Die zwölf Reiche der Seele nach Goethes Faust-Schema [Reprint 2018 ed.] 9783111578101, 9783111205595


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German Pages 64 [68] Year 1951

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Table of contents :
Vorwort Dom wort-wörtlichen Lesen der Bilderschrift
Gliederung
I. Das Aufbauprinzip der Mummenschanz'
II. Das 'Faust'-Schema
III. Die zwölf Reiche der menschlichen Seele
IV. Der wissenschaftliche Nachweis
V. Das Denken des jungen deutschen Menschen nach dem 'Faust'-Schema
VI. Die kosmische Einung
VII. Der rechte 'Faust'-Leser
Schlußwort
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Die zwölf Reiche der Seele nach Goethes Faust-Schema [Reprint 2018 ed.]
 9783111578101, 9783111205595

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Die zwölf Reiche der Seele nach Goethes Faust-Schema

Die zwölf Reiche der Seele nach Goethes Faust-Schema Von Prof. Dr. Arnd Jessen

1951

Walter de Gruyter L Co. Berlin Vorm. G. I. Göschen'sche Verlagshandlung. I. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl I. Trübner • Veit L Comp.

Archiv Nr. 347951 Satz und Druck von Eduard Stichnote in Potsdam Gen.-Nr. 722/21/50

Vorwort Dom wort-wörtlichen Lesen der Bilderschrift Als 'Faust'-Leser erlebt man immer das gleiche Normalschicksal: Im­ mer wieder freut man sich an den klugen Worten, die zwischen Faust und Mephisto, zwischen Faust und Gretchen gewechselt werden. Mehr und mehr aber stört die wenig glückliche Rolle, die Faust gegenüber Gretchen und dann im Zweiten Teil spielt. Schon im Ersten Teil bleiben drei große Stellen unverständlich: Hexenküche, Walpurgis­ nacht und Walpurgisnachttraum. Im Zweiten Teil wird man schließ­ lich vor der Fülle der Figuren müde, die dort zu Wasser und zu Lande herumwimmeln und aus denen man trotz Kommentaren nicht klug wird. War Goethe — wie manchmal behauptet wird — alt und senil, so daß er den 'Faust' nicht mehr recht zustande gebracht hat? Oder liegt die Schuld bei uns, bei den Lesern? Als Goethe-Leser darf man nie vergessen, daß Goethe nicht 'Dichter im Hauptberuf' war, sondern daß er als Jurist und verantwortlicher Ministerpräsident gewohnt war, wort-wörtlich zu schreiben. Deshalb muß man auch den 'Faust' wort-wörtlich lesen. Was aber heißt: ein Dichtwerk wort-wörtlich lesen? Es heißt, daß Du, lieber Leser, in Dir das Bild aufleben läßt, das der Dichter vor Dein Auge stellt, und daß Du dann dieses Bild in seinem Gleichnis­ charakter zu begreifen suchst. Der Dichter spricht auch im 'Faust' in Bildern, weil im Bild etwas lebt, was das Wort nicht aussprechen kann: 'Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte' (Wilh. Meisters Lehrj. VII. 9). Du kannst deshalb auch die Bilder­ sprache des 'Faust' nicht in Deine Worte kleiden, sondern sie nur in Deinem Herzen bewegen: 'Bilder stellen etwas vor, wirken auf Sinn und Gefühl, machen Eindrücke, erregen Ahnungen' (Dichtung und Wahrheit II. 9). 'Wortbild zündet' (West-Ostlicher Divan). Diese Bildersprache macht das Wesen des Dichters. Er denkt und schreibt nicht wie wir andern in abgegriffenen, abgezogenen ('abstrak­ ten') und darum oft blutleeren Begriffsworten. Er schaut die Geschöpfe, durch die und in denen die urewige AllKraft lebt und wirkt. Cr schaut das Leben in den Bildern der Wirklichkeit. Und er denkt und schreibt in solchen Bildern der Wirklichkeit. 'Sie haben dich, heiliger Hafis / Die mystische (!) Zunge (!) genannt' (West-Ostlicher Divan). Darum ist der Dichter dichter am Herzen der AllKraft als wir andern. Darum ist der wahre Dichter schwer zu lesen.

Welchen Leser ich mir wünsche? — Den Unbefangensten, der mich. Sich und die Welt vergißt, und in dem Buche nur lebt? (Maximen) Wann aber lebst Du in einem Dichtwerk? Wenn Du nicht nur Augen- oder Verstand- oder Gefühls-Leser bist, sondern wenn Du die Worte laut lesend in Dir klingen und schwingen läßt und dadurch den Bildern in Deinem Herzen bewußt eine Heimat gibst. 'Ein gutes Wort ist wie ein Samenkorn... es schweigt und schläft und wacht erst auf und wird zu Sinn erst und zu Sein, säst Du's in Deine Erde ein und schaffst Du Dir's zu eigenem Leben? Cäsar Flaischlen 1912

Wer das 'Faust'-Werk wort-wörtlich lesend erfassen will, muß deshalb mit ihm ringen, bis er die Bilderschrift zu lesen vermag. 'Geheimer Chiffern Sendung Beschäftige die Welt, Bis schließlich jede Wendung Sich selbst ins Gleiche stellt? (West-Ostlicher Divan) 'Und ein Merkmal über's andre Dringt sich auf. Beweis vollendend? (ebenda) Berlin-Zehlendorf, 11. Juli 1950

Gliederung Vorwort: Dom wort-wörtlichen Lesen der Bilderschrift ... I. Das Aufbauprinzip der 'Mummenschanz'

...

5 9

1. Furcht, Hoffnung, Neid..............................................9 2. Sechsundvierzig Gefühle............................................ n 3. Das Gesamtbild der Gefühle.................................. 12 II. Das 'Faust'-Schema........................................................ 13 III. Die zwölf Reiche der menschlichen Seele 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Das Das Das Das Das Das Das Das Das Das Das Das

Reich Reich Reich Reich Reich Reich Reich Reich Reich Reich Reich Reich

des des des des der der der der des der des der

...

14

Verstandes....................................... 14 natürlichen Empfindens................... 16 Wähnens ............................................. 16 Wollens............................................ 17 Gefühle............................................ 18 Kräfte................................................. 18 Phantasie............................................ 19 Freude................................................. 20 AllSinns............................................ 21 tätigen Vernunft............................. 22 Kirchenglaubens............................. 23 kosmischen Einung............................. 23

IV- Der wissenschaftliche Nachweis...............................24 A. Das 'Faust'-Schema............................................ 24 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Das 'Faust'-Rätsel.............................................. Das philosophische Epos der deutschen Seele.... Die Deckfiguren........................................................... 25 'Faust'-Spiel, Sinn und Nebensinn........................25 Das Gesamtbild des Ich............................................ 26 Der physiologische Ort der 'Faust'-Szenen.... Das 'ausführlichere Schema zum Faust'...................27 'Sinn'-gemäße Erläuterungen zum 'Faust'-Spiel . . Dom 'Urfaust' zum 'Faust'-Schema........................27 Entspricht das 'Faust'-Schema Goethes Denkart? . . Der 'Faust' als unbeschreibliches Ereignis.... Gesamtergebnis........................................................... 30

24 24

27 27 28 29

B. Der schematisierte 'Faust'...................................................30 V. Das Denken des jungen deutschen Menschen nach dem 'Faust'-Schema....................................................................31 1. 2. 3. 4. 5. 6. 8.

Das Das Das Das Das Das

jugendlich-reine Denken............................................ 31 schülerhafte Denken........................................................38 halbfertige Denken........................................................40 unbelastete Denken........................................................41 festgefahrene Denken..................................................46 verneinende Denken........................................................47 Das AllBewußtsein............................................................. 48

VI. Die kosmische Einung............................................................... 53 VII. Der rechte 'Faust'-Leser........................................................62 1. Drei Forderungen....................................................................62 2. Der Mensch als Studium.........................................................63 3. Das unfaßbare Menschenbild......... 63 Schlußwort

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Für die 'Faust'-Aitäte wurde die wissenschaftlich anerkannte JubiläumsAusgabe von Goethes Werken zugrunde gelegt, die 1902 im Verlage Cotta erschienen ist. Das Satzbild des 'Faust'-Textes wurde durch drucktechnische Herausarbei­ tung der tatsächlich vorhandenen Verse aufgelockert. Das Wesen des 'Faust' als einer unerschöpflichen Sammlung unermeßlich weiser, bis zum letzten durchgefeilter Dichterworte wird dadurch schärfer sichtbar als beim bisher üblichen Satz, in dem nur an einigen Stellen solche Verse abgeteilt sind. Besonderen Dank schuldet der Verfasser dem unvergeßlichen Prof. Hans Wahl, dem klugen Pfleger und mutigen Betreuer des Goethe-Archivs in Weimar, der Anfang 1949 den Nachweis der 'Transparenz einer zweiten dichterischen und denkerischen Leistung Goethes, die durch die gesamte Dich­ tung von Anfang bis zu Ende durchschimmert' als 'verblüffend' bezeichnete und durch dieses aufgeschlossene Verständnis die vorliegende Deutung ent­ scheidend förderte.

