, würden sie sich nur an wenigen ausgewählten Textstellen bewähren. Aus diesem Grund wurde ein größeres Textstück im Zusammenhang untersucht, nämlich die »Klassische Walpurgisnacht« und den ganzen dritten Akt sowie – in einem Exkurs – den Beginn von Akt vier und die Rittersaalszene aus Akt I. Die einzelnen Schauplätze und Handlungselemente werden dabei zugleich als Gedächtnisorte gelesen, an denen bestimmte Archivelemente verortet sind. Dadurch ist der Zusammenhang der Handlung mit der Integration und Umfunktionierung bestimmter Wissensfelder gewahrt.
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II. Elemente einer Archivpoetik
1. Das Archiv als Wissensordnung Einer der wenigen Philologen, die sich Goethes Leidenschaft des Archivierens und der Aktenführung annahmen, war Ernst Robert Curtius.1 In seinem Essay Goethes Aktenführung, in dem er sich u.a. auf den ersten Band der von Willy Flach besorgten Ausgabe von Goethes Amtliche[n] Schriften2 bezieht, läßt er den Dichter als Organisator von Schriftstücken auftreten. Da findet man die Feststellung:
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Vgl. aber auch den Artikel von Willy Flach: Goethes literarisches Archiv. In: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner. Berlin 1956, S. 45–71. In jüngerer Zeit hat sich Bernhard J. Dotzler mehrfach zu Goethes Aktenführung geäußert. Vgl. ders.: Big Number Avalanche & Weltliteratur. Medienwissenschaftliche Notizen zu Goethes Aktenführung. In: Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000. Hg. von Ingrid Münz-Koenen und Wolfgang Schaeffner. Berlin 2002, S. 3–14; und ders.: Theophrast – Boyle – und ich: Goethes historische Epistemologie. In: »fülle der combination«. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte. Hg. von Bernhard J. Dotzler und Sigrid Weigel, München 2004. Dotzler versteht Goethes Aktenführung als Medium, durch dessen perfekte, aber verschwiegene Beherrschung Goethe die Organisation von Wissen und die »Bewältigung (zu) großer Datenmengen« (Big Number Avalanche, S. 11) gelingen kann. Dotzlers Ausführungen sind anregend, bleiben aber lediglich an der »Abhängigkeit« bestimmter Wissensvon bestimmten Kommunikationsformen interessiert (ebd. S. 13), ohne deren poetologische Reichweite näher zu betrachten. Nicht mit Goethes Archiven, sondern mit seinen Sammlungen beschäftigten sich dagegen Erich Trunz: Goethe als Sammler. In: ders., Weimarer Goethe-Studien. Weimar 1980, S. 7–47, und Carrie Asman: Kunstkammer als Kommunikationsspiel. Goethe inszeniert eine Sammlung. In: Johann Wolfgang Goethe: Der Sammler und die Seinigen. Hg. und mit einem Essay versehen von Carrie Asman. Dresden 1997, S. 119– 177. Die Dokumentation in der Sammlung unterscheidet sich von der im Archiv durch ihre Gegenständlichkeit: Das Archiv dient Goethe als Zwischenlager für die Weiterbearbeitung von Schriftstücken (in der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit ebenso wie im Austausch mit anderen) und nicht von Anschauungsgegenständen. Das Archiv operiert im Unanschaulichen. Beide haben allerdings gemeinsam, daß die gespeicherten Materialien vor allem für Zwecke der Kommunikation aufbewahrt werden und daß daher die Untersuchung ihres Aufbaus Aufschlüsse über Wissensordnungen zuläßt. Vgl. dazu am Beispiel der Kunstkammer: Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993, und zur Entwicklung von Archiven den Sammelband: Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Hg. von Hedwig Pompe und Leander Scholz. Köln 2002. Vgl. Johann Wolfang Goethe: Goethes amtliche Schriften. Bd. I. Hg. von Willy Flach. Weimar 1950.
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Die Behandlung von Verwaltungsgeschäften bietet ihm das Modell und die Technik für die Organisation seiner persönlichen Existenz. Man erfaßt etwas von Goethes Lebensart und Lebensluft, wenn man ihn beim Anlegen und Führen vielfältigster Akten betrachtet.3
Dabei sind Curtius’ Ausführungen nicht nur von anekdotischem Interesse: Indem er die Tätigkeiten des Rubrizierens, der Ablage von Schriftstücken in einzelnen Fächern sowie die periodischen Löschungsaktionen, die in den Tagebüchern mit zunehmender Häufigkeit vermerkt werden, in den Blick nimmt, bringt er die Einsicht ans Licht, daß das Wissen seines Autors von der Welt sich keinesfalls nur der vielberufenen Bevorzugung der Anschauung verdankt. Gegen diese Präferenz der Anschauung spürt Curtius die Stellen auf, an denen die sichtbare Welt der Natur der Ordnung des Archivs einverleibt wird. So, als Goethe in einem Brief vom 25. September 1797 aus der Schweiz Schiller mit dem Enthusiasmus eines Sammlers mitteilt, »die Rubrik dieser ungeheuern Felsen« – gemeint sind die Berge des Vierwaldstätter Sees – »darf mir unter meinen Reise-Kapiteln nicht fehlen.«4 Die Natur, so bemerkt Curtius dazu, werde »ad acta genommen.«5 Die Aktenführung hat eine epistemologische Bedeutung. In der Weise, wie Goethe sein Archiv führt, an den Kriterien der Ordnung, der Selektion von Wichtigem und Unwichtigem, an der praktischen Verwaltung des Archivs läßt sich ablesen, welche Wissensordnung diese Praxis fundiert. So führt Goethe sein Archiv mit Hilfe von Rubriken, die im Unterschied zu einer bloßen Zahlenordnung eine semantische Ordnung besitzen: »Publica« und »Privata«, »Domestica« und »Religiosa« heißen einige der Rubriken des Goetheschen Archivs.6 Sie implizieren eine gewisse Welthaltigkeit. Zettel, Notizen und Manuskripte unter der Rubrik »Domestica« abzulegen, weist dem Gespeicherten einerseits eine Stelle im Archiv, andererseits einen Platz in der Wirklichkeit zu.7 Die Rubrik ist ein mentaler Gedächtnisort, ein Topos, bei dessen geistigem ›Betreten‹ sich die abgelegten Wissensgehalte auffinden lassen. Dieses topologische Abschreiten der Ordnung war lange sogar der einzige Weg für Goethe, sich in seinem Archiv zurecht zu finden. Hierin folgt er einer durch die Tradition der Rhetorik und durch das
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Ernst Robert Curtius: Goethes Aktenführung. In: ders., Kritische Essays zur europäischen Literatur. 2. erweiterte Aufl., Bern 1954, S. 57–69, hier S. 61. FA II, 4, S. 431 Curtius: Aktenführung, S. 65. Ebd., S. 64. Das unterscheidet Goethes Archiv von der Ordnung des Zettelkastens, wie sie z.B. Niklas Luhmann beschrieben hat (vgl. Niklas Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht. In: Öffentliche Meinung und sozialer Wandel / Public Opinion and Social Change. Für Elisabeth Noelle-Neumann. Hg. von Horst Baier, Hans Mathias Kepplinger und Kurt Reumann. Opladen 1981, S. 222–228.) Der Unterschied besteht in der festen Stellordnung und der strengen Numerierung der Zettel, die keinerlei Semantik mehr implizieren. Vgl. ebd., S. 223f.
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Medium des Buchs geprägten Praxis der Verwaltung von Wissen, die sich im Zug des 18. Jahrhunderts langsam durch die aufkommende flexible Verzettelung des Wissens zu verabschieden begann.8 Weil das Archiv und seine Ordnung das Wissen von der Welt durch seine Strukturierung ebenso prägt wie bezeugt, besitzt es eine metaphorische Bedeutung. Begriffe wie Rubrik, Lokulament,9 Säcke und Kapseln oder das ›ad acta-Nehmen‹ bezeichnen bei Goethe nicht nur terminologisch die Tätigkeit des Sammlers und Archivars, sondern dienen ihm als Metaphern, mit deren Hilfe die Aussagen anderer Menschen bewertet und beurteilt werden können. Wichtiges kann von Unwichtigem, Bewahrenswertes von Abfall getrennt werden. Von Interesse ist in diesem Sinne ein Brief Goethes über Alexander von Humboldt, der in seinen Fragments de Géologie 10 die Entstehung des Himalaja als Folge vulkanischer Tätigkeiten erklärte. Da der Brief es erlaubt, sehr wichtige Dimensionen des Archivbegriffs bei Goethe zu verdeutlichen, sei er hier ausführlich zitiert: Wenige Menschen sind fähig, überzeugt zu werden; überreden lassen sich die meisten, und so sind die Abhandlungen die uns hier vorgelegt werden wahrhafte Reden, mit großer Fazilität vorgetragen, so daß man sich zuletzt einbilden möchte, man begreife das Unmögliche. Daß sich die Himalaja-Gebirge auf 25 000' aus dem Boden gehoben und doch so starr und stolz als wäre nichts geschehen in den Himmel ragen, steht außer den Grenzen meines Kopfes, in den düstern Regionen, wo die Transsubstantiation pp. hauset, und mein Zerebralsystem müßte ganz umorganisiert werden – was doch schade wäre – wenn sich Räume für diese Wunder finden sollten. Nun aber gibt es doch Geister, die zu solchen Glaubensartikeln Fächer haben, neben sonst ganz vernünftigen Lokulamenten; ich begreif es nicht, vernehm es aber doch alle Tage. Muß man denn alles begreifen? Ich wiederhole: unser Welteroberer ist vielleicht der größte Redekünstler.11
Der Hintergrundmetaphorik12 des Archivs, die hier durch die Worte »Fächer« und »Lokulament« aufgerufen wird, kommt eine epistemologische Bedeutung zu: Die wissenschaftliche Theorie des Vulkanisten Humboldt findet nicht Goethes Zustimmung. Zur Abwehr einer solchen als Zumutung empfun-
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Vgl. Helmut Zedelmaier: Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkasten. In: Pompe, Hedwig und Leander Scholz (Hgg.): Archivprozesse, S. 38–53: »Erst allmählich verlor die private Wissensvorsorge ihre Gedächtnis- und Buchzentriertheit. Der eigentliche Umbau der ortsgebundenen, topischen Wissensverwaltung zu pragmatischen, flexibel erweiterbaren Zettelkästen setzt erst im 18. Jahrhundert ein.« Ebd., S. 48. Zu diesem Begriff Curtius: Aktenführung, S. 63: »Bei Seneca und Plinius bedeutet es Bücherregal, bei Goethe die Fächer eines Aktenschrankes«. Es handelt sich um Alexander von Humboldt: Fragments de géologie et de climatologie asiatiques. Paris 1831. (Vgl. FA II, 11, S. 871.) An Carl Friedrich Zelter, vom 5. Okt. 1831, FA II, 11, S. 473f. Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a.M. 1998, S. 20 passim.
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denen Position greift Goethe zur Archivmetapher, die es ihm gestattet, das Anwachsen der wissenschaftlichen Literatur durch Zuteilung in ›phantastische‹ Fächer und »vernünftige[] Lokulamente[]« zu sortieren. Das Archiv bietet die Möglichkeit, wissenschaftliche Kommunikation zu beobachten: Wahre Aussagen sind bewahrenswert, falsche nicht. Aber es gilt auch, daß jedes mentale Archiv seine eigenen Kriterien besitzt: was dem einen »Geist« nur Rhetorik, ist dem andern schon Wahrheit. In dieser Betonung der Relativität der Wahrheit, in der Goethes Begriff der Vorstellungsart13 unausgesprochen bleibt, bezeugt das Archiv eine gesteigerte Fähigkeit zur Selbstbeobachtung. Denn die Möglichkeit, die Beobachtungen der anderen im Medium des Archivs als sinnvoll, wahr und überzeugend oder als bloße Rhetorik der Überredung, als phantastisch und unwahr zu qualifizieren, bedeutet nicht, daß dadurch ein höherer Standpunkt erreicht wäre. Gesagt wird nur, daß ein Für-wahrhalten der Ansichten des anderen eine »Umorganisierung« des eigenen »Zerebralsystems« voraussetzte. So läßt sich an der Archivmetaphorik14 und -praxis Goethes jener epochale Umbruch um 1800 ablesen, in dem aus einem Wissen, das im wesentlichen beobachterunabhängige Repräsentation von Wirklichkeit war, ein beobachterabhängiges Wissen wurde. Dies läßt sich vertiefen und verdeutlichen, wenn man den Übergang von Goethes Plan einer italienischen Kunstgeschichte, der seit 1795 immer deutlicher Gestalt annahm,15 und der dann tatsächlich durchgeführten dritten Schweizer Reise unter dem Gesichtspunkt der Sammelpraxis und ihrer Reflexion untersucht. Der Italienplan stellt in der Rekonstruktion der Archivpoetik deshalb einen wichtigen Ausgangspunkt dar, weil sein Scheitern zum Auslöser der Reflexion auf das Archiv wird. Ein Brief an Schiller, in dem er über seine Vorbereitungen zu seiner Reise nach Italien spricht, gibt Eindruck von dem Willen, das ganze Wissen über Italien zu integrieren: Was mich betrifft so habe ich, wie Sie wohl fühlen, auch nur diese Zeit auf Einem Fuß gestanden und mit dem andern mich schon nach den Alpen bewegt. Die Mineralogie und Geologische Base, die anfängliche und fortschreitende und gestörte Cultur des Landes habe ich von unten herauf theils zu gründen, theils
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Zu diesem Begriff vgl. Kapitel IV.2. Dort finden sich auch Literaturangaben. Goethes Verwendung des Archivbegriffs oszilliert zwischen dem strengen Gebrauch des Wortes, der im 18. Jahrhundert eigentlich ausschließlich der staatlichen Institution des Archivs vorbehalten war, und einer weit ausgedehnten Verwendung des Wortes. Zu Goethes Gebrauch des Wortes und zu seiner üblichen Bedeutung im 18. Jh. s. Willy Flach: Goethes literarisches Archiv, S. 48–60, der zusammenfassend feststellt, »daß er [Goethe] über den landläufigen Begriff des Archivs als einer staatlichen Einrichtung hinaus für dieses Wort bereits sehr viel weitergehende Deutungen und Auffassungen hat, so weitgehende Deutungen, daß der Ausgangspunkt mitunter völlig verlassen wird.« (Ebd., S. 60) Hierüber unterrichten: Hans-Heinrich Reuter: Goethes dritte Reise nach Italien – ein wissenschaftlicher Entwurf. In: Goethe-Jahrbuch 24 (1962), S. 81–108, und Klaus-Detlef Müller: Kommentar. In: FA I, 16, S. 691–1020, hier: S. 750ff.
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zu überblicken gesucht und mich auch von oben herein, von der Kunstseite, noch mit Meyern auf alle Weise verständiget.16
Die Idee, die das Italienprojekt leitet, besteht darin, die italienische Kunst als Gipfel der Kultur aus der Ordnung des Ganzen zu verstehen. Dieses Ganze umfaßt Natur und Kultur als eine sich zunehmend differenzierende Einheit. Goethes Kulturbegriff ist weit gefaßt. Er bezeichnet den gesamten, auf dem Naturalen aufruhenden Bereich des Sozialen, der menschlichen Tätigkeit. In den Papieren zur Reisevorbereitung heißt es hierzu: »Alles was der Mensch treibt cultivirt ihn«. Daneben befindet sich eine Spalte mit der Überschrift »Cultur«, in der aufgezählt wird, was hierzu gehört: »Des Bodens / In Städten / Der Künste / Der Handwerker / Der Wissenschaften / Religiose Cultur / Moralische Cultur / Politische Cultur«.17 Kultur erscheint also als zunehmende Differenzierung der natürlichen Grundlagen in den menschlichen Tätigkeiten. Noch in den kulturellen Höchstleistungen bleiben diese Grundlagen erkennbar: Ich sehe schon die Möglichkeit vor mir einer Darstellung der physikalischen Lage, im allgemeinen und besondern, des Bodens und der Kultur, von der ältesten bis zur neuesten Zeit, und des Menschen in seinem nächsten Verhältnisse zu diesen Naturumgebungen. Auch ist Italien eins von denen Ländern wo Grund und Boden bei allem was geschieht immer mit zur Sprache kommt. Höhe und Tiefe, Feuchtigkeit und Trockne sind bei Begebenheiten viel bedeutender und die entscheidenden Abwechselungen der Lage und der Witterung haben auf Kultur des Bodens und der Menschen, auf Einheimische, Kolonisten, Durchziehende mehr Einfluß als in nördlichern und breiter ausgedehnten Gegenden.18
Der Anspruch dieser geplanten Kunstgeschichte ist empirischer Art.19 Die Kunst wird nicht nach normativen Kriterien betrachtet, sondern im Kontext der Gesellschaft, in der sie hergestellt wird, angesiedelt. Dieser empirische Zugriff verlangt eine möglichst weitgehende Vollständigkeit des Faktenwissens und eine sinnvolle Zuordnung der Fakten zueinander. Dabei geht es nicht nur darum, diese Fakten aufzuzählen, sofern sie für die Beschreibung der Kunst von Interesse sind; vielmehr versucht Goethe die einzelnen Wissensfelder selbst in ihrer Struktur zu vergegenwärtigen, die von den weit gestreuten empirischen Daten berührt werden, um so die Entstehung der Kunst aus dem Ganzen ableiten zu können. Das Italienprojekt berührt daher eine Reihe von Spezialgebieten: Geologie und Geographie, Mineralogie und Landwirt-
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Vom 14.9.1795, FA II,4 , S. 112f. WA I, 34/2, S. 156. An Johann Heinrich Meyer, 16.11.1795, FA II, 4, S. 131. Zu Recht hebt Hans-Heinrich Reuter den statistischen und naturwissenschaftlichen Charakter der Reise hervor. Vgl. ders.: Goethes dritte Reise nach Italien, S. 93.
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schaft, Ökonomie, Historie und Kunstgeschichte, um nur einige zu nennen. Dieses Projekt läßt sich als enzyklopädisch charakterisieren, da die einzelnen Wissensgebiete nicht nur für sich allein zur Darstellung kommen sollen, sondern auch in ihrem inneren Zusammenhang. Der wird als ein von unten aufsteigendes Modell gedacht, bei dem alle Teile funktional zueinander in Beziehung stehen. Die Metapher, die dieses Unternehmen leitet, ist daher die des Gebäudes. So beschreibt Goethe gegenüber Meyer die entstehende Geschichte mit Begriffen der Architektur: Während die fertige Geschichte von der »physikalischen Lage [...] des Bodens« ausgehend bis zur Kunst aufsteigen soll, dienen die vorbereitenden Arbeiten selbst als »Basis«, auf die nach und nach die einzelnen Fakten aufgesetzt werden können, bis am Ende das Ganze als ein Gebäude dasteht: »Ich habe indessen auch mancherlei zu unserm Zweck zusammen getragen und hoffe die Base zu unserm Gebäude breit und hoch und dauerhaft auszuführen.«20 Die unter dem Titel Vorbereitung zur Zweiten Reise nach Italien zuerst in der Weimarer Ausgabe gedruckten Reisevorbereitungen geben Aufschluß über die Struktur dieses Gebäudes. Das wichtigste Organisationsprinzip sind dabei die Rubriken. Sie stellen die Ordnung dar, in die das Wissen gebracht werden muß. Dem Gesamtplan entsprechend, beginnen die Faszikel mit der Rubrik »Urgeographie, Oryktologie, Mineralogie«.21 Diese Rubrik bezeichnet die Basis, die geographische Grundstruktur Italiens, als einen Raum, der sich in geschichtlicher Zeit kaum verändert hat. Man findet hier von Norden nach Süden die Gebirge und die Flüsse, die Italien einteilen: Am Beginn stehen die Alpen, mit dem Vermerk: »trennen die Halbinsel vom festen Lande. Haquet Saussüre Pini.« Vertiefungen und »Flächen an ihrem Fuße« sind mit den Oberitalienischen Seen ausgefüllt, die ins »Potal« ablaufen. In dieser Art geht es weiter, wechselnd werden Flüsse und Gebirge bis Neapel aufgezählt. Auf der linken Seite befinden sich zum Teil bibliographische Angaben: »Schall, Oryctologische Biblioth. p. 184. Von Italien. / Teoria di Niccolo Stenone [...]«, zum Teil Bemerkungen über Gesteinsarten oder Eingriffe in die Natur. So lautet ein Kommentar zum Eintrag »Mittlere Florentinische Anhöhen« in der linken Spalte: »Schaden durch Abholzung der Berge um Florenz am Klima Erhöhung des Arno Bettes. Targ. I. 6.«22 Auf diese Urgeschichte folgen weitere Phasen der Geographie, in ähnlicher Weise strukturiert: »Alteste Geographie«, »Mittlere Geographie«, »Neuste Geographie«.23 Darauf folgt die Rubrik »Cultur« mit der bereits zitierten Einteilung in die Einzelkulturen, die dann die weitere Ordnung bestimmt und immer wieder von Beobachtungen, methodischen Reflexionen sowie Literaturhinweisen begleitet wird. 20 21 22 23
FA II, 4, S. 131. WA I, 34/2, S. 154. Ebd. Ebd., S. 155f.
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Die Folge der Rubriken hat eine doppelte Funktion: Sie spiegelt die Ordnung der Wirklichkeit wider, und sie stellt eine Findemethode dar. Durch dieses Verfahren wird garantiert, daß jedes neue Datum, das Goethe im Verlauf seiner Recherchen begegnen kann, von vorneherein seine feste Stelle in der unverrückbaren Ordnung einnimmt. Und es leitet die weiteren Lektüren und Arbeitsphasen an. Die Ordnung der Rubriken hat also eine Funktion der Repräsentation: Die Empirie erscheint noch nicht als ein beweglicher, sich verändernder Datenstrom, sondern als festes, der Wahrnehmung zugängliches Gefüge von Details, das in den Rubriken sich abspiegelt. Die Entsinnlichung und Temporalisierung der Empirie zeichnet sich erst in den Dokumenten der Schweizer Reise ab. Bevor Goethe im August 1797 zu seiner lange geplanten Reise aufbrach, hatte er den ursprünglichen Italienplan wohl bereits aufgegeben, auch wenn die endgültige Absage sich erst in einem Brief vom 10. 8. 1797 an Karl Ludwig von Knebel findet.24 Das ursprüngliche Vorhaben hatte sich aus persönlichen und politischen Ursachen zerschlagen; zudem belegen die Dokumente der Reise einen grundlegenden Wandel der Voraussetzungen: War das Italienprojekt von einem enzyklopädischen Optimismus getragen, das Gelesene und Gesehene zu einer abgeschlossenen Darstellung vereinigen zu können, so steht die tatsächliche Reise, die Goethe im August 1797 unternahm und die ihn nicht nach Italien, sondern nur bis in die Schweiz brachte, unter einem anderen Stern. Die Vorstellung der Kultur als eines sinnvoll aufgebauten Gebäudes, das von der geologischen Urgeschichte bis zum Gipfel der Kunst ein organisches Ganzes darstellen sollte, zerbricht im Verlauf der Reise an der Begegnung mit der »empirischen Breite«25 als eines unendlichen Daten- und Deutungsflusses. Im Unterschied zur geplanten Italienreise erwähnt Goethe zwar auch hier noch den Plan einer Reiseerzählung,26 hält sich dabei aber weniger strikt an bestimmte vorgefertigte Schemata und subsumiert auch nicht alles diesem Plan. Im Gegenteil: Die Reflexionen, die seine Reise begleiten, bezeugen einen geänderten Stellenwert der Schemata und Rubriken. Sie sind jetzt Ausgangspunkte für eine Stoffindung, die sich zirkulär mit dem Gefundenen
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»Nach Italien habe ich keine Lust, ich mag die Raupen und Chrysaliden der Freiheit nicht beobachten, lieber möchte ich die ausgekrochnen französischen Schmetterlinge sehen.« FA I, 16, S. 752. An Schiller, 12.8.1797. Goethe erwähnt in diesem Brief die Schwierigkeiten, die die »empirische Breite« der Dichtung bereitet, faßt aber Herrmann und Dorothea als einen gelungenen Versuch ihrer Bewältigung auf: »Hätte ich nicht an meinem Hermann und Dorothea ein Beispiel daß die modernen Gegenstände, in einem gewissen Sinne genommen, sich zum epischen bequemten, so möchte ich von aller dieser empirischen Breite nichts mehr wissen.« (FA II, 4, S. 383.) Vgl. auch den bereits zitierten Brief vom 25.9. 1797 an Schiller (FA II, 4, S. 431).
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verändern. Sie besitzen heuristischen Wert, der sich an der Erfahrung bewähren muß. Diese zirkuläre Überprüfung der vorgefertigten Schemata erwähnt Goethe z.B. in einem Brief an Schiller aus Frankfurt, seiner ersten großen Reiseetappe: »Ich will nun alles was mir in diesen Tagen vorgekommen ist so gut als möglich ist zurecht stellen, an Franckfurth selbst als einer vielumfassenden Stadt meine Schemata probieren und mich dann zu einer weiteren Reise vorbereiten.«27 Dieser Veränderung entspricht die Mannigfaltigkeit der Dinge, für die sich Goethe interessiert. Nicht nur Materialien für die geplante Reisebeschreibung, auch Stoffe für zukünftige Werke, Steine für seine Sammlungen, Anregungen für seine Intendantentätigkeit und vieles andere beschäftigen ihn. Selbst Gegenstände, deren Verwendbarkeit gar nicht abzusehen ist, nimmt er in sein Reisearchiv auf: Ich habe schon ein paar tüchtige Aktenfaszikel gesammelt, in die alles, was ich erfahren habe, oder was mir sonst vorgekommen ist, sich eingeschrieben oder eingeheftet befindet, bis jetzt noch der bunteste Stoff von der Welt, aus dem ich auch nicht einmal, wie ich früher hoffte, etwas für die Horen herausheben könnte.28
Die größere Aufnahmebereitschaft für Unvorhergesehenes erfordert eine methodische Kontrolle des Blicks. Wenn die Empirie schon im voraus geordnet ist, dann bedarf es einer solchen Kontrolle nicht, weil der Reisende nur das sieht, was er erwartet hat. Der umgekehrte Fall dagegen, bei dem die Wirklichkeit noch keine Struktur besitzt, erfordert eine andere Technik der Informationsverarbeitung. Goethe reflektiert diesen Sachverhalt, indem er es als eine Eigenart der Jugend beschreibt, nur das aufzunehmen, »was in unserm Wege liegt und rechts und links wenig achten.« Dagegen gelte für sein Alter das Umgekehrte: »Später kennen wir die Dinge mehr, es interessiert uns deren eine größere Anzahl und wir würden uns gar übel befinden, wenn uns nicht Gemütsruhe und Methode in diesen Fällen zu Hülfe käme.«29 Der Umgang mit der neuen Vielfalt von Erfahrungen läßt sich mit Hilfe der Opposition von Zerstreuung und Sammlung beschreiben. Beide Begriffe besitzen eine doppelte Bedeutung: Sie bezeichnen nämlich erstens den Zusammenhang der empirischen Datenmengen mit deren Reduktion durch die Technik des Archivierens, die festlegt, was gespeichert wird und was nicht, und der Ordnung des Gespeicherten. Zweitens bezeichnen beide Begriffe auch eine ethische Haltung. Angesichts der so erfahrenen, aus vorgegebenen Strukturen entlassenen Realität kann man sich entweder der Zerstreuung hingeben oder sich sammeln, um seine Produktivität zu wahren. Dieser ethisch-archivtheoretische Doppelaspekt des Archivs oder der Sammlung kommt nicht nur im Begriffs-
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An Friedrich Schiller, 9.8. 1797, FA I, 4, S. 378. An Schiller, 25.9. 1797, ebd., S. 431. An Schiller, 9.8. 1797, ebd., S. 378.
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paar »Gemütsruhe und Methode«, sondern deutlich auch in folgender Briefstelle zum Ausdruck: Die Poesie verlangt, ja sie gebietet Sammlung, sie isoliert den Menschen wider seinen Willen, sie drängt sich wiederholt auf und ist in der breiten Welt (um nicht zu sagen in der großen) so unbequem wie eine treue Liebhaberin. Ich gewöhne mich nun alles wie mir die Gegenstände vorkommen und was ich über sie denke aufzuschreiben, ohne die genauste Beobachtung und das reifste Urteil von mir zu fordern, oder auch an einen künftigen Gebrauch zu denken. Wenn man den Weg einmal ganz zurückgelegt hat so kann man mit besserer Übersicht das vorrätige immer wieder als Stoff gebrauchen.30
Goethe spricht hier mehrere wichtige Funktionen bzw. Eigenschaften des Archivs an, die im folgenden näher erläutert werden: Es gestattet dem Subjekt erstens Distanzierung von der zudringenden empirischen Welt, eine Distanz, die seine Identität bewahrt und Spielraum für Bildung läßt. Zweitens basiert das Archiv noch nicht auf der richtigen Erkenntnis oder dem gesicherten Wert der gesammelten Daten. Das Archiv ermöglicht erst die Gewinnung von Wissen durch eine sekundäre Überarbeitung des Gespeicherten. Die Technik der Rubrizierung muß darum nicht im Hinblick auf die Repräsentation von Erkenntnis, sondern im Hinblick auf die Funktion im Archiv betrachtet werden. Drittens deutet sich darin ein Übergang von der Beobachtung erster zur Beobachtung zweiter Ordnung an: Der Stoff der zukünftigen Betrachtung wird nämlich nicht mehr die Wirklichkeit sein, sondern die im Archiv gespeicherte Dokumentation der früheren Urteile. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Archivs ist seine besondere Temporalität, die von der Zeit der Wahrnehmung abweicht. Üblicherweise wird es als Funktion des Archivs angesehen, abgeschlossene Geschäftsgänge für die Zukunft zu dokumentieren.31 Goethes Privatarchiv hat eine andere Aufgabe: Es soll den Reisenotizen solange als Speicher dienen, wie diese noch nicht zu einer abschließenden Verwertung gekommen sind. Das Archiv läßt sich am besten als eine strukturierte Form der Vorläufigkeit verstehen. In ihm wird die lebendige Zeit der Wahrnehmung sistiert und auf zukünftige Ereignisse ausgerichtet. Das Subjekt, das jetzt noch nicht weiß, ob es richtig oder falsch über Gegenstände urteilt, schickt sich selbst eine Post in die Zukunft, in der Hoffnung, die Botschaft dann genauer entschlüsseln zu können: »Ein paar Poetische Stoffe bin ich schon gewahr geworden, die ich in einem feinen Herzen aufbewahren werde, und dann kann man niemals im
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Ebd., S. 379. Vgl. Nikolaus Wegmann: Art. »Archiv«. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. von Nicolas Pethes und Jens Ruchatz. Reinbek 2001.
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ersten Augenblicke wissen was sich aus der rohen Erfahrung in der Folgezeit noch als wahrer Gehalt aussondert.«32 Indem das Archiv das Fixierte in seiner Materialität aufbewahrt und so das Gedächtnis externalisiert, versorgt es seinen Benutzer mit der Möglichkeit, die Linearität der Zeit zu umgehen, weil die Dokumente von der Zeit nicht konsumiert werden. Dies erlaubt wiederum die Generierung von Zufällen – mithin von Ereignissen,33 weil sich eine Differenz zwischen dem einmal fixierten Sinn und der späteren Erwartung einstellen kann. So kann Bekanntes unvertraut und neu erscheinen, in neuen Kontexten Verwendung finden. Rekursivität und Ereignishaftigkeit können zwar als wesentliche Merkmale von Kommunikation überhaupt aufgefaßt werden, aber indem das Archiv durch die Auslagerung von Signifikanten in einen Speicher das Gedächtnis entlastet und somit das Subjekt mit der Möglichkeit des Vergessens und des Wiederfindens versorgt, wird die Wahrnehmung einer Differenz von ›früher‹ und ›jetzt‹ – den Augenblicken der Fixierung und des Wiederlesens – verstärkt und damit erst erlebbar.34 Der organische Zeitfluß wird in distinkte Zeitpunkte der Überraschung, des Wiederfindens, des Zufalls zerlegt. Die Effekte dieser Rekursivität des Archivs können in verschiedener Weise artikuliert werden. In den 1790er Jahren interpretiert Goethe die Möglichkeiten der Distanzierung durch das Archiv noch im Sinn von Bildung. Denn aufgrund der Rekurrenz ermöglicht es die Vergleichbarkeit früherer und späterer Urteile, deren Verhältnis in der Semantik von Vervollkommnung interpretiert werden kann: Ich hoffe diese Reisesammlung noch um vieles zu vermehren und kann mich dabei an so mancherlei Gegenständen prüfen. Man genießt doch zuletzt, wenn man fühlt, daß man so manches subsumieren kann, die Früchte der großen und anfangs unfruchtbarscheinenden Arbeiten, mit denen man sich in seinem Leben geplagt hat.35
Andererseits stellt das Anwachsen des Archivs auch eine Gefahr für das Gespeicherte dar, wenn der gesteigerten Komplexität nicht mit einer adäquaten Fin-
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Brief an Schiller, 22.8. 1797, FA II, 4, s: 394. Vgl. zur Notwendigkeit des Zufalls Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen: »Für Kommunikation ist eine der elementaren Voraussetzungen, daß die Partner sich wechselseitig überraschen können. Nur so ist ein Generieren von Information im jeweils anderen möglich.« (S. 222) Im Falle von Goethes Archivierungsverfahren kann man also sagen, daß er sich selbst mit zukünftiger Überraschung versorgt. In einem gewissen Sinn gilt dies alles auch von der Schrift. (Vgl. hierzu allgemein Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 2. durchges. Aufl., München 1997, S. 87–103.) Doch muß jedes Schriftstück gerade weil es Daten exportiert und damit Vergessen ermöglicht, aufbewahrt werden und auffindbar bleiben, sofern es nicht einem rein ephemeren Zweck dient. Schrift und Archiv sind insofern aufeinander angewiesen. An Schiller, 25.9. 1797, FA II, 4, S. 431.
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demethode begegnet wird. Es wird nämlich schwieriger, Abgelegtes wiederzufinden bzw. überhaupt noch zu wissen, daß etwas bereits archiviert ist. Damit droht dann der Stillstand und die Entropie: Aus der methodischen Externalisierung des Gedächtnisses kann ein wirkliches Vergessen werden, weil zwar alles irgendwo gespeichert, aber nicht mehr zugänglich ist. Damit zeichnet sich die Gefahr ab, daß das Individuum durch Speichern seine Vergangenheit verliert. Wie immer, wenn es um Technik geht, sind Chancen und Risiken, die sich aus Technisierungsprozessen für Individuen ergeben, untrennbar verbunden. Interessant genug, daß Goethe trotz dieser Leidenschaft des Sammelns und Archivierens erst sehr spät eines der fundamentalen Requisiten des Archivs, ein Findebuch, hat anfertigen lassen. In einer Reihe späterer Texte berichtet er über diesen Fortschritt, und zwar in einem Kontext, dessen Betrachtung die bisherigen Ausführungen vertieft und bestätigt. Es handelt sich um drei Aufsätze, die 1823 im ersten Heft des vierten Bandes von Über Kunst und Altertum erschienen und eng aufeinander bezogen sind. Sie heißen Selbstbiographie, Archiv des Dichters und Schriftstellers und Lebensbekenntnisse im Ganzen. Schon diese Titel und ihre Abfolge sind für die Archivtheorie von großer Bedeutung: Gegenübergestellt sind die Selbstbiographie, die eine sinnhafte Deutung des Lebens im Medium der Zeit darstellt, und das Archiv, dessen besondere Temporalität eine solche sinnhafte Integration einzelner Momente in eine lineare Abfolge und ihre Unterstellung unter eine Teleologie ebenso ermöglicht wie sie diese bedrohen und negieren kann. Die räumliche Kontiguität der drei Texte, ihre Vereinigung unter einem Titel, erzeugt eine Spannung zwischen diesen widerstrebenden Mustern der Informationsverarbeitung und Selbstdokumentierung. Auslöser der Notiz über das eigene Archiv ist die von Goethes Sekretär Kräuter unternommene Arbeit, ein Repertorium (Findebuch) herzustellen. Zur Neuordnung seines Archivs sah sich Goethe einerseits durch sein Vorhaben veranlaßt, seine Lebenserinnerungen zu bearbeiten, die 1830 als Tag- und Jahres-Hefte erschienen, andererseits durch die Herausgabe der Werke letzter Hand, die er 1822 in Angriff nahm.36 Über Kräuters Arbeit heißt es nun: Ein junger, frischer, in Bibliotheks- und Archivgeschäften wohlbewanderter Mann (Bibliotheksekretär Kräuter) hat es diesen Sommer über dergestalt geleistet, daß nicht allein Gedrucktes und Ungedrucktes, Gesammeltes und Zerstreutes vollkommen beisammensteht, sondern auch die Tagebücher, eingegangene und abgesendete Briefe in einem Archiv beschlossen sind, worüber nicht weniger ein Verzeichnis, nach allgemeinen und besondern Rubriken, Buchstaben und Nummern aller Art gefertigt, vor mir liegt [...].37
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Über die Neuordnung des Archivs unterrichtet ausführlich Willy Flach: Goethes literarisches Archiv, 60ff., über das Repertorium bes. S. 66fff. Auch zu den Aufsätzen finden sich ebd., S. 65f. einige Anmerkungen. GA 12, S. 650.
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Anlaß dieser Mitteilung ist das bedrohliche Gefühl, das bereits Erworbene nicht nutzen, über das eigene Wissen und die eigenen Erinnerungen nicht mehr verfügen zu können. Hinzu kommt die Lähmung der Produktivität, die sich durch die Unordnung der Dokumente einstellt. Denn der verlorene Überblick über begonnene und abgebrochene Projekte versetzt ihn in einen Zustand »wehmütige[r] Verworrenheit«. Die einzige Rettung hieraus ist die Überarbeitung des vorliegenden Archivs: Die Hauptsache war eine Sonderung aller der bei mir ziemlich ordentlich gehaltenen Fächer, die mich mehr oder weniger früher beschäftigten; eine reinliche ordnungsgemäße Zusammenstellung aller Papiere, besonders solcher die sich auf mein schriftstellerisches Leben beziehen, wobei nichts vernachlässigt noch unwürdig geachtet werden sollte.38
Die Bedeutung des Archivs besteht darin, daß es dem Subjekt überhaupt erst die Möglichkeit der Kohärenz gibt. Das eigene Leben läßt sich rückblickend nur erzählen, wenn Erinnerungen verfügbar sind; und es läßt sich an Vorhandenes nur anschließen, wenn dieses aufbereitet ist. Sowohl der biographische Rückblick wie die Produktivität in der Gegenwart sind also nur möglich dank des geordneten Archivs. Daß Goethe dessen Bedeutung so hoch einschätzte, geht auch aus der Stellung dieser Veröffentlichung zwischen den beiden Bemerkungen zur Autobiographie hervor. Im Abschnitt Selbstbiographie geht es um die Frage, wie die individuelle Vergangenheit beschrieben werden könnte. Dieses Problem ergibt sich aus dem Zeitfaktor, der nicht nur für Vergessen sorgt, sondern auch den Sinn und den Stellenwert des Vergangenen kontinuierlich verändert. »Es ist keine Frage, daß uns die Fülle der Erinnerung, womit wir jene ersten Zeiten zu betrachten haben, nach und nach erlischt, daß die anmutige Sinnlichkeit verschwindet und ein gebildeter Verstand durch seine Deutlichkeit jene Anmut nicht ersetzen kann.«39 Das Resultat jenes Abrückens vom unmittelbaren Erleben, das Vorherrschen des »gebildeten Verstandes«, scheint nun überhaupt die mögliche Kontinuität des Lebens in Frage zu stellen. Aus der Perspektive des gealterten Menschen steht der Zusammenhang dieses Ganzen nämlich nicht mehr fest, vielmehr »kommt [man] zuletzt beinahe in den Fall, wie jener Geometer nach Endigung eines Theaterstücks auszurufen: was soll denn das aber beweisen?«40 Die Kunst der Erinnerung besteht demzufolge darin, von dieser resignativen Einsicht abzurücken und sich wieder jenes Gefühl des Anfangs ins Gedächtnis zu rufen, als alles noch danach aussah, als könne die Kohärenz des Lebens erreicht werden. Es komme darauf an, heißt es im Text, »sich wieder dahin [zu] stellen, wo man noch hofft, ein Mangel
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Ebd. Ebd., S. 648 Ebd.
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lasse sich ausfüllen, Fehler vermeiden, Übereilung sei zu bändigen und Versäumtes nachzuholen«41 Der Übergang von dieser Reflexion auf die Mitteilungen übers Archiv wird in einem letzten Abschnitt vollzogen; die Überarbeitung und Neuorganisierung des Archivs sowie die Anlage des Findebuchs sind ausdrücklich Hilfsmittel, sich aus der »hypochondrischen Ansicht«,42 es könne dem Leben keine Ganzheit verliehen werden, zu »retten«. »Rettung« der Existenz: Keine geringere Aufgabe wird dem Archiv zugetraut, weil es einen temporalen Rekurs ermöglicht, der die vergangenen Eindrücke wieder zugänglich macht. So wie das chaotische, ungeordnete und nicht mehr verfügbare Archiv die Ursache mangelnder Lebenseinheit werden kann, vermag es auch deren Rettung zu sein. Die Souveränität des Subjekts, die als ein Verfügenkönnen über die eigene Vergangenheit beschrieben werden kann, verschwindet im Durcheinander der angefangenen Projekte, der unauffindbar gewordenen Briefe und Tagebücher, und sie taucht aus diesem Orkus der Erinnerungslosigkeit wieder auf, wenn Übersicht und Sorgfalt wieder hergestellt werden. So schließt denn auch das Triptychon dieser Reflexionen mit dem optimistischen Ausblick auf die mögliche Vollständigkeit der Lebensbeschreibung nach der verbesserten Anlage des Archivs: Nun liegen nicht alleine diese [die Tagebücher, S.S.], sondern so viele andere Dokumente nach vollbrachter archivarischer Ordnung aufs klarste vor Augen und ich finde mich gereizt jenen Auszug aus meiner ganzen Lebensgeschichte dergestalt auszuarbeiten, daß er das Verlangen meiner Freunde vorläufig befriedigte und den Wunsch nach fernerer Ausführung wenigstens gewisser Teile lebhaft errege; woraus denn der Vorteil entspringt, daß ich die gerade jedesmal mir zusagende Epoche vollständig bearbeiten kann und der Leser doch einen Faden hat, woran er sich durch die Lücken folgerecht durchhelfen möge. 43
Das Archiv gewinnt mit seinem Anwachsen an eigener Komplexität, es erhält ab einem gewissen Punkt, der allerdings nicht exakt bestimmt werden kann, eine Quasi-Subjektivität,44 weil es seinen Dienst nur noch bei entsprechender Pflege erfüllt. Die Rubriken sind nun nicht mehr Funktionen einer ganzheitlichen Ordnung, sondern bezeichnen rein funktional die Stelle, wo ein Dokument abgelegt wurde. 41 42 43
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Ebd. Ebd. GA 12, S. 652. Diese Stelle verdeutlicht, wie sehr Goethe sich der Notwendigkeit schriftlicher Dokumentation bewußt war: Die Arbeit im Archiv wird zur Voraussetzung, um den verschwundenen Lebenssinn aus den gespeicherten Dokumenten wieder herstellen zu können. Dagegen sollten die schriftskeptischen Äußerungen des Autors – etwa im Stil des Topos in Dichtung und Wahrheit, wonach das Schreiben ein Mißbrauch der Sprache sei, nicht überschätzt werden – besonders bei einem Menschen, der zeitlebens vor allem geschrieben hat. Vgl. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. GA 10, S. 489. Zu einer solchen Form unterstellter Subjektivität bei Medien vgl. Niklas Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen, S. 222. Luhmann versteht seinen Zettelkasten nicht als Speichermedium, sondern als Kommunikationspartner.
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Die Zerstörung einer vorstrukturierten Welt setzt jedoch bereits 1797 an – nicht erst auf der Ebene der Organisation des Archivs, sondern bereits auf der Ebene der Wahrnehmung. Daß Goethe die Berge des Vierwaldstätter Sees als »Rubriken« bezeichnete, wurde bereits erwähnt und ist nur ein Beleg für diese Tendenz. In den erhaltenen Reisepapieren wird es ganz deutlich, wie Goethe mit den Augen des Archivars, der noch den ephemersten Eindruck bewahrt, noch die unbedeutendste Spur notiert, die Welt durchstreift. Nicht erst die Schweizer Berge werden archiviert; auch die Anlage und der Zustand der Straßen, der Hausbau, sogar die »Geschichte der Wasserleitungen, Kloaken, des Pflasters« findet seine Beachtung.45 Das Wort ›Rubrik‹ bezeichnet in mittelalterlichen Handschriften und in frühen Drucken die (meist) rote Markierung eines Textabschnitts, dann auch die Überschrift, den Titel oder die Aufschrift eines Schrift- oder Aktenstücks, schließlich allgemein ›Sparte‹.46 Wenn Goethe die Welt rubriziert und ad acta nimmt, dann bedeutet das, die Wahrnehmung zu verschriftlichen und zu verräumlichen. Durch den Blick des Sammlers und Stoffjägers wird die Welt zum Stoff, der seinen Sinn nicht mehr in sich hat, sondern erst durch zukünftige Bestimmungen erhalten wird. Damit traut Goethe dem Modus der Anschauung nicht mehr alleine zu, den Sinn der Dinge zu erkennen – statt dessen wird auf Kommunikation umgestellt, die das Wissen allererst aus der »Fülle destillieren muß«47 Das folgende ausführliche Zitat verdeutlicht dies noch einmal im Zusammenhang: Über den eigentlichen Zustand eines aufmerksamen Reisenden habe ich eigne Erfahrungen gemacht und eingesehen worin sehr oft der Fehler der Reisebeschreibungen liegt. Man mag sich stellen wie man will so sieht man auf der Reise die
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FA I, 16, S. 117. Im ›Zedler‹ findet man folgende Bestimmung: »Rubric, Rubrick [...] heißt ueberhaupt eine jedwede Auffschrifft oder Titel eines Buches und anderer Schrifften. Insbesondere aber werden vornehmlich in denen Rechten die Auffschriften der Titel im Roemischen Rechte also genannt, weil solche vorzeiten, und ehe die Druckerey erfunden ward, von den Juristen mit Zinnober oder rother Dinte geschrieben worden.« Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. [...] Bd. XXXII. Leipzig/Halle 1742, Sp. 1435. Dies in Anlehnung an Dotzler: Big Number Avalanche, S. 12: »Es gehört zu Goethes Lebens-, Amts- und literarischen Produktionsprinzipien, ›Akten über alles zu führen‹. Nur so war der ausufernden Fülle zu wehren, dem Immermehr dessen, ›was dazu gehört‹, dem Immermehr ›an Heften der wirklichen Welt gewidmet‹. Und so nur – ›von Anfang an Akten‹ führend, diese sammelnd und ordnend, sie rubrizierend und reponierend [...] destillierte sich aus der Fülle ein Wissen.« Vgl. auch Dotzlers Analyse des folgenden Briefes (ebd., S. 12f.), der aus anderen Zusammenhängen zu Ergebnissen kommt, die mit der vorliegenden Interpretation des Briefes vergleichbar sind.
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Sache nur von Einer Seite und übereilt sich im Urteil, dagegen sieht man aber auch die Sache von dieser Seite lebhaft und das Urteil ist im gewissen Sinne richtig. Ich habe mir daher Akten gemacht, worin ich alle Arten von öffentlichen Papieren die mir eben jetzt begegnen, Zeitungen, Wochenzettel, Predigtauszüge, Verordnungen, Komödienzettel, Preiskurrante einheften lasse und sodann auch sowohl das, was ich sehe und bemerke als auch mein augenblickliches Urteil einhefte, ich spreche sodann von diesen Dingen in Gesellschaft und bringe meine Meinung vor, da ich denn bald sehe in wie fern ich gut unterrichtet bin, und in wie fern mein Urteil mit dem Urteil wohl unterrichteter Menschen übereintrifft. Ich nehme sodann die neue Erfahrung und Belehrung auch wieder zu den Akten, und so gibt es Materialien, die mir künftig als Geschichte des äußern und innern interessant genug bleiben müssen. Wenn ich bei meinen Vorkenntnissen und meiner Geistesgeübtheit Lust behalte, dieses Handwerk eine Weile fortzusetzen, so kann ich eine große Masse zusammen bringen. 48
Der Brief zeigt zunächst noch einmal, wie die Gegenstände der Wahrnehmung dem Archiv anvertraut werden, um übereiltes Urteilen zu verhindern. Mit der Übernahme ins Archiv werden sie jedoch aus ihrem gegebenen Zusammenhang gerissen; mit ihrer Verschriftlichung werden sie zu Gegenständen der Kommunikation. Erst im Gespräch und der Diskussion erhalten sie Sinn, der als unendlich perfektibel erscheint: Jede neue Interpretation kann gespeichert und erneut kommuniziert werden, wobei jede vergangene Kommunikation zum Material der nächsten wird. Die Richtung dieses Prozesses läuft auf Bildung hinaus; für die vorliegende Interpretation ist besonders wichtig, daß in der jeweiligen Kommunikation nicht die Welt in ihrer Gegebenheit, ihrer Gegenständlichkeit informativ wird, sondern die vorausgegangenen und archivierten Diskussionen und Auseinandersetzungen. Somit beschreibt dieser Brief am Beispiel des Reisearchivs Goethes die Umstellung auf die Beobachtung zweiter Ordnung. Denn das Archiv wird zu einem Medium der Beobachtung von Kommunikation – sowohl eigener als auch fremder. Zunächst speichert der Autor die Dinge und sein Urteil. Nimmt er die Aktennotiz hervor, dann um dieses erste Urteil erneut zu überprüfen, einerseits am Maßstab eigener Fortschritte, andererseits in Auseinandersetzung mit den Urteilen anderer Menschen. Gegenstand seiner Beobachtung sind daher die früher getroffenen Feststellungen und Urteile – im Vergleich zu diesen kann dann das Fortschreiten des eigenen Wissens konstatiert, können Irrtümer verbessert werden. Am Ende läuft der Prozeß sich fortschreibender Selbstarchivierungen darauf hinaus, eine künftige »Geschichte des Äußern und Innern« – also eine weitere Selbstbeobachtung – zu ermöglichen.
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An Schiller, 22.8. 1797, FA II/4, S. 393f.
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2. Archiv und Symbol Das Archiv stellt mit seiner beschriebenen Struktur eine Antwort auf den angestiegenen Erfahrungsdruck im 18. Jahrhundert dar. Es ermöglicht ein Operieren mit empirischen Daten auch dort, wo ein sicheres Wissen nicht existiert, setzt eine funktionale Anordnung seiner Elemente an die Stelle einer durch sie repräsentierten Wirklichkeit und reduziert somit die empirische Komplexität. Eine andere Art der Komplexitätsreduktion, die mit dem Archiv konkurriert, stellt für Goethe in den 1790er Jahren der symbolische Gegenstand dar. In seinem berühmten, in Frankfurt verfaßten Brief an Schiller vom 16. August 1797, teilt er diesem mit, er habe angesichts einiger Gegenstände der Reise an sich die Empfindung einer »Art von Sentimentalität« beobachten können, »eine poetische Stimmung [...] bei einem Gegenstande der nicht ganz poetisch ist« empfunden.49 Um zu verstehen, was ein ›nicht ganz poetischer Gegenstand‹ ist, muß man die Diskussion berücksichtigen, die Goethe mit Schiller bzw. auf dem Gebiet der bildenden Kunst mit Johann Heinrich Meyer führte. Die Diskussion der Gegenstände verbindet sich mit den kunst- und gattungstheoretischen Fragestellungen dieser Zeit; sie steht am Schnittpunkt der Unterscheidung von bildender Kunst und Poesie – und bietet zugleich einen Leitfaden zur Differenzierung der Gattungen in diesen Künsten. Die Differenz, die Poesie und bildende Kunst unterscheidet, ist die von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.50 Der bildende Künstler stellt die Gegenstände vor Augen, der Dichter regt die Einbildungskraft an.51 Es liegt an den jeweiligen medialen Eigenschaften der Künste und ihrer Gattungen, daß jeder einzelnen von ihnen spezifische Gegenstände entgegenkommen. Gegen die Neigung, die Grenzen einzelner Künste zu überschreiten, wendet Goethe ein, daß der Künstler »Kunstwerk von Kunstwerk durch undurchdringliche Zauberkreise sondern, jedes bei seiner Eigenschaft und seinen Eigenheiten erhalten« solle.52 Von den Gegenständen der bildenden Kunst wird sinnliche Bestimmtheit verlangt: Von der bildenden Kunst verlangt man deutliche, klare, bestimmte Darstellungen. Ob diese nun bis auf den höchsten Grad der Ausführung möglich seien, dabei
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FA II, 4, S. 388f. In diesem intermedialen Vergleich der Künste sieht die neuere Forschung einen eigenständigen Beitrag der klassischen Kunsttheorie Goethes zur Moderne. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Goethes Klassizismus im Zeichen der Diskussion des Verhältnisses von Poesie und bildender Kunst um 1800. In: Goethes Rückblick auf die Antike. Beiträge des deutsch-italienischen Kolloquiums 1998. Hg. von Bernd Witte und Mauro Ponzi. Berlin 1999, S. 113–121, hier S. 113. »Der plastische Künstler hält sich zunächst an die physische Erscheinung, der Dichter läßt in seinem Werk auch das Unsichtbare, Geist, Gefühl, Sitten und Phantasie, doch immer auch nach seiner Weise gestaltet, auftreten.« Vgl. Weimarische Kunstausstellung vom Jahre 1802 und Preisaufgaben für das Jahr 1803, GA 13, S. 357. An Schiller, 23.12. 1797, FA II, 4, S. 465.
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kommt viel auf den Gegenstand an, und es ist also von der größten Bedeutung, was der Künstler für Gegenstände wählt und welche er zu behandeln geneigt ist.53
Im Unterschied zur bildenden Kunst stellt die Poesie Handlungen und Empfindungen dar;54 jedoch sondern sich die Arten der Dichtung gemäß ihren medialen Aufführungs- und Rezeptionsbedingungen weiter aus.55 So heißt es am Anfang von Über epische und dramatische Dichtung: Der Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen poetischen Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände, und können beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr großer wesentlicher Unterschied beruht aber darin, daß der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt, und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt.56
Poetische Gegenstände unterscheiden sich also von solchen der bildenden Kunst dadurch, daß sie Abwesendes in der Einbildungskraft vergegenwärtigen – als vergangen oder gegenwärtig –, während die bildende Kunst Sichtbares den Augen präsentiert. In unserem Zusammenhang sind jedoch diese medialen Fragestellungen weniger bedeutend als vielmehr die Frage, was die Kunst – und hier ist es gleichgültig, ob es sich um bildende oder poetische Kunst handelt – von ›Nicht-Kunst‹ unterscheidet. Denn das Problem des Briefes vom 16. August war, daß es Gegenstände gibt, die eine »poetische Stimmung« auslösen können, ohne poetisch zu sein. Das Kriterium liegt auf einer anderen Ebene als auf der der Differenzen einzelner Künste. Es geht nicht darum, Poesie von Nicht-Poesie, sondern von Nicht-Kunst zu unterscheiden. Zunächst besitzen die nicht-poetischen Gegenstände allerdings einige Gemeinsamkeit mit den poetischen, nämlich ihren symbolischen Charakter. Symbolisch bedeutet: Sie verfügen über auf Anschauung basierende Evidenz. Der Gegenstand repräsentiert ein Allgemeines, das in ihm zur Darstellung kommt: [E]s sind eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in sich schlie-
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Johann Wolfgang Goethe: Über die Gegenstände der bildenden Kunst. GA 13, S. 122. Der Aufsatz entstand auf der Reise 1797. Vgl. z.B.: »Die Poesie ist doch eigentlich auf die Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet, und wer gesteht denn das jetzt wohl unter unsern fürtrefflichen Kennern und sogenannten Poeten?« An Schiller, 25. November 1797, FA II, 4, S. 455. So werden dramatische und epische Dichtkunst unterschieden durch die Gegenüberstellung des Rhapsoden vom Mimen und deren Weise, die Handlung zu repräsentieren sowie durch die Wirkung, die diese Repräsentation auf das Publikum besitzt. Vgl. Über epische und dramatische Dichtung von Goethe und Schiller. GA 14, S. 367–370, hier S. 367. Ebd.
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ßen, eine gewisse Reihe fordern, ähnliches und fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen. Sie sind also, was ein glückliches Sujet dem Dichter ist, glückliche Gegenstände für den Menschen und weil man, indem man sie mit sich selbst rekapituliert, ihnen keine poetische Form geben kann, so muß man ihnen doch eine ideale geben, eine menschliche im höhern Sinn, das auch mit einem so sehr mißbrauchten Ausdruck sentimental nannte [...].«57
Weiterhin haben die symbolischen, nicht-poetischen Gegenstände mit einem Teil der poetischen eine gewisse Sentimentalität gemein. Wie der Begriff des Sentimentalischen nahelegt, erhalten beide ihre höhere Bedeutung – also ihre Idealität – nur durch die Empfindung, die ihnen der Betrachter beilegt. Kunst und Nicht-Kunst können, wie Schiller in seinem Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung, auf den Goethe anspielt, gezeigt hat, nicht durch die Differenz sentimentalisch / nicht-sentimentalisch bezeichnet werden: Es wäre sonst sinnlos, von sentimentalischer Dichtung zu sprechen. Unkünstlerisch wird die Sentimentalität erst, so fährt Goethe fort, wenn die ideale Bedeutung nur auf eine gezwungene Weise mit einem Gegenstand verbunden werden kann: Wann ist eine sentimentale Erscheinung [...] unerträglich? ich antworte wenn das Ideale unmittelbar mit dem gemeinen verbunden wird, es kann dies nur durch eine leere, gehalt- und formlose Manier geschehen, denn beide werden dadurch vernichtet, die Idee und der Gegenstand, jene die nur bedeutend sein und sich nur mit dem bedeutenden beschäftigen kann, und dieser, der recht wacker brav und gut sein kann, ohne bedeutend zu sein.58
Die symbolischen Gegenstände, von denen Goethe berichtet, sind demnach unbedeutend für den Künstler, weil sie den Bereich des Empirischen nicht überschreiten. Was in ihnen zur Darstellung kommt, sind ähnliche Fälle, aber keine ›höhere‹ Bedeutung, sie repräsentieren nicht eine übergeordnete Allgemeinheit, sondern nur Gleiches, oder anders: ihnen kommt keine exemplarische Geltung zu. Insofern läßt sich an ihnen mit Heinz Schlaffer eine Krise der »Gegenstandserfahrung« erkennen, die in der Kluft zwischen Wahrnehmung und Bedeutung begründet ist.59 Die nicht-künstlerischen symbolischen Gegenstände bezeichnen zwar eine Reihe ähnlicher Gegenstände, aber in dieser Reihung erscheint kein die Immanenz der empirischen Welt überschreitender Sinn. Sie sind ›merkwürdig‹, aber nicht ›bedeutend‹,60 stehen darum am Schnittpunkt einer theoretischen Entwicklung, die Goethe zunächst in Richtung des Symbols führt. Denn Goethe scheint erst an diesem Punkt auf die
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FA II, 4, S. 389. Ebd., S. 390. Vgl. Heinz Schlaffer: Faust zweiter Teil, S. 18f. FA II, 4, S. 390.
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Möglichkeit aufmerksam zu werden, daß sich die symbolische Qualität – nämlich die anschauliche Erkenntnis einer empirischen Vielheit im Einzelding – auch poetisch fruchtbar machen läßt, wenn man das Symbol als anschauliche Erkenntnis einer ideellen oder idealen Allgemeinheit auffaßt. Dieser Gedanke ist das Resultat seiner ersten Begegnungen mit der empirischen Welt, an der sein Italienprojekt scheiterte. Von dem derart verstandenen Symbolbegriff erhofft er sich Reduktion der empirischen Vielheit auf allgemeine Gesetze, eine Vorstellung, die sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der Kunst und der Kunsttheorie fruchtbar gemacht werden kann: [D]ie Sache ist wichtig, denn sie hebt den Widerspruch der zwischen meiner Natur und der unmittelbaren Erfahrung lag, den in früherer Zeit ich niemals lösen konnte, sogleich auf, und glücklich, denn ich gestehe Ihnen daß ich lieber gerad nach Hause zurückgekehrt wäre, um, aus meinem Innersten, Phantome jeder Art hervorzuarbeiten, als daß ich mich noch einmal, wie sonst (da mir das Aufzählen eines Einzelnen nun einmal nicht gegeben ist) mit der millionenfachen Hydra der Empirie herumgeschlagen hätte; denn wer bei ihr nicht Lust oder Vorteil zu suchen hat der mag sich bei Zeiten zurückziehen.61
Diese Stelle zeigt, in welcher Weise sich Goethe künstlerisch durch den Erfahrungsdruck des späten 18. Jahrhunderts herausgefordert sah. Während das Archiv als Zwischenspeicher für die unbedeutenden Gegenstände der Reise dient, die erst in zukünftigen Kommunikationen zu ihrer Bestimmung finden sollen, sind ihm die symbolischen Gegenstände, die einer poetischen Behandlung würdig wären, gleichfalls eine Weise, die Hydra der Empirie zu bändigen. Die Alternative, die sich ausgehend von diesem Brief formulieren läßt, ist die von Archiv und Symbol. Damit weicht diese Deutung von derjenigen Heinz Schlaffers ab, der anhand der Interpretation dieses Briefes den Gegensatz von Allegorie und Symbol entwickelte. Schlaffer geht bei der Erläuterung dieser Begriffe unter Berufung auf Hegel und Marx von der Moderne als einem Abstraktionsprozeß aus. Allgemeinheiten bzw. Begriffe ließen sich demzufolge nicht mehr durch sinnliche Gegenstände evident machen und müßten durch die uneigentliche Rede der Allegorie versinnlicht werden.62 Dagegen kann man an Goethes Werk beobachten, daß die Allgemeinheiten selbst relativ werden, weil sie nicht mehr als unabhängig von den Beobachtern gedacht werden können. Das Archiv als Modus einer Beobachtung der Ausdifferenzierung von Wissen bezeichnet darum
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Ebd., S. 391. Vgl. Heinz Schlaffer: Faust zweiter Teil, S. 42ff., bes. S. 43: »[…] Allegorie und Moderne [stimmen] [bei Hegel, S.S.] in allen wesentlichen Merkmalen überein: Überwiegen philosophischer Allgemeinheit, Herrschaft gesellschaftlicher Abstraktion, Vorrang des Wissens, Reflektiertheit, Entfremdung gegenüber dem Sinnlichen, Einschränkung der Subjektivität, Randstellung des Ästhetischen, Ordnung der Kunst durch Begriffe.«
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nicht in allegorischer Weise Unsinnliches durch Sinnliches, sondern thematisiert und beobachtet die Wirklichkeit als Gegenstand ihrer heterogenen Auslegungen. Dagegen handelt es sich bei der symbolischen Signifikation um eine neue Aufwertung der Wahrnehmung, die im Symbolischen die Empirie auf höhere Allgemeinheiten hin zu überschreiten und im Modus der Beobachtung erster Ordnung zu verharren hofft. Das Symbol soll die beobachterunabhängige Evidenz des Allgemeinen im Besonderen, und zwar im Modus der Wahrnehmung, gewährleisten. Um diese Differenz zwischen Symbol und Archiv besser zu verstehen, ist ein Rückblick auf die Theorie des symbolischen Gegenstands in Goethes Kunsttheorie notwendig. Goethes klassischer Kunstbegriff versucht, auf die bisher beschriebenen Entwicklungen der Modernisierung – Temporalisierung und beobachterabhängige Ausdifferenzierung von Wissen – in einer gegenstandsbezogenen Weise zu antworten. Er hält an der Exemplarizität der antiken Kunst fest, trotz ihrer zunehmenden Historisierung im zeitgenössischen Diskurs und behauptet, im Kunstwerk könne eine Wesenserkenntnis der Wirklichkeit stattfinden.63 Die Entwicklung dieser Kunsttheorie bezeugt einerseits eine Abkehr vom empirischen Interesse des alten Italienplanes. Dies ist das Ergebnis der Schweizer Reise und der dort gemachten neuen Erfahrungen. Andererseits verfährt Goethe in seiner Bezugnahme auf die Antike keinesfalls in naiver Weise unhistorisch, sondern vielmehr bewußt konstruktiv – sein Ansatz steht daher ganz auf dem Boden der modernen Entwicklungen, gegen die er gerichtet ist. Das kann man schon der Einleitung der Propyläen entnehmen, in der die Wahrnehmung der Antike durch eine als solche ausgewiesene Antike-Imagination ersetzt wird. Der Titel der Zeitschrift bezeichnet einerseits deren einführenden Charakter, da sie nicht ins »innerste Heiligtum« der Kunst, sondern nur in deren »Vorhöfe« führe. Andererseits erinnert er an das Eingangstor zur Athenischen Akropolis, das durch die Zeitschrift in einer nur mangelhaften Weise ersetzt werden könne: »Unter dem Namen des Ortes verstehe man das, was daselbst allenfalls hätte geschehen können, man erwarte Gespräche, Unterhaltungen, die vielleicht nicht unwürdig jenes Platzes gewesen wären.«64 Die Antike, auf die sich der Herausgeber beruft, muß erst erschrieben werden, und steht so im Spannungsfeld von »Historizität und Normativität«.65 Das Medium der antiken Kunst, deren Modell die Aufsätze der Zeitschrift
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Vgl. Goethes berühmte Definition des Stils in Über einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil: »[...] [D]er Stil [ruht] auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern es uns erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.« GA 13, S. 68. GA 13, S. 137. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Goethes Klassizismus, S. 116, und ders.: Normativität und Historizität europäischer Klassiken. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Stuttgart/Weimar 1993, S. 5–8.
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beherrscht, kann nur im Medium der Zeitschrift erfahren werden – einer Zeitschrift, die ihrerseits eine Pluralität unterschiedlicher Medien darbietet: Briefe, Gespräche, Abhandlungen dienen dazu, sich dem verlorenen exemplarischen Wesen der Antike aus der Differenz der Moderne wieder anzunähern. Dadurch gewinnt die Kunsttheorie ein utopisches Potential, ist ausgerichtet auf eine Wiedergewinnung der verlorenen Evidenz der Welt und darum von ihrer Funktion her den romantischen Remythisierungsprogrammen durchaus vergleichbar.66 Die Kunst wird in Übereinstimmung hierzu nicht als Repräsentation der Erfahrungswirklichkeit bestimmt. Künstlerische Darstellung ist im wesentlichen ein Abstraktionsprozeß. Der Stoff, der sich in der Empirie (der sinnlichen Anschauung) darbietet, erscheint als eine Verbindung von Zufall und Notwendigkeit, Partikularität und Universalität – es ist die Aufgabe des Künstlers und Stilisten, das Akzidentelle herauszufiltern, das Allgemeingültige daran sinnlich zu bestimmen, mit anderen Worten: einen geeigneten Gegenstand der Kunst zu erzeugen. Der Gegenstand ist also die Schnittstelle zwischen Natur und Kunst, der Übergang des einen ins andere, Medium künstlerischer Reflexion wie der Repräsentation allgemeiner Gesetzlichkeit.67 So besteht der künstlerische Wert des Laokoon für Goethe in der gelungenen Abstraktion von allem bloß Partikularen: Die Bildhauerkunst wird mit Recht so hoch gehalten, weil sie die Darstellung auf ihren höchsten Gipfel bringen kann und muß, weil sie den Menschen von allem, was ihm nicht wesentlich ist, entblößt. So ist auch bei dieser Gruppe Laokoon ein bloßer Name; von seiner Priesterschaft, von seinem trojanisch-nationellen, von allem poetischen und mythologischen Beiwesen haben ihn die Künstler entkleidet; er ist nichts von allem wozu ihn die Fabel macht, es ist ein Vater mit zwei Söhnen, in Gefahr, zwei gefährlichen Tieren zu unterliegen.68
Kunst ist Wesensschau und Wesenserkenntnis: Alles Zufällige, bloß Kontingente und Empirische bleibt aus ihr ausgeschlossen. Ihre Sinnlichkeit einerseits, ihre höhere Allgemeinheit andererseits unterscheidet sie gemäß dem klassischen Kunstverständnis von anderen Formen des Wissens. Daraus ergibt sich die Differenz zur Naturwissenschaft. In den unter dem Titel Diderots Versuch über die Malerei veröffentlichten Auszügen aus Diderots Essai de la peinture und Goethes Kommentaren dazu, setzt er sich ausdrücklich von der Vorstellung ab, die empirische Wissenschaft könne für den Künstler irgendeine größere Bedeutung haben:
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Vgl. hierzu die Ausführung in Kapitel IV.3. Vgl. Norbert Christian Wolf: »Streitbare Ästhetik«. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001, bes. S. 419ff. Über Laokoon. GA 13, S. 165.
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Ob wir die Gesetze der organisierenden Natur kennen oder nicht, ob wir sie besser kennen als vor dreißig Jahren da unser Gegner schrieb, ob wir sie besser kennen werden, wie tief wir in ihre Geheimnisse dringen können – darnach hat der bildende Künstler kaum zu fragen.69
Kunst und Natur, Kunst und Naturwissenschaft berühren sich demnach nur in dem Sinne, daß die Natur den Stoff liefert, der vom Künstler zu bearbeiten ist: nicht nach Gesetzen der Wissenschaft, sondern nach »Kunstgesetzen, die ebenso wahr in der Natur des bildenden Geistes liegen, als die große allgemeine Natur die organischen Gesetze ewig tätig bewahrt.«70 Hierzu stehen Äußerungen, in denen er die genaue Kenntnis der menschlichen Gestalt fordert, keineswegs im Widerspruch,71 da es sich nur um ein handwerkliches Wissen handelt, das in die Darstellung nur insoweit eingeht, als es zur Idealisierung des Gegenstandes beiträgt. Goethe entfaltet in den Propyläen einen dezidiert anti-empirischen Kunstbegriff.72 Wahrheit, die im Kunstwerk sinnlich erscheint, ist nicht dem Gesetz der Natur unterworfen, sondern Abstraktion vom Partikularen, bloß Kontingenten, und bestimmt als Anschaulichwerden des Wesens der Erscheinungen in einem besonderen Gegenstand. Dieses Wesen kann als Gattungsbegriff erläutert werden, der das Individuelle umfaßt und von diesem in einer besonderen Form bestimmt wird. Wo Diderot den Künstler anhält, das Natürliche mit seinen Abweichungen abzubilden, ihn auffordert, auf die Straße zu gehen und das Leben zu studieren, geht es Goethe darum, diese Zufälligkeiten aus der Kunst herauszuhalten. Die Quintessenz dieser Kunsttheorie enthalten darum die folgenden Sätze: So wie die Kunst Zentauren erschafft, so kann sie uns auch jungfräuliche Mütter vorlügen, ja es ist ihre Pflicht. Die Matrone Niobe, Mutter von vielen erwachsenen Kindern, ist mit dem ersten Reiz jungfräulicher Brüste gebildet. Ja in der weisen Vereinigung dieser Widersprüche ruht die ewige Jugend, welche die Alten ihren Gottheiten zu geben wußten.73
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Diderots Versuch über die Malerei. GA 13, S. 208. Ebd. Vgl. etwa in der Einleitung in die Propyläen: »Der Mensch ist der höchste, ja der eigentliche Gegenstand der bildenden Kunst! Um ihn zu verstehen, um sich aus dem Labyrinth seines Baues herauszuwickeln, ist eine allgemeine Erkenntnis der organischen Natur unerläßlich.« GA 13, S. 142. Darum betont er auch stets den Gegensatz zwischen Kunst und Natur. Vgl. z.B. den Aufsatz: Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. GA 13, S. 175ff. In diesem Gespräch konzediert der »Zuschauer«: »Wenn die Oper gut ist, macht sie freilich eine kleine Welt für sich aus, in der alles nach gewissen Gesetzen vorgeht, die nach ihren eigenen Gesetzen beurteilt, nach ihren eignen Eigenschaften gefühlt sein will.« Die darauf folgende Mutmaßung des »Anwalts« faßt die Differenz von Natur und Kunst klar zusammen: »Sollte nun nicht daraus folgen, daß das Kunstwahre und das Naturwahre völlig verschieden sei, und daß der Künstler keineswegs streben sollte, noch dürfe, daß sein Werk eigentlich als ein Naturwerk erscheine?« (Ebd. S. 178.) Diderots Versuch über die Malerei. GA 13, S. 216.
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Kunst hebt die Zeit auf, sie läßt nicht den körperlichen Zerfall, Häßlichkeit und Alter zu, sondern bringt den Gipfel der menschlichen Schönheit zur Darstellung. Lernen kann der Künstler darum auch nur von exemplarischer Kunst, sprich: den Werken der »Alten«, ganz in der Nachfolge von Winckelmanns berühmtem Dictum, »der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, [sei] die Nachahmung der Alten.«74 Der Wahl des Gegenstandes kommt durch diese Leistung exemplarischer Veranschaulichung des Ideals eine weitreichende Bedeutung auch über den einzelnen Künstler und dessen Werk hinaus zu. Die Intention Goethes und der »Weimarer Kunstfreunde« war es, allgemeingültige Kunstregeln festzulegen, die für die Kunstentwicklung in ganz Deutschland fruchtbringend sein sollten.75 Diese Kunstauffassung verlagert den Sinn der Kunst ganz in die Anschauung – die Gegenstände verfügen über symbolische Evidenz und Prägnanz. Damit wird das ›Wesen‹ als unabhängig von der Rezeption und damit von der Kommunikation bestimmt. Das schließt allerdings keinesfalls aus, daß die Methode, mit der Goethe zu seinen Ergebnissen kommt, Züge eines Archivs aufweist: Die Propyläen bilden ein Archiv vielfältiger Vermittlungsformen, sowohl auf der Makroebene – also im Vernetzen von Briefen, Übersetzungen, Dialogen etc. – als auch auf der Ebene der einzelnen Texte – den dort erscheinenden Akteuren, wie die Hausgenossen des Sammlers in Der Sammler und die Seinigen oder der »Anwalt« und der »Zuschauer« in Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Jedoch überlagert der Versuch zu konkreten Bestimmungen der Gegenstände der Kunst zu kommen noch die Verfahren der Archivpoetik. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung des Wissens nach 1800 treten dann in Goethes Spätwerk die Archivstrukturen stärker in den Vordergrund. Hier erkennt Goethe die literarischen Möglichkeiten, die sich eröffnen, wenn man das Archiv von einem Speicher sekundärer Gegenständlichkeit zu einem Verfahren der literarischen Konstruktion werden läßt. Dies geschieht zuerst in den Wanderjahren.
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Vgl. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und der Bildhauerkunst. 2. Aufl., Dresden 1756 (Reprint Baden-Baden/Strasbourg 1962), S. 3. Vgl. hierzu Ernst Osterkamp: »Aus dem Gesichtspunkt reiner Menschlichkeit«. Goethes Preisaufgaben für bildende Künstler 1799–1805. In: Goethe und die Kunst. Hg. von Sabine Schulze. Stuttgart 1994, S. 310–322: »[...] [M]it dem den Preisaufgaben zugrundeliegenden Wertesystem der antiken Kunst [wurde] ein Kanon universal gültiger Kunstregeln festgelegt, der nicht nur ein objektives kritisches Urteil zu ermöglichen schien, sondern in dessen Zeichen sich auch die inhomogene Kunstentwicklung ›in unserem Vaterlande‹ zu einem Ganzen zusammenfassen ließ.« (Ebd., S. 311.) Vgl. auch Reinhold R. Grimm: Die Weimarer Preisaufgaben für bildende Künstler im europäischen Kontext, In: Die schöne Verwirrung der Phantasie. Antike Mythologie in Literatur und Kunst um 1800. Hg. von Dieter Burdorf und Wolfgang Schweickard. Tübingen und Basel 1998, S. 207–234. Grimm stellt die Preisaufgaben in einen europäischen Kontext und betont ihre Oppositionsstellung zum französischen Klassizismus Jacques-Louis Davids, vgl. ebd. S. 228.
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3. Die Wanderjahre Ein Topos der Erforschung der beiden Hauptwerke aus Goethes letzter Schaffenszeit, der Wanderjahre und des Faust II, ist das Problem ihrer formalen Einheit. Die Einsicht, daß beide Texte weder als Darstellung der Entwicklung eines Individuums noch einer Idee verstanden werden können, hat sich früh durchgesetzt und konnte sich auch auf Goethes Äußerungen berufen. So bezeichnete er den Roman als eine scheinbar lose Aneinanderfügung »disparateste[r] Einzelheiten.«76 Und Faust II liege, wie er einmal gegenüber Johann Peter Eckermann bemerkte, keineswegs eine einheitliche Idee zugrunde; vielmehr sei es ihm um die Darstellung eines vielfältigen »Lebens« gegangen, das er als Dichter selbst nicht wissen und aussprechen könne: Da kommen sie und fragen: welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht? – Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte! – Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, Manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im Besonderen zu Grunde liege. Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im Faust zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen.77
Sowenig sich Faust II und die Wanderjahre als Verkörperungen einer Idee lesen lassen, sowenig ist es möglich, sie vom Lebensweg eines Helden her zu verstehen. Wilhelms Geschichte erscheint als ein Faden, der es ermöglicht, verschiedene Personen, die er kennenlernt, und Bezirke, die er durchwandert, zu verbinden. Weder seine Erlebnisse noch seine psychologische Entwicklung stehen im Vordergrund; bis auf wenige Ausnahmen, wie etwa die Erzählung seines Jugenderlebnisses, gibt es kaum einmal eine Erwähnung seiner Gefühle. Und seine Gedanken, die in seinem mehrfach erwähnten Tagebuch und in seinen Briefen niedergeschrieben sind, erfahren wir nur in der distanzierten Form, in der der Redaktor sie uns darbietet. Der Verzicht, die Romanform durch eines oder mehrere Individuen zu begründen, hat seine Entsprechung im Drama. War der erste Teil der Fausttragödie noch eine Darstellung des mehrfachen
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Das Zitat lautet vollständig: »Eine Arbeit wie diese, die sich selbst als kollektiv ankündiget, indem sie gewissermaßen nur zum Verband der disparatesten Einzelheiten unternommen zu sein scheint, erlaubt, ja fordert mehr als eine andere daß jeder sich zueigne was ihm gemäß ist, was in seiner Lage zur Beherzigung aufrief und sich harmonisch wohltätig erweisen mochte.« Aus einem Brief an Johann Friedrich Rochlitz vom 28.7.1829, FA I, 10, S. 860. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. FA II, 12, S. 615 (vom 6.5. 1827).
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Scheiterns seines Heldens und räumte er dessen Gefühlen und Gedanken breiten Raum ein, so verhält sich der zweite Teil dazu anti-subjektiv: »Im zweiten Teile aber ist fast gar nichts Subjektives, es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt, und wer sich nicht etwas umgetan und Einiges erlebt hat, wird nichts damit anzufangen wissen.«78 Die erste Untersuchung, die in der Archivfiktion der Wanderjahre das Prinzip der formalen Einheit des Romans erkannte, war der Aufsatz Die Archivfiktion in »Wilhelm Meisters Wanderjahre« von Volker Neuhaus.79 Neuhaus ging davon aus, daß es nicht ausreichen konnte, die vermeintliche Gestaltungsschwäche des alten Goethe für die lose Fügung des Romans verantwortlich zu machen. Auch Versuche, das Verhältnis von Rahmen und Novellen als das übergreifende Gestaltungsmittel zu beschreiben, blieben unbefriedigend, denn eine glatte Trennung zwischen beidem sei nicht möglich. Zu Recht bemerkte Neuhaus, daß das erzählerische Mittel, das die losen Teile auf kunstvolle Weise zusammenhält, die Archiv- und Redaktorfiktion ist.80 Dieser Fiktion zufolge handelt es sich bei dem Text, den der Leser in Händen hält, um eine bearbeitete Zusammenfassung von Schriftstücken, die dem Herausgeber in einem Archiv zur Verfügung standen. Der Herausgeber habe von der Turmgesellschaft die Aufgabe erhalten, daraus einen lesbaren Text zu machen. Der fiktionale Schaffensprozeß des Redaktors ermöglicht einerseits die Einbindung der unterschiedlichen Formen und Inhalte in den Roman, andererseits geht er selbst als ein wesentlicher Bestandteil der Handlung in den Roman ein: Einer der wichtigsten Gegenstände des Romans ist seine eigene Entstehung. Das Resultat dieses Verfahrens sei die »gehaltliche Multiperspektivik.«81 Auch die bereits von Erich Trunz bemerkte Offenheit der Lektüre, aufgrund derer der Leser »das Buch in seine Elemente zerlegen und diese neu konfrontieren und zusammenstellen«82 könne, wird von Neuhaus aus dem Archivcharakter des Werkes begründet.83 Indem Neuhaus die Archiv- und Redaktorfiktion des Romans als durchgängiges übergeordnetes Integrationsprinzip und die Figur des Redaktors als vermittelnde Erzählinstanz begreift, hat er wesentlich zum
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Ebd., S. 441. In: Euphorion 62 (1968), S. 13–27. Zur Forschungsgeschichte vgl. Ehrhard Bahr: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In: Goethe-Handbuch. Bd. III. Hg. von Bernd Witte, Peter Schmidt und Gernot Böhme. Stuttgart/Weimar 1997, S. 186–231, bes. S. 216ff, sowie ders.: The Novel as Archive. The Genesis, Reception, and Criticism of Goethe’s Wilhelm Meisters Wanderjahre. Columbia 1998. Vgl. Neuhaus: Die Archivfiktion, S. 14: »Eine übergeordnete Vermittlung liegt nicht in einer Rahmenerzählung, sondern nur in der Gestalt des Herausgebers, der seine Tätigkeit in zahlreichen ›editorischen Berichten‹ selbst schildert«. Ebd., S. 27. Erich Trunz.: Kommentarteil zu Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, oder die Entsagenden. In: HA 8, S. 519–690, hier S. 580. Neuhaus: Die Archivfiktion, S. 26.
