111 38 5MB
German Pages [148] Year 1972
HYPOMNEMATA H E F T 54
HYPOMNEMATA U N T E R S U C H U N G E N ZUR ANTIKE UND ZU I H R E M N A C H L E B E N
Herausgegeben von Albrecht Dihle / Hartmut Erbse Christian Habicht / Günther Patzig / Bruno Snell
Heft 34
VANDENHOECK & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N
HEINZ GERD
INGENKAMP
Plutarchs Schriften über die Heilung der Seele
VANDENHOECK & R U P R E C H T I N G Ö T T I N G E N
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
© Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1971. — Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen· Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Die Arbeit wurde im Sommersemester 1970 von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn als Habilitationsschrift angenommen. Für die ständige Bereitschaft, mir mit Rat und Tat zu helfen, danke ich sehr herzlich Herrn Professor Dr. Hartmut Erbse und meinem Lehrer, Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Hans Herter. Herr Professor Herter hat die Umbruchkorrektur mitgelesen. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für ein Habilitandenstipendium, das ich vom April 1968 bis zum Oktober 1969 in Anspruch genommen habe, und für eine großzügige Druckbeihilfe. Bonn, den 2. Oktober 1971
Heinz Gerd Ingenkamp
5
Inhalt Einleitung
7
I. Kompositionsanalyse 1. De cohibenda ira
14
2. De garrulitate
26
3. De curiositate
44
4. De vitioso pudore
54
5. De laude ipsius
62
6. Ergebnis
69
II. Plutarchs sachlicher Beitrag zur Psychotherapie 1. Untersuchungen zur Methode A. Krisis
74
B. Askesis
99
2. Untersuchungen zur Thematik A. Vergleich mit paralleler Literatur
124
B. Die Themen und das Grundleiden
131
Zusammenfassung
145
Literatur
146
Register
147
Besondere Abkürzungen c. c.d. c.i. g.
6
de de de de
curiositate cupiditate divitiarum cohibenda ira garrulitate
l.i. de laude ipsius s.n.v. de sera numinis vindicta tr.an. de tranquillitate animi v.p. de vitioso pudore
Einleitung Unter Plutarchs Moralia finden sich fünf Schriften, die mit einer längeren oder kürzeren Predigt gegen einen Affekt, Krisis genannt, Anweisungen zu seiner praktischen Bekämpfung durch den Kranken, Askesis (die wieder in einen praktischen und einen mentalen Teil zerfällt), verbinden. Diese als „praktische Seelenheilungsschriften" zu bezeichnenden Werke — es handelt sich um de cohibenda ira, de garrulitate, de curiositate, de vitioso pudore und de laude ipsius1 — sind Gegenstand unserer Untersuchung. Es soll nach Plutarchs selbständigem Beitrag zur Seelenheilung gefragt werden. Lange Zeit ist die Forschung dieser und ähnlichen Fragen aus dem Weg gegangen. Plutarchs Quellen und Sprache, Chronologie und Echtheit seiner Werke2 wurden immer wieder — mit selten sicherem Ergebnis — untersucht. Man bemerkte auch etwas spezifisch Plutarchisch.es — aber dies war nur Stimmung, Farbe, in die die vom Autor anderswoher genommenen Sachen getaucht waren3. Zum selbständigen Denken, d.h. zu originellem Angreifen der Sachen selbst, meinte man, habe Plutarch gar die elementare Voraussetzung, Wille und Kraft zur Klarheit, vermissen lassen4. So wundert man sich nicht, daß fast alle Spezialarbeiten zu unseren Seelenheilungsschriften Quellenuntersuchungen sind. Nun ist es un1
Daß de cupiditate divitiarum einen heute verlorenen Askesisteil besessen hätte, ist möglich, s. unten S. 86 Anm. 19 und Pohlenz ed. t. I I I 332, sicher ist es nicht (vgl. Ziegler 143/779). Auch περί έρωτος kann eine Seelenheilungsschrift mit Krisis und Askesis gewesen sein ; doch scheint mir, im Unterschied zu Ziegler 148/785, daß sich dies nicht aus den erhaltenen Fragmenten ergibt. Frg. 136 Sandb., worauf er verweist, gleicht der einleitenden Untersuchung von c.i., wo es um die Heilungsbedingungen geht (vgl. S. 14ff.), weit mehr als einer methodischen Übungsanleitung. 2 Einschlägige Literatur bei Ziegler 3f./638f. und passim. 8 Siehe besonders Zieglers Zeichnung des „Plutarchischen" unten S. 131; dazu vgl. K. Reinhardt, Poseidonios, München 1921, 466f. 1 Siehe R. Volkmann, Leben, Schriften und Philosophie des Plutarch von Chäronea, 2 Theile, Berlin 1869, 8; O. Gréard, De la morale de Pl., Paris "1902, 59f.; J . P . Mahaffy, The Silver Age of the Greek World, Chicago 1906, 339ff.; R. Hirzel, Plutarch, Leipzig 1912 (Das Erbe der Alten 4), 42; Ziegler301/938f.; R . H . Barrow, Plutarch and his times, London 1967, 74; G. Siefert, Plutarchs Schrift περί εύθυμίας, Progr. Pforta 1908, 3 mit Anm. 1. Anders werden die Biographien schon seit längerem beurteilt: s.C. Theander, P. u. die Geschichte, Lund 1951, bes. S. 78, und H. Erbse, Hermes 84 (1956) 398ff. Neuere Spez.Lit. bei Ziegler in den Nachträgen (von 1964) p. 331 f. 7
bestritten, daß Plutarch andere Autoren benutzte; er gibt es auch freiwillig zu. Er stelle, heißt es zu Beginn von tr. an., in Eile aus seinen zum Thema περί. ευθυμίας angelegten ύπομνήματα einiges zusammen, um der Bitte eines Freundes nachzukommen. An sich ist Quellenuntersuchung also — wenn darüber Plutarch selbst nicht aus den Augen verloren wird — sinnvoll und nötig. Die einzige Schrift, die in diesem Sinne öfter behandelt wurde, ist c.i. Pohlenz 5 untersuchte sie 1896 auf inhaltliche und formale Konzinnität; schlechte Verbindungen von Gedanken, besonders (scheinbare) sachliche Widersprüche und sonstige Unstimmigkeiten® werden auf ungeschicktes Hantieren mit Quellenmaterial zurückgeführt. Als Plutarchs Hauptautor meint Pohlenz den Peripatetiker Hieronymos von Rhodos benennen zu können; er ist zweimal in c.i. zitiert, und peripatetisches Gut ist auch sonst ohne Mühe greifbar. Gegen Pohlenz' Methode, d.h. gegen das Ausgehen von der Kompositionsanalyse, wendete sich einige Jahre später Schlemm 7 ; er verlangt, man habe nur Parallelen zu vergleichen 8 und kommt zu dem Ergebnis, daß vor allem altstoisches Material Verwendung fand. In der Tat könnten gewisse rigorose Äußerungen Plutarchs eine derartige Vermutung zunächst nahelegen. Ein Pohlenzschüler, Ringeltaube, untersuchte 1913, ähnlich wie Schlemm, das Material von c.i. direkt auf seine Schulzugehörigkeit 9 . Er blieb bei Hieronymos, kam aber durch Vergleich mit Senecas de ira zur Annahme einer zweiten, und zwar stoischen Quelle; seiner Meinung nach handelt es sich um eine Schrift des Sotion gegen den Zorn 10 . Schon ein Jahr darauf erschien Rabbows Abhandlung über die antiken Schriften zur Heilung des Zorns; auch er bestimmte die Quellen Plutarchs vor allem über einen Vergleich mit Seneca und kam ebenfalls auf dessen Lehrer Sotion, allerdings sollte nur der „zweite Teil" von c.i. 11 auf ihn zurückgehen, der erste Teil stamme aus Poseidonios12. — Eine, wir mir scheint, besonders 5
Hermes 31, 321ff. Den nach Pohlenz' Meinung entscheidenden Widerspruch löst Rabbow, Ant.Schr. 176ff., überzeugend auf. 7 Hermes 38 (1903) 587ff., einer Anregung von Wilamowitz, Herrn. 29 (1894) 153f. folgend. Gegen Pohlenz mit Hinweis auf stoische und philodemische Parallelen auch Wehrli, Die Schule des Aristoteles, Basel/Stuttgart 1959, Hieronymos von Rhodos, 33 ff. 8 A.O. 587 äußert er die Ansicht, gerade weil c.i. nicht gut komponiert sei, empfehle sich Pohlenz' Methode nicht. 9 Ringeltaube 63 ff. 10 Etwas später bringt auch Pohlenz, GGA 1916, 542ff., Sotion zu Hieronymos in die Diskussion. 11 Vgl. unten S. 18ff. 12 Ant. Sehr. 56ff. Siehe die zustimmende Rez. v. K. Gronau, Sokr. 3 (1915) 464ff., und die ablehnende von K. Wilke, BPhW 1916, 769ff. 6
8
schwache Quellenuntersuchung ist O. Henses „Aristón bei Plutarch" 13 . Hier geht es vor allem um c. Der einmal zitierte Aristón (Hense denkt an den Stoiker aus Chios) wird einerseits durch Wendungen und Anschauungen bionischer Herkunft erkannt — Aristón hatte sich auf Bion gestützt (aber nicht nur Aristón) — andererseits direkt wiedergefunden: indem etwa die gleiche „Mache" wie die des Zitats anderswo nachgewiesen wird oder auch die Katabasisanekdote im 2. Kap. deshalb für Aristón beansprucht wird, weil der laut DL I I 80 die Katabasis zu Vergleichszwecken heranzog. — L. Radermachers Abhandlung 14 über l.i. hat ergeben, daß Plutarch rhetorische Techniken benutzte. Der Vorzug dieser Untersuchung besteht darin, daß sie sich, dem spärlichen Material entsprechend, zu sehr ins einzelne gehende Hypothesen versagt 15 . — Nicht hauptsächlich quellenkritisch orientiert, aber dem oben S. 7 mit Anm. 3 skizzierten Urteil über Plutarch verhaftet, ist Bruno Zucchellis Studie über περί δυσωπίας16. Nach einer ausführlichen Untersuchung über Namen und Begriff des πάθος geht er gewissermaßen von außen an die Schrift heran. Er untersucht die Stellung der Schrift im Rahmen der traditionellen Ethik und Pädagogik, stellt fest, daß Plutarch die Metriopathie vertritt und geht bei seiner Analyse vom alten Dreischritt der antiken Pädagogik : Natur, Lehre, Übung aus. Zucchellis Darstellung stützt unsere von einer anderen Richtung her unternommenen Versuche. Auch Rabbows 17 Werk über die antike Seelenheilung führt nicht dazu, durch eigene Reflexion gewonnene Vorstellungen Plutarchs erkennen zu lassen ; dies lag auch wohl nicht in der Absicht des mehr auf ein allgemeines Bild ausgehenden Buches, ähnlich wie auch I. Hadot in ihrer Darstellung der antiken Seelenleitung ein zu allgemeines Thema behandelte, um sich mit unserer speziellen Frage befassen zu können 18 . 13
Rh. Mus. 45 (1890) 541ff. Rh.Mus. 52 (1897) 419ff. 15 Pohlenz, GGN 1913, 358 und Ziegler 148/784 stimmen Radermachers Ergebnissen zu. 16 II Π Ε Ρ Ι ΔΥΣΩΠΙΑΣ di Plutarco, Maia 17 (1965) 215-231; S. 224: die Pädagogik Plutarchs sei nicht ohne una sua sostanziale organicità, cui l'umanissima personalità dell'autore conferisce il suggello caratteristico. Das ist der Hintergrund für Zucchellis Ablehnung jener Auffassung, die in Plutarch nur einen Kompilator sieht (S. 216, 224). " Vgl. bes. Seelenf. 148ff. und 340ff. 18 Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969. Dasselbe trifft auf einige andere wichtige Arbeiten zu, deren Themen mit dem unserer Untersuchung verwandt sind: in erster Linie sind hier zu nennen Hélène Mounard, La psychologie de Plutarque, Thèse Paris 1959 und Luise Müller, Die Pädagogik Plutarchs und ihre Quellen nach den echten Schriften der Moralia, Diss. München 1926. 14
9
Eine Wende im Plutarchbild bedeutete Konrat Zieglers RE-Artikel. Hier scheint das alte, zu geringschätzige Urteil19 einem neuen, positiveren zu begegnen. An einigen Stellen seiner Ausführungen20 tritt uns ein Plutarch entgegen, der von eigenen Beobachtungen ausgeht und von eigenem Empfinden und Denken allgemeine Regeln abzuleiten imstande ist 21 . Dies letztere Bild ist dann in der Folgezeit besonders durch zwei Arbeiten befestigt worden, zuerst durch H. Erbses Untersuchung über Plutarchs religiöse Vorstellungen22, dann durch D. Babuts umfangreiches Werk über das Verhältnis Plutarchs zu der Schule, in deren Lehren er nach dem Urteil zahlreicher Quellenkritiker immer wieder gegen seine eigene Absicht (man darf schon sagen:) hineingestolpert ist: der Stoa23. Beide Untersuchungen machen klar, daß, jedenfalls bei Plutarch, Benutzung von Worten und Ausdrücken anderer nicht bedeutet, daß auch der fremde Geist mitübernommen wird. In diesem Sinn will die vorliegende Studie weiterarbeiten. Ein Vergleich von Themen und Teilen der Seelenheilungsschriften Plutarchs mit der sonstigen verwandten Literatur gibt uns die Richtung unserer Überlegungen an. Es zeigt sich nämlich zunächst, daß man der für die praktische Seelenheilungsschrift so naheliegenden Einteilung in Krisis und Askesis verhältnismäßig selten begegnet. Zugrunde liegt sie jedenfalls Seneca de ira24 und Ovids heiteren remedia amoris, aber wenn auch die übrigen Seelenärzte, einschließlich Seneca in seinen weiteren Schriften, den größten Wert auf praktische Übungen legen25: sie komponieren ihre Werke anders. Plutarch mag vielleicht an der von seiner Form mitgebrachten ästhetischen Wirkung Gefallen gefunden haben; es liegt aber auch die Vermutung sehr nahe, daß ihm die Darstellungsweise aus einem sachlichen Grund besonders wertvoll erschien: sie vollzieht den normalen Therapieprozeß nach; der Arzt klärt auf, der Patient beginnt dann mit der aus bestimmten Teilen bestehenden Kur. Ist es aber für Plutarch wesentlich, diesen Weg nachzuzeichnen, so hegt es nahe, daß er sich überhaupt mit der 18
Siehe oben S. 7 Anm. 3 und 4. Z.B. 163/800, 182/818, bes. 185/821. 21 Ähnlich das Plutarchbild bei Barrow, s. die S. 7 Anm. 4 angegebene Stelle. 22 Hermes 80 (1952) 296ff. 23 Plutarque et le stoïcisme, Paris 1969. 24 A.Bourgery (ed.), Seneca, Dialogues, T. I, De ira, Paris 1942, X I X f f . , vgl. noch Sen. ep. 99. 25 Vgl. Musonios VI p. 22H., dazu Pohlenz, Die Stoa I, Göttingen 1948, 301 ; Epiktet empfiehlt, die Askesis auf den ganzen Bereich des Moralischen, wie er ihn faßte (Pohlenz a.O. 328f. ; B.L.Hijmans jr., "Ασκησις, Notes on Epictetus' educational system, Assen 1959, 64ff.) anzuwenden (bes. III 12, dann III 2, lf., spez. zu den Epilogismoi I 30) ; Marc Aurels aphoristische Monologe sind eine einzige Epilogismosempfehlung, Ethismoi s. X I I 6,1. 20
10
Frage nach der Eignung und der Wirksamkeit von Methoden befaßt hat. Wir versuchen also, in den Seelenheilungsschriften Spuren von Reflexionen über die therapeutischen Methoden zu entdecken. — Neben dem selbständigen Beitrag Plutarchs muß nach dessen Rahmen gefragt werden. Woher stammt die grobe Form der Methode und das Ziel der Seelenheilung Plutarchs? Er bekennt sich zur Akademie26. Unsere Frage muß also lauten, ob seine Seelenheilung sich mit den Lehren der Akademie verträgt. Müssen wir sie verneinen, so wäre dieser Umstand für das Ziel unserer Arbeit natürlich unvorteilhaft; ist sie aber in vollem Umfang zu bejahen, so ist der Vorstellung, Plutarch sei ein gedankenloser Abschreiber verschiedener, oft gar widersprüchlicher Quellen, eine wichtige Stütze genommen, und im übrigen sind wir der schwierigen Aufgabe enthoben, der verwickelten Problematik hellenistischer Psychotherapie ausführlich Rechnung zu tragen (II 1). Sodann fallen Plutarchs Themen auf. Zwar schreiben Seneca27, Musonios28, Epiktet 29 und Marc Aurel30 zu einzelnen Affekten; Plutarch aber unterscheidet sich von ihnen zuerst durch seine Tendenz, weniger häufig behandelte Leiden31 anzugehen und ferner durch die weitere Neigung zur Spezialisierung dieser Leiden: Die Schrift gegen die Schwatzhaftigkeit geht auf Neugier (Kap. 12) und Selbstlob (Kap. 22) ein, und doch finden wir noch je eine Schrift über die Neugier und eine über das Selbstlob. Offensichtlich war Plutarch an diesen Themen interessiert ; wir werden dies Interesse wahrscheinlich machen und zugleich erklären können, wenn wir den Grund dafür angeben. Der könnte darin bestanden haben, daß in diesen, dann aber nicht mehr harmlos scheinenden Manifestationen ein tieferliegendes Grundleiden bekämpft wird (II 2). D. Babut hat in der Einleitung zu seinem kürzlich erschienenen Kommentar zu de virtute morali gegen das nicht seltene Urteil, die Schrift sei unzusammenhängend, den Nachweis ihrer Kohärenz geführt32. Für uns ist eine derartige Untersuchung nicht nur auf Grund der Forschungslage, sondern vielmehr von unserm eigenen Anliegen her von größter Wichtigkeit. Vor allem Pohlenz hatte, wie oben gesagt, seine Quellenhypothesen auf Kompositionsanalysen gestützt. Mangelhafte Gliederung, Brüche im Gedankengang u.dgl. ließen auf Einsetzen neuer Quellen schließen. Wenn wir hier nicht 28
Ziegler 15ff./651ff., 112f./749, 283/920, 301/939. De ira. 28 Vgl. X X p. 109 H., X V I I I Β p. 99H. 20 Vgl. I 21, IV 5. 80 X I 18 gegen den Zorn. 81 Zur δυσωπία gibt es keine antike psychotherapeutische Parallelliteratur: Ziegler 146/782. 32 Plutarque, De la vertu éthique, intr., texte, trad, et comm., Paris 1969. 27
11
der Argumentation Plutarchs mit der nötigen Genauigkeit 33 folgen und ihre Konzinnität nachweisen können, wird unsere Position immer leicht angreifbar bleiben. Einem Autor, der bei der Kontamination von Quellen nicht einmal bemerkt, daß er in Widersprüche gerät, sollte man Originalität im Sachlichen nicht unbedenklich zutrauen. Andererseits: wenn sich zeigt, daß Plutarch sorgfältig komponiert, so ist damit schon ein gutes Stück Boden für ein weitergehendes Urteil über seine Selbständigkeit gewonnen. Die Kompositionsanalyse wird also den ersten Teil unserer Untersuchungen bilden müssen. Um zusammenzufassen : Wir fragen nach der Selbständigkeit Plutarchs. Ein Beitrag zur Beantwortung dieser Frage läßt sich mit dem Mittel der Quellenkritik leisten. Diese Methode besteht in dem Vergleich der Schriften eines Autors mit ihren möglichen Vorlagen. Hinweise in den Texten können zur Feststellung eines Abhängigkeitsverhältnisses führen. Daß Plutarch material von anderen Autoren abhängt, steht fest. In diesem Sinne ist er unselbständig. Die folgende Untersuchung bemüht sich um etwas anderes. Es geht hier um die subjektive Selbständigkeit Plutarchs, d.h. um die Frage, ob Plutarch das Material, mit dem er arbeitet, durchdacht (d.h. geordnet und beurteilt) und dadurch zu seinem eigenen Gut gemacht hat, ob er also dazu in der Lage ist, (a) Methoden der Seelenheilung gegeneinander abzuwägen und (b) seine Seelenheilung unter einen verbindenden, von ihm selbst schöpferisch gefundenen oder anderswoher übernommenen, dann aber jedenfalls zu seinem Eigentum gemachten Gedanken zu stellen und (c) sich im übrigen im Rahmen der Lehren der Akademie zu bewegen. Reminiszenzen an nichtakademisches, besonders hellenistisches Lehrgut, die herauszuarbeiten bei einem so gebildeten Autor wie Plutarch so verlockend wie lohnend ist, machen wir also nicht zum Gegenstand unserer Untersuchungen. Wenn Kern und Rahmen der Auffassung Plutarchs sich als akademisch erweisen, ist dies für unser Ziel genug. Allerdings werden wir auf die Stellen eingehen, die man bereits zum Gut anderer Schulen in Verbindung gebracht hat, und uns zu fragen haben, ob sie für einen ernsthaften Akademiker nicht akzeptabel, d.h. seinen sonstigen Anschauungen nicht organisch einzufügen waren. Unsere Untersuchung hat also eine psychologische Ausrichtung — die der Quellenkritik nur akzidentell, etwa in Zusatzfragen nach den Motiven eines abhängigen Autors, eine bestimmte Vorlage zu übernehmen, zukommt. Uns geht es hauptsächlich um die Denkvorgänge unseres Autors. Die Methode des Ver33
D.h. daß wir nicht in jedem einzelnen Fall auch den kleinsten Gedankenschritt mitzuvollziehen brauchen; in der Regel aber müssen wir der Argumentation in allen ihren Bewegungen folgen. Es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß die folgenden Ausführungen nicht für sich, sondern unter ständiger Hinzuziehung des Plutarchtextes gelesen werden wollen.
12
gleichens haben wir mit der Quellenkritik gemeinsam, der Gegenstand des Vergleichs aber ist verschieden, da wir die Schriften Plutarchs miteinander vergleichen oder sich gegenseitig ergänzen lassen. Als einen Spiegel von Plutarchs Denken sehen wir seine Schriften an. Wenn er wirklich subjektiv selbständig ist, so wird seine Argumentation, die seine Gedanken vermittelt, in sich kohärent sein (ob das auf den ersten Blick erkennbar ist oder nicht) — und wenn dies der Fall ist, wird die Komposition der Schriften bruchfrei sein. Umgekehrt : Weist die Komposition Brüche auf, so kann dieser Umstand an der Kohärenz seiner Argumentation und dies auch an der von uns gesuchten Selbständigkeit seines Denkens zweifeln lassen.
13
I. Kompositionsanalyse 1. De cohibenda ira Fundanus ist vom Zorn geheilt, ohne seine alte Energie eingebüßt zu haben. Daraus schließt Sulla, daß die Änderung im Wesen seines Freundes auf der Pflege mit λόγοι χρηστοί beruht haben muß und bittet ihn, den Gang seiner Heilung zu schildern. Fundanus beginnt nach einem kurzen, höflichen Abwehrversuch. Der kunstvolle Aufbau von Kap. 2-5 verdient besondere Beachtung. Kap. 2 und die Kap. 3-5 bilden je eine Einheit; Kap. 2 behandelt die Bedingungen der Heilung des πάθος άκμάζον, Kap. 3-5 betreffen die Heilung vor diesem Zustand. Kap. 2 führt weitläufig in das dann mehrfach wiederholte Thema ein, man brauche einen eigenen λόγος, der im Fall des Zornes den Zuspruch von außen ermöglicht. Allgemein heißt es zunächst, nach Musonios bedürfe man ständiger Pflege, wenn man geheilt werden will ; die folgenden Worte (ού γάρ . . . — συνήθης) dienen der Erläuterung : der λόγος muß fest in der Seele bleiben ; seine Wirkung gleicht der gesundheitsfördernden Nahrung. Sodann spezifiziert Plutarch in Richtung auf den Fall der ακμάζουσα οργή, indem er fürs erste noch allgemein auf die άκμάζοντα πάθη überhaupt eingeht. Also lautet die erste Stufe der Spezifizierung: Der mahnende λόγος ist wirkungslos, wenn das πάθος auf seinem Gipfel ist, die zweite: Der λόγος ist besonders wirkungslos im höchsten Zorn. Aus der Begründung der These entwickelt sich ein Imperativ, der das Verhältnis zum Zorn regelt, falls man noch Zuspruch von außen während der Wirkung des Affekts erhalten will. Bezeichnen wir nun den Satz „Die Seele ist im Zorn nicht aufnahmefähig" mit l 1 und den Satz „Ein οικείος λογισμός ist nötig" mit 2, so ergibt sich das folgende die Komposition des Kapitelschlusses erhellende Schema: 1. These: Der Zorn schließt die Seele ab (ό δέ θυμός . . . — ώφελούντων). 1 Ein Schiff im Sturm nimmt eher einen Steuermann von außen an, als ein Zorniger den λόγος eines anderen, 1 Die im folgenden verwendeten Symbole a, b, 1, 2 usw. dienen in der Regel zur Kennzeichnung einer besonderen Argumentationsform: der Wiederholung eines Gedankens nach einem Zwischenglied. In welchem Verhältnis dies (etwa Vergleich, Beispiel, Begründung, neuer Sachverhalt) zu dem umrahmenden Gedanken steht, wird durch die Symbole, wo es nicht nötig scheint, nicht ausgedrückt, sondern ist dem Zusammenhang zu entnehmen.
14
2 wenn er nicht einen οικείος λογισμός bereit hat. 1 Wie die, die eine Belagerung erwarten, das Nötige bereitstellen und nicht auf Hilfe von außen hoffen, 2 so soll man besonders die Mittel gegen den Zorn lange im voraus durch philosophische Meditationen in die Seele bringen, 1 weil dies im Notfall nicht mehr möglich ist. 1 Die Seele nämlich hört von außen nichts vor Lärm, 2 wenn sie nicht τόν αύτης λόγον in sich hat, der die Mahnungen aufnimmt. 1 Wenn sie nun sanft und milde Gesprochenes hört, so achtet sie nicht darauf (im Zorn) ; auf härtere Worte reagiert sie erbittert (es handelt sich also um eine spezifizierende Korrektur des bisher in 1 Gesagten: Sie hört nicht gerade nichts, sondern, wenn . . . usw.). 1 Der Zorn ist stolz und läßt sich schlecht beeinflussen; 2 wie bei einer starken Tyrannis muß das, was ihn beseitigt, als σύνοικον und συγγενές bei ihm sein. Man kann geradezu von zwei Teilen sprechen:1 2 1 2 , 1 1 2 1 1 2 ; beide Teile enden mit Geboten. Die Aussage des Abschnitts lautet also: Während des Ausbruchs ist Zorn von außen nur heilbar, wenn die Seele einen οικείος λογισμός besitzt. Man weiß weiter, daß dieser οικείος λογισμός schwach genug sein kann, um vom Lärm des Zorns ganz verdeckt zu werden, und auch, daß das Prinzip der Heilung selbst in dem hier konstruierten, aussichtslos scheinenden Fall im Kranken selbst liegt. Dieser letztere Gedanke wird in anderer Form bald wieder auftauchen. Der Aufbau der nächsten Abschnitte ist schlichter. Kap. 3 beginnt mit der Behauptung, häufiger Zorn führe zur όργιλότης, ein Gedanke, der das folgende gewissermaßen nur in der Umkehrung bestimmt, die sich sogleich anschließt : Die sofortige Abwehr des Zorns heilt nicht nur die gegenwärtige Attacke, sondern macht auch stark für die Folgezeit. Fundanus bringt Belege für die Heilung der gegenwärtigen Attacke : zunächst seine Beobachtungen an sich selbst mit dem Beispiel der Thebaner, die einmal und dann immer ungeschlagen blieben, sodann weitere Belege aus der Empirie, die beweisen, daß der Zorn durch ganz unerhebliche Einflüsse von außen, auch durch andere Affekte beseitigt werden kann; schon daraus ergibt sich ihm der Schluß, daß das Leiden nicht ganz unheilbar ist für den, der geheilt werden will (τοις γε βουλομένοις ; mit dieser Wendung will er vielleicht darauf hinweisen, daß er auch im jetzigen Teil der Untersuchung den οικείος λογισμός noch für notwendig zur Heilung hält). Nach den Beweisen der Heilungsmöglichkeiten von außen erfolgt nun der Beweis aus der Struktur des πάθος selbst heraus: Der Zorn hat nicht stets gewichtige Anlässe, was bis zum Ende des Kapitels mit Gleichnissen 15
belegt ist. Kap. 4 bringt die Nutzanwendung dieser neuen Erkenntnis. Die Gedankenfolge von ουδέ γάρ άρχάς . . . (454 D) an stellt sich dar als ein Wechsel von der Vorführung des Sachverhalts der leichten Heilbarkeit bei geringfügigen Anlässen und dem Beispiel des Feuers 2 , der allerdings einen deutlichen Gedankenfortschritt mit sich bringt: a 1 Der Zorn hat öfter geringfügige Anlässe; dann ist er heilbar. b 1 Wie das Feuer, das mit τρίχες λαγωαι usw. angezündet ist, leicht zurückgehalten werden kann (έπισχεΐν) — wenn es dagegen an härteres Material kommt, wirkt es bald außerordentlich zerstörerisch —, 2 a so bedarf der aus kleinem Anlaß entstehende Zorn, wenn man darauf achtet, keiner großen Mühe, sondern man bewältigt ihn oft durch Schweigen und Nichtbeachtung. b 2 Denn wer das Feuer nicht schürt, löscht es, a 3 und wer am Anfang seinen Zorn nicht nährt und sich selbst aufstachelt, der trifft richtige Vorsorge und zerstört ihn. I n a 2 wird das aktive Eingreifen fallengelassen (b 1 sprach noch vom έπισχεΐν des Feuers, nun ist vom σιωπή σαι im Zorn die Rede), in b 2 die Bedingung des geringen Anlasses, a 3 schließlich scheint den späteren großen Zorn geradezu auf die eigene Mitwirkung zurückzuführen: wenn nur die unterbleibt, ist man schon gerettet. Dem nun stände die Lehre des Hieronymos entgegen, die sich nicht gegen die άρχαί ού μεγάλαι, sondern gegen die Langsamkeit der Entwicklung des Zorns richtet. Diese aber hängt nach Plutarchs Auffassung mit den geringfügigen Anlässen durchaus zusammen (ουκ ήρεσκεν ουν μοι), was sich bereits am Gegenbild von b 1 zeigte: Die λαγωαι τρίχες rufen die Vorstellung des Schwelfeuers hervor, das im Gegensatz zu dem anschließend beschriebenen Feuer steht : έάν 8' έπιλάβηται των στερεών . . . ταχύ διέφ&ειρε . . . ,,ύψηλον . . . τεκτόνων πόνον". Plutarch behauptet nun gegen Hieronymos, kein πάθος sei bei seiner Entstehung so gut zu verfolgen 3 ; d.h., nur wenn der Zorn nicht in seinem — aus geringfügigem Anlaß entsprungen zu denkenden — langsamen Anfang gezügelt wird, greift er, einmal ans Feste gelangt, rapide um sich. Ob diese Meinung richtig ist, braucht uns nicht zu interessieren; immerhin könnte Plutarch einen Einspruch gegen sie mit dem schon bekannten Material zurückweisen, indem er sagte, daß ein rasch aufflammender Zorn auf άκραχολία beruht, die ihrerseits auf viele verpaßte Gelegenheiten, den einstmals langsam entstandenen Zorn zu heilen, zurück2 Die die These ούδέ γάρ άρχάς usw. illustrierenden Gleichnisse nehmen wir in das folgende Schema nicht auf; die Grundthese rechnen wir von ούδέ bis zum Ende des Kapitels. 3 Dies widerspricht der richtig interpretierten Aussage von Kap. 2 nicht : vgl. Rabbow, Ant.Schr. 176ff. gegen Pohlenz, Herrn. 31 (1896) 321 f.; 330f. und ib. 40 (1905) 292f. Anm. 1.
16
geht; das Beispiel, das er anführt, der langsam entstandene Zorn des Achill, ist nicht die Leidenschaft eines Cholerikers, sondern das πάθος eines Menschen, den man sich mit einer guten und festen Seele ausgestattet denkt: Hier glimmt der Zorn erst wie die λαγωαι τρίχες. Das Kapitel schließt mit dem positiven Gegenstück, dem guten Verhalten des Sokrates im Zorn : E r behielt die Ruhe, indem er sich zum Gegenteil des Triebs hinzog. Kapitel 4 lehrte also 1., daß der Zorn nicht immer gewichtige Anlässe hat, 2., daß er langsam beginnt; beides hängt zusammen. Es ergibt sich nun daraus a) die Möglichkeit der Heilung am Anfang, b) die Notwendigkeit der Heilung am Anfang, a beherrscht das Feld, aber auch b ist deutlich impliziert, wo a erscheint, am ausdrücklichsten in dem Gegenbild zu dem oben b 1 genannten Beispiel. Das Kapitelende gehört a. Hieronymos bestritt mit der Langsamkeit der Entstehung des Zorns schon die bloße Möglichkeit einer Heilung am Anfang (den es ja f ü r ihn überhaupt nicht gibt); Plutarch mußte a also zunächst einmal sicherstellen, was er mit dem Sokratesbeispiel tut. Kap. 5 biegt nun die Darstellung von a und b zur Empfehlung um. Zunächst liegt nur a vom Schluß des 4. Kap. im Ohr: Daran knüpft sich der R a t μή πεί&εσ&αι. . ., άλλ' ήσυχάζειν. Nun erfährt der R a t aber eine neue Begründung (αί μεν γάρ . . .), die zunächst überflüssig wirkt, da der R a t sich ja als Produkt des vor ihm hegenden Gedankenganges schon rein sprachlich zu erkennen gibt (εστί γάρ τις...). Der aus der Darstellung von a geflossenen Empfehlung wird nun b als Begründung beigegeben, indem es heißt, daß Liebe und Leid durch entsprechende Aktionen gemildert werden könnten, der Zorn dagegen durch Aktionen immer stärker wird: Deswegen, so fährt Fundanus fort άτρεμεΐν . . . κράτιστον . . . Nennen wir die Empfehlung e, so ergibt sich folgendes Schema: a Sokrates zeigte sich milde, wenn er einem seiner Freunde zürnte. e 1 Denn der erste Schritt zur Beseitigung des Zorns ist : seinem Befehl, sich toll zu gebärden, nicht zu gehorchen, sondern Ruhe zu bewahren und die Leidenschaft nicht zu verstärken ( = Erklärung des Beispiels a). b E s gibt sicherlich πά&η, die durch die von ihnen verlangten Handlungen gemildert werden; der Zorn aber wird durch jede Tat und jedes Wort wilder ( = Erklärung von e 1 ). e 2 Wir müssen also Ruhe bewahren, wenn der Zorn naht (Konsequenz aus b). Nun geht die Argumentation vor einem neuen Beginn in Kap. 6 noch über zu einer abschließenden Kurzdarstellung, e 2 wird nämlich wieder erklärt, und zwar mit dem Zweck, dem es dient: ίνα μή πέσω17 2 Ingenkamp (Hyp. 34)
μεν, μάλλον δ' έπιπέσωμεν έπιπίπτομεν δέ γε τοις φίλοις μάλιστα . . . Damit ist der Zorn wieder einmal deutlich von anderen perturbationes unterschieden; er ist fürchterlich, aber, insofern er sich gegen völlig ungeeignete Objekte richtet, auch γελοΐον : διό καΐ μισείται καί καταφρονείται μάλιστα των παθών. Dies wird nun der Betrachtung der Kranken empfohlen: άμφότερα δ' έσκέφθαι χρήσιμον, expliziert wird es im folgenden. Die Argumentation von Kap. 2 an bis hierher läßt sich also wie folgt zusammenfassen : 1. Heilung während der άκμάζουσα οργή ist nur möglich, wenn die Seele einen οικείος λογισμός hat. 2. Der Zorn ist heilbar, besonders weil er oft geringfügige Anlässe hat und langsam beginnt. 3. Ist der Anfang verpaßt, gleitet er aus der Hand: Die Zornhandlungen steigern den Affekt. Vielleicht wünschte man sich eher die Reihenfolge 2 3 1. Was Plutarch veranlaßte, anders zu schreiben, ist leicht ersichtlich: Er wollte mit einem dunklen Bild des Zorns anfangen und die Heilung zunächst nicht so leicht erscheinen lassen, um dann, wenn sich plötzlich herausstellt, daß die Heilung durchaus auch einfache Aspekte hat, im Kranken die Bereitschaft zu wecken, es nun einmal mit der Heilung bei sich selbst zu versuchen. Die έπιλογισμοί des Fundanus, die mit Kap. 6 beginnen4, betreffen die Veränderungen im Äußeren und in den Reden des Zornigen (Kap. 6, 7), die Schwäche des Zorns und die Kraft der Milde (Kap. 8-10).
Das Wort „Epilogismos" fällt erst später; hier heißt es, Fundanus habe seine ιατρεία wie folgt begonnen. Die Bedingungen der Heilung waren vorher geklärt worden, es geht jetzt darum, wie es gelingt, den Zorn unter den genannten Voraussetzungen niederzukämpfen. Pohlenz läßt 5 mit Kap. 5 einen neuen, den Hauptteil beginnen, wohl weil von der πρώτη κατάλυσις des Zorns dort die Rede ist. Wir sahen aber, wie eng der Anfang von 5 noch mit 4 verwoben ist. Die Empfehlung, beim Zorn ruhig zu bleiben, gehört zum Gedanken der Langsamkeit der Zornentstehung. Daß damit sachlich ein Heilungshinweis gegeben ist, spielt keine wichtige Rolle : Heilungshinweise gab es schon im 2. Kap. (δει . . ., οφείλει. . .); der ganze Abschnitt 2-5 behandelt an sich die Heilungsbedingungen, die eigentlichen Heilungsvorschriften beginnen erst Kap. 6, wo Fundanus ja auch ausdrücklich von seiner ιατρείας άρχή spricht. 4 6
18
Vgl. K a p . 8 in. Herrn. 31 (1896) 322f., 327, 330; vgl. Rabbow, Ant.Schr. 179.
Fundanus will erfahren, wie der Zorn ist ; seine Methode : das καταμανθάνειν την οργήν έν έτέροις. Er beginnt mit dem Ergebnis des καταμανθάνειν und befürchtet, selbst so auszusehen wie die vom Zorn Ergriffenen: werden doch οψις (wodurch sich der Zorn nach Hippokrates als eine besonders gefährliche Krankheit ausweise), χροά, βάδισμα, φωνή verändert. C. Gracchus sah sich bei seinen Reden vor: ein Sklave blies auf einem συρίγγιον; so konnte der Redner an dessen Ton seinen Affekt kontrollieren. Fundanus wünschte sich einen άκόλουθος, der ihm stets, wenn er zürnte, einen Spiegel vorhalten könnte. Hier ist nun nicht mehr daran gedacht, daß der (eigene) Zorn an anderen (Zornigen) kennengelernt wird; die allgemeine Grundform dieser Methode ist: Erkenntnis des eigenen Zorns durch ein Medium, und an diese Grundform schließen sich Gracchus' Verhalten und Fundanus' Wunsch an: Erkenntnis des eigenen Zorns durch ein Instrument. Ein Beispiel macht die Wirkung des αύτόν ΐδεΐν παρά φύσιν έχοντα klar : Athene hörte mit dem Aulosspielen auf, nachdem sie sich einmal selbst dabei gesehen hatte. Flötespielen ist das Bindeglied zum folgenden, das wieder auf die Beschreibung des Zorns zurückkommt. Marsyas habe bei der Ausübung dieser Kunst eine bestimmte Vorrichtung verwendet, um weniger heftig blasen (a) und sein Gesicht nicht so stark verzerren zu müssen (b) — gemeint ist die φορβειά —, der Zorn aber verändere das Gesicht (b) und läßt abstoßende Worte aussprechen (a) : hieraufliegt der Akzent des Kapitelschlusses. Das Kapitel hat also folgenden Aufbau: Thema: καταμανθ-άνειν την οργήν έν έτέροις. a. Ergebnis des καταμαν&άνειν : das Bild des Zornigen. b. Die Methode des καταμαν&άνειν mittels eines Instruments, ihre Benutzung durch Menschen und Götter (Empfehlung) und ihre Wirkung. a. Nach der Überleitung wieder das Bild des Zornigen. Innerhalb dieses nach dem ab a-Schema aufgebauten Kapitels findet sich dies Schema an einer Stelle noch einmal ganz deutlich: Fundanus berichtet, er habe Zornige gesehen, wie sie die Herrschaft über ihr Äußeres verloren (a), und entrüstet fragt er sich, ob er selbst so aussehe (b) wie andere, denen er begegnete, ούκ ήθος ού μορφήν . . . δυναμένους υπ' οργής διαφυλάττειν (a). Die häßlichen im Zorn ausgestoßenen Worte waren das Schlußthema von 6 ; 7 führt es weiter in ständigem antithetischen Wechsel : Besonders im Zorn habe man eine άπαλή γλώττα zu behalten, die Zunge der Zornigen sei aber τραχεία καΐ ρυπαρά und bringe Feindschaften verursachende Worte hervor; der unvermischte Wein stellt den von ihm Beherrschten nicht so als ακόλαστος dar wie der Zorn ; dort sei das Reich von Lachen und Scherz, hier der Galle, beim Wein sei der 19
Schweigsame sogar unangenehm, im Zorn aber gebe es nichts Größeres als die Ruhe. Nicht nur dies war der Gegenstand des Epilogismos f ü r Fundanus, sondern auch die Schwäche des Zorns (Kap. 8). Der Zorn sei nicht edel, männlich und dergleichen (a), allerdings scheine er den meisten so (b), aber ganz im Gegenteil verrieten seine εργα große Schwäche (a). Die Meinung der anderen ist Fundanus wichtig genug, um sie gleich zweimal, steigernd, zu formulieren : τοις πολλοίς scheine το ταρακτικόν αύτοϋ : πρακτικόν, το άπειλητικόν : ευθαρσές, τό άπειθές: ίσχυρόν, einige nennen sogar τήν ώμότητα: μεγαλουργίαν, τό δυσπαραίτητον : εύτονίαν. Vielleicht aber ist eine Steigerung kaum spürbar; dann t u t die Wiederholung genug Wirkung. Der Widerlegung der falschen Ansicht dient das folgende. Die έ'ργα des Zorns werden vorgeführt ; sie verraten Schwäche nicht nur in jedermann sichtbaren Lächerlichkeiten, sondern auch in schrecklichen Brutalitäten: I n ihrem δρών läßt sich stets das πεπονθ-ός sehen, Zorn ist also letztlich Reaktion. Zwei Beispiele, deren letzteres den Begriff der Passivität dem ersten gegenüber verstärkt, machen das klar: 1. Die Viper trifft mit ihrem Biß den, der sie verletzte, 2. die Folge eines heftigen Schlages auf Fleisch ist eine Schwellung. Diese Beispiele werden nun wieder unter Weglassung (bzw. bloßer Implikation) der Vorstellung von der Passivität des Zorns (der sie eigentlich entstammen) auf den Ausgangspunkt, nämlich die allgemeine Schwäche des Zorns angewandt: I n den Seelen entsteht der Zorn proportional zur Schwäche, und zwar durch die Neigung zu verletzen, die, so dürfen wir nach dem Vorigen ergänzen, aus dem empfangenen Schmerz herrührt. Es schließt sich der Beleg aus der Erfahrung an : Die f ü r schwächer geltenden Menschen sind jähzorniger als die Stärkeren, so speziell die Kranken und Unglücklichen als die Gesunden und Glücklichen. Denn, so geht es zunächst überraschend weiter, am zornigsten ist der Geldgierige auf seinen Verwalter, der Fresser auf seinen Koch . . ., der κενόδοξος, wenn man schlecht über ihn redet, überhaupt der φιλότιμος (vielleicht, weil er sich, um φιλότιμος zu sein, zurückgesetzt fühlen muß?). Dies γάρ (457Β) greift in Wirklichkeit über die vorangehenden Beispiele zurück, begründet nicht sie, sondern den Gedanken, den auch sie belegten : Weil der Zorn eine Reaktion des Schwächeren gegenüber dem, was ärgerte, ist, ist der vom Koch abhängige Fresser auf diesen besonders wütend — : er macht es ihm nie recht. Die Sätze διό καί. . . und δργιλώτατος γάρ . . . stehen also zum sie veranlassenden Gedanken im gleichen Verhältnis. Es folgt wieder, als scheinbare conclusio (in Wirklichkeit liegt die a b a-Struktur vor), daß der Zorn έκ του λυπουμένου μάλιστα της ψυχής καί πάσχοντος entsteht, und zwar aus Schwäche, keineswegs den Sehnen der Seele gleichend, sondern ihren Spannungen und Krämpfen, wenn sie allzusehr auf einen Angriff reagiert. 20
Schwierigkeiten machte den Interpreten der Anfang des 9. Kapitels; man rechnete mit einem stark verkürzten Gedanken®. Die crux ist das Auftauchen von δικαιοσύνη (παρ' ύπόνοιαν)7. Plutarch meint, die schlechten Beispiele seien nicht schön, aber nützlich; nun sollen die ήπίως . . . ομιλούντες . . . οργαΐς an die Reihe kommen. Dieser Abschnitt wird eingeleitet, indem — auf Kap. 8 fußend — diejenigen mit Verachtung gestraft werden, die rufen: ανδρ' ήδίκησας· άνδρ' άνεκτέον τόδε; und weitere παροξυντικά von sich geben, wodurch sie, nicht richtig, den Zorn aus der γυναικωνΐτις in die άνδρωνϊτις bringen: ή γάρ (Reiske, μέν Hss.) άνδρεία κατά τάλλα τη δικαιοσύνη συμφερομένη περί μόνης μοι δοκεΐ διαμάχεσθαι της πραότητος, ώς αύτη μάλλον προσηκούσης. Kernbegriff des Ganzen ist offenbar die „Mannestugend" άνδρεία, die, so wird gelehrt, mit Zorn nichts zu tun hat, sondern mit Milde. Wenn diese einfache Aussage nun erweitert wird durch den Hinweis auf den Kampf zwischen άνδρεία und δικαιοσύνη, so scheint dies nicht mehr zu sein als eine bloße gelehrte Bemerkung Plutarchs. Die Gerechtigkeit hat eine Tugend an ihrer Seite, die Aristoteles έπιείκεια nennt : . . . ó μη άκριβοδίκαιος έπί το χείρον άλλ' έλαττωτικός, καίπερ εχων τόν νόμον βοηθόν, επιεικής έστιν (ΕΝ 1138a If.). Bei Platon (Lgg. 734 E f.) findet sich die Gegenüberstellung eines μαλακώτερον και επιείκεια τινί δικαίιφ χρώμενον und eines ισχυρά ν . . . καί τινα βεβαιότητα έν τοις τρόποις είληφός. Von Perikles sagt Plutarch (v. Per. 39,1): θ-αυμαστος ούν ó άνήρ ού μόνον της έπιεικείας καί πραότητος, ήν έν πράγμασι πολλοίς καί μεγάλοις άπεχθείας διετήρησε . . . χαλεπότης und Gerechtigkeit vertragen sich nicht, wie Plutarch v. p. 529Ef. zeigt. Dadurch, daß auf einen Kampf zwischen άνδρεία und δικαιοσύνη hingewiesen wird, ist der Gedanke, Tapferkeit und Milde gehörten zusammen, lediglich schärfer konturiert worden. Wenn die Erwähnung der δικαιοσύνη auch nicht von ungefähr kommt — der Vers ανδρ' ήδίκησας . . . hatte die geforderte Rache offenbar sowohl zur „Mannestugend" άνδρεία als auch zur δικαιοσύνη in Beziehimg setzen wollen—, so hängt die strittige Nennung der δικαιοσύνη doch nicht an diesem Hinweis, sondern ist aus ihrem engsten Zusammenhang heraus zu erklären. Der Gedanke des Kapitels bis hierhin : Denen, die zum Zorn aufhetzen, als sei er eine Sache für Männer, gebührt Verachtung. Zorn ist weibisch, männlich (tapfer) ist Milde. Diese Meinung wird nun begründet ; in dieser Begründung befinden sich zwei Definitionen impliziert, die wir der Einfachheit halber zuvor herausholen: 1. πραότης ist Sieg über den Zorn, 2. άνδρεία ist Tugend „zum Sieg". Plutarchs Erklärung lautet nun: Der Sieg über die Feinde (Folge der gewöhnlichen άνδρεία) gelingt zuweilen auch solchen, die ihren Gegnern unterlegen sind; über den Zorn zu siegen (d.h. tapfer zu sein gegenüber « Pohlenz, Herrn. 31, 323f., Ringeltaube 72, vgl. Rabbow, Ant.Schr. 76. 7 Pohlenz a.O. 21
dem Zorn = milde sein) aber ist das sichere Zeichen einer μεγάλη και νικητική ισχύς. Weil, so geht es weiter, einige Toren sagen, die Philosophen hätten keine Galle, ist es f ü r Plutarch mißlich, von ihnen seine Paradigmata zu holen. Zweifellos aber haben Könige und Tyrannen Fähigkeit zum Zorn; es ist nun zu belegen, daß diese, im allgemeinen als ανδρείοι zu Fassende, den Zorn zu bekämpfen sich alle Mühe gaben : Damit wäre die These, πραότης gehöre zur ανδρεία, entscheidend gestützt. Es folgen die Belege (mit einem Gegenbeispiel), die darin gipfeln, daß Milde eine göttliche Tugend ist, το δε κολαστικον έρινυώδες και δαιμονικών, ού θείον ούδ' ολύμπιον. Das 10. Kapitel schließt direkt an den Schluß von 9 (πραότης = θείον, κολαστικον = έρινυώδες) an: Der Zorn kann nur zerstören (a), während Aufbau Sache der Milde und solcher Menschen wie Camillus, Metellus, Sokrates ist (b), hingegen sei το έμφϋναι και δακεΐν μυρμηκώδες και μυώδες (a), womit die a b a-Struktur also vom Bild des Destruktiven zu dem des Kleinlichen und Häßlichen führte. Das Thema des folgenden könnte „Zorn im Krieg" lauten ; es schließt sich deutlich und bewußt gegen das Vorherige ab : ού μην άλλά και προς αμυναν αμα σκοπών τον δι' οργής τρόπον . . . Die άμυντικαί όρμαί, von denen am Ende des Kap. 8 die Rede war, hatten offensichtlich noch eine weitere Bedeutung als die αμυνα hier, ebenso war in den Beispielen von Kap. 9 vor allem von der Milde außerhalb des Krieges die Rede (vgl. aber 458B). Nun also Zorn im Krieg: Der τρόπος οργής ist άπρακτος ; er f ü h r t sogar dazu, daß man vor der Ausführung stürzt (προκαταπίπτειν) (a) ; das απρακτον des Zorns wird mit zwei Beispielen belegt (a'). Dem wird άνδρεία als Tugend im Krieg gegenübergestellt : Sie bedarf der Galle nicht, βέβαπται γάρ ΰπό του λόγου (b), das θυμικό ν und μανικόν aber ist faul und schlecht (a). Es schließen sich Beispiele abwechselnd für richtiges und falsches Verhalten an, der Gedanke an den Krieg verliert sich dabei. Der Schluß des Kapitels hat vor allem durch die letzten Beispiele, die das Strafen durch τίτθαι und einen Vater betreffen, wieder in das Geleis der allgemeinen Untersuchung von 8 f. zurückgefunden, an deren Schluß gerade das κολαστικον als έρινυώδες zurückgewiesen wurde; hier, in 10, heißt es spezieller, daß der, der im Zorn straft, sich selbst trifft. Kap. 11, das mit den Ethismoi beginnt, empfiehlt Vorsicht beim Strafen von Sklaven. Der Hinweis auf das κολαστικον als έρινυώδες (Kap. 9 fin.) ist so gleichsam eine Vorankündigung eines später wiederaufzunehmenden Themas: eine nicht ungewöhnliche Technik bei Plutarch, verwandt mit der Komposition nach dem Schema a b a . Die Übungen fangen am besten in unserm Verhältnis zu den Sklaven an ; dort ist der όργή wegen der έξουσία ein großer Spielraum gegeben. Die οργή zu zügeln ist nur möglich, wenn die έξουσία mit Milde und Geduld zusammengeht. Zum ersten Mal taucht hier die noch öfter 22
begegnende Dreiheit Sklaven — Freunde — Frau auf; bilden diese aber später den Personenkreis, den wir unter unseren Wütereien leiden lassen, so sind hier Freunde und Frau von den Sklaven getrennt : Sie stacheln den Dienstherrn sogar gegen die Sklaven auf, und auch Fundanus selbst hat ihnen oft Gehör geschenkt. Er sah aber, wenn auch spät genug, ein, 1. daß es besser sei, die anderen getrost schlechter werden zu lassen, als seinen eigenen Charakter durch άνεξικακία zur Besserung der anderen zu verderben, 2. bemerkte er, daß Milde oft größeren Erfolg hat als Zorn, indem sie Reue weckt, 3. bedachte er stets, daß richtiges Strafen dem Strafen an sich nicht hinderlich ist. Die folgende Darlegung soll hier gleich schematisch und stichwortartig erscheinen. Den Überlegungen des Fundanus entspringt: A sein Verhalten : Anhören der Rechtfertigung des Delinquenten. Β Begründung : a) Das Verhalten ermöglicht eine das πάθος dämpfende Verzögerung. b) Das Urteil findet angemessenes Strafmaß und entsprechende Strafform (Folgerung aus oder Implikation in a). c) Die Sklaven haben keinen Grund, sich über Unüberlegtheit zu beklagen, c') und das schlimmste ist ausgeschaltet: daß der Sklave gerechter zu sprechen scheint als der Herr. a) stellt das Faktum dar, b) die Konsequenz im Hinblick auf den Strafenden, c) die Konsequenz im Hinblick auf den Missetäter. A' Beispiel für A aus anderer Sphäre : Phokion riet den Athenern nach der Meldung vom Tod Alexanders abzuwarten : wenn er heute tot sei, sei er es auch morgen noch. A 1 Das richtige Verhalten des Fundanus wird als Norm formuliert. Man soll sich sagen, a) die Zeit ändere nichts am Faktum der Tat: Eine Verzögerung ist nicht δεινόν. b) δεLvóv ist aber, wenn ein hastig Gestrafter immer ungerecht bestraft erscheint. B 1 Begründung (τις γάρ ήμών . . .). Begründet wird nicht das bloße Verhalten des Fundanus oder die daraus abgeleitete Norm, sondern die Konsequenz, formuliert in Bb, mit neuer Nuance: Wenn die Zeit vergangen ist, mäßigt sich die Strafe für Kleinigkeiten; im Zorn sehen wir die Dinge wie im Nebel größer. A 2 wie A 1 mit neuer Nuance: Man muß mit reinem Urteil strafen, dann aber auch wirklich strafen. 23
Β 2 Begründung der Notwendigkeit des Zusatzes : Man straft so schnell (i), weil man es nachher nicht mehr tut (ii) (a). Beispiel der Ruderer (b). Wie die Ruderer, so auch wir : Weil wir den λογισμός für zu schwach zum Strafen halten (ii), strafen wir im Zorn (i) (a). A 3 Das richtige Verhalten wird sodann geschildert, als handle es sich nicht um ein Erfordernis, sondern um ein Faktum (entsprechende Textänderungen blieben nicht aus) : Die Strafe werde weitab von der Lust entfernt vollzogen (hier schwebt die 463 A folgende Definition des Zorns: του λυπεϊν ετερον ορεξίς έστιν vor), im Zeichen des Logismos, der — wieder eine leichte Neunuancierung — uns dann zur Strafe sogar zwingen muß. Die Notwendigkeit der Strafe wird so Schritt für Schritt hervorgehoben. Der Schluß des Kapitels faßt seinen wesentlichen Inhalt noch einmal zusammen in Illustration und Gebot. Strafe im Zorn ist viehisch, spätere Reue weibisch, λύπης καί ήδονης χωρίς müsse έν τω τοΰ λογισμού χρόνω gestraft werden (A4). Die im Kapitel 11 empfohlene Methode sei keine eigentliche Heilung des Zorns, meint Kap. 12, sondern eher ein Aufschieben und Obachtgeben, was allerdings durchaus heilend wirken kann, wie eine Parallele aus der Medizin zeigt. Fundanus empfiehlt nunmehr die Heilung der Ursache des Zorns; diese aber bestehe letztlich in der δόξα του καταφρονεϊσθαι, die Heilung also darin, die Handlungen der anderen keinesfalls als ολιγωρία zu deuten (a), sondern als άγνοια, άνάγκη, πάθ-ος, δυστυχία (b); Entschuldigungen sind zu berücksichtigen: καί γάρ το δεΐσ&αι του μή καταφρονοϋντός έστι (c). Aber das soll der Zornige erst gar nicht erwarten, vielmehr selbst die Initiative ergreifen und sich nicht verachten lassen (a), eher noch die verachten, die aus άσθ-ένεια, πλημμέλεια, προπέτεια, ραθυμία, άνελευθερία, γήρας, νεότης (b) fehlen. Vor allem bei Sklaven und Freunden nicht gleich an ολιγωρία denken (a'); wenn die uns geringschätzen, dann nicht wegen Kraftlosigkeit usw., sondern weil wir zu milde, gerechte Herren und Freunde sind (b'). Leider handelt man meist nicht danach; Frau, Sklaven, Freunde, dann Wirte, Seeleute usw. bis zum Esel hinunter können uns reizen, weil wir uns von ihnen verachtet glauben. Das Kapitel beginnt mit dem Gebot; die Beschreibung des Verhaltens, das es nötig macht, steht am Schluß. Kapitel 13 spezifiziert: Der häufige und nach und nach in der Seele entstehende Zorn aus δόξα του καταφρονεΐσθαι hat seine Ursache gern in φιλαυτία καί δυσκολία μετά τρυφης καί μαλακίας. Also gibt es keinen besseren Zugang zur πραότης als ευκολία und άφέλεια gegenüber Sklaven, Frau und Freunden (a). Ein krankes θυμοειδές hat der, der stets das Luxuriöseste will, seine Sklaven mit Schlägen jagt (b). Man muß 24
sich also durch Mäßigkeit an Bescheidenheit gewöhnen (a). Des näheren •werden zwei Vorschläge unterbreitet : 1. Beim Essen Ruhe halten, kein Geschrei bei kleineren Versehen (a); richtige Beispiele: Arkesilaos, Sokrates (b); man soll also σύν εύκολία . . . τούς φίλους δέχεσθαι und nicht die Dienerschaft terrorisieren (a). 2. Nicht an bestimmtem, besonders an kostbarem Gerät hängen. Auch hier folgen Beispiele. Hat man den Geräten gegenüber Gelassenheit geübt, dann wird man auch zu den Sklaven, Freunden, Untergebenen milde. Der Schluß des Kapitels verfällt nun in einen Ton, der das baldige Ende der Schrift vermuten läßt. Der Zorn, so heißt es, ist derjenige Affekt, nach dessen Herrschaft über ihren Herrn sich neugekaufte Sklaven erkundigen ; er verbirgt alle Tugenden, ohne ihn aber wird sonst Anstößiges, wie die μέθη, erträglich, selbst die μανία kann man in Antikyra pflegen, verbunden mit Zorn aber ist sie Anlaß von Tragödien und Mythen. Zorn (Kap. 14) ist in allen Lebenslagen, bei jeder Gelegenheit unerträglich, εύκολία stets förderlich und erhaben. Es folgen Beispiele. Danach: Wilde Tiere lassen sich durch Freundlichkeit gewinnen, wir aber sind zärtlich zu wilden Tieren, aber Kinder, Freunde, Gefährten stoßen wir im Zorn von uns, auf Sklaven und Bürger hetzen wir unsere Wut wie ein wildes Tier und tun nicht recht, μισοπονηρία vorzuschützen in der Art, wie man auch andere πάθη mit Namen verharmlost, ohne sich auf diese Weise von ihnen befreien zu können. Kunstvoll wird das Bild von den wilden Tieren auf verschiedene Weise angewandt : Zunächst sind sie Objekte der πραότης, deren Macht sie zeigen, anschließend an die vorhergegangenen Beispiele; dann ist Freundlichkeit zu Tieren plötzlich in ein ungünstigeres Licht getaucht, das Bild bleibt, Plutarchs Absicht ändert sich : Nicht richtig ist sie, wenn man daran denkt, was man im Zorn mit Menschen anstellt ; schließlich sind sie das Bild unseres Zornes selbst, es geht nicht mehr um unser Verhältnis zu ihnen. An den Zorn als scheinbare μισοπονηρία knüpft Kap. 15 an: Weit entfernt davon sei er vielmehr των παθών πανσπερμία, wie das folgende im einzelnen ausführt, wobei das letzte Glied eine Verstärkimg erfährt: Zorn hat Berührungspunkte mit der έπιθυμία, deren Vertreter sind die άσωτοι, die den Zornigen gegenüber geradezu sympathisch wirken. Pohlenz meint 8 , dies Kapitel falle aus der Disposition heraus, weil Plutarch nur über das Wesen des Zornes spreche. Aber dies tut er öfter innerhalb der Askesisteile : es liegt also sicher kein Kompositionsbruch, sondern eine Kompositionseigentümlichkeit Plutarchs — die im übrigen nahe genug liegt — vor. Das Schlußkapitel lenkt ein: Es mag einen Zorn aus μισοπονηρία tatsächlich geben (also Wiederaufnahme eines vorher angeklungenen, dann fallengelassenen Themas) 9 ; aber dann muß man ihm das Über8 9
Herrn. 31, 330. Für Rabbow, Ant. Sehr, β 1, beginnt hier nichts Neues ; anders Ringeltaube 7 Í.