I. Das Aufbauprinzip der Mummenschanz' Goethe stellt bildhafte Figuren auf die Bühne des 'Faust'-Spiels. Wie nennt er sie? Was sagen sie? Was bedeuten sie? 1. Furcht, Hoffnung, Neid Im Zweiten Teil des 'Faust', etwa 30 Druckseiten vom Anfang an gerechnet, sprechen in der 'Mummenschanz' die drei Figuren 'Furcht', 'Hoffnung' und 'Klugheit'. Ihre Namen bezeichnen offensichtlich keine Schauspielfiguren, sondern benennen Eigenschaften, wie sie in fcen mittelalterlichen Moralitäten auf die Bühne traten. Noch im 'Dr. Faustus' von Marlowe (1609) erscheinen die sieben Todsünden und stellen sich persönlich vor. Hat Goeche hier vielleicht nach dem gleichen Grundsatz gearbeitet? Was ist Furcht? - das Gefühl des Unsicheren und Unklaren, das Mißtrauen gegen die Umwelt, der Wunsch zu fliehen. Goethe schildert diese Elemente der Furcht in aller Deutlichkeit: zittert die Furcht........................................................... Furcht Dunstige Fackeln,Lampen,Lichter *54 o? Dämmern durchs verworrne Fest; 0s Zwischen diese Truggesichter 09 Bannt mich ach die Kette fest. 64 10 Fort, ihr lächerlichen Lacher! 11 Euer Grinsen gibt Verdacht; 12 Alle meine Widersacher 1» Drängen mich in dieser Nacht. 14 Hier!ein Freund ist Feind-geworden, 6415 Seine Maske kenn' ich schon; 1e Jener wollte mich ermorden, 17 Nun entdeckt schleicht er davon. 1« Ach wie gern in jeder Richtung 19 Flöh' ich zu der Welt hinaus; 5420 Doch von drüben droht Vernichtung, 21 Hält mich zwischen Dunst und Graus. 22 Es zeigt sich also, daß Goethe hier die Eigenschaften der Furcht psycho­ logisch sauber beschreibt. Der nächste Abschnitt trägt die Überschrift 'Hoffnung'. Was ist Hoff­ nung? - die Zuversicht, daß morgen alles gut sein werde, daß man morgen in Freuden werde leben können. * Die Nummern bezeichnen die Zeilenziffern: 54 07 = Zeile 54 07 der üblichen Nummerung.

träumt die Hoffnung........................................... Hoffnung Seid gegrüßt, chr lieben Schwestern. Habt ihr euch schon heut unb gestern In Vermummungen gefallen, Weiß ich doch gewiß von allen, Morgen wollt chr euch enthüllen. Und wenn wir bei Fackelscheine Uns nicht sonderlich behagen, Werden wir in heitern Tagen, Ganz nach unserm eignen Willen, Bald gesellig, bald alleine Frei durch schöne Fluren wandeln, Nach Belieben ruhn und handeln Und in sorgenfreiem Leben Nie entbehren, stets erstreben. Überall willkommne Gäste, Treten wir getrost hinein: Sicherlich, es muß das Beste Irgendwo zu finden sein.

s4 2s 24 54 26 2« 27 2s 29 5 4»0 «1 »2 3« s4 54 8B »« »7 3e 3» 54 40

Somit hat Goethe auch die Hoffnung nicht als Schauspielfigur hin­ gestellt, sondern schildert uns chre Art. Der nächste Abschnitt ist überschrieben mit 'Klugheit'. Liest man dieses Stück, dann erkennt man, daß die richtige Überschrift heißen muß: 'schafft das Pflichtgefühl', denn das Pflichtgefühl drängt Furcht und Hoffnung zurück [$tiU 54.42], schafft Schritt vor Schritt und führt schließlich zum Erfolg. schafft das Pflichtgefühl................................... Klugheit Zwei der größten Menschenfeinde, 64 a Furcht und Hoffnung angekettet, 42 Halt' ich ab von der Gemeinde; 4s Platz gemacht 1 ihr seid gerettet. 44 Den lebendigen Kolossen 54 46 Führ' ich, seht ihr, turmbeladen, 4« Und er wandelt unverdrossen 47 Schritt vor Schritt auf steilen Pfaden. 4s Droben aber auf der Zinne 4s Jene Göttin mit behenden 64 so Breiten Flügeln, zum Gewinne 51 Allerseits sich hinzuwenden. 52 Rings umgibt sie Glanz und Glorie, 53 Leuchtend fern nach allen Seiten; 54

Und sie nennet sich Viktorie, Göttin aller Tätigkeiten.

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Auf diese drei Eigenschaften, die auch in der Überschrift eindeutig be­ zeichnet sind, folgt als Sprecher der Doppelname Zoilo-Thersites. Er verbirgt die beiden bekanntesten Neidhammel des alten Griechenland. Liest man den ganzen Abschnitt, dann möchte man die 'richtige' Über­ schrift einfügen: giftet sich der Neid................................Zoilo-Thersites Hu! Hu! da komm' ich eben recht, b* bt Ich schell' euch allzusammen schlecht! 5s Doch was ich mir zum Ziel ersah, 59 Ist oben Frau Viktoria, 64 so Mit ihrem weißen Flügelpaar, «1 Sie dünkt sich wohl, sie sei ein Aar, e2 Und wo sie sich nur hingewandt, es Gehör' ihr alles Volk und Land; e4 Doch, wo was Rühmliches gelingt, 54 66 Cs mich sogleich in Harnisch bringt. es Das Tiefe hoch, das Hohe tief, «7 Das Schiefe grad, das Grade schief, «« Das ganz allein macht mich gesund, «9 So will ich's auf dem Erdenrund. 5470 Goethe läßt also an diesen Stellen der 'Mummenschanz' nicht drama­ tische Figuren miteinander spielen, sondern stellt hier vier menschliche Eigenschaften, genauer gesagt: vier menschliche Gefühle, in ihren Eigenheiten psychologisch dar. 2. Sechsundvierzig Gefühle

Etwa zwei Seiten vor der 'Furcht' erscheinen die 'Furien', die be! den alten Griechen die Leidenschaften bezeichneten. Auch hier gibt Goethe kein Schauspiel, sondern beschreibt drei große Leidenschaften, denn die 'richtigen' Überschriften heißen: Statt Alekto: 'drängt sich die Eifersucht heran', statt Megära: 'bohrt der Argwohn' und statt Tisiphone: 'droht die Rachsucht'. Wir blättern noch weiter zurück und finden die 'Parzen'. Atropos müßte heißen: 'mahnt das Taktgefühl', Klotho: 'prüft das Ordnungs­ gefühl' und Lachesis: 'bemißt das Zeitgefühl'. Wiederum zwei Seiten rückwärts 'grölt der Rausch' (Trunkner), 'schwelt die Wollust' (Parasiten), 'sprudelt der Übermut' (Pulcinelle), 'scharwenzelt das Schamgefühl' (Mutter). Wenn man diesen ganzen Abschnitt in dieser Weise wort-wörtlich liest U

und mit den 'richtigen' Überschriften versieht, erkennt man, daß Goethe hier kein Schauspiel gibt, sondern daß er 46 verschiedene Arten von Gefühlen aufzählt und beschreibt. Man erkennt schließlich, daß diese Gefühle sogar systematisch geordnet sind. 3. Das Gesamtbild der Gefühle Das Reich der Gefühle, das Goethe hier vor unseren erstaunten Augen entstehen läßt, gliedert er in folgende große Gruppen: I. Die Einzelgefühle: Neben das Bewußtsein stellt Goethe fünf Gruppen von Gefühlen: 1. Die allgemeinen Einzelgefühle: Wonnegefühl, Güte, Wohlwollen, Laune, Eitelkeit, Koketterie, Liebesgefühl; 2. Die in sich selbst ruhenden Gefühle: Schamgefühl, Kraftgefühl, Übermut, Wollust, Rausch, Stolz, Zärtlichkeit, Minderwertigkeits­ gefühl, Albdrücken; 3. Die wechselseitigen Gefühle: Dankbarkeit, Taktgefühl, Ordnungs­ gefühl, Zeitgefühl; 4. Die Leidenschaften ('Furien'): Eifersucht, Mißgunst, Rachsucht; 5. Lenkbare Gefühle: Furcht, Hoffnung, Pflichtgefühl, Neid, Haß. II. Selbstgefühl und Selbstbewußtsein: Das Selbstgefühl (Knabe Lenker) sprüht. Das Selbstbewußtsein (Plutus) tritt männ­ lich und beherrscht auf; es lockert sich in der Freundschaft, verkrampft sich in Geiz und Gier, ist unbeherrscht in Wut und Zorn und voll­ endet sich im Treuegefühl und im Ehrgefühl der selbstbewußten Per­ sönlichkeit. III. Die Massengefühle: In der Mummenschanz brechen dann die Massengefühle ein: Massengier, Massenpanik, Massen-Geilheit, Gemeinschaftsgefühl der Masse, Machtgefühl der Masse, Massen­ dünkel, Sklavengefühl der Masse, religiöses Gefühl der Masse u. a. m. IV. Die Sinnlichkeit als starkes Gefühl läßt im 'Flammengaukel­ spiel' die Würde (den 'Bart') in Flammen aufgehen. V. Das Freiheitsgefühl, eine der wichtigsten Gefühlskräfte des Menschen, wird dadurch dargestellt, daß den Willenspartnern ein Freibrief gegeben wird, auf Grund dessen sie ihre Freiheit schlecht nutzen, weil sie sich aus ihrem alten Gedankenkreis nicht lösen können. VI. Der Humor, auch eine Gefühlskraft, liegt Goethe besonders am Herzen und wird daher im Gespräch des Narren in 17 verschiedenen Arten geschildert. VII. Die Ehrfurcht ist nach Goethe eine der tragenden menschlichen Eigenschaften. In den 'Wanderjahren' verlangt er Ehrfurcht vor dem, was unter uns, neben Ms, über uns und in uns ist. Wer immer sein Herz je gegen die AllKraft geöffnet hat, kann vor ihr nur

demütig erschauern und muß dann auch die anderen Formen der Ehrfurcht erleben, denn die AllKraft wirkt nicht nur über un$, sondern auch unter, neben und in uns. Das ehrfürchtige Erschauern des Men­ schen ist am tiefsten vor den Urkräften, den Müttern'. Wenn man dieses Bild der Gefühle im Menschen überblickt, erkennt man, daß hier in jahrzehntelanger, bewußter Arbeit alle menschlichen Gefühle zusammengefaßt, sauber durchgedacht und schließlich darge­ stellt worden sind. Niemand wird behaupten wollen, daß solch logisch sauberes Schema 'dem Dichter zufällig und unbewußt aus der Feder geflossen sei'. Hier spürt man die harte Arbeit am 'Faust', die in vielen Äußerungen Goethes immer wieder deutlich wird*.

II. Das 'Faust'-Schema Hat Goethe nur die 'Mummenschanz' nach einem solchen, in sich völlig logisch durchgearbeiteten System aufgebaut? Oder liegt hier das Auf­ bauprinzip des ganzen 'Faust' zutage? Diese Frage ließ sich nicht theoretisch lösen. Die Antwort konnte nur eine systematische Durch­ forschung des gesamten 'Faust' und seiner Bildersprache geben. Im knappen Rahmen der vorliegenden Studie können die 12 111 Verse des 'Faust' nicht im einzelnen gedeutet werden. Das Gesamtergebnis dieser systematischen Durchforschung des 'Faust' aber liegt vor und läßt sich in drei Sätzen zusammenfassen: 1. Goethe gibt im 'Faust' ein vollständiges Schema aller menschlichen Seelenkräfte, wie es die Weltliteratur bisher nicht kennt. 2. Goethe gliedert diese unzähligen Seelenkräfte in zwölf große Reiche, die er im einzelnen — wie das 'Reich der Gefühle' - sauber untergliedert, so daß sich im ganzen 450 H>aupt- und Unterabschnitte mit entsprechenden Überschriften ergeben. 3. Goethe beschreibt jede einzelne Seelenkraft entweder für sich (Beispiel: Furcht, Hoffnung usw.) oder läßt sie aufeinander wirken (etwa den Hochverstand = Faust auf das natürliche Empfinden = Greichen usw.). * Darum werden 'Erklärungen' wie die nachstehenden dem wirklichen Goethe in keiner Weise gerecht: 'Goethe hat offenbar (?), ohne zu grübeln (?), mehr ahnend (?) als erkennend (?), nur (!!) das verkörpern wollen, was er an sich selbst erfahren hatte: eigene (II) seelische Erlebnisse, die sich bei ihm über Jahre erstreckten, hat er bei Orest in einem einzigen Augenblick (?!) symbolisch verdichtet.' Ob jemand mit dieser Methode' das vorstehende Bild der Ge­ fühle geben konnte, ist doch wohl fraglich.