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Verständnis der formalen Einheit des Werkes beigetragen.84 Doch auf eine Erläuterung der möglichen Gründe für dieses erzähltechnische Verfahren, auf eine Erhellung also der Poetik des späten Goethe ging er nicht ein. Diesen Schritt einer poetologischen Begründung der Archivfiktion haben Klaus-Detlef Müller und später Ehrhard Bahr getan. Für beide spielt der Begriff einer möglichen Totalität der Wirklichkeitsdarstellung eine tragende Rolle. Klaus-Detlef Müller hat die von Neuhaus beschriebene Bearbeitung von Archivdokumenten als Ausdruck einer impliziten Romanpoetik erkannt, in der eine Neuorientierung des Romans nicht nur vollzogen, sondern auch reflektiert werde. Diese Neuorientierung betreffe den Übergang von einer geschlossenen Romanform, wie sie noch die Lehrjahre darstellen, zur offenen Form der Wanderjahre. Mit der Veränderung des Formverständnisses gehe nun eine »implizite[] Auseinandersetzung mit dem Vorverständnis und mit den Erwartungen der Leser« einher, »die in den bekannten romanexternen Äußerungen in Briefen und Gesprächen nur ergänzt wird, im Grundsätzlichen aber schon in der Struktur des Werkes selbst bezeichnet ist.«85 Die offene Romanform sei in der Struktur der Wirklichkeit begründet. Während die Lehrjahre noch im wesentlichen durch die Darstellung der individuellen Entwicklung ihres Helden bestimmt werden können86 – trotz der vielfältigen Brechungen in den Bildungsgeschichten anderer Figuren –, beschreibt der Roman der Wanderjahre das Ende der klassischen Bildungsutopie. Die geschlossene Form der Lehrjahre basiert auf einem Bildungsbegriff, der unverwechselbare Individualität und Universalitätsanspruch vereint.87 ›Totalität‹ bedeutet hier, daß die indi-
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Neuhaus’ Erkenntnisse wurden von Gonthier-Louis Fink in einer genauen Untersuchung der Erzählinstanzen und -ebenen des Romans zum Teil verfeinert, zum Teil revidiert. Vgl. Fink: Tagebuch, Redaktor und Autor. Erzählinstanz und Struktur in Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. In: Recherches Germaniques 16 (1986), S. 7–54 Klaus-Detlef Müller: Lenardos Tagebuch. Zum Romanbegriff in Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1979), S. 275–299, hier S. 278. Darstellung individueller Entwicklung bedeutet nicht, daß die Teleologie der Bildung in diesem Werk ungebrochen bliebe. Dies hat die Bildungsromanforschung vielfach gezeigt. Vgl. etwa Klaus-Dieter Sorg: Gebrochene Teleologie. Studien zum Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann. Heidelberg 1983. Sorg betont das Moment der problematischen Offenheit des Bildungskonzepts in den Lehrjahren: »[D]ie ironische Erzählstruktur der Lehrjahre [läßt] eine Kongruenz sämtlicher Einstellungen zum Thema der Bildung nicht zu [...]«, sondern halte vielmehr »dieses als Problem in widersprüchlichen Vorschlägen« fest. Ebd. S. 98. Vgl. auch Wilhelm Voßkamp: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. III. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1982, S. 227– 249, der in den Lehrjahren eine »wechselseitige Relativierung von Bildungs- und Sozialutopie« (ebd. S. 230) erkennt und damit gegenüber harmonistischen Interpretationen das Moment der Spannung heterogener Diskurse bereits in diesem Roman unterstreicht. Dieser Allgemeinheitsanspruch des Individuums charakterisiert den neuhumanistischen Bildungsbegriff, auf den die Lehrjahre rekurrieren. Diesen Anspruch findet man bei Wilhelm von Humboldt klar formuliert: »Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit
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viduellen Bildungsgeschichten im Roman einen wichtigen Bereich der gesellschaftlichen Wirklichkeit repräsentieren können.88 Die von Müller erkannte Neuorientierung der Romanform basiert auf einem Scheitern dieses Repräsentationsanspruches: In einer »Zeit der Einseitigkeiten« verändert sich der Roman der Bildung und der Individualität zum Roman der Gemeinschaft und Entsagung, der nun nicht mehr vom Helden her und auf ihn hin zu konzipieren ist, sondern ihn in einer breiter angelegten und nicht von vorneherein vermittelten Wirklichkeitsausschnitt stellen und diesen als Totalität gestalten muß.89
Die Aussage, daß der zeitgenössische Mensch in einer »Zeit der Einseitigkeiten« lebe, wird im Roman Montan in den Mund gelegt.90 Gemeint ist damit das Versagen des klassischen Bildungskonzepts aus der Einsicht in die notwendige Beschränktheit der möglichen Wirklichkeitserkenntnis. Die individuelle Vielseitigkeit sei bloße Voraussetzung für die berufliche Spezialisierung – damit wird die Entfaltung der Individualität zu einer bloßen Vorstufe herabgesetzt.91 Darum komme es auf die Selbstbeschränkung, auf die Wahl einer Sache an.92 Diese Wahl einer Sache, von der Montan so überzeugt spricht, führt zwar zur Einsicht in diese Sache. Jedoch wird der universale Anspruch des Subjekts hinfällig. Die Welt löst sich auf in die Einzelinterpretationen, die von ihr existieren. Die Archivfiktion des Romans bedeutet die poetologische Anerkennung dieses Sachverhalts. Denn das Archiv beinhaltet in sehr unterschiedlichen Textformen ein sehr unterschiedliches Wissen, und der Roman, der sich als Überformung der Archivdokumente zu erkennen gibt, bezieht sich darum nicht mehr auf eine gegebene Weltordnung, sondern auf partikulare
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in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.« Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. In: ders., Werke in fünf Bänden. Bd. I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. 2. Aufl., Darmstadt 1960, S. 234–240, hier S. 235f. Diesen Realismus des Romans erkannte bereits Schiller in einem Brief vom 20. Oktober 1797 an Goethe, in dem es heißt, daß »der Hermann [mich] (und zwar durch seine rein poetische Form) in eine göttliche Dichterwelt [führt], da mich der Meister aus der wirklichen Welt nicht ganz herausläßt.« Briefe an Goethe. Bd. I. (Hamburger Ausgabe in zwei Bänden). Hg. von Karl Robert Mandelkow. München 1982, S. 291. Müller: Lenardos Tagebuch, S. 282. GA 8, S. 43. Vgl. GA 8, S. 43: »Vielseitigkeit bereitet eigentlich nur das Element vor, worin der Einseitige wirken kann [...].« Ebd. 8, S. 39: »Mein Freund, versetzte Montan, wir mußten uns resignieren, wo nicht für immer, doch für eine gute Zeit. Das erste was einem tüchtigen Menschen unter solchen Umständen einfällt, ist ein neues Leben zu beginnen. Neue Gegenstände sind ihm nicht genug: diese taugen nur zur Zerstreuung; er fordert ein neues Ganze und stellt sich gleich in dessen Mitte.«
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Weltdeutungen, die im Archiv niedergelegt sind und deren Verwebung oder Integration den Roman entstehen läßt: Zunächst einmal bezieht sich der Roman auf außerästhetische Wirklichkeit, aber diese Wirklichkeit ist nicht unmittelbar verwendbar. Selbst was bereits schriftlich fi xiert ist, wie das im Archiv vorliegende Material, bedarf noch zusätzlich der Überformung nach ästhetischen Gesichtspunkten. Das betrifft insbesondere die Anordnung und Verknüpfung, deren Schwierigkeiten sich aus der Breite und Vielschichtigkeit des gewählten Wirklichkeitsausschnittes ergeben. Schon das Vorhandensein eines Archivs deutet ja auf eine sehr komplexe Gegenständlichkeit, die sich nicht mehr in einer einfachen Fiktion zusammenfassen läßt.93
Die Form kann nicht mehr aus einer ontologischen oder quasi-ontologischen Gesetzmäßigkeit begründet werden, wie dies noch in Goethes kunsttheoretischen Schriften und in seinem Symbolbegriff nahegelegt wird. Vielmehr muß der Roman seine Form erst gewinnen. Die Form wird zu einem Prozeß, der sich beständig selbst reflektiert und seine Kontingenz thematisiert: Die Form ist etwas Hergestelltes, nicht mehr nur ein Schleier oder ein Gewand, das sich um die Dinge legt, sondern eine Konstruktion, die dem Verdacht untersteht, sie könnte auch (ganz) anders aussehen. Das läßt sich an der Form der Archivfiktion bei Goethe ablesen: Deren Besonderheit gegenüber der Tradition des Herausgeberromans besteht in der Preisgabe des für das Genre typischen Authentizitätsanspruchs, der die Romankonstruktion zum Verschwinden bringen soll. Gerade im Gegenteil läßt die Bearbeitung der Schriftstücke durch den Redaktor in Goethes Roman den Prozeß der Romanentstehung als eine bewußte Kombination und Selektion unterschiedlichster Schrift- und Wissensformen erkennen.94 Die Darstellung der Totalität der Welt wird ersetzt durch eine Beobachtung des Wissens der Protagonisten und der Darstellungsverfahren des Romans. Die Frage, die daher zunächst behandelt werden muß, ist, ob es auf der Ebene dieser sekundären Beobachtung – also auf der Ebene des Archivs – zu einer neuen Form der Totalität kommt, oder ob die Innovation der Wanderjahre nicht vielmehr in einer neuen Form der ästhetischen Selbstbegründung besteht, die aus dem Verzicht auf die Darstellung eines Ganzen begründet werden kann.
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Müller: Lenardos Tagebuch, S. 281. Diese Differenz zur Romantradition hat zuerst Müller bemerkt, vgl. ebd., S. 281. Auch Gerhard Neumann unterstreicht die Bedeutung der Tatsache, daß der Prozeß der Niederschrift ein wesentlicher Bestandteil des Romans ist: »Goethes Wilhelm Meister-Romane sind mit dem aus der Klassik entwickelten Werkbegriff, der Vollendung und Geschlossenheit meint, nicht mehr zulänglich zu erfassen; denn der Prozeß ihrer Entstehung und Umarbeitung ist wesentlicher Bestandteil ihres poetischen Charakters.« Gerhard Neumann: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Struktur und Gestalt. In: FA I, 10, S. 915–987, hier S. 968.
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Während sich Klaus-Detlef Müller für die Möglichkeit einer neuen Totalität als Summe der Formen von Verschriftlichung der Gegenstände ausspricht,95 geht Ehrhard Bahr davon aus, daß die Totalität noch nicht hergestellt ist, sondern allererst vom Leser erbracht werden muß. Damit wird der Begriff der Totalität auf die Ebene der Rezeption ausgelagert. In seinem Aufsatz »Wilhelm Meisters Wanderjahre, oder die Entsagenden« (1821–1829) 96 bezieht sich Bahr auf den Begriff der Totalität bei Hegel97 und dessen Kritik durch Hermann Broch. Von Hegel übernehme Broch zwar die Bestimmung des Romans, dessen Aufgabe die Darstellung der modernen Welt sei: »[Broch] verstand [...] unter Totalität im literarischen Kunstwerk die Form einer Welterfassung, in der ›alles Wissen der unendlichen Menschheitsentwicklung in einem einzigen simultanen Erkenntnisakt‹ zusammengedrängt sei.«98 In Brochs Interpretation zeichnet sich jedoch die Moderne gerade durch den Verlust einer darstellbaren Wirklichkeit aus. Darum werde Hegels Bestimmung des Romans als Repräsentation von Welt problematisch, weil eine verbindliche Interpretation dessen nicht mehr gewährleistet sei, was als Realität überhaupt zu gelten habe. Für Broch leitet der Verlust der Verbindlichkeit, der sich mit der Französischen Revolution abzeichnet, eine Epoche des »Wertzerfalles«99 ein. Diese Epoche sei von konkurrierenden Modellen charakterisiert, die ihre eigenen Werte und Realitätskonstrukte hervorbrächten und damit die Rede von ›Totalität‹ überhaupt problematisch machten: [...] die Totalitätskunstwerke [werden] innerhalb der allgemeinen Kunsterzeugung nicht nur immer seltener und seltener, sondern auch immer komplizierter und unzugänglicher werden, ein Tatbestand, vor dem sich eben das Problem erhebt, ob eine Welt ständig zunehmender Wertzersplitterung nicht schließlich überhaupt auf ihre Totalerfassung durch das Kunstwerk verzichten muß und somit ›unabbildbar‹ wird.100
Die Wanderjahre stellen in dieser Hinsicht für Broch einen höchst innovativen Roman dar, der Tendenzen des 20. Jahrhunderts vorwegnehme und bereits auf
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»[D]ie Totalität liegt nicht so sehr im Bereich der Gegenständlichkeit wie in der Summe der Formen ihrer schriftlichen Objektivierung.« (Ebd., S. 275.) In: Goethes Erzählwerk. Hg. von Paul Michael Lützeler u. James E. McLeod. Stuttgart 1985, S. 363–393. Gemeint ist die bekannte Bestimmung des Romans als der »modernen bürgerlichen Epopöe« in Hegels Ästhetik, der eine nicht bereits in der Wirklichkeit vorhandene Totalität gestalten müsse: »Was die Darstellung angeht, so fordert auch der eigentliche Roman wie das Epos die Totalität einer Welt- und Lebensanschauung, deren vielseitiger Stoff und Gehalt innerhalb der individuellen Begebenheit zum Vorschein kommt, welche den Mittelpunkt für das Ganze abgibt.« Hegel: Ästhetik, S. 452. Bahr: Wilhelm Meisters Wanderjahre (1985), S. 363f. Vgl. Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart. In: ders., Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/1. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt 1975, S. 63–91, S. hier 86. Hermann Broch: James Joyce, S. 65. Ebd., S. 66.
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den Ulysses von James Joyce vorausweise. An diese Diagnose Brochs anschließend, erkennt Bahr, daß eine solche »Weltzersplitterung« und »Unabbildbarkeit« auch in den Wanderjahren formuliert werde. Zugleich versucht er, das Totalitätskonzept dadurch zu retten, daß er die individuelle Partikularität des Wissens mit Totalität zusammendenkt. Zwar könne es in der Moderne, die als eine Epoche konkurrierender Weltsichten ausgewiesen sei, kein Wissen geben, das nicht selbst eine subjektive oder partikulare Interpretation sei; doch die Subjektivität gewinne selbst ein Objektives, indem sie ein subjektives Ganzes konstruieren könne: Goethe [hatte] das wechselseitige Verhältnis von Struktur und Rezeption erfaßt, das dem impliziten Leser mit der Reduktion der Romanform zu einem »Aggregat« ein Maximum an Freiheit verlieh. In der offenen Form der Wanderjahre war damit dem impliziten Leser die Gelegenheit gegeben, eine totale und zugleich individuell erfaßte Welt literarisch-fi ktiv zu realisieren.101
Diese Versöhnung von Individualität und Objektivität sei jedoch nicht in der Geschichte und auch nicht in der Erzählstruktur des Romans bereits geleistet, sondern müsse vom Leser erst bewältigt werden. Die offene Form des Romans erfordere eine aktive Leserolle, die vom Redaktor verschwiegene Zusammenhänge eigenständig herstellen müsse.102 Doch die Frage ist, ob die Archivfiktion wirklich zu einer derartigen Bevollmächtigung des Lesers führt, oder ob sie nicht vielmehr die Arbeit des Redaktors als Manipulation ausstellt, die dem Leser wichtige Informationen entzieht und dadurch einerseits die Kontingenz des Erzählens unterstreicht, andererseits aber das Totalitätsbegehren der Lektüre ironisiert.103
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Bahr: Wilhelm Meisters Wanderjahre (1985), S. 389. Bahr beruft sich auf eine Äußerungen Goethes gegenüber Sulpiz-Boisserée, in der er den idealen Leser seines Romans einmal so beschrieb: »Dem einsichtigen Leser bleibt Ernst und Sorgalt nicht verborgen, womit ich diesen zweiten Versuch, so disparate Elemente zu vereinigen, angefaßt und durchgeführt, und ich muß mich glücklich schätzen, wenn Ihnen ein so bedenkliches Unternehmen einigermaßen gelungen scheint.« (FA I, 10, S. 861.) »Aufgrund des Verzichts auf erzähltechnische Integration und auktoriale Sinngebung ist der andere Teil der Fiktionsherstellung dem impliziten Leser zugewiesen. Die Archivfiktion verlangt die aktive Mitarbeit des Lesers«. Bahr: Wilhelm Meisters Wanderjahre (1985), S. 385. Auch Gerhard Neumann hebt den manipulatorischen Charakter der »Autorfunktion« der Wanderjahre hervor: »Die Erzählhaltung, die an einzelnen Stellen des Textes sichtbar wird, ist weit entfernt von allem auktorialen Gestus; es scheint bald ein freies, scheinbar willkürliches Verfügen über das Material zu sein, dann zeigen sich wieder mystifizierende Tendenzen oder einfach das Bemühen um chronikalische Dokumentation. [...] Wesentliches Moment all dieser Manipulation ist es, die Verantwortung für das Erzählte auf verschiedene Instanzen zu verteilen, eine gesicherte Autorfunktion nicht mehr in Szene zu setzen.« Vgl. ders.: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 964.
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Im zehnten Kapitel des ersten Buches kommt Wilhelm in den Genuß, an den Gesprächen und Diskussionen in Makaries Haus teilzunehmen. Der Hausfreund, Astronom und Mathematiker, verliest Dokumente aus Makaries Archiv, in denen es um die Mathematik geht. Diese Verlesung wird umständlich vorbereitet, ihre eigentliche erzählerische Darstellung jedoch durch den Entschluß des Redaktors, dem Leser diese Mitteilung der Diskussion ersparen zu wollen, verhindert. Dadurch wird einerseits die Erwartung der Leser auf höchst kunstvolle und ironische Weise getäuscht, andererseits diese Vorbereitungen selbst in den Vordergrund der Aufmerksamkeit gerückt. Thematisiert wird nur die Rezeption der zu verlesenden Texte, nicht jedoch diese selbst. Dies weist über die dargestellte Welt hinaus auf die Situation des impliziten Lesers. Wilhelm, der als Gast nicht zum Kreis der Hausbewohner gehört, wird ausdrücklich als fachfremd und uneingeweiht bezeichnet. So diskutieren die Hausgenossen zunächst untereinander, ob sie ihm überhaupt einen Einblick in ihre Diskussionszusammenhänge gewähren wollen. Ironischerweise wird dabei sowohl dem Leser als auch Wilhelm zunächst noch verschwiegen, um welchen Gegenstand es sich bei dem Diskussionsstoff überhaupt handeln soll. Noch bevor deutlich wird, daß sich die Gespräche um Mathematik drehen, thematisieren die Hausfreunde die Zulässigkeit der Mitteilung von Geheimnissen, der Einweihung von Fremden: »Sollte wohl unsere Angelegenheit, außer dem Zusammenhange, ohne Kenntnis, wie wir darauf gelangt, von ihm gern und günstig aufgenommen werden?«104 Gegen eine solche Mitteilung werden drei Einwände in Gegenwart Wilhelms vorgebracht. Erstens: Das Thema des folgenden sei, so sagt der Mathematiker, der mögliche »Mißbrauch fürtrefflicher und weitauslangender Mittel [...].«105 Die Papiere, die der Mathematiker vorlesen wird, enthalten nicht das Wissen der Mathematik in der Form einer belehrenden Abhandlung, sondern verschiedene Meinungen und deren Diskussion. Sofern nun bei einem solchen Vorgehen auch falsche Meinungen und mißbräuchliche Verwendungen zu Gehör kämen, könnten bei einem exoterischen Publikum, das mit der Materie unvertraut und ihr gegenüber vielleicht sogar skeptisch gestimmt sei, die Mittel der Mathematik durch die Thematisierung eines Mißbrauchs generell an Ansehen verlieren. Diesen Einwand, den Makarie vorbringt, entkräftet sie dann selbst mit der Begründung, man sei unter sich und wirke »nichts nach außen«106 – so daß also eine Beschädigung des Ansehens für ihren Kreis keine weiteren Folgen habe. Zweitens wird der Einwand vorgebracht, Wilhelm sei mit dem bisherigen Diskussionsstand nicht vertraut und könne sich daher kaum in das Vorzutragende finden. Diesen Einwand entkräftet Wil-
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helm, indem er eine allgemeine Anteilnahme aller Menschen an wichtigen Themen postuliert. »Denn alles, was den einen Menschen interessiert, wird auch in dem anderen einen Anklang finden«.107 Wilhelm behauptet hier das Recht des Dilettanten, sich aus den Fachdiskussionen der Gelehrten und Spezialisten doch etwas für sich selbst mitnehmen zu können. Drittens wird die hohe Komplexität des Gegenstandes angeführt, die nur von Eingeweihten begriffen werden könne. »Denn es ist auch hier«, so bemerkt der mathematische Hausfreund, »von einem Komplex mehrer bedeutender Menschen, von einer hohen Wissenschaft, von einer wichtigen Kunst und, daß ich kurz sei, von der Mathematik die Rede.«108 Damit wird Wilhelm ein drittes Mal sein Nichtwissen bescheinigt. Was der Mathematiker und Makarie ihm in einem freundlichen Ton deutlich zu spüren geben, ist seine mathematische Ahnungslosigkeit, womit sie implizit Montans Ablehnung der universellen Bildung bestätigen. Die Hinauszögerungstaktik wird auch nach der endlich erfolgten Themennennung fortgesetzt. Nachdem die Einwände gegen eine mögliche Mitteilung beseitigt sind, wird die Verlesung des Textes durch einen Einschub weiter hinausgezögert. Mit umständlicher Genauigkeit wird erzählt, wie Angela Felix aus dem Raum führt: Was aber fangen wir mit Felix an? fragte Makarie, welcher, wie ich sehe, mit der Betrachtung jener Bilder schon fertig ist und einige Ungeduld merken läßt. Vergönnt mir diesem Frauenzimmer etwas ins Ohr zu sagen, versetzte Felix, raunte Angela etwas stille zu, die sich mit ihm entfernte, bald aber lächelnd zurückkam, da denn der Hausfreund folgendermaßen zu reden anfing.109
Diese Stelle ist ein Musterbeispiel für die subtile Ironie vieler Goethetexte. Die Erwähnung von Felix, die aus Gründen der Erzählökonomie auch unterbleiben oder früher stattfinden könnte, dient nicht nur der Retardation, sondern sie fügt der Szene eine weitere Bedeutungsschicht hinzu. Das erotische Geheimnis, das Felix Angela mitteilt, dessen prominentestes Beispiel in den Wanderjahren die Schlüssel- und Kästchenmetapher darstellt, ist in diesem Roman auch immer ein hermeneutisches Symbol, das das interpretatorische Verlangen figuriert, die Bedeutungen aufzudecken, die dem Leser verborgen bleiben. Angelas Lächeln schaut aus dem Text heraus den Leser an, der hier noch nichts davon ahnt, wie sehr er bald vom Redaktor in diesem Verlangen getäuscht wird – erfährt er doch nie, was der Mathematiker verlesen hat.110
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Ebd., S. 129. Ebd. Ebd. Zwar gibt der Redaktor später sein Versprechen, die Papiere an anderer Stelle drucken zu lassen (vgl. ebd. S. 130) – doch können damit kaum die in den Roman eingestreuten Texte aus Makariens Archiv gemeint sein, denn von ihnen beziehen sich nur drei auf Mathematik bzw. Geometrie.
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Noch immer befinden wir uns im Vorbereitungsstadium der Lektüre, die nun von einer letzten, jedoch sehr ausführlichen Erläuterung des Mathematikers ein weiteres Mal aufgeschoben wird. Er wolle, so erläutert er, nichts Selbstverfaßtes vorlesen, sondern sich auf bereits Geschriebenes stützen, in dem seine eigenen Gedanken bereits gesagt wurden: »[Ich] bring’ [...] hier einiges Geschriebene, sogar Übersetzungen mit: denn ich traue in solchen Dingen meiner Nation so wenig als mir selbst; eine Zustimmung aus der Ferne und Fremde scheint mir mehr Sicherheit zu geben«.111 Die Begründung für diese Bescheidenheit liegt also darin, daß es dem Mathematiker an Selbstvertrauen fehlt, in Streitfragen initiativ zu werden. Lieber, so sagt er, »suche ich mir eine Autorität, bei welcher ich mich beruhigen kann, indem ich finde, daß mir ein anderer zur Seite steht.«112 Die »abstruse Materie«113 der Mathematik erscheint nun als etwas, das sogar die Kompetenz eines Mathematikers übersteigt. Er muß sich selbst gegenüber seinem Gegenstand beschränken und auf Auslegung und Diskussion von Wissenschaftstraditionen zurückgreifen.114 Erst jetzt ist der letzte Einwand und die letzte Rechtfertigung für die Vorlesung der Papiere ausgeräumt. Doch das Versprechen des Redaktors, nun endlich folgen zu lassen, was so lange vorbereitet wurde – »Er fing nunmehr nach erhaltener Erlaubnis folgendermaßen zu lesen an«115 – wird sogleich gebrochen. Im folgenden tritt der Redaktor recht unvermittelt zum ersten Mal in Erscheinung und durchbricht damit die für den bisherigen Romanverlauf gültige Konvention. Bislang konnte angenommen werden, daß die Geschichte von einem vertrauenswürdigen Erzähler dargestellt wurde. Dieses Vertrauen enttäuscht der Redaktor, gibt allerdings vor, dabei im Interesse des Lesers zu handeln: Wenn wir aber uns bewogen finden diesen werten Mann nicht lesen zu lassen, so werden es unsere Gönner wahrscheinlich geneigt aufnehmen, denn was oben gegen das Verweilen Wilhelms bei dieser Unterhaltung gesagt worden, gilt noch mehr in dem Falle, in welchem wir uns befinden. Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch weiter auf die Probe zu stellen. Die Papiere, die uns vorliegen, gedenken wir an einem anderen Ort abdrucken zu lassen und fahren diesmal im Geschichtlichen ohne weiteres fort, da wir selbst ungeduldig sind das obwaltende Rätsel endlich aufgeklärt zu sehen.116
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Ebd., S. 129. Ebd. Ebd., S. 128 Es handelt sich also um ein Vorgehen, das dem oben analysierten Verfahren Goethes, die im Archiv aufbewahrten Urteile und Diskussionen zur erneuten Diskussion vorzulegen, entspricht. GA 8., S. 129. Ebd., S. 130.
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Zunächst reflektiert der Redaktor auf die wahrscheinliche Erwartung seiner Leser. Er nimmt dabei an, diese hätten eine Abneigung gegen eine didaktische Tendenz, die sich im Vorangegangenen schon zu stark ausgewirkt habe. Dieses Entgegenkommen an den Leser enthält allerdings ein nicht geringes Maß an Ironie. Denn warum sollte ausgerechnet an dieser Stelle etwas ›Didaktisches‹ unterschlagen werden, während der Redaktor zuvor und erst recht im folgenden keineswegs von dessen Darbietung abrückt? Nähme man ernst, was er hier ausführt, dann müßte man ihm Inkonsequenz bescheinigen und sich fragen, wieso er jetzt erst in diesem Sinne in den Roman eingreift. Überdies fragt man sich, wozu die Verlesung der mathematischen Papiere so sorgfältig vorbereitet wurde, wenn sie plötzlich abbricht? Und nicht nur im Rückblick auf die unmittelbar vorausgegangene, sondern auch im Hinblick auf die folgende Erzählung verliert der Redaktor an Glaubwürdigkeit. Denn die scheinbare Eile, das »obwaltende Rätsel« – nämlich das Verhalten Lenardos – zu klären, ist hier nur vorgetäuscht: Immerhin hat er diesen Strang des Romans seit mehr als zwei Kapiteln aus den Augen verloren, und er denkt auch im unmittelbaren Anschluß an diesen Eingriff noch nicht daran, das Rätsel aufzuklären. Erst im elften Kapitel wird der Faden der Lenardohandlung wieder aufgenommen. Der vom Redaktor erweckte Eindruck, sofort dazu übergehen zu wollen, wird nicht erfüllt. Damit, daß Wilhelm in die Lesung der Papiere eingeweiht wird, der Leser aber nicht, wird jedoch nicht nur eine Erwartungshaltung enttäuscht, sondern es verteilt sich auch das Wissen asymmetrisch: Der Leser rückt in eine exzentrische Position, ihm bleibt das Geheimnis unerschlossen. Der Eingriff des Redaktors enthüllt eine Ähnlichkeit, die das analysierte Gespräch zwischen Angela, Makarie, dem Hausfreund und Wilhelm mit der übergeordneten Darstellungsebene aufweist.117 Darauf macht der Redaktor selbst aufmerksam, wenn er bemerkt, daß der Leser sich in einer ähnlichen Lage wie Wilhelm befinde: »Denn was oben gegen das Verweilen Wilhelms bei dieser Unterhaltung gesagt worden, gilt noch mehr in dem Falle, in welchem wir uns befinden. Unsere Leser haben einen Roman in die Hand genommen [...]«.118 Die beschriebene fiktive Szene weist also, wie der Redaktor meint, gewisse Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Erzählen auf: Wilhelm erscheint als fiktives ›alter ego‹ des Adressaten der Erzählung, während der Mathematiker als fiktiver Stellvertreter des Redaktors erscheint. Denn wie der Redaktor sich entschließt, den Mathematiker nicht reden zu lassen, so kommt diesem
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Es wird zwischen der erzählten Welt und der Darstellungs- oder Vermittlungsebene unterschieden, womit ich mich nicht auf ein bestimmtes narratologisches Modell beziehe, sondern eine allgemein anerkannte Unterscheidung benutze, die für meine Zwecke genügt. Vgl. den Überblick bei Matias Martinez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 3. Aufl., München 2002, S. 20ff. GA 8, S. 130.
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innerhalb der Fiktion eine ähnliche Machtvollkommenheit zu; erst Makaries Vermittlung verleitet ihn dazu, sich auf die Mitteilung seiner Papiere einzulassen. Sie fordert ihn mit diesen Worten auf: »Sie werden von der Gegenwart dieses neuen Freundes nicht wiederum Anlaß zu einer Entschuldigung finden und die versprochene Unterhaltung abermals verspäten; er scheint von der Art, wohl auch daran teil zu nehmen.«119 Während also der Redaktor sein Versprechen bricht, kann Makarie einen solchen Schritt seitens des Mathematikers verhindern. Dennoch sind die Ähnlichkeiten evident. Was läßt sich aus ihnen für das Verständnis der Romanpoetik folgern? Durch die drei Einwände, die der Lektüre der mathematischen Papiere vorangingen, wird die Kompetenz Wilhelms und die seines alter ego, des Lesers, den Gegenstand wirklich verstehen zu können, angezweifelt. Dennoch wird ihm dann konzediert, eine gewisse Teilhabe auch an der komplizierten Materie der Mathematik könne dem Nichtfachmann nützlich sein, »vorausgesetzt, [...] daß er sich eine gewisse Freiheit des Geistes erworben habe.«120 Insofern Wilhelm einen Einblick in dieses Spezialwissen erhält, wird er auf der Ebene des Erzählten zu einer Integrationsfigur, die die heterogenen Teilbereiche der Gesellschaft überschreitet. Dieser Befund scheint die These Klaus-Detlef Müllers zu bestätigen, daß der Roman die verlorene Totalität der Welt durch eine Summierung der Wissensdokumentation restituiert. Diese Totalisierung wird jedoch nur erzählt und bleibt für den Leser nicht nachvollziehbar. Denn Wilhelm bekommt den versprochenen Text wirklich zu hören, der Leser des Romans hingegen nicht. Das unerfüllte Versprechen des Redaktors erzeugt also trotz der behaupteten und nachweisbaren Ähnlichkeit Wilhelms mit dem Leser des Romans eine entscheidende Differenz zwischen beiden. Ähnlichkeit und Differenz beziehen sich auf die Kenntnis des Archivs. Wilhelm weiß mehr als der Leser.121 Denn er ist derjenige, der auch das zu Gesicht bekam, was der Redaktor aus vorgeschobenen Gründen der Romanökonomie dem Leser vorenthält. Der Leser weiß nur, was ihm der Redaktor zur Verfügung stellt. Obwohl Wilhelm als ein fiktiver Repräsentant des Lesers gelten kann, geht die Ähnlichkeit nicht bis zu einer vollständigen Entsprechung beider, weil Wissen und Nichtwissen asymmetrisch verteilt sind: Der Leser weiß an keiner Stelle mehr als Wilhelm, aber oft weiß er weniger als dieser und vielfach sind beide im Zustand des Nichtwissens. Der Ausgleich der »Einseitigkeiten« wird damit vom Roman nur partiell erfüllt; ebensosehr aber wird der Wissensmangel thematisiert, der es dem Leser nicht
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Ebd., S. 128. Ebd., S. 129. Das bedeutet nicht, daß er alles kennt: Auch Wilhelm erfährt nicht immer, was ihm versprochen wurde. Das ist zum Beispiel der Fall in der »pädagogischen Provinz«, deren Vorsteher ihm die Einweihung in das Arkanum zwar verspricht, dieses Versprechen aber nie einlöst.
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einfach gestattet, sich eine individuelle Interpretation zu machen und von dieser zu behaupten, sie sei ›totalisierend‹ – die Analyse der Darstellungsverfahren des Romans führt vielmehr zur Einsicht, daß solche Lesarten immer mit diesem Mangel umgehen müssen und darum letztlich nie abschließend und umfassend sein können. Die Ironie, mit der Wilhelm von dem Kreis um Makarie behandelt wird, enthält eine Ironisierung des Lesers, dem nur ein geringfügiger Einblick in die Archive gestattet wird, während man ihm zugleich deren geheimnisvollen und verlockenden Reichtum vor Augen stellt. Die andere Analogie betrifft das Verhältnis des Redaktors zum Mathematiker. Dieser stützt sich wie jener auf »Geschriebenes«. Er beruft sich auf »Autoritäten«,122 nicht deswegen, weil er selbst keine eigenen Ansichten hat, sondern weil – und insofern – sie mit seinen Ansichten übereinstimmen, zieht er es vor, diese zu zitieren: aus Furcht, von anderen angegriffen zu werden, und aus einem Distanzierungsbedürfnis gegenüber vorschnellen Schlüssen. Beides enthält einen Hinweis auf eine tiefere Dimension des Romans. Der Mathematiker betont sein Distanzbedürfnis mit diesen Worten: »Deswegen bring’ ich hier einiges Geschriebene, sogar Übersetzungen mit: denn ich traue in solchen Dingen meiner Nation so wenig als mir selbst; eine Zustimmung aus der Ferne und Fremde scheint mir mehr Sicherheit zu geben.«123 Diese Angst vor übereiltem Urteil, die daraus folgende Vorsicht und das methodische Bedürfnis, den eigenen Standpunkt mit anderen abzugleichen, hat eine Beziehung zu Goethes eigenem theoretischem Vorgehen. Ins Spiel kommt hier jene oben dargestellte ethische Dimension des Archivs, als Medium einer Sammlung im Doppelsinn, die Urteilsbildung und Konzentration ermöglicht. Eine der zeitkritischen Diagnosen dieses Romans betrifft nämlich das Anwachsen von Schriftlichem, die Vervielfältigung von Meinungen, die sich aus dem unmittelbaren Übergang vom individuellen Gedanken zur öffentlichen Publikation ergeben. In einer Maxime aus den Betrachtungen im Sinne der Wanderer findet dies eine Entsprechung. Dort wird das Zeitungswesen beklagt: Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag um Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten! ein guter Kopf könnte wohl noch eins und das andere interkalieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er hat, ans Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich, und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, veloziferisch.124
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Beide Zitate ebd., S. 129. Ebd. Ebd., S. 312
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Diesen Tendenzen widersetzt sich Mathematiker mit seinem Verfahren, sich auf Autoritäten zu stützen, statt das eigene Urteil vorzubringen, andere Stimmen sprechen zu lassen als die eigene, auch »Übersetzungen« aus der Ferne und Fremde seine Stimme zu leihen. Dies spiegelt auf der Ebene der dargestellten Welt das Verfahren des Archivromans wider. Auch der Redaktor stützt sich bei der Niederschrift seines Romans nur auf die Autorität der ihm vorliegenden Schriftstück. Ein eigenes Wissen geht ihm ab, war er doch an der Handlung nicht beteiligt. So ist er auf die Aussagen von Zeugen angewiesen. Dies hat der Redaktor ebenso mit dem Mathematiker gemein, wie das Verfahren eingestreuter Übersetzungen. Zugleich ist der Mathematiker in einer ähnlichen Weise wie der Redaktor Herr über das Archiv. Er entscheidet – wenigstens an diesem Abend, von dem hier erzählt wird – darüber, ob und was von den Papieren aus dem Archiv mitgeteilt wird. Dieses Archiv selbst kommt dem Leser nie vor Augen. Mathematiker und Redaktor sind Figuren der Einschränkung des Wissens, des Verschweigens und des Geheimnisses. Damit wird etwas Archivtypisches thematisiert: Die Logik des Archivs wird beherrscht vom Recht auf Zugang. Die Entscheidung über Öffnung und Schließung ist neben der über Speicherung oder Löschung eine der grundlegenden Operationen des Archivs.125 In der Entscheidung über die Zugänglichkeit des Archivs wird die Beteiligung am Gedächtnis der Gemeinschaft geregelt. Das Archiv unterhält durch diese Entscheidung eine direkte Beziehung zur Macht,126 die in der ›Verknappung‹ des Wissens besteht. Daß diese Macht über Informationen in den Händen des Redaktors liegt, wird nicht verschwiegen, sondern ausgestellt: Die Konstruktion des Romans wird damit lesbar als machtförmige Wissensverteilung – und damit rückt die Struktur der Kommunikation in den Vordergrund und weniger der Inhalt der Archivdokumente. Die ungleiche Verteilung des Wissens, der verweigerte Einblick in die mathematischen Papiere, die als Handlungselemente analysiert wurden, finden ihre Entsprechung in der Struktur des ganzen Romans. Die Wanderjahre verweisen insgesamt, als Roman, auf das geheimnisvolle und unzugängliche Archiv, aus dessen Papieren sie zusammengestellt sind. Im Verhältnis zum Archiv stellen sie nur einen Auszug dar. Das Argument, daß der Herausgebertopos dieses Romans sich von der europäischen Tradition durch den Ver-
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Dies nach Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 344. Auf die historisch ursprüngliche Verknüpfung von Archiven und politischer Macht weist auch Jacques Derrida: Mal d’Archive. Une impression freudienne. Paris 1995 hin: »Extériorité d’un lieu, mise en œuvre topographique d’une technique de consignation, constitution d’une instance et d’un lieu d’autorité (l’archonte, l’arkeîon, c’est-à-dire souvent l’Etat, et même un Etat patriarchique ou fratriarchique), telle serait la condition de l’archive.« (Ebd., S. 2, vgl. auch S. 12ff.)
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zicht auf die Authentizitätsfiktion unterscheide, muß ergänzt werden durch die daraus resultierende notwendige Unvollständigkeit des Romans und die Kontingenz des Erzählten. Wenn das Archiv durch den Redaktor zu einem Roman gemacht werden muß, dann müssen einerseits die Dokumente in ihrer sekundären Überarbeitung zu einem Kunstwerk vermittelt werden; andererseits aber lenkt die Archiv- und Redaktorfiktion zugleich die Aufmerksamkeit auf das, was nicht repräsentiert wurde: den Überschuß im Archiv. Die Redaktoreingriffe sind also nicht nur Thematisierungen des Erzählvorganges, sondern ebenso sehr sind sie Thematisierungen eines Mangels. Der Begriff von Totalität als »Summierung«, wie ihn Klaus-Detlef Müller vorgeschlagen hat, muß daher modifiziert werden. Der Redaktor kann aus der Gesamtheit der Dokumente durch Selektions- und Kombinationsverfahren ein neues Ganzes erzeugen – aber der Leser muß mit den Lücken und dem Nichtgesagten umgehen können: Ihm wird von einer Totalität erzählt, aber nicht diese selbst dargerboten. Indem zusätzlich die Aufmerksamkeit auf die Konstruktionsmechanismen gelenkt wird, entsteht der Verdacht der Kontingenz.127 Dieser Begriff wird hier im Sinne einer Definition Niklas Luhmanns verwendet: Wir [müssen] den Kontingenzbegriff erweitern, nämlich zurückführen auf seine ursprüngliche modaltheoretische Fassung. Der Begriff wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist. [...] Die Realität dieser Welt ist also im Kontingenzbegriff als erste und unauswechselbare Bedingung des Möglichseins vorausgesetzt.128
Kontingenz in diesem Sinne ist das Ergebnis einer Beobachtung zweiter Ordnung.129 Der analysierte Eingriff des Redaktors spaltet den Vorgang des Erzäh-
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So auch Waltraud Wiethölter: Goethes Wilhelm Meister-Projekt. In: Kontingenz und Ordo. Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit. Hg. von Bernhard Greiner und Maria MoogGrünewald. Heidelberg 2000, S. 161–175, hier S. 174. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 3. Aufl., 1988, S. 152. Vgl. zum Verhältnis von Kontingenz und (ästhetischer) Ordnung die knappen, aber präzisen Ausführungen von Maria Moog Grünewald: Vorbemerkung. In: Kontingenz und Ordo, S. vii– xiii. Moog-Grünewald faßt eindrucksvoll zusammen, daß die theologisch begründete ›ontologische Kontingenz‹ der Welt zur Voraussetzung sich selbst begründender Ordnungen wird: »Semiosis tritt an die Stelle von Mimesis, dem ›Verlust‹ der natürlichen Ordnung respondiert die Ordnung der Kunst, die wiederum die Kontingenz der Zeichen nicht aufhebt, vielmehr zu ihrem Konstituens macht [...].« Der ästhetische Diskurs reflektiere »das prekäre Verhältnis von Kontingenz und Ordo als unaufhebbaren Teil seiner selbst, dergestalt daß ein Ordo allein möglich wird als raffinierte Inszenierung von Kontingenz.« (Ebd., S. ix.) Diese Insze-
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lens auf, weil dadurch die erzählte Geschichte als Konstruktion eines Redaktors ausgewiesen und diese Konstruktion auf eine doppelte Weise beobachtbar wird: Erstens indem der Redaktor seine eigenen Kriterien (einen nicht zu didaktischen Roman schreiben zu wollen) thematisiert, ihnen zugleich aber widerspricht. Dadurch bleibt seine Rede ein ›Störfall‹, der die Rückkehr zu konventionelleren Formen der Erzählung unterbindet. Durch die Thematisierung seines Erzählens erweist sich der Redaktor als ein Beobachter zweiter Ordnung, der sein eigenes Operieren beobachtet. Diese Selbstbeobachtung betrifft die Erzählweise. Deren Besonderheit besteht in der Selektion und Kombination von vorausgegangener, im Archiv gespeicherter Kommunikation. Dadurch entsteht zweitens auch hinsichtlich des Ausgewählten ein Kontingenzbewußtsein. Es hätte auch anderes erzählt werden können, aber dieses ›Was‹ ist weniger entscheidend als das ›Wie‹ – so wie ja auch auf der Ebene der erzählten Welt die Verfahren der Erzeugung und Kontrolle von Wissen größere Bedeutung besitzen als deren Inhalt. Die Verarbeitung des Archivs zum Roman ist als ein Prozeß wechselseitiger kommunikativer Bedingtheit gestaltet. Der Redaktor, der die Möglichkeit anderer Darstellungsweisen ausstellt, hat in sein Erzählen schon die Erwartungen seiner Leser in antizipatorischer Form integriert. Und umgekehrt erzeugt die Unzuverlässigkeit des Redaktors beim Leser einen grundsätzlichen Verdacht, es könnten Dinge verschwiegen, Antizipationen enttäuscht werden. Die Archiv- und Redaktorfiktion setzt also ein Spiel wechselseitiger Beobachtungen in Gang, das sich auf der Ebene der erzählten Welt noch einmal verdoppelt. Denn durch die Narrativierung der Diskursinstanzen und der Erzählverfahren läßt sich das Erzählte immer als eine Beobachtung des Beobachters – des Redaktors durch den Leser und umgekehrt – lesen. Diese Form der Kontingenz des Romans, die aus der doppelten Beobachtung der Erzählverfahren und des Erzählinhaltes durch den Redaktor und den Leser resultiert, findet ihr Korrelat in der Struktur des Textes, die gleichfalls in dem besonderen Charakter der Archivfiktion begründet ist. Denn das Archiv selbst impliziert die dem Kontingenzbegriff eigene Verschränkung von Gegebenheit und Potentialität, weil jede aktuelle Verwendung eines andernorts Gespeicherten dieses in seiner Eigenart bestehen und damit für andere mögliche Verwendungen offen läßt. Zieht man diese Gleichzeitigkeit von Aktualität und Potentialität zur Beschreibung der Form der Wanderjahre heran, dann muß nicht entschieden werden, ob der Roman seine Teile alle zu einem Roman integriert oder ob er
nierung von Kontingenz verbürgt einerseits einen Zusammenhang von Neuzeit und Moderne, andererseits verschärft sich in der Moderne das Problem insofern, als Normen der Produktion und Rezeption – also z.B. Kriterien des Geschmacks – als ihrerseits kontingent und beliebig erfahren werden. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Hans Blumenberg: ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 55–103.
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sich tendenziell der Aggregatform annähert. Vielmehr erreicht er gerade durch die Ordnung der Erzählung zugleich die Möglichkeit anderer Verknüpfungen. Integration und Desintegration werden ineinander verschränkt – und dies gilt erstens für die Gegenüberstellung von romanhaften Passagen mit den eingestreuten Aphorismen, den Gedichten, die den Text rahmen und den Novellen, sofern diese nicht mit der Rahmenhandlung verflochten werden. Zweitens gilt auch von den eher integrativ gestalteten Teilen des Textes, daß sie doppelcodiert werden: So weist Müller in seiner Analyse von Lenardos Tagebuch darauf hin, daß der Sachbericht über die Weberei trotz seiner nachträglichen Integration in die Romanhandlung seine Eigenart beibehalte: »das Romanhafte ist zusätzliche Überformung des Fixierten, nicht jedoch dessen Reduzierung zum nicht mehr selbständig Vorhandenen.«130 Die Archiv- und Redaktorfiktion gestattet es, sowohl ›unpoetische‹ Textformen als auch Dokumente, die nicht nur der Fiktion gemäß, sondern auch in der Realität Archivdokumente sind, also fremde Texte, intertextuelles Material im Roman zu übernehmen, so daß sie eine doppelte Funktion erhalten: Lenardos Tagebuch ist ein Text, der nicht von Goethe, sondern von seinem Freund Johann Heinrich Meyer stammt, die Pilgernde Törin ist eine Übersetzung Goethes aus dem Französischen, zahlreiche Maximen sind gleichfalls Übersetzungen. Doch auch die von Goethe stammenden Reflexionen und Novellen bewahren ihre Eigenart einer differenten literarischen Form. Hinzu kommt das zeitgenössische Archiv der wissenschaftlichen und praktischen Diskurse etwa der Medizin, der Geologie, der Pädagogik, der Politik, das in Form von Gesprächen, Reden, Diskussionen und Erzählungen in den Roman aufgenommen wird. Durch diese Technik der Doppelfunktionalisierung entsteht eine Spannung zwischen dem linear-sukzessiven Fortschreiten des Romans und der Gleichzeitigkeit des Archivs, die zur ereignishaften Konstruktion neuer Zusammenhänge einlädt. In der Sprache der gegebenen Kontingenzdefinition verweist durch die Archivfiktion alles Gegebene auf potentiell anders mögliche Verknüpfungen. So entsteht eine für den Roman konstitutive Spannung von Roman und Archiv, Sukzessivität und Simultaneität, Integration und Desintegration. D.h. der fertige Roman, den der Leser der Wanderjahre in den Händen hält, verweist auf das Archiv ›vor dem Roman‹, das als Bedingung seiner Möglichkeit zugleich das Phantasma einer Totalität von Wissen darstellt, die der Roman nicht einlösen kann. In seiner gegebenen Realisierung enthält der Roman jedoch ein ›Archiv im Roman‹ – und zwar einerseits durch die unvermittelte Übernahme einiger Auszüge aus dem Archiv, andererseits aber auch in Form des erzählten Archivs der Makarie, das als weitere Selbstbeobachtung der Verfahren gedeutet werden kann. Am Morgen nach dem analysierten Gespräch und seiner Makarie-Vision 130
K.-D. Müller: Lenardos Tagebuch, S. 293.
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erhält Wilhelm Einblick in Makaries Archiv. Wie schon die mathematische Diskussion wird auch das Archiv mit dem Glanz eines Geheimnisses umgeben. Es heißt von ihm, »daß allerdings nur die allernächste Umgebung davon Kenntnis habe.«131 Das Archiv steht also im Dienst der im Haus von Makarie gepflegten esoterischen Kommunikation. Es bildet das geheime Zentrum des privaten Zirkels, in dem alles, was als bewahrenswertes Wissen gilt, aufbewahrt wird. Der Zweck dieses Archivs besteht darin, die jeweilige Diskussion festzuhalten, um auf diese Weise zukünftige Anschlußmöglichkeiten für weitere Kommunikation zu schaffen. Im Zurückkommen auf bereits gespeicherte Erkenntnisse entsteht Kontinuität und Identität, nämlich Übereinstimmung von Vergangenheit und Zukunft: Ist man treu [...], das Gegenwärtige fest zu halten, so wird man erst Freude an der Überlieferung haben, indem wir den besten Gedanken schon ausgesprochen, das liebenswürdigste Gefühl schon ausgedrückt finden. Hierdurch kommen wir zum Anschauen jener Übereinstimmung, wozu der Mensch berufen ist, wozu er sich oft wider seinen Willen finden muß, da er sich gar zu gern einbildet, die Welt fange mit ihm von vorne an.132
Trotz der Betonung von Kontinuität fällt an dieser Beschreibung die Umkehrung der Zeitfolge auf. Die Gegenwart wird nicht durch die Vergangenheit begründet, sondern umgekehrt erscheint diese als eine Konstruktion, die durch die Archivierung von Gegenwärtigem erst möglich wird. Verständlich ist das nur aus der oben erläuterten Zeitform des Archivs. Dieses besitzt eine Zeitlichkeit nur in der ereignishaften Zeit der Benutzung; denn für die Ordnung und die Dauer des Archivs ist das Alter und die zeitliche Folge der Dokumente keine entscheidende Dimension. Vielmehr wird erst dann, wenn auf das Gespeicherte zugegriffen wird, dieses aktuell, erhält damit auch Vergangenheit und Zukunft. Erst, wenn eine gegenwärtige Äußerung unter eine bereits vorhandene Rubrik aufgenommen wird, findet wieder eine Erinnerung an das dort Aufbewahrte statt, und nur so erhält es seine Bestätigung. Nur der Akt des Archivierens läßt das Vorhandene als Vergangenes, das Einzutragende als Gegenwärtiges erscheinen. Obwohl also Kontinuität der vorherrschende Gedanke in Angelas bzw. Makariens Darlegung ist, muß doch eine Logik der Nachträglichkeit konstatiert werden. Der Sinn, der sich im Archiv herausbildet, ist eine spontane und instabile Verkettung. Das belegt auch die Quecksilbermetapher Angelas: Angela fuhr fort, dem Gast weiter zu vertrauen, daß dadurch ein bedeutendes Archiv entstanden sei, woraus sie in schlaflosen Nächten manchmal ein Blatt Makarien vorlese; bei welcher Gelegenheit denn wieder auf eine merkwürdige
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GA 8, S. 136. Ebd.
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Weise tausend Einzelheiten hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber fällt und sich nach allen Seiten hin in die vielfachsten unzählbaren Kügelchen zerteilt.133
Die Quecksilbermetapher stellt in gewisser Weise das Komplement zur zuvor beschriebenen Kontinuität dar. Einerseits generiert die Eintragung eines gegenwärtigen Ereignisses ins Archiv die Überlieferung und stabilisiert diese nachträglich; andererseits führt die Benutzung des Archivs keineswegs zu einer bloßen Repetition und zu einer Deckung von Gegenwart und Zukunft; vielmehr führt sie zur Streuung von Sinn. Jede Lektüre eines Blattes erzeugt einen unendlichen Überschuß an möglichem Anschluß von Sinn, aber dies nur im Moment der Benutzung. Diese erzeugt eine spontane Ordnung, die sich von der Ordnung des Romans unterscheidet: Sie basiert auf der punktuellen Sinnkonstitution, die sich wieder auflöst. Gegenüber dem Roman stellt das Archiv beliebige Verknüpfungsmöglichkeiten eines Dokuments mit jedem beliebigen anderen bereit. Die daraus folgende Potentialität des Sinns kann vom Roman nicht realisiert werden. Indem der Roman sich unter beständigem Verweis aufs Archiv als Integration von dessen Elementen entwickelt, verweist er auf diesen Überschuß, der von keinem Leser eingelöst werden kann. Gegenüber der Sinnfülle des Archivs erweist sich der Roman als nur eine seiner möglichen Verschriftlichungen. Damit wird die Kontingenz des Romans, das Andersseinkönnen der gefundenen Form, thematisiert. Die Ordnung des Archivs wird folgendermaßen beschrieben: Unser Freund ward sodann in ein Zimmer geführt, wo er in Schränken ringsum viele wohlgeordnete Papiere zu sehen hatte. Rubriken mancher Art deuteten auf den verschiedensten Inhalt, Einsicht und Ordnung leuchtete hervor. Als nun Wilhelm solche Vorzüge pries, eignete das Verdienst derselben Angela dem Hausfreunde zu; die Anlage nicht allein sondern auch in schwierigen Fällen die Einschaltung wisse er mit eigener Übersicht bestimmt zu leiten. Darauf suchte sie die gestern vorgelesenen Manuskripte vor und vergönnte dem Begierigen sich derselben, so wie alles übrigen zu bedienen, und nicht nur Einsicht davon, sondern auch Abschrift zu nehmen.134
Während die Ordnung des Romans auf der fortschreitenden Verknüpfung der dem Redaktor vorliegenden Schriftstücke zu einer Handlung basiert, ist die des Archivs streng thematisch; ihre Einheit ist die Rubrik; deren Semantik ist rein funktional. Sie erfüllt sich im Verweis auf Dokumente. Die Ordnung der Rubrik ermöglicht einen raschen Zugriff auf das Gespeicherte; sie stellt in diesem Sinn Reduktion von Möglichkeiten dar. Gleichzeitig ist sie darauf angelegt, überschritten zu werden: Sie dient nur dazu, sich im jewei-
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Ebd. Ebd., S. 137.
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ligen Gebrauch wieder aufzulösen, sie gestattet einen punktuellen Zugriff, dessen Entgrenzung eingeplant ist. Nur wenn das Archiv überraschende Verbindungen ermöglicht, erfüllt es seine Funktion. Die Öffnung eines Dokumentes setzt sofort die Quecksilberkügelchen frei, die sich nun untereinander verbinden, weitere Dokumente miteinbeziehen und so ein Gleiten von Text zu Text ermöglichen. Die neuerliche Integration der Kügelchen wird zur Aufgabe des Benutzers. Hier wird die Notwendigkeit der eigenständigen Lektüre thematisiert: Hier nun mußte unser Freund bescheiden zu Werke gehen, denn es fand sich nur allzuviel Anziehendes und Wünschenswertes; besonders achtete er die Hefte kurzer, kaum zusammenhängender Sätze höchst schätzenswert. Resultate waren es, die, wenn wir nicht ihre Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nötigen, vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens, rückwärts zu gehen und uns die Filiation solcher Gedanken von weit her, von unten herauf, wo möglich zu vergegenwärtigen.135
Reflektiert wird der archivtypische Überschuß an möglichem Sinn und an möglichen Verweisen des einen Textes auf andere. Daher fordert das Archiv vom Benutzer Beschränkung oder, wie es heißt, ein Sich-Bescheiden: Die Freiheit der Benutzung des Archivs ist nicht absolut, da sich überhaupt nur durch Reduktion von Möglichkeiten Sinn erschaffen läßt. Zudem gleicht die Lektüre der Texte einem Detektivspiel: Das hier entworfene Idealbild der Lektüre ist ein Verfahren, die Logik der Produktion nachzuvollziehen, sich die widersprüchlichen, scheinbar paradoxen Stellen durch ein kreatives Überdenken von Möglichkeiten ihrer Entstehung zu erklären. Das »umgekehrte Finden und Erfinden« verschränkt Eigentätigkeit und Rezeptivität, bleibt das Finden und Erfinden doch immer abhängig von dem möglichen Weg der Produktion, der in umgekehrter Richtung zu beschreiten ist. In Wilhelms Benutzung des Archivs bündeln sich daher alle bisher behandelten Aspekte des Archivromans. Einerseits spiegelt das ›Archiv im Roman‹ die Relation des Romans zu dem Archiv der Turmgesellschaft wider. Wilhelms Arbeit im Archiv ähnelt insofern der des Redaktors, als sie Rezeption und Produktion vereinigt.136 Wilhelm ist kein eigentlicher Schöpfer, sondern er folgt der Spur der vielen Autoren, die Makaries Archiv mit Information gespeist haben. Er bleibt damit immer auf seine Vermutungen angewiesen über das, was diese vielleicht erlebt, gedacht, gemeint haben. Ihm fehlen die sichere
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Ebd. Nicht zufällig wird darum neben der Rezeption der Archivdokumente durch Wilhelm auch der Akt des Schreibens thematisiert – und zwar anhand von Felix. Während Wilhelm ins Archiv geführt wird, erblickt er »zu großer Verwunderung seinen Felix schreibend an einem Tische«, worüber ihn Angela aufklärt: »Schreiben und Reiten sei das einzige, wozu er Lust habe« Ebd., S. 136f.
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Gewißheit und das absolute Wissen. Andererseits ähnelt Wilhelm auch dem Leser. Denn anders als der Redaktor darf dieser – und mit ihm die Leser des Romans – nur einen kleinen Ausschnitt des Archivs benutzen. War schon die Sinnkonstruktion des Redaktors eingeschränkt, so ist es die Wilhelms / des Lesers noch mehr. Sie müssen nicht nur über die Intentionen der Verfasser von Dokumenten rätseln, sondern vor allem bekommen sie nur einen Ausschnitt aus einem geheimnisvollen, ihnen entzogenen Ganzen. Das ›Archiv im Roman‹ kann also als eine narrative Metapher aufgefaßt werden: Es figuriert den realen Schaffensprozeß, sofern Goethe die Wanderjahre wirklich aus heterogenen und teils von anderen verfaßten Dokumenten zusammensetzte; es stellt eine narrative Spiegelung des Archivs der Turmgesellschaft dar, das als fiktive Begründung des Erzählvorganges dient; und es stellt in verdichteter Form die Verfahren des Textes vor und projiziert sie auf die Ebene der erzählten Welt. Dadurch wird eine Beobachtung des Romans in seiner prozeßhaften Entfaltung möglich, auch wenn das ›Was‹ des Archivs nur partiell zugänglich ist. Notwendig wird eine solche Kommunikationsform, weil eine einheitliche Wirklichkeit, die die verschiedenen Wissens- und Lebensformen umfassen könnte, nicht mehr existiert. Die Literatur kann darum das Disparate der Moderne nicht zu einer Synthese bringen, nicht das Wissen umgreifen und ordnen. Dennoch konstituiert sie sich im Bezug auf das Wissen, das sie verwendet und von dem sie sich in dieser Verwendung unterscheidet. Daher ist abschließend nach der Differenz zu fragen, die zwischen den im Roman zitierten Wissensformen und seiner eigenen Selbstkonstitution besteht. Diese Unterscheidung liefert zugleich das Kriterium für die ›Literarizität‹ der Wanderjahre, also für das Spezifische der Dichtung. Dieses besteht nicht so sehr in der hintergründigen Referenz auf mythische Figuren, die dem dargestellten Geschehen eine Tiefendimension verleihen und es vor Banalität bewahren,137 sondern eher darin, daß der Roman das zitierte Wissen im Hinblick auf seine Funktion und auf Kommunikationsstrukturen beobachten, kommentieren und kritisieren kann, deren Kontingenz ausstellt und zugleich über seinen eigenen medialen Status als Dichtung reflektiert. Gleich zu Beginn führt der Roman die Thematik des Wissens ein und koppelt sie an eine Selbstreflexion der Kunst. Der Beginn der Romanhandlung zeigt den Helden Wilhelm als einen Schreibenden. Vor der wahrnehmbaren Wirklichkeit der Außenwelt verbirgt sich Wilhelm hinter seiner Schreibtafel.138 Ihn interessiert nicht die gegenständliche Realität als solche. Was immer er schreiben mag – schreibend ist er nicht mit Anschauung beschäftigt. Das
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Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos. Stuttgart 1980. Vgl. GA 8, S. 11.
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Schreiben grenzt sich vom Naturraum ab. Dem entspricht, daß die dargestellte Natur schon übergangen ist in einen Zustand der Schrift. Die Naturkulisse der Wanderjahre hat sich von Anfang an in eine Zeichenlandschaft verwandelt, ist zum Ort eines kulturellen Wissens geworden. Schon die Kapitelüberschrift »Die Flucht nach Ägypten« läßt das Kapitel zum Palimpsest werden, das sich in ein symbolisches Archiv einschreibt. Um dieser Tatsache Gewicht zu verleihen verweist schon der erste Satz auf diese intertextuelle Sinndimension, indem er sich selbst als »bedeutend« ausweist: »Im Schatten eines mächtigen Felsens saß Wilhelm an grauser, bedeutender Stelle, wo sich der steile Gebirgsweg um eine Ecke herum schnell nach der Tiefe wendete.«139 Der »steile Gebirgsweg« figuriert den Prozeß des Romans: Die Wendung in die Tiefe stellt eine Metapher dar, in der die Relation von Oberfläche und Tiefe bezeichnet ist. Diese läßt sich nicht mit der dem Symbol eigenen Anschaulichkeit und Evidenz erfassen. Vielmehr sind die intertextuellen Gehalte in der Unsichtbarkeit und Unanschaulichkeit verborgen, die nur durch eine Arbeit der Lektüre ans Licht gebracht werden können. Häufig sind es mythologische Reminiszenzen, die mit der Romanhandlung verknüpft werden und ihr eine weitere Sinnschicht hinzufügen. Hannelore Schlaffer bezeichnet diese Relation als ›Diaphanie‹, aber der Begriff ist zu sehr vom Paradigma der Anschaulichkeit geprägt, der doch durch die Verrätselung der intertextuellen Bezüge widersprochen wird.140 Die Abwendung von der Sinnenwelt resultiert nämlich aus deren Aufspaltung in Schein und Bedeutung.141 Die Metapher des Katzengoldes reflektiert diesen Bruch und die daraus folgende notwendige Ausdifferenzierung des Wissens: Er [Wilhelm] bemerkte eben etwas in seine Schreibtafel, als Felix, der herumgeklettert war, mit einem Stein in der Hand zu ihm kam. Wie nennt man diesen Stein, Vater? sagte der Knabe. Ich weiß nicht, versetzte Wilhelm. Ist das wohl Gold, was darin so glänzt? sagte jener. Es ist kein’s! versetzte dieser: und ich erinnere mich, daß es die Leute Katzengold nennen. Katzengold! sagte der Knabe lächelnd: und warum? Wahrscheinlich weil es falsch ist und man die Katzen auch für falsch hält.142
Aus der Anschauung eines Dinges gewinnt man kein Wissen mehr – und das Wissen läßt sich nicht mehr durch die anschauende Wahrnehmung befriedi-
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Ebd. Unter ›Diaphanie‹ versteht Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister, das Durchscheinen des mythischen Sinns durch den manifesten Text: »Den diaphanen Charakter dieser Dichtung erzeugt das Durchscheinen mythologischer Hintergründe durch den oberflächlichen Sachverhalt einer fiktionalen Realität.« (Ebd., S. 3.) Vgl. hierzu auch Gerhard Neumann: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 955. GA 8, 11.
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gen. Längst gibt es für alles und für jeden Spezialisten, die die Dinge besser kennen als der umherwandernde Wilhelm. Durch Felix wird ein technischer Wissensbegriff in den Text eingeführt, Wissen ist hier im Sinn von Können und Kenntnis zu verstehen. So spricht er von den Jägern: Die Jäger wissen alles; [...] ich [...] will ein Jäger werden. Es ist gar zu schön den ganzen Tag im Walde zu sein und die Vögel zu hören, zu wissen wie sie heißen, wo ihre Nester sind, wie man die Eier aushebt oder die Jungen, wie man sie füttert und wenn man die Alten fängt: das ist gar zu lustig.143
Der Romanbeginn nimmt auf zwei Arten des Wissens bezug: Einerseits auf das sachliche Wissen der Handwerker und Fachleute, das auch den Fortgang der Handlung bestimmt. Beschrieben wird das Wissen der Jäger und der Pflanzer, der Ärzte und der Pädagogen, der Weber usw. Das Bild, das die Wanderjahre von der modernen Gesellschaft zeichnen, ist ein vollkommen nüchternes, pragmatisches; die Gesellschaft erscheint als ein in verschiedene Berufe und in diverse, scharf abgegrenzte Bezirke (Bezirk des Oheims, der pädagogischen Provinz, Verwaltungsbezirke, Staaten) aufgeteiltes Gebilde ohne Zusammenhang. Andererseits spielen auch verschiedene Bereiche des kulturellen Gedächtnisses eine Rolle – literarische, mythologische und ikonographische Bezüge begleiten und kommentieren den Text fortlaufend. Doch diese Wissensformen begründen nicht den Akt des Schreibens. Die Besonderheit des Romananfanges besteht darin, daß Wilhelm als Schreibender in den Text eingeführt und damit von Anfang an der Roman als Prozeß seines Geschriebenwerdens beobachtet wird. Denn was Wilhelm schreibt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Stelle, die der Leser in dem Moment liest, wo er das Buch aufschlägt. Das enthüllt sich aber erst im Fortgang der Handlung. Im weiteren Verlauf des Romans erfahren wir, daß Wilhelm während seiner Reise unentwegt mit der Niederschrift seines Tagebuchs beschäftigt ist, das er an Nathalie sendet und das dann ins Archiv der Turmgesellschaft wandert, aus dem der Roman gemacht wird. Der Redaktor, der das Ganze verfaßt, kann von der Eingangsszene nur durch das Tagebuch oder die Briefe Wilhelms gewußt haben; folglich muß zuerst Wilhelm geschrieben haben, was der Redaktor überarbeitet. Mit anderen Worten: Wenn Wilhelm zu Beginn erscheint als ein Schreibender, der »etwas in seine Schreibtafel [bemerkte]«, dann liegt der Schluß nahe, daß er gerade dabei ist, das zu schreiben, was der Leser lesen wird, wenn er den Roman aufschlägt. Der Formungs- und Überarbeitungsprozeß des Redaktors, der das Buch bereits vollendet hat, wird noch einmal auf die Handlungsebene gespiegelt und dadurch verzeitlicht: Was wir
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GA, 8, 11f.
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beobachten, ist das Entstehen des Romans in seiner Prozessualität. Wenn der schreibende Wilhelm zu Beginn des Romans diesen Beginn schreibt, handelt es sich um eine tendenzielle Vergleichzeitigung von Lektüre und Schrift. Gewiß: eine letzte Sicherheit hierüber läßt sich nicht gewinnen. Möglich wäre ja auch, daß Wilhelm etwas anderes schreibt als den Romananfang. Allerdings gibt gerade diese Ungewißheit der Stelle und dem Verfahren seine Bedeutung. Denn die Thematisierung des Schreibaktes auf der einen Seite, der Entzug der endgültigen Information auf der anderen verdeutlichen einmal mehr die archivpoetische Asymmetrie, die darin besteht, daß der Leser nicht auf die andere Seite dieser Schreibtafel gelangen kann, daß er also nicht die andere Seite der Grenze erreicht, die das Geschriebene darstellt und die Rolle von Produzent und Rezipient begründet. Zwischen dem Wissen, das mitgeteilt wird, und dem Akt des Schreibens, der dieses Wissen darstellt und in Beziehung setzt, klafft eine Lücke, ein Nichtwissen, eine Unsicherheit, die die Lektüre begleitet und sie ebenso wie die Schrift davor bewahrt, zur bloßen Wiederholung eines Gegebenen zu werden. Die dargestellten Dinge werden auf diese Weise von einer Lücke umgeben, das Wissen von einem Mangel gezeichnet, ohne den es keine Literatur geben könnte. Nicht die bloße Thematisierung des positiven Wissens, die nüchterne Benennbarkeit von Steinen und Vögeln und auch nicht die intertextuelle Tiefendimension des Textes selbst begründen die Literarizität des Romans, sondern die Tatsache, daß dieses Positive in eine Unsicherheit überführt wird, die den Prozeß des Schreibens und Lesens begleitet und mit Leben erfüllt. Eine andere Szene, die das Thema des Wissens und des Nichtwissens behandelt, ist das Bergfest in der Pädagogischen Provinz, auf dem es zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Geologie kommt. Die Rede ist hierbei »von nichts Geringerem [...] als von Erschaffung und Entstehung der Welt«.144 Bei der Darstellung der Diskussion greift Goethe auf bekannte wissenschaftliche Positionen zurück; aus seinem eigenen ›neptunistischen‹ Glauben hat er nie einen Hehl gemacht.145 Doch in der beschriebenen Diskusson wird der neptunistische Standpunkt in keiner Weise bevorzugt, vielleicht etwas weniger drastisch, dennoch nicht als siegreich oder wahrer dargestellt als die anderen. Die wissenschaftliche Diskussion wird insgesamt als vergeblicher Versuch, die Natur wie einen Roman zu lesen, aus den geologischen Zeichen eine Geschichte zu rekonstruieren, parodiert. Die Daten der Empirie werden von den verschiedenen Schulen unterschiedlich gedeutet, so daß am Ende dieser Diskurs restlos dekonstruiert wird und nur noch das Pro-
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GA 8, S. 283. Genaue Analysen zu der Auseinandersetzung von Vulkanisten und Neptunisten und zur poetologischen Deutung dieser Diskussion finden sich in Abschnitt IV.2.
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blem als solches zurückbleibt. Das Ergebnis der Debatte hinterläßt bei Wilhelm Verwirrung und »Verdüsterung«. Ihm schien, so heißt es, »unter diesen seltsamen Reden die so wohl geordnete, bewachsene, belebte Welt vor seiner Einbildungskraft chaotisch zusammenzustürzen.«146 Obwohl der literarische Text der Wanderjahre beständig auf nicht-literarische Diskurse zurückgreift und diese darstellt, interessiert er sich in keiner Weise für deren Wahrheit und begründet sich darum auch nicht als Darstellung von Wissen. Vielmehr wird der Anspruch, die Entstehung der Erde ein für allemal zu klären, abgewiesen: Solche Gewißheit ist nicht Sache der Literatur. Der Text führt vor, wie wissenschaftliche Meinungsbildung zu Mythologie wird, wie sie ihren Gegenstand vergißt, aber nicht, wie die richtige Meinung aussieht. Als Wilhelm seinen Freund Montan zur Rede stellt, warum dieser keine eigene Meinung bekundet habe, sondern immer versuchte, »die Meinung desjenigen der da sprach zu verstärken«,147 antwortet dieser: Du tadelst mich, daß ich einem jeden in seiner Meinung nachhalf, das ist wahr, eigentlich aber kann ich es mit diesem Geschlecht nicht mehr ernstlich nehmen. Ich habe mich durchaus überzeugt, das Liebste, und das sind doch unsre Überzeugungen, muß jeder im tiefsten Ernst bei sich selbst bewahren, jeder weiß nur für sich was er weiß und das muß er geheim halten.148
Es gibt keine Instanz, die man anrufen könnte, um hier zu einem sicheren Wissen zu gelangen: Dies verweigert der Roman, der zugleich das Archiv dieser Unsicherheit darstellt. Immerhin, obwohl die Wahrheit nicht gesagt wird und nicht gesagt, weil nicht gewußt werden kann, so bleibt doch am Ende, als Anreiz und Rätsel, das Problem. Wo Wilhelm an den Konsens glaubt, für den die Wahrheit all dieser Meinungen in der Mitte liegt, entgegnet Montan mit dem Bonmot, das die bisherigen Ausführungen zum Zusammenhang des Wissensproblems mit der Archivpoetik prägnant zusammenfaßt: »Keineswegs! [...] in der Mitte bleibt das Problem liegen, unerforschlich vielleicht, vielleicht auch zugänglich, wenn man es darnach anfängt.«149 Die Einheit des Wissens erscheint als ›Problem‹, als notwendige Annahme, die allerdings nicht in eine systematische Darstellung zu bringen ist. In dieser Abwesenheit eines gegenständlichen, substantiellen Fundaments des Wissens besteht zugleich das Leben der Literatur, die nicht nur die wissenschaftliche Diskursivität kritisiert, sondern in dem Fehlen der letzten Gewißheit ihre eigene Rolle findet. Während Wissenschaften wie die Geologie ihre Legitimation aus der Hoffnung beziehen, das Gewordensein und die Struktur der gegenständlichen
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GA 8, S. 284. Ebd. Ebd, S. 285. Ebd.
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Welt kohärent erklären zu können, und während die im Roman ausführlich geschilderte Praxis der Politik, Pädagogik etc., diese gegenständliche Welt nach ihren eigenen Maßstäben zu gestalten versucht, gestattet die Archivpoetik die Selbstbegründung des Romans bei gleichzeitiger Undarstellbarkeit des Ganzen. Durch die Archivpoetik werden exogene Wissensbestände aufgegriffen und zu Bestandteilen der fiktiven Welt gemacht. Durch ihre Überführung in eine ästhetische Ordnung werden ihre Wahrheitsansprüche relativiert und ihre Kontingenz ausgestellt. An dieser Stelle sei an den Brief an Carl Jakob Ludwig Iken erinnert, in dem Goethe sein poetisches Verfahren der Spiegelungstechnik beschreibt: Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.150
Die Spiegelungstechnik bezieht sich in den Wanderjahren nicht auf ein unsagbares Sein im ontologischen Sinn; vielmehr besteht sie darin, die Verfahren der Darstellung durch ihre Narrativierung in den Text hineinzuspiegeln und dadurch beobachtbar zu machen. Diese Selbstreferentialität ist begründet aus der Differenz zu anderen, nicht-literarischen Wissensformen. Der Roman besitzt keine externe Begründung seiner Verfahren, keine höhere Gewißheit oder Legitimation; jedoch gerade indem er seine eigene Kontingenz sichtbar macht und dann dieser Kontingenz neue Ordnung abgewinnt, unterscheidet er sich von dem dargestellten Wissen, das er inkludiert und beobachtet: Denn die Archivpoetik ermöglicht nicht nur die Selbstbeobachtung, sondern auch die Beobachtung der Operationen der anderen. Mit den bisherigen Untersuchungen der ›Archivpoetik‹ konnte der Zusammenhang der Wissenskrise mit einer Abkehr von der Gegenstandsdarstellung begründet und zugleich die in der Einleitung beschriebene ›Kluft‹ zwischen der Kommentierung von Wissen und der Selbstreferentialität des literarischen Texts geschlossen werden; in der Unterscheidung von dem ihm vorausliegenden Wissen, auf das sich der Text bezieht, wird dieses gleichermaßen in seiner Funktion beobachtet, delegitimiert, poetisch refunktionalisiert. So wird der Mangel dieses Wissens, seine fehlende Einheit, zur Bedingung eines neuen Poesiebegriffs.
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27.9.1827, FA II, 10, S. 548.
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4. Vom Roman zum Drama: Vorbemerkungen zum Faust II Im Unterschied zum Erzähltext verweist beim dramatischen Text die dargestellte Welt nicht auf eine alle fiktionalen Aussageakte begründende narrative Instanz: Es gibt keinen Erzähler, der die verschiedenen Aussagen integrieren könnte.151 Jede dramatische Person spricht ›ad hoc‹ in unvermittelter Weise. Im Faust II kann es daher auch nicht die Fiktion eines Redaktors geben; die Redaktorfunktion multipliziert sich vielmehr, indem jede Person des Stücks selbst zu einem Redaktor wird. Denn es ist kaum übertrieben zu sagen, daß alles oder fast alles im Faust II ein Zitat darstellt oder eine Anspielung auf andernorts archivierte Aussagen enthält. Die dramatischen Personen sind es, die dieses archivierte Wissen zirkulieren lassen. Doch hier muß sogleich eine Differenzierung eingeführt werden: Die Protagonisten leisten diese ›redaktionelle‹ Arbeit nur zum Teil bewußt. Es gibt nämlich mehrere Ebenen und Formen der Wissensintegration: a) Die dramatische Rede zitiert bewußt aus den Archiven oder spielt darauf in einer Weise an, die es erlaubt, von Absichten oder Motivationen der dramatischen Person zu sprechen. Ein Beispiel hierfür sind Chirons Darlegungen über Mythologie, in denen er bewußt zitierend verfährt (was später zu beweisen sein wird). b) Die dramatische Rede enthält Anspielungen, von denen nicht oder nicht sicher angenommen werden kann, daß die Figur sich dieser Tatsache bewußt ist. Thales und Anaxagoras wiederholen die Geologie der Goethezeit, ohne daß man sicher sagen könnte, sie wüßten das. Auch der Erzbischof am Ende des vierten Aktes wiederholt Bestimmungen der Goldenen Bulle, ohne es zu wissen. c) Die dramatische Person entstammt selbst dem Archiv. Das gilt von allen im Faust II auftretenden Figuren. Die Herkunft einer dramatischen Person aus dem Archiv kann besonders dann relevant werden, wenn sie in einem Spannungsverhältnis zur Rede dieser Person steht. d) Daneben können auch Nebentexte, Schauplätze, Requisiten und Attribute, sowie metrische152 und musikdramatische153 Formen auf Archive verweisen.
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Das ist Gemeingut der Dramentheorie. Vgl. z.B. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 7. Aufl., München 1988, S. 20: »[S]ieht sich der Rezipient eines dramatischen Textes unmittelbar mit den dargestellten Figuren konfrontiert, so werden sie ihm in narrativen Texten durch eine mehr oder weniger stark konkretisierte Erzählerfigur vermittelt.« Vgl. Markus Ciupke: Des Geklimpers vielverworrner Töne Rausch. Die metrische Gestaltung in Goethes »Faust«. Göttingen 1994. Vgl. die Studie von Tina Hartmann: Goethes Musiktheater. Singspiele – Opern – Festspiele – Faust. Tübingen 2004. Hartmann zeigt, daß Goethe bei der Gestaltung des Faust vielfach auf Formen des Musiktheaters zurückgreift, um auf diese Weise unterschiedliche Mythologeme zu ordnen. Der Rückgriff aufs Musiktheater führt dabei zu ebenso heterogenen Zusammenstellungen, wie die Aktualisierung aller anderen Archive.
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Alle diese verschiedenen Ebenen und Elemente der dramatischen Welt wirken bei der transformativen Repräsentation der Archive zusammen. Dies führt zu einer Streuung der Referenzen, die schwer oder gar nicht zu kontrollieren ist. Bei der Analyse sind diese Ebenen und Elemente zu isolieren – sofern und soweit das der jeweiligen Stelle und dem Erkenntnissinteresse nützt. Um die vielfältigen Archive ordnen zu können, bedarf es nicht nur ihrer Verknüpfung mit einzelnen, stark individualisierten Figuren, sondern auch der Lokalisierung: Die Figuren und das von ihnen repräsentierte Wissen werden bestimmten Orten zugewiesen, an denen sie sich befinden. So lassen sich Wissensformen räumlich und personal gliedern. Die Orte besitzen dabei oft eine mnemonische Energie: Mit dem Beschreiten eines Schauplatzes werden bestimmte Regionen des kulturellen Gedächtnisses aktiviert und der Übergang von einem Platz zum nächsten ist im Faust II immer mit einem Wechsel des/ der Archive verbunden. Um nur ein Beispiel zu nennen, das die Intention der folgenden Analysen veranschaulicht: Gebirgslandschaften sind im Faust II stets verbunden mit der Frage nach der Verläßlichkeit der Erde. Die Differenz von solidem Grund, im vierten Akt verbunden mit Fausts Annahme, das Hochgebirge bestehe aus Granit, und schwankendem metamorphotischem Gelände liefert eine semantische Matrix, der bestimmte Wissensformen zugeordnet werden. Mit dieser Tendenz zur Lokalisierung des Wissens schreibt Goethe älteste Mnemotechniken fort. Die Pointe dieses Verfahrens der Wissensintegration durch die Kombination von dramatischer Person, Rede und Ort besteht darin, daß die gesamte dargestellte Welt des Faust II sich aus der Doppelfunktion der Vergegenwärtigung von Archiven und ihrer Integration in den Gang der Handlung verstehen läßt.154 Die Architektur, die Topographie, das Personal hat nie nur einen Zweck für sich selbst, es ist Funktion der Archive und zugleich deren Element. Es handelt sich um einen Gedächtnistext im Sinn Renate Lachmanns. Was sie über die Praxis von intertextuellen, kombinatorischen Texten schreibt, läßt sich umstandslos auf Faust II übertragen:
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Auch Helmut Schanze: Goethes Dramatik. Theater der Erinnerung. Tübingen 1989, widmet sich dem Thema der Erinnerung. Er betont, daß diese einen mediengeschichtlichen (ebd., S. 2) und einen produktionstheoretischen Aspekt habe. Der mediengeschichtliche Gesichtspunkt besteht in der Berücksichtigung der rhetorischen Mittel, mit deren Hilfe Goethes Dramen die Handlung vergegenwärtigen, um »den maximalen Direktheitsgrad« (ebd., S. 1) dramatischer Repräsentation zu erreichen. Unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten müsse an Faust II die Wiederaneignung der Tradition untersucht werden: »War das Produktionsprinzip des ersten Teils des Faust die Schöpfung aus dem Ich, so ist das Prinzip des zweiten das der Schöpfung aus der Welt der Überlieferung. Gerade deren unbefragte Selbstverständlichkeit für die Goethezeit macht den zweiten Teil so unverständlich für das 19. Jahrhundert wie für unsere Gegenwart.« (Ebd. S. 10.) In meinem Verständnis stellt sich die Spannung zwischen dramatischer Vergegenwärtigung und Aneignung der Tradition dagegen gerade aus dem Verlust der Selbstverständlichkeit der Tradition für Goethe ein, ein Verlust, der die Semiose des Dramentextes in ihrer Rätselhaftigkeit und Vieldeutigkeit erst ermöglicht.
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Zum einen entwerfen diese Texte selbst einen Gedächtnisraum und treten in einen sich zwischen den Texten erstreckenden Gedächtnisraum ein, zum andern konstruieren sie Gedächtnisarchitekturen, in die sie mnemonische Bilder deponieren, die an Verfahren der ars memoriae orientiert sind.155
Diese Konstruktion von Gedächtnisräumen und -architekturen und die Deponierung von mnemonischen Bildern entspricht dem Verfahren Goethes, die Geister, Masken, Allegorien seines Textes an bestimmte Orte zu binden und mit einem bestimmten Wissen zu verknüpfen. Weiterhin: Die Ästhetik des Gedächtnisses entfaltet sich in der komplexen Gestaltung von innertextlichen Gedächtnisräumen und deren Semantisierung. So wie der Text in das Gedächtnistheater der Kultur als in einen Außenraum eintritt, entwirft er dieses Theater noch einmal, indem er die anderen Texte in seinen Innenraum hereinholt.156
Indem Faust II den Außenraum der Archive in sich hineinnimmt, entsteht auch hier die bereits an den Wanderjahren konstatierte Einheit von Integration und Desintegration: Alles weist über das Drama hinaus auf das Archiv, dem es entstammt – aber dieses kommt nie in seiner Originalgestalt zu Gesicht. Die Gedächtniskunst läßt sich nicht nur lesen als Verfahren, mit dessen Hilfe sich literarische Texte eine Gedächtnis- bzw. Wissensordnung schaffen können. Über die pragmatisierende Funktion hinaus kommt der ars memoriae eine weitreichende ästhetische Bedeutung zu.157 Diese besteht im rhetorischen Begriff der imago. Wenn die antike Rhetorik in der Tradition des Herenniusautors lehrt, Wissensgehalte in mnemonische Bilder zu übersetzen, so liegt dem ein amimetisches Bildverständnis zugrunde. Denn das simulacrum bzw. die imago agens kann nicht als Abbild einer Sache verstanden werden. Im Gegenteil – es transformiert die zu erinnernden res oder verba in der Weise, das sie Prägnanz erhalten, um den Preis ihrer totalen Entstellung. Denn entscheidend für die Funktion der Gedächtnisbilder ist ihre assoziative Kraft: Dem Redner muß, wenn er im Geist das Bild aufruft, die Sache wieder einfallen. Diese
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Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a.M. 1990, S. 35 Ebd. Zu folgenden Ausführungen vgl. Wolfgang Neuber: Wahrnehmungen an der Oberfläche des Denkens. Zur Kanonkonstruktion der mnemonischen Literatur bei Frances Yates. In: Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder. Hg. von Heinz Drügh und Maria Moog-Grünewald. Heidelberg 2001, S. 57–70. Neuber beklagt zu Recht die einseitige »imaginatio-Fixation« bestimmter Gedächtniskonzepte, deren Bevorzugung durch Frances Yates zu einem »mnemonischen Kanon« geführt habe (ebd., S. 67), der die wissenschaftsgeschichtliche Rationalität der Gedächtniskunst unterschlage (ebd. S. 59). Trotz dieser Einschränkungen ist die Reformulierung der Gedächtniskunst zu einer Texttheorie fruchtbar, wenn man sie zu Beschreibung von intertextuellen Verfahren heranzieht und dabei ihren jeweiligen diskursgeschichtlichen Ort berücksichtigt.
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Assoziativität werde aber, so der anonyme Verfasser der Rhetorica ad Herennium, durch eine besondere Eindrücklichkeit des Bildes und nicht durch das Kopieren des Originals erreicht.158 Sieht etwa ein Mensch, an dessen Namen man sich erinnern will, zu gewöhnlich aus, dann soll man ihn verzerren – ins Groteske, gar ins Obszöne, weil eine so einprägsame Figur dem Gedächtnis sicherer hilft, als eine unauffällige: Imagines igitur nos in eo genere constituere oportebit, quod genus in memoria diutissime potest haberi. Id accidet, si quam maxime notatas similitudines constituemus; si non mutas nec vagas, sed aliquid agentes imagines ponemus; si egregiam pulcritudinem aut unicam turbitudinem eis adtribuemus; si aliquas exornabimus, ut si coronis aut veste purpurea, quo nobis notatior sit similitudo; aut si quam rem deformabimus, ut si cruentam aut caeno oblitam aut rubrica delibutam inducamus, quo magis insignita sit forma; aut si ridiculas res aliquas imaginibus adtribuemus; nam ea res quoque faciet, ut facilius meminisse valeamus. Nam quas res veras facile meminimus, easdem fictas et diligenter notatas meminisse non difficile est.159
Der Begriff der similitudo, den die Übersetzung mit »Ähnlichkeit« wiedergibt, bezeichnet, wie der Kontext der Stelle belegt, keinesfalls eine Abbildfunktion des Bildes, sondern einen autonom festgelegten Vergleichspunkt, dem eine Gedächtnisfunktion zugewiesen wird. Was der Herenniusautor und seine Nachfolger mit dem Begriff der imago agens konzipieren, sollte überdies nicht im engen Sinn als ›Bild‹ – also nicht als hauptsächlich visuelle Codierung – verstanden werden; es geht eher um Fiktionalisierung im Sinn einer Übersetzung von Wissen in eine fiktive Szenerie. Das fertige Gedächtnisbild hat einen doppelten Charakter. Es hat einerseits seinen eigenen fiktionalen Gehalt, eine semantische ›Oberfläche‹, die sich durch eine Beschreibung erfassen läßt; andererseits meint diese Oberfläche etwas anderes, das darin verborgen ist – so verweist das ›Gedächtnisbild‹, der mnemonische Signifikant, intertextuell auf
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Die Theorie der psychischen Kraft der Bilder, Assoziationen auszulösen, ist verbunden mit aristotelischen Vorstellungen über Phantasie und Gedächtnis. Vgl. zu diesem Zusammenhang Frances A. Yates: The Art of Memory (1966). London 1992, S. 42–63. Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-Deutsch. Hg. und übers. von Theodor Nüßlein. München/Zürich 1994, III, 37. Die deutsche Übersetzung lautet: »Bilder müssen wir also in der Art festlegen, die man am längsten in der Erinnerung behalten kann. Das wird der Fall sein, wenn wir ausnehmend bemerkenswerte Ähnlichkeiten festlegen; wenn wir nicht stumme und unbestimmte Bilder, sondern solche, die etwas in Bewegung bringen, hinstellen; wenn wir ihnen herausragende Schönheit oder einzigartige Schändlichkeit zuweisen; wenn wir irgendwelche Bilder ausschmücken wie mit Kränzen oder einem Purpurkleid, damit die Ähnlichkeit für uns um so bemerkenswerter sei; oder wenn wir sie durch etwas entstellen, z.B. eine blutige oder mit Schmutz beschmierte oder mit roter Farbe bestrichene Gestalt einführen, damit diese um so hervorstechender sei, oder irgendwelche lächerliche Züge den Bildern verleihen; denn auch dies wird bewirken, daß wir sie uns leichter einprägen können. Denn diese Dinge, welche wir uns leicht einprägen, wenn sie echt sind, prägen wir uns auch unschwer ein, wenn sie erdacht und sorgfältig gekennzeichnet sind.« (Ebd., S. 177.)