25
maß nehmen. Das erste Gebot lautet: Kein zu großes Vertrauen zu anderen (a), da Enttäuschung der Hauptgrund dieses Zorns ist (b). So hat sich auch Fundanus bei aller Liebe zu seiner Umwelt, die er nicht ablegen kann, entschlossen, Piaton zu folgen und mit der Unbeständigkeit der Menschen zu rechnen, ohne dabei zu übertreiben und fast alle f ü r schlecht zu halten — aber auch das Misanthropische eines solchen Urteils hat sein Gutes, denn unangenehme Überraschungen sind besonders geeignet, den Zorn zu reizen(b); also heißt es (auf alles gefaßt sein (a), was bedeuten kann :) an die Empfehlung, μήπου άρ' έγώ τοιούτος zu denken; wenn man seine eigene Schlechtigkeit kennt, hat man mehr Geduld mit anderen (ab und zu bedarf man selbst der Nachsicht). I n Wirklichkeit ist leider jeder gegen die anderen eine Art Cato, womit man das Übel noch vergrößert. Das zweite Gebot: Man soll die πολυπραγμοσύνη ablegen. Man soll nicht alles, d.h. auch das Kleinste, auskundschaften, sondern dies und jenes anderen übertragen und ihnen belassen ; man selbst kümmere sich nur um das Wichtige, denn die Kleinigkeiten verderben den Charakter. Dies widerspricht der Warnung vor dem Vertrauen nicht: Wenn Fundanus anderen etwas anvertraut, braucht er nicht felsenfest zu vertrauen, daß alles zu seiner Zufriedenheit geschieht. Nun kommt der Erzähler zum Schluß. Das νηστεϋσαι κακότητος des Empedokles sei μέγα und θείον, er aber halte auch viel von zeitweiliger Enthaltsamkeit von Übeln. So soll man, wie er es getan hat, zunächst einige Zeit ohne Zorn zu verbringen suchen, dann diese Zeit ausdehnen — nachdem wir also in den Kap. 2-5 die Bedingungen der Heilung, 6ff. die Art der heilenden Verrichtung erfahren hatten, hören wir jetzt noch kurz, wie die 6 ff. empfohlenen Übungen zweckmäßig angewandt werden —·; schließlich werde man erfahren, daß die Befreiung von einem solchen Übel das größte Gut f ü r den Betroffenen selbst ist. 2. De garrulitate Die breit angelegte Krisis (vgl. Kap. 16) des Lasters entspringt einer vor der Behandlung angestellten Überlegung über die Schwierigkeit des Themas. Plutarchs Heilmittel ist der λόγος, das vernünftige Wort : die Schwätzer aber nehmen es nicht auf, eben weil sie unfähig sind zu schweigen und stets schwätzen (άεί. . . λαλοϋσι). Es folgen zwei weitere Bestandteile der Definition : Schwatzhaftigkeit ist selbstgewählte Taubheit und unnatürlich, da der Mensch eine Zunge, aber zwei Ohren hat. Zusammenfassend wird ein Euripideswort dem Thema angepaßt, der Schwätzer erscheint als ein άνθρωπος λαλών μεν προς τούς ούκ άκούοντας, μή άκούων δέ των λαλούντων. Damit ist eine weitere Bestimmung eingeflossen : Der Schwätzer findet keine Zuhörer ; Plutarch geht noch nicht näher darauf ein. Das Thema wird zunächst leicht ab26
geschwächt : Auch wenn ein solcher Kranker, fährt Plutarch nämlich fort, einmal ein wenig hört, so gibt er es gleich vielfach wieder (a). Als Beispiel führt er sodann die Stoa Heptaphonos in Olympia an (b); die Schwatzhaftigkeit aber echot das kleinste Wörtchen κινούσα χορδάς άκινήτους φρενών (a). Wie schon im ersten Teil des Kapitels weist Plutarch nun wieder auf die Unnatürlichkeit der άδόλεσχοι hin (das Gehör scheint ihnen mit der Zunge, nicht mit der Seele verbunden zu sein), und eine entsprechende Konsequenz (den Schwätzern gehen die λόγοι alle aus, sie sind wie άγγεία κενοί φρενών ήχου δε μεστοί) schließt hier — auch der erste Teil hatte seine Zusammenfassung — diesen Gedanken ab. Deutlich ist die Auflockerung des Gedankens im zweiten Teil; man sollte erwarten: Wenn der Schwätzer ein wenig hört (a), kann er es nicht bei sich behalten (b), sondern gibt es gleich vielfach zurück (c) ; b ergibt sich bei Wege, als ernstgenommene Konsequenz der vorsichtig formulierten Unnatürlichkeit des Leidens (μήποτε γάρ . . .). Der Anfang von Kapitel 2 knüpft an den die Schrift einleitenden Gedanken an, zu dessen Durchführung und Illustration das bis hierhin folgende gedient hatte. Die Schwatzhaftigkeit ist ein δύσκολον θ-εράπευμα, weil der Schwätzer keinen λόγος hört ; wenn nun alle Versuche, ihm Vorstellungen zu machen, unternommen werden sollen, kann man ihn auf die Vorzüge des Schweigens hinweisen ; unter denen aber sind die wichtigsten το άκοϋσαι και το άκουσ&ήναι : dem Schwätzer aber, der nach Kap. 1 nicht zuhören kann, hört auch kein anderer zu. Am Schluß des ersten Teils des ersten Kapitels war das μή άκουσθ-ήναι schon kurz angeklungen, dann wieder fallengelassen worden; hier bildet es das Thema des folgenden. Durch die Verknüpfung dieses Themas mit der Wiederaufnahme des einleitenden Gedankens demonstriert Plutarch den engen Zusammenhang beider Vorstellungen. Die Durchführung des μή άκουσ&ήναι besteht nun in einer dauernden, rondoartigen Wiederholung des Themas (a) in verschiedenen Funktionen, zu Anfang von einem Gegenbild (b) unterbrochen, sodann von Begründungen (c — c'") sowohl durch das Verhalten des Schwätzers als auch durch die Reaktionen der „Zuhörer" und ihre Motivierung in deren Seele. Daß der Schwätzer keine Zuhörer findet (a), bedeutet, daß seine Krankheit noch armseliger ist als ihre Verwandten, die wenigstens erreichen, was sie wollen (b); der Schwätzer aber kommt mit seiner επιθυμία nicht ans Ziel (a). Dies malt Plutarch anschaulich aus: πας φεύγει προτροπάδην, ein Schwätzer verursacht, schon wenn er sich sehen läßt, den Aufbruch einer plaudernden Runde, alle verstummen, wenn ein λάλος in einem συμπόσιον oder συνέδριον auftaucht μή βουλόμενοι λαβήν παρασχειν, und wenn er anfängt, enteilen sie: ύφορώμενοι σάλον καί ναυτίαν (c). Deswegen finden die Schwätzer bei keiner Gelegenheit 27
Gefährten (δ&εν αύτοϊς . . . — άναγκαστών, a), denn der Schwätzer ist so aufdringlich in seinem Gebaren (πρόσκειται γάρ . . . —χειρί, c') —, am besten ist schon die Flucht (πόδες δή . . . — Άριστοτέλην, a) ; zwei Aristotelesanekdoten veranschaulichen, daß die Schwätzer keine Aufmerksamkeit finden: Die Seele des Hörers beschäftigt sich nämlich inzwischen mit ganz anderen Dingen (c"); die Folge ist, daß den Schwätzern niemand zuhört und glaubt (a mit neuer Nuance); der Grund dafür: Wer zuviel redet, dessen Wort ist άτελής und άκαρπος (o'"). Schon in c.i. war Plutarchs Neigung zur abschwächenden Modifizierung einer zuvor schärfer formulierten Aussage feststellbar, am klarsten im Falle des Zorns aus μισοπονηρία (462F mit 463B und schon 453 D). In g. ist diese Erscheinung zunächst im Verhältnis des zweiten Teils zum ersten innerhalb des ersten Kapitels aufgefallen. Im zweiten Kapitel hieß es, dem Schwätzer höre niemand zu, dann, er finde nur unfreiwillige Gefährten, schließlich ist das φεύγειν προτροπάδην zu einem ,,ού γάρ προσεΐχον" herabgestimmt; das Archilochoszitat kann natürlich nicht als eine Verschärfimg aufgefaßt werden ; πόδες δή κεΐθι τιμιώτατοι (s. oben a nach c') braucht zunächst nur auf einen Vorschlag (eigentlich wäre . . .) hinauszulaufen, bereitet aber vielleicht auch lediglich die Aristotelesanekdote vor, in der eben die Erwähnung der Flucht als strafende Abfuhr genügt ; und wenn nun am Ende gar vom μή πιστεύειν die Rede ist, dann impliziert dies geradezu das προσέχειν. Immerhin scheint diese Abmilderung keine wesentlich günstigere Einschätzung des Schwätzers mit sich zu bringen. Das 3. Kapitel schließt an das im 2. erwähnte μή πιστεύεσθαι an, wie das 2. an das im 1. angeklungene μή άκουσθ-ήναι. Erst allmählich aber werden wir wieder zur These des μή πιστεύεσθαι hingeführt, und zwar über ihre Begründung. Diese setzt an bei einem empirischen Sachverhalt, dessen Konsequenz sie ist. Die Natur habe nichts so gut verschlossen wie die Zunge, indem sie die Zähne davor setzte; denn nicht unverschlossene Vorratskammern (α), sondern ein unverschlossener Mund (ß) bringt nach Euripides Unglück. Wer aber Kammern und Geldbörsen ohne Schloß (α) für wertlos hält, seinen Mund aber stets offenläßt (ß), der muß den λόγος für das πάντων άτιμότατον halten. Dies ist der Grund dafür, daß der Schwätzer keine πίστις findet. Es sei aber das eigentliche Ziel des Redens πίστιν ενεργάσασθαι τοις άκούουσιν. Dies spezifiziert die Absicht der Schwätzer nach 502 E (sie wollen zunächst gehört werden); sie wollen also endgültig Glauben finden, wenn sie gehört werden. Sie finden aber keinen Glauben, auch wenn sie die Wahrheit sagen, lautet die nächste These, deren erster Teil die bekannte wiederholt, der zweite Teil bringt einen neuen Aspekt, der nun fruchtbar werden wird. Er wird nämlich über ein Bild begründet: Weizen in einem άγγεΐον vermehrt sein Quantum, ver28
schlechtert seine Qualität: So wird ein λόγος εις άδόλεσχον έμπεσών άνθρωπον mehr, er schafft (nun nicht mehr bloß eine Vervielfachung seiner selbst, sondern) πολύ του ψεύδους έπίμετρον, ώ διαφθείρει την πίστιν. Damit will Plutarch wohl nicht sagen, daß der solchermaßen produktive Schwätzer ein direkter Lügner ist; das Bild vom Weizen dürfte dagegen sprechen, wie auch das anfängliche Zugeständnis καν άληθεύωσιν. Der Schwätzer macht aber etwas hinzu, spinnt aus, verwässert und entfernt sich dabei von der „bloßen" Wahrheit, wie der Weizen zwar Weizen bleibt, aber seinen eigentümlichen Geschmack verloren hat. Kap. 4 10 zeigt, daß der Schwätzer in Betragen und Wirkung einem Betrunkenen zu vergleichen ist. Damit verläßt Plutarch das Bild des μή πιστεύεσθαι und kehrt zur Hauptvorstellung, der der ersten beiden Kapitel, zurück. Zunächst wird vor Augen geführt, was f ü r ein Übel die μέθη ist, um den Hinweis zu ermöglichen, daß της . . . μέθης ουδέν ουτω κατηγοροϋσιν ώς τό περί τούς λόγους ακρατές καΐ αόριστον. Die Komposition des folgenden ist recht kunstvoll. In der μέθη wird geschwatzt (al), hieß es also zuerst; als Beleg folgen Dichterstellen, die ωδή, γέλως, δρχησις, schließlich auch das Preisgeben von άπόρρητα für das typische Verhalten in der μέθη erklären (bl), worin Plutarch die Bestätigung seiner Auffassung a l sieht: μέθη ist nach dem Dichter dem Vorigen gemäß also φλυαρία (a2), und nun folgt wieder Plutarchs Begründung : Was nämlich im Herzen des Nüchternen liegt, das ist dem Betrunkenen auf der Zunge (b2). Den Zitaten b 1 entnimmt Plutarch, daß der Dichter mit a 1 übereinstimmt ; diese so belegte These wird neu formuliert: a2, und dieser Auffassung (al, a2) wird nun eine endgültige, nicht mehr nur auf einem Zitat beruhende, aber mit den Zitaten übereinstimmende Begründung (b2) gegeben. Der Darstellung des falschen Verhaltens, das bis hierhin reichte (A), tritt nun die des richtigen gegenüber, ausgeführt in zwei Anekdoten. Bias schwieg bei einem Trinkgelage, ein Schwätzer machte seine Witze darüber, aber der Weise sagte: „Wer könnte schon, obwohl er töricht ist, beim Wein schweigen?" Ein Athener, der Gesandte des Königs bewirtete, lud Philosophen ein. Zenon schwieg bei der allgemeinen Unterhaltung. Seine Antwort auf die Frage, was man dem König von ihm berichten solle : άλλο μηδέν . . . ή δτι πρεσβύτης έστίν έν 'Αθήναις παρά πότον σιωπαν δυνάμενος f ü h r t zu der Konsequenz, daß das Schweigen τι βαθύ, μυστηριώδες, νηφάλιον sei (Β). Im Gegenteil dazu sei die μέθη geschwätzig, womit wir wieder beim Thema A sind. Warum sie ein λάλον ist, erfahren wir jetzt: άνουν γάρ και όλιγόφρον, διά τοϋτο καί πολύφωνον. Die letzten Worte führen von der Begründung wieder zurück zur Beschreibung, die sich nicht wesentlich von der ersteren, vor Β befindlichen, unterscheidet: Die philosophische Defi10
Zum Zusammenhang mit dem Vorigen s. S. 30.
29
nition der μέ-9-η lautet: λήρησις πάροινος. Das πίνειν, die οΐνωσις, ist nicht zu tadeln, wenn es vom Schweigen begleitet wird, die μωρολογία (das άπόρρητον wird also nicht mehr aufgenommen) mache aus der οΐνωσις eine μέθ-η. Die ab a-Struktur ist hier besonders deutlich. Das ganze Vorige hatte, wie sich herausstellt, die Aufgabe, das Schwätzen durch eine amplificatio per comparationem als ein größeres Übel als selbst die μέθ-η herauszustellen: ó μέν οδν μεθύων ληρεΐ παρ' οίνον, ó δ'άδόλεσχος πανταχού ληρεΐ. Dies gibt wieder Anlaß zur Einschärfung der Konsequenzen eines solchen Verhaltens (vgl. Kap. 2) : Der Schwätzer ist schlimmer als das je schlimmste Übel, und mit rhetorischer Übertreibung gipfeln sie in dem Ausruf: ήδιόν γέ το ι πονηροΐς όμιλοϋσιν έπιδεξίοις ή χρηστοΐς άδολέσχαις. Die besten Taten würden wertlos durch die των λόγων άκαιρία. Das 5. Kapitel schließt äußerlich unverbunden an. Lysias habe einen Kunden, der nach mehrfacher Lektüre einer Rede ihre Schwächen entdeckte, lachend daran erinnert, daß sie ja nur für einmaliges Anhören bestimmt sei. Homers werde man nie überdrüssig: Er ist immer frisch, bezaubernd, blühend, immer neu. Kurz und unfreundlich, als falle es ihm schwer, jetzt wieder auf die Schwätzer zu kommen, sagt Plutarch dann : οί δ'άποκναίουσι . . . τά ώτα ταΐς ταυτολογίαις ώσπερ παλίμψηστα δι,αμολύνοντες. Diese Bestimmung der Schwatzhaftigkeit ist nicht völlig neu ; sie ist im πολλαπλάσιον άνταποδιδόναι eines βραχύ τι, wie es im ersten Kapitel hieß, impliziert. Auf den ersten Blick mag diese „Wiederholung" ungeschickt wirken; ein Überblick über die wesentlichen Themen der ersten fünf Kapitel läßt einen anderen Eindruck entstehen: A 1 Charakteristik des Schwätzers, a Er schwätzt immer, hört nichts, b Was er hört, wiederholt er immer wieder. Β Konsequenzen dieses Verhaltens, a Keiner hört ihm zu. b Er findet keinen Glauben (kurzer Nachtrag zu Α 1 : ψεύδους έπίμετρον. (c : In Kap. 4 kommen kurz Lächerlichkeit und Gefährlichkeit ins Bild, aber nicht, wie es scheint, um ihrer selbst willen ; vielmehr bilden sie den Teil einer Amplifikation, deren Ziel wieder die Definition des Schwätzers ist.) A2 Wiederaufnahme der Charakteristik (s. Bc). a Der Schwätzer schwätzt überall (vgl. A 1 a; es liegt eine leichte Variation vor). b Der Schwätzer redet immer dasselbe (vgl. A*b und das Verhältnis A 2 a : A x a). 30
Mit Kap. 5 ist ein größerer Abschnitt zu Ende gegangen. Kap. 6 bildet die Zusammenfassung, bringt aber noch einen Akzent auf die Absichten der Kranken. Wie der Wein ήδονής ενεκα da ist, und der zum Trinken Zwingende ihn widerwärtig macht, so ist der λόγος eigentlich ήδιστος, die Schwätzer aber machen ihn zu etwas Abstoßendem. Ihre Absicht ist χαρίζεσθαι, θαυμάζεσθαι, φιλεΐσθαι, was sie erreichen λυπεΐν, καταγελασθαι, δυσχεραίνεσαι. Die zuletzt genannte Absicht und die zuletzt genannte Wirkung unterscheiden sich kaum von der ersten Absicht und der ersten Wirkung. Zusammen sind sie aktiver und passiver Ausdruck derselben Vorgänge (also wieder aba). Am Schluß steht ein indigniertes Gesamturteil, das auf den Anfang des Kapitels zurückgreift (aba): Wer mit dem κεστός die, die zu ihm wollen, vertreibt, ist αναφρόδιτος ; wer durch den λόγος verletzt und sich verhaßt macht, ist αμουσος und ατεχνος. In Kap. 6 hatten wir drei Absichten und drei entsprechende Erfolge der Schwätzer vorgefunden; zu Anfang des 7. Kapitels hören wir nun von drei Konsequenzen des πάθος mit ihren Begründungen : 5 0 4 E (Kap. 6)
5 0 4 F (Kap. 7) Schwatzhaftigkeit ist: έπικίνδυνον, μισητόν, καταγέλαστον.
Absicht χαρίζεσθαι
Wirkung λυπεΐν
θαυμάζεσθα
καταγελδσ&αι
φίλεϊσθαι
δυσχεραίνεσθαι
Erklärung : χλευάζονται... έν ταΐς κοιναϊς διηγήσεσιν, μισούνται... διά τάς των κακών προσαγγελίας, κινδυνεύουσι... των άπορρήτων μή κρατούντες.
Wie paßt beides zueinander? Es könnte den Anschein haben, als fasse Kap. 7 die drei Absichten und Wirkungen von Kap. 6 zusammen und füge als neu das έπικίνδυνον hinzu. Dagegen spricht mehreres. 1. erhält das μισητόν in der Folge eine eigene Behandlung (vgl. S. 38), 2. ist der Grund des Hasses hier im Verhältnis zu der in 6 angegebenen Absicht (χαρίζεσθ-ai) disparat: Wer, der Übles meldet, erwartet schon Liebe oder meint, gefällig zu sein? 3. ist der Grund des καταγελασθαι in 7 so speziell, daß er ungeeignet ist, die Absicht nach Kap. 6 aufzunehmen. Offenbar stehen sich also beide Gruppen getrennt, fremd gegenüber ; man könnte an einen Bruch in der Komposition denken. Ein solcher liegt zweifellos nicht vor, sondern ein einfacher Themawechsel, den Plutarch mit einer überleitenden Floskel (z.B. άπ' άλλης δ' αρχής, vgl. S. 60 mit Anm. 16) hätte einleiten 31
können; er glaubte jedoch offenbar mit Recht, mit der abrupten Gegenüberstellung der beiden Gruppen genug zu ihrer Unterscheidung getan zu haben. Inwiefern ändert sich nun das Thema? Gefährlich ist die Schwatzhaftigkeit, weil sie die απόρρητα nicht bei sich behält: Hier geht es nicht mehr um die Vorstellung des Dauerschwätzers, sondern um den Typ, der das entscheidende Wort nicht zurückhalten kann, gleichgültig, wie viel oder wie wenig er nebenher sagt. Gerade dies zeigt sich auch beim μισητόν : die κακών προσαγγελία kann in sehr wenigen Worten bestehen. Wir haben das Recht, auch die Lächerlichkeit ähnlichen Gründen entspringen zu lassen. Eine κοινή διήγησις stellte Kap. 4 vor; der Weise schwieg, der Tor kann nicht schweigen, hieß es dort. Der Schwätzer wird also bei offenen Gesprächen, an denen jeder teilnehmen kann 11 , verlacht, weil er Unfug redet (μωρολογία 504Β), der durchaus nicht in einem endlosen λήρος zu bestehen braucht. Damit beginnt ein Abschnitt, der fast übervoll von Anekdoten ist. An mehreren Stellen scheinen sie die fortlaufende Erörterung geradezu zu ersetzen, jedenfalls sind sie hier oft mehr als Illustrationen : Wir müssen sie also besprechen. Zunächst hören wir von Anacharsis : Durch seine Haltung im Schlaf habe er gezeigt, daß die γλώττα eines stärkeren Zügels bedarf als die μόρια: òp-9-ώς οίόμενος lobt Plutarch; denn ein einziges Wort, das besser ungesagt geblieben wäre, kann schreckliche Folgen haben — Unbeherrschtheit in erotischen Dingen scheint nicht so gefährlich. Damit ist die Gefährlichkeit als das Thema des folgenden formuliert. Das erste Beispiel ist besonders vielseitig. Sulla steht vor Athen, er hat nicht viel Zeit zu verberen, die Zeichen stehen günstig für die Stadt. Da unterhalten sich alte Leute beim Barbier darüber, daß das Heptachalkon nicht verschlossen sei; die Späher Sullas hören es, Sulla erobert die Stadt und richtet ein schreckliches Blutbad an. Das Morden nahm so gewaltige Ausmaße an, weil die Athener den römischen Feldherrn und seine Frau Metella böse verspottet hatten. So, schließt Plutarch, erhielten sie für das leichteste Ding von der Welt, ein Wort (nach Platon, Lgg. 717C), die schwerste Strafe. Die Gefährlichkeit des Schwätzens wird an der ersten Sullaanekdote herausgestellt ; die besondere Härte des Schlages wird auf eine besondere Form der Schwatzhaftigkeit zurückgeführt. Schwatzsucht alter Menschen und Spottlust hatten also üble Konsequenzen; in einer dritten Anekdote hören wir von den ebenfalls schrecklichen Folgen eines vielleicht in Mitleid und Geltungsssucht zugleich gründenden Verhaltens. Der von einer Verschwörergruppe zum Mörder Neros Aus11
Anders W.C. Helmbold (ed.), Plutarch's Moralia, vol. VI, London/Cambridge, Mass. 1939, z.St.; B. Snell, Plutarch, Von der Ruhe des Gemüts und andere philosophische Schriften (Übers.), Zürich 1948, z.St.
32
ersehene erblickt einen jammernden Delinquenten. Er tritt auf ihn zu und flüstert: εΰχου, ώ άνθρωπε, τήν σήμερον ήμέραν παρελθεΐν μόνον, αυριον δέ μοι ευχαριστήσεις, der aber geht einen sicherern Weg, teilt dem Nero mit, was er gehört hat, und die Verschwörung ist vereitelt. Den Aufstand heißt Plutarch ausdrücklich gut; der Denunziant τήν βεβαιοτέραν εϊλετο σωτηρίαν προ της δικαιοτέρας. Plutarch lehrt also, daß nicht die Kenntnis von Staatsgeheimnissen, Geltungssucht oder dgl., sondern ihr Umsetzen in Worte gefährlich ist. Darüber wird er bald Näheres sagen, zunächst knüpft er an das Bild von der gescheiterten Revolution an, um Gegenbilder vorzuführen. Zenon von Elea habe, um nicht auf der Folter unfreiwillig ein άπόρρητον zu sagen, dem Tyrannen seine Zunge vor die Füße gespuckt. Zugrunde liegt eine Begebenheit, die Plutarch noch adv. Colot. 1126 D, Stoic, rep. 1051C und — am ausführlichsten, aber etwas anders — Diodor X 18,2 (DK I 249,7ff.) erzählt. Danach war Zenon in eine Verschwörung verwickelt und sollte seine Freunde verraten. Leaina, erzählt Plutarch weiter, eine Hetäre aus dem Kreis um Harmodios und Aristogeiton, habe nach dem Tod der beiden Anführer ebenfalls das Versteck ihrer noch verborgenen Gesinnungsgenossen verschwiegen. Ihr wurde eine Löwin ohne Zunge als Standbild errichtet. Leaina habe durch ihr Schweigen, meint Plutarch, gezeigt, daß die Tyrannenmörder nichts Unwürdiges taten, wenn sie sie liebten. Er kann kaum deutlicher sagen, daß die Standhaftigkeit im Verschweigen von άπόρρητα eine Tugend mit der Fähigkeit ist, auch Angehörige von Plutarch ansonsten nicht sympathischen Berufsgruppen zu adeln. Das fällt um so deutlicher auf, als das Verhalten Zenons kommentarlos erzählt wird. Den Beispielen für richtiges Verhalten (A) folgt die Lehre, die aus ihnen gewonnen wurde (B). Kein ausgesprochenes Wort, heißt es nun, nütze so sehr wie viele zurückgehaltene : εστι γάρ ειπείν ποτε τό σιγηθ-έν, ού μήν σιωπησαί γε το λεχ·9·έν. So glaubt Plutarch, daß Menschen das Reden, Götter aber das Schweigen lehrten; wir lernen das Schweigen έν τελεταΐς καί μυστηρίοις. Der allgemeinen Darstellung folgen nun wieder Belege (A): ó . . . ποιητής τον λογιώτατον 'Οδυσσέα σιωπηλότατον πεποίηκε, auch Odysseus' Sohn, seine Gemahlin, seine Amme konnten schweigen. Er selbst war das Muster eines von der Vernunft geleiteten Menschen: Bis in die άλογα κινήματα drang der λογισμός, der sich sogar Atem und Blut unterwarf. Die υπερβολή der εγκράτεια und Treue erreichten aber seine Gefährten, als sie sich vom Kyklopen eher peinigen, sogar roh verzehren ließen, als ein άπόρρητον zu sagen. Hatten die Beispiele für die Gefährlichkeit des Scbwätzens die Gefahr für alle, den Schwätzer selbst und die übrigen mit den άπόρρητα irgendwie verbundenen Menschen gezeigt, so hatten schon die Geschichten von Zenon und Leaina einen paradoxen Zug in die Er33
örterung gebracht : Der Nutzen, den das Schweigen brachte, war für die Schweigenden selbst geradezu verderblich. Das hinderte Plutarch, wie wir sahen, nicht daran, dag Schweigen im Anschluß an diese Erzählungen zu loben; der Bericht von den Gefährten des Odysseus ist ein Höhepunkt der Paradoxie, was Plutarch wiederum nicht stört. Gefahr und Nutzen sind also bisher sachgebunden. Es geht zunächst nicht darum, daß die Greise von Athen, die Spötter, der Verschwörer selbst zugrunde gingen (obwohl dies sicher, besonders im letzten Fall, mitempfunden werden soll), sondern darum, daß große Projekte durch Schwatzhaftigkeit vernichtet, durch Schweigen gefördert werden, mindestens schadlos bleiben. Die das 8. Kapitel abschließende Pittakosanekdote verdeutlicht die generelle Tendenz des ganzen Stückes von 7 in. an. Ein Ägypterkönig habe dem Weisen ein Opfertier geschickt und von ihm das edelste und übelste Stück Fleisch verlangt. Pittakos schickte die Zunge: ώς δργανον μεν αγαθών, οργανον δέ κακών των μεγίστων οδσαν. Offenbar bedeutet dies, daß die Zunge, zur rechten Zeit im Zaum gehalten, Gutes bewirke — aber doch sicher auch, wenn sie zur rechten Zeit sprechen darf. Damit kommt ein neuer Gesichtspunkt zur Darstellung, den der Anfang von Kap. 9 aufnimmt. Ino sagt von sich, sie wisse, wo man schweigen müsse und wo zu reden sicher sei. Denn, so erklärt Plutarch, die adlig, königlich Erzogenen lernten zuerst schweigen, dann reden. Weitere Beispiele dafür schließen sich an. Antigonos beschied seinen Sohn, der ihn nach dem Aufbruchstermin fragte, kurz: „Solltest du fürchten, als einziger die Trompete zu überhören?" Es ging Antigonos, das sagt Plutarch deutlich, nicht darum, demjenigen ein άπόρρητον vorzuenthalten, dem er einmal sein Reich hinterlassen sollte ; er wollte ihn ganz allgemein dazu erziehen, sich beherrscht in entsprechenden Situationen zu verhalten. Metellus, ebenfalls ein ευγενής, hätte sogar seinen Mantel verbrannt, wenn der ein bestimmtes άπόρρητον mitgewußt hätte. Die letzte Anekdote dieser Folge ist die vielseitigste. Eumenes hatte gehört, der gefürchtete Krateros sei im Anmarsch. Er teilte dies nicht einmal einem seiner Freunde mit, sondern έψεύσατο Νεοπτόλεμον είναι, denn von diesem hielten seine Soldaten nichts. Krateros wurde besiegt, getötet, erst sein Leichnam identifiziert, ούτως, schließt Plutarch, έστρατήγησεν ή σιωπή τον άγώνα. Die Freunde des Eumenes waren dankbar, daß er ihnen vorher nichts gesagt hatte — aber, meint Plutarch, auch wenn jemand ein solches Vorgehen tadelt, so ist es doch besser, durch απιστία gerettet Vorwürfe zu machen, als durch πίστις zugrundegerichtet Anklage erheben zu müssen. In Kap. 3 hieß es, der λόγος nehme im Schwätzer zu, er schaffe ein έπίμετρον ψεύδους. Das war alles andere als lobend gemeint, obwohl, wie wir sahen, ψεϋδος dort nicht Lüge war. Hier, in Kap. 9, kann man aber nur an ganz bewußte 34
Täuschung denken. Dennoch ist dies Verhalten nicht gerügt, weil es auf einem Zurückhalten von falschen Worten beruht. Entsprechend fand der Schwätzer nicht die πίστις, die er suchte; er hielt ja erwiesenermaßen den λόγος für άτιμότατον πάντων. Die άπιστία, mit der Eumenes seine Freunde bedenkt, resultiert ganz im Gegenteil daraus, daß er die Wichtigkeit des λόγος genau kennt, σιγή ist also das Verschweigen eines άπόρρητον, nicht Stummheit. Daß man zu diesem Zweck, nämlich um zu schweigen, eine Menge sagen kann, ergibt sich ebenfalls aus der Eumenesanekdote ; vgl. damit die Fassung der Schwatzhaftigkeit nach Kap. 7. Haben wir bisher gehört, wie wichtig das Schweigen für eine Sache ist, so erfahren wir nun, daß es unabdingbar selbst für den λόγος ist. Eumenes hatte seinen Freunden etwas verheimlicht, nicht weil sie Schwätzer waren (sondern um ihnen keine Angst zu machen) — wer aber sagte denen etwas, die nicht schweigen können? Plutarch begründet Schritt für Schritt: Eine Sache, die unbekannt sein soll, anderen zu sagen, ist falsch; ein άπόρρητον einem anderen mitzuteilen 12 bedeutet, seine eigene πίστις preiszugeben und in einer anderen Zuflucht zu nehmen. Wenn der andere dem ersten gleich ist, geschieht diesem nur recht, wenn das άπόρρητον die Runde macht; ist er besser: σωζη παραλόγως ετερον εύρων ύπερ σεαυτοΰ πιστότερον. Der Einwand, jener andere sei ein Freund, gilt nicht; der hat wieder einen Freund usw., so daß der λόγος einen πολλαπλασιασμός erfährt, είρομένης της άκρασίας. Die Einheit überschreitet nicht ihre Grenzen, sondern bleibt, was sie ist (μονάς-μένει), die unbegrenzte Zweiheit aber ist das Prinzip der Verschiedenheit. Der λόγος, in einer Person durchaus άπόρρητος, ist, wenn er zur zweiten gelangt, schon eine φήμη. Seine Vielfältigkeit nimmt damit gewaltige Ausmaße an. Wir wissen, daß der Schwätzer ein άπόρρητον schon selbst vielfach wiedergibt, daß er sogar mehr wiedergibt als er gehört hat, und nun zeichnet Plutarch uns die Skizze einer Gesellschaft von Schwätzern, oder besser: die Gesellschaft, die durch die Weitergabe eines άπόρρητον an eins ihrer Glieder schon als ganze informiert ist, tritt dem Schwätzer als eine ungeheure Schwätzerin entgegen. Unverkennbar kommt damit zum ersten Mal die Neugier ins Bild, die aber erst später thematisch behandelt wird. Der beobachteten Abschwächung des μηδενός άκούειν (vgl. S. 27f.) entspricht hier eine allmähliche Vorbereitung auf das πολλά άκούειν des 12. Kap. Die Mechanik der Gerüchtbewegung wirkt nun im 10. Kap. dadurch besonders eindrucksvoll, daß Plutarch zeigt, wie die λόγοι ihr geradezu entgegenkommen. Denn einmal entlassen bewegen sie sich wie Lebewesen13. So sagte schon Homer: έπεα πτερόεντα: Einen entflogenen 12
Das δέ hat kaum adversativen Charakter. Man denkt an die bekannte aristotelische Definition, nach der das Lebewesen die άρχή seiner Bewegung in sich selbst hat: z.B. Phys. 254b 14ff. 13
35
Vogel kann man nicht leicht wieder einfangen. Die Worte eilen dahin wie ein sturmgejagtes Schiff; gibt es aber dort Taue und Anker, kann den λόγος, hat er einmal den Hafen verlassen, nichts halten; mit Lärm und Echo stürzt er dahin und bringt den, der ihn aussprach, in große Gefahr. Auch dies Kapitel stellt den Grundgedanken mehrfach heraus: Es beginnt mit der Darstellung der Entstehung des Gerüchts (a), es folgt der Vergleich mit μονάς und άόριστος δυάς (b), dann wieder Anwendung des Bildes auf den λόγος (a). Die Veranschaulichung des Sachverhalts enthält eine Begründung (c) : 1. Vogel, 2. Schiff, dann kommt wieder die Darstellung des Sachverhalts (a). Diese letzte Formulierung ist bei weitem die stärkste und einprägsamste. Mit einer heiteren Anekdote beginnt Kap. 11. Ein römischer Senator stellt die Verschwiegenheit seiner Frau auf die Probe; er begibt sich in den Senat, und das ihr mitgeteilte (erfundene) Geheimnis holt ihn unterwegs ein. Plutarch veranschaulicht also die Lehre von Kap. 10 an einem Fall. Der Heiterkeit kann er aber bei seinem ernsten Anliegen das Feld nicht zu lange überlassen ; eine weitere Anekdote belegt den Schlußgedanken von 10: wie das sich verbreitende άπόρρητον zur großen Gefahr für den, der es nicht bei sich behielt, werden kann. Kap. 12 ist der Endpunkt der Gedankenentwicklung zum πολλά άκούειν. Als der Komödiendichter Philippides von Lysimachos gefragt wurde, was er von ihm haben wolle, habe er klug geantwortet: „Gib mir, was du willst, nur kein άπόρρητον." Anders der Schwätzer: Zu seinem Laster gehört die Neugier, ein κακόν ουκ ελαττον· πολλά γάρ άκούειν θέλουσιν ίνα πολλά λέγειν εχωσιν. Das πολλά ist besonders qualifiziert : Es sind die άπόρρητοι und κεκρυμμένοι λόγοι, auf die der Schwätzer erpicht ist. Die psychologische Situation dieses Schwätzers und die ihm drohenden Gefahren werden deutlich gemacht : Er besorgt sich gleichsam materiem quandam obsoletam sarcinarum (Wyttenbach) für sein Geschwätz ; dann gleicht er Kindern, die Eis nicht festhalten, sich aber auch nicht von ihm trennen können. Besser sei ein anderer Vergleich : Die Neugierigen hegen die λόγοι άπόρρητοι an ihrer Brust wie Schlangen, können ihrer dann nicht Herr werden und gehen zugrunde. Gewisse Fische und Vipern sollen bersten, wenn sie gebären : Wem ein άπόρρητον entfällt, der wird von ihm vernichtet. Vernichtung des Schwätzers nun also nicht mehr nur durch das Gerücht, sondern direkt durch das Aussprechen des άπόρρητον. Ihrem Zusammenhang entrissen sind die beiden Aussagen, daß der Schwätzer nichts hört, und daß er viel hören will, widersprüchlich. Wir sahen aber, wie die erste Aussage allmählich abgeschwächt, die zweite allmählich — seit Kap. 7 — vorbereitet wurde. Aber liegt überhaupt ganz sicher eine Änderung des Themas vor? Es entspricht der Erfahrung, daß der Schwätzer ein schlechter Zuhörer ist, anderer36
seits aber auch, daß er entsprechenden Stoff mit Gier in sich einsaugt. Die πολλά, die der Kranke hören will, darauf wurde bereits verwiesen, bestehen in den λόγοι άπόρρητοι καί κεκρυμμένοι. Damit enthüllt sich der „fließende Übergang" als einfache Erläuterung. Die Konzession και γάρ αν άκούση τι βραχύ (502 D) hatte das Paradox ούδενός άκούουσιν (502 C) in quantitativer Hinsicht gemildert; nun erfolgt eine qualifizierende Modifikation : Der Schwätzer hört demnach nichts im Sinne von „nichts Gewöhnliches, geschweige denn Gutes"; zu vergleichen ist das nicht seltene, z.B. bei Aristoph. Eq. 334, Vesp. 75, bes. Thesm. 625 belegte ούδέν λέγειν. Die Gefahr des bloßen, einen Aussprechens eines απόρρητον verdeutlicht die das 12. Kap. beendende Anekdote, die zugleich das folgende vorbereitet. Seleukos Kalhnikos war nach der Niederlage gegen die Galater schon lange mit wenigen Begleitern auf der Flucht gewesen, als er bei einem έπαύλιον absteigen und um Nahrung bitten mußte. Der Besitzer empfing ihn freundlich und freigebig; als er aber seinen Gast erkannte, wurde er περιχαρής τη συντυχία, hielt nicht an sich ούδέ συνεψεύσατο βουλομένω λανθ-άνειν, sondern geleitete ihn und sagte beim Abschied: ύγίαιν', ώ βασιλεΰ Σέλευκε. Der ließ ihn auf der Stelle umbringen. Plutarch denkt wohl nicht, daß der arme Wirt damit regelrecht bestraft worden sei, sondern wohl eher an das Walten einer höheren Notwendigkeit. Diese bestand in dem Willen des Königs, unerkannt zu bleiben. Weil nun der Wirt, alles andere als ein Übeltäter, sich nicht an diese ihm selbst nicht einmal bekannte Regel hielt, mußte er umkommen. Es lag ein von ethischen Gesichtspunkten freier Kausalnexus vor. Als Gründe für das Verhalten des Wirtes hören wir, er sei περιχαρής über seine Entdeckung geworden, sodann έλπίς und φιλοφροσύνη, durchaus Anlässe zur άκρασία λόγου. Er gehört damit deutlich zum Typ des φιλεϊσθαι, χαρίζεσθ-αι βουλόμενος nach Kap. 6; wir lernen, wie sehr sich dieser dem Typ des περίεργος nähern kann. Richtiges Verhalten, auch dazu nimmt Plutarch noch Stellung, sei Schweigen gewesen; nach der Wiedererstarkung des Seleukos hätte es noch mehr Lohn gefunden als die Gastfreundschaft. Das Kap. 13 erkennt nachträglich die Motive des Wirtes an, wenn es fortfährt, daß die meisten Schwätzer sich ohne irgendeinen Grund ihr Verderben zuziehen. Damit wird die Betrachtung des Schadens für die eigene Person thematisch weitergeführt; vorher erfuhr man zwar schon, daß das Gerücht für den Urheber selbst gefährlich sei, dies war aber mehr bei Wege gesagt worden. Der Unterschied zwischen Vielreden und άπόρρητα-Reden bleibt auch hier unberücksichtigt; gleichgültig, wieviel man sagt, das άπόρρητον ist gefährlich. Zuerst hören wir vom schwatzhaften Genus der Friseure. Der erste ist ein typischer άλαζών: Die Rede ist von der unerschütterlichen Tyrannis des Dionysios, da sagt der Barbier lachend, es könne damit 37
nicht weit her sein —• er habe alle paar Tage den hohen Hals unter dem Messer. Dionysios erfuhr davon und machte kurzen Prozeß. Es folgt die Begründung für die Schwatzhaftigkeit der κουρείς : Sie nehmen die Gewohnheit von denen an, die stets in ihren Läden herumsitzen, und das sind die άδολεσχότατοι. Schwatzhaftigkeit ist ein ansteckendes Laster, geht daraus hervor. In der Biasanekdote des 4. Kap. hörten wir, daß die άδόλεσχοι es sogar darauf anlegen, weise Männer zu verführen. Mit Friseuren geht man am besten um wie Archelaos. „Wie soll ich schneiden?", wurde er gefragt; „Schweigend", sagte er. Im Kap. 4 hörte man, das Schwätzen sei schlimmer als das jeweils schlimmste Übel; aus der Archelaosanekdote geht hervor, daß Schweigen besser ist als eine je verlangte Bestleistung. Die lange Schlußgeschichte erzählt von einem Friseur, der von der sizilischen Katastrophe erfahren hatte. Im Nu weiß es die Stadt, die Volksversammlung versucht, den Ausgangspunkt des selbständig gewordenen Gerüchts zu finden. Man kommt zu dem Friseur, an dem der Ärger des Volkes hängenbleibt, weil er seinen Gewährsmann nicht nennen kann. Bald ist das Rad zur Stelle, der Mann wird daraufgebunden. Unterdessen kommen Augenzeugen, alles verläuft sich επί τα οικεία πένθη — der aufs Rad gefesselte Friseur wird vergessen. Als ihm später die Fesseln gelöst wurden, fragte er, ob man auch wisse, auf welche Weise Nikias umgekommen sei: οδτως άμαχόν τι κακόν και άνουθέτητον ή συνήθεια ποιεί τήν άδολεσχίαν. Wieder also heißt es, daß die Gewohnheit eine große Rolle beim Entstehen des πάθος spielt. Die wichtigste Therapie wird im έθισμός, in der Gewöhnung ans Gegenteil, bestehen. Die zuletzt erzählte Geschichte gibt Plutarch die Möglichkeit, besonders an die Konsequenz des μισητόν zu denken: Gehaßt werden die Schwätzer nach 504 F wegen der κακών προσαγγελία. Es gibt keinen Halt für eine Schwätzerzunge, mag auch das Wort nicht minder verletzen als die Tat. Das μισητόν trat nur vorübergehend in den Vordergrund ; die nächste Erzählung berichtet wieder davon, in welche Gefahr ein Schwätzer sich bringen kann. Ein Tempelräuber war dumm genug, den συνδεδραμηκότες zu erklären, was es für eine Bewandtnis mit einer zurückgelassenen Flasche habe. Da er so genau Bescheid wußte, argwöhnte man, er habe mit dem Raub zu tun, und er mußte am Ende gestehen. Ahnlich erging es den Mördern des Ibykos. Weil sie sich sehr sicher fühlten, flüsterten sie, die ankommenden Kraniche seien wohl die Rächer des Ibykos: άμα γέλωτι. Ihre eigene γλωσσαλγία hatte sie wie eine Erinye gezwungen, den Mord zu offenbaren. In zwei Schritten führt uns Plutarch sodann zum Askesisteil. Zuerst kommt er zum Abschluß der Darstellung des περιεργία-Charakters, den er nachgewiesen hatte. Die krankhafte Schwätzerzunge ziehe ein άπόρρητον auf sich, 38
so wie kranke Stellen des Körpers gesunde anziehen. Was im 3. Kap. gesagt war, wird nun zum Postulat : Die Zunge muß im Zaum gehalten werden, der λογισμός muß ihr ρεύμα wie ein Damm einhalten. Andernfalls ist man törichter als die kilikischen Gänse, die, wenn sie den von Adlern bewohnten Taurus überfliegen, einen Stein in den Schnabel nehmen, um sich das Schnattern unmöglich zu machen. Der zweite Schritt besteht in einer letzten, endgültig Heilung fordernden amplificatio per comparationem, die die ganze Erbärmlichkeit des Schwätzers noch einmal sichtbar werden läßt. Das abscheulichste Wesen ist der, der für Geld verrät, ó δ' άδόλεσχος αμισθός έστι προδότης και αυτεπάγγελτος . . . λόγους έκφέρων απορρήτους . . . μηδενός αύτω χάριν έχοντος, άλλ' αυτός, αν άκούηται, προσοφείλων χάριν. Das 6. Kap. Schloß den ersten Teil der Schrift. Wir hörten dort, daß es dem Schwätzer um Beliebtheit ging; sein Erfolg: das Gegenteil. Ganz parallel endet nun der zweite Teil der Schrift wieder mit dem Blick auf die Absichten des Kranken. Wer allzu gebefreudig ist, muß sich den Tadel gefallen lassen ού φιλάνθρωπος σύ γ' έσσ'· εχεις νόσον, χαίρεις διδούς — für den Schwätzer gilt ähnlich εχεις νόσον, χαίρεις λαλών και φλύαρων. In einem groben Schema läßt sich der Inhalt dieses zweiten Teils so darstellen: I. Das Schwätzen ist schädlich für eine Sache, ζ. B. für eine Revolution, die Verteidigung einer Stadt (7). Das Schweigen ist nützlich für eine Sache (8, 9). II. Das Schwätzen ist schädlich für den Schwätzer (10-509 F). A Darstellung. a Der λόγος verselbständigt sich im Gerücht (die Neugier tritt ins Bild) (10). α Beispiele: Römischer Senator (heiter), Flavius (ernst) (11). b Neugier wird Thema ; damit : Gefahr unmittelbar durch ein άπόρρητον. β Beispiele: Wirt des Seleukos (schwätzt mit Grund) (12). Unmotiviertes Schwätzen (das μισητόν tritt ins Bild) (13f.). Β Kurze Begründung: Krankhaftigkeit der Schwatzsucht mit entsprechendem Postulat (14, 510 Af.). III. Schluß. Häßlichkeit des πάθος mit Gegenbild: gute Absicht (15). Der Anfang des 16. Kap. versucht, die manchmal recht harten Töne des Vorherigen zu erklären: Es habe sich nicht um eine Anklage, sondern um die ιατρεία des πάθος gehandelt ; der erste Teil der ιατρεία 39
bestehe nämlich in der soeben beendeten Krisis, dann müsse die Askesis folgen, denn keiner gewöhne sich daran, ein πάθος zu fliehen, wenn er es nicht verabscheut, verabscheuen aber kann man die πάθη, wenn man die sich aus ihnen ergebenden αΐσχΰναι und βλάβαι betrachtet. Plutarch faßt die entscheidenden βλάβαι zusammen und stellt sie den Ansichten gegenüber; es handelt sich im wesentlichen um dieselbe Gegenüberstellung wie die uns aus Kap. 6 bekannte : Die Absichten sind φιλεϊσθαι, χαρίζεσθαι, θαυμάζεσθαι, die Wirkungen μισεΐσθαι, ένοχλεΐν, καταγελασθαι. Zusammenfassend ist hinzugefügt: κερδαίνοντες ούδέν άναλίσκουσιν, sie strengen sich an, und der Erfolg bleibt aus —• daß hier kaum an finanziellen Gewinn gedacht sein dürfte, zeigt Kap. 15. Die entscheidenden Konsequenzen der Kap. 7ff. schließen sich an: άδικοϋσι τούς φίλους, ώφελοϋσι τούς εχθρούς (Konsequenzen von I), εαυτούς άπολλύουσιν (Konsequenzen von II). Das erste Heilmittel bestehe also im Bedenken (έπιλογισμός) dieser Konsequenzen. Eine zweite Form des Epilogismos bietet das 17. Kap. Diese Art besteht im άκούειν άεί, μεμνήσθαι und im πρόχειρον εχειν des Lobs der Schweigsamkeit, und des σεμνόν, άγιον und μυστηριώδες des Schweigens; diese Epitheta wurden geradezu leitmotivartig wiederholt; vgl. 504A, 505F. Im ersten Kapitel war das ούδενός άκούειν zum βραχύ τι άκούειν gemildert worden; Ahnliches findet sich hier: Der Epilogismos des Schweigens wird zum Bedenken der Vorzüge der στρογγύλοι und βραχυλόγοι gewissermaßen abgemildert. Immer wieder wird im sich anschließenden Teil des Kapitels auf die Bewunderung hingewiesen, die denen zuteil wird, die sich kurz fassen können, wodurch Plutarch die Schwätzer, die ihre Absichten erreichen wollen, auf das genaue Gegenteil ihres bisherigen Verhaltens lenkt und zugleich deutlich macht, daß das Schweigen keine Form der Stummheit ist, sondern im Gegenteil, Voraussetzung für das „Viel"sagen. Der Schluß lobt die συμβολικώς άνευ φωνής ά δει φράζοντες, was mit zwei Beispielen dargelegt wird. Wer das genau bedenkt, beginnt Kap. 18, dürfte ans Ende seiner Schwatzlust gekommen sein. Die Schrift dient der Heilung, Heilung geschieht durch den λόγος: Dies ist seit den ersten Worten klar. Besonders der optimistische Anfang von Kap. 18 räumt dem λόγος große Gewalt ein; Plutarch aber, der diese Gewalt also im Auge hat, wird durch das Verhalten eines römischen Sklaven geradezu beschämt. Dieser hatte den Befehl seines Herrn, nur auf Fragen zu antworten und sonst nichts zu sagen, sehr wörtlich genommen. Der Herr, Pupius Piso, hatte den Clodius eingeladen, ein glänzendes Fest bereitet, aber der Gast kam nicht. Der Sklave wurde immer wieder ausgeschickt, um zu sehen, ob er noch nicht komme. Schließlich fragt ihn sein Herr, ob er die Einladung überhaupt bestellt habe. Der Sklave bejaht. 40
„Warum ist Clodius denn noch nicht da?" „Weil er abgesagt hat." „Warum hast du das nicht sofort gesagt?" „Weil du mich nicht danach gefragt hast." Der Sklave hatte sich nach Plutarchs Interpretation so sehr an die strikte Beobachtung des Befehls gewöhnt, daß es ihm nicht in den Sinn kam, anders zu reagieren. So bedeutend ist für alles der Ethismos, und darüber will Plutarch nun sofort handeln. Man kann, so beginnt Kap. 19, die Krankheit nicht mit Gewalt einhalten, άλλ' εθ-ει δει κρατησαι τοϋ νοσήματος. Als erste Übung wird Zurückhaltung beim Antworten auf in einem größeren Kreis gestellte Fragen empfohlen: ού γάρ τι βουλής ταύτό και δρόμου τέλος, nach Sophokles. Sogleich wird wieder versucht, den Schwätzer mit seinen eigenen Absichten zu fangen: Wenn ein anderer hinreichend geantwortet habe, sei es der δόξα εύμενοϋς άνθρωπου förderlich zuzustimmen lind zu loben; man soll also abwarten, wird jetzt leicht gemildert, ob ein anderer etwas Richtiges sage; falls nicht, könne man eingreifen. Das sei dann άνεπίφθ-ονον καί ουκ ακαφον — eine Erinnerung an die Konsequenzen der Schwatzhaftigkeit. Der zweite Teil des Kapitels: Besondere Zurückhaltung ist am Platz, wenn ein anderer gefragt worden ist: Daß man sich da nicht einmischt (a)! Die Begründung besteht zunächst (b 1) darin, daß die Taktlosigkeit des SichVordrängens durch eine Amplifikation illustriert wird : Es sei nämlich auch sonst nicht schön, einem anderen, der um etwas gebeten worden sei, vorzugreifen. Darin liege ein doppeltes Urteil : Man tue so, als sei der Gebetene nicht in der Lage, der Bitte zu entsprechen, der Bittende scheine nicht in der Lage, sich den Richtigen auszusuchen. Besonders groß aber sei die Taktlosigkeit, wenn man einem anderen in der Antwort vorgreife; darin seien folgende Vorwürfe impliziert: „Warum bittest du den da? Was weiß denn der? Wenn ich dabei bin, darf man darüber nur mich fragen!" Es folgt eine zweite Begründung (b2) durch Herausstellen eines besonderen Falles: Oft seien Fragen gar nicht ernst gemeint, sondern eine bloße Artigkeit, wenn man jemand zum Gespräch heranziehen will. Aus den Begründungen ergibt sich als Konsequenz wieder das Postulat (a), das weitschweifig eingeführt und dann, für Plutarch nicht gewöhnlich, vielleicht verschärft wird: Wie wenn jemand von einem anderen geküßt werden will und man selbst ziehe ihn zu sich hin, oder wie es häßlich ist, jemanden, der zu einem anderen hinsieht, zu sich umzuwenden, so ist häßlich τό προλαμβάνειν τάς άποκρίσεις — richtig wäre, selbst wenn der Gefragte nicht antworten kann, Zurückhaltung zu üben. Die erste Formulierung des Postulats des zweiten Teils hatte diesen Fall nicht in Betracht gezogen, aber man denkt wohl zunächst an die Empfehlung des ersten Teils, die es erlaubte einzugreifen, wenn ein anderer nicht antwortete. Immerhin behandelt der zweite Teil den Fall, in dem ein anderer direkt gefragt wird — im ersten war niemand direkt ge41
fragt —, so daß der Zusatz auch nicht als eine Verschärfung, sondern lediglich als eine Explikation der Empfehlung aufgefaßt werden kann. Das folgende Kapitel behandelt die Lage, wenn der Kranke selbst gefragt wird. Auch hier gilt es, aufmerksam zu sein. Erstens : Es gibt Witzbolde, die den λήρος notorischer Schwätzer mit irgendwelchen Fragen provozieren (wie sehr hat sich das φεύγειν προτροπάδην des 2. Kapitels verflüchtigt!). Also ist Obacht nötig, man muß den Charakter des Fragenden und der Frage im Blick haben. Zweitens: Die Frage ist ernst gemeint. Der Gefragte soll eine Pause machen, damit er und der Frager noch überlegen können (a). Falsch ist es, eine Antwort nach der anderen herauszusprudeln (bl). Die Pythia gebe zwar Orakel, bevor sie noch gefragt sei (b2), wer aber ordentlich antworten wolle, müsse die Intention des Fragers verstehen (a). Die Redesucht muß stets gedämpft werden: Es darf nicht so aussehen, als habe die Zunge nur auf ein Zeichen gewartet, um dann loszuschießen. Das richtige Verhalten könne sich an Sokrates orientieren, der sein άλογον in musterhafter Weise seinem λόγος unterworfen hatte. Wieviel soll man nun beim Antworten sagen (Kap. 21)? Es gibt drei Möglichkeiten, die Plutarch an einem Beispiel veranschaulicht. Die Frage lautet: Ist Sokrates da? Das γένος άναγκαϊον hat zwei Formen: 1. Er ist nicht da, 2. (lakonisch) Nein. Das γένος φιλάνθρωπον wäre angewandt, wenn man sagte: Er ist nicht da, sondern auf der Bank (nach Belieben hinzuzufügen: wo er ein paar Gastfreunde erwartet). Der περιττός und άδολέσχης aber würde berichten, daß die Gäste aus Ionien kommen, daß Alkibiades diesbezüglich geschrieben hat usw., bis das ganze 8. Buch des Thukydides heruntererzählt ist. Die Regel für richtiges Antworten lautet: μάλιστα δή περί τοϋτο δει την άδολεσχίαν συνέχειν ώσπερ εις ΐχνος έμβιβάζοντα τήν έρώτησιν καί ώς κέντρω κ ai διαστήματι τη χρεία του πυνθανομένου περιγράφοντα την άπόκρισιν (a). Damit ist deutlich, daß Plutarch in einigen Fällen das γένος άναγκαϊον, in anderen das γένος φιλάνθρωπον für besser hält, nie aber das γένος περιττόν erlaubt. Das entspricht den auch sonst formulierten Idealen der Schrift, die von der σιωπή über die βραχυλογία zum λόγος φιλάνθρωπος reichen. Eine Karneadesanekdote dient zur Illustrierung (b), der Schluß faßt als Merkwort zusammen: τω . . . άποκρινομένω μέτρον έ'στω ή του έρωτώντος βούλησις (a). Plutarch hatte bisher Regeln für das Verhalten bei Fragen, die an andere gestellt sind, dann bei Fragen an den Patienten selbst gegeben. Die Konzentration auf diesen wird nun weitergeführt, indem Plutarch ihn als Initiator eines Gesprächs betrachtet. Man muß das am meisten meiden, was man am meisten liebt (p = Postulat). Nun taucht vorübergehend der περιαυτολογών auf (g 1 = Gegenbeispiel) : Soldaten, die so gern von ihren Heldentaten berichten; gewonnene Prozesse, Gunsterweise von Hochgestellten usw. 42
sind unerschöpfliche Themen. Begründung dieses falschen Verhaltens (b) : Es überkommt solche Menschen wie eine Krankheit, jeder Vorwand ist ihnen recht, wenn sie nur zur Sache kommen können. Verliebte (g2) suchen so Gelegenheiten, sich des Geliebten zu erinnern. Nun kommt Plutarch zurück zum Postulat (p) : Zwar ist der Schwätzer nicht in der Lage, Gesprächsthemen zu unterscheiden ; immerhin soll der, der eine besondere Schwäche hat, sich hier besonders in acht nehmen. Hierzu gehören Fachleute aller Art (g3) — auch hier muß man aufmerksam sein (p) : Die gewohnten Themen locken; Plutarch weicht also leicht vom ersten Postulat, wo vor Lieblingsthemen gewarnt war, ab. Beispiel für richtiges Verhalten ist Kyros (e), für falsches Verhalten der Schwätzer im allgemeinen (g 4) ; Kyros verhielt sich so, daß er stets etwas lernen konnte, gerade dies aber meidet der άδολέσχης, der immer wieder dasselbe Zeug redet, wie ein Mann aus Chaironeia, der zwei oder drei Bücher Ephoros gelesen hatte und nun alle Welt mit den Ereignissen um die Schlacht bei Leuktra unterhielt. Man nannte ihn Epameinondas. Das Schlußkapitel zerfällt wieder in zwei Teile. Der erste setzt das Vorige fort. Solch ein Epameinondas ist eine im übrigen recht harmlose Erscheinung; man solle nur versuchen, Schwätzer zur Philologie zu bringen, da wirken sie weniger unangenehm. Die Kranken sollen auch schreiben und sich den Stoiker Antipatros mit dem Beinamen Καλαμοβόας zum Vorbild nehmen. Begründung: Das Schreiben lenkt den Schwätzer ab, wie auch Hunde ihre Wut an Hölzern und Steinen auslassen und dann den Menschen gegenüber weniger grimmig sind. Eine dritte Empfehlung : Der Kranke soll sich bei Menschen aufhalten, die ihm überlegen sind: Das trägt auch zur Zurückhaltung bei. Mit dem zweiten Teil endet das Kapitel. Der Leser bekommt noch zwei Epilogismosempfehlungen mit auf den Weg. 1. Man soll sich stets fragen, was man mit dem herausdrängenden λόγος will ; es müsse klar sein, daß man ein Wort nicht wie eine Last absetzen könne : Es bleibe dieselbe Last, auch wenn es gesprochen sei. Und nun nennt Plutarch drei Bedingungen, unter denen das Reden möglich ist, womit er einen letzten Schritt zur Abschwächung seiner manchmal recht hart formulierten Urteile tut. Er sagt es negativ: Wenn ein Wort weder nützlich noch notwendig sei noch zur Freude oder zur gefälligen Unterhaltung diene, soll man darauf verzichten. Zum Schluß eine letzte Empfehlung : Man soll — wohl als Faustregel — behalten, was Simonides sagte: 6τι λαλήσας μέν πολλάκις μετενόησε, σιωπή σας δ' ουδέποτε, und man soll auf die Kraft der Askesis vertrauen. Der letzte Satz, kaum verbunden mit dem Vorhergehenden und deshalb um so mehr geeignet, erkennen zu lassen, wie ernst Plutarch die Gefahren des λόγος nahm, lautet: Schweigen sei nicht nur άδιψον, sondern auch άλυπον und άνώδυνον. 43