III. Die zwölf Reiche der menschlichen Seele Im 'Faust'-Schema stellt Goethe zwölf Reiche nebeneinander, über die hier an Hand der Tabelle ein kurzer Überblick gegeben sei. (Vgl. Tabelle am Schluß.) 1. Das Reich des Verstandes Alles Denken ruht zunächst aus dem Wissen, das sich immer am Unwißbar-Unerforschlichen festläuft und in die Erkenntnis des AllEinen münden muß (I). Grundlage allen Denkens ist die Sprache, die Goethe daher hier in das Reich des Verstandes als besonderen Abschnitt — nachträglich einsetzt (II). Das Denken selbst erfolgt nach Goeche in 20 verschiedenen Arten: lernendes Denken, negierendes Denken, empfindendes Denken; Wahn­ denken, Tatdenken, magisches Denken, AllDenken; zwangsläufiges Denken, koddriges Denken, unheiliges Denken, träumendes Denken, aufbauendes Denken, ironisches Denken — all diese Arten des Den­ kens werden nebeneinander herausgearbeitet. Als bezeichnendes Beispiel für Goethes Technik, diese Arten des Den­ kens darzustellen, sei das 'träumende Denken' herausgegriffen. Wir alle üben es jeden Tag, nennen es allerdings im täglichen Leben etwas unhöflicher 'Dösen'. Das Charakteristische dieses 'Dösens' ist, daß sich Gedankenbilder und Wortklänge aneinander schließen, nicht in logischer Folge, sondern zum Teil aus verwandten Klängen heraus. Wir sind also einen Tag draußen im Rheintal gewandert und blicken nun gegen Abend 'dösend' von den Höhen hinunter: gaukehl die Traumbilder....................................... Geister Schwindet, ihr dunkeln 14 4? Wölbungen droben 1 48 Reizender schaue 49 Freundlich der blaue 14 bo Äther herein! bi Wären die dunkeln 52 Wolken zerronnen I 5« Sternelein funkeln, 5* Mildere Sonnen 14 bb Scheinen darein. b« Himmlischer Söhne b7 Geistige Schöne, bs Schwankende Beugung b9 Schwebet vorüber. 14 so

Sehnende Neigung Folget hinüber; Und der Gewänder Flatternde Bänder Decken die Länder, Decken die Laube, Wo sich für's Leben, Tief in Gedanken, Liebende geben. Laube bei Laube! Sprossende Ranken! Lastende Traube Stürzt ins Behälter Drängender Kelter, Stürzen in Bächen Schäumende Weine, Rieseln durch reine Edle Gesteine, Lassen die Höhen Hinter sich liegen, Breiten zu Seen Sich ums Genügen Grünender Hügel. Und das Geflügel Schlürfet sich Wonne, Flieget der Sonne, Flieget den hellen Inseln entgegen, Die sich auf Wellen Gauklendbewegen,. Wo wir in Chören, Jauchzende hören, Über den Auen Tanzende schauen, Die sich im Freien Alle zerstreuen. Einige klimmen Über die Höhen, Andere schwimmen Über die Seen, Andere schweben; Alle zum Leben,

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Alle zur Ferne Liebender Sterne, Seliger Huld.

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Den letzten Abschnitt im Reich des Verstandes fügt Goethe erst spät ein. Cr behandelt ein grausig wahres Kapitel, vor dem jeder die Augen verschließen möchte, das Goethe aber mit brutaler Wahrheits­ treue vor unsere Augen stellt: Die Altersstufen des Verstandes. Wir alle wissen, daß unser Körper sich im Laufe des Lebens ver­ ändert. Goethe erschaut, wie auch der Verstand zunächst als knospen­ der Verstand aufblüht, wie er dann halbfertig herumtobt, um schließlich am Ende als Welkverftand die Zeichen der Senilität auf­ zuweisen (IV). 2. Das Reich des natürlichen Empfindens In jedem Menschen kämpfen Verstand und natürliches Emp­ finden miteinander. Im Mann überwiegt der Verstand. Die Frau verkörpert daher — als Gretchen — das natürliche Empfinden, das mit dem Hochverstand (Faust) zusammenstößt und gegen das koddrige Denken (Mephisto = Kodderverstand) eine natürliche Abneigung hat (I). Der tiefe Unterschied zwischen dem Verstand und dem natürlichen Empfinden liegt darin, daß das natürliche Empfinden fest im AllGefühl ruht, fest mit dem Naturgeschehen verbunden ist. Der Ver­ stand dagegen muß sich eine sichere Stellung zum All erst schaffen, indem er sich zum AllBewußtsein entwickelt, das sich dienend der AllKraft einfügen möchte. Der Verstand kennt daher die natürliche Frömmigkeit des natürlichen Empfindens nicht (II). Das natürliche Empfinden erreicht seine höchste Stufe im selbst­ bewußten Empfinden, indem es handelnd, hingegeben und lei­ dend seiner selbst bewußt wird (III). 3. Das Reich des Wähnens

Aus der Schulzeit weiß man, daß Madagaskar eine Insel 'rechts von Afrika' ist. Man weiß vielleicht noch, daß sie bergig ist. Darüber hinaus ist 'Madagaskar' für den Laien ein Wort, nicht ein lebensvoller Begriff. Er gehört also nicht in das Reich des klar bewußten Denkens. Er gehört auch nicht in das Reich des Empfundenen. Goethe stellt daher neben das Reich des Verstandes mit seinen logisch durchgedach­ ten Gedanken und das Reich des natürlichen Empfindens mit seinen naturnahen Empfindungen und Gefühlen das dritte Reich, das Reich des Wähnens.

Für uns alle sind viele Worte nur Wahnbegriffe wie Madagas­ kar. Wir unterliegen dem hohlen Denken, das uns Wahnbegriffe liefert, und müssen - wie Goethe - versuchen, daß nichts in uns unklarer Wahnbegrisf bleibt, müssen also unsere Wahnbegriffe syste­ matisch klären und mit Leben füllen (I). Ein besonderes Gebiet von Wahnvorstellungen ist das Reich der Frömmelei, in dem nicht echter Glauben an die AllKraft, sondern Wahnbilder das Denken und Empfinden — oft bis zur Grausam­ keit - bestimmen (II). Goethe selbst spürt — im Kleinstaat Weimar — immer wieder die Nachwirkungen von mittelalterlichen Wahnvorstellungen, die vor allem in dem Versuch sichtbar werden, das menschliche Wissen alphabetisch im Konversationslexikon (Enzyklopädie) zusammenzutra­ gen und dadurch die Wirklichkeit 'darzustellen' (III). Goethe sieht schließlich das Spiel der politischen Wahnvorstel­ lungen seiner Zeit, wie sie seine Zeit bestimmen, so Afterweisheit, Französelei und Intoleranz oder auch überlebte Vorrechte, Standes­ dünkel, gemordete Menschlichkeit und andere Abarten (IV). Ein besonderes Gebiet der Wahnvorstellungen ist für Goethe der Liebeswahn, den er in 42 Vierzeilern geißelt (V). Der Größenwahn tobt und schimpft, wie es Faust gegenüber Me­ phisto tut (VI). Der schwärmerische Fanatismus hat im 'Ketzer' seinen ewigen Gegner, nach dessen Blut er dürstet (VII). Die letzte Stufe des Wahns ist schließlich der Irrsinn, in dem der Mensch die Herrschaft über seine Gedanken verliert. Goethe schildert den Irrsinn in der letzten Szene des I. Teils, in der der Hochverstand = Faust vergeblich versucht, das natürliche Empfinden = Gretchen aus der Enge des im 'Kerker' eingeschlossenen Nichtdenkens wieder zum ruhigen Denken hinauszuführen (VIII). Wir sehen also, daß Goethe in diesem Reich des Wähnens acht ver­ schiedene Formen des Wahns darstellt, die wohl jeder von uns irgend­ wie beobachtet hat, ohne daß man sie in dieser Schärfe und logischen Sauberkeit geordnet hätte. Mit tiefem Recht ruft daher Goethe ein­ mal aus: 'Ich will nicht mehr ruhen, bis mir nichts mehr Wort und Tradition, sondern lebendiger Begriff ist.' 4. Das Reich des Wollens Goethe unterscheidet sehr scharf zwischen dem Willen und dem Wol­ len. Der Wille ist immer ein Teil des Urwillens, der Urkraft. Der Mensch kann daher Willen nur als Träger des kosmischen Willens wirken lassen (I).

Das menschliche Wollen hingegen schwankt. Es unterliegt wech­ selnden Einflüssen. Tugend, Triebe, Selbstsucht, Wünsche lenken das Wollen in dieser oder jener Richtung. Es möchte immer wieder aus­ weichen, muß aber zum wirkenden Entschluß gelangen (II). 5. Das Reich der Gefühle Das Reich der Gefühle ist, wie nür bereits sahen, nach dem gleichen Grundsatz aufgebaut wie die anderen Reiche. Haupt- und Unter­ gruppen sind auch hier sauber gegliedert. 6. Das Reich der Kräfte Goethe stellt neben diese üblichen Bereiche (Denken, Empfinden, Füh­ len, Wollen) zunächst das Wähnen (Reich 3), dann aber hier ein ge­ schlossenes Reich der Kräfte. Grundlage des menschlichen Seins überhaupt ist die Lebenskraft, der Lebensmut. Nur aus der Lebenskraft heraus sind wir Menschen überhaupt vorhanden. Und ohne Lebensmut, der selbst den Tod über­ windet, sind wir nichts (I). Ebenso triebhaft wie die Lebenskraft ist die Liebeskrast, die Mann und Frau unwiderstehlich zusammmenzwingt, auf daß die Menschheit nicht untergehe. Goethe schildert daher die Eigenliebe, die hörige Liebe, die eifersüchtige Liebe, die schwärmerische Liebe und die allgewaltige Liebeskraft (II). Auf geistigem Gebiet erscheint Goethe die Vorstellungskraft als wichtigste Kraft. Sie läßt hohle Begriffe entstehen, soweit sie nicht plastischen Gehalt hat. Goethe gibt im einzelnen die Vorstellungs­ formen des Dichters, der seine Gedanken in verschiedenen Dichtformen aufleben läßt. Er unterscheidet weiter die Vorstellungsarten der Phan­ tasie und läßt Verstand und Vorstellungskraft aufeinander wir­ ken (III). Die Vorstellungskraft wächst zum Teil aus dem Empfinden. Ihr steht als Geschöpf des Denkens die Crkenntniskraft gegenüber. Allem Denken ist als Ziel die Erkenntnis gesetzt. Der Weg führt vom Irrtum über das schülerhafte, das unbelastete und das forschende Denken zur Vernunft, bleibt aber in sich begrenzt (IV). Alles Denken braucht Worte. Daher ist die Spr.achkraft Grundlage alles Denkens. Nur was formuliert ist, ist logisch klar und kann auf­ bewahrt und weitergegeben werden. Wortwurzeln, Wortklang, Wort­ bild, Wortspielerei, Wortklauberei, Wortgeklingel, Zitatensprache in langer Reihe folgen einander die einzelnen Punkte, die Goethe aus seinem reifen Sprachbewußtsein heraus vor unsere erstaunten Augen stellt (V).

