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German Pages 216 [224] Year 1966
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Richard Brinkmann, Friedrich Sengle und Klaus Ziegler
Band 4
WOLFGANG
STREICHER
Die dramatische Einheit von Goethes ,Faust'. Betrachtet unter den Kategorien Substantialität und Funktionalität
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1966
Gedruckt mit Unterstützung des Kultusministeriums Baden-Württemberg © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1966 Satz und Druck Großdruckerei Erich Spande!, Nürnberg Einband von Heinr. Koch, Tübingen
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
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Methodische Grundlegung I. Allgemeine Vorbemerkung II. Die Gattungspoetik Schillers und Goethes III. Emil Staigers ,Grundbegriff e der Poetik'
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Die dramatische Einheit von Goethes ,Faust' I. Die Personen als Funktionsträger 1. Personen als Träger von Kurzdefinitionen 2. Wesenheiten der außermenschlichen Welt 3. Die begriffliche Welt a) Personifizierte Begriffe b) Allegorien c) Übergang vom Begriff zum Charakter: Mephistopheles . 4. Die Welt des allgemeinen' 5. Die menschliche Welt 6. Faust II. Die Einheit der Handlung 1. Vorbemerkung 2. Der »Prolog im Himmel' 3. Die ,methodische Grundlegung' des,Faust' 4. Die Schülerszene 5. Auerbachs Keller 6. Die Hexenküche 7. Die Gretchentragödie 8. Anmutige Gegend 9. Kaiserliche Pfalz
36 36 45 57 57 62 68 72 84 89 91 91 92 94 116 119 121 126 153 155
10. Helenas .Antezedentien' a) Der ,Vorwurf' des Helenamotivs b) Die Einführung der Homunculusgestalt c) Die ,Klassische Walpurgisnacht'
162 162 168 176
11. Die 12. Die 13. Die 14. Die
188 192 201 204
Helenatragödie Herrsdiertragödie Psychomadiie Erlösung
Sdiluß
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Literaturverzeichnis
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EINLEITUNG
Die Diskussion um die Einheit von Goethes ,Faust' ist seit den Tagen Friedrich Theodor Vischers nicht zur Ruhe gekommen. Wohl wurde Vischers überspitzte und gereizte Polemik von der Literaturwissensdiaft sehr bald zurückgewiesen, doch bedeutete diese Zurückweisung natürlich nodi keine Lösung des Problems. Das Interesse der Literaturwissensdiaft konzentrierte sidi dabei auf Faust II und das Verhältnis von Faust I und Faust II, weniger auf Faust I, dessen Einheit relativ unproblematisch erschien. Der Natur des Gegenstandes entsprechend, bildeten sich zwei Parteien: die Partei derer, die jede echte Einheit leugneten und jeden Versuch, eine solche nachzuweisen, als Konstruktion brandmarkten und die Partei derer, die die Einheit des ,Faust' aufrecht erhalten wollten. Repräsentative Vertreter der ersten Partei sind etwa Benedetto Croce und Konrad Ziegler. 1 Beide unterscheiden sidi jedoch insofern, als für Croce der Mangel an Einheit im ,Faust' keine literarische Schwäche bedeutet, Ziegler darin jedoch eine edite Schwäche sieht. Croce empfiehlt, Faust II „bald hier, bald dort aufzuschlagen und eine Phantasmagorie zu verfolgen, ein Bilddien zu genießen, über ein satirisches Gemälde zu lächeln, irgendeinen hübschen Sinnspruch sich eigen zu machen".2 Diese positive Weise, den Mangel an Einheit im ,Faust' zu betrachten, ist jedoch selten. Wo dieser Mangel unbeschönigt erkannt wird, begegnet er, wie bei Konrad Ziegler, zumeist der Kritik. Zu Zieglers Argumentation schreibt Kurt May: „Immer ist für diesen Kritiker die Frage entscheidend, ob in einer Szene oder Szenengruppe das Faustproblem seiner Lösung nähergebracht wird und zwar ob eine neue Verwandlung, eine neue Reife Faustens" 3 erreicht wird. Ziegler konzentriert sich nach May zu sehr auf das Faustische, dessen mangelnde Konsequenz in seiner Durchführung er kritisiert. Eine soldie Konzentration auf ein abstrakt Faustisches wird jedoch dem ,Faust' nicht gerecht: die Einheit des ,Faust' 1
Konrad Ziegler: Gedanken über Faust II. 1919. Benedetto Croce: Goethe. 1920 (Amalthea-Bücherei Bd. 14). Seite 117. » Kurt May: Zur Einheit in Faust II. - GRM 18, 1930. S. 100.
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braucht nicht ausschließlich in der konsequenten Durchführung dieses abstrakt Faustischen zu liegen, und so besteht kein Grund, an ihr zu verzweifeln. Neben den Kritikern, die, wie Croce und Ziegler, die Einheit des ,Faust' a priori leugnen, stehen die mannigfachen Vertreter derer, die sie in irgendeiner Form zu retten versuchen. Alle diese Kritiker sprechen jedoch — und dies ist entscheidend für unseren eigenen Ansatz — nicht von einer dramatischen, sondern von einer philosophisch-geistigen Einheit im,Faust', und zwar im Grunde auch dort, wo sie von dramatischer Einheit sprechen. Zunächst sollen einige repräsentative Vertreter jener Gruppe von Kritikern angeführt werden, für die Einheit eo ipso philosophischgeistige ist, für die der Unterschied zur dramatischen Einheit überhaupt nicht zum Problem wird. Soll das