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eines oder mehrere Archive. Dies führt zu Doppel- und Mehrfachcodierungen:160 der Signifikant verweist einerseits auf den syntagmatischen Sinn eines Zeichens im gegebenen Text, andererseits auf einen verborgenen Sinn. Entscheidend daran ist, daß die gegebene Welt dadurch als eine Überformung anderer Texte gelesen werden kann. Man sieht: Die Archiv- und Redaktorfiktion der Wanderjahre läßt sich mit Hilfe der ars memoriae als intertextuelle Transformationsarbeit verstehen. Faust II ist ein Gedächtnisdrama – aber nicht im Sinne einer Wiederkehr der Vergangenheit. Im Gegenteil: Die Gedächtnistheorie der ars memoriae und ihr Ausbau zu einer Intertextualitätstheorie implizieren einen Gedächtnisbegriff, bei dem die Fiktion das Gewesene nicht einfach wiederholt, sondern in eine eigenständige Bildwelt übersetzt, die ihr Geheimnis nicht ohne weiteres preisgibt. Auch der Rätselcharakter des Faust II kann mit Hilfe dieses mnemonischen Transformationsbegriffes beschrieben werden. Das Spiel von »Verhüllung« und »Offenbarung« (so Thomas Gelzer)161 betrifft in erster Linie das Entdecken der verborgenen intertextuellen Referenzen. Jedoch interessieren nicht diese selbst: Ihre Entdeckung verschafft dem Text die Möglichkeit der Selbstbeobachtung im Medium der fremden Texte. Dieser Begriff der Gedächtnisarbeit geht auch über das Thema und das Motiv des Erinnerns und Vergessens im Faust II hinaus.162 Die Intertextualität des Dramas ›überströmt‹ das Bewußtsein seiner Protagonisten, nicht nur im Modus einer psychologischen Erinnerung oder einer bewußten Zitierung, sondern auf allen Ebenen dringt das fremde Wissen in den Text ein. Eine wichtige Differenz zu den Wanderjahren ist der Medienwechsel beim Übergang vom Roman zum Drama. Die Wanderjahre stehen von Beginn an unter der Herrschaft der Schrift, die jede Repräsentation in eine Distanz rückt. Die Protagonisten sind unablässig mit der Lektüre von Novellen, dem Lesen und Schreiben von Briefen und anderen Textformen befaßt. Die Resultate dieses Schriftverkehrs bilden den Kern des Archivs, sie sind das hauptsächliche Material des Redaktors. Auch die nicht-schriftlichen Formen des Gesangs
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Vgl. hierzu Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 85. Thomas Gelzer spricht von einer »Poetik des Rätsels«, die er folgendermaßen beschreibt: »Sorgfältiges Verhüllen von Geheimnissen, für deren Offenbarung er [Goethe, S.S.] aber im Text mehr oder weniger offene Signale gibt, eine vielschichtige Ironie, hohe Bildungsanforderungen an den Leser, namentlich auch an den ›guten Kenner des Altertums‹, liegen dieser Konzeption der Dichtung zugrunde.« (Thomas Gelzer: Das Fest der Klassischen Walpurgisnacht. In: Aufsätze zu Goethes ›Faust II‹. Hg. von Werner Keller. Darmstadt 1991, S. 123–137, hier S. 123.) Zu den individuellen Strategien der Erinnerung und den Versuchen Fausts, sich im kulturellen Gedächtnis zu etablieren vgl. Peter Matussek: Faust II. Die Tragödie der Gedächtniskultur. In: Peter Stein inszeniert Faust von Goethe. Das Programmbuch Faust I und II. Hg. von Roswitha Schieb und Peter Stein. Köln 2000, S. 291–296.
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und des Bildes werden nur in der Vermittlung durch eine präzise kalkulierte Um-Schrift dargestellt. Der Fluchtpunkt dieser verschiedenen Dokumentationsakte ist das Archiv der Turmgesellschaft und die Redaktionstätigkeit, die aus dem Archivierten einen Roman erzeugt. Die Ethik der Schrift, die diesen Roman prägt, ist, wie wir gesehen haben, eine Ethik der Distanz, die sich bewußt gegen die »veloziferische Tendenz« der Zeit richtet. Diese Ethik bedingt auch den Charakter des Archivs der Wanderjahre, das streng seligiert: Es handelt sich beim Archiv Makaries wie bei dem der Turmgesellschaft um die Dokumentation kleiner Gruppen, um ein institutionelles Gedächtnis, das sich auf einen kleinen und beschränkten Benutzer- und Adressatenkreis bezieht. Mit der Dramatisierung der Archivpoetik geht eine Ausweitung des Archivs auf das kulturelle Gedächtnis einher, das weite Bereiche der damals bekannten Kultur umfaßt. An die Stelle strenger Selektion und institutioneller Seriosität tritt eine Lust an der Verschwendung und der spielerischen Verausgabung der Archive. Faust II nutzt alle Möglichkeiten des dramatischen Textes aus, um größtmöglichen Spektakelwert zu erzielen. Mit den unterschiedlichen Medien, die der Text für den Fall seiner Inszenierung vorsieht, den großen Massenszenen wie der »Mummenschanz« und der »Klassischen Walpurgisnacht«, der Vielfalt von Formen, Metren und der kulturgeschichtlichen Weite des Dargestellten wird die Dramatisierung des kulturellen Gedächtnisses statt Distanz angestrebt. Daneben ist für Faust II die starke Individualisierung des Wissens – sein Gebrauch durch die Figuren und deren oft agonales Verhalten charakteristisch. Figuren verspotten sich, widersprechen sich, streiten und diskutieren unter beständigem Bezug auf kulturelles Wissen, so daß ein offenes Feld unterschiedlicher Ansichten und Meinungen entsteht, das noch weniger als die Aussagen der Wanderjahre in ein sinnvolles Ganzes integriert werden kann. Dieser ›Drang zur Präsenz‹, der den dramatischen Text auszeichnet, erhält im Falle der Archivpoetik eine besondere Bedeutung. Die Präsenz der dargestellten Welt wird auf etwas Absentes bezogen: auf die verschiedenen Archive. Unter dem Aspekt ihrer Medialität besteht die Gedächtnisarbeit des Faust II darin, die tote Schrift der Archive in die leibhaftige Präsenz des Dramas zu verwandeln. Dieses Präsenzbegehren wird im Stück mit den Begriffen des ›Vor-Augen-stellens‹ und ›Zur-Schau-bringens‹ bezeichnet; es findet seinen prägnantesten Ausdruck in Fausts Begehren, Helena zu verlebendigen. Doch das Streben nach Präsenz wird von der gleichzeitigen Abwesenheit der Archive und Speicher durchquert. Was sich im dramatischen Text lebendig und präsentisch darstellt, läßt sich entschlüsseln als ein Medium der kulturellen Erinnerung, als ein Wiedergänger, der aus den Archiven erstanden ist und sie (noch einmal) vor Augen stellt. In diesem Raum zwischen der Präsenz des Dargestellten und seiner gleichzeitigen Absenz, die es als Element der Archive besitzt, siedelt sich das Drama an als Spiel zwischen Tod und Leben, zwischen Gedächtnis und Gegenwart. Das Medium der Erinnerung zielt einerseits auf 75
einen Präsenzeffekt ab, indem das Erinnerte noch einmal ›zur Schau‹ gebracht wird, andererseits dekonstruiert es diesen präsentischen Gestus, weil der Text als geisterhafte Wiederholung längst verstorbener Personen und exogenen Wissens ausgewiesen wird. Diese Hinweise zu den Grundlagen der Archivpoetik im Faust II genügen, um mit der Analyse zu beginnen. Nähere Bestimmungen können nur durch die Textarbeit gewonnen werden. Dies geschieht im nächsten Kapitel, in dem die Verfahren der Archivpoetik am Beispiel Thessaliens und der Hexe Erichtho untersucht werden.
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III. Thessalien – Das Gedächtnis einer Landschaft
1.
Die thessalische Muse
Der Schauplatz der »Klassischen Walpurgisnacht« ist die griechische Landschaft Thessalien. Thessalien bietet sich aus mehreren Gründen an: Beflügelt die an mythischen Geschichten reiche Gegend die dramatische Phantasie und reizt sie diese zu Experimenten kühnster Art, so entspricht die Reise nach Thessalien auch Fausts Wunsch, Helena zum Leben zu erwecken. Dafür muß er in den Hades hinabsteigen, um Helena von Persephoneia freizubitten. In Thessalien existierte der antiken Überlieferung gemäß ein Einstieg in die Unterwelt.1 Faust wird durch seinen Abstieg zu den Toten und sein Vorhaben, die Geliebte wieder ins Leben zu holen, zum mythologischen Doppelgänger sowohl des Orpheus wie des Achilles,2 zugleich gibt es Textsignale, die Fausts Katabasis mit der des Aeneas in Zusammenhang bringen.3 Die mythologische Beziehung von Faust und Achilles liefert eine weitere Erklärung für die Wahl des Schauplatzes Thessalien, befand sich doch dort die Heimat Achills, nämlich in Pharsalus.4 Ein weiterer Grund liegt in der Beziehung zur Magie. Thessalien galt als antikes Land der Zauberei,5 als Heimat der berühmten thessalischen
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Dieser befand sich bei Pherai, einer bedeutenden thessalischen Stadt, die mit der Geschichte des Königs Admetos verbunden ist. Seine Rettung durch die Gattin Alkestis, deren Tod und Befreiung aus dem Hades durch Herakles bzw. Kore spielt sich laut Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexicon [...]. 2. Aufl., Leipzig 1770 (Reprint Darmstadt 1996), Art. »Admetus«, und Apollodoros (vgl. Βιβλιοθκη / The Library. With an English Translation by James George Frazer. Cambridge, Mass./London 1995, 1, 104f.) in Pherai ab, ohne daß dort ausdrücklich ein Zugang in die Unterwelt erwähnt wäre. Allerdings muß betont werden, daß Goethe nicht an einen Abstieg in Pherai, sondern »in des Olympus hohlem Fuß« dachte (V. 7491). Beide Mythen werden miteinander verschränkt: Wie Achilles erhält er Helena nach ihrem Tod wieder – Achill von seiner Mutter Thetis, Faust von den Müttern, dem mythologischen Archiv; die Parallele zu Orpheus ist durch die Katabasis und angedeutete Losbittung Helenas gegeben. Vgl. auch Paralip. 123C (FA I, 7/1, S. 643), wo Faust als »zweyter Orpheus« bezeichnet wird. Besonders die Figur der Manto erinnert an die Sybille in der Aeneis. Vgl. Publius Vergilius Maro: Aeneis / Enéide. Texte établi et traduit par Jacques Perret. Paris 1987–92, 6, Vv. 45ff. Vgl. Marcus Annaeus Lucanus: Pharsalia, 6, V. 350. (Im folgenden nach dieser Ausgabe zitiert: Marcus Annaeus Lucanus: Bellum civile / Der Bürgerkrieg. Hg. u. übers. von Wilhelm Ehlers. München 1973.) Vgl. Caius Plinius Secundus: Naturalis historiae libri XXXVII / Naturkunde. Lat-dt. hg. und übers. von Roderich König. Darmstadt 1973ff., XXX,6.
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Hexen und lieferte etwa bei Apuleius6 und Lucan den lokalen Hintergrund für die Schilderung magischer Praktiken. Die Magie spielt beim Verständnis der »Klassischen Walpurgisnacht« eine eminente Rolle, wie in diesem Kapitel gezeigt wird. Neben diesen drei wohl wichtigsten Berührungspunkten kamen Goethe sicher noch andere Aspekte des thessalischen Archivs entgegen: Dort lag der Schauplatz der Schlacht von Pharsalus, die als entscheidend für den Ausgang des römischen Bürgerkriegs gilt. Deren Beschreibung durch Lucan lieferte Goethe wichtiges Material zur Erd- und Kulturgeschichte, zur Magie und zum Krieg, Elemente, die in der ausgestalteten Szene von Bedeutung sind: Es handelt sich um antikes Wissen, das aktuellen Fragen der Goethezeit in wesentlichen Punkten entgegenkam und sich darum zur Gestaltung im Drama besonders gut eignete. Thessalien stellt als Referenz der »Klassischen Walpurgisnacht« nicht nur eine geographisch lokalisierbare Landschaft dar. Es handelt sich dabei eher um einen diffusen Text, der sich aus einer keineswegs einheitlichen, oft widersprüchlichen antiken Imagination speist. Thessalien bezeichnet eine imaginäre Landschaft, die aus mythologischen, real- und naturgeschichtlichen sowie literarischen und ikonographischen Elementen zusammengesetzt ist. Dieser imaginäre Raum wurde von den Texten, die sich auf ihn bezogen, neu geformt und verändert und kann so als eine Bezeichnung für die undarstellbare, weil widersprüchliche und nicht-totalisierbare Summe aller Vorstellungen über Thessalien aufgefaßt werden. Es handelt sich hier um einen ›Gedächtnisort‹ im Sinne einer kulturellen Vorstellung, bei der sich reale Referenzen, Topoi, Klischees, literarisches, kulturelles und wissenschaftliches Wissen unauflösbar verbinden und vermischen.7 Der Goethesche Text, der an dieser Landschaft weiterschreibt, kann darum keine identische Wiederholung einer klar umrissenen Gegend und eines sicheren Wissens darstellen, sondern eine weitere Bearbeitung, die sich in die schon bestehende Intertextualität Thessaliens einschreibt, an diesem großen Text weiterschreibt, indem sie sich der antiken Vorgaben bedient, um diese zu verändern und etwas Neues zu gestalten.
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Vgl Apuleius Madaurensis: Metamorphoses / Metamorphosen. With an English Translation by John Arthur Hanson. Cambridge, Mass./London 1989. 1, 3; 1, 8ff; passim. Thessalien besitzt daher die Charakteristiken der »lieux de mémoire«, wie Pierre Nora sie beschreibt: »À la différence de tous les objets de l’histoire, les lieux de mémoire n’ont pas de référents dans la réalité. Ou plutôt ils ont à eux-mêmes leur propre référent, signes qui ne renvoient qu’à soi, signes à l’état pur. Non qu’ils soient sans contenu, sans présence physique et sans histoire ; bien au contraire. Mais ce qui en fait des lieux de mémoire est ce par quoi, précisément ils échappent à l’histoire. Templum : découpage dans l’indéterminé du profane – espace ou temps, espace et temps – d’un cercle à l’intérieur duquel tout compte, tout symbolise, tout signifie. En ce sens, le lieu de mémoire est un lieu double ; un lieu d’excès, clos sur lui-même, fermé sur son identité et ramassé sur son nom, mais constamment ouvert sur l’étendue de ses significations.« Pierre Nora: Entre mémoire et histoire. La problématique des lieux. In: Les lieux de mémoire. Bd. I: La république. Sous la direction de Pierre Nora. Paris 1984, S. XV–XLII, hier S. XLI.
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Darum bleibt die Aufzählung von Entsprechungen zwischen Goethes Text und seinen Referenztexten unbefriedigend, solange nicht geklärt wurde, welche literarische Konzeption überhaupt hinter dem Anknüpfen an ein für die Zeit Goethes bereits so entlegenes Wissen stehen könnte, und in welcher Weise sich die »Klassische Walpurgisnacht« durch die Bezugnahme auf das Archiv Thessalien in Traditionen ein- bzw. diese umschreibt. Nur mit Hilfe einer Untersuchung, die die intertextuelle Arbeit an den Referenztexten verfolgt, können Aufschlüsse über die Verfahren und deren Funktion erlangt werden. An Goethes Vorgehen fällt zunächst auf, daß er die unterschiedlichsten Vorlagen benutzt und sein Thessalien zu einem höchst disparaten Teppich aus verschiedensten Elementen zusammenwebt: So werden Textbruchstücke unterschiedlichster Herkunft ausgewählt und miteinander kombiniert.8 Dadurch entsteht etwas Eigenständiges, das in jedem seiner Elemente als Anspielung, Zitat, Parodie lesbar ist, in seiner Ganzheit ein äußerst komplexes intertextuelles Spiel ergibt, bei dem die Einzeltextreferenzen angesichts ihrer bloßen Vielfalt bisweilen fast bedeutungslos zu sein scheinen. Dieses Verfahren der Selektion und Kombination läßt sich auch mit Renate Lachmanns Begriffspaar der ›Anagrammatisierung und ›Kontamination‹ beschreiben.9 Die Selektion von Elementen aus Referenztexten führt zu deren anagrammatischer Streuung: Die intertextuellen Beziehungen, Anspielungen und Zitate verbergen sich, indem sie zerstückelt und in einzelnen Bruchstücken über den ganzen Text verteilt werden, so daß ihre Präsenz nur für den Spurenleser, der die Glieder der zerstreuten Poeten wieder einsammelt und zusammenfügt, deutlich ist. Zugleich werden sie untereinander neu kombiniert. Aus solchen Zusammensetzungen verändern die Referenztexte ihren ursprünglichen Sinn, sie relativieren, perspektivieren, kommentieren sich gegenseitig. Obwohl eine Fülle fragmentierter Texte in der »Klassischen Walpurgisnacht« vorkommt, gibt es darunter solche von größerer und solche von geringerer Bedeutung. Besonders für die Gestaltung der Landschaft und für die versteckte Magieproblematik ist Lucans Pharsalia, auch unter dem Titel Bellum civile bekannt, zu nennen. Man weiß natürlich längst, daß dieser Text für Goethes literarische Gestaltung der »Klassischen Walpurgisnacht« von Bedeutung war. Aber es gibt keine intertextuelle Studie zur Funktion dieser Bezüge. Lucans Epos liefert, wie im folgenden belegt wird, die Grundstruktur für das Geschehen, und zwar erstens in der beschriebenen Form anagrammatischer Präsenz. Es sind einzelne Elemente aus diesem Text, die Goethe herausgreift und mit Elementen anderer Texte kontaminiert, wobei jedoch der Referenztext Lucans
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Die Literatur zu den Referenztexten der »Klassischen Walpurgisnacht« ist fast unüberschaubar. Was davon neben den üblichen Kommentaren benutzt wurde, wird an der angebrachten Stelle zitiert. Zu beiden Begriffen vgl. R. Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 61f.
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in dieser Veränderung der Form in der Struktur der »Klassischen Walpurgisnacht« aufgerufen bleibt. Zweitens findet dieses intertextuelle Verfahren seine Personifikation in Erichtho, die Goethe direkt von Lucan übernahm, und der die folgende ausführliche Interpretation gewidmet ist. Den deutlichsten Hinweis auf Lucans Pharsalia liefert deren wohl prominenteste mythische Figur: der Auftritt der Erichtho,10 die in der antiken Literatur nur bei Lucan vorkommt und dessen eigenste Erfindung darstellt,11 verweist unübersehbar auf das Epos – schon durch die bloße Nennung ihres Namens, spätestens aber durch ihre Interpretation des römischen Bürgerkriegs, etabliert Faust II eine Bezugnahme auf Lucan.12 Häufig wird in der Forschung der Gegensatz von Tod und Leben, Geschichte und Natur zur Deutung Erichthos herangezogen.13 Erichtho erscheint dann als Allegorie des Todes und der geschichtlichen Welt, die weichen müsse, weil sie, wie es im Text heißt, »Leben wittert« (V. 7036). In diesem Sinn schreibt z.B. Gert Mattenklott über Erichtho: Daß die Muse des Todes das Feld räumen muß, als Faust mit seinen Begleitern naht, hat mit ihrer allegorischen Bedeutung zu tun. Mit Erichtho wird das Schauderhafte, das bloß Negative der historischen Vergangenheit bezeichnet. Ihr Tun erschöpft sich in geschichtlicher Schattenbeschwörung, magisches [!] Hervorrufen von Gespenstern.14
Erichtho ist aber nicht nur Muse der Geschichte, wie Mattenklott15 und vor ihm schon Kommerell schreiben,16 sie ruft vielmehr drei unterschiedliche Archive auf, die sich mit Thessalien traditionell verbinden. Es handelt
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Bei Lucan heißt sie Erictho. Im folgenden heißt es Erictho, wenn die Hexe Lucans, und Erichtho, wenn die Goethesche Hexe gemeint ist. Sie kommt nicht bei Lukian (von Samosata) und nirgends bei Vergil vor, wie Mattenklott schreibt. Sie ist auch nicht die »Wahrsagerin des Pompejus, der [...] eben hier von Cäsar besiegt« wurde, sondern von Sextus Pompejus, dem Sohn des von Cäsar besiegten Pompejus Magnus, auf den Erichtho in ihrem Prolog bei Goethe anspielt. Vgl. Mattenklott: Faust II, S. 421. Zur Verwechslung Erichthos mit Ovids Enyo vgl. die Anmerkungen von Werner Rutz: Einleitung. In: Lucan. Hg. von Werner Rutz. Darmstadt 1970, S. 1, Anm. 1. Die Lektüre der Pharsalia durch Goethe ist bezeugt. So finden sich auf dem Paralipomenon HP 140 zwei Verse aus diesem Epos (vgl. FA I, 7/1, S. 627). Auch gibt es einen Tagebucheintrag vom 5. April 1826, der die Lektüre des 6. Buchs des Epos belegt, vgl. WA III,10, S. 181. Vgl. zu dieser Deutung Erichthos Dorothea Lohmeyer: Faust und die Welt, S. 201f.: »[...] Erichtho tritt auf, um alsbald wieder abzutreten. [...] ›Düster‹ (V. 7006) und ›gespenstisch‹ (V. 7046) von Aussehen, trägt sie ganz die Züge des Todes, wie die Antike sich ihn dachte: als ein Nichthaben an Leben, eine Gier vom Leben der Lebendigen sich zu nähren. [...] Wenn sie also verschwindet, sobald sie Leben wittert, so flieht mit ihr aus der Wiederkunft der Antike der Hauch des Schauderhaften, Modrigen, Nur-Gewesenen.« Mattenklott: Faust II, S. 421f. »Erichtho ist in der Tat die Muse [des] immergleichen historisch-politischen Geschiebes, als welches sich für G. das Ringen zwischen den politischen Kräften [...] darstellt.« (Ebd., S. 422.) Vgl. Max Kommerell: Faust zweiter Teil. Zum Verständnis der Form. In: ders., Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe – Schiller – Kleist – Hölderlin. 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1991, S. 9–74, wo Erichtho als »die bedenkliche Muse der Wiederbelebungen [...], ferner der
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sich um das Archiv der Literatur, um die Geschichte und die Mythologie. In erster Linie ist Erichtho nicht eine Allegorie des Todes, sondern eine intertextuelle Muse der Erinnerung, die einen deutlichen Literaturbezug markiert und damit eine implizite Aufforderung an den wachsamen und für intertextuelle Referenzen sensiblen Leser formuliert. Diese besagt: Lies Lucan und sieh nach, ob du dort nicht wertvolle Hinweise für diesen dunklen Text finden kannst, den ich und die andern Fabelwesen hier (im Faust II) sprechen. Da sie alle mit Thessalien verbundenen Archive anspricht, läßt sie sich auch als Muse des Gedächtnisortes Thessalien verstehen. Zu diesem Gedächtnisort gehört seit jeher die Integration des unterschiedlichen Wissens: als erd-, kultur- und welthistorische Landschaft, als Heimat der Magie, und als mythologisches Gebiet überlagern sich in Thessalien verschiedene Schichten des kulturellen Wissens. Wer in Erichtho nur die Gegenspielerin der bevorstehenden Naturfeier erkennt und sie lediglich als Muse der toten Geschichte versteht, bleibt an der Oberfläche des Textes stehen und wiederholt die Differenzen, die Erichtho in ihrer eigenen Rede produziert, ohne sich weiter darum zu kümmern, woher diese Figur stammt und welche Funktion für Goethes Text die Lucanreferenz besitzen könnte. Vor allem aber sitzt der kaum verhüllten Ironie Erichthos auf, wer ihre Äußerungen nicht näher betrachtet. Erichthos Prolog ist eine geschickte simulatio,17 in der sie den Rezipienten über ihren Charakter täuscht.18 Mit ihren ersten Versen weist sie jegliche Literarizität von sich, indem sie für sich ein biographisches Copyright in Anspruch nimmt, das sie gegen ihre Schilderung durch die Dichter verteidigt: Zum Schauderfeste dieser Nacht, wie öfter schon, Tret’ ich einher, Erichtho, ich die düstere; Nicht so abscheulich wie die leidigen Dichter mich Im Übermaß verlästern... Endigen sie doch nie, In Lob und Tadel... (Vv. 7005–7009)
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an gleichem Ort unter gleichen Sternen sich wiederholenden Geschichtswenden« bezeichnet wird. (Ebd., S. 38f.) Eine rhetorische, wirkungsästhetische Strategie des ›Lachens‹, über die sich bei Quintilian folgendes lesen läßt: Der Simulant tut so, als wäre er einer Überzeugung, ohne es zu sein (simulatio est certam opinionem animi sui imitantis), wohingegen die dissimulatio sich auf die Meinung des anderen bezieht, die man vorgibt, nicht zu verstehen (dissimulatio [est] aliena se parum intellegere fingentis) (vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Institutio oratoria / Ausbildung des Redners. Hg. und übers. von Helmut Rahn. 2. Aufl., Darmstadt 1988, 6,3,85). Dorothea Lohmeyer entging die Pointe dieses Prologs, als sie schlicht konstatierte: »Aber sie [Erichtho] kennt, wie Helena, ihr Nachleben in der Dichtung. [...] Das unterscheidet sie von der Lukanischen. Sie ist nicht mehr historische Person, sie tritt auf als ihr in der Dichtung fortlebendes gespenstisches Bild.« (Lohmeyer: Faust und die Welt, S. 199.) Es trifft zwar zu, daß Erichtho um dieses Nachleben weiß, aber sie verschleiert dieses Wissen; auch war sie nie eine ›historische‹ Person, die sie hier zu sein nur vorgibt. Lohmeyer nivelliert die sich widersprechenden Ebenen einer semantischen Inanspruchnahme von historisch-biographischer Originalität durch Erichtho und ihrer pragmatischen Dekonstruktion.
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Erichtho spielt hier mit dem Wissen des Lesers und führt die rhetorische Struktur der simulatio bzw. dissimulatio vor Augen. Beide Wirkungsstrategien zielen auf die Meinungen der Zuhörer, gehen jedoch in verschiedener Weise damit um. Der Simulant kalkuliert, daß die Zuhörer ihm eine vorgetäuschte Meinung glauben; der Dissimulant, daß man ihm sein vorgetäuschtes Unwissen glaubt; sofern es sich um wirkungsästhetische Kategorien handelt, deren Absicht das Lachen der Zuhörer ist, müssen sie als Strategien durchschaubar bleiben.19 Erichtho arbeitet mit der Unterscheidung zwischen einem historischbiographischen Original, das zu sein sie vorgibt, und dessen literarischer Verarbeitung. Dichtung ist demnach eine Lüge: eine verzerrende, verleumderische Verdrehung der Realität. Andererseits bleibt dem kommentargestählten Leser klar, daß Erichtho diese Unterscheidung nur zum Schein aufrechterhalten kann, und zwar aus zwei Gründen: Sie hat erstens keine andere Existenz als die, Literatur zu sein, denn sie hat immer nur als fiktive Person existiert. Und zweitens: Sie erscheint auch hier als literarische Figur, tritt sie doch im Werk eines Dichters auf, der die Figur keineswegs in einer vermeintlichen Originalgestalt, sondern vielmehr in einer weiteren literarischen Aneignung verwendet, die sie ein weiteres Mal in ihrem Charakter verändert; denn Goethe hat sich in seiner Darstellung der Erichtho nicht getreu an das Vorbild Lucans gehalten, sondern sie im Vergleich zu ihrem Auftreten bei Lucan »veredelt«, ihr »bezeichnenderweise«20 das Schreckliche und Grauenerregende, das die Figur dort besaß, genommen. Insofern steht seine Dichtung in der Tradition der von Erichtho gescholtenen Poeten, die »in Lob und Tadel« nie endigen und deren Geschäft offensichtlich die unausgesetzte Übertreibung der Fakten ist. Fragt man daher nicht nur nach der Semantik, sondern auch nach der Pragmatik dieses Prologs, dann muß man konstatieren, daß Erichtho hier erstens genau das tut, was die Dichter ihrer Meinung nach immer tun: Sie lügt. Ihre vorgebliche biographische, von der Literatur ungeschmälerte Realität, die sie bei ihrem Auftreten für sich in Anspruch nimmt, erweist sich als literarische Täuschung darüber, daß sie keine andere als bloß fiktionale Existenz besitzt. Andererseits bleibt diese Täuschung jedoch unter der Voraussetzung lesbar, daß der Rezipient die Literarizität – und das heißt, die intertextuelle Her-
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Hierin sind beide Figuren der Ironie verwandt, wie Rainer Warning bemerkt: »Simulatio der gegnerischen Position und dissimulatio der eigenen vereinigen sich so zum perlokutiven Effekt des Ironieakts.« Vgl. Rainer Warning: Der ironische Schein. Flaubert und die ›Ordnung des Diskurses‹. In: Erzählforschung. Ein Symposion. Hg. von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1982, S. 290–318, hier S. 295. Der Aufsatz behandelt die Ironie aus pragmatischer und diskursanalytischer Sicht. »Bezeichnend ist, wie Goethe der Hexe alle abstoßenden Züge nimmt und sie veredelt, um sie in seiner Klassischen Walpurgisnacht verwenden zu können«, schreibt Martin Korenjak in seinem Kommentar der Ericthoszene und gibt damit die comunis opinio über Goethes klassischen Geschmack wieder. Vgl. Martin Korenjak: Die Ericthoszene in Lucans »Pharsalia«. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar. Frankfurt a.M. u.a. 1996, S. 21, Anm. 50.
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kunft – Erichthos kennt. So kann ihr Prolog als Simulation einer falschen und Dissimulation einer wirklichen Tatsache erkannt und selbstreflexiv auf das Stück Goethes zurückgewendet werden. Dieses doppelbödige Zeigen und Verschweigen, die durchschaubare rhetorische Differenz zwischen der Semantik und der Pragmatik des Textes, gehört zu den wichtigsten Strategien des Faust II. Es handelt sich dabei um eine Selbstthematisierung der Verfahren, die als solche nur lesbar wird, wenn man einen ironischen Bruch zwischen dem Gesagten und dem Akt des Sagens erkennt – und darin eine Form der Beobachtung zweiter Ordnung. ›Bezeichnend‹ für Goethe ist demnach weniger die ›Veredelung‹ einer Schreckgestalt, als vielmehr die listige Ausstellung der eigenen Verfahren durch ihre scheinbare Negierung im Medium dieser Figur. Insofern sich im Zusammenwirken von Semantik und Pragmatik eine Thematisierung der Verfahren nachweisen läßt, kann Erichtho als deren Allegorie aufgefaßt werden – eine Lesart, auf die später zurückzukommen ist. Ihre allegorische Bedeutung besteht also nicht im Sinne Mattenklotts in einer ›Allegorie des Todes‹; auch ist der Allegoriebegriff nicht im Sinne von Heinz Schlaffer21 zu verstehen. Allegorie meint hier keine fremdreferentielle Figur, sondern die Darstellung der Verfahrensebene durch ein Element der Handlungsebene, das die Verfahren personifiziert. Dies macht es unmöglich, sie als Gegenpol der impliziten Poetik des Dramas zu anzusehen. In den ersten Versen ihres Prologs baut Erichtho in einer durchschaubaren, simulatorischen Weise die Differenz von Ur- und Abbild auf, in der die eine Seite als nicht-fiktionale Wahrheit, die andere als fiktionale Lüge gekennzeichnet ist. Im Mittelteil des Prologs geht sie auf ein anderes Themenfeld über, für das diese Differenz nicht weniger entscheidend ist als für die Biographie: auf die Geschichte. Hatten ihre ersten Verse, wie gezeigt, die Funktion, den literaturgeschichtlichen Bezug des Faust II zu markieren und die Veränderung des Literaturarchivs als eines seiner Verfahren zu thematisieren, so geht es jetzt um eine Thematisierung des geschichtlichen Ereignisses der Schlacht von Pharsalus. Sie liefert den historischen Bezugspunkt für das Fest der »Klassischen Walpurgisnacht«. Angesichts Erichthos Interpretation des Bürgerkriegs liegt es nahe zu fragen, ob sich hier eine ähnlich ›listige‹ Unterwanderung der eingeführten Differenzen finden läßt, und ob die vermeintliche Muse der ›toten‹ Geschichte nicht auch hier am Ende als kunstvolle literarische Subversion solcher einfachen binären Gegenüberstellungen gelesen werden kann. Zunächst muß natürlich konstatiert werden, daß der Bürgerkrieg, von dem sie spricht, tatsächlich stattgefunden hat. Darin liegt ein wichtiger Unterschied zu ihrem eigenen Realitätsstatus. Während sie selbst biographische Wahrheit nur simulatorisch beanspruchen kann, gilt dies für den Bürgerkrieg,
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Vgl. Heinz Schlaffer: Faust zweiter Teil.
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von dem sie spricht, keineswegs. Er behauptet als Faktum sein Recht. Dennoch wird dieses Faktum nicht in seiner bloßen Historizität belassen, denn Erichtho spricht nicht so sehr davon, wie es war, als vielmehr von der Bedeutung dessen, was war, und zwar von einer Bedeutung im Sinne einer verallgemeinerbaren Wahrheit, die sich auch unabhängig vom besonderen Ereignis auf andere Fälle übertragen ließe.22 Die Vergangenheit erhält paradigmatische Funktion, sie erscheint als wiederholbar: Wie oft schon wiederholt sich’s! Wird sich immerfort In’s Ewige wiederholen... Keiner gönnt das Reich Dem Andern, dem gönnt’s keiner der’s mit Kraft erwarb Und kräftig herrscht. Denn jeder, der sein innres Selbst Nicht zu regieren weiß, regierte gar zu gern Des Nachbarn Willen, eignem stolzen Sinn gemäß... (vv. 7012ff.)
Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Parteien wird als »großes Beispiel« (7018) bezeichnet. Erichtho zitiert eine Geschichtsauffassung, die zur Zeit der Niederschrift des Faust II schon obsolet war,23 indem sie nämlich das historische Geschehen als Exemplum begreift, dessen Anwendbarkeit auf andere Fälle für sie unumstritten scheint. Erichtho interpretiert den Bürgerkrieg als Ausdruck individuellen Machtstrebens zweier Persönlichkeiten, deren Rivalität zum Verlust der republikanischen Freiheit führen mußte. Ihre Regel: »Keiner gönnt das Reich / dem Andern, dem gönnt’s keiner, der’s mit Kraft erwarb / Und kräftig herrscht« ist vorgeprägt in folgenden Versen Lucans: dum terra fretum terramque levabit aer et longi volvent Titana labores noxque diem caelo totidem per signa sequetur, nulla fides regni sociis omnisque potestas impatiens consortis erit. nec gentibus ullis credite nec longe fatorum exempla petantur: fraterno primi maduerunt sanguine muri.24
Goethes Erichtho läßt in ihrer Rede die zahlreichen mythologischen Periphrasen des lateinischen Textes aus. Während bei Lucan die Ewigkeit bild- und
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Darin wiederholt sie die aristotelische Unterscheidung zwischen dem Historiker und dem Dichter. Vgl. Aristoteles: Περ ποιητικς / Poetics. With an English Translation by William Hamilton Fyfe. Cambridge, Mass./London, 1975, 9, 1ff. Vgl. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: ders., Vergangene Zukunft, S. 38–66. Pharsalia, 1, Vv. 89–95. Übers.: »Solange unsere Erde den Ozean und der Luftraum unsere Erde trägt, Helios in rastlosem Schaffen kreist, Nacht dem Tag durch eine gleiche Zahl von Tierkreiszeichen am Himmel folgt, gibt es keinen Verlaß auf Mitregenten, duldet keine Gewalt einen Teilhaber. Man braucht das nicht von irgendwelchen Fremden zu lernen, muß nicht von weither Beispiele für diese ewige Regel holen: unsere Gründungsmauer wurde von Bruderblut bespritzt.«
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wortreich umschrieben wird, heißt es bei Goethe schlicht: »Wird sich immerfort / In’s Ewige wiederholen« (7012f.), jedoch bleibt die Intention dieselbe. Daß die Macht, wie es bei Lucan heißt, keinen Teilhaber duldet, ist die allgemeine Regel, die bereits am Ursprung der römischen Geschichte steht – daran erinnert die Anspielung auf die Ermordung des Remus – und für die die Auseinandersetzung zwischen Caesar und Pompeius ein weiteres Beispiel ist. So heißt es von ihnen ganz im Sinne dieser Regel: »nec quemquam iam ferre potest Caesarve priorem / Pompeiusve parem«,25 was wiederum jene von Erichtho behauptete unmögliche Harmonie von Herrschenden spiegelt. Auch die Verse 7022f. des Faust II greifen auf Lucans Darstellung des Bürgerkriegs zurück. Erichtho beschreibt die Lage der beiden Heere am Tag vor der Schlacht: »Hier träumte Magnus früher Größe Blütentag, / Dem schwanken Zünglein lauschend wachte Cäsar dort!« Zumindest der Vers 7022 läßt sich eindeutig auf das siebte Buch der Pharsalia beziehen, wo beschrieben wird, wie Pompejus in der Nacht vor der Schlacht noch einmal davon träumt, es zu alter Größe zu bringen und vom Volk dafür – nach der erhofften Niederlage des Caesar – umjubelt zu werden.26 Was den anschließenden Vers 7023 betrifft, findet sich keine direkte Entsprechung bei Lucan; allerdings wird in Phars. 7, 242ff. beschrieben, wie den sonst so kühnen und rücksichtslosen Caesar plötzliche Ungewißheit und Furcht über den Ausgang der Schlacht befällt.27 Wenn das »schwanke Zünglein«, von dem Goethes Erichtho spricht, die Unsicherheit des »Kriegsglücks« meinen sollte – so mutmaßt Schöne,28 dem ich mich hier anschließe –, dann könnte dieser Vers eine Anspielung auf die genannte Stelle sein. Das wäre insofern plausibel, als damit eine Entsprechung zum Traum des Pompeius gegeben wäre. Die bei Lucan beschriebene Stimmung beider Feldherren vor der Schlacht wird durch Erichtho noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Erichtho wiederholt in der »Klassischen Walpurgisnacht« entscheidende Argumente Lucans: die allgemeine Regel der Unteilbarkeit von Alleinherrschaft, die persönlichen Motive, die sich gegenüberstehenden Heere vor der Entscheidungsschlacht von Pharsalus werden aufgerufen
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Pharsalia, 1, Vv. 125f., Übers.: »Caesar duldete keinen mehr über sich, Pompejus keinen neben sich.« Vgl. ebd., 7, Vv. 7–24. Die Verse lauten: »discrimina postquam / adventare ducum supremaque proelia vidit / casuram fatis sensit nutare ruinam, / illa quoque in ferrum rabies promptissima paulum / languit et casus audax spondere secundos / mens stetit in dubio, quam nec sua fata timere / nec Magni sperare sinunt.« Übers.: »Jetzt, da er die Entscheidung zwischen sich und seinem Rivalen in einem Endkampf kommen sah, das zum Einsturz verdammte Weltgebäude wanken spürte, ermattete selbst seine ungestüme Kampfbesessenheit für einen Augenblick, und hatte sein kühner Kopf sonst glückliches Gelingen verheißen, so lähmte ihn jetzt Ungewißheit, ließen ihm doch die eigenen Erfolge nicht für Furcht, Pompejus’ Erfolge nicht für Hoffnung Raum.« Vgl. seinen Kommentar zu dieser Stelle in FA I, 7/2, S. 534.
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und ergeben eine verkürzte Zusammenschau des Epos und seiner Deutung des Bürgerkrieges. Es handelst sich also nicht nur um eine historische Erinnerung an das Faktum der Schlacht. Daß hier mehr auf einen literarischen Text als auf ein solches Datum angespielt wird, geht auch aus der Übernahme einer bestimmten Situation (den gegenüberliegenden Heeren) und aus der Anspielung auf bestimmte Textstellen hervor, deren Kenntnisnahme durch die einleitende Bezugnahme auf die Literaturgeschichte vorbereitet wird. Gegenüber dem Text Lucans erfährt Erichtho allerdings eine Funktionsveränderung. Denn dort bestand die Aufgabe der Hexe darin, die Zukunft vorherzusagen, während sie bei Goethe als Medium der Erinnerung und des intertextuellen Rückbezugs fungiert. Eine solche Funktionsverschiebung erfährt auch das durch Lucan vermittelte historische Wissen, auf das Erichtho zurückgreift. Es erhält eine gegenüber dem Referenztext neue poetische Bedeutung. Es ist nämlich nicht richtig, daß Geschichte in diesem Prolog ein für allemal als »totes Geschiebe« (Mattenklott) aus dem Drama ausgeschlossen wird; richtig ist vielmehr, daß das historische Wissen zu einer für die im Faust II dargestellte Handlung zentralen Leitmetapher refunktionalisiert wird. In Erichthos exemplarischer Deutung des Bürgerkrieges erscheint dieser als Konsequenz der Rivalität und Machtgier zweier bedeutender Menschen, die sich, wie implizit zu erschließen ist, nicht mehr um das Gemeinwohl kümmern, sondern die Politik nur noch zur Durchsetzung ihrer privater Interessen instrumentalisieren. Der Niedergang der republikanischen Freiheit, den Erichtho im Vers 7020 anspricht (»Der Freiheit holder tausendblumiger Kranz zerreißt«), eröffnet in historisch kurz- und mittelfristiger Sicht keinerlei Fortschritt und keine Hoffnung auf Besserung. Auch hierin nähert sich Erichthos Deutung wieder derjenigen Lucans. Denn obwohl Lucans Hauptgegner sicher Caesar ist, der illegitimerweise die Alleinherrschaft an sich reißt, steht doch auch Pompejus nicht mehr für das Allgemeinwohl und die Republik ein. Allerdings unterscheidet sich Goethes Erichtho in ihrer Geschichtsdeutung darin von Lucan, daß dieser über die jeweiligen Interessen der Protagonisten hinaus in der römischen Dekadenz, im Zerfall der republikanischen Sitten und Institutionen, einen wesentlichen Faktor des Bürgerkrieges erkannte.29 Durch das Übergehen dieser Dekadenzthese im Faust II wird die Verallgemeinerbarkeit des »großen Beispiels« noch verstärkt. Diese Auffassung ermöglicht es, den Bürgerkrieg zu einer Metapher zu machen, die es gestattet, Ereignisse innerhalb der Handlung des Dramas paradigmatisch zu deuten. Denn die verallgemeinerte Deutung des historischen Faktums durch Erichtho läßt sich auf das Auseinanderbrechen des kaiserlichen Reiches und die Auseinandersetzungen zwischen dem Kaiser und dem Gegenkaiser im ersten und vierten Akt des Faust II problemlos anwenden. Die persönliche Unbeherrschtheit des Kaisers, die Mißgunst des
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Vgl. Pharsalia, 1, Vv. 158–182.
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Gegenkaisers, der Bürgerkrieg – das alles wird durch Erichtho im Zeichen der römischen Vergangenheit gedeutet. Zugleich hebt sich vor diesem Hintergrund das Neue am Verhalten Fausts als Staatsgründer und Kolonisator deutlicher ab. Während sich Kaiser und Gegenkaiser befehden und dabei nach Kriegsende nur die alten Privilegien festgeschrieben werden, sucht Faust eine neue Legitimation von Herrschaft im Gemeinwohl – wie zweifelhaft seine Motivation auch immer sein mag. In ähnlicher Weise läßt sich Erichthos Prolog auch auf die Kämpfe in Thessalien zwischen den Pygmäen und den Reihern anwenden. Die Pygmäen als mißgünstige Nachbarn greifen unmotiviert und unmittelbar an, was zu Gegenschlägen von Seiten der Kraniche führt und die Fruchtlosigkeit solcher Auseinandersetzungen vor Augen stellt. Zusammenfassend kann man sagen, daß Goethe das historische Wissen im Medium eines literarischen Referenztextes, der Pharsalia des Lucan, zwar aufgreift, dieses Wissen jedoch umformt, um es den Bedürfnissen der eigenen Darstellung anzugleichen. Goethe speist historische Exempla aus dem kulturellen Gedächtnis in das Stück ein und weist ihnen eine paradigmatische Funktion für die dargestellte Handlung zu. Obwohl in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts eine exemplarische Geschichtsdeutung keinen Ort mehr hatte, kann sie dem Drama noch als Modell dienen. Nach der Literatur- und der Weltgeschichte benennt Erichtho das dritte thessalische Archiv: die Mythologie. Um das geisterhafte Lager der römischen Legionen versammelt sich die friedlichere »Legion« »hellenischer Sage« (vgl. V. 7028) und begeht den Jahrestag der historischen Schlacht mit einem mythologischen Fest, dessen mögliches Vorbild Goethe in der Vermittlung durch Jean Jacques Barthélémy30 bei Athenaios31 und Aelian32 finden konnte: das Peloriafest, das nach dem Gewährsmann des Athenaios, Baton von Sinope, jedes Jahr in Thessalien zum Andenken des Erdbebens gefeiert wurde, welches das Tempetal eröffnete33 und damit die Landschaft entstehen ließ. Damit wird
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Dessen Voyage du jeune Anarcharsis en Grèce (Paris 1788; 2. Aufl. 1789; deutsche Übers. von Johann Erich Biester, Berlin 1792–1804) hatte sich Goethe mehrfach in der Weimarer Bibliothek ausgeliehen. Durch dieses Werk wurde Goethe auf antike Originalquellen aufmerksam. Vgl. u.a. Thomas Gelzer: Das Fest der »Klassischen Walpurgisnacht«, S. 132., dort auch Nachweise zur Entleihung Barthélémys durch Goethe, ebd., Anm. 37. Gemeint ist Athenaios von Naukratis, der um 200 nach Chr. lebte. Sein einziges erhaltenes Werk, die Deipnosofistaí schildern ein enzyklopädisch angelegtes Symposion von Gelehrten. Es handelt sich um die Darbietung eines umfangreichen Wissensstoffs, die für die Kenntnis der antiken Kulturgeschichte sehr aufschlußreich ist und noch im Mittelalter viel benutzt wurde. Vgl. den Artikel »Athenaios« von Ewen Bowie. In: Cancik, Hubert und Helmuth Schneider (Hgg.): Der neue Pauly. Enyklopädie der Antike. Stuttgart/Weimar 1996ff. Bd. II, Sp. 196– 199. Es handelt sich um die Varia historia des Claudius Aelianus bzw. Ailianos. Thomas Gelzer hat diese Verbindung als erster festgestellt. Vgl. Gelzer: Das Fest der »Klassischen Walpurgisnacht«. Allerdings ist zu bedenken, daß dieses Fest laut Barthélémy nicht an der Küste, sondern im Tempetal gefeiert wird. Vgl. Voyages du jeune Anarcharsis. Bd. III, S. 229f.
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die dritte und historisch älteste Schicht der »Klassischen Walpurgisnacht«, die griechische Mythologie, am Ende des Prologs genannt. Der Prolog Erichthos führt somit von der Nennung der Dichter über die Erwähnung der Schlacht bis in die Mythologie rückwärts durch die Zeit und verdeutlicht dadurch in der Geste des Erinnerns, wie sehr sich in Thessalien das verschiedenartigste Wissen überlagert. Das Herannahen der mythologischen Wesen, die unsicher schwankend und behaglich sitzend (vgl. 7029f.) sich um die Feuer verbreiten, gleicht dabei einem Aufzug von Gespenstern. Als solche (bzw. als Geister) werden die Figuren der »Klassischen Walpurgisnacht« mehrfach angesprochen. Es handelt sich um »Gebild«, wie Erichtho sagt: ein Wort, in dem einerseits angedeutet ist, daß es sich um Erschaffenes handelt, um Bilder, die gemacht wurden, gebildet, von wem auch immer; und zum zweiten handelt es sich nicht um Originales, sondern um Ab-, Nach- oder Trugbilder. Damit wird hier erneut jene Differenz eingeführt, die Erichtho bereits in Beziehung auf ihre eigene Existenz aufgetan hat: wie Erichtho auf die Dichter verwies, deren Geschöpf sie ist, auch wenn sie dies verschleiert, also auf eine Produktionsinstanz, von der sie erzeugt wurde, so verweist auch das »fabelhaft Gebild« auf eine solche Instanz. In der Interpretation des Prologbeginns wurde gezeigt, daß der Gegenstand der Darstellung Erichthos die poetischen Verfahren des Zugriffs und der Veränderung der Archive sind, daß also die Produktionsinstanz, die von ihr figuriert wird, das Darstellungsverfahren des Faust II ist. Ähnliches galt auch vom Umgang mit dem historischen Wissen, das in eine Metapher verwandelt wurde, die verschiedene Handlungsstränge des Dramas deutet und aufeinander bezieht. Es liegt auf der Linie dieser poetischen Verwandlungspraxis, daß auch die Fabelwesen als Gebild auf ihr Erzeugtsein verweisen. Die zweite Differenz, die von Ur- und Abbild, ist darin implizit schon mitbehandelt, weil das erzeugte Bild, das »Ge-Bild« zwar durchaus auch auf ein Urbild verweisen mag, vor allem aber ist es ein selbstreferentielles Bild, das sein Produziertsein ausstellt. Die sekundäre Verarbeitung des Wissens begegnet uns auch im Umgang mit den Fabelwesen, die in der folgenden ausladenden Szene in einer neuen Weise eingesetzt werden – und zwar, wie zu zeigen sein wird, als Medien der Archive, deren Dramatisierung die »Klassische Walpurgisnacht« darstellt und als Medien der Selbstreflexion, in denen die Darstellungsverfahren des Dramas dargestellt werden. Die Untersuchung der »Klassischen Walpurgisnacht« bleibt also nicht stehen bei der bekannten Feststellung, daß Goethe sich großes Wissen angeeignet und dieses seinem Gebrauch angepaßt hat, sondern geht darüber hinaus, weil dieses schlichte »Daß« eine ganze Poetik, eine weitreichende ästhetische Reflexion einschließt, die auf der Handlungsebene chiffriert wird.
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2. Prosopopoiie – Erichtho als Stimme des Archivs Archivbezug und Transformation der Archive sind von Erichtho indizierte Textverfahren. Eine nähere Beschreibung dieser Verfahren und eine weiterführende Untersuchung der Intertextualität ergibt sich durch den Vergleich mit dem Referenztext. Das sechste Buch der Pharsalia ist in zwei Punkten für die Gestaltung und Bedeutung der »Klassischen Walpurgisnacht« wichtig: erstens als Vorlage zur Gestaltung der Gedächtnislandschaft Thessalien und zweitens als Subtext für die Thematik der Magie, die im Faust II überall gegenwärtig ist. Bei Lucan wird die Magie besonders mit der Gestalt der Erictho verbunden, deren Funktion und Gestaltung Gegenstand dieses Abschnittes ist. Durch die Berücksichtigung ihrer Gestaltung bei Lucan kann die Interpretation der Goetheschen Erichtho vertieft werden. So wird es möglich, in der Magierin Lucans weitere poetologische Aspekte zu erkennen, die auch für Goethe von Bedeutung sind. Um die Bedeutung Erichthos würdigen zu können, muß zunächst die Interpretation betrachtet werden, die Lucans Epos von seinem Gegenstand, dem Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, gibt. Die Schlacht von Pharsalus stellt dabei das zentrale Ereignis dar, von dem das Epos seinen traditionellen Namen hat. Pharsalus oder Emathia, wird bereits im ersten Vers des Proömiums als Fluchtpunkt des Geschehens thematisiert: »Bella per Emathios plus quam civilia campos / [...] canimus.«34 Mit der Niederlage des Pompeius in der Schlacht, die im 7. Buch beschrieben wird, findet der Krieg seine Entscheidung. Lucans poetische Interpretation dieses Bürgerkrieges bewegt sich auf mehreren Ebenen: Bei der Analyse des Erichthoprologs wurden die politischen Gründe schon genannt: die Rivalitäten zwischen den beiden Persönlichkeiten und eine allgemeine kulturelle Dekadenz Roms, die sich im Bürgerkrieg entladen. Darüber hinaus wird der Bürgerkrieg von Lucan aber auch in eine geschichtsteleologische Sicht gestellt, die der Forschung große Probleme bereitet. Einerseits wird das Epos eingeleitet von einer Nero-Eloge, die dem Kriegsgeschehen einen finalen Sinn zu verleihen scheint. Lucan erwägt in dieser Huldigung an den Kaiser die Notwendigkeit des Krieges – er fragt sich, ob Nero nur so an die Herrschaft kommen konnte. In der Forschung herrscht keine Einigkeit darüber, ob diese Eloge ironisch gemeint sei oder nicht. Ausgangspunkt Lucans ist die Undurchsichtigkeit der Fata, deren Sinn den Menschen verschlossen bleibt. So formuliert Lucan einen möglichen finalen Sinn in der Form des Konditionals, das eine finalistische Deutung beinahe wieder durchstreicht: »quod si non aliam venturo fata Neroni / invenere viam [...] / iam nihil, o superi, querimur: scelera ipsa nefasque / hac mercede
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Pharsalia, 1, Vv. 1f. »Dem Bürgerkrieg im Gefilde von Emathia, der mehr war als nur Bürgerkrieg, gilt mein Gedicht.«
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placent«35 und: »multum Roma tamen debet civilibus armis, / quod tibi res acta est.«36 [Hervorhebungen von mir, S.S.] Diese angedeutete optimistische Perspektive, die dem Bürgerkrieg aus einer historischen Fernsicht einen Sinn verleihen könnte, bleibt innerhalb des Ganzen allerdings unerfüllt. Ansonsten überwiegt bei Lucan eindeutig die Betonung der Sinnlosigkeit des Krieges. Das Problem besteht darin, daß zwar die Fakten beschrieben werden können, eine mögliche Stellung der Fakten innerhalb einer übergeordneten Geschichtsperspektive aber nicht bestimmt werden kann.37 Es bleibt also das zentrale Anliegen des Epos die Darstellung der radikalen Undeutbarkeit dessen, was als Geschichte bekannt ist – eine These, die von der Ambivalenz des Nero-Elogiums gestützt wird. Der Akzent der epischen Darstellung liegt auf der negativen Tatsache der Zerstörung römischer Größe und auf der Problematisierung der Deutung des Schicksals durch die Menschen. Dieses Verhältnis zu einer möglichen, aber uneinsichtigen ratio des Krieges rückt Lucan auch aus poetologischer Sicht in ein ambivalentes Verhältnis zur epischen Tradition. So verweist die angedeutete finalistische Interpretation implizit auf Lucans größten Vorgänger, mit dem sein Epos konkurriert: Vergils Aeneis, die alle erzählten Ereignisse auf die Gründung Roms und das Prinzipat des Augustus ausrichtet. Ein solcher Optimismus wird von Lucan gründlich unterlaufen und dem entspricht die Form der intertextuellen Referenz auf die Aeneis.38 Deren Struktur wird von Lucan fortgeschrieben und zugleich transformiert. Vergils Legitimationsstrategien der römischen Geschichte verkehren sich bei Lucan in ihr Gegenteil. Ein Beispiel hierfür ist die Totenbeschwörung der Erictho, die der Katabasis des Aeneas bei Vergil entspricht, aber an die Stelle der ›pietas‹ des Aeneas den ›nefas‹ des Sextus Pompeius rückt, die Sibylle durch die Hexe und die Unterwelt mit
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Pharsalia 1, Vv. 33ff. Übers.: »Fand jedoch das Schicksal für Neros Kommen keinen anderen Weg [...] dann hört ihr Unsterblichen uns nicht mehr klagen: um solchen Lohn sind uns selbst unerhörte Freveltaten recht.« 1, Vv. 44f. »Dennoch hat Rom dem Waffengang zwischen den Bürgern viel zu verdanken / Wenn alles für dich geschah«. Ehlers übersetzt das »quod« als Konditional, ebenso plausibel wäre rein grammatisch auch der Kausalsatz. Die Auflösung der Ambivalenz hängt von der Interpretation ab; mir scheint das »Wenn« sehr gut gewählt, weil es eine Entscheidung über die menschliche Deutungskompetenz in den Angelegenheiten der Fata in der Schwebe läßt. Vgl. z.B. neben der noch zu besprechenden Ericthoszene die Einleitung zum zweiten Buch. Dort wird auf die vorangehende Serie von Prodigien angespielt, die von den Sehern und Magiern nicht gedeutet werden können. Die Grundstimmung ist, angesichts dieser Unmöglichkeit der Deutung, die Angst. Vgl. z.B. Werner Rutz: Lucans ›Pharsalia‹ im Lichte der neuesten Forschung. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Bd. II, 32. Hg. von Wolfgang Haase. Berlin/New York 1985, S. 1457–1537: »Unbestritten ist demgegenüber, daß Vergils Werke insgesamt und die ›Aeneis‹ im besonderen Lucan so vertraut waren, daß er in imitatio und aemulatio, in Kontrastimitation und Überbietung, in gehaltlicher Auseinandersetzung schließlich bis hin zur Destruktion des vergilischen Mythos jederzeit Beziehungen zu seinem großen Vorgänger herstellen konnte.« (Ebd., S. 1465.)
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ihren Helden durch einen verwesten Leichnam ersetzt. Der Abkehr vom finalen Sinn der Geschichte bzw. der Aufdeckung ihrer Ambivalenz entspricht, daß eine weitere Analogie die Schilderung des Bürgerkrieges durchzieht: der Vergleich mit dem Weltende. Das Auseinanderfallen der römischen Republik wird im Hinblick auf das Zerfallen der bestehenden Welt in ihre einzelnen Bestandteile, in die Perspektive des erneuerten Urchaos gerückt.39 Lucans Epos kann sich nicht auf eine Eindeutigkeit der Ereignisse und auf eine sichere Einsicht der Menschen berufen. Darum führt es mehrere mögliche Deutungsangebote des Geschehens vor. Es handelt sich um ein Epos der metaphysischen und historischen Ungewißheit. Deren Effekt ist auch die Relativierung des im Nero-Elogiums angedeuteten positiven Sinns, eine Relativierung, die auch als Ironisierung des Kaisers gedeutet werden kann – ob die Ambivalenz der Eloge intendiert gewesen sein mag oder nicht.40 Die teleologische Ungewißheit über die Pläne des Fatums wird in der Nekromantieszene gebündelt. Erictho wird aufgesucht, damit sie über den Ausgang der Schlacht Auskunft gibt, aber auch, damit die Ereignisse in einen größeren historischen Zusammenhang gestellt werden können. Es ist die Ungewißheit über die Zukunft, die Angst vor der zerfließenden, sich der menschlichen Einsicht verschließenden Zeit, die Sextus Pompeius, den Sohn des Feldherren, hinaus auf die Felder treibt, wo die Hexen hausen.41 Die Nekromantieszene bildet den Höhepunkt des sechsten Buchs, in dem die Ereignisse beschrieben werden, die der Schlacht bei Pharsalus unmittelbar vorangehen. Gegliedert ist das Buch in drei Teile: Zunächst wird erzählt, wie Caesar bei Dyrrachium von den Pompeianern belagert wird, wie er die Belagerung durchbricht und nach Thessalien in die Gegend von Pharsalus flieht. Der Gegner verfolgt ihn, und so stehen sich in der thessalischen Ebene von Pharsalus die befeindeten Heere gegenüber – eine Situation, auf die, wie wir gesehen haben, der Beginn der »Klassischen Walpurgisnacht« Bezug nimmt. Als Mittelteil folgt ein ausführlicher Thessalienexkurs., dem sich der dritte Teil des Buches anschließt, der mit einer kurzen Beschreibung der allgemeinen Stimmung der befeindeten Lager beginnt, die sich in der Nacht gegenüberlie-
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Dies geschieht häufig; vgl. z.B. im ersten Buch die Verse 70–82. Vgl. dagegen die bündige Ablehnung dieser Möglichkeit durch David T. Vessey, (Art. »Lucanus«. In: Cancik, Hubert und Helmuth Schneider (Hgg.): Der neue Pauly. Bd. VII, Sp. 454– 457): »Die Ph[arsalia] ist Nero gewidmet (1, 33–66), und zwar in solch anbiederndem, wenn auch längst geübtem Tone, daß ein ironisches Verständnis (wohl zu unrecht) für möglich gehalten wird.« (Ebd., S. 456.) Diese Auffassung ist m.E. aus genannten Gründen nicht überzeugend. Vgl. 6, Vv. 423ff: »Qui stimulante metu fati praenoscere cursus / impatiensque morae venturisque omnibus aeger / non tripodas Deli, non Pythia consulit antra [...]« – »Als er in peinigender Angst den Lauf des Schicksals vor der Zeit erfahren wollte, keinen Aufschub ertrug und unter allem litt, was kommen konnte, befragte er nicht den Dreifuß in Delos, nicht Delphis Grotte [...].«
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gen. Diese ist naturgemäß schlecht; Angst und Furcht sind die vorherrschenden Emotionen.42 Keiner tut sich dabei so hervor wie der als Feigling charakterisierte Sextus Pompeius. Sein Anliegen, die Hexe Erictho aufzusuchen, soll seine mangelnde Tapferkeit ebenso beweisen wie seine fehlende religiöse Achtung. Damit wird er zum Gegenbild einer idealen Gefaßtheit gegenüber den Wirkungen des fatums: 43 »Degeneres trepidant animi peioraque versant; ad dubios pauci praesumpto robore casus / spemque metumque ferunt.«44 Das religiös Verwerfliche an seinem Handeln besteht nicht im Wunsch, etwas über die Zukunft zu erfahren, sondern in seiner Abkehr von erlaubten mantischen Techniken und Instanzen. Von heiligen Orakeln in Dodona, Delphi und Delos will er sowenig wissen wie von den Auguren und allem, was als zwar geheime, aber ›rechtmäßige‹ Mantik galt.45 Auf die Ausführungen über Sextus Pompeius folgt die ausführliche und berühmte Darstellung der thessalischen Hexen, an die er sich wendet. Deren Macht erstreckt sich nicht nur über die Menschen und die Natur, sie beherrschen sogar die olympischen Götter.46 Ihre Stellung ist darin einzigartig, daß die Macht ihrer Magie praktisch unbeschränkt zu sein scheint, wobei die Gründe für diese Macht dem Dichter selbst nicht bekannt sind und ihn zu verschiedenen Vermutungen über die Ursachen der Zauberkraft veranlassen.47 Die Wirkungen
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Vgl. Pharsalia, 6, Vv. 413ff. Als Norm hinter diesem Fehlverhalten findet sich die stoische Ethik aufgerufen. Das bedeutet allerdings nicht, daß man daraus auf einen konsequenten Stoizismus Lucans schließen könnte. Vgl. u.a. Werner Rutz: Lucans ›Pharsalia‹ im Lichte der neuesten Forschung, S. 1479–82. Pharsalia, 6, Vv. 417ff. Übs.: »Ehrvergessen zitterten die Herzen und rechneten mit Niedergang; wenige wappneten sich im Angesicht des ungewissen Ausgangs noch mit Mut und fühlten außer Furcht auch Hoffnung.« Im Text wird für das rechtmäßige Handeln der Begriff »fas« gebraucht. Über die ›Orakelpraxis‹ des Sextus heißt es, er habe alle Seherkünste verschmäht, sofern sie rechtmäßig waren: »si quid tacitum, sed fas erat.« Pharsalia, 6, V. 430.) Der Begriff »fas« bezeichnet »alles, was von religiösen Verboten frei ist [...]« (Francesca Prescendi: Art. »Fas«. In: Cancik, Hubert und Helmuth Schneider (Hgg.): Der neue Pauly. Bd. IV, Sp. 432f., hier S. 432), ist also verwandt mit dem Begriff des Tabus, dessen Überschreitung den religiösen Frevel, »nefas« begründet, dessen sich Sextus – und natürlich die thessalischen Hexen – schuldig macht. Vgl. Pharsalia 6, Vv. 445ff.: »Una per aetherios exit vox illa recessus / verbaque ad invitum perfert cogentia numen, / quod non cura poli caelique volubilis umquam / avocat« (»[E]inzig seine [die des Hexenvolks, S.S.] Stimme dringt durch Ätherfernen und trägt Himmelswesen Worte zu, von denen sie sich wider Willen so gefangen nehmen lassen, daß kein Gedanke an Firmament und Himmelsdrehung sie jemals ablenkt.« Vgl. 6, Vv. 492ff. »Quis labor hic superis cantus herbasque sequendi / spernendique timor? cuius commercia pacti / obstrictos habuere deos? parere necesse est, / an iuvat? ignota tantum pietate merentur, / an tacitis valuere minis? hoc iuris in omnis / est illis superos, an habent haec carmina certum / imperiosa deum, qui mundum cogere quidquid / cogitur ipse potest?« (»Was bedeutet dieser Eifer bei den Überirdischen, Sprüchen und Kräutern nachzugeben, und die Angst, sie zu mißachten? Welcher gegenseitige Vertrag hat die Götter in Bande geschlagen? Müssen oder wollen sie sich fügen? Verdienen sich die Hexen soviel Gunst mit unbekannter Frömmigkeit, oder haben sie mit heimlicher Drohung Macht gewonnen? Besitzen sie diese Gewalt über alle Unsterblichen, oder wenden sich ihre herrischen Sprüche an einen
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der Hexerei betreffen die Beherrschung des menschlichen Willens – insbesondere indem sie ihn durch Liebeszauber beeinflussen48 – und die Aufhebung der Naturkräfte49 – so ziehen sie u.a. die Himmelsgestirne auf die Erde herab,50 ein Motiv, das auch in der »Klassischen Walpurgisnacht« wiederkehrt, nämlich in dem Gesang der Sirenen an den Mond (vgl. Vv. 8034ff.). Nachdem die Hexenkunst im allgemeinen beschrieben wurde, folgt als Steigerung die Schilderung der Erictho, die alle Hexen bei weitem übertrifft. Die Erictho-Szene gehört zu den rhetorisch-poetischen Glanzstücken der ›Silbernen Latinität‹, die wegen ihrer angeblichen ›Geschmacklosigkeit‹ und der manierierten Lust am Grausamen und Makabren ebenso faszinierend wie abschreckend wirkt. In einer sich stets steigernden Rhetorik des Ekels wird ein Arsenal von Scheußlichkeiten vorgeführt, zu deren geringsten noch die Leichenschändung und der Mord gehören.51 Allerdings ist Erictho auch eine Künstlerin, die die magischen Riten mit innovativen Elementen versieht und sie dadurch zu einer Kunst erhöht: »hos scelerum ritus, haec dirae crimina gentis / effera damnarat nimiae pietatis Erictho / inque novos ritus pollutam duxerat artem.«52 Es liegt nahe, in dieser Hexe eine poetologische Figur zu erkennen. An Erictho wendet sich nun Sextus Pompeius mit seinem Wunsch, die Zukunft zu erfahren. Der Einsatz der Magie erscheint aus seiner Sicht als eine legitime Korrektur der verkehrten Welt mit illegitimen Mitteln, verlangt er doch von Erictho: »hoc casibus eripe iuris, / ne subiti caecique ruant.«53 Einerseits stellt die Ericthoszene damit die Verfassung der Welt, wie sie im ganzen Epos ausgebreitet ist, in zusammengezogener und verdichteter Form dar.54 Denn die makabren Lüste der Hexe figurieren die verkehrte, aus den
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bestimmten Gott, der die Welt zu allem zwingen kann, wozu er selbst gezwungen wird?«.) Zur Spekulation über einen solchen Zaubergott, der von den Hexen bezwungen wird und über die anderen Götter Macht hat vgl. auch Vv. 744ff., wo von »jenem« (ille) die Rede ist, der anscheinend von jeder mythischen Beschränkung der göttlichen Macht, wie etwa der bindenden Kraft eines Schwurs beim Styx frei ist (V. 749). Zur Diskussion über diesen Gott vgl. den Überblick bei Luigi Baldini Moscadi: Osservazioni sull’ episodio magico del VI libro della »Farsaglia« di Lucano. In: Studi italiani di filologia classica 48 (1976), S. 140–199, hier S. 180–184. Vgl. Pharsalia, 6, Vv. 452–460. Vgl. ebd., Vv. 461ff. Vgl. ebd., Vv. 499f.: »illic et sidera primum / praecipiti deducta polo.« Zur Gestaltung solcher Ekelszenen in der neronischen Literatur vgl. Glenn W. Most: Disiecti membra poetae. The Rhetoric of Dismemberment in Neronian Poetry. In: Innovations of antiquity. Hg. von Ralph Hexter und Daniel Selden. London/New York 1992, S. 391–419. Pharsalia, 6, Vv. 507ff., »Diese verbrecherischen Bräuche, diese Frevel eines schlimmen Volkes hatte ein entmenschtes Weib, Erichto, als zu fromm verworfen und das widerliche Handwerk zu unerhörten Bräuchen hingeführt.« Pharsalia, 6, Vv. 597f. Übers.: »[E]ntreiß den Ereignissen die Befugnis, plötzlich und unvorhergesehen hereinzubrechen!« Vgl. auch Martin Korenjak: Die Ericthoszene: »Der Eindruck, den der Leser [...] gewinnt, ist nicht nur, daß sich die Magie tatsächlich gut in das Weltbild der Pharsalia einfügt, sondern darüber hinaus auch, daß sie dieses Weltbild auch in gewisser Weise demonstriert.« (Ebd., S. 36.)
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Fugen geratene Ordnung des Kriegs.55 Andererseits wird die Figur der Erictho, bei aller abstoßenden Charakterisierung, zu einer Instanz, die innerhalb dieser gestörten Weltordnung eine gewisse Berechenbarkeit durch Magie und Kenntnis von kosmischen Gesetzen verbürgen soll. Zudem gestattet die Nekromantie dem Epos, die Immanenz des historischen Geschehens zu durchbrechen und die Möglichkeit einer transzendenten Perspektive durch die Totenbeschwörung anzudeuten – auch, wenn diese Möglichkeit am Ende als eine Täuschung erkannt werden muß. Um den Wunsch des Pompeius zu erfüllen, nimmt Erictho einen toten römischen Soldaten, der unbegraben daliegt.56 Sie wäscht und behandelt ihn mit verschiedenen magischen Substanzen und beschwört dann die Götter der Unterwelt, damit sie die Seele des Toten freigeben. Dies geschieht, aber die Seele weigert sich zunächst in den zerfledderten, ekligen Leichnam zurückzukehren.57 Erst nach einer zweiten Beschwörung gelingt es Erictho, sie zu einem Wiedereintritt in den Körper zu bewegen. Dies ist notwendig, damit sie eine Stimme erhält, mit der sie ihr Wissen verkünden kann. Mit der Rede des Toten erhält alles eine überraschende Wendung: Hatte Erictho bisher mehrfach versprochen, dem Sextus genaue Auskunft über sein Schicksal zuteil werden zu lassen,58 so muß der Tote zugeben, er sei nicht einmal bis ins Totenreich gelangt und wisse eigentlich nichts Genaues: »›tristia non equidem Parcarum stamina‹ dixit / ›aspexi tactae revocatus ab aggere ripae [...].‹«59 Was er darauf verkündet, läßt zwar deutlich werden, daß die Par-
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Manfred Fuhrmann sieht die Funktion der ›grausigen‹ Motive bei Lucan in der Illustration eines von allgemeinem Sinnverlust geprägten Weltbildes: »Die grausigen und ekelhaften Gegenstände repräsentieren eine rettungslos hinfällige, der Frage nach dem Sinn nicht mehr zugänglichen Wirklichkeit.« (Manfred Fuhrmann: Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. von Hans Robert Jauß. München 1968, S. 23–66, hier S. 51.) Erictho »irrt« zwischen den Gefallenen umher«: »maestum tecta caput squalenti nube pererrat / corpora caesorum tumulis proiecta negatis.« (Pharsalia 6, Vv. 625f.). Dies ist ein Anachronismus, denn die Schlacht wird erst am folgenden Tag stattfinden; von vorherigen Gefechten bei Pharsalos war nicht die Rede. Pharsalia 6, Vv. 719ff: »Haec ubi fata caput spumantiaque ora levavit, / aspicit astantem proiecti corporis umbram / exanimes artus invisaque claustra timentem / carceris antiqui; pavet ire in pectus apertum / visceraque et ruptas letali volnere fibras« – »Als sie nach diesen Worten ihren Kopf mit dem schäumenden Mund erhob, sah sie den Geist der Leiche vor sich stehen, die selber ausgestreckt am Boden blieb, weil jener sich vor dem leblosen Leib und der verhaßten Enge seines langjährigen Kerkers fürchtete; ja, ihn schauderte, in die klaffende Brust und die von tödlicher Wunde aufgerissenen Gänge der Organe einzutreten.« So lautete die Bitte des Sextus: »te precor ut certum liceat mihi noscere finem / quem belli fortuna paret« (Pharsalia 6, Vv. 592f.) – und Ericthos Anwort war eindeutig: »sed si praenoscere casus / contentus, facilesque aditus multique patebunt / ad verum [...] (Vv. 615ff.) – »Ich bitte dich, daß mir vergönnt sei, mit Gewißheit zu erfahren, welchen Ausgang uns das Kriegsgeschehen bereithält« und: »Allein falls du nichts weiter willst als die Ereignisse im voraus kennenlernen, so werden sich ebenso leicht wie reichlich Wege zur Wahrheit auftun«. Vgl. Jamie Masters: Poetry and Civil War. Cambridge 1992, S. 196ff. Pharsalia, 6, Vv. 777f. »Welches Leid die Parzen spinnen, sah ich selber nicht, da man mich von der Böschung des Totenstroms zurückrief.«
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tei des Pompeius unterliegen wird, bleibt jedoch in allem anderen undeutlich und rätselhaft. Er enthüllt weder, wann genau und wo die Niederlage stattfinden wird, noch wer wann sterben und wo begraben sein wird. Der Tote berichtet davon, daß im Totenreich eine Auseinandersetzung ausgebrochen sei, die die Ruhe der Toten störe. Die Gestalten der römischen Geschichte werden lebendig und befehden sich im Schattenreich, so daß dort der Bürgerkrieg noch einmal stattfindet. Aus dem Triumph der Toten, die der Volkspartei angehören, kann Sextus zwar schließen, daß Caesar im Bürgerkrieg siegen wird – aber schon in der Schlacht des nächsten Tages? Und wird Sextus den Tag überleben? Davon wird ihm nichts mitgeteilt. Nach seinen unbefriedigenden Auskünften verstummt der Tote, wird von Erictho verbrannt und damit ein für allemal ins Totenreich entlassen. Trotz der unbefriedigenden Auskünfte enthält diese Prophezeiung eine eindeutige Stellungnahme zum Geschehen. Indem er keinen Zweifel über den Sieg Caesars läßt und gleichzeitig die Freude der aus der römischen Geschichte als ›Verbrecher‹ bekannten Toten schildert, wird der Tote zum politischen Sprachrohr des Dichters, der damit den Sieger Caesar eindeutig in die Tradition der schlechten Republikaner einreiht. So hält Lucan trotz des Scheiterns der Magie als Mantik an dem Darstellungspotential der Magie fest. Der in prognostischer Sicht unbefriedigende Ausgang der Nekromantieszene ist für die Poetik Lucans charakteristisch: Zunächst wird mehrfach angekündigt, daß Sextus eine genaue Prophezeiung zuteil werden soll, dann aber läßt man ihn über sein Schicksal im Dunkeln. Und nicht nur das: Ihm wird mitgeteilt, daß es ohnehin nicht wichtig sei, wer verliere oder gewinne, denn: »quem tumulum Nili, quem Thybridis alluat unda, / quaeritur et ducibus tantum de funere pugna est.«60 Dies mag für einen Toten genügen, aber welchem Lebenden ist mit dem Hinweis geholfen, daß er nur um seine Begräbnisstätte kämpfe? Die Ironie dieser Weissagung besteht darin, daß diese Frage für den Leser des Epos schon beantwortet ist, denn er kennt bereits den Ausgang der Ereignisse, die sich mehr als ein Jahrhundert vor der Niederschrift des Textes abspielten: Caesar wird in Rom am Tiber, Pompeius in Ägypten am Nil sterben. Für Sextus aber sind diese Auskünfte ganz unverständlich; er bleibt auf Spekulationen angewiesen und seine Furcht, die er durch die Befragung überwinden wollte, dürfte sich nur verstärkt haben.61 Statt gewünsch-
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Pharsalia 6, Vv. 810f. »Welches Grab der Nil, welches der Tiber an seinen Ufern sieht, nur das ist noch die Frage, und die Rivalen kämpfen einzig um ihre Begräbnisstätte.« Vgl. Wilhelm Ehlers: Anhang. In: Lucanus: Bellum civile, S. 507–583, hier S. 573f.: »Der auferweckte Tote spricht nicht eigentlich über omnia Pompeiana, wie es Erictho von den Höllendämonen verlangt hat (716f.), oder von Personen und Orten des Geschehens, wie sie es von ihm selber forderte (773f.), sondern beantwortete Sextus’ genauere Frage nach Kriegsausgang und Verlusten der Pompejaner (592f. 601).« – Die weiteren in der Rede des Toten enthaltenen Hinweise, die Ehlers aufzählt, stimmen zwar alle mit dem nachträglichen Wissen
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ter Klarheit also verdoppelte Ungewißheit: Dieser Effekt der Ericthoszene ist eine meisterhafte Irreführung der Lesererwartung durch Lucan. Gerade dieses Erzeugen und Brechen von Erwartungen stellt eine strukturelle Eigenart des Epos dar. Wie wir gesehen haben, ist dessen Grundproblem die Unmöglichkeit einer Sinngebung des Krieges aus einer transzendenten Perspektive. Dieses Problem wird in der Ericthoszene verdichtet, wodurch sie als eine Spiegelung des Ganzen erscheint. Erictho erscheint als metapoetische Figur, sie vertritt die persona des Epikers. Dies hat Jamie Masters eindrücklich nachgewiesen.62 Schon ihre Bezeichnung als vates verweist auf das augusteische Verständnis des ›poeta vates‹, der in der Gestalt der Erictho in grotesk-komischer Weise wiederkehrt.63 Als vates streift sie umher, singt und erfindet carmina, die eine innovative Kraft besitzen: »illa magis magicisque deis incognita verba / temptabat carmenque novos fingebat in usus.«64 Mit diesem Anspruch auf Innovativität verkörpert sie die Poetik Lucans. Wie die Ericthoszene ein verzerrtes Spiegelbild der Vergilischen Katabasis darstellt, verzerrt die Hexe selbst das Konzept des poeta vates ins Bizarre. Ihre carmina sind frevelhaft, aber innovativ im Vergleich zu den frommen Orakelkünsten der mit ihr kontrastierenden Priesterinnen und Sibyllen, und darin stellen sie zugleich den Widerspruch Lucans gegen die epische Tradition dar: Lucans Poetik läßt sich mit Masters als eine poetics of nefas beschreiben. Diese besteht in der Verstricktheit des Epos in seinen Gegenstand: Denn der Dichter spricht nicht nur über etwas, er erschafft seinen Gegenstand notwendigerweise. Er bringt die Greuel in Erinnerung, muß sie sprachgewaltig inszenieren, vor Augen stellen, wenn er nicht nur einen nüchternen Bericht verfassen will.65 So besitzen die Ekelszenen auch ein großes ästhetisches Potential, denn sie bieten Anlaß zu ganz neuen stilistischen Experimenten und zur Inszenierung einer Poetik des Häßlichen. Die Magie fungiert dabei als gebrochenes Modell, das zu poetischen Zwekken refunktionalisiert wird. Auch wenn Lucan bereits in der Antike als ein in
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des Lesers überein. Für Sextus hingegen ist es unmöglich zu erkennen, daß »von den Führern auf der Gegenseite [...] Cato und Scipio [...] in Afrika sterben [...]« und daß »bald nach Pompejus auch Caesar [...sterben wird]«; auch kann Sextus die Andeutung nicht verstehen, »daß er in Milet, sein Bruder Gnaeus in Spanien (Munda) und sein Vater, dessen Todesort zunächst offenblieb (810f.), in Ägypten ihr Ende finden werden.« Vgl. seine poetologische Ericthodeutung in Poetry and civil war, S. 205ff. Zum ›poeta vates‹ vgl. die Studie von John Kevin Newman: The Concept of vates in Augustan Poetry. Bruxelles 1967. Pharsalia 6, Vv. 577f. So auch J. Masters: Poetry and Civil War, S. 212: »More profoundly, the author of the necromancy will inevitably be tainted by the evil he describes, for as author he is creator of that evil, which is, simply by virtue of its existence in the poem, celebrated in the poem. The only virtuous response to evil is silence – euphemy – for evil is nefas, nefandum, that which cannot be spoken of; hence to speak of evil and (what is worse) to make it the subject of one’s poem is to speak the unspeakable, perpetrate and perpetuate the impiety, no matter how much the poet may protest his innocence.«
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magischen Dingen besonders bewanderter Autor galt66 und seine Ericthoszene die ausführlichste überlieferte Darstellung einer Hexe in Aktion ist, bleibt er gegenüber den magischen Qualitäten der Magie skeptisch. Weder die erlaubten noch die frevelhaften magischen Praktiken besitzen noch eine Deutungskompetenz angesichts der undurchschaubaren Absichten des Schicksals und der Unbegreiflichkeit des Geschehens. Die Magie ist sowenig inspiriert, wie auf ein »dichterisches Selbstverständnis« Lucans im Sinne eines poeta vates geschlossen werden kann67 – vielmehr sind dies dysfunktional gewordene kulturelle Modelle, die benutzt, aber radikal umgedeutet werden. Die Magie der Hexe, die sich im selbstzweckhaften Erfinden neuer Gesänge und in der Lust an der Grausamkeit bewegt, vermag es noch, unheimliche Totenbeschwörungen zu produzieren, aber der Wahrheitsanspruch der Nekromantie ist dahin. Dem entspricht die auch auf anderen Ebenen des Epos thematisierte Unfähigkeit des epischen Erzählers, die Ereignisse sinnhaft deuten zu können. Die Poetik der Pharsalia besteht darin, diese Abwesenheit eines höheren Wissens im Medium der obsolet gewordenen Magie darzustellen und zugleich die Magie Ericthos zu beerben: indem sie, wie es Masters beschrieb, zu einer ›poetry of nefas‹ wird, die ihr ästhetisches Potential aus der grotesk-makabren Imagination und der manieristischen Verzerrung von Vorbildern bezieht.68 Aufschlußreich
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Vgl. Mark P.O Morford: The poet Lucan. Studies in rhetorical epic. Oxford 1967, S. 68: »It will become evident later that Lucan’s knowledge of the ritual goes far beyond that of Ovid and that he must either have attended magical seances or have consulted handbooks on the subject, similar to the magic papyri.« Vgl. dagegen Reinhard Häußler: Das historische Epos von Lucan bis Silius und seine Theorie (Studien zum historischen Epos der Antike II. Teil: Geschichtliche Epik nach Vergil). Heidelberg 1978, S. 45ff. Lucans Schreibweise ist eine manieristische, der Autor gehört zu den Paradebeispielen des literarischen Manierismus der ›Silbernen Latinität‹, vgl. Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt a.M. 1964, der die Pharsalia als »ein[] hochmanieristische[s] Epos« bezeichnet (ebd., S. 610). Friedrichs Verständnis des Manierismus als »Stilstruktur« (ebd., S. 593) kann zwar Lucans manieristischen Stil, nicht aber die in der beschriebenen Verzerrung von Vorgängertexten enthaltene Intertextualität charakterisieren. Die bekannten Definitionen des Manierismus als »Anti-Klassik« (vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Aufl., Tübingen/Basel 1993, S. 277, und Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manierismus in der europäischen Kunst. Reinbek bei Hamburg 1957, S. 225) hingegen bleibt insofern problematisch, als sie einen Kanon klassischer Texte voraussetzt, die als normativ gelten konnten. Die Kanonisierung Vergils etwa war zu Lucans Zeit noch nicht so weit fortgeschritten, daß man schon von Klassik hätte sprechen können (vgl. zum Verhältnis von Klassik und Kanonisierung sowie zur Kanonbildung in der antiken Literatur Peter Lebrecht Schmidt: ›De honestis et nove veterum dictis‹. Die Autorität der ›veteres‹ von Nonius Marcellus bis zu Matheus Vindocinensis. In: Klassik im Vergleich, S. 366–388; zum Verhältnis von Normativität und Historizität als dem Klassikbegriff inhärentes Spannungsfeld s. Wilhelm Voßkamp: Normativität und Historizität europäischer Klassiken. In: ebd., S. 5–8, bes. S. 5). Auch ohne einen Gegenbegriff des ›Klassischen‹ kann der Manierismus definiert werden und zudem in seiner Eigenart besser verstanden werden, wenn man in der ›Deformierung‹ vorausliegender Modelle eine paradigmatische Funktion erkennt, die eine metapoetische Bedeutung besitzt. Das in Lucans Text vorgeführte, nicht mehr mit Hilfe des
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für diese Poetik ist dabei, daß ihre Innovativität nicht absolut ist, sondern das Modell, von dem sie sich absetzt, in einer deformierten Form miteinschließt. Die dargestellte Welt der Ericthoszene, die grausige Bearbeitung eines deformierten Toten mit magischen Mitteln, kann somit als eine Darstellung der énonciation selbst aufgefaßt werden: Der Körper des Toten steht für den Textkörper Vergils ein, die Recodierung des Vorbilds durch Lucan entspricht der Verlebendigung des Toten durch die Hexe.69 Was könnte Goethe an Erichtho so fasziniert haben, an dieser unheiligen, makabren, grausamen Hexe Lucans, die doch in allem dem zu widersprechen scheint, was den deutschen Klassiker auszeichnet? In einem Paralipomenon zum Faust II finden sich folgende beide Verse aus der Lucanschen Beschreibung der Hexenkunst, die uns erste Hinweise geben können. Sie lauten: »quidquid non creditur ars est« und »tonat coelum ignaro iove.«70 Das erste Zitat lautet vollständig: vanum saevumque furorem adiuvat ipse locus vicinaque moenia castris Haemonidum, ficti quas nulla licentia monstri transierit, quarum quidquid non creditur ars est.71
Die Stelle ist aufschlußreich. Der Held der Episode, Sextus, befindet sich in einem »eitlen und fürchterlichen Wahn«, weil er die Zukunft erfahren will. Einen ähnlichen Wahn, wenn auch mit weniger drastischen Worten, wird Chi-
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aemulatio-Begriffs zu beschreibende Verformungsverfahren führt eine bewußte Dereferentialisierung von Sprache vor Augen, die einerseits das Verhältnis der Dichtung zur Wirklichkeit als eines der Konstruktion ausweist und andererseits in dieser Konstruktion das ingenium des Autors auszustellen vermag. Ich folge hier dem Vorschlag Rüdiger Zymners, dessen Begriffsbestimmung des Manierismus die Ergebnisse der älteren Manierismusforschung einschließt, aber einen höheren Allgemeinheitsgrad bei größerer deskriptiver Genauigkeit erreicht: »›Literarischer Manierismus‹ ist eine globale Schreibweise mit der Funktion, bei gewahrter konventioneller Basis poetische Artistik auf der Bedeutungsebene und/oder der Ausdrucksebene eines Textes vorzuführen und dadurch eine Rezipientenreaktion auf diese Artistik heraufzuführen.« (Vgl. Rüdiger Zymner: Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt. Paderborn u.a. 1995, S. 65.) Zum Manierismus Lucans vgl. auch Christiane Wanke: Seneca, Lucan, Corneille. Studien zum Manierismus der römischen Kaiserzeit und der französischen Klassik. Heidelberg 1964. G.W. Most verweist darauf, daß die Beschreibung zerstückelter Körper auch ein rhetorischpoetisches Potential besitzt, weil die Rhetorik bei der Beschreibung von Stilelementen mit Vorliebe auf Körpermetaphern zurückgreift. Der Schluß von der Leichenfledderei Ericthos auf eine poetologische Deutung dieser Lust am zerstörten Körper liegt auch von dieser Seite nahe. Vgl. Most: ›disiecti membra poetae‹, S. 407. Vgl. Paralipomenon HP 140, FA I, 7/1, S. 627: »quidquid non creditur ars est. / tonat coelum ignaro iove.« Pharsalia, 6, Vv. 434–7 – Übers.: »Den fürchterlichen Wahn des Toren [des Sextus, S.S.] förderte die Stätte selber, hausten doch in Lagernähe thessalische Hexen, deren Frechheit im Erfinden nicht geheurer Dinge keiner überbieten könnte, die alles Unglaubliche zu ihrem Handwerk machen«
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ron später Faust bescheinigen.72 Allerdings kann man kaum von einer direkten Vergleichbarkeit von Faust und Sextus sprechen, eher von einer chiastischen Gegensätzlichkeit: Faust will eine Tote aus der Vergangenheit wieder ins Leben führen; Sextus will die Zukunft erfahren, ohne zu wissen, daß dieser Wunsch die Notwendigkeit der Totenbeschwörung einschließt; Faust steigt in die Unterwelt hinab, Sextus bleibt im Zwischenreich der Höhle, in der die magische Handlung stattfindet. Der wesentliche Punkt ist nicht die Parallele von Faust und Sextus, er besteht in der Beziehung der Goetheschen Darstellungsverfahren zur Hexenkunst als einer Kunst des Unglaublichen, die sich mit dem zweiten Zitat zu einer Kunst des Unerlaubten und Widersetzlichen gegen die Götter vereinigt: »tonat coelum ignaro iove«73 bezieht sich auf die Beschreibung der Hexenkunst in ihrer Autonomie und Unabhängigkeit von den Göttern, die keinesfalls in der Lage sind, die Hexen zu beherrschen. Beide Zitate weisen auf zwei entscheidende poetologische Momente der Hexenkunst, die in den Ausführungen zu Lucan herausgearbeitet werden konnten: Die magische Praxis überschreitet das orthodoxe religiöse System und die als natürlich empfundene Ordnung, die jedoch beide in der Negation als deformiertes Modell präsent bleiben. Diese Transgressivität der Magie der Zauberinnen bildet den Kontext des zweiten von Goethe notierten Verses: Cessavere vices rerum dilataque longa haesit nocte dies; legi non paruit aether torpuit et praeceps audito carmine mundus axibus et rapidis impulsos Iuppiter urgens miratur non ire polos. nunc omnia complent imbribus et calido praeducunt nubila Phoebo et tonat ignaro caelum Iove [...]74
Doch was hat dieses makabere Treiben mit Goethe zu tun? Schließt nicht die kultische Feier naturgemäßer Evolution am Ende alles Magische und Unnatürliche aus der »Klassischen Walpurgisnacht« aus? Und hat Goethe nicht jeden Hinweis auf die thessalischen Hexen getilgt, so daß von einer möglichen Beziehung zu Lucan, mit Ausnahme der Erichtho, abgesehen werden kann? Dem ist nicht so. Es stimmt zwar, daß die Hexen nach Erichthos Abgang
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Vgl. Vv. 7446f. »Mein fremder Mann! als Mensch bist du entzückt, / Doch unter Geistern scheinst du wohl verrückt.« Es handelt sich um Vers 467 aus Pharsalia, 6. Pharsalia, 6, Vv. 461–7. »Natürlicher Wechsel stockte, eine lange Nacht zögerte den Tag hinaus; die Sphäre folgte nicht mehr ihrer Vorschrift, beim Hören eines Spruches kam der Gang des Alls zum Stillstand, und mit Staunen merkte Jupiter, daß die sonst in ihren Achsen unermüdlich fortbewegten Himmelsräume seinem Druck zum Trotz nicht weiterliefen. Bald brauen sie überall Regen zusammen, ziehen einen Wolkenschleier vor die warme Sonne, und es donnert am Himmel ohne Jupiters Wissen.«
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nicht mehr in der dargestellten Welt vertreten sind; sie bleiben jedoch in den Reden der Figuren und in einzelnen, mit ihnen fest verbundenen Elementen präsent. Beides, die allzu offensichtliche Abwesenheit und die verborgene Anwesenheit, läßt die Hexen Lucans in derselben Weise anwesend und abwesend zugleich sein, wie es Vergil bei Lucan war. Auffällig ist zunächst, daß die thessalischen Hexen in der Szene in Wagners Laboratorium als wesentliche Teilnehmerinnen des Festes aufgefaßt werden. Es gelingt Homunkulus sogar erst durch ihre Nennung, Mephistopheles zum Mitkommen zu bewegen, dessen erotisches Begehren dadurch entzündet wird.75 Mephisto schafft eine Erwartung auch insofern, als er in seiner Replik auf das Ansinnen des Homunkulus nicht nur eine erotische, sondern auch eine antiquarische Leidenschaft zu erkennen gibt, die den Seltenheitswert der thessalischen Hexen unterstreicht: »Nach denen hab ich lang gefragt.«76 Man muß bedenken, daß sie nicht nur ein beliebiges Detail im Wissen über diese Gegend waren, sondern dessen Kernstück. Daher spiegelt die mephistophelische Begierde wohl auch etwas von der Neugierde des Rezipienten, diese Hexen repräsentiert zu sehen. Mit dem Auftritt Erichthos wird diese Begierde sowohl erfüllt als auch frustriert, und zwar sowohl auf seiten des Mephistopheles wie des Rezipienten. Erichthos rascher Abgang, ihr beinahe moralisches Sich-Zieren, mit dem sie ihre biographische Integrität und ihre Schädlichkeit für Lebendiges hervortut, läßt wenig mehr von dem Unhold Lucans übrig. Doch ist diese Enttäuschung eine bewußte Irreführung, die zur Schaffung einer Leerstelle führt – so daß Erichthos Bedeutung gerade durch ihre Abwesenheit noch einmal verstärkt wird. Was Mephistopheles’ erotische Wünsche betrifft, so findet er nur Supplemente: die Lamien und die Empuse, die diese Leerstelle füllen sollen, zugleich aber die Enttäuschung fortsetzen, da sie sich zwar verführerisch anbieten, sich aber niemals hingeben. Die thessalischen Hexen als Auslöserinnen seines Begehrens bleiben in diesen Supplementobjekten immer noch präsent.77 Diese sind auch noch in anderen Elementen der »Klassischen Walpurgisnacht« präsent, wie etwa im Gesang der Sirenen, mit dem sie den Mond beschwören und seinen Lauf anhalten (vgl. die Szenenbeschreibung nach V. 8033: »Felsbuchten des ägäischen Meers – Mond im Zenit verharrend«). Darin greifen sie
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Faust II, Vv. 6976–6983. Ebd., V. 6980. Zu den Lamien vgl. Hederich: Gründliches mythologisches Lexicon, Art. »Lamia«. In Mephistopheles komisch-erotischen Abenteuern mit den Lamien und der Empuse liegt auch ein Bezug auf die Ekklesiazusen und die Frösche des Aristophanes vor; vgl. hierzu Thomas Gelzer: Aristophanes in der ›Klassischen Walpurgisnacht‹. In: Johann Wolfgang Goethe. Fünf Studien zum Werk. Hg. von Anselm Maler. Frankfurt a.M. 1983, S. 50–84, und Stuart Atkins: Goethe, Aristophanes, and the Classical Walpurgisnacht. In: Comparative Literature 6 (1954), S. 64–78.