Wie in vielen andern Fällen, so betont Goethe auch im 'Faust' mehr­ fach das Gewicht der Sinne, der Sin,n es kraft. Mit offenen Sinnen allein können wir die Wirklichkeit erfassen, müssen mit den Sinnen fest auf der Erde stehen, müssen sie als Werkgemeinschaft arbeiten lassen, nicht nur untereinander, sondern auch im Zusammenspiel mit Vernunft, Phantasie und Unterbewußtsein (VI). Goethe hat schließlich eine Kraft an sich selbst schicksalsmäßig bis zum Letzten erlebt, die geniale Kraft. Wenn sein 'Faust' bis heute noch nicht verstanden wird, wenn seine andern Werke bis heute noch nicht voll erfaßt und gedeutet sind, wenn er immer und immer wieder schweigen und verschweigen mußte, wenn er unerkannt durch dieses Leben hindurchgehen mußte und hindurchgegangen ist, dann weiß er wahrlich um die Not, die den genialen Menschen begleitet, wenn er aus seiner genialen Kraft heraus Werke schaffen muß, die unver­ standen bleiben. Widerstand wecken, verleumdet, totgeschwiegen oder ausgeschlachtet werden; dann weiß er um den Gegensatz von Genie und Talent und um den eigenen Zweifel des Genius darüber, ob er zu seiner aufrüttelnden Tat befugt war (VII). Ein Gesamtbild von 17 verschiedenen Kräften umfaßt Empfindungs-, Gefühls-, Ahnungs- und Einbildungskraft, Gestaltungs-, Wort- und Kunstkraft, Entschluß-, Urteils-, Vorstellungs-, Tat- und Denkkraft, Glaubens-, Gemüts- und Hingabekraft und schließt mit Begeisterungskraft und der AllKraft (VIII). Gerade dieser letzte Abschnitt läßt die Schwierigkeiten erkennen, dieses Gesamtbild der Kräfte dramatisch zu gestalten. Niemand kann behaup­ ten, daß der Versuch gelungen ist, denn der Abschnitt 'Felsbuchten des Agäischen Meeres' stellt diese verschiedenen Kräfte zwar auf die Bühne, kann aber keine einheitliche Handlung der Deckfiguren schaffen. 7. Das Reich der Phantasie Für unser Gefühl ist die Phantasie eine Eigenschaft, die eigentlich nur der Künstler braucht und der man nicht so recht trauen darf. Goethe sieht die Funktionen der Phantasie, die er in der Figur der Helena verkörpert, viel klarer. Er unterscheidet das Denken mit Tatsachen, wie es im Reich des Verstandes vor sich geht, vom Forschen, bei dem die Crkenntniskraft wirkt (Reich der Kräfte Abschnitt VI), vom Vor­ stellen und von der Phantasie. Diese letztere setzt ein, sobald wir im Futur denken. 'Ich werde nach dem Vortrage durch jene Tür hin­ ausgehen' ist eine Äußerung der Phantasie. Für unser Empfinden haben Phantasie und Erfahrung nichts miteinander zu schaffen. Goethe weiß, daß die Erfahrung die Phan­ tasie vorausschicken muß, wenn es gilt, das neue Erfahrungsziel zu

bestimmen, und daß die Phantasie die jämmerlichen Ergebnisse der eigenen Erfahrung vervielfältigen muß. Wenn ich im Walde stehe, reicht mein Auge und damit meine Erfahrung nur bis zu der Wand, die die Stämme um mich herum bilden, meine Phantasie sagt mir, daß hinter dieser Wand weitere Bäume stehen, und formt damit meine Erfahrung Wald' (I). Ebenso schroff scheinen sich Phantasie und kritische Urteils­ kraft gegenüber zu stehen. Goethe stellt sie als Helena und Phorkyas einander gegenüber und läßt die letztere schließlich die Phantasie rich­ tig beurteilen (II). Auch Denken und Phantasie gehören zusammen, denn nur die Phantasie kann die Gedanken ausschmücken, weitern und der Wirk­ lichkeit näher bringen (III). Phantasie und Schauen müssen zusammenwirken, damit das Bild der Wirklichkeit entstehe, denn immer und überall muß die Phantasie dem Auge sagen, was es noch zu sehen gibt, und muß die Bilder, die das Auge sammelte, erweitern (IV). Phantasie und Wissen bedingen einander, denn das Wissen kann zwar 'Tatsachen' sammeln, kann sie aber nicht ordnen. Aufgabe der Phantasie ist es, das System zu schaffen, in das das Gedächtnis den Wissensstoff einordnen kann (V). Phantasie und Erkennen helfen sich gegenseitig, vor allem dann, wenn die Phantasie die Folgerungen zieht, die zur Erkenntnis füh­ ren (VI). Schließlich klingen auch für Goethe Phantasie und Kunst zusam­ men, denn er betont selbst, daß an der Phantasie nicht viel wäre, wenn sie nicht Dinge zustande brächte, die dem Verstände nicht faß­ bar sind. Niemand wird behaupten wollen, daß der klügste Kopf das 'Faust'-Spiel, wie es über dieses 'Faust'-Schema gelegt ist, hätte schaffen können, wenn er nur gedacht, nicht aber auch von der Phan­ tasie unterstützt worden wäre (VII). Wer dieses Gesamtbild, das Goethe hier im dritten Akt von den Funk­ tionen der Phantasie gibt, in seinem schematischen Wesen überblickt, wird verstehen, mit welcher tiefen Befriedigung Goethe diesen HelenaAbschnitt aus der Hand legte und wie es ihn gequält hat, daß niemand den tieferen Sinn dieses Aktes verstanden hat. 8. Das Reich der Freude An das Reich der Phantasie schließt Goethe das Reich der Freude an, denn Freude entsteht, wenn sich Hochverstand und Phantasie wechsel­ seitig empor steigern. Daß dabei das Dramatische etwas kurz kommt, war nicht zu vermeiden. In wenigen Minuten haben sich Faust und

Helena gefunden, haben zusammen ein Kindchen, das von einem Schoß in den andern springt (eheliche Freude), das dann aber eine Seite später als Euphorion schon Dinge sagt, wie sie ein Weiser nicht schöner und reifer sprechen könnte. Daß der Dichter Goethe als Vater und Großvater um die einfachsten biologischen Vorgänge gewußt hat, dür­ fen wir wohl annehmen. Wenn er sich hier so offensichtlich darüber hinwegsetzt, dann ging es eben nicht um ein biologisch richtiges Schau­ spiel, sondern darum, das 'Fausts-Schema notdürftig zu verhüllen. Das Reich der Freude setzt mit einem Lob der Freude ein, das mit einer köstlichen Hymne auf die Freude endet (I). Als innige Freuden bezeichnet Goethe die Herzensfreude, die Eltern­ freude, die kindliche Freude, die Daseinsfreude, die unschuldige Freude und die Tanzfreude (II). Herbe Freuden des Erwachsenen sind Frohsinn, Arbeitsfreude, Liebesfreude, Forscherfreude, Cntdeckerfreude, Erfinderfreude und Erfolgssreude (III). Eine besondere Gruppe bilden die Freuden des Kämpfens: Kamp­ fesfreude, heldische Freude, Ruhmesfreude und Opferfreude (IV). Immer aber — und auch hier hat Goethe unsagbar tief beobachtet stirbt die Freude den Tod der Freude: Die überirdische Freude jauchzt zum Himmel empor, dann aber erlischt sie, um später einmal wiederzukehren. (Wenn uns abends die Kinder aus ihren Betten an­ lächeln, dann wollen sie noch einmal in das Reich der Freude bis zur überirdischen Freude hinauf gekitzelt werden. Plötzlich huscht dann ein Zug der Trauer über die Gesichtchen: „Nun ist es genug, Opa! Nun morgen wieder!" — das ist nach Goethe: Der Tod der Freude: 'Ikarus, Ikarus, Jammer genug!') (V). Zwei Formen der Freude kann man als nachklingende Freude zusammenfassen: die Crinnerungsfreude und die Wonne der Wehmut, an denen viele Menschen tiefe Freude haben (VI). Und der große Schalk Goethe schließt das Reich der Freude mit der reinsten Freude, der Schadenfreude: Phorkyas — Mephisto hebt grinsend die leere Hülle des Euphorion empor und freut sich darauf, daß er damit 'Gild- und Handwerksneid stiften' wird (VII). Dieses Reich der Freude ist wohl das schönste Stück des ganzen 'Faust'Werkes, denn es strahlt wirklich reine Freude aus. 9. Das Reich des AllSinns An das Reich der Freude fügt Goethe das Reich des AllSinns an. Die Bedeutung der Sinneskraft wird bereits im Reich der Kräfte (Reich 6 Abschnitt VI) von Goethe unterstrichen, denn für ihn ist der menschliche Körper der 'vollkommenste physikalische Apparat', den man 2t