3. De curiositate Die Schrift beginnt mit einer Stellungnahme Plutarchs zu der Frage, ob man die Affekte völlig aus der Seele vertreiben soll oder nicht. Am besten sei es, führt er zunächst in einem Gleichnis aus, ein ungesundes Haus zu fliehen; wenn man sich aber schlecht von ihm trennen kann, hilft immerhin ein Umbau, um es erträglicher zu machen. Wir hören von solchen Umbauten im großen Stil: Chairon habe seine Stadt, eben Chaironeia, auf diese Weise verbessert, Empedokles verstopfte einen Felsriß, durch den ein schädlicher Notos drang. Es folgt die Anwendung der Lehre auf die πάθη : Am besten, man wirft sie hinaus, andernfalls dreht und wendet man sie (um sie erträglicher zu machen). Eins dieser πάθη ist die Neugier, deren Definition lautet: φιλομάθειά τίς έστιν άλλοτρίων κακών, οΰτε φθόνου δοκοϋσα καθαρεύειν νόσος ουτε κακοηθείας (Α = Symbol für Aussagen über die Neugier). Plutarch macht zunächst mit dem Umdrehen des πάθος Ernst, das έξωθεΐν bleibt unerwähnt (B = Gegenbilder, Postulate zum richtigen Verhalten). Der Kranke wird aufgefordert, sich nach innen zu wenden (p) ; es folgt die Begründung, dort sei genug des Übels (q). Dies wird spezifiziert: Die Übel bestehen aus αμαρτήματα έν τω βίω, πάθη εν τη ψυχη und παροράματα έν τοις καθήκουσιν. Wie Xenophon sagte, die Ökonomen hätten für verschiedene Geräte bestimmte Orte, so ist in der Seele des Neugierigen das eine aus Neid, das andere aus Feigheit in Einordnung. Mit diesen κακίαι will Plutarch wohl die Gründe für die obengenannten Fehlerkategorien angeben bzw. sagen, daß die πάθη die beiden übrigen Arten veranlassen. Das Postulat wird wiederholt (p : Diese vom Neid, vom Geiz κακά κείμενα soll man betrachten und durchgehen), dann umgekehrt (p2: Die Ausblicke zum Nachbarn sollen verstopft werden), und noch einmal wiederholt (p: Man soll sich Einsicht in die eigene άνδρωνΐτις und γυναικωνΐτις, in das Tun und Treiben der Diener verschaffen). Das Kapitel wird beendet, indem die Konsequenzen des richtigen Verhaltens vorgestellt werden: Das φιλοπευθές und φιλόπραγμον hat hier διατριβάς . . . ωφελίμους καΐ σωτηρίους. Ganz eng knüpft Kap. 2 an: Leider verhält sich der Neugierige nicht so (A): Nach außen hat er ein scharfes Auge, nach innen aber nicht, und das (nun die Konsequenzen des falschen Verhaltens) ist schädlich : τοις δ' έαυτών άμαρτημασι . . . πολλάκις περιπταίομεν υπ' άγνοιας . . . φως (έπ' αύτά) ού ποριζόμενοι. Dies kommt an einem Spezialfall besonders klar heraus: Der Neugierige nützt seinen Feinden, indem er sie zur Aufmerksamkeit nötigt — was ihn selbst angeht, übersieht er. Das richtige Verhalten des Odysseus wird eingehend beschrieben (B), „wir" aber handeln genau anders, also falsch (A) ; wir sollten uns ein Beispiel an Sokrates nehmen, auch an Aristipp, der Sokrates und seiner Philosophie (deren 44
Ziel es ist έπιγνώναι τά έαυτοϋ κακά καί άπαλλαγηναι) nachspürte (Β). Das dritte Kapitel beginnt wieder mit A, das vorerst nicht durch Β abgelöst wird. Kap. 1 hatte gefordert, wir sollten auf das eigene Übel sehen, Kap. 2 hatte konstatiert, daß wir es nicht tun, sondern uns um alles andere eher kümmern, der Anfang des dritten Kapitels bringt zunächst eine Begründung dafür: . . . έ'νιοι τον ίδιον βίον ώς άτερπέστατον θέαμα προσιδεΐν ούχ ύπομένουσιν. Die Seele, die voll des Übels ist, fürchtet sich selbst, springt hinaus, und πλανάται περί τάλλότρια (zu ergänzen wäre das von 2 fin. noch im Ohr liegende κακά), βόσκουσα καί πιαίνουσα τί> κακόηθες: vor dem sie ja gerade geflohen ist, darf man hier wohl ergänzen. Das folgende Beispiel ist nun der fast unmerkliche Übergang zu einer Präzisierung der in Kap. 1 formulierten Bestimmung des άλλότριον. Wie ein Huhn, das genug Futter hat (man denkt an κακά, ίδια natürlich), in eine Ecke läuft und im Mist scharrt, um da vielleicht ein Korn zu finden (man würde, dem Bild des Neugierigen entsprechend, zunächst erwarten : um sich um das Futter eines anderen Huhnes zu kümmern, aber der Vergleich leitet einen Gedankenfortschritt ein, wie sich sofort zeigen wird), so lassen die Neugierigen die έν μέσω λόγοι unbeachtet und τά κρυπτόμενα καί λανθάνοντα κακά πάσης οικίας έκλέγουσι. Dies κρυπτόμενον lasen wir nicht in der Definition. Das mag der Grund sein, warum Plutarch es wesensmäßig mit dem κακόν verknüpft : Verborgen wird etwas, das es nötig hat, zugespitzt : εί μή τι κακόν ην, ουκ αν άπεκρύπτετο. Das κρυπτόμενον κακόν ist das Thema des folgenden. Es gehört sich nicht, ohne anzuklopfen in ein Haus zu treten; es gibt Klopfer u. dgl., damit man nicht in peinliche Situationen hineingerät — diese aber sucht der Neugierige gerade (a), keineswegs Einblick in eine σώφρων οικία (b), nein, weswegen Schlüssel und Riegel erfunden wurden, das ist sein Interessengebiet (a). Eine Amplifikation zeigt die Konsequenzen, die er von der Außenwelt zu erwarten hat: Die Winde, die die Kleider heben, sind besonders unbeliebt, sage Aristón; der Neugierige ist viel schlimmer als solche Winde (es geht jetzt ins 4. Kap. hinein), überall schnüffelt er, nichts ist vor ihm sicher : ούδ' άκινδύνως ταϋτα ζητών. Daß es sich um Todesgefahr handeln kann, machen die folgenden Ausführungen klar. Wer das Aconitum probiert, wird den Versuch kaum bis zum Schmecken überleben (b): ähnlich die, die nach τών μειζόνων κακά suchen: προαναλίσκουσι της γνώσεως έαυτούς (a). Ebenso erblinden die, die sich zwingen, in die Sonne zu blicken, statt sich mit den Strahlen zu begnügen. Damit hat sich das Thema weiter spezifiziert: Auch der Schluß des 4. Kap. ist den verborgenen Übeln der Mächtigen gewidmet. Richtig habe Philippides gehandelt, der von Lysimachos alles, nur keine άπόρρητα haben wollte. Alles, was schön und angenehm ist an Königshöfen, liegt offen zutage (a), an die κρυπτόμενα soll man aber nicht herangehen (b). Freude und 46
Heiterkeit werden nicht verborgen (a), schrecklich aber ist, was verborgen ist: dies ist zu fliehen (b), bevor es zu spät ist. Kap. 5 erklärt: τίς οδν ή φυγή; περισπασμός, ώς ε'ίρηται. Man erinnert sich, daß in Kap. 1 (515Bf.) dem φυγείν das μετατιθέναι u.dgl. entgegengesetzt war ; es war bald darauf nicht mehr vom φυγείν die Rede. Hier nun hören wir, daß das μετατιθένοα als φυγείν gefaßt werden kann; zum eigentlichen έξωθεΐν s. aber p. 51 ff. Betrachten wir die vorherigen Abschnitte insgesamt, so fällt auf, daß Kap. 1/2 richtiges und falsches Verhalten alternierend gegenübergestellt war, in Kap. 3/4 war nur das falsche, in 5 wird das richtige beschrieben. Sodann: Der Akzent lag 1/2 auf dem άλλότριον κακόν; 3/4 war das κρυπτόμενον κακόν Thema. Kap. 5 wird sich zunächst den κρυπτόμενα, die nicht κακά sind, zuwenden, dann den Neugierigen bestimmte κακά empfehlen, die nicht ,,λυποΰντα" sind. Plutarch beginnt also seine Empfehlungen zum περισπασμός: μάλιστα μεν (das entsprechende δέ: 517 E fin. ϊσως δέ) επί τά βελτίω και τά ήδίω soll man sein Interesse wenden. Er empfiehlt die άπόρρητα της φύσεως: Wenn man sich für Großes interessiert, so bilden die Gestirne hinreichenden Stoff ; auch für die, die an Kleinerem Gefallen finden, bietet die Natur genug. Nun sind dies zwar άπόρρητα, aber keine κακά, räumt Plutarch selbst ein, also nichts für den Neugierigen. Er rät nun zur Geschichte : Dort gibt es Verbrechen und Abstoßendes aller Art; wer sich davon vollsaugt, ärgert oder verletzt wenigstens niemanden. Aber auch dieser Versuch der Umwendung wird dem πάθος nicht gerecht, wie der Anfang des 6. Kapitels zeigt: άλλ' εοικεν ή πολυπραγμοσύνη μή χαίρειν έώλοις κακοΐς άλλά θερμό ις και προσφάτοις. Der Neugierige will gern καιναί τραγωδίαι sehen (a) ; schon die folgende Antithese zeigt, daß das καινόν wieder aus dem Blickfeld verschwindet : τοις δέ κωμικοΐς . . . πράγμασιν ού μάλα προθύμως όμιλεΐν (sc. εοικεν), vgl. 516Ρ (b). Alles Erfreuliche meidet er (b), Peinliches und Schmutziges sucht er auf (a), vgl. 516F, 517C; wie die σικύαι das Schlechteste aus dem Fleisch (α), so saugen die Ohren der Neugierigen nur die häßlichsten λόγοι an (a), oder eher, wie die Städte bestimmte Tore haben, durch die Verbrecher geführt und Abfall gebracht wird (α), durch die aber nichts Heiliges oder Reines ein- oder ausgeht (ß): so geht auch durch die Ohren der Neugierigen nichts, was χρηστόν oder άστεΐον ist (b), sondern nur Schlimmes und Abstoßendes (a). Die Begründung besteht in der durch die Kapitel 1-4 gewonnenen Definition: έ'στι γάρ ή πολυπραγμοσύνη φιλοπευστία των έν άποκρύψει και λανθανόντων ουδείς δ' άγαθόν αποκρύπτει κεκτημένος, 6που και τά μή 6ντα προσποιούνται. Wie bei der aus Kap. 1 bekannten Definition werden die begleitenden πάθη, allerdings ausführlicher, vorgestellt: Neugier hängt zusammen mit έπιχαιρεκακία, die nahe verwandt mit φθόνος und βασκανία ist, φθόνος und έπιχαιρεκακία aber entstehen aus dem πάθος άνήμερον und θηριώδες, der κακοήθεια. Am Schluß von Kap. 6 ist 46
wiederholt, daß der Neugierige sich auf τά έν αποκρύψει κακά richtet, und zwar so, daß sich das direkte Interesse auf κρυπτόμενα richtet, die notwendig κακά sind. Dies Kapitel entspricht — seinen Anfang ausgenommen — also Kap. 3. Mit Kap. 7 kommt zunächst das Empfinden der von der gerade definierten Neugier Betroffenen zur Geltung: Die περί αυτόν κακών άποκάλυψις ist jedem unangenehm, vgl. die Konsequenzen der Kap. 3/4. Gleichzeitig bahnt sich aber mit den Worten περί αυτόν der Begriff des — vom Neugierigen her gesehen — άλλότριον an, dem das Interesse des Kranken gilt; diese Seite des πάθος tritt im Laufe des Kapitels ganz scharf hervor. Jedem ist die Aufdeckung privaten Ungemachs peinlich. Dies, die Peinlichkeit, veranschaulicht Plutarch durch zwei Beispiele. 1. Einige sterben lieber, als daß sie den Ärzten ein άπόρρητον νόσημα zeigten (a); Veranschaulichung : Man stelle sich einen Herophilos, Erasistratos, ja Asklepios vor, wie sie von Haus zu Haus ziehen und nach peinlichen Krankheiten fragen ! — und doch dient die Neugier dieser Kunst dem Wohl der Menschen (b). Zweifellos hätte ein jeder solch einen Arzt vertrieben, weil er, ohne darauf zu warten, daß man ihn holt, erscheint, um fremde Übel in Augenschein zu nehmen (a; die Abschwächung dem ersten a gegenüber fällt auf). Es folgt die amplifikatorische Anwendung des Beispiels auf die Kranken: Die Neugierigen forschen gerade nach dergleichen und noch Schlimmerem, indem sie es bloß aufdecken, nicht heilen. 2. Dies Beispiel ist dem ersten fast genau parallel: Auch Zöllner sind unangenehm, wenn sie das Verborgene suchen und überall herumschnüffeln (a), und doch ist es Gesetz, daß sie so handeln, und sie schaden sich, wenn sie es nicht tun (b; die Wiederholung von a fehlt hier). Nun wieder fast die amplifizierende Anwendung: Die neugierigen Menschen aber kümmern sich um das Fremde (άσχολούμενοι περί τάλλότρια) — aber jetzt folgt nicht : ohne zu nützen, sondern : und verlieren ihr Eigenes : Mit diesem letzten Gedanken ist die lange vorhergehende Kette durchbrochen, allerdings tritt er sofort wieder zurück, indem das άσχολεΐσθαι nun den Ton angibt: Die Neugierigen gehen selten aufs Land, weil dort zu wenig Unruhe herrscht, und wenn sie einmal dorthin kommen, dann haben sie nur Augen für das Gut der anderen — bald sind sie voll davon (der Grund — schon bekannt — folgt bald) und eilen fort. Der wahre Landmann kümmert sich um den έκ πόλεως λόγος nicht, die πολυπράγμονες (nun beginnt Kap. 8) aber fliehen das Land als ein πραγμα εωλον, ψυχρόν und άτράγωδον und eilen auf den Markt. Jetzt tritt das letzte Charakteristikum wieder ins Bild. Auf dem Markt fragt der Kranke sofort : μή τι καινό ν ; und ist sehr glücklich, wenn man etwas weiß, aber sehr verärgert, wenn man mit nichts dienen kann. Schließlich kommt Plutarch zur Wertung. Wegen dieser ständigen Sucht nach Neuem haben die lokrischen Gesetzgeber gut daran getan, 47
den zu bestrafen, der bei seiner Rückkunft in die Heimat fragte : μή τι καινόν; Denn (a b a) die Neugierigen wünschen stets eine φορά κακών και πλήθος πραγμάτων και καινότητας και μεταβολάς. Hier ist nun ganz deutlich der Gedanke zu Ende, der mit dem Anfang der Schrift beginnt; auf den ersten Blick mag seine Ausführung merkwürdig unelegant erscheinen. Warum wiederholt sich Plutarch? Es scheint, daß die Versuche der Umwendung in den ersten fünf Kapiteln, deren scheinbare Leichtigkeit, die Gewißheit, daß nach dem Umwenden aus dem πάθος eine hoch einzuschätzende Tätigkeit geworden ist, und auf der anderen Seite die Tatsache, daß diese μεθολκαί tatsächlich Erfolg hätten, wenn sie nicht stets durch nur eine Eigenschaft des πάθος verhindert würden, es scheint, daß Plutarch all dies nicht für geeignet hielt, ein so abschreckendes Bild zu zeichnen wie nötig wäre, um einen Kranken zu heilen. Es hat ja geradezu den Anschein, als solle im ersten Teil das πάθος überhaupt nicht vorgestellt werden, sondern als ginge es gleich um die Umwendung. Dies mag Plutarch zu dem Entschluß veranlaßt haben, nach der Zurückweisung der μεθολκαί-Versuche die Krankheit, nun ohne tröstliche Ausblicke, darzustellen wie sie ist, indem er die dazu dienenden Aspekte seiner vorhergegangenen Darstellung, die βλάβαι und αίσχϋναι, noch einmal vorführte. Er durfte sicher sein, sich mit der Wiederholung eines Mittels bedient zu haben, das vor allem dann angemessen ist, wenn jemandem ins Gewissen geredet werden soll. Sehen wir uns diese gar nicht ungeschickte Reigenkomposition noch einmal an! Zuerst hieß es, daß der Neugierige sich für άλλότρια κακά interessiert, keinesfalls für die ίδια, im Gegenteil, daß einige den ΐδιος βίος als ein höchst unerfreuliches Schauspiel fliehen, daß er die έν μέσω λόγοι nicht beachtet und sich mit Verborgenem abgibt, das, wäre es nicht schlecht, nicht verborgen wäre. Er zieht sich deshalb Haß zu, sein Tun ist gefährlich, aber dem Rat, harmlose απόρρητα oder κακά, die keinen Lebenden mehr direkt angehen, zu suchen, kann er nicht folgen, da die αλλότρια, κεκρυμμένα κακά auch πρόσφατα sein müssen, πρόσφατα also müssen die Objekte des Neugierigen sein, aber nicht κωμικά, vielmehr τραγφδίαι — τραγωδίαι aber, weil die κακά verborgen sein müssen und keiner ein άγαθόν verbirgt; natürlich ist das den jeweils Betroffenen, den άλλότριοι, sehr unangenehm, und ihr Haß ist ihm gewiß. Aber er widmet sich ohne Rast anderer Leute Übeln, meidet alles, was ruhig und verschwiegen ist, und ist nur dann glücklich, wenn irgend etwas Neues passiert ist — und so weiter, ließe sich sagen. Verschieden in beiden Teilen ist die Stellung des άλλότριον und des κεκρυμμένον, und in der zweiten Behandlung hat das κακόν als solches eine eigene Darstellung gefunden. Beides ist recht nebensächlich, das Bild eines Ringes liegt sehr nahe. Ein Zufall darf wohl ausgeschlossen wer48
den, Gedankenlosigkeit des Autors wohl überhaupt erst nicht erwähnt werden, da er selbst bei nachlässigster Arbeitsweise derartige Übereinstimmungen bemerkt haben müßte. Der Schluß des 8. Kapitels knüpft nur noch lose an das bisherige Thema an: Den Nomotheten der Lokrer werden die nicht minder tüchtigen von Thurioi an die Seite gestellt, die es verboten hatten, Bürger auf der Bühne zu verspotten, die Neugierigen und die Ehebrecher aber ausgenommen hatten. Die Gemeinsamkeit beider Übel sieht Plutarch darin, daß die μοιχεία eine πολυπραγμοσύνη . . . άλλοτρίας ήδονής und eine ζήτησις . . . των φυλαττομένων και λανθανόντων τους πολλούς sei, die Neugier aber eine παράλυσις . . . και φθορά και άπογύμνωσις των απορρήτων. Von fern ist damit der Gegenstand des 9. Kapitels in den Blick gerückt, denn die φθορά und άπογύμνωσις der Geheimnisse deutet ihre Weitergabe an. c. 9 ist zu einem größeren Teil mit g. 2f. so eng verwandt, daß wir hier auf ein gemeinsames υπόμνημα schließen müssen, wenn nicht g. 2 f. direkte Vorlage von c. 9 ist. Dem Vielwissen folgt in der Regel das Vielreden; deshalb legte Pythagoras den jungen Schülern ein fünfjähriges Schweigen auf; der Neugier aber folgt notwendig die κακολογία (das πάθος heißt hier περιεργία, nicht πολυπραγμοσύνη wie sonst in c., wohl aber wie g. 12!): ά γάρ ήδέως άκούουσιν ήδέως λαλοΰσι, και ά παρ' άλλων σπουδή συλλέγουσι προς ετέρους μετά χαράς έκφέρουσιν. Wenn man sich an die Definition der πολυπραγμοσύνη erinnert und zugleich die gerade zitierte Begründung im Auge behält, wird man κακολογία mit „Reden von Schlechtem" wiedergeben müssen: denn das hören sie gern. Nun heißt es im folgenden, alle nähmen sich vor den Neugierigen in acht, και ουτε πραξαί τι πολυπράγμονος όρώντος ουτ' ειπείν άκούοντος ήδέως εχουσιν . . . — man fragt sich verwundert, ob denn alle etwas Schlechtes t u n ; ein wenig später ist gesagt, daß man sogar eine πραξις σπουδαία vor ihnen verbirgt, κακολογία hat also unmerklich die ihm durchweg eigene Bedeutung „Verleumdung", „Verdrehen von einem Guten oder Indifferenten in ein Schlechtes" angenommen. Eine derartige Bedeutungsverschiebung eines Wortes ist in der Literatur nicht selten, und sie wäre auch hier an sich ganz unauffällig, wenn nicht die auffallende Ähnlichkeit desjenigen Teils von Kap. 9, in dem κακολογία die „neue" Bedeutung erhält, mit g. 2 hinzukäme (s. S. 50 oben). Es kann also scheinen, als habe Plutarch an seine anfängliche Ausführung über die κακολογία das freie υπόμνημα oder die direkt an g. 2 orientierten Gedanken angeknüpft und eine Glättung nicht f ü r notwendig befunden, da er sah, daß sich jetzt eine rhetorische Figur ergab. Die weitere Untersuchung scheint die direkte Abhängigkeit des Kap. 9 von g. 2f. nahezulegen; was in g. 2f. offensichtlich eng zu49
g
c
. . . άλλά καΐ περί αυτήν τήν έπιθυμίαν άποδυσπετοϋσι. τοις μέν γάρ άλλοις νοσήμασι της ψυχής, οίον φιλαργυρία . . ., τό γοϋν τυγχάνειν ών έφίενται περίεστι - τοις δ' άδολέσχοις τοϋτο συμβαίνει χαλεπώτατον, έπιθυμοϋντες γαρ άκροατών ού τυγχάνουσιν, άλλά πας φεύγει προτροπάδην' καν έν ήμικυκλίω τινί καθεζόμενοι, καν περιπατοϋντες έν ταύτφ -9-εάσωνται προσφοιτώντα, ταχέως άνάζευξιν αύτοϊς παρεγγυώσι. και καθάπερ δταν έν συλλόγω τινί σιωπή γένηται, τον Έρμήν έπεισεληλυθέναι λέγουσιν, ούτως δταν είς συμπόσιον ή συνέδριον γνωρίμων λάλος είσέλθη, πάντες άποσιωπώσι . . .
όθεν αύτοϊς μετά των δλλων κακών τό νόσημα καΐ πρός τήν έπιθυμίαν έμποδών έστιν · πάντες γάρ αυτούς φυλάττονται καΐ αποκρύπτονται, καΐ οΰτε πραξαί τι πολυπράγμονος όρώντος οίίτ' ειπείν άκούοντος ήδέως ^χουσιν άλλά καΐ βουλάς άνατίθενται καΐ σκέψεις πραγμάτων υπερβάλλοντας μέχρι αν έκποδών ό τοιούτος γένηται - κάν ή λόγου τινός άπορρήτου παρόντος ή πράξεως σπουδαίας περαινομένης άνήρ πολυπράγμων έπιφανη, καθάπερ δψον γαλής παραδραμούσης αϊρουσιν Ικ μέσου καΐ άποκρύπτουσιν · ώστε πολλάκις τά τοις άλλοις ρητά καΐ θεατά τούτοις μόνοις άρρητα καΐ άθέατα γίγνεσθαι.
sammengehört, ist hier eher künstlich zusammengestellt, g. 3 war von der πίστις die Rede, die der Schwätzer nicht findet; der Gedanke war mit dem Vorhergehenden eng verknüpft ; entsprechend findet der Neugierige niemanden, der ihm etwas sagt, und kein Vertrauen. Wir hören nun in c. 9 im Anschluß an das oben Zitierte: διό και πίστεως άπάσης έρημος δ πολυπράγμων έστίν . . . Das διό geht zurück auf die viele Zeilen zuvor aufgestellte These, der Neugierige sei ein κακολόγος, aber auf die zweite Bedeutung des Wortes, die also, die sie in dem mit g. 2 verwandten Teil erhielt. Denn man schenkt den Neugierigen kein Vertrauen nicht nur, wenn es um κακά geht, sondern hat überhaupt Angst, daß sie das ihnen Anvertraute verdrehen, vielleicht sogar nur weitererzählen, womit sich der Zusammenhang mit der κακολογία völlig gelockert hätte ; aber das letzte war nur unsere Ergänzung. Von großer Bedeutung ist nun, wie Plutarch fortfährt : Wir vertrauen lieber Fremden als neugierigen Freunden Briefe u. dgl. an — : weil sie ihren Inhalt verdrehen oder weitererzählen ? Das Folgende zeigt, daß davon nicht mehr die Rede ist. Bellerophontes wird als Muster der Zurückhaltung vorgestellt, weil er den ihm mitgegebenen ihn selbst betreffenden Brief nicht öffnete und selbst las. Auch hier kein Bruch der Argumentation, sondern Verknüpfung eines Teils mit einem anderen durch ein Wort, das dem ihm Vorhergehenden wie dem ihm folgenden gerecht wird. Läge das υπόμνημα oder eine ebenfalls aus ihm fließende Textstelle nicht vor, dürfte man kaum auf den Gedanken eines Einschubs kommen: Plutarch hantiert zu geschickt mit seinen Mitteln 14 . 1 1 Zu weiteren, einige Schriften untereinander verbindenden S t ü c k e n , die a b e r n i c h t a u f E i n s c h ü b e schließen lassen, vgl. S . 118.
50
Yon Bellerophontes ist weiter gesagt, daß er sich nicht der F r a u des Königs näherte; im Anschluß daran kann der am Ende von Kap. 8 schon durchgeführte Vergleich von Ehebruch und Neugier wieder aufgenommen werden. Beide gehören sie zur άκρασία, aber auch zur άνοια und αφροσύνη : denn an so vielen öffentlichen Schönen vorbei zur wohlbehüteten, durchaus nicht immer schönen Ehefrau zu stürzen, ist ja wohl doch eine υπερβολή μανίας και παραφροσύνης — aber gerade so handeln auch die Neugierigen : Viel Schönes lassen sie unbeachtet, brechen aber Briefe auf, behorchen Wände und flüstern mit Dienern und Weibern — oft unter Gefahren und stets zu ihrer Schande. Der damit erreichte Schluß der Krisis scheint mir bruchfrei aufgebaut zu sein. Der ersten Gegenüberstellung von Ehebruch und Neugier folgt die sich passend anschließende Erörterung von Neugier und κακολογία, die zu Bellerophontes führt, wo die Synkrisis wieder aufgenommen werden kann. Mit Kap. 10 beginnt die K u r gegen das Leiden. „Deswegen" — die Explikation des Grundes folgt, das διό ist proleptisch — ist f ü r die άποτροπή (nicht mehr μεθολκή : die scheiterte ja) des πάθος die Erinnerung an das oben Gesagte so nützlich wie nur möglich : Denn ( = weil), wenn der Neugierige seine Habe mustert und ihre Hohlheit und Nutzlosigkeit sieht, dann dürfte ihm sein Leiden wohl widerlich werden. Der folgende Teil des Kapitels hat lediglich die Aufgabe, dies noch einmal in extenso auszuführen: Wer alle schlechten Verse und unziemlichen Äußerungen der Dichter sammelt, dem könnte man zurufen : ολοιο θνητών έκλέγων τάς συμφοράς ! Und auch ohne diesen Tadel ist der so gesammelte Schatz häßlich und nutzlos — wie die Stadt, die Philipp aus den Schlechtesten bildete und Poneropolis nannte; die Neugierigen suchen nun nicht στίχων oder ποιημάτων, sondern βίων άστοχήματα usw. Die Konsequenz dieses Tuns wird zunächst an einem Bild dargelegt : Einige haben, wenn sie in Rom sind, kein Auge f ü r die Herrlichkeiten der Stadt, sondern treiben sich auf dem Markt der Absonderlichkeiten herum ; allerdings bringt das dort Dargebotene schnell Ekel und Abscheu mit sich; so sollen auch die, die die βίων άστοχήματα auskundschaften, sich daran erinnern, daß ihr Tun weder Freude noch Nutzen bringt. Das 11. Kapitel beginnt mit den Ethismoi. Sie sind das μέγιστον . . . πρός τήν του πάθους άποτροπή ν. Man soll mit den Übungen von weit her (die Erklärung folgt) anfangen (a) : Auch das πάθος wuchs durch Gewöhnung, indem die Krankheit Schritt f ü r Schritt vorankam (b), wie, das zeigt die Darlegung der Askesis (die den Prozeß der Erkrankung also rückgängig macht, ist zu ergänzen). Zunächst also beginnt man άπο των βραχυτάτων και φαυλοτάτων (a) (dies die Interpretation des πόρρωθεν) ; Plutarch f ü h r t im einzelnen aus, man solle nicht alles, was an den Wänden und auf Gräbern geschrieben steht, lesen (α), weil dies nämlich auf 51
die Dauer schadet (sc. weil auf diese Weise das πάθος entsteht, b). Ein Beispiel verdeutlicht, wem letztlich geschadet wird : Die Jäger lassen ihre Hunde nicht jedem Geruch folgen, sondern zügeln sie, wodurch sie ihre Riechwerkzeuge für ihren eigentlichen Zweck schonen : damit sie zum Spurenlesen geeignet bleiben —: alles darf man nicht, was es zu sehen und zu hören gibt, beachten, sondern muß den Trieb für das Nützliche aufbewahren. Der Anwendung des Beispiels fehlt der Schlußpunkt: ,,. . . um auf diese Weise das φιλομαθές zu schonen." Statt es einfach hinzuzufügen, leitet Plutarch es wieder durch ein Beispiel ein, das selbst nicht über das Vorige hinausführt : Adler und Löwen gehen mit einwärts gewandten Krallen, damit sie nicht abstumpfen ; so hat das πολυπράγμον eine gewisse Schärfe des φιλομαθές : Dies wollen wir hüten und nicht durch falsche Anwendung stumpf machen. Einen weiteren Ethismos bringt das folgende Kapitel: Man achte darauf, daß man nicht in fremde Türen sieht, was nicht besser ist als träte man hinein, denn (Begründung der Aufforderung, nicht in Türen zu sehen) dies Schauen ist nach Recht und Sitte nicht erlaubt (sc. weil es dem Hineintreten gleich ist) und ferner nicht schön oder auch angenehm, sondern häßlich und vom moralischen Standpunkt her schimpflich und eine schlechte Angewohnheit (α). Diogenes verspottete einen Olympioniken, der seine Bücke nicht von einer hübschen Frau reißen kann (ß) : Gerade so lassen sich die Neugierigen von allem und jedem interessieren, wenn sie sich einmal an ihre Unsitte gewöhnt haben (α). Allgemein: Die αΐσθησις darf nicht wie eine ungezogene Dienerin draußen umhertollen (a), vielmehr wird sie von der Seele zu den Dingen geschickt; wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hat, muß sie wieder zurück zum λογισμός kommen und auf ihn achten (b). Nun ist leider das Gegenteil der Fall : Die schlecht erzogenen Wahrnehmungen ziehen die διάνοια meist hinter sich εις ά μή δει (a). Ganz gewiß hat Demokrit sich nicht geblendet, um der Ablenkung von außen zu entgehen, richtig dagegen ist, daß die, die am meisten die διάνοια gebrauchen, am wenigsten die αισθήσεις bewegen (b) : Auch die Museen liegen außerhalb der Städte, und die Nacht heißt εύφρόνη, weil sie die für die Studien nötige Ruhe gewährt. Kap. 13 bringt weitere Übungen desselben Prinzips: Es ist nicht schwer, wenn sich Leute streiten, beiseite zu bleiben oder sich bei Aufläufen ruhig zu verhalten, oder, εάν . . . άκρατώς έ'χης, wegzugehen: Dort gibt es nichts Nützliches ; wohl ist es nützlich, dem λογισμός mit Gewalt Gehör zu verschaffen. Man kann die Übungen noch weiter ausdehnen und sich auch von Vergnügungen nicht locken lassen. Richtiges und falsches Verhalten zu solchen Lockungen werden einander gegenübergestellt : Sokrates hütete sich vor Speisen und Getränken, die zum Verzehr locken, auch wenn man nicht hungrig ist: So wollen auch wir all das fliehen, όσα κρατεί . . . τούς μή δεομένους. 52
Kyros wollte die Pantheia nicht sehen, Alexander nicht die Frau des Dareios ; wir aber, die wir in die Kleider der Frauen sehen und unsere Augen an ihre Fenster heften, meinen wohl, nicht zu fehlen; in Wirklichkeit sind wir dabei, die Neugier großzuziehen. Einen letzten Ethismos empfehlen Kap. 14 f. Wie man sich zur Gerechtigkeit erzieht, indem man auch einmal auf einen gerechten Profit verzichtet usw., so soll man sich auch einmal nicht um das kümmern, was einen angeht (kein Widerspruch zu Kap. 1; dort war nur von moralischen ΐδια κακά die Rede!). Die Schädlichkeit des allzu großen Interesses an eigenen Belangen beweist die breit ausgeführte Ödipusgeschichte ; Plutarch entnimmt ihr die Lehre, daß die Neugier wie ein Kitzel wirkt, daß der, der von ihr losgekommen ist, wahrhaft glücklich ist. Dem schließen sich weitere Empfehlungen derselben Art an: Zurückhaltung, wenn man einen Brief erhält, wenn ein Bote kommt usw. Der Ödipusgeschichte entspricht der Bericht vom beherrschten Verhalten des Rusticus. Erst am Abschluß des Gedankenganges folgt die Begründung der gerade vorgeschlagenen Ethismoi (die der der übrigen entspricht): Wer sich nicht schon bei Dingen und in Situationen zusammennimmt, die ihn angehen, der wird bald ein Opfer der Neugier auch nach Fremdem werden. Mit einer letzten, starken Epilogismosempfehlung schließt die Schrift. Ihr Thema: Die (verhaßten) Tyrannen sind am verhaßtesten wegen der zu ihnen gehörigen Spitzel; die Neugierigen sind schlimmer als diese Sorte Mensch. Die Ausführung : Zuerst wird die auf Spitzel zurückzuführende Verhaßtheit der Tyrannen herausgestellt, dann folgen zwei Angaben über Spitzel, deren zweite beweist, wie man sie verabscheute (wichtig für das Bild des Neugierigen) : 1. Dareios hatte sie eingeführt — aus Angst; τούς προσαγωγίδας der Dionysioi ergriff man nach dem Sturz der Tyrannis als die ersten und tötete sie. Die Verwandtschaft mit den Neugierigen kommt im folgenden Satz zur Sprache, wenn es heißt : Denn die Sykophanten gehören ja (καί γάρ) zur Sippe der πολυπράγμονες. Das γάρ dürfte nicht die vorstehenden Sätze, so wie sie sich zu lesen geben, begründen, sondern zusammen mit der sie sachlich zwar einleitenden, aber erst am Schluß formulierten Aufforderung, ihren Inhalt zu bedenken : Bedenkt die Verhaßtheit und die Gefahren des Spitzels, denn derartige Menschen sind mit den Neugierigen verwandt. Die Neugierigen sind aber in gewisser Hinsicht noch schlimmer als die Sykophanten, da diese suchen, ob einer etwas Böses gewollt oder getan hat, jene aber sogar nach Ungewolltem forschen. Der άλιτήριος soll seinen Namen zudem von seiner φιλοπραγμοσύνη bekommen haben (es folgt die Erklärung), nicht anders die Sykophanten (auch hier nun die Erklärung). Dies also zu bedenken ist für die Neugierigen nicht unnütz, damit sie sich schämen, weil ihr πάθος sie den so sehr Verhaßten ähnlich macht. 53
4. De vitioso pudore Es gibt Pflanzen wie Affekte, die selbst schlecht, aber Zeichen für einen guten Boden bzw. eine gute φύσις sind. Ein solches πάθος ist die δυσωπία, die die Ursache von schlechten Taten ist, aber kein „schlechtes Zeichen". Schlecht ist sie, weil die Kranken oft genauso handeln wie die Unverschämten (später wird klar : indem sie den Forderungen Unverschämter folgen), mit dem Unterschied (jetzt das gute Zeichen), daß sie Schmerz über ihre Fehler empfinden, die Unverschämten Freude. Das Folgende, mit μεν γάρ eingeleitet, ist keine Begründung, sondern eine Erläuterung, in der die vorhergehende These geringfügig präzisiert wird : D.h. : Der Unverschämte ist dem Schimpflichen gegenüber schmerzunempfindlich, der εύδυσώπητος dagegen sogar dem nur scheinbar Schimpflichen gegenüber sehr empfindlich, denn die δυσωπία ist die υπερβολή des αίσχύνεσθαι. Deswegen wird sie so genannt (Erklärung des δω durch den Partizipialsatz), weil sich das Gesicht (πρόσωπ-ον—δυσ-ωπ-ία) mit der Seele verzieht und mit ihr kraftlos wird (a), denn, wie man die κατήφεια definiert als λύπη κάτω βλέπειν ποιούσα (b), so nennt man den Grad der Verschämtheit, der dem Blick eines Fordernden nicht standhält, δυσωπία (a). Von diesem Tatbestand ausgehend (όθεν ; gemeint ist — wie sich implizit zeigt — ein der gerade vorgestellten Aussage entsprechender allgemeiner Tatbestand, nämlich, daß das Verhältnis zur Scham sich in den Augen widerspiegelt) sagte der Rhetor, die Unverschämten hätten in ihren Augen keine κόραι, sondern πόρναι (gehört zu b : gesprochen wird von einem Gegenstand, der eine Beziehung auf die δυσωπία hat), der εύδυσώπητος aber läßt zu sehr das Weibliche in seinem Auge durchblicken (a) und nennt die Niederlage, die ihm die Unverschämten beibringen, ungerechtfertigterweise αισχύνη. Dies ab a-Schema ist also sehr produktiv; sein Ausgangspunkt ist die akademisch-peripatetische Dreiheit von möglichen Zuständen von πάθη und πράγματα: δυσωπία ist υπερβολή, impliziert ist: Unverschämtheit ist die ελλειψις. Es folgt die Namenserklärung mit dem wichtigen Begriffsmerkmal. . . τοις δεομένοις . . . : δυσωπία ist ein sehr spezielles Leiden. Schließlich kommen wir zu einem weiteren Element der Definition : daß die Kranken sich für Vertreter der αισχύνη, nach Aristot. E N 1128b lOff. ein μέσον πάθος, halten. Im ersten Kapitel geht es nun zuerst voran mit einer weiteren Synkrisis, die aber keine Bedeutung für das folgende behält : Anknüpfend an den harten Tadel des Vorherigen und nach der Bemerkung, der Kranke halte sein Benehmen für αισχύνη, heißt es, Cato habe diejenigen Jugendlichen, die zum Erröten neigen, denen, die eher erblassen, vorgezogen, womit er gezeigt habe, daß man eher den Tadel als den έλεγχος, eher die υποψία als die Gefahr fürchten solle. Allerdings, so wendet Plutarch ein, darf man den Tadel nicht allzusehr fürchten (a), weil dies zu 64
schlechten Handlungen führen kann (b).Wir bleiben also im μεσότηςSchema. Catos Meinung scheint den Kranken zu ihrer falschen Selbsteinschätzung recht zu geben, Plutarch weist sie wieder auf den gebührenden Platz, den der υπερβολή, zurück, indem er an einen Ausgangspunkt seiner Abhandlung erinnert: daß δυσωπία zu schlechten, unverschämten Handlungen führen kann. Das 2. Kapitel führt weiter; das μεσότης-Schema wird immer noch verwendet. Plutarch knüpft gleich ans erste Kapitel an, wo schon das Postulat der Heilung bei Wege eingeflossen war (άφαιρετέον): Also: Nicht die υπερβολή dulden, aber auch nicht die ελλειψις (a), sondern eine εμμελής σύγκρασις beider ist zu bilden. Das zweite Thema des Kapitels und der Schrift sind die näheren Heilsbedingungen. Sie schließen sich unmittelbar an : Die Herstellung der σύγκρασις ist schwierig. Die Begründung beginnt, symmetrisch zum Beginn der Schrift, mit dem Vergleich aus dem Ackerbau: Der Landmann reißt schädliche Pflanzen aus, kommt er aber an nützliche, geht er vorsichtig ans Werk, um nicht das Gesunde zu verletzen ; ähnlich der Philosoph: Üble πάθη werden „mit Stumpf und Stiel" beseitigt, kommt er aber an den zarten Teil der Seele — wo die δυσωπία ihren Platz hat —, hütet er sich, das αίδούμενον zu verletzen. Der Darstellung des philosophischen Verhaltens folgt die Auswertung (nach einem Beispiel) zum Postulat (a b a): Ammen verwunden manchmal die Säuglinge, wenn sie sie abwaschen ; man darf die δυσωπία also nicht so beseitigen, daß der Kranke in das Gegenteil umschlägt, sondern wie die, die an Heiligtümer gebaute Häuser abreißen, die an diesen befindlichen Wände stehenlassen, so soll man auch hier τά όμοροϋντα της αΐδοΰς καΐ της επιεικείας και της ήμερότητος stehenlassen, derjenigen έξεις also, unter denen sich die Krankheit, wie oben schon einmal gesagt, gern versteckt. Nun schenkt Plutarch diesem Sachverhalt mehr Aufmerksamkeit als oben. Er war nämlich der Grund, weshalb die Stoiker das αίσχύνεσθαι und das δυσωπεΐσθαι vom αίδεΐσθαι trennten, um nicht die Homonymie zum Vorwand schlechter Taten zu geben. Plutarch aber lehnt diese Spitzfindigkeit ab. Scham kann nützen und schaden; sie nützt, wenn der λόγος ihr πλεονάζον nimmt und das μέτριον beläßt. Mit Kap. 3 beginnt die therapeutische Arbeit; Postulat : Als erstes muß der Kranke sich klarmachen, daß sein πάθος schädlich ist; was schädlich ist, kann aber nicht καλόν sein (der Kranke flieht ja gerade das αίσχρόν). Negative Formulierung: Der Kranke soll nicht auf das Lob, nett und charmant zu sein, hereinfallen und sich auch nicht von dem Vorwurf der Hartherzigkeit und Sturheit beeindrucken lassen. Erklärung des Postulats, antithetisch mit den letzten Worten von Kap. 2 verbunden: Bokchoris war allzu hart, Isis mußte eingreifen, die δυσωπία aber ist eine Schwäche und als solche Ursache für viele 55
Fehlhandlungen. Spezifizierung: Jeweils der άγνωμονέστατος ist unumschränkter Herr über den Kranken, wenn er mit seiner Unverschämtheit dessen αίδούμενον herauszwingt. Deswegen also: wenn schon der άγνωμονέστατος Herr . . . ist, ist das πάθος wie ein χωρίον ΰπτιον den αΐσχιστα πάθη und πράγματα ausgesetzt, was bedeutet (μέν γάρ), daß es ein schlechter Hüter der Jugend und des θάλαμος ist. Deshalb (weil das πάθος den Menschen zu einem χωρίον ΰπτιον macht und entsprechend gerade die Schwächeren, Kinder und Frauen, die bekanntlich die hauptsächlichen Gegenstände sexueller Begierde sind —: dies sind also, wie sich zeigt, die α'ίσχιστα πάθη και πράγματα — jeweils dem άγνωμονέστατος preisgibt) ist die δυσωπία geradezu eine Verführung des άκόλαστον, weil (Partizipialsatz, a b a-Schema) sie alle Türen offenläßt; nun eine letzte Steigerung der Gefährlichkeit: Mit Geld gewinnt man den Abschaum, durch Überredung oft auch die Guten. Der Abschnitt lehrt also: Die δυσωπία, eine Schwäche, verursacht Fehler aller Art (A), a) indem die Kranken verführt werden (besonders zu sexuellen Fehlhandlungen (A')), b) indem sie gewissermaßen selbst andere verführen — wobei zu bedenken ist, daß der εύδυσώπητος in der Regel kein schlechter Mensch zu sein braucht ; nun kommt Plutarch auf Fehlhandlungen in finanzieller Hinsicht (A") zu sprechen, aber nur präteritorisch : E r übergeht sie nämlich ; aber indem er sagt : έώ τάς . . . und einige von ihnen kurz skizziert, zeigt sich, daß er sie f ü r so häufig und bekannt hält, daß er auf ihre Darstellung getrost verzichten kann. I m 4. Kapitel wird die Vorstellung der Schädlichkeit bis zum Letztmöglichen gesteigert: Die δυσωπία kann zum Tod führen. E s folgen Belege: 1. Kreon, 2. solche, die ihren Untergang ahnten und trotzdem die δυσωπία über sich siegen ließen : a) Dion, b) Antipatros, der Sohn Kassanders, c) Herakles, der Sohn Alexanders. I n den letzten beiden Fällen führte die aus δυσωπία angenommene Einladung zum Tod. Hesiod hatte also recht, wenn er riet, nur den Freund zum Mahl zu laden und nicht den Feind, und macht sich keineswegs lächerlich. Damit rekurriert Plutarch auf die Antipatergeschichte, d.i. die vorletzte ; auf diese bezieht sich also das ούν : Antipater konnte die Einladung des Demetrios nicht ausschlagen, weil der vorher zu ihm gekommen war. Schon im dritten Kapitel war uns ein solcher Übergriff über das unmittelbar Vorhergehende hinaus aufgefallen. Die Komposition der folgenden Kapitel ist klar; eine schematische Darstellung wird das verdeutlichen können. Kap. 5 f ü h r t zunächst aus, daß die δυσωπία, ein offenbar sehr schädliches πάθος, mittels der άσκησις beseitigt werden muß, und zwar, indem man beim Kleinen und Unauffälligen beginnt. Dann folgen : 66
I. Übungen : a) f ü r folgende Fälle : . . . έν δείπνω προπίνει τις . . . b) . . . ετερος παρακαλεί κυβεύειν . . . c) . . . άδολέσχγ) συνήντηκας . . . II. Zweck der Übungen: 1. Die Vorsicht im Kleinen schult f ü r die μείζονα (Konsequenz des richtigen Verhaltens). 2. Mangelnde Vorsicht im Kleinen macht unfähig, die μείζονα zu meistern (Konsequenz des falschen Verhaltens). Ausgeführt wird beides durch α) eine Demosthenesanekdote : als der Demos beim Auftreten des Philoxenos erschrak, meinte er: „Was werden sie erst machen, wenn sie die Sonne (sc. Alexander) sehen, wo sie nicht einmal eine Lampe ertragen" (dies gleich nach 1.); ß) an Hand der Übungen a) und c) : Wie wirst du dich bei der Forderung eines Königs oder des Demos verhalten, wenn du nicht einmal mit einem Zutrunk oder einem Schwätzer fertig wirst (dies anstelle der allgemeinen Formulierung von 2.)? Kapitel 6. I. Übungen, die das richtige Loben betreffen: . . . κι&αρφδός άδει κακώς, . . . κωμωδός . . . έπιτρίβει Μένανδρον . . . II. Zweckangabe: 1. Wenn du darin deiner selbst nicht Herr bist, wie wirst du einen Freund zu tadeln wagen? Eine Periklesanekdote zeigt, wie man Freunden zu sehr nachgeben kann. 2. Wenn man sich dagegen von weit her übt, nicht aus δυσωπία zu loben usw., so läßt man die anderen erst gar nicht zur unverschämten Bitte kommen. Kapitel 7. I. Übungen, die das Geld betreffen. Illustration des richtigen Verhaltens an Archelaos, der zum Herrn über sein Geben das rationelle Urteil, nicht die δυσωπία machte. Falsches Verhalten: Wir (gewöhnlichen Sterblichen) übersehen oft die Anständigen und geben den Dreisten, nicht, weil wir geben wollen, sondern weil wir nichts abschlagen können. Illustration des falschen Verhaltens: Antigonos gab einmal dem Bias gegen den eigenen Willen nach. Antigonos dient danach zur Illustration des richtigen Verhaltens : einen dreisten Kyniker fertigte er geschickt ab. II. Zweckangabe, eingeleitet durch eine Diogenesanekdote : D. bettelte Statuen an, um das άποτυγχάνειν zu üben; wir aber wollen uns 57
zunächst am Unscheinbaren lind Kleinen üben, nicht ja zu sagen, wenn es nicht gerechtfertigt ist, ώς αν μείζοσιν άποτεύξεσιν έπικουρεϊν εχωμεν. Begründung des Vorigen mit eigener Interpretation des Großen (die καλά) und des Kleinen (die περιττά) : Wenn wir an die περιττά alles verschwenden und f ü r die καλά nichts mehr haben, wird das αίσχρόν (dessen Vermeidung ist Ziel der Kranken) vervielfacht. Kapitel 8. I. Nicht nur in Gelddingen ist δυσωπία schlecht, auch in μείζονα behindert sie den λογισμός. Es folgen Beispiele f ü r μείζονα. II. Um solchen Fällen gegenüber gewappnet zu sein, muß man sich am Kleinen üben: προς ταϋτα . . . έν τοις . . . μικροΐς γυμνάζωμεν. Es folgen Beispiele f ü r die μικρά. 1. Zweckangabe: εθους ενεκα wollen wir, auch im Unscheinbaren, stets das Bessere wählen (wie es die Pythagoreer taten). Weitere Beispiele f ü r die μικρά schließen sich passend an. 2. Zweckangabe : Wer so geübt ist, wird auch im Größeren standhaft sein. E s war im Vorigen, bei der Übersicht über Kap. 5ff., leicht zu sehen, daß die a b a - Struktur oder besser verschiedene solcher Strukturen die ganze Argumentation beherrschten. Kapitel 9. Über die Askesis sei genug gesagt, nun zu den Epilogismoi ; deren wichtigster : a. (Allgemeine Formulierimg:) Den πάθη folgt, was wir durch sie zu fliehen meinen. b. (Spezielle Formulierung:) Die δυσωπία flieht den „Rauch der Schande" und läuft in ihr „Feuer". Es folgen Erläuterungen zu b. a) (Im Hinblick auffordernde Personen:) Die Kranken geben den άγνωμόνως δυσωποϋντες nach und fürchten später die δικαίως εγκαλούντες. b) (Im Hinblick auf das Größenverhältnis von Erstrebtem und Erreichtem:) Sie fürchten ein wenig Tadel und müssen dann eine eindeutige (όμολογουμένη) Blamage ertragen. Erläuternde Beispiele zu a) und b), die die gesamte δυσωπία charakterisieren : a) Geld b) Prozeßhilfe c) Heiratsversprechen. 58
Wie paßt nun Kap. 10 dazu? μέν γάρ fügt gern einen erklärenden Zusatz an 16 ; eine strenge Begründung braucht der μέν-γάρ-Satz also nicht zu bieten. Kap. 9 empfiehlt, die Konsequenz des πάθος zu bedenken: άδοξία. Das dazu führende Verhalten des Kranken ist als μή άντιλέγειν, μή άντειπεΐν, όμολογεΐν bezeichnet, d.h. als die Unfähigkeit, nein zu sagen, der Zwang, ja zu sagen. Wir können den Inhalt des Kapitels also ohne Schwierigkeit umschreiben: Bedenke, daß du in δυσωπία fällst, wenn du nicht nein sagen kannst und immer ja sagst; [Kap. 10:] (sag' also in Zukunft nein:) d.h. du brauchst es nicht einmal zu sagen, du kannst eine entsprechende Bewegung machen usw. Das Kapitel 10 schließt sich also nicht genau an den Wortlaut, durchaus aber an den Gedanken des 9. Kapitels an ; man wird einen Anstoß um so weniger empfinden, je schneller man liest, je weniger man auf Einzelheiten achtet. Der Aufbau des Kapitels ist — wie auch der der folgenden — durchsichtig. Daß die Einwohner Asiens alle einem Einzigen dienten, weil sie die eine Silbe ού nicht sagen könnten, sei gewiß ein Scherz; der εύδυσώπητος aber braucht nicht einmal etwas zu sagen, sondern kann sich mit einer Geste begnügen : σιωπή ist Antwort genug für die Weisen, nach Euripides. Allerdings ist diese Methode eher αγνώμονες gegenüber anzuwenden, den χαρίεντες dagegen kann man auch zureden; es empfiehlt sich auch, ein entsprechendes Apophthegma präsent zu haben und zu zitieren: Zwei Aussprüche Phokions folgen als Beispiele, der letzte wird sachlich begründet. Dagegen wird kurz das falsche Verhalten wiederholt, dann repräsentiert eine Persaiosanekdote wieder das richtige ( a b a ) ; Persaios' Methode findet eine kurze Begründung. Zwanglos schließt sich Kap. 11 an: es stellt das gute Verhalten Piatons vor, dann folgt eine Xenokratesanekdote, die falsches Verhalten auf Grund von Unwissenheit zeigen soll ; wir aber, geht es antithetisch weiter, handeln oft in vollem Wissen falsch (a) und nicht einmal mit Lust, sondern mit Ärger (b): weil nämlich der εύδυσώπητος, wenn überhaupt jemand, wissentlich falsch handelt (a). Der erste Schritt von a nach b ist modal ausgedrückt (ημείς . . . έπιστάμενοι . . . προϊέμεθα . . ./δυσχεραίνοντες), der zweite, von b zu a, kausal (δυσχεραίνοντες / εί γάρ . . .). Zu Anfang des 12. Kapitels hören wir als Konsequenz einen schon in b liegenden Gedanken: Deswegen folgt die Reue nicht der Tat, sondern ist in ihr; dies wird min kurz expliziert: Denn wenn wir geben, leiden wir darunter, wenn wir Zeugnis geben, schämen wir uns . . . και μή παρέχοντες έλεγχο μεθα. Die Erklärung dieses verkürzten Satzes folgt sogleich: Wir versprechen aus Schwäche, was wir unmöglich halten können, etwa Fürsprache bei Hochgestellten, statt zuzugeben, daß wir dort unbekannt seien; 15
„That is to say", J. D. Denniston, The Greek Particles, Oxford 2 1954, 67.
59
richtiges Beispiel: Lysander. Begründung dieses Verhaltens: Es sei nicht schimpflich, nicht alles zu können, aber Unmögliches zu übernehmen und es mit Gewalt durchzusetzen zu versuchen, ist schimpflich und noch unangenehm dazu. Von Kap. 10 in. bis hierhin reicht ein gerader Argumentationsstrang; nun sind wir ganz deutlich an seinem Ende — : aber Plutarch hat noch mehr zum Thema zu sagen. Er macht sich's leicht und beginnt Kap. 13: άπ' άλλης δ' άρχής, eine bei ihm nicht unübliche Wendung 16 und wohl kein Indiz für den Beginn einer neuen Vorlage17, zumal das folgende keine wesentlich neuen Gedanken bringt. Die neue άρχή besteht darin, daß Plutarch nun betont von einem sachlichen Gesichtspunkt ausgeht : Forderungen nach μέτρια und πρέποντα habe man zu entsprechen, bei βλαβερά και άτοπα müsse man hingegen bestimmteWorte Zenons vor Augen haben (schon in Kap. 10 hörten wir, es sei nützlich, χαρίεντες gegenüber ein Apophthegma zu zitieren) : Man lernt daraus, daß man (zwar nicht mit Schlechtigkeit die Schlechtigkeit, wohl aber) mit Dreistigkeit freche Bitten abwehren soll (was natürlich nicht heißt, daß man selbst ein δυσωπών wird). Nun, in Kap. 14-16, die Kasuistik, die im wesentlichen der Skizze aus Kap. 10 entspricht. Die άδοξοι machen nicht viel Mühe; hier genügt ein Scherz; Beispiele von Theokrit, Lysimache, Antigonos. Kap. 15: Verhalten gegenüber ένδοξοι. Falsch, weil zu scharf, handelte Cato, besser Agesilaos und Themistokles : Der entgegnete auf eine unziemliche Bitte des Simonides: ,,Du wärst kein guter Poet, wenn du dich nicht ans μέλος hieltest, ich kein guter Herrscher, wenn ich gegen das Gesetz entschiede." Aus dieser Anekdote „wächst" Kap. 16. (Themistokles orientierte sein Verhalten an den Idealen des Simonides —) wie imbedeutend und ungefährlich sind diese jedoch gegen die seinigen ! Nichtsdestoweniger gibt es Leute, die in der Metrik sehr empfindlich, in wichtigen Dingen aber „großzügig" sind — die sind natürlich leicht zu packen. Man fordere also jeden, der eine unverschämte Bitte an uns richtet, auf, etwas zu tun, was ihm angesichts seines Berufs oder seiner Stellung unmöglich ist. Kap. 17 schließt, rein äußerlich gesehen, glatt an 16 an: Dort hieß es am Schluß allgemein, man solle einen, der καλοσκαγαθός sein will, auffordern : μή πρέποντα ποιεΐν . . . έπί δε των φαύλων όραν χρή και διανοεΐσ-9-αι. . ., geht es nun weiter: ob diese φαύλοι wohl umzustimmen sind, etwa ein Habgieriger, ohne ein συμβόλαιον ein Talent zu verleihen — es wäre in der Tat schlimm, wenn die Schlechten in ihren νοσήματα und παθήματα unbeugsam wären, wir aber, die wir φιλόκαλοι und φιλοδίκαιοι sein wollen, unsere Tugend ohne Hinsehen preisgäben. Es ist leicht zu sehen, daß diese Empfehlung sachlich von den vorher18
Vgl. Is. 363 D, de an. in Tim. 1018B, aq. an ign. 958 A, auch san. tu. 16 in., Synkr. Ages./Pomp. 3,1. 17 Ziegler hält dies allerdings für möglich (146/783).