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einerseits das Lucansche Motiv des »nefas« auf, andererseits die Fähigkeit der Hexen, die Nacht auszudehnen:78 Haben sonst bei nächtigem Grauen Dich thessalische Zauberfrauen Frevelhaft herabgezogen, Blicke ruhig von dem Bogen Deiner Nacht auf Zitterwogen Mildeblitzend Glanzgewimmel, Und erleuchte das Getümmel Das sich aus den Wogen hebt. Dir zu jedem Dienst erbötig, Schöne Luna, sei uns gnädig! (Vv. 8034–43)
Anwesend sind die abwesenden Hexen aber auch mit dem Motiv, daß sie über die magische Fähigkeit verfügen, den Mond zur Erde herabziehen zu können. Dies findet Erwähnung durch Anaxagoras, der sich nicht nur wie die Hexen mit magisch-beschwörenden Gesängen an die Götter wendet (vgl. 7900ff.), sondern auch die Zauberinnen ausdrücklich erwähnt: So wär’ es wahr daß dich Thessalische Frauen, In frevlend magischem Vertrauen, Von deinem Pfad herabgesungen? Verderblichstes dir abgerungen?... (Vv. 7920–4)
So bleibt also, trotz Erichthos Abgang, die Hexenmagie in dieser Nacht allgegenwärtig, obwohl stets in der Geste der Erinnerung, als zitiertes, herbeigewünschtes oder unerwünschtes Phänomen. Doch das ist nicht alles: Alles, was in dieser Nacht geschieht, erfüllt die Bedingungen des Magischen. Denn die Magie wird ja nicht nur erwähnt, sondern der Zauber des Geschehens muß sich auch ereignen: Der von den Sirenen besungene Mond bleibt stehen und die Lamien verwandeln sich. Der Mond des Anaxagoras fällt zwar nicht vom Himmel, immerhin stürzt jedoch als Reaktion auf die Beschwörungen des Philosophen ein Meteorit auf die Erde. Insofern wird ein magisches Weltbild vor Augen gestellt, und zwar in der Weise, daß es nicht mehr Magie, sondern Poesie ist. D.h. daß die Magie der Hexen zwar nach Erichthos Abgang nur noch in Form von Anspielungen präsent ist, sich allerdings in der Poetik des Textes weiterschreibt, sofern dieser selbst eine magisch zu nennende Realität hervorbringt, die in vielen Einzelelementen auf die Magie der thessalischen Hexen verweist.
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Pharsalia 6, Vv. 461–2: »dilataque longa / haesit nocte dies.«
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Die Verwandlung der Magie in Poesie hat noch eine andere Seite. Goethes »Klassische Walpurgisnacht« zitiert zwar ständig Naturbilder, stellt jedoch poetologisch eine radikale Absage an natürliche Normen dar, und dies nicht nur im Sinne einer Preisgabe der imitatio naturae durch ein nichtmimetisches Schreiben, sondern mehr noch als Preisgabe eines normativ aufgefaßten, naturgesetzlich gedachten Poesiebegriffs. Beschwörungsgesänge und magische Verwandlungen, mythologische Rätsel und Totenverlebendigungen stehen vielmehr für einen Poesiebegriff ein, der sich am »non creditur« der Lucanschen Thessalierinnen abarbeitet. Dabei ist natürlich unbestreitbar, daß die dramatische Welt des Faust II in der intertextuellen Bezugnahme auf Lucans Erictho und auf die auch sonst bekannten Hexen deren Beschreibung nicht nur auf mehrere Figuren verteilt, so daß sie in zerstreuten Elementen anagrammatisch präsent bleiben, sondern auch die Magie befriedet, indem er sie in den Dienst der Beschwörung einer friedlichen Natur stellt. Dies geschieht jedoch nur bis zu einem gewissen Grad. Denn noch dem scheinbar friedlichen Naturgeschehen in der Ägäis bleibt das Gedächtnis Erichthos eingeschrieben. Die Tatsache, daß ausgerechnet die Sirenen jetzt die Rolle der friedlichen Magierinnen übernehmen, signalisiert, wie wenig dieser Befriedung wirklich zu trauen ist. Man müßte sich von der beschwörenden Anmut ihrer Gesänge zu sehr verführen lassen, um dem magischen Schein der Natur, der hier aufgebaut wird, ganz zu vertrauen. Denn die Sirenen verkörpern die Ambivalenz dieses Dramas, das den grausamen Zauber der Hexen zwar abmildert, aber durchaus präsent hält. Immerhin erscheint das Meer selbst noch in der Schlußszene als menschenfeindliches Element und Ort des Schiffbruchs.79 Die Annahme einer eindeutigen Gegenüberstellung von Magie und Natur jedenfalls hat im Text keinen Rückhalt. Das geht auch aus der Tatsache hervor, daß es sich bei allen auftretenden Figuren bis auf die drei Reisenden um Geister handelt; Geister aber sind Untote, Verstorbene, die zu einer Art Halbleben erwachen. Die Tatsache, daß eine solche Szene, in der wir es mit wieder lebendig gewordenen Toten zu tun haben, gerade von jener Figur eingeleitet wird, die uns als eine Expertin auf diesem Gebiet mittlerweile bestens bekannt ist, läßt die Annahme zu, daß die Verbindungen der Szene zu Erichtho noch weitreichender sind. Sie verweist auf ein Darstellungsverfahren, in dem sich magische, intertextuelle, und mnemotechnische Anteile zur Verlebendigung von Toten und zur Integration von Wissen verbinden. Dieses Verfahren läßt sich als Prosopopoiie auffassen. Prosopopoiie, lat.: fictio personae, auch unter dem Begriff der Personifikation bekannt, bezeichnet in der Rhetorik ein Verfahren, Abwesendes und Totes als präsent vor Augen zu stellen, Nicht-Lebendigem und Nicht-Personalem
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Siehe hierzu Kapitel IV.4 dieser Studie.
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eine Person zu verleihen und Abstraktem eine Stimme, ein Gesicht oder einen Körper zu schenken. So schreibt etwa der Autor der Herennius-Rhetorik, der den griechischen Begriff der prosopopoiia mit conformatio wiedergibt. Conformatio est, cum aliqua, quae non adest, persona confingitur, quasi adsit, aut cum res muta aut informis fit eloquens et forma ei et oratio adtribuitur ad dignitatem adcommodata aut actio quaedam [...]. Haec conformatio licet in plures res, in mutas atque inanimas transferatur. Proficit plurimum in amplificationis partibus et commiseratione.80
Die Rhetorik hat auf verschiedene Weise versucht, die Breite dieser und ähnlicher Begriffsbestimmungen der Prosopopoiie einzuschränken, indem sie zu unterscheiden suchte zwischen der Verlebendigung toter Personen bzw. der konkret-personalen Gestaltung abstrakter Begriffe und der gespielten Anwesenheit einer lebenden Person, die der Redner so imitiert, als wäre sie vor aller Augen.81 Solche Unterscheidungen mögen ihre Rechtfertigung haben, jedoch gilt von der Prosopopoiie wie von anderen Tropen, daß von ihrer zu engen Klassifizierung abzuraten ist, weil sie grundsätzliche Fragen der rhetorischen und poetischen Gestaltung berühren, die sich nicht durch desultorische Definitionen erledigt haben. Was diese verschiedenen Formen der Prosopopoiie verbindet, ist die Fiktionalisierung eines Nichtfiktionalen und die Illusion personaler Präsenz.82 Das Verfahren schließt zwei Seiten ein: Es enthält einen Aspekt der Hypotypose, des möglichst eindrücklichen Vor-Augen-
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Rhetorica ad Herennium, 4, 66. »Eine Verkörperung liegt vor, wenn eine nicht anwesende Person vorgespielt wird, als sei sie anwesend, oder wenn eine stumme oder gestaltlose Sache die Redegabe erhält, und ihr eine Rede, die zu ihrem Rang und Charakter paßt, oder irgendeine Handlung zugeschrieben wird [...]. Diese Verkörperung kann man auf noch mehr Dinge, stumme und leblose, übertragen. Sie bringt am meisten Vorteil in den Teilen, die der Steigerung und der Mitleidserregung dienen.« So wird zwischen der prosopopoiia und der ethopoiia differenziert, um die Darstellung von abwesenden Personen und von toten, bzw. nicht-personalen Wesen oder Dingen zu bezeichnen: Die Prosopopoiie wird dann »auf die nicht personhaften Dinge (und die Toten) [...] beschränkt [...], während die Ethopoiie die natürlichen Personen betrifft.« Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, § 826. Bettine Menke behandelt in ihrer Habilitationsschrift über die Prosopopoiie in der Romantik den mit der Figur verbundenen medialen Aspekt der Stimme. Sie interessiert sich für die romantische Obsession der Stimme im Text, die den schriftlichen Charakter der Texte verschleiert und doch auch ausstellt. Dieses Phantasma der Stimme gehört zweifellos zur prosopopoiie seit der antiken Rhetorik. So beginnt auch Quintilian seine Ausführungen zur prosopopoiie mit der Bemerkung, für diese Figur müsse man eine gute Lunge haben. Dennoch läßt sich die Personifizierung nicht auf den Aspekt der Stimme beschränken – es geht nicht nur und nicht einmal hauptsächlich um Verstimmlichung, sondern um Fiktionalisierung und um die Erzeugung von Präsenz durch den Einsatz unterschiedlicher Medien, zu denen im Faust II insbesondere die Magie, die Laterna magica, aber auch der Ritus gehört. Vgl. Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München 2000.
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stellens83 und zugleich die Unterstellung einer Personalität unter ein fiktives Gebilde.84 Ein Abwesender wird als leibhaftig anwesend vorgestellt und ihm wird eine Rede unterstellt, als spräche er selbst. In diesem Sinne schenkt Erictho dem Toten durch ihre Magie eine Stimme und ein Wissen, das er Sextus weitergibt. So lautet die Formel Ericthos: ›[...] ne parce, precor: da nomina rebus, da loca, da vocem, qua mecum fata loquantur.‹ addidit et carmen, quo quidquid consulit umbram scire dedit.85
Diese Aufforderung enthält einen Hinweis auf die Funktion der Rede des Toten. Der Tote und seine Sprache stellen nämlich auf der Ebene der dargestellten Welt Gegenstände der magischen Handlung dar. Rhetorische Figuren jedoch gehören zur elocutio, modern gesagt: zur Darstellungsebene. Nun bedient sich die epische Technik Lucans in dem Moment, in dem sie den Toten eine Rede halten läßt, der Prosopopoiie als Trope, die auf effektvolle Weise das Wissen über die Zukunft der zurückberufenen Seele des zerstörten Leichnam in den Mund legt. Das Besondere besteht darin, daß diese rhetorische Figur in den magischen Handlungen Ericthos widergespiegelt wird. Die Vorbereitungen der Hexe, den Toten sprechen zu lassen, narrativieren auf makabre Weise das Verfahren der Stimmgebung, das sich mit der Rede des Toten auf der Diskursebene ereignen wird. Die Magieszene läßt sich in zwei Richtungen lesen: als Darstellung der epischen Darstellungstechnik und als Darstellung einer Totenbeschwörung. Diese referentielle Ambiguität der
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Vgl. Quintilian: Institutio, 2, 33: »commode etiam aut nobis aliquas ante oculos esse rerum, personarum, vocum imagines fingimus, aut eadem adversariis aut iudicibus non accidere miramur.« (»Passend macht es sich auch, wenn wir es so darstellen, als ständen uns bestimmte Bilder von Dingen, Personen oder Stimmen vor Augen, oder wenn wir uns wundern, daß das Gleiche bei den Gegnern oder Richtern nicht der Fall ist.«) Vgl. Quintilian: Institutio, 9, 2, 30–1: »his et adversariorum cogitationes velut secum loquentium protrahimus [...], et nostros cum aliis sermones et aliorum inter se credibiliter introducimus[...]. quin deducere deos in hoc genere dicendi et inferos excitare concessum est. urbes etiam populique vocem accipiunt.« (»Durch sie [die Prosopopoiie] bringen wir einmal die Gedanken unserer Gegner so zum Vorschein, als ob sie mit sich selbst sprächen [...] und führen sodann in glaublicher Form auch Gespräche ein, die wir mit anderen und die anderen untereinander geführt haben [...]. Ja, sogar Götter vom Himmel herab- und aus der Unterwelt heraufzurufen ist bei dieser Ausdrucksform statthaft. Auch Städte und Völker erhalten Sprache.«) Pharsalia,, 6, Vv. 773ff. Übers.: »Sprich bitte schonungslos: heraus mit den Personen des Geschehens, heraus mit seinen Orten, heraus mit einer Stimme, durch die das Schicksal mit mir sprechen kann. Sie setzte noch einen Spruch hinzu, mit dem sie die Totenseele fähig machte, all das zu wissen, wonach sie fragte.« Der Sinn der Prosopopoiie wird in einer wörtlichen Übertragung deutlicher: gib den Dingen (bzw. Ereignissen) Namen, gib ihnen Orte, gib ihnen eine Stimme, durch die das Schicksal mit mir sprechen kann. Der Tote wird als prosopopoiie apostrophiert, die anderen Dingen zur Anwesenheit verhelfen soll.
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Personifikation wurde schon von Quintilian angedeutet, wie sich an dieser Erörterung ablesen läßt: [...] prosopopoeiae, id est fictae alienarum personarum orationes, quales litigatore dicit patronum [...]. Non enim audire iudex videtur aliena mala deflentis, sed sensum ac vocem auribus accipere miserorum, quorum etiam mutus aspectus lacrimas movet.86
Die Prosopopoiie besteht darin, ein Abwesendes so darzustellen, daß die Darstellung dahinter verschwindet. Doch die Formulierungen Quintilians deuten auch an, daß jederzeit eine Refocussierung der Wahrnehmung auf den Darstellungsakt möglich wäre. Dies legt jedenfalls das Verb »videtur« nahe, welches den Zustand der Aufmerksamkeit des Richters zwischen einem pragmatischen Interesse an der Sache und einem artistischen oder ästhetischen Beobachten des Darstellungsaktes in der Schwebe läßt. Aus dieser in der Figur angelegten referentiellen Paradoxie hat Paul de Man sehr weitreichende Konsequenzen gezogen, sie sogar als »master trope of poetic discourse«87 bezeichnet. Die Bedeutung der Prosopopoiie besteht für de Man darin, daß sie die Trope ist, die die durch die Schrift vereitelte Präsenz der sprechenden Subjektivität in literarischen Texten durch eine halluzinatorische Anwesenheit heilen soll. De Mans Paradigma ist die Romantik – und er sieht in der Prosopopoiie das spezifische Verfahren der Romantik, die Stimme des Autorsubjekts in Texte zu inskribieren, somit der Subjektivität eine fiktionale Präsenz zu erschaffen. Es gehört für ihn zu den Konstituenten romantischer Texte, mit Hilfe solcher Doubles des Autors als Formen einer personifikatorischen Anwesenheit den Tod des Autors in der Schrift vergessen zu lassen – die Prosopopoiie rückt die Illusion einer Stimme an die Stelle der stummen Buchstaben, läßt die Personalpronomina als Formen einer Referenz auf ein sprechendes Subjekt erscheinen. Eine Lektüre, die jedoch die Aufmerksamkeit auf diese Verfahren selbst lenkt, wird erkennen, daß es sich um eine Technik der Ablenkung handelt, die fremdreferentielle Effekte erzeugen soll, indem sie die generelle Selbstreferenz der Schrift verstellt. In den Worten Bettine Menkes: So ist die Prosopopoiia, die eine Stimme verleiht, die rhetorische Figur, die das Subjekt der Rede (erst) erstellt, das nachträglich immer schon gegeben zu sein scheint; und so verstellt diese Figur durch ihren Effekt und durch dessen Substantialisierung auch schon ihr Funktionieren als rhetorische Figur und ihre Voraussetzung eines Mangelns (von Stimme und Gesicht).«88
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Institutio, 6, 1, 25–26. »Prosopopoiien [...] das heißt erfundene Reden fremder Personen, wie sie der Anwalt den Prozessierenden in den Mund legt. [...] Denn der Richter hat nicht den Eindruck, Menschen über fremdes Unglück weinen zu hören, sondern Empfindung und Stimme der Armen selbst in sein Ohr aufzunehmen, deren stummer Anblick schon zu Tränen rührt.« Paul de Man: The Resistance to Theory. Minneapolis/Manchester 1986, S. 48. Bettine Menke: Prosopopoiia, S. 144f.
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So läßt sich die Prosopopoiie als Form einer Unterstellung von Subjektivität unter die Schrift ebenso lesen, wie sie bei Focussierung der Verfahren diese ausstellt und dokumentiert.89 Die Beobachtungen de Mans und Bettine Menkes lassen sich auch aus Sicht der Systemtheorie reformulieren, nämlich als die Zuschreibung von Subjektivität als Resultat einer Beobachtung von Kommunikation. Die ›Abwesenheit‹ in der Schrift ist generalisierbar für Kommunikation überhaupt – denn Subjektivität als Vorstellung eines ›ganzen‹ Menschen, der ›sich‹ entäußern könnte, indem er sich mitteilt, bleibt, nicht nur in der Schrift und nicht nur in der Prosopopoiie, eine Unter-Stellung eines Beobachters erster Ordnung. Dekonstruktion als »second order observing«90 kann dann gelesen werden als ein Verfahren, das nicht Effekte der Schrift, sondern Paradoxien von Kommunikation beobachtet. Dabei kommt dem Status der rhetorischen Figur große Bedeutung zu, dient sie doch als eine je spezifische Form, Kommunikation zu steuern und Fremd- und Selbstreferenz in besonderer Weise zu lenken. Indem Goethe jene Erictho wiederholt, die bei Lucan als Urheberin der magischen Form von Prosopopoiie erscheint, schreibt er die Technik Lucans weiter: Erichtho erfüllt für das Drama Goethes eine ähnliche Funktion wie für Lucans Epos, allerdings kommt es zu Verschiebungen und zu Rekombinationen, so daß sich mit Goethes Erichtho Elemente des Toten und der Hexe bei Lucan zu einem neuen Bild vereinen. Brachte bei Lucan der Tote ein durch ihn verkörpertes Wissen zur ästhetischen Präsenz, so nimmt bei Goethe Erichtho dessen Stelle ein: Sie ist nicht mehr die Urheberin der Verlebendigung, sondern selbst die Prosopopoiie geworden. Einerseits erscheint Erichtho so, als wäre sie noch einmal lebendig, als stünde sie noch einmal selbst leibhaftig vor Augen und nicht nur als Gespenst. Andererseits figuriert sie Goethes Darstellungsverfahren und stellt somit auch ein Alter Ego der Autorfunktion dar. Auffällig an Goethes Darstellung ist dabei vor allem, daß der Akt der Nekromantie, der doch das entscheidende Merkmal der Hexe ist, im Faust II nicht erscheint. Er bleibt scheinbar gänzlich abwesend und wird nur noch in der Negation der eigenen Abscheulichkeit durch Erichtho festgehalten, mit der sie die Erinnerung an die frühere literarische Rezeption ebenso bannt, wie sie diese erinnert. Und doch bleibt der Akt der magischen Verlebendigung im Faust II allgegenwärtig. Denn die Geister dieser Nacht sind wieder ins Leben zurückgerufene Erscheinungen; allesamt sind sie Wiedergänger, poetische Per-
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Vgl. ebd., S. 149: »In der Akzentuierung de Mans ist darum ›giving a face‹ zugleich defacement. Als Fiktion einer (halluzinatorisch werdenden) Stimme spricht die Prosopopoiia von dem, was in ihr, in ihrem Effekt des Sprechen-Machens durch Mund und Gesicht, die gegeben werden müssen, verstellt ist: vom Tod, von der Abwesenheit des Gesichtslosen.« Vgl. Niklas Luhmann: Deconstruction as Second Order Observing. In: New Literary History 24/4 (1993), S. 763–782.
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sonifikationen, die bereits gelebt haben. Sind sie doch als »alter Tage fabelhaft Gebild« die wiedererstandenen Geister der antiken Mythologie. Die Geister fungieren wie Erichtho als Masken und Stimmen, durch die sich ein Wissen spricht, das mit den Geistern auf mehr oder weniger arbiträre Art verbunden ist. Chiron, Thales oder Nereus lassen die Archive der Goethezeit zirkulieren, führen sie in einer transformierten Form in Faust II ein. Sie ermöglichen es, die Archive poetisch zu verlebendigen und sie zu einer dramatischen Präsenz zu bringen. Lucans Erictho dient für Goethe über diese Wiederbelebung der Toten hinaus als Modell, weil sich ihre Beschörung auch auf die Orte bezog, die der Tote den erfragten Dingen zuweisen sollte. Das Wissen bedarf nicht nur einer Stimme, es muß auch in eine räumliche Ordnung projiziert werden. In Erichthos Aufforderung an den Toten, sein Wissen topologisch zu spezifizieren, besteht enge Verbindung zur Ars memoriae. In beiden Fällen geht es darum, Wissen zu ordnen, zu dramatisieren, es durch die Verbindung von Ort, Stimme und Figur verfügbar zu halten. Auch bei Goethes Erichthos findet sich die Möglichkeit einer Verbindung von Memoria und Prosopopoiie bestätigt. Erichtho steht an ihrem Ort für ein bestimmtes Wissen der Poesie ein: Sie figuriert die Textverfahren als Gewinnung von Bildern, die der Integration und Reflexion von Wissen dienen; sie thematisiert die Nicht-Identität der Zeichen mit sich selbst und spiegelt die Eigenschaft der anderen Geister der »Klassischen Walpurgisnacht«, die gleichfalls als dramatisch Verlebendigte die Archive der Goethezeit repräsentieren.
3. Thessaliens Textnatur Nachdem am Beispiel der Erichtho die mnemonisch-intertextuelle und zugleich selbstreflexive Bedeutung der mythologischen Figuren in der »Klassischen Walpurgisnacht« untersucht wurde, ist jetzt am Beispiel Thessaliens nach der Recodierung und Refunktionalisierung des Raums durch Goethe zu fragen. Die Tatsache, daß Thessalien der Austragungsort der Schlacht und zugleich die Heimat der Hexen ist, weist die Landschaft in Lucans Imagination als Ort des Unheils aus, als eine Antilandschaft, die von Beginn an unter dem Zeichen eines kosmischen Unheils stand. Als »damnata fatis tellu[s]«91 charakterisiert, besitzt Thessalien, bzw. der Thessalienexkurs eine doppelte poetische Funktion: Einerseits bereitet die Beschreibung des Kampfplatzes die Schlacht vor, andererseits fungiert Thessalien als symbolische Landschaft, die das fatale Geschehen des Epos in verdichteter Form zur Darstellung bringt und es mit einem nicht nur in der historischen, sondern auch in der kosmisch-natürlichen Welt wirkenden Unheil in Verbindung bringt. Thessalien war, das soll
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Pharsalia, 6, V. 413.
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der Exkurs belegen, schon immer eine verworfene Landschaft, die das historische Unglück, das sich in ihr ereignen wird, präfiguriert.92 Um den Exkurs genauer analysieren und mit Goethes Thessalien vergleichen zu können, sei er hier zunächst, in nur leicht gekürzter Form, zitiert (Phars. 6, Vv. 333–412): Thessaliam93 , qua parte diem brumalibus horis attollit Titan, rupes Ossaea coercet;
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Vgl. Jamie Masters: Poetry and Civil War, S. 150: »[...] in a wider sense, the catalogue will show us that Thessaly has always been an evil and terrible place, and we will see that fate has been at work since the beginning of time to make it a fit place for the culminating battle of the civil war.« Thessalien wird dort, wo Helios an Dezembertagen das Licht heraufführt, vom Ossaberg begrenzt, und wenn die Sonne im Hochsommer den Zenit durchwandert, bietet der Pelion vor ihren Morgenstrahlen Schatten; doch die Gluten des Mittagshimmels unter dem stechenden Hauch des Löwen zur Sommersonnenwende hält der Othrys mit seinen Wäldern ab; anstürmende Westwinde und Brisen aus Apulien fängt der Pindos auf, verkürzt das Tageslicht und beschleunigt den Abend; wer aber am Fuße des Olymp wohnt, muß keinen Nordwind fürchten und sieht den Großen Bären nicht ganze Nächte leuchten. Die Ackerflächen, die tief im Tal inmitten dieser Berge liegen, bargen sich einst unter lückenlosen Sümpfen, solange die Flüsse noch im Gefilde blieben und kein Durchbruch im Tempetal ihnen Zugang zum Meer gewährte, solange sie ein einziges Becken füllten und ihr Lauf nichts als ein Steigen war. Als später aber Herakles mit seiner Faust den gewaltigen Ossa vom Olymp trennte und Nereus plötzlich Wassereinbruch spürte, da tauchte, statt besser von Fluten bedeckt zu bleiben, in der Landschaft Emathia Pharsalus auf, das Reich des Meerfrauensohns Achilleus, weiter Phylake, dessen König mit seinem Kiel als erster Trojas Strand berührte, Pteleos und Dorion, wo zornige Musen Jammer schufen, Trachin und Meliboia als Heimat jenes Helden, der mit einer Fackel zu unerhörter Tat bereit war und sich um diesen Preis mit Herakles’ Pfeilen wappnen durfte, sowie das früher mächtige Larissa; die Plätze tauchten auf, wo jetzt der Pflug über das ehedem berühmte Argos hingeht, wo die Legende Echions einstiges Theben zeigt, wo vor Zeiten die ausgewiesene Agaue Pentheus’ mitgebrachten Hals und Kopf dem Leichenfeuer übergab und klagte, daß dies von ihrem Sohn die ganze Beute war. Somit zerfiel der Sumpf und verlief sich in viele Flüsse. Der klare, freilich wasserarme Aias floß von dort nach Westen zur Joniersee, und mit nicht kräftigerem Wellenschlag glitt der Strom dahin, der die in fremdes Land verschlagene Io zeugte, während jener, der beinahe Oineus’ Schwiegersohn geworden wäre, mit dickflüssigen Wogen die Echinaden unter Schlamm setzte und der mit Nessos’ Blut besudelte Euenos Meleagers Heimat Kalydon durchschnitt. [...] Dazu all die Flüsse, die das Meer nicht einzeln kennt, weil sie ihren Wasservorrat dem Peneios abgegeben haben [...]. / Sobald die Flüsse abgelaufen waren und Felder zutage traten, zogen Bebryker Ackerfurchen durch das fette Land, drang dann unter dem Druck von Lelegerfäusten der Pflug ins Erdreich, brachen Aioliden und Doloper als Bauern den Boden auf, dazu Magneten und Minyer, jener Stamm berühmt durch seine Pferde und durch seine Ruder dieser. Dort fuhren, halb Mensch und halb Pferd, Zentauren als Ixions Söhne in einer Höhle des Pelethronion aus geschwängerter Wolke: Monychos, dessen Huf über Pholoës rauhe Felsen stampfte, der wilde Rhoitos, der zum Schießen am Hang der Oite mächtigere Eschen ausriß, als sie ein Nordsturm umgeworfen hätte, des großen Herakles Bewirter Pholos und jener Unhold, der beim Tragen durch den Fluß einen mit Hydragift getränkten Pfeil empfangen sollte, dazu der alte Chiron, der als glitzerndes Gestirn am Winterhimmel seinen Zentaurenbogen gegen den riesengroßen Skorpion spannt. / In diesem Lande schossen die Keime für rohen Krieg ans Licht. Zum ersten Mal sprang in Thessalien, da Poseidons Dreizack ins Gestein fuhr, auf mörderische Schlachten deutend ein Roß hervor, zum ersten Mal ließ ein Lapithe als sein Bändiger das Tier auf einen Zaum mit Eisen beißen und unter noch nie erprobten Zügeln schäumen. Erstmals zerteilte am Golf von Pagasai eine Barke das Meer und setzte Landbewohner unbekannten Wogen aus. Erstmals gab Thessaliens König Jonos erhitzten Metall-
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cum per summa poli Phoebum trahit altior aestas, Pelion opponit radiis nascentibus umbras; at medios ignes caeli rapidique Leonis solstitiale caput nemorosus summovet Othrys; excipit adversos zephyros et iapyga Pindus et maturato praecidit vespere lucem; nec metuens imi borean habitator Olympi lucentem totis ignorat noctibus Arcton. hos inter montes, media qui valle premuntur, perpetuis quondam latuere paludibus agri, flumina dum campi retinent nec pervia Tempe dant aditus pelagi stagnumque inplentibus unum crescere cursus erat. postquam discessit Olympo Herculea gravis Ossa manu subitaeque ruinam sensit aquae Nereus, melius mansura sub undis Emathis aequorei regnum Pharsalos Achillis eminet et, prima Rhoeteia litora pinu quae tetigit, Phylace Pteleosque et Dorion ira flebile Pieridum, Trachin pretioque nefandae lampados Herculeis fortis Meliboea pharetris atque olim Larisa potens; ubi nobile quondam nunc super Argos arant, veteres ubi fabula Thebas monstrat Echionias, ubi quondam Pentheos exul colla caputque ferens supremo tradidit igni questa, quod hoc solum nato rapuisset, Agaue. ergo abrupta palus multos discessit in amnes. purus in occasus, parvi sed gurgitis, Aeas Ionio fluit inde mari, nec fortior undis labitur avectae pater Isidis, et tuus, Oeneu, paene gener crassis oblimat Echinadas undis et Meleagream maculatus sanguine Nessi Euhenos Calydona secat. [...] et quisquis pelago per se non cognitus amnis Peneo donavit aquas [...]. ut primum emissis patuerunt amnibus arva, pinguis Bebrycio discessit vomere sulcus; mox Lelegum dextra pressum descendit aratrum; Aeolidae Dolopesque solum fregere coloni et Magnetes equis, Minyae gens cognita remis. illic semiferos Ixionidas Centauros
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klumpen Form durch Prägung, schmolz Silber im Feuer, schlug Münzen aus Gold und ließ in ungeheuren Öfen Kupfer sieden: dort machte man, und dies trieb Völker zu ruchlosen Kämpfen, Reichtum zählbar. Von hier aus glitt der mächtige Pythondrache in Kirrhas Grotte hinab, weshalb auch Lorbeer für die Pythien aus Thessalien geholt wird. Ungebärdig hetzte von hier aus Aloeus seine Brut gegen die Himmelsgötter, sodaß damals fast der Pelion sich zwischen die Sterne droben schob, der Ossa in Planetenbahnen eindrang und sie abschnitt. / In diesem vom Geschick verwünschten Lande schlugen die Rivalen ihr Lager auf [...].« – Die Übersetzung der letzten beiden Verse wurde leicht modifiziert, S.S.
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feta Pelethroniis nubes effudit in antris: aspera te Pholoes frangentem, Monyche, saxa, teque sub Oetaeo torquentem vertice volsas, Rhoece ferox, quas vix Boreas inverteret, ornos, hospes et Alcidae magni Phole, teque per amnem improbe Lernaeas vector passure sagittas, teque, senex Chiron, gelido qui sidere fulgens impetis Haemonio maiorem Scorpion arcu. hac tellure feri micuerunt semina Martis. primus ab aequorea percussis cuspide saxis Thessalicus sonipes bellis feralibus omen exiluit, primus chalybem frenosque momordit spumavitque novis Lapithae domitoris habenis. prima fretum scindens Pagaseo litore pinus terrenum ignotas hominem proiecit in undas. primus Thessalicae rector telluris Ionos in formam calidae percussit pondera massae, fudit et argentum flammis aurumque moneta fregit et immensis coxit fornacibus aera. illic, quod populos scelerata impegit in arma, divitias numerare datum est. hinc maxima serpens descendit Python Cirrhaeaque fluxit in antra, unde et Thessalicae veniunt ad Pythia laurus. impius hinc prolem superis immisit Aloeus, inseruit celsis prope se cum Pelion astris sideribusque vias incurrens abstulit Ossa. hac ubi damnata fatis tellure locarunt castra duces [...].
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Lucan verfährt in diesem, wie auch in seinen anderen Exkursen nicht grundsätzlich anders als andere antike Epiker. Er bezieht sich auf vorhandene Quellen94 – hier kommen besonders Herodot, Seneca und Strabo in Betracht – und nutzt das dort ausgebreitete geographische Wissen, um es zu einer totalisierenden Darstellung zu verbinden und dieser wiederum eine Funktion innerhalb der ganzen Dichtung zu geben. Lucans Darstellung Thessaliens erklärt sich aus der typologischen Deutung der Naturgeschichte als Präfiguration des späteren weltgeschichtlichen Geschehens. Um die Intention Lucans deutlich zu machen, zugleich jedoch den Bezug zu Goethe zu wahren, verfährt die folgende Analyse selektiv, indem sie sich vor allem auf die Stellen bezieht, die für die »Klassische Walpurgisnacht« Bedeutung haben. Lucan beginnt mit einer Schilderung der Berge. Diese umschließen Thessalien so, daß weder Wind noch Sonnenlicht noch der Nachthimmel im Tal sichtbar werden. Die Höhe und der Bewuchs der Berge schließen das Land ganz von seiner Umwelt ab. Es erscheint darum als eine Art auf die Erdober-
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Zu Lucans Quellen vgl. Werner Rutz: Lucans ›Pharsalia‹ im Lichte der neuesten Forschung, S. 1460ff.
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fläche versetzte Unterwelt, als ein irdischer Hades.95 Durch die Abwesenheit einer Abflußmöglichkeit steigt der Wasserspiegel im Tal beständig an (vgl. Vv. 345), so daß die Landschaft »perpetuis paludibus« (V. 344) bedeckt ist. Erst die Trennung des Ossa vom Olymp durch Herakles (Vv. 347ff.) schafft einen Abfluß. Der dadurch entstehende plötzliche Einbruch des Wassers ins Meer läßt Pharsalus auftauchen, das als »melius mansura sub undis« (V. 349) bezeichnet und damit als verfluchtes, unheilbringendes Land dargestellt wird. Diese Darstellung der aus dem Wasser auftauchenden Landschaft ist beziehungsreich. Sie erhält eine weitreichende Bedeutung, wenn man mögliche Referenzen auf das antike Wissen berücksichtigt, wie etwa die stoische Theorie der Erdentstehung oder die Erzählung des Mythos von Deucalion und Pyrrha bei Ovid.96 Seneca ist in seinen naturhistorischen Schriften der Meinung, die Erde sei zu Beginn ihrer Entstehung aus einem alles bedeckenden Ursee aufgetaucht.97 Diese stoische Vorstellung bildet eine sehr wichtige Verbindung zur »Klassischen Walpurgisnacht« und zur Naturwissenschaft der Goethezeit, stellt diese Theorie doch einen Vorläufer der späteren Debatte über Neptunismus und Vulkanismus dar. Der Deucalionmythos wiederum erzählt von einer Sintflut, die alles Entstandene vernichtet, dem Menschenpaar Deucalion und Pyrrha jedoch das Überleben ermöglicht. Gerettet werden sie auf dem Gipfel des Parnassus zu den Urahnen eines neuen Menschengeschlechts.98 Während das Auftauchen Thessaliens an die – stoische oder mythische – Erdentstehung erinnert, wird jedoch der finale Sinn der Entstehung umgekehrt: »melius mansura sub undis« – das Entstandene wäre, das ist die fast mephistophelische Auffassung des Epikers – besser nicht entstanden, ist es doch nur der Anfang einer endlosen Verkettung von Gewalt und Brutalität. Die Schöpfungsgeschichte wird von Lucan als Unheilsgeschichte erzählt, die sich in der
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Dies nach der Deutung von Martin Korenjak: Die Ericthoszene. Vgl. dort die Aufzählung der Entsprechungen zur Unterweltsdarstellung bei Plato und in der Aeneis, aus denen Korenjak die Konsequenz zieht: »Seine [Lucans, S.S.] Geographie Thessaliens ersetzt gewissermaßen die Unterweltsgeographie Vergils in Aen. 6, zu der er kein eigentliches Gegenstück bietet.« (Ebd., S. 81.) Publius Ovidius Naso: Metamorphoses / Metamorphosen. Hg. von Erich Rösch. München 1952, 1, Vv. 253–416. Vgl. etwa Lucius Annaeus Seneca: Naturales quaestiones. With an English translation by Thomas H. Corcoran. London 1971/72, 13, bes. 13,2. So auch Martin Korenjak: Die Ericthoszene, S. 85. Zum Deucalionmythos vgl. Jamie Masters: Poetry and Civil War: »The lake, indeed, is a miniature flood, and as such links with the important motif of universal flood (Deucalion’s flood) [...]; the way the lake is described indeed delineates it as a precisely primeval lake (quondam), and its subsiding, followed by the emergence of towns on dry land, seems to parallel the reemergence of the earth after the subsiding of the great flood. There is something of a miniature creation myth in all of this: Lucan’s catalogue allows us to witness the creation of a world – an anti-world – from its initial chaotic nothingness, towards the building of its first cities, the development of its first civilizations, and its first discoveries (some of which are common elements in the myth of the passing of the golden age).« (S. 157f.)
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Schlacht bei Pharsalos erfüllt. Lucans Umgang mit Wissen bleibt dabei von der poetischen Notwendigkeit bestimmt und nicht von dem Eigenwert dieses Wissens. So ist er kein Stoiker, auch wenn er sich auf stoische Theorien beruft. Vielmehr werden diese mit anderen Elementen kombiniert. Jedoch bilden sich in diesem Kombinationsverfahren sinnhafte Kontexte heraus, von denen er sich absetzen und seiner Erzählung einen größeren semantischen Rahmen verleihen kann.99 Die Verknüpfung der Thessalienbeschreibung mit Erzählungen über den Ursprung der Erde aus dem Wasser ist eine der wesentlichen Verbindungen zu Goethes »Klassischer Walpurgisnacht«, doch gibt es noch weitere wichtige Bezüge. Auslöser des Auftauchens ist die Abtrennung des Ossa vom Olymp. Diese wird hier dem Herakles zugeschrieben, was Lucan wohl von Seneca und Diodor übernimmt,100 während in der »Klassischen Walpurgisnacht« Seismos – ein personifiziertes Erdbeben – für diese Trennung verantwortlich ist (vgl. Faust II, Vv. 7518ff.). Während es Lucans eigene Leistung war, die Entstehung Thessaliens als einen negativierten Schöpfungsmythos zu erzählen, handelt es sich bei diesem Komplex um einen Topos des antiken Wissens, für den es zahlreiche Belegstellen gibt. Bereits Herodot erzählt in seiner Beschreibung Thessaliens, daß ein Erdbeben den Ossa vom Olymp getrennt und damit das Tempetal geschaffen habe, durch welches der Peneos ins Meer fließt.101 Herodot kennt auch die mythologische Deutung des Geschehens durch die Thessaler, welche die Tat allerdings nicht dem Herakles, sondern Poseidon zuweisen. Diese mythologische Erklärung deutet er auf ein Erdbeben hin, sofern nämlich Poseidon als der für dieses Naturphänomen zuständige Gott anzusehen sei.102 Was diese Erklärungen für die Entstehung des Tempetals betrifft, so entscheidet sich Lucan für Herakles, der eine zentrale Figur des Exkurses
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Über Lucans Beziehung zur stoischen Naturlehre vgl. ebd., S. 63, und Michael Lapidge: Lucan’s imagery of cosmic dissolution‹. In: Hermes 107, S. 344–370, wo es über die Verwendung der stoischen Bildwelt durch Lucan heißt: »Its use in the Pharsalia does not demonstrate that Lucan was a doctrinaire Stoic, but it suggests at least that he was the inheritor of a rich tradition of Stoic cosmological vocabulary [...] and that in the application of this Stoic vocabulary, he displayed striking originality.« (Ebd. S. 370.) So verhält es sich auch mit den vermeintlichen ›Fehlern‹ Lucans – etwa der ›irrtümlichen‹ geographischen Versetzung von Bergen, der Nennung nicht-thessalischer Städte im Thessalienexkurs usw. Das sind poetische Freiheiten, die meist einen mythopoetischen Sinn ergeben, wie das Thessalien-Kapitel bei Masters und der Kommentar von Korenjak eindrücklich belegen. Vgl. Lucius Annaeus Seneca: Hercules furens. In: ders., Tragedies. Bd. I. With an English Translation by Frank Justus Miller. Cambridge, Mass./London 1979, Vv. 283ff., und Diodoros Siculus:. Βιβλιοθκη στορικ / The Library of History. With an English Translation of Charles H. Oldfather. Cambridge, Mass./London 1983ff., 4, 18, 6. Der Peneos nimmt eine Vielzahl von thessalischen Flüssen in sich auf. Vgl. hierzu die Ausführungen zum Flußkatalog bei Lucan weiter unten. Herodot: ‘Iστοραι / Historien. Griech.-dt. hg. von Josef Feix. München 1963, 7, 129. Wesentliche Elemente von Lucans Beschreibung finden sich in Herodots Thessalienkapitel, allerdings in der Nüchternheit des Historikers erzählt, ohne den Beziehungsreichtum des Epos.
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darstellt. Mehrfach wird implizit und explizit auf seine Geschichte angespielt, auch wegen seiner Verbindung zur Gigantomachie. Es gibt eine Parallele zur Trennung des Ossa vom Olymp durch Herkules und zu dem Aufstand der Giganten, die wie es die Mythologie weiß, Berge aufeinander türmten, um den Himmel zu stürmen. Diese Berge waren Ossa und Pelion, mit denen der Exkurs Lucans beginnt und schließt. An seinem Ende, bei der zweiten Nennung der beiden Berge, wird der Gigantenaufstand explizit erwähnt: »impius hinc prolem superis immisit Aloeus, / inseruit celsis prope se cum Pelion astris / sideribusque vias incurrens abstulit Ossa.«103 Die Nennung der Giganten, die sich gegen die göttliche Ordnung auflehnen, fungiert als mythologische Matrix des Bürgerkrieges. Dagegen steht Herakles für diese Ordnung ein, war doch sein Eingreifen entscheidend für den Sieg der Olympier. Während die Giganten Berge versetzen und damit nur Unruhe stiften, wird eine ähnliche Tat des Herakles, die Trennung zweier Berge, zum Auslöser der Entstehung einer Landschaft. Weil diese nun ihrerseits in Verbindung steht mit der Schlacht und einer letztlich zerstörerischen Kulturgeschichte, fällt allerdings auf diese Tat selbst ein problematisches Licht. Bei seiner Gestaltung der »Klassischen Walpurgisnacht« vermittelt Goethe in einer verblüffenden Mytho-Logik zwischen der aufgeklärt-geologischen Position der (Natur-)Historiker und der mythologischen Poesie. Seine Figur des Seismos stellt eine Remythologisierung der Naturwissenschaft dar. Seismos ist eine aitiologische Personifikation; der Name bedeutet »Erdbeben«, insofern wird also die naturwissenschaftliche Erklärung aufgegriffen, durch die Personifikation wird aber dieses Wissen in ein mythologisches Bild zurückübersetzt. Darüber hinaus kombiniert Goethe diese Figur mit Elementen der Giganto- und der Titanomachie. Seismos sammelt also heterogene Elemente des antiken Wissensarchivs auf sich und bringt sie in neuer Weise zur Geltung. Die Lucansche Matrix bleibt darin trotz der Bedeutung anderer Quellen erhalten, da die Relation von Krieg und Erdgeschichte sich nur bei diesem Autor findet. Die Eröffnung des Tempetals führt bei Lucan zu einem plötzlichen Hereinbrechen von Wassermassen ins Meer, welche sich dessen Bewohner Nereus bemerkbar machen: »subitaeque ruinam / sensit aquae Nereus.«104 Mit diesem Ereignis wird eine Kommunikation zwischen dem Gebirgsland und dem Meer durch die verschiedenen thessalischen Flüsse gestiftet, die auch die Phantasie Goethes prägte und in ähnlicher, obwohl abgemilderter Form in der »Klassischen Walpurgisnacht« wiederkehrt. Auch hier gibt es eine über das Medium des Flusses verlaufende Kommunikation zwischen der Landschaft am Oberen Peneos und den Felsbuchten der Ägäis und einen Zusammenhang zwi-
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Pharsalia, 6, Vv. 410ff. Pharsalia, 6, Vv. 348f.
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schen der Erschütterung der Landschaft durch Seismos und der Wahrnehmung dieser Erschütterung durch die mythologischen Wesen. So klingt der eben zitierte Vers Lucans in den Worten der Sirenen, die das Erdbeben als erstes wahrnehmen, nach, ist doch auch hier vom aufgebrachten Wasser und von der Flucht zum Element des Nereus, dem Meer, die Rede: Schäumend kehrt die Welle wieder, Fließt nicht mehr im Bett darnieder; Grund erbebt, das Wasser staucht, Kies und Ufer berstend raucht. Flüchten wir! Kommt alle, kommt! Niemand dem das Wunder frommt. (Vv. 7503ff.)
Goethe macht allerdings ein anderes Modell der Erdentstehung für die Störung des Gleichgewichts verantwortlich. Während bei Lucan das Wasser mit der Gewaltgeschichte in Verbindung steht, da diese erst mit dem Auftauchen des Landes beginnen kann, vertauscht Goethe den Eingriff des Herakles mit dem Wirken eines Erdbebens und macht damit vulkanistische Erdkräfte für den weiteren Verlauf des Geschehens am Oberen Peneios verantwortlich. Auf den oro- und geographischen Exkurs folgt bei Lucan ein mythologischer Ausblick, bei dem die neun thessalischen Städte, die nach dem Auftauchen der Landschaft gegründet wurden,105 mit Mythen in Verbindung gebracht werden, die geeignet sind, auf Thessalien ein möglich düsteres und unheilvolles Licht zu werfen. Daran schließt sich ein Katalog von Flüssen sowie eine Auflistung der teils mythischen, teils historischen Bewohner Thessaliens an,106 auf die ein kulturgeschichtlicher Überblick folgt. Dieser ist wieder für die »Klassische Walpurgisnacht« interessant, enthält er doch zahlreiche Elemente des antiken Wissens über Thessalien, die im Faust II wiederkehren. Zu den technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften gehören, folgt man Lucan, nur solche Künste, die ins Verderben führen: Krieg entsteht hier, das Streitroß springt aus dem Felsen hervor. Die Seefahrt wird erfunden, die den Menschen ein Übertreten ihrer natürlichen Grenzen ermöglicht.107 Auch der Reichtum an Bodenschätzen, von Silber und Gold (V. 404) gehört in diesen Unheilszusammenhang. Die Erfindung des Geldes steht im Kontext mit der Züchtung des Streitrosses und bewirkt Kriege: »Illic quod populos scelerata
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Von denen allerdings Dorion nicht in Thessalien, sondern auf der Peloponnes lag, vgl. hierzu Masters: Poetry and Civil War, S. 159f. Zu diesen zählen die Kentauren, von denen u.a. ausdrücklich Chiron erwähnt wird, der in der »Klassischen Walpurgisnacht« eine wichtige Rolle spielt. Jedoch ist diese Übereinstimmung zu unspezifisch und Goethes Wissen über Chiron scheint eher aus Hederichs Gründlichem mythologischen Lexikon zu stammen. Vgl. Pharsalia, 6, Vv. 400f.
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inpegit in arma / Divitias numerare datum est.«108 Der kulturgeschichtliche Überblick schließt mit der Erwähnung der Python und der Gigantomachie. Mit der abschließenden Nennung des Pelion und Ossa, die auch zu Beginn des Thessalienabschnittes standen, rundet sich der Kreis, und der Exkurs mündet in die Schilderung der Erictho. Der kulturgeschichtliche Abriß bei Lucan enthält wiederum auffallende Parallelen zur »Klassischen Walpurgisnacht«. In der Reihenfolge, die Lucan vorgibt, ist zunächst die Seefahrt zu erwähnen, deren Erfindung den Thessaliern zugeschrieben wird. Gemeint ist damit natürlich die Fahrt der Argos, die von Pagasae aus in See stach. Die Seefahrergeschichten spielen bei Goethe eine große Rolle. Mit der Nennung des Odysseus durch Faust und Nereus, der Erwähnung der Argonautensage und der Errettung der Schiffbrüchigen beim Fest in der Ägäis bildet das Thema der Seefahrt und des Schiffbruchs einen eigenständigen thematischen Komplex im Faust II. Auch die Verbindung der Seefahrt mit dem Krieg – sie gehört nämlich zusammen mit dem Streitroß und der Erfindung des Zaumzeugs sowie der Münzprägung zu den »semina Martis«,109 die Lucan in Thessalien lokalisiert – wird explizit in der »Klassischen Walpurgisnacht« bestätigt, nämlich von Nereus, der Odysseus als Beleg für das Scheitern des menschlichen Ehrgeizes nennt und damit die Motive von Seefahrt und Krieg an dieser Figur zusammenführt. Der Aspekt des Krieges bildet innerhalb der »Klassischen Walpurgisnacht« einen festen, bei Lucan präfigurierten Bezugspunkt. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die Existenz von Bodenschätzen, die sich bei Goethe mit der Entstehung des Gebirges verbindet. Goethes Pygmäen, die aus dem Abbau von Gold Profit schlagen, beginnen, kaum daß sie zu Reichtum gekommen sind, den Krieg gegen die Reiher. Somit wird auch die Lucansche Verbindung des Reichtums und der Geldprägung mit dem Krieg von Goethe zitiert. Fassen wir die bisherigen Ergebnisse der intertextuellen Untersuchung zusammen, dann bestätigt sich die eingangs formulierte Hypothese, daß Lucan nicht nur einen unter vielen anderen Referenztexten lieferte, sondern auch ein ›starkes‹ Modell – das heißt, eine Vorlage, die eigenwillig und stringent genug ist, um eigene Bedeutungsgehalte an Faust II weiterzuvererben. Nach den erfolgten Analysen können hierfür zwei Gründe genannt werden: 1. Anders als bei den anderen Vorlagen für die Gestaltung Thessaliens, sei es denen antiker, sei es denen zeitgenössischer Herkunft, werden in der Pharsalia nicht nur verschiedene Elemente des thessalischen Archivs nebeneinander genannt. Lucan zählt nicht nur auf, er berichtet nicht nur, Thessalien ist nicht nur der Hintergrund für Handlungen, wie dies bei den meisten
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Ebd., 6, V. 406. Pharsalia, 6, 395.
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anderen Texten der Fall ist. Lucan unterzieht vielmehr die Elemente, die er von seinen Vorläufern übernimmt, einer dichten textuellen Verwebung und Refunktionalisierung. Das heißt die heterogenen Bausteine des Wissens werden alle bedeutsam und verweisen aufeinander, jedes einzelne Glied in der Kette seiner epischen Darstellung besitzt sowohl eine präzise intra- als auch eine intertextuelle Funktion. 2. Die poetische Refunktionalisierung des Archivs hat ein klares poetisches Ziel. Lucan erschöpft sich nicht im Aufzählen, sondern unterwirft alle Elemente einer totalisierenden Interpretation. Die ursprüngliche Bedeutung des Wissens wird damit überschrieben und umgeprägt, um ihm als Argument für seine Interpretation der Geschichte zu dienen. Ziel dieser Interpretation ist der Beweis der Verworfenheit Thessaliens und darüber hinaus der Nachweis der Sinnlosigkeit seiner Entstehung und der damit verbundenen Ereignisse. Goethes intertextuelle Arbeit an Lucan betrifft zunächst die Verschiebung der Struktur des sechsten Buches der Pharsalia. Er verändert die Reihenfolge der Ereignisse, ergänzt Elemente aus anderen Quellen und unterstreicht und verstärkt bei Lucan nur wenig hervorgehobene Stellen: Während die Hexenszene bei Lucan das glanzvolle rhetorische Schlußstück des Buches darstellte, rückt Goethe Erichtho an den Beginn der Handlung und verändert ihre mantische, zukunftsbezogene Funktion in eine memoriale. Damit wird die Teleologie des sechsten Buches aufgehoben: am Ende steht nicht mehr die makabre »Geisterzitation«, sondern das kultische Fest. Die Schilderung der Gebirgslandschaft, die Lucans Exkurs einleitet, wird bei Goethe an eine spätere Stelle gerückt. Sie wird auch nicht wie bei Lucan schon als entstandene beschrieben, vielmehr wird die Entstehung des Gebirges dramatisiert, in actu vor Augen gestellt. Die idyllische Flußlandschaft am Unteren Peneos verweist nur schwach auf den Flußkatalog bei Lucan; Goethe greift hier auf typische Imaginationen des locus amoenus zurück, die bei Lucan keine Entsprechung finden. Der Kontrast von Bergen und Meer wird bei Lucan nur angedeutet, von Goethe wird er ausgebaut und zu einer der wichtigsten semantischen Achsen der Szene umgedeutet. Das bei Lucan nur gelegentlich erwähnte Meer bzw. die Küstenregion Thessaliens – man denke an Nereus und an die Nennung der Argonautensage – wird bei Goethe unter Einbeziehung anderer Vorbilder zu einer der vier Hauptregionen Thessaliens. Während Herakles transformiert wird und sich in Seismos verwandelt, der in der »Klassischen Walpurgisnacht« eine vergleichbare Funktion als Urheber vulkanistischer Exzesse erfüllt, kehren die bei Lucan genannten Figuren des Nereus, Chiron und der Erichtho bei Goethe wieder, zwei von ihnen in den zugehörigen Regionen: Erichtho bei Pharsalis und Nereus im Meer. Chiron dagegen besitzt bei Lucan seinen Ort als Gestirn am Himmel, wohin er nach der Sage nach seinem Tod entrückt wurde. Goethe weist ihn dem »Unteren Peneos« zu. Damit haben die vier Schauplätze der »Klassischen Walpurgisnacht« vier sie prägende Charaktere, die überwiegend aus Lucan abgeleitet sind. Diese Gewinnung der dra116
matischen Landschaft aus dem Prätext Lucans geht mit einer Umdeutung von dessen Natur- und Geschichtsverständnis einher. Lucans Darstellung des Bürgerkriegs und Thessaliens ist eindeutig negativ. Sein Umgang mit den Archiven bleibt episch-monoperspektivisch, indem er sie dem negativen Bild unterordnet. Mögliche Sinngebungsversuche scheitern und unterstreichen dadurch die fatalistische Sicht der Dinge. Goethe dagegen bricht die einheitliche Sicht des Geschehens auf, indem er es einer radikalen Perspektivierung zuführt. Er kritisiert oder korrigiert Lucans Beschreibung Thessaliens nicht dadurch, daß er an die Stelle eines negativen einfach ein positives Geschichts- oder Naturverständnis setzt, sondern indem er die Kontingenz solcher totalisierender Weltbilder überhaupt veranschaulicht, also ein pluralistisches Deutungsuniversum anbietet, das nicht auf konsensuellen Ausgleich ausgerichtet wird. Diese Perspektivierung läßt sich unter räumlichem Aspekt als Regionalisierung beschreiben. Sie besteht darin, daß die fatalen Kräfte, die bei Lucan in Thessalien versammelt sind, in der »Klassischen Walpurgisnacht« auf bestimmte Orte konzentriert werden. Diesen Orten stehen andere gegenüber, in denen gegenteilige Kräfte wirken und für Ausgleich sorgen. Das beste Beispiel hierfür ist Goethes Umgang mit Lucans Beschreibung der Erd- und Kulturgeschichte. Während in der Pharsalia das Erdbeben und die Kräfte des Wassers zusammenwirken und gemeinsam die naturgeschichtliche Entsprechung zum historischen Unheilszusammenhang bilden, trennt Goethe beides. Er weist der Gebirgsregion des Seismos all das zu, was bei Lucan das Gepräge Thessaliens ausmachte: hier, bei und durch Seismos, wird die Gigantomachie erinnert, hier findet das Erdbeben statt, wird Krieg geführt, sind Bodenschätze zu finden. Bis auf die Seefahrt werden die »semina martis« Lucans auf die Gebirgsregion projiziert und dort eingeschlossen. Ähnliches trifft auf die Hexen und das historischen Gedächtnis zu, dessen Verwendung bereits untersucht wurde. Auch dieses wird regionalisiert, auf die Pharsalischen Felder konzentriert. Dergestalt schafft sich Goethe Raum für die Idylle am Unteren Peneos und das kultische Fest in der Ägäis, wodurch die uneingeschränkte Gültigkeit nur eines Modells aufgebrochen wird. Die topische Ordnung der »Klassischen Walpurgisnacht« dient der Organisation und der Integration des Wissens. Insofern stellt sie eine Komplexitätsreduktion dar. Reduktion von Komplexität dient jedoch immer dem Aufbau neuer Komplexität: Goethe spaltet nicht nur die monoperspektivische Darstellung der Naturgeschichte durch die pluriperspektivische Lokalisierung von Wissensformen auf, sondern läßt es dann wieder zu Kontaminierungen des an diesen Orten abgelegten Wissens kommen. Das ist das Resultat einer noch weiterreichenden Undeutbarkeit der Welt. Während nämlich bei Lucan eine Einheit des Erzählten und seiner Deutung existierte, so daß jeder Baustein der Erzählung ein Argument für den Epiker war, spaltet sich bei Goethe die dramatische Welt in ein Geschehen auf der Bühne und dessen Deutung durch die Figuren auf. Diese Deutungen verhalten sich zueinander meist agonal, sie 117
konkurrieren, bekämpfen sich, mißverstehen sich und lassen damit den Sinn des Geschehenen häufig ganz hinter der Thematisierung solcher Kommunikationsprozesse verschwinden. Insofern nun solche Diskussionen die Einheit des Schauplatzes wieder in oppositionelle Meinungen aufspalten, kommt es zu Querverweisen zwischen den unterschiedlichen Orten und dem dort abgelegten Wissen. So wird die Aufteilung nach Orten durchlässig für Kontaminierungen, was das topologische Modell jedoch keineswegs hinfällig werden läßt. Mit dem Spalt zwischen Geschehen und Deutung, zwischen Empirie und Rhetorik, sind wir jedenfalls wieder an die Wurzel des Problems zurückgekehrt, nämlich zum Anlaß der Archivpoetik. Wo die Welt zur empirischen Hydra wird, wird aus dem Scheitern eines universalen Wissens die relativistische Koexistenz partikularer Deutungen eines unverfügbaren Geschehens. Erichthos Zugehörigkeit zu den »Pharsalischen Feldern« ist ein erstes Beispiel für die Zuordnung von Figur und Ort als Matrix der Wissensintegration im Faust II. Dagegen blieb die inhaltliche Füllung der übrigen thessalischen Räume noch unbestimmt. Nach ihr ist im folgenden Kapitel zu fragen. Auch dieses Kapitel wird sich an die Grundstruktur der Gedächtnisordnung halten. Es wird den Raum Thessaliens von einem Platz zum nächsten beschreiten und untersuchen, welches Wissen die Figuren für den Leser bereit halten; es wird dieses in seiner Widersprüchlichkeit und Komik, seiner Ironie und seiner Rhetorizität genießen und es auf seine handlungsimmanente Bedeutsamkeit befragen.
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IV. Das Wissen der Geister
1.
Vorbemerkung
Nach der Darstellung der Verfahren der Wissensintegration im Faust II wird es im folgenden um eine vertiefende Erörterung der Funktion bestimmter Wissensinhalte gehen. Die ersten beiden Abschnitte dieses Kapitels beschäftigen sich mit der Bedeutung zweier Wissenschaften für Faust II, nämlich der Geologie und der wissenschaftlichen Mythologie, wie sie von Mephistopheles, Faust und den mythologischen Figuren ins Spiel gebracht werden. In der goethezeitlichen Geologie führte die Temporalisierung der Natur zur Konsequenz, daß der gegebene Zustand der Erde nicht mehr im Medium anschauender Gewißheit auf seine Geschichte zurückgeführt werden konnte. Mit dem neuen Vulkanismus eines Leopold von Buch und Alexander von Humboldt wurde die Natur zu einem unberechenbaren Ereignisraum, dessen Beschreibung vielfältige Auslegungen ermöglichte. Ähnliches galt von der mythologischen Forschung. Hier führte die Erkenntnis der historischen Verschiedenheit der Menschen dazu, daß ein universaler Wahrheitsbegriff relativiert wurde. Mythen konnten nicht mehr an einer überhistorischen Vernunft gemessen werden, sondern bedurften der historisch-philologischen Interpretation. In beiden Fällen stellte sich ein analoges Problem: Wie gelangt man von dem, was man vor Augen hat, zu dessen Erklärung, wenn die Ursachen für die überlieferten Zeugnisse der Erd- und Mythengeschichte in unbeobachtbaren Zeiträumen liegen? An die Stelle der sinnlichen Gewißheit der Wirklichkeit treten die hier zu untersuchenden Spiele der Auslegungen. Zunächst wird die Präsenz der beiden Wissenschaften im Faust II nachgewiesen und deren Diskurse soweit rekonstruiert, wie es für das Verständnis dieser Ausführungen notwendig ist. Danach wird gefragt, welche poetologische Funktion diesen Wissenschaften zukommt. In einem weiteren Abschnitt wird gezeigt, daß die wissenschaftlichen Positionen, die im Verlauf des Kapitels identifiziert wurden, zu konträren Poetiken Anlaß geben. Am Beispiel des Festes in den »Felsbuchten des ägäischen Meers« wird die rhetorische Praxis der mythologischen Rede einer Poetik des Rituals gegenübergestellt, der es um eine neue Form der Einheit der Natur und des Wissens geht. Die Aufdeckung dieser Dichotomie bereitet die Untersuchung der Helena-Handlung vor. In den folgenden Untersuchungen sind zwei Bedeutungen des Wortes »Mythologie« zu unterscheiden. Einerseits wird damit die wissenschaftliche 119
Mythenforschung bezeichnet, andererseits die mythische Überlieferung, die Götter- und Heldensagen, die im Faust II Verwendung finden. Diese begriffliche Ambivalenz ließ sich nicht vermeiden, da sie im Sprachgebrauch verwurzelt ist. Durch die besondere Form der Wissensintegration im Faust II kommt es zu komplexen Verschränkungen beider Begriffe. Erstens entspringen die Geister der antiken Mythologie. Diese dient mithin der Vergegenwärtigung von Wissen. Zweitens bildet die wissenschaftliche Mythologie einen wesentlichen Bestandteil dieses Wissens. Drittens ist zu beachten, daß die dramatis personae das Wissen nicht nur repräsentieren, sondern es auch ästhetisieren. Der Umgang mit Mythologie im Faust II ist daher komplex und umfaßt verschiedene Ebenen, denen die folgenden Ausführungen Rechnung tragen.
2. Geologie und Ästhetik Nachdem die Sirenen den Ort des Erdbebens fluchtartig verlassen und sich zum Meer gerettet haben, vernimmt man Seismos »in der Tiefe brummend und polternd« (nach V. 7518), der sich seinen Weg bahnt: Einmal noch mit Kraft geschoben, Mit den Schultern brav gehoben! So gelangen wir nach oben, Wo uns alles weichen muß. (Vv. 7519–22)
Goethe hat sich zu dieser Szene von einem Kupferstich des Petrus S. Bartolus inspirieren lassen, der einen Wandteppich Raffaels mit dem Titel Paulus im Gefängnis zu Philippi reproduziert.1 Der Stich zeigt die Befreiung des Paulus durch ein Erdbeben. Dieses ist am linken Bildrand dargestellt in der Gestalt eines muskulösen Riesen, dessen Oberkörper aus der Erde ragt und der mit seinen Schultern und dem Kopf die Erde nach oben schiebt. Dieses Bild wird von den Sphingen aufgegriffen: Er, mit Streben, Drängen, Drücken, Arme straff, gekrümmt den Rücken, Wie ein Atlas an Gebärde, Hebt er Boden, Rasen, Erde, Kies und Grieß und Sand und Letten, Unsres Ufers stille Betten. So zerreißt er eine Strecke Quer des Tales ruhige Decke. Angestrengtest, nimmer müde, Kolossale Karyatide;
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Vgl. die Abbildung bei Schöne FA I, 7/2, Abb. 10.
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Trägt ein furchtbar Steingerüste, Noch im Boden bis zur Büste; Weiter aber soll’s nicht kommen, Sphinxe haben Platz genommen. (Vv. 7536–49)
In ihrer Darstellung des Geschehens vermischen die Sphingen mythologische und naturwissenschaftliche Terminologien miteinander. Das geologische Geschehen des Erdbebens wird mit Fachbegriffen bezeichnet: »Kies und Grieß und Sand und Letten« bezeichnen verschiedene, zunehmend feinere Zustände der Erde.2 Auch von dem von Seismos verursachten Riß quer durchs Tal wird eine eher naturalistische Beschreibung gegeben. Zugleich versuchen die Sphingen, die Kraft des Seismos und die Dynamik des Geschehens rhetorisch herabzusetzen. Diese Herabsetzung vollzieht sich auf zwei Weisen, nämlich erstens dadurch, daß sie Seismos als altgewordene Karikatur seiner selbst ausgeben, zweitens durch die Kontaminierung mit mythologischen Figuren, die eher statische als dynamische Assoziationen erwecken. Zunächst erinnert Seismos die Sphingen an eine längst zurückliegende Tat, seine Erschaffung der Insel Delos, die er aus dem Meer gehoben hat: Nun erhebt sich ein Gewölbe Wundersam. Es ist derselbe, Jener Alte, längst Ergraute, Der die Insel Delos baute, Einer Kreißenden zu Lieb’ Aus der Wog’ empor sie trieb. (Vv. 7530–5)
Das stellt eine Anspielung auf Poseidon dar, welcher laut Hederich für Latona die Insel aus dem Meer gehoben hat, damit sie dort Apollo und Diana zur Welt bringen konnte.3 Außerdem erinnert die Stelle an die Beobachtung einer solchen Inselentstehung durch unterirdische Vulkantätigkeit, die in Senecas Naturales quaestiones überliefert ist und die Goethe u.a. in den Heften zur Naturwissenschaft veröffentlichte.4 Doch was wollen die Sphingen mit ihrer Aussage beweisen? Offensichtlich zielt ihre mythologische Argumentation darauf ab, das seismische Wirken als ein früher einmal äußerst wirksames, jetzt allerdings verblaßtes und nur noch schwaches Prinzip bloßzustellen. Mit anderen Worten, die Sphingen versuchen, den Naturfrieden, den Seismos stört, als den eigentlich gültigen Naturzustand darzustellen und das Erdbeben als ein bloß akzidentelles, uneigentliches und unwesentliches Nebenereignis abzutun.
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Vgl. Schönes Kommentar zu dieser Stelle, FA I, 7/2, S. 549. Vgl. Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, Art. »Latona«, Sp. 1443. Vgl. Zur Naturwissenschaft überhaupt, ersten Bandes erstes Heft (1823). In: LA I, 8, S. 61, und Seneca: Naturales quaestiones, 2, 26, 4.
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Hierzu paßt die zweite Strategie der statischen Bildfindung: das Bild des Atlas, dessen mythologische Funktion darin besteht, das Himmelsgewölbe zu tragen und für Stabilität zu sorgen, fängt die dynamische Bewegung – das »Streben, Drängen, Drücken« – ein und hält sie ebenso in der Schwebe wie der Karyatidenvergleich. Als »kolossale Karyatide« wird Seismos gewissermaßen eingefroren, scheint er zum Gebäudeelement zu werden, das in der Bewegung erstarrt. Hinzu kommt, daß er dadurch mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen ausgestattet wird, die offensichtlich seine Kraft zusätzlich in Frage stellen sollen. Für sich selbst nehmen die Sphingen in Anspruch, die Bewegung des Erdbebens gestoppt zu haben (s. Vv. 7548f.). Doch soll man den Sphingen trauen? Liest man die Selbstbeschreibung des Seismos, so klingt seine Leistung schon anders. Zunächst nimmt er für seinen Berg eine exemplarische Bedeutung in Anspruch. Das Erdbeben soll nämlich nicht nur Neues entstehen lassen, sondern zugleich rückwirkend bestätigen, daß alle Berge, die gegenwärtig existieren, seismische Ursachen haben: Das hab’ ich ganz allein vermittelt, Man wird mir’s endlich zugestehen; Und hätt’ ich nicht geschüttelt und gerüttelt, Wie wäre diese Welt so schön? Wie ständen eure Berge droben In prächtig-reinem Ätherblau, Hätt’ ich sie nicht hervorgeschoben, Zu malerisch-entzückter Schau! (Vv. 7550–7)
Während die Sphingen das Wirken des Seismos begrenzen wollen, indem sie behaupten, er sei nun alt und schwach geworden, stellt Seismos sich selbst als stark und mächtig dar, läßt keinen Zweifel an seiner Kraft aufkommen. Er insistiert auf der fortdauernden Bedeutung der früheren erdgeschichtlichen Dynamik, die die Sphingen bestreiten oder relativieren wollen, und der Berg dient ihm als Beleg für diese Selbstdarstellung. Um seine Behauptung zu unterstützen, greift er seinerseits auf die Mythologie zurück, und zwar erwartungsgemäß auf solche Erzählungen, die dem statischen Atlas- und Karyatidenvergleich eine kraftvolle Bildsprache entgegensetzen und zudem sein hohes Alter beweisen sollen. Älter als die Nacht und das Chaos, auf die er sich als Ahnen beruft (vgl. 7558f.), können selbst die Sphingen nicht sein. Seismos beschwört seine jugendlichen Kräfte herauf und behauptet deren ungebrochene Aktualität in der Gegenwart: Als, angesichts der höchsten Ahnen, Der Nacht, des Chaos, ich mich stark betrug Und, in Gesellschaft von Titanen, Mit Pelion und Ossa als mit Ballen schlug. Wir tollten fort in jugendlicher Hitze, Bis überdrüssig, noch zuletzt,
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Wir dem Parnaß, als eine Doppelmütze, Die beiden Berge frevelnd aufgesetzt... Apollen hält ein froh Verweilen Dort nun mit seliger Musen Chor. Selbst Jupitern und seinen Donnerkeilen Hob ich den Sessel hoch empor. Jetzt so, mit ungeheurem Streben, Drang aus dem Abgrund ich herauf Und fordre laut, zu neuem Leben, Mir fröhliche Bewohner auf. (Vv. 7558–73)
Seismos nimmt hier für sich die Position des Erdgestalters in Anspruch, der aus eigener Befugnis handelt, früher wie heute, in gleicher Aktivität, und er bringt eine Emphase des Neuen ins Spiel, die als Gegensatz zur temporalen Gleichgültigkeit der Sphingen erscheint, die glauben, alles schon gesehen zu haben und alles schon zu kennen. Wie die Sphingen argumentiert Seismos mythologisch und geologisch gleichermaßen, unterstreicht durch die Berufung auf die Mythologie die Würde seines Tuns und demonstriert dessen auch geologischen Gültigkeitsanspruch lautstark, den die Sphingen in ihrer Antwort wiederum auf eine seltsame Art ablehnen: Uralt müßte man gestehen Sei das hier Emporgebürgte, Hätten wir nicht selbst gesehen Wie sich’s aus dem Boden würgte. (Vv. 7574–7)
Diese Antwort nimmt Bezug auf die Behauptung des Seismos, er habe schon in der Frühzeit Gebirge gestaltet. Die Sphingen unterstellen, daß der Augenschein trügt: Der gerade erst entstandene Berg sieht jetzt schon so aus, als sei er uralt. Liegt dann nicht der Verdacht nahe, daß auch die anderen Berge seismischen Ursprungs weniger alt sind, als es den Anschein hat? Im mythologisch-rhetorisch-geologischen Schlagabtausch zwischen den Sphingen und Seismos gibt es keine Entscheidung. Mit komischer Blasiertheit beenden die Sphingen die Diskussion: »Ein Sphinx wird sich daran nicht kehren: / Wir lassen uns im heiligen Sitz nicht stören.« (Vv. 7580f.) Und auch Seismos läßt die Auseinandersetzung auf sich beruhen. Was läßt sich hieraus folgern? Der Leser oder Zuschauer dieser Szene wird Zeuge einer Argumentation, die zu keiner Entscheidung führt. Vielmehr werden die Gegensätze geschärft: Seismos nimmt für sich mit großer Entschiedenheit eine grundsätzliche und herausgehobene Bedeutung bei der Gestaltung der Erde in Anspruch, die Sphingen unterstellen ihm einerseits versiegende Kräfte in der Gegenwart, andererseits machen sie ihm das hohe Alter streitig – und beide werden als selbstbewußte oder eingebildete Wesen mit komischen Effekten dargestellt. Weil die Aussagen der Kontrahenten nicht überprüfbar sind, ist es um so wich123
tiger, sich die in diesem Streit implizierten Voraussetzungen zu vergegenwärtigen. Eines der Probleme, um die es in der Auseinandersetzung zwischen den Sphingen und Seismos geht, stellt offensichtlich das der Zeit dar. Seismos und seine Gegner nehmen für sich in Anspruch, von Anfang an bis in die Gegenwart hinein bei der Gestaltung der Erde wirksam zu sein. Jedoch handelt es sich bei diesem Streit nicht so sehr um den Vorrang des höheren Alters, sondern um zwei konträre Zeitvorstellungen, die mit dem Verhältnis von Ordnung und Unordnung, Neuheit und atemporaler Dauer verbunden sind. Seismos verortet sein Wirken auf einem Zeitstrahl, den er in ein emphatisches Jetzt und ein Einst gliedert – früher, so prahlt er, habe er »Jupitern und seinen Donnerkeilen [...] den Sessel hoch empor[gehoben]« (vgl. Vv. 7568f.) und »jetzt« fordert er »laut, zu neuem Leben [sich] fröhliche Bewohner auf« (vgl. Vv. 7570–3). Obwohl Seismos die Effekte seines Handelns auf sein früheres Eingreifen bezieht, liegt dem kein atemporales Zeitverständnis mehr zugrunde. Er denkt nämlich in Sprüngen und Revolutionen, die eine neue Periodizität auszeichnet.5 Das plötzliche und ereignishafte Auftreten des Seismos hat daher neue Konsequenzen: so drückt zum Beispiel die Abwesenheit der Götter und der Wunsch nach »neue[n] Bewohner[n]« (V. 7573) eine Unwiederholbarkeit der Vergangenheit aus. Das periodische seismische Geschehen bewirkt unwiederholbare Ereignisse und bestätigt so den Bedeutungswandel des Begriffs der »Revolution« um 1800, den Koselleck beschrieben hat.6 Demgegenüber stehen die Sphingen für eine völlig andere Zeit ein. Sie beschreiben sich selbst mit diesen Worten:
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Seismos’ Art, »jetzt« und »einst« zu vermitteln, erinnert an eine Erörterung Alexander von Humboldts über die Periodizität der Naturveränderungen und die Möglichkeiten einer Prognostik, die er im Zusammenhang mit der vulkanischen Tätigkeit anstellt: »Die philosophische Naturkunde ist bemüht, in dem Wechsel der Erscheinungen die Gegenwart an die Vergangenheit anzureihen. Um eine periodische Wiederkehr, oder überhaupt die Gesetze fortschreitender Naturveränderungen zu ergründen, bedarf es gewisser fester Punkte, sorgfältig angestellter Beobachtungen, die an bestimmte Epochen gebunden, zu numerischen Vergleichungen dienen können. Hätte man auch nur von tausend zu tausend Jahren die mittlere Temperatur des Luftkreises und der Erde in verschiedenen Breiten, oder die mittlere Höhe des Barometers an der Meeresfläche bestimmen können, so würden wir wissen, in welchem Verhältniss die Wärme der Klimate zu- oder abgenommen, ob die Höhe der Atmosphäre Veränderungen erlitten hat.« (Alexander von Humboldt: Über den Bau und die Wirkungsart der Vulcane in verschiedenen Erdstrichen. Berlin 1823, S. 16.) Diese periodischen Wiederholungen erfordern komplizierte Datenerhebungen, um die genauen Bedingungen angeben zu können, unter denen sich ein Ereignis wiederholen kann. Humboldt rechnet nicht mehr mit einem festen Bestand der Natur, sondern die Veränderung ist der Normalfall. Goethe erhielt diesen Vortrag 1823 von Humboldt zugesandt. Zu den literarischen und ästhetischen Implikationen von Humboldts Naturforschung und Naturbegriff vgl. den Aufsatz von Matthias Erdbeer: Deskriptionspoetik. Humboldts ›Kosmos‹, die verfahrensanalytische Methode und der wissenschaftsgeschichtliche Diskurs. In: Dotzler, Bernhard und Sigrid Weigel: »fülle der combination«. München 2004. Vgl. hierzu Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 67–86, bes. S. 76ff.
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Wir von Ägypten her, sind längst gewohnt Daß unsereins in tausend Jahre thront. Und respektiert nur unsre Lage, So regeln wir die Mond- und Sonnentage. Sitzen vor den Pyramiden Zu der Völker Hochgericht; Überschwemmung, Krieg und Frieden – Und verziehen kein Gesicht. (Vv. 7241–48)
Die Vorstellung der Sphingen als regulierende Kräfte, die von allen konkreten Ereignissen – von Überschwemmungen, Kriegen und Frieden – der historischen Zeit völlig unbetroffen sind, bringt eine Zeitkonzeption ins Spiel, die etwas Transzendentales, Ideelles hat, die vielleicht die historisch ablaufende Zeit der Geschichte erst eröffnet; jedenfalls von dieser in keiner Weise betroffen und tangiert wird. Für das Verständnis der Funktion dieser Zeitformen in der Geologie ist es nun höchst aufschlußreich, wie sich ihr Verhältnis in Goethes geologischen Schriften gestaltet. Bei dem Streit zwischen Seismos und den Sphingen über die Gestaltung der Erde handelt es sich um eine dramatische Parodie der Auseinandersetzungen zwischen den Theorien der Neptunisten und Vulkanisten, die die Geologie zwischen 1780 bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts entscheidend prägten. Die Debatte entzündete sich an der Deutung des Basalts, der nach Ansicht Abraham Gottlob Werners ein Produkt der Kristallisation von Sedimenten aus einem hypothetischen Urozean darstellte, von seinem Schüler Johann Carl Wilhelm Voigt dagegen richtig als Vulkangestein erkannt wurde.7 Jedoch ging es in dieser Frage nicht nur um den Basalt, sondern um das viel weitreichendere Problem, wie sich die Gestaltung der Erdoberfläche überhaupt erklären ließ. Die Annahme des Neptunismus bestand darin, es habe einst einen Urozean gegeben, der die Erde bedeckte. Aus diesem Gewässer hätten sich nach und nach Sedimente abgesetzt, die in einem jahrtausendelangen Prozeß die Gesteinsarten entstehen ließen, u.a. durch Kristallisation, durch die man sich die Entstehung von Basalt und Granit neptunistisch erklärte. Die geologischen Schichtungen interpretierte Werner als Abfolge von Sedimentationen.8 Insgesamt nahm er vier Gebirgsarten an. Zuerst das Urgebirge, die
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Der Gegensatz des geologischen Vulkanismus und Neptunismus ist allerdings schon erheblich älter. So waren bereits in der Antike vulkanistische Phänomene bekannt, und es gab schon vor Werner neptunistische Theorien. Vgl. die bei Helmut Hölder: Geologie und Paläontologie in Texten und ihrer Geschichte. Freiburg/München 1960, S. 127ff. versammelten Dokumente. Vgl. die Darstellung von Otfried Wagenbreth: Geschichte der Geologie in Deutschland. Stuttgart 1999. Dort findet sich auch ein graphisches Schema der Wernerschen Gebirgsbildung, ebd., S. 32.