sich nur vorstellen könne, und er hätte diesen Apparat sicherlich in seiner tiefen Weisheit unübertrefflich beschreiben können. Man denke nur an die herrlichen Schilderungen des Sehens und des Schauens in der 'Farbenlehre' oder an die köstlichen Zeilen: Wär' nicht das Auge sonnenhaft. Die Sonne könnt es nie erblicken; Läg' in uns nicht des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken? Immer wieder betont Goethe die Überlegenheit der untrüglichen Sinne gegenüber dem Denken und Urteilen. Wenn er trotzdem das Reich des AllSinns nicht weiter ausgeführt hat, so lag dafür die Schuld wohl in der überwältigenden Aufgabe, die im 'Faust' gelöst worden ist. So müssen wir uns damit begnügen, daß Goethe in wenigen Zeilen das Reich des AllSinns andeutet. Auch das Wort 'AllSinn' stammt von Goethe selbst. Hier wie über­ all durfte das 'Faust'-Schema nur mit solchen Worten und Begriffen arbeiten, die Goethe an andern Stellen seiner Werke selbst benutzt. Es durften nicht Begriffe und Vorstellungen von außen hinein­ gepreßt werden. Vielmehr mußte jede Überschrift an andern GoetheStellen nachweisbar vorkommen, also aus Goethes Denken stammen*. 10. Das Reich der tätigen Vernunft Eine der grundlegenden Erkenntnisse Goethes ist, daß der menschliche Verstand zwar nicht das All erkennen kann und auch nicht zu er­ fassen braucht, daß er aber vollkommen genügt, um die täglich an­ fallenden Aufgaben zu erfüllen. Erste Aufgabe ist also, daß man sich ein Ziel setze. Das niedere Den­ ken hat als Lebensziel: selbst gut zu leben. Der Hochverstand möchte die Menschheit im ganzen emporbilden (I). In jedem Falle gilt es zu handeln. Das aber heißt: anzufangen. Die Willensschwäche, das Zögern muß überwunden werden. Der klugtätige Anfang unter Heranziehung von Anschauung, Begriff und Urteil tut not (II). Die Tat selbst verlangt in jedem einzelnen Falle, daß die Erfahrung das Phänomen richtig erfaßt, daß Gründe und Gegengründe sauber abgewogen werden und daß der gesamte Geisteskampf klug geführt wird (III). Wollen und Wünschen, Triebe und Gefühle können das Bild der

* Eine Ausnahme bildet das Wort-Welkverstand' der Hexenküche, für das der entsprechende Goethesche Ausdruck noch nicht gefunden wmde, ebenso 'Kodderverstand' für das mephistophelische Denken.

Wirklichkeit nicht klar erfassen, sondern verzerren das vernunft­ gemäße Erkennen durch ihre eigennützigen Sonderinteressen, von denen sie sich nicht lösen können (IV). Letztes Ziel bleibt, daß diese verschiedenen Willenspartner klug und unter einheitlicher Leitung zusammenarbeiten, daß das Wollen zur Tatkraft wird, daß aus Selbstsucht Selbstzucht wird, daß sich die Wünsche mäßigen und daß so eine feste, geschlossene Persönlichkeit sich in vernunftgemäßem Jusammenspiel der Willenspart­ ner tätig auswirkt (V). 11. Das Reich des Kirchenglaubens Neben dem Denken, Empfinden, Fühlen und den anderen mensch­ lichen Fähigkeiten steht der Glaube oder - im engeren Sinne - der Kirchenglaube. Er wächst aus dem menschlichen Wunsch, die AllKraft irgendwie näher zu verstehen und sich mit ihr in Verbindung zu bringen. Die Kraft des Glaubens wird schon im Kinde in bestimmte Richtung gelenkt, denn die Kirche beeinflußt das Wollen durch ihre Dogmen, durch Moralvorschristen, durch Strafandrohungen und andere Me­ thoden (IV). Die innere Frömmigkeit sucht sich unabhängig von dem Kirchen­ glauben eine Heimat und kann sie nur im Kreise der beiden Träger der wirklichen Religion finden, als die Goethe Demut und Zuversicht bezeichnet und durch Baucis und Philemon darstellt (II). Der Verstand tritt mit seiner kritischen Urteilskraft dem Kirchentzlauben entgegen. Seine neuzeitlichen naturwissenschaftlichen und an­ deren Erkenntnisse stehen vielfach in Widerspruch zu den mittelalter­ lichen Dogmen des Kirchenglaubens, so daß es zum Kampf kommt, in welchem der Kirchenglaube einen schweren Stand hat (III). 12. Das Reich der kosmischen Einung Selbst wenn der Verstand Gedankenarmut, Denkfaulheit und Ge­ dankenlosigkeit nicht hereinläßt, kann er sich gegen den Zweifel (Frau Sorge) nicht schützen. Cr kann nur das eine tun: er kann dem Zwei­ fel das innere Licht gegenüberstellen und chn dadurch überwinden (I). Der erleuchtete Verstand muß sich dann bewußt vom abstrakten Denken loslösen und sich dem kosmischen Geschehen bewußt tätig einfügen, mag auch das irdische Denken sich gegen diese Lösung sträuben (II). So fällt schließlich vom Menschen das Irdische ab. Er hebt sich in die höheren Sphären. Die Erleuchtung aber kann niemand erzwingen. Sie muß als Gnade geschenkt werden, indem Liebe, Glaube und Treue dabei mitwirken (III).

IV. Der wissenschaftliche Nachweis Dieses gewaltige Gesamtbild der menschlichen Seele, dieses 'Faust'Schema ist so seltsam, daß es wohl jeden denkenden Menschen fesselt. Wie war es möglich, daß Goethe es fand? Und wie ist es vorstellbar, daß er es im 'Faust' verstecken konnte oder verstecken mußte? Diese beiden Fragen lassen sich nicht im knappen Rahmen einer Studie beantworten. Sie verlangen eingehende wissenschaftliche Begründung. Diese wird in zwei Bänden erscheinen: A. Das 'Faust'-Schema mit 12 Kapiteln und B. Der schematisierte 'Faust'. A. Das 'Faust'-Schema (kurzer Überblick) 1. Kapitel: Das 'Faust'-Rätsel Nach allgemeinem Empfinden gehört der 'Faust' in die Reihe der dämonischen Bücher, mit denen man immer wieder ringen muß. Goethe selbst spricht davon, daß er in den 'Faust' 'viel hineingeheimnist' habe. Aus dem Briefwechsel mit Schiller leuchtet immer wie­ der dies Geheimnis durch, um das die beiden wissen, wenn sie über das 'Schema zum Faust' sprechen, das auch in den Tagebüchern erwähnt wird. Dieses 'Faust'-Schema ist bisher anscheinend nur von dem Hamburger Lehrer F. A. Steinzänger erkannt worden, der unter dem Pseudonym F. A. Louvier 1892 sein Buch ’Sphinx locuta est’ (Die Sphinx hat gesprochen) veröffentlicht. Er behauptet, daß Goethe den 'Faust' in dreifacher Weise ausgebaut habe, indem er einen 'theatralischen Faust', einen 'philosophischen Faust' und schließlich einen 'kulturhistorischen Faust' in seinen gesamten 'Faustplan' ver­ einigt habe. Viele Stellen des 'Faust' deutet Louvier mit bewunderns­ werter Klugheit. Das Gesamtschema konnte er nicht aufdecken, weil er von der festen Voraussetzung ausging, daß Goethe sich im 'Faust' mit Kant habe auseinandersetzen wollen. 2. Kapitel: Das philosophische Epos der deutschen Seele Für das Verständnis des 'Faust' ist die Tatsache wichtig, daß die An­ regung zu einem solchen umfassenden 'Faust'-Schema an Goethe von außen herangetragen worden ist. Herder, mit dem Goethe als junger Student in Straßburg zusammentraf, hatte kurz vorher gefordert, daß ein Genius ausstehen möge, um ein Epos der deutschen Seeke zu schreiben, in dem alle menschlichen Fähigkeiten und Leidenschaften zu erscheinen hätten. Lessing forderte gleichzeitig ein Faust-Spiel als 'deutschestes Stück'. Goethe hat die Herdersche Anregung, wie sich aus 'Dichtung und Wahrheit' ergibt, aufgegriffen, denn er hält seinen 'Faust'-Plan vor Herder geheim.

3. Kapitel: Die Deckfiguren Beim wort-wörtlichen Lesen der 'Mummenschanz' ergibt sich, daß Goethe die Eigenschaften zum Teil unmittelbar auf die Bühne treten läßt, wie es einst auch Marlowe tat, zum Teil aber auch Deckfiguren benutzt. Er wählt seine Deckfiguren aus der griechischen Mythologie, die über die menschlichen Eigenschaften mit seltener Klugheit nach­ gedacht hatte. Für die typisch deutschen Eigenschaften mußte er neue Deckfiguren schaffen. Sein 'Dr. Faust', sein 'Gretchen', sein 'Me­ phisto' sind bereits aus den Deckfiguren zu Begriffen geworden, denn wer will die Begriffe (!) 'faustisches Denken', 'gretchenhastes Emp­ finden' oder 'mephistophelisches Denken' mit andern eindeutigen deut­ schen Worten ausdrücken? Die Deutung der Deckfiguren war oft außerordentlich schwierig, denn sie war nur dann richtig, wenn sämt­ liche eigenen Äußerungen der Deckfigur restlos mit der verkörperten Eigenschaft übereinstimmten, wenn auch das, was die andern Deck­ figuren zu dieser Deckfigur oder über sie aussprechen, restlos zutraf und wenn schließlich auch gefühlsmäßig diese Deutung als möglich empfunden wurde. Leider hat Goethe selbst bewußt geschwiegen. Selbst seinen Mitarbeiter Eckermann hat er, wie im einzelnen nachgewiesen werden mußte, bewußt über den wirklichen Sinn des 'Faust' im Dunkel gelassen und ihn nur als Helfer beim Ausbau des 'Faust'Spiels benutzt. 4. Kapitel: 'Faust'-Spiel, Sinn und Nebensinn Goethe selbst gibt uns die Dreigliederung des 'Faust' am Anfang seines 'Faust'-Werkes mit auf den Weg: Im 'Vorspiel auf dem Theater' vertritt der Direktor das 'Faust'-Spiel, der Dichter den Sinn und die lustige Figur den Nebensinn. Diese Dreigliederung des ganzen 'Faust'-Werkes verlangte, daß Goethe das 'Aaust-Spiel' 'wie einen Mantel' um den Sinn, um das 'Faust'-Schema herumlegte. In der 'Mummenschanz' zeigte sich, daß es künstlerisch unmöglich war, den 'Mantel' überall so zu gestalten, daß er wirklich paßte. Schon rein logisch war es unmöglich, den 'Dr. Faust' als Deckfigur für den Hochverstand durch alle Reiche der Seele wandern zu lassen, denn er hat offensichtlich in manchen Reichen nichts zu tun; auch hierfür ist die 'Mummenschanz' ein Beispiel, denn dort erscheint Faust nur als verkleidete, d. h. neue Deckfigur, nämlich als Plutus, der das Selbstbewußtsein verkörpert. Grundsätzlich folgt aus dieser inneren Dreiteilung des 'Faust'-Werkes, daß es nicht ausführbar ist — nie­ mand kann in der Geschwindigkeit den dreifachen Sinn der Worte ermessen —, daß es unübersetzbar ist — niemand kann diesen dreifachen Sinn der deutschen Worte in fremde Sprachen übertragen - und daß