60
gehenden verschieden ist : Sie ist nicht nur zur Meisterung der einzelnen Situation geeignet, vielmehr gehört sie zu dem Epilogismos von Kap. 9, da sie dauernde Heilung gewähren dürfte; vgl. dazu S. 103. Das Kapitel fährt fort, indem es den Widersinn des falschen Verhaltens — dessen sich die φιλόκαλοι ja hoffentlich nicht schuldig machen — an zwei Beispielen klarlegt: Wenn es dem Bittenden um δόξα geht, soll man dann der eigenen δόξα nicht achten ? Ein Bild macht die Absurdität deutlich. Dann: Wenn es ihnen um Geld geht — ist das ein Grund, den eigenen Ruf nicht zu schonen? Wie absurd auch dergleichen ist, einige handeln dennoch so wie solche, die man gezwungen hat, einen großen Krug auszutrinken, nur mit äußerster Kraft, stöhnend und grimassenschneidend den Befehl ausführen. Damit tritt zum zweiten Mal der Gesichtspunkt der Reue ( = des Bemerkens des Schadens und des entsprechenden Unlustgefühls) auf, wird aber wieder fallengelassen, denn das 18. Kap. nimmt die Gelegenheit wahr, an die gerade gegebene drastische Schilderung die Begründung anzuhängen: Wie kommt es, daß man trotz der Absurdität, trotz der sogleich bei der Tat eintretenden Reue, falsch handelt? Die Kranken, heißt es in 18, sind gleich schwach gegen Lob und Tadel (das war schon im ersten Kapitel angeklungen) ; es ist erforderlich, sich gegen diese doppelte Schwäche zu rüsten. Diese Empfehlung wird weitschweifig durchgeführt: Thukydides habe eingesehen, daß der Macht der Neid folgt und geraten, dem Neid nicht auszuweichen, wenn es um μέγιστα geht ; dem Neid zu entgehen ist schwer, dem Tadel unmöglich; wir tun also gut, den Zorn der άγνώμονες eher in Kauf zu nehmen als derer, die uns mit Recht tadeln, wenn wir jenen zu Unrecht gefällig waren. Im Vorigen war die Gruppe der δυσωποΰντες zweimal aufgeteilt worden: in Kap. 10 nach ihrem Auftreten in άγνώμονες und χαρίεντες, in Kap. 14f. nach ihrem Stand in άδοξοι und ένδοξοι. In beiden Fällen gab Plutarch verschiedene Methoden des Neinsagens an. Hier geht es um anderes, und auch die Terminologie hat sich geändert : sie schließt sich an Kap. 9 (532 D) an, wo die άγνωμόνως δυσωποϋντες den δικαίως εγκαλούντες gegenübergestellt sind, άγνώμονες sind hier, in Kap. 18, alle δυσωποΰντες, die andere Gruppe wird von denen gebildet, die uns mit ihremTadel darauf hinweisen,daß der Maßstab für unsere Gefälligkeit das Recht zu sein hat. Verwunderlich dürfte die Bedeutungsänderung des Wortes άγνώμονες nicht sein ; aus dem Kontext geht jeweils klar hervor, was gemeint ist. Oben, S. 49f., hatten wir gesehen, wie ein Wort auf engstem Raum seine Bedeutung ändern konnte, ohne daß das Verständnis dadurch erschwert wurde. — Es geht an unserer Stelle um Lob und Tadel; abgeschlossen sind jetzt die Ausführungen über den Tadel. Was nun das Lob (ihm gehört der Rest des Kapitels) angeht: Wenn es von den δυσωποϋντες kommt, ist es κίβδηλον, und man muß sich davor hüten, nicht auf den Kitzel herein61
zufallen: auf diese Weise gliche man denen, die sich ihre Beine von anderen wegziehen lassen, ja, man handelt noch unrühmlicher, wenn man die Feindschaft zu Schlechten begräbt, um Philanthrop zu heißen, oder unnötigen und nicht ungefährlichen Streit vom Zaun bricht, um ein Mann zu sein. Dem obigen Beispiel (das von denen, die sich die Beine wegziehen lassen, handelte) entspricht nun (a b a) ein weiteres, das auf Bion zurückgeht : Solche Menschen gleichen Zubern, die man an den Ohren herumträgt. Ein solcher Zuber war Alexinos, das Gegenteil Menedemos, der das Wort des antisthenischen Herakles beherzigte : Die Kinder sollen niemandem danken, der sie lobt —: d.h., wie Plutarch erläutert, sie sollen sich nicht zu falscher Scham verleiten lassen. Schlicht und einfach habe Pindar formuliert, wie man sich zum Lob stellen solle: Als einer ihn feierte, habe er gesagt: κάγώ σοι χάριν άποδίδωμι· ποιώ γάρ σ' άληθ-εύειν. Nun nimmt das Schlußkapitel das mehrfach schon erwähnte Thema „Reue" wieder auf und bildet daraus eine letzte Epilogismosempfehlung (zunächst allgemein): Es ist ein Mittel gegen alle πάθη, den Gewissensbiß energisch im Gedächtnis zu behalten; wer sich daran erinnert, einmal an einen Stein gestoßen zu haben (usw.), der hütet sich hinfort nicht nur vor diesem Stein, sondern ist auch für ähnliche Fälle gewappnet. Das gilt auch für die allzu Nachgiebigen : Sie sollen sich an ihre Reue erinnern, dann sind sie auch in ähnlichen Fällen sicher. Offenbar geht es auch diesem Epilogismos um durchgreifende Heilung. 5. De laude
ipsius
Es sagen zwar alle, daß das Selbstlob unangenehm ist, aber doch verfallen ihm viele. Beispiele für dies uneinheitliche Verhalten sind Euripides und Pindar. Niemand macht ihnen (die Aussage schließt sich nur an Pindar an, gilt aber sicher auch für Euripides) streitig, daß sie Verdienst haben — aber schließlich werden die (offensichtlichen) Sieger in Wettkämpfen von anderen ausgerufen, wodurch die άηδία des Eigenlobs beseitigt ist. So sind wir auch (beispielsweise) über Timotheos entrüstet, der seinen Sieg άμούσως und παρανόμως feierte. Der Grund für unsere Entrüstung: Wir selbst empfinden das Lob, das uns andere spenden, als sehr angenehm, die anderen aber unser Eigenlob als widerwärtig. Die Gedankenfolge bis hierhin lautet also : Selbstlob ist unangenehm (A), dies gilt unabhängig vom Verdienst (B), wer sich lobt, stößt auf unsere Entrüstung (A'), weil das Selbstlob unangenehm ist (A). Jetzt folgen die objektiven Gründe für die Aversion: 1. sind die περιαυτολογοϋντες unverschämt (man sollte sich zurückhalten, auch wenn man von anderen gelobt wird), 2. sind sie ungerecht (sie nehmen sich, was ihnen gegeben werden muß), 3. brin62
gen sie uns in eine peinliche Situation, indem wir entweder neidisch (wenn wir schweigen) oder als Schmeichler (wenn wir zustimmen) scheinen. Wie dem auch sei, schließt Kap. 2 an, manchmal wagt sich der Politiker ans Selbstlob (Faktum, A), nicht seines eigenen Ruhmes wegen (Zurückweisung der falschen Zweckangabe, a), sondern wenn die Sache oder die Gelegenheit es erfordern, besonders wenn etwas den geschilderten eigenen Großtaten Ähnliches geleistet werden soll (Angabe der Bedingung, bereitet die folgende Begründung vor, b). In diesem Fall ist das Selbstlob nämlich produktiv : wie aus einem Samen entstehen aus ihm weitere, auch bessere έπαινοι (Begründung, c). Es wäre nun zu fragen, inwiefern Selbstlob überhaupt produktiv sein kann, aber darum geht es in dem sich unmittelbar anschließenden γάρSatz nicht. Es heißt zunächst (der Politiker lobt sich selbst, wenn diese Handlung Früchte trägt): Denn die δόξα fordert er nicht als Lohn oder als Ermutigung für seine Leistungen ( ~ a), sondern weil das πιστεύεσθ-αι und das δοκεΐν χρηστόν είναι weitere und schönere Taten ermöglicht ; die δόξα ist ihm also ein Instrument ( ~ c) ; kurz : Denn es stimmt nicht, daß a die Begründung für A darstellt, sondern b/c. Erst nun wird in dem sich anschließenden γάρ-Satz die oben von uns schon gestellte Frage, inwiefern Selbstlob produktiv sein kann, beantwortet : Denn Menschen, die uns vertrauen und schätzen, können wir leicht nützen und tun es gern, gegen Verleumdung und Mißtrauen kommt man nicht an. Nun sehen wir, daß der dieser Begründung vorangehende γάρ-Satz auch nicht „nur" eine Wiederholung des anfangs vorgestellten Tatbestandes war, sondern dadurch, daß er die durch das Selbstlob erstrebte δόξα als πιστεύεσθαι interpretierte, den Weg für die anschließende Begründimg ebnete. Am Schluß des Kapitels stellt sich Plutarch die Aufgabe für das folgende. Es ist zu untersuchen, welche anderen Gründe Eigenlob ermöglichen, damit man einerseits die Eitelkeit des falschen meiden, den Nutzen des berechtigten aber realisieren lernt. Im 3. Kap. widmet sich Plutarch zunächst der Frage, wann das Selbstlob hohl und eitel ist. In Kap. 1 hörten wir, daß das objektive Verdienst kein Kriterium für das rechte Selbstlob ist, wohl aber der Nutzen, lehrte das 2., und nun folgt das positive Kriterium für falsches Selbstlob: Falsch ist es, wenn man Lob sucht, wenn man es aus Ehrgeiz anbringt. Dann wird es verachtet: Denn wie die, die nichts zu essen haben, sich eine Weile vom eigenen Bestand nähren können, was die letzte Stufe des Hungers ist (sc. und was zudem — deshalb — erbärmlich, abstoßend ist), so verhalten sich die, die nach Lob dürsten und, weil es ihnen nicht zuteil wird, zum Eigenlob greifen, abstoßend. Noch schlechter ist das Eigenlob, wenn man damit gegen das Lob, das anderen gezollt wird, angeht: zum κενόν ist es noch ein βάσκανον πράγμα και κακόηθες. Denn wer in einen fremden Tanz 63
seinen Fuß setzt, ist nach dem Sprichwort vorwitzig und lächerlich; ein derartiges, aus Neid vorgebrachtes aggressives Selbstlob (sc. ist völlig abscheulich ; deswegen : es) ist zu meiden, vielmehr hat man das Lob anderen, wenn sie es verdienen, zu gönnen, andernfalls das Gegenteil zu beweisen. Es ist also klar, daß das neidische Selbstlob zu meiden ist. Das Kapitel gliedert sich in zwei symmetrische Teile. Der Anfangssatz (εστίν - δοκούντων) und der Schlußsatz (ταϋτα - φυλακτέον) stehen für sich: der eine schlägt die Brücke zum Kap. 2, der andere schließt mit dem sich aus dem ganzen Kapitel ergebenden und zuvor schon formulierten Postulat ab. Dazwischen befinden sich zwei Aussagen, denen je eine Begründung folgt; diese wird in beiden Fällen durch ein Beispiel eingeleitet. Beide Male ist Wie- und So-Satz nicht völlig kongruent. Für das Kap. 4 und die folgenden erwartet man nun die Frage nach dem nützlichen Selbstlob; gefragt wird aber zunächst, wie man sich άμέμπτως lobt: ähnlich formuliert auch der Titel der Schrift (άνεπιφθόνως) ; der Aspekt des Nutzens bleibt zwar implizit vorhanden, tritt aber vorerst zurück. Soweit der Aufbau des Folgenden durchsichtig ist, beschränken wir uns darauf, den Gedankengang mehr oder weniger stichwortartig wiederzugeben. άμέμπτως lobt man sich selbst, wenn man sich gegen Verleumdung und (ungerechte) Anklage verteidigen muß; Illustrierung durch eine Periklesanekdote. Begründung : Eigenlob entgeht in diesem Fall nicht nur dem Verdacht von αλαζονεία, κενότης und φιλοτιμία, sondern es zeugt auch von Seelengröße. Daher die Reaktion der anderen: Sie stehen vom Urteil ab und stimmen in den Preis ein. Belege : Epameinondas, dann Sthenelos. Plutarch beginnt die Notiz über diesen homerischen Helden sehr zurückhaltend: δ&εν ούδέ του 'Ομηρικού Σθ-ενέλου παντάπασιν αίτιατέον τό ήμεΐς το ι πατέρων μέγ' άμείνονες εΰχομεθ·' είναι. Denn, so heißt es weiter, man muß bedenken (wenn man, wie Plutarch, dies Eigenlob akzeptieren will), daß Sthenelos nicht sich selbst, sondern seinen Freund verteidigte — eine eigenartige Begründung, wie es zunächst scheint, in Anbetracht jener zurückhaltenden Einleitungsformulierung. Aber diese scheint sich auf das άμείνονες zu beziehen: Sthenelos setzt gleichzeitig alle anderen herab. Die Anekdote dürfte also eine zusätzliche Lehre bringen: Wer andere verteidigt, darf, ohne ganz und gar verurteilt werden zu können, sogar bei seinem Selbstlob andere herabsetzen. Ein weiterer Beleg: Scipio mit dem Gegenbeispiel Cicero mit anschließender Begründung für die Wirkung ihres Verhaltens. Kap. 5: Selbstlob ist allgemein im Unglück erlaubt. Begründung: Es geht hier nicht um Nachgiebigkeit dem φιλότιμον gegenüber, sondern 64
wer sich im Unglück lobt, zeigt seine Stärke angesichts des Schicksals (a). Wie wir nämlich diejenigen, die mit allzu hoch erhobenem Kopf herumgehen, für dumm und eitel halten, der aber, der sich beim Kämpfen zusammennimmt und aufrichtet, gelobt wird (b), so scheint ein vom Glück Verlassener, der sich selbst lobt, groß und unbesiegbar zu sein (a). Beispiele: Patroklos, Phokion. Kap. 6 : Wenn dem Politiker Unrecht geschieht, darf er zum Selbstlob greifen (der Unterschied zum Kap. 4 ist kaum spürbar; es liegt also das a b a-Schema vor). Beispiel: Achill. Begründung: δέχεται . . . ή παρρησία, μέρος οδσα της δικαιολογίας, την μεγαληγορίαν. Beispiel ( a b a ) : Themistokles. Kap. 7 bringt eine Spezifizierung des Vorigen: Wenn man ungerecht wegen eigentlicher Verdienste getadelt wird, darf man seine Taten preisen; Begründung: weil man sich dadurch verteidigt (d.h. es fällt unter die in Kap. 4 angegebene Begründung). Beispiel: Demosthenes. Mit dem 8. Kap. befinden wir uns nicht mehr in der Aufzählung von Bedingungen eines unanstößigen Selbstlobs, sondern in einer Methodik, die lehrt, wie man das Selbstlob, wenn man einmal dazu gezwungen ist, am erträglichsten vorbringen kann. Man soll das Gegenteil dessen, was einem zum Vorwurf gemacht wird, als schlecht hinstellen. Wenn der Anfang des Kapitels behauptet, dies Mittel sei ού πόρρω . . . τούτου (sc. des Kap. 7 Gesagten) τεταγμένον, so zeigt sich damit, daß Plutarch den Übergang vom einen zum anderen Thema fließend gestalten will. Das Gemeinsame der Empfehlungen von 7 und 8 besteht in der allgemeinen Form der Verteidigung : Dem Vorwurf wird mit dem Gegenteil geantwortet, einmal ist dies die richtige Tat, das andere Mal die falsche, je nach dem Inhalt des Vorwurfs. Beispiele: Lykurg, Cicero, Demosthenes' ganze Kranzrede, deren Erwähnung den Ausgangspunkt von Kap. 9 bringt : Man lerne daraus, daß man sich loben kann, indem man das Lob der Zuhörer darein vermischt (a), womit Demosthenes das Lob άνεπίφθ-ονον und άφίλαυτον gemacht habe (b), Beispiel (c); denn dadurch freut sich der Hörer am Eigenlob des Redners, das in sein Lob eingeschlossen ist ( ~ b, a), man dankt ihm, und die Großtat wird ihm hoch angerechnet ( ~ b). Beispiel: Epameinondas (c). Kap. 10: Weil das Eigenlob im allgemeinen abgelehnt, das Lob anderer aber oft mit Freuden akzeptiert wird (Begründung durch Synkrisis Eigenlob/Lob anderer), pflegen einige ihre Gesinnungsgenossen zu loben, um bei geeigneter Zeit auf sich zu verweisen. Denn wie man sich selbst im anderen, der ähnlich ist, beschimpft, so lobt man sich selbst, wenn man seinesgleichen lobt (Begründimg durch Synkrisis Lob/Tadel). Beispiele für letzteres: Alexander Androkottos, für ersteres : Dionysios ( a b b a). Der Anfang von Kap. 11 (ταϋτα μέν οδν και άλλως έπίστασθαι . . . τω πολιτικω προσήκει) zeigt, daß Plutarch sich bewußt ist, das Thema 65
verlassen zu haben. Unter ταϋτα versteht er zweifellos die in Kap. 9 und 10 vorgetragenen Empfehlungen: sie gingen direkt auf das Lob anderer; wenn der Redner dabei in günstiges Licht gerät, hat dies Lob noch nicht unbedingt etwas mit περιαυτολογία zu tun. Mit Kap. 11 kehren wir wieder zu der Frage zurück, wie direktes Eigenlob erträglich ist, wenn man einmal dazu gezwungen ist. Man soll den Gegenstand des Eigenlobs auf die Tyche und Gott zurückführen. Beispiele : Achill, Timoleon, Python, Sulla. Begründung : Man unterliegt lieber fremdem Glück als fremder Tüchtigkeit ; für das eine gibt man sich selbst die Schuld, für das andere nicht. Weiteres Beispiel: Zaleukos ( a b ab). Kap. 12: Die vorigen Empfehlungen sollten beherzigt werden, wenn man vor παντάπασιν χαλεποί und βάσκανοι spricht; nun folgen andere, die zur Verwendung vor μέτριοι geeignet sind. Man soll das Lob seitens anderer berichtigen (A); Illustrierung: Wenn man als λόγιος, πλούσιος, δυνατός bezeichnet wird, weise man dies ab und bitte darum zu sagen, ob man χρηστός, άβλαβής, ωφέλιμος sei (a). Warum ist dies erlaubt? (α): 1. Man lobt sich nicht selbst, sondern ändert gezolltes Lob; 2a. man scheint sich nichts darauf einzubilden, sondern ungehalten zu sein, daß man in der falschen Hinsicht gelobt wird; 2b. (eigentlich keine Begründung, sondern Erweiterung von 2 a.) man will nicht gelobt werden, sondern erteilt Lehren über das Lob. Es folgen begründende Beispiele aus der Geschichte (B). Das Periklesbeispiel gibt dem wegen seiner Kunst gelobten Redner oder Feldherrn das Vorbild, wie er das Lob auf charakterliche Vorzüge abbiegen oder, wenn er überhaupt allzusehr gelobt wird, darauf hinweisen kann, daß er immerhin nur ein Mensch ist (a). Warum ist die Empfehlung richtig? (α): Der Neid gibt gern, ουκ άηδώς, dem nach vielem Verlangenden weniger, des passenden Lobs gehen die aber nicht verlustig, die falsches und unbegründetes Lob ablehnen. Begründende Beispiele aus der Geschichte, der Erfahrung und Gegenbeispiel (B). Kap. 13 : Die Augenkranken mischen dem allzu Hellen Schatten bei : So kann man zum Eigenlob einige leichte Fehler stellen, nicht gerade wie Epeios, aber man kann Vergeßlichkeit, Unwissenheit, Streitbarkeit, auch πρός τινα μαθήματα και λόγων άκρόασιν όλιγωρίαν, überhaupt Fehler, die nicht ehrenrührig sind: Armut, Not, ja sogar niedrige Abkunft, wie Agathokles, anführen. Kap. 14: Die bisher vorgeschlagenen Mittel gegen anstößiges Selbstlob sind „äußerlich" (έξωθεν) —: d.h. nicht der Gegenstand des Lobes selbst wurde zur Verteidigimg herangezogen; nun will Plutarch ein Mittel nennen, das in den έπαινούμενα ist. Es erscheint sofort in einem Beispiel : Cato habe auf seinen immensen Fleiß hingewiesen ; es folgen weitere Illustrationen, dann die Begründung: Ruhm wird von den meisten beneidet, wenn er leicht und mühelos, nicht wenn er mit Arbeit und Gefahr erworben ist. 66
Kap. 15: Am Schluß von Kap. 2 war als Thema formuliert worden: Suche nach anderen Gründen für erlaubtes, d.h. nützliches Selbstlob. Vorher war als ein solches Motiv der Versuch διαπράξασθαί τι των ομοίων angegeben worden. Wir sahen, daß sich Kap. 4 aber der Frage zuwandte, wie lediglich unanstößiges Selbstlob möglich sei. Zunächst hieß es, man könne sich im Unglück, bei der Verteidigung selbst, loben; es folgten bestimmte Methoden für diese Fälle. Im Kap. 12 war die Vorstellung, dem Redner sei Unrecht getan worden, so sehr verblaßt, daß nun das Lob seitens anderer der Ausgangspunkt der Empfehlungen werden konnte, und zwar ganz bei Wege: Es heißt nämlich 12 in., das Vorige habe dem Selbstlob vor χαλεποί und βάσκανοι gegolten, nun sollte die Methode des Selbstlobs vor μέτριοι betrachtet werden; man erwartet nun, daß gefragt wird, wie man sich verhält, wenn man sich aus irgendwelchen Gründen vor diesen μέτριοι loben muß — : aber man täuscht sich; Voraussetzung der folgenden Hinweise ist vorhergegangenes Lob durch andere, allerdings scheint sie für 13f. nicht mehr zu gelten. Nun, im Kap. 15, kommt das Thema, das Kap. 2 stellte, erst eigentlich an die Reihe; Plutarch zeigt, daß er seine Komposition durchaus im Kopf hatte, wenn er beginnt: Man kann sich nicht nur unanstößig, sondern auch mit Nutzen selbst loben, wenn wir nämlich mit dem Selbstlob etwas anderes erreichen. Ein erster Zweck: den Ehrgeiz der Zuhörer anzuspornen (das ist offenbar eine ετέρα αιτία als die in Kap. 2 vorgetragene; dort war von künftigen Großtaten des Redners selbst die Rede). Zunächst ein Beispiel: Nestor. Begründung: Der sich selbst Lobende zeigt, daß eine Tat nicht unmöglich ist, wodurch die Zuhörer hoffen können, auch eine Großtat zu vollbringen. Richtig handelten auch die Lakedaimonier; die είργασμένα dienten als Beispiele. Einen weiteren Anlaß für nützliches Selbstlob stellt Kap. 16 vor: Wenn es darum geht, den Frechen zu demütigen. Beispiele: Nestor, Aristoteles. Besonders Feinden gegenüber kann man sich in diesem Sinne loben. Beispiele: Agesilaos, Epameinondas. Freunde kann man durch Selbstlob sowohl demütigen als auch, wenn sie mutlos geworden sind, aufrichten. Beispiele: Kyros, Antigonos, Odysseus. Begründung : Dies Selbstlob gibt den Freunden die άρετή und die επιστήμη ένέχυρον του θαρρεϊν. Wichtig nämlich ist in kritischen Augenblicken der Ruhm und das Vertrauen zu einem erfahrenen Führer. Kap. 17: Wie unwürdig es eines Staatsmannes ist, gegen έπαινος άλλότριος anzugehen, sei schon früher gesagt worden (Kap. 3). Wenn ein solches Lob allerdings schadet und zum Schlechten verführt (Bedingung B), muß man es bekämpfen, indem man den Hörer auf das Bessere hinwendet (Postulat mit Methodenangabe: a). Denn — mag man zufrieden sein, wenn die Schlechtigkeit getadelt, das Gute ge67
rühmt wird und die meisten sich entsprechend verhalten —: keine noch so glückliche und starke φύσις kann standhalten, wenn κακία und schlechte Triebe auch noch Anerkennung finden (Begründung von a durch Material von Β : b). Also : Man muß nicht das Lob der Menschen, sondern das Lob der πράγματα bekämpfen (Postulat a mit neuer Nuance ohne Methodenangabe: α), denn dies verführt (b). Am besten bekämpft man es, wenn man das Richtige danebenstellt (a). Beispiele : Satyros, Zenon, Phokion, Krates. Denn dies Lob ist nützlich und lehrt uns das Gute lieben statt des κενόν und περιττόν (positive Begründung: b2). Mit dem 18. Kap. beginnen, του λόγου τό εφεξής απαιτούντος, Empfehlungen, wie man das έπαινεϊν άκαίρως εαυτόν fliehen kann. Das nächste dürfte den Grund für die Wichtigkeit der Heilung angeben : Denn auch die μετρίως έχοντες προς δόξαν werden befallen, da das όρμητήριον zum Selbstlob die φιλαυτία ist. Denn, wie eine hygienische Vorschrift lautet, man solle ungesunde Gegenden meiden oder, wenn man sich in ihnen befindet, achtgeben, so hat das Selbstlob seine τόποι ολισθηροί, wo man unter jedem Vorwand in es hineingerät. Die Begründung geht also in ihrem zweiten Teil direkt auf die Behauptung, daß auch die μετρίως έχοντες προς δόξαν befallen werden, da eben die Situation (für jedermann) gefährlich sein kann; der erste Teil (wie •— Satz) führt aber über den zweiten schon hinaus, indem er gleich das aus dessen Sachverhalt zu gewinnende Postulat impliziert. Dies Postulat wird im folgenden nicht mehr eigens ausgedrückt, vielmehr wird ein τόπος ολισθηρός genannt: αλλότριοι έπαινοι. Hier verspürt man einen großen Reiz zum Selbstlob (a), zumal wenn ein anderer auf Grund von Leistungen, die den eigenen gleich oder gar geringer als sie sind, gelobt wird. Denn wie die Hungrigen durch den Anblick Essender noch hungriger werden (b), so wird man durch έπαινος άλλότριος gereizt (a). Kap. 19: Zweitens verleitet der Bericht von eigenen Leistungen zum Selbstlob, was kurz illustriert wird. Diesem Typ der περιαυτολογία fallen besonders Soldaten und Seeleute zum Opfer, aber auch Leute, die von den Symposien der Großen und von den Schauplätzen wichtiger Ereignisse zurückkommen, sind nicht frei davon: Sie berichten von bedeutenden Männern und flechten Aussprüche von ihnen über die eigene Person ein (a), wobei sie nicht dem Selbstlob zu verfallen (b), sondern zu referieren glauben (c). Überhaupt meinen sie, es falle den Hörern nicht auf (M, Mitte der Argumentation), wenn sie von den δεξιώσεις, προσαγορεύσεις, φιλοφροσύναι der Mächtigen sprechen (a), gleich als ob sie nicht in Selbstlob verfielen (b), sondern von der Höflichkeit und Freundlichkeit jener Männer berichteten (c). (Dies meinen sie zu Unrecht, steht zwischen den Zeilen:) Also Vorsicht, daß wir uns nicht unter diesem Vorwand selbst loben. 68
Kap. 20: Gefährlich ist das Tadeln (a). Hier sind vor allem die Greise betroffen (b), die beim Tadeln gern der Großsprecherei verfallen (a). Es läßt sich nicht bestreiten, daß sie manchmal ein Recht dazu haben: wenn sie nicht nur alt, sondern auch tüchtig sind: dies erweckt φιλοτιμία. Die anderen haben sich in acht zu nehmen. Denn der Tadel ist schon schlimm genug; zusammen mit Selbstlob ist er vollends unerträglich. Kap. 21: Die zum Lachen neigen, müssen sich vor dem Kitzeln hüten, die für δόξα allzu empfänglich sind, müssen vorsichtig sein, wenn sie gelobt werden. Es gehört sich nämlich, in solchen Fällen zu erröten und sich zu mäßigen, nicht zu beweisen, daß man zu wenig gelobt worden ist (a) : So aber handeln die meisten (b), indem sie selbst von ihren Taten anfangen (a), bis sie sich das Lob der anderen verscherzt haben. Zu solchen Situationen kommt es, weil einige den Kranken mit Schmeicheleien gleichsam kitzeln und aufblähen, andere aber provozieren mit einer kleinen anerkennenden Bemerkung die περιαυτολογία, und wieder andere fragen dann auch noch weiter. Menander liefert ein Beispiel. Kap. 22 greift den Schluß von 21 zunächst auf: Man muß sich also in all solchen Situationen vorsehen, daß man nicht ebenfalls mit dem Lob anfängt oder auf entsprechende Fragen hereinfällt. Die beste ευλάβεια gegen das πάθος ist aber die Beobachtung von ετεροι εαυτούς έπαινοϋντες und der άηδία solcher Reden — denn dies, die Peinlichkeit und Lästigkeit des Eigenlobs, sind eigentlich die einzigen üblen Konsequenzen (a) ; Belege : selbst Schmeichler und Parasiten halten es kaum bei einem solchen Menschen aus, wie wieder Menander bezeugt (b). Aber Selbstlob ist keineswegs nur eine Sache niedrigerer Schichten und Ungebildeter; Sophisten, Philosophen und Feldherrn sind nicht frei davon (b'): Wenn wir diese beobachten und im Auge behalten, daß dem Eigenlob der Tadel von anderer Seite folgt und am Ende die άδοξία und das λυπεΐν τούς άκούοντας, wie Demosthenes sagt, keineswegs aber der erwartete Erfolg steht, dann werden wir mit diesem Eigenlob schon aufhören, wenn sich nicht ein großer Nutzen dadurch ergibt (a). 6.
Ergebnis
c. 9 gab die Möglichkeit, die Art, in der Plutarch seine υπομνήματα in einen Zusammenhang einschieben konnte, nachzuprüfen. Weil das υπόμνημα oder ein deutlicher Reflex davon vorlag, ließ sich ein geläufiges Stilmittel als Unebenheit, also als Nahtstelle, verstehen, das an sich nie so hätte verstanden werden müssen. Die Untersuchung von c. 9 zeigte neben dem Grad der Freiheit, mit dem Plutarch seine Vorlagen behandelt, daß sich ein Einschub zwar aus der Kompo69
sition erkennen läßt, zugleich aber, daß die entsprechenden Spuren so unauffällig sein können, daß sie ohne weitere Stützen nichts hergeben. In der Tat ließ sich in den von uns behandelten Schriften kein einigermaßen klarer Kompositionsbruch nachweisen. Insbesondere entdeckten wir keinen eigentlichen Widerspruch; wo tatsächlich, bei Gegenüberstellung zweier aus dem Kontext gerissenen Aussagen einmal a, einmal non a behauptet war, ließ sich diese Erscheinung — nicht einmal unbedingt (s. S.36f.) — als extremer Fall einer Urteilsmodifikation deuten, die ganz allmählich von einem Satz zum anderen führen (g. 1-g. 12), aber auch durch bestimmte Formulierungen kenntlich gemacht werden konnte (vgl. c.i. 462E mit 463 Β und das dortige konzessive αληθώς, auch die deutliche Abschwächung auf engstem Raum v.p. 532F). Zwischen c.i. 2 und 4 bestand nach unserer Meinung, im Gegensatz zu der von Pohlenz, kein Widerspruch. — Wenn zusammengehörige Gedanken unverbunden oder zu wenig verbunden nebeneinanderzustehen scheinen (g. 6/7) oder andere, deren Beziehung zueinander nicht ganz deutlich ist, durch sprachliche Mittel eng verbunden sind (v.p. 9/10), so kann man diese zudem seltenen Fälle kaum als Kompositionsbrüche werten: Synkopen und Scheinverbindungen sind zu geläufige Mittel der amplifizierenden Variation. — Die Wiederholung desselben Gedankens in gleicher oder variierter Form, z.B. als Feststellung und Postulat, ist Plutarchs eigentliches Stilmerkmal. Der auctor ad Herennium nennt diese Argumentationsweise expolitio; IV 42 (54) gibt er ein Beispiel18 dafür, das auch als bezeichnend für den plutarchischen Stil gelten kann. Ziegler18 hat dieser Eigenart ebenfalls Aufmerksamkeit geschenkt: ,,. . . besonders eigen ist ihm die Neigung zum εν διά δυοΐν-artigen Doppelausdruck . . .". Diese Ausdrücke schließen, wie wir sahen, in der Regel einen anderen ein, etwa in der Art These — Antithese — These oder Sachverhalt — Vergleich — Sachverhalt. Das a b a Schema, das wir längst nicht überall, wo es vorkam, bezeichnet haben, will sichtlich einen sonst offenen, vielleicht als scharf empfundenen Ausdruck abrunden. Es liegt auch der Ankündigung eines neuen Themas nicht unmittelbar vor dessen Inangriffnahme zugrunde, und die Urteilsmodifikation läßt sich, wenn nicht in jedem Fall auf den a b a-Ausdruck, so doch überhaupt auf die Wiederholung zurückführen, da letztlich statt einer einmaligen Formulierung derselbe Sachverhalt zweimal zur Sprache kommt: einmal in amplifizierender Form (wobei die Amplifikation gerade durch das Mitschwingen des vollständigen Urteils bewirkt zu werden scheint), das zweite Mal 18
Siehe die Ausgabe von G. Calboli, Bologna 1969, 406ff. zur expolitio und zu sonstigen Termini für dieselbe Sache. 19 A.O. 300f./938.
70
erinnert die Einschränkung, die das Hinzufügen oder die Wegnahme eines neuen Merkmals bedeutet, auch an das Urteil, dem sie, die Einschränkung, gilt. Das engere Urteil kann dem weiteren natürlich auch vorangehen. Die Wiederholung darf als Kennzeichen eines freundlich-väterlich breiten Stils gefaßt werden, besonders wenn sie in der Form des oft geradezu treuherzig bekräftigenden a b a-Schemas auftritt. Parallelen finden sich dementsprechend im Epos, vor allem bei Vergleichen; ein Beispiel soll hier genügen (II. 11,268if.): όξεΐαι δ' οδύναι δϋνον μένος Άτρείδαο. ώς δ' δτ' αν ώδίνουσαν εχη βέλος οξύ γυναίκα δριμύ τό τε προϊεΐσι μογοστόκοι Ειλείθυιαι, "Ηρης θυγατέρες πίκρας ώδΐνας εχουσαι, ως όξεΐ' οδύναι δϋνον μένος Άτρεΐδαο. Das epische Lehrgedicht Hesiods aber scheint in dieser Hinsicht der nächste Verwandte von Plutarchs Schriften zu sein.Wir brauchen hier nur auf die Hesiodarbeit von W. Nicolai (1964) hinzuweisen ; dort finden sich p. 150 (Β V 2) Hinweise auf zahlreiche nach a b a komponierte Stellen; p. 177 ist gezeigt, wie dies Schema sich auch bei der Komposition des Ganzen ausprägt. Auch hier diene ein Beispiel zur Illustration (Erg. 299f.): έργάζευ, Πέρση, δΐον γένος, οφρα σε λιμός έχ&αίρη, φιλέη δέ σ' έυστέφανος Δημήτηρ αίδοίη, βιότου δε τεήν πιμπλησι καλιήν λιμός γάρ τοι πάμπαν άεργω σύμφορος άνδρί. Daß sich mit dem von Plutarch angewandten Argumentationsstil die Vorstellung des väterlichen, herablassenden, aber durchaus ernsten und zielbewußten Ratgebers einstellt, mag Lukian veranlaßt haben, den Wegweiser zu dem ρητόρων διδάσκαλος zu Anfang der so betitelten Schrift, besonders im § 3, die a b a-Form fast bis zum Überdruß durchexerzieren zu lassen, so daß er, als er seinen Kehrreim wieder einmal erreicht hat, selbst sagen muß (7): . . . ίνα μή και ταύτά λέγων πολλάκις επέχω σε ήδη ρήτορα είναι δυνάμενον. Es sei also betont: Im Vorigen wird nicht behauptet, die herausgearbeiteten Stilmittel seien nur von Plutarch angewandt worden. Wiederholung, einfach oder nach einem Zwischenglied, und die mit ihr verwandte Urteilsmodifikation empfehlen sich immer dann, wenn die Rede eindringlich sein soll, mag es sich um Seelenheilung, Gerichtsrhetorik (vgl. etwa Apuleius' Apologie, wo das a b a-Schema allenthalben begegnet) oder Lehrschriften handeln. Plutarch bedient sich solcher Mittel (was allerdings behauptet werden soll) in auffallendem Maße, aber auch dies herauszuarbeiten war nicht das Ziel unserer Kompositionsanalyse, 71
sondern: daß Plutarch zusammenhängend argumentiert bzw. bruchfrei komponiert. Dies Ziel wäre auch dann erreicht, wenn Plutarch tatsächlich die gängigsten aller Argumentations- bzw. Kompositionsmittel verwendet haben sollte. Plutarchs Stil hat seine Kritiker durchaus gefunden. So sagt Ziegler20 im Anschluß an das oben Zitierte: „. . . ohne daß dabei (sc. bei den εν διά δυοΐν-artigen Doppelausdriicken) das Ziel der schärferen oder anschaulicheren Fassung des Gemeinten immer erreicht, vielmehr oft der Eindruck unnötiger Weitschweifigkeit erweckt wird . . .". Ein noch schärferes Urteil 21 : „. . . He is garrulous too . . . wanting . . . in that humour, which is so inestimable a safeguard against platitude and twaddle . . . " Nun lobt zwar Plutarch das λιτόν und die βραχυλογία22, und es ist leicht, ihm in diesem Punkt Inkonsequenz vorzuwerfen. Andererseits ist βραχυλογία nicht das einzige, was Plutarch an Aussagen zu loben hat. Die Darstellung verlangt einen gewissen κόσμος, der der χάρις dient 23 , die aber geht durch allzu sorgfältiges Feilen verloren, eine Ansicht, die Plutarch in direkten, öfter formulierten Gegensatz zum isokrateischen Stilideal bringt 24 . Aber was auch immer Plutarchs stilistische Ideale sein mochten: er verweist sie auf den zweiten Platz. Der eigentliche δημιουργός πειθούς ist das ήθος des Autors 28 . Wir sahen bereits oben, daß sich aus dem bloßen Betrachten von Plutarchs Argumentationsweise sein recht sympathisches ήθος erwies, dies tritt jedem Leser unmittelbar entgegen. Mahaffy, oben als scharfer Kritiker hervorgetreten 2e , kann uns das belegen: " . . . we feel him . . . also essentially a gentleman — a man of honour and of kindliness, the best type of the best men of his day." Yon daher, also von seinen eigenen Kriterien her gesehen, hat Plutarch sein Ziel durchaus erreicht. Gewiß macht er mehr Worte, als für die Sache nötig wäre. Der sprachliche Ausdruck hat aber noch einen anderen Zweck: die Brücke zum Hörer bzw. Leser zu schlagen. Wenn er dies erreicht, kann er nicht, nach Plutarchs eigener (g. 2, 6, 23) und allgemeiner Auffassung, unter die Geschwätzigkeit fallen. Schon eine summarische Betrachtimg der Unterschiede in der Komposition im Großen und im Kleinen gibt die Möglichkeit, die Schriften in bestimmter Weise anzuordnen ; dies bereitet unsere diesbezüglichen Untersuchungen, die vom Inhalt ausgehen, vor. 20
A.O. 300f./938. J.P. Mahaffy, The Silver Age of the Greek World, Chicago 1906, 339. 22 Ziegler 300/938; R. Jeuckens, Plutarch von Chaeronea und die Rhetorik, Straßburg 1908, 136 ff. 23 Jeuckens 148. 24 Stellen bei Jeuckens 9f., 83f., 149. 25 Jeuckens 18 ff. 28 A.O. 341. 21
72
g. ist die lebendigste Schrift; sie hat die Bewunderung ihrer Leser mehr als viele andere gefunden 27 . Trockener Gedankengang ist zurückgedrängt, Anekdoten, eigentlich zu seiner Illustration geschaffen, übernehmen in einem ganzen Teil weitgehend seine Funktion. Typisch ist hier ganz besonders das abgeschwächte, zunächst scharfe Urteil. Ganz anderer Art ist v.p. Die nüchterne Aufzählung bestimmt das Bild. Kap. 5-8, dann 10-16 sind knapp gehalten, übersichtlich aufgebaut; die Gedanken werden zwar illustriert, aber ihre trockene Folge wird dadurch nicht wesentlich aufgelockert. Die ersten und letzten Kapitel sind liebevoller gestaltet. Ganz ähnlich erscheint l.i., allerdings sind hier bloß die ersten drei Kapitel lebendiger, der Rest, technische Regeln zum Wann und Wie des unanstößigen Selbstlobs und φυλακαί für die περί δόξαν νοσοΰντες ist schematischer, eintöniger. Zwischen g. einerseits und v.p. und l.i. andererseits stehen deutlich c.i. und c. c.i. ist ein Dialog; es ist zu berücksichtigen, daß Plutarch diesem Schrifttyp zuliebe seine zur Zeit der Abfassung vielleicht vorhandene Neigung zur schematischen Darstellung bekämpft haben könnte. Aber die Schrift ist von Anfang bis Ende mit viel Freude an der Sache durchkomponiert, selbst die Askesisvorschriften meiden jede Dürre. Das bringt sie in die Nähe von g. ; was sie davon trennt, ist zunächst die mäßigere Anwendung der charakteristischen Kompositionsmittel und das Zurücktreten der Anekdoten, die hier nur der Illustration dienen, c. ist kürzer als g. und c.i.; von l.i. und v.p. ist es geschieden durch die Umständlichkeit, mit der der Stoff der Krisis zweimal vorgetragen wird. 27 J.J.Hartman, De Plutarcho scriptore et philosopho, Leiden 1916, 260; Ziegler 142/778.
73
II. Plutarchs sachlicher Beitrag zur Psychotherapie 1. Untersuchungen zur Methode A. Rrisis Die Einteilung der Schriften in Rrisis und Askesis ist g. 16 als gemeinhin gültig formuliert: των παθών . . . χρίσει και άσκήσει περιγιγνόμεθα . . . Die Rrisis ist sachlich der erste Teil der Heilung: . . . προτέρα δ' ή κρίσις έστίν. Die Begründung, weshalb die Rrisis der Askesis vorangeht, klärt zugleich über ihren Inhalt und ihr Ziel auf: ουδείς γάρ εθίζεται φεύγειν και άποτρίβεσθαι της ψυχής δ μή δυσχεραίνει, δυσχεραίνομεν δέ τά πάθη, δταν τάς βλάβας και τάς αίσχύνας τάς άπ' αύτών τω λόγω κατανοήσω μεν. Die sich anschließende doppelte Untersuchung — a) zu einer Entwicklung von Plutarchs Methode durch Vergleich von Rrisisinhalt und Rrisisziel der einzelnen Schriften, b) zur Schulzugehörigkeit der Rrisistherapie — kann nach Maßgabe des Gegenstandes selbst gerafft werden, a): Das in g. 16 formulierte Rrisisziel wird in den übrigen Schriften weder ausdrücklich noch implizit durch ein anderes ersetzt, so daß wir uns auf den Vergleich des Inhalts beschränken müssen. Die Differenzen der Rrisisinhalte, soweit sie sich sicher fassen lassen, sind daraufhin zu untersuchen, ob sie mit dem jeweiligen Gegenstand der Therapie zusammenhängen, oder was sonst ihr Anlaß ist. b): I n der Frage der Schulzugehörigkeit kann Inhalt und Ziel als Einheit betrachtet werden; dadurch nämlich, daß αίσχΰναι und βλάβαι zum δυσχεραίνειν führen sollen, erfahren sie von ihm her ihren Sinn, geraten also ganz in seine Abhängigkeit. E s genügt die Untersuchung des Sinngebers. Nichtsdestoweniger soll auch kurz über die näherliegende Ronsequenz von αίσχϋναι und βλάβαι, die Furcht, und ihre Bedeutung als Heilmittel in der antiken Ethik gesprochen werden; denn, wäre g. mit seinem R a p . 16 nicht erhalten, müßten wir ohnehin mit ihr als dem Rrisisziel rechnen, und es läßt sich natürlich auch nicht ausschließen, daß ihr diese Funktion in einigen Schriften, wo Plutarch sich nicht über das Rrisisziel äußert, zukommt. a) αίσχϋναι und βλάβαι sind noch innerhalb des Rap. g. 16 mit αισχρά und οδυνηρά umschrieben 1 . Eigene Erörterungen über die Bedeutung der 1
74
Vgl. a u c h v . p . 19: αισχρά καί βλαβερά.
Begriffe αισχύνη/αίσχρόν und βλάβη/βλαβερόν, ihr Verhältnis zueinander und ihren Wert für die Therapie, stellt Plutarch nicht an. Es ist also anzunehmen, daß er die diesbezüglichen Fragen im Einklang mit den ένδοξα der seine Zeit beeinflussenden Philosophie beantwortete. Warum αίσχϋναι und βλάβαι sich als Heilmittel empfehlen, erklärt Aristoteles; nach ihm 2 gibt es für αίρεσις und φυγή drei Kriterien: καλόν, συμφέρον und ήδύ; αίσχρόν, βλαβερόν und λυπηρόν; das ήδύ folge den übrigen Kriterien: το καλόν καί το συμφέρον ήδύ φαίνεται. Ebenso läßt sich das Gegenteil sagen: τό αίσχρόν καί το βλαβερόν λυπηρόν φαίνεται. Auch der Kepos, der die ήδονή als τέλος ansah, konnte dies nur, indem er sie mit dem συμφέρον gleichsetzte 3 ; sodann war ein Leben in ήδονή, das nicht zugleich καλόν, sittlich hochstehend ist, für Epikur unvorstellbar 4 , schon allein deswegen, weil die Gesellschaft sich die αισχρά nicht gefallen läßt und dies Bewußtsein Furcht, also Unlust, erzeugt 5 . Da nun alle Kranken Plutarchs nach einer Lust streben®, ist der Nachweis, daß sie ein αίσχρόν und ein βλαβερόν erreichen, dem gleich, daß sie das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigen, erreichen. Wesen und Kraft von αίσχρά und βλαβερά und damit die Begründung, weshalb sie das ήδύ konstituieren, ist in der griechischen Philosophie und Dichtung oft genug dargelegt worden ; wir können uns auf eine Skizze beschränken. 1. Daß sich auf das συμφέρον der erste Trieb des Lebewesens richtet, hatten der Erfahrung gemäß besonders Peripatos und Stoa als Naturgesetz formuliert 7 : omne animal se ipsum diligit ac, simul et ortum est, id agit, se ut conservet. Die Selbsterhaltung vollzieht sich durch die Trennung von pestifera und salutaria 8 . 2. Kitto 9 protestiert mit Recht gegen die Neigung, komplexe Begriffe wie καλόν und αίσχρόν zu zerlegen, καλόν bedeute nicht einerseits das Schöne, dann das Sittlichgute, sondern entspreche etwa einem „unserer vollen Bewunderung wert", αίσχρόν also dem Gegenteil. Unserer Verachtung wert sind sowohl ästhetische als auch moralische 2
E N 1104b 30. Epic. ep. ad Menoec., DL X 129f. 4 Ib. 132. 5 Id. rat. sent. 34. e Auch der Zorn ist τοϋ λυπεΐν έτερον ορεξις : c.i. 463 A, was akademisch-peripatetischer und stoischer Auffassung entspricht: Aristot. Top. 156a 30f., E N 1126a 21 f., SVF III 96, 27. 7 Zur Frage der Priorität vgl. F. Dirlmeier, Die Oikeiosis — Lehre Theophrasts, Philol. Suppl. X X X Η. 1, Leipzig 1937, mit Pohlenz, Grundfragen der stoischen Philosophie, Göttingen 1940, 1-47, Stoa I I 6 5 f . Die folgende Stelle: Cie. fin. V 9 (24), vgl. III 5 (16). 8 Cie. nat. deor. II 47 (122), vgl. Plut. soll. an. 960E, nat.q. 918E. 9 The Greeks, Melbourne/London/Baltimore 1951, 170f. 3
75
Nachteile ; im Begriff des αίσχρόν sind sie in ihrer möglichen oder tatsächlichen Ausstrahlung auf die Umwelt aufgefaßt. Es genügt also, um die Bedeutung des αίσχρόν als eines Heilmittels zu erkennen, das Verhältnis der Griechen zur Verachtimg durch die Umwelt zu skizzieren. Die Furcht vor Schande, also αιδώς, war das einzige Gesetz des homerischen Helden 10 , und selbst der Sophist Protagoras bekannte sich noch dazu, wenn er empfahl, den, der nicht αιδώς und δίκη hat, zu töten 11 . Der Verlust der Möglichkeit, als geachtetes Mitglied einer Gesellschaft zu leben, d. h. die δόξα zu bewahren, die man durch Abstammimg und eigene Leistung erworben hatte, verursachte oftmals den Drang nach der Vernichtung der physischen Existenz; so verkündet Aiax bei Sophokles, Ai. 479f., die Regel: άλλ' ή καλώς ζην ή καλώς τεθ-νηκέναι τον εύγενή χρή· πάντ' άκήκοας λόγον, Trach. 721 sagt Deianeira ζην γάρ κακώς κλύουσαν ούκ άνασχετόν, ήτις προτίμα μή κακή πεφυκέναι. Ähnlich fragt im Herakles des Euripides v. 1301 f. der gebrochene Held : τί δήτά με ζην δει; τί κέρδος( ! ) έ'ξομεν βίον γ' άχρειον άνόσιον κεκτημένοι12. Andererseits nehmen Menschen den Tod auf sich, um Ruhm zu erwerben, wie Diotima in Piatons Symposion, 208Cff., darlegt 13 . Die αισχύνη spielt also die Rolle für den Menschen als ζώον πολιτικόν, die die βλάβη für ihn als ζώον spielt; die αιδώς kann, wenn der von αισχύνη Betroffene eine entsprechende Auffassung des eigenen Wesens hat, sich der bloß kreatürlichen βλάβη als eines Instruments zu ihrer Erhaltung bedienen. Selbst wenn man den Begriff des αίσχρόν in Komponenten zerlegen will, wird man dabei bleiben müssen, daß diese beiden Nachteile die eigentlich wirkenden sind und weit weniger diejenigen im Innern der Seele, zu deren Konstatierung es eines feineren moralischen Empfindens bedarf, ebensowenig wie bloß ästhetische Nachteile abgesehen von deren Wirkung auf die Öffentlichkeit. Wenn Plutarch also die Häßlichkeit des Körpers und der Seele im Affekt vor Augen stellt, so vor allem um der Schändlichkeit, d.h. der Wirkung auf die Umgebimg willen. Es lassen sich nun βλάβαι denken, die nach aufgeklärtem Empfinden nichts mit αίσχϋναι zu tun haben (z.B. Tod durch Blitzschlag), und einem entwickelten Bewußtsein von der Natur des Menschen ist etwa die äußere Häßlichkeit eine völlig irrelevante Erscheinung 14 . Plutarchs βλάβαι aber haben alle notwendig auch den Aspekt der αίσχϋναι, da sie 10 E. Schwartz, Ethik der Griechen, Stuttgart 1951, hrsg. v. W. Richter, 37; W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 3 1954, I 28 f. 11 Plat.Prt. 322 D f. = D K II 270, 20. 12 Vgl. Alk. 960. 13 Zur Bedeutung der δόξα bei den Griechen überhaupt s. J.Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte II, Berlin und Stuttgart o. J., hrsg. v. J. Oeri, 353. 14 Z.B. SVF III 28,8.
76
aufgrund eines moralischen Fehlverhaltens eintreten, und die αίσχΰναι müssen, da sie bei der Heilung nicht irrelevant sein dürfen, schmerzlich und schädlich sein. Plutarch kann nach Belieben den einen oder den anderen Aspekt herausstellen. So ist es eine Folge des Zorns in der άμυνα, daß der Zornige προκαταπίπτει, d. h. unter Umständen den Tod findet. Hier hätte man nach obiger Distinktion eine eindeutige βλάβη vor sich — aber Plutarch setzt nach einer kurzen Einschaltung γελοίως hinzu, und der Schaden kann als Schande gefaßt werden; virtuell hat er diesen Aspekt also auch ohne γελοίως gehabt. Andererseits : wenn der Schwätzer verachtet und verabscheut wird, so befindet er sich damit in der αισχύνη ; wenn diese sich nun darin manifestiert, daß man vor ihm flieht, dann erhält sie den Aspekt des Schadens, da der Schwätzer, als ein ζωον bestimmter Art, in seiner Entfaltung behindert wird. — Plutarch arbeitet auch mit αίσχΰναι und βλάβαι, die sich auf die Innenwelt des Kranken beziehen. Auch hier ist eine Vertauschung der Gesichtspunkte αίσχΰναι und βλάβαι möglich, von Plutarch nach Belieben durchgeführt. So im Fall des Neugierigen: Die Niedertracht und die Erbärmlichkeit des πάθος sind ein αίσχρόν der Seele, aber wir hören auch, daß es diese Erbärmlichkeit ist, die den Kranken zur Beschäftigung mit Fremdem treibt (c. 516 D), die dann die in c. dargestellten schädlichen Konsequenzen hat: Dieser Sachverhalt ermöglicht die Interpretation der inneren Häßlichkeit als einer bloßen βλάβη und die Zurückstellung des αίσχύνη-Aspekts. — Daß ein innerer Schaden einen äußeren mit sich bringen muß, um — jedenfalls bei den „Vielen" — überhaupt zu wirken, war bereits gesagt worden; daß der äußere Schaden einen inneren impliziert, ist für die praktische Heilung weniger wichtig, aber faktisch nicht zu leugnen. — Das komplexe, innerlich wie äußerlich anwendbare Heilmittel kann \mmittelbar auf die krankheitserregende Absicht angesetzt werden wie auch ohne Rücksicht darauf, im bloßen Vertrauen auf seine allgemeine Heilkraft (relativer und absoluter Gebrauch). Der Schwätzer erhegt seinem πάθος, weil er geliebt werden will — er erreicht das Gegenteil. Wenn ihm dagegen die Gefahren seines Tuns vorgeführt werden, so zunächst, wie es scheint, wegen der allgemeinen Gewalt dieser Vorstellung über Handlungen überhaupt. Doch auch diese Trennung trifft nur die Aspekte. Der Schwätzer als Mensch, der im Übermaß und mit falschen Mitteln Kontakte sucht, muß erfahren, daß ihm eben deswegen die Möglichkeit, Kontakte herzustellen, auf denkbar wirksame Weise genommen wird. So ist auch der üble Seelenzustand des Neugierigen auf den ersten Blick nur ein absoluter Schaden: dem Neugierigen dürfte ja als Neugierigem nicht von vornherein an einem schönen Seelenzustand gelegen sein. Wenn aber des öfteren gesagt wird, der sich aus dem Suchen nach Häßlichem ergebende Seelenzustand sei in seiner Häßlichkeit nutzlos (520 A. D), 77
der Kranke fliehe ihn (516 D), so wird dadurch der Eindruck erweckt, daß er mit dieser Häßlichkeit der Seele das Gegenteil von dem erreicht, was er „eigentlich" will, etwa sich „bereichern", wobei der Begriff des „Guten" von selbst mitschwingt. Teilte man also die üblen Konsequenzen in αίσχυναι und βλάβαι ein, so hypostasierte man Aspekte. Dennoch ist eine Untersuchung, wie Plutarch die Aspekte verwendet, nicht müßig; über die Sache erfahren wir nichts, wohl aber über das jeweilige Interesse Plutarchs. Eine Zusammenstellung der in jeder Schrift angewandten αίσχυναι und βλάβαι ist nach der Kompositionsanalyse im ersten Teil, die eine eingehende Inhaltsbesprechung mit sich brachte, überflüssig. Darüber hinaus erweist die gerade vorausgegangene Betrachtung, daß eine minutiöse Untersuchung die Ungenauigkeit des Endergebnisses erheblich steigern müßte. Wenn wir an das Beispiel des προκαταπίπτειν γελοίως erinnern : soll man dies als βλάβη und αισχύνη oder bloß als αισχύνη fassen? Wie verhält man sich in Fällen, in denen ein dem γελοίως entsprechendes Wort nicht gesagt, aber für den Untersuchenden mit Händen greifbar ist? Wieviel Andeutungen von αίσχυναι und βλάβαι lassen sich zudem überhaupt erst gar nicht fassen, da sie im Gebrauch bestimmter Wörter und Namen liegen! Wir verzichten deshalb auf die Untersuchung der Fragen, ob eine bestimmte Konsequenz als innere oder äußere, relative oder absolute αισχύνη oder βλάβη zu fassen ist und untersuchen die bloßen Heilmittel (Nachteile) selbst, ohne Rücksicht auf ihren Ort in der Therapie. Die wesentlichen Nachteile sind : Gefahr und Tod, Verachtung, schlechter Seelenzustand. In welcher der Schriften fehlt eines dieser φάρμακα oder tritt auffällig zurück 15 ? 1. Gefahr und Tod fehlen in l.i. Dort ist zwar von der Unverschämtheit und der Ungerechtigkeit des Kranken die Rede, aber damit noch nicht von deren Konsequenzen. Was mit der Beziehung des Selbstlobs auf diese κακίαι, vor allem die άδικία, gesagt werden soll, ist lediglich, daß es einen Berührungspunkt mit ihnen hat, was ein schlechtes Bild auf es wirft. In g. widmet Plutarch den gefährlichen Folgen des πάθος die längste Untersuchung (Kap. 7-15 pass.), in c. (Kap. 4, bes. 16) und v.p. (Kap. 4) ist an exponierter Stelle auf die tödliche Gefahr hingewiesen, in c.i. (Kap. 10) im Vorübergehen. 2. In allen Schriften findet sich ein Wort über den Seelenzustand des Kranken, in g. aber tritt dieser Aspekt, verglichen mit den übrigen Schriften, weit zurück (s. 502E, 503 D). Im stärksten Maße findet sich diese Vorstellung in c. (pass., bes. Kap. 10) herausgearbeitet, auch c.i. (Kap. 2. 15) und v.p. (Kap. 1. 12) ist sie anzu15 Wir müssen noch bemerken, daß unter „Krisis" im folgenden überhaupt nie, wenn es nicht eigens gesagt ist, ein bestimmter, formal abgegrenzter Teil der Schrift, sondern stets die Gemeinsamkeit von αίσχυναι und βλάβαι gemeint ist.