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älteste und tiefste geologische Schicht, aus Urgestein bestehend, wozu der Granit zählt, dem Goethes lebenslange Aufmerksamkeit gewidmet war. Darüber lagerte sich das Übergangsgebirge ab, dann die Flöz- und schließlich die Aufgeschwemmten Gebirge. Vulkanistische Phänomene deutete Werner als brennende organische Materie, d.h. als Flözbrände und vermied so die Annahme endogen wirkender Kräfte. Werners neptunistische Deutung der Erdoberflächengestaltung besaß nicht nur den Vorteil einer einheitlichen und geschlossenen Theorie, sie ermöglichte zugleich eine Deutung der Erdgeschichte, die ohne Katastrophen und plötzliche Sprünge auskam und eine Kontinuität der Entwicklung von der ältesten Schöpfung bis in die jüngsten Epochen der Erdgeschichte erlaubte. Zunächst schien es so, als könne sich Werner gegen seinen Schüler Voigt durchsetzen, jedoch konnte angesichts neuer Entdeckungen und ihrer Erklärung durch bedeutende Forscher wie Alexander von Humboldt und Leopold von Buch,9 beide gleichfalls Schüler Werners, die einseitige Ansicht der Neptunisten überwunden werden, wonach die Erdoberfläche ausschließlich durch exogene Faktoren gestaltet wurde. Dagegen arbeiteten die Vulkanisten mit der Annahme von im Erdinneren wirksamen Kräften, die unterschiedlich gedeutet werden konnten, in jedem Fall aber nicht mit der Vorstellung einer Genese ausschließlich aus dem Wasser kompatibel waren. Es gibt ein aufschlußreiches Dokument Leopold von Buchs, der im Auftrag seines Lehrers Werner durch die Alpen reisend und noch an dessen Auffassung festhaltend die alpinen Faltungen beobachtete und eine Ahnung von der Falschheit der neptunistischen Theorie erhielt, die diese Faltungen nicht wirklich erklären konnte: Hier verstehe ich die Menschen nicht mehr, – und kaum die Natur. Chaotisch scheinen hier die Gebirgsarten durcheinandergeworfen, und die schöne Ordnung vom Brenner herab, scheint gänzlich dahin. – Wer hätte es gedacht, nach so ungeheuren Massen von Kalkstein, wie die furchtbare Kette zwischen Neumarkt und Trento, nach Bergen wie die, welche Trento umgeben, auf das neue Urgebirgsarten zu finden. Sind nicht hier offenbar die schönen Systeme über den Haufen geworfen, welche die Formationszeit der Gebirgsarten bestimmten? Ist hier nicht Porphyr auf Flözkalk, Glimmerschiefer auf Porphyr gelagert? [...] Mit ängstlicher Wehmuth sah ich ein Gebäude zusammen stürzen, das uns mit dem System zugleich die Geschichte gab, und uns an der Reihe der Gebirgsarten hinauf unvermerkt aus unserer jetzigen Welt in eine vormalige führte, die wir vorher geahndet hatten, nicht begriffen, aber dann glaubten ihr näher zu seyn.10
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Buch entdeckte auf einer Skandinavienreise 1806 anhand früherer Strandlinien, daß sich das Festland gehoben haben mußte (und nicht der Meeresspiegel gesunken war). Das machte die Annahme endogener tektonischer Kräfte notwendig. Vgl. Otfried Wagenbreth: Leopold von Buch (1774–1853) und die Entwicklung der Geologie im 19. Jahrhundert. In: Geologen der Goethezeit. Hg. von Hans Prescher. Leipzig 1979, S. 41–57, hier S. 49. Leopold von Buch: Geognostische Reisen durch Deutschland und Italien I. Berlin 1802, S. 301f.
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Mit dem Verlust der neptunistischen Erklärungsart wird nicht nur ein geologisches System durch eine neue Lehre ersetzt, sondern es wird ein neues Zeitbewußtsein reflektiert. Die neptunistische Einheit von ›Geschichte‹ und ›System‹ scheint verloren. Diese Einheit zeichnet sich durch die Abgeschlossenheit der endogenen Erdgeschichte aus und rechnet daher nicht mit plötzlichen Ereignissen. Das System der Schichten spiegelt für die Neptunisten die Geschichte wider, die Anschauung kann die Zeitfolge sinnlich erfassen. Die weitere Gestaltung der Erde unterliegt Prozessen wie der Erosion durch Wind und Regen oder den unterirdischen Bränden organischer Materie, mit denen sich Werner die vulkanische Aktivität erklärte. Aber diese Geschichte der exogenen Gestaltung der Erde ist keine Geschichte im neuen Sinn, sondern ein naturales Geschehen, das nichts Ereignishaftes und Lineares hat. Mit dem Verlust dieser Naturvorstellung geht auch die Möglichkeit verloren, mit der »vormaligen« Welt im Medium der Anschauung zu kommunizieren. Während für Buch die Gebirgsfalten den Beginn einer neuen Epoche und den Einsturz eines Weltgebäudes darstellen, hat Goethe die vulkanistische Theorie von sich ferngehalten, um sein Verständnis der Zeit zu bewahren: eine Vorstellung von Zeit, die als bloßes Medium idealer Prozesse zu denken wäre. Goethe rettete sich auf den Granit. Bei diesem Gestein handelte es sich nach neptunistischer Theorie um ältestes Urgestein; auf ihm sitzend erfuhr sich Goethe in unmittelbarer Kommunikation mit den Anfängen der Erde: Auf einem hohen nackten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend kann ich mir sagen: Hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht, keine neuere Schicht, keine aufgehäufte zusammengeschwemmte Trümmer haben sich zwischen dich und den festen Boden der Urwelt gelegt, du gehst nicht wie in jenen fruchtbaren schönen Tälern über ein anhaltendes Grab, diese Gipfel haben nichts Lebendiges erzeugt und nichts Lebendiges verschlungen, sie sind vor allem Leben und über alles Leben.11
Der Granit befindet sich außer aller Geschichte: Er ist von Anbeginn an da und eröffnet den Blick in die Geschichte – denn von diesem Gipfel aus läßt das Subjekt den Blick schweifen und vollzieht, nacherzählend, die Geschichte nach, sofern sie wissenschaftlich bereits aufgearbeitet war: »Vorbereitet durch diese Gedanken, dringt die Seele in die vergangenen Jahrhunderte hinauf, sie vergegenwärtigt sich alle Erfahrungen sorgfältiger Beobachter, alle Vermutungen feuriger Geister.«12 So stellt sich eine paradoxe Verschränkung zweier Zeiten ein. Auf der einen Seite entfaltet sich von dem Granitfelsen aus die Geschichte der Natur als eine historische Epochenabfolge, die ein temporales Naturverständnis impliziert, auf der anderen garantiert der Granit selbst eine
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Über den Granit (1784), LA I, 1, S. 59. Ebd., S. 60.
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Atemporalität, eine Ewigkeit, welche die Historizität der Natur wieder aufhebt. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, daß der Vulkanismus als eine der jüngeren Epochen der Erdgeschichte relativiert wird: Aber bald setzen sich diesem Leben neue Szenen der Zerstörungen entgegen. In der Ferne heben sich tobende Vulkane in die Höhe; sie scheinen der Welt den Untergang zu drohen, jedoch unerschüttert bleibt die Grundfeste, auf der ich noch sicher ruhe, indes die Bewohner der fernen Ufer und Inseln unter dem untreuen Boden begraben werden.13
Die imaginäre Gegenwart der Vulkane, die das Subjekt vor seinem Auge entstehen sieht, lenkt den Blick zurück auf den Granit, und zwar so, daß nun im Granit selbst Veränderungen wahrgenommen werden: Ich kehre von jeder schweifenden Betrachtung zurück und sehe die Felsen selbst an, deren Gegenwart meine Seele erhebt und sicher macht. Ich sehe ihre Masse von verworrenen Rissen durchschnitten, hier gerade, dort gelehnt in die Höhe stehen, bald scharf übereinander gebaut, bald in unförmlichen Klumpen wie übereinander geworfen, und fast möchte ich bei dem ersten Anblicke ausrufen: hier ist nichts in seiner ersten alten Lage, hier ist alles Trümmer, Unordnung und Zerstörung.14
Für einen Moment droht der Blick an seinem scheinbar sichersten Fundament zu zerbrechen, scheint, was Transzendentalität eröffnet, von der Geschichtlichkeit eingeholt zu werden. Um diese Konsequenz zu vermeiden, muß die Genese der gegenwärtigen Granitform erklärt werden, ohne daß auf eine temporale Zeitvorstellung im Sinn der vulkanistischen Ereigniszeit zurückgegriffen werden müßte. Die »Grundfeste« muß also eine eigene Zeitlichkeit besitzen, durch die ihre Entwicklung gedacht werden kann, ohne sie der Historizität preiszugeben. Sein Projekt der Rettung des Granits führte Goethe dazu, in mehreren zerstreuten Texten zur Theorie der Gesteinsbildung eine ideelle Genese der Granittrümmer aus den Bedingungen ihres Entstehens zu erklären, und zwar ohne auf die Annahme früherer vulkanischer Aktivitäten zurückgreifen zu müssen, die seiner Meinung nach dem menschlichen Verstand ebenso nahelag, wie er sie für falsch hielt: Da dem Menschen nur solche Wirkungen in die Augen fallen, welche durch eine große Bewegung und Gewaltsamkeit der Kräfte entstehen, so ist er jederzeit geneigt, zu glauben, daß die Natur heftige Mittel gebraucht, um große Dinge hervorzubringen, ob er sich gleich täglich an derselben eines anderen belehren könnte. So haben uns die Poeten ein streitendes uneinig tobendes Chaos vorgebildet.15
13 Ebd. 14 Ebd. 15 Der Granit als Unterlage aller geologischen Bildung (1785), LA, I, 1, S. 62.
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Das hieß auch und zuerst, die unbestreitbaren Wirkungen des Vulkanismus, die Goethe in Italien mehrfach bestaunen konnte, in ihrer Gültigkeit einzuschränken. Von dem Vesuv, dem Ätna, dem Stromboli und der Solfatara beeindruckt, wollte er diese Vulkane doch nur als Erdoberflächenphänomene verstanden wissen. So existiert eine Notiz von 1787, die sich wie eine Erläuterung zur Relativierung des Seismos durch die Sphingen liest: Wie vieles wäre nicht von der Solfatara, dem Monte nuovo pp. zu sagen. Nur eins glaube ich ziemlich gewiß, daß die Vu l k a n i sc hen Wü rc k u ngen kei ne seh r t iefen Ur sac hen h aben. Tief will ich hier nur unter dem Niveau des Meers nennen. Doch das ist zu unbestimmt und erfordert eine weitläufigere Ausführung als ich Zeit und biß jetzt Erfahrung habe.16
Daß die Vulkane keine »sehr tiefen Ursachen haben« sollen, liegt an Goethes neptunistisch geprägtem Weltbild. Seiner Auffassung nach besitzt die Erde einen kalten, abgekühlten Kern aus Granit17 und ist als Ergebnis von Verfestigungsprozessen zu verstehen. Ursprünglich sei alles flüssig gewesen, hätten sich alle jetzt existierenden Elemente in einer »Auflösung« befunden, die durch die Hitze der Erde zu erklären sei. Diese Erklärung findet sich u.a. in dem Schema Zur Theorie der Gesteinslagerung, in dem deutlich der Einfluß von Buffons Vorstellungen über die Erdentstehung zu spüren ist.18 Es heißt dort: Sollte man also weit vom Ziele irren, wenn man alle bekannten und unbekannten irdischen Substanzen oder einfachen irdischen Naturen in einer allgemeinen Auflösung in dem ersten Chaos dächte.[...] Die Auflösung war durch ein innerliches Feuer geschehen, oder vielmehr, die Masse ward durch ein innerliches Feuer in einer gleichen Auflösung erhalten, das mit einem Schmelzfeuer nicht zu vergleichen ist. Der Kern der Erde kristallisierte sich und ist wahrscheinlich die schwerste Masse. Die äußerste Kruste des Kernes ist der Granit.19
Für unseren Zusammenhang ist Goethes Versuch wichtig, diese Theorie der »Solideszenz«20 und der »Kristallisation« zu einer allgemeingültigen Theorie
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LA II, 7, M89, 181. Der Granit ist die »tiefste Schale [des Erdkerns], die uns bekannt geworden ist«, schreibt er 1785 in: Der Granit als Unterlage aller geologischen Bildung (LA I, 1, S. 61–63, hier S. 62). Goethe hatte die Schriften Georges Louis Leclerc de Buffons, auch die seinem Schema zugrundeliegende Schrift Des époques de la nature (1778), rezipiert und war von ihnen stark beeinflußt, betonte jedoch die Notwendigkeit ihrer selbständigen Weiterentwicklung: »Ich sehe alle Tage mehr daß wir zwar werden auf Buffons Wege fortgehen aber von denen Epochen die er festsetzt abweichen müssen. Die Sache wird, wie mir scheint, immer komplizierter.« (An Johann Heinrich Merck, November 1782, LA II, 7, S. 311.) Zu Goethes geologischer Entwicklung und seiner Rezeption der wissenschaftlichen Literatur vgl. den Überblick Wolf von Engelhardts: Goethes geologische Studien. Überblick 1755–1805. In: LA II, 7, S. 537–575. LA I, 1, S. 95f. Zum Begriff der Solideszenz vgl. etwa Gebirgs-Gestaltung im Ganzen und Einzelnen (1824): »Große anorganische Massen gestalten sich solideszierend und zwar regelmäßig. [...] Den
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über die Bildung der Urgesteine auszubauen. Neben dem berühmten Aufsatz Über den Granit gehört noch eine Reihe weiterer Schriften und Skizzen in diesen Zusammenhang. Auch die erst 1824 formulierten zusammengehörigen Texte Gestaltung großer anorganischer Massen und Gebirgs-Gestaltung im Ganzen und Einzelnen gehören in den Umkreis dieser Überlegungen, da sie die früheren Skizzen und Beobachtungen von 1783/84 zusammenfassen. Es handelt sich um den Versuch, die Trümmer aus natürlicher Verwitterung zu erklären. Die Form der umherliegenden Steine ist für Goethe dem Granit schon von seiner Entstehung an eingeprägt. Und hier kommt nun jener ›ideelle‹, ›neptunistische‹ Zeitbegriff ins Spiel, der sich einer »genetischen Geometrie« annähert,21 d.h. nicht einen linear verlaufenden Zeitstrahl voraussetzt, sondern von Prozessen ausgeht, die sich aufgrund von Gesetzmäßigkeiten immer wiederholen. Goethe versucht, Genese weitgehend ohne Geschichte zu denken. Die Trümmerstücke des Granits faßt Goethe als Ergebnisse dieses ideellen Prozesses auf. Es sei, so schreibt Goethe, die Eigenart der Solideszenz, daß sich rhombische Formen, Parallelepipeden herausbildeten, Strukturen, die man an jeder Granitwand beobachten könne: Nicht allein alle Felsarten des Urgebirges sondern bis herauf zum bunten Sandstein und weiter haben das Bedürfnis sich in mannigfachen, regelmäßigen Richtungen zu trennen, so daß Parallelepipeden entstehen, welche wieder in der Diagonale sich zu durchschneiden die Geneigtheit haben.22
Dieses »allgemeine Gesetz«,23 so fährt Goethe fort, sei jedoch ideell, es setze sich nicht immer durch, werde durch besondere Begebenheiten beschränkt, doch könne es in allen besonderen Anschauungen erkennbar bleiben: Hiebei muß man sich aber sagen: Diese Trennung sei anzusehen als ideell, als potentiâ, der Möglichkeit nach, und sei daher teilweise sowohl an eine ewige Ruhe gebunden, als einer früheren oder späteren Erscheinung anheim gegeben; da denn nicht alle intentionierten Sonderungen jedesmal zur Wirklichkeit gelangen und man sie vielleicht nur hie und da actu in der Gegenwart vorzeigen kann, indem an großen Gebirgskörpern oben angedeutete Formen bald einzeln hervortreten, bald aber in großen Massen verschlungen und darin versteckt gedacht werden müssen.24
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Augenblick der Solideszenz hat man als höchst bedeutend zu betrachten. Solideszenz ist der letzte Akt des Werdens, aus dem Flüssigen durchs Weiche zum Festen hingeführt, das Gewordene abgeschlossen darstellend.« (LA I, 8, S. 411.) Vgl. Uwe Pörksens Aufsatz zum Thema der Gesteinsbildung: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff aufgrund seiner sprachlichen Darstellung geologischer Ideen und ihrer Visualisierung. In: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, S. 101–127, hier S. 113. Gestaltung anorganischer Massen, LA I, 8, S. 392. Ebd. Ebd., S. 393.
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Damit ist eine Antwort gefunden auf das große Problem des Aufsatzes Über den Granit, wie die Zerstörungen des Urgebirges erklärt werden könnten. Der scheinbare Eindruck, alles sei »Trümmer, Unordnung und Zerstörung«25 läßt sich mit dem Blick dessen, der das Gesetz der Gesteinsbildung kennt, als Irrtum durchschauen – überall zeigt sich die ideale, urphänomenale Struktur der rhombischen Form als Resultat der neptunistischen Solideszenz und ihrer Verwitterung. Die Herausforderung der vulkanistischen Zeit ist damit beantwortet. Dennoch blendet Goethe die moderne Temporalität nicht gänzlich aus seinen Überlegungen aus: Er relativiert sie nur, rückt sie an den Rand, schränkt ein, indem er sie als nachträgliche und akzidentelle Phänomene charakterisiert. Vulkane sind jung, sie stehen nicht in der Kommunikation mit dem Erdinneren, sie stellen zwar eine Bedrohung dar, aber ihre Wirkungen sind beschränkt; das geregelte, gesetzliche, im Grunde atemporale und unhistorische Werden spielt sich dagegen im Urgestein des Granits ab. In der Auseinandersetzung um die Entstehung von Seismos’ Berg kehrt der Diskussionsstand der Geologie der Goethezeit wieder. Die gegensätzlichen wissenschaftlichen Standpunkte werden im Faust II nicht versöhnt, sondern vielmehr in schroffer Form gegenübergestellt. Durch diesen Verzicht auf Vermittlung schält Goethes dramatischer Text heraus, welche Konsequenzen für das Verständnis der Natur die widerstreitenden Meinungen implizieren. Mit dem Problem der Zeitlichkeit verbindet sich dabei das Problem der Anschauung, das sich für die Geologie als die Frage formulieren läßt, inwiefern der gegebene Zustand der Dinge etwas über ihre Herkunft und Geschichte verrät. Wie sich zeigte, beantworten Seismos und die Sphingen diese Frage nur im Sinn ihrer jeweiligen Interessen. Als zusätzliche Urteilsinstanzen erscheinen daraufhin die beiden Philosophen Thales und Anaxagoras, an die sich Homunkulus in der Hoffnung auf guten Rat (vgl. V. 7849) wendet, will er doch erfahren, »wohin ich mich am allerklügsten wende« (V. 7841), um entstehen zu können. Die Hoffnung allerdings, von Naturphilosophen eine klare Auskunft erhalten zu können, wird von Mephistopheles mit folgender spöttischer Sentenz gedämpft: Denn, wo Gespenster Platz genommen, Ist auch der Philosoph willkommen. Damit man seiner Kunst und Gunst sich freue, Erschafft er gleich ein Dutzend neue. (Vv. 7843–46)
Damit wird ein naturphilosophischer Wettstreit eröffnet, über dessen Ausgang die drameninternen Zuschauer Mephistopheles und Homunkulus und
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Über den Granit, LA I, 1, S. 60.
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die externen realen Zuschauer urteilen müssen. Zunächst kehrt im Gespräch zwischen Thales und Anaxagoras der Kontrast der Zeitvorstellungen wieder, der aus dem Vorangegangenen bereits vertraut ist. Anaxagoras, der ›Feuerphilosoph‹, der die Schule der Vulkanisten repräsentiert, bedient sich der Semantik des Ereignisses, der Plötzlichkeit und der Revolutionen, er insistiert wie Seismos auf der Möglichkeit einer radikalen Neuheit (Vv.7865–8), wo Thales diese Vorstellungen abwiegelt und auf einer naturalen Zeitvorstellung beharrt (Vv. 7861–4). Danach wenden sich beide dem Thema der Entstehung von natürlichen Dingen zu, wobei sie aber jeweils gänzlich Verschiedenes darunter verstehen. Anaxagoras möchte den Ursprung des Felsens aus dem Feuer erklären, während Thales von der Entstehung des Lebendigen spricht. Anaxagoras bezieht sich auf den konkreten Gegenstand des Berges, der ihm und Thales unmittelbar vor Augen steht: »Dein starrer Sinn will sich nicht beugen, / Bedarf es weit’res dich zu überzeugen?« (Vv. 7851f.) In seiner Antwort weicht Thales aus. Er läßt sich nicht auf das Argument des Gegners ein, sondern wechselt die Ebene: »Die Welle beugt sich jedem Winde gern, / Doch hält sie sich vom schroffen Felsen fern.« (Vv. 7853f.) – Das ist eine allgemeine Sentenz, die sich auf die Gesprächssituation eher als auf das Naturproblem bezieht. Indem er Anaxagoras als »schroffen Felsen« charakterisiert, bekundet Thales ausdrücklich, daß er keine Lust hat, sich mit der Meinung des Konkurrenten auseinanderzusetzen. Er wirft Anaxagoras eine Schroffheit und Unbeweglichkeit vor, die doch in vorliegendem Gespräch eher ihn selbst charakterisiert, da er sich in keiner Weise auf die Voraussetzungen des Gegners einläßt.26 Während Anaxagoras auf seinem Thema beharrt (»Durch Feuerdunst ist dieser Fels zu Handen« [V. 7855]), läßt sich Thales gar nicht darauf ein: »Im Feuchten ist Lebendiges entstanden.« (V. 7856) Er verbleibt im Bereich bloßer Dogmatik, da er sich nicht auf den empirischen Augenschein einlassen will. Anaxagoras hingegen beharrt auf dem Einzelfall: THALES Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen; Sie bildet regelnd jegliche Gestalt, Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt. A NAXAGORAS Hier aber war’s! Plutonisch grimmig Feuer, Äolischer Dünste Knallkraft ungeheuer,
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So auch Thomas Zabka, der zu Recht betont, daß die Haltung des Thales nicht gewaltfrei ist, weil sie den Fakten des Anaxagoras die Anerkennung verweigert: »Die neptunistischen Figuren behaupten, daß in der Wahrnehmung der Gegenpartei allein die subjektive Vorstellung und nicht auch das objektive Geschehen bestimmend ist. In dieser Verleugnung des Realitätsgehalts liegt aber selbst eine willkürlich-starre und unreflektierte Verabsolutierung der eigenen Vorstellungsart.« (Thomas Zabka: Faust II. Das Klassische und das Romantische. Goethes ›Eingriff in die neueste Literatur‹. Tübingen 1993, S. 175.)
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Durchbrach des flachen Bodens alte Kruste Daß neu ein Berg sogleich entstehen mußte. (Vv. 7861–68)
Wie sehr sich Thales weigert, auf das empirische Geschehen einzugehen, wird ein weiteres Mal bei dem Meteoriteneinschlag deutlich, der die Existenz gewaltsamer Kräfte in der Natur sozusagen schlagend belegt. Während die ›überhitzte‹ Imagination des Feuerphilosophen gleich den Mond vom Himmel stürzen sieht (vgl. Vv. 7910ff.), wo es sich ›nur‹ um einen Meteoriten handelt, gibt Thales vor, nichts gesehen zu haben: »Was dieser Mann nicht alles hört’ und sah! / Ich weiß nicht recht wie uns geschah [...]« (7930f.). Und selbst als Homunkulus ihn auf die Folgen des Einschlags aufmerksam macht – (vgl. Vv. 7936ff: »Schaut hin nach der Pygmäen Sitz, / Der Berg war rund, jetzt ist er spitz.«) –, erkennt er weder Anaxagoras noch die vulkanisch-plutonischen Kräfte an und entgegnet auf die Beobachtungen des Homunkulus mit den Worten: »Sei ruhig! Es war nur gedacht« (V. 7946), so als stünde es nicht allen deutlich vor Augen, was geschehen ist. Die Diskussion zwischen Thales und Anaxagoras verhält sich zu der vorangegangenen Entstehung des Berges als dessen Nicht-Deutung. Anders als es die Ausgangssituation des Gesprächs hoffen ließ, hat sich hier nichts entschieden. Die Gegensätze haben sich nicht nur verstärkt, sondern sogar noch vermehrt. Zum Problem der Zeit hat sich die ungeklärte Frage gesellt, welchen Status für die wissenschaftliche Erklärung das sinnliche Datum des seismischen Felsens haben könnte. Das Verhältnis von Anschaulichkeit und Deutung scheint damit von Grund auf gestört, denn die Deutungen überwuchern das Faktum. Die Bergentstehung und das mit ihr verbundene Geschehen verschwindet hinter ihren Diskursivierungen beinahe vollständig. Der Berg liefert nicht, wie es Goethes Ideal war, »mit den Anschauungen die Theorie«27 sondern läßt im Gegenteil zwischen der Anschauung eines Gegenstandes und seiner Erklärung eine Kluft entstehen. Evident scheint nur noch, was jeder dafür hält, ohne daß es für den Rezipienten des Textes die Möglichkeit einer Objektivierung gibt. Das gilt nicht nur für die Zeit- und Entstehungsfragen, die sich mit dem Berg verbinden, das gilt auf einer viel grundlegenderen Ebene schon für seine Beschreibung. Als Mephistopheles nach dem Erdbeben umherirrt, um die Sphingen wiederzufinden, bestätigt er zunächst die sphingische Miniaturisierung des Bergs zu einem Hügelchen: Wer weiß denn hier nur, wo er geht und steht, Ob unter ihm sich nicht der Boden bläht?... Ich wandle lustig durch ein glattes Tal
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Vgl. LA I, 11, S. 358: »Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.«
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Und hinter mir erhebt sich auf einmal Ein Berg, zwar kaum ein Berg zu nennen, Von meinen Sphinxen mich jedoch zu trennen Schon hoch genug [...] (Vv. 7684–90)
Während im heimischen Harz die Erdkräfte zur Ruhe gekommen zu sein scheinen, befindet man sich hier in einer seismisch aktiven Landschaft, der nicht zu trauen ist. Jedoch ist nicht nur die Landschaft unzuverlässig; sie infiziert offensichtlich auch die Protagonisten. Während Mephistopheles an dieser Stelle dem Berg sein Bergsein absprechen will – vielleicht auch nur, um sich in seinem Umherirren Mut zu machen –, spricht er wenig später ganz anders: Wo bin ich denn? Wo will’s hinaus? Das war ein Pfad, nun ist’s ein Graus. Ich kam daher auf glatten Wegen, Und jetzt steht mir Geröll entgegen. Vergebens klettr’ ich auf und nieder, Wo find ich meine Sphinxe wieder? So toll hätt ich mirs nicht gedacht Ein solch Gebirg in Einer Nacht. Das heiß ich frischen Hexenritt Die bringen ihren Blocksberg mit! (Vv. 7801–10)
Es gibt keine Instanz jenseits der dramatischen Personen, die verbürgen könnte, was es mit dem Berg auf sich hat: Evidenz besitzt das Geschehen immer nur für die Figur, die gerade spricht – eine Reduktion auf irgendeine nicht relativierbare Gegebenheit ist unmöglich. Nachdem auch Mephistopheles sich widerspricht, wo es um die Größe des Berges geht, kann Oreas, die wiederum Seismos offensichtlich nicht sehr wohlgesonnen ist, das Prinzip der Relativierung der gegnerischen Ansprüche nur noch einmal veranschaulichen, wenn sie jetzt gegenüber Mephisto behauptet: Herauf hier! Mein Gebirg ist alt, Steht in ursprünglicher Gestalt. [...] Daneben, das Gebild des Wahns, Verschwindet schon beim Krähn des Hahns. Dergleichen Märchen seh’ ich oft entstehn Und plötzlich wieder untergehn. (Vv.7811–2; 7817–7820)
Oreas, eine Bergnymphe, bringt noch eine dritte Perspektive ein: Hatten die Sphingen bestritten, daß Seismos uralt sei und bezweifelt, daß er noch über Kräfte verfügt, so ließen sie doch immerhin gelten, daß er einmal eine gute Zeit hatte. Oreas macht ihm nun auch diesen Anspruch streitig, indem sie den Berg (und damit das Wirken von Seismos überhaupt) zu einem Wahngebilde erklärt. Zugleich nimmt sie für sich in Anspruch, ältestes Gestein zu 134
bewohnen. Ein grundsätzlicher Einwand gegen Seismos ist dies nach Lage der Dinge nicht. Es fügt sich vielmehr passend in die Logik der bisherigen geologischen Diskussion ein. Der vielberufene »Perspektivismus«28 des Faust II als poetisches Verfahren findet hier seine Begründung im Bruch zwischen Anschauung und Bedeutung, den die vulkanische Entstehung des Bergs veranlaßt. Das geologische Wissen im Faust II wird so zu einem poetologischen Reflexionsmedium. Daß Goethe für die Reflexion der gebrochenen Anschauung gerade das Paradigma der Geologie wählt, hängt mit Eigenschaften ihres Gegenstands zusammen. In einem seiner geologischen Fragmente findet man eine Formulierung, die angesichts Goethes eigener geologischer Arbeit erstaunt. Wir lesen: »Die Vernunft hat nur über das Lebendige Herrschaft; die entstandene Welt, mit der sich die Geognosie abgibt, ist tot. Daher kann es keine Geologie geben, denn die Vernunft hat hier nichts zu tun.«29 Es kann keine Geologie geben – das bedeutet mit Hans Blumenberg: Die Steine »haben keinen Logos, und folglich gibt es keinen von ihnen.«30 Dieses Fehlen eines Logos bedeutet auch, daß sich die Geologie dem geschichtsfremden Blick der Morphologie entzieht und eine Hermeneutik erfordert, die der Historizität der Natur in vollem Umfang gerecht werden muß. Das Steinreich widersetzt sich der Anschauung, es erzwingt die Lektüre – und mit der Lektüre den Streit der Interpretation. Die Bedeutung dieser Tatsache kann durch einen Blick auf die Goethesche Morphologie erläutert werden. Deren Grundidee, daß jedes Phänomen die Abwandlung eines identischen Typus darstelle, darf, wie Wolf von Engelhardt betont, keinesfalls mit moderner Evolutionstheorie verwechselt werden:31 Sie ist entschieden unhistorisch. Daß an einer Pflanze alles Blatt sei, bedeutet für Goethe nicht, alles habe sich historisch-genetisch aus dem (empirischen) Blatt entwickelt. Es bedeutet vielmehr, daß alle Variationen des Blattes simultan gegeben sind und in ihrer Identität und Veränderung sich der Anschauung darbieten. Morphologie in Goethes Sinn ist keine genetische, sondern eine vergleichende Wissenschaft. Der Kontrast von Geologie und Morphologie begegnet auch im bereits zitierten Fragment, wo es weiter heißt:
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Vgl. z.B. Harold Bloom: The Western Canon. The Books and School of the Ages. New York 1994, S. 203–235: »I cannot think of another work of Faust’s eminence that so aggressively refuses any clear perspective of its reader.« (Ebd., S. 220.) LA I, 11, S. 362. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981, S. 228. Vgl. Wolf von Engelhardt: Morphologie im Reich der Steine? In: In der Mitte zwischen Natur und Subjekt. Johann Wolfgang von Goethes Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu verstehen 1790–1990. Hg. von Gunter Mann u.a. Frankfurt a.M. 1992, S. 33–51: »Wenn Goethe hier [im Gebiet der Morphologie, S. S.] von Evolution sprach, so war damit eine ideelle Entwicklung, nicht ein zeitlicher Prozeß, schon gar nicht ›Evolutionstheorie‹ im modernen Sinn gemeint.« (Ebd., S. 42.)
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Wenn ich ein zerstreutes Gerippe finde, so kann ich es zusammenlesen und aufstellen; denn hier spricht die ewige Vernunft durch ein Analogon zu mir, und wenn es das Riesenfaultier wäre. Was nicht mehr entsteht, können wir uns als entstehend nicht denken. Das Entstandene begreifen wir nicht.32
Das Gerippe, selbst das Riesenfaultier, kann deshalb als aktuell entstehend gedacht werden, weil es sich jeder historischen Temporalität entzieht, denn das Entstehen ist nicht einmalig und abgeschlossen, sondern immer noch im Gang. Entstehung meint in diesem Zusammenhang das Wechselspiel von Typus und Umwelt, das sich immer und jederzeit in der Form der Analogie beobachten läßt. Der Begriff der Analogie ist für Goethes Biologie zentral,33 da diese nicht darauf abzielt, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu erklären, sondern nach funktionalen Analogien sucht, nach gleichen und verschiedenen Umweltbedingungen, auf die die Lebewesen reagieren, die aber immer nur Veränderungen des identischen Urtypus darstellen. Die ewige Vernunft spricht durch das Riesenfaultier, weil sich diese Bedingungen des Lebendigen nicht verändern und weil sich die Gestalt des Tieres nach den immer gültigen Gesetzen gebildet hat.34 Obwohl auch hier die Veränderung Zeit braucht, ist diese doch in der ›allgemeinen Gestalt‹ aufgehoben, die sich in der Pflanze wie im Tier zugleich mit dem konkreten Organismus darbietet. In der Geologie ist das anders. Goethes Unternehmen, die Gesteinsverwitterung nach ewigen Gesetzen zu erklären, stellt den Versuch dar, dieses morphologische Modell auf die Erdgeschichte zu übertragen. Doch anders als in der Biologie kommt dem Medium der Zeit hier eine historische Bedeutung zu, die Goethe, wie wir bei der Analyse von Über den Granit gesehen haben, zu minimieren versucht. Dennoch sind die Verwitterungsprozesse gar nicht ausschließlich simultan erklärbar.35 Während die organische Natur immer im Entstehen
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LA I, 11, S. 362. Vgl. Dorothea Kuhn: Goethes Morphologie. In: FA I, 24, S. 853–866. Vgl. hierzu etwa den Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre, der auf die Zeit um 1790 datiert wird. Goethe geht davon aus, daß »der geheimnisreiche Bau der Bildung« der Tiere »nach einem einzigen Muster gebaut ist« und daß daher dieses Muster sich aus dem morphologischen Vergleich erkennen läßt, während die einzelnen Gestalten wiederum sich aus dem Wechselspiel von Muster und Umwelt ergeben. Zu untersuchen ist dann, »nachdem wir das einzige Muster immer genauer erforscht und erkannt haben« folgendes: »was wirkt ein allgemeines Element unter seinen verschiedenen Bestimmungen auf eben diese allgemeine Gestalt? Was wirkt die determinierte und determinierende Gestalt diesen Elementen entgegen? Was entsteht durch diese Wirkung für eine Gestalt der festen, der weicheren, der innersten und der äußersten Teile? Was, wie gesagt, die Elemente in allen ihren Modifikationen durch Höhe und Tiefe, durch Weltgegenden und Zonen hervorbringen.« GA 17, S. 229f. Daß ein Maß an linearer Zeit in der Geologie anerkannt werden muß sieht auch Wolf von Engelhardt: Morphologie im Reich der Steine?, S. 42: »Um aber im Steinreich Beweglichkeit von Gestalten, Verwandlungen, und Metamorphosen zu sehen ist die Vorstellung realer Entwicklung in der Zeit gefordert.«
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begriffen ist und dieses daher beobachtet werden kann, ist die Entstehung des Steinreichs im wesentlichen abgeschlossen, sieht man von den Verwitterungsprozessen und dem Vulkanismus, dem Goethe keine zentrale Bedeutung beimißt, ab. Anders als in der morphologischen Biologie Goethes wird daher die anorganische Natur von einem Bruch zwischen Zustand und Geschichte ereilt, und dieser Bruch wiederum erzeugt die verschiedenen Erklärungen, die die Form individueller Mythologien annehmen. Das sei in einem kurzen Seitenblick auf den Beginn des vierten Akts gezeigt, denn dort wird die geologische Diskussion aus der »Klassischen Walpurgisnacht« noch einmal aufgenommen. Zunächst jedoch wird eine innere Anschauung Fausts vorgestellt, der im Medium der Wolke ein Modell findet, die Vielfalt der Erscheinungen als Variationen eines identischen Substrats zu denken. Faust traut hier der Anschauung zu, die Zeit aufheben zu können. Der Anblick der Wolke, die ihn an seine Geliebten erinnert, scheint Vielfalt und Einheit der Erscheinungen, Vergangenheit und Gegenwart durch die Präsenz eines Symbols zu versöhnen: »Das Auge trügt mich nicht.« (V. 10 047) Der Anblick der Wolke hebt für einen Augenblick die Temporalität auf: Auf sonnbeglänzten Pfühlen herrlich hingestreckt, Zwar riesenhaft, ein göttergleiches Fraungebild, Ich seh’s! Junonen ähnlich, Leda’n, Helenen, Wie majestätisch lieblich mir’s im Auge schwankt. Ach schon verrückt sich’s! formlos breit und aufgetürmt, Ruht es in Osten, fernen Eisgebirgen gleich Und spiegelt blendend flüchtger Tage großen Sinn. (Vv. 10 048–54)
Doch diese Präsenzerfahrung löst sich auf und gibt der Reflexion Raum, in der sich Faust der Flüchtigkeit der Erscheinungen bewußt wird. Die folgende Verse, die der Erinnerung an Margarete gewidmet sind, werden vom Wissen um die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen beherrscht. Während die vergehende Zeit im Medium der Erinnerung festgehalten werden kann, zerbricht die Einheit von Vergangenheit und Gegenwart, sobald der Blick auf die Natur fällt. Mit Mephistopheles im Siebenmeilenstiefel hält das neue Zeitverständnis rasant Einzug36 und bemächtigt sich auch der Natur. Mephistopheles spricht im Sinne des vom Vulkanismus implizierten revolutionären Zeitkonzepts, wenn er behauptet, das »gräßlich gähnende Gestein« sei »eigentlich [...] der Grund der Hölle« gewesen (vgl. Vv. 10 070 u. 72). Er nimmt damit Bezug auf Seismos und dessen Darstellung der Erdentstehung. Sachlich hat Faust
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Vgl. Manfred Birk: Goethes Typologie der Epochenschwelle im vierten Akt des »Faust II«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 33 (1989), S. 261–280. Birk zeigt, daß der Beginn des vierten Akts als eine Figuration der »Epochenschwelle« aufzufassen ist. Moderne Beschleunigungsprozesse werden etwa durch den Siebenmeilenstiefel bezeichnet.
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der mephistophelischen Erdgeschichte nur das ebenso dogmatische Weltbild des Neptunismus entgegenzusetzen. Dabei bleibt er seinem eigenen Anspruch nicht treu. Er behauptet zunächst: »Gebirgesmasse bleibt mir edel-stumm, / Ich frage nicht woher und nicht warum?« (Vv. 10 095–6), nur um sofort die neptunistische Erklärung des Woher und Warum folgen zu lassen.37 Auch hier bleibt also der Gegensatz der Anschauungen bestehen – ohne Vermittlung und vor allem ohne Stellungnahme des Autors über die Richtigkeit beider Hypothesen.38 Am besten faßt Mephistopheles das zusammen, wenn er festhält: »Der Philosoph er weiß es nicht zu fassen / Da liegt der Fels, man muß ihn liegen lassen, / Zu Schanden haben wir uns schon gedacht.« (Vv. 10 113–5) Der Fels, der das Objekt des Denkens und Erklärens ist, dient zugleich als Symbol der Unversöhnbarkeit des Streits. Im Rückverweis auf die Diskussion zwischen Thales und Anaxagoras wird der Gegensatz ein weiteres Mal unterstrichen, aber nicht gelöst. Der Fels bezeichnet den Gegensatz, er symbolisiert die Unmöglichkeit, auf seine Geschichte zu schließen. So ist es gerade seine Stummheit, die die Naturphilosophen und Naturwissenschaftler zum Reden bringt. Die Erklärungen bezeugen die je individuelle Art des Denkens eher als die Natur des Gegenstandes. Diese individuelle Form des Denkens, die nicht unmittelbar aus ihrem Objekt abgeleitet werden kann, hat Goethe im Begriff der Vorstellungsart reflektiert. Relevant wird das Thema der Vorstellungsart für die Erforschung der Natur dort, wo der Sprung zwischen Anschauung und Erklärung bewußt wird.39 Dies geschieht mit dem zunehmenden wissenschaftsinternen Datenanstieg und der damit einhergehenden Diversifizierung der Theorien. Das läßt sich auch in Goethes Schriften erkennen.40 Es handelt sich darum, die Unverein-
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Vgl. Vv. 10 097–10 104. Zweifellos wirkt die Wiederholung der Auseinandersetzung durch Mephistopheles und Faust parodistisch. Besonders Mephistopheles scheint den Vulkanismus für seine Zwecke zu instrumentalisieren, will er doch Faust verführen. Das bedeutet aber nicht, daß dadurch die Theorie selbst als unterlegen gekennzeichnet würde. Auch Wolf von Engelhardt sieht einen Zusammenhang zwischen der Temporalisierung der Natur, dem Anschauungsentzug und der zunehmenden Bedeutung der »Vorstellungsarten«: »Um zu erkennen, daß in Mineralkörpern und Gesteinen etwas […] in Gestalten erscheint […], muß man sich unbeobachtbare Zeitabläufe vorstellen, die das gegenwärtig Angeschaute hervorbrachten. Man muß Prozesse erdenken, die in der Vergangenheit, unter Umständen in den fernsten Epochen der Erdgeschichte spielten. Da gibt es im Vorfeld der wissenschaftlichen Argumentation im allgemeinen mehr als eine einzige Möglichkeit, und den Denkungsarten, morphologischen oder entgegengesetzten, ist ein gewisser Freiraum gewährt. […] Außerdem ist Zurückhaltung im Streit geboten, weil beim Rückschluß vom gegenwärtig Beobachteten auf Ursachen, die in der Vergangenheit wirkten, immer die Gefahr des Irrtums droht […].« (Wolf von Engelhard: Morphologie im Reich der Steine?, S. 42f.) Vgl. auch Thomas Zabka: Ordnung, Willkür und die »wahre Vermittlerin«. Goethes ästhetische Integration von Natur und Gesellschaftsidee. In: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, S. 157–177, bes. S. 163ff. Zum Begriff der Vorstellungsarten in Goethes naturwissenschaftlicher Forschung vgl. Manfred Kleinschnieder: Goethes Naturstudien. Wissenschaftstheoretische und -geschichtliche Untersuchungen. Bonn 1971, S. 91ff.
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barkeit wissenschaftlicher Standpunkte aus den individuellen Vorstellungsarten der Forscherpersönlichkeiten zu begründen, demnach um einen kritischen Begriff, dessen Aufgabe es ist, die individuelle Bedingtheit von Forschungsergebnissen thematisieren zu können und dadurch Vermittlungsmöglichkeiten zu öffnen.41 Der Begriff der Vorstellungsart enthält starke konstruktivistische Anteile, er bezeichnet die Weise, mit der ein Individuum notwendigerweise (nämlich sofern es individuell ist) Daten zu seinen besonderen Wahrnehmungen und Meinungen verknüpft. Darum kann er nicht gleichgesetzt werden mit Begriffen wie Hypothese und Theorie.42 Auch der Vergleich mit dem »Diskurs«,43 den Ulrich Gaier in einem wichtigen Aufsatz zu diesem Thema erwägt, trifft die Sache nicht exakt: »Seit Foucault nennen wir Diskurs das Syndrom aus perspektivischem Weltzugang, Erklärungs- und Wertsystem, zugehöriger Sprache und Alleinvertretungsanspruch gegenüber anderen Diskursen.« Für Gaier besitzt »der Begriff der ›Vorstellungsart‹ im ausgehenden 18. Jahrhundert genau diese Bedeutung [...].«44 Die Vorstellungsart bezeichnet jedoch im Unterschied zum Diskursbegriff Foucaults eine individuelle Perspektivierung, die ohne das konkrete Individuum nicht erklärbar ist. Sie bezieht sich auf eine apriorische Prägung der Erfahrungen durch die besondere Form der Individualität.45 Gaier selbst weist auf die »Tradition der erkenntnistheoretischen und semiotischen Skepsis«46 hin, in der Goethe mit der Verwendung des Begriffs steht, und macht auf einen interessanten Aufsatz von Friedrich Heinrich Jacobi aufmerksam, der wichtige Formulierungen zum Verständnis der Vorstellungsarten enthält. Jacobi sieht darin nämlich eine irreduzible Weise, sich die Welt zu konstruieren: Was seine [des Menschen, S.S.] Vorstellungen von den Dingen enthalten, schreibt er ihnen zu; das sind die Dinge ihm. Was sie ausser dem seyn mögen, kann er nicht erfahren; er kann aus seinen Empfindungen, Wahrnehmungen und Urthei-
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Vgl. Wolf von Engelhardt: Morphologie im Reich der Steine?, S. 43. Vgl. dagegen Kleinschnieder: Goethes Naturstudien, S. 94: »Vorstellungsarten sind Hypothesen, und zwar in unserem Text Hypothesen, die im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte aufgetreten sind.« Das trifft die Sache nicht genau, weil die »Vorstellungsarten« die individuelle Fundierung der Hypothesenbildung meinen, und nicht nur deren propositionalen Gehalt. Richtig formuliert Wolf von Engelhardt den Sachverhalt, wenn er die Bedeutung des Begriffs »als einer aller Erfahrung vorgeordneten Instanz bei Urteilen« begreift, ohne den Einfluß der idealistischen Philosophie zu überschätzen. Vgl. Engelhardt: Morphologie im Reich der Steine?, S. 42. Ulrich Gaier: Dialektik der Vorstellungsarten als Prinzip in Goethes ›Faust‹, S. 161. Ebd. Man kann hier gewisse Beziehungen zu Kant erkennen, und mutmaßen, ob Goethe den Begriff nach der Lektüre der Kritik der reinen Vernunft zum ersten Mal benutzte (so Kleinschnieder: Goethes Naturstudien, S. 99). Die Differenz zu Kant ist jedoch nicht zu verkennen, geht es Kant doch nicht um die individuelle Prägung der Erfahrung, sondern um transzendentale Begriffe. Ebd., S. 159.
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len nicht herausgehen, und die Gegenstände prüfen ausserhalb seinem Verstande, sich selbst ausserhalb sich selbst berichtigen, sich erleuchten mit einer Wahrheit, die er nicht verstehen würde. 47
Der individuelle Perspektivismus des Begriffs der Vorstellungsarten führt notwendigerweise zu Gegensätzen, wenn es, wie in der Wissenschaft, darauf ankommt, zu verbindlichen Erkenntnissen zu gelangen. Dieser Gedanke taucht in einer Handschrift mit dem Titel Bildung der Erde (1806)48 auf. Man findet unter der Rubrik »Grundsätze der Betrachtung« folgende Bemerkungen: Erde, wie wir sie jetzt vor uns gewahr werden. Auch hier ist eine genetische Betrachtung wünschenswert. Alles was wir entstanden sehen, und eine Sukzession dabei gewahr werden davon verlangen wir dieses sukzessive Werden einzusehen. So wie die wahre Geschichte überhaupt nicht das Geschehen aufzählt; sondern wie sich das Geschehene auseinander entwickelt und darstellt. 49
Diese Hoffnung, daß sich das Geschehene selbst erzählen möge, daß also auch in diesem Bereich Theorie und Anschauung identisch sein sollen, täuscht allerdings. Denn weil die »Steine stumme Lehrer [sind]«,50 müssen die Naturwissenschaftler für sie das Wort ergreifen. So entsteht die Meinung, und die Meinungen sind irreduzibel auf die Fakten: Vereinigung der Meinungen unmöglich. Dokumente51 nicht von jedem. Nicht in derselben Ordnung. Nicht mit denselben Augen gesehen. Notwendiger Gegensatz der Vorstellungsarten. Gegen Hundert verschiedene Theorien der Erdentstehung, teils sich einander entgegengesetzt, teils sich einander mehr oder weniger zuneigend.52
Die Meinungsverschiedenheiten sind durch die Verschiedenheit der fundierenden Vorstellungsarten begründet, deren Vermittelbarkeit und Falsifizierbarkeit durch den Rekurs auf die Fakten jedoch angenommen werden muß: Ehe wir davon sprechen können ist es nötig die Dokumente selbst durchzugehen. Da wo die Meinungen zusammentreffen es zu bemerken.
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Friedrich Heinrich Jacobi: Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers in Briefen an vertraute Freunde. In: Die Horen. 1. Jg., 8. Stück (1795), S. 1–34, hier S. 19. (Nachdruck Darmstadt 1959.) LA, I, 1, S. 305ff. Ebd., S. 310. LA I, 11, S. 351. Dokumente meint hier die Naturzeugnisse, also die geologischen Fakten, die von den einzelnen Denkschulen unterschiedlich bewertet werden. Das geht aus den voranstehenden Sätzen hervor, in denen Goethe an der »Freyberger Schule«, also den Neptunisten, hervorhebt, daß sie die Dokumente alle in einem Sinn behandeln. LA I, 1, S. 312.
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Wo sie einander entgegenstehen, die Ursachen, insofern sie im Menschen, oder in den Sachen liegen, anzumerken.53
Obwohl der Begriff der Vorstellungsart auf die individuelle Wirklichkeitskonstruktion bezogen ist, hat er, wie diese Notizen belegen, ein objektives Korrelat in der Situation der Naturwissenschaft um und nach 1800, die mit dem Phänomen der Temporalisierung zurechtkommen mußte. Der Begriff wird in Goethes Schriften virulent, wo sich der Spalt zwischen Sein und Geschichte, Gestalt und Bedeutung auftut. Das ist in den Debatten um Vulkanismus und Neptunismus der Fall.54 In seiner Deutung des Kammerberges bei Eger, den er als Vulkan erkennt, formuliert Goethe dieses Problem als einen Konflikt der Anschauung mit der Denkkraft: Möchte man doch bei dergleichen Bemühungen immer wohl bedenken, daß alle solche Versuche die Probleme der Natur zu lösen, eigentlich nur Konflikte der Denkkraft mit dem Anschauen sind. Das Anschauen gibt uns auf einmal den vollkommenen Begriff von etwas Geleistetem; die Denkkraft die sich doch auch etwas auf sich einbildet, möchte nicht zurückbleiben, sondern auf ihre Weise zeigen und auslegen wie es geleistet werden konnte und mußte.55
Was die Anschauung leistet, ist die Beschreibung eines Zustandes. In dem Aufsatz erläutert und beschreibt Goethe als Geologe das Gelände, die Landschaftsform, die Gestalt des Gesteins, kurz: ein Gegenwärtiges wird detailliert und kundig zu einem Begriff der Anschauung gemacht. Doch das Problematische ist der Übergang zur Erklärung, bei der es auf den Entwurf von Hypothesen, also auf ein Denken im Bereich des Möglichen ankommt, für das neben der Denk- auch die Einbildungskraft zur Hilfe genommen werden muß: Da sie [die Denkkraft] sich selbst nicht ganz zulänglich fühlt, so ruft sie die Einbildungskraft zu Hülfe und so entstehen nach und nach solche Gedankenwesen (entia rationis) denen das große Verdienst bleibt uns auf das Anschauen zurückzuführen, und uns zu größerer Aufmerksamkeit, zu vollkommenerer Einsicht hinzudrängen. 56
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Ebd. Allerdings nicht nur in der Geologie. Auch in biologischen Streitfragen findet man bei Goethe zunehmend eine Thematisierung der Vorstellungsarten, so in dem zentralen Aufsatz: Principes de philosophie zoologique, in dem er sich der Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Georges Cuvier und Etienne Geoffroy de St.-Hilaire widmet. Es ging um die Frage, ob sich die zoologische Artenvielfalt als Variation eines Urtypus erklären läßt, oder ob es mehrere anatomische Grundtypen gebe. Vgl. hierzu Dorothea Kuhn: Empirische und ideelle Wirklichkeit. Studien über Goethes Kritik des französischen Akademiestreites. Graz/Wien/Köln 1967. Beschreibung des Kammerbergs bei Eger (1808), in: MA 12, S. 431–442, hier S. 440. Der Aufsatz wurde zuerst veröffentlicht in Karl Cäsar von Leonhards Taschenbuch für die gesamte Mineralogie veröffentlicht. Goethe ließ ihn in den Heften Zur Naturwissenschaft überhaupt, 1. Bd., 2. Heft (1820) ein zweites Mal drucken. Ebd., S. 441.
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Die jeweils unter Zuhilfenahme der Denk- und Einbildungskraft gefundene Erklärung muß sich erneut an der Anschauung bewähren – so entsteht ein Zirkel, in dem sich das beschreibbare Phänomen und die denkmögliche Begründung des Phänomens idealerweise aneinander annähern sollen. Dieser Zirkel besitzt eine antidogmatische, auf Vermittlung unvereinbarer Standpunkte ausgerichtete Funktion. Wohlwissend, daß Goethe mit seiner vulkanistischen Deutung des Kammerbergs (die er später widerrief und in eine pseudovulkanistische umdeutete) an einer offenen Frage der Wissenschaft operierte, betont er ausdrücklich, seine Erklärung wolle nicht dogmatisch verstanden werden: Doch indem wir hier von erhitzenden Naturoperationen sprechen, so bemerken wir, daß wir uns auch an einer heißen theoretischen Stelle befinden, da nämlich, wo der Streit zwischen Vulkanisten und Neptunisten sich noch nicht ganz abgekühlt hat. Vielleicht ist es daher nötig ausdrücklich zu erklären, was sich zwar von selbst versteht, daß wir diesem Versuch uns den Ursprung des Kammerbühls zu vergegenwärtigen, keinen dogmatischen Wert beilegen, sondern vielmehr Jeden auffordern, seinen Scharfsinn gleichfalls an diesem Gegenstand zu üben.57
Man erkennt, daß der Begriff der Vorstellungsart in der Goetheschen Naturwissenschaft auf Vermittlung abzielt, ein Ziel, das Goethe selbst dort beibehielt, wo er gelegentlich im Privaten äußerst scharf urteilte. »Die vermaledeitete Polterkammer«58 des Vulkanismus ablehnend, erkannte er doch die Notwendigkeit des Gesprächs, wie seine Reaktionen auf Alexander von Humboldts Vorlesung Über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in verschiedenen Erdstrichen belegt.59 In seiner in Zur Naturwissenschaft überhaupt veröffentlichten Reaktion von 1823 auf diese Schrift erkennt Goethe Humboldts Fähigkeit an, alle Fakten zu einer seiner Vorstellungsart gemäßen Gegenständlichkeit zusammenzufassen: Ein weit umsichtiger, tiefblickender Mann, der auch seine Gegenständlichkeit, und zwar eine grenzenlose, vor Augen hat, gibt hier aus hohem Standpunkt eine Ansicht, wie man sich von der neuern ausgedehntern vulkanistischen Lehre eigentlich zu überzeugen habe.60
Humboldts Darstellung ist als eine Weise charakterisiert, eine eigene Gegenständlichkeit zu erzeugen und vor Augen zu stellen, sie ist im Sinne der Vorstellungsarten individuell. Die Stelle demonstriert zugleich noch einmal, wie sehr die Evidenz der Welt sich zu einer subjektiven Verfaßtheit gewandelt hat. In diesem Sinn fährt Goethe fort:
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Ebd., S. 440. LA I, 11, S. 316. Vgl.: Alexander von Humboldt: Über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane. GA 17, S. 604.
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Das fleißigste Studium dieser wenigen Blätter, dem Buchstaben und dem Sinne nach, soll mir eine wichtige Aufgabe lösen helfen, soll mich fördern, wenn ich versuche zu denken wie ein solcher Mann, welches jedoch nur möglich ist, wenn sein Gegenständliches mir zum Gegenständlichen wird, worauf ich denn mit allen Kräften hinzuarbeiten habe.61
In diesen Sätzen signalisiert Goethe noch eine Vermittlungsbereitschaft, die später deutlich zurückgenommen wird, wie schärfere Äußerungen folgender Art belegen: Wenn Humboldt oder die anderen Plutonisten mir’s zu toll machen, werde ich sie schändlich blamieren; schon zimmere ich Xenien genug im stillen gegen sie; die Nachwelt soll wissen, daß doch wenigstens Ein gescheiter Mann in unserm Zeitalter gelebt hat, der jene Absurditäten durchschaute. Ich finde immer mehr, daß man es mit der Minorität, die stets die gescheitere ist, halten muß.62
An der Notwendigkeit der Vermittlung in der Wissenschaft ändern solche Äußerungen nichts, sie belegen nur die wachsende Unlust Goethes, sich der Materie des Vulkanismus noch länger zu widmen. Im übrigen muß festgehalten werden, daß seine Kritik auch aus heutiger wissenschaftlicher Sicht zum Teil berechtigt war und der vulkanistische Eifer, alles aus dem Wirken von Vulkanen bzw. dem plutonischen Erdinneren erklären zu wollen, durchaus nicht als ein absoluter Fortschritt der Geologie gilt.63 Aber das zu entscheiden ist nicht die Aufgabe und die Kompetenz des Literaturwissenschaftlers. Die Heterogenität der Naturbegriffe kann im Faust II genutzt werden, um in einer Wissenschaftskritik oder einer Diskursanalyse avant la lettre die Möglichkeiten des geologischen Archivs auszuloten, seine wichtigsten Repräsentanten darzustellen und deren Argumentation zu beobachten. Die Unbeobachtbarkeit der Erdgeschichte führt zur Beobachtung ihrer Beobachter. Damit ist dann aber nicht mehr die Natur, sondern die Kommunikation primärer Darstellungsgegenstand. Sie wird im Hinblick auf die Verschiedenheit ihrer Beschreibungen und Erklärungen von Objekten der Wirklichkeit beobachtet, und diese Verschiedenheit wird dann auf die unterschiedlichen Vorstellungsar-
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Ebd. Vom Kanzler von Müller überliefertes Gespräch vom 6. März 1828 (vgl. FA II, 10, S. 596). Auch dieses ist kein endgültiges Urteil gegen Humboldt, den er im Grunde immer anerkannt hat. So heißt es wieder einige Jahre später über ihn unter erneuter Betonung der inkompatiblen Vorstellungsarten: »Denn obgleich seine Ansicht der geologischen Gegenstände aufzunehmen und darnach zu operieren meinem Zerebralsystem ganz unmöglich wird so hab’ ich mit wahrem Anteil und Bewunderung gesehen, wie dasjenige wovon ich mich nicht überzeugen kann, bei ihm folgerecht zusammenhängt und mit der ungeheuren Masse seiner Kenntnisse in Eins greift, wo es denn durch seinen unschätzbaren Charakter zusammen gehalten wird.« (An Wilhelm von Humboldt, 1.12.1831, FA II, 11, S. 494.) Vgl. Otfried Wagenbreth: Geschichte der Geologie in Deutschland, S. 68.
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ten der beteiligten Individuen zurückbezogen. Trotzdem handelt es sich nicht um eine Psychologisierung der naturwissenschaftlichen Diskussion, weil die Heterogenität der Anschauungen in der Abwesenheit einer erfüllten Gegenstandsanschauung und im empirischen Datendruck ein objektives Korrelat besitzt. Dieser Verlust der Vorrangstellung eines anschauenden Zugangs zur Natur und ihrer Erklärung ist nicht nur als eine Voraussetzung zum Verständnis des Dramas anzusehen, sondern wird darin als ein poetologisches Problem verhandelt. Denn es geht dabei um das Problem der Verständlichkeit und der Interpretation der dramatischen Handlung. Es ist nicht einfach so, daß Goethe naturwissenschaftliche Thesen zitiert und dramatisiert, er führt vielmehr im Drama selbst vor Augen, was die umstrittene Stellung der Evidenz für das Verfertigen poetischer Texte bedeutet, indem der Text selbst die Anschaulichkeit seines Geschehens preisgibt und in den Widerstreit von Diskursen überführt. Diese selbst sind zu betrachten und zu beurteilen, die Intransparenz des Gegenstandes, der in Rede steht, ist auszuhalten und nicht durch ideologische Präferenzen zu kompensieren, denn nur so wird man dem Anspruch des Dramas gerecht. Das Medium der Geologie erfüllt also die Funktion, eine poetologische und ästhetische Entwicklung zu reflektieren, die sich in der Literatur um 1800 aller Orten nachweisen läßt. Reflektiert wird die neue Beobachterabhängigkeit der Wirklichkeit, indem Goethe an seinem wissenschaftlichen Material die konstruktiven, selbstreferentiellen64 Anteile herausarbeitet. Dieser Sachverhalt kann seinerseits nur beobachtet werden, wenn man die naturwissenschaftlichen Bezüge des Dramas ernst nimmt, was in der neueren Forschung kaum mehr geschieht.65 Die Natur und Naturforschung im Faust II wird zumeist nur in Relation zur Geschichte betrachtet.66 So konnte z.B. Manfred Birk behaupten, in der Auseinandersetzung zwischen Faust und Mephisto im vierten Akt greife »Goethe [...] nicht in die zeitgenössische naturwissenschaftliche Kontroverse zwischen Vulkanismus und Neptunismus ein: Zur Debatte stehen vielmehr deren Analogien in der politischen Theorie; im Disput auf dem Gebirgsplateau geht es um die Natur (V. 10 123) der politischen
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Hier ist gemeint, daß die Erklärungen der Wissenschaft Kohärenz im Sinne geschlossener Aussagen erreichen müssen und daß diese Kohärenz nicht durch Deckung mit den Fakten, sondern durch Bezug der Aussagen aufeinander erreicht wird. An der Diskussion zwischen Thales und Anaxagoras konnte dies gezeigt werden. Vgl. Mattenklott: Faust II, demzufolge die Beachtung der geologischen Diskussion besonders »ältere Deutungen« auszeichnet. (Ebd., S. 430.) Vgl. z.B. Heinz Schlaffer: Faust zweiter Teil: »Hier [im Faust II, S.S.] gebraucht Goethe ›Natur‹ als kritischen Begriff, um die Fortschritte der Neuzeit als Ablösung von der Natur, als Vollendung der Unnatur zu begreifen.« (Ebd., S. 155.) Eine wichtige Ausnahme stellt Peter Matusseks Studie Naturbild und Diskursgeschichte dar. Sie beschränkt sich aber auf den ersten Teil des Dramas.
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Geschichte.«67 Birk geht unmittelbar von der geologischen Diskussion zur Politik über und faßt jene nur noch als Metapher der Geschichte auf. Auch Thomas Zabka hat im Steit zwischen Vulkanismus und Neptunismus eher unterschiedliche Verhaltenstypen erkannt als Wissenschaftspositionen – Verhaltensweisen, die sich dann auch auf Politik, Philosophie und sonstige Wissensfelder projizieren lassen: Subjektivistische Philosophie, Vulkanismus und Gewaltprinzip auf der einen Seite; objektvermitteltes Denken, Neptunismus und die Vorstellung der freien Selbstbeschränkung auf der anderen – diese Positionen stehen einander im 2. Akt gegenüber, aber nicht in der Form eines strengen Dualismus. Sie sind vielmehr dialektisch aneinander gebunden.68
Der Vulkanismus wird mit Subjektivismus und Gewalt in eine Analogie gesetzt, der Neptunismus mit Objektivität und einer Ethik der Selbstbeschränkung; diese Verschränkung von Ethik bzw. Philosophie, Politik und Naturwissenschaft verwischt allerdings das an der Wurzel der Geologie sitzende Anschauungs- und Erkenntnisproblem.69 Literaturgeschichtlich wesentlich aufschlußreicher als der Versuch, die naturwissenschaftlichen Fragestellungen nur noch allegorisch aufzufassen, ist der archivpoetische Befund der beschriebenen Repräsentationskrise, die zu einer Entkoppelung der Poesie von ontologischen Vorgaben führen muß. Diese Entkoppelung charakterisiert ganz allgemein die Kunst und Literatur seit der Romantik, man kann sagen, daß die poetische Kommunikation nach 1800 auf ihre selbstreferentielle Verfaßtheit aufmerksam wird und dies als produktive Krise erfährt. Nicht nur die Romantiker schreiben »Texte [...], mit denen sich Kommunikation auf eine spezifische Weise selbst entdeckt und dabei: ›erschrickt.‹«70 Dieses Erschrecken vollzieht sich in einer Weise, die in der Aufklärung noch nicht möglich war,71 weil erst jetzt eine von Selbstreferenz
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Manfred Birk: Goethes Typologie der Epochenschwelle, S. 263. Thomas Zabka: Faust II – Das Klassische und das Romantische, S. 174. Vgl. auch Thomas Zabka: Ordnung, Willkür und die »wahre Vermittlerin«, wo Zabka diese Position präzisiert. Zabka hebt die Fähigkeit der Kunst zur Vermittlung hervor. Das Neptunismus-Vulkanismus-Problem im Faust II behandelt Zabka nur als eines von Ordnung und Revolution, verlagert es also ganz auf die Ebene der Geschichte: »Erst wenn die Vorstellungsart diskontinuierlicher, von Erstarrung und Zerstörung gekennzeichneter Geschichtsverläufe anerkannt wird als ein notwendiges Pendant der ersten Position, werden die Gewaltpotentiale historischer Prozesse erkennbar und reduzierbar.« (Ebd. S. 177.) Die erkenntnistheoretische Problematik der Geologie ist damit elegant umgangen. Peter Fuchs: Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements. Frankfurt a.M. 1993, S. 93. In den Texten der Aufklärung findet man bereits ein Bewußtsein für die Selbstreferenz der Sprache, jedoch wird sie dort noch im Sinne des Irrtums, der fehlerhaften Selbstbezüglichkeit verstanden, die durch eine Kommunikationskritik behoben werden kann und muß. Die
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unbetroffene Realität zu existieren aufgehört hat. Dabei wird in der Kunst die Vorstellung einer durch ihre Teile repräsentierbaren Welt abgelöst durch die Vorstellung der selbstreferentiellen Formung eines Kunstwerks, das dann auf das hervorbringende Prinzip verweist. In romantischen Texten findet diese Entwicklung ihren thematischen Niederschlag in der die Erzählungen strukturierenden Differenz von Selbst und Anderem, im Erschrecken über die Gespenster und Doppelgänger, aber auch in Einheits- und Entgrenzungsphantasien romantischer Helden, die als Darstellungen der Paradoxien von Selbstreferenz gelesen werden können. Zudem verweisen diese Texte auf ein transzendentales Subjekt, welches sich im Akt des Schreibens hervorbringt, im infiniten Progreß der Annäherung von Subjektivität und Text. Die dargestellte Welt wird in die Schwebe gebracht um ein Oszillieren nicht zwischen gegebener Realität und Fiktion, sondern zwischen Fiktion und begründender Subjektivität zu ermöglichen.72 Goethes Praxis steht, was Selbstreferenz betrifft, hinter der Romantik nicht zurück, sie wird allerdings über andere Themen organisiert und räumt vor allem der Subjektivität einen wesentlich geringeren Stellenwert ein. Die Ablehnung romantischer Subjektzentrierung ging sogar in die Konzeption des Faust II ein. Im Gegensatz zum ersten Teil sei im zweiten »fast gar nichts Subjektives« zu finden, »eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt« erscheine hier, protokollierte Eckermann eine Äußerung Goethes.73 Die Selbstreferenz und Selbstbeobachtung verläuft im Faust II über die Integration der Archive. Das führt zu einer Pluralität von Ordnungs- und Sinnmöglichkeiten, die im Faust II nebeneinander stehen und die neuen Möglichkeiten der ästhetischen Kommunikation ausloten, ohne auf eine Vermittlung der übernommenen Modelle setzen zu müssen. Die Reflexion von Poesie im Medium der Naturwissenschaft ermöglicht die Beobachtung von Vergleich-
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Selbstreferenz bezieht sich auf die Reden und Handlungen des männlichen oder weiblichen Helden, der sich in seine falschen Vorstellungen verstrickt, während andere Figuren oder der Rezipient den Irrtum durchschauen und ein implizites oder explizites Korrektiv bilden. Über die »Redeposition« des Aufklärers vgl. Jürgen Fohrmann: Schiffbruch mit Strandrecht. Der ästhetische Imperativ in der ›Kunstperiode‹. München 1998: »Der Aufklärer bietet eine doxa, und er untersucht sein Gegenüber, ob es in der Lage sein wird, die Sprache der Vernunft auch zu vernehmen.« Der ›blinde Fleck‹ dieser Redeposition ist: »Die Nicht-Hinterfragung des eigenen ›Vermögens zur Klarheit‹ und damit verbunden die ausgesparte Reflexion über die eigene Rolle in der Struktur von Kommunikation. ›Aufklärung‹ über Aufklärung [...] macht gerade diese Rolle zum Gegenstand der Beobachtung und verabschiedet die starre Subjektposition des Aufklärers. Damit stehen aber sowohl der Wille zur doxa als auch die doxa selbst zur Disposition.« (Ebd. S. 7.) Diese »Aufklärung über Aufklärung« vollzieht sich nicht nur in der Romantik, sondern auf andere Weise auch im Faust II. Exemplarisch wird dieses Verhältnis in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen durchgeführt, und zwar als Heinrich auf das Buch stößt, das eine Geschichte enthält, in der er sich zugleich erkennt und nicht erkennt, eine Geschichte, deren Ausgang sein Leben zu antizipieren scheint. Die Identifikation des Buches mit seinem Autor bleibt dabei im Modus einer Aufgabe, einer Ahnung – eben im Sinne der Annäherung. Eckermann: Gespräche, 17.2. 1831. (FA II, 12, S. 441.)
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barkeit und Differenz: Insofern in der Geologie der Gegenstandsbezug überlagert wird von einer Problematisierung möglicher Deutungen, kann auch die Poesie sich nicht mehr auf überzeitliche Gesetze der Gegenstandswelt berufen, weil sie diese nirgends mehr, auch nicht in der Natur, antrifft. Sie muß sich also auf sich selbst beziehen und ihre eigene Ordnung begründen, ohne dafür eine bereits gegebene Ordnung in Anspruch zu nehmen. Diese Selbstbegründung der Poesie kann als Folgerung aus dem Wirklichkeitsentzug verstanden werden, der an der Geologie beispielhaft verhandelt wird. Dennoch bleibt die Hoffnung und das Begehren nach einer neuen Ganzheit und Identität des Wissens bestehen. Die Konsequenz aus der De-Ontologisierung und Dereferentialisierung von Kunst und Kommunikation ist eine Bifurkation: Man kann entweder die Beobachterabhängigkeit der Wirklichkeit mit aller Konsequenz thematisieren – oder aber auf die Möglichkeit einer Schließung der Differenz von Wissen und Wirklichkeit vertrauen. Beide Optionen werden, wie sich in den nächsten Abschnitten zeigen wird, in Faust II als Verhältnis von Ent- und Remythisierung aufgegriffen und in Beziehung gesetzt.
3. Mythologie zwischen Wissenschaft und Utopie Im Faust II wird nicht nur das Archiv der mythologischen Sagen und Figuren aufgerufen und in neuer Weise verwendet. Auch die mythologische Diskussion in Deutschland zwischen 1770 und 1830 spielt eine wichtige Rolle. Der Mythos kommt im Faust II überhaupt nur in der Form theoretischer Vermittlung zur Anschauung.74 Seine Funktion kann daher nur erörtert werden, wenn man seine Erscheinungsweisen im Drama auf die zeitgenössische mythologische Diskussion bezieht, die sich an Namen wie Christian Gottlob Heyne, Johann Gottfried Herder, Karl Philipp Moritz, Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Friedrich Schlegel, Friedrich Creuzer und Gottfried Hermann festmachen läßt und in Faust II in mehr oder weniger deutlicher Form zitiert wird.75 Im folgenden werden drei für Faust II wichtige Aspekte dieser Aus-
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Vgl. Christoph Jamme: »alter tage [!] fabelhaft Gebild«. Goethes Mythen-bastelei im ›Faust II‹. In: Interpreting Goethe’s ›Faust‹ today. Ed. by Jane K. Brown u.a. Columbia 1994, S. 207– 218. Jamme betont nicht nur die Abwesenheit von Göttergeschichten im Faust II, sondern auch die Tatsache, »daß Goethe spezifische Deutungsmethoden bzw. Rezeptionsweisen von Mythen vorführt, die die Brechung gleichsam verdoppeln.« (Ebd. S. 207.) Der Mythos bei Goethe sei »schon ein in Rezeption, ja sogar in Theorie übergegangener.« (Ebd. S. 208.) Dagegen ist Jammes Einschätzung der Bearbeitung romantischer Mythosforschung durch Goethe als Karikatur (vgl. ebd.) nur eingeschränkt zuzustimmen. Die karikaturhaften Elemente sind vorhanden, dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß wesentliche Merkmale des romantischen Mythosbegriffs (besonders das Symbol) von Goethe durchaus affirmiert werden. Das soll im folgenden belegt werden. Während die romantische Mythopoetik sehr gut erforscht wird, begnügt man sich in der Goetheforschung meistens mit einer Aufzählung einzelner Äußerungen des Autors und der
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einandersetzung dargestellt und mit den betreffenden Textstellen in Beziehung gesetzt. Diese drei Aspekte betreffen die Charakterisierung des Mythos als authentischer Ausdruck eines mythischen Zeitalters, die Auffassung von der Mythologie als Sprache der Phantasie und die Versuche der Remythisierung einer aufgeklärten Wissenschaft, die Faust unternimmt. Die Bedeutung der Mythologiediskussion im 18. Jahrhundert besteht darin, daß sie der Gegenwart als Spiegel dienen konnte. Sie besaß die Funktion der Selbstvergewisserung der Aufklärung. In der Entmythisierung bestand deren hauptsächliches Anliegen.76 Dabei ließ sie sich von dem Gegensatz von Mythos und Vernunft leiten, eine Alternative, die den Gedanken an eine eigene Legitimität des Mythos solange verhinderte, wie man unhistorisch von einem universellen Wahrheitsbegriff ausging. Vor dem Einbruch des historischen Denkens, der Temporalisierung des Wissens vom Menschen, war es nur möglich, in der Mythologie entweder verborgene Wahrheit zu vermuten77 oder aber im Gegenteil den Ausdruck eines fehlerhaften, auf irregeleiteter Imagination basie-
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Rezeption mythologischer Stoffe. Eine grundlegende poetologische Studie, die Goethes Mythopoetik im Kontext der Zeit untersucht, steht aus. Die gründlichste Untersuchung von Goethes Mythopoetik ist das Goethekapitel aus Blumenbergs Arbeit am Mythos (Frankfurt a.M. 1979, S. 433–604). Die Aufsätze bzw. Artikel von Benedikt Jeßing (Art. »Mythologie«. In: Goethe-Handbuch. Bd. IV/2. Hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, S. 732–734, und Art. »Mythos«, ebd., S. 734–737.); Walter Killy: Der Begriff des Mythos bei Goethe und Hölderlin. In: Theologie und Literatur. Zum Stand des Dialogs. Hg. von Walter Jens, Hans Küng und Karl-Josef Kuschel. München 1986, S. 130–145; Christoph Jamme: Vom Garten des Alcinoous zum »Weltgarten«. Goethes Begegnung mit dem Mythos im aufgeklärten Zeitalter. In: Goethe-Jahrbuch 105 (1988), S. 93–114; Gerhart von Graevenitz: Erinnerungsbild und Geschichte. Geschichtsphilosophie in Vicos »Neuer Wissenschaft« und in Goethes »Pandora«. In: Goethe-Jahrbuch. 110 (1993), S. 77–88, behandeln wichtige Teilaspekte. Auch Jörg Ennen: Götter im mythologischen Gebrauch. Studien zu Begriff und Praxis der antiken Mythologie um 1800 und im Werk H. v. Kleists. Münster 1998, widmet Goethe einige Seiten (vgl. ebd. S. 83–116). Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie I. Frankfurt a.M. 1982, S. 114ff. Dort gibt Frank einen knappen Abriß über den Umgang der Aufklärung mit dem Mythos, wobei er unter Aufklärung den »Geist der Analyse« versteht, »dessen Ausgangspostulat ist, daß die zusammengesetzten Dinge notwendig auf eine Anordnung von einfachen Elementen zurückgeführt werden müssen.« (Ebd.) Erklärung der Mythen ist also das Ziel, aber die Entmythisierung ist nicht das Ergebnis dieser Erklärung, sondern bereits die Prämisse, die »dogmatische Voraussetzung«, die zu einem Atomismus und Materialismus führen mußte. (Ebd., S. 119.) Vgl. auch Frank E. Manuel: The Eighteenth Century Confronts the Gods. Cambridge, Mass. 1959, sowie den Überblick bei Christoph Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. II: Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt 1991, S. 17–25. Das Bedürfnis, die verborgene Wahrheit der Mythen nachzuweisen, gab es bereits in der Antike. Es waren zuerst griechische Autoren, die sich historische und allegorische Auslegungen Homers und Hesiods ausdachten, um diese Dichter gegen die Vorwürfe der Philosophen in Schutz zu nehmen. Einen guten Überblick über die antiken Wurzeln dieser bis ins 18. Jahrhundert reichenden Tradition bietet Luc Brisson: Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. I. Darmstadt 1996, und Fritz Graf: Art. »Mythos V. Griechenland«. In: Cancik, Hubert und Helmuth Schneider (Hgg.): Der neue Pauly. Bd. VIII, Sp. 640–646.
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renden falschen Denkens.78 Der dichterische Gebrauch der Mythologie als Bildersprache schien dagegen unproblematisch und wurde vielfach empfohlen.79 Die neue Beschäftigung mit Mythologie, die in Europa im Verlauf des 18. Jahrhunderts überall einsetzt, wird durch ethnologische und philologische Forschungen vorbereitet.80 Diese ebnen den Weg für eine intensive Beschäftigung mit fremden Kulturen und Denkformen, die auf die Dauer zu einer Relativierung der Vorstellung einer für alle gültigen Wahrheit führen mußte. Diesseits der schlichten Alternative von Wahrheit und Lüge wurde der Mythos zunehmend als authentische Ausdrucksform einer historischen Frühzeit des Menschen verstanden. Die Entdeckung des Mythos als eigenständige Ausdrucksform enthält daher zwei Aspekte: Einerseits sind Mythen dem modernen Denken fremd und unzugänglich, sofern sie zu einer verlorenen Frühzeit gehören. Andererseits bereitete die mythologische Forschung den Boden für eine ästhetische Reaktivierung des Mythos in der klassischen und romantischen Kunsttheorie. Über die allegorische oder bloß rhetorische Verwendung einzelner mythologischer Figuren hinaus beginnt man am Ende des 18. Jahrhunderts im Mythos ein spezifisch ästhetisches Potential zu erkennen, das für die poetische Praxis erneuerbar ist.81 Der Mythos charakterisiert also erstens einen für das moderne Europa verlorenen und nicht mehr wiederholbaren geschichtlichen Zeitraum, über den man allerdings durch den Vergleich mit anderen ›primitiven‹ Kulturen Aufschlüsse zu erlangen hoffte; und er ist zweitens ein Verfahren, dessen sich die künstlerische Praxis bedienen kann, um sein Potential zu nutzen. In dem Maße, wie sich die Vorstellung von einer Eigenständigkeit der Mythen etabliert, stehen sie dem modernen Denken wieder
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So etwa Jean-Bertrand de Fontenelle, der in den Mythen der Griechen nur Absurdes zu entdecken vermag. Nur der Vertrautheit mit der Mythologie sei es zu verdanken, daß niemand sich über sie wundere: »Mais si l’on vient à se défaire les yeux de l’habitude, il ne se peut qu’on ne soit épouvanté de voir toute l’ancienne Histoire d’un Peuple, qui n’est qu’un amas de chimères, de rêveries et d’absurdité.« Vgl. Fontenelle : De l’origine des fables (1689). In: ders., Œuvres complètes. Bd. III. Paris 1989, S. 187–202, hier S. 187. Neben der Erklärung der Mythen stehen Überlegungen zu ihrem Gebrauch in den Künsten im Mittelpunkt des Interesses der Aufklärung. Hierzu schreibt Louis de Jaucourt, Verfasser des Artikels »Mythologie« in der Encyclopédie: »Son étude est indispensable aux Peintres, aux Sculpteurs, sur-tout aux Poëtes, & généralement à tous ceux dont l’objet est d’embellir la nature & de plaire à l’imagination.« (Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences des arts et des metiers. Bd. X [1751–1780]. Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstadt 1966, S. 926.) Auch Benjamin Hederich betont im Vorbericht zum Gründliche[n] mythologische[n] Lexicon die Notwendigkeit, »daß nicht nur Gelehrte, sondern auch viele Künstler und ale polite Leute, einige Kenntniß von ihr fassen [...].« (Ebd., S. XI.) Vgl. Christoph Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos, S. 22ff. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Vorwort. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a.M. 1983, S. 7–11, bes. S. 7. Leider läßt Bohrers Sammelband Goethe, Schiller und Moritz außer acht, wie dies meistens der Fall ist, wenn es darum geht, den ›modernen Umgang‹ mit dem Mythos bestimmen zu wollen. Weiter soll gezeigt werden, daß die Positionen der Klassiker nicht weniger innovativ und modern sind, als die der Romantik.
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zur Verfügung: im Vergleich mit mythischen Epochen kann dieses seine eigenen Gewinne und Verluste bilanzieren und von der Vorstellung einer neuen Mythologie zu träumen beginnen. Giambattista Vico ist wohl der erste, der die Mythen als Ausdruck einer Frühform des Denkens ansieht und sie an ihrer eigenen immanenten Rationalität zu messen beginnt. Für seine Geschichtsauffassung ist kennzeichnend, daß er die Ausdrucksformen des Menschen nicht mehr nur als mehr oder weniger adäquate Repräsentationen von Wahrheit versteht, sondern daß sie ihm zufolge die kulturelle Welt überhaupt erschaffen.82 Damit wird die Frage hinfällig, ob die ersten Menschen mehr oder weniger Einsicht besaßen als die modernen. Der berühmte Grundsatz »verum et factum convertuntur«83 läßt die vom Menschen gemachte Welt des Sinns als die ihm angemessene Form der Wahrheit gelten. Das führt allerdings bei Vico nicht zu einem historischen Relativismus. Die Verschiedenheit der menschlichen Zivilisation wird nämlich aufgefangen durch ein Konzept der Rationalität von Kultur: Über die geschichtliche Mannigfaltigkeit des Denkens hinweg bewahrt der menschliche Verstand identische Prinzipien. Die Erkenntnis dieser Prinzipien, deren Ausformulierung und historisch-philologischer Überprüfung sich die Scienza nuova widmet, ermöglicht die Überwindung der historischen Differenzen.84 Wirkungsvoll war besonders Vicos starke Betonung der Entstehung von Mythen durch die Phantasie, von der seiner Meinung nach das Denken der ersten Menschen ausschließlich geprägt war.85 In der Sprache der Phantasie fallen das Erschaffen 82
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Wobei dieses Erschaffen, wie Karl Löwith gezeigt hat, dialektisch an die göttliche Vorsehung gebunden bleibt. Der Grundsatz der Gleichheit von Wahrem und Gemachtem zielt daher nicht auf einen Relativismus der Wahrheit, sondern bezieht sich darauf, daß die geschichtliche Welt sich in einer größeren Nähe zu Gott befindet als die Natur: »Der Satz von der Umkehrbarkeit des Wahren in das selber Gemachte führt deshalb bei Vico nicht zu dem Schluß, daß der Mensch der Gott der Geschichte ist, der sich durch freie Tätigkeit seine Welt erschafft und folglich auch weiß, was er tut und was er tat.« Karl Löwith: Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen (1968). In: ders., Sämtliche Schriften. Bd. IX, Stuttgart 1986, S. 195–227, hier S. 206. Zu Vico siehe auch Gerhart von Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987, S. 65ff. Die Formulierung lautet wörtlich: »Latinis ›verum‹ et ›factum‹ reciprocantur, seu ut Scholarum vulgus loquitur, convertuntur.« Giambattista Vico: De antiquissima italorum sapientia. Napoli 1710. Zitiert nach Löwith: Vicos Grundsatz, S. 206. Vgl. z.B. diese Formulierung: »[...] [Q]uesto mondo civile egli certamente è stato fatto dagli uomini, onde se ne possono, perché se ne debbono, ritruovare i princìpi dentro le modificazioni della nostra medesima mente umana.« Giambattista Vico: Principi di scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni (1744). In: ders., Opere. A cura di Faust Nicolini. Milano e Napoli 1953, S. 365–905, hier S. 479 (§ 331). (dt. Übs.: [...] [D]iese politische Welt [ist] sicherlich von den Menschen gemacht worden [...]; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden.« Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übers. von Vittorio Hösle und Christoph Jermann, Hamburg 1990, S. 142.) Vgl. Vico: Scienza nuova, S. 502f. (§ 375).