es and) nicht vertont werden kann, solange nicht der wahre Sinn, das 'Faust'-Schema, erkannt ist. 5. Kapitel: Das Gesamtbild des Ich Wenn Goethe grundsätzlich die Gedanken, mit denen er sich ausein­ andersetzte, schematisch und dichterisch aus sich heraus stellte, so muß man mit Sicherheit annehmen, daß er auch vas Bild des Menschen einmal als Ganzes zu fassen versucht hat. Cr bezeichnete den Menschen als 'eigentliches Studium der Menschheit'. Cr rang sein Leben hin­ durch mit den eigenen Anlagen und um Erkenntnis fremder Mensch:nseelen. Daß er dabei schließlich zu dem 'Faust'-Schema mit den obi­ gen zwölf großen Reichen gelangte, ist grundsätzlich möglich. Aber — so fragt man sich — hat er nicht irgendwo dieses Schema einmal an­ gedeutet? Die Antwort auf diese Frage finden wir in der 'Farben­ lehre', wo er die zwölf Reiche der Seele in einem (!!) einzigen Satz in einer Weise logisch sauber aufführt, die wohl kaum als Zufall be­ zeichnet werden kann: 'Um aber einer solchen Forderung (vollendeter wissenschaftlicher Lei­ stung) sich zu nähern, mußte man keine (!) der menschlichen Kräfte (!!) bei wissenschaftlicher Tätigkeit (!) ausschließen. Die Abgründe der Ahnung, also: 2. Reich des natürlichen Empfindens also nicht: 3. Reich des Wähnens ein sicheres Anschauen der Gegenwart, also nicht: 4. Reich des (schwan­ mathematische Tiefe, kenden) Wollens also nicht: 5. Reich der (unbe­ physische Genauigkeit, herrschten) Gefühle also: 6. Reich der {vernunftHöhe der Vernunft, beherrschten) Kräfte also: 1. Reich des Verstandes Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phan- also: 7. Reich der Phantasie taste, also: 8. Reich der Freude liebevolle Freude also: 9. Reich des All Sinns am Sinnlichen, nichts davon kann entbehrt werden zum lebhaften, fruchtbaren Er­ also: 10. Reich der tätigen Ver­ nunft greifen des Augenblickes, also: 12. Reich der kosmischen wodurch ganz allein ein Einung Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sei, also: 11. Reich des Kirchen­ glaubens

entstehen kann' (Farbenlehre, Betrachtung über Farbenlehre und Far­ benbetrachtung der Alten, Cotta 1902, Bd. 40, S. 141). 6. Kapitel: Der physiologische Ort der 'Faust'-Szenen Goethe gibt uns einen seltsamen Hinweis auf das 'Faust'-Schema in seinen Szenentiteln, die durchweg einen physiologischen Nebensinn haben. So läßt er das Reich der Gefühle sich austoben im ,Weiten Saal mit viel Nebengemächern', d. h. im Herzen mit seinen Adern. Fausts Selbstgespräche und seine Unterhaltungen mit Mephisto finden zum Teil im 'Hohen gotischen Zimmer' statt, dem Gehirn. Leuchtet beiden der Zorn aus den Augen, dann heißt die Szene: 'Finstere Galerie'. Alles, was gesprochen wird, geht aus dem 'Stadttor' her­ aus und lebt 'Auf der Straße' oder 'Auf dem Felde'. Wenn das Wort zum Andern hinüberreicht, dann ist die Szene 'Nachbars Gärtlein', d. i. das Ohr. 7. Kapitel: Das 'ausführlichere Schema zum 'Faust" Goethe spricht in seinem Tagebuch mehrfach vom 'Schema zum Faust', an einer Stelle sogar vom 'ausführlicheren Schema zum Faust'. Wer es im ganzen betrachtet, steht überwältigt vor der un­ faßbaren inneren Logik, mit der dieses Gesamtschema den Menschen darstellt. Wenn die zwölf Reiche der Seele sich in große Unter­ abschnitte und diese wiederum in Abschnitte aufspalten, wenn ins­ gesamt 450 solcher Zwischentitel sich ergeben, die jeder 'Faust'-Leser nachprüfen kann, dann kann hier von einem Zufall nicht mehr die Rede sein. Die anliegende Tabelle gibt nur 74 Haupttitel. 8. Kapitel: 'Sinn'-gemäße Erläuterungen zum 'Faust'-Spiel Eine wichtige Aufgabe mußte weiterhin erfüllt werden: wenn man an Hand des 'Faust'-Schemas das ganze 'Faust'-Werk mit neuen Augen ansieht, dann mußte der Nachweis geführt werden, wie sich die Bil­ der und Gestalten des 'Faust'-Spieles in dieses neue Bild des Ganzen einfügen. Außerdem braucht der Leser in jedem Falle kommentarmäßige Anmerkungen, um die Deckfiguren Helena, Nereus, Chiron und wie sie alle heißen, zunächst einmal rein mythologisch-technisch richtig zu verstehen und dann ihre Deutung zu überwachen. 9. Kapitel: Vom 'Ursaust' zum 'Faust'-Schema Keine der bisherigen 'Faust'-Deutungen hat begründen können, warum Goethe den ersten Teil des 'Faust' gegenüber dem 'Urfaust' durch Einschiebung der 'Hexenküche', der 'Walpurgisnacht' und des 'Wal­ purgisnachttraums' erweitert hat. Ebenso unverständlich blieben einige

andere Einschiebsel. Im Rahmen des 'Faust'Schemas wird ihr Sinn sofort klar, denn das Reich des Verstandes wurde um den Abschnitt 'Altersstufen des Verstandes' erweitert, das Reich des Wähnens wurde vom Reich des natürlichen Empfindens abgetrennt und durch Ausbau der einzelnen Arten des Wahns (politischer Wahn, Sexual-Wahn, Größenwahn) abgerundet. Dieser Weg vom 'Urfaust' bis zum 'Faust'-Schema läßt sich in vielen Einzelheiten verfolgen und auch durch Äußerungen von Goethe selbst begründen; denn dieser Weg ist durch das langsame Entstehen des 'Faust'-Schemas logisch bedingt. 10. Kapitel: Entspricht das 'Faust'-Schema Goethes Denkart? Diese Frage stellt sich jeder, der über die Möglichkeit eines solchen 'Faust'-Schemas nachdenkt. Die Antwort ist ein empörtes 'Nein!', wenn man von dem 'Goethe-Bild' ausgeht, das einem auf der Schule mitgegeben wird: Goethe der edle Dichter, den eine höhere Kraft stundenweise Verse von verschiedener 'Güte' schreiben läßt. Wer den wirklichen Goethe betrachtet, muß das 'Faust'-Schema als durchaus möglich, ja als wahrscheinlich bezeichnen. Goethe war — für den aufrichtigen Beobachter — zwölffach Meister und - in zweiter Linie - zwölfsach Dienender: Als ausgebildeter Jurist ist er gewohnt, sauber wortwörtlich zu denken und zu folgern. Als gelernter Verwaltungsbeamter durchläuft er alle Stufen und Ressorts des Verwaltungsdienstes. Als verantwortlicher Staatsmann ist er durch Jahrzehnte hindurch maßgeblich an der 'großen Politik' unmittelbar beteiligt. Als erprobter Haushalter muß er neben den eigenen Finanzen auch die seines Fürsten und des Staates in Ordnung halten. Als philosophisch geschulter Denker lebt er durch Jahrzehnte in philo­ sophischen Gesprächen mit Herder, Schiller und unzähligen Anderen. Als anschauender Naturerforscher beobachtet er durch Jahrzehnte hin­ durch die Natur, sammelt — neben vielem Andern — 18000 Stücke für seine Steinsammlung und bespricht ernste naturwissenschaftliche Werke in der Fachpresse. Als klarer Systematiker hinterläßt er eine lange Reihe von logisch sauber durchgefeilten schematischen Systemen auf den verschiedenen Fachgebieten, mit denen er sich beschäftigt hat. Als mächtiger Vorkämpfer der deutschen Sprache schafft er das mittel­ alterliche Deutsch zu dem reifen Goethe-Deutsch um, mit dem er im 'Faust' alle Kräfte der menschlichen Seele ohne ein einziges Fremd­ wort darstellt, wenn er auch nie reiner 'Purist' war.

Als ausgereister Theaterfachmann kennt er auf Grund seiner 26jährigen Tätigkeit als Theaterdirektor alle Probleme der Bühne, für die er über 100 Opern- und andere Texte umarbeitet und an 4136 Spieltagen 600 Stücke aufführen läßt: 17 Possen, 31 Singspiele, 77 Trauerspiele, 104 Opern, 123 Schauspiele, 249 Lustspiele. Als großer geistiger Arbeiter hat er über alle Fragen der geistigen Arbeit reiflich nachgedacht und hält selbst vorbildliche Ordnung. Als tiefer Kenner der Menschenseele schließlich hat er jedem von uns immer wieder Neues zu sagen, sobald man ihn nur aufschlägt. Daneben aber ist er zwölffach Dienender: Er fühlt sich als kleines Glied der urewigen Kraft. Cr beugt sich bewußt der Gewalt des Schicksals. Cr schult die magischen Willenskräfte des Körpers. Er achtet Bedeutung und Grenzen der Sinneskraft. Cr unterwirft sich der göttlichen Kraft der Phantasie. Cr dient der Erkenntnis trotz der quälenden Enge des Wortes. Er erfüllt das Gebot des Schweigens. Cr erfüllt die Pflicht des Tages. Er trägt die Bürde des Verkanntwerdens. Er ringt einsam mit der unlösbar scheinenden 'Faust'-Aufgabe. Er lebt als deutscher Mensch. Sein psycho-logisch vollendetes Gesamtbild des allzumenschlichen Men­ schen konnte der aktive Ministerpräsident eines Kleinstaates aus nahe­ liegenden Gründen nur als 'offenbares Geheimnis' veröffentlichen. 11. Kapitel: Der 'Faust' als unbeschreibliches Ereignis Wenn Goethe durch sechs Jahrzehnte, wenn auch mit Pausen, am 'Faust' gearbeitet hat, wenn er das Werk schließlich mit tiefer Befrie­ digung aus der Hand legte, dann wollte er nicht ein offensichtlich wenig gelungenes Theaterstück auf die Bühne bringen. Darum steht über dem 'Faust' das tiefe Wort 'Ich schreibe nicht, um euch zu gefallen; ihr sollt was lernen!' Schon bisher haben Millionen und Aber-Millionen von deutschen Menschen am 'Faust' tiefe Freude gehabt. Das 'Faust'-Schema will dieser künstlerischen Freude die intellektuelle Freude hinzufügen, die Freude am verstehenden Lesen. Alle die einzelnen Worte, an denen man sich als Leser erfreut, gewinnen im Rahmen des 'Faust'-Schemas einen unendlich viel tieferen Sinn, ja vielleicht erst den wirklichen Sinn, um derentwillen Goethe sie geschrieben hat. Darum muß das letzte Kapitel die Brücke schaffen zwischen dem 'Faust' und dem 'Faust'Leser. Goethe will, daß wir jedes seiner Worte auf uns selbst be­ ziehen, daß wir den 'Faust' und das 'Faust'-Schema nicht von außen