78
treffen, und hierzu sind wohl die schon zitierten Bezüge des Selbstlobs auf αδικία, άναισχυντία und das δυσωπείν zu ziehen. 3. Verachtung von außen ist ein hauptsächliches Heilmittel bei allen πάθη, die aus einem falschen Verhältnis zur δόξα entstehen: dem Zorn (c.i. 6ff.), der Schwatzhaftigkeit (g. 2-6. 16), der δυσωπία (v.p. 9) und dem Selbstlob (l.i. 1. 3. 22). In c. ist von der Verachtung durch die Außenwelt nicht die Rede, aber sie muß im Gefolge der inneren Häßlichkeit, wenn diese als φάρμακον wirken soll, mitgedacht werden. Es zeigt sich, daß g. und l.i. besondere Positionen einnehmen; die übrigen Schriften bilden eine weitgehend einheitliche Gruppe 16 . Die Überlieferungslage erlaubt es, zusätzlich die πάθος-Bilder der Seelenheilungsschriften mit jenen zu vergleichen, die sich aus dem übrigen Werk Plutarchs ergeben. Rabbow hat eingehend gezeigt, daß es den antiken Seelenärzten nicht auf die sachliche Richtigkeit ihrer Darlegungen, sondern auf deren Wirkung ankam: „. . . im Wesen der abendländischen (sc. Seelenheilungs-)Methode ist die Rhetorik ein konstituierendes Element . . ." 17 Plutarch scheint das selbst zu bestätigen, wenn er v.p. 529E (zu vergleichen virt. mor. 441 E) sagt: πρώτον οδν τούτο δει πείθεσθαι τον υπό πολλής δυσωπίας βιαζόμενον, ότι πάθει βλαβερω συνέχεται, g. 16 war ihm selbst deutlich geworden, wie wenig objektiv er die Schwatzhaftigkeit in den vorhergehenden Kapiteln behandelt hatte, aber anstatt den rhetorischen Charakter der πάθος-Darstellung zuzugeben, stellt er seine rhetorische Methode dadurch erst recht unter Beweis, daß er den sich ergebenden Eindruck vertuscht: Das Vorhergehende sei nicht als κατηγορία aufzufassen, sondern als ιατρεία — was natürlich keine Alternative bildet. Die eigentliche Alternative stellt der hier gemeinte Teil der ιατρεία, die κρίσις (wozu der allgemeine Begriff ιατρεία auch bald spezialisiert wird), und dieser Terminus bringt den Charakter des Objektiven so mit sich wie κατηγορία den der Parteilichkeit. Man sollte also denken, daß die Seelenheilungsschriften stets die dunklen Seiten und Konsequenzen der πάθη herausheben und das Bessere, soweit sie es überhaupt berühren, zurücktreten lassen. Dies ist durchweg der Fall; es zeigt sich aber, daß in l.i. nach dem Ausweis der Wirklichkeit ohne weiteres mit dem Tod hätte gedroht werden können. Die Ausfülirlichkeit der folgenden, den Charakter eines Exkurses annehmenden Darlegung ist von diesem Zweck her nicht begründet; sie hat ihren selbständigen Sinn in der Sichtung noch wenig be16
Neben der Betrachtung der einzelnen Heilmittel der Krisis läßt auch ein Vergleich ihres Gesamtgewichts in einer Schrift zu einem plausiblen Ergebnis kommen ; diese Untersuchung ist aber zurückzustellen, bis wir Klarheit über die anderen Therapieformen haben. 17 Seelenführung 87. 79
arbeiteten Plutarchmaterials von einem bestimmten Aspekt aus. Es werden ausdrückliche Stellungnahmen Plutarchs zu den jeweiligen Gegenständen vorgelegt; dazu gehören auch weiter nicht erklärte Schilderungen von Ereignissen oder Sachverhalten, die aber eine entsprechende Lehre derartig deutlich aufweisen, daß diese an der gehörigen Stelle der hier behandelten Schriften hätten Berücksichtigung finden können. Die Anordnung der folgenden Stellen entspricht, soweit möglich, dem Gang der Seelenheilungsschriften. Der Zitierung der Biographien liegt die Bekkersche Ausgabe zugrunde ; dieser Umstand ist nur relevant für die Unterabschnitte der Kapitel. Den Zorn zu beherrschen ist etwas Großes, größer aber die Vorsorge (de aud. poet. 31A; vgl. san. tu. 123B f.). Tritt m a n dem Affekt nicht entgegen, so entstehen έξεις πονηραί, der geringste Anlaß weckt den Affekt, m a n stürzt sich, gar nicht einmal freien Willens, selbst έπί. τά οικεία καΐ συνήθη : so geht es also auch den όργίλοι (q.c. 682 C f.). Der Zornige ist abstoßend (q.c. 673 F f.), einen lautlosen Zorn gibt es nicht (an vit. 498E), Zorn m a c h t einsam (Aem. Paul. 23,3). Besonders der Wein ist geeignet, die Seele zum Zorn bereit zu machen (ad. et am. 68D). Der Zorn ist ein P r o d u k t von άσθένεια u n d μαλακία (Coriol. 15,3f.). Agesilaos sagte, Tapferkeit sei mit Gerechtigkeit verbunden (Ages. 23,5); große, tapfere Feldherrn u n d weise Männer zeichnen sich durch Milde u n d Selbstbeherrschung aus (Sertor. 18,6; Phok. 29,2; Perikl. 5 , 2 f . ; 28,4f.; 34,1; 39,1; F a b . M a x . 24,1 f.; Crass. 8, 2; Tib.Gr. 10,4; Dion 47,1). T. Flamininus neigte zwar zum Zorn, aber er war auch leicht wieder zu besänftigen (Flam. 1, If.). Der Schmeichler stellt die πραότης seines Opfers heraus u n d meint, ihm damit gefällig zu sein (ad. et am. 57 E). Zorn ist destruktiv (Synkr.Alk. — Coriol. 2,2ff.), zur άμυνα ungeeignet (Pelop. 32,5ff.; Ages. 28, Iff. ; Alex. 16,7), den θυμός Tapferkeit zu nennen ist falsch (an. an corp. 501 Β). Die Spartaner zügeln den Zorn, indem sie unter Flötenmusik zur Schlacht ziehen u n d die Verfolgung begrenzen (Lyk. 22,3ff.). Der Zorn f ü h r t sogar direkt ins Verderben (cap. ex inim. u t . 90B f.; Rom. 8,4ff.; Alex. 50f., bes. 51,6; frg. 148 Sandb.). Beim Strafen sollte m a n S a n f t m u t üben : gerade an den Sklaven k a n n m a n sie lernen (CMa5); in früher Zeit strafte m a n Sklaven sehr milde (Coriol. 24,4f.). Besonnenheit beim Strafen f ü h r t zum eigenen Gewinn (Rom. 7,3ff. ; Lyk. 11), m a n bediene sich also der πραότης θεοΰ (s.n.v. 5 5 0 F ff.) u n d nehme sich Piaton zum Vorbild (adv. Colot. 1108A) oder auch P y r r h u s (Pyrrh. 8,5). Von der humorvollen Bestrafung eines Dieners durch Claudius hören wir Galb. 12,2 f. Die E n t stehung des Zorns aus der δόξα τοϋ καταφρονεισθαι zeigt conv. V I I sap. 148 E f. μεγαλοφροσύνη aber besteht im φέρειν πράως σκώμματα u.dgl. (aud.poet. 35D, vgl. F a b . M a x . 10,11 ; t r . a n . 471B). De soll. an. 959F f. ist von den Pythagoreern berichtet, sie h ä t t e n Freundlichkeit gegenüber Tieren empfohlen als Ü b u n g der Philanthropie. Die μισοπονηρία, nach c.i. 16 ein immerhin akzeptabler Anlaß f ü r den Zorn, gehört nach inv. et od. 537 D zu den έπαινούμενα, oft aber stellt sie sich als Vorwand vor die φιλαυτία (tr. an. 468E). — E s lassen sich auch positive Urteile über den Zorn, der aus δόξα τοϋ καταφρονεΐσθαι entsteht, nachweisen. Synkr.Thes.-Rom. 3,1 ist gesagt, daß die Größe des Anlasses die Entschuldbarkeit des Zorns b e s t i m m t ; angespielt ist auf Theseus' Verhalten gegenüber Hippolytos u n d Romulus' Mord a n Remus. W e n n wir hier voraussetzen dürfen, d a ß Plutarch seine Worte von R o m . 10,1 noch in Erinnerung h a t , m i t denen er den Spott des Remus auf das Werk des Bruders hervorhebt, d a n n h ä t t e n wir d a m i t eine ausdrückliche Anerkennung des Zorns aus δόξα τοϋ καταφρονεΐσθαι nachgewiesen. W a s das besondere Verhältnis Zorn/Tapferkeit/Gerechtigkeit
80
angeht, so findet sich virt.mor. 451E die Bemerkung, der Zorn gehöre zur Tapferkeit, die μισοπονηρία zur Gerechtigkeit. Der allzu große Zorn im Kampf ist verzeihlich (Synkr.Pelop. •—• Marc. 3,2, wo es u . a . heißt: πρός τήν άμυναν ουκ άγεννώς έκφέρων ό θυμός . . ., vgl. ferner Coriol. 3 0 , I f . ; Pyrrh. 24,2f.; 30,5f.; Sertor. 21,2; Otho 12,4). Das Gegenteil der Äußerung, die Tapferkeit sei durch den λόγος gehärtet oder gefärbt (βέβαπται), liest man Pyrrh. 22,6 : . . . καΐ τόν "Ομηρον ϊδειξεν èp-9-ώς καΐ μετ' έμπειρίας άποφαίνοντα των αρετών μόνην τήν άνδρείαν φοράς πολλάκις ενθουσιώδεις καΐ μανικάς φερομένην . . . An der c.i. 457 Β dem Kranken vorgehaltenen Behauptung, die für schwach gehaltene Frau sei jähzorniger als der Mann, läßt besonders coni.praec. 143 C zweifeln. Was schließlich den für Plutarchs Heilungsvorstellungen wichtigen Satz, der Zorn beginne langsam, angeht, so ist aus der nur in wenigen Fragmenten erhaltenen Schrift über den έρως (frg. 137 Sandb.) das genaue Gegenteil zu ersehen: ó έρως ουτε τήν γένεσιν έξαίφνης λαμβάνει καΐ άθρόαν ώς δ θυμός . . . άλλ' έξάπτεται μαλακώς. Schwatzhafte Menschen sind nicht viel wert; als solches Gesindel zu den Feinden überlief, ließ Phokion es geschehen mit der Bemerkung, daß sie die Kämpfenden nur behindern würden (Phok. 12,3); Aemilius Paulus verwies seinen Soldaten die Geschwätzigkeit auf überlegene Weise nach Galba 1,2; die Tyrannen Gelon, Hieron und Peisistratos haben nach s.n.v. 551 F f. ihren Untertanen das Schwätzen abgewöhnt und damit etwas Gutes getan. Aber als Marcellus getadelt wurde, die Stadt u . a . mit λαλιά περί τεχνών angefüllt zu haben, war der gerade stolz darauf, weil er diese λαλιά anders wertete (Marc. 21,4f.); immerhin scheint auch einigen Menschen die Geschwätzigkeit wohl anzustehen, so dem Alkibiades, bei dem sie mit einem anmutigen Lispeln verbunden war (Alk. 1,4). Über die Wichtigkeit des Hörenkönnens für junge Menschen spricht Plutarch de aud. 37 F ff. Die άρετή gelangt nur über die Ohren in die Seele (was Cato zu einer eigenwilligen Äußerung veranlaßt: CMa 8,1); falsche λόγοι, aber auch das Ausbleiben jeglicher λόγοι sind gefährlich. Übel ist das Reden, bevor man gehört hat (38E); wer dies tut, dem entfällt der λόγος: άκλειής άίδηλος ύπαΐ νεφέεσσι κεδάσθη (F). Zweimal erscheint das άγγεΐα-Bild in diesem Zusammenhang (38F, 39A). Am Schluß steht die Erziehungsmaxime, daß Kinder πολλά άκούειν, μή πολλά λέγειν sollen. Schon die Natur habe dafür ein Zeichen gegeben: der Mensch besitze zwei Ohren, aber nur eine Zunge (39B). Die Parallelität zu g. 1 ist nicht zu übersehen: das Material ist dasselbe, das Thema verschieden. Zur Wirkung des Gehörten auf die Seele ist noch Crass. 23, 7 zu vergleichen. Die Ähnlichkeit des Anfanges von g. mit dem von de aud. wird noch augenfälliger, wenn an das oben paraphrasierte Stück sich der R a t zu schweigen anschließt (vgl. g. 2 in.) : πανταχού μέν οδν τ φ νέω κόσμος άσφαλής έστιν ή σιωπή, μάλιστα δ' δταν άκούων έτέρου μή συνταράττηται (39Β). Wie es Schwätzern ergeht, zeigt sich, ganz im Sinne von g. 2, ad. et am. 58 D f., wo Megabyzos, der sich bei Apelles über γραμμή und σκιά verbreiten will, eine Abfuhr erhält; dieselbe Geschichte tr.an. 472A. Wie am Schluß von g. 2 erfahren wir auch zur Erklärung der lykurgischen Erziehung zur Schweigsamkeit (Lyk. 19,1 f.): ώς . . . τό σπέρμα τών πρός τάς συνουσίας άκολάστων δγονον ώς τά πολλά καΐ όίκαρπόν έστιν, οΰτως ή πρός τό λαλεΐν άκρασία κενόν τόν λόγον ποιεί και άνόητον. Aud. poet. 21Α wird anerkennend Sophokles zitiert: ούκ έξάγουσι καρπόν οί ψευδείς λόγοι. Anders als zu Anfang von g. 3 wird allerdings cap. ex inim. ut. 90B die Beherrschung der Zunge als schwer bezeichnet. Wie häßlich der Trunk in den Augen der Spartaner war, erfahren wir Lyk. 28,4; die Gefährlichkeit eines in der μέθη geäußerten Wortes wird allgemein ad. et am. 68 D erwähnt. Wohin ein solches Wort führen kann, zeigt sich etwa Alex. 9,4f., 50f. ; Artax. 15f. Vorfälle dieser Art lassen Plutarch aber nicht zu einem Verfechter des Essens bei völliger Schweigsamkeit werden: σιωπώντες μέν γάρ έμπίμπλασθαι μετ' αλλήλων
81
κομιδη συωδες καΐ ίσως αδύνατον (q.c. 716Ε), das Symposion ist sogar als κοινωνία . . . καΐ σπουδής και παιδιας καΐ λόγων καΐ πράξεων definiert (q.c. 708 D). Beim Mahl h a t Heiterkeit zu herrschen (ad. et am. 68 D ) ; παιδιά, τράπεζα, οίνος u n d γέλως u n d gar φλύαρος gehören als die ήδύσματα zum gemeinsamen Leben der Freunde (ib. 54F). Eumenes verstand es, durch seine Tafel u n d seine dortigen freundlichen Gespräche eine Belagerung angenehmer zu machen (Bum. 11,1), Kallisthenes machte sich Feinde, weil er beim Mahl schwieg (Alex. 53,2). Es bedarf genauer Regeln für die Gespräche bei Tisch; so wird q.c. V I I 8 die Frage behandelt: τίσι μάλιστα χρηστέον άκροάμασι παρά δεΐπνον. Das wichtigste ήδυσμα eines Mahles ist der Freund, nicht insofern er mitißt, sondern a m λόγος teilnimmt, äv γε δή χρήσιμον ένη τι καΐ πιθανόν καΐ οίκειον τοις λεγομένοις, die άδολεσχία allerdings erfährt eine scharfe A b f u h r (q.c. 697D f.). Es gilt das W o r t des Simonides (q.c. 644F), der, als er einen beim Wein schweigen sah, sagte, wenn er ein Tor sei, tue er etwas Weises, sei er aber ein Weiser, etwas Törichtes. Wie locker die Zügel gelassen werden konnten, beweist q.c. I I 1, wo Plutarch Vorschriften über das rechte Spotten beim Gastmahl erteilt. Dies k a n n er nach q.c. 716A getrost tun, wo es heißt, daß der Wein nicht κινεί . . . τά φαυλότατα (sc. πάθη) πλήν έν τοις κακίστοις, dort allerdings herrscht eine ständige αοινος μέθη. Das φιλάνθρωπον des λόγος hebt Plutarch öfters heraus: aud. poet. 33F, max.c.princ. 777C; vgl. auch de aud. 39E/F, Kleom. 13,4f.; er berichtet aber auch immer wieder von der Gefährlichkeit harter, unbedachter Äußerungen, die o f t sogar zum Tod führen (ad. et am. 68 A f. ; cap. ex inim. u t . 8 9 E / F ; Alex. fort. 339 E f., wo das Alex. 49 dargestellte E n d e des Philotas allerdings nur angedeut e t ist; a d princ. inerud. 782C; Pyrrh. 5,5 — hier die in g. nicht in Betracht gezogene Möglichkeit, belauscht zu werden — ; Crass. 29,2 ff. ; E u m . 2,1 f. Die Cicerovita insgesamt h a t nicht wenig von einer Lehrschrift über die Gefahren des zügellosen Wortes an sich. Immer wieder sind es nach Plutarchs Darstellung, s. bes. Kap.24ff., auch 48,4, die beißenden Worte Ciceros, die ihm Feindschaften eintragen, denen er a m E n d e sein Unglück verdankt. v.Cic. 18,4 ist ein weiteres, nicht der Cicerocharakterisierung dienendes Beispiel f ü r die Gefährlichkeit des unbedachten Wortes beim Wein. D a n n Demetr. 24,5; Brut. 15,2; Artax. 14,2 u. 4; Arat45,2). Aber auch große, besonnene Männer begeben sich zuweilen durch freimütige Äußerungen in Gefahr, mit vollem Wissen, dürfen wir voraussetzen: so Piaton Dion 5,1. Es ist d a n n auch nicht verwunderlich, daß bei Plutarch mehrere Berichte von der Bewunderung oder Belohnung dreister Bemerkungen gegen Hochgestellte zu finden sind: Pelop. 28,3 u. 5; Pyrrh. 20,4f.; P o m p . 10,6f. ; 14,3; Demetr. 42,3f. ; Anton. 24,5f., überhaupt bei Antonius άντισκώψαι έξήν nach 24,7; Dion 21,4f. ; von dergleichen hören wir nichts in g. Die aus g. 7 bekannten Geschichten von der Eroberung Athens durch Sulla (Gefahr durch Schimpfreden) findet m a n wieder Sulla 14,1 ; 6,12; 13,1, wonach nur der Tyrann Aristion Sulla u n d Metella beschimpft ; zur Gefährlichkeit von Beschimpfungen s. noch cap. ex inim. u t . 90Af., Timol. 32, wo wir eine kurze Erörterung zum Thema vorfinden, Alex. 42,2 ; Otho 6,1 f. Aber auch Schimpfreden bleiben manchmal ohne Schaden, wie sich Pomp. 60,4 f. zeigt, mit einer A b f u h r k o m m t ein λοιδορών CMa 9,7 davon, über die Methode der richtigen λοιδορία handelt cap. ex inim. u t . 88 E ff. Wichtigkeit u n d Erhabenheit des Schweigens heben hervor de aud. 39B/C (vgl. virt. mor. 442D f. zu des Odysseus Selbstbeherrschung); de ex. 606A, Ages. 39,2ff. ; zur Pittakosanekdote s. noch conv. V I I sap. 146F; frg. 89 Sandb., auch de Is. 378Cf. D a ß auch Schweigen übel aufgenommen werden kann, lehrt allerdings de aud. 44A/B, το άγεννες . . · σιωπαν ποιεί heißt es de ex. 6 0 6 D ; vgl. auch adv. Colot. 1108B f. Zu g. 9 gehört coni.praec. 142 D, vgl. CMa 7,2, die Antigonos- u n d die Eumenesanekdote erscheinen wieder Demetr. 28,5; E u m . 6,3 ff. Wie sich Gerüchte entwickeln, zeigt
82
Alex. 48,4ff., auch CMi 59,1 wird die Eigenschaft des Gerüchts, sich ständig zu vergrößern, erwähnt ; die Lehre, daß ein einem anderen mitgeteiltes Geheimnis keines mehr ist, läßt sich auch aus Eum. 3,4ff. gewinnen. Daß Gerüchte aber auch wohl göttlichen Ursprung haben können, entnimmt man Aem.Paul. 24f. Plutarch hat wohl die Frauen für besonders schlimme Plaudertaschen gehalten (g. 507C), sie scheinen leidenschaftlich gern Gerüchte in die Welt zu setzen; seine Anschauung teilten der ältere Cato (CMa 9,6) und, bei aller Hochachtung vor seiner Frau, auch Brutus (Brut. 13ff.). Die Philippidesanekdote wird auch Demetr. 12,5 erzählt, zur Schwätzerei in den Friseursalons vgl. q. c. 679A, 716A, zur Meldung der sizilischen Katastrophe in Athen Nik. 30, zur Häßlichkeit des Verrats frg. 119 Sandb. Stobaios überliefert ein kleines Stück aus Plutarch zur pythagoreischen und homerischen έχεμυθία (frg. 207 Sandb.). Das Verhältnis von σιγή und λαλιά in der Philosophie behandelt prof, in virt. 81E. Lyk. 19 f. findet sich das Lob der βραχυλογία, dann auch Phok. 5,2 ff. ; CMi. 4,2 ff. ; Demetr. 42,2. Die Empfehlung, nach einer Problemstellung eine kurze Pause eintreten zu lassen, scheint im Kreis Plutarchs stets beherzigt worden zu sein (non posse 1100 E). Wenn g. 22 gesagt ist, daß vor allem Soldaten gern über sich selbst reden und Nestor als Beispiel herangezogen wird, dann erinnert man sich sowohl an die Periautologia Alexanders (Alex. 23, lf.) als auch an die Verachtung, der der schwatzende Greis nach an seni 788B begegnet. Das Simonideszitat von g. 23 schließlich findet sich in anderem Zusammenhang san. tu. 125 D. Neugierig ist der Schmeichler, der das πολύπραγμον wie Fangarme in δωμάτια und die γυναικωνΐτις ausstreckt (ad. et am. 61D). Derjenige, der alles Fremde ausspioniert, ist seinen Feinden nützlich (cap. ex inim. ut. 87Β f.). Freunde sind nicht übereifrig, sie übersehen viel (ad. et am. 62 D). In der Trostschrift an seine Frau empfiehlt Plutarch, nicht immer das Üble, Häßliche zu suchen (611B/C); leider haben viele junge Menschen nur Sinn für derartiges (de aud. 38F f.). Wer sich in fremde Angelegenheiten einmischt, erfährt eine entsprechende Behandlung, die von einer verächtlichen oder ernsten Abfuhr bis zum Haß reichen kann: s. Galba 1, 2; frat. am. 490C; an seni 793D f. Man fürchtet den neugierigen Schmeichler (ad. et am. 50 E), der πάντα πράγματα ζητεί (ib. 53F f.); πάντα πολυπραγμονεΐν ist sogar für den Freund abzulehnen, der dem anderen einmal die Meinung sagen zu müssen meint (ib. 73B). Richtig verhielt sich Philippides (Demetr. 12,5), falsches Verhalten kann zum Untergang führen (Crass. 4,3). Allerdings gibt es Fälle, in denen Neugier nicht geschadet hätte, sogar ihr Fehlen den Tod herbeiführte: so öffnet der Thebaner Archias einen gar an ihn gerichteten Brief nicht und wird umgebracht (Pelop. 10,3f.), auch Lysander wäre ein wenig Neugier vorteilhaft gewesen (Lys. 20,2-4). Zum c. 11 hervorgehobenen Verhältnis von der πολυπραγμοσύνη zur φιλομάθεια äußert sich Plutarch auch Perikl. 1,2: Wo die Seele ein φιλομαθές besitze, verdiene der Tadel, der es falsch auf Unwertes anwendet, das Erhabene und Nützliche aber nicht beachtet. Ähnliches liest man non posse 1093 Β f. Von der Zurückhaltung des Kyros und des Alexander berichten Alex. 22,2f., auch Alex, fort. 338 D ; aud. poet. 31C; die Regel, sich von Erlaubtem fernzuhalten, als Übung für das Vermeiden des Unerlaubten, ist gen.Socr. 585Α-C ausgeführt; sie könnte durch das Verhalten des Flaminius veranschaulicht werden, der den brieflichen Befehl, sein Amt niederzulegen, nicht liest und in der bald folgenden Schlacht siegreich ist. Er bekommt zwar die verletzte Eitelkeit seiner Mitbürger zu spüren, erhält aber doch einen Triumph (Marc. 4,2). In einem Atemzug nennt de ex. 603F Sykophanten und Neugierige; den Haß gegen Spitzel und Schnüffler demonstrieren Dion 28,1 und Galba 8,5. Die δυσωπία ist eine sehr spezielle Krankheit. Sie besteht in dem Zwang, aus Scham Bitten zu erfüllen. Da es nun zahlreiche andere Gründe zum Nach83
geben gibt, bleiben uns als Belegstellen nur die, an denen αιδώς als Anlaß der Willfährigkeit bezeichnet ist oder aus dem Zusammenhang deutlich wird. Ganz klar kommt unser πάθος und seine Fehlerhaftigkeit Brut. 6,5 heraus: . . . πρός δέ τάς άδικους δεήσεις άκολάκευτος ήν, καί τήν ΰπό των άναισχύντως λιπαρούντων ήτταν, ήν ϊνιοι δυσωπεΐσθαι καλοϋσιν, αίσχίστην άνδρί μεγάλω ποιούμενος είώ&ει λέγειν ώς οί μηδέν άρνεϊσθαι δυνάμενοι δοκοϋσιν αύτω μή καλώς τήν ώραν διατεθεϊσ&αι, ebenso san.tu. 124Aff. : . . . δν δέ τοιαϋταί τίνες δφνω βαρείς βντας ημάς καί διακειμένους φαύλως άνάγκαι καταλάβωσιν ήγεμόνων καλούντων ή ξένων έπιφανέντων υπ' αίδοϋς βαδίζειν εις ταύτό τοις Ικανώς έχουσι καί συμπίνειν, ένταΰθα μάλιστα δει παρατετάχθαι πρός „τήν μέγα σινομένην άνδρας αιδώ" καί δυσωπίαν . . . Pompeius war ein Mann, der gern alle Wünsche erfüllte (Pomp. 1,3), sogar in entscheidenden Augenblicken zu seinem eigenen Nachteil anderen aus Weichheit und Feigheit nachzugeben imstande war (Synkr. Ages.-Pomp. 4,2); seine αιδώς war die Ursache eines großen Schadens für die Römer (ib. 1,4). Plutarch dachte dabei an jenes verhängnisvolle Nachgeben, das zur Schlacht bei Pharsalus führte. Pompeius hatte nämlich beschlossen, Caesar zu zermürben (67,1), aber durch dauerndes Zusetzen gelang es den Gegnern dieses Planes, daß sie άνδρα δόξης ήττονα καί της πρός τούς φίλους αίδοϋς (67,4) dazu brachten, seine richtigen Vorstellungen über Bord zu werfen. Die Gefährlichkeit der δυσωπία belegt zudem mul.virt. 257Bf. Ein εύδυσώπητος ist auch Agesilaos, dessen Nachgiebigkeit auch Xenophon mit einem Satz andeutet (Xenoph. Ages. 11,12); Plutarch begründet dies Verhalten: ουδέν . . . ώετο των φιλικών ύπουργημάτων αίσχρόν είναι (Ages. 5,1 f.) ; offensichtlich also hätte Agesilaos die Ablehnung einer Freundesbitte aus αιδώς vermieden. Auch Tiberius Gracchus gibt zwei gewesenen Konsuln, die ihn mit Bitten bestürmen, δι' αιδώ Gelegenheit, ihm ihren Rat zu geben, und nach heftigem Zusetzen erreichen diese es, ihn zu überreden (Tib. Gr. 11, lf.). Ein Mann mit vielen Zügen eines εύδυσώπητος war Nikias (s. Nik. 4,3). Richtiges Verhalten besteht in Ruhe und Nüchternheit auch angesichts von ϊνδοξοι (prof, in virt. 85 C), in Furchtlosigkeit vor Tadel, wie sie z.B. Fabius Maximus (Fab. 10,1 f.) — im Gegensatz zu Marius (Mar. 28,1 f.) •— auszeichnete oder Antigonos Doson (Kleom. 25,6). Denn man muß das Schimpfliche fliehen; jeden Schimpf aber zu fürchten beweist zwar ein humanes Gemüt, aber nicht Seelengröße (Synkr. Aem. Paul.-Timol. 2,6). Nichtsdestoweniger kann in einer großen Seele, die auch von unverschämten Bitten nicht beeindruckt werden kann, viel Platz für weiche, zärtliche Gefühle sein, wie der Charakter des jüngeren Cato beweist (CMi 11,3). Unverschämte, gefährliche und törichte Bitten lehnten ohne jede falsche Scham ab Agesilaos (Ages. 12,2f.), Metellus (Sertor. 13,3f.) und besonders Phokion (Phok. 9, Iff.). Die aus v.p. 10 und 15 bekannten Anekdoten von Phokion und Themistokles finden sich Phok. 30,1 und Themist. 5,4. Daß die Freiheit von der δυσωπία zu weit gehen kann, deutet Plutarch v.p. 15 durch die Wertung des Verhaltens des jüngeren Cato an (vgl. auch CMi 16,4-5). Cinna ist in einer komplizierten Lage. Sertorius rät ihm dringend ab, Marius auf dessen Bitten hin aufzunehmen, aber er, Cinna, selbst hatte Marius gerufen. Als er dies Sertorius mitteilt, stellt dieser die kühlen Erwägungen zu Vor- und Nachteilen zurück und fordert Cinna auf, seiner αιδώς gegenüber Marius zu folgen (Sertor. 5,2f.). Ganz Ähnliches lesen wir ad. et am. 62Af. Die beiden Feldherrn aus Plutarchs Galerie, die dem Typ des εύδυσώπητος am nächsten verwandt sind, Nikias und Pompeius, sind beide sehr beliebt, Nikias aufgrund seiner die δυσωπία umfassenden Schüchternheit, die man als Zeichen einer volksfreundlichen Gesinnung auslegte, Pompeius nach Plutarch u.a. gerade wegen seiner Willfährigkeit. Arat verhielt sich nicht gut, als er auf dringendes Zureden die Feldherrnwürde ablehnte, zu einer Zeit, wo es auf ihn ankam
84
(Kleom. 15,1); zuviel Hartnäckigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Tadel ist abzulehnen: demnach müßte vor allem Hyperbolos verurteilt werden (vgl. Alk. 13,3). Das Verhalten ganz nach v.p. 6 kann gefährlich werden. Alexander, so hört man Alex. 23,4, war ein glänzender Gesellschafter, konnte aber beim Trunk in Großsprechereien verfallen und sein Ohr Schmeichlern öffnen, was den Besseren unter seinen Tischgenossen Kopfschmerzen verursachte, denn sie wollten weder gegen die Schmeichler antreten noch auch im Loben zurückstehen; das eine schien schimpflich, das andere gefährlich. Also gerade die Kategorie „Gefahr", mit der Plutarch vom πάθος heilen will, bietet sich hier an, energisch zu dessen Gunsten zu sprechen. Sache des Weisen ist Bescheidenheit (prof, in virt. 81C/D). Selbstlob ist oft lächerlich (Sertor. 22,2f.), eine Sache von und für Soldaten (Alex. 23,4; Anton. 4,2), allerdings gibt es Feldherren, die völlig frei davon sind (Nik. 6,2f.). Parvenus neigen dazu (Sulla 3,4) und werden entsprechend abgefertigt (ib. 1,2), Leute eines gewissen Alters (Alter entscheidend für das Recht zum Selbstlob: Lyk. 21, lf.) und Charakters sollen Abstand davon nehmen (Crass. 16,1). Der ältere Cato nannte das Selbstlob άτοπον (Synkr. CMa-Aristid. 5,2), war allerdings nicht frei davon (CMa. 14,2); vielleicht aber hatte er ein Recht dazu, jedenfalls will Plutarch ihn nicht tadeln (Synkr. CMa-Aristid. 5,2). Wie unangenehm das Selbstlob ist, merkt man daran, daß anderen sogar das Lob der eigenen Söhne lästig wird (frat. am. 492 C). Ein Bürger sollte sich nicht loben lassen, wenn es nicht zum Nutzen geschieht, meinte Cato (CMa 19,5), aber dies Kriterium ist nicht geeignet, einen geradlinigen Weg zu weisen, wie etwa Mar. 9,3 f. zeigt. Das Selbstlob gleicht dem Endzustand des Hungers (non posse llOOB). Eine Anzahl von Beispielen, die in l.i. verwendet sind und ihnen nah verwandte finden sich auch in den übrigen Schriften, l.i. 4: zu Ciceros περιαυτολογία vgl. Cie. 24 u.ö.; Synkr. Cic.-Demosth. 2,1; l.i. 5: Phok. 36,2f.; l.i. 6: das Beispiel eines durch Verleumdung zu lästigem Selbstlob angeregten Menschen bietet Themistokles (Themist. 22,1); l.i. 8: Synkr. Nik.-Crass. 1,3; l.i. 11: Timol. 36,3; Sulla 6,4; l.i. 12: Perikl. 38,3f.; l.i. 15: L y k . 2 1 , l f . ; l.i. 16: prof, in virt. 78 D f . ; tr.an. 472E ; Pelop. 2,2; l.i. 17: prof, in virt. 78E ; Phok. 23,1. Berechtigtes Selbstlob finden wir (neben dem, was oben schon zur Sprache kam) bei Lukull (Luc. 9,2; s. dazu auch 13,4); aus taktischen Gründen lobt sich Sertorius (Pomp. 18,1). Wenn es Agis 2,1 heißt, auch jungen Männern sei das Eigenlob nicht zu verbieten (die Begründving liefert Theophrast ; Plutarch warnt allerdings vor Übermaß), so entfernt sich dies vom l.i. gezeichneten Bild. Einen noch größeren Abstand davon haben solche Stellen, an denen auf die auch gar nicht unwahrscheinliche Todesgefahr manchen Selbstlobs hingewiesen ist, so die (g. 508F), die vom Schicksal des syrakusanischen Friseurs berichtet. Vor allem ist die Behandlung der Philotasepisode im Leben Alexanders (48f.) interessant: Philotas wird als Verschwörer hingerichtet; das Mißtrauen gegen sich aber hat er durch sein arrogantes Benehmen und besonders seine Großsprechereien hervorgerufen.
Es ist zu fragen, warum in l.i. nicht mit dem Tod gedroht wird, wo er doch sonst stets Heilmittel ist und in l.i. möglich wäre18. Hängt dies mit dem Bild, das Plutarch sich eigens für 1. i. vom Selbstlob machte, zusammen? 18 Das „Zurücktreten" der inneren Schäden in g. war zwar deutlich, aber immerhin bleibt es als Kriterium unsicher ; schließlich ließen sich innere Schäden feststellen.
85
Gehen wir von der Voraussetzung aus, daß der Tod das schärfste Heilmittel ist, was nach unseren Ausführungen von S. 75 naheliegt, so müßte das Selbstlob das harmloseste von Plutarch behandelte πάθος sein. In der Tat wird seine Harmlosigkeit Kap. 22 eigens betont, und die Hinweise zu seiner nützlichen oder unanstößigen Verwendung, die mehr Platz als die αίσχϋναι und βλάβαι einnehmen, tun das Ihre, das Bild der περιαυτολογία im Unterschied zu den sonstigen falschen Verhaltensformen zu heben. Allerdings ist zu prüfen, ob in den übrigen Schriften Todestherapie und πάθος-Bild nach dem gleichen Gesichtspunkt korrespondieren. Das übelste πάθος, über das Plutarch nichts Gutes — wie sonst allerdings stets — zu sagen hat, ist der Zorn aus δόξα του καταφρονεΐσθαι. Hier müßte der Tod besonders deutlich herausgestellt sein. Das Gegenteil ist der Fall : Es erfolgt nur eine präteritorische Bemerkung. Es findet sich sodann ein πάθος, dessen gute Seiten Plutarch ausdrücklich rühmt und das er vorsichtig zu heilen empfiehlt, nicht mit scharfen Kuren, wie sie üblen Krankheiten gebühren: δυσωπία. In v. p. 4 wird dem Kranken die Todesgefahr aber nicht gerade schonend vor Augen geführt. Dieser Sachverhalt, daß keine nachweisliche Regel zur generellen Bestimmung des Verhältnisses von πάθος-Bild und Todestherapie besteht, läßt in der Hauptsache folgende Schlüsse zu: a) Unter der Voraussetzung, daß der Tod als schärfstes Heilmittel angesehen wird, findet sich in einigen Schriften die Proportion: je übler/harmloser das πάθος, desto stärker/schwächer die Todestherapie, in anderen nicht. Möglicherweise liegt hier eine Entwicklung Plutarchs vor, die von c.i. und v.p. einerseits zu l.i. und wohl auch g. andererseits führte, b) Es läßt sich keine Entwicklung feststellen, weil die uns beschäftigenden Verhältnisse in den Schriften zufällig sind. Geht man davon aus, so ergeben sich wieder zwei naheliegende Möglichkeiten: α) Die Zufälligkeit in dem einen Punkt, der Todestherapie, läßt darauf schließen, daß Plutarch an der Methode überhaupt nicht interessiert war. ß) Das Desinteresse erstreckt sich nur auf die hier besprochene Relation Therapie — πάθος-Bild; Plutarch interessiert sich für die Methode unabhängig vom πάθος-Bild. Dann treten zusammen 1. i. und c.i., v.p. und c. mit mehr und g. mit starker Anwendung der Todestherapie. Die Möglichkeit (c), daß Plutarch die Voraussetzung, die Todesdrohung sei das stärkste Heilmittel, nicht anerkannte, besteht, aber es dürfte kaum mit ihr zu rechnen sein. Wir kommen hier mit unsern Mitteln nicht weiter. Vorerst ist mit dem Ergebnis, daß in l.i. der Tod im Unterschied zu allen übrigen Schriften fehlt 19 , das Mögliche erreicht. Ein genaueres Ergebnis bietet sich vielleicht auf einem späteren Stand der Untersuchung an. 19 Wenn o.d. eine fragmentarische Seelenheilungsschrift im engen Sinn war (vgl. S. 7 Anm. 1), so wäre sie l.i. in dieser Hinsicht verwandt. Der ganze erste
86
b) Welche Affekte wurden als Heilmittel verwandt? Der Schaden, als sinnfällige Form des κακόν, verursacht Furcht 20 . Die Schande erzeugt Scham, die nichts als Furcht vor Schande ist 21 . Die Furcht vor der Strafe in irgendeiner Form 22 trifft man als Erziehungsmittel überall an. Aristoteles drückt die Begründung dafür aus: οί γάρ πολλοί άνάγκγ) μάλλον ή λόγω πεοθαρχοΰσι και ζημίοας ή τω καλώ . . · 2 3 , Piaton spricht in der Einleitung zu den Gesetzen über Schwerverbrechen vom νομοθετεΐν προκαταλαμβάνοντα και άπειλοϋντα24, auch ein Bestrafter diene zur Abschreckung anderer 25 , was sich für Piaton durchaus mit der Vorstellung vereinigen läßt, die Bestrafung diene der Besserung des Delinquenten26. Am besten vermittelt Cicero, Tusc. IV 29 (62), eine Vorstellung von der Häufigkeit der Methode: quare omnium philosophorum . . . una ratio est medendi, ut nihil, Teil ist auf die Erbärmlichkeit von Baders Esel, der das Holz bringt und den Rauch und die Asche, aber nie ein Bad abkriegt (525E), gemünzt, es fehlen auch schärfere Töne nicht, die die Habgier als eine des καθαρμός bedürftige άπληστία (524C) bloßstellen; der kürzere zweite Teil (Kap. 8ff.) behandelt die Nutzlosigkeit des Reichtums, wenn man sich doch nur dessen bedient, wessen man bedarf, und geht gegen ihn vor, wenn er ein Leben im Luxus ermöglichen soll —: all das wird natürlich den echten Geizhals nicht rühren. Einmal wird ein schärferer Ton laut, nämlich 523Ff., wo es von denen, die leihen, um sich überflüssige Dinge zu beschaffen, heißt, sie verlören am Ende auch das Nötige. Aber dieser ganze Abschnitt wird an seinem Ende deutlich als Exkurs gekennzeichnet: ούτοι (sc. die Schuldenmacher) μέν ούν τοιούτοι, τούς δέ μηδέν αποβάλλοντας, έχοντας δέ πολλά πλειόνων δ' άεΐ δεομένους . . . geht es dann antithetisch mit den echten habgierigen Geizkrägen weiter. Wieviel Material aber hätte Plutarch sich beschaffen können, um in der Art etwa von g. dem Kranken seine Leidenschaft zu verekeln! „Es genügt" (so R. v. Pöhlmann, Geschichte der sozialen Fragen und des Sozialismus in der antiken Welt I, München 31925, hrsg. v. F. Oertel, 253) „. . . unter Umständen die bloße Tatsache, daß man Geld hat, um als Volksfeind verdächtigt zu werden" — was natürlich nicht nur für die athenische Demokratie gilt, wo „Demagogen und Sykophanten . . . geflissentlich das Mißtrauen gegen Reichtum und die Furcht vor den Gefahren (sc. nährten), die dem Volksinteresse — sei es wirklich oder angeblich —• von dieser feindlichen Macht drohten" (a.a.O. 254). Daß schon mancher dem ihm schon eigenen Reichtum oder der Habgier seinen Untergang verdankt, ist zu offenkundig, als daß es vieler Belege bedürfte; vgl. nur in Euripides' Hekabe das Schicksal Polymestors (998ff.), der selbst Hekabes Sohn seines Geldes wegen umgebracht hatte (709ff.) und Hör. sat. I 1, 74ff., bes. 92-100. 20 Siehe z.B. Plat. Lgg. 646E: φοβούμεθα μέν που τά κακά, προσδοκώντες γενήσεσθαι . . ., auch Aristot. Rhet. 1382a 21f., SVF III 98,33. 21 Siehe wiederum Plat. Lgg. 646 Ε : φοβούμεθα δέ γε πολλάκις δόξαν ήγούμενοι δοξάζεσθαι κακοί πράττοντες ή λέγοντές τι των μή καλών" δν δή καλοϋμεν τόν φόβον ήμεϊς γε, οίμαι δέ καί πάντες, αίσχύνην, auch Aristot. ΕΝ 1128 b 11, SVF III 98,35. 22 ζημία = Schaden, Gegensatz ist κέρδος Plat. Lgg. 835B, Aristot. EN 1132 b 12. 23 EN 1180 a 4f. 24 Lgg. 853 B. 25 Ib. 854 E f. 26 Ib. 854 D f.
87
quale sit illud, quod perturbet animum, sed de ipsa sit p e r t u r b a t a n e dicendum. itaque primum in ipsa cupiditate, cum id solum agi tur, u t ea tollatur, non est quaerendum, bonum illud necne sit, quod lubidinem moveat, sed lubido ipsa tollenda est, ut, sive, quod honestum est, id sit summum bonum, sive voluptas sive horum utrumque coniunctum sive tria illa genera bonorum, tarnen, etiamsi virtutis ipsius vehementior adpetitus sit, eadem sit omnibus ad deterrendum adhibenda oratio. Dieser Abschnitt ist unter die Stoikerfragmente aufgenommen worden 2 7 ; es ist bekannt, daß Chrysipp, dessen höchstes Ziel der Nachweis der άλογία des πάθος war, in seiner Seelenheilung sehr weitherzig war und seine Mittel auch am Erfolg orientierte 28 . I m Methodenkapitel g. 16 nun nannte Plutarch als nächstes Ziel seiner Heilung das δυσχεραίνει des Kranken über das πάθος. Dies braucht nur ein rhetorischer Kunstgriff zu sein. Wenn der Arzt seine Heilung ausdrücklich nur auf die Erweckung der Furcht vor αΐσχϋναι und βλάβαι und des Strebens nach den Gütern der entsprechenden Tugend anlegt, so gibt er damit zu èrkennen, daß er auf den bloß kreatürlichen Mechanismus (vgl. S. 75) der Abwehr eines Übels und des Begehrens nach dem Nützlichen baut; es ist zweifellos nicht geschickt, dem Patienten dies mitzuteilen. Entrüstung als Ziel der Krisis erlaubt dem Patienten dagegen ein höheres Selbstverständnis. Die βλάβαι und αίσχΰναι brauchen dann nicht mehr person-, sondern können sachbezogen gefaßt werden : sie dienen dem Aufweis, daß das in Rede stehende Verhalten völlig falsch ist. Der Patient sieht auf sein πάθος als etwas Fremdes herab und hat dadurch den Eindruck der Handlungsfreiheit, der durch die alternative Gegenüberstellung des richtigen Verhaltens und seiner Konsequenzen noch verstärkt wird. Nun läßt es sich Plutarch nicht nachweisen (wie dies im Fall der Objektivität der Krisis möglich war), daß sein g. 16 formuliertes Ziel nur rhetorische Zwecke erfüllt; an einer anderen Stelle findet es sich ebenfalls, wo es nicht vom Arzt in einem Patienten angeregt, sondern vom Patienten die Entrüstung spontan empfunden wird : Fundanus begann seine Heilung damit, daß er (in seiner Eigenschaft als sein eigener Arzt) sich das Äußere des Zornigen vor Augen führte und (in seiner Eigenschaft als Patient) weder erschrak noch lachte, sondern über die Fürchterlichkeit des Aussehens entrüstet war: πάνυ δυσχεραίνων, εί φοβερός ουτω καΐ παρακεκινηκώς όρώμαι . . . (c.i. 455Ef.,vgl. auch456B) 2 9 . Das δυσχεραίνειν erhält bei Platon inner27
III 132,37ff. Pohlenz, Stoa 150f.; zu Epikur vgl. Plut, non posse 1104B. 28 Natürlich darf man die Spontaneität des Fundanus hier nicht überbewerten: Er ist die paradigmatische Figur einer Seelenheilungsschrift, die mitsamt ihren Gefühlen in dürre methodische Bemerkungen hinein absorbiert werden könnte bzw. diese wohl gar nur ersetzt. 28
88
halb der Erziehung gegen die Begierden eine wichtige Aufgabe. Plutarch ist Anhänger der platonischen Seelenlehre; er akzeptiert auch die Dreiteilung der Seele, ohne die Zweiteilung, die schon bei Piaton ihren Anfang n a h m 3 0 u n d von Aristoteles zunächst übernommen wurde, abzulehnen. Plutarchs Definition der drei Teile entspricht den Vorstellungen Piatons 3 1 . Bei Plutarch heißt es virt. mor. 441 F f . , Piaton habe durchschaut, daß die Menschenseele als μίμημα der Allseele aus drei Teilen bestehe; . . . ετερον μέν έχει. το νοερόν και λογιστικόν, φ κρατεΐν του άνθρωπου κατά φύσιν και άρχειν προσήκον εστίν έτερον δέ το παθητικον καί άλογον καΐ πολυπλανές και άτακτον έξ έαυτοϋ δεόμενον· ού πάλιν διχή μεριζομένου, το μέν άεί σώματι βουλόμενον συνεΐναι καί σώμα θεραπεύειν πεφυκός έπιθυμητικόν κέκληται, το δ' εστι μέν ή τούτω προστιθέμενοι, εστι δ' ή τω λογισμω παρέχον ίσχύν επί τοϋτο καί δύναμιν, θυμοειδές. Daß das θυμοειδές in der Lage ist, dem λογιστικόν zu helfen, hören wir auch bei Piaton 3 2 . Seine Tätigkeit besteht dann im „Zürnen" auf die Dreistigkeit der Begierden 3 3 ; Jaeger 3 4 spricht von „anger", „indignation". I n der T a t : gerade der Begriff des δυσχεραίνειν ist geeignet, das Verhalten des θυμοειδές zu charakterisieren. Piaton zeigt die mögliche Divergenz zwischen den beiden Teilen des άλογον an H a n d eines Beispiels. Ein gewisser Leontios k a m an dem Platz vorbei, wo der Henker Leichen deponiert h a t t e ; es sei doch bekannt : ώς . . . Λεόντιος . . . άμα μέν ίδεΐν έπιθυμοΐ, άμα δ' αυ δυσχεραίνοι καί άποτρέποι εαυτόν, καί τέως μάχοιτό τε και παρακαλύπτοιτο, bis die Begierde siegte, u n d so sei er dann hingelaufen u n d habe seine Augen gescholten: ιδού ύμϊν . . . ώ κακοδαίμονες, έμπλήσθητε τοϋ καλοϋ θεάματος 35 . Das ist kein positiver Beweis d a f ü r , daß Plutarch mit platonischen Mitteln heilte, da das δυσχεραίνειν als Empfindung gegen Übel auch bei Philosophen, die nicht die Dreiteilung der Seele akzeptierten, möglich war3®; zudem berichtet Olympiodor 3 7 , δτι . . . τρεις είσι τρόποι καθάρσεως, Πυθαγορικός, Σωκρατικός, Περιπατητικός ήτοι Στωικός, καί ó μέν Στωικός 38 διά των έναντίων τά εναντία ΐατο, τω μέν θυμω τήν έπιθυμίαν έπάγων καί οΰτω μαλάσσων αύτόν, τήν δέ έπιθυμίαν τω θυμω καί οΰτω ρωννύων αυτήν καί άνάγων πρός το άνδρικώτερον. Wenn m a n aber bedenkt, d a ß das δυσχεραίνειν zum Unterschied von den übrigen 30 Vgl. D. A. Rees, Bipartition of the Soul in the Early Academy, JHS 77 (1957) 112ff. 31 Rp. 43 6 A if. 32 Rp. 440B, vgl. 589Β, dazu 588Bff. 33 Rp. 439Eff. 34 Eranos 44 (1946) 125f. 35 36 Rp. 439 E f. Aristot. E N 1170 a 8 ff. 37 In Ale. I p. 64 Cr. = 36 W. 38 P. 6 Cr. = 8 W. heißt es : . . . ώσπερ Αριστοτέλης παρακελεύεται τον θυμόν τη έπιθυμία παύειν, τήν δέ έπιθυμίαν τω θυμφ, τουτέστι τοις έναντίοις . . .
89
Philosophien in der Akademie als in der platonischen Seelenlehre wurzelnder terminus technicus verwendet werden konnte, Plutarch sich aber durchaus als Platoniker fühlte, so hegt es näher, den betonten Gebrauch des Wortes bei ihm auf seine Schulzugehörigkeit als auf den allgemeinen, aber unpointierten Sprachgebrauch zurückzuführen 39. c)
Die Frage nach dem Ziel der gesamten, aus Krisis und Askesis bestehenden Therapie, also nach Metriopathie und Apathie, kann, der Stellung des Ziels gemäß, am Ende der Besprechung aller Therapieformen, aber auch, nach der Darstellung Plutarchs, als Aussage zum Wesen des πάθος im Rahmen der Krisisuntersuchung behandelt werden. In v.p. 2 ist unterschieden zwischen der philosophischen Behandlung schlimmer πάθη (φθόνος, φιλαργυρία, φιληδονία), die vernichtet werden (έξαιρεΐν, έπικόπτειν, αίμάσσειν, πιέζειν, τομήν ποιεΐν και ούλήν βαθεΐαν), und Leiden im zarten Teil der Seele: Hier ist Vorsicht am Platze; . . . δει τήν δυσωπίαν κινεί ν δεδιότας συνεφελκύσασθαι τά όμοροϋντα της αΐδοϋς καί της επιεικείας και της ήμερότητος (ν.ρ. 529Bff.). Wie dies τά όμοροϋντα της αίδοϋς zu verstehen ist, lehrt das beigegebene Bild: Wenn man ein Haus, das an einem Tempel gebaut ist, abreißt, so läßt man die mit dem Tempel zusammenhängenden Wände des eigenen Hauses stehen (um das Einstürzen des Heiligtums zu verhindern). Es müssen also die Wände der δυσωπία selbst stehenbleiben, τά όμοροϋντα της αίδοΰς ist demnach das, was von der δυσωπία an die αιδώς, nicht das, was von dieser an jene angrenzt40. Das Kriterium der Toleranz liegt in der Eigenart des πάθος selbst. Auch zu Anfang der Schrift über die Neugier finden sich zwei Wege zur Heilung: πάθη νοσώδη καί βλαβερά καί χειμώνα παρέχοντα τη ψυχη vertreibt man am, besten aus sich und verschafft seinem Innern Licht und Luft; εί δέ μή, soll man versuchen μεταλαμβάνειν γε καί μεθαρμόττειν άμωσγέπως περιάγοντας ή 39 Piaton konnte, wie oben gezeigt, auch den φόβος als Heilmittel akzeptieren. Auch eine bloße Heilung durch die Furcht war also für einen Akademiker möglich. — Sodann wird der φόβος zwar in der ένδοξα wiedergebenden aristot. Rhetorik (1382 a 21 f.) unter die λύπη gesetzt, was bedeutet, daß er ins έπιθυμητικόν gehört: . . . ή . . . λύπη έν τω έπι·9υμητικω, έν τούτω γάρ ή ήδονή (Aristot. Top. 126 a 9f.), aber im Verlauf der gerade erwähnten Erörterung in der Topik heißt es auch: ó . . . φόβος έν τω θ-υμοειδεΐ (a 8), was auch verständlich ist, wenn anders die λύπη im έπιθυμητικόν ansässig ist. Akademischem Denken dürfte demnach auch der Schluß, daß der φόβος als Helfer des λογιστικόν, eben im Rahmen des θ-υμοειδές, fungieren könnte, nicht ferngelegen haben. Wenn Plutarch nun das δυσχεραίνειν als Heilmittel herausstellt, so kann er damit gegenüber derartigen möglichen Spekulationen auf seine Zustimmung zu der im Staat dargelegten Lehre, nach der der θυμός als männlicher Eifer und Mut speziell Helfer des λογιστικόν ist, hingewiesen haben. 40 Vgl. Babut, Stoicisme 327f.
90
στρέφοντας. Was dies μεταλαμβάνει bedeutet, erklären die vorangegangenen Bilder. Ein ungesundes Haus fliehe man am besten, beginnt die Schrift, wenn man aber aus Gewohnheit gern darin lebt, soll man wenigstens bauliche Veränderungen vornehmen. Zunächst also ist danach die Anwendung der Methoden nicht wie in v.p. 2 sachlich bedingt, sondern auf den Kranken persönlich bezogen. Wenn er in seinem Leiden heimisch geworden ist, so soll man — wie wir vorläufig und versuchsweise interpretieren — stehenlassen, was noch gut und gesund ist. Wäre dies richtig, dann müßte in beiden Fällen das Krankhafte beseitigt werden, geringere oder größere Toleranz aber gegenüber der die Krankheit tragenden διάθεσις geübt werden. Aber dies letztere stößt auf Schwierigkeiten. Kann die nicht-kranke διάθεσις, also etwa die φιλομάθεια, überhaupt Gegenstand der ärztlichen Behandlung sein? Die Neugier muß doch abgelegt werden, damit gerade die φιλομάθεια nicht zu Schaden kommt (521A)! Das Gute muß also in jedem Fall erhalten bleiben; was mehr oder weniger tolerant behandelt werden kann, ist das Schlechte. Dessen Grundmauern können stehenbleiben; das Ziel ist in diesem Fall, die οικία eben nicht λαμπρά, εΰπνους, υγιεινή, sondern, wie Plutarch c. 515B formuliert, λαμπροτέρα, εύπνουστέρα, ύγιεινοτέρα, also relativ besser zu machen. In c.i. geht es darum, den Zorn zu vertreiben; wie wir später (Kap. 16) erfahren, gilt dies aber nicht für jede seiner Arten: Der Zorn aus μισοπονηρία soll, wenn er echt ist, nur gemäßigt werden. Die Gründe dafür erfahren wir nicht; zweifellos sind sie denen von v.p. 2 ähnlich. Am Ende von g. (Kap. 22/23) findet sich der Vorschlag, das πάθος in harmlose Bahnen zu lenken, es also als solches zu tolerieren; hier dürfte die Begründung mit c. 1 verwandt sein. In l.i. liegt die Sache anders : Dort ist das berechtigte Selbstlob wohl nicht als Folge einer krankhaften Sucht aufzufassen. Immerhin zeigen c.i., g., c. und v.p. neben der scharfen Attacke, die zur Beseitigung der Krankheit führen soll, auch immer noch eine dem πάθος freundlichere Tendenz ; Plutarch gibt Handhaben, wie man mit ihm leben kann. Keineswegs also ist er Vertreter rigoroser Apathie; wie aber verhalten sich Aussagen wie die, daß der Neid z.B. völlig aus der Seele vertrieben zu werden hat oder daß man das πάθος am besten ganz beseitigt, mit der in virt. mor. vorgetragenen Billigung der akademisch-peripatetischen Metriopathie ? Die Klärung dieser Frage versuchen wir an Hand von Plutarchs Heilung des Zorns; da seine grundsätzlichen Vorstellungen zur Behandlung der πάθη, wie gerade gezeigt, durchgängig gleich sind, dürfen wir das Thema an einem Modellfall behandeln, der hier zudem besonders zu diesem Zweck geeignet ist, da die gegnerischen Schulstandpunkte gern am Zorn exemplifiziert wurden, die übrigen Themen Plutarchs aber das Interesse unvergleichlich seltener auf sich zogen. 91
Nachdem Fundanus sich die Häßlichkeit in den Mienen, Gebärden und in Stimme und Sprache des Zornigen zu bedenken gegeben hat (6/7), greift er im 8. Kap. eine gegnerische Meinimg an, die den Zorn für etwas Großes, Tatkräftiges, zur άμυνα Unabdingbares hält. Rabbow wies darauf hin, daß diese Ansicht durchweg den Peripatetikern zum Vorwurf gemacht wurde — Plutarchs Quelle sei also stoisch 41 ; nach Pohlenz wird an dieser ganzen Stelle durch den von der Meinung seiner Schule, des Peripatos, abweichenden Hieronymos Piaton vorgeschoben42. Rabbow zeigte aber auch, daß die Polemik ihr Ziel völlig verfehlte, daß sie die Tendenz hatte „zu entarten in der Richtung, daß der Kampf gegen das μέτριον πάθος zu einem Kampf gegen den maßlosen Affekt wurde" 43 ; die Diskussion werde von Seiten der Stoa „ganz so geführt, als wäre die Aufgabe, nicht sowohl die Apathie gegen das μέτριον πάθος als die Herrschaft des λόγος gegen die Herrschaft des θυμός zu vertreten" 44 . Dadurch wurde, wie Rabbow formulierte, „der Kampf gegen den Peripatos zum Streit gegen einen stoischen Popanz" 45 . In der Tat: einen maßlosen Affekt hat „der Peripatos" niemals zugelassen, und der Abstand zur Stoa konnte sich leicht verwischen, wie denn Rabbow auf Senecas epist. 116 verweist, wo zu Anfang zwar die Tilgung der Affekte als Sache der Stoiker bezeichnet ist, dann aber, wohl in Gefolgschaft des Poseidonios, ein „natürliches und naturnotwendiges Anfangsstadium der Affekte in den Trieben anerkannt", nur „seine (sc. des Affekts) übermäßige Steigerung verworfen (wird)"4®; auch der Epikureer Philodem erkenne ein „natürliches Stadium des Zorns als gut und unvermeidlich an" ; wenn er die Peripatetiker angreife, so seien sie für ihn wie für die Stoiker „nicht mehr Verteidiger eines maßvollen Affekts, sondern Anwälte des Zorns sans phrase" 47 . Bei weitem am häufigsten richtet sich der Angriff gegen den Peripatos, Cie. Luc. 44 (135f.) zeigt aber, daß auch die Akademie nicht verschont wurde. Wir verstehen im folgenden unter „Peripatetiker" der geläufigen antiken Terminologie entsprechend alle Vertreter der Metriopathie. Nun ist die Vorstellung, der Akademiker Plutarch richte gegen die Ansicht seiner Schule, die er selbst in einer Schrift dargelegt hatte, einen Angriff, der sein Ziel so gründlich verfehlt, gewiß für den beunruhigend, der keinen Anlaß sieht, ihn für nichts als einen unaufmerksamen Abschreiber zu halten. Unsere Frage lautet, ob Plutarch „den Peripatos" attackiert. Die Lektüre der aristotelischen πραότης-Behandlung EN 1125 b 26 ff. läßt zwar deutlich werden, daß die positiven Aspekte des Zorns dem " Ant. Sehr. 84ff. 43 45
A.O. 88.
A.a.O. 90. " A.a.O. 92.
92
42 44 46
Hermes 31,332 ff. A.a.O. 93. A.a.O. 91. Vgl. S. 97 Anm. 64.
Volksdenken entnommen sind 48 , daß ferner der Zorn weiter von der Tugend entfernt ist als die ελλειψις49; aber die Zurückhaltung des Aristoteles, wenn es darum geht, Grenzen für das μέσον zu ziehen 60 , mag dazu beigetragen haben, daß seine Schüler sich nicht stets einig waren. Bei Stobaios ecl. I I I 19,12 ist uns eine längere Ausführung Theophrasts zum Thema erhalten, die an Schärfe der Ablehnung einer radikal-stoischen nicht nachsteht ; sie kommt zudem mit dem überein, was Plutarch in c.i., besonders Kap. 11, lehrt: ού μην ούδέ μετ' οργής πρακτέον τοις φρονίμοις ουδέν, άλόγιστον γάρ θυμός, και μετά προνοίας ούδέν άν ποτε ποιήσειεν, άλλά μεθύων ταϊς φιλονεικίαις, ώς ετυχε, χρήται ταΐς όρμαΐς. ώστε δει μή έξ ύπογύου των αμαρτημάτων τάς τιμωρίας μήτε παρά των οίκετών μήτε παρά των άλλων λαμβάνειν, ίνα τό τω λογισμω κράτιστον, μή το τω θυμω φίλον άεί πράττης και δίκην παρά των έχθρων λαμβάνης, έξ ής μέλλεις σαυτον μή λυπών έκείνους βλάψειν. το γάρ τιμωρεΐσθαί τινα κακώς έαυτόν ποιοϋντα, δίκην διδόναι ούχ ήττον ή λαμβάνειν έστίν. ώστε δει σχολή μάλλον άμύνεσθαι ζητεΐν ή ταχέως άλυσιτελώς έαυτώ κολάσαι τον έχθρόν. Diese Auffassung des Theophrast über den Zorn, der nicht einmal aus der Annahme, verachtet zu werden, sondern axis Haß gegen das Übel, einem von Plutarch c.i. 16 akzeptierten Motiv, entstanden zu denken ist, paßt merkwürdig schlecht zu dem, was wir sonst über die Meinung des Peripatos hören. Nun spricht Plutarch nicht ausdrücklich von Peripatetikern als den Lobrednern des Zorns wie etwa Cicero Tusc. I V 19 (43) oder Seneca de ira I I I 3fF., sondern es heißt 4 5 6 F zuerst: άλλά δοκεΐ τοις πολλοίς το ταρακτικόν αύτοϋ πρακτικόν, d.h. er wendet sich gegen die allgemeine Meinung, die Aristoteles in seiner erwähnten Abhandlung berücksichtigte, aber nicht zur Norm erhob; sodann: ενιοι δέ και τήν ωμότητα μεγαλουργίαν τίθενται. Gehen wir davon aus, daß Plutarch sich selbst als Vertreter der Metriopathie fühlte, so sollte man dies έ'νιοι auf einige extreme Abweichler innerhalb des Peripatos beziehen. Daß dies wohl richtig ist, macht Philodem noch klarer; als Epikureer lehnt er den Zorn zwar nicht pauschal ab 6 1 , sicher fühlt er sich den Peripatetikern in dieser Hinsicht verwandt, andererseits trennt ihn von ihnen genug, um die ενιοι genauer zu definieren, was Plutarch wohl gescheut hat. Bei Philodem 52 heißt es nämlich: ενιοι γοΰν τών Περιπατητικών, ώς που και πρότερον παρεμνήσθημεν διά προσώπων, έκτέμνειν τά νεΰρα της ψυχής φασι τούς τήν όργήν και τον θυμόν αυτής εξαιροϋντας, ών χωρίς ουτε κόλασιν ουτ' άμυναν είναι. Die Abweisung des Bildes vom Zorn als den Sehnen der Seele beschließt das 8. Kap. von c.i., dessen Anfang die Angriffe auf die πολλοί und die ενιοι brachte. Die Herkunft des la E N 1126a6-8; 36-b2. 1126a29. 1 1 2 6 a 3 2 : ού γάρ ¡SáStov διορίσαι τό πώς καΐ τίσι καΐ επί ποίοις καΐ πόσον χρόνον όργιστέον, καΐ τό μέχρι τίνος όρθώς ποιεί τις ή άμαρτάνει . . . 50
51
De ira col. XXXVIIIff.
« ft,.
coL
χχχι
3iff.