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von Bildern und das Ausdrücken einer Sache, Mimesis und Poesis, zusammen. Dieser Gedanke wird in der Folge immer wieder auftauchen. In Deutschland waren es der Göttinger Altphilologe Christian Gottlieb Heyne und Johann Gottfried Herder, die, wohl ohne Kenntnis Vicos, vergleichbare Vorstellungen etablierten. Besonders bei Heyne läßt sich der Übergang von der philologischen Aufklärung zur klassisch-romantischen Mythologie genau beobachten.86 Heyne beschäftigte sich in verschiedenen Vorlesungen und Abhandlungen mit der Frage, wie sich die bei den antiken Dichtern und insbesondere bei Homer überlieferte Mythologie verstehen lasse. Im Zuge seiner Überlegungen kam er zum Schluß, man müsse differenzieren zwischen der mythischen Denkform (sermo mythicus),87 die in einer angenommenen, aber nicht durch Dokumente bezeugten aetas mythica vorherrschte, und einer post-mythischen Verwendung der Mythologie durch die Poeten. Diese Unterscheidung ist für die folgenden Überlegungen grundlegend. Denn hier zeichnen sich zwei Wege des Umgangs mit der mythologischen Überlieferung ab. Heynes Voraussetzung ist, daß die mythischen Äußerungen der Frühzeit, da sie nie verschriftlicht wurden, ein für allemal verloren sind. Allerdings hätten die mythischen Erzählungen noch überlebt, als die Menschen ihren Sinn nicht mehr verstanden. Enthielten die Göttererzählungen also ursprünglich das Wissen der ersten Menschen, so sei dies mit der Zeit in Vergessenheit geraten. Die Dichter hätten bereits nichts mehr vom Sinn dieser Erzählungen gewußt und in rein poetischer Absicht darauf zurückgegriffen: Meiner Meinung nach also liegt Homers vorzüglichstes dichterisches Verdienst darinn, daß er Fabeln alter Kosmogonien und Theogonien, die ursprünglich zum Behuf physikalischer Erklärungen bestimmt waren, in die epische Erzählung aufnahm, und als wahre, aus der ältesten Menschengeschichte geschöpfte Begebenheiten darzustellen wußte.88
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Zu Heyne vgl. Christian Hartlich und Walter Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft. Tübingen 1952, und Axel E.-A. Horstmann: Mythologie und Altertumswissenschaft. Der Mythosbegriff bei Christian Gottlob Heyne. in: Archiv für Begriffsgeschichte XVI (1972), S. 60–85. Zu Herder s. Heinz Gockel: Zur neuen Mythologie der Romantik. In: Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Hg. von Walter Jaeschke. Hamburg 1999, S. 128–136, bes. S. 128f. Zu Herders Bedeutung für die romantische neue Mythologie vgl. auch Manfred Frank: Der kommende Gott, S. 123ff. Zur Bedeutung Heynes für die Romantik vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Stuttgart 1990. Der Begriff wird laut Axel E.-A. Horstmann: Mythologie und Altertumswissenschaft, erst 1798 geprägt, doch schon in den ersten Texten zur Mythologie spricht Heyne der Sache nach von dem sermo mythicus. Auch der Begriff der aetas mythica stammt wohl aus dem Jahr 1798 (vgl. Christian Gottlieb Heyne: De fide historica aetatis mythicae. In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis. Bd. XIV, 1798/99, S. 107–120). Christian G. Heyne: Über den Ursprung und die Veranlassung der Homerischen Fabeln (1777). In: Neue Bibliothek der Wissenschaften und der freyen Künste. XXIII, 1 (1779), S. 5–53, 7.
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Homer habe also die mythologische Überlieferung nur noch in einem spielerischen Sinn benutzt.89 Daher sei es ist die Aufgabe des Philologen und Altertumsforschers, aus den poetischen Werken das mythische Denken wieder zu rekonstruieren. In diesen Thesen Heynes liegt der Ursprung der romantischen Erforschung der Mythen. Deren starke altphilologische Prägung durch Heyne setzt sich auch bei Creuzer und Schelling fort, auf die im folgenden näher eingegangen wird. Das Problem der Mythologie läßt sich bei diesen Autoren als ein Übersetzungsproblem charakterisieren: Der poetisch-mythologische Text der Dichter soll als Dokument einer mythischen Denkform entschlüsselt werden, die von den Poeten unbewußt durch die Jahrhunderte geschmuggelt wurde. Zugleich aber wird diese ursprüngliche Denkform als wesenhaft nicht-sprachlich und unallegorisch aufgefaßt. Das stellt die Übersetzung vor die Aufgabe, aus der schriftlichen Überlieferung die ursprünglichen mythischen Gehalte auszusondern90 und diese dann diskursiv zu entfalten – unter der Voraussetzung, daß es sich nicht um Allegorien handelte. Das mythische Denken ist nach Heyne im wesentlichen geprägt durch drei Faktoren:91 die psychische Disposition der Menschen (ihre fehlende Abstraktionsfähigkeit besonders, ihr Angewiesensein auf die Sinne);92 durch die Natur der ersten Sprache; drittens durch eine von der heutigen verschiedenen Beziehung zur Natur, der die ersten Menschen ausgeliefert waren.93 Wenden wir uns dem Merkmal der Sprache zu, weil dies für die folgenden Ausführungen das entscheidende Kriterium ist. Aufgrund der fehlenden Abstraktionsfähigkeit war, so die Annahme Heynes, auch die Sprache noch arm an Begriffen 89
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Als Ergebnis der Transformation »[scheint] in diesen Fabeln [Homers, S.S.] irgend ein geheimer Sinn verborgen zu seyn [...], der zwar auf den Dichter selbst, seine gegenwärtige Absicht und die vorliegende Stelle keine Beziehung hat noch haben darf, aber doch, wenn er von uns bey Zergliederung der dichterischen Zusammensetzung bemerkt wird, nicht nur den Dichter von allem Tadel frey spricht, sondern ihm sogar das Verdienst einer sinnreichen Erfindung beylegt, und noch über dieses ungemein viel zur Aufdeckung der Denkart und Sprache der ältern Welt beyträgt.« Chr. G. Heyne: Über den Ursprung und die Veranlassung der Homerischen Fabeln, S. 7. Der Briefwechsel zwischen Gottfried Hermann und Friedrich Creuzer, die beide in der Tradition Heynes stehen, bezeugt eindrücklich, welche Probleme sich hierbei stellen. Vgl. Gottfried Hermann / Friedrich Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus vorzüglich über die Theogonie. Heidelberg 1818. Vgl. hierzu folgende Stelle aus Christian G. Heynes Aufsatz: De caussis [!] fabularum seu mythorum veterum physicis: »[U]t et mythos et usum eorum magnam partem a caussis physicis repetendum esse dicamus, caussas autem illas quaerendas partim in ipsa hominis natura, partim in instrumento, quo mens humana fingeretur formareturque, hoc est, in sermonis natura et ratione, partim in natura rerum externarum, quae ad illam fingendam maximam vim habebat.« In: Chr. G. Heynii Opuscula academica collecta et animadversionibus locupletata. Bd. I. Göttingen 1785, S. 184–206, hier S. 190. Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd.: »[S]unt eae [die Ursachen der ersten Kategorie, S.S.] in infantia generis humani, in mentis et ingenii vi nondum ad subtiles cogitationes et contemplationes exercitata positae. In hominibus itaque rudibus et modo a silvestri vita progressis vix cogitatio ullius rei esse potest nisi quae sub sensus cadat [...].« Vgl. ebd., S. 193.
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und genügte nicht, um das auszudrücken, was die lebhafte Sinnlichkeit der ersten Menschen empfand. Sie nahmen also Gesten, Mimik, Lautmalerei zur Hilfe, um die Eindrücke möglichst lebhaft darzustellen und sie ihren Zuhörern mitzuteilen: Laborabat itaque mens inveniendis intenta novis signis, hoc est sonis verbisque, quibus sensa sua exprimeret; sensa autem cum vehementiore, quam quo nunc utimur, animorum impulsu et motu, mentibus esse illapsa, paulo ante vidimus. Quamobrem, cum sermonis egestas exiguam sensus partem redderet, gestuum variorum et concitatiorum auxilio, vocis intentione, oculorum, vultus, motus, totius corporis, ut ita dicamus, loquela uti solebant: quae quidem res iterum ad audientium animos graviter impellendos et concitandos magnam vim habere debuit: quicquid enim perceptum erat, non uno modo aurium sensu, sed nec minus oculis in mentem demissum fuerat. Ex nostro igitur eloquendi modo ne quis illa aut censeat aut diiudicet, quae de priorum hominum eloquentia commemorata legimus; comparanda potius sunt ea, quae de populis per septentrionalem Americam vagantibus passim tradita cognoscere licet.94
Ich zitiere diese Stelle so ausführlich, weil hier deutlich wird, wodurch sich Heynes Mythosverständnis im wesentlichen von früheren Konzeptionen unterscheidet: Der sermo mythicus bezeichnet ähnlich wie bei Vico eine spontane Spracherfindungskompetenz der ersten Menschen. Es handelt sich noch gar nicht um Sprache im eigentlichen Sinn, da für ihn nicht die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem das Charakteristische ist. Das Bezeichnete muß offensichtlich nicht durch arbiträre Signifikanten repräsentiert werden, sondern durch Mimesis produziert werden, und zwar durch den Sprecher selbst, der zum Darsteller der bezeichneten Sache wird. Der sermo mythicus ist darum eine Einheit von Mimesis und Poesis, er unterläuft die sprachliche Funktion, da die bezeichnete Sache im Moment des Sprechens erst erzeugt oder nachgeschaffen wird. Handelte es sich um Sprache im strengen Sinn, also um ein Repräsentationsmedium, das Signifikate in distinkten Signifikanten transportierte, dann müßte eine Distanz, eine Abstraktion des Zeichens von der Sache und vor allem mehrere Bezeichnungsmöglichkeiten für denselben Begriff zur Verfügung stehen. All dies ist hier offensichtlich nicht der Fall. Mitteilung ist im Identischwerden des Menschen mit dem Mitgeteilten zu suchen. Dieses Verständnis von Sprache erinnert stark an Herders Vorstellung einer ursprünglichen Natursprache, die ihm als unmittelbarer Ausdruck der Empfindungen gilt und sich von der »feinen, spät erfundenen metaphysischen Sprache«95 durch die Identität des Lautes mit dem darin zum Ausdruck kommen-
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Ebd. S. 191f. Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1770). In: ders., Frühe Schriften 1764–1772. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985, S. 695–810, hier S. 701.
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den Gefühl unterscheidet.96 Herders poetisches Sprachverständnis,97 demzufolge nicht Signifikanten auf Signifikate verweisen, sondern die Welt untrennbar mit ihrem Ausdruck erst entsteht, bekundet sich z.B. in einem Satz wie diesem: »Unser ganzes Leben ist also gewissermaassen eine Poetik: wir sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder.«98 Diese Auffassung steht in enger Beziehung zu Heyne. In seinem in der Sammlung Zerstreute Blätter veröffentlichten Aufsatz Über Bild, Dichtung und Fabel, aus dem das Zitat stammt, bezieht Herder sein produktives, poetisches Verständnis von Sprache und Bild unmittelbar auf Heynes Ausführungen über Mythologie.99 Das mythische Denken wirkt für ihn in der Dichtung weiter, denn das Wesen des Mythos – die Analogie und der Anthropomorphismus – kann in der Poesie weiterleben: »Wir tragen, wie bei einzelnen Bildern unsern Sinn, so bei Reihen von Bildern unsere Empfindungs- und Denkart in die Gegenstände hinüber und dies Gepräge der Analogie, wenn es Kunst wird, nennen wir Dichtung.«100 Die Poesie kann die Welt mit Analogien, Anthropomorphismen und Korrespondenzen verzaubern und so fiktional, in den »poetischen Ausnahmesituationen«,101 die verlorene Gemeinschaft der Menschen mit den Göttern und der Natur vergegen-
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»Es gibt also eine Sprache der Empfindung, die unmittelbares Naturgesetz ist.« Ebd., S. 698. Diese poetische Qualität besteht in ihrer Bildlichkeit. Herders Bildbegriff widersetzt sich der bloßen Repräsentationsfunktion der Sprache und nimmt alle Sinne ebenso in Anspruch wie die schöpferische Phantasie: »Unter seinen [des Menschen, S. S.] Sinnen sind Gesicht und Gehör diejenigen, die aus dem Ocean dunkler Empfindungen ihm Gegenstände am nächsten und klärsten vor die Seele bringen; und da er die Kunst besitzt, diese Gegenstände durch Worte vestzuhalten und zu bezeichnen: so hat sich insonderheit aus dem Gesicht und aus dem Gehör eine Welt menschlicher Wahrnehmungen und Ideen in seiner Sprache geordnet, die auch noch in der fernsten Ableitung die Spuren ihres Ursprungs zeigen. Selbst die feinsten Wirkungen der Seele hat man daher aus dem Gesicht und Gehör bezeichnet, wie es die Namen, Anschauungen und Ideen, Phantasieen und Bilder, Vorstellungen und Gegenstände nebst hundert anderen Worten der Art, zeigen.« Vgl. Johann Herder: Über Bild, Dichtung und Fabel (1787). In: ders.: Sämmtliche Werke. Bd. XV. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1888, S. 523–568, hier S. 523f. Ebd., S. 526. Dies geschieht in der Vorrede zur Sammlung: »Der Abschnitt über die Dichtung ist seit der Zeit in einigen Heynischen Aufsätzen durch Belege der schönsten, d. i. der griechischen Mythologie sehr glücklich erläutert worden [...].« (Ebd., S. 518, Hervorhebungen im Original.) Diese Bemerkung stellt allerdings eine merkwürdige Umkehrung der gegenseitigen Beeinflussung dar – denn Heyne entfaltete seine Überlegungen zur mythischen Sprache, wie gezeigt, bereits 1763 und 1764, zu einer Zeit also, zu der von einer Kenntnisnahme Herders durch Heyne wohl kaum gesprochen werden kann. Auch Christoph Jamme nimmt einen starken Einfluß Herders auf Heyne an (vgl. ders.: Einführung in die Philosophie des Mythos, S. 23) – dies leuchtet mir aus demselben Grund nicht ein. Ebd., S. 533. Vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen, der diese Ausnahmesituation so beschreibt: »Einen Augenblick ist es so, als wüßten wir, wozu wir da sind. Obgleich vergangen, ist diese Denkweise uns nicht gänzlich fremd, so daß wir uns ihr in poetischen Ausnahmesituationen überlassen dürfen. Poetisch ist die exzeptionelle Geltung des Ungültigen.« (Ebd., S. 105f.)
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wärtigen, die in der Moderne verloren ist. Während im Zeitalter des Mythos für Heyne und Herder keine Trennung zwischen Sprache, Subjekt und Welt besteht, sondern sich im Verlauf der Menschheitsentwicklung Wissensfelder aus. So heißt es bei Heyne: »A mythis tamen [...] omnis priscorum hominum cum historia tum philosophia procedit [...].«102 Damit ist die mythische Einheit des Wissens103 und die Einheit der Welt dahin. Die mythische Identität des Wissens und die Einheit der mythischen Bilder mit der Welt, die den ersten Menschen die Welt überhaupt erst erschaffen, drängt den sprachlichen – d.h. sinnübermittelnden – Charakter der Mythen zurück. Heynes Darstellung der aetas mythica, hat die Ablehnung allegorischer Mythendeutung zur Konsequenz. Als primitive Denkform enthalten die Mythen keinerlei allegorische oder pädagogische Absichten; ihre einzige Intention war die unmittelbare Mitteilung von Meinungen und Gefühlen. Diese Mitteilung kann sich aufgrund der Spracharmut der Sprache noch nicht als bereits geformtem Medium bedienen, sondern muß immer und ursprünglich dichten: Der Geist, der sich zu ergießen arbeitete, fühlte sich durch die Schwierigkeit und Armuth der Sprache gedrängt und eingeengt, und die, wie vom Hauch einer Gottheit begeisterte Phantasie, welcher eigenthümliche und bestimmte Worte fehlten, suchte in diesem Zustande des Taumels und der Entzückung die Gegenstände selbst darzustellen und vor Augen zu malen, die Begebenheiten in unserer Gegenwart vorgehen zu lassen, und ihre eigenen Vorstellungen, gleich einem Schauspiele, vor uns vorbey zu führen.104
Aus dieser dichterischen Tätigkeit des Vor-Augen-Stellens kann die Ablehnung der allegorischen Mythendeutungen erklärt werden: Mich dünkt, man nennt diese Art zu philosophiren, oder zu erzählen mit Unrecht allegorisch, da die Urheber derselben dabey nicht etwa auf witzige Einkleidung und zierliche Hüllen für ihre Gedanken ausgiengen, sondern vielmehr keine andere Art ihre Empfindungen und Meynungen auszudrücken vor sich sahen.105
Mit dieser Ablehnung der allegorischen Mythendeutung, mit der Ansicht ihrer ursprünglichen symbolisch-poetischen Identität wirkte Heyne bahnbrechend für die folgende Philologengeneration. Das zeigt sich etwa an Schellings Verständnis der Mythologie. In seiner Philosophie der Kunst hebt er den
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Christian G. Heyne: Praefatio. In: Apollodorus Atheniensis: Bibliothecae libri tres et fragmenta. Bd. I. Hg. von Christian G. Heyne. Berlin 1803, S. XVI. Die Vorstellung, daß die Mythologie die ursprüngliche Einheit des Wissens war, findet sich auch in Heynes Schrift Historiae scribendae inter Graecos primordia. In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarium Gottingensis XIV, (1798/99), S. 121–142, hier S. 138: »Apparet porro, si mythorum veram notionem teneas, omnes Graecorum litteras profectas esse a mythis, quippe qui fundus essent et historiae omnis, et philosophiae et theologiae, seu religionum.« Chr. G. Heyne: Über den Ursprung und die Veranlassung der Homerischen Fabeln, S. 13. Ebd.
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symbolischen Charakter der Mythologie hervor. Schelling sieht in den antiken Göttern symbolisch aufgefaßte Begriffe oder Ideen: »Dieselben Ineinsbildungen des Allgemeinen und Besonderen, die an sich selbst betrachtet Ideen, d. h. Bilder des Göttlichen sind, sind real betrachtet Götter.«106 Als ursprüngliche Identität von Allgemeinem und Besonderem107 sind die mythologischen Götter dem Sprachgebrauch der Zeit entsprechend symbolisch zu verstehen, was aus der These folgt, daß die »Darstellung des Absoluten mit absoluter Indifferenz des Allgemeinen und Besonderen im Besonderen [...] nur symbolisch möglich [ist].«108 Diese Folgerung vollzieht Schelling explizit mit dieser Formulierung: »[D]ie Mythologie überhaupt und jede Dichtung derselben ist weder schematisch noch allegorisch, sondern symbolisch zu begreifen.«109 Was dann als Konsequenz für die Deutung der Mythologie in sich schließt, daß »jede Gestalt in ihr [...] zu nehmen [ist] als das, was sie ist, denn eben dadurch wird sie auch genommen als das, was sie bedeutet.«110 Man sieht, wie Schelling Heynes Vorstellung einer ursprünglichen Identität von Mimesis und Poesis im Mythos weiterschreibt.111 Dabei geht er über das Verständnis Heynes hinaus. War dieser bei der Begründung des nicht-allegorischen Charakters der Mythen einer sensualistischen Ästhetik verpflichtet, begründet Schelling deren symbolischen Charakter neu aus seiner Identitätsphilosophie, nämlich aus dem Grundsatz, wonach für das Bewußtsein zwischen der Sache und ihrem Begriff nicht unterschieden wird. Für Schelling ist die Mythologie der Griechen daher, wie die Kunst, deren Stoff sie bildet, eine Potenz, d.h. eine »Bestimmung des Absoluten«,112 das darin ganz und ungeteilt zur
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Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst. In: ders., Ausgewählte Schriften. Bd. II. Frankfurt a.M. 1985, S. 181–565, hier S. 218. Vgl. auch Gockels Deutung von Schellings Mythoskonzept in Heinz Gockel: Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik. Frankfurt a.M. 1981, S. 328: »Im Mythos ist die Trennung von Geist und Natur, von Vereinzeltem und Allgemeinem aufgehoben.« Ebd., S. 234. Philosophie der Kunst, S. 239. Ebd. Zum Begriff des Symbols und seiner Beziehung zu Mythos und Ritual vgl. Manfred Frank: Der kommende Gott, S. 84ff., S. 107ff.: »Was ein Zeichen – insofern es dem System einer Sprache eingeschrieben ist – bedeutet, kann man wissen. Symbolische und rituelle Sprachhandlungen werden geglaubt. Sie setzen die Bezeichnungsfunktion der Sprache zwar voraus; aber sie nehmen das Zeichen oder eine Kette von Zeichen zum Anlaß von Sinnprojektionen, die deren gewöhnliche Bedeutung unsichtbar überlagern.« (Ebd. S. 108.) Die Identität des Zeichens und der Sache kann in einem strukturalistischen Verständnis des Zeichens nicht gedacht werden. Auch ein Symbol ist ein Zeichen, also nicht die Sache. Dennoch gibt es Fälle, in denen eine solche Identität geglaubt oder zumindest für möglich gehalten wird: in der Religion bzw. in der Rezeption von Kunst. Allerdings rechnet Schelling in der Philosophie der Kunst Heyne zu den allegorischen Auslegern der Mythologie. (Vgl. ebd., S. 237.) In Heynes Selbstverständnis tut er ihm damit unrecht; der Sache nach läßt sich nicht leugnen, daß Heynes Deutung der Mythen auf Allegorese angewiesen bleibt. Philosophie der Kunst, S. 194.
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Anschauung komme.113 In den Mythen sei das Absolute in der Natur angeschaut worden,114 während sich die christliche Mythologie nicht mehr in der sinnlichen Präsenz des Göttlichen erfülle, womit die Einheit von Geschichte und Natur verloren gehe: Wenn also die in der griechischen Mythologie erfüllte Forderung Darstellung des Unendlichen als solchen im Endlichen, demnach Symbolik des Unendlichen als solchen im Endlichen war, so liegt dem Christenthum die entgegengesetzte zu Grunde, das Endliche ins Unendliche aufzunehmen, d. h. es zur Allegorie des Unendlichen zu machen.115
Den Gedanken, daß die Mythologie einen reellen Gehalt besitze, weil sie eine Anschauung des Absoluten darstelle, entwickelt Schelling in seiner Philosophie der Mythologie weiter. Er bezeichnet dort die Mythen als »tautegorisch«: »Die Mythologie ist nicht allegorisch, sie ist tautegorisch. Die Götter sind ihr wirklich existierende Wesen, die nicht etwas anderes sind, etwas anderes bedeuten, sondern nur das bedeuten, was sie sind.«116 Der tautegorische Charakter der Mythen begründet sich aus der Vorstellung, die Mythologie sei eine geschichtliche Selbstdarstellung Gottes, der sich in den Religionen und ihren Entwicklungen den Menschen offenbare. Die Mythologie besitzt darum eine historische Notwendigkeit.117 Der andere große Mythenforscher der Romantik, Georg Friedrich Creuzer, variiert die Vorstellung vom mythischen Zeitalter. Ursprünglich sei die Weltdeutung symbolisch gewesen und nicht mythisch. Das Symbol stellt die magische und animistische Verbindung eines Gegenstandes mit einem in ihm wohnenden Gott dar. Es ist »ein zufälliges Zeichen«, das dem Menschen »geworden war.«118 Im Symbol sind Zeichen und Bezeichnetes identisch: »Die
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Vgl. hierzu Gockel: Mythos und Poesie S. 322ff. und Jamme, Einführung, S. 36ff. »Der Stoff der griechischen Mythologie war die Natur, die allgemeine Anschauung des Universums als Natur, der Stoff der christlichen die allgemeine Anschauung des Universums als Geschichte, als einer Welt der Vorsehung. Dieß ist der eigentliche Wendepunkt der antiken und modernen Religion und Poesie. Die moderne Welt beginnt, indem sich der Mensch von der Natur losreißt, aber da er noch keine andere Heimath kennt, so fühlt er sich verlassen.« Schelling: Philosophie der Kunst, S. 255. Ebd., S. 258. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie (1842). In: ders., Ausgewählte Schriften. Bd. V. Hg. von Manfred Frank. Frankfurt 1985, S. 205f. Vgl. hierzu Barnaba Maj: Die Ausarbeitung der tautegorischen Deutung der antiken Mythologie aus ihren poetischen und philologischen Quellen in Schellings »Einleitung in die Philosophie der Mythologie«. In: Die schöne Verwirrung der Phantasie, S. 61–74. Vgl. ebd., S. 203: »Die Mythologie entsteht durch einen (in Ansehung des Bewußtseyns) nothwendigen Proceß, dessen Ursprung ins Uebergeschichtliche sich verliert und ihm selbst sich verbirgt [...].« Daraus folgt, daß sich in der Mythologie »nicht Inhalt und Form, Stoff und Einkleidung unterscheiden.« (Ebd. S. 205.) Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. Bd. I. 2., völlig umgearb. Ausg., Leipzig/Darmstadt 1819, S. 20.
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Verbindung solcher Zeichen mit dem Bezeichneten ist mithin ursprünglich und göttlich [...].«119 Creuzer entwickelt die Vorstellung einer schrittweisen Lösung vom Symbol durch den Mythos, der die Umsetzung des Symbols in Narration sei, mithin Auslegung, die zu Beginn noch kaum ein eigenes Gewicht besaß: »Merken wir aber auf den Geist der ältesten Mythen, so müssen wir noch weiter gehen und behaupten, dass, wo nicht die meisten, doch ausserordentlich viele ursprünglich nichts als ausgesprochene Symbole sind.«120 Der Mythos habe sich dann aber zunehmend emanzipiert, bis er bei Homer und Hesiod zu einem schon nahezu freien Spiel mit überkommenen Glaubenssätzen geworden sei. Creuzer lehnt darum anders als Schelling eine allegorische Mythendeutung nicht völlig ab; denn mit zunehmenden Freiheitsgraden verliere der Mythos an symbolischem Charakter und wird vielfältig funktionsfähig.121 Creuzer hat das Verdienst, an die magisch-animistischen und symbolischen Ursprünge der Mythologie erinnert zu haben. Die Tradition, die in der Nachfolge Heynes, Herders, Vicos die Mythen als authentischen Ausdruck einer verlorenen Epoche betrachtet, hat die Vorstellung von der Eigenständigkeit der Mythen überhaupt erst etabliert. Die mythische Einheit des Wissens als gesellschaftliche Realität ist dahin; daher kann der Sinn der Mythen nicht mehr verstanden werden: Sie sind dem modernen Bewußtsein fremd. Eine andere Frage ist, ob die Mythologen in ihrer Praxis der Fremdheit und Eigenständigkeit des Mythos immer gerecht wurden. Diese Frage soll zunächst an Schellings Schrift Über die Gottheiten von Samothrake gestellt werden, bevor daraus weitere Konsequenzen für die Lektüre des Faust II gezogen werden. Schellings Kabirenschrift ist Teil seines Weltalter-Projekts, das den Übergang zu seinem philosophischen Spätwerk bildet und dort in der Philosophie der Mythologie und der Philosophie der Offenbarung ausgeführt wurde. Es geht darum, die Geschichte als einen Prozeß der Selbstoffenbarung Gottes zu deuten. Die Mythen sind demnach Formen dieser Selbstoffenbarung, die sich ursprünglich polytheistisch vollzogen hätte.122 Aus dieser geschichtlichen Selbstdarstellung Gottes erklärt sich dann, so Schelling, die auffällige Verwandtschaft
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Ebd. Ebd., S. 91. Dies zeigen Creuzers Stellungnahmen im Briefwechsel mit Hermann. Vgl. Briefe über Homer und Hesiodus. Die Mythologie kann sowohl symbolisch (ebd. S. 30) als auch allegorisch (ebd. S. 32) als auch im Epos rein poetisch (ebd. S. 5) sein. »Hier mögen wir uns nun wohl erinnern, daß der mythologische Polytheismus nicht bloße Götterlehre, sondern Göttergeschichte ist. Inwieferne nun die Offenbarung auch den wahren Gott in ein geschichtliches Verhältniß zu der Menschheit setzt, ließe sich denken, daß eben diese mit der Offenbarung gegebene göttliche Geschichte zum Stoff des Polytheismus geworden, daß ihre Momente zu mythologischen sich entstellt hätten.« Schelling: HistorischKritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, S. 95.
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aller Mythen der verschiedenen Völker123 – die in unterschiedlicher Form dasselbe besagen. Dieser Gedanke Schellings hat eine gewisse Übereinstimmung mit Creuzer. Auch für diesen ist die Mythologie ursprünglich religiöse Lehre – von Priestern für das Volk. Der Priester mußte dabei das Göttliche nicht nur erklären, auslegen oder darstellen. Sondern hier sind, wie wir bereits oben gesehen haben, Mimesis (also Repräsentation) und Poesis eins: In solcher Lage musste der Priester, wollte er anders seinen göttlichen Beruf beglaubigen, selbst schöpferisch werden. Er musste wirken und bilden; und wenn er jetzt das vorher Unsichtbare hinstellte in sichtbarer Gestalt, wenn er so das Göttliche erzeugte, dann bezeugte er auch Beides, des Gottes Kraft und die Wahrheit seiner Andacht [...].124
Creuzers Vorstellung einer Priesterlehre kam Schelling entgegen, weil beide die mythologischen Symbole als Zeugnisse eines wahrhaften Religionssystems betrachteten.125 Creuzer sah in den Kabiren Belege dafür, daß phönizische, ägyptische und möglicherweise auch indische Religionslehren von den Priestern in mythologischer Gestalt den Griechen vermittelt wurden.126 Schelling dagegen nimmt einen älteren Ursprung des Kabirenkultes an,127 um den Einfluß der geringgeschätzten Mythologie der Ägypter und Inder zu schmälern, in denen seiner Meinung nach »ein ernstlicher Mißverstand, ja ein Dämonisches nicht zu verkennen [sind], ein wie mit Absicht wirkender Geist des Irrthums, der den Mißverstand ins Ungeheure, ja ins Gräuelhafte auswirkt.«128 In der Nachschrift zu Die Gottheiten von Samothrake heißt es in diesem Sinn, die Absicht der Schrift sei es, »das eigentliche Ursystem der Menschheit, nach wissenschaftlicher Entwickelung, wo möglich auf geschichtlichem Weg, aus langer Verdunkelung ans Licht zu bringen.«129 Die Kabiren, deren Gesamtzahl mit »sieben angegeben [wird], denen ein achter beigesellt ist«,130 werden im Sinne eines Aufstiegsmodells gedeutet, das vom untersten Gott Axieros, den Schelling mit Demeter und der Penia (dem Hunger) aus Platons Sympo-
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»Allein die Mythologie ist nicht bloß Sache Eines Volkes, sondern vieler Völker, und zwischen den mythologischen Vorstellungen derselben ist nicht bloß eine allgemeine, sondern eine bis ins Einzelne gehende Uebereinstimmung.« Ebd., S. 71. Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie. Bd. I, S. 14. Über den Einfluß Creuzers auf Schelling vgl. Jamme: Einführung, S. 64ff. Vgl. Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie. Bd. II, S. 312f. »[...D]er griechische Götterglaube [ist] auf höhere Quellen als auf ägyptische und indische Vorstellungen zurückzuführen.« F.W.J. Schelling: Über die Gottheiten von Samothrake. Beilage zu den Weltaltern (1815). In: Schellings Werke. Bd. IV. Hg von Manfred Schröter. München 1927, S. 721–746, S.739. Ebd., S. 739. Ebd., S. 746. Ebd., S. 733.
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sion gleichsetzt,131 über Axiokersa, Axiokersos und Kasmilos führt, der als der unmittelbare »Verkündiger und Diener« eines weiteren Gottes verstanden wird. Mit diesem beginne »eine neue Reihe von Offenbarungen, durch die sich die Folge der Persönlichkeiten bis in die Sieben- oder Achtzahl fortsetzt.«132 Schellings Methode, deren Problematik ihm durchaus bewußt war, beruht vor allem auf der etymologischen Deutung der Namen133 und einer Gleichsetzung unterschiedlicher antiker Gottheiten: Axieros wird als phönizische Bezeichnung für Hunger aufgefaßt,134 was die Gleichsetzung mit Penia und dann mit Demeter legitimieren soll. Der Name wird also zunächst etymologisch aufgefaßt, der Begriff des Hungers dann aber allegorisch ausgelegt und mit anderen antiken Quellentexten kontextualisiert. In Wahrheit ist die etymologische Übersetzung allerdings schon ein erster allegorischer Schritt. Es mag sein, daß für den Gläubigen, der am Kult teilnimmt, die symbolische Präsenz der Gottheit erfahrbar wird und die Sehnsucht des ersten Gottes keiner Auslegung bedarf. Doch die Situation des Interpreten ist eine andere: Auslegung geschieht nachträglich, sie kann die Einheit der ursprünglichen Erfahrung nur postulieren, aber nicht mehr vergegenwärtigen.135 Sie muß daher zu den konkreten Vorstellungen, die ihr Gegenstand sind, Begriffe suchen, für die diese Gegenstände stehen. Das ist Allegorese, allerdings unvermeidliche Allegorese, weil die Sprache über einen Gegenstand nur dann verfügen kann, wenn sie ihn in seiner ursprünglichen Einheit zerstört hat. An der Auslegung der Kabiren, aber auch schon an den mythologischen Deutungen in der Philosophie der Kunst 136 muß 131
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Vgl. ebd., S. 727ff. Vgl. Plato: Συμπσιον / Das Gastmahl. In: ders., Werke in acht Bänden. Bd. III. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Hg. von Gunther Eigler. Darmstadt 1990, 203b. Beide Zitate Schelling: Über die Gottheiten, S. 736. »Wir betreten also jenen gefährlichen Weg der Sprachforschung, der sich mit Untersuchung der Herkunft und Abstammung von Namen oder Wörtern abgibt, nicht unwissend, was von dessen Schwierigkeit und Undankbarkeit vorsichtige Kenner zu äußern pflegen, nicht unkundig des von minder Bedächtlichen im Allgemeinen darüber ausgeprochenen Verdammungsurteils.« Ebd., S. 727. Vgl. ebd. Diese fundamentale Nachträglichkeit thematisiert Lévi-Strauss aus der ethnologischen Sicht folgendermaßen: »[...][L’]exercise et l’usage de la pensée mythique exigent que ses propriétés restent cachées; sinon on se mettrait dans la position du mythologue qui ne peut croire aux mythes, du fait qu’il s’emploie à les démonter.« (Vgl. Claude Lévi-Strauss : Mythologiques I. Le cru et le cuit. Paris 1964, S. 19.) Vgl. z.B. folgende Stelle: »Ohne in diese zarten Schöpfungen der Phantasie einen ihnen fremden Vernunftzusammenhang bringen zu wollen, können wir doch die ganze Kette, wie sie von Jupiter an in die Hauptgottheiten sich fortsetzt, auf folgende Art bestimmen. Jupiter also als der ewige Vater ist der absolute Indifferenzpunkt, der im Olymp ist, erhaben über allen Widerstreit; bei ihm wohnt die Gestalt der Minerva, die ewige Weisheit – sein Gegenbild, das aus seinem Haupt entsprungen. Unter ihm ist a) in der realen Welt das formende und das formlose Princip (Eisen und Wasser), Vulcan und Neptun, welche, damit die Kette sich nach beiden Seiten schließe, als der dem Jupiter entsprechende Indifferenzpunkt, ein unterirdischer Gott wieder zusammenknüpft, Pluto oder der stygische Jupiter, Herrscher im Reich der Nacht oder der Schwere.« Philosophie der Kunst, S. 230. Es handelt sich bei diesem Deu-
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auffallen, daß sie dem von Schelling aufgestellten Begriff des Mythos nicht gerecht werden – und nicht gerecht werden können. Nicht thematisiert wird nämlich das fundamentale Problem, wie das symbolische Denken, das sich in »tautegorischer« Evidenz und Identität befindet, begrifflich gefaßt werden soll. Muß nicht jede Erklärung des Mythos durch die diskursive Sprache diesen Gegenstand schon zerstört haben, bevor sie über ihn sprechen kann? Eine solche Kritik formulierte Karl-Heinz Volkmann-Schluck in seiner Darstellung von Schellings Philosophie der Mythologie: »Das mythische Sagen ist verstummt, und nichts von dem begibt sich mehr, was der Mythos erzählte, seitdem das Sagen zum Logos geworden ist, zu demjenigen denkenden Sagen, welches überall das Seiende begründet, indem es seine Gründe ergründet.«137 Das Problem besteht darin, daß ein verstehender hermeneutischer Blick mit der Unterstellung einer Oberflächen-Tiefen-Struktur arbeiten muß, die jedoch im gleichen Zug den Mythen abgesprochen wird. Es ist demnach nicht das Vergangensein der Mythen, das sie als das Andere der modernen Vernunft erscheinen läßt, sondern vielmehr die Tatsache, daß sie sich verändern, je nachdem, ob man sich im mythischen Denken befindet oder ob man seine Beobachtung auf die nachträgliche Interpretation ihrer Bedeutung einstellt. Obwohl die Mythosforschung der Aufklärung und Romantik die Mythen als eigenständige Denkform zu entdecken beginnt, hält sie am Modus der Übersetzung der Mythen in eine rational begründbare, diskursive Sprache fest – sie verfällt damit der allegorischen Auslegung, die ihren Gegenstand in seiner eigentümlichen Gestalt auslöschen muß. Um das Fremde dagegen wirklich als solches denken zu können, müßte sich das Denken dagegen zuerst als mit sich selbst nicht identisch konzipieren und die Anteile des Fremden und Mythischen in sich erkennen.138
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tungsverfahren um eine allegorische Auslegung. Zwar wird behauptet, der diskursive Zusammenhang, den Schelling darin entdeckt, sei in den Mythen evident; aber es handelt sich bei der Interpretation um eine Reihe von allegorischen Gleichsetzungen: Jupiter = der ewige Vater; Minerva = Weisheit; der Olymp erscheint als ein Ort über allem Widerstreit. Zu den sinnlichen Vorstellungen der Mythologie werden Begriffe gesucht: Das ist die Definition der Allegorie. Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Mythos und Logos. Interpretationen zu Schellings Philosophie der Mythologie. Berlin 1969, S. 126. Er fährt fort: »Weil jener Zuspruch der Sprache ausbleibt, in den das mythische Sagen eingelassen war, bleibt dem Erscheinen des Wechselspiels von Göttlichem und Menschlichem die Stätte verwehrt, so daß die Kultstätten denn auch längst verfallen und nur noch als Gegenstände wissenschaftlicher Forschung und musealer Betrachtung vorhanden sind.« (Ebd.) Diese Betonung des radikalen Vergangenseins der Mythen findet sich mit ähnlichen Formulierungen schon bei Hegel: »Die Bildsäulen sind nun Leichname, denen die belebende Seele, so wie die Hymne Worte, deren Glaube entflohen ist; die Tische der Götter ohne geistige Speise und Trank, und aus seinen Spielen und Festen kommt dem Bewußtseyn nicht die freudige Einheit seiner mit dem Wesen zurück.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: ders., Werke in zwanzig Bänden. Bd. III. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1970, S. 547. Vgl. Christoph Jamme: Gott an hat ein Gewand. Grenzen und Perspektiven philosophischer
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Goethe, der die Auseinandersetzung um die Mythologie aufmerksam verfolgte und die religiösen Implikationen des Creuzerschen Systems verwarf,139 kritisierte die Auffassung der Mythen als religiöse Allegorie. In der Kabirenszene im Faust II wird diese Deutung spöttisch abgelehnt. Schellings Darstellung des vierten kabirischen Gottes, der bei ihm Kasmilos heißt, kehrt in komischer Form wieder: NEREIDEN und TRITONEN Drei haben wir mitgenommen, Der Vierte wollte nicht kommen, Er sagte er sei der Rechte, Der für sie alle dächte. (Vv. 8186–89.)
Aus Schellings allegorischer Ausdeutung des Kasmilos, der eine Mittelrolle zwischen den drei unteren Gottheiten und den höheren Gottheiten einnimmt, ist ein selbstgefälliges Wesen geworden, das sich selbst der Allegorie bedient, um sich mit Bedeutung aufzublasen. Die ungenaue Zahlenangabe bei Schelling – sieben oder acht beträgt bei ihm die Anzahl der Kabiren140 – kehrt ebenfalls wieder: NEREIDEN und TRITONEN Sind eigentlich ihrer Sieben. SIRENEN Wo sind die drei geblieben? NEREIDEN und TRITONEN Wir wüßtens nicht zu sagen, Sind im Olymp zu erfragen;
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Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1991, S. 253: »Statt Vernunft zum ›Ganzen‹ aufzublähen, wäre schon viel damit gewonnen, wenn Vernunft ihre eigene Andersheit und Fremdheit ernst nähme.« Zu einer solchen Theorie der Fremdheitserfahrung im Eigenen vgl. Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a.M. 1990. Auch Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, deckt die Anteile des Mythischen in der Vernunft auf – allerdings nicht mit dem Gestus des Mythenkritikers, sondern fragend auf die Entdeckung der Leistung des Mythischen gerichtet. Goethe hat sich mehrfach mit Creuzer beschäftigt. So ist ein Gespräch mit Creuzer von 1815 bezeugt, indem er sein Interesse an Creuzers mythologischen Vorstellungen bekundet haben soll. (Vgl. Goethes Gespräche. Bd. II, S. 1097f. [Nr. 4244].) Doch später reagiert er zunehmend ablehnend. In einem Brief vom 1.10.1817 an Creuzer äußert er sich über die von Creuzer gemeinsam mit Gottfried Hermann publizierten Briefe über Homer und Hesiodus in einer die romantische Position ablehnenden Weise (vgl. FA II, 8, S. 143f.). In einem Brief an Johann Heinrich Meyer vom 25.8. 1819 verwarf er die zweite Ausgabe der Symbolik und Mythologie der alten Völker als »dunkel-poetisch-philosophisch-pfäffischen Irrgang.« (Ebd., S. 304.) Andererseits muß beachtet werden, daß der von Goethe geschätzte Altphilologe G. Hermann viele Voraussetzungen mit Creuzer gemein hatte und daher Goethes spätere Ablehnung Creuzers zugunsten Hermanns eine einseitige »Überakzentuierung« darstellt – so Hendrik Birus: Kommentar. In: FA I, 20, S. 659–1601, hier S. 1050. Vgl. Schelling: Die Gottheiten von Samothrake, S. 733.
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Dort wes’t auch wohl der Achte, An den noch niemand dachte. (Vv. 8194–8199.)
Die Auslegungsverfahren Schellings werden in dieser Szene zu Verfahren der Darstellung, aus Allegorese wird Allegorie, die über ihre allegorische Deutung spottet. So verwundert es nicht, daß Homunkulus schließlich die völlige Leerheit der Kabiren behauptet: Die Ungestalten seh ich an Als irden-schlechte Töpfe, Nun stoßen sich die Weisen dran Und brechen harte Köpfe. (Vv. 8219–8222)
In der Auffassung des Homunkulus wird der kultische Gegenstand des irdenen, gelegentlich auch goldenen Krugs, mit dem die Phönizier ihre Schutzgötter laut Creuzer manchmal symbolisierten,141 völlig jeder göttlichen Präsenz beraubt. Die Auslegung der Mythen erscheint als verfehlte Aufladung eines banalen Dings mit Bedeutung, Homunkulus negiert damit die symbolische Magie und die Fremdheit des Kultes. Andererseits hat er nicht unbedingt das letzte Wort. Die mythische Qualität der Kabiren mag sich der allegorischen Auslegung entziehen, so ist sie dennoch keineswegs ganz zu leugnen. Vielmehr bleibt der Kern von Schellings und Creuzers Auslegung für Faust II von Bedeutung durch ihre Entdeckung des kultischen und rituellen Fundaments der Mythologie, das die Gestaltung des Festes in den »Felsbuchten« entscheidend prägt.142 Als »sehnsuchtsvolle Hungerleider / nach dem Unerreichlichen« (Vv. 8204f.) sind die Kabiren Chiffren einer Poetik der Präsenz, auf die weiter unten zurückzukommen ist. Goethe kritisiert in der Kabirenszene die mythologischen Auslegungsverfahren der romantischen Philologen, was nicht bedeutet, daß damit auch die Auffassung der mythisch-symbolischen Identität abgelehnt wird. Die Fremdheit des Mythos, seine Unübersetzbarkeit in eine diskursive Sprache, seine Widerständigkeit gegen zu optimistische Aneignungsversuche,
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Vgl. Creuzer: Symbolik und Mythologie.Bd. II, S. 311: »Als irdene, mitunter goldene Krüge, und wenn ein Kopf darauf gesetzt war, als Kruggötter, setzte sie der Phönicier wahrscheinlich eben so wohl zur Erinnerung an alle guten Gaben auf seine Tische, als er sie in der Eigenschaft der Horte auf den Schiffen mit herumführte.« Vgl. Karl Reinhardt: Die klassische Walpurgisnacht. Entstehung und Bedeutung: »Durch die Symboliker erst drang in die Gespensternacht das Element des Kultischen, als Vorbedingung jenes Umschwungs in den Hymnus, sie erst gaben Goethe jene Mittel an die Hand, die er benötigte, um sein Gespensterspiel im Sinne eines heidnischen Mysteriums umzudenken [...].« (Ebd., S. 123.)
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wird auch in der Begegnung des Mephistopheles mit der Welt der Fabelwesen thematisiert. Als Mephistopheles in Thessalien ankommt, fühlt er sich »entfremdet« (V. 7081), ist von dem, was er sieht, halb abgestoßen und halb fasziniert, vor allem aber kann er es nicht deuten. Als er die Greifen höflich grüßt, vergreift er sich gründlich im Ton und holt sich eine beleidigte Antwort ein: »Nicht Greisen! Greifen!« (7093) Albrecht Schöne bemerkte zu dieser Stelle: »Unmittelbar anschaulich wird diese Verwechslung im zeitgenössischen Frakturdruck von Greisen und Greifen (der Goethe vorschweben mochte).«143 Man mag diese Anmerkung spekulativ finden – Schöne hat damit genau den Punkt bezeichnet, der die Situation des Mephistopheles bestimmt: Sein Herumirren gleicht der Situation eines Lesers, der sich in einem fremden Alphabet zurechtfinden muß. Fremdheit findet ihre Metapher in der Lektüre und der Schrift. So stolpert Mephistopheles lesend und mißdeutend durch die »Klassische Walpurgisnacht«, kann in die verwirrenden Figurationen keinen Sinn bringen. Sein Weg durch die Antike gleicht einem Lern- und Leseprozeß, der ihn am Ende bei der Begegnung mit den Phorkyaden befähigt, das Gelernte anzuwenden und sie in seinem Sinne zu beeinflussen,144 ohne daß dadurch eine innere Annäherung an das Fremde stattgefunden hätte. Durch seine Unkenntnis der Figuren befindet Mephistopheles sich in der exzentrischen Position eines Beobachters, der von den Bedeutungen und den Spielregeln noch nichts weiß. Er muß daher alles Äußerliche beobachten, ohne es schon mit seinem Geist durchdrungen zu haben: Die Oberfläche der Bekleidung, die Körperlichkeit, die sich ihm anbietet, die Namen, die er nicht kennt – das irritiert den Blick des Fremden und macht diesen dazu geeignet, Strukturen zu erkennen, die die schnelle Identifikation mit dem Unbekannten verhindern würde. Mephistopheles wird so zu einem Medium, in dem die Fremdheit der Mythen verdeutlicht wird. Darin steht er in Opposition zu Faust, der sich vom ersten Augenblick an zu Hause zu befinden scheint. So stellt Mephistopheles gewissermaßen ethnologische Beobachtungen an,145 erkennt das Prinzip der Metamorphose als beständigen Wechsel täuschender Maskierungen, das für die »Klassische Walpurgisnacht« so charakteristisch ist,146
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Vgl. Schöne, FA I, 7/2, S. 536. Greisen und Greifen sind im Kommentar in Fraktur gesetzt. Leider zieht Schöne aus seiner hübschen Beobachtung keine weiteren Konsequenzen. Auch Ulrich Gaier betont dies: »Mephistopheles artikuliert die Erfahrung kultureller Fremdheit [...].« (Gaier: Kommentar 1. In: Johann Wolfgang Goethe: Faust-Dichtungen. Bd. II, S. 737.) Er folgert daraus: »Aber diese scheiternden Kommunikationen legen genau die Verfahren frei, aufgrund derer Mythen entstehen.« (Ebd.) Doch die Mythen entstehen hier nicht, sie sind schon längst entstanden und müssen von den Reisenden gedeutet werden. Daher auch ihre Intransparenz. Vgl. z.B. Vv. 7748–51: »Ich merk’ es hat bei diesen Leuten / Verwandtschaft Großes zu bedeuten; / Doch mag sich was auch will eräugnen, / Den Eselskopf möcht ich verleugnen.« »Auch diese Mühmchen, zart und schmächtig, / Sie sind mir allesamt verdächtig; / Und hinter solcher Wänglein Rosen / Fürcht’ ich doch auch Metamorphosen.« (Vgl. Vv. 7756–59.)
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und läßt sich dann doch wieder auf das Spiel der Masken, das Spiel der erotischen Verführung ein.147 Dieses Spiel wird zunächst durch die Unterscheidung von Maske und Wesen, von Oberfläche und Tiefe strukturiert. Nach der Verwechslung von Greif und Greis belehren ihn die Greifen: Jedem Worte klingt Der Ursprung nach wo es sich her bedingt: Grau, grämlich, griesgram, gräulich, Gräber, grimmig, Etymologisch gleicherweise stimmig, Verstimmen uns. (Vv. 7094–98)
Mit dieser scherzhaft-ironischen Belehrung beziehen sich die Greifen auf die etymologische Methode der Mythendeutung, die zu den ältesten Traditionen der Mythosforschung gehört und uns bereits bei Schelling begegnete. Die Etymologie ist bestrebt, das unverständliche fremde Wort durch seine Rückführung auf eine ursprüngliche Bedeutung verständlich zu machen und damit dem eigenen Verstehen anzugleichen. Doch die Reihe gänzlich unstimmiger Etymologien, die die Greifen in satirischer Absicht ausbreiten, belegt zugleich die Unmöglichkeit einer Rückführung der mythologischen Namen auf einen diese Mythen erklärenden und umfassenden Begriff.148 Die Mythen lassen sich nicht übersetzen und nicht auf den Begriff bringen. Mephistopheles lernt, die Oberfläche, die sich wandelnde Außenseite zu beobachten, aber das Wesen der Figuren enthüllt sich ihm nicht. Zunächst allerdings sieht es so aus, als finde er sich schnell in seiner neuen Umgebung zurecht. Nach dem ersten Disput mit den Greifen nimmt er bei den Sphingen Platz und ist der Meinung: »Wie leicht und gern ich mich hierher gewöhne, / Denn ich verstehe Mann für Mann.« (Vv. 7112f.) Zu prüfen ist, ob die anfängliche »Erfahrung kultureller Fremdheit« wie Ulrich Gaier schreibt, wirklich in einem gegenseitigen Verstehen der antiken und der modernen Wesen bewältigt wird: »Das Verstehen, von Mephistopheles beglückt erwähnt, stellt sich nur ein, weil die Sprache die eigene ist; auch das aufgegebene Rätsel, in eigener Sprache bildlich ausgedrückt, betrifft das eigene Wesen des Mephistopheles.«149 In einer Spiegelstellung zum ironischen Unterricht in Etymologie befindet sich die Verrätselung des Mephistopheles durch die Sphingen. Das Rätsel, das sie ihm stellen (Vv. 7134–37), ist voller Bosheit, da es ihn auf eine allegorische Funktion reduziert und seine persönliche Identität auf einen Begriff reduziert. Darum können sie auch sagen: »Sprich nur dich selbst aus, wird schon Rätsel sein. / Versuch einmal dich innigst aufzulösen [...].« (Vv. 7132f.)
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Vgl. Vv. 7769–71. Darum können sie auch nicht allegorisch aufgefaßt werden, jedenfalls nicht in einem Sinn, der Übersetzbarkeit in Begriffe impliziert. Gaier: Kommentar 1, S. 738.
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Die Auflösung des Rätsels käme der völligen Vernichtung gleich, wäre Mephistopheles nur, was die Sphingen aus ihm machen. Indem die Sphingen aus Mephistopheles ein allegorisches Rätsel machen, demonstrieren sie, wie sehr ihnen durch eine etymologisch-allegorische Auslegung Unrecht widerfährt. Hieraus erklärt sich auch die Aggressivität der Greifen: GREIF schnarrend Den mag ich nicht! 2. GREIF stärker schnarrend Was will uns der? BEIDE Der Garstige gehöret nicht hierher! MEPHISTOPHOLES brutal Du glaubst vielleicht des Gastes Nägel krauen Nicht auch so gut wie deine scharfen Klauen? Versuchs einmal! (Vv. 7138–42)
Die Stelle könnte auch noch ausführlicher zitiert werden – so kommt es wenig später zur erneuten Ablehnung des Mephistopheles durch die Sphingen150 – doch der Ausschluß des Mephistopheles und seine brutale Antwort darauf läßt genügend deutlich werden, daß hier von Verstehen nicht die Rede sein kann. So kann der Mythos nicht als ein Medium der Selbsterkenntnis,151 sondern nur als sich entziehender, in seinem ›wahren‹ Sinn unzugänglicher Bedeutungszusammenhang aufgefaßt werden. Der Versuch, die mythischen Namen etymologisch-allegorisch zu verstehen, läßt sich als Anwendung des hermeneutischen Schemas verstehen: Der mythischen Identität wird die sprachliche Differenz von Signifikant und Signifikat eingeschrieben. Dadurch muß die postulierte symbolische Einheit zerstören werden. Dieses Schema bleibt auch im Fortgang der Szene aufgerufen und wird dekonstruiert. So stacheln die Lamien das Begehren des Mephistopheles an, indem sie ihm eine trügerische Außenseite präsentieren, die ihn verführt. Zugleich behaupten sie, daß ihre Maske einen verborgenen Wesenskern beinhalte, dessen Enthüllung sich wegen der Unähnlichkeit des Wesens mit dem Äußeren als Enttäuschung dieses Begehrens darstellen müsse: Versuch’ es doch! sind unsrer Viele. Greif zu! Und hast du Glück im Spiele, Erhasche dir das beste Los.
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Vgl.: »Du Falscher kommst zu deiner bittern Buße, / Denn unsre Tatzen sind gesund; / Dir mit verschrumpftem Pferdefuße / Behagt es nicht in unserem Bund.« (Vv. 7148–51) Vgl. U. Gaier: Kommentar 1, S. 738: »[E]r [Mephistopheles, S.S.] begreift sich selbst als Mythos, oder: Mythos ist Begreifen seiner selbst im Bild, im vermuteten Ursprung und Zusammenhang des ganz und gar fremden Sachverhalts.«
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Was soll das lüsterne Geleier? Du bist ein miserabler Freier, Stolzierst einher und tust so groß! – Nun mischt er sich in unsre Scharen; Laßt nach und nach die Masken fahren, Und gebt ihm euer Wesen bloß. (Vv. 7760–68)
Die Lamien inszenieren das Spiel von Oberfläche und Tiefe als eines von Begehren und Frustration, von Verheißung und Enttäuschung. Diese Enttäuschung ist eine doppelte, denn nicht nur ist das Wesen, das sich hinter der Maske zeigt, häßlich und abstoßend, es ist vor allem seinerseits nur eine neue undurchdringliche Oberfläche. Denn was verhüllen die Masken? Die »Kleine« entpuppt sich als »Lacerte«, die »Lange« als »Thyrsusstange« und von der »Dicken« heißt es: Recht quammig, quappig, das bezahlen Mit hohem Preis Orientalen.... Doch ach! der Bovist platzt entzwei! (Vv. 7782–84)
Was also ist das Wesen hinter der Maske? Offensichtlich weisen die mythologischen Wesen jeden Versuch, die Oberfläche in Tiefe, den Schein in Sein zu verwandeln, ab. Übrig bleiben vom allegorisch-hermeneutischen Begehren nur die auseinanderstäubenden Partikel des Bovistes. So kann Mephistopheles dann nur folgern: »Viel klüger, scheint es, bin ich nicht geworden; / Absurd ist’s hier, absurd im Norden [...].« (Vv. 7791f.) Der Vergleich mit der eigenen Tradition des Nordens läßt zwar Parallelen und Vergleichbarkeiten erkennen, führt aber nicht zu einer wahrhaften Erkenntnis des Mythos. In seiner Ansprache an die Phorkyaden und der eigenen Verwandlung bekundet Mephistopheles die Einsicht, daß man den Sinn des Mythos zwar nicht verstehen kann, jedoch seine Verfahren erlernbar sind. So wird ihm die Verwandlung in ein mythisches Wesen möglich, als das er im dritten Akt auf die Bühne zurückkehrt. In seiner Auseinandersetzung mit der Mythenwelt der Antike zitiert Mephistopheles das Paradigma allegorisch-etymologischer Mythenexegese und ermöglicht dessen Inszenierung. Bei aller eindeutigen Kritik an Schellings und Creuzers Auffassung der Kabiren teilt aber auch Goethe die durch die philologische Mythenkritik Heynes und seiner Schüler gegebene Voraussetzung einer Historisierung des Mythos. Mit der Betonung der Differenz der aetas mythica und des postmythischen Zeitalters hat die Philologie zur geschichtsphilosophischen Konstruktion der Ästhetik und Poetik um 1800 beigetragen. In ähnlicher Weise, wie der geologische Bruch zwischen Sein und Geschichte den beiden Positionen des Neptunismus und Vulkanismus einen poetologischen Sinn verlieh, eröffnet der mythologische Bruch neue Möglichkeiten der Ent- und Remythisierung. Goethes Äußerungen zur Mythologie basieren auf den Grundannahmen, die auch die roman167
tische Generation weitgehend teilte. Voraussetzung ist die Annahme einer Entpragmatisierung der poetischen Mythologie der griechischen Dichter, die nach ihrer Entlassung aus der Einheit des Mythischen alle äußeren Zwecke verlor.152 Sie erklärte nichts, beanspruchte keine Wirksamkeit mehr, war ein bloßer poetischer Fundus geworden, der dem modernen Dichter als eine »Poetische Heuristik«153 zur Verfügung stand, ohne daß dies weitere Konsequenzen für die Gesellschaft oder das Wissen der Epoche haben konnte. Herders Begriff der Heuristik gewann Heynes philologischem Blick auf die Antike Anwendungsmöglichkeiten für die Gegenwart ab,154 ohne allerdings den Rahmen der Kunst zu verlassen. An eine Ausweitung des Mythologiebegriffs im Sinne der Romantik dachte Herder noch nicht.155 An den Stand der altphilologischen Diskussion knüpfen auch Goethe und Moritz an. In einer Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1777 unterscheidet Goethe zwischen Mythos und Mythologie folgendermaßen: »Da Μυϑος erfunden wird, werden die bilder durch die Sachen gros, wenns Mythologie wird werden die Sachen durch die Bilder gros.«156 Die hier getroffene grundsätzliche Unterscheidung Goethes deckt sich mit der Unterscheidung der mythischen Epoche von der poetischen Mythologie bei Heyne und bedarf kaum noch einer Erklärung. Daß die Bilder durch die Sachen groß werden, meint jene Identität des Bezeichneten und des Zeichens im Akt mythischer Poesis;157 der
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Vgl. Heyne: Über den Ursprung und die Veranlassung der Homerischen Fabeln, S. 8f.: »Ich setze also, wie man schon bemerkt haben muß, zweyerley voraus, worüber man unter den Alten nicht wenig gestritten hat. Erstlich, Homer hat nicht alles erdichtet, noch weniger zuerst aufgebracht, sondern das meiste anders woher überkommen: zweytens es gab schon vor ihm Dichter und dichterische Werke, die er vor Augen hatte, und aus denen er seine Phantasie und seine Gedichte bereicherte.« Vgl. Johann Gottfried Herder: Vom neuern Gebrauch der Mythologie. In: ders., Frühe Schriften 1764–1772. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985, S. 432–455, hier S. 449. So betont Herder in der Abhandlung Über Bild, Dichtung und Fabel, daß die ursprüngliche schöpferische Leistung immer möglich ist: »[D]er Geist dichtet: der bemerkende innere Sinn schafft Bilder. Er schafft sich neue Bilder, wenn die Gegenstände auch tausendmal angeschaut und besungen wären: denn er schauet sie mit seinem Auge an, und je treuer er sich selbst bleibt, desto eigenthümlicher wird er zusammensetzen und schildern.« (Ebd. S. 530.) Das geht deutlich aus dem Kontext der Formulierung hervor: »Kurz! als Poetische Heuristik wollen wir die Mythologie der Alten studiren, um selbst Erfinder zu werden. Eine Götterund Heldengeschichte in diesem Gesichtspunkt durchgearbeitet, – einige der vornehmsten alten Schriftsteller auf diese Weise zergliedert, – das muß Poetische Genies bilden, oder nichts in der Welt.« J. G. Herder: Vom neuern Gebrauch der Mythologie, S. 449f. Damit fordert Herder zunächst nur dazu auf, »das Prinzip der alten Mythologie – Deutung der Welt durch Bilder und Geschichten – für eine neue Poesie zu übernehmen« (Heinz Gockel: Zur neuen Mythologie der Romantik, S. 129), aber er denkt noch nicht an eine umfassende Erneuerung der Gesellschaft aus dem Geist der Mythologie. Tagebuch vom 5.4.1777, vgl. FA II, 2, S. 85. Möglicherweise enthält diese Äußerung bereits Anteile von Goethes späterem Symbolbegriff (so Andreas B. Wachsmuth: Prometheus und Epimetheus im Selbstverständnis Goethes. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 7 [1963], S. 201–234, hier S. 204). Aber der
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Umgang mit dem mythologischen Bilderfundus hingegen dient der Steigerung der Bedeutsamkeit der Welt durch die poetische Einbildungskraft, die die vorhandenen Bilder von neuem verwendet.158 Auch wenn der Mythos in seiner Verwendung immer wieder neu erfunden wird, bleibt der Rückweg in das mythische Zeitalter versperrt. Die Poesie lebt vom Mythos, der in Mythologie übergegangen ist, ohne selbst ein Mythos zu sein. Sie bleibt Deutung des modernen, individuellen Lebens im überlieferten Bild, aber sie kann die verlorene Einheit aller Lebensbereiche nicht wiederherstellen. Diese Konzeption verbindet Goethe gleichermaßen mit der mythischen Schule Heynes wie mit Karl Philipp Moritz, in dessen Vorwort zu seiner Götterlehre die Leistung der Mythologie für die Kunst folgendermaßen beschrieben wird: »Die mythologischen Dichtungen müssen als eine Sprache der Phantasie betrachtet werden. Als eine solche genommen, machen sie gleichsam eine Welt für sich aus und sind aus dem Zusammenhange der wirklichen Dinge herausgehoben.«159 Moritz bestreitet, daß die Mythologie irgendeine andere Bedeutung habe, als sich selbst: »Der Begriff Jupiter bedeutet in dem Gebiete der Phantasie zuerst sich selbst, so wie der Begriff Cäsar in der Reihe der wirklichen Dinge den Cäsar selbst bedeutet.«160 Diese Auffassung der Identität von Begriff und Sache in der Mythologie verbindet Moritz mit Heyne, Herder und der Romantik. Allerdings schreibt Moritz darin die Trennung der Poesie vom Mythos fest: »Ein wahres Kunstwerk, eine schöne Dichtung ist etwas in sich Fertiges und Vollendetes, das um seiner selbst willen da ist und dessen Wert in ihm selber und in dem wohlgeordneten Verhältnis seiner Teile liegt [...].«161 Wenn die Mythologie in dieser Weise ein eigenes Reich der schönen Phantasie, ohne Referenz und ohne Funktion begründet, sie also zu einem ästhetischen Phänomen geworden ist, dann bedeutet das jedoch keinesfalls, daß damit jede Verbindung zu ihrem usprünglichen Sinn abgeschnitten ist. Vielmehr zeigt sich an Goethes Reflexion und Praxis, daß die Poesie trotz ihrer konsequenten Trennung vom Mythos an dessen semantischem Potential partizipieren kann, und zwar in der Gestaltung oder Bearbeitung der Mythologie: In einer Zeit, wo Sagen entstehen, wirken große Naturkräfte, und der frische menschliche Geist arbeitet sie gewaltig aus. Steigt nach und nach die Kultur, und der Künstler ergreift unmittelbar diesen Schatz: so kann er ihn, nach den Erfodernissen seiner Kunst, am eigentümlichsten ausbilden.162
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Mythos wird im Unterschied zum Symbol als ästhetischem Verfahren nicht mehr im eigentlichen Sinn erfunden. Vgl. auch Walter Killy: Der Begriff des Mythos, S. 131. Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologischen Dichtungen der Alten (1791). In: ders., Werke. Bd. II. Hg. von Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, S. 608–842, hier S. 611. Ebd., S. 612. Ebd. Weimarische Kunstausstellung vom Jahre 1802 und Preisaufgaben für das Jahr 1803, FA I, 18, S. 854.
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Goethe ist sich der Distanz zum Ursprung der Bilder vollkommen klar und kennt dennoch ein Modell der Partizipation.163 Nur läßt sich diese Partizipation anders als bei den Mythologen nicht begrifflich auflösen. Das semantische Potential der Mythen kann man nicht entschlüsseln und systematisieren, aber man kann es aktualisieren, auch ohne es begrifflich zu verstehen. Dieses Potential wird durch die Verwendung freigesetzt, die der mythischen Konfiguration einen Gegenwartssinn einschreibt. Durch den Verzicht auf eine diskursive Aneignung des Fremden, bleibt dieses in seiner Integrität bestehen, und kann doch in eine Beziehung zur eigenen Identität treten. Diese Verwendung der Mythologie geht den Fallen eines Denkens radikaler Alterität ebenso aus dem Weg wie einer Assimilation des Anderen durch Allegorese. Als interkulturelle Hermeneutik beschreibbar, besitzt Goethes Auffassung vom Mythos daher eine Aktualität, die nicht geringer ist als die viel diskutierte neue Mythologie der Romantiker. Diese Position ist durch ein starkes Differenzbewußtsein geprägt, das sich geschichtsphilosophischen Konzepten, die eine Versöhnung der modernen Gegensätze intendieren, widersetzt. Das Auseinandertreten von Wissen, Wahrheit und Kunst läßt sich nicht mehr revidieren, wie es statt dessen die Formulierungen des sogenannten Systemprogramms anstreben, in denen eine neue Mythologie gefordert wird.164 Diese neue Mythologie erhält die Aufgabe, unter Führung der Einbildungskraft eine neue gesellschaftliche Identität zu verwirklichen: »Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen.«165 Auch wenn Goethes Mythopoetik sich von solchen Einheitswünschen fernhält, ist sie nie nur harmloser »Kunst-Schein«,166 sondern Deutung des Lebens im Umgang mit der mythischen Überlieferung. Das kann man z.B. am Bericht über die Wahl des Prometheusmotivs in Dichtung und Wahrheit erkennen. Dort schildert Goethe, wie er im Nachdenken über seine schöpferische Gabe und den Wunsch nach Selbständigkeit auf die Prometheussage verfiel, die ihm zur Deutung der eigenen Situation verhalf: Wie ich nun über diese Naturgabe nachdachte und fand, daß sie mir ganz eigen angehöre und durch nichts Fremdes weder begünstigt noch gehindert werden
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Eine vergleichbare Vorstellung vertritt Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der ›Wahlverwandtschaften‹. Frankfurt a.M. 1986. Buschendorf zeigt unter Rückgriff auf Warburgs Gedächtniskonzept, wie Goethes Roman in versteckter Weise das semantische Potential des Bildgedächtnisses nutzt und es für den Roman fruchtbar macht. Georg Friedrich Wilhelm Hegel [?]: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. In: ders., Werke in zwanzig Bänden. Bd. I, S. 234–236: »[W]ir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.« (Ebd., S. 234.) Ebd. Dieser Ansicht ist Manfred Frank: Der kommende Gott, S. 89.
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könne, so mochte ich gern hierauf mein ganzes Dasein in Gedanken gründen. Diese Vorstellung verwandelte sich in ein Bild, die alte mythologische Figur des Prometheus fiel mir auf, der, abgesondert von den Göttern, von seiner Werkstätte aus eine Welt bevölkerte. Ich fühlte recht gut, daß sich etwas Bedeutendes nur produzieren lasse, wenn man sich isoliere.167
In dieser Beschreibung erhält die »alte mythologische Figur« Prometheus eine neue Bedeutung, der Mythos bewährt sich in der transformativen Arbeit der Einbildungskraft. Der Gegensatz zwischen einer aufgeklärt-philologischen Distanz und dem Bedürfnis nach Remythisierung bildet das Archiv des Gesprächs zwischen Faust und Chiron, das in der Spannung zwischen Fausts Remythisierungsbegehren und Chirons ironischem Distanzbewußtsein die mythopoetische Debatte um 1800 wieder aufgreift. Als Faust aus seinem Schlaf erwacht und antäusartig (vgl. V. 7077) den Boden berührt, befindet er sich in einer vertrauten Welt, deren Bedeutung sich ihm unmittelbar zu erschließen scheint. Anders als Mephistopheles, dem sich das mythische Gedächtnis im Medium der Schrift präsentiert, ist Faust im Besitz des »Geistes«, der ihn über alle Differenzen und Materialitäten hinweg zu erleuchten scheint (vgl. V. 7076). Ihm eröffnet sich eine Welt der Bilder, die ihm ihren Sinn unter der verwirrenden Oberfläche sogleich preisgeben: »Wie wunderbar! das Anschaun tut mir Gnüge, / Im Widerwärtigen große tüchtige Züge.« (Vv. 7181f.) Während Mephistopheles mühsam mit dem Entziffern der Erscheinungen beschäftigt ist, erfährt Faust eine umfassende kulturelle Anamnese, die ihm die Fabelwesen zugänglich macht. Damit befindet er sich auf der Seite des Wissenden. Auf Mephistopheles üben die Sirenen keinen Zauber aus, er empfindet ihre Fremdheit als zu groß.168 Bei Faust ist ihr Zauber gebrochen, weil er schon alles weiß und darum nicht verführbar ist. Er hat sie sofort durchschaut: »Vor solchen krümmte sich Ulyß in hänfnen Banden.« (V. 7186) Doch Fausts Umgang mit der Mythologie beschränkt sich nicht auf ein Verhältnis des Wissens. In der Szene am Unteren Peneus wird er selber als Zeitgenosse des mythischen Alters vorgestellt, bevor Chiron ihn über seinen Irrtum aufzuklären versucht. Die Szene spielt in einer Region Thessaliens, die deutliche Merkmale einer idyllischen Landschaft aufweist: Nymphen, Gewässer, Schilfrohr sind ihre Ingredienzen. Damit wird eine räumliche Schranke errichtet gegen die vorangegangene Fremdheitserfahrung des Mephistopheles und die folgende Erdbebenszenerie. Über die »Klassische Walpurgisnacht« hinaus schließt die Idylle an Fausts Traum im
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MA 16, 680f. Vgl. Vv. 7172–77 – Mephistopheles vermißt das ›Ergreifende‹ an der Antike: »Das Trallern ist bei mir verloren, / Es krabbelt wohl mir um die Ohren / Allein zum Herzen dringt es nicht.« Umgekehrt wird später der griechische Chor die moderne Musik als »des Geklimpers vielverworrner Töne Rausch, / Das Ohr verwirrend, schlimmer noch den innern Sinn« verurteilen. Vgl. Vv. 9964f.
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Laboratorium an. Peneus’ Aufforderung an die Natur, »unterbrochnen Träumen« zuzulispeln (7252f.) muß sich nicht allein auf das Erdbeben beziehen, das sich hier vielleicht schon ankündigt, sie bezieht sich auch auf die Kontinuität des erotischen Traums, der wieder aufgegriffen wird. Denn am Peneus wiederholt sich die Vision der Zeugung Helenas. Dabei bleibt ungewiß, ob diese Vision ein reales Gegenstück hat oder ob Faust, wie er selbst sich fragt, träumt oder Erinnerungen nachgeht. Die Differenz zwischen Erinnerung, Traum und wirklicher Anschauung wird weitgehend eingezogen, weil sich Außen und Innen im Modus der Phantasie aufheben. Entscheidend ist lediglich, daß Faust, angeregt durch den Ort, durch das Geflüster der Nymphen (vgl. Vv. 7263–70), das Archiv der Mythologie im Sinn eines kulturellen Bilderschatzes aufruft und zu einer sinnhaften Neugestaltung bringt: Ich wache ja! O laß sie walten Die unvergleichlichen Gestalten Wie sie dorthin mein Auge schickt. So wunderbar bin ich durchdrungen Sind’s Träume? Sind’s Erinnerungen? Schon einmal warst du so beglückt. (Vv. 7271–76)
Faust findet Anschluß an das kulturelle Gedächtnis, das er den eigenen Träumen und Wünschen angleicht. Erinnerung und Veränderung, produktive Erneuerung und Anschluß an die Überlieferung werden somit zu einem Moment, der das Anschauen und das Produzieren zu einem einzigen Akt der erinnernden Imagination zusammenfaßt. In diesem Akt einer transformativen Erinnerung erfährt Faust die Vergangenheit der Antike als gegenwärtig. Faust scheint zu einem Zeitgenossen des Mythos zu werden, zu einem »zeugenden Zeugen« im Sinne Creuzers.169 Die Phantasie gestattet es, der Historisierung und der Zeitlichkeit des Bewußtseins für einen herausgehobenen Moment der erfüllten Anschauung zu entkommen und dank dem magisch-irrealen Charakter der »Klassischen Walpurgisnacht« eine Erfahrung der Präsenz, der Anwesenheit einer verlorenen Welt zu machen. Doch diese Präsenz des Mythischen bleibt gebrochen. Während für Faust Mimesis und Poesis zusammenfallen und nicht mehr zwischen dem Betrachter und seinem Objekt unterschieden wird, bleibt durchaus deutlich, daß Fausts Ledavision ein gängiges mythologisches Motiv wiederholt, mithin als Rezeption der Tradition und nicht als eigentümliche Erschaffung verstanden werden kann. Das Mythische selbst, das ist die Einsicht der philologischen Aufklärung, bleibt unwiederholbar, auch wenn das Begehren nach der Präsenz des Mythos durch Aufklärung nicht aus der Welt geschafft werden kann.
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Vgl. oben, Seite 159.
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Diese Beobachtung wird von Chiron in den Text eingeführt. Chiron, an den sich Faust wendet, um von ihm zu erfahren, wie er zu Helena gelangen kann, erscheint als eine allegorische Figur. Seine mythologischen Attribute verweisen auf den Geist der Aufklärung, den er verkörpert. Seine ständige Bewegung, seine Weigerung zu rasten, versinnbildlichen die zerfließende Zeit, die Geschichtlichkeit und Linearität, die er gegenüber Faust behauptet. Als »Pädagog« (V. 7337) und »Arzt« (V. 7345) ist er die Personifikation zentraler Tätigkeiten und Themenfelder der Aufklärung; die von ihm vorgeschlagene Heilung Fausts (Vv. 7446–58), durch die Fausts überhitzte Phantasie kuriert werden soll, paßt zum Selbstverständnis des Aufklärers. Schließlich ist Chiron auch die Inkarnation des kritischen Philologen, der nicht nur über ein unerschöpfliches mythologisches Wissen verfügt und das antike Archiv zitiert, sondern es auch mit den neuesten Erkenntnissen der Philologie kommentiert. Chiron schreibt erneut die Differenz zwischen mythischer Zeit und mythologischer Poesie in den Text ein und unterstreicht die Nichtidentität der poetisch-mythologischen Helden mit ihren Urbildern. Faust spricht ihn als den Zeitgenossen der Heroen an. Vorsichtig umkreist er sein eigentliches Anliegen, die Frage nach Helena, indem er zunächst unverfänglich auf die Heroen zu sprechen kommt: So wirst du mir denn doch gestehn Du hast die Größten deiner Zeit gesehn, Dem Edelsten in Taten nachgestrebt, Halbgöttlich ernst die Tage durchgelebt. Doch unter den heroischen Gestalten Wen hast du für den Tüchtigsten gehalten? (Vv. 7359–64)
Damit macht er Chiron zunächst gesprächig, er lockt ihn auf die Fährte... Oder ist es umgekehrt Chiron, der Faust verführt, indem er ihm die antiken Heroen in leuchtenden Farben ausmalt und seiner Begeisterung scheinbar nicht Herr wird? Diese Antwort liegt besonders nahe bei Chirons Replik auf Fausts Frage nach Herkules (vgl. V. 7381). Chiron scheint selber in die Rolle des Begehrenden zu fallen, Herkules wird ihm zum Inbegriff des Göttlichen, das sich im Heroen inkarnierte: »Da sah ich mir vor Augen stehn / Was alle Menschen göttlich preisen.« (Vv. 7385f.) Doch seine Bitte »O weh! errege nicht mein Sehnen...« (V. 7382) ist zugleich ein Hinweis auf die Vergeblichkeit des Wunsches, die antiken Sagenhelden in ihrer originalen Gestalt wiederzugewinnen. So sagt denn auch Chiron über Herkules: Den zweiten zeugt nicht Gäa wieder, Nicht führt ihn Hebe himmelein; Vergebens mühen sich die Lieder, Vergebens quälen sie den Stein. (Vv. 7391–4)
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Die Undarstellbarkeit des Herkules resultiert nicht aus einer in platonischer Tradition gedachten Unerreichbarkeit des Urbildes für das Abbild, besteht also nicht darin, daß das Göttliche oder Ideelle sich seiner Darstellung im Materiellen verweigert. Das Verhältnis des echten Herkules zu seinem bildnerischen oder poetischen Nachleben ist vielmehr historisch und nicht ideell gedacht. Das geht aus der Temporalität der Rede hervor; sie ist strukturiert durch die Zeitachse von »heute« und »einst«, von Vergangenheit und Gegenwart. Weil der Heros selber eine historische, vergangene und also temporal einmalige Gestalt war, läßt er sich im Zeitalter der beendeten mythischen Einheit nicht mehr rekonstruieren. Chirons enthusiastische Hingabe an die Erinnerung jener mythischen Zeit scheint nicht gerade ohne Ironie zu sein. Er spielt vielmehr sehr bewußt mit Fausts Begehren nach Helena, das er zuerst anstachelt, um ihn dann um so eindrücklicher belehren zu können. Indem er fingiert, Helena habe auf seinem Rücken gesessen wie Faust und ihn so in das Haar gefaßt, wie er es tue (vgl. Vv. 7406–10), scheint für Faust jeder Abstand vergessen, schmilzt jede historische Differenz vor seinem Verlangen weg. Auf dem Höhepunkt der Begeisterung Fausts, an dem er offenbart, daß sie sein »einziges Begehren« ist (V. 7412), verfällt Chiron in einen plaudernden Tonfall, mit dem er aus Helenas Kindheit berichtet. Chiron fungiert als Prosopopoiie, die die Varianten des Helenamythos zur Darstellung bringt. Erst als Faust ihn mit dem Ausruf unterbricht: »Erst sieben Jahr!...« (V. 7426), wechselt Chiron den Diskurs und geht von der mythologischen Rede zur philologischen über. Während Faust die mythologischen Erzählungen über Helena beim Wort nimmt und sie unbesorgt referentialisiert, d.h. sie auf vermeintlich gewesene Originale bezieht, kritisiert Chiron dieses Begehren plötzlich mit den Methoden der neuesten Philologie. Seine Ablehnung der Philologen gilt nämlich nicht der Philologie überhaupt, sondern nur einer bestimmten Form. Seine Aussage: »Ich seh’, die Philologen / Sie haben dich so wie sich selbst betrogen. / Ganz eigen ist’s mit mythologischer Frau; / Der Dichter bringt sie wie er’s braucht zur Schau« (Vv. 7426–29) bezieht sich einerseits auf Fausts Wunsch, ein Original besitzen zu wollen, andererseits auf den philologischen Versuch, die Sagen im Hinblick auf eine »Eigentliche Historie« aufzulösen. So heißt eine Rubrik im Gründlichen Mythologischen Lexicon Benjamin Hederichs, in der die zuvor erzählten Sagenvarianten im Hinblick auf ihre historische Realität geprüft werden. Diese euhemeristische Tradition der Mythendeutung, die die Sagen als ausgeschmückte und korrumpierte Berichte von historischen Ereignissen auffaßt, geht bereits auf die Antike zurück170 und war eine im
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Sie verbindet sich besonders mit Euhemeros, dem die Begründung rationalistischer Mythendeutung zugeschrieben wird. Vgl. Massimo Fusillo: Art. »Euhemeros«. In: Cancik, Hubert und Helmuth Schneider (Hgg.): Der neue Pauly. Bd. IV, Sp. 235f.
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Lauf der Zeit immer wieder erneuerte Ansicht. Im 18. Jahrhundert verfaßte der Abbé Banier ein monumentales Werk, in dem die antike Mythologie auf ihre historischen Gehalte hin ausgedeutet wurde und das als ein Standardwerk der Mythosforschung des 18. Jahrhunderts anzusehen ist.171 Chirons Kritik zielt auf diese Versuche, die poetische Mythologie zu referentialisieren. Als dichterischer Bildschatz hat sie überhaupt keine Realität außerhalb des poetischen und künstlerischen Gebrauchs, war immer nur und immer schon ein Rezeptionsphänomen, so oder so zur Schau gebracht: Nie wird sie mündig, wird nicht alt, Stets appetitlicher Gestalt, Wird jung entführt, im Alter noch umfreit; G’nug, den Poeten bindet keine Zeit. (Vv. 7430–33).
Chiron erfüllt im Text mehrere Funktionen: In seiner Erzählung stellt er Faust das Sagenarchiv dramatisch vor Augen, indem er zunächst als Zeitgenosse der Götter und Heoen auftritt; dann läßt er seine Erzählung als poetische Verformung der Sagenvarianten durchsichtig werden. Schließlich kritisiert er Fausts Begehren und zugleich eine euhemeristische Form der Mythenexegese mit Hilfe wissenschaftlicher Konzepte der Heyne-Schule. Die Mythen sind nicht historische Erzählungen, sondern poetisch-freie Verwendungen eines ursprünglich mythischen Denkens, das aber für die Dichtung verloren ist. Indem Chiron dieses Wissen in den Text einschreibt, bestätigt er die Differenz zwischen Mythos und Dichtung; Dichtung partizipiert am Mythos ohne wieder ein Mythos werden zu können. Das ist die Aufklärungsfunktion Chirons. Seine Intention besteht in der Heilung Fausts. Indem er diesen zunächst ironisch in seiner Begeisterung unterstützt, bevor er ihm die Wahrheit der mythologischen Figur vorstellt, versucht er sich an Faust ein weiteres Mal als Pädagoge, der ihm die Unsinnigkeit seines Wunsches klarmachen möchte. Doch Chiron behält nicht das letzte Wort. Faust, als hätte er den Kentauren gänzlich mißverstanden, antwortet ihm: So sei auch sie durch keine Zeit gebunden! Hat doch Achill auf Pherä sie gefunden, Selbst außer aller Zeit. Welch seltnes Glück: Errungene Liebe gegen das Geschick! Und sollt ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt? (Vv. 7434–9)
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Antoine Banier: La Mythologie et les Fables, expliquées par l’Histoire. Paris 1738–40. (Dt. Übers.: Erläuterung der Götterlehre und Fabeln aus der Geschichte. Leipzig 1754–1766.)
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Während Chiron Historizität, Verlust, Zeitlichkeit betont, aber auch den spielerischen und verschwenderischen Umgang mit Mythologie demonstriert, beharrt Faust auf Gegenwärtigkeit und Präsenz: »Du sahst sie einst, heut hab’ ich sie gesehn [...].« (Vv. 7442) Faust beharrt demnach auf der Wiederkehr des Identischen (der »einzigste[n] Gestalt«) gegen das Wissen Chirons. Für eine solche Möglichkeit der Wiederkehr gibt es im Text aufgerufene Exempla: Achill, Orpheus, Admetos,172 Herkules, antike Männer also, die ihre verstorbenen Gattinnen bzw. Angebeteten aus der Unterwelt herausführen konnten – mit nicht immer befriedigendem Erfolg. Faust strebt mit seinem Wunsch, Helena aus der Unterwelt zu befreien, die identische Wiederkehr der mythischen Frau an. Damit verläßt er das Paradigma der Kunstmythologie im Sinn von Goethe oder Moritz. Es geht ihm nicht um poetische Mythenrezeption, sondern er will Helena wiedergewinnen. Wie er sich schon in seiner Ledavision als mythischer Zeitgenosse empfand, so strebt er auch hier nach einer Wiederherstellung der mythischen Zeit, nach einer Erneuerung der Gegenwart durch ihre Remythisierung. Hier, wie auch in der Helenabeschwörung im ersten und in der Mittelalterszene im dritten Akt, überschreitet Faust scheinbar – aus seiner Sicht – die historische Schranke. Während Chiron mit seiner Aufzählung der mythologischen Varianten und dem philologischen Aufklärungswissen den Geist des Archivs verkörpert, strebt Faust nach dem Zugang zum Urzustand der mythischen Epoche. Helena verkörpert ihm sowohl die erfüllte Sinnlichkeit der Antike, als auch das Ideal oder die Utopie einer neuen Immanenz. Fausts Begehren richtet sich auf die Erfahrung der Präsenz der heroischen Antike, die zugleich eine neue Einheit des Wissens und seine Identität mit der Welt mit sich brächte und damit die Archive transzendieren könnte. Sein Wunsch geht damit über eine rein ästhetische Erfahrung weit hinaus. Wenn er später als nordisch-germanischer Feldherr Griechenland unter seine Vasallen neu verteilt und im fünften Akt als Kolonisator von der Neugründung eines Staates träumt, dann ist in diesen Handlungen die ästhetische Deutung der Mythologie überschritten und politisiert worden. Es gibt also gewisse Parallelen zur ›neuen‹ Mythologie der Romantik. Beiden, Faust und dem oder den Verfassern des Systemprogramms, geht es um eine Neubegründung des Staats und des gemeinschaftlichen Lebens aus dem Geist der ästhetischen Erfahrung. Es ist nämlich unbestreitbar die Begegnung mit der Antike, die Fausts Sehnsucht nach Helena und darüber hinaus seine politischen Projekte auslöst. Der wesentliche Unterschied zwischen Faust und der neuen Mythologie besteht darin, daß Faust die Reaktivierung eines verlorenen Idealzustandes begehrt, nämlich die Wiederkehr der mythischen Antike und nicht auf eine allmähliche Entstehung des neuen Zusammenhangs aller
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Achilles und Orpheus werden explizit genannt (Orpheus in V. 7493 von Manto), Admetos implizit durch die Nennung Pheräs (V. 7435), dessen Herrscher er gewesen sein soll.