als ein 'interessantes Werk der deutschen klassischen Literatur' zu den Akten nehmen, sondern daß wir mit diesem Werke und der Fülle der Weisheit, die er in ihm verborgen hat, ringen. Aufgabe dieses Ka­ pitels ist daher, dem Leser die einzelnen Reiche der Seele als Reiche der eigenen Seele näherzubringen. Und wer diese Reiche dann in sich selbst entdeckt hat, wer schließlich bis zum Reich der kosmischen Einung vorgedrungen ist, der versteht, warum der 'Faust' als Ganzes wirk­ lich ein 'unbeschreibliches Ereignis' ist. 12. Kapitel: Gesamtergebnis Diese wissenschaftliche Begründung des 'Faust'-Schemas mußte wissenschaftlich so sauber durchgeführt werden, wie es verlangt werden muß, wenn ein Wissenschaftler von seinem eigenen Fachgebiet sich auf fremde Gebiete hinüberbegibt. Vor allem galt es, alle Einzelheiten des ,Faust'-Schemas aus Goethes Gedankenwelt heraus zu erweisen, d. h. also sie mit Hinweisen zu belegen. So enthält das 11. Kapitel 300 Zitate, die sich völlig logisch einfügen. Das 10. Kapitel entstand mit seinen 24 Abschnitten nicht aus theoretischer Überlegung heraus, sondern aus dem Versuch, 3000 Goethe-Worte nach einem Schema zu ordnen, das seinem Lebens- und Gedankenkreis wirklich entspricht. B. Der schematisierte 'Faust' Das 'Faust'-Schema ist nicht ausreichend wissenschaftlich begründet, wenn es nur als möglich, als logisch richtig und als Goethes Denken entsprechend hingestellt wird. Es galt, darüber hinaus den gesamten 'Faust'-Text im Sinne dieses Schemas zu deuten, denn das 'Faust'Schema wurde nicht erdacht, sondern ergab sich beim wort-wörtlichen Lesen und Durchdenken des 'Faust'. Der zweite Band 'Der schematisierte 'Faust" fügt zunächst die 450 Haupt- und Untertitel des 'Faust'-Schemas in den 'Faust'-Text ein. Der Leser aber kann die geistigen Brücken zu diesen Zwischentiteln nicht finden, wenn nicht die einzelnen Figuren und ihre symbolischen und bildhaften Äußerungen näher gedeutet wurden. Mephisto selbst sagt im 'Faust': 'Ich möcht' indes wohl tausend Brücken bauen'. Der Versuch ergab, daß tausend Brückenworte nicht genügten, sondern daß 2400 solcher deutenden Zwischentitel eingefügt werden mußten. Einige davon wurden bereits im Abschnitt 'Mum­ menschanz' erwähnt: 'zittert die Furcht', 'bohrt der Argwohn' usw. Erst durch diese Brückenworte wird deutlich, wie unendlich sauber; Goethe gearbeitet hat, wie er in der knappesten Form, in der schärfsten Durchfeilung Gedanken an Gedanken gesetzt hat. In tiefer Ehrfurcht

spürt man an Hand dieser Brückenworte, welch unermeßlicher Schah von Wissen um den Menschen und welche künstlerische Darstellungs­ kunst im 'Faust' zusammenfließen mußten, um dies unsterbliche Werk zu schaffen. So gehört der zweite Band 'Der schematisierte 'Faust" neben den wissenschaftlichen Nachweis, den der erste Band 'Das 'Faust'-Schema' geben wird. Darüber hinaus aber bietet der zweite Band dem 'Faust'Leser den wirklichen Genuß. Wer sich einmal daran gewöhnt, den 'Faust' mit den Augen des 'Faust'-Schemas zu lesen, kommt nicht wieder davon los. Und er findet immer wieder Neues. Unerschöpflich ist der 'Faust', wie alle großen Werke der Natur, der Allkraft uner­ schöpflich sind.

V. Das Denken des jungen deutschen Menschen nach dem 'Faust'-Schema Welches aber ist der Nutzen, den der 'Faust'-Leser aus dem 'Faust'Schema ziehen kann? — das ist die letzte und wichtigste Frage. Es ist selbstverständlich nicht möglich, im engen Rahmen dieser kleinen Studie mehr als einen Überblick über das Gesamtgebäude des 'Faust' zu geben. Trotzdem sei der Versuch gemacht, an zwei Beispielen an­ zudeuten, wie Goethe Probleme klärt, mit denen wir uns alltäglich herumschlagen. Wir wählen als Beispiel das Gebiet des Denkens und prüfen die kon­ krete Frage: Wie stellt Goethe die Entwicklungsstufen des Denkens eines jungen Menschen dar? Um die Antwort zu finden, suchen wir im 'Faust'-Schema den 'geo­ metrischen Ort', an dem die Antwort stehen müßte. Cs ist dies ein­ mal das Reich des Verstandes, wo im 4. Abschnitt die Altersstufen des Verstandes behandelt werden. Es ist zum zweiten der Abschnitt 'Erkenntniskraft' im Reich der Kräfte, in dem Goethe das schülerhafte Denken darstellt. Wir werden schließlich den Abschnitt 'Arten des Denkens' sNeich des Verstandes^ durchblättern. 1. Das jugendlich-reine Denken Goethe beobachtet, wie auch die Denkkraft des Verstandes zunächst schlummert, dann geweckt wird, aufblüht und schließlich verwelkt. Cr stellt daher im Ersten Teil (vor 'Auerbachs Keller') dem knospenden Verstand eines jungen Studenten das koddrige Denken des als Pro­ fessor verkleideten Zynikers Mephisto gegenüber, der den ihm ver­ trauensvoll Nahenden in übler Weise verwirrt und vom reinen For3t

schen nach Gott und Welt [18 99] in das Gebiet verlogener Denk­ systeme [1912] abdrängt. Erschütternd hilflos sieht der knospende Verstand seine jugendlich-reinen Ideale zusammenbrechen.

IV. Altersstufen des Verstandes 1. Der knospende Verstand wird der Verstand auf der Schule geweckt: Ein Schüler tritt auf.

dienert der knospende Verstand............................Schüler Ich bin allhier erst kurze Zeit, Und komme voll Ergebenheit, Einen Mann zu sprechen und zu kennen, Den alle mir mit Ehrfurcht nennen.

is es «s is ?o 11

genehmigt der Kodderverstand . . . . Mephistopheles Eure Höflichkeit erfreut mich sehr! ?2 Ihr seht einen Mann wie andre mehr. 73 Habt Ihr Euch sonst schon umgetan? ?4 bettelt der knospende Verstand.............................. Schüler Ich bitt' Euch, nehmt Euch meiner an! is 75 Ich komme mit allem guten Mut, 70 Leidlichem Geld und frischem Blut; 77 Meine Mutter wollte mich kaum entfernen; 1« Möchte gern was Rechts hieraußen lernen. 7e beruhigt der Kodder verstand.................. Mephistopheles Da seid Ihr eben recht am Ort. is so

fühlt der knospende Verstand die Lebensferne der Wissenschaft............................................................. Schüler Aufrichtig, möchte schon wieder fort: In diesen Mauern, diesen Hallen Will es mir keineswegs gefallen. Es ist ein gar beschränkter Raum, Man sieht nichts Grünes, keinen Baum, Und in den Sälen, auf den Bänken Vergeht mir Hören, Sehn und Denken.

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predigt der Kodder verstand Buchwissen Mephistopheles Das kommt nur auf Gewohnheit an. So nimmt ein Kind der Mutter Brust Nicht gleich im Anfang willig an, Doch bald ernährt es sich mit Lust.

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So wird's Euch an der Weisheit Brüsten 13 92 M it jedem Tage mehr gelüsten. 93 gelobt der knospende Verstand........................... Schüler An ihrem Hals will ich mit Freuden hangen; 94 Doch sagt mir nur, wie kann ich hingelangen? ie 95 spezialisiert der Kodder verstand . . . .Mephistopheles Erklärt Euch, eh' Ihr weiter geht, 9e Was wählt Ihr für eine Fakultät? 97

bekennt sich der knospende Verstand zum AUDenken..................................................................Schüler Ich wünschte recht gelehrt zu werden, Und möchte gern, was auf der Erden Und in dem Himmel ist, erfassen, Die Wissenschaft und die Natur. höhnt der Kodderverstand...................... Mephistopheles Da seid Ihr auf der rechten Spur; Doch müßt Ihr Euch nicht zerstreuen lassen. gesteht der knospende Verstand.............................. Schüler Ich bin dabei mit Seel' und Leib; Doch freilich würde mir behagen Ein wenig Freiheit und Zeitvertreib An schönen Sommerfeiertagen. erdrosseln Denkfesseln das AllDenken . Mephistopheles Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen, Doch Ordnung lehrt Euch Zeit gewinnen. Mein teurer Freund, ich rat' Euch drum Zuerst Collegium Logicum. Da wird der Geist Euch wohl dressiert, In spanische Stiefeln eingeschnürt, Daß er bedächtiger so fortan Hinschleiche die Gedankenbahn, Und nicht etwa, die Kreuz und Quer, Irrlichteliere hin und her. Dann lehret man Euch manchen Tag, Daß, was Ihr sonst auf einen Schlag Getrieben, wie Essen und Trinken frei, Eins! Zwei! Drei! dazu nötig sei. Zwar ist's mit der Gedankenfabrik Wie mit einem Weber-Meisterstück, Wo ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein herüber hinüber schießen,

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Die Fäden ungesehen fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. Der Philosoph, der tritt herein Und beweist Euch, es müßt' so sein: Das Erst' wär' so, das Zweite so, Und drum das Dritt' und Vierte so, Und wenn das Erst' und Zweit' nicht wär', Das Dritt' und Viert' wär' nimmermehr. Das preisen die Schüler aller Orten, Sind aber keine Weber geworden. Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist heraus zu treiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt leider! nur das geistige Band. Encheiresin naturae nennt's die Chemie, ' Spottet ihrer selbst, und weiß nicht wie. ist der knospende Verstand noch naturnah . . . Schüler Kann Euch nicht eben ganz verstehen. grinsen die Denksysteme.......................... Mephistopheles Das wird nächstens schon besser gehen. Wenn Ihr lernt alles reduzieren Und gehörig klassifizieren.