93
Bildes soll uns bald beschäftigen; vorerst geht es nur darum, daß Philodem eine besonders weitgehende Akzeptierung des Zorns einigen Peripatetikem zuschrieb. Für Plutarch wäre των Περιπατητικών einem ήμών gleichgekommen, Grund genug, es wegzulassen. Wir dürfen also schließen, daß Plutarch aus dem Geist der theophrastischen, engen Auffassung heraus gegen einige besonders weitherzige Schulgenossen, denen im übrigen die ganze geläufige Polemik galt, vorging, daß er sich bei dieser Polemik durchaus als Peripatetiker fühlen konnte — unabhängig davon, wie zahlreich die Gruppe der ενιοι tatsächlich war. Rabbows Ansicht, daß die Stoa und die sonstigen Feinde des Zorns gegen einen stoischen Popanz fochten, müssen wir von hier aus modifizieren: Daß ein Peripatetiker sich im Anschluß an die offene Ausdrucksweise des Aristoteles zu einer sehr weitgehenden Verteidigung des Zorns bewegen lassen konnte, ist offenbar; gegen solche Ansichten kämpften auch Peripatetiker, und zwar äußerlich mit denselben Mitteln, derer sich die Stoiker bedienten. Jetzt zu den νεΰρα της ψυχής. Das Bild stammt von Piaton, der Rp. 41lAf. von den Wirkungen des Musikgenusses spricht. Wer sich sein ganzes Leben süßen, weichen und traurigen Harmonien hingibt, der macht das harte und unbrauchbare θυμοειδές zunächst geschmeidig und brauchbar; wenn er aber nicht damit aufhört, dann weicht er es immer mehr auf: εως αν έκτηξη τον ö-υμόν και έκτέμη ώσπερ νεΰρα έκ της ψυχής καί ποίηση ,,μαλθακον αίχμητήν". Ganz offenbar ist hier alles Mutartige, Willensmäßige, Kraftvolle in der Seele gemeint. Pohlenz 53 meint nun, da Plutarch den θυμός auch virt. mor. 449F als νεΰρα τής ψυχής bezeichnet und dort das Bild Piaton zuschreibt, müsse er gewußt haben, daß das in seiner Quelle gefundene Bild seinen eigenen Lehrmeister belaste, und habe den Namen also verschwiegen. Plutarch steht also wieder als recht einfältiger Kompilator da. Es geht ihm in virt. mor. 449 F um den Nachweis, daß es, anders als die Stoiker meinen, Unterschiede in den Affekten gibt: μεγάλαι . . . των παθών διαφοραί κατά το μάλλον καί το ήττον όρώνται. Es folgen Beispiele, am Schluß eins, das zeigt, in wie unterschiedlicher Weise sich der θυμός bemerkbar machen kann: in häßlichem Rachedurst und in überlegener, spöttischer Bestrafung. Dann folgt das Fazit: διό καί νεΰρα τής ψυχής τον θυμον ó Πλάτων προσεΐπεν ώς έπιτεινόμενόν τε πικρία καί πραότητι χαλώμενον. Hier kann das Bild von den νεΰρα τής ψυχής auf den Zorn (nicht auf den weiten θυμός) angewandt sein, anders als bei Piaton. Aber es besteht auch dann ein Unterschied zu c.i. In virt. mor. dient das Bild dazu, die Variabilität des Zorns zu bezeichnen und mehr nicht, πικρία und πραότης sind das μάλλον bzw. ήττον des Zorns. Die Vertreter der in c.i. erwähnten Meinung aber brauchen es so, als ob 53
94
Hermes 31,332/333.
es etwas über die Kraft des Zorns aussage, die Plutarch an dieser Stelle natürlich nicht hoch veranschlagen kann, so daß er auch das so angewandte Bild ablehnen muß. Insgesamt haben wir also drei Interpretationen des Bildes: zuerst die von Piaton selbst, dann folgt der Einschnitt : θυμός wird als Zorn aufgefaßt. I n virt. mor. kann das der Fall sein, aber das Bild wird nur verwendet, um zu zeigen, wie der Zorn funktionieren kann. I n c.i. schließlich ist es so gedreht, daß der Zorn als etwas Kraftvolles herausspringt. Dagegen wendet sich Plutarch mit aller Schärfe. Zorn im allgemeinen schließt eben auch die von ihm beschriebene sinnlose Wut 5 4 ein, und von da aus gesehen ist es Unsinn, in ihm etwas wie (starke) Sehnen der Seele zu sehen. An einer späteren Stelle von virt. mor., 451D, greift Plutarch das Bild Piatons wieder auf, nun aber nicht mehr in der Art wie 449 F, sondern wie in c.i. Hier wird seine Gegenposition zu der in c.i. bekämpften Meinung ganz deutlich: er unterläßt es nämlich nicht, den mittels des platonischen Bildes als kraftvoll und hilfreich gezeichneten Zorn genauer zu bestimmen; es ist der bereits durch den λόγος geläuterte, nicht der Zorn im allgemeinen, der ja die sinnlose Wut in sich schließt. Die ganze Stelle sei zur Verdeutlichung zitiert: καί γάρ βοών και ίππων τά πηδήματα και τους άφηνιασμούς, ού τάς κινήσεις ούδέ τάς ένεργείας άφαιροϋσι και τοις πάθεσι δεδαμασμένοις χρήται και χειροήθεσιν ό λογισμός, ούκ έκνευρίσας ούδ' έκτεμών παντάπασι της ψυχής το ύπηρετικόν. 'ύφ' άρμασι' γάρ "ίππος', ώς φησι Πίνδαρος, "εν δ' άρότρω βοϋς" κάπρω δέ βουλεύοντα φόνον κύνα χρή τλάθυμον έξευρεΐν'. ών πολύ χρησιμώτερα τα των παθών θρέμματα τω λογισμώ συμπαρόντα καί συνεντείνοντα ταΐς άρεταΐς, ó θυμός τη άνδρεία, μέτριος ών . . . Es ist nun kein Zweifel mehr daran möglich, (a) wie Plutarch das Bild auffassen muß und (b) wen er in c.i. angreift: es sind eben die ενιοι, Anwälte des Zorns sans phrase, die Piatons Bild, nachdem es einmal auf den Zorn angewandt war, entsprechend interpretierten 5 5 . Hätte Plutarch hier Piatons Namen genannt, in welche philologischen Exkurse hätte er sich dann einlassen müssen! Also nennt er ihn nicht, sondern weist nur auf den τις hin, der ja auch der eigentliche Urheber des an der Stelle erwähnten Bildes, d.h. seiner wertenden Anwendung 56 , ist. Die Abartigkeit dieser Vorstellung ist so greifbar, daß er nicht mehr an ενιοι, sondern nur noch an einen Quidam denkt. Damit sind aber noch nicht alle Anstöße beseitigt. Ringeltaube arbeitete heraus, daß im folgenden Abschnitt, c.i. 9, (wieder) Piaton 54 ούτως έκ τοϋ λυπουμένου μάλιστα της ψυχής καί πάσχοντος άνίσταται μάλιστα δι' άσθένειαν ó θυμός, ούχί νεύροις, ώς τις είπε, της ψυχής έοικώς, άλλ' έπιτάμασι καί σπάσμασιν έν ταΐς άμυντικαΐς όρμαΐς σφοδρότερον έξισταμένης (c.i. 4S7B/C). 55 Vgl. h i e r m i t P o h l e n z a . a . O . 333. 56 B a b u t , Stoïcisme, n i m m t ebenfalls scharf gegen die A n n a h m e , P l u t a r c h kritisiere hier P i a t o n , Stellung.
95
angegriffen wird 57 . Fundanus spricht von παροξυντικά, δι' ών ενιοι τον θυμόν έκ της γυναικώνίτιδος εις τήν άνδρωνϊτιν ουκ εδ μετοικίζουσιν. Tim. 69 Ε f. heißt es: και έπειδή το μεν αμεινον αύτής (sc. της ψυχής), τό δέ χείρον έπεφύκει, διοικοδομοϋσι του θώρακος αύ το κύτος, διορίζοντες οίον γυναικών, τήν δέ άνδρών χωρίς οϊκησιν, τάς φρένας διάφραγμα εις τό μέσον αύτών τιθέντες· το μετέχον ούν τής ψυχής άνδρείας καΐ θυμοϋ, φιλόνικον δν, κατώκισαν έγγυτέρω τής κεφαλής μεταξύ των φρενών τε και αύχένος . . . Daraus geht klar hervor, daß Platon den Sitz des θυμός, zu dem nach akademischer Auffassung auch die οργή gehörte 58 , mit der άνδρωνΐτις verglich. Ringeltaube, der mit Pohlenz unsere Plutarchstelle auf den vom Peripatos abweichenden, die άλυπία zum τέλος erhebenden Hieronymos 89 zurückführt 6 0 , ist der Überzeugung, daß f ü r einen Peripatetiker eine Attacke auf Piaton in diesem Punkt möglich war und verweist dazu auf die aristotelische Definition des Zorns als einer βρεξις61: βρεξις und έπιθυμία seien zwar nach Aristoteles verschieden, aber Plutarch virt. mor. 442Β, wo es heißt, επιθυμία sei der Zorn, und ορεξις άντιλυπήσεως zeige, daß spätere Philosophen beide identifizierten. Ganz sicher ist f ü r die alte Stoa der Zorn επιθυμία 62 , was f ü r unsere Zwecke ausreicht. Bekämpfte Plutarch hier Piaton auf Grund einer nichtakademischen Quelle? Fragen wir tins zunächst, ob die Beziehung der Worte des Fundanus auf die Timaiosstelle zwingend ist. Wenn Plutarch es darauf anlegte, den Zorn als Schwäche, die Milde als K r a f t hinzustellen, dann lag die Metapher M a n n - F r a u ohnehin nahe, auch nach Piaton, der Rp. 455E sagt: έπί πασι δέ άσθενέστερον γυνή άνδρός. Plutarch hatte schon im vorhergehenden Kapitel seinen Satz, daß die προς το λυπήσαι Ινδοσις εκφέρει μείζονα θυμον άπο μείζονος άσθενείας, zuerst mit den Worten διό και γυναίκες άνδρών όργιλώτεραι belegt, dann, im Kap. 9, war von der falschen Auffassung des Zorns als Mannestugend die Rede, und bald wird die wahre Mannestugend, ανδρεία, dagegengestellt werden. Plutarch verwendet also die Mann-Frau-Metapher an dieser ganzen Stelle, und es läßt sich nachweisen, daß er in solchen Fällen sehr gern statt von den Personen von den betreffenden Gemächern sprach: vgl. aus den Moralia 61C/D, 145B, 465E, 750C, F, 755F, 868 A. v.p. 530A heißt es, die δυσωπία sei κακή . . . θαλάμου και γυναικωνίτιδος έπίτροπος, c. 515Ε empfiehlt Plutarch, der Neugierige solle auf seine eigenen Angelegenheiten sehen: ετέρας (sc. θυρίδας) . . . 57
Ringeltaube 72 f. Aristot. Top. 126a 10: ή δέ ¿ργή έν τω θυμοειδεΐ, vgl. auch 113a35f. 69 Cie. fin. V 5(14); frg. 8ff. W. 80 Ringeltaube 73. 81 Rhet. 1378a31. Platonisch-plutarchisch gesprochen befände sich damit der Zorn ja in der γυναικωνϊτις. «2 SVF III 96,27 f., anders Panaitios: s. Pohlenz, Stoa I 199. 68
96
άνοιξον εις τήν άνδρωνΐτιν την σεαυτοϋ φερούσας, εις την γυναικωνΐτιν . . . Wir sehen also, daß die Metapher sich für Plutarch ganz zwanglos anbot. Gesetzt aber, Plutarch kannte die Timaiosstelle nicht nur, sondern hatte sie auch bei der Niederschrift von c.i. 9 im Blick. Im Timaios, 70A, ist die Lage des θυμοειδές (also der άνδρωνίτις) mit seiner Beziehung auf den λόγος verbunden: ... ha του λόγου κατήκοον ov κοινή μετ' εκείνου βία το των έπιθυμιών κατέχοι γένος. Daß das θυμοειδές sich auch anders verhalten kann, zeigt eine Formulierung bei der ersten Darstellung der Seelendreiteilung Rp. 441 Α.: . . . οΰτως καί έν ψυχή τρίτον τοϋτό έστιν τό θυμοειδές, έπίκουρον όν τω λογιστικω φύσει, έάν μη ύπό κακής τροφής διαφθαρή; 'Ανάγκη, εφη, τρίτον. Ist nach Platon ein solches vom λογιστικόν getrenntes θυμοειδές, d.h. also: ein sinnloser Zorn — mag das θυμοειδές auch in der leiblichen άνδρωνΐτις sitzen — noch mit Kraft und der metaphorisch für sie stehenden Männlichkeit in Verbindung zu bringen? Daß Piaton imstande war, hier das gegenteilige Bild zu verwenden, beweist Rp. 395 D: ού δή έπιτρέψομεν, ή ν δ' εγώ, ών φαμέν κήδεσθαι καί δεΐν αυτούς άνδρας αγαθούς γενέσθαι, γυναίκα μιμεΐσθαι άνδρας οντάς, ή νέαν ή πρεσβυτέραν, ή άνδρί λοιδορουμένην ή προς θεούς έρίζουσάν τε καί μεγαλαυχουμένην, οίομένην εύδαίμονα είναι, ή έν ξυμφοραΐς τε καί πένθεσι καί θρήνοις έχομένην . . . Der Mann soll also nicht handeln, wie es für die Frauen typisch zu sein scheint : dazu gehört dann auch sinnloses Zürnen: . . . προς θεούς έρίζουσάν . . .; will man aber dies nur als ein Zeichen der sogleich geschilderten Hybris ansehen, so bleibt als eigenes Charakteristikum mindestens das für unsere Zwecke auch zur Not hinreichende άνδρί λοιδορουμένην, von dem man den Begriff des Zorns nur schwer wird trennen können. Adam weist zu dieser Stelle darauf hin, daß Piaton für derartiges weibliches Verhalten in der zeitgenössischen Komödie hinreichende Belege fand 83 . Plutarchs Seelenheilung hält sich also im Rahmen des für die akademisch-peripatetische Ethik Möglichen. Nicht jede ein πάθος scharf bekämpfende, auf seine Beseitigung dringende Äußerung braucht von der Stoa beeinflußt zu sein64. Oben war dies an Theophrasts Meinung 83 Schließlich, und dies gilt auch für das Bild von den νεϋρα της ψυχής, ist es wenigstens denkbar, daß Plutarch getrost einmal eine Lehre Piatons attackieren konnte, zumal, wenn er seinen Namen nicht nannte. Wir sahen schon, daß er keinen Anstand nahm, zu therapeutischen Zwecken sonst geachtete Meinungen zu modifizieren, ja zu bekämpfen. Wenn es ihm also einmal günstig erschien, die beiden Bilder sein Anliegen verdeutlichen zu lassen, mochte er es ohne Sorge tun. Babut, Stoicisme 97, erklärt mit Recht, daß sich speziell Stoisches von einiger Relevanz in c.i. nicht finde. Vgl. allg. noch Babut 318ff., bes. 362: „. . . les idées morales de Plutarque nous paraissent maintenant inconciliables avec les principes de l'éthique stoïcienne, et même semblent souvent se définir par contraste avec ceux-ci." 84 Wie schon oben bemerkt, waren zu Plutarchs Zeiten in dieser Frage die Grenzen zwischen den Schulen nicht mehr so deutlich wie im 3. Jh. ; der Affekt
97
vom Zorn deutlich geworden, allgemein ist hinzuzufügen, daß Aristoteles selbst die Bezeichnung απάθεια für die Tugend nicht ablehnt, allerdings verlangt, daß die notwendigen Angaben, das ώς δει, ώς ού δει καί δτε, και δ σα άλλα προστίθεται, folgen 65 . E E 1222 a 2 f. beweist, daß die Definition der Tugend als απάθεια und ηρεμία περί ήδονάς και λύπας in der Akademie gängig war, und bei Clem. Alex. Strom, p. 186,19ÍF. Staehl. erfährt man, daß Speusipp gelehrt habe . . . στοχάζεσθαι . . . τούς άγαθούς της άοχλησίας . . . Besonders deutlich ist Platon Rp. 564Bf., wonach der Nomothet die verdorbenen Elemente aus der Stadt zu entfernen hat wie der Imker, der die Drohnen notfalls mitsamt dem Wachskuchen ausschneidet. Die akademisch-peripatetische Seelenheilung ist demnach vielseitig, sowohl was ihre Methoden (s. Abschnitt b) als auch was ihre Ziele (s. Abschnitt c) angeht. In beiden Hinsichten war die rigorose alte Stoa ärmer. Sie hatte mit großen theoretischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ein Affekt ist für sie eine falsche Meinung. Natürlich muß er, wenn er so gefaßt ist, beseitigt werden. Ist diese Beseitigung aber mit Hilfe einer anderen falschen Meinung möglich oder empfehlenswert? Die sich hier zeigenden Probleme, die in der hellenistischen Philosophie viel diskutiert wurden, gehören nicht in den Umkreis unserer Untersuchungen. Es empfiehlt sich vielleicht nur, noch einmal 66 darauf hinzuweisen, daß selbst Chrysipp sich nicht scheute, auch mit Hilfe von Affekten zu heilen. In diesem Punkte scheinen sich die praktischen Psychotherapeuten der Antike einig gewesen zu sein, wenn auch Akademiker und Peripatetiker die Methode sicherlich leichteren Herzens als die Stoiker anwandten. Cicero hat seine Worte Tusc. IV 4 (9) also wohl ernst gemeint und keineswegs übertrieben 67 , wenn er nämlich sagte: . . . quia Chrysippus et Stoici cum de animi perturbationibus disputant, magnam partem in his partiendis et defìniendis occupati sunt, illa eorum perexigua oratio est, qua medeantur animis nec eos turbulentos esse patiantur, Peripatetici autem ad placandos ánimos multa adferunt, spinas partiendi et definiendi praetermittunt. war — wie sich zu dem S. 92 mit Anm. 46 Gesagten hinzufügen läßt — für die Stoa nicht mehr ein intellektuelles Phänomen, eine falsche Meinung (SVF I I I 92,32ff.), sondern als zur Menschennatur gehörig erkannt : Pohlenz, Stoa I 198f., 226 u.ö.; der Stoiker Sotion konnte nach Stobaios ecl. 11120,54 die Metriopathie in Bezug auf den Zorn vertreten (Rabbow, Ant. Sehr. 95). Es ist also im Vorigen nicht gesagt, daß Plutarch keine stoische Literatur benutzt haben könnte, sondern nur, daß er als Platoniker die Grundlagen seiner Schulethik nicht verlassen hat. 85 66
EN 1104b24ff.
Siehe S. 88 Anm. 27 und 28 und die S. 89 ausgeschriebene Olympiodorstelle. 67 Dies meint allerdings Pohlenz, Stoa I I 82.
98
Β. Askesis Die folgende Untersuchung über die Askesis, d.h. die Epilogismosempfehlungen (im folgenden durchweg „Epilogismoi" genannt) und die praktischen Therapieformen (oft kurz mit „Ethismoi" bezeichnet), gliedert sich wie Teil A in eine sammelnde und vergleichende Beschäftigung mit dem Material (a)68 und in eine kurze Abhandlung zu der Frage, seit wann die Seelenheilung Plutarchs möglich ist (b). a) Epilogismoi g. : Keiner gewöhnt sich daran, heißt es Kap. 16, ein πάθος zu fliehen, wenn er keine Entrüstung darüber empfindet. Gegenstand der Entrüstung sind die in der Krisis dargelegten αίσχΰναι und βλάβαι, wie eine kurze Aufzählung zeigt. Wenn man sich also heilen will, dann ist dazu das erste Mittel, daß man die αίσχΰναι und βλάβαι bedenkt, d.h. das δυσχεραίνει kultiviert. Der Hilfe des Arztes, die im Darreichen der αίσχΰναι und βλάβαι bestand, folgte zunächst, ohne aktive Mitwirkung des Patienten, das δυσχεραίνειν ; die Verarbeitung des Medikaments durch den Patienten besteht nun also im Behalten der Entrüstung, im έπιλογισμός der αισχρά und οδυνηρά. Damit ist nicht gesagt, daß der Epilogismos zur Heilung ausreicht; er ist das πρώτον ϊαμα, was zwar „wichtigstes", aber auch nur „erstes Heilmittel" heißen kann. Kap. 18 scheint zu bestätigen, daß der Epilogismos nur erstes Heilmittel ist. Dort heißt es (511D): εΐ δή ταΰτα (sc. das in 16f. Gesagte) και τά τοιαΰτα συνεχώς τις έπίοι και άναλαμβάνοι, παύσαιτ' αν ΐσως ήδόμενος τω φλυαρεϊν. Der Aorist παύσαιτ' dürfte ingressiv sein; dies macht das folgende klarer. Plutarch sagt, ihn, der dabei sei, die Kraft des προσέχειν τω λόγω und des κρατεϊν προαιρέσεως zu betrachten, beschäme der Sklave eines römischen Rhetors (wohl weil dieser eine Beweisführung unnötig macht). Die von dem Sklaven berichtete Geschichte zeigt, wie sich durch das feste Behalten eines λόγος eine absolute Sicherheit des Handelns ergibt. Diese aber entsteht nicht durch das Behalten des λόγος allein ; am Ende der Erzählung heißt es: οΰτω μέγα προς πάνθ' ó εθισμός, καί περί τούτου γ' ήδη λέγωμεν. Was als εθισμός folgt, sind Ratschläge zu praktischer Übung. Plutarch scheint also vorzuschweben, daß der Epilogismos zum Ethismos, d.h. zur gewöhnenden Praxis, diese zur Sicherheit des Handelns führt. Das Kap. 16 läßt sich von hier aus zu Ende interpretieren: 1. πρώτον Ϊαμα ist danach das erste Heilmittel, wohl gar 68 In die Vergleiche wird das von A bereitgestellte und das noch zu A gehörige, aber erst nach der Betrachtung der gesamten Therapie vorgelegte Material aufgenommen, so daß dann das Gesamtresultat vorgelegt werden kann.
99
das rangniedrigere, da vom εθισμός eigens herausgestellt ist, er sei μέγα. 2. Die Aussage, daß das δυσχεραίνειν zur Gewöhnung an die Flucht (έθίζεσθαι φεύγει.ν) führt, ist wahrscheinlich eng-terminologisch zu verstehen: nur das δυσχεραίνειν führt zum praktischen εθισμός gegen das πάθος. Kap. 16 lehrt also, daß der έπιλογισμός der αισχρά und οδυνηρά (was gleichbedeutend mit dem Ausdruck „das Kultivieren des δυσχεραίνειν" ist) aus der Krisis hervorgeht und das erste vom Kranken selbst angewandte Heilmittel ist : das erste, weil es den Ethismos vorbereitet. Wir ließen das 17. Kap. aus. Hier wird ein „zweiter Epilogismos" empfohlen: Er gilt dem Gegenteil des πάθος. Auch dies Thema ist nicht neu 69 : Wir kennen es vor allem aus Kap. 4, 8, 9. Wenn im Lauf des Kap. 17 auch die Erhabenheit der Brachylogie und des συμβολικώς φράζειν dem Bedenken empfohlen wird, so scheint das nur eine unwesentliche Erweiterung zu sein. Es zeigt sich, daß der Epilogismos g. 16f. die Themen der Krisis beinhaltet. Zu Anfang von 17 wird nun der Epilogismosvorgang erläutert. Er besteht im dauernden Hören (άκούειν άεί), Erinnern (μεμνήσθαι) und im Bereithalten (πρόχειρον εχειν) des empfohlenen Stoffes, anders ausgedrückt im dauernden Erwerben, Behalten und Zur-Verfügung-Haben des Besitzes. Daraus, vor allem aus dem Postulat des πρόχειρον εχειν, geht hervor, daß der Epilogismos den ganzen Therapieprozeß begleitet, also nicht nur vorbereitende Funktion hat. Ein ausdrücklich so genannter Epilogismos befindet sich Kap. 23, 514E; er schließt an die vorhergegangene Anleitung zu praktischen Übungen an: ihnen soll man stets den Epilogismos beigeben, wenn man etwas sagen will : τίς ούτος ó λόγος ó έφεστώς και καταβιαζόμενος ; έπί τί δ' ή γλώσσ' άσπαίρει; τί δ' είπόντι περιγίγνεται καλόν ή τί σιωπή σαντι δυσχερές; Das Verhalten soll an Nutzen und Schaden orientiert werden: das macht diesen Epilogismos dem von Kap. 16f. gleich; allerdings haben wir hier nur seine begleitende, nicht seine vorbereitende Funktion vor uns. Einen letzten, doppelten, Epilogismos bringt der äußerste Schluß der Schrift (514F). Zunächst soll man πρόχειρον εχειν καί μνημονεύειν το Σιμωνίδειον δτι λαλήσας μέν πολλάκις μετενόησε, σιωπήσας δ' ουδέποτε. Damit hegt wieder recht deutlich eine knappe Fassung des in 16f. Gesagten vor: Zu bedenken sind die Nachteile des Redens und die Vorteile des Schweigens; die αίσχϋναι und βλάβαι des Schwätzens finden sich gewissermaßen gebündelt in ihrer nächsten Konsequenz, dem μετανοεϊν. Wenn das Schweigen nun nicht mehr bewundert wird, sondern nur noch unschädlich ist, so dürfte diese Differenz wohl kaum ins Gewicht fallen. Plutarch verlangt, man solle diesen Epilo69
100
Anders Rabbow, Seelenf. 341.
gismos παρά πάντα ταϋτα anwenden, d.h. ihn den ganzen Ethismos begleiten lassen. Nun der zweite Epilogismos : καΐ τήν άσκησιν (sc. δει πρόχειρον εχειν καί μνημονεύειν), ότι πάντων έπικρατεΐ και ισχυρόν έστιν. Was ist hier Askesis? Kap. 16 schied die Rrisis von der Askesis; beide Teile bilden danach die Seelenheilung. Man wird annehmen müssen, daß mit dem Epilogismos die Askesis beginnt70, mag er sich nach Kap. 16 auch nur als Vorbereiter des Ethismos fassen lassen. Wenn der Ethismos 512 C άσκημα ist — in v.p. ist von εθισμός nicht die Rede, sondern die praktische Therapie heißt dort nur άσκησις : 530 F, 532 C — dann liegt damit die Ausdrucksweise genus pro specie vor. Plutarch selbst bedenkt an einer Stelle von g. schon die Kraft eines seiner Heilmittel, und zwar des Epilogismos (511D): έμέ δέ . . . το προσέχειν τω λόγω καί κρατεί!ν προαιρέσεως ήλίκον έστίν έν&υμούμενον . . . Diese Betrachtung, verbunden mit der über die Kraft des Ethismos, dürfte er dem Kranken empfehlen. Zweifellos ist Vertrauen in die Therapie ein wichtiges Heilmittel, und zwar in die ganze Methode. Eine Trennung wäre künstlich. Diese Epilogismosart ist nicht wie die übrigen auf die von 16 f. zu reduzieren. c.: Hier verwendet Plutarch das Wort „Epilogismos" nicht; dieselbe Sache wird aber durch άνάμνησις hinreichend bezeichnet. Zunächst ist die Rede von der allgemeinen των προεγνωσμένων άνάμνησις (520A), also dessen, was in der Krisis gesagt wurde. In der weiteren Ausführung der Epilogismosempfehlung geht Plutarch aber zu einer einseitigen Betonung des Häßlichen und Nutzlosen über ; das Gefährliche war aber schon in der Krisis zurückgetreten. Wir dürfen sagen, daß der Stoff von Krisis und Epilogismos nur unwesentlich differiert : der Epilogismos ist milder. Sein Ziel ist 520A formuliert: αν γάρ . . . τις της πολυπραγμοσύνης τήν άποθήκην άνοίγη . . . ίσως άν αύτφ τό πράγμα προσσταίη : , , . . . würde ihm die Angelegenheit wohl widerlich". Wieder haben wir, wie in g., bei der Formulierung des Zieles den Optativ des Aorist vor uns. Daß der Epilogismos hier auch dieselbe Funktion hat wie in g., ist damit nicht gesagt; es wird in c. lediglich seine im Vergleich zum Ethismos geringere Bedeutung herausgestellt, wenn er als χρήσιμον ώς evi μάλιστα, der Ethismos aber als μέγιστον προς τήν του πάθους άποτροπήν bezeichnet ist, wobei das μέγιστον wohl der Superlativ, der Ausdruck χρήσιμον ώς ëvi μάλιστα elativisch zu fassen ist („äußerst nützlich"). Die Ethismoi werden von bestimmten geistigen Akten begleitet, z.B. 521Α : το του Ξενοκράτους εχωμεν πρόχειρον . . .; an einigen Stellen wird, im Anschluß an die Übungen, das richtige Verhalten durch Beispiele illustriert (Demokrit 521D, Kyros, Alexander 521 Fff., 70
Vgl. dagegen Rabbow, Seelenf. 342. 101
Rusticus 522E), die Rusticusanekdote enthält sogar einen Hinweis auf die Bewunderung, die dem rechten Verhalten zuteil wird (εφ' φ πάντες έθαύμασαν το βάρος τάνδρός). Man mag empfinden, daß diese Stücke dem „zweiten Epilogismos" in g. 17 entsprechen; es ergibt sich kein ausdrücklicher Hinweis, daß Plutarch das richtige Verhalten dem therapeutischen Bedenken empfohlen hat. Am Schluß der Schrift befinden sich weitere Epilogismosempfehlungen (: . . . ούκ αχρηστον . . . έννοεΐν . . ., 523B): Der Kranke soll sich seine unangenehme Verwandtschaft vor Augen halten. Dem Schwätzer war dies in der Krisis gesagt worden (g. 15), also auch dort implizit Gegenstand des Epilogismos. c.i.: Fundanus berichtet von seiner eigenen Heilung; die ganze Darstellung erhält dadurch persönliche Züge, besonders deutlich wird dies zu Beginn der Vorführung der αΐσχΰναι und βλάβαι (455E): έγώ γοΰν . . . ταύτην . . . της ιατρείας αρχήν ποιησάμενος, ώσπερ οί Λάκωνες, έν τοις είλωσι το μεθύειν οίόν έστι, κατεμάν·9·ανον την όργήν έν έτέροις. Diese Darstellungsform wird beibehalten, sie wird 456 E eigens als Epilogismos charakterisiert: ού ταϋτα δε μόνον έπιλογίζεσ&αι δίδωσι το προσέχειν αύτοΐς άλισκομένοις υπ' οργής . . . Pohlenz 71 empfindet die Einkleidung der Darstellung (ich beobachtete" usw.) als „Zwangsjacke"; Rabbow 7 2 meint, daß Fundanus aus eigener Beobachtung spreche, sei eine Fiktion, die Plutarch nur bis Kap. 12 beibehalte; dies ist nicht richtig: s. Kap. 16. Allerdings tritt Kap. 13-15 ein unpersönlicher, lehrhafter Ton hervor — aber warum soll Fundanus nicht einmal dozieren dürfen ? Die Darstellung der αΐσχΰναι und βλάβαι gleich in der Form des Epilogismos 73 beweist die grundsätzliche Identität der Stoffe von Krisis und Epilogismos auf das deutlichste. Die Art dieses Epilogismos geht aus der Bedeutung und der Form folgender Verben klar hervor: κατεμάνθανον τήν όργήν . . . (455E), οίον εικόνα τοΰ πάθους άπεματτόμην έμαυτω (ib.), ταϋτ' ούν όρώντί μοι και παραφυλάττοντι συμβαίνει τίθεσ&αι και διαμνημονεύειν . . . (456 D). Die direkt in Epilogismosform vorgetragenen αίσχϋναι und βλάβαι führen zum δυσχεραίνειν, wie 455E anklingt: . . . εικόνα του πά&ους άπεματτόμην έμαυτω, πάνυ δυσχεραίνων, ει φοβερός ουτω . . . όρώμαι . . ., vgl. 456 Β. Wie sehr mentale Akte und praktische Ethismoi zusammenhängen, zeigen c.i. 11 ff., zugleich wohl auch, daß das in den anderen Schriften in Krisisform zur Erklärung des Ethismos Vorgetragene durchaus als Epilogismosempfehlung dienen kann 7 4 , auch wenn dies nicht eigens 71
72 Hermes 31,327f. Ant. Sehr. 05. Rabbow spricht Ant. Sehr. 60, vgl. 96, von „Krisis". 74 Hierhin gehört z.B. g. 5 1 2 D : gvioi γάρ ούδέν δεόμενοι διατριβής . . . ένεκα συνθέντες τινάς έρωτήσεις προβάλλουσι τοις τοιούτοις. 73
102
gesagt ist; vgl. besonders c.i. 459 D, 460A, 460E. Richtiges Verhalten empfiehlt Kap. 9 dem Bedenken; es handelt sich hier um einen in den ersten eingeschlossenen zweiten Epilogismos nach g. 17. Kap. 16 fordert zum Zweck der Mäßigung des Zorns aus μισοπονηρία dazu auf, sein Vertrauen zu den Mitmenschen einzuschränken: αΰτη γάρ αυξει μάλιστα των αίτιων τον -9-υμόν (463 Β) und sich nach einer Enttäuschung klarzumachen, (z.B.) γβζιν δτι σοφόν ουκ έπριάμην δοϋλον (D), schließlich auch, nicht so neugierig zu sein: το γαρ έξακριβοΰν άπαντα . . . οργάς φέρει πολλάς (464Α). Nun wird dieser zweite Rat an den ersten mit folgenden Worten angeknüpft: δταν οδν έν τούτοις γένωμαι τοις έπιλογισμοΐς, άμα τι πειρώμαι καί του πολυπράγμονος άφαιρεΐν. Will Fundanus damit sinngemäß sagen: „Wenn ich nun schon bedenke, ob ich nicht selbst auch Fehler habe . . . usw.", oder: „Wenn ich . . . bedenke, wie man dem Zorn aus μισοπονηρία überhaupt beikommen kann . . ."? Die erste Interpretation dürfte die zwanglosere sein: έπιλογισμός ist die mentale Therapie, jedenfalls an den übrigen Stellen ; es als Reflexion, die dann über die Methode angestellt würde (vgl. g. 515A), aufzufassen, wäre kaum zu begründen. Ob Fundanus aber hier sagt, er reflektiere über die Methode oder nicht, ist zweitrangig. Jedenfalls ist er nicht bloß ein Objekt, sondern durchaus ihr lenkendes Subjekt. Plutarch muß aus seinen Patienten Fundani machen, die nach einer Anleitung ihre Heilung selbst in die Hand nehmen, d. h. aus der Kenntnis der therapeutisch wichtigen Züge des Leidens heraus (vgl. die Kap. 2ff., die sachlich auch nicht vom Epilogismos zu trennen sind) an seine sachgemäße Bekämpfung gehen. v.p. : Der wichtigste der nützlichen Epilogismoi ist der, der lehrt (διδάσκειν, vgl. g. 17: άκούειν άεί) und erinnert (ύπομιμνήσκειν, vgl. g. 17: μεμνήσ&αι), daß allen πάθη das folgt, was man durch sie vermeiden will; die δυσωπία, die den Rauch der άδοξία fürchtet, stürzt in ihr Feuer. Der Epilogismosinhalt ist danach vom Krisisinhalt verschieden : er stellt die relativen Schäden, die Krisis die absoluten vor. Der Epilogismos folgt den Ethismoi (Kap. 9). Kap. lOff. bringen Vorschläge zum Verhalten in gefährlichen Situationen. Sprachlich sind sie an die Epilogismosempfehlung angeknüpft, von Rabbow auch als zweiter Epilogismos im Sinne von g. 17 aufgefaßt 15 . In der Tat mag die Vorstellung, daß es zum richtigen Verhalten „nur" des Schweigens und anderer unkomplizierter Mittel bedarf, zur Heilung nützlich sein. Aber wenn der Epilogismoscharakter zu Anfang noch spürbar ist, so verliert er sich doch bald, der Blick auf die praktische Bewältigung des einzelnen Falles (wie begegne ich den άγνώμονες, wie den χαρίεντες?) tritt nach vorn. 75
Rabbow, Seelenf. 341.
103
Das richtige Verhalten wie die praktischen Übungen begleiten geistige Akte (531A, 534A), die nicht eigens — wie es in g. der Fall war -— herausgehoben werden. Anschließend an die Verhaltensregeln Kap. lOff., im Kap. 17, erfolgt eine weitere Aufforderung zum Bedenken : έπί δε των φαύλων όραν χρή καί διανοεΐσθ-αι τον φιλάργυρον zi δυσωπήσεις άνευ συμβολαίου δανεϊσαι τάλαντον . . . Hier haben wir deutlich den zweiten, das richtige Verhalten betreffenden Epilogismos, der g. 17 entspricht, nur, daß das richtige Verhalten jetzt zunächst an den φαύλοι demonstriert wird — : bald aber f ü h r t eine amplifizierende Wendung auf ή μας δέ . . . βουλομένους . . . είναι φιλοκάλους. Das positive Bild verschwindet sogleich wieder. Es folgt die Darstellung des falschen Verhaltens, dem in Kap. 18 die Begründung beigegeben wird. Kap. 19 bringt wieder einen eigenen Gegenstand f ü r das ισχυρώς μνημονεύειν: es ist der Gewissensbiß. Der letzte Satz der Schrift formuliert: οΰτως oí τά της δυσωπίας αισχρά καί βλαβερά συνεχώς τω μετανοοΰντι καί δακνομένω προβάλλοντες άντιλήψονται πάλιν εαυτών έν τοις όμοίοις καί ού προήσονται ραδίως ύποφερομένους. Wenn die Erinnerung ganz allgemein an αίσχϋναι und βλάβαι empfohlen wird, so kann das f ü r einen Fingerzeig gehalten werden, das zuvor auf Krisis und Epilogismos Verteilte als im wesentlichen eine Aussage zu fassen, d. h. die gesamte Krisis und den gesamten Epilogismos aus Kap. 3f. und 9 bestehen zu lassen 76 . I n Kap. 19 empfiehlt Plutarch nicht nur intensives Gedenken an die Reue, sondern auch fortwährendes Weiterleiten der αίσχϋναι und βλάβαι an das μετανοούν und δακνόμενον. Es handelt sich in v.p. 19 also um einen regelrechten Epilogismos der Explikation seiner Funktionen von g. 17 gemäß. Seine Konsequenz besteht darin, daß die von der δυσωπία Geplagten in allen ähnlichen Fällen (έν τοις όμοίοις) sich beherrschen werden und sich nicht leicht aufgeben. Daraus geht hervor, daß der Epilogismos eine direkte Heilwirkung hat, nicht mehr die Grundlage des Ethismos ist. Die Future des Schlußsatzes (άντιλήψονται, προήσονται) kann man zwar ingressiv interpretieren wie das παύσαιτ' in g. 18 : aber in g. war nicht allein von dem ingressiven Aorist auf die vorbereitende Funktion des Bedenkens geschlossen worden, es ergaben sich weitere Indizien. Die Epilogismoi von Kap. 9 und 19 sind so eingeführt, daß ihre Bedeutung f ü r alle πάθη klar wird. Für das Betrachten der relativen Schäden (Kap. 9) ist dies selbstverständlich; Plutarch verläßt jedoch den Boden der Allgemeinheit bald und wendet sich den speziellen Nachteilen der δυσωπία zu : die sind letztlich zu bedenken, und dies Bedenken ist durchaus nicht f ü r alle πάθη nützlich. Das Kultivieren der Reue (Kap. 19) mag zwar auch sonst angebracht sein, die δυσωπία 76 Zu einem weiteren Aspekt des Verhältnisses von Krisis und Epilogismos vgl. S. 105.
104
hat aber zweifellos eine besondere Beziehung zu ihr (vgl. Kap. 12 und 17 extr.). Beide vorgeschlagenen Epilogismoi erweisen sich am Ende also als sehr sachbezogen. l.i.: Kap. 21 hatte geraten, sich nicht vom Lob durch andere, noch durch Fragen zum Selbstlob verleiten zu lassen. Zu Anfang von Kap. 22 heißt es nun : έν άπασι δέ τούτοις εύλαβητέον ώς εν ι μάλιστα, μήτε συνεκπίπτοντα τοις έπαίνοις, μήτε ταΐς έρωτήσεσιν έαυτόν προϊέμενον. Mit Anschluß an das τούτοις, das in der Folge auf den Inhalt von Kap. 21 eingeengt war, heißt es sodann: έντελεστάτη δέ τούτων (davon dürfte auch das Kap. 18-20 Gesagte nicht ausgeschlossen sein) ευλάβεια . . . το . . . μνημονεύειν, ώς άηδές το πράγμα . . . Das Bedenken ist die vollkommenste ευλάβεια — was bedeutet das ? Es hört sich an, als sei der mentale Akt die innere Struktur des praktischen oder die Art und Weise, in der dieser sich vollzieht. Die Formulierung macht eine Tendenz spürbar: die Heilungsarten sollen jedenfalls gedanklich so eng wie möglich verbunden werden. Faktisch muß eine Reihenfolge vorliegen : Man macht seine Betrachtung und sieht sich in deren Gefolge vor. Die Nachstellung des Epilogismos läßt nicht darauf schließen, daß er auch faktisch den Ethismoi folgt. Der Schluß des Kap. 22 sagt, daß wir, wenn wir die Konsequenzen des Selbstlobes bedenken, mit dem λέγειν περί αυτών aufhören. Nach dem Kapitelanfang ist zu interpretieren : Wenn wir bedenken . . ., und das ist dasselbe wie : Wenn wir uns in acht nehmen . . ., άφεξόμεθα. Die einheitliche Therapie, die als Bedenken schon praktisches Achtgeben sein soll, dürfte danach zum vollen Erfolg führen. Für das Futur gilt das, was S. 104 gesagt ist. Den Ethismos begleitende Gedanken sind nicht formuliert, was nicht heißen kann, daß sie mit Grund fehlen. Die Begründungen der Ethismoi, überhaupt alle Erklärungen zu ihnen, lassen sich stets leicht als solche begleitenden Epilogismoi fassen. Ethismoi g. : Hier finden sich drei verschiedene Formen praktischer Askesis : 1. Übung vom Leichteren zum Schwierigeren (Kap. 19f.); 511F : πρώτον ... έν ταΐς των πέλας έρωτήσεσι έαυτόν έθ-ιζέτω σιωπαν. 512C: δεύτερον ... άσκημα προς τάς ιδίας αποκρίσεις εστίν. 2. Vermeidung von Lieblingsthemen und überhaupt Vorsicht in zum Schwätzen verlockenden Situationen (Kap. 22); 513 D : χρή . . . τών λόγων τόν άδολέσχην, οΐς ήδεται μάλιστα καί κέχρηται κατακόρως, τούτους φοβεΐσ&αι και πρός τούτους έπιρρέοντας άντιβαίνειν. Der Terminus dafür ist φυλακή (514A, Β). 3. Umwendung (Kap. 23); 514C: δει παρατρέπειν . . . την άδολεσχίαν auf die Wissenschaft, aufs Schreiben (D). 105
Alle drei Formen können nach 514E als έθισμοί bezeichnet werden. Nach der ersten wird fortschreitend an immer schwierigeren Fällen geübt ; diese Übung an paradigmatischen Situationen soll analoges Verhalten in allen anderen bewirken, wie es scheint. Der methodischfortschreitende Ethismos hat weniger Interesse am Übungsfall; er richtet sich auf das Ziel. Das vorrangige Interesse der φυλακαί dagegen richtet sich direkt auf ihren Gegenstand, die verführerische Situation. Daß dadurch auch Beherrschung im Kleinen, insgesamt also: im Ganzen, erzielt wird, ist einleuchtend. Fortschreitender Ethismos und φυλακαί nähern sich, so dürfen wir schließen, der Heilung auf verschiedene Weise, methodisch sind sie beide, auch die φυλακή, obgleich hier nur ein Schritt zu tun ist. Dieser aber impliziert die anderen in sich. Auch die Umwendung dürfte auf die Dauer Heilwirkung haben ; zum Unterschied von den beiden anderen Formen greift sie das πάθος aber nicht selbst an, sondern nur die Art seiner Ausführung : Der Vielschreiber mag nach wie vor ein „Schwätzer" sein — er malträtiert jedenfalls nicht mehr unsere Ohren. Ebenso ist der Epameinondas von Chaironeia ein Schwätzer, nur redet er Zeug, das nicht gefährlich ist, sondern von dem man sogar noch etwas haben kann. Zwischen den Ethismosformen scheint keine innere Verbindung zu bestehen — : man könnte etwa erwarten : „Wenn dir Form 1 nicht paßt, versuche es mit Form 2 —; eine Andeutung darauf, wie man sich ihre Beziehung zu denken hat, könnte darin liegen, daß die feinste Form zu Anfang behandelt wird, dann die gröbere folgt ; den Schluß bildet die den beiden vorhergehenden Übungen gegenüber toleranteste Art. c. : Es findet sich ein Ethismos nach g. 19f. Seine Methode ist bewußt gemacht (520 D): πρώτον . . . άπο των βραχυτάτων και φαυλοτάτων άρξώμεθα, das Aufsteigen der Schwierigkeitsgrade wird angedeutet (1. 520D: τί γάρ χαλεπόν έστιν έν ταΐς όδοΐς . . . , 2. 521 Α: δεύτερον τοίνυν έθ-ιζώμεθ-α . . ., eine weitere Steigerung bildet dann wieder Kap. 14). Wir erfahren auch, weshalb diese Form des Ethismos zur Heilung f ü h r t : Die Krankheit wuchs auch durch Gewohnheit, indem sie im Kleinen anfing und immer weiter vorankam (520D). I n g. (509C) und in c.i. (454B) ist zwar auch die Macht der Gewohnheit bei der Entstehung der Krankheit bekannt; sie wird aber nicht ausdrücklich zur Begründung des fortschreitenden Ethismos herangezogen. Die Umwendung kommt auch in c. zur Geltung, aber auf andere Weise als in g. Ihr Versagen angesichts der Eigenschaften des vollkommenen Kranken tritt hervor. Man kann sie hier nicht als eigentliche Heilungsmethode auffassen. Sie dient, wie schon mehrfach gesagt, der Krisis. c.i.: Die Ethismoi beginnen Kap. 11 mit der Empfehlung, man solle Selbstbeherrschung den Sklaven gegenüber walten lassen: Sie 106
seien besonders bequeme Objekte des Zorns, weil man unumschränkte Gewalt über sie ausübt. Man gleitet aus wie auf einem glatten, schlüpfrigen Feld, wenn nichts da ist, was einen zurückhält. Offenbar ist das, was Plutarch hier empfiehlt, ευλάβεια und φυλακή, vergleichbar g. 22. Die Übung beginnt an der schwierigen Stelle (όλισθ-ηρον χωρίον, vgl. l.i. 546B νοσώδη χωρία) : Wer sich hier zu beherrschen gelernt hat, wird sich auch sonst beherrschen. Deutlich wird auch hier, wie in g., die φυλακή unter die εθισμόί (459Β) gezählt. c.i. 12 setzt neu an: Der Zorn, meint Fundanus, ist bloß ein Symptom, das eigentliche Leiden heißt φιλοδοξία, φιλαυτία, μαλακία usw. Dies muß geheilt werden. Damit ist nicht die φυλακή als Mittel zur Heilung in Frage gestellt, sondern nur ihr Gegenstand, φυλακή und έθισμοί άπο των βραχυτάτων müssen sich auf die φιλοδοξία richten. Man stellt leicht fest, daß auch der Therapie von c.i. 12 das Schema des αρχεσθ-αι . . . άπο των μικρών zugrunde liegt, wenn auch nicht so klar wie sonst. Dies mag der Anlaß gewesen sein, weshalb Rabbow, der das Schema durchaus sah 77 , darüber hinweggehen konnte 78 . Man darf sich nicht verachten lassen, lautet die Mahnung (460 D) ; am wenigsten soll man Sklaven und Freunde verdächtigen, uns böswillig herabzusetzen (Ef.)—nun gehen wir aber nicht nur beleidigt gegen die, sondern sogar gegen betrunkene Schankwirte, Seeleute, Maultiertreiber, schließlich sogar gegen kläffende Hunde und Esel los. Zwei Formen des εθισμός άπο μικρών sind, wie es scheint, hier hinreichend deutlich impliziert. Zu Anfang hat es den Anschein, als wollte Plutarch raten, sich zunächst gegenüber Vertrauten (Freunden, Sklaven) als den leichteren Fällen zu beherrschen, um dann auch von (scheinbaren) Beleidigungen durch Fremde nicht gereizt werden zu können; diese Fremden aber sind zunächst als geringer von den Vertrauten abgesetzt und dann noch in sich gestuft. Plutarch könnte also raten: Fang mit der Übung bei Eseln und Hunden an, dann laß dich nicht von Betrunkenen, schließlich nicht von Vertrauten reizen. Wenn allerdings in c.i. keine deutlichere Anwendung des Ethismos vom Kleinen her vorläge als diese, wäre es fraglich, ob wir so wie geschehen interpretieren dürften. Aber die zwanglose Anwendung dieses Ethismos an zwei anderen Stellen wirft das richtige Licht auch auf unsere Interpretation. Plutarch empfiehlt Bescheidenheit, άρξαμένους άπο της τροφής (461C), rät vom Luxus ab: man hängt sein Herz allzu leicht selbst an Gegenstände. Hier ist also anzufangen: ή . . . προς τα πράγματ' ευκολία καί προς οίκέτας ευκολον ποιεί καί πραον, εί δε προς οίκέτας, δήλον δτι καί προς φίλους και προς άρχομένους (462Α). Kap. 16: Der Zorn aus μισοπονηρία soll ebenfalls, getreu dem Prinzip von 12 in., an seinen Ursachen gepackt werden. Zunächst empfiehlt 77
Rabbow, Ant. Sehr. 64 .
78
Ib. 60-64.
107
Plutarch Vorsicht beim Vertrauen : dies läßt von allen Ursachen am meisten den Zorn wachsen (463B), dann bei der Neugier, denn das Auskundschaften von allem und jedem bringe häufigen Zorn mit sich (464A). Auch hier ist die Methode des Anfangens άπο των φαυλοτάτων angedeutet, wenn es heißt, daß die übertriebene Aufmerksamkeit auf das Kleinste den Zorn aufstört, der dann ein εθ-ος πονηρόν επί τά μείζονα nimmt. Wenn man sich durch das Kleinste aus der Fassung bringen läßt, führt die Gewohnheit dazu, daß man sich auch im Größeren nicht unter Kontrolle hat. v.p.: Der Ethismos heißt hier (Kap. 5ff.) άσκησις; es handelt sich um die Form, die wir von g. 19f. kennen. Ihre Eigenart ist eingangs dargestellt: .. .πρώτον άρξαμένους ώσπερ oí ταλλα μελετώντες άπο των μικρών και μή σφόδρα δυσαντιβλέπτων, ebenfalls ist ihr Ziel öfter genannt (vgl. S. 57f.). Ihre Begründung besteht in dem Hinweis darauf, daß sie der gängigen Übungspraxis entspricht. Natürlich sind die Bereiche, in denen geübt werden soll, nicht mit χωρία ολισθηρά zu verwechseln. Symposien, Gelddinge u. dgl. sind lediglich Gelegenheiten zur δυσωπία überhaupt. Eine zum Affekt besonders verleitende Situation käme dadurch zustande, daß der Bittende etwa ein Verwandter oder ein Vorgesetzter ist. Dem Epilogismos (Kap. 9) folgen Ratschläge für das Verhalten im Ernstfall. In Kap. 13 werden diese Ratschläge an den Gegenstand der Forderungen geknüpft: sie gelten für schändliche, gefährliche Forderungen. Eine φυλακή wie g. 22 bieten die Kap. lOff. damit noch nicht : Dort geht es um die Beherrschung des πάθος im Ernstfall zum Zweck der Erlangung perfekter Sicherheit; die φυλακή ist in g. ein έθ-ισμός. Hier, in v.p., ist Beherrschung vielleicht zwar die zusätzliche Folge des richtigen Tuns, aber es geht nicht um sie, sondern zunächst nur um eine Technik des richtigen Verhaltens im einzelnen Fall, ohne weiteren Zweck. In dem Ansatz zu einer detaillierten Beschreibung des richtigen Verhaltens besteht eine wichtige Besonderheit von v.p. Die therapeutische Schrift erfährt so eine Wendung zum technischen Lehrbuch, indem lOff. gefragt ist: Wie reagiere ich auf unverschämte Forderungen? statt: Wie heile ich mich von der Schwäche gegenüber unverschämten Forderungen? Das kasuistische Interesse der Schrift tritt schon bei der Behandlung der Ethismoi zutage — : vor allem in g. wurde deutlich, wie die Übung am Kleinen stellvertretend nur an einem Bereich dargestellt werden konnte. In v.p. ist Plutarch auch an den Bereichen selbst interessiert, deren er mehrere exempli gratia aufzählt. Li. : Eins der υγιεινά παραγγέλματα besteht darin, ungesunde Gegenden zu meiden oder sich, wenn man sich in ihnen befindet, vorzusehen. So bedarf es auch in zum Selbstlob reizenden Situationen der Vorsicht (546Bf.). Erstens (πρώτον) ist Vorsicht am Platz έν τοις άλλοτρίοις 108
έπαίνοις (C), zweitens (δεύτερον) beim Bericht von eigenen Großtaten u. dgl. (D ff.), ferner beim Tadel anderer (Ff.), schließlich, wenn man von anderen gelobt wird (547 Β ff.). Sichtlich handelt es sich um φυλακαί in der Art von g. 22. Andererseits läßt sich eine Stufung mindestens des ersten und zweiten Schrittes heraushören. Der Bericht eigener Leistungen führt unmerklich ins Eigenlob, das Lob, das anderen gezollt wird, noch längst nicht. Plutarch hatte anfangs (Kap. 3, vgl. Kap. 17) auf die Häßlichkeit des gegen das Lob anderer angehenden Eigenlobs hingewiesen, das nicht nur hohl, sondern auch βάσκανον und κακόηθες sei; dies Empfinden dürfte die meisten davon abhalten, auch wenn sie die Anstößigkeit der Großsprecherei sonst nicht sehr merken. Die φυλακαί der Kap. 20f. sind locker angeschlossen. Kap. 20 richtet sich zudem vornehmlich an eine Gruppe. Kap. 18f. bieten aber eine klare Mischform der Methoden von g. 19 f. undg. 22: methodisch fortschreitendes Üben an gefährlichen Situationen. Beider Vorzüge scheinen dadurch vereinigt zu sein. Kap. 4-17 bringen Regeln für das Wann und Wie des unanstößigen Selbstlobs. Diese Regeln fallen aus dem Rahmen der Heilungsschrift heraus : Sie betreffen nicht das richtige Verhalten in der zum falschen Selbstlob führenden Situation, wie die Vorschriften v.p. lOff. dem Abwehren der unverschämten Forderung (also der den Krankheitsausbruch verursachenden Situation) dienen, sondern sie sind an der Technik des richtigen Selbstlobs an sich interessiert. Die Schrift hat von Anfang an (Kap. 1/2) ein doppeltes Interesse : an der Heilung vom falschen und an der Technik des richtigen Selbstlobs79. Wie kommt es zu den verschiedenen Askesisformen? Es liegt nahe, wieder mit ihrer Beziehung auf das πάθος-Bild zu rechnen (vgl. S. 86). Wir beschränken unsere Untersuchungen im Fall des Epilogismos auf an allen Schriften zu beobachtende Momente, die zugleich die gewichtigsten sind: a) auf den Vergleich des eigens zum Epilogismos empfohlenen Themas mit dem πάθος-Bild, b) auf dessen Beziehung zu der Relation zwischen Epilogismos und anderen Therapieformen. Aber b) müssen wir gleich ausschalten : Wie will man feststellen, ob etwa die Vorbereitung des Ethismos durch den Epilogismos mit der Schwatzhaftigkeit, wie sie in g. auftritt, zusammenhängt? a) führt dagegen zu einem positiven Ergebnis. Es könnte durchaus sein, daß Plutarch in g. und c.i., den schlimmsten πάθη, jeweils alle vorgetragenen αίσχυναι und βλάβαι mit den Gegenbildern zu bedenken aufgibt, während den als harmloser dargestellten drei übrigen πάθη nicht durch das Bedenken aller denkbaren schlimmen Schäden zugesetzt zu werden braucht. Zu dieser Feststellung müßten wir allerdings unsere wohl 79
Vgl. Ziegler 148/784, bes. Radermacher, Rh. Mus. 52,419ff.
109
begründete Annahme, daß die Differenzen bei der Formulierung der Epilogismoi unwesentlich sind (vgl. S. 112), verlassen. Die Betrachtung der Ethismoi ergibt ein ganz anderes Bild. Wir sahen oben, daß Plutarch durchaus scharf gegen die πάθη vorgehen konnte; das έξωθείν der bösen Neigung war ihm das beste, immerhin gab er sich auch mit einer Umstellung des πάθος zufrieden: dies geht aus c. 1 hervor. Nun beginnt diese Schrift gleich mit dem Umstellen. Die Neugier, das Interesse an Schlechtem und Verborgenem, soll auf erträglichere Gebiete gelenkt werden. Dies erweist sich, am Ende als nicht durchführbar, und Plutarch kommt zur αποτροπή, die offenbar das έξωθείν bewerkstelligen soll und die reine φιλομάθεια zum Ziel hat. Die dazu dienende Methode ist der Ethismos vom Kleinen her. Dieselbe Methode dient aber auch zur Bekämpfung der δυσωπία, einer Krankheit, die gute Seiten, einen guten Hintergrund hat, und der soll ja nicht verletzt werden. Die Vorsicht bei der Behandlung wird eigens gefordert. Auch das Selbstlob wird, wie gezeigt, graduell bekämpft, obwohl Plutarch, wie die Kap. 2, 4-17 deutlich machten, kein Interesse an seiner völligen Beseitigimg hat. In g., c.i. uxid l.i. werden φυλακαί empfohlen. Hängt diese Tatsache mit den πάθη zusammen? In l.i. werden sie mit den Ethismoi vom Kleinen her zu einer einheitlichen Methode verbunden, in g. stehen sie unverbunden neben ihnen, in c.i. werden sie ausdrücklich fallengelassen, allerdings mit der Betonung ihrer Wirksamkeit. Allgemein treten sie neben anderen Formen oder mit ihnen vermischt auf, und zwar sowohl bei den übelsten πάθη als auch bei dem als recht harmlos geschilderten Selbstlob. Auch ihre Anwendung steht also in keiner Beziehung zum Affekt. Das παρατρέπειν findet sich nur in g., in c. wird es kritisiert. Allein genommen dürfte man sein Gewicht nicht hoch veranschlagen, und so kann es auch das Gesamtgewicht der Methoden in g. nicht merklich erhöhen. Aber selbst wenn man darauf besteht, daß dem schlimmsten πάθος auch die meisten praktischen Therapieformen beigegeben werden (und es sei nicht beachtet, daß der Zorn noch unfreundlicher behandelt wird), so könnte dies nur ein Indiz für die Beziehung πάθος Therapieform sein, wenn sicher wäre, daß die drei Formen nicht wahlweise, sondern zusammen angewandt werden sollten. In c.i., das den Zorn scharf bekämpft, wird durch die Behandlung der Ursache geheilt. Ein möglicher Grund dafür kann darin liegen, daß Plutarch den Zorn gemäß seiner Erörterung v.p. 2 ganz vernichten will, während er die übrigen wegen ihrer größeren Harmlosigkeit toleranter behandelt. Für c.i. dürfte dann aber strenggenommen keine andere Methode als die Ursachenheilung möglich sein. Es zeigt sich jedoch, daß die in Kap. 11 vorgeschlagene φυλακή zwar zunächst vorsichtig disqualifiziert, dann aber ihre mögliche Wirksamkeit wieder 110
herausgestellt wird (c. i. 12 in.). Noch deutlicher ist folgendes : Auch ein sehr harmloses πάθος, das ausdrücklich nur gemäßigt werden soll, der Zorn aus μισοπονηρία, wird durch Ursachenheilung behandelt. Symptomheilung und Ursachenheilung kann der Arzt also nach Beheben für πάθη verschiedener Art anwenden. Wie oben (S. 86) lassen sich nun verschiedene Schlüsse ziehen. a) Unter der Voraussetzung, daß bestimmte Ethismoi als schärfste Heilmittel empfunden werden, läßt sich das Verhältnis der πάθοςBilder zu ihnen nach größerer oder geringerer Harmonie ordnen. Wird die Ursachenheilung als besonders durchgreifend empfunden, so kommen wir zu dem seltsamen Schluß, daß c.i. zugleich die vollkommenste und unvollkommenste Schrift ist; wählt man die Ethismoi vom Unbedeutenden her, so verdienen g. und c.i. alles Lob, schlechter kämen l.i. und v.p. weg. Schließlich kann man auch die Verbindung von diesen Ethismoi mit den φυλακαί mit einigem Grund für ein besonders scharfes Heilmittel halten: dann ist wieder l.i. sehr schlecht, c.i. nicht minder, da dort die φυλακή zwar nicht beseitigt, aber zurückgestellt wird, gut wäre g., wohl auch c. und v.p. b) Die Qualität des Verhältnisses beruht überall auf Zufall. Wenn dies der Fall ist, so kann es α) auf Desinteresse an der Methode überhaupt schließen lassen oder auch ß) darauf, daß zwar methodisches Interesse vorliegt, dies sich aber ausschließlich den Therapieformen oder auch dem πάθος-Bild, aber losgelöst davon, zuwendet. Wir untersuchen die Schriften also daraufhin, ob sich die in ihnen angewandten Methoden entwickeln, d. h. auf ihr Verhältnis zueinander hin. Zunächst ist es wichtig, das Gewicht der beiden großen Teile der Therapie, Krisis und Askesis, in den einzelnen Schriften zu beobachten (vgl. S. 79 Anm. 16). Dies wirft zwei Fragen auf: 1. Wie ist bei einer derartigen Untersuchung der Epilogismos zu behandeln, der zur Askesis gehört, aber den Stoff der Krisis beinhaltet? 2. Wie soll man überhaupt das zur Krisis Gehörige genau bestimmen, wo sich Aussagen zum Wesen des πάθος in der Regel in der ganzen Schrift, auch unter den Ethismoi, befinden ? Wir halten uns im folgenden an die Definition von g. 16 und verstehen unter Krisis den Teil der Schrift, in dem Plutarch das πάθος schildert, ohne auf die Möglichkeit der praktischen Verwendung dieser Schilderung einzugehen und auch ohne Übungen zu empfehlen. Einem Vergleich dieser Krisis mit der Askesis können wir entnehmen, ob eine Schrift eher Predigt oder praktische Anleitung ist. Ganz eindeutig überwiegt in g. die Krisis (542 Zeilen: 303 Zeilen)80. Wir stellten uns mehrfach auf den Standpunkt, die μεθολκή-Empfeh80
Den Zählungen liegt die alte Teubnerausgabe von Bernardakis zugrunde.