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mit allen aus dem Geist der modernen Zeit warten möchte. Gleichwohl wird mit Fausts Begehren die im mythologischen Diskurszusammenhang von 1800 stets präsente Remythisierungsoption aktiviert und kontrastierend dem Chironischen Modell der Differenz gegenübergestellt. Einerseits wird so durch Chiron die Differenz zur mythischen Einheit durch Rekurs auf die mythologische Wissenschaft bezeichnet, andererseits führt Faust ein neues mythisches Identitätsbegehren in den Text ein. Diese Spannung von Identitätsbegehren und Differenzbewußtsein prägt den Fortgang des Dramas, und zwar besonders den Helena-Akt. Doch vor der Analyse der Helenafigur werden noch zwei weitere Optionen der fiktionsimmanenten Mythenverwendung in der »Klassischen Walpurgisnacht« untersucht: das Modell einer rhetorischen, exemplarischen Verwendung der Mythen und der Ritus als Form einer Partizipation an der mythischen Vergangenheit durch Erinnerung.
4. Die fiktionsimmanente Mythenverwendung Wie Chiron bringt auch das restliche Personal der »Klassischen Walpurgisnacht« die Mythen so zur Schau, wie es jeweils benötigt wird. Dabei greifen die Figuren auf die Mythen zurück, um durch Erzählung und Deutung ein Modell für das eigene Leben zufinden. Der Umgang der Figuren mit den Mythen läßt sich als Arbeit am Mythos im Sinn Hans Blumenbergs deuten. Die Analyse dieser Arbeit am Mythos hat bei Blumenberg ihre Begründung in einer Theorie der Unbegrifflichkeit, die er im Zusammenhang mit seiner Metapherntheorie entfaltete,173 die aber auch für das Verständnis des Mythos von Bedeutung ist, da sich für Blumenberg Mythos und Metapher nur genetisch, nicht aber in ihrer Funktion unterscheiden.174 Diese Funktion besteht darin, für theoretisch und diskursiv nicht näher zu erläuternde Fragen einzustehen: Was sich dem Anspruch auf Letztbegründbarkeit entzieht, findet sein Medium der Darstellung in Mythen und Metaphern als Figurationen des Unbegrifflichen. Durch die Unrepräsentierbarkeit des Ganzen bleibt bei Blumenberg der Mensch auf die Arbeit an Mythen und Metaphern verwiesen, die dort, wo Begriffe und Theorien versagen, Modelle der Lebensführung bereitstellen. Das Unbegriffliche, der offene Horizont, das irrepräsentable Ganze fin-
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Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a.M. 1998, und das Kapitel »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit«. In: ders., Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (1979). Frankfurt a.M. 1997. Vgl. Blumenberg: Metaphorologie, S. 112: »Der Unterschied zwischen Mythos und ›absoluter Metapher‹ wäre hier nur ein genetischer: der Mythos trägt die Sanktion seiner uralt-unergründbaren Herkunft, seiner göttlichen oder inspirativen Verbürgtheit, während die Metapher durchaus als Fiktion auftreten darf und sich nur dadurch auszuweisen hat, daß sie eine Möglichkeit des Verstehens ablesbar macht.«
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det in der Bezugnahme auf vorfindliche Mythen und Metaphern eine Deutung und Darstellung, die zwar nicht die Stringenz und das Begründungspotential einer Ethik besitzt, aber dennoch das Leben orientieren kann. Der Begriff der Bedeutsamkeit, mit dem Blumenberg die besondere Leistung des Mythos beschreibt, bezieht sich auf das endliche Subjekt, das sich in seiner Endlichkeit erkennt und sich in der kulturellen und geschichtlichen Welt befindet, die sich nicht objektivieren und exakt berechnen läßt. Das Subjekt der Bedeutsamkeit ist demnach nicht das Subjekt der exakten Wissenschaften und kein extramundanes, zeitloses oder transzendentes Subjekt, sondern das endliche, in die Welt eingeschlossene, sich als sterblich und begrenzt erfahrene Subjekt der Lebenswelt.175 Dabei stellen Subjekte Bedeutsamkeit nicht her, sie ist ein der »Willkür entzogener Vorgang«,176 weil die Ausstattung der indifferenten Welt mit Prägnanz, die Besetzung bloßer Wahrscheinlichkeit mit Zonen der Vertrautheit, der Ehrfurcht, des Schreckens immer schon begonnen hat. Die Bedeutsamkeit der Welt war gegeben, bevor sie als Praxis oder gar Performanzeffekt beschreibbar geworden ist. Und die Dekonstruktion von Bedeutsamkeiten ist dann nur eine Verschiebung und Umbesetzung, eine Arbeit am Mythos, die im Horizont von Bedeutsamkeit verbleibt, soll sie den Menschen überhaupt etwas zu sagen haben. Mythen eignen sich zur Konstitution von Bedeutsamkeit deshalb so gut, weil sie gleichzeitig konstant und variabel sind. Man findet Mythen immer schon vor und knüpft an sie an. Damit ist ein Maß an Bedeutsamkeit gegeben, das dann in der individuellen Umschrift verschoben und bearbeitet, aber eben nicht willkürlich erzeugt wird. Dies erklärt, warum im Verlauf der Rezeption von Mythen jeweils bestimmte Elemente eines Mythos hervorgehoben oder sogar hinzuerfunden oder aber vergessen oder ausgeblendet werden. In der Bearbeitung des Mythos erschafft sich das menschliche Bewußtsein seinen unbegrifflichen Ausdruck, der es ihm gestattet an die Stelle des Ganzen eine Erzählung zu setzen, die einerseits wiedererkennbar ist, andererseits stets auch neue Elemente, Verschiebungen und damit neuen Sinn enthält. Bedeutsamkeit als Ausstattung der Welt mit Prägnanz, wo anders nur die Indifferenz unendlicher Möglichkeiten herrschen würde, prägt auch den Umgang der Figuren der »Klassischen Walpurgisnacht« mit der Mythologie. An der Art, wie sie bestimmte Mythen benutzen, läßt sich die Partikularität erkennen, mit der man sich in der Welt des Faust II abzufinden hat, eine Partikularität die zu verschiedenen ›Lebensstilen‹ oder ›Lebenskünsten‹ führt, die sich im mythischen Bild deuten und entwickeln. Faßbar wird dieses Verhältnis des individuellen Lebens zur Unbestimmtheit seiner Möglichkeiten und Gefahren an der Metaphorik des Meeres und der 175
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Vgl. Arbeit am Mythos, S. 77: »Bedeutsamkeit ist bezogen auf Endlichkeit. Sie entsteht unter dem Diktat des Verzichts auf das Vogliamo tutto, das der geheime Antrieb zum Unmöglichen bleibt.« Ebd.
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Woge, die das ganze Drama durchzieht und in der »Klassischen Walpurgisnacht« mit den Mythen von Schiffahrt und Schiffsbrüchen verbunden wird. Das Meer und sein ewiges Wellenspiel fungiert im Faust II als Metapher, mit der die Figuren in höchst ambivalenter Weise umgehen. Erichtho z.B. benutzt das Bild der Woge, um die sinnlose Bewegung der Zeit darzustellen, die alle historischen Anstrengungen des Menschen vernichtet – ein Bild der vanitas also, das sie auf die befeindeten Lager anwendet: Überbleicht erscheint mir schon Von grauer Zelten Woge weit das Tal dahin, [...]. Wie oft schon wiederholt sich’s! Wird sich immerfort In’s Ewige wiederholen...« (Vv. 7009–13).
In ähnlicher Weise erscheint später im vierten Akt die Wellenmetapher als Negation der Geschichte. Angesichts der endlosen Wiederholungen der Natur gerät Faust in Verzweiflung. Er berichtet zunächst von seiner Beobachtung der Natur: Mein Auge war aufs hohe Meer gezogen, Es schwoll empor, sich in sich selbst zu türmen. Dann ließ es nach und schüttete die Wogen, Des flachen Ufers Breite zu bestürmen. Und das verdroß mich. (Vv. 10 198–10 2002)
Die Wogen erscheinen als Metapher für die Unendlichkeit der Zeit in ihrer Repetition, die alle Versuche der Beherrschung und Landnahme durchstreicht. Im stets neuen vergeblichen Ansturm und Rückzug der Welle erkennt Faust »zwecklose Kraft, unbändiger Elemente« (10 219) und fühlt sich davon »beängstigt« (vgl. 10 218). Mit der Angst vor der Sinnlosigkeit ist eine Grundsituation der menschlichen Existenz angesprochen, die vom Meer negiert erscheint, weil es allen Versuchen, Fuß zu fassen, Bedeutung und Sinn zu setzen, widersteht. Fausts Neulandgewinnungsprogramm hat hierin seinen letzten Grund: Fortschritt und Kultur erscheinen als Ent-Ängstigung und Depotenzierung der Übermacht der Natur. Es verwundert daher nicht, daß Faust bei seiner Wanderung durch Thessalien immer auch Heroen vor Augen hat, die mit der Seefahrt verbunden sind. Auch Helenas Mythos ist damit verknüpft, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Nach der Nennung des Ödipus ist Odysseus der zweite von Faust erwähnte mythische Held.177 Mit Ödipus und Odysseus und den dazugehörigen Ungeheuern der Sphingen und Sire-
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Vgl. Vv. 7185f.: »Auf Sphinxe bezüglich Vor solchen hat eins Ödipus gestanden; / Auf Sirenen bezüglich: Vor solchen krümmte sich Ulyß in hänfnen Banden.«
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nen werden die Heroen als Exempel menschlicher Autonomie und Distanzierung von Schrecken eingeführt. Damit akzentuiert Faust an ihnen zwar wesentliche Züge, er läßt allerdings gerade die problematischen Seiten außer acht. Das von ihm genutzte und ausgearbeitete mythologische Potential erlaubt ihm, Vorbilder für menschliche Selbstbehauptung zu finden, die ihn in seinem eigenen Kampf gegen die gleichgültige und wie das Meer alles verschlingende Zeit bestätigen können. Mit der Besatzung der Argos führt Chiron, der offensichtlich als Landbewohner, Arzt und Pädagoge auf der Seite der Menschen steht, ein weiteres Exemplum seefahrender Helden an. Das Schiff wird ihm zum Sinnbild für die Gemeinschaft von Individuen, die in der Zusammenarbeit und durch ihre je einzelnen Tugenden in der Lage sind, die Gefahr des Meeres zu überwinden, das »heilge Schiff durch Klipp‹ und Strand« (V. 7378) zu bringen: »Gesellig nur läßt sich Gefahr erproben: / Wenn einer wirkt, die andern alle loben.« (Vv. 7379f.) In der Tradition exemplarischer Mythendeutung wird die Argos und ihre Besatzung zum Beispiel für gemeinschaftliches Wirken unter der Führung Jasons, der nicht als Herrscher und Fürst, sondern als Anführer einer Schar von Gleichrangigen erscheint.178 Chiron arbeitet am Argonautenmythos die Form der Geselligkeit heraus, während Faust nach dem hervorragenden einzelnen fragt: nach Herkules, der gleichfalls an der Fahrt der Argos teilgenommen hat.179 Aus Sicht der Landbewohner sind diese seefahrenden und monsterüberwindenden Heroen, sind Odysseus, Ödipus und die Argonauten also Vorbilder, weil sie mit ihrer individuellen Vollkommenheit oder durch ihr gemeinschaftliches Zusammenwirken über den Schrecken des Meeres und die Indifferenz des Natürlichen siegten. Es wundert daher nicht, daß sich das aus Sicht der Meeresbewohner ganz anders darstellt. Die Wesen des Meeres leben nämlich vom Schiffbruch. So rufen gleich zu Beginn die Nereiden und Tritonen ihren Dank an die Sirenen: Seht! Wie wir im Hochentzücken Uns mit goldenen Ketten schmücken, Auch zu Kron’ und Edelsteinen Spang- und Gürtelschmuck vereinen. Alles das ist eure Frucht. Schätze, scheiternd hier verschlungen, Habt ihr uns herangesungen, Ihr Dämonen unsrer Bucht. (Vv. 8050–8057)
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Vgl. Vv. 7369–7378. Zum Topos des Argonautenschiffs vgl. Ernst Robert Curtius: Das Schiff der Argonauten. In: ders., Kritische Essays, S. 412–437. Vgl. V. 7381.
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Die menschlich-autonome Perspektive wird hier durchgestrichen, auch wenn die Schiffbrüchigen später von den Doriden gerettet werden (Vv. 8391ff.). Das wirft auf die Debatte zwischen Thales und Anaxagoras ein neues Licht. Der Weg des Homunkulus zum Meer ist keineswegs der Weg, der auch dem Menschen angemessen ist. Zwischen den Extremen des Erdbebens und des offenen Meers hat er seinen Ort in der Mitte, in der Idylle im Schilf, wo Faust sich befand. Die Wahl des Erdbebenortes und des Meers hängt nicht von einer größeren Lebensfreundlichkeit des Wassers ab, sondern von der Lebensform, die man gewählt hat. Das Meer als solches scheint kaum weniger bedrohlich zu sein als das Land, aber die Feier der Meeresbewohner verleiht ihm seinen ästhetischen Glanz. Wie wenig die Felsbuchtenszene dem allgemeinen Relativismus entkommt, beweist auch der Umgang des Nereus mit dem Odysseusmythos. Es ist aus seiner Sicht sicher sehr einleuchtend, der Darstellung des bedrohlichen Meers in der Odyssee eine eigene Erzählung entgegenzusetzen. Er kehrt die Deutung der Heroen durch Faust und Chiron in ihr Gegenteil um. Nicht Vorbilder menschlicher Autonomie, sondern Sinnbilder menschlicher Unklugheit und Verbohrtheit sieht er in ihnen: Was Rat! Hat Rat bei Menschen je gegolten? Ein kluges Wort erstarrt im harten Ohr. So oft auch Tat sich grimmig selbst gescholten, Bleibt doch das Volk selbstwillig wie zuvor. (Vv. 8106–09)
Bringen Erichtho und Faust die geschichtliche Vergeblichkeit und die Indifferenz der Zeit gegenüber dem Menschen im Bild der Woge mit dem Meer in Verbindung, so arbeiten die Meeresbewohner in anderer Weise am Mythos: für sie ist der Wellenschlag, der sich zyklisch vollzieht, die Bedingung möglicher Wiederkehr des Verlorenen, Verborgenen und Vergangenen. Dagegen führt der Eigenwille der Menschen, die der zyklischen Zeit entkommen wollen, zur Zerstörung. Nereus erinnert daher an den Trojanischen Krieg (vgl. Vv. 8110–8121), bevor er auf Odysseus zu sprechen kommt: Ulyssen auch! sagt’ ich ihm nicht voraus Der Circe Listen, des Cyclopen Graus? Das Zaudern sein, der Seinen leichten Sinn, Und was nicht alles? bracht ihm das Gewinn? Bis vielgeschaukelt ihn, doch spät genug, Der Woge Gunst an gastlich Ufer trug. (Vv. 8122–27)
Diese Verse veranschaulichen den radikalen mythopoetischen Perspektivismus des Faust II. Die Woge wird von Nereus zum Inbegriff des Rettenden, Lebensfreundlichen stilisiert, dagegen ist aus dem vorbildlichen Seefahrer, den Faust vor Augen hat, ein selbstgefälliger Mensch geworden. Dabei ist es interessant, diese Stelle, an der Nereus auf die Abreise von Kalypso, das 181
Scheitern seines Floßes und die Ankunft bei den Phaiaken anspielt, mit der Homerischen Darstellung zu vergleichen. Denn dort war es nicht der »Woge Gunst«, die ihn rettete, sondern Leukothea, die ihm ihren Schleier reicht, als das Meer ihn zu vernichten droht. Von der »Woge« heißt es in der zeitgenössischen Voßischen Übersetzung: [...D]a schlug die entsetzliche Woge von oben Hochherdrohend herab, daß im Wirbel das Floß sich herumriß; Warf ihn weit vom Floß in die See, es fuhr ihm das Steuer Aus den Händen fort und mit einmal stürzte der Mastbaum Krachend hinab vor der Wut der fürchterlich sausenden Windsbraut. Weithin flog in die Wogen die Rah’ und das flatternde Segel.180
Die Verwendung des Odysseus-Mythos durch Nereus hält Homers poetische Darstellung palimpsestartig präsent. Das Meer stellt in der Odyssee den feindlichen Ort, das bedrohliche Element dar, das man scheut, sofern sich das vermeiden läßt. Die Bewohner des Meers im Faust II stellen dem einen Begriff des Lebens entgegen, der auf einen biologischen Prozeß verweist: »Dem Leben frommt die Welle besser« behauptet Proteus (V. 8315) und Thales schließt sich dieser Auffassung an, als er Homunkulus dazu auffordert, im Meer »die Schöpfung [von vorn] anzufangen« (V. 8322). Den Evolutionsprozeß beschreibt er folgendermaßen: »Da regst du dich nach ewigen Normen, / Durch tausend abertausend Formen, / Und bis zum Menschen hast du Zeit.« (Vv. 8324–26) Das Leben wird als Prozeß der Veränderung und Evolution aufgefaßt, der jeder Individuation vorausgeht und diese negiert. Dem Meer wird Ewigkeit zugesprochen (V. 8316), weil Vergänglichkeit eine Eigenschaft ist, die dem Individuum und nicht dem biologischen Leben selbst zuzusprechen ist. Diesem naturalen Lebensbegriff wird der Begriff des Kulturellen im Sinne des Gewordenen, Fertigen und daher Vergänglichen gegenübergestellt. Dies geschieht in den Worten des Proteus, der die Kunst der Telchinen mit Worten verspottet, in denen er die Überlegenheit des bloßen naturalen Lebens über das von Menschen gemachte Werk behauptet: Laß du sie singen, laß sie prahlen! Der Sonne heiligen Lebestrahlen Sind tote Werke nur ein Spaß. Das bildet, schmelzend, unverdrossen; Und haben sie’s in Erz gegossen Dann denken sie es wäre was. Was ist’s zuletzt mit diesen Stolzen? Die Götterbilder standen groß, – Zerstörte sie ein Erdestoß;
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Homeros: Odyssee, 5, Vv. 313–318. Zit. nach der Ausgabe Homeros: ’Οδσσεια / Odyssee. Übers. von Johann Heinrich Voß. Augsburg 1994.
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Längst sind sie wieder eingeschmolzen. Das Erdetreiben, wie’s auch sei, Ist immer doch nur Plackerei; Dem Leben frommt die Welle besser; Dich trägt ins ewige Gewässer Proteus-Delphin. (Vv. 8303–17)
Wieder begegnet man dem für die »Klassische Walpurgisnacht« so typischen Relativismus. Die Verspottung des Kunstwerks und der Heroen durch die Meereswesen gilt der menschlich-kulturellen Distanzierungsleistung von der Natur. Kulturheroen wie Odysseus, Herkules oder die Argonauten stehen für das individuelle Leben ein, das sich dem biologischen Prozeß durch List, Klugheit und Handlungsfreiheit zu entziehen vermag. Während diese Individualisierungsleistung für Faust vorbildlich ist, wird sie von Thales, Proteus und Nereus spöttisch betrachtet. Die Standpunkte bleiben nebeneinander bestehen, ohne daß es zu einer Lösung des Problems käme. Allerdings kommt es zur Darstellung des Problems: In der mythopoetischen Arbeit an den Seefahrergeschichten läßt sich ablesen, wie die Problematik von den Figuren des Faust II jeweils gesehen und bewertet wird. Das »Zur-Schau-bringen« des Mythos, von dem Chiron sprach, wird damit vom dramatischen Text selber vorgespielt, der demonstriert, daß die mythologische Darstellung als Erzeugung von Bedeutsamkeit aus jeweils individuellen Perspektiven in der Bearbeitung eines überindividuellen, kollektiven Mythengedächtnisses besteht. Proteus’ Ablehnung der Telchinenplastik und seine Aufwertung des Wassers unterstreicht nicht nur den biologischen Gegensatz von Individuation und Evolution. Mit der Plastik und dem Wasserfest stehen sich auch zwei unterschiedliche Medien und Repräsentationsweisen gegenüber. Götterbild und Wasserritus verhalten sich nicht wie Kunst und Natur,181 sondern wie zwei Versuche, das Göttliche zu formen. Der Plastik wird die Erstarrung des Abgebildeten vorgeworfen. Dem steht das Fest als Medium der rituellen Vergegenwärtigung des Lebensprozesses, aber auch als Selbstästhetisierung der Meereswesen gegenüber. Beide Medien, Plastik und Fest, dienen dem Gedächtnis des Göttlichen. Die Plastik hält es bildlich fest, indem sie beansprucht, sinnliche Repräsentation des Sonnengottes zu sein. Von diesem heißt es:
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Vgl. dagegen Katharina Mommsen: Natur und Fabelreich in Faust II. Berlin 1968, die den Gegensatz von ästhetischem Schein und natürlichem Sein als grundlegend für die Poetik des Faust II und für die Gegenüberstellung der »Klassischen Walpurgisnacht« mit dem dritten Akt ansieht: »Dem künstlichen Werden Helenas, ihrem schnellen Weg zu einer von Magie bewirkten und rasch vergänglichen phantasmagorischen Existenz steht das langsame natürliche Heranwachsen des Homunculus zu einem dauerhaften realen Sein als Kontrast gegenüber. (Ebd., S. 183.) Dennoch: Das ›reale Sein‹ wird nur im Medium der rituellen Inszenierung verfügbar. Daher kann nicht von einem ontologischen, sondern nur von einem ästhetischen Gegensatz unterschiedlicher Repräsentationsformen gesprochen werden.
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Da schaut sich der Hohe in hundert Gebilden, Als Jüngling, als Riesen, den großen, den milden. Wir ersten wir waren’s, die Göttergewalt Aufstellten in würdiger Menschengestalt. (Vv. 8299–302)
Die Repräsentation im Medium der Plastik hat die Eigenart, daß die Erinnerung an die Gegenwart des Göttlichen im Bild zunehmend verblaßt. Das kultische Werk wird damit zum Kunstwerk, degradiert das Göttliche zum Anschauungsobjekt, es wirkt am Ende immer distanzierend. Darum kann Proteus diesen Bildern vorwerfen: »Der Sonne heiligen Lebestrahlen / Sind tote Werke nur ein Spaß.« (Vv. 8304f.) Helios (V. 8285), dem die Statuen gewidmet sind, erkennt sich also nicht in ihnen, sie sind, so sieht es Proteus, ein Kunstspaß, der die Differenz zum Sinn, der einmal darin war oder darin wohnen sollte, nicht mehr schließen kann. Dagegen steht das Fest als alternatives Erinnerungsmedium. Das Wasser fungiert als poetische Metapher dieses Mediums, weil es im Gegensatz zur Plastik als flüssig zu verstehen ist: Es besitzt seine Form nur für den Augenblick und daher kann die Form auch nicht erstarren. So verhindert das Fest seinen Übergang in die Sphäre der musealen Kunstwerke. Das Fest ist Ereignis, man muß dabeigewesen sein oder hat es nie erlebt. Es erfordert leibliche Präsenz. Eine ähnliche Poetik hat Goethe in dem Divangedicht Lied und Gebilde formuliert, das an dieser Stelle ausführlich zitiert sei: Mag der Grieche seinen Thon Zu Gestalten drücken, An der eignen Hände Sohn Steigern sein Entzücken; Aber uns ist wonnereich In den Euphrat greifen, Und im flüßgen Element Hin und wieder schweifen. Löscht ich so der Seele Brand Lied es wird erschallen; Schöpft des Dichters reine Hand Wasser wird sich ballen.182
Das Gedicht deutet einen Wechsel vom Paradigma der antiken Plastik zu einer Form der musikalisch vermittelten Dichtung an, die im Orient verortet wird: dem Lied, das nur in seiner Verwirklichung als Gesang zur Vollendung kommt – also wie das Fest ein flüchtiges Ereignis darstellt. Auch hier dient
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FA I, 3/1, S. 21.
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das Wasser wie in der »Klassischen Walpurgisnacht« als poetologische Metapher. Das Wasser des Euphrat ist doppelt codiert: Es verweist auf die Heimat der persischen und arabischen Dichter, denen dieses lyrische Werk gewidmet ist, und zugleich auf die patriarchalen Ursprünge der Orientbegeisterung Goethes, nämlich auf die heiligen Texte der Bibel, und zwar in einem doppelten Sinn: Einerseits ist das Wasser metonymisch mit dem Begriff der Quelle verbunden, und das Schöpfen dichterischer Worte signifiziert daher auch das Schöpfen aus den orientalischen Texten183 – biblischen wie islamischen –, andererseits aber kann man auch an die biblischen Gesänge denken, die an den Wassern des Euphrat entstanden sind bzw. die auf das babylonische Exil referieren und sich der Präsenz Gottes vergewissern. Im Verweis auf seinen doppelten Ursprung vereint das Gedicht verschiedene übereinander ruhende Schichten des Gedächtnisses: Die heilige Poesie der Hebräer und die persischarabische Lyrik. Im Akt der Schöpfung vergegenwärtigt es diese Ursprünge. Zugleich ist dieser Schöpfungsakt auch rituell zu denken, weil das sich ballende Wasser, das mit dem Wort des Dichters assoziiert wird, als eine imitatio der göttlichen Schöpfung, wie sie in Genesis 1 berichtet wird, aufgefaßt werden muß. Das Gedicht legt also den Gedanken nahe, daß die Wortkunst der Lyrik aus der rituellen Vergegenwärtigung göttlicher Präsenz hervorgegangen ist und somit kultische Elemente enthält, über die sich der kulturelle Verweis auf die verschiedenen intertextuellen Vorbilder lagert. Das Wasser erscheint auch in der »Klassischen Walpurgisnacht« als Metapher für die ästhetische Form des Ritus als einer Form der Partizipation an der mythischen Vergangenheit. Neben den genannten Analogien zwischen Wasser und Fest kommt noch eine weitere ins Spiel. Die bereits untersuchte Wellenmetapher nimmt im Kontext des Ritus eindeutig positive Konnotationen an, denn sie figuriert den Aspekt des Zyklischen, das zum Wesen eines jeden Ritus gehört. Riten bewegen sich von Wiederholung zu Wiederholung, die innerhalb des Zeitflusses Gipfelpunkte von Aufmerksamkeit errichtet und der Zeit Form und Struktur verleiht.184 Dabei besitzt die Wiederholung durchaus eine paradoxe Struktur: Einerseits ließe sich vermuten, daß die Tatsache der Wiederholung die Einzigkeit des Urbildes dementiert. Was wiederholt werden kann, ist eben nicht einzigartig.185 Andererseits dementiert die Wiederho183
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In den Noten und Abhandlungen legt Goethe selbst einen solchen Bezug auf das Alte Testament und besonders auf die Bücher Mosis nahe: »Denn wie alle unsere Wanderungen im Orient durch die heiligen Schriften veranlaßt worden, so kehren wir immer zu denselben zurück, als den erquicklichsten, obgleich hie und da getrübten, in die Erde sich verbergenden, so dann aber rein und frisch wieder hervorspringenden Quellwassern.« (Ebd., S. 229.) Die Wiederholung ist für Rituale und Riten von grundlegender Bedeutung. Vgl. hierzu Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996, bes. S. 74ff. Zur Unterscheidung von Ritual und Ritus ebd., S. 59: Riten sind »kultische[], im religiösen Zusammenhang vollzogene[] Rituale, die besonders festgelegt sind [...].« Vgl. hierzu Eckhart Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung. Zur Phänomenologie der poetischen Sprache. München 1995, S. 9: »Die Wiederkehr eines Elementes A unter jetzt verän-
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lung aber auch die linear verlaufende leere Zeit, weil in dem Augenblick, in dem ein Wiederholtes wahrgenommen wird, das Bewußtsein dieses als wiedergekehrtes Urbild erkennt.186 Das Urbild kehrt also einerseits nicht zurück, weil es nicht als singuläres Phänomen zurückkehren kann; und es kehrt doch zurück, nämlich als anderes, nicht mehr identisches. Die Frage ist nur, ob man die Aufmerksamkeit auf die Differenz oder auf die Identität richtet, ob man das Urbild im Fluß der Wiederholungen aufgelöst sieht oder nicht.187 Riten jedenfalls binden das Gedächtnis der Teilnehmer an das Urbild.188 In ihrer Eigenschaft als Erinnerungshandlungen repräsentieren die Riten den Ursprung durch Handlungen ihrer Teilnehmer, in die, im Vergleich zum Repräsentierten, die Spuren der Abwesenheit und der Zeit eingeschrieben sind. Ein solches Differenzbewußtsein bezeugt die Darstellung der Galatea. Anders als Helena, die Faust »außer aller Zeit« haben wollte, kehrt Galatea in der Zeit zurück, als ein Ereignis, das zutiefst von dem Bewußtsein des wiederholten Males durchquert wurde. Nur das erklärt das Wissen, das aus den Worten des Nereus spricht, als seine Tochter an ihm vorbeizieht: Vorüber schon, sie ziehen vorüber In kreisenden Schwunges Bewegung; [...] Doch ein einziger Blick ergötzt Daß er das ganze Jahr ersetzt. (Vv. 8426–31)
Das Fest, das im Zeichen der Präsenz Galateas steht, ermöglicht eine vermittelte Teilhabe am Göttlichen. Es gliedert die Zeit (»das ganze Jahr«) in eine erfüllte Zeit des Gedenkens und eine Zeit des Alltags, aber es kann die Kluft zwischen den Zeiten nicht real überbrücken, den Verlust einer mythischen
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derten Kontextbedingungen als AO hebt (in wie auch immer beschreibbarer Weise) den Textfortgang auf und nimmt dem wiederholt auftretenden Element [...] die Einmaligkeit.« Einen solchen Begriff von Wiederholung formuliert etwa Mircea Eliade: Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Reinbek 1966, S. 34: »In dem Maße, in dem eine Handlung (oder ein Gegenstand) eine gewisse Wirklichkeit durch die Wiederholung von urbildhaften Handlungen gewinnt (und dadurch allein gewinnt sie eine solche), werden implicite die profane Zeit, die Dauer und die ›Geschichte‹ aufgehoben; und derjenige, der die exemplarische Handlung ausführt, findet sich in die mythische Epoche versetzt, in der ebendiese vorbildhafte Handlung offenbart worden ist.« Eben dies beschreibt die Intention der Rituale. In seiner Untersuchung zur Wiederholung als Phänomen der poetischen Sprache betont Lobsien das Moment der Wahl, das jeden Leser freistellt, eher auf die Identität oder eher auf die Differenz zu achten (vgl: Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 28). Zur Funktion der Erinnerung im Ritual / Ritus vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 56–59: »Feste und Riten sorgen im Regelmaß ihrer Wiederkehr für die Vermittlung und Weitergabe des identitätssichernden Wissens und damit für die Reproduktion der kulturellen Identität.« (Ebd., S. 57.)
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Präsenz nicht heilen.189 Verstärkt wird das Bewußtsein einer Kluft zwischen dem ästhetischen Charakter des Festes und dem Bezugspunkt der als solcher nicht wiederholbaren Vergangenheit auch durch den Bildcharakter Galateas. Ähnlich wie Helena sich später als Bild, nämlich als Idol, erkennen wird, sprechen die Sirenen Galatea als Bild an: Bringet, zärtliche Doriden, Galatee, der Mutter Bild: Ernst, den Göttern gleich zu schauen, Würdiger Unsterblichkeit, Doch wie holde Menschenfrauen Lockender Anmutigkeit. (Vv. 8385–90)
Galatea als Bild fungiert demnach nicht mehr als symbolischer Kultgegenstand, in dessen Darstellung das göttliche Wesen der Venus als innewohnend zu denken wäre.190 Die Abwesenheit des Göttlichen ist Nereus und den Sirenen bewußt. Galatea erscheint als ein ästhetisches Phänomen, ein Medium, das zwischen Göttlichem und Menschlichem vermittelt, ohne mit einer der beiden Sphären identisch zu sein. Sie besitzt damit eine doppelte Verweisstruktur. Einerseits stellt ihre Ankunft den Mittelpunkt des Festes als »seltne[s] Abenteuer« (V. 8483) dar und verkörpert die rituelle Wiederkehr der mythischen Zeit im Sinne einer neuen Einheit der ganzen Welt – sinnbildlich ausgedrückt in der abschließenden Anrufung des Eros und der vier Elemente (Vv. 8479–8487). Andererseits besitzt sie als Bild dieselbe Übergängigkeit und Medialität wie das Wasser, ist ihr also das Wissen um die Differenz zum wahren Mythos eingeschrieben. Das Fest in den »Felsbuchten« ist eben nur eine Form der Inszenierung von Präsenz – ein Gebrauch von Mythologie. Dies wird allerdings erst durch das Nebeneinander der verschiedenen Deutungen der Wirklichkeit – etwa dem Odysseusbild des Nereus und demjenigen Fausts erkennbar. Der Text kennzeichnet die Kontingenz der Einzelstandpunkte, zeigt, daß die Geschlossenheit der Weltbilder nur möglich ist, weil die Wandlungen und Metamorphosen des Sinns der mythischen Bilder von den dramatischen Personen nicht wahrgenommen werden. Dieser Beob-
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Zur Gliederung der Zeit durch das Fest vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 57: »Durch das Fest als primäre Organisationsform des kulturellen Gedächtnisses gliedert sich die Zeitform schriftloser Gesellschaften in Alltagszeit und Festzeit.« Dies hat bereits Karl Kerényi hervorgehoben, allerdings platonisierend gedeutet: »Die Olympier haben sich aus ihren Heiligtümern zurückgezogen: ihre Idee leuchtet durch ihre Eidola, die in der Natur verwurzelten, nicht zu verscheuchenden Eidola, hindurch.« Karl Kerényi: Das Ägäische Fest. Die Meergötterszene in Goethes ›Faust II‹. Eine mythologische Studie. In: Aufsätze zu Goethes Faust II. Hg. von Werner Keller. Darmstadt 1991, S. 160–189, hier S. 174.
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achtung der Beobachter steht eine Selbstbeobachtung des Textes gegenüber. Betrachtet man ein weiteres Mal Chirons zentrale Aussage, der Dichter bringe die mythologische Frau, wie er es brauche, zur Schau, dann kann man darin eine solche Selbstbeobachtung des Textes erkennen. Nicht nur bezeichnet Chiron damit seine eigene mythopoetische Praxis, sondern ebenso die Textverfahren, nämlich die Weise, in der er, zwar nicht als mythologische Frau, doch immerhin als mythologische Figur, im Faust II zur Schau gebracht wird. Er ist daher nicht nur Subjekt, sondern auch Objekt archivpoetischer Praxis, an dem ablesbar wird, daß sich die dramatische Welt im Wechselspiel selbst- und fremdreferentieller Beobachtungen konstituiert, das durch die Transformation von Wissen zu Poesie möglich wird. Poesie wird damit zu Beobachtungswissen. So entsteht eine Spannung zwischen dem Begehren einzelner Figuren, die eine Schließung der Differenzen herbeiführen und durch die Rückgewinnung der mythischen Identität des Bewußtseins mit der Welt die Beobachtung zweiter Ordnung verschwinden lassen wollen, und der Beobachtung dieses Begehrens durch den Text. Diese Spannung läßt sich nicht aufheben, sie wird vielmehr prozessiert. Die Figur Helenas, das wird abschließend zu zeigen sein, verkörpert diese Spannung, sie ist gleichzeitig Signifikant des historischphilologischen Wissens, da sie als Archiv ihrer Rezeptionsgeschichte erscheint, und Signifikant des Begehrens nach mythischer Identität für Faust. Obwohl keine begriffliche Lösung des Problems gefunden wird, läßt es sich dramatisch vergegenwärtigen: Die Dichtung wird zum Experimentierfeld, auf dem die Spannungen der Epoche ausgetragen werden können.
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V. Die Immanenz des Schönen und der Versuch ihrer Überwindung: Helena
1. Die Autonomie des Trugbilds Fausts Begehren, Helena wiederzugewinnen, zielt auf eine Überwindung des modernen Weltverhältnisses. Es erfordert eine zweifache Transgression: Erstens die Transgression des historischen Denkens und zweitens das Ausblenden der Beobachtung zweiter Ordnung, die durch die Geister der »Klassischen Walpurgisnacht« ins Spiel gebracht ist. Helena, auf die sich das Begehren richtet, steht wie Galatea im Spannungsfeld von Textreflexivität und deren Transgression. Einerseits erscheint die schöne Frau als radikal historisiert, sofern sie aus der philologischen Perspektive Chirons betrachtet und das mythopoetische Verfahren der Dichter an ihrem Beispiel thematisiert wird. Sie besitzt als Rezeptionsphänomen nur noch ästhetische Realität. Darum erscheint sie im Faust II immer im Horizont der Kunst- und Literaturgeschichte, die das Drama Revue passieren läßt. Andererseits handelt es sich bei Fausts Wunsch, Helena »ins Leben zu ziehen«, darum, gegen den Transzendenzverlust der ästhetischen Produktion zu einer neuen Einheit des Sinns zu gelangen, die dem Schein eine neue Realität und den Handlungen des Lebens eine mythisch fundierte Begründung geben könnte. Dieses Spannungsfeld von Ent- und Remythisierung, von Historisierung und Transzendierung der Geschichte strukturiert die gesamte Helenahandlung vom Rittersaal bis zum Ende des dritten Akts. Fausts erster Versuch einer Reanimierung Helenas führt ihn zu den Müttern. Was Goethe mit seinem Müttermythos auch gemeint haben mag, sicher ist, daß Faust von dort die Instrumente mitbringt, die er für sein magisches Spektakel am Kaiserhof benötigt. Neben dem Dreifuß handelt es sich dabei um die »Bilder aller Kreatur« (V. 6289), von denen Faust später folgendes berichtet: Euer Haupt umschweben Des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben. Was einmal war, in allem Glanz und Schein, Es regt sich dort; denn es will ewig sein. Und ihr verteilt es, allgewaltige Mächte, Zum Zelt des Tages, zum Gewölb der Nächte. Die einen faßt des Lebens holder Lauf, Die andern sucht der kühne Magier auf; In reicher Spende läßt er, voll Vertrauen, Was jeder wünscht, das Wunderwürdige schauen. (Vv. 6429–6438).
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Bei der Interpretation dieser Stelle sowie auch der vorhergehenden Beschreibung der Mütter durch Mephistopheles muß man sich zunächst vor Augen halten, daß es sich bei der Beschwörung von Paris und Helena um eine multimediale Inszenierung handelt. Die magische Handlung wird als Illusion ausgewiesen, die mit Hilfe der Laterna magica entsteht: Vom Dreifuß steigt Weihrauchdampf empor (V. 6473), auf den die Bilder geworfen werden (vgl. Vv. 6439f.). Musik (V. 6444) und Düfte (V. 6473) ergänzen die optische Inszenierung zu einem fast alle Sinne einbeziehenden Spektakel. Goethe macht dadurch deutlich, daß die Magie dieser Szene nichts mit einer wahrhaften Totenbeschwörung zu tun hat, sondern unter Zuhilfenahmen technischer Medien entsteht. Die Verwendung eines esoterischen Vokabulars durch Mephistopheles und Faust sowie dessen Verkleidung als Priester erfüllen im Rahmen der Karnevalsfeier am Kaiserhof eine doppelte Funktion. Für das fiktive Publikum bleibt der Eindruck einer Beschwörung möglicherweise erhalten,1 das reale Publikum und die Leser des Dramentextes verfügen jedoch über zusätzliche Informationen, die die Maskerade durchsichtig werden lassen. So richtet sich Mephistopheles, der aus dem Souffleurloch auftaucht (Regieanweisung nach V. 6398) offensichtlich an das reale Publikum bzw. den Leser: Er spricht a parte und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache der Inszenierung (vgl. auch die Erwähnung des Proszeniums nach V. 6420). Weitere Signale kommen hinzu, die Fausts Glaubwürdigkeit in Frage stellen. So deckt die Anmerkung nach 6426, die seine eben zitierte Deklamation mit dem Adjektiv »großartig« kennzeichnet, die komischen Züge seines Handelns ebenso auf wie die Rede des Astrologen (also des Mephistopheles), in der Faust als »Wundermann« bezeichnet wird. Auch die intertextuellen Referenzen verdeutlichen den zweifelhaften Charakter der Szene. Die Laterna magica als beliebtes Instrument für okkultistischen Betrug und als Vorform des Kinos war Goethe nicht nur durch Beschreibungen phantasmagorischer Aufführungen bekannt.2 Auch in Schillers Geisterseher fand er die Geisterbeschwörung des Sizilianers (der an den bekannten Betrüger Cagliostro erinnert) in einer Weise beschrieben, die der Szene im Faust nicht unähnlich ist.3 Dort wird mit Hilfe der magischen Laterne ein Geist zitiert, der zunächst Schrecken erregt, bevor eine genaue Beschreibung der technischen Maßnahmen den Betrug vollständig aufklärt.4 Schließlich sei noch an
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Es ist allerdings ebenso gut denkbar, daß das höfische Publikum die Laterna magica als solche genießt. Nichts im Text verbietet diese Annahme. Vgl. hierzu die Nachweise bei Schöne, FA I, 7/2, S. 479ff. Vgl. zur Laterna magica auch Helmut Schanze: Goethes Dramatik, S. 179ff. Vgl. Friedrich Schiller: Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von O**. In: ders., Werke. Nationalausgabe. Bd. XVI. Hg. von Julius Petersen und Hermann Schneider, Weimar 1954, S. 45–184, hier S. 60ff. Ebd., S. 69ff.
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einen anderen Referenztext erinnert, nämlich an Goethes Groß-Cophta. Ihn verbindet mit Schillers Erzählung die Figur des Cagliostro und mit Faust II die Tatsache, daß hier wie dort ein aus der Tiefe aufsteigender magischer Dreifuß zum Instrument eines Betrugsmanövers wird.5 Trotz der entlarvenden Elemente wäre es falsch, den Müttermythos und die Beschwörung nur als Satire auf den Okkultismus des 18. Jahrhunderts zu lesen. Die Mütter stellen nämlich ein Archiv der Vergangenheit dar.6 Sie bewahren Bilder des »längst nicht mehr Vorhandnen« (V. 6278). Es heißt von ihnen: »Was einmal war, in allem Glanz und Schein / Es regt sich dort; denn es will ewig sein.« (V. 6431) Der Aufenthalt der Mütter kann räumlich nicht bestimmt werden; anders als in antiken oder christlichen Unterweltsvorstellungen, auf die Mephistopheles anspielt,7 ist der Ort des Gedächtnisses kein real zu lokalisierender Ort. In seiner Beschreibung dieser Lokalität streicht Mephistopheles jeden topologischen Begriff durch: »Kein Weg! Ins Unbetretene, / Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene / Nicht zu Erbittende« (Vv. 6222–24) antwortet er auf die Frage Fausts nach dem Weg zu den Müttern. Auch seine Auskunft: »Versinke denn! Ich könnt auch sagen: steige! / ’S ist einerlei.« (V. 6275) negiert jede räumliche Zuordnung. Mit dieser Unbestimmtheit figuriert der Aufenthalt der Mütter die Einheit von Identität und Verschiedenheit der Gedächtnisinhalte. Es handelt sich um eine produktive Vorstellung des Gedächtnisses, das nicht Originale abspeichert, sondern in unentwegter Tätigkeit die Inhalte neu erzeugt. Die Mütter befinden sich in Übereinstimmung hierzu in rastloser Bewegung: Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund. Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn, Die einen sitzen, andre stehn und gehen, Wie’s eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung, Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung, Umschwebt von Bildern aller Kreatur, Sie sehn dich nicht, denn Schemen sehn sie nur. (Vv. 6283–6290)
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Vgl. Der Groß-Cophta, GA VI, S. 635ff. Zu Goethe, Cagliostro, dem Groß-Cophta und Faust II vgl. John R. Williams: Mephisto’s Magical Mystery Tour: Goethe, Cagliostro, and the Mothers in ›Faust, Part Two‹. In: Publications of the English Goethe Society, 58 (1989), S. 84–102: »Mephisto is here [...] a Cagliostro figure who embodies Goethe’s profound mistrust of secret societies, charlatan occultists and obscurantists who had, in his view, undermined the very foundations of moral and political life by infiltrating the court circles of late eighteenth-century Europe. The Mothers Episode and the Fratzengeisterspiel are only a more powerful and elaborate version of the fraudulent ›mysteries‹ of Graf Rostro in Act III of Der Groß-Cophta.« (Ebd., S. 96.) So auch Ulrich Gaier: Kommentar 1, der die Mütter als »Bild- und Gestalten-Archiv« bezeichnet. Vgl. ebd., S. 657. Vgl. Vv. 6209f.: »Das Heidenvolk geht mich nichts an, / Es haust in seiner eignen Hölle[.]«
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Die Mütter stellen das Gedächtnis als eine Einheit von Bewahren und Veränderung dar. Nicht nur ihnen, auch den Bildern, die von ihnen gehütet werden, wird Veränderlichkeit zugesprochen. Sie sind, wie Faust sagt, »regsam, ohne Leben« (Vv. 6430). Die Herkunft der antiken Gestalten Helena und Paris aus dem historischen Fundus des Mütter-Archivs führt zu deren radikaler historischer Immanenz. Die Antikendarstellung und -rezeption verweist nicht länger auf Urbilder einer mythischen Epoche, sondern transformiert Gedächtnisinhalte. Auch kommt ihnen keine exemplarische Geltung mehr zu. Vielmehr muß ihnen der jeweilige Sinn erst im Akt der poetischen Aneignung zugeschrieben werden. Der Begriff der Immanenz soll diesen Verlust an exemplarischer Beweiskraft oder Idealität bezeichnen, der sich an der Beschwörungsszene nachweisen läßt. Der Verlust der repräsentativen Geltung der Antike und der Übergang zur Aufdeckung des reinen autonomen Scheins der Kunst wird in dieser Szene thematisiert. Ausgangspunkt der Beschwörung ist der Wunsch des Kaisers, der im Rahmen einer auf Repräsentation verstandenen Ästhetik verbleibt. Der Auftrag des Kaisers an Faust lautet: Der Kaiser will, es muß sogleich geschehn, Will Helena und Paris vor sich sehn; Das Musterbild der Männer, so der Frauen, In deutlichen Gestalten will er schauen. (Vv. 6183–86)
Als Musterbilder verstanden, besitzen die antiken Darstellungen für den Kaiser eine exemplarische Kraft. Helena und Paris repräsentieren als ästhetische Gestalten die allgemeine Ordnung der Geschlechter und insbesondere den Begriff exemplarischer Schönheit von Männern und Frauen. Ein solcher auf Repräsentation gründender Kunstbegriff wird im Zusammenhang mit dem Kaiser noch ein weiteres Mal aufgerufen. Als der Herold vor versammelter Hofgesellschaft die Veranstaltung ankündigt, beschreibt er die Position des Kaisers folgendermaßen: Den Kaiser setzt man grade vor die Wand; Auf den Tapeten mag er da die Schlachten Der großen Zeit bequemlichstens betrachten. (Vv. 6382–4)
Die Bühne des magischen Theaters, die sich gleich öffnen wird, bleibt noch hinter einer Wand aus Teppichen verborgen. Wandteppich und Laterna magica verkörpern zwei gänzlich verschiedene Medien der Repräsentation und zugleich zwei verschiedene Auffassungen von Kunst. Die traditionelle höfische Kunst wird hier vorgestellt als eine Darstellung von Ordnung: Im Ansichtigwerden großer Zeiten und vergangener Schlachten erscheint die Geschichte mit der Gegenwart durch ein Kontinuum verbunden. Der Kaiser erfährt seine eigene Bedeutung durch die Betrachtung der Vergangenheit, deren Tradition er bruchlos fortsetzt. Dem steht die neue Kunst der autonomen, auf nichts 192
mehr verweisenden Bilder gegenüber, die Faust sogleich produzieren wird. Sie zerstört die Ordnung, ohne etwas Substantielles an die Stelle des Alten setzen zu können. Der Herold bezeichnet diesen Übergang genau: Mein alt Geschäft, das Schauspiel anzukünden, Verkümmert mir der Geister heimlich Walten; Vergebens wagt man aus verständigen Gründen, Sich zu erklären das verworrene Schalten. (Vv. 6377–80)
Die Geister, von denen hier die Rede ist, antizipieren das bevorstehende Schauspiel. Auch Helena und Paris werden später als Geister oder Gespenster erscheinen. Wie wir bereits wissen, verweist dieser Begriff im Faust II selbstreferentiell auf die mediale Natur der Fiktion, die die Archivzeichen benutzt, um zu einem Eigenleben zu finden. Ein solches unheimliches, weil nur im Medium ästhetischer Reanimation mögliches Halbleben entzieht sich der Vorstellung von Ordnung, Norm und Exempel und verweist lediglich auf die sie ermöglichende archivpoetische Phantasie, die dem Gewesenen zu einer neuen Existenz verhilft. Ein solches Konzept der Phantasie als entgrenzter Erzeugung autonomer Bilder wird vom Astrologen angesprochen: Empfangt mit Ehrfurcht sterngegönnte Stunden; Durch magisch Wort sei die Vernunft gebunden; Dagegen weitheran bewege frei Sich herrliche verwegne Phantasei. Mit Augen schaut nun, was ihr kühn begehrt, Unmöglich ist’s, drum eben glaubenswert. (Vv. 6415–20)
An die Stelle der vom Kaiser gewünschten Musterbilder setzen Faust und Mephistopheles Trugbilder, die scheinbar leben und eine eigene ästhetische Vollkommenheit für sich beanspruchen, die sich nicht nach Maßstäben der Vernunft verstehen läßt. Gleichzeitig aber richten sie sich in einer Abkehr von christlichen Vorstellungen an die Augenlust,8 haben sie doch das Ziel, das Begehren der Zuschauer zu wecken. Damit wird eine Ordnung der Trugbilder etabliert, die eine eigene Macht, die des bloßen Scheins, besitzen.
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Eine klassische Stelle zur Augenlust (voluptas oculorum) ist in Augustinus’ Confessiones 10, 34, 51ff. zu finden. Vgl.: »Resisto seductionibus oculorum, ne inplicentur pedes mei, quibus ingredior viam tuam, et erigo ad te invisibiles oculos, ut tu ›evellas de laqueo pedes meos.‹« (Ebd., 34, 52) (Dt. Übers.: »Ich widersetze mich den Verführungen der Augen, damit meine Füße, mit denen ich meinen Weg zu Dir gehe, sich nicht verfangen, und ich erhebe unsichtbare Augen zu Dir, damit du ›vom Strick losmachest meine Füße.‹« [Ps 24, 15]) (Aurelius Augustinus: Bekenntnisse / Confessiones. Eingel., übers. und erläut. von Joseph Bernhart. Frankfurt 1987.) Das Mephistophelisch-Faustische Spektakel richtet sich dagegen zunächst ausschließlich an die ›Wollust der fleischlichen Augen‹, auch wenn es dann weitaus tiefere Konsequenzen hat.
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Man hat die Beschwörungsszene oft so interpretiert, als sei die Erzeugung der magischen Bilder das Ergebnis einer künstlerischen Produktivität Fausts. Die Auffassung, Fausts magische Praxis chiffriere die Tätigkeit des Dichters, stützt sich vor allem auf Fausts Eröffnungsrede, mit der er die Séance einleitet. In den oben bereits zitierten Versen 6429–38 heißt es von den Bildern der Vergangenheit: »Die andern sucht der kühne Magier auf.« (V. 6436) In einer früheren Fassung stand dafür: »Die andern sucht getrost der Dichter auf.«9 Es ist allerdings nicht legitim, Entwürfe an die Stelle des Textes zu setzen. Faust als Dichter zu verstehen, ist nur möglich, wenn man die einfache und offensichtliche Tatsache überliest, daß er hier als Hofmagier und Illusionskünstler auftritt. Die Auffassung, es handele sich bei Faust um einen Dichter, verbindet sich häufig mit einer fragwürdigen platonisch-neuplatonischen Deutung der Mütter, die als Hüterinnen des Ideenreiches oder als Verwalterinnen Goethescher Urphänomene aufgefaßt werden.10 So liest man bei Erich Trunz: »Zu den Müttern gehen heißt etwa: Urbilder des Lebens schauen.«11 Fausts dichterische Produktivität bestünde demnach in einer »Schau« von Ideen, die durch die Projektion von Helena und Paris materialisiert würden. Fausts Abstieg zu den Müttern versinnbildliche also eine metaphysische Erfahrung urbildlicher Schönheit. Doch wie soll eine solche Auffassung mit der Beschreibung der Mütter vereinbart werden? Wie ist es etwa um die Vorstellung eines transzendenten Seins bestellt, wenn dieses zugleich als historisch und vergangen gedacht werden soll? Heißt es doch ausdrücklich: »Was einmal war, in allem Glanz und Schein, / Es regt sich dort; denn es will ewig sein.« (Vv. 6431f.) 9 10
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Paralip. I H57, FA I, 7/1, S. 623. Man findet diese Auffassung der Mütter bereits in Georg Witkowskis Faust-Kommentar: »Die menschliche Vernunft Fausts vermag ins Reich der Mütter hinabzudringen, d.h. sich der Ideen zu bemächtigen, und die zunächst als Vernunftideen unvorstellbaren Urbilder des Paris und der Helena mit Hilfe des Dreifußes zu verkörperlichen, erscheinen zu lassen [...], sie dann in die Erscheinungswelt hinaufzuführen und sinnlich-sichtbar darzustellen.« ([Johann Wolfgang Goethe:] Goethes Faust. Bd. II. Hg. von Georg Witkowski. 10. unveränderte Aufl., Leiden 1950, S. 310.) Diese Vorstellung findet man noch in der neueren Forschung, etwa bei Thomas Gelzer: Helena im Faust. Ein Beispiel für Goethes Umgang mit der antiken Mythologie. In: Mythographie der frühen Neuzeit. Ihre Anwendung in den Künsten. Hg. von Walther Killy. Wiesbaden 1984, S. 223–253. Helena ist laut Gelzer »als irdisches Abbild der Idee des Schönen [...] nach Platos Phaidros und Symposion in der neuplatonischen Deutung des Plotin [konzipiert]«, das Faust im »außerkosmische[n] All« der Mütter holen müsse. Ebd., S. 245. Gegen die Annahme neuplatonischer Vorstellungen vgl. Dorothea Lohmeyer: Faust und die Welt: »[Z]um genauen Verständnis der Mütter müssen wir uns von allen am Platonischen Ideenreich gebildeten Vorstellungen trennen. Zum ersten enthält die Welt der Mütter ausschließlich die Formen der bildenden Natur und nicht wie bei Plato die Ideen alles Seienden. Die Idee des Schönen ist nicht bei den Müttern. Zum zweiten ist die Welt der Goetheschen Formen nicht wie bei Plato als eine Welt des starren unbewegten Seins von der Welt der Erscheinungen getrennt; sondern das Werden, die Metamorphose des Bildens und Umbildens der Formen, ist bei Goethe in den Formen als dem Prinzip des Seins mitenthalten.« (Ebd., S. 129f.) Damit ersetzt Lohmeyer allerdings nur die eine Form von Urbildlichkeit durch eine andere. Erich Trunz: Kommentarteil zu Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: HA, 3, S. 423–689, hier S. 549.
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Die Bilder der Vergangenheit sind nicht ewig, aber sie wollen Ewigkeit; nur ihre erneute Verwendung garantiert das Fortleben im kulturellen Gedächtnis; sie sind nicht transzendent, sondern der Geschichte immanente Gedächtniszeichen. Auch entspräche dem metaphysischen Aufwand eines Ab- oder Aufstiegs ins Reich transzendenter Idealität das Ergebnis in keiner Weise, denn Helena und Paris, die Faust mittels der Laterna magica produziert, waren schon einmal da und dienen der höfischen Gesellschaft zur Belustigung. Es handelt sich nicht um Schöpfungen, die als Abbilder von Urbildern, als Hervorgang des Schönen aus der Idee zu denken wären. Auch wenn man, wie Wilhelm Emrich, Goethes Vorstellung von der Idee so modifiziert, daß der platonische Dualismus aufgehoben und eher an eine Immanenz der Idee zu denken wäre,12 erklärt das noch immer nicht den ganz und gar historistischen Charakter der hervorgebrachten Bildwelt. Die ontologische Beschreibung der Beschwörung mit Hilfe der Kategorien des Ur- und Abbilds eröffnet zum Verständnis der Szene keinen fruchtbaren Zugang, handelt es sich doch bei Fausts magischem Tun um die Rezeption von bereits in den Archiven des kulturellen Gedächtnisses vorhandenen Bildern. Diese Beobachtung gestattet es, in der Beschwörung eine poetologische Reflexion des Textes zu erkennen, weil Fausts Handeln größte Ähnlichkeit mit Goethes Textverfahren besitzt. Es handelt sich um eine weitere Selbstreflexion: Fausts Produktion einer magisch-fiktiven Welt aus den Archiven verdoppelt und spiegelt die Darstellungsverfahren des Dramas. Dabei werden mehrere Perspektiven miteinander verschränkt. Fausts Rezeption seiner selbstproduzierten Trugbilder mündet in eine Ekstase, in der er den fiktiven Charakter Helenas übersieht und in ihr die vollkommene ahistorische Schönheit erblickt, deren Besitz die Wiederkehr des Mythos zu verbürgen scheint. Damit wird der Wunsch nach mythischer Identität, den wir als Komplement zum (ch)ironischen Differenzbewußtsein erkannten, auf der Ebene des Dargestellten und aus der Sicht des Helden ungebrochen und unreflektiert beibehalten. Nicht einmal durch Mephistopheles aufgeklärte Warnung: »Machst du’s doch selbst das Fratzengeisterspiel!« (V. 6546) läßt er sich abschrecken. Aus der Perspektive seiner Beobachtung erster Ordnung vergißt Faust das scheinhafte und magische Wesen der von ihm hergestellten Trugbilder. Was Faust verborgen
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Goethes Weltanschauung stehe »in ausdrücklichem Gegensatz zu jeder Präformations- und Evolutionshypothese wie zu jeder Epigenesis.« Und: »In dem ›war‹ und ›Sich-Regen‹ der Schemen zeigt sich die spezifisch spätgoethesche Haltung, die ihn vom strengen Platonismus trennt: Die Behauptung des transzendentalen Seins im Schein und die gleichzeitige Wandelbarkeit und Regsamkeit der Gestalten, d. h. die genetisch-ontologische (nicht präexistent-ontologische) Fassung des ›Urbildes‹ ermöglicht das immer wiederholte und sich wandlende Weiterleben des Gestorbenen.« (Wilhelm Emrich: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. 5. Aufl., Königstein/Ts. 1981, S. 216.)
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bleibt, kann jedoch durch die Textreflexivität als Beobachtung des Beobachters enthüllt und zugleich als poetologische Metapher genutzt werden: In Analogie zu Faust produziert Faust II mediale Trugbilder, in Differenz zu ihm beobachtet er diese Tatsache und verweigert daher eine Re-Ontologisierung des Scheins. Die beiden Beobachtungsebenen sind auch daran zu erkennen, daß der Anblick der Helena sich für Faust aktuell, in reiner Gegenwärtigkeit vollzieht, während er durch deutliche Textsignale gleich doppelt historisiert wird: Erstens wird Helena als antikes Archivelement ausgewiesen, zweitens wird die Rezeptionshaltung Fausts und die des Publikums historisiert. Fausts erste Reaktion auf Helena ist nach dem Vorbild von Winckelmanns enthusiastischen Beschreibungen antiker Statuen gestaltet, bevor sie in eine Transgressionsbewegung mündet, die an romantische Remythisierungskonzeptionen erinnert. Das höfische Publikum wiederum reagiert auf die antiken Figuren mit Schlagwörtern, die an die als Querelle des Anciens et des Modernes bekannte Auseinandersetzung um die Gültigkeit der antiken Dichtung für die moderne Zivilisation erinnern. Die Zitierung der Querelle hat einen sinnvollen Platz in einem Drama, das eine poetische Antwort auf die Temporalisierung des Wissens darstellt, war doch die Entdeckung der historischen Relativität des Schönen und des Geschmacks deren epochemachendes Ergebnis.13 Die Relativität der Antike läßt sich an den Reaktionen des Publikums auf die Phantasmagorie ablesen. Der Anblick des Tempels ruft beim anwesenden Architekten eine Abwehrreaktion hervor, in der er die Gültigkeit der griechischen Norm für die Gegenwart leugnet und zugleich einen Topos der Modernes zitiert, wonach die Fehler der Antiken von ihren Anhängern noch zu großen Schönheiten aufgewertet würden:14 Das wär antik! ich wüßt’ es nicht zu preisen, Es sollte plump und überlästig heißen. Roh nennt man edel, unbehülflich groß. Schmal-Pfeiler lieb’ ich, strebend, grenzenlos; Spitzbögiger Zenit erhebt den Geist; Solch ein Gebäu erbaut uns allermeist. (Vv. 6409–14)
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Vgl. hierzu H.R. Jauß: Ästhetische Norm und geschichtliche Reflexion in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹. Jauß zufolge führte die Querelle zu zwei Resultaten. Er bezeichnet sie einerseits als »Ausgangspunkt eines neuen geschichtlichen, genauer gesagt: entwicklungsgeschichtlichen Denkens [...]«, und zeigt zweitens, daß in ihr auch »der Ursprung eines neuen geschichtlichen Verstehens [liegt], das erst allmählich als unerwartetes Ergebnis der wechselseitigen Kritik von Anciens und Modernes hervortritt [...].« (Ebd., S. 12.) Vgl. z.B. Charles Perrault: Parallèle des Anciens et des Modernes, bei dem sich der Abbé folgendermaßen über diese Verteidigung lustig macht: »Quand on trouve dans les Anciens des endroits plats et communs, voila, dit-on, la pure nature, voila ce facile si difficile et cette precieuse mediocrité qui ne peut estre trouvée ny admirée suffisamment que par les esprits du premier ordre [...].« (Ebd., S. 25f.)
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Diese Reaktion des Architekten erinnert an Goethes eigenes »Erschrecken«15 vor den griechischen Trümmern in Paestum. Hierüber berichtet die Italienische Reise unter dem Datum vom 23. März 1787 folgendes: [D]er erste Eindruck konnte nur Erstaunen erregen. Ich befand mich in einer völlig fremden Welt. Denn wie die Jahrhunderte sich aus dem Ernsten in das Gefällige bilden, so bilden sie den Menschen mit, ja sie erzeugen ihn so. Nun sind unsere Augen und durch sie unser ganzes inneres Wesen an schlankere Baukunst hinangetrieben und entschieden bestimmt, so daß uns diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig, ja furchtbar erscheinen.16
Der autobiographische Erzähler versteht es jedoch, das Unbehagen angesichts der Fremdheit der antiken Trümmer sogleich abzumildern und die historische Distanz aufzuheben. Die Fremdheit der Trümmer ist das Ergebnis von Sehgewohnheiten, die sich revidieren lassen: Doch nahm ich mich bald zusammen, erinnerte mich der Kunstgeschichte, gedachte der Zeit, deren Geist solche Bauart gemäß fand, vergegenwärtigte mir den strengen Stil der Plastik, und in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet, ja ich pries den Genius, daß er mich diese so wohl erhaltenen Reste mit Augen sehen ließ, da sich von ihnen durch Abbildung kein Begriff geben läßt.17
Diese Rettung der griechischen Baukunst durch den einfühlenden Blick wird im Faust II versagt. Der Ausgangspunkt der Fremdheitserfahrung bleibt derselbe, aber es führt nicht zu einer Betonung der Überzeitlichkeit der Antike, die Goethe in der Italienischen Reise und seinen kunsttheoretischen Schriften aufrechtzuerhalten suchte. Der historisierende Blick auf den Tempel wird nämlich im Faust II nicht korrigiert, sondern verstärkt. Zunächst geschieht dies durch die Art, wie antiker und moderner Geschmack gegenübergestellt werden. Hatte der Text der Italienischen Reise das erste Unbehagen des Reisenden als Resultat einer bloßen revidierbaren Geschmackskonvention erklärt, so bleibt es im Faust II bei der Konfrontation des antiken Geschmacks mit dem modernen, die sich gegenseitig relativieren. Nach der ersten Kritik an der antiken Architektur wird der Tempel mit Hilfe der Magie zum Singen und gebracht: Der glühnde Schlüssel rührt die Schale kaum, Ein dunstiger Nebel deckt sogleich den Raum. Er schleicht sich ein, er wogt nach Wolkenart,
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So die Formulierung Norbert Millers. Auch er sieht eine Verbindung zwischen der PaestumErfahrung Goethes und der Reaktion des Architekten im Faust II. Vgl. N. Miller: Winckelmann und der Griechenstreit. Überlegungen zur Historisierung der Antiken-Anschauung im 18. Jahrhundert. In: Johann Joachim Winckelmann 1717–1768. Hg. von Thomas W. Gaehtgens. Hamburg 1986, S. 239–264. GA 11, S. 240. Ebd.
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Gedehnt, geballt, verschränkt, geteilt, gepaart. Und nun erkennt ein Geister-Meisterstück! So wie sie wandeln machen sie Musik. Aus luftgen Tönen quillt ein Weißnichtwie, Indem sie ziehn wird alles Melodie. Der Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt, Ich glaube gar, der ganze Tempel singt. (Vv. 6439–6448.)
Der Tempel wandelt sich von einem plumpen antiken Bauwerk in ein modernes Spektakel, dessen hervorstechende Eigenart vom Architekten als »Weißnichtwie« (V. 6445) angegeben wird. Diese Bezeichnung ragt aus dem Wortschatz des Faust II so deutlich hervor, daß sie wie ein historisches Signal wirken muß. Der Begriff des je ne sais quoi bezeichnet im poetischen Diskurs des frühen 18. Jahrhunderts die Eigenschaften eines künstlerischen Werks, deren besonderer Reiz sich nicht aus Regeln erklären läßt.18 Das je ne sais quoi meint den unbegrifflichen ›Rest‹ des Kunstwerks, der im Erlernbaren nicht aufgeht.19 Das Irreguläre wird zugleich mit erotischen Konnotationen aufgeladen, denn als sich der Dunst senkt, tritt »ein schöner Jüngling« (V. 6450) hervor. Dadurch wird die folgende Antikewahrnehmung in einen zweifachen Horizont gestellt: Die Darstellung des »Raubs der Helena« bemißt sich einerseits an der Frage ihrer Angemessenheit an den höfischen Geschmack, also an der bienséance, andererseits erscheint Paris, der griechische Schäfer, als Auslöser des weiblichen plaisir, wie später Helena die Männer betört. Die dramatische Repräsentation wird also anhand der Leitdifferenz von Natur / Zivilisation diskutiert, wobei der Natürlichkeit eine besondere erotische Anziehungskraft zugestanden wird, während sie gegen das ästhetisch Angemessene verstößt. So gerät die anwesende Damenwelt beim Anblick des Paris in Verzückung, und zwar über seine ›natürliche‹ Schönheit.20 Indem Paris als halbnackter, ungezwungener Schäfer die sittlichen Gewohnheiten des Hofes durchbricht, erscheint das Griechische als das Natürliche, dessen Anmut mit einer gewissen Plumpheit der Sitten bezahlt wird. Es bleibt also trotz der weiblichen Begeisterung über den schönen Schäfer unbestritten, daß dessen Benehmen nicht den modernen Maßstäben entspricht. Das räumen selbst die Damen ein: »Er ist gar hübsch, wenn auch nicht eben fein« (V. 6457) bemerkt die fünfte Dame, und die
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Vgl. Erich Köhler: Art. »Je ne sais quoi«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Darmstadt 1976. Bd. IV, Sp. 640–644. Insofern es das Irreguläre und Individuelle thematisiert, gehört es zur Vorgeschichte des Geniebegriffs. Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. I. 2. durchgesehene Aufl, Darmstadt 1988, S. 372. Daß die Natürlichkeit die Begeisterung auslöst, verrät der Spott des Kämmerers: »Er schnarcht nun gleich, natürlich ist’s, vollkommen!« (V. 6472)
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sechste fügt hinzu: »Ein bißchen könnt’ er doch gewandter sein.« (V. 6458) Die Schönheit des Paris übersteht also nicht restlos die Zeit; sie muß sich an dem gegenwärtigen Zustand der Zivilisation messen und sich eine moderne Geschmackskritik gefallen lassen: A NDRE Er lehnt den Arm so zierlich übers Haupt. K ÄMMERER Die Flegelei! Das find’ ich unerlaubt! DAME Ihr Herren wißt an allem was zu mäkeln. DERSELBE In Kaisers Gegenwart sich hinzuräkeln! DAME Er stellts nur vor! Er glaubt sich ganz allein. DERSELBE Das Schauspiel selbst, hier sollt es höflich sein. (Vv. 6465–6470)
Diese Stelle erinnert an die Diskussion um die »naïveté de la pure nature«, die in Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes am Beispiel der Charakterdarstellung bei Terenz geführt wird. Was der Président in besonderem Maß an dem römischen Komödiendichter schätzt, die naive Natürlichkeit seiner Charaktere, wird für den Abbé und den Chevalier zum Anlaß für dessen Verurteilung. Die reine Natur habe in der Kunst nämlich nichts zu suchen, wo sie mehr schaden als nutzen könne.21 Diese und ähnliche Urteile fanden in der deutschsprachigen Poetik wenig Gegenliebe. Die französische Kritik am antiken Geschmack wandelte sich in Deutschland im Zeichen einer neuen Antikebegeisterung bald zur Kritik an der vermeintlichen französischen Künstlichkeit. So begegnet etwa bei Sulzer das Beispiel des Terenz wieder, aber mit umgekehrter Absicht: Jetzt wird in Übereinstimmung mit dem Président dessen Natürlichkeit lobend hervorgehoben und gegen die französischen Dramen ausgespielt.22 In welcher Weise Goethe die französische Diskussion auch rezipiert hat (es kann vorausgesetzt werden, daß sie ihm bekannt war, sei es durch Kenntnis der Originaltexte, sei es durch die Zitierung der französischen Gelehrten in den deutschen Poetiken23), entscheidend für die vorliegende Argumen-
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Vgl. Perrault: Parallèle. Der Président bescheinigt Terenz eine besondere Geschicktheit »à sçavoir attraper si juste la naiveté de la pure nature.« Woraufhin der Abbé ihn kritisiert: »Et moy je vous dis que cette pure Nature donc [!] vous faites tant de cas n’est point belle dans les ouvrages de l’Art.« Ebd. S. 211f. »Eine Menge französischer Schauspiele werden gleich vom Anfang schwer und verdrießlich; weil man die Bemühung des Dichters gewahr wird, uns verschiedenes bemerken zu lassen, wodurch das folgende natürlich werden sollte. Es ist nicht genug, daß im Drama alles da sey, was die Folge der Handlung bestimmt; es muß auf eine ungezwungene Weise da seyn. Dieses wußten Sophokles und Terenz am vollkommensten zu veranstalten.« (Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste im einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Bd. III. Neue vermehrte zweyte Aufl., Leipzig 1793 (Reprint Hildesheim 1967), S. 513. Zur Rezeption der französischen Querelle in Deutschland vgl. Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Streit in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981.
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tation ist, daß sich die Beurteilung des Tempels, des Paris und der Helena noch nicht auf die Auseinandersetzung um Klassik und Romantik, sondern auf eine historisch frühere Phase des Antikenstreits bezieht.24 Die parodistischen Elemente zielen nämlich gerade darauf ab, daß das Publikum noch nicht über ein Bewußtsein der Relativität des Geschmacks verfügt. So wird der Antike zwar zugestanden, eine größere Freiheit und Anmut besessen zu haben, jedoch fehlt ihr im Verständnis der Hofgesellschaft jedes Bewußtsein für ein gesittetes Verhalten. Das Publikum bemerkt die Verschiedenheit der Sitten und bewertet sie nach ihrer Angemessenheit für die Gegenwart, ohne schon reflexiv deren eigene Historizität zu bedenken. Ein historisches Verstehen im Sinne des späten 18. Jahrhunderts ist hier noch gar nicht vorhanden. In Fausts Reaktion auf Helena läßt sich nicht die Spur einer solchen Distanz nachweisen. Ganz im Gegenteil verfällt er in eine überschwengliche Begeisterung: Hab ich noch Augen? Zeigt sich tief im Sinn Der Schönheit Quelle reichlichstens ergossen? Mein Schreckensgang bringt seligsten Gewinn, Wie war die Welt mir nichtig, unerschlossen! Was ist sie nun seit meiner Priesterschaft? Erst wünschenswert, gegründet, dauerhaft! (Vv. 6487–92)
Den Prätext dieser Stelle findet sich eher in Winckelmanns Darstellungen antiker Bildwerke als in romantischen Texten.25 Zu denken ist an die Beschrei-
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Hans Gerd Rötzer (Art. »Querelle des Anciens et des Modernes«. In: Goethe-Handbuch. Bd. IV/2, S. 880–882) stellt fest: »G.s Äußerungen über den Streit beziehen sich nicht unmittelbar auf die Querelle; sie stehen einerseits unter dem Eindruck der Diskussion in Deutschland bis zu Schiller und Friedrich Schlegel, und andererseits greifen sie auf Positionen zurück, die lange vor der Querelle bestanden. Allerdings führt G. die Oppositionen zwischen ›antiqui‹ und ›moderni‹ bis in die aktuelle Auseinandersetzung mit den Dichtungstheorien der Romantik fort.« (Ebd., S. 881.) Wenigstens auf die Beschwörung der Helena trifft diese Aussage nicht zu. Richtig hat Dorothea Hölscher-Lohmeyer (Kommentar in: MA 18/1, S. 535– 1213) den historischen Bezugspunkt der Szene bemerkt. (Ebd., S. 779) Vgl. dagegen Thomas Zabka, der in der Beschwörung der Helena eine Darstellung des romantischen Phantasiekonzepts und in Fausts Reaktion auf Helenas Erscheinen eine selbstverliebte Hingabe an die eigene Schöpfung im Sinn des Pygmalionmotivs vermutet. Fausts Weg zu den Müttern führe »in das eigene Innere.« (Thomas Zabka: Faust II. Das Klassische und das Romantische, S. 143.) Zu Fausts Wahrnehmung Helenas bemerkt er: »Die Quelle der Schönheit ist bei den Müttern, denn von ihnen kommt Faust ›mit reicher Spende‹ (6347) zurück; zugleich ergießt sich diese Quelle ›tief im Sinn‹.« (Ebd.) Dagegen muß eingewendet werden, daß sich die Verse 6487f. nicht auf die Mütter beziehen, sondern auf den Anblick der Helena. Für Zabka ist Helena eine Vorstellung Fausts, die er aus seiner Phantasie hervorbringt. Aber Helena ist keine Erfindung Fausts – kein »rein subjektives Phänomen, dem ein falscher objektiver Status zugeschrieben wird« (ebd., S. 140) –, sondern ein Zitat aus dem Archiv der Mütter. Zabka hält die Stelle für eine Romantikkritik: »Der Autor [Goethe, S.S.] koppelt die auch in der Frühromantik verbundenen Motive der Priesterschaft, des Orakels
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bungen des Apoll und des Torso im Belvedere. Bei Faust vollzieht sich angesichts der Helena ein Umschlagen von einer Wahrnehmung durchs Auge hin zu einer nachschaffenden Betrachtung der Schönheit durch den inneren Sinn, den man in Winckelmanns Beschreibungen vorgeprägt findet. Das Anschauen der Schönheit erhebt bei Winckelmann den Betrachter zur Erkenntnis der inneren Idee des Werkes. Ein solcher Prozeß der produktiven Teilhabe am Werk findet sich z.B. in folgender Stelle aus der Beschreibung des Torso im Belvedere: Scheinet es unbegreiflich, außer dem Kopfe in einem andern Theile eine denkende Kraft zu legen; so lernet hier, wie die Hand eines schöpferischen Meisters die Materie geistig zu machen vermögend ist. Mich deucht, es bilde mir der Rücken, welcher durch hohe Betrachtungen gekrümmet scheinet, ein Haupt, welches mit einer frohen Erinnerung seiner erstaunenden Thaten beschäfftiget ist; und indem sich so ein Haupt voll von Majestät und Weisheit vor meinen Augen erhebet, so fangen sich an in meinen Gedanken die übrigen mangelhaften Glieder zu bilden: es sammlet sich ein Ausfluß aus dem Gegenwärtigen und wirket gleichsam eine plötzliche Ergänzung.26
Der Betrachter geht von der äußeren, mit den »Augen« erfahrbaren Gestalt über zur eigenen kreativen Nachschaffung des Ganzen, er wird produktiv, aber anläßlich eines bereits vorhandenen Werkes, dessen Idee er erfaßt und aus dem Detail mit Hilfe seiner Imagination erzeugen kann. Auf dieser Erfahrung einer Teilhabe am Schönen, in der Rezeption und Produktion verschmelzen, beruht die humanisierende Wirkung, die die Klassik dem schönen Werk zutraute.27 Diese rezeptionstheoretische Annahme der Klassik scheint mir der plausible Kontext der Stelle zu sein. Faust bleibt allerdings beim bloßen Genuß des Kunstschönen nicht stehen; vielmehr löst Helenas Anblick den Wunsch aus, diese Schönheit auch wirklich zu besitzen, mündet also in einer Überschreitungsbewegung, in der das klassizistische Paradigma der Verse 6487ff. überwunden werden soll und die sich romantischen Vorstellungen der Remythisierung annähert. Wie in der »Klas-
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und der Alchemie, um den Weg nach innen als orakulöse Geheimlehre zu karikieren.« (Ebd., S. 148.) Johann Joachim Winckelmann: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. In: ders., Kleine Schriften – Vorreden – Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. Berlin 1968, S. 169–173, hier S. 172. Zur Wirkung des Kunstschönen vgl. den berühmten Passus in Goethes Winckelmann-Schrift, wo es u.a. heißt: »Ist es [das Kunstwerk, S.S.] einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die höchste hervor: denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig entwickelt, so nimmt es alles Herrliche, Verehrungs- und Liebenswürdige in sich auf, und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst, schließt seinen Lebens- und Tatenkreis ab, und vergöttert ihn für die Gegenwart, in der das Vergangene und Künftige begriffen ist.« Vgl. Goethe: Winckelmann und sein Jahrhundert. GA, 13, S. 422.
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sischen Walpurgisnacht« geht es Faust um eine Gründung, um eine Überwindung der bloßen Immanenz und Selbstreferenz des ästhetischen Scheins (der »Geister«) in eine neue Form mythischer Präsenz des Sinns: Was Raub! Bin ich für nichts an dieser Stelle! Ist dieser Schlüssel nicht in meiner Hand! Er führte mich durch Graus und Wog’ und Welle Der Einsamkeiten, her zum festen Strand. Hier faß ich Fuß! Hier sind es Wirklichkeiten, Von hier aus darf der Geist mit Geistern streiten, Das Doppelreich, das große, sich bereiten. (Vv. 6549–55)
Der Kunst-Schein soll in »Wirklichkeiten« verwandelt werden, die im Zeichen Winckelmanns stehende Antikerezeption mündet in einer neuen politischen Bedeutung des Ästhetischen. Die Erfahrung der antiken Schönheit löst den Wunsch nach einer Neubegründung der modernen Gesellschaft aus. Was das bedeutet, wird aus dem Fortgang des Dramas deutlich. Fausts spätere Versuche, dem Meer Land abzugewinnen und einen neuen Staat zu gründen, sind hier bereits antizipiert. Die ästhetische Utopie weist auf eine gesellschaftliche voraus. Helena ist daher gewissermaßen das Paradigma für alle späteren Unternehmungen Fausts. Doch seine Hoffnung, auf die ästhetische Präsenz des Mythos eine neue Epoche und eine neue Wirklichkeit gründen zu können, bestätigt sich nicht: Sie scheitert am Trugbildcharakter Helenas. Fausts ekstatische Erfahrung der antiken Schönheit steht in spannungsvollem Kontrast zu deren historischer Relativierung. Diese Relativierung findet sich auf zwei Ebenen: Zunächst wird Helena gemeinsam mit Paris und dem Architekturzitat durch den Hinweis auf das Mütterarchiv als Zitat ausgewiesen. Darüber hinaus erscheint aber auch die Rezeption durch das Publikum ihrerseits als ein Zitat, denn Goethe hat Hinweise auf die Bewertung der Antike durch die französische Klassik bzw. die Verfechter der Modernes, auf Winkkelmann und die deutsche Romantik eingebaut. Die Antikerezeption des Faust II ist eine solche auf zweiter Stufe, da sie eine Rezeption der Rezeption beinhaltet. Goethes Relativierung des antiken Ideals und die Historisierung der Antike setzt nicht nur auf einer inhaltlichen, sondern vor allem auf einer diskursgeschichtlichen Ebene an: Die ästhetischen Diskussionen um die normative Gültigkeit der Antike werden historisiert. Der Sinn der ›Querelle‹ – ihre deutsche Fortsetzung bis zur romantischen Geschichtsphilosophie eingeschlossen – hat sich erledigt, weil der Historismus gesiegt hat. Das Ideal der Antike ist nun eines unter vielen, über die der postromantische Autor Goethe verfügen kann. Die Immanentisierung des Schönen durch seine Historisierung läßt die Kunst- und Literaturgeschichte als Reflexionsmedium für Faust II verfügbar werden.
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2. Eidolon – Euripides im dritten Akt Helenas zweites Erscheinen im Faust steht in einem intertextuellen Bezug zur Gestaltung der Figur bei Euripides.28 Die Heldin erscheint in drei Tragödien dieses Autors, die zugleich die einzigen erhaltenen griechischen Stücke sind, in denen Helena als handelnde Person vorkommt: im Orestes, den Troerinnen und der Helena.29 Diese Tragödien stellen den Helenamythos in jeweils sehr unterschiedlicher Weise dar. Dennoch ist ihnen die Frage nach der Wirkung der weiblichen Schönheit und, mit ihr verflochten, die Erinnerung an den Trojanischen Krieg und die Schicksalsschläge bei der Rückkehr der griechischen Truppen gemeinsam. Der Helena-Mythos bietet besondere Gelegenheit, den Zwiespalt zwischen Ethik und Ästhetik zu veranschaulichen. Im Faust II spielt Phorkyas auf dieses Thema mit den Worten an: »Alt ist das Wort, doch bleibet hoch und wahr der Sinn: / Daß Scham und Schönheit nie zusammen, Hand in Hand, / Den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad.« (Vv. 8754– 6) Das Schöne, das nicht an die Ordnung von Sitte und Gesetz, besonders der Ehe, gebunden bleibt, also als rein ästhetisches Phänomen erscheint, entfaltet eine verhängnisvolle Wirkung, die aber nur möglich wird, wo der männliche Verstand sich von Lust überwältigen läßt. Diese Lust, welche die Männer antreibt, das Gemeinwohl der Polis zu vergessen und nur noch den Besitz der schönen Frau anzustreben, ist eine Lust der Augen: Der ethisch ungebundene Blick der weiblichen Schönheit auf den Mann begründet die Dämonie Helenas. Mit ihm scheinen Tod und Zerstörung einherzugehen. In den Troerinnen verbindet sich dieses Thema mit dem Opfergedanken. Zunächst wird dargestellt, wie die überlebenden trojanischen Frauen an die Sieger verlost werden, denen sie als Konkubinen und Sklavinnen zu dienen haben. Ihre Kinder werden sogar ermordet. Die Schuld an dem Unheil wird nun allerdings nicht so sehr den Griechen als vielmehr Helena zugeschrieben. Wenn Goethes Heldin von sich sagt, sie sei »viel gescholten« (V. 8488), dann muß man Worte im Ohr haben, wie sie Kassandra äußert:
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Zur Euripidesrezeption im Faust II vgl. Thomas Gelzer: Helena im Faust; Dorothea Lohmeyer: Faust und die Welt, S. 292–294; Horst Rüdiger: Weltliteratur in Goethes ›Helena‹. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 8 (1964), S. 172–198; Gabriele Hesse-Belasi: Signifikationsprozesse in Goethes ›Faust‹ Zweiter Teil. Mythologische Figur und poetisches Verfahren. Frankfurt a.M. u.a. 1992, S. 151f.; zur formalen Gestaltung der Szene »Vor dem Palaste des Menelas zu Sparta« vgl. Theodorus C. van Stockum: Goethes Versuch der Neubelebung der antiken Tragödie: der Helena-Akt im Faust II (=Deutsche Klassik und antike Tragödie. Zwei Studien, II). In: Neophilologus 43 (1959), S. 265–277. Zu Goethes Euripidesrezeption im Allgemeinen s. Uwe Petersen: Goethe und Euripides. Untersuchungen zur Euripides-Rezeption in der Goethezeit. Heidelberg 1974. Vgl. das »Verzeichnis aller in den erhaltenen attischen Tragödien vorkommenden Handlungsfiguren mit Sprechrollen« in: Joachim Latacz: Einführung in die griechische Tragödie. Göttingen 1993, S. 418.