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klagt der knospende Verstand.................................. Schüler Mir wird von alle dem so dumm, Als ging' mir ein Mühlrad im Kopf herum.

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diktiert das Buchwissen.............................. Mephistopheles Nachher, vor allen andern Sachen, Müßt Ihr Euch an die Metaphysik machen! Da seht, daß Ihr tiefsinnig faßt, Was in des Menschen Hirn nicht paßt; Für was drein geht und nicht drein geht Ein prächtig Wort zu Diensten steht. Doch vorerst dieses halbe Jahr Nehmt ja der besten Ordnung wahr. Fünf Stunden habt Ihr jeden Tag; Seid drinnen mit dem Glockenschlag! Habt Euch vorher wohl präpariert, Paragraphos wohl einstudiert, Damit Ihr nachher besser seht, Daß er nichts sagt, als was im Buche steht;

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Doch Euch des Schreibens ja befleißt, i« «2 Als diktiert' Euch der Heilig' Geist! «» strahlt der knospende Verstand.......................... Schüler Das sollt Ihr mir nicht zweimal sagen! «4 Ich denke mir, wie viel es nützt; 1» e 5 Denn, was man Schwarz auf Weiß besitzt, «« Kann man getrost nach Hause tragen. verlangt der Kodderverstand erneut . . Mephistopheles Doch wählt mir eine FakultätI «e «i

lehnt der knospende Verstand das Paragrafben-Denken ab.................................Schüler

Zur Rechtsgelehrsamkeit kann ich mich nicht bequemen.

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suchen die Völker ihre rechtlich-rechte Lebensform vergeblich...................... Mephistopheles

Ich kann es Euch so sehr nicht übel nehmen, Ich weiß, wie es um diese Lehre fleht. Es erben sich Gesetz' und Rechte Wie eine ew'ge Krankheit fort, Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte Und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; Weh dir, daß du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, Von dem ist leider! nie die Frage. schwankt der knospende Verstand.................... Schüler Mein Abscheu wird durch Euch vermehrt. O glücklich der, den Ihr belehrt! Fast möcht' icf) nun Theologie studieren. verordnet jede Heilslehre ihren Weg . Mephistopheles Ich wünschte nicht. Euch irre zu führen. Was diese Wissenschaft betrifft, Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden, Es liegt in ihr so viel verborgnes Gift, Und von der Arzenei ist's kaum zu unterscheiden. Am besten ist's auch hier, wenn Ihr nur Einen hört, Und auf des Meisters Worte schwört. Im ganzen - haltet Euch an Worte 1 Dann geht Ihr durch die sichre Pforte Zum Tempel der Gewißheit ein.

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meint der knospende Verstand anfängerhaft . . Schüler Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein.

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ist die Scholastik unsterblich................Mephistopheles Schon gut 1 Nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen; Denn eben wo Begriffe fehlen, Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Mit Worten läßt sich trefflich streiten, Mit Worten ein System bereiten, An Worte läßt sich trefflich glauben, Don einem Wort läßt sich kein Iota rauben.

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fragt der knospende Verstand an........................Schüler Verzeiht, ich halt' Euch auf mit vielen Fragen, Allein ich muß Euch noch bemühn. Wollt Ihr mir von der Medizin Nicht auch ein kräftig Wörtchen sagen? Drei Jahr ist eine kurze Zeit, Und, Gott 1 das Feld ist gar zu weit. Wenn man einen Fingerzeig nur hat, Läßt sich's schon eher weiter fühlen.

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liebt Goethe die Ärzte nicht besonders . Mephistopheles (für sich) Ich bin des trocknen Tons nun satt, Muß wieder recht den Teufel spielen. (Laut) Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen; Ihr durchstudiert die groß' und kleine Welt, Um es am Ende gehn zu lassen, Wie's Gott gefällt. Vergebens, daß Ihr ringsum wissenschaftlich schweift, Ein jeder lernt nur, was er lernen kann; Doch, der den Augenblick ergreift, Das ist der rechte Mann. Ihr seid noch ziemlich wohl gebaut, An Kühnheit wird's Euch auch nicht fehlen, Und wenn Ihr Euch nur selbst vertraut, Vertrauen Euch die andern Seelen. Besonders lernt die Weiber führen; Es ist ihr ewig Weh und Ach So tausendfach Aus einem Punkte zu kurieren, Und wenn Ihr Halbweg ehrbar tut, Dann habt Ihr sie all' unterm Hut.

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Ein Titel muß sie erst vertraulich machen, Daß Cure Kunst viel Künste übersteigt; Zum Willkomm tappt Ihr dann nach allen Siebensachen, Um die ein andrer viele Jahre streicht, Versteht das Pülslein wohl zu drücken, Und fasset sie, mit feurig schlauen Blicken, Wohl um die schlanke Hüfte frei, Zu sehn, wie fest geschnürt sie sei.

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schmunzelt der knospende Verstand....................Schüler Das sieht schon besser aus! Man sieht doch, wo und wie.

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bestätigt der Kodderverstand seine Diesseitigkeit Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,

Mephistopheles

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Und grün des Lebens goldner Baum.

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verwirrt sich der knospende Verstand................Schüler Ich schwör' Euch zu, mir ist's als wie ein Traum. Dürft' ich Euch wohl ein andermal beschweren, Don Eurer Weisheit auf den Grund zu hören?

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hat der Kodderverstand gewonnen . . . Mephistopheles Was ich vermag, soll gern geschehn.

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möchte sich der knospende Verstand an ein gutes Wort anranken..............................................Schüler Ich kann unmöglich wieder gehn, Ich muß Euch noch mein Stammbuch überreichen. Gönn' Eure Gunst mir dieses Zeichen I

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gewährt der Kodderverstand..................Mephistopheles Sehr wohl. (Er schreibt und gibt's)

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buchstabiert der knospende Verstand...................... Schüler (liest) Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum.

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ist der knospende Verstand kritiklos dankbar: (Macht's ehrerbietig zu und empfiehlt sich)

verhöhnt der Kodderverstand das reine Denken Mephistopheles Folg' nur dem alten Spruch und meiner Muhme, der 49 Schlange, Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange! 20 so

2. Das schülerhafte Denken Hat der junge Student diese erste, oft sehr bittere Enttäuschung über­ wunden, so kann er verschiedene Wege einschlagen. Einige gehen den schweren Weg ernsten, bescheidenen Forschens und Denkens. Andere suchen — oft unter dem Druck der äußeren Not — durch schülerhaftes Denken sich möglichst reibungslos du-rch's Abschlußexamen zu schlängeln. Andere schließlich toben ihren halbfertigen Verstand am Biertisch aus. Goethe schildert den 'Faust'-Weg des ernsten Denkens, das zur tätigen Vernunft sich durchringt, an der Figur des Doktor Faust. Goethe gibt sodann für das schülerhafte Denken die Famulus-Szene im Anfang des II. Aktes vom Zweiten Teil. Wieder versteckt sich der Zyniker Mephisto im Professorentalar. Devot steht der Famulus als Vertreter des schülerhaft-unselbständigen Denkens vor ihm, ängstlich besorgt, bei seinem Professor nur nicht irgendwie anzustoßen.

2. Das schülerhafte Denken ta'p'pt das schülerhafte Denken ängstlich heran Famulus (den langen finstern Gang herwankend)

Welch ein Tönen! welch ein Schauer! Treppe schwankt, es bebt die Mauer; Durch der Fenster buntes Zittern Seh' ich wetterleuchtend Wittern. Springt das Estrich, und von oben Nieselt Kalk und Schutt verschoben. Und die Türe, fest verriegelt, Ist durch Wunderkrast entsiegelt. — Dort 1 Wie fürchterlich! Ein Riese Steht in Faustens altem Vliese! Seinen Blicken, seinem Winken Möcht' ich in die Kniee sinken. Soll ich fliehen? Soll ich stehn? Ach wie wird es mir ergehn!

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winkt der Zyniker...................................... Mephistopheles (winkend) Heran, mein Freund! — Ihr heißet Nikodemus.

dienert das schülerhafte Denken......................... Famulus Hochwürdiger Herr! so ist mein Nam' - Oremus.

lehnt der Kodderverstand das *Beten wirf ab M-phlst-ph-,-«

blüht das schülerhafte Denken dankbar auf . . Famulus Wie froh, daß Ihr mich kennt!

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verspottet der Kodderverstand die Kathederweisheit.................................. Mephistopheles Ich weiß es wohl, bejahrt und noch Student, Bemooster Herr 1 Auch ein gelehrter Mann Studiert so fort, weil er nicht anders kann. So baut man sich ein mäßig Kartenhaus, Der größte Geist baut's doch nicht völlig aus. Doch Euer Meister, das ist ein Beschlagner: Wer kennt ihn nicht, den edlen Doktor Wagner, Den Ersten jetzt in der gelehrten Welt! Er ist's allein, der sie zusammenhält, Der Weisheit täglicher Vermehrer. Allwißbegierige Horcher, Hörer Versammeln sich um ihn zu Häuf. Er leuchtet einzig vom Katheder; Die Schlüssel übt er wie Sankt Peter, Das Untre so das Obre schließt er auf. Wie er vor allen glüht und funkelt, Kein Ruf, kein Ruhm hält weiter stand; Selbst Faustus' Name wird verdunkelt, Cr ist es, der allein erfand.

zwitschert das schülerhafte Denken . .

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Verzeiht! Hochwürdiger Herr! wenn ich Euch sage, Wenn ich zu widersprechen wage: Don allem dem ist nicht die Frage; Bescheidenheit ist sein beschieden Teil. Ins unbegreifliche Verschwinden Des hohen Manns weiß er sich nicht zu finden; Von dessen Wiederkunft erfleht er Trost und Heil. Das Zimmer, wie zu Doktor Faustus' Tagen, Noch unberührt, seitdem er fern, Erwartet seinen alten Herrn. Kaum wag' ich's, mich herein zu wagen. Was muß die Sternenstunde sein? Gemäuer scheint mir zu erbangen; Türpfosten bebten, Riegel sprangen, Sonst kamt Ihr selber nicht herein.

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ist der Kodderverstand neugierig . . . Mephistopheles Wo hat der Mann sich hingetan? Führt mich zu ihm, bringt ihn heran 1