111
hingen c. 1-5 gehörten zur Krisis; danach überwiegt diese auch hier (547 : 230). In c.i. fehlt die Krisis, was mit der speziellen Form der Schrift erklärt werden muß: Fundanus erzählt von seiner eigenen Heilung; er braucht sich nicht erst zu beweisen, daß der Zorn βλάβαι und αίσχϋναι mit sich bringt. In diesem Fall zählen wir die Epilogismoi als Krisis; die allgemeinen Betrachtungen zur Heilung (Kap. 2-5) und die Einleitung des Dialogs werden gesondert gezählt. Kap. 1: 49, Kap. 2-5: 141, Epilogismoi/Krisis: 235, Askesis (Ethismoi): 353. Die Ethismoi überwiegen; Kap. 2-5 gehören, je nach Blickwinkel, entweder zur einen oder zur anderen Seite. In v. p. ist die eigentliche Krisis (Kap. 3/4) verschwindend kurz, auch wenn man Kap. 9 (Epilogismos) und sonstige sachlich zur Krisis gehörige Stellen hinzunimmt. Noch deutlicher wird dies Verhältnis in l.i. Selbst wenn man nur die therapeutischen Abschnitte zählt (Kap. 1-3, 1822), ist die Askesis stärker (85 — dabei ist Kap. 2, das eigentlich hier nicht hingehört, mitgezählt — : 113). Rechnet man die Kap. 4-17 mit, so läßt sich erst recht sagen, daß das Interesse von l.i. am Predigen sehr gering, an der Praxis um so größer ist. — Sodann sind Arten, Funktion und Rang des Bedenkens in den einzelnen Schriften zusammenzustellen. Zuerst zum Verhältnis des Epilogismos zur Krisis. Identität der Stoffe hegt in c.i. vor, mit geringfügiger Abweichung auch in g., c. und l.i. In v.p. unterscheidet sich der in Kap. 9 dargelegte Stoff des Epilogismos von dem der Krisis (Kap. 3). Die Bedeutung dieser Erscheinung ist nicht ganz sicher (vgl. S. 103 und S. 114); daß aber überhaupt αίσχϋνοα und βλάβαι, die Stoffe der Krisis, Gegenstand des Bedenkens auch in v.p. sind, beweist Kap. 19. Danach darf man wohl sagen, daß das Verhältnis von Epilogismos und Krisis in allen Schriften als gleich aufgefaßt werden kann. — Ein positives Gegenbild zum Affekt wird in der Krisis von g. genannt und Kap. 17 zum Gegenstand des Bedenkens gemacht. Ebenfalls enthält der Epilogismos zur Bekämpfung des Zorns den Preis der Sanftmut. Die Krisis von c. kommt implizit auf das richtige Verhalten zu sprechen, nämlich im Rahmen der scheiternden μεθολκή-Empfehlungen. Wenn der Epilogismos die προεγνωσμένα betrifft, dann sicher auch dies Gegenbild. Ausgeführt, wie in g., zu einem zweiten Epilogismos wird es hier nicht. Dagegen tritt das Bild des richtigen Verhaltens noch an verschiedenen Stellen der Ethismoi hervor. Aber auch in g. und c.i. finden sich naturgemäß in die Ethismoi Beispiele der entsprechenden Tugend eingestreut. In v.p. findet sich ein Anflug eines zweiten Epilogismos im Kap. 17 in. ; vom ersten Epilogismos ist er getrennt durch die kasuistischen Hinweise zum richtigen Verhalten. Sie bilden das eigentliche Gegengewicht zur Vorstellung des πάθος. Auch die Schrift über das Selbstlob besitzt keinen zweiten Epilogismos; wie in v.p. bildet hier die Kasuistik des Wohlverhaltens das Gegengewicht zum πάθος. Eigent112
liehe zweite Epilogismoi haben also g., c.i., v.p.; c. und l.i. kommen ohne sie aus, allerdings ist ihr Inhalt in c. implizit im Epilogismos enthalten, in l.i. kann auch davon keine Rede sein. Die Verwandtschaft von l.i. und v.p. wird deutlich: Das Gegenbild der πάθη bringen vor allem die technischen Ratschläge zum richtigen Verhalten mit sich. — Die Schlüsse von g., c., v.p. und l.i. sind Epilogismoi gewidmet; c.i. endet mit einer Ethismosempfehlung, auch l.i. steht für sich, weil es hier der einzige Epilogismos ist, mit dem die Schrift ausklingt. In g. wird zunächst empfohlen, die Ethismoi mit bestimmten Betrachtungen zu begleiten, dann, die Kraft der Askesis zu bedenken. In c. ist es ein zuvor nicht erwähntes Stück der Krisis des Affekts, dessen Betrachtung Plutarch noch aufgibt, in v.p. ist es ebenfalls eine Seite des πάθος, seine Beziehung zur Reue, die gerade diesen Schlußepilogismos bedingt, c. und v.p. gleichen sich danach am meisten. — Daß gewisse Akte des Bedenkens die Ethismoi begleiten, verlangen ausdrücklich oder implizit alle Schriften; hierzu gehören auch die Begründungen, überhaupt alle Erläuterungen der Ethismoi, gleich, in welcher Form sie vorgetragen sind. Daß das Gegenbild des πάθος natürlicherweise in den Ethismoi zur Sprache kommt, war bereits oben gesagt worden. Das Verhältnis des Bedenkens des Krisismaterials zu den Ethismoi : In g. dienen die Epilogismoi als Weg zum έθίζεσθαι φεύγειν, also : Der Gesamtepilogismos führt zum Komplex der Ethismoi. Sodann zeigte sich, daß der Krisisinhalt in handlich-gekürzter Form die Ethismoi zu begleiten hatte. Aus c. ergibt sich, daß das Bedenken des Krisisinhalts in etwas milderer Form zwar zur Heilung sehr nützlich, aber den praktischen Übungen untergeordnet ist. In c.i. dient der Epilogismos zur Heilung, aber er ist nicht hinreichend. In diesen drei Schriften ist der Epilogismos vom Ethismos unabhängig, wenn auch nicht ohne ihn wirksam. Daß der einzelne Ethismosakt von einem mentalen Impuls ausgehen muß, dürfte Plutarch auch bei der Abfassimg dieser Schriften klar gewesen sein. Aber dieser Impuls war nicht das Betrachten des Krisisinhalts, sondern seine Vorbereitung, durch die Situation und Affekt aufeinander bezogen werden. Ζ. B. : Der Schwätzer, der sich heilt, entdeckt ein geeignetes Objekt, bei dem er seinen Wortschwall abladen kann, etwa einen Untätigen. Die erste Stufe des richtigen Verhaltens besteht in der Erkenntnis, daß, was jetzt droht, Geschwätz ist und die entsprechende Kontrolle : τίς ó λόγος ó έφεστώς ; . . . (g. 514E) ; daran schließt sich nach derselben Stelle die Frage nach dem Nutzen und Schaden des bevorstehenden λόγος, also der Epilogismos, an. In c. und c.i. kann es sich ähnlich verhalten, obgleich von einem die Ethismoi begleitenden Bedenken der αισχρά und βλαβερά nicht die Rede ist. Verschieden von allen bisher besprochenen Formen ist das Verhältnis von Epilogismos und Ethismos in l.i. Danach muß man Vorsicht walten lassen in bestimmten Situationen, und die beste 113
Vorsichtwaltung besteht im Bedenken der Tatsache, daß Selbstlob unangenehm ist. Der Epilogismos wird also als (vollkommenster) Ethismos angewandt, nicht nur als seine Vorbereitung, sein Hintergrund oder sein schwächerer Begleiter. Die Besprechung des mentalen Teils der Therapie steht in Li. hinter der des praktischen; darin gleicht ihm v.p. Wir erinnern uns der Trennung von absoluten und relativen Aspekten der Schäden in v.p. Der Grund könnte (wie wir nun von l.i. aus urteilen können) in der Tatsache gesehen werden, daß die absoluten Schäden, wenn sie im Sinne von l.i. als Vorsichtsmaßnahmen verwendet werden, höchstens amüsieren; wenn mir jemand zutrinkt, und ich denke dabei an das Ende des armen Dion (absolute βλάβη), so lasse ich mich dadurch bestimmt nicht vom Trinken abhalten. Wirksamer ist, wenn ich bedenke, daß ich zwar im Moment als Mann gelte, später, unter dem Tisch (relative βλάβη), gewiß nicht mehr. Diese Interpretation ist möglich, nicht sicher; S. 112 war eine andere Möglichkeit erwogen worden. Daß das Bedenken von βλάβαι und αίσχϋναι aber auch nach v.p. immittelbar zur Heilung führen kann, bewies uns Kap. 19. Es ist also wahrscheinlich nicht mehr als Vorbereitung des Ethismos zu fassen. Von einem minderen Rang des Epilogismos ist nichts mehr gesagt, v.p. könnte die Brücke von g., c. und c.i. nach l.i. sein. Das Verhältnis der Ethismosformen zueinander: In g. finden sich drei Methoden nebeneinander; man sieht nicht recht, ob man sie alle zugleich anwenden soll oder wahlweise. Auch in c.i. sind mehrere Übungswege eingeschlagen. Der letzte, der das πάθος für eine Zeit unterdrückt, paßt sich gut an jede andere Form an: er ist die Art, in der sich die anderen vollziehen können. Die Übungen des Kap. 11 werden kritisiert: es handele sich vielleicht nicht um eine Heilung, sondern um Vorsicht vor Fehltritten im Zorn. Doch dann wird dieser Methode ausdrücklich bescheinigt, daß sie auch auf ihre Weise wirken könne. Die Kap. 12ff. kurieren nicht den Zorn, das „Symptom", sondern die Ursachen. Dieser Heilung hegt das Schema άπο των μικρών zugrunde. Kap. 16, das den Zorn aus μισοπονηρία bekämpft und zu diesem Zweck zum Vorbeugen gegen Enttäuschungen aufruft, beruht ebenfalls auf dieser Methode, wie sich zeigt. Ursachenheilung und Enthaltsamkeit auf Zeit finden sich in den übrigen Schriften nicht, obgleich beides nicht nur zur Heilung des Zorns nützlich ist. In c. findet sich implizite Kritik an der dritten in g. empfohlenen Methode, dem Umwenden, c. 5, wo dem Kranken vorgeschlagen wurde, sich auf dieWissenschaft zu werfen, und 6 in., wo die Unmöglichkeit des Unterfangens sich zeigte, wirken wie eine nachträgliche refutatio auch von g. 22 fin. f., wo dem Schwätzer dasselbe vorgeschlagen war. Es ist möglich, daß sich in diesem Verhältnis die Priorität von g. zeigt. Gegen die Neugier angewandt wird die Therapie άπο των μικρών επί τά μείζονα. Sie dient auch zur Bekämpfung der falschen Nachgiebig114
keit. In c. wie in v. p. finden sich Begründungen für sie. Was v.p. von den bisher besprochenen Schriften unterscheidet, ist das Hinzukommen der Technik des Wohlverhaltens, die den Rahmen der Heilungsschrift verläßt. In 1. i. schließlich findet sich ein Ethismos, der die Vorzüge sowohl der Therapie άπο των μικρών als auch der, die direkt an χωρία ολισθηρά ansetzt, vereinigt. Die Tendenz, Methoden zu vereinigen, zeichnet diese Schrift aus ; wir sahen schon, wie sie den Epilogismos in den Ethismos hineinnahm. Zugleich findet sich hier wieder Interesse an der Technik des Wohlverhaltens, wenn auch in anderer Weise als v.p. Wohlverhalten kommt in den übrigen Schriften, wie es ja natürlich ist, im Rahmen der eigentlichen Therapie zur Sprache. In g. wird seine Erhabenheit dem Epilogismos empfohlen (Kap. 17, vgl. 4, 8f.), ebenfalls in c.i. (Kap. 9); in c. nicht minder, da die gesamte Krisis im Gedächtnis behalten werden soll, in deren Verlauf recht ins einzelne gehende Vorschläge zum richtigen Verhalten gemacht wurden, sodann auch während der Ethismoi. Es zeichnen sich folgende Gruppen ab: g., dann c. und c.i. mit ihrem kritischen Besinnen auf die Methode, dann v.p. und l.i., die nicht mehr kritisieren, mit ihrer Verhaltenstechnik. Die Linie scheint von g. nach 1. i. zu führen ; in g. findet sich ein verhältnismäßiger Reichtum an Methoden, aber Unklarheit über ihre Eigenart und ihren Heilungswert. Letzteres versuchen c., c.i. und v.p. zu beseitigen, indem sie nur je eine Methode, deren Anwendung c. und v.p. eigens erklären (auch c.i. hat seine methodische Betrachtung), verwenden; l.i. scheint den Reichtum von g. mit der nötigen methodischen Klarheit zu verbinden, indem es beide nicht kritisierten Methoden zu einer macht. Diejenigen unserer vorausgehenden Untersuchungen, die auf ein verhältnismäßig klares und alle Schriften betreffendes Urteil hinausliefen, waren zugleich die gewichtigeren, nämlich die, die sich der Relation der großen Heilungsteile zuwandten. Der Vergleich des Interesses an Krisis und Askesis ergab die Gruppen g./c., c.i., v.p./l.i. Das Verhältnis von Epilogismoi und Ethismoi: g., c./c.i., v.p., l.i. Das Verhältnis der Ethismosformen zueinander: g., c./c.i. (nahm Sonderstellung ein!), v.p./l.i. Mit großer Wahrscheinlichkeit ergibt sich die Reihenfolge: de garrulitate de curiositate de cohibenda ira de vitioso pudore de laude ipsius. Die Untersuchung zur „Buntheit" der Schriften (S. 73) läßt sich sachlich von der zum „Gewicht der Krisis" (S. 111 f.) nicht trennen; wir führen sie also nicht eigens auf. Allerdings müssen wir uns der 115
S. 86 (bß) aufgestellten Reihenfolge zur Anwendung der Todestherapie erinnern: g., v.p./c., l.i./c.i. (Stellung von g. und l.i.!). Die relative Glätte dieses Ergebnisses empfiehlt es gegenüber jenem Durcheinander, das sich aus dem Vergleich von πάθος-Bild und Therapieformen ergab, als das vermutlich richtige. Desinteresse Plutarchs an der Methode überhaupt dürfte damit ausgeschlossen sein. Es wäre günstig, wenn man die obige Reihenfolge mit äußeren Indizien untermauern könnte. Eine chronologische Betrachtung wird unser Ergebnis zwar nicht entscheidend stützen, doch von neuer Seite wahrscheinlich machen. Die Ausführlichkeit gibt ihr Exkurscharakter. Eine Chronologie der Schriften Plutarchs ist nach sprachlichen u n d inhaltlichen Kriterien schon öfters versucht worden. Zieglers Auffassung, die rhetorisch-epideiktischen Schriften seien die „aller Wahrscheinlichkeit nach ältesten" (82/719; 295/933), ist seit Hirzel (Der Dialog. E i n literarhistorischer Versuch, Leipzig 1895, I I 124-127) communis opinio. F . Krauss (Die rhetorischen Schriften Plutarchs u n d ihre Stellung im Plutarchischen Schriftenkorpus, Diss. München 1912) untersuchte den Abstand zwischen ihnen u n d dem Spätwerk Plutarchs, wozu sicher an seni (vgl. 783 C) gehört, in der Verwendung rhetorischer Mittel; von den uns angehenden Schriften behandelt er c., wovon er meint (Rhet. Sehr. 88), es neige „abgesehen von der großen Zahl der Asyndeta . . . zu den späteren Schriften". Hier Kraussens Ergebnisse nach der „Zusammenfassenden Tabelle" (p. 87) in K u r z f o r m : Polysyndeta c.: 6,04 (je 100 Zeilen); fort. R o m . : 19,85; an seni 5,54; ν . Rom. (sicher eine der letzten Biographien, die ohnehin spät sind, s. Ziegler 262f./900) 0,41. Asyndeta c.: 8,24; fort. R o m . 4,15; de superst. 16,96; an seni 1,21. Rhetorische Fragen c.: 0,92; fort. R o m . 2,00; de superst. 4,24; an seni 0,81. Eine auch im einzelnen sichere Chronologie läßt sich auf diesen Daten nicht erbauen ; wie der Geschmack Plutarchs in vermutlich ein u n d derselben Zeit schwanken kann, zeigt der Vergleich der Asyndeta in de superst. u n d fort. R o m . Die von ihm f ü r echt gehaltenen Schriften ordnete O. Kolfhaus, Plutarchi de communibus notitiis librum genuinum esse demonstratur, Diss. Marburg (1907, 13ff.)nach der Häufigkeit d e r H i a t e . Das sich ergebende Bild entspricht weitgehend den sicheren u n d wahrscheinlichen Ergebnissen der Chronologie. Die Schrift an seni weist je 100 Zeilen 0,81 H i a t e auf, de superst. 3,23, aquane an ign. sogar 8,97. Eine in jedem P u n k t befriedigende Zeitfolge läßt sich aber auch aus Kolfhaus' Untersuchung nicht ableiten; die Differenzen sind zu geringfügig. 69 Schriften h a t K o l f h a u s behandelt, die vorletzte ist l.i. mit 0,34 Hiaten, Nr. 33, de fac., h a t 2,1 Hiate. Zudem fällt eine große Diskrepanz a u f : Nach K o l f h a u s h a t de aud. poet, die wenigsten Hiate (0,20), aber es m u ß geschrieben sein, als Plutarchs Sohn Soklaros noch ein K n a b e war (15A), also wohl doch vor 90 (vgl. Ziegler 72/709). Unsere Schriften bilden bei K o l f h a u s folgende Reihe: 16. 21. 47. 53. 68.
de de de de de
garrulitate curiositate cohibenda ira vit. pudore laude ipsius.
E s scheinen sich deutlich drei Gruppen abzuzeichnen: g./c., c.i./v.p., l.i. Eine Nachprüfung speziell dieser uns interessierenden Folge zeigt aber, d a ß der Eindruck der Klarheit täuscht. Nicht immer scheinen K o l f h a u s ' Kriterien scharf 116
genug; so schließt er zwar die Zitate bei der Hiatsuche selbstverständlich aus (obgleich er sie zur Zeilenzahl der Schriften mitrechnet), aber es ist nicht in jedem Fall sicher, was als Zitat verstanden werden m u ß . Wenn er z.B. in v . p . sieben Hiate findet, so m u ß er die Worte des Monedemos : έγώ δ' άεΐ ψέγω Άλεξΐνον (536Β) wie das Piatonzitat γράφω δέ σοι ταϋτα περί άν&ρώπου, ζφου φύσει εύμεταβόλου (533 C) mitgezählt haben. Der H i a t des Piatonzitats geht nicht auf das Original zurück (dort findet sich ein anderer: . . . ζώου άλλ' . . . [ep. 13, 360D]), aber in der in v . p . erscheinenden F o r m war das Zitat Plutarch geläufig — vielleicht h a t er es so aus einem Florilegium entnommen — : c.i. 463 C ist auf dieselbe Stelle angespielt : . . . ωζ φύσει εύμετάβολον ζωον heißt es dort wieder. I m Groben wird m a n K o l f h a u s ' Reihe aber akzeptieren können: Ein Vergleich von v . p . mit c. zeigt, daß c. in der T a t hiatfreudiger ist. Den neuesten Versuch, eine größere Anzahl von Plutarchschriften nach inhaltlichen Gesichtspunkten chronologisch zu bestimmen, machte C. P. Jones ( J R S 56 [1966] 61 ff.), indem er die termini post quos feststellte — woraus sich natürlich nicht sicher auf die tatsächliche Abfassungszeit schließen läßt. Dennoch soll seine Aufstellung folgen, soweit sie unsere Schriften betrifft: 1. 2. 3. 4.
g. nach 68 (Neros Tod, vgl. 505Cf.). c.i. nach 92, vor 100? (Dazu K a p . 1 bei Jones, S. 61-63). c. nach 96 (Tod Domitians, 522 Df.). l.i. nach 100? (Wenn der Adressat Herculanus mit jenem identisch ist, den wir durch I G 5,1,380 als Priester der Kaiser in den J a h r e n 116/117 kennen u n d der lt. SIG 3 841 nicht lange nach 130 starb).
Der Spätansatz von l.i. wird von Ziegler 78/714 mit einem wahrscheinlich richtigen Schluß gestützt (Pohlenz G G N 1913, 359 Anm. 3 machte ihn mit anderen Mitteln wahrscheinlich). I n K a p . 20 ist von den Gefahren des Tadeins die Rede : hier beginnt m a n leicht mit dem Selbstlob, vor allem Greise neigen dazu. W e n n diese Greise n u n nicht nur ήλικία, sondern auch Ansehen haben u n d etwas leisten, d a n n ist ihnen Selbstlob zuzugestehen, οί δ' ίίλλοι σφόδρα φυλάττεσ&αι καΐ δεδιέναι τήν έκτροπήν ταύτην όφείλομεν. Die sich ergebende natürlichste Verbindung zwischen den Sätzen läßt ein γέροντες nach άλλοι ergänzen; der Satz wäre somit ein Zeugnis mit vielen anderen f ü r die Plutarch eigene gebildete Bescheidenheit. Wäre Plutarch kein Greis gewesen, dann m ü ß t e die Bemerkung, Greisen sei Tadel zuzugestehen, wenn sie Ansehen u n d άρετή hätten, mit ihrer peinlich gönnerhaften Attitüde geradezu unser Plutarchbild ins Wanken bringen. l.i. ist, wie wir sahen, bei K o l f h a u s die vorletzte Schrift; bei Jones h a t t e es von unseren Schriften den letzten terminus post quem. Wir dürfen hinzufügen, daß, wenn Zieglers Argument richtig ist, Plutarch bei der Niederschrift von l.i. sehr alt gewesen sein muß, denn es ziemt sich nicht, gewiß nicht f ü r einen so zurückhaltenden Mann wie Plutarch, als relativ junger Greis die noch Älteren zu schulmeistern; obendrein wäre er des Spotts der Achtzigjährigen sicher gewesen, wenn er sich als Sechzigjähriger alt genannt hätte, u n d wie sehr sich seine Schrift an die Alten wandte, zeigt ja gerade das 20. Kapitel. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist l.i. also die letzte unserer Schriften. Weitere Kriterien zur Chronologie sind rar. Nicht stichhaltig sind die Methoden von G. Hein ( Quaestiones Plutarcheae. Quo ordine Plutarchus nonnulla scripta moralia composuerit, agitur, Diss. Berlin 1916) u n d C. Brokate (De aliquot Plutarchi libellis, Diss. Göttingen 1913). Beide gehen davon aus, daß bei der Verwendung eines Gedankens, Bildes, Zitates in mehreren Schriften diejenige Schrift älter ist, in der Gedanke, Bild, Zitat präziser, eleganter usw. sind. Nach Hein ist l.i. vor v . p . u n d g. verfaßt (Quo ordine 42f.), nach Brokate g. später als c. (De aliquot Plut. lib. 47). Ziegler kritisierte beide mit Recht, 117
u.a. mit Hinweis darauf, daß für die antike Stilkunst die Anwendung der gegenteiligen Methode nachgerade nähergelegen hätte (80ff./717ff.). Von meinen eigenen chronologischen Versuchen ist nur zu bemerken, daß sie ergebnislos waren. Eine Zählung der Häufigkeit der Partikeln καί, καίπερ, καίτοι, τε, γάρ, μέν, δέ, οδν, 8ή, μέντοι, μήν, γε, γοϋν, τοίνυν pro Teubnerseite (ed. Bernardakis) ergab kein einheitliches Bild. Mitteilenswert mag sein, daß g. am seltensten καί und am häufigsten δέ hat. Hier sind die Differenzen in der Tat spürbar, g. hat 10,70 mal καί, die übrigen Schriften bewegen sich zwischen 12,40 (v.p.) und 13,86 (c.i.) mal, δέ erscheint in g. 5,06 mal, in den übrigen Schriften zwischen 4,05 (v.p.) und 3,43 (c.) mal. Die sprachstatistische Methode führt ja nur zum Erfolg, wenn die untersuchten Schriften, wie bei Piaton, auf einen langen Zeitraum verteilt sind. Dies scheint bei Plutarch nicht im selben Maße der Fall gewesen zu sein. „Ohne Zweifel sind die Biographien und ein großer Teil der ethischen Mahn- und Lehrschriften Erzeugnisse des gereifteren Alters unseres Autors, und bei den letzteren liegt das ja auch in der Natur der Sache", schreibt Ziegler 72/708; soweit sich diese Annahme nicht auf Beweise stützen läßt, dürfte zum mindesten ihre Wahrscheinlichkeit jedem Plutarchleser einleuchten. Auch eine weitere Untersuchung, die die Behandlung eines Affekts a (dem die Schrift A gewidmet ist) in einer Schrift Β beobachtet, führt zu keinem schlüssigen Resultat. Oft ließ sich neben einer Schriftenfolge auch die gerade gegenteilige verteidigen. Im ganzen wird man aber sagen können, daß Zieglers, Kolfhaus' und Jones' Untersuchungen unsere Auffassung, die Reihe verlaufe von g. nach l.i., doch entschieden stützen. Schon bloße Veränderung der Methode legt den Gedanken an eine Bemühung Plutarchs um sie nahe. Nun lassen sich die Veränderungen leicht auf eine Linie bringen, die eine Entwicklung darstellt, und diese Tatsache spricht schon in gewisser Weise dafür, daß eine Entwicklung auch tatsächlich vorliegt. Da darüber hinaus aber die Endpunkte dieser Linie wahrscheinlich chronologische Extreme sind, so dürfen wir so gut wie sicher damit rechnen, daß Plutarch sich mit der Methode befaßt hat und sie in der Weise ausbildete, wie oben (S. 115) dargelegt wurde. Die Entwicklung zeigte sich da als ein Fortschritt in der Klärung der Brauchbarkeit von Methoden und der Beziehung der brauchbaren Methoden untereinander. Ihre endgültige Ordnung verstärkt im Vergleich zu den früheren Schriften die Bedeutung des mentalen Elements in der Therapie. Von der Möglichkeit, daß der Epilogismos den Ethismos nur vorbereitet (in g.), kommt Plutarch vielleicht schon in c. zur Annahme seiner Unabhängigkeit, jedoch ist er niedrigeren Ranges; in c.i. ist er unabhängig, aber allein zur Heilung nicht hinreichend, in v.p. endlich gleichberechtigt und schließlich, in l.i., gehört er zum Ethismos als dessen wirksamste Art. b) „Das System der antiken . . . Psychagogik" hat nach Rabbow seinen Ursprung „in der großen Wende des hellenischen Menschentums, im 3. Jahrhundert v . C h r . . . . " ; diese Wende faßt er als „Innenwen118
dung" 81 . Zu dem System gehören mentale Akte; die Epilogismoi Plutarchs sind als „freie Meditationen" 82 eine ihrer Arten. „Diese έπιλογισμοί sind nicht gewöhnliche ,Überlegungen', wie sie im Vorgange der Belehrung und Erkenntnis sich von selbst verstehen . . ., sondern mehr: es sind methodische Akte der ,Erwägung', die als Eigenes neben der Belehrung des Lehrers und dem Lernen und Erkennen des Jüngers gefordert werden, als sittliche Verarbeitung des Gelehrten und Erkannten. Dies ist klar zu ersehen π. άδ. 16-17 ; π. δ. 9-12." 83 Es scheint aber, daß eine Trennung des Epilogismos vom Vorgang des Lernens nicht gerechtfertigt ist. Der Wortgebrauch Plutarchs jedenfalls zeigt, daß er an ein Lernen, nicht an einen Prozeß eigener Art denkt 84 : καταμανθάνειν (c.i. 455E), διδάσκειν (v.p. 532C) stehen deutlich genug neben άκούειν άεί, μεμνησ&αι (g. 510E), ύπομιμνήσκειν (v.p. 532D), ισχυρώς μνημονεύει (v.p. 536C) u.a. Plutarch dürfte der Auffassung sein, daß man den Sachverhalt lernt, die Schwatzhaftigkeit sei schädlich, das Schweigen erhaben und nützlich, ihn sich immer wieder vorsagt, nachdem man ihn einmal kennt, nicht anders, als man sich heute eine chemische Formel einprägt. Was das Lernen bei Plutarchs Seelenheilung von anderem unterscheidet, ist das Gebiet, worauf das Gelernte angewandt wird, nicht sein eigenes Wesen. Das λογιστικόν muß durch Zufuhr bestimmter λόγοι in den Stand gesetzt werden, die Affekte besser zu kontrollieren. Zweifellos bedienen sich der Lehrer, der die λόγοι darbietet, und der Lernende, der sie rezipiert, rhetorischer Mittel, was schon im platonischen Menon angedeutet ist. Wenn Sokrates mit dem Sklaven die Aufgabe durchgeht, so begibt er sich zunächst auf dessen Niveau : schon dies ist ein sachfremder Beitrag. Nach der Kenntnis des Ergebnisses hat der Sklave nur eine traumartige Meinung ; τά αύτά ταϋτα muß oft und auf vielfache Weise (πολλάκις, πολλαχη) gefragt werden, um eine έπιστήμη entstehen zu lassen (85C). Wesentliche Elemente der Rhetorik, Wiederholung und Variation, sind hier als konstitutiv für den Lernvorgang erkannt 85 . Aber sei der Epilogismos auch so zu erklären, wie Rabbow es tut, sei er nicht ein Lernen und so alt wie dies, sondern eine spezielle Form der Aneignung von Stoffen, die durch Ausdrücke wie φαγεΐν, πέττειν, in medullas demittere terminologisch, nicht bildlich (wie ich aller81
82 83 Seelenf. 17. Ib. 148ff. Ib. 340. Vgl. auch ib. 23f. ; ein psychischer Vorgang, der zwischen Nachdenken und Verdauen steht, ist mir allerdings kaum vorstellbar. Die Nähe der Beherzigungsakte zum „denkendenVergegenwärtigen" stellt mit Recht W.Schmid, Epikur, RAC 5, 1962, 745 heraus. 85 Wenn Sokr. den Terminus διδάσκειν für sein Tun ablehnt (vgl. Jaeger, Paideia II 239) und das Wissen des Sklaven auf Wiedererinnerung zurückführt, so braucht uns das hier nicht zu interessieren. Es geht uns um die Frage, wie das, was mit dem Sklaven geschieht und geschehen soll, geschieht, nicht darum, was dieser Vorgang in seinem Wesen nach Piatons Deutung ist. 84
119
dings meine) bezeichnet wird 86 , so läßt sich nichtsdestoweniger sein Vorhandensein vor dem 3. Jahrhundert, und zwar an zentraler Stelle, nachweisen 87 . G. Luck zeigt, daß es „im antiken Denken auch eine Form der geistigen Askese (gibt), die nicht nur Selbstzweck ist, sondern Mittel zu einem höhern Ziel, der reinen Schau" 8 8 . Als Beispiele nennt er Aristoph. Wolken 694 ff. und den Phaidon. Dem Leser des Phaidon kann es gelingen, von diesem höheren Zweck der Askese abzusehen ; die Gegenstände der Schau werden dann zum Inhalt eines regelrechten Epilogismos. Sokrates scheint es, als fürchteten Simmias und Kebes sich wie die kleinen Kinder : μή ώς άληθώς ó άνεμος αύτήν (sc. τήν ψυχήν) έκβαίνουσαν έκ τοϋ σώματος διαφυσα και διασκεδάννυσιν, άλλως τε και δταν τύχη τις μή έν νηνεμία άλλ' έν μεγάλοι τινί πνεύματι αποθνήσκων (77Df.). Auf den Scherz geht Kebes ein und bittet Sokrates, das Kind in ihm vom Gegenteil zu überzeugen (μεταπείθει 77E6). Αλλά χρή, εφη 6 Σωκράτης, έπάδεί,ν αύτω έκάστης ήμέρας εως άν έξεπφσητε (77Ε 8f.). Kebes fragt nach einem guten έπωδός, Sokrates empfiehlt jeden als seinen eigenen. Gegenstand der επωδή ist die nun dargelegte Ideenlehre, die 84A zu Ende geht; die Seele des Philosophen, heißt es dort, glaubt, leben zu müssen : επομένη τω λογισμω καί άεί έν τούτω οδσα, το άληθές και τό θείον καί το άδόξαστον θεωμένη και υπ' έκείνου τρεφομένη, und wenn der Tod eintritt, in das Verwandte zu gelangen und von den menschlichen Übeln frei zu werden: έκ δή της τοιαύτης τροφής ούδεν δε ivoν μή φοβηθή . . ., δπως μή διασπασθεϊσα έν τη απαλλαγή τοϋ σώματος ύπό των άνέμων διαφυσηθεΐσα καί διαπτομένη οΐχηται καί ουδέν ετι ούδαμοΰ ή. Es handelt sich hier zweifellos um eine Epilogismosempfehlung zur Heilung von einem πάθος, der Todesfurcht; die Eigenart des Vorgangs wird durch die Worte άεί έν τούτω (sc. τω λογισμω) οδσα und durch das Bild von der τροφή der Seele hervorgehoben. Verschieden vom plutarchischen Epilogismos ist sein Thema — die Ideenlehre und ihre Konsequenzen für die Seele und den Lebenswandel 89 . Wir werden 88
Rabbow, Seelenf. 23 f., 325 f. Wenn I. Hadot (vgl. S. 9 Anm. 18) 37 und P.Hadot in einem unveröffentlichten Vortrag (a.a.O. 38) die method. Psychagogie als einen Grundzug der philos. Schriftstellerei der Antike, auch der klassischen Zeit (a.O. 37: „Der platonische Dialog... i s t . . . eine Askesis") nachweisen, so bedeutet dies eine Stütze für unsere folgenden Darlegungen. — Es erscheint auch nicht unnütz zu erwähnen, daß Epikur, dessen Philosophie überhaupt eine -—· sich bes. durch λόγοι vollziehende — Seelenheilung, Therapeia und Askesis, ist (Schmid a.a.O. 740, 743), in der neueren Forschung immer mehr mit seinen Vorgängern verknüpft wird (ib. 717). Zu dieser Tendenz fügen sich die folgenden Skizzen, die die Innenwendung, die sich besonders im Kepos vollzog, als eine Spezialisierung des Interesses, nicht als eine Entdeckungstat verstehen lassen wollen. 88 Rez. Rabbow, Gnomon 28 (1956) 271. 88 Zum Epilogismos mag auch noch der Schlußmythos (s. 144 D) gehören (P. Lain-Entralgo, Hermes 86, 1958, 302f.). Zu verwandten Stellen bei Piaton s. Lain-Entralgo 298ff. 87
120
aber im weiteren Verlauf unserer Untersuchung noch ein vorpiatonisches Zeugnis für einen Epilogismos zu besprechen haben, das der Form Plutarchs auch in dieser Beziehung gleicht. Die Kraft der Askesis, die g. 515A zu bedenken gibt 90 , war schon Demokrit bewußt, wie frg. Β 242, DK I I 193,14f. zeigt: πλέονες έξ άσκήσιος άγαθοί γίνονται ή άπο φύσιος. Hier braucht allerdings nicht unbedingt an eine ethische Askesis gedacht zu sein; deutlich geht es um sie im 7. Buch von Piatons Nomoi (788Bf.): . . . έν τοις σμικροΐς και πυκνοΐς έθισθέντων των άνθρώπων παρανομεΐν . . . Die Erziehung muß also den umgekehrten Weg gehen; Herren und Sklaven dürften erkennen: 8τι χωρίς της ιδίας διοικήσεως έν ταϊς πόλεσιν ορθής γιγνομένης μάτην αν τά κοινά τις οϊοιτο εξειν τινά βεβαιότητα θέσεως νόμων . . . (790Af.), vgl. auch 791 Bf. : το δέ γε εναντίον άνδρείας άν φαΐμεν έκ νέων ευθύς επιτήδευμα είναι, το νικαν τά προσπίπτονθ' ήμΐν δείματά τε και φόβους. Die Vorschriften zur Vorsicht im einzelnen Fall sind ein noch gängigeres Erziehungsmittel; wir können uns Belege sparen, da sie in den Übungen am Kleinen impliziert sind. Ein Beispiel für die μεθολκή eines Leidens wird uns zugleich den Beleg für eine vollständige nach Plutarch mögliche Seelenheilung bieten; es handelt sich um den ersten Teil von Aristophanes' Wespen. Philokieon ist in seinem Haus eingesperrt. Er leidet an einer Krankheit (80, 87), die es mit dem φίλο- zu tun hat (77): er ist φιληλιαστής (88). Mit den seltsamsten Mitteln versucht er freizukommen, aber sein Sohn Bdelykleon ist ihm überlegen. Man einigt sich auf einen Agon auf Leben und Tod (522f., 654). Zuerst spricht Philokieon, der das Richterleben recht anschaulich preist. Dann beginnt die methodische Heilung. Die Rede des Bdelykleon hat, zusammengefaßt, den Inhalt, daß der Richter Philokieon, dem man vorgaukelt, Herr im Staat zu sein — und der auch eifrig daran glaubt (517f.) —, finanziell gewaltig betrogen wird und ganz natürlich mit dem Schaden auch den Spott zu tragen hat. Die Richter, rechnet Bdelykleon, erhalten nicht einmal ein Zehntel der Staatseinkünfte, der Rest kommt in die Hände derer, die vorgeben, alles für das Volk zu tun (666). Geschickt wird diese Sorte Mensch gegen die übertölpelten Philocleones ausgespielt : letztere haben das Nachsehen, erstere verschaffen sich das Ihre. Darin liegt in der Tat δουλεία ; der zweite Nachweis : Philokieon muß auf Befehl ins Gericht, und auch dort wird er betrogen. Nun ist der Alte fast schon weich (696f.): ταυτί με ποιοϋσ'; ο'ιμοι τί λέγεις; ώς μου τον θΐνα ταράττεις καί τον νουν μου προσάγεις μάλλον κούκ οΐδ' δτι χρήμά με ποιείς. 00
Zur Bedeutung der Gewöhnung im Verhältnis des λογικόν zum άλογον ist besonders noch virt. mor. 443 Β ff. zu vergleichen. 121
Aber Bdelykleon läßt nicht locker. Er fordert zum Bedenken auf (698): σκέψαι τοίνυν ώς έξόν σοι πλουτεΐν και τοΐσιν άπασιν υπό των άει δημιζόντων ούκ οΐδ' 0πη έγκεκύκλησαι . . . Die Herren wollen nur, daß Philokieon arm ist, damit man besser mit ihm hantieren, ihn nach Bedarf wie einen Hund hetzen kann. Wollten die Betrüger das Volk leben lassen, es wäre ein Leichtes f ü r sie — „doch jetzt, wie die Taglohndrescher im Herbst, so lauft ihr mit dem, der den Lohn zahlt" (Droysen). Philokieon versagt die Kraft (713f.): οΐμοί. τί πέπονθ' ; ώς νάρκη μου κατά της χειρός καταχεϊται και το ξίφος ού δύναμαι κατέχειν, άλλ' ήδη μαλθακός είμι. Aber es erfolgt noch ein Hieb Bdelykleons. Geht's den werten Führern mal selbst an den Kragen, versprechen sie das Blaue vom Himmel, was sie nachher geben, gleicht eher dem Schwarzen unterm Fingernagel. Dies seien die Gründe, weshalb Bdelykleon Anlaß gesehen habe, seinen Vater vom Gericht fernzuhalten. Die Rede Bdelykleons ist die Krisis: sie stellt anschaulich die βλάβαι und αίσχΰναι, die das πάθος mit sich bringt, vor Augen. Sie f ü h r t schon zum μαλθακόν είναι des Philokieon. Am Ende der Rede des Bdelykleon schweigt Philokieon, was sich aus dem Wechselgesang Bdelykleons und des Chors ergibt. Der Chor, der aus Wespen ( = Richtern) besteht, ist ganz f ü r den Sohn eingenommen (727). E r fordert den alten Herrn auf, nicht verstockt zu sein, sondern dem geradezu göttlichen Ratgeber zu folgen. Bdelykleon verspricht ihm jede Bequemlichkeit — wenn er doch nur endlich etwas sagte! Der Chor interpretiert nun den Vorgang in der Seele Philokieons (743ÍF.): νενουθέτηκεν αυτόν ές τά πράγμαθ', οίς τότ' έπεμαίνετ'" έγνωκε γάρ άρτίως λογίζεται τ' έκεΐνα πάνθ' άμαρτίας à σου κελεύοντος ούκ έπείθετο. νυν δ' ΐσως τοΐσι σοΐς λόγοις πείθεται καί σωφρονεΐ μέντοι μεθιστάς ές τό λοιπόν τον τρόπον πιθόμενός τέ σοι. Wir haben einen reinen Epilogismos vor uns. Schon während der Krisis hatte das Bedenken des Richters eingesetzt, die Intensität seines Begreifens ersetzt ein gutes Teil der Wiederholung. Nun wälzt er noch einmal die Worte Bdelykleons im Geist, er folgt der Aufforderimg σκέψαι, die, 698 ausgesprochen, durchaus über allen Ausführungen des Anklägers steht. Philokieon kommt zum Ende und gibt in einem pathetischen Ausbruch die Liebe zu seinem Philheliastentum 122
kund. Hat Bdelykleons Rede ihre Wirkung also doch verfehlt? Die letzten Worte Philokieons zerstreuen diese Befürchtung (757ff.): μά τον Ήρακλέα μή νυν ϊτ εγώ 'ν τοΐσι δικασταις κλέπτοντα Κλέωνα λάβοιμι. Im folgenden (760ff.) wird sein Anliegen klarer: BS. ί'θ·', ώ πάτερ, προς των θεών έμοί πίθου. Φι. τί σοι πίθωμαι; λέγ' 6τι βούλει πλην ένός. Βδ. ποίου; φέρ' ίδω. Φι. του μή δικάζειν, τοϋτο δε "Αιδης διακρίνει πρότερον ή 'γώ πείσομαι. Wieder besteht Grund zu der Annahme, daß der Seelenarzt in den Wind geredet hat. Aber vergessen wir nicht die haßerfüllte Wendling gegen Kleon! In der Tat, wir haben den c. 515 Β erwähnten Fall vor uns: αν δέ φιλοχωρη τις υπό συνήθειας . . und wir sollten mit der adäquaten Methode rechnen: der Umwendung des πάθος auf Nützliches oder Harmloses. Ferner ist zu fragen, ob Bdelykleon gegen das Richten überhaupt etwas gesagt hat ; dies ist zu verneinen. Er wendet sich allerdings dagegen, daß sein Vater sich von üblen Geschäftemachern ausbeuten läßt. Ganz ähnlich ging es Plutarch bei der Heilung von der Neugier nicht um die Beseitigung des Interesses, der Lernbegier, sondern nur darum, ihre unter bestimmten Bedingungen eintretende Schädlichkeit zu beseitigen. Somit ist es nicht nur ein Zugeständnis an die Krankheit des Alten, sondern auch ganz mit den eigenen Absichten vereinbar, wenn Bdelykleon nun daran geht, dem Philheliasten ein Privatgericht aufzubauen, vor dem dann auch gleich ein Vorfall aus dem eigenen Hause behandelt wird (765 ff.). Philokieon soll fürderhin αύτοΰ μένων δικάζειν τοις οίκέταις (766). Das Ende der Komödie, das uns den Alten zeigt, wie er über die Stränge schlägt, geht uns hier nichts mehr an. Seine Leidenschaft hat jedenfalls ihre Gefahren verloren, er ist nicht mehr nur willfähriger Handlanger der Mächtigen. Insofern kann er als geheilt gelten. Der hier behandelte Abschnitt der Wespen weist also die wesentlichen Züge einer für Plutarch möglichen Seelenheilung auf. Die Krisis stellt βλάβαι und αίσχϋναι vor ; dem Kranken geht die Schilderung nahe, sie beschäftigt ihn geraume Zeit, und er ist danach bereit, die entscheidende Stelle kurieren zu lassen, während er an den harmlosen Formen seines Leidens festhalten will. Dies wird ihm gewährt. Philokieons Epilogismos führt also in gewissem Sinn bis zur Heilung, sicherlich aber wäre sie nicht von Dauer, da die Leidenschaft zu stark ist. Die μεθολκή muß sich anschließen; sie erst garantiert den vollen Heilerfolg. Somit ist der Epilogismos zugleich Vorbereitung der praktischen Therapie. Hier, in den Wespen, erleben wir die Reaktion 123
eines Kranken, die uns den zweifachen Aspekt des Epilogismos als direkt zur Heilung führendes und als den Ethismos vorbereitendes Mittel zu sehen ermöglicht. Die Methode der Seelenheilung, wie wir sie bei Plutarch finden, ist also nicht die Errungenschaft des Hellenismus — wenn man ihr Entstehen überhaupt datieren kann. Sie konnte sich mit der Sache ergeben. Das Interesse an der Seelenheilung überhaupt stieg in der Zeit nach Alexander, es war aber auch vorher vorhanden. Die im Plutarchcorpus überlieferten vitae X oratorum wissen von Antiphon zu berichten (833Cf.): ετι δ' ών πρός τη ποιήσει τέχνην άλυπίας συνεστήσατο, ώσπερ τοις νοσοϋσιν ή παρά των ιατρών θεραπεία υπάρχει- έν Κορίνθω τε κατεσκευασμένος οϊκημά τι παρά τήν άγοράν προέγραψεν, δτι δύναται τούς λυπουμένους διά λόγων θεραπεύειν και πυνθανόμενος τάς αιτίας παρεμυθεΐτο τούς κάμνοντας, νομίζων δέ τήν τέχνην έλάττω ή καθ·' αυτόν είναι επί ρητορικήν άπετράπη91. Dem ist zu entnehmen, daß schon im 5. Jahrhundert Interesse für die Psychotherapie bestand, sodann, welchen Bereichen (ποίησις, ρητορική) sie schon damals verwandt war. Inwieweit Antiphon allerdings schon mit der strengen, auf der άσκησις des Patienten beruhenden Methode heilte, ist nicht mehr auszumachen ®2. 2. Untersuchungen zur Thematik Plutarch kann, wie mir scheint, seine Themen vorwiegend aus zwei Gründen gewählt haben: weil er materiale Neuerungen oder Erweiterungen vorlegen wollte, oder weil es ihm um die Bekämpfung einer Krankheit ging, deren Erscheinungsweisen die behandelten πάθη sind. Unsere Untersuchung teilt sich demnach ein in die Betrachtung antiker Paralleläußerungen zu den fünf πάθη (A) und in die Suche nach einer Grundkrankheit sowie den Versuch, sie mit den sonstigen Anschauungen Plutarchs in Verbindung zu bringen (B). A. Über die Auffassungen einiger anderer Autoren über den Zorn und seine Arten wurde bereits oben ausführlicher berichtet (S. 91 ff.); M Dazu R. Kassel, Untersuchungen zur griechischen und römischen Konsolationsliteratur, München 1958, Zetemata H. 18,9f. 92 Daß aber allgemein der Versuch, mit λόγοι auf den Gemütszustand eines Patienten einzuwirken, zur Zeit des Antiphon bereits Geschichte hatte, zeigt P. Lain-Entralgo in seinem Werk "The Therapy of the Word in Classical Antiquity", New Haven and London 1970 (Übersetzung von La curación por la palabra en la antigüedad clásica, Madrid 1958), s. bes. S. 24f. und 97f. In der Ilias trägt Nestor den verwundeten Machaon in sein Zelt, stärkt ihn und spricht mit ihm über angenehme Dinge, sichtlich, um ihn abzulenken (II. 11, 618ff.). Ähnlich II. 15,390ff.
124
Ringeltaube 1 stellt weiteres, reiches Material zur Verfügung. Die Studien von Rabbow 2 und Schlemm 3 haben hinreichend deutlich gemacht, daß Plutarch wohl ausschließlich mit vorliegendem Stoff arbeitete. Es sei hier also nur ergänzt, daß der Zorn schon in ältester Dichtung nicht einheitlich beurteilt wird. „Er ist insbesondere der Ruf der Seele zu den Waffen, wenn es den Kampf für die Reinerhaltung der Ehre gilt, der eine Art Kampf ums Dasein auf einer höheren Stufe ist. Der Zorn gehört so zu den edleren Eigenschaften . . . und viel bedeutet er unter Menschen, die, wie die Menschen Homers, aus starken Trieben leben und denen die Ehre alles gilt." 4 Die beiden in der späteren Ethik getrennten Arten des Zorns dürften auf dieser Stufe noch als Einheit empfunden worden sein : Wer meine Ehre verletzt, ist objektiv ein Bösewicht; wer unter meinen Augen etwas Böses tut, verletzt dadurch meine Ehre. Der alte Phoinix z.B. gesteht Achill zu, aus verletztem Ehrgefühl zu zürnen (II. 9,523), allerdings sollte er sich durch Gaben versöhnen lassen (602), wie dies auch andere taten (526) und sogar die Götter tun (499 ff.); die Ehre wird dadurch wiederhergestellt (604f.): εΐ δέ κ' άτερ δώρων πόλεμον φθεισήνορα δύης, ούκέθ-' όμως τιμής εσεαι, πόλεμόν περ άλαλκών.
Nichtsdestoweniger ist der „verderbliche Zorn" (II. 1,2) ein Werk der άτη (II. 19,270ff.). Infolgedessen kann der Zorn und der von ihm bestimmte Charakter ganz negativ beurteilt werden und sein Gegenteil Lob finden. Dies zeigt sich deutlich z.B. Od. 2,230ff. 5 ; Mentor wendet sich bitter an die Ithaker: μή τις έ'τι πρόφρων άγανός καΐ ήπιος εστω σκηπτοΰχος βασιλεύς μηδέ φρεσίν αΐσιμα είδώς, άλλ' αίεί χαλεπός τ' ειη καί άήσυλα ρέζοι®.
Den Empfindungen des einfachen Mannes begegnen wir wohl am ehesten in den Komödien des Aristophanes ; auch dort kann der Zorn für wertvoll und nützlich, aber auch für störend, und damit Selbstbeherrschung für gut befunden werden. So ist er nach Wesp. 422ff.7 für den Kampf wichtig, und von Plutarch lächerlich gemachte äußere 1
A.a.O. 83ff. Ant. Sehr. 56ff. 3 Hermes 38 (1903) 587ff. 4 W. Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk, Stuttgart 31959, 338; vgl. 332ff., 181 ff., 454 (Anm. 2 zu S. 183). 6 Auch ib. 5,8ff., wo Athene im Götterrat dasselbe sagt. « Vgl. 2,71 f.; 14,138; II. 24,770. 7 Vgl. noch ib. 383, Eq. 570, Lysist. 550. 2
125
Merkmale des Zorns werden in der Parabase der Wespen (108 Iff.) an den Marathonkämpfern gepriesen: ευθέως γάρ έκδραμόντες ξύν Sopì ξύν άσπίδι έμαχόμεσθ' αύτοϊσι, θυμόν όξίνην πεπωκότες στάς άνήρ παρ' άνδρ', υπ' οργής τήν χελύνην εσθ-ίων . . . Andererseits sollte man den Zorn nicht über sich siegen lassen, sondern dem, dem man zürnt, die Gegenrede ermöglichen, dann wird der Zorn oft schnell beseitigt 8 . Nach Ran. 856 steht er einem Mann wie Aischylos nicht an, eher einer Marktverkäuferin. Im wesentlichen hat die άκρασία λόγου nach Plutarch zwei Konsequenzen: sie ist lästig, stößt ab, ist lächerlich oder sie ist gefährlich. Im ersten Fall steht die Quantität der Worte im Blickpunkt, im zweiten ihr Inhalt. Das Wort άδολεσχία Schloß bei seinem ersten für uns faßbaren Auftreten die Vorstellung des Anödens, des lästigen Vielredens ein; öfter 9 ist es auf Philosophen angewandt ; gleich ist der Sprachgebrauch bei Piaton 10 , und wenn Krat. 401Β άδολέσχης einen exakten Wissenschaftler bezeichnet, so liegt darin der Tropus der permutatio e contrario ducta vor 11 . Ganz in diesem Sinn behandelt Theophrast in seinem 3. Charakter die άδολεσχία: Der Schwätzer setzt sich neben einen, den er nicht kennt und redet ohne Interesse am Zuhörer über die privatesten und allgemeinsten Dinge, wie z.B. über sein Erbrechen vom Vortage und übers Wetter; die Worte καν ύπομένγ) τις αυτόν . . . (§ 4) zeigen, wie Theophrast sich die gewöhnliche und gehörige Reaktion auf einen so gearteten Wortbrei vorstellt. Die Charaktere 7, 8, 23 und 28 befassen sich mit besonderen Schwätzertypen, die alle in g. wenigstens kurz gestreift werden. Ein köstliches Bild der Schwatzhaftigkeit, von ihren Wirkungen auf den Hörer und den Konsequenzen für den Schwätzer zeichnet Horaz sat. I 9. Der Dichter wandelt über die via sacra, da (3f.): accurrit quidam notus mihi nomine tantum arreptaque manu 'quid agis, dulcissime rerum?' . . . Horaz sucht ihm zu entkommen ; das Geschwätz beeinträchtigt sichtlich sein Befinden (8 ff.): . . . misere discedere quaerens ire modo ocius, interdum consistere, in aurem dicere nescio quid puer o, cum sudor ad imos manaret talos . . . 8
Ach. 352ff. ; Av. 381/401; Wesp. 646ff. u. 727. Eupol. frg. 352 Edm., Aristoph. Nub. 1484f., frg. 490. Phd. 70C, Ptk. 299Β u.a. 11 Vgl. dazu wie überhaupt zu άδολεσχία P. Steinmetz, Theophrast, Charaktere II, Komm. u. Übers., München 1962, 53ff. 9
10
126
Aber es soll ihm noch übel ergehen, bevor er dem wacker auf seinen Profit bedachten Gefährten entkommt. I n einer vielbewunderten Deklamation h a t Libanios 12 die Leiden eines Mannes geschildert, der mit einer schwatzhaften Frau verheiratet ist. Sie ist sicher der am meisten belustigende Beitrag zum Schwätzerbild der Antike. Wenn wir davon absehen, daß der Ehemann geräuschempfindlich genug ist, um einen Arzt aufsuchen zu sollen, und ihm alles glauben, was er über seine Gemahlin zu sagen weiß, dann verstehen wir, daß er zum Tode geradezu freigesprochen werden will und damit wohl die radikalste Form des φεύγειν προτροπάδην zu vollziehen trachtet. Die Gefährlichkeit von άπόρρητα, überhaupt von bestimmten Worten, wird in der Antike oft genug hervorgehoben, um uns die Beschränkung auf nur einige Belege zu ermöglichen. Der ganze Sachverhalt liegt H d t . 9,45,1 anschaulich vor, wo Alexander der Philhellene sagt: άνδρες Αθηναίοι, παραθήκην ύμΐν τά έ'πεα τάδε τίθεμαι, άπόρρητα ποιεύμενος προς μηδένα λέγειν ύμέας άλλον ή Παυσανίην, μή με και διαφθείρητε . . . Umgekehrt hören wir von Simonides (frg. 38 D.): ίστι και σιγάς άκίνδυνον γέρας. Bezeichnend sind noch Aisch. Prom. 329: γλώσση ματαία ζημία προστρίβεται . . . und Eur. Med. 292f. : ού νυν με πρώτον, άλλά πολλάκις, Κ,ρέον, εβλαψε γλώσσα (Stob. ; δόξα codd., Σ), μεγάλα τ' εϊργασται κακά. Vor allem in der Zeit Plutarchs, genauer in der ersten Hälfte seines Lebens, konnte man erfahren, wie gefährlich ein leichtfertiges Wort ist 13 . Verdeutlichen sollen diesen Zustand zwei Belege, die zugleich das Risiko der Trunkenheit vor Augen führen. Sen. de benef. I I I 26,1 : sub Tib. Caesare fuit accusandi frequens et paene publica rabies, quae omni civili bello gravius togatam civitatem confecit; excipiebatur ebriorum sermo, simplicitas iocantium, nihil erat t u t u m . . . Dann Mart. X 48,21 ff., wo es sich um eine Einladung handelt: accedent sine felle ioci nec mane timenda libertas et nil, quod tacuisse velis : de prasino conviva meus venetoque loquatur nec faciunt quemquam pocula nostra reum. Auch die Zusammenfassung beider Aspekte der Schwatzhaftigkeit kann nicht als originelle Tat Plutarchs angesehen werden; sie lag zu sehr in der Natur der Sache. Ein Beispiel ist Sen. ep. 106,6: nihil tarnen aeque proderit quam quiescere et minimum cum aliis loqui, 12
Deel. 26; zur Wirkung: Foerster, ed., tom. 6,494ff. Reiches Material bei L. Friedlaender, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von Augustus bis zum Ausgang der Antonine, I, 10 1922 (hrsg. v. G. Wissowa), 256ff. ; G. Schnayder, De antiquorum hominum taciturnitate et tacendo, Wroclaw 1956 (Trav. de la Soc. des Sciences et des Lettres de W-, Ser. A, Nr. 56), I4íf. 13
127
plurimum secum. est quaedam dulcedo sermonis, quae inrepit et eblanditur et non aliter quam ebrietas aut amor secreta producit. nemo quod audierit, tacebit. nemo quantum audierit, loquetur. Schon der erste Schwätzer der griechischen Literatur, Thersites, vereinigt beide Aspekte (IL 2,212ff.): Θερσίτης δ' ετι μοϋνος άμετροεπής έκολώα δς επεα φρεσί ήσιν άκοσμά τε πολλά τε f¡8r¡ μάψ, άτάρ ού κατά κόσμον, έριζέμεναι βασιλεϋσιν, άλλ' 6τι οί εισαιτο γελοίϊον Άργείοισιν έμμεναι- α'ίσχιστος δέ άνήρ υπό "Ιλιον ήλθε . . . Die Handgreiflichkeiten, die Odysseus dem άκριτο μύθος (246) androht und auch angedeihen läßt (258ff.), lassen klarwerden, daß dieser durchaus nicht nur mit dem Spott der anderen zu rechnen hatte. Die eigenartige Erscheinung, daß man Freude auch bei der Wahrnehmung nicht schöner Objekte empfinden kann, hat Aristoteles beschäftigt ; Rhet. 1371 b 4ff.erklärt er sie zunächst für einen bestimmten Bereich. Man freue sich an allem, was gut nachgeahmt sei, auch wenn das Nachgeahmte selbst nicht schön sei : ού γάρ έπί τούτω χαίρει, άλλά συλλογισμός έστιν δτι τοϋτο εκείνο, ώστε μανθάνειν τι συμβαίνει, dies ist aber, wie das θαυμάζειν, nach dem Anfang unserer Stelle stets angenehm. De part. an. 645a 5ff. geht es nicht mehr nur um die Nachahmung; es heißt dort, auch die Betrachtung unschöner Lebewesen gewähre άμηχάνους ήδονάς . . . τοις δυναμένοις τάς αιτίας γνωρίζειν. Der Neugierige mit seinen beiden in Plutarchs Sicht typischen Eigenschaften, dem Interesse an den λανθάνοντα κακά der anderen und der Geschwätzigkeit, dürfte in Diatribe und Komödie ein beliebtes Thema gewesen sein. Hier sind hervorzuheben Plaut. Stich. 198ff. : Sed curiosi sunt hic complures mali, alienas res qui curant studio maxumo, quibus ipsis nullast res quam procurent sua: i quando quem auctionem facturum sciunt, adeunt, perquirunt quid siet caussae ilico: alienum aes cogat an pararit praedium, uxorin sit reddenda dos divortio. eos omnis tam etsi hercle haud indignos iudico qui multum miseri sint, laborent, nil moror: dicam auctionis caussam, ut damno gaudeant; nam curiosus nemo est quin sit malivolus und Horaz epist. I 18,69ff.: percontatorem fugito, nam garrulus idem est, nec retinent patulae commissa fideliter aures et semel emissum volat inrevocabile verbum . . . 128
Weitere Hinweise auf literarische Behandlung von Eigenart und Konsequenzen der Neugier finden sich bei Friedlaender an der oben (S. 127 Anm. 13) genannten Stelle. Daneben sind die Metamorphosen des Apuleius und ihre Quellen unübersehbare Dokumente f ü r die üblen Folgen der curiositas. Wahrheitsgemäße περιαυτολογία, worum es Plutarch in l.i. geht, findet sich in der griechischen Literatur und Geschichte nicht selten; es wäre müßig, aber leicht möglich, den zahlreichen Belegen Plutarchs viele weitere hinzuzufügen; man erinnere sich nur, um besonders bekannte Fälle zu erwähnen, an das, was der Dichter des homerischen Apollonhymnus und Piaton im 7. Brief über sich selbst sagen. Thematische Behandlung fand diese περιαυτολογία kaum. Der λάλος des 7. theophrastischen Charakters, der zum Unterschied vom letztlich einsamen άδολέσχης am Zuhörer nicht bloß als einem Auslöser des eigenen λήρος interessiert ist und, anders als der Aufschneider, nicht nur übertreibt, dürfte mit einem seiner Züge hierhin gehören : er kann nicht über eine Volksversammlung berichten, ohne über die Erwähnung des berühmten Rednerstreites zum Referat über eigene glückliche Vorträge zu kommen (Char. 7 § 6). Die Grenze zum άλαζών ist fließend; mit ihm hat sich die Antike lieber befaßt, was, um nur einiges zu nennen, Aristoteles' Abhandlung E N IV 13, Theophrasts Charakter 23 und vor allem Plautus' Miles Gloriosus beweisen 14 . Plutarchs Verwendung des Wortes δυσωπία wurde in der Antike als ungewöhnlich empfunden; so heißt es bei Phrynichos 1 5 : Πλουτάρχω μέν έστι περί δυσωπίας βιβλίον, τοΰτο δπερ οΐεται δηλοΰν το έντρέπεσθαι καί μή άντέχειν δι' αιδώ. Άλλά σημαίνει ή δυσωπία παρά τοις άρχαίοις τήν ύφόρασιν καί το ύποπτεύειν. Das Zitat der stoischen Diärese v. p. 529 D . . . όθεν ευθύς oí Στωικοί καί τω ρήματι το αίσχύνεσθαι καί δυσωπεΐσθαι του αίδεΐσθαι διέστησαν . . . braucht, wie mir scheint, nicht die spezielle δυσωπία Plutarchs zu meinen, trotz dem Zusammenhang, sondern könnte das „Verlegensein" bedeuten. Die Sache, die δυσωπία bezeichnet, ist sehr speziell, es findet sich keine antike Literatur mehr dazu1®, und auch einzelne Belege sind spärlich. Hierzu kann indessen II. 10,237ÍF. gezählt werden. Agamemnon rät Diomedes, sich einen Begleiter zu wählen, und zwar den besten, μηδέ σύ γ' αίδόμενος σησι φρεσί τον μέν άρείω καλλείπειν, σύ δέ χείρον' όπάσσεαι αίδόι εΐκων, ές γενεήν όρόων, μηδ' ει βασιλεύτερός έστιν. Dies ist zu ν . ρ . 532Α zu stellen: καί γάρ ίατρον νοσουντες où παρακαλοϋμεν τον εμπειρον αίσχυνόμενοι τον συνήθη etc., wo auch der Wert aus 11 Reichliche Beispiele in O. Ribbecks Alazon (Ein Beitrag zur antiken Ethologie, Leipzig 1882) pass. 15 16 p. 190 Lob. Vgl. S. 11 Anm. 31.