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O Helena, du stammst von Zeus mitnichten. Ganz andre Väter haben dich gezeugt: Der Sündenteufel und der giftge Neid, Der Mord, der Tod, das ganze Heer der Plagen. Nicht glauben kann ich, daß du Zeus entstammst, Du, Asiens Würgerin und Griechenlands. Fluch über dich! Mit deinen schönen Augen Hast du dies stolze Reich schmachvoll zerstört.30
Helenas Schuld besteht in ihrem Blick, der die Männer verführt und somit jede gesetzliche Ordnung aufhebt. Die Entzweiung von Scham und Schönheit führt in dieser Darstellung unmittelbar in die historische Katastrophe. Um die aus den Fugen geratene Ordnung wieder herzustellen, muß Helena geopfert werden. Dies zu tun beschließt Menelaos für sich31 mit folgender Begründung: In Argos aber sterbe sie in Schmach, Wie sie’s verdient. So bring ich alle Weiber Zur Sittsamkeit. Leicht ist es wahrlich nicht. Doch wird ihr Tod der Weiber Buhlerei Einschüchtern, wären sie auch noch so frech.32
Goethes Helena-Akt führt Motive dieses Dramas weiter. Er beschreibt die Ankunft des Paares in Sparta. Aus Helenas Bericht entnehmen wir, daß Menelaos sie keines Blickes gewürdigt hat: »Denn schon im hohlen Schiffe blickte mich der Gemahl / Nur selten an, auch sprach er kein erquicklich Wort./ Als wenn er Unheil sänne, saß er gegen mir.« (Vv. 8535–7) Es ist, als hätte Goethes Menelas noch die Warnung der Hekabe bei Euripides im Ohr: »Tu’s, Menelaos! Töte sie! Doch meide / Sie anzusehn; sonst fällst du in ihr Netz.«33 Auch den Gedanken des Opfertodes nimmt Goethe wieder auf. Helena soll als Ausgleich für die Leiden des Kriegs sterben (vgl. V. 8528). Auch die Helenadarstellung der beiden anderen Tragödien enthält Züge, die Goethe im Faust II übernommen hat. Während in den Troerinnen die Perspektive der überlebenden trojanischen Frauen auf Helena eingenommen wird, ist die Situation im Orestes eine grundlegend andere. Dieses Stück ent-
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Euripides: Troerinnen. In: ders., Tragödien und Fragmente. Bd. II. Bearb. und eingel. von Franz Stoessl. Zürich/Stuttgart 1968, S. 234–281, hier Vv. 766–773. Das griechische Original wird nur im Fall der Helene zitiert, wo es auf die Demonstration des genauen Wortlauts ankommt, während hier die Darstellung der Handlung und einzelne Motive im Vordergrund stehen. Vgl. ebd., Vv. 876–879. Ebd., Vv. 1055–59. Troerinnen, 890f.
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hält eine schonungslose Kritik am Verfall politischer Kultur.34 Gegenstand des Dramas ist die Verurteilung des Orestes und der Elektra wegen der Ermordung ihrer Mutter. Die Volksversammlung von Argos verurteilt sie zum Tode durch Steinigung. Da kehren Helena und Menelaos aus Troja zurück. Beide sind wieder ausgesöhnt. Orestes möchte, daß sein Onkel Menelaos für ihn seinen Einfluß in der Volksversammlung geltend macht. Als dieser sich weigert, wollen die drei Angeklagten dessen Gattin Helena ermorden, einerseits aus Rache, andererseits in der Hoffnung, sich damit beim Volk die verlorene Sympathie zurückzugewinnen. Auch in diesem Stück geht es um weibliche Untreue und ihre sozialen Folgen. Helena wird mit dem Tod bedroht, um die Mörder ihrer Schwester freizubekommen, weil sie in den Augen von Elektra und Orestes, aber auch der Bevölkerung von Argos, durch ihre Lebensführung den Tod verdient hat. Daher wagt sich Helena nicht auf die Straße, weil sie weiß, daß das Volk sie sofort steinigen würde. Das Stück stellt jedoch dieses allgemeine Urteil radikal in Frage, und zwar nicht etwa, weil Helenas Vergehen gerechtfertigt würde, sondern vielmehr, weil die Motive Elektras und ihres Bruders ebenso wie die der Volksversammlung moralisch unhaltbar sind.35 Orestes nimmt für sich in Anspruch, die Sitten der Polis durch die Ermordung der Mutter gerettet zu haben,36 hat er doch auf Geheiß des Apollo gehandelt. Aber im Fortgang der Tragödie wird deutlich, wie sehr sein Rechtsempfinden und das seiner Schwester von Emotionen getrübt sind, die sein Handeln in einem schlechten Licht erscheinen lassen. In diesem Konflikt der verschiedenen Emotionen und Interessen verliert sich die Gerechtigkeit. Als am Ende Apollo eingreift, um die Ermordung der Helena zu verhindern, erscheint selbst der Gott nicht mehr als Instanz für Gerechtigkeit. Wie den Menschen die rechtliche Diskussion nur der durchsichtigen Legitimierung des Handelns diente, so begründet nun auch Apollo das Handeln der Götter im Trojanischen Krieg nicht mit der Vorstellung von Gerechtigkeit, sondern mit bloßem Machtinteresse: 34
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Vgl. Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. I: Von der Antike bis zur deutschen Klassik. Tübingen 1990: »Die Kunst der Rede, Peitho, die in der Orestie als Beglaubigung der politischen Identität zum Segen der Polis und ihrer Bürger eingesetzt wurde, ist zur bloßen demagogischen Strategie verkommen, mit deren Hilfe der Redner das Volk seinen persönlichen Interessen entsprechend beeinflußt und schamlos zur gewünschten Entscheidung manipuliert.« Ebd., S. 48. Vgl. den Botenbericht über die Volksversammlung, in: Euripides: Orestes. In: ders., Sämtliche Tragödien. Bd. II. Stuttgart 1984, Vv. 884ff. Vgl. die Verteidigungsrede des Orestes vor der Versammlung: »Die ihr Inachos’ Gebiet bewohnt, / Nicht minder als den Vater hab ich euch beschützt, / Als ich erschlug die Mutter: ist der Gatten Mord / Den Fraun gestattet, werdet ihr dem Tode nicht / Entrinnen, oder ihr seid Knechte euren Fraun / Und tut das Gegenteil von dem, was sich geziemt. / Jetzt ist das Weib, das meines Vaters Bett verriet, / Gefallen. Wenn ihr aber mich ermorden wollt, / So stürzt das Recht und keiner mag dem Tod entfliehn, / Da nie hinfort an solcher Frechheit Mangel ist.« (Ebd., Vv. 932–41.)
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Um ihrer [Helenas, S.S.] Schönheit willen hat der Götter Rat Zu Hader Hellas aufgereizt und Phrygien Und Mord gesendet, um die Welt vom Übermut Der Menschenmengen ohne Zahl zu reinigen.37
In unserem Zusammenhang ist an der Helenadarstellung im Orestes von Bedeutung, daß Helena hier zwar mit denselben Gründen verurteilt wird wie in den Troerinnen, daß aber zugleich diese Verurteilung deutlich auf diejenigen zurückverweist, die sie aussprechen. Helena wird zu einem Opfer, das keinen heiligen Sinn mehr besitzt, sondern nur noch als Instrument zur Legitimierung des Handelns oder zur Rettung des eigenen Lebens mißbraucht wird. So bezeugt etwa der Haß Elektras auf Helena, daß deren Verurteilung nicht auf Einsicht und Recht beruht, sondern auf einer irrationalen, sich möglicherweise aus dem eigenen Schuldbewußtsein speisenden Rachlust: Schwingt in den Händen die doppelten, schneidigen Schwerter, erschlaget, erwürget, vernichtet sie, Welche den Vater verließ Und den Gemahl verließ und der Helenen so Viele gemordet, die Am Stromgestade verbluteten, Wo Tränen um Tränen, Erregt von den eisernen Geschossen, Fielen, an des Skamandros wilden Strudeln!38
Als am Ende des Stückes Apollo eingreift, entrückt er Helena an den Himmel, um sie zum Sternbild zu machen. Hier wird sie vergöttlicht und damit außerhalb der menschlichen Zuständigkeit verortet. Euripides erfindet mit diesem Schluß ein großartiges Stück mythopoetischer Umkehrung: Als Sternbild soll Helena den Seefahrern, die zu ihr aufblicken, zur Orientierung und Rettung dienen. Damit wird das irdische Leben der Heldin ins Gegenteil verkehrt. Löste Helenas Blick zu Lebzeiten Krieg und Schiffbruch aus, so rettet ihr Anblick jetzt vor den Gefahren der Seefahrt und führt die Reisenden nach Hause. Auch soll ihr, die eben noch als Opfer sterben sollte, jetzt selbst geopfert werden. Helena ist damit vollständig gerettet – aber zugleich entmachtet, denn als Sternbild verlor sie die Fähigkeit des Blicks und wurde zu dessen Objekt. In der Helena weicht Euripides von diesen Darstellungen der Heldin ab. Im Rückgriff auf eine auch bei Herodot39 und Stesichoros40 bezeugte Variante des Stoffs erfindet er den Mythos neu. Nach dieser Version erhielt Paris von
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Ebd., Vv. 1637–40. Ebd., Vv. 1274–1282. Vgl. Herodot: Historien, 2, 113–120. Der wichtigste Beleg für die sog. Palinodie auf Helena des Stesichoros findet sich bei Plato, im Phaidros (Phaidros 243a).
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den Göttern nur ein Trugbild der Helena, während die echte nach Ägypten entrückt wurde. Dort lebt sie zu Beginn des Stückes seit bereits siebzehn Jahren im Exil, ist ihrem Gatten treu und widersteht den Anträgen des Königs, während die Griechen vor Troja um ein Trugbild kämpfen. Diese Konstruktion muß auf die Zeitgenossen einen großen Eindruck gemacht haben, denn damit verlor der Mythos des Krieges seinen Sinn, der von den Göttern verantwortet wird, da sie mit der Erzeugung des Trugs auch dessen Folgen einkalkulierten. Dagegen wird Helena als Beispiel weiblicher Treue gerechtfertigt. Der Reiz des Stückes besteht darin, daß in dieser Welt des göttlichen Betrugs die Bedeutung des menschlichen Verstandes aufgewertet wird. Der Augenschein täuscht: Was alle für Helena halten, ist nicht Helena. Dabei läßt sich die echte Helena nicht durch ihre Schönheit von der falschen unterscheiden, sondern lediglich durch die Kenntnis der Person. Insofern entspricht die Differenz von Schein und Sein dem Gegensatz von Ethik und Ästhetik. Der schöne Schein, von rein ästhetischer Existenz, entfaltet seine Wirkung nur, solange er nicht durchschaut ist. Dagegen wird dem Sein der echten Helena auch die ethische Haltung der Treue und das Einhalten der Gesetze zugetraut. Diese Differenzen bringt Helena in ihrem Prolog ins Spiel. Sie unterscheidet den Namen von der leibhaftigen Person: »Hat gleich mein Nam in Hellas üblen Klang, / Mein Leib wird nie mit Schande sich beflecken.«41 Diese Unterscheidung bezieht ihren Reiz daraus, daß sie die gesamte Rezeption des Helenastoffes in ihr Gegenteil verkehrt und mit der Fiktion spielt, es gebe eine wahre Helena, die sich von der vertrauten mythologischen Erzählung unterscheidet. Die Unterscheidung von Name und Person läuft auf die Differenz von Mythos und Wahrheit hinaus und wertet die Dichtung als Darstellung von Wahrheit gegenüber dem Erzählen von Mythen auf. Während die Götter den Menschen das trügerische Abbild gaben, und die mythischen Erzählungen über Helena diesen Trug weitererzählten, steht die Tragödie auf der Seite des Seins und beansprucht, ein wahres Bild des wirklichen Geschehens zu liefern. Im Fortgang der Handlung wird diese Differenz mit Sinn und Leben gefüllt. Zunächst erfährt Helena von Teukros, einem verirrten Griechen, was in der Zeit ihrer Abwesenheit in Troja und in Sparta geschah: Die Mutter Leda erhängte sich aus Schande über die Tochter, auch die Brüder Kastor und Polydeukes töteten sich wegen der Schwester.42 Nachdem Helena dies erfahren hat, begreift sie die Macht des Gerüchts. Im Prolog bewahrte sie durch ihre Erinnerung die eigene Identität gegenüber dem falschen Mythos. Nach der Erzählung des Teukros bleibt die Unterscheidung immer noch bestehen, jedoch erkennt sie, daß dies nicht auch für die anderen gilt. Die Macht des Trugbildes ist so groß, daß niemand ihr glauben würde. Aus diesem Grund
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Euripides: Helena. In: ders., Tragödien und Fragmente. Bd. II, 417–476, Vv. 66f. Vgl. ebd., Vv. 135f. und Vv. 142ff.
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erwägt sie den Selbstmord. Doch dann betritt Menelaos als König in Lumpen die Bühne. Sein Schiff ist vor der Küste gestrandet, und er erbittet nun Hilfe beim Palast des Königs von Ägypten. Dort trifft er Helena, die ihn sofort erkennt, während er blind bleibt für sie, hat er doch die falsche Helena am Strand bei seinen Gefährten gelassen. Obwohl Menelaos die eigene Frau nun mit Augen sehen kann, weigert er sich, sie anzuerkennen: »Du gleichst ihr zwar, doch kann ich es nicht glauben.«43 Der Grund für seinen Zweifel besteht in der Unmöglichkeit, daß es »belebte Bilder« geben könnte.44 Doch dann kommt ein Mitglied seiner Schiffsbesatzung und berichtet von einem Wunder: Helena habe sich vor den Augen der Mannschaft in Luft aufgelöst. Jetzt erst kommt es zur Anagnorisis, in der Menelaos den Blick seiner Gattin erwidert und sie als geliebten Anblick45 bezeichnet. Damit wird das für den Helenamythos so bedeutende Motiv des Blicks wieder aufgenommen. Im gegenseitigen Erkennen ist die Gefahr, die vom Blick der Helena ausgeht, gebannt. Der liebende Blick des Gatten Menelaos nimmt sie wieder in die Ordnung auf und garantiert ihr das Recht der Person. Auf diese Weise hat Euripides Helena gerechtfertigt und zugleich ein Drama geschrieben, das die Autonomie der menschlichen Einsicht betont: »Verstand und Einsicht ist der beste Seher.«46 Der zweite Teil des Stücks, der nun deutlich komödienhafte Züge annimmt, handelt von der Flucht der Griechen, die sich mit einem fingierten Seebegräbnis davonstehlen. Der göttliche Trug wird durch die menschliche List ersetzt, während das Vertrauen in die Götter und die seherische Deutung ihres Willens verschwunden ist. Mit dem Beginn des dritten Akts des Faust II befinden wir uns in Sparta, und zwar, glauben wir der Protagonistin, zur Zeit ihrer Rückkehr mit Menelaos aus Troja. Wie bereits gezeigt, knüpft Goethe damit von der Handlung her unmittelbar an die Troerinnen an. Das Versprechen, das Menelaos dort gab, Helena als Warnung für alle untreuen Ehefrauen bei der Rückkehr hinzurichten, soll sich bei Goethe erfüllen. Damit scheint der Aktbeginn eine Fortsetzung des Helenastoffes anzukündigen, der etwas noch nie Dargestelltes zu zeigen unternimmt: die Geschehnisse, die auf die Rückkehr von Menelaos und Helena nach Sparta folgen. Neben den Troerinnen ist die Helena von größerer Bedeutung für das Verständnis der Szene. Zwar unterscheiden sich der dritte Akt des Faust II und dieses Stück, was die Handlung betrifft, sehr stark, aber der Bezug ist trotzdem wichtig. Denn bei Goethe wird die Euri-
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Ebd., V. 577. Ebd., V. 583. Im griechischen Original: βλποντα σματα. Den griechischen Text zitiere ich nach der Ausgabe Euripides: ‘Ελνη / Helena. In: ders., Tragödien. Bd. IV. Hg. von Dietrich Ebener, Berlin 1977. Ebd., V. 636: » φιλττη πρσοψις.« Ebd., V. 757.
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pideische Unterscheidung von Sein und Schein mit deutlichem Rekurs auf Helena aufgehoben. Die Vergleichbarkeit beider Stücke wird zunächst über die gemeinsame Semantik gewährleistet: Hier wie dort reflektiert die Heldin über die Differenzen von Name und Person, Wahrheit und Lüge, Geschichte und Mythos. Andererseits besteht ein wesentlicher Unterschied darin, daß die Helena des Euripides das Bestehen dieser Differenzen an keiner Stelle bezweifelt, sich ihrer selbst völlig sicher bleibt und lediglich an der Ungerechtigkeit leidet, die ihr von Göttern und Menschen angetan wird. Dagegen führt Goethes Euripidesparodie die Stabilität dieser Unterscheidungen ad absurdum, indem er Helena als bloßes Sagen- oder Märchenphänomen gestaltet, das keine personale Identität besitzt. Helenas Prolog im Faust II besitzt eine Funktion, die mit dem Prolog der Euripideischen Helena sehr gut vergleichbar ist. Beide Helenen unterscheiden ihre Person von ihrem Ruf. Sie bedienen sich dazu der Erinnerung, die die bedrohte Identität durch das Erzählen der Lebensgeschichte bestätigt. Nur so, durch das Erzählen der eigenen Biographie, vermag sich das Subjekt vom Erzählen der anderen zu unterscheiden. Und dennoch werden beide Personen von ihren Erinnerungen zu völlig entgegengesetzten Resultaten geführt. Anders als bei Euripides wird nämlich bei Goethe die Identität der Person mit sich selbst nicht bestätigt, sondern aufgespalten. Von Anfang an enthüllt Helenas Prolog, daß sie mit ihrer Erinnerung zugleich vergessen will – ihre Kindheitserinnerung dient dazu, die Erlebnisse, die darauf folgten, aus dem Gedächtnis zu streichen: »Laßt mich hinein! und alles bleibe hinter mir, / Was mich umstürmte bis hieher, verhängnisvoll.« (Vv. 8508f.) In der Ansprache an den Palast soll unmittelbar an die Zeit vor ihrer Verbindung mit Paris angeknüpft werden: Gegrüßet seid mir der ehr’nen Pforte Flügel ihr, Durch euer gastlich ladendes Weiteröffnen einst Geschah’s daß mir, erwählt aus vielen, Menelas In Bräutigams-Gestalt entgegen leuchtete. (Vv. 8502–5)
Die Rückkehr ins Haus verbindet sich mit dem Versuch des Vergessens, was übrigens eine Parallele zu Fausts eigenem Fall zu Beginn des Dramas darstellt; nur daß hier die Auslöschung der Schuld nicht funktioniert, sondern im Gegenteil das Bewußtsein der Person schließlich von Erinnerungsbildern überschwemmt wird. Diese Anamnese ist das Werk von MephistoPhorkyas, der in die Rolle des Redaktors schlüpft und Helena in ihr eigenes Archiv zurückstößt, ihre Akten öffnet und ihr vorführt, daß sie keine personale Identität besitzt, sondern nur eine Chiffre darstellt, unter der sich verschiedenste Mythen verbergen.47 Die Anamnese Helenas hat mehrere Stu47
Die These, Helena gewinne im 3. Akt zunehmend an personaler Identität, stammt von Oskar Seidlin: Helena. Vom Mythos zur Person. In: Aufsätze zu Goethes Faust II, S. 195–226.
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fen. Bis zum Auftreten der Phorkyas hält Helena an ihrer Konstruktion fest: Man glaubt ihr oder soll ihr glauben, daß sie nicht aus der Unterwelt, sondern aus Troja wiederkehrt. Was sie insbesondere vergessen möchte, ist ihre Schönheit und ihre damit verbundene Wirkung auf Männer.48 Schon bevor sie auf Phorkyas trifft, mißlingt ihr Versuch jedoch. Auch der Chor besitzt anamnestische Funktion. Als Helena am Ende des Prologs die über sie kursierenden Erzählungen abweist (vgl. Vv. 8514f.), legt der Chor den Finger in die Wunde, indem er sie an ihre Männergeschichten erinnert: »Doch beugt sogleich hartnäckigster Mann / Vor der allbezwingenden Schöne den Sinn.« (Vv. 8522f.) Darauf entgegnet Helena mit einer abwehrenden Geste: »Genug!« So, als könne sie unmittelbar an ihre Vermählung mit Menelaos anknüpfen, gibt sie sich als pflichtbewußte Gattin aus: »[M]it meinem Gatten bin ich hergeschifft [...]« (V. 8524). Helena konstruiert also selbst ihren Mythos neu, indem sie versucht, alles Geschehene abzustreiten und sich als liebevolle treue Gattin darzustellen. Im Blick auf Euripides ist hieran interessant, daß dessen Mythos dadurch auf den Kopf gestellt wird. Die doppelte Helena des Tragikers wird bei Goethe zu einer Erfindung der Heldin, die sich als vorbildliche Ehefrau ausgibt und die Wahrheit – ihre Rolle als Verführerin – zum Mythos erklärt. Der Chor dagegen, der immer wieder auf ihre Schönheit und damit auf ihr Eroberungskünste zurückkommt, und Phorkyas, die ihr ihre Vergehen vorrechnet, hindern sie an dieser Konstruktion. Phorkyas erinnert Helena zunächst daran, daß sie ihre Pflichten versäumt hat. Kaum verhüllt sie ihre Vorwürfe: Den Hausgenossen drohen bleibt ein großes Recht, Das gottbeglückten Herrschers hohe Gattin sich Durch langer Jahre weise Leitung wohl verdient. Da du, nun Anerkannte ! neu den alten Platz Der Königin und Hausfrau wiederum betrittst, So fasse längst erschlaffte Zügel, herrsche nun, Nimm in Besitz den Schatz und sämtlich uns dazu. (Vv. 8800–6)
Phorkyas stört Helenas Strategie einer Identitätsbildung, damit sie die Realität der Bedrohung durch das Opfer einsieht und bereit ist, mit ihr zu Fausts Burg zu fliehen. Phorkyas muß Helena bewußt machen, daß sie nicht mehr in der Antike lebt, sondern aus der Unterwelt heraufgekommen ist und als eine Wiedergängerin existiert. Die »lange[n] Jahre«, die vergangen sind, mei-
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Vgl. dagegen Michael Neumann, der den friedlichen Charakter der Schönheit betont: »Was hier als das summum bonum in seiner Wirkung beschrieben wird, greift ebenso auf die friedliche Überwindung des Vulkanischen durch Galatee zurück, wie es auf die Begegnung Helenas mit Faust schon vorausweist.« Michael Neumann: Faust und Helena. In: Aufsätze zu Goethes Faust II, S. 227–242, hier S. 230.
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nen in Helenas Verständnis die Zeit der Abwesenheit in Troja und die Jahre der Irrfahrt, bezeichnen aber in Wahrheit die historische Zeit, die zwischen der Antike und dem Mittelalter, in dem die Handlung im Faust II spielt, vergangen ist. Helena kehrt also nicht, wie sie es glaubt, von Troja nach Sparta, sondern aus dem »Orkus« in die geschichtliche Zeit zurück.49 In der komödienhaften Beschimpfungsszene zwischen den Choretiden und Phorkyas wird die Erinnerung an die Unterwelt wachgerufen: Ihr habt in sittelosem Zorn Unsel’ger Bilder Schreckgestalten hergebannt, Die mich umdrängen, daß ich selbst zum Orkus mich Gerissen fühle, vaterländ’scher Flur zum Trotz. Ist’s wohl Gedächtnis? war es Wahn, der mich ergreift? War ich das alles? Bin ich’s? Werd ich’s künftig sein, Das Traum- und Schreckbild jener Städteverwüstenden? (Vv. 8834–40)
An dieser Stelle beginnt Helena sich darüber klar zu werden, daß die Differenz zwischen ihrer persönlichen Erinnerung und dem »Märchen« schwindet. Sie ahnt, daß ihre Identität die paradoxe Form einer Einheit vieler unterschiedlicher Erzählungen besitzt, die sich nicht mehr in eine lebensgeschichtliche Erzählung integrieren lassen. Das belegt der Fortgang des Dialogs mit Phorkyas. Gemeinsam mit ihr beginnt Helena, sich zu erinnern. Zunächst läßt sich die Aufzählung lebensgeschichtlicher Ereignisse noch mit der Vorstellung einer Einheit der Person verbinden: Helena wäre demnach mit dreizehn Jahren von Theseus entführt und von Castor und Pollux befreit worden (vgl. Vv. 8848– 52); sie hätte sich auf den Wunsch ihres Vaters mit Menelaos vermählt (Vv. 8856f.) und mit diesem eine Tochter, Hermione (V. 8859), gezeugt, bevor sie sich von Paris entführen ließ. (Vv. 8860f.) Phorkyas wäre als Schaffnerin eingestellt worden, um in der Abwesenheit des Menelaos während der Fahrt nach Troja das Haus zu verwalten. (Vv. 8866f.) Doch diese Form einer erinnernden und identitätsbildenden Erzählung zerbricht mit der Nennung der Euripideischen Helena: »Doch sagt man, du erschienst ein doppelhaft Gebild, / In Ilios gesehen und in Ägypten auch.« (Vv. 8872f.) Diese Aussage der Phorkyas stellt in mehrfacher Hinsicht eine Wende in dem Gespräch dar: Erstens wird damit die vorausgegangene Fiktion einer Einheit der Person Helenas zerbro-
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Der Zeitsprung wird im Medium des Raums dargestellt: die Wiederkehr übers Meer, das Schaukeln der Welle symbolisieren die vergangene Zeit; auch der tote und ausgestorbene Palast fungiert als Metapher für das Vergangensein der griechischen Antike. Der Übergang von einer in die andere Zeit stellt sich als Übergang von einem Ort (Sparta) zum andern (der Burg Fausts in Mistra) dar. So kann man mit einer Formulierung von Richard Wagner sagen: »Zum Raum wird hier die Zeit.« Richard Wagner: Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel. In: ders., Dichtungen und Schriften. Bd. IV. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a.M. 1983, S. 281–331, hier S. 295.
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chen, denn Helena kann nicht gleichzeitig als dieselbe Person in Troja und Ägypten gewesen sein, wie der Gebrauch des Personalpronomens durch Phorkyas insinuiert: »du erschienst ein doppelhaft Gebild« kann nur heißen, daß diese Person selbst ein doppelhaftes Gebild auch ist, so daß der Unterschied zwischen Bild und Trugbild in diesen Versen aufgehoben und statt dessen die Ununterscheidbarkeit von beidem bezeichnet ist. Eine solche Verdopplung der Person muß aus Sicht der Protagonistin als »Aberwitz« (V. 8874) erscheinen. Doch Phorkyas setzt die Aufzählung der Geschichten noch über den Tod der Heldin hinaus fort: »Dann sagen sie: aus hohlem Schattenreich herauf / Gesellte sich inbrünstig noch Achill zu dir; / Dich früher liebend, gegen allen Geschicks Beschluß.« (Vv. 8876–8) Eine solche Aussage läßt sich nur aufrecht erhalten, wenn die Fiktion einer Rückkehr aus Troja durch die Wiederkehr aus dem Hades ersetzt wird. Diese müßte dann aber im Faust II bereits zum wiederholten Male stattfinden, denn mindestens einmal – mit Achill – hat Helena schon eine postmortale Beziehung geführt. Deutlich erkennbar wird hier, daß der fiktive Sinn des Gesprächs von Phorkyas und Helena eine metafiktionale Funktion besitzt. Gemeint ist in dieser Aufzählung von Lebensstationen nicht nur der fiktive Lebenslauf der dramatischen Person Helena, sondern zugleich die vorangegangene Rezeptionsgeschichte des Stoffes, die in Goethes Drama fiktional dargestellt wird: Das Gespräch mit Phorkyas gleitet von der Handlungsebene fast unmerklich in eine Dramatisierung der Verfahren und der Intertextualität hinüber. Helena erscheint als paradoxe Verschränkung verschiedener Textebenen: Als fiktive Person wird sie von ihren intertextuellen Doppelgängerinnen bedroht, die ihre personale Identität aufheben. Dieser Fiktionsbruch wird – das ist die zweite Beobachtung – durch den Übergang von direkter zu indirekter Rede angezeigt: »doch sagt man« und »dann sagen sie« – mit dieser Betonung des ›Sagens‹ markiert Phorkyas, daß Helena keine eigentliche personale Existenz besitzt, sondern lediglich ein Rezeptionsphänomen darstellt. Diese metafiktionale Erkenntnis war schon von Beginn an im 3. Akt angelegt. Die ersten Sätze Helenas: »Bewundert viel und viel gescholten Helena« (V. 8488) lassen sich im Lichte der zitierten Stelle nicht mehr nur als Aussagen über die fiktive Person deuten. Gemeint ist nicht nur, daß diese Person im Lauf ihres Lebens viel bewundert und gescholten wurde, sondern daß sich die Rezeption des Helenastoffes immer wieder um dieses Feld von Bewunderung und Schelte organisiert hat. Phorkyas Formulierungen verweisen auch auf die Schlußsätze von Helenas Prolog. Dort wies Helena von sich, was ihr hier bescheinigt wird: ein Sage(n)phänomen zu sein: Denn seit ich diese Stelle sorgenlos verließ [...] Ist viel geschehen, was die Menschen weit und breit So gern erzählen, aber der nicht gerne hört, Von dem die Sage wachsend sich zum Märchen spann. (Vv. 8510, 8513–15)
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Auch diese Formulierungen Helenas verraten einen Übergang von der Fiktion zur Metafiktionalität und von der syntagmatischen Folgerichtigkeit der Handlung zur Bezeichnung des mythologischen Paradigmas, dem sie entstammt: »Diese Stelle« meint einerseits den Palast des Menelaos, aber sie bezeichnet auch den Schritt Helenas vom konkreten Ort der dargestellten Welt in die mythologische Rezeptionsgeschichte. Das Verlassen der mythischen Heimat markiert die Verwandlung der Figur in ein mythologisches Bild, das kein reelles Substrat mehr besitzt. Der Versuch, sich der Heimat im Medium der Erinnerung wieder zu bemächtigen, scheitert an der Ursprungslosigkeit der mythologischen Figur, denn aus »Sage« und »Märchen« führt kein Weg mehr zurück in die eigentliche Existenz. Zwar versucht Helena zunächst, sich in ähnlicher Weise wie ihre Vorgängerin bei Euripides von den Erzählungen zu unterscheiden. Doch in ihrer Konfrontation mit Phorkyas wird deutlich, daß das »Ich« mit dem Helena auftritt, nicht das ursprüngliche Ich ist, von dem die Erzählungen ausgehen, sondern eine nachträgliche Erfindung, die das Prinzip des Erzählens, des märchenhaften Fortspinnens nur noch ein weiteres Mal bestätigt. Diesen Beobachtungen läßt sich noch eine dritte hinzufügen: Das Gespräch mit Phorkyas stellt eine höchst aufschlußreiche Inversion der Anagnorisis der Helena des Euripides dar, die im Faust II die Struktur der Selbsterkenntnis annimmt. Das Gespräch zwischen Phorkyas und Helena kommt mit Helenas Einsicht zum Abschluß, nur ein Trugbild – ein Idol – zu sein. Als solches habe sie sich mit dem toten Achill vermählt.50 Ich als Idol, ihm dem Idol verband ich mich. Es war ein Traum, so sagen ja die Worte selbst. Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol. (Vv. 8879–81)
Das griechische Εδωλον kann bedeuten: »1. Gestalt, Bild, Schatten-, Trugbild, εδωλα καμντων 2. NT Nachbildung, Götzenbild.«51 Der Begriff kann sich hier sowohl auf das Schattenbild der beiden Verstorbenen beziehen, die sich im Totenreich vermählen, wie auch auf das Traumbild, als das Helena schon dem lebenden Achilles erschienen sein soll. Hierüber erzählt Hederich folgendes: Denn da er sie einstens auf der trojanischen Mauer gesehen, so war er dergestalt von ihr entzündet worden, daß er keine Ruhe davor hatte. Er bath also seine
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Zu dieser Variante s. Hederich: Gründliches mythologisches Lexicon, Art. »Achilles«: »Jedoch melden auch andere, daß er auf einer Insel [...] begraben worden, und daß er sich in den elysischen Feldern, nach einigen, mit der Medea, [...] nach andern mit der Helena, [...] und, nach den dritten, mit der Iphigenia wiederum vermählet habe.« (Ebd., Sp. 39.) Siehe auch den Art. »Helena«, wo von ihrer Vermählung mit Achilles auf Leuce und der Zeugung des Euphorion berichtet wird. So der Eintrag im Griechisch-deutsche[n] Handwörterbuch von Wilhelm Gemoll. 9. Aufl., München 1965.
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Mutter Thetis, einiges Mittel ausfündig zu machen, wie er ihrer Liebe genießen könnte. Thetis stellete sie ihm also, um ihn zu befriedigen, im Traume vor, und linderte dadurch seine Leidenschaft.52
Der Begriff des Eidolon erscheint auch bei Euripides, um die trügerische Helena zu entlarven und sie von der echten zu unterscheiden. So z.B. in der paradoxen Verbindung als εδωλον μπνο ν – also als lebendes Ab- oder Trugbild.53 Auch den Begriff der δκησις gebraucht Euripides, um das Trugbild als bloße Meinung und leeren Glauben zu bezeichnen.54 Als Helena Menelaos zu überzeugen versucht, daß nicht sie, sondern nur ein Trugbild nach Troja gegangen sei, gebraucht sie wieder den Begriff des Eidolons.55 Das Idol bei Goethe verweist auf diesen Prätext des Euripides, aber es verbindet sich auch mit dem Traumgesicht des Achilles. Trugbilder im antiken Kontext können entweder Ergebnisse bloßer Einbildung sein oder trügerische Erfindungen der Götter. In der Moderne dagegen verweist der Begriff auf die in der Antike ganz undenkbare autopoetische Kraft der Poesie. Als Menelaos Helenas Geschichte anhört, antwortet er ungläubig: »Wer kann belebte Bilder schaffen?«56 und die Antwort ist klar: Nur ein Gott kann das. Die Tragödie des Euripides dagegen steht auf der Seite der ontologischen Wahrheit, die sie zur Geltung bringt – auch dann, wenn sie zeigt, wie sich die Meinung der Menschen im Trug verstrickt. Die Unterscheidung der Wahrheit vom Augenschein findet sich in der Anagnorisis wieder aufgehoben, in der dem Original gegenüber dem verschwundenen Trug eine ganz eigene Evidenz zukommt. Ganz anders die Selbsterkenntnis der Helena bei Goethe. Sie läßt die Unterscheidungen bei Euripides in ihr Gegenteil umkippen: Die vermeintlich – d.h. innerhalb der Fiktion – echte Helena ist selbst nur ein Idol. Sie unterscheidet sich in keiner Weise von ihren Doppelgängerinnen. Sie ist wie diese ein Erzeugnis der Archivpoetik. Die Frage des Menelaos bei Euripides, wer belebte Bilder schaffen könne, wird im Faust II mit den Verfahren des Textes beantwortet. Die Idolszene des Helena-Akts setzt daher die poetische Reflexion der Rittersaalszene fort. Dort wurde die Scheinhaftigkeit der Helena im Zusammenhang mit der magischen Praxis thematisiert. Die These der Untersuchung der Helenabeschwörung im »Rittersaal«, daß sich dort eine absolute Realität des Scheins etabliert, die externe Referenzen dazu nutzt, um sich in Form einer Dramatisierung der Darstellungsverfahren selbst zu beob52 53
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Hederich: Gründliches mythologisches Lexicon, Art. »Helena«, Sp. 1223. So berichtet Helena, daß Hera dem Alexandros nicht sie gegeben habe, »λλ’ μοισασ μο / εδωλον μπνο ν ορανο ζυνϑεσ πο« – also ein aus Luft bestehendes lebendes Abbild, das der Helena ähnlich ist. Euripides: Helena, Vv. 33f. So z.B. ebd. V. 121f, wo Helena zu Teukros sagt: »οτω δοκετε τν δκησιν σφαλ;« und dieser entgegnet: »ατς γρ σσοις εδμην κα νο ς ρ.« »οκ λϑον σ γν Τροωδ , λλ εδωλον ν.« Ebd., V. 582 Ebd. V. 583: »κα τς βλποντα σματα χεργζεται;« Die dt. Übersetzung wurde leicht modifiziert.
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achten, bestätigt sich auch im dritten Akt. Hier wird der magische Schein nicht ›objektiviert‹, d.h. er steht der Magie Fausts nicht wie etwas ›Objektives‹ der ›subjektiven‹, ›inhaltslosen‹ ›Trugbildhaftigkeit‹ gegenüber.57 Vielmehr bleibt der trugbildhafte Status der Helena auch im dritten Akt erhalten. Der Begriff des ›Trugbilds‹ bezeichnet also eine Ordnung jenseits der Urbilder. Das unterscheidet ihn vom Begriff des Scheins, mit dem man lange das Wesen der Helena beschrieben hat. So wies z.B. Katharina Mommsen schon vor mehr als dreißig Jahren darauf hin, daß der ästhetische Scheincharakter Helenas aus der Trennung von Natur und Kunst resultiere, die Goethes klassische Ästhetik (wie wohl jede Klassik) auszeichnet.58 Und in jüngster Zeit hat Jochen Schmidt gezeigt, wie in der Anagnorisis das Helenaidol von einer personalen Existenz der Heldin gelöst wird, um im Fortgang der Handlung als Rezeptionsphänomen der Literatur- und Kunstgeschichte behandelt zu werden.59 Doch diese Gegenüberstellungen von Schein und Sein, Natur und Kunst, personaler und rezeptionsästhetischer Existenz unterläuft Goethes Text kunstvoll. Der Begriff des Idols erklärt sich nicht schon durch einen Hinweis auf Helenas ästhetischen Charakter, denn Kunst produziert immer Schein. Im Unterscheid zum bloßen Schein des Abbildes, das die Existenz eines Urbildes voraussetzt, gleichgültig ob man dieses historisch oder metaphysisch konzipiert, ähneln sich Trugbilder dem Urbild bis zur Ununterscheidbarkeit an, sie nehmen die Unterscheidung von Original und Abbild in sich hinein und konstituieren so eine eigene ambivalente Welt trügerischer Referenzen.60 Das bedeutet allerdings nicht, daß Trugbilder wirkungslos wären, sie produzieren vielmehr »Ähnlichkeitseffekte«,61 usurpieren den Platz der Idee und führen die Subjekte, die ihnen verfallen, in die Irre. Helena bringt mit dem Einbekenntnis ihres Idolcharakters die fundierende Opposition der Euripideischen Tragödie zum Einsturz. In der Imitation der antiken Tragödie bleibt deren transzendenter Bezug unerfüllt und die reine ästhetische Immanenz des Trugbildes rückt an die Stelle ideellen Scheins. Damit bleibt die Antike nicht länger mehr »wahres Muster«,62 aber sie ist auch nicht nur eine historische Allegorie.63 Sie partizipiert vielmehr in irritierender Weise an den beiden Sphären
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So z.B. Thomas Zabka: Faust II, für den die »erste Helenaerscheinung am Ende des 1. Aktes [...] ein rein subjektives Phänomen [ist], dem ein falscher objektiver Status zugeschrieben wird.« (Ebd. S. 140.) Katharina Mommsen: Natur und Fabelreich in Faust II. Berlin 1968. Vgl. Jochen Schmidt: Helena im ›Faust II‹. In: Goethes Rückblick auf die Antike, S. 161–175, hier S. 163. Vgl. Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Frankfurt a.M. 1993, und dort das Kapitel »Platon und das Trugbild«, S. 311–324. Ebd., S. 315. So Thomas Gelzer: Helena im Faust, S. 237. So Heinz Schlaffer: Faust Zweiter Teil, S. 99ff.
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der Geschichte und der Vollkommenheit, ohne daß man sie einer von beiden zurechnen könnte. So sehr nämlich die Antike für Goethe bereits historisch geworden sein mag, so sehr die Anwesenheit Helenas im modernen Stück sich als Simulation enthüllt, so gewiß ist es auch, daß sie als Simulation, als Trugbild, anwesend ist. Wiederbelebung der Antike – von Heinz Schlaffer ausgeschlossen64 – gelingt in der Fiktion, die zwar, weil sie ausdrücklich als Trugbild bezeichnet wird, nicht mehr an der Sphäre der Idee teilhaben kann, aber dennoch so tut, als könne sie es. Weil Helena als anwesend ausgegeben wird und im Stück ihre Wirkung erzielt, ist sie auch nicht rein historisch. Sie verkörpert vielmehr – als Trugbild – den Standpunkt moderner Kunst im Zwischenraum zwischen Immanenz und Transzendenz.
3. Augenblick und Augen-Blick Im Fortgang des Helena-Aktes kommt es zu neuen Sinnzuschreibungen an das Trugbild der Helena. Damit wird die Opposition der Präsenz- und der Differenzpoetik fortgesetzt. Helena, die aus dem Wissen der Philologie als Produkt mythopoetischer Verfahren gedeutet wurde, ist zugleich auch das Objekt männlicher Begierde. Trotz der historisierenden Einsicht in das Wesen der Mythologie bleibt der Wunsch nach Erfahrung der Anwesenheit der mythischen Frau und damit die Überschreitung des Wissens auch im Helena-Akt poetologisch relevant. Das Wechselspiel von Historisierung und zeitenthobener Präsenzerfahrung kommt nicht zur Ruhe. Es findet seinen Ausdruck in der Doppelbödigkeit des Augenblicks als Zeitpunkt und Augen-Blick, der den dritten Akt strukturiert. Bereits in den Tragödien des Euripides spielte der Blick der Helena eine entscheidende Rolle. Von ihm ging die Bedrohung der Ordnung aus, und seine Zähmung war die Voraussetzung für Helenas Rechtfertigung. Bei Goethe wird dieses Spiel der Blicke weitergespielt und erhält neue Funktionen. Als Handlungselement strukturiert der Blick die Beziehung Helenas zu den im Drama auftretenden bzw. im Fall des Menelaos nur erwähnten Männer: Menelaos, Lynkeus, Faust und Euphorion treten mit Helena in unterschiedlicher Weise in Blickkontakt. Diese Blicke sind zweitens auch Metaphern für literarische Epochen, denn mit der jeweiligen Blickkonstellation verbinden sich historische Liebesdiskurse. Diese werden zu Medien, in denen sich die ästhetische Selbstbeobachtung des Faust II fortsetzt. Am Anfang steht der von Menelaos verweigerte Blick.65 Die Schließung des Blickkontaktes ist in der Antike nicht mehr möglich. Erst im Mittelalter, in Fausts Burg, beginnt ein neues Kapitel der Wirkungsgeschichte Helenas.
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Vgl. ebd., S. 108. Vgl. Vv. 8535f.
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Als Helena dort ankommt, begegnet sie der Welt des mittelalterlichen Minnesangs. Bereits Horst Rüdiger hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich in der Szene »Innerer Burghof« zahlreiche Zitate besonders aus den Liedern Heinrich von Morungens finden.66 Auch auf persisch-arabische Motive griff Goethe zurück.67 Die Lieder des Lynkeus werden in eine Situation eingebettet werden, die der Lyrik der mittelalterlichen Sänger entstammt,68 Die Pragmatik des Minnesangs, für die Hugo Kuhn den Begriff der ›Aufführungssituation‹ prägte,69 besteht in der Liebeswerbung, die das lyrische Subjekt an die höfische Dame richtet. Während die Werbung der Fiktion nach heimlich bleiben muß, handelt es sich doch um ein illegitimes Liebesverlangen des untergeordneten Vasallen gegenüber der Dame des Lehnsherren, richtet sie sich faktisch an ein höfisches Publikum, dem die Lieder vorgetragen werden. Daher verliert die Fiktion der Liebeswerbung ihren pragmatischen Sinn – sie bleibt konstitutiv erfolglos, und dies ist die Voraussetzung dafür, daß sich eine Liebesrede entfalten kann, deren Wesensmerkmal in der Unerfülltheit besteht.70 Ein zentrales Motiv des Minnesangs, in dem sich die Liebeswerbung kondensiert, ist die Bitte um den Blick der Frau. Während das männliche Subjekt sich in der Position des Schauenden imaginiert, verweigert ihm die Verehrte meist die Gnade einer Erwiderung; manchmal blickt sie auch zurück, was dann die Liebesqualen nur noch mehr steigert. Bei der Ankunft Helenas wird diese pragmatische Situation nachgespielt. Lynkeus, der beim Anblick der schönen Frau pflicht- und selbstvergessen in Ekstase verfällt, boykottiert die höfische Ordnung. Sein Begehren richtet sich allzu offensichtlich auf die herannahende Dame und bedroht damit die Machtstellung des Herrn, droht das feste Gefüge der Lehnsherrschaft zu sprengen. Die Gefahr, die von Helena ausgeht, faßt Faust darum in diese Worte:
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Vgl. Horst Rüdiger: Weltliteratur in Goethes ›Helena‹, S. 183f., wo diese Zitate im einzelnen nachgewiesen werden. Quelle Goethes war: Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter. Neu herausgegeben und bearbeitet von Ludewig Tieck. Berlin 1803. Hierzu bes. Katharina Mommsen: Goethe und 1001 Nacht. Zürich 1960, S. 264–290, und Gabriele Hesse-Belasi, Signifikationsprozesse, S. 154–156. Vgl. Gabriele Hesse-Belasi: Signifikationsprozesse in Goethes ›Faust‹ Zweiter Teil, S. 153: In der Szene werde »die Minnesangsituation als Performanzform szenisch zur Darstellung gebracht.« Hugo Kuhn: Minnesang als Aufführungsform. In: ders., Text und Theorie. Stuttgart 1969, S. 182–190. Dies nach Andreas Kablitz: Die Minnedame. Herrschaft durch Schönheit. In: Mittelalterliche Menschenbilder. Hg. von Martina Neumeyer. Regensburg 2000, S. 79–118, bes. S. 82f.: »[A]n die Stelle der Dame tritt das Publikum als der Adressat der Rede. Die dadurch strukturell bedingte pragmatische Wirkungslosigkeit der Werbung aber schafft zugleich den Freiraum für die Entstehung einer Sprache des Eros, die sich gerade im Horizont ihrer intendierten Erfolglosigkeit entwickeln kann.«
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Was bin ich nun? Auf einmal machst du mir Rebellisch die Getreusten, meine Mauern Unsicher. Also fürcht’ ich schon, mein Heer Gehorcht der siegend unbesiegten Frau. Was bleibt mir übrig? als mich selbst und alles, Im Wahn das Meine, dir anheim zu geben. (Vv. 9264–69)
Faust schleppt Lynkeus, den er zum Tode verurteilte, vor Helena, der es frei gestellt wird, ihn zu begnadigen. In dieser Szene wird die absolute Macht der Frau über den Sänger einerseits erotisch, andererseits juristisch codiert. Mit der Begnadigung des Lynkeus durch Helena und der Verbindung von Faust und Helena wird eine Ordnung bestätigt, die den Gesang des Lynkeus im Sozialen fundiert. Die unmittelbare Hingabe an den Trieb muß Lynkeus unterdrücken, seine Werbung und seine erotische Leidenschaft, die im außerästhetischen Bereich das herrschaftliche Machtgefüge bedrohen, haben ihren Platz nur im pragmatisch wirkungslosen Gesang. Das Verbot Fausts, der das reale Liebeswerben seines Vasallen untersagt, begründet den Gesang, in dem das Begehren nach dem Blick und dessen Verweigerung, die Macht und die Qual der Schönheit in poetischer Sprache verhandelt werden, gerade weil die reale Erfüllung nicht möglich ist. Der Binnenpragmatik der Minnelyrik entspricht eine weltliche Liebeskonzeption, deren Eigentümlichkeit in der unbedingten Hingabe an die verehrte Dame besteht. Diese absorbiert alles, wird zum alleinigen, den Verstand und die Affekte beherrschenden Objekt, dem das Subjekt ausgeliefert ist. Dieses Ausgeliefertsein an die allmächtige Frau setzt den Sänger einem beständigen Wechselspiel von Qualen und Hoffnung, von Todessehnsucht und Freude aus, in dem die Gegensätze zusammenstürzen. In der paradoxen Rede besteht eine Verwandtschaft der Schönheitserfahrung mit der Gotteserfahrung der Mystik. Die schöne Dame ist der absolute, sich entziehende und niemals erfüllende Gegenstand, der aber zugleich das Leben und die Kunst überhaupt erst begründet. Die Schönheit erhält transzendentale Bedeutung, da sie den Gesang erst ermöglicht und von diesem niemals eingeholt werden kann; andererseits bleibt sie in den unendlichen affektiven Wirkungen erfahrbar, die sie auf den Sänger ausübt. Die schöne Frau des Minnesangs verschränkt Immanenz und Transzendenz, stellt eine Verwirklichung des Transzendenten in der Welt dar, denn sie verweist weder auf ein jenseitiges, der Welt entzogenes göttliches Sein, noch erfüllt sich die Sehnsucht des Sängers in der Immanenz der Sinnlichkeit. Vielmehr bedeutet der Anblick der Dame eine Neubegründung der Wirklichkeitserfahrung, eine intensive Steigerung der Affekte, in der sich die Wirklichkeit neu erschließt. Diesen Wandel des Subjekts, das in seiner totalen Abhängigkeit von der Frau einen neuen erotischen Diskurs findet, thematisiert das erste Lynkeusgedicht:
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Laß mich knieen, laß mich schauen, Laß mich sterben, laß mich leben, Denn schon bin ich hingegeben Dieser gottgegebnen Frauen. Harrend auf des Morgens Wonne, Östlich spähend ihren Lauf, Ging auf einmal mir die Sonne Wunderbar im Süden auf. Zog den Blick nach jener Seite, Statt der Schluchten, statt der Höh’n Statt der Erd- und Himmelsweite, Sie die Einzige zu spähn. (Vv. 9218–9229)
Der Anblick der »Einzigen« (V. 9229) sammelt alle Aufmerksamkeit des Mannes; die Wirklichkeit, die sich der Wahrnehmung in Kategorien des Raumes und der Zeit erschließt, wird in diesem Anblick neu organisiert: Die Sonne geht im Süden auf, die Schöne versammelt alle Affekte. Durch diese Ausschließlichkeit des Schönen besitzt die Welt nun ihren Mittelpunkt in der Frau. Sie verleiht dem Subjekt eine neue Fähigkeit des Sehens und eine neue Erfahrungsintensität, die zugleich als Bruch mit dem Vorangegangenen erlebt wird: Der scharfe Blick des Lynkeus wird blind, sein Orientierungswissen verliert sich, aber er erhält die Welt von der Frau zurück: Augenstrahl ist mir verliehen Wie dem Luchs auf höchstem Baum, Doch nun mußt’ ich mich bemühen Wie aus tiefem düsterm Traum. Wüßt’ ich irgend mich zu finden? Zinne? Turm? geschloßnes Tor? Nebel schwanken, Nebel schwinden Solche Göttin tritt hervor! Aug’ und Brust ihr zugewendet Sog ich an den milden Glanz, Diese Schönheit wie sie blendet Blendete mich Armen ganz. Ich vergaß des Wärters Pflichten, Völlig das beschworne Horn, Drohe nur mich zu vernichten, Schönheit bändigt allen Zorn. (Vv. 9230–45)
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Die schöne Frau kann als »gottgegeben« (vgl. V. 9221) und als »Göttin« (V. 9237) bezeichnet werden, weil sie als eine Macht vorgestellt wird, die dem Seienden erst ein Sein verleiht. Helena, die hier als schöne Dame des Minnesangs imaginiert wird, verbleibt also nicht in der Immanenz des ästhetischen Scheins, sondern als ästhetisches Phänomen scheint sie zugleich auch das Leben neu zu organisieren. Die von Faust erstrebte mythische Identität, in der die Differenz von Kunst und Leben und die auseinanderstrebenden Teilbereiche der Moderne zu einer neuen Ganzheit zusammenfinden sollen, wird hier als möglich dargestellt, allerdings nur im zitathaft vermittelten Rückblick auf ein phantasiertes Mittelalter. Während Lynkeus die faktische Unerreichbarkeit der schönen Frau in eine Liebessemantik übersetzt, die eine Steigerung der Wahrnehmungsqualitäten und eine Verfeinerung der Affektstrukturen ermöglicht, kommt Faust zu einer wesentlich konkreteren Erfüllung seines Begehrens. Wie um seinen Herrschaftsanspruch auf den Blick der Minnedame vor seinen versammelten Vasallen zu bestätigen, vollzieht er mit Helena öffentlich die Vereinigung, was der Chor wortreich kommentiert: Nah und näher sitzen sie schon Aneinander gelehnet, Schulter an Schulter, Knie an Knie, Hand in Hand wiegen sie sich Über des Throns Aufgepolsterter Herrlichkeit. Nicht versagt sich die Majestät Heimlicher Freuden Vor den Augen des Volkes Übermütiges Offenbarsein. (Vv. 9399–410)
Mit dieser Besiegelung des exklusiven Anspruchs Fausts auf die schöne Dame gehen Poesie und Wirklichkeit eine neue Beziehung ein. Im Nachvollzug der poetischen Sprache, also im Erlernen des Reims durch Helena, wird zugleich ihre Vereinigung mit Faust darstellbar. Die Sprache nähert sich damit der Einheit von Poesis und Mimesis des mythischen Sprechens an, weil jeder Vers zugleich die Handlung vollzieht, die er beschreibt.71 So wird der Genuß, mit dem Helena die Situation erfaßt, nicht nur bezeichnet, sondern auch im Moment und durch die Bezeichnung erst hervorgebracht. Die Reimszene ist daher keine Kommentierung, sondern die symbolische Darstellung der erotischen Vereinigung. Im Gefühl des gesteigerten Daseins wird die Welt als sinnerfüllt erfahren: »Ich atme kaum, mir zittert, stockt das Wort, / Es ist ein
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Vgl. Albrecht Schöne: »Hier wird dieser Vorgang [der Reimerfindung, S.S.] in Szene gesetzt – als bilde in Fausts und Helenas Wechselrede und dem Einklang ihrer Reime geradezu der hochzeitliche Akt sich ab.« (FA I, 7/2, S. 612.)
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Traum, verschwunden Tag und Ort.« (Vv. 9413f.) Die Faustkommentare verweisen bei der Erläuterung dieser Szene meist auf ein Gedicht aus dem Westöstlichen Divan, in dem die sagenhafte Erfindung des Reims als Liebesgespräch beschrieben wird.72 Es gibt allerdings auch in Ludwig Tiecks Vorwort zu seiner Minnesang-Sammlung, die Goethe als Quelle nutzte, eine aufschlußreiche Stelle. Tieck faßt dort den Reim als Sehnsucht nach Verschmelzung der Worte und als Übergang der Sprache zu Musik auf, in der die Grenzen und Distinktionen schwinden und ein Einheitserleben möglich wird. Fausts Verlangen nach Identität findet in dieser Darstellung des mittelalterlichen Gesangs durch Tieck ein passendes Gegenstück: Dem reimenden Dichter verschwindet das Maß der Längen und Kürzen gänzlich, er fügt nach seinem Bestreben, welches den Wohllaut im gleichförmigen Zusammenhang der Wörter sucht, die einzelnen Laute zusammen, unbekümmert um die Prosodie der Alten, er vermischt Längen und Kürzen um so lieber willkürlich, damit er sich um so mehr dem Ideal einer rein musikalischen Zusammensetzung annähere. Eine unerklärliche Liebe zu den Tönen ist es, die seinen Sinn regiert, eine Sehnsucht, die Laute, die in der Sprache einzeln und unverbunden stehen, näher zu bringen, damit sie ihre Verwandtschaft erkennen und sich gleichsam in Liebe vermählen.73
In der Reim-Szene scheint die mythische Einheit von Sprache und Welt erreicht zu sein, die Faust seit der Beschwörung erstrebte. Mehr noch: Über diese Identität hinaus wird er zur Reinkarnation des antiken Heros, seine Burg und der anschließende Ansturm der Truppen des Menelaos zur Wiederholung des Trojanischen Krieges. Aus seinem Identitätserlebnis heraus begründet Faust seine neue Ordnung, durch die Ästhetik und Politik im Mythos vereint sind: Die Neuverteilung des Landes durch den neuen Herrn aus dem Norden entspringt unmittelbar dem Erleben der Einheit. Und doch ist diese erreichte Mythisierung vielfach gebrochen: Zweischneidig ist schon der Charakter der mythischen Wiederholung, da diese eine Distanz und eine Differenz voraussetzt, die dem Mythos als differenzloser Einheit gar nicht zukommen kann. Auch sind die Darstellungsformen, die Goethe benutzt, deutlich als Zitate ausgewiesen. Schließlich, das ist der wichtigste Punkt: Die Handlung und die Zeit gehen weiter. Man findet eine ähnliche Verschränkung von Perspektiven wie im Rittersaal: Für die handelnden Personen stellt die Szene einen transitorischen Augenblick der Erfüllung dar, während seine mythische Dimension durch die Historisierung der Formen relativiert wird. Die geschilderte ekstatische Zeiterfahrung bildet die Grundlage für die anschlie-
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»Behramgur, sagt man, hat den Reim erfunden, / Er sprach entzückt aus reiner Seele Drang; / Dilaram schnell, die Freundinn seiner Stunden, / Erwiederte mit gleichem Wort und Klang.« (FA I, 3/1, S. 92.) Ludwig Tieck: Die altdeutschen Minnelieder. In: ders., Kritische Schriften Bd. I, S. 185–214, hier S. 199. (Vorrede zu: ders., [Hg.]: Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter.)
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ßende Imagination des Goldenen Zeitalters, mit der Faust Helena nach Arkadien einlädt. In seinem Gedicht wird die Verbindung von der mit Helena erlebten mythischen Vereinigung zur Vorstellung einer Wiederkehr der Götter gezogen. Die Arkadienschilderung scheint die wieder erlangte mythische Identität zu bestätigen: Hier ist das Wohlbehagen erblich, Die Wange heitert wie der Mund, Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich: Sie sind zufrieden und gesund. Und so entwickelt sich am reinen Tage Zu Vaterkraft das holde Kind. Wir staunen drob; noch immer bleibt die Frage: Ob’s Götter, ob es Menschen sind? So war Apoll den Hirten zugestaltet Daß ihm der schönsten einer glich; Denn wo Natur im reinen Kreise waltet Ergreifen alle Welten sich. (Vv. 9550–9561)
Anläßlich der Arkadiendarstellung im Faust II hat Ernst Robert Curtius davon gesprochen, das Drama sei »eine ›Wiederbringung aller Dinge‹ (Apg. 3,21) im Weltprozeß der Literatur.«74 Daß hier die Wiederaneignung literarischer Traditionen – unsere Archivpoetik – an die Stelle einer religiös fundierten Wiederbringungslehre gerückt ist, bedeutet allerdings auch, daß die Vorstellung der mythischen Zeit, in der die Götter mit den Menschen verkehrten, nur noch als Zitat, in einer historischen Brechung, weiterlebt. Fausts Arkadienhymnus setzt sich zu großen Teilen aus klassischen Zitaten zusammen, so etwa aus den Metamorphosen Ovids, dessen Schilderung der aetas aurea Goethe stark verpflichtet ist.75 Das literarische Archiv ermöglicht so einerseits die ›Wiederbringung‹, nimmt sie andererseits aber auch wieder in sich zurück, da sie letztlich Zitatcharakter besitzt. Die Natur, die Menschen und die Götter bilden in dieser Arkadienvision eine Einheit, während gleichzeitig deutlich bleibt, daß Faust hier einen Topos aufgreift, ohne daß er noch wirkliche Geltung haben könnte. Nicht nur der beinahe klischeehafte Charakter dieser Verse, die Art, wie eine traditionelle Vorstellung an die nächste gereiht wird, sondern vor allem der Fortgang der Handlung bestätigen, daß die mythische Präsenzerfahrung Fausts nur einen transitorischen Charakter
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Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 196. Horst Rüdiger: Weltliteratur in Goethes Helena, hat im einzelnen die zahlreichen Anspielungen in Fausts Gedicht nachgewiesen (ebd., S. 190–194) und die »eigentümliche Form des beschwörenden ›Zitierens‹« daran hervorgehoben. (Ebd., S. 193.) Auch Horst Römer: Idylle und Idyllik in Goethes »Faust II«, in: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 11 (1976), S. 137– 163 weist die Anspielungen nach.
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besitzt. Die aus der modernen Erfahrung begründete Historisierung der Kunst und des Kunstschönen erscheint nur im Medium der Wiederbelebung literarischer Traditionen als überwunden. Es paßt zu dieser Beobachtung, daß die sich anschließende Szene in Arkadien ein ganz anderes Verhältnis zur Schönheit erkennen läßt. Mit der erneuten Verwandlung des Schauplatzes beginnt der dritte historische Augenblick, die Charakterisierung des modernen Verhältnisses zur Schönheit, die in ähnlicher Weise wie die Euripides- und die Minnesang-Imitation nicht nur eine Wiederholung literarischer Formen und Topoi darstellt, sondern in die soziale Realität eingebettet wird, die in diesen Vorgängern erscheint. So wie im »Inneren Burghof« die Binnenpragmatik des Minnesangs nachgestellt wurde, wird jetzt eine andere Urszene von Autorschaft auf die Bühne gebracht, nämlich die Beziehung des Poeten zur Familie. Wieder läßt sich dies an der Verteilung der Blicke ablesen: spielte sich im Mittelalter das Drama des Blicks zwischen der höfischen Öffentlichkeit, Lynkeus, Faust und Helena ab, so hier innerhalb des familiären Dreiecks von Vater, Mutter und Kind. Die Autorschaft Euphorions wird diskursgeschichtlich in der Umstrukturierung der Familie verortet, die sich im 18. Jahrhundert als Übergang von der alteuropäischen Großfamilie zur bürgerlichen Kleinfamilie vollzog.76 Dies war nicht nur ein sozialgeschichtliches Ereignis, sondern besaß auch literaturgeschichtliche Konsequenzen, da es u.a. zu einer neuen Codierung von Intimität führte.77 Diesen diskursgeschichtliche Zusammenhang von Sozial- und Literaturgeschichte zeichnet Faust II detailliert nach: So wird zum Beispiel ausdrücklich der Übergang von der frühkindlichen Sozialisierung durch die Amme zur der durch die Mutter erwähnt. Phorkyas beschreibt gegenüber den Chormädchen, wie der kleine Euphorion in der Höhle im Dialog mit den Eltern zunächst sprechen, dann dichten lernt. Sie habe, so erzählt sie, »das Gekose, das Getändel, / Töriger Liebe Neckereien, Scherzgeschrei und Lustgejauchze« (V. 9600f.) vernommen, in dem sich die Liebe zwischen Kind und Eltern einen ersten Ausdruck verschafft. So entspringt Euphorion als Genius unmittelbar dieser ersten Liebesbeziehung: Nackt ein Genius ohne Flügel, faunenartig ohne Tierheit, Springt er auf den festen Boden, doch der Boden gegenwirkend
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Vgl. zu dieser Entwicklung die knappen und präzisen Überblicke von Reinhard Sieder: Sozialgeschichte der Familie. Frankfurt a.M. 1987, S. 125–145, und Ingrid Peikert: Zur Geschichte der Kindheit im 18. und 19. Jahrhundert. Einige Entwicklungstendenzen. In: Die Familie in der Geschichte. Hg. von Heinz Reif. Göttingen 1982, S. 114–136. Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Die literaturgeschichtlichen Auswirkungen wurden vielfach untersucht, u.a. von Friedrich Kittler und Gerhard Kaiser: Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller. Göttingen 1978, und von Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988.
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Schnellt ihn zu der luft’gen Höhe, und im zweiten dritten Sprunge Rührt er an das Hochgewölb. [...] Und so regt er sich gebärdend, sich als Knabe schon verkündend Künftigen Meister alles Schönen, dem die ewigen Melodieen Durch die Glieder sich bewegen; und so werdet ihr ihn hören, Und so werdet ihr ihn sehn zu einzigster Bewunderung. (Vv. 9602–6 und 9625–8)
Hier wird sehr plastisch die Geburt des modernen Subjekts aus der Familie und dem Liebesgespräch der Eltern abgeleitet. Dagegen steht die Erzählung des Chors von der Geburt des Hermes. Anders als Euphorion wird dieser von Ammen erzogen: Diesen zierlich und kräftig doch Kaum geborenen Säugling Faltet in reinster Windeln Flaum, Strenget in köstlicher Wickeln Schmuck Klatschender Wärterinnen Schar Unvernünfigen Wähnens. (Vv. 9645–50)
Die Taten des Hermes gehen also aus den ›Ammenmärchen‹ seiner klatschenden Wärterinnen hervor, während Euphorions Lieder dem »Gekose und Getändel« des Kindes und seiner Eltern entspringen. Der Diskurs der Mythologie wird durch die Sprache der Herzen ersetzt, die die moderne Literatur prägt. Auf diese Erzählung des Chors antwortet darum Phorkyas: Höret allerliebste Klänge, Macht euch schnell von Fabeln frei, Eurer Götter alt Gemenge Laßt es hin, es ist vorbei. (Vv. 9679–2)
Dieser Übergang von der mythologischen Fabel zum neuen lyrischen Ton wird schließlich von Euphorion selbst in den familiären Zusammenhang gestellt. Seine Poesie geht aus den Kinderliedern hervor: Hört ihr Kindeslieder singen, Gleich ist’s euer eigner Scherz; Seht ihr mich im Takte springen, Hüpft euch elterlich das Herz. (Vv. 9695–8)
Die mit der neuen Familiensituation einhergehende Intimisierung des Liebesdiskurses und der Poesie setzte bereits mit der Empfindsamkeit ein, in der sich eine neue Semantik der Zärtlichkeit etabliert.78 Formal und inhaltlich 78
Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Auch Wegmann stellt die neue
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können diese Verse nicht als spezifisch empfindsam, klassisch oder romantisch bezeichnet werden. Diesseits der geistesgeschichtlichen Konzepte und besonderen Poetiken vergegenwärtigen sie einen übergreifenden diskursgeschichtlichen Zusammenhang. Mehrere Jahrzehnte literarischer Entwicklung werden am Beispiel Euphorions verdichtet. So erinnert er nicht nur an Lord Byron,79 sondern ebenso sehr an Goethesche Figuren wie Werther, Eduard oder eben Faust, deren Bedingungslosigkeit und Selbstbezogenheit sie in den Abgrund führt. Mit der Situierung der Poesie im Schoß der Familie geht eine Veränderung in der Liebessemantik einher. Stellte die höfische Minnedame für den Sänger Lynkeus in ihrer Unerreichbarkeit zugleich die Substanz dar, von der die Welt und das Ich abhingen, und für Faust dementsprechend das weltliche Analogon zum Göttlichen, so sind wir hier am Ende einer Entwicklung angelangt, in deren Verlauf die Erfahrung der Schönheit und der Liebe zunehmend die Fähigkeit verlor, als substantielles Sein die Poesie zu begründen. Im Liebesdiskurs der Euphorionszene, der mehrere Jahrzehnte der Literaturgeschichte zu einem diskursiven Zusammenhang bündelt, ist die schöne Frau Helena in die Mutterrolle gerückt – sie ist zu einer Normalsterblichen geworden, zu der der Sohn unterschwellig einen intimen Diskurs unterhält,80 die aber nicht mehr die tragende und weltfundierende Bedeutung besitzen kann wie die höfische Dame. Das Begehren Euphorions richtet sich statt dessen auf andere Frauen: EUPHORION: Ihr seid so viele Leichtfüßige Rehe, Zu neuem Spiele Frisch aus der Nähe, Ich bin der Jäger Ihr seid das Wild. (Vv. 9767–72)
Die schöne Frau hat sich multipliziert. Man kann unter vielen wählen, und nicht die Einzigartigkeit des Objekts zählt, sondern die Qualität der Erfahrung:
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Semantik der Zärtlichkeit in den Zusammenhang mit der familiären Umstrukturierung (ebd., S. 27–29). Die Parallelen zu Byron hat Goethe hervorgehoben, dabei aber betont, er fasse Byron nicht als Romantiker oder Klassiker auf, sondern als Verkörperung der Gegenwart: »Ich konnte als Repräsentanten der neuesten poetischen Zeit, sagte Goethe, niemanden gebrauchen als ihn, der ohne Frage als das größte Talent des Jahrhunderts anzusehen ist. Und dann, Byron ist nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist wie der gegenwärtige Tag selbst.« FA II, 12, S. 250f. (5.7. 1827). So richtet er seine letzten Worte an die Mutter (Vv. 9905f.): »Laß mich im düstern Reich,/ Mutter, mich nicht allein!«
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Nur durch die Haine! Zu Stock und Steine! Das leicht Errungene Das widert mir, Nur das Erzwungene Ergötzt mich schier. (Vv. 9779–9784)
Die Unstillbarkeit von Euphorions Begehren wird nicht mehr aus der Unerfahrbarkeit eines substantiellen Objekts begründet, sondern aus der ihm eigenen Selbstreferentialität. An die Stelle der Transzendenzerfahrung in der Sinnlichkeit ist die Steigerung der Intensität von Erfahrung getreten. Liebe ist zu einem Modus männlicher Selbstverwirklichung geworden, die ihren Ursprung im erotisierten Verhältnis zur Mutter hat. Es stellt sich so die Aufgabe, das Begehren aus seiner Selbstreferenz zu lösen und sich gesellschaftlich zu vermitteln: Das Begehren muß symbolisiert werden, um zu einer sozialen Bindung befähigen zu können. Euphorion erinnert in seinem Haschen nach den »vielen leichtfüßigen Rehen« an die Helden der Bildungsromane, nicht zuletzt an Wilhelm Meister, der nach seinen erotischen Abenteuern am Ende im Hafen der Ehe ankommt und sein Begehren sozialisiert: Das Modell bürgerlicher Identitätsbildung ist deutlich genug: die »Durcharbeitung« (Luhmann) der Beziehungen zur Frau, die Definition dieser Beziehungen durch Kategorien des Besitzes, die Verwandlung von Liebe in Ehe im Zeichen der Entsagung. [...] Die Lehrjahre folgen dem schon etablierten Grundmuster des Liebesromans, wie es in England und Frankreich entwickelt wurde: als Geschichte einer Selbstfindung und Selbstbildung des Mannes aus seiner Beziehung zur Frau; als Einbindung dieser Erfahrung in die Beziehungsordnung der Gesellschaft.81
Euphorion dagegen verweigert diese Vermittlung. Sein Begehren bleibt selbstgenügsam, weil es sein Objekt nicht findet und daher immer nur in subjektiven Erlebnisqualitäten mündet. Das drückt sich in der Metapher der Jagd aus, die um ihrer selbst und um des »Ergötzens« willen, das man daraus ziehen kann, betrieben wird. Die Poesie des Euphorion verharrt gleichfalls in der Selbstreferenz; in allem, was er sieht und begehrt, spricht sich in erster Linie sein Erleben und sein Gefühl aus. So spiegelt auch die Euphorionszene im kleinen die Spannung wider, um die es in der vorliegenden Studie ging. Euphorions Suche nach einem Liebesobjekt ist gleichermaßen poetologisch wie erotisch codiert. In ihr spiegelt sich auch Fausts Weltverhältnis, dessen Begehren nach Identität in den Momenten des Genusses enttäuscht wird. Figuren wie Faust und Euphorion befinden sich unentwegt »auf der Jagd«, ohne zu bemerken, daß letztlich alles, was sie anfassen, sich entzieht, weil es die verheißene Erfüllung nicht gewährleisten kann. Doch zugleich ist es möglich, sich von dieser Jagd
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Gerhard Neumann: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 930.
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im Modus einer wissenden Poetik zu distanzieren, die das eigene und fremde Beobachten beobachten kann und aus dem Fundus der Archive ihre Imagination speist, ohne eine Identität der Beobachtungsebenen anzustreben. Mit dem Tode Euphorions löst sich auch Helena auf und hinterläßt nur Schleier und Kleid, die die Materialität der poetischen Zeichen nach dem Schwinden des Objekts anzeigen. Schleier und Kleid, Chiffren einer Poetik der Verhüllung, sind nun alleine übrig, ohne den Sinn, den sie verhüllen sollen. Aber gleichwohl kann man, wie Mephistopheles andeutet, noch viele Poeten damit einweihen. Auch wenn die Poesie nicht mit dem Dargestellten identisch werden kann, so bleibt sie dennoch Poesie.
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VI. Schlußbetrachtungen
Die Welt des Faust II entstand aus der Transformation vorliegender Diskurse. Was als Natur, Geschichte oder dramatische Person im Text erscheint, war schon einmal da und besitzt immer nur eine vermittelte Anwesenheit. Die archivpoetische Recodierung des vorliegenden Materials wird im Text verdoppelt, nämlich durch ihre Dramatisierung. Am Beispiel der Erichtho wurde diese Technik der Dramatisierung von Verfahren exemplarisch untersucht. Sie besitzt für das Verständnis des Faust II größte Bedeutung. Entscheidend an der Archivpoetik ist nämlich, daß dadurch die Prozeßhaftigkeit des Textes sichtbar gemacht werden kann. Die dramatische Welt erscheint als doppelcodiert: Sie verweist einerseits auf sich selbst, behauptet die Präsenz des Dargestellten; zugleich weist sie auf die Archive zurück, der sie entstammt, und unterläuft damit eben diese Präsenz. Diese Form des Verweises läßt den Prozeß der Archivpoetik sichtbar werden, enthüllt die Herkunft des Dramas aus den Speichern und gestattet die Umstellung von der Beobachtung erster auf die Beobachtung zweiter Ordnung. Nach der Beschreibung dieses Verfahrens wurde zunächst das wissenschaftliche Wissen im Faust II untersucht. Es wird im Drama im Hinblick auf sein Funktionieren beobachtet: Der Gegenstandsbezug der Wissenschaften wird unterbunden, statt dessen rückt das ›Wie‹ der Kommunikation in den Vordergrund. Am Beispiel der Geologie wurde gezeigt, daß die Historisierung der Natur zu einem Verlust von Evidenz führt. Aus den Zuständen der Erde kann nicht mehr unmittelbar auf ihre Geschichte und ihre geologische Bedeutung geschlossen werden. Mit der Zunahme der empirischen Forschung wächst zunächst das Theorieangebot – so daß nicht das vulkanistische Paradigma die eigentliche Bedrohung der Anschauung und die einzige Beunruhigung ist, sondern die Tatsache, daß mit den Fakten sich die Interpretationsangebote vermehren. Dadurch stellt sich heraus, wie abhängig die Beobachtungen der Natur von den gewählten Prämissen sind. Vergleichbare Entwicklungen bezeugt auch die Behandlung der wissenschaftlichen Mythologie im Faust II. Die hier zitierten zeitgenössischen Konzepte der mythologischen Wissenschaft haben wie die Geologie das Problem, wie und ob aus der überlieferten Mythologie der ursprüngliche Sinn der Mythen erschlossen werden könne. Grundlegend ist dabei die Unterscheidung Mythos / Mythologie. Von dieser Unterscheidung ausgehend lassen sich folgende Alternativen eines Verhältnisses zum Mythos denken, die in der »Klassischen Walpurgisnacht« und im dritten Akt aufgegriffen sind: die Anerkennung des Mythos 229
als eines Fremden, das sich der Assimilation entzieht; das Verharren in der mythologischen Differenz; das Begehren nach der Wiederherstellung mythischer Identität. Die wissenschaftliche Diskussion besitzt Bedeutung auch, weil sich diese Alternativen poetologisch jeweils unterschiedlich fruchtbar machen lassen: Wenn die Präsenz des Mythischen entzogen ist, dann kann man darauf entweder mit Poetiken der Präsenz oder der Differenz reagieren. Die rituelle Feier in den »Felsbuchten« und Fausts Versuch, Helena ins Leben zu rufen, stellen Formen der Erinnerung und der ästhetischen Utopie dar, die sich erinnernd und antizipatorisch auf die mythische Zeit beziehen. Dagegen stehen Praktiken des Spiels, der Ironie und der Differenz, welche die Streuung des Wissens weitertreiben und so auf eine Veräußerlichung und Verausgabung der Archive abzielen. Diese Formen, mit dem Verlust des Mythischen umzugehen, schärfen und kommentieren sich wechselseitig, ohne zu einem Abschluß zu kommen. In der Figur Helenas setzt sich diese Reflexion in gesteigertem Maße fort. Helena ist beides: Signifikant mythischer Identität wie poetischer Differenz, begehrtes Urbild für Faust und zugleich eine Konstruktion, der das Wissen um ihre Nicht-Ursprünglichkeit eingeschrieben ist. Insofern kann Helena als die Einheit der Gegensätze aufgefaßt werden – aber Einheit nicht im Sinn einer Aufhebung, nicht im Sinn einer Harmonisierung, sondern im Gegenteil: Einheit als Differenz. Das heißt, Helena ist die Bezeichnung des Gegensatzes, das Symbol der unübersteigbaren Differenz von Einheitswunsch und Differenzbewußtsein. Als symbolische Bezeichnung dieser Differenz macht sie diese darstellbar und ermöglicht die dramatische Figuration eines Gegensatzes, der tief im Wissen der Epoche wurzelt. Das Spannungsverhältnis von Differenz und Identität wird in der Szene »Rittersaal« und im dritten Akt als eine historische Relation gefaßt. Der Wunsch nach der identischen Wiederkehr des Vergangenen wird vom Wissen um dessen Historizität unterlaufen. Aktualisierung und Historisierung stehen so in einem komplexen Verhältnis. In seiner Begegnung mit Helena macht Faust die Erfahrung mythischer Identität: Poesis und Mimesis, Erkennen und Erleben schließen sich für einen Augenblick zusammen, Faust scheint mit dem begehrten Objekt zu verschmelzen. Doch zugleich legt sich die Einheit dieser Liebesgeschichte in eine Abfolge historischer Liebesdiskurse auseinander, die als solche gekennzeichnet sind. Das Präsenzerlebnis wird in die Immanenz der Geschichte zurückgeholt, als Rekonstruktion historischer Identitäten ausgezeichnet, mithin historisiert. Die Einheit von Wissen und Wahrheit, von Bedeutung und Erfahrung, die vorzugsweise als Anschauung gedacht wird, von Geschichte und Gestalt ist dahin. Diese Modernisierungsprozesse werden vom Faust II beobachtet, ohne daß das Drama ein normatives Gegenkonzept bieten könnte. Die Dichtung befindet sich nicht in Opposition zum Wissen, sie ist selbst Wissen und darum Teil seiner Geschichte. Im Unterschied zur Wissenschaft kann das Drama aber im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung 230
auf die Gewinnung gegenständlicher Erkenntnisse verzichten und an deren Stelle die Kommentierung und Ästhetisierung von Wissen rücken. In seinem Bezug auf die Archive ist Faust II ein Gedächtnistheater. Aber die Vergegenwärtigung des Vergangenen oder Abwesenden steht im Faust II nicht im Dienst einer Rückkehr zu den Ursprüngen und der Wiederkehr der Urbilder, sie garantiert nicht über die Differenzerfahrungen der Moderne hinweg eine Verbindung zu Archetypen und transzendenten Wesenheiten. Das Auftauchen des Archivs aus seiner Latenz in Goethes Spätwerk bezeugt, daß das Archiv eine eigene Geschichte hat, deren Grundzüge das zweite Kapitel darlegte. Am Ende der Analysen des Dramas können das Archiv Goethes sowie die Archivpoetik der Wanderjahre und des Faust II mit der Gedächtnisgeschichte des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden. Das Archiv verkörpert den Übergang einer Gedächtniskultur, an der eine Gemeinschaft partizipiert, in Geschichte: Aus der gelebten Tradition wird Wissen – und ein aus dem Geist der Archive zu konstruierender Zusammenhang. Diesen Einschnitt hat der französische Gedächtnishistoriker Pierre Nora wortreich beklagt: Tout ce que l’on appelle aujourd’hui mémoire n’est donc pas de la mémoire, mais déjà de l’histoire. Tout ce que l’on appelle flambée de mémoire est l’achèvement de sa disparition dans le feu de l’histoire. Le besoin de mémoire est un besoin d’histoire.1
Mit dem Vorherrschen der Geschichte ändere, so fährt Nora fort, der Begriff der mémoire seinen Sinn; er bezeichne das externe Gedächtnis der Museen, Bibliotheken, Archive und zunehmend der elektronischen Speichermedien: Aujourd’hui où les historiens se sont dépris du culte documentaire, la société tout entière vit dans la religion conservatrice et dans le productivisme archivistique. Ce que nous appelons mémoire est, en fait, la constitution gigantesque et vertigineuse du stock matériel de ce dont il est impossible de nous souvenir, répertoire insondable de ce que nous pourrions avoir besoin de nous rappeler.2
Diese Thesen lassen sich mit guten Gründen kritisieren. Denn der Übergang von gelebter Erinnerung in Geschichte verläuft differenzierter, als es hier zum Ausdruck kommt, und ist nicht unumkehrbar.3 Erinnerung wird es immer geben. Dennoch bringt Nora mit seinen Ausführungen eine wichtige Dimen-
1 2 3
Pierre Nora: Entre Mémoire et Histoire, S. XXV. Ebd., S. XXVI. Vgl. zur Kritik an Pierre Nora bzw. zur Notwendigkeit einer differenzierteren Sicht Aleida Assmann: Erinnerungsräume, S. 11ff. Gegen die pauschale These eines Endes der ›Erinnerung‹ führt Assmann die Präsenz und Konkurrenz unterschiedlicher Gedächtnisse und Erinnerungsformen ins Feld: »Der abstrakten Synthese einer Geschichte im Singular stehen heute die vielen unterschiedlichen und z.T. einander widerstreitenden Gedächtnisse gegenüber, die ihr Rech auf gesellschaftliche Anerkennung geltend machen. Niemand wird leugnen, daß diese Gedächtnisse mit ihren je eigenen Erfahrungen und Ansprüchen zu einem umkämpften Teil der Gegenwartskultur geworden sind.« (Ebd., S. 15f.)
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sion des Archivs zur Geltung. In der lebendigen Erinnerung haben die Dinge ihren Platz, versichern sich Individuen oder Gemeinschaften ihrer Identität – das Archiv dagegen steht dem Gelehrten und dem Historiker zur Verfügung. Es erfordert die mühsame Arbeit der Transkription und der Relationierung von Erfahrung und Wissen, Mutmaßungen und Hypothesen, experimentellem Erproben und Verwerfen – in der Weise, in der uns Wilhelm in den Wanderjahren als Archivbenutzer vorgestellt wurde. Die Entwicklung, die Nora beschreibt, ist keine Entdeckung unserer Zeit. Die Schwierigkeiten der Spätwerke Goethes sind nicht erst von Gelehrten der Gegenwart erzeugt, sie resultieren vielmehr aus der umfassenden, um 1800 einsetzenden Historisierung des Wissens, die einen doppelten Effekt hat. Sie bewirkt erstens, daß dem Dichter enorme Wissensbestände zur Verfügung stehen, zweitens aber erzeugt sie eine Relativierung der tradierten Ordnungen und Werte. In dem Maß, in dem sich die Speicher explosiv vermehren, überschwemmt der Historismus die Tradition, tilgt das Selbstverständliche und bringt damit die persönliche, identitätsstiftende Erinnerung in Bedrängnis. Diese Entwicklung zeichnete sich bereits in der Aufklärung ab, deren Fortschrittsidee zu einer Ausweitung der Archive führte, dann aber an der Tatsache zerbrach, daß diese Speicher nicht mehr bewältigt werden konnten. Wolf Lepenies hat unter Berufung auf Luhmann davon gesprochen, daß »die Verarbeitung übermäßig komplexer Informationsbestände [...] das noch verborgene Problem der Aufklärung« darstelle.4 Die Historisierung des Wissens läßt sich nicht nur an einzelnen Diskursen nachweisen, die im Faust II verwendet werden – das Archiv selbst kann sowohl als Bedingung wie als Effekt dieser Historisierung betrachtet werden. Es ist das Paradox der Geschichte, einerseits deren Gegenstand, andererseits das, was sie überhaupt erst ermöglicht, denn es stellt die Daten bereit, aus denen historischer Sinn konstruiert wird, und es wächst mit der Forschung weiter an, die sich ihrer bedient. Jedes neue Dokument und jede neue Interpretation verändert rückwirkend die Geschichte. So stellt das Archiv sicher, daß die Geschichte des Sinns und der Sinn der Geschichte nie zu ihrem Ende gelangen. Das Speichern und das Deuten des Gespeicherten führen zu einer Spirale der Historisierung, die, dächte man das Spiel konsequent weiter, am Ende alles verschlingen und archivieren müßte. Goethes diskursive Beziehungen zu Wissenschaftlern und Spezialisten verschiedenster Provenienz und seine weitgespannten Kommunikationsnetze zeigen, wie sehr der Autor sich der ihm zur Verfügung stehenden Wissensspeicher bediente, ohne sich dabei auf die Kapazität der lebendigen Erinnerung zu beschränken. Dabei wird ihm das Archiv zu einer Quelle der Inspiration: Denn die Vielfalt und Buntheit der Welt des Faust II bezeugen bereits, was Foucault am Bei-
4
Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte, S. 21.
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spiel der Tentation de Saint-Antoine Flauberts thematisierte: Das Archiv wird zum Generator dichterischer Imagination, die »zwischen dem Buch und der Lampe [haust]«: »Es sind die bereits gesagten Worte, die überprüften Texte, die Massen an winzigen Informationen, Parzellen von Monumenten, Reproduktionen von Reproduktionen, die der modernen Erfahrung die Mächte des Unmöglichen zutragen.«5 Dem Archiv Goethes entspringen die Personen und Handlungselemente des Faust II und durch die Archivpoetik gelangen sie zu einer neuen Präsenz. Die Archivpoetik des Faust II reagiert auf die Entwicklungen der Gedächtnisgeschichte also nicht nur mit der Aufnahme immer neuer Wissensbestände, sondern auch mit der Ästhetisierung des Gedächtnisses und der Erprobung verschiedener Gedächtnis- und Erinnerungskonzepte, die auf das 19. und 20. Jahrhundert vorausweisen. Friedrich Nietzsche hat in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung die Unfähigkeit zu vergessen thematisiert, die das historische Bewußtsein plagt. In ähnlicher Weise wie Goethe benutzt er den Begriff des ›Gespensts‹, um die Heimsuchung des präsenten Augenblicks durch das Wissen zu charakterisieren: Er [der Mensch, S.S.] wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen: mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit. Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks.6
Im Faust II mündet diese Heimsuchung des Lebens durch das Wissen und das Archiv in ein Wechselspiel zwischen der ›monumentalischen Historie‹ Fausts, der die endlose Wiederkehr des Archivierten durch Identitätsstiftungen unterbinden will, und der ›kritischen Historie‹, dem heiteren, distanzierten und spielerischen Umgang mit den Elementen des Wissens, aus denen das Drama entsteht.7
5 6
7
Michel Foucault: Un »fantastique« de bibliothèque. In: ders., Schriften zur Literatur. Frankfurt a. M. 1988, S. 157–177, hier S. 160. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: ders., Kritische Studienausgabe Bd. I. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. durchgesehene Aufl., Berlin/New York 1988, S. 243–334, hier S. 248. Zur Unterscheidung der ›kritischen‹, ›monumentalischen‹ und ›antiquarischen‹ Historie vgl. ebd., S. 258ff.
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