129
δυσωπία einer anderen Eigenschaft nachgestellt "wird. Diomedes, so aufgefordert, kein δυσωπούμενος zu sein, wählt Odysseus. Der ist nun seinerseits dadurch in Gefahr, zum δυσωπούμενος zu werden. E r antwortet Diomedes (249f.): Τυδεΐδη, μήτ' άρ με μάλ' αϊνεε μήτε τι νείκειείδόσι γάρ τοι ταϋτα μετ' Άργείοις άγορεύεις . . . Ein Scholion zur Stelle erklärt: εντεύθεν τό μηδέν άγαν δηλουται. άριστέως δέ το θέλε ιν μέν εύφημίαν, ούκ άνέχεσθαι δέ αύτής . . . Die Worte des Odysseus zeigen also, wie weit er von einer δυσωπία entfernt ist, die sich durch Lob bestimmen läßt. Sodann könnte Eur. Hipp. 385ff. passen: αιδώς τε' δισσαί δ' είσίν, ή μέν ού κακή, ή δ' άχθος οίκων, εί δ' ó καιρός ήν σαφής, ούκ αν δύ' ήστην ταυτ' εχοντε γράμματα.
Die falsche αιδώς der Phaidra dürfte darin bestanden haben, daß sie den Bitten der Amme nachgab, also der δυσωπία zum Opfer fiel; 335 sagt Phaidra, von den Bitten der Amme schon überwunden: δώσω (sc. δώρον)· σέβας γάρ χειρός αιδούμαι τό σόν17. Material konnte Plutarch, wenn er sich nicht auf eine spezielle dem Thema gewidmete Schrift stützte, nicht nur aus dem Topos περί αΐδοϋς (κακής), sondern auch aus den die Verwandten der δυσωπία (v. p. 529 C) betreffenden Topoi περί επιεικείας, περί ήμερότητος, περί φιλανθρωπίας usw. gewinnen. Aus den spärlichen sachlichen Belegen sowie aus der Spezialität des Affekts und der Rarität des Wortes läßt sich angesichts der fragmentarischen Überlieferung der alten Autoren natürlich nicht der sichere Schluß ziehen, Plutarch habe den Begriff als erster zur vollen Schärfe gebracht und ihm den terminus technicus δυσωπία gegeben 18 , aber er ist doch wahrscheinlicher als irgendein anderer; die Rarität von Wort und einschlägiger Literatur über den Gegenstand kann wohl kaum als zufällig angesehen werden. Wir erinnern uns an die auffallende Enge der περιαυτολογία ; es könnte scheinen, daß Plutarch eine besondere Neigung zur Differenzierung der πάθη — möglicherweise über das bis zu seiner Zeit Vorliegende hinaus — hatte, jeden17
Dies die Interpretation bei C. E. Frh. v. Erffa, ΑΙδώς und verwandte Begriffe in ihrer Entwicklung von Homer bis Demokrit, Philol. Suppl. X X X , H. 2, Leipzig 1937, 167; vgl. auch W.S.Barrett, Euripides Hippolytos, ed. with introd. and comment., Oxford 1964, 230. 18 Immerhin sagt er Brut. 6,5 (vgl. S. 84), es seien einige, die das Wort δυσωπία so brauchen wie er in v.p.; viel ist mit dieser Äußerung nicht anzufangen.
130
falls nach Ausweis der späteren Schriften. Weitere Schlüsse im Rahmen dieser Untersuchung werden durch die schon erwähnte Quellenlage verhindert. B. 19
Mit Recht hat R. Hirzel der „Philanthropie" ein ganzes Kapitel seines Plutarchbuches gewidmet; in ihr sieht Ziegler eine Seite der Originalität Plutarchs. Plutarch, so legt er dar, wäre genauso untergegangen wie so viele andere popularphilosophische Schriftsteller, „wenn nicht die eigene Persönlichkeit das Beste dazu (sc. zu seiner Rettung) getan hätte . . . Aus fast allen seinen Schriften strahlt die Menschlichkeit, die Nächstenliebe, die Herzensgüte, die Versöhnlichkeit, die φιλανθρωπία (um seinen eigenen Lieblingsausdruck zu benützen), die er, wo immer sie ihm begegnete, gerühmt, seinen Lesern empfohlen hat und selbst zu üben sicherlich nicht müde geworden ist . . ." 20 φιλανθρωπία ist ein sehr weiter Begriff ; Hirzel zeigt seinen Umfang 21 : „Philanthropie ist das Verhältnis von Menschen zu Menschen, von denen der eine der Wohltäter des anderen ist ; Gastfreundschaft, auch die Leutseligkeit des großen Cäsar wird so genannt, auch die ordinäre Höflichkeit, sie sinkt zur Schmeichelei herab, ja insofern sie ein weiches Mitgefühl ist, leicht bestimmbar durch äußere Eindrücke, kann sie sogar der Verleumdung leicht zugänglich werden, aber auch, fast christlich, sich zur Feindesliebe steigern." An Hand der Biographien versuchte H. Martin zu einer einfacheren Formel für den Umfang der plutarchischen Philanthropie zu kommen und wies nach, daß sie . . . is inseparable from civilisation22: φιλάνθρωπος ist die ideale Bezeichnimg des griechisch gebildeten, zivilisierten Menschen. Ihr Inhalt gewinnt an Konturen, wenn man ihr Gegenstück mit Hirzel 23 in der φιλαυτία sieht, und zwar in der üblen, die Piaton Lgg. 731 Df. beschreibt, eine Stelle, die Plutarch ausführlich zu Beginn von ad. et am. (48E) zitiert. Das Liebende, heißt es dort, werde blind im Hinblick auf das Geliebte. Die Selbstliebe mache ein gerechtes Urteil über einen selbst unmöglich. Man müsse lernen, das Gute mehr zu ehren als das Verwandte und Eigene. Die Untersuchimg, welches Grundleiden in den Seelenheilungsschriften bekämpft wird, führt zu einer Einengung der φιλαυτία. Jedem Zorn liegt nach c.i. 460 D die Annahme, verachtet zu werden, zugrunde 24 , nach 461A sind die häufigsten Ursachen für die oftmaligen, sich an Belanglosigkeiten entzündenden Zornausbrüche φιλαυτία και δυσκολία μετά τρυφής καί μαλακίας, φιλαυτία ist hier speziell 19 21 23
Vgl. oben S. 7 Anni. 4. Plutarch 25. Plutarch 26.
20 22 21
A.a.O. 305f./943. AJP (1961) 174. Vgl. allerdings c.i. 16. 131
zu fassen: die folgenden Begriffe ευκολία und άφέλεια sind offenbar Gegenteile von δυσκολία und φιλαυτία. Die Schwätzer handeln falsch, weil sie geliebt, bewundert werden wollen (g. 6, 16), die Nachgiebigen fliehen die άδοξία (v.p. 9), haben Angst vor Tadel, suchen nach Lob (ib. 18), das die περιαυτολογοϋντες sich selbst zollen; ihnen wird g. 22 eigens φιλαυτία neben φιλοδοξία attestiert; vgl. l.i. 540A : das Lob der eigenen Person scheint aus unpassender Ehrsucht ausgesprochen zu werden. Selbst die Neugierigen dürfen wir nicht für frei von diesem Grundleiden halten; die Ursache, weswegen sie das unerfreuliche Schauspiel des eigenen Lebens fliehen, die verborgenen Übel der anderen suchen, muß in der Verwandtschaft des πάθος mit dem Neid (515D, 518C) gesehen werden, der 518C als Schmerz über das Gut des anderen definiert ist, wie έπιχαιρεκακία nach derselben Passage Freude über fremdes Übel ist. Daß der Neid letztlich auf Selbstliebe basiert, war für Plutarch klar 25 . Zu diesem Krankentyp, dem es darum geht, seine Selbstachtung durch das Herunterziehen anderer auf ein niedriges Niveau zu erhalten oder erst zu begründen, gehört natürlich auch der Schwätzer, insofern er πολυπράγμον ist (g. 12). Die übrigen versuchen, eine Steigerung der eigenen Bedeutung mit verschiedenen Mitteln zu erreichen: Zorn, gewöhnliche Schwatzhaftigkeit, Selbstlob durch aggressives Vorgehen, δυσωπία dadurch, daß sie sich jeder Aggression aussetzt; gemeinsam ist ihnen allen der Drang zur gewaltsamen Veränderung ihrer Stellung in der Gesellschaft, d.h. ihres Ansehens, ihrer Beliebtheit. φιλοδοξία ist also jene Form der φιλαυτία, die den Krankheiten zugrunde liegt. Wir kommen aber noch weiter, und zwar bis zu dem Merkmal der φιλοδοξία, das sie Plutarch so verhaßt machte, wenn wir den Kreis unserer Betrachtungen einschränken und so viele Themen eliminieren wie möglich. Dabei können wir auch einen Blick auf die übrigen im Lampriaskatalog erwähnten Titel wahrscheinlich ethischer Schriften werfen und uns fragen, ob und wieweit die Beschränkung auf die fünf vorhegenden Themen bisher überhaupt erlaubt war. Der Lampriaskatalog erwähnt: 93 περί οργής, 151 περί περιεργίας, 174 περί επιθυμίας, 113 περί φιλοκοσμίας26; zu περί έρωτος vgl. S. 7 Anm. 1. Wahrscheinlich unecht sind κατά της ηδονής, περί διαβολής, κατ' ισχύος27. Die meisten dieser Schriften behandeln gängige, breite Themen. Zu ihnen mag Plutarch wohl besonders aus dem zeitgemäßen Wunsch, mit vorliegenden Arbeiten in Konkurrenz zu treten, gekommen sein. Dies kann auch für seine Schrift über den Zorn gelten. Diese Themen müssen wir also beiseite lassen, wenn wir seine eigent25 E. Milobenski, Der Neid in der griechischen Philosophie, Wiesbaden 1964 (KPhSt 29), 135ff. 26 Diese Schrift ist von Plutarchs Frau Timoxena verfaßt: s. Ziegler ll/646f. 27 Ziegler 148Í./785.
132
lichen Absichten kennenlernen wollen. Es bleiben übrig zuerst περί δυσωπίας, dann περί άδολεσχίας, περί πολυπραγμοσύνης und περί του έπαινεΐν εαυτόν άνεπιφθ-όνως. Die δυσωπία besteht in der Unfähigkeit, jemandem, der um etwas bittet, entgegenzutreten. Bei vollem Bewußtsein — die Reue tritt bei der Tat ein — des Opfers übernimmt ein anderer die Funktion von dessen Willen; das Opfer kann jenem anderen schließlich nicht einmal mehr άντιβλέπειν (528E) und ist damit ganz zum Werkzeug des unverschämt Fordernden geworden. Die Erbärmlichkeit der Krankheit zusammen mit ihrer Universalität, die darin besteht, daß sie den von ihr Befallenen zu allem und jedem handlich macht, drückt Plutarch 530A aus: Der Rücksichtsloseste sei der unumschränkte Herr des Kranken ; mit der Unverschämtheit zwinge er das Schamhafte hinaus. Wie ein χωρίον υπτιον sei die δυσωπία τοις αίσχίστοις βάσιμος... πάθεσι και πράγμασι. Das χωρίον δπτιον hat keine Möglichkeit, auch ihm selbst Nachteiligem das Eindringen zu verwehren, der entsprechende Mensch hat keine sicheren Grenzen zum anderen hin, die ihn befähigen könnten, das Kriterium für ein Stattgeben oder Abschlagen allein der Sache selbst zu entnehmen, wie es v.p. 13 verlangt, und den Ansinnen flexibel, abgestuft zu begegnen. Dem Fremden steht der Zugang ins Eigene offen, so, wie etwa auch beim φιλοκόλαξ, was sich ad. et am. 1 und 25 zeigt. Dem κόλαξ verwandt, ein regelrechter δυσωπών, ist der περιαυτολογών. Er ist nicht nur unverschämt — er sollte ja sogar Zurückhaltung üben, wenn er gelobt wird •— oder ungerecht — weil er sich nimmt, was ihm gegeben werden muß —, sondern er zwingt den Hörer dazu, entweder neidisch zu scheinen, nämlich wenn er schweigt, oder schmeichlerisch, wenn er einstimmt. Das Eigenlob setzt sich frech an die Stelle fremden Urteilsvermögens, d.h. es reißt die Grenzen eines anderen ein. Ein Beispiel des δυσωπεΐν bot v.p. 5 der Schwätzer. Sein bloßes Betragen impliziert eine Forderung, der man ohne falsche Höflichkeit entgegentreten soll. Der Schwätzer hat, da er zugleich neugierig ist, aber auch noch weitere Opfer : die, die ihm den Stoff liefern müssen. Der Neugierige sammelt aber nicht nur das bei Wege zu Erfahrende, sondern weswegen Schlüssel, Riegel und Tür da sind, das deckt er auf und trägt es herum (c. 516F). Hier wird die Grenzverletzung sinnfällig; auch Xenokrates meinte nach c. 521A, daß es keinen Unterschied mache, ob man die Augen oder die Füße in ein fremdes Haus bringe. Wenn der Neugierige das so Erfahrene wieder äußert, ist er sich wiederum seiner Grenzen nicht bewußt, die Plutarch in g. so eindringlich zu wahren empfiehlt: Man müsse die Zunge eingezäunt halten; der λογισμός habe ihr Hüter zu sein (510A), und 503C hieß es, die Natur habe nichts so eingeschlossen wie die Zunge, indem sie die Zähne davorsetzte. Der Schwatzhafte hat also gleich mehrere Grenz133
Probleme; hinzu kommt noch, daß die richtige Öffnung nach außen, die guten λόγοι zugewandten Ohren, bei ihm verschlossen ist, worin er vor allem den Zornigen gleicht (g. 1); ähnlich geht es dem Neugierigen (c. 2). Die Frage nach den Wurzeln dieser Auffassung der „Grenzverletzung" als des Grundfehlers im plutarchischen Denken soll uns bald beschäftigen ; wir machen unsern Weg über eine weitere aus der Themenwahl zu gewinnende Anschauung Plutarchs. Es zeigt sich nämlich, daß für ihn ganz offenbar die mit dem λόγος und seinem Stoff zusammenhängenden πάθη besonderes Gewicht haben. Sie gehören nach Aristot. EN 1117b 28 ff. zu der Gruppe der nicht körperlichen ήδοναί, aufgezählt sind dort φιλοτιμία, φιλομάθεια, φιλομυθία, also drei ήδοναί, die sich gut zu den hier zu behandelnden drei Plutarchschriften fügen 28 . Daß das Selbstlob Plutarch beschäftigte, liegt zunächst natürlich an seiner nachweislichen Abneigung gegen die φιλοδοξία überhaupt; wichtig ist, daß ihm dies πάθος besonders des Arztes bedürftig erschien, wenn es sich in Worten äußerte. Die Neugier, der er vielleicht gar zwei Schriften widmete, hängt seiner Meinung nach eng mit der Schwatzhaftigkeit zusammen: so eng, wie es kaum zu den Tatsachen paßt. Denn es ist zwar ohne weiteres einsichtig, daß Schwätzer neugierig sind, aber daß der Neugier die κακολογία notwendig folgt (c. 519C), entspricht nicht der Wirklichkeit. Es gibt den verschwiegenen Neugierigen, wie es den zurückgezogenen Habgierigen gibt, den uns c.d. 1-6 vorstellen, und der schwatzende Neugierige scheint nur eine Art zu sein wie etwa der protzende Reiche nach c.d. 8ff. Offenbar sind für Plutarch Schwatzhaftigkeit und Neugier zwei Seiten derselben Sache, jedenfalls jene Schwatzhaftigkeit, die g. 7ff. besonders zur Geltung kommt, und jene Form der Neugier, der er, merkwürdig auch dies, allein seine Schrift widmet : die es auf λανθάνοντα κακά abgesehen hat. Ganz deutlich sind es die άπόρρητα, um deren Wahrung es ihm in ganz besonderer Weise geht; der Neugierige achtet sie nicht, indem er seinen αισθήσεις freien Lauf läßt (c. 12), was, der Schrift gegen dies πάθος zufolge, vor allem zu einem abstoßenden Seelenzustand führt (die Vorstellung der Gefährlichkeit tritt zurück) ; der Schwätzer mißachtet sie dadurch, daß er ihrem eigentlichen Wesen zuwiderhandelt und sie ausspricht. Die Schwatzhaftigkeit ist nun sehr gefährlich; wie sehr aber Plutarchs Ansicht nach Worte dem Sprecher schaden können, geht am besten aus einer Stelle hervor, die nicht zur Heilung von einem πάθος dient, also nicht getrost übertreiben darf und die zudem λόγοι und εργα in dieser Hinsicht vergleicht : v. Timol. 32. In 29 Ob die Aristot elesstelle Einfluß auf Plutarch hatte, ist nicht festzustellen ; hätte er sie gekannt, bedeutete die Erkenntnis dieses Sachverhalts für uns keinen wichtigen Fortschritt, da sein Interesse an den πάθη wohl kaum nur aus der Bekanntschaft mit der genannten Stelle resultieren kann.
134
die Hände Timoleons fallen der feindliche Tyrann Hiketas und sein Sohn, ein μειράκιον. Beide werden hingerichtet als Tyrannen und Verräter. Der tapfere Reiterführer Euthymos findet ebenfalls kein Erbarmen: Er hatte verlauten lassen, es bestehe kein Anlaß zur Sorge, wenn korinthische Weiber ihr Haus verlassen hätten; οΰτως ύπο λόγων μάλλον ή πράξεων πονηρών άνιασθοα πεφύκασιν οί πολλοί" χαλεπώτερον γάρ ΰβριν ή βλάβην φέρουσιν. και το μέν άμύνεσθαι δι' έργων ως άναγκαιον δέδοται τοις πολεμοϋσιν, αί δέ βλασφημία!, περιουσία μίσους ή κακίας γίγνεσθαι δοκοϋσιν. Unter den πράξεις πονηραί kann Plutarch, dem Zusammenhang zufolge, zunächst einmal Kriegstaten im Dienste eines Tyrannen oder Verräters verstanden haben. Solche Handlungen hätten Euthymos nicht geschadet, wohl aber t a t es sein Spott, den er hätte f ü r sich behalten sollen 29 . Dazu paßt Theophrasts Auffassung, das Gehör sei die παθ-ικωτάτη der Wahrnehmung, die de aud. 38A zitiert ist, allerdings berichtigt wird : sie sei eher λογικωτέρα zu nennen, da die Ohren der einzige Eingang f ü r die Tugend sind. Die Bedeutimg der λόγοι kann nicht stärker betont werden. Auch über die drei Schriften hinaus wird die Bedeutung der άκρασία λόγου30 samt ihrer Kehrseite, der Neugier, deutlich. Der Zorn aus Haß gegen das Böse läßt sich erheblich eindämmen, wenn man die Neugier beseitigt (c.i. 16); wenn man den Zorn nicht laut werden läßt, ist ein wesentlicher Teil von ihm nicht mehr vorhanden (vgl. c.i. 6f.). Der Schmeichler ist neugierig; sein Wissen um die Geheimnisse des φιλοκόλαξ macht ihn gefährlich (ad. et am. 50E), ja dieser Typ ist erheblich übler als der περί το βαλανεΐον και περί τήν τράπεζαν (61 Cf.); über die λόγοι des Schmeichlers, die f ü r ihn selbst und sein Opfer gefährlich sind, handeln Kap. 17ff. πολυπραγμοσύνη, d.h. Interesse an den falschen Dingen, macht überhaupt die Seelenruhe immöglich (tr. an. bes. 7 ff.); der Gedanke dagegen, nicht von πολυπράγμονες und Sykophanten umgeben zu sein, macht gar die Verbannung erträglich (de ex. 603F). Ein besonders eindrucksvolles Bild von der Breite der άκρασία λόγου ergibt sich bei der Lektüre von v.p. Plutarch spricht zunächst vom άντειπεΐν, das unverschämten Bitten gegenüber erforderlich wäre, so 532 D und 533E; besonders deutlich wird dies im 10. Kap. Scherz sei der Ausspruch gewesen, heißt es dort, alle Asiaten dienten einem Herrn, weil sie die Silbe ού nicht sagen könnten : 29
Die Bedeutung dieser Aussage für die Klärung von Plutarohs eigener Auffassung mag man dadurch noch als besonders groß empfinden, daß, wenn in diesem Zusammenhang überhaupt eine allgemeine Äußerung fallen sollte, diese doch zunächst dem Tod des Kindes hätte gewidmet sein sollen. 30 Nach der S. 118 Z. 19ff. angedeuteten Methode mag man meinen, die Verwendung von Motiven aus g. in anderen Schriften mit der frühen Abfassung von g. erklären zu können ; wenn dies so ist, hat sich Plutarch also gleich anfangs seinem eigentlichen Problem zugewandt. Andernfalls reicht uns hier aber auch der bloße Hinweis auf die faktische Breite der πάθη.
135
die δυσωπούμενοι brauchten aber gar nichts zu sagen, es genüge ein Hochziehen der Braue usw. Denn für Weise sei Schweigen durchaus eine Antwort, wie Euripides sage. Schweigen solle man αγνώμονες gegenüber anwenden; um χαρίεντες abzuwehren, soll man sich bestimmter Apophthegmata bedienen. Man hört heraus, daß Schweigen oder Verwendung eines entsprechenden Apophthegmas dem NeinSagen gleich ist (vgl. S. 34f.); daß auch schweigendes Verrichten des Geforderten ein Ja-Sagen ist, geht indirekt daraus hervor. Das Unvermögen, où zu sagen, der Zwang, ja zu sagen: das ist άκρασία λόγου, die keine απόρρητα bei sich behalten kann. Es kommt mis nun darauf an, dieses bisher bloß aus der Betrachtung der Seelenheilungsschxiften gewonnene Interesse Plutarchs an den πάθη der άκρασία λόγου und ihrer letztlichen Grundlage fester mit den schon bekannten oder zutage tretenden Zügen seines Denkens zu verbinden; bei diesem Versuch wird sich zugleich der eigentliche Nährboden seiner Seelenheilung herausstellen. Fragt man sich, wo die άκρασία λόγου besonders heftig verabscheut wird, so kommt man allgemein auf die Welt des Religiösen, besonders auf den in ihr ruhenden pythagoreischen Bios. Die engen Beziehungen Plutarchs zum Pythagoreismus stehen außer Zweifel. Für Zeller31 ist er ein „pythagoraisierender Platoniker". Die Lehre des Pythagoras ist uns nur sekundär und zudem recht widersprüchlich überliefert. Als echt pythagoreisch darf aber die Seelenwanderungslehre angesehen werden, mit der der Vegetarismus aufs engste zusammenhing 32 , ferner ist alt die Lehre, alles sei Zahl 33 ; Zahlenspekulation war jedenfalls für Aristoteles ein Hauptcharakteristikum der „Pythagoreer" 34 . Plutarchs Anhängerschaft an Seelenwanderungslehre 35 , Vegetarismus 36 , schließlich sein Interesse an Zahlenmystik 37 stehen außer Frage. Auf Pythagoras gehen Sprüche zurück, die in teilweise sehr dunkler Art Welterklärung und sittliche Anweisungen geben wollen; Plutarch kannte derartige Regeln 38 . Der Pythagoreismus, dessen Vertreter, mindestens Freund Plutarch also war, bemühte sich um die Wiedergewinnung der alten Lehre, die nach Aristoxenos frg. 18f. W. in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts nicht mehr bestand, unter der Oberfläche aber, in Form pythagoreisch31
Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, III 2, Leipzig 5 1923, 175ff. 32 W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Piaton, Nürnberg 1962, 98ff., i67ff. 83 Κ. v. Fritz, Art. Pythagoras, LAW 2488 f. 31 Burkert 26ff. 85 Siehe bes. s.n.v. 36 Siehe de esu carnium u.a. 37 Siehe De an. in Tim. procr. 38 v.p. 532C.
136
orphischer Mysterien, weiterlebte, wie zahlreiche Quellen beweisen39. Im ersten Jahrhundert trat der Pythagoreismus wieder als Schule auf; er übernahm eine eklektische, vor allem akademisch-peripatetische Ethik und Metaphysik, und seine Anhänger versuchten, den asketischen Geboten der alten Schule entsprechend zu leben 40 . Was wir vom pythagoreischen Leben kennen, stammt in der Hauptsache aus noch späterer Zeit, von Diogenes Laertios, Porphyrios und besonders Jamblich. Daß deren Quellen in der Regel bis auf die Zeitenwende, manchmal bis auf Aristoteles, Herakleides Pontikos, Aristoxenos und Dikaiarch zurückgehen, ließ sich nachweisen 41 . Bei der Lektüre von Jamblichs de vita Pythagorica liber kann man an zahlreichen Stellen die zentrale Bedeutung des Kampfes gegen die άκρασία λόγου unmittelbar greifen; man vergleiche §§ 68, 71, 72: τοις προσιουσι προσέταττε σιωπήν πενταετή, άποπειρώμενος πώς έγκρατείας εχουσιν, ώς χαλεπώτερον των άλλων έγκρατευμάτων τοϋτο, το γλώσσης κρατεΐν, καθά και ΰπό των τά μυστήρια νομοθ-ετησάντων έμφαίνεται ή μ tv . . ., 94: πρώτον . . . έν τω λαμβάνειν την διάπειραν (bei Neulingen) έσκόπει, ει δύνανται έχεμυ-9-εΐν . . ., 161 f.: die βραχυλογία des Pythagoras, 171, 194: die Zenongeschichte aus g. 8, hier von Timycha erzählt, 195: die Gebote zu schweigen führen zur Besonnenheit, weil die Beherrschung der Zunge die schwierigste ist; nach 225 übt die Beherrschung der Zunge auch zur Tapferkeit, vgl. schließlich noch 246f., 257; Porph. v. Pyth. 19; 42; DL VIII 10. Plutarch selbst erwähnt die fünfjährige Schweigezeit, nach dem Ausdruck des Pythagoras έχεμυ&ία, c. 519C, von έχεμυθία spricht er auch g. 510E. In seiner Numabiographie kommt er an mehreren Stellen — wegen der angeblichen, chronologisch aber unmöglichen Beziehung von Numa zum Pythagoreismus — auf pythagoreisches Gut zu sprechen, an zweien von ihnen auf die Schweigekunst; Numa gab an, Beziehungen zu Musen zu unterhalten, deren eine er Tacita nannte, das heiße σιωπηλή, oder ένεά: όπερ είναι δοκεΐ την Πυθ-αγόρειον άπομνημονεύοντος έχεμυθίαν και τιμώντος; so 8,6, vgl. auch 22,3. Die Pythagoreer bekämpften nach dem Bericht des Jamblich auch den Zorn: über ihn haben sie gerade dieselbe Meinung wie die Peripatetiker; man könne zur Unzeit und zur rechten Zeit zürnen, lehren sie ; eben dasselbe gelte auch für die übrigen Affekte (180f.). Strafen im Zorn kennt der Pythagoreer nicht (197f.), vor allem hat dies πάθος von Freundschaften ferngehalten zu werden (101, 230f.). Wer zornig war, trug Sorge, den Affekt bald zu überwinden, indem er sich zurückzog und ihn άνδρικώς heilte: 225. Seine Beherrschung ist eine Voraussetzung für die Aufnahme in den Schülerkreis. Zuerst achtete Pythagoras dabei aber auf 39 40 41
Bei Zeller 92 ff. Zeller 126ff., bes. 155ff.; Burkert LAW Neupythagoreer. Burkert, Weisheit 86ff. ; Zeller 162. 137
die Fähigkeit der έχεμυθία, heißt es 94, dann, ob sie αίδήμονες sind und wie sie mit den anderen Affekten fertig werden, schließlich prüfte er ihre intellektuellen Fähigkeiten εύμάθεια und μνήμη — kurz, eine Reihe von Prüfungen, deren Themen denen der erhaltenen Seelenheilungsschriften Plutarchs grob gesehen entsprechen. Jamblich schreibt Pythagoras eine regelrechte Seelenheilung zu. Darin übernahm die Musik eine bedeutende Rolle. Sie führte die Seelenkräfte wieder zur Harmonie. Es gab bestimmte Arten von Musik, έξαρτύσεις und έπαφαί genannt, . . . δι' ών ραδίως εις τά έναντία περιέτρεπε και περιήγε τά της ψυχής πάθη νέον έν αύτοΐς (sc. für die diese Musikstücke komponiert waren) άλόγως συνιστάμενα και ύποφυόμενα . . . (64). Yon Leiden, die Pythagoras auf diese Weise heilte, sind a.a.O. genannt λύπη, οργή, έ'λεος, ζήλος άτοπος, φόβος, επιθυμία, θυμός, δρεξις, χαύνωσις, ύπτιότης, σφοδρότης: stets stellt er die Tugend wieder her (64, vgl. Porph. 30); Jamblich 68 ist der κατάρτυσις των ψυχών durch die Musik eine άλλη . . . κάθαρσις της διανοίας αμα και της δλης ψυχής διά παντοδαπών επιτηδευμάτων, zu denen auch die Schweigekunst gehörte, an die Seite gestellt. Wir hören llOf., 224, Porph. 33, daß verschiedenen Affekten verschiedene Melodien zugeordnet waren. Oben, 64, war gesagt, daß die πάθη in ihr Gegenteil umgewandelt wurden; das Folgende ließ vermuten, dies Gegenteil sei die Tugend selbst. § 114 belehrt Tins, daß eine solche Mutmaßung mindestens nicht die ganze Wahrheit traf. Die sogenannte έξάρτυσις, συναρμογά, έπαφά, wie sie hier, ähnlich 64, genannt ist, bestand darin, durch geeignete Melodien einen entgegengesetzten Affekt hervorzurufen. Es scheint also, daß „Pythagoras" wie Plutarch und andere Seelenärzte durch den gegenteiligen Affekt heilte, denn daß dieser Affekt nicht sein Heilungsziel war, dürfen wir voraussetzen. Nach der oben S. 89 zitierten Olympiodorstelle ist die Heilung durch Gegensätze gerade nicht typisch pythagoreisch, sondern peripatetisch und stoisch. Die Pythagoreer hätten vielmehr empfohlen : ένδιδόναι τοις πάθεσι καί ώσπερ άκρω δακτύλω αυτών άπογεύεσθαι. Nun ist natürlich auch für Jamblich das Wesentliche an der pythagoreischen Methode die Musik, nicht die έναντία πάθη: er mag hier im Sinne der großen hellenistischen Schulen hinzuinterpretiert haben, was Anlaß zu Mißverständnissen geben könnte. Aber wie dem auch sei: Weder der einen noch der anderen Form gleicht Plutarchs Heilung, da er weder Musik noch solche Methoden, die das πάθος schießen lassen, verwendet — vielleicht polemisiert er c.i. 456 C gar gegen die Kathartik ; dem konnte der Vertreter der Metriopathie nicht zustimmen: wenn er das πάθος erlaubte, so nur, wenn es durch den λόγος gedämpft und in den richtigen Bahnen gehalten wurde. Auch in anderer, speziellerer Hinsicht bemerkt man, daß der Pythagoreismus in Plutarchs Seelenheilung seine Grenzen hat. Es ist schwer, Plutarchs Mahnung, das Verhalten zu Bittenden an der erbetenen Sache zu 138
orientieren, mit dem Freundschaftsbegriff der Pythagoreer, der Jambl. 229 ff. und Porph. 32 f. dargelegt ist, zu vereinigen. Plutarch hält es gerade für übel, aus Freundschaft nachgiebig zu sein in Dingen, die besser ohne persönliche Rücksichten entschieden werden (v.p. 532 A f.); die Anekdote 531 Cf. macht dies sehr deutlich. Natürlich wird ein Pythagoreer darauf hinweisen, daß unter seinesgleichen derartige Bitten überhaupt nicht möglich waren. Immerhin aber läßt die Schroffheit Plutarchs, die ihn nicht bereit sein läßt, seine generelle Forderung einzuschränken oder auch nur zu erklären, daran zweifeln, daß er einer so engen Freundschaft wie der der Pythagoreer mit allen ihren Folgen zugestimmt hätte. Wir bleiben also bei dem Hinweis auf die Bekämpfung der άκρασία λόγου; wenn dem „pythagoraisierenden Platoniker" Plutarch in ganz besonderer Weise an ihrer Ausrottung liegt, die auch die Pythagoreer so bekämpften, kann dies kein Zufall sein : entweder hat er die Abneigung von ihnen übernommen, oder sie ist sein ganz persönliches Gefühl, das u. a. seine Tendenz zum Pythagoreismus begründet. Weiter oben war aus Jamblich § 72 zitiert worden, daß das γλώσσης κρατεΐν schwieriger als sonstige Selbstbeherrschung sei : καθ-ά κ αϊ ύπό των τά μυστήρια νομοθετησάντων έμφαίνεται ήμϊν. Das Verschweigen von Mysterien war das wichtigste Gebot, das die Eingeweihten bei ihrem Verkehr mit der Außenwelt beobachten mußten, andernfalls waren schwerste Strafen, im Fall der großen Mysterien auch seitens der Staatsgewalt, zu gewärtigen. Entsprechend tat man gut, nicht mehr erfahren zu wollen, als erlaubt war. Dies zeigt sich schon im homerischen Demeterhymnus, wonach die Göttin offenbar machte: . . . και έπέφραδεν δργια καλά σεμνά, τά τ' οδπως εστί παρέξιμεν οΰτε πυθέσθαι ουτ αχέειν . . . V
)
>
/
(476ff.). Die Stellung der griechischen Philosophen zum religiösen Schweigen ist eingehend beschrieben worden42, so daß wir hier nur das uns unmittelbar Angehende zu skizzieren brauchen. Für Plutarch 43 ist das Schweigen, nach g. 504A, 510E, vgl. 505F, überhaupt μυστηριώδες, die Götter sind nach g. 505F die Lehrmeister des Schweigens. Entsprechend ist πολυπραγμοσύνη gegenüber dem Göttlichen falsch, wie def. orac. 419C gesagt ist. Allgemein: „Die Schweigepflicht über das Heilige hat P., hierin besonders deutlich pythagoreisierend, sehr ernst genommen . . . " 4 4 Die Frömmigkeit der Pythagoreer richtet sich in 42 O. Casal, De philosophorum Graecorum silentio mystico, Gießen 1919 (RVY 16,2), pass. 48 Casel 86 ff. 44 Ziegler 303/940f. ; zum silentium mysticum der Pythagoreer s. Casel 30ff., der Neupythagoreer 52 ff.
139
besonderer Weise auf Apoll. Pythagoras ist der hyperboreische Apoll45, er erzieht zu Apoll hin, nach dem Vorbild des Gottes4®, er ist Apoll, der zur Erde kam, um die Menschen zu heilen47. Damit ist die Seelenheilung des Pythagoras unmittelbar ans Göttliche geknüpft, gerade an Apoll, dessen Priester der pythagoreisierende Plutarch in Delphi für mindestens 20 Jahre war 48 . Plutarchs Verhältnis zu seinem Gott ist besonders eng, an einigen Stellen wird er deutlich überhöht, so vor allem def.orac. 413C: και εί'θ·' ήλιος έστιν ε'ίτε κύριος ηλίου και πατήρ και έπέκεινα του όρατοΰ παντός ..., und s. n. v. 566 Cf., wo eine kurze Apologie des Apollonorakels dazu benutzt wird, den unendlichen Glanz, den schon der Dreifuß, der im Himmel ist, durch den Busen der Themis auf den Parnaß wirft, zu erwähnen 49 . Daß Plutarch seine Gedanken um die Seelenheilung irgendwie an die Apolltheologie geknüpft hat, ist bei seiner Frömmigkeit von vornherein wahrscheinlich. Aber es war auch kaum ein Gott so geeignet, Reflexionen über Krankheit und Heilung einzuleiten. Apoll ist Heilgott 50 ; seine ärztliche Kraft macht sich über den engen Bezirk der Heilung des Leibes hinaus bemerkbar, „später sind es keine Medikamente gegen leibliche Krankheiten, sondern gegen gesellschaftliche und politische Nöte, die der Grieche gewöhnt ist, auch als νόσοι zu bezeichnen" 51 : in seiner Eigenschaft als Orakelgott gewährt er auch sie. Als Heilgott ist er άποτρόπαιος, προστατήριος als Schützer des Ein- und Ausgangs ; vor den Häusern stand die Spitzsäule des Apollon Agyieus, die dasselbe bedeutet „wie die bekannte Inschrift ó του Διός παις καλλίνικος 'Ηρακλής ένθ-άδε κατοικεί, μηδέν είσίτω κακόν"52. Damit ist er Schützer der privaten Sphäre, der Grenzen der Individualität, die Plutarch in den Schriften, die den ihn besonders interessierenden Themen gewidmet sind, v.p. und g. mit c. und l.i., so energisch zu wahren aufträgt. Die skizzierte Funktion des Gottes scheint mir mit jener anderen zusammenzuhängen, durch die er den Menschen „auf seine Begrenztheit hin entwirft" 53 , die die Grenze des Menschlichen zum Göttlichen hin verdeutlicht, wenn er den seinen Tempel Betretenden zur Selbsterkenntnis auffordert ; dessen Antwort lautet in des Ammonios und damit Plutarchs Auffassung: 45
Zum Verhältnis Pythagoras-Apoll s. Jambl. v. P. 5ff., 25, 30, 35, 50 u.a. 47 Jambl. 51 ff. Jambl. 92. 48 Ziegler 23ff./659ff. 49 Siehe noch U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, Berlin 1931-1932, II, 498ff. 50 Μ. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion I, München 2 1955 (Hb. d. Alt.wiss. 5,2,1), 538ff. 61 Wilamowitz II 36. 52 Nilsson 1 5 4 4 ; H. Herter, Medicus hie habitat. Melemata, Festschr. f. W. Leibbrand, Mannheim 1967, 33ff. zu dieser und anderen Türinschriften. 53 W. Schadewaldt, Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, Pforzheim 1963, 17. 48
140
εΐ, du bist, d. h. du bist ewig, unveränderlich, während das γνώθι σαυτόν auf die Wandelbarkeit des Irdischen, die geringe Bedeutung des Menschen führt (de E 17ff.)· Man wird sagen dürfen, daß „diese (sc. des grenzschützenden Agyieus) Geltung des Apollon in der Volksreligion... keine geringe Bedeutung für die Erfassung seines ursprünglichen Wesens" 5 4 hat. Damit zeigt sich, daß Plutarchs Interesse an Schwatzhaftigkeit, Neugier und δυσωπία sich mühelos in Grundzüge seines Charakters und seiner Überzeugungen fügt. Es ist nun aber wohl zu bemerken, daß die Schriften, die wir behandelten, ungeachtet einiger weniger Bezüge auf Religiöses, ganz eindeutig eine völlig „weltliche" Seelenheilung bieten. Nicht die Praxis der Heilung also orientiert sich an der Religion, auch das Ziel ist zunächst nicht religiös, wie etwa bei christlichen Exerzitienmeistern, sondern ihre Wurzel liegt in religiösen Reflexionen, vielleicht auch nur in einer solchen Stimmung. Derjenige, dem es nur um die Heilung eines πάθος geht, braucht diese religiöse Ausrichtung von Plutarchs Therapie nicht zu bemerken, die sich im übrigen nicht nur über den Weg, den wir soeben einschlugen, sondern auch aus einigen Schriften direkt ergibt. In welchem Maß Plutarchs Seelenheilung sich dem Jenseits, dem Göttlichen verpflichtet weiß, zeigt am klarsten der Timarchmythos aus gen.Socr. Timarch, dessen vom Körper zeitweilig gelöste Seele im sublimaren Bezirk, dem Bereich der Daimonen, schweben darf, sieht einige sternartige Gebilde über dem Abgrund tanzen, andere wieder stürzen ab, noch andere steigen auf. Sein Führer erklärt, daß er Daimonen sehe. Jede Seele habe teil am νους, keine sei völlig ohne νους; der Teil der Seele, der mit dem Fleisch und den πάθη gemischt sei, verändere sich und gehe ins Irrationale über. Nun mische sich jede Seele zu besonderen Graden: einige versinken ganz im Körper, andere aber lassen ein Stück herausragen. Dies herausragende Stück ist der reine νους ; was im Körper sei, heiße Seele. Der νους sei also außerhalb des Körpers und ein Daimon. Die „Sterne" nun, die zu verlöschen scheinen, gingen einer Einkörperung entgegen, die, die gleichsam aufflammten, seien gerade nach dem Tode freigeworden. Die sich hier und dort bewegenden Sterne seien dagegen Daimonen der lebenden Menschen. Timarch sieht sich die letztgenannten Gebilde näher an und bemerkt, wie die einen sich mehr, die anderen weniger stark bewegen. Die Stimme seines Führers fährt nun fort, die ruhigen Sterne seien die Daimonen der guten und wohlerzogenen Menschen, die anderen, sich heftig bewegenden, gehörten zu den Unbeherrschten, τον μέν γάρ σύνδεσμον, οία χαλινόν τω άλόγω της ψυχής έμβεβλημένον, όταν άντισπάση, την λεγομένην μεταμέλειαν έπάγειν ταΐς άμαρτίαις και την επί ταΐς ήδοναΐς, οσαι παράνομοι 54
Nilsson I 544.
141
καΐ ακρατείς, αίσχύνην, άλγηδόνα και πληγήν ου σαν έ'νδοθεν της ψυχής υπό του κρατούντος καΐ άρχοντος έπιστομιζομένης, μέχρι άν οδτως κολαζομένη πειθήνιος γένηται καΐ συνήθης . . . (591D-592C). Der, der richtig sieht (591 E), weiß also, daß sich der Vorgang des Bereuens und des Sich-Schämens eigentlich aus dem Jenseits, dem Reich der Daimonen, die den Übergang von Menschen zu Göttern bilden, herleitet. Der λόγος, das Organ der Seelenheilung, ist selbst eigentlich jenseitig; wenn wir vom νους im Menschen sprechen, so tun wir das als sagten wir, ein Bild sei im Spiegel (591E). Damit ist die Verbindung der Seelenheilung Plutarchs mit der jenseitigen vollzogen — wenn man überhaupt von einer Verbindung sprechen kann und die Heilung nicht in ihrem Wesen als jenseitig zu fassen ist. Der Timarchmythos bleibt also im Rahmen der menschlichen Heilung, sogar der Heilung innerhalb eines Individuums, die eben durch Daimonen unternommen wird ; wie aber halten es die Götter ? Plutarch widmet diesem Thema in s.n.v. weite Teile. Es ist zunächst gewiß kein Zufall, daß er bei der Abfassung dieser Schrift die Seelenheilungsschriften entweder selbst oder mindestens die auch dort verwendeten Quellen benutzte, s.n.v. 5 steht zu c.i. 11 in einem so engen Verhältnis, daß man bereits darüber diskutiert hat, ob c.i. 11 die Quelle sei oder beide auf einen gemeinsamen Autor zurückgehen 5S . Die Frage nach der manchmal lange währenden τιμωρία irdischer Vergehen ist für Plutarch gleich mit der Frage nach der Heilung der Seele durch den göttlichen Arzt. Er beginnt seine Erwiderung auf die Titelfrage mit einem Hinweis auf die nötige Zurückhaltung ; unter anderem heißt es, der Zeitpunkt, wann die Götter die Heilung vollziehen wollen, sei nicht zu erkennen (549 F f.). Selbst die Strafe im Tod sei noch Seelenheilung (564F). Die Götter kennen drei Formen der Heilung. Die erste geschieht durch die Ποινή ταχεία, und zwar am Körper und durch den Körper, sie gleicht der Methode der Barbaren, die die Mäntel und Kopfbedeckungen der Delinquenten rupfen und geißeln, wobei diese unter Tränen flehen, damit aufzuhören (564F f.). Zunächst also zur Heilung im Diesseits. Plutarch geht davon aus, daß der Gott Grad und Art der Krankheit kennt, also auch weiß, ob noch mit Reue gerechnet werden kann. Denn er kennt den Anteil des Guten in der Seele und weiß, daß Schlechtigkeit, eine Folge übler Erziehung und Gesellschaft, behandelt und geheilt werden kann. Nur das Unheilbare reißt er heraus; es ist für andere und den Schlechten selbst das Schädlichste, immer in Schlechtigkeit zu leben (551D f.). Den anderen gibt er Gelegenheit zur Besserung. Danach ist also der Schaden, den der übelste Sünder an anderen und auch an sich selbst anrichtet, nicht mehr ein Heilmittel, wie bei der Heilung durch Menschen, son55
Rabbow, Ant. Sehr. 72 Anm. 2, gegen Pohlenz, Hermes 31, 338; vgl. ferner s.n.v. 652C mit v.p. 528Cf., s.n.v. 555Eff. mit c. 520A.
142
dem der göttliche Arzt kann das Übermaß der βλάβη als einen Anlaß zur Beseitigung des βλαβερός ansehen. Ein solcher Gedanke wäre in einer „weltlichen" Seelenheilungsschrift natürlich fehl am Platz. Nach einigen Versuchen, die Berechtigung des in Frage stehenden göttlichen Verhaltens nachzuweisen, beginnt in Kap. 9 der Nachweis, daß der Übeltäter durchaus, auch wenn es nicht den Anschein hat, gestraft ( = geheilt) wird, und zwar gerade durch die Schlechtigkeit und das Leben in ihr : hier gibt es οίκτους σύν αισχύνη φόβους τε πολλούς καί πάθη χαλεπά καί μεταμελείας καί ταραχάς άπαύστους (554Α f.). Dieser Gedanke beherrscht den Schluß des ersten Teils von s.n. v. ; er beweist deutlich, daß αίσχϋναι und βλάβαι auch die Heilmittel der göttlichen Ärzte sind. Im Jenseits selbst gibt es zwei Methoden, die denen auf der Erde entsprechen : Auslöschung durch die Erinys in das Nichts für die Unheilbaren, Behandlung durch die Dike für die noch Besserungsfähigen. Thespesios, der nach s.n.v. 22ff. im Jenseits weilen durfte, macht uns mit mehreren Strafen bekannt, die teilweise so scheußlich sind, daß man sie mit Nilsson „geradezu sadistisch" 86 nennen möchte. Mit sehr großer Deutlichkeit ist festzustellen, daß auch im Jenseits mit αίσχϋναι und βλάβαι geheilt wird. Unterschieden ist die jenseitige Heilung von der hiesigen dadurch, daß dort die Schmerzen spürbar, hier vorgestellt, dort undifferenziertere äußere βλάβαι, hier eine Skala verschiedenster Mittel wirkt, dort der Beitrag des Patienten zurücktritt, hier das Entscheidende ist. Im Jenseits heilt man also nur mit einer Seite der hier angewandten Methode. Diese aber — als die man die Heilung durch αίσχϋναι und βλάβαι allgemein fassen darf — erfährt durch ihre Anwendung im Jenseits ihren Sinn und ihre tiefere Begründung. Die Blindheit und oft unangemessene Schärfe der Reaktionen auf das πάθος, die dem Kranken vor Augen geführt werden, spiegehl jenseitige Vorgänge. Wenn also mit allen Mitteln die αίσχϋναι und βλάβαι herausgestellt werden, so läßt sich das von hier aus nicht mehr nur mit dem rhetorischen Wesen aller verbalen Seelenheilungen erklären, sondern es erfährt auch als Nachahmung oder Vorausdeutung jenseitiger Heilung seinen Sinn. Daß so oder ähnlich die Vorstellungen Plutarchs waren, läßt sich nicht beweisen; daß aber, wenn ein nachweislich religiöser Mensch Seelenarzt ist und im Jenseits Seelenheilung vollziehen läßt, die Beziehung zwischen beiden von ihm gesehen und die jenseitige als konstitutiv für die diesseitige empfunden wird, dürfte nicht allzu unwahrscheinlich sein. Die ungeheuerlichen Strafen lassen darauf schließen, daß Plutarch dem Bösen eine große Macht einräumte. Bei der Erklärung der platonischen Psychogonie (Tim. 35 A) kommt er nach der Zurückweisung der herrschenden Interpretationen zu einer eigenartigen These, 58 A.a.O. II, München ib. 651 f.
2
1956 (Hb. d. Alt.wiss. 5,2,2) 405, Inhaltsangabe
143
zu der sich nach Proklos in Tim. 361, 10 D. auch Attikos bekannte, nämlich daß mit dem Bestandteil der Seele, den Piaton a.a.O. als περί τά σώματα γιγνομένη μεριστή ουσία bezeichnet, die vorkosmische böse Weltseele nach Lgg. 896 C ff. gemeint sei (an. in Tim.procr. 1014D f.). Nicht die ΰλη sei also Ursache des Bösen 67 , sondern eben jene in den Nomoi beschriebene Seele. Der Schöpfungsakt bestand im Ordnen der unordentlichen, von der bösen Weltseele bewegten Materie (ib. 1014C). Das Böse ist ein eigenes Prinzip; den Dualismus hat Plutarch ausdrücklich bejaht (Is. 369 D). In der Schrift über Isis und Osiris hören wir nun, daß Osiris das letztlich überlegene gute Prinzip im Seelischen wie im Materiellen darstellt, Typhon aber das παθ-η-ακόν und τιτανικόν und αλογον und εμπληκτον und im Bereich der äußeren Welt entsprechend zu fassen sei (Is. 371A f.). Das Böse vermag es im Mythos, das Gute zu überlisten, und es versucht, seine Wiederherstellung zu verhindern (Is. 12ff.). Isis, nach 372E f. χώρα und υλη des Guten und Bösen, also Schauplatz ihres Kampfes, dabei aber durchaus Freundin des Guten (ib., bes. auch 356A), vernichtet das Böse nicht, obwohl sie Gewalt dazu hätte (Is. 358 D) — dieser Zug des Mythos kommt Plutarchs Lösung der Frage : πόθεν τά κακά entgegen —, wohl aber versucht sie alles, um das Gute wiederherzustellen (356E). Ihr ruheloses Umherirren ermahnt dazu, um des Sieges des Guten willen nicht zu ermüden. " Vgl. dazu F. P. Hager, MH 19 (1962) 73ff.; zu Plutarch 80ff.
144
Zusammenfassung 1. Die Kompositionsanalyse ergab allgemein, daß Plutarch seinen Schriften eine durchaus nicht pedantisch ausgefeilte, aber ebensowenig unüberlegte, flüchtige Form gab. Im einzelnen zeigten sich gewisse Eigentümlichkeiten der Argumentation, vor allem a b a-Ausdruck lind Urteilsmodifikation. Wiederholungen und Abweichungen von einmal formulierten Standpunkten sind damit also nicht eindeutige Hinweise auf flüchtiges Hantieren mit Vorlagen. Die fünf Schriften sind nicht im selben Maße durchgeformt; als Extreme stehen sich das lebendige de garrulitate und das schematische de laude ipsius gegenüber. 2. Plutarch hat sich um die beste Therapieform bemüht. Die Stellung von mentaler und praktischer Therapie und das Verhältnis der praktischen Formen zueinander änderte sich von Schrift zu Schrift; diese Veränderung ließ sich als eine Entwicklung zu immer klarerem Verständnis der Methoden und zu ihrer zweckgemäßeren Anwendung fassen; die Linie schien uns von g. über c., c.i. und v.p. nach l.i. zu führen. Die Sonderstellung von l.i. hatte schon der Vergleich der Krisis, die von g. und l.i. die Kompositionsanalyse ergeben. Chronologische Indizien, soweit sie vorhanden sind, passen sich dieser Reihenfolge an. In ihrem Grundcharakter, d.h. im Hinblick auf ihre allgemeinen Mittel und Ziele, ist Plutarchs Seelenheilung akademisch. Die besondere Therapieweise Plutarchs, die strenge Kur durch Krisis, Epilogismos und Ethismos nämlich, ist kein Produkt der hellenistischen Geisteshaltung und Stimmungslage — dies gilt auch für die Seelenheilung überhaupt —, sondern sie ergab sich mit der Sache. Wir fanden sie bereits in Aristophanes' Wespen. 3. Was die von Plutarch behandelten Krankheiten betrifft, so schien sich sein Interesse, äußerlich gesehen, auf besonders spezielle Arten, sodann auf sonst kaum behandelte zu richten. Im wesentlichen ging es ihm um das Grundleiden der Verletzung der eigenen und fremden Grenze durch das unkontrollierte Wort ; seine Bedeutung für ihn kann im Zusammenhang mit seinem Verhältnis zum (grenzschützenden) Apoll gestanden haben, auch seine Neigung zum Pythagoreismus, der ebenfalls Beziehungen zu Apoll hat, mag damit in Verbindung stehen. Seine in anderen Schriften dargelegte Auffassung von Belohnung und Strafe im Jenseits ließen seine Seelenheilung als Abbild, ja als Teil überirdischer Vorgänge verstehen ; dieser Aspekt aber zeigte sich nicht in den von uns behandelten Traktaten. Hier geht es Plutarch nicht darum zu zeigen, was Seelenheilung ist, sondern mit den wirksamsten, immer neu zu prüfenden Mitteln den Kranken zu helfen. 145
Häufiger benutzte und abgekürzt zitierte Literatur Daniel Babut, Plutarque et le stoicismo, Paris 1969. Max Pohlenz, Über Plutarchs Schrift περί άοργησίας, Hermes 31 (1896) 32Iff. Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen I 1948, I I 1949. Paul Rabbow, Antike Schriften über Seelenheilung und Seelenleitung I : Die Therapie des Zorns, Leipzig-Berlin 1914. Paul Rabbow, Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1954. Hermannus Ringeltaube, Quaestiones ad veterum philosophorum de affectibus doctrinam pertinentes, Diss. Göttingen 1913. Konrat Ziegler, Plutarchos von Chaironeia, R E 21,1 (1951) 636ff.; Stuttgart 2 1964 (Fotomech. Nachdruck des RE-Sonderdrucks von 1949 mit Nachträgen): diese Ausgabe ist immer zuerst zitiert.
146
Register a&a-Schema 70ff. Affekte als Heilmittel 87 ff. αίσχρόν 76f. Aischylos 127 Akademie 11, Vielseitigkeit der Seelenheilung 87ff. Antiphon 124 Apathie 90 ff. Apoll 139 ff. άπόρρητα 126ff. Apuleius 71, 129 Aristón 9 Aristophanes 125f., Seelenheilung in den „Wespen" 121ff. Aristoteles 89 A. 38, 92, 128f. Askesis 7, 99ff., Geschichte 121 Biographien Plutarchs 7 A. 4 βλάβαι u n d αίσχϋναι 74ff. pass., relative, absolute, innere, äußere 76ff., in den einzelnen Seelenheilungsschriften 78ff. Chronologie der Seelenheilungsschriften 116ff. Chrysipp 88 Cicero 87, 93, 98 δυσχεραίνειν als Heilmittel 88 ff. δυσωπία 11 Α. 31, 133ff., bei Plutarch, außer in v. p., 83ff. E p i k t e t 10 A. 25, 11 Epikur 119 A. 84, 120 A. 87 Epilogismos 99ff., Verhältnis zum Ethismos s. Krisismaterial, Verh. zur Krisis 112, u n d Lernvorgang 119ff., in Piatons Phaidon 120, „zweiter" 112f. Epilogismosarten, Verhältnis zueinander 112 f. Ethismos 105ff., Verhältnis zum Epilogismos 113f., Verh. zur Krisis ib. Ethismosarten, Verhältnis zueinander 114f. Euripides 127, 130 Farbigkeit der Seelenheilungsschriften 72f.
Grenzverletzung 133 ff. Grundleiden 11, 131 ff. Herodot 127 Hesiod 71 Hieronymos von Rhodos 8 Homer 71, 125ff. Horaz 126ff. Innenwendung 118ff. Jamblich 137ff. Kompositionsanalyse 11 f., 14 ff. Krisis 74ff., Verhältnis zur Askesis 111 Krisismaterial, Verhältnis zum Ethismos 113f. Libarnos 127 Lukian 71 Marc Aurel 10 A. 25, 11 Martial 127 Methode der Seelenheilung Plutarchs 74ff. Methodenbewußtsein Plutarchs 10ff., 118 Metriopathie 90ff. Musik 138 Musonios 10 A. 25, 11 Mythen bei Plutarch, ihre Beziehung zur Seelenheilung 141 if. Neugier 128f., 133ff., bei Plutarch, außer in c., 83 νεϋρα της ψυχής 94 Olympiodor 89 Ovid 10 Pädagogik 9 πάθος-Bild, Verhältnis zur Therapie 85 f., 109 ff. Peripatos 92 ff. φιλανθρωπία 131 φιλαυτία 131 f. Philodem 8 A. 7, 93 f. φιλοδοξία 132 φόβος 87ff. Phrynichos 129 147
Platon 87ff., 90 A. 39, 126 Plautus 128f. Plutarchforschung 7ff. „Plutarchische", das 7, 131 Poseidonios 8 Psychotherapie, hellenistische 11, sachlicher Beitrag Plutarchs 74ff. Pythagoreismus 136ff. Reigenkomposition 27 f., 48 Rhetorik 9, 72, 119 Schwatzhaftigkeit 126ff., 133ff., bei Plutarch, außer in g., 81 ff. Schweigen 139 Seelenheilung, Geschichte 118ff. Seelenleitung 9 Selbständigkeit, subjektive 12 Selbstlob 129, 133ff., bei Plutarch, außer in 1. i., 85 Seneca 8ff., 93, 127 f.
148
Simonides 127 Sotion 8 Stil Plutarchs 69ff. Stoa 8ff., 92ff., Charakterisierung der Seelenheilung 98 συμφέρον 75 Themen der Seelenheilung Plutarchs 11, 124 ff. Theophrast 93, 126, 129 Trostschrift 124 Urteilsmodifikation 70 Variation 70 Vielreden 126ff. Wohl verhalten, Technik 115 υπομνήματα 8, 69 Zorn 92ff., 124ff., bei Plutarch, außer in c. i., 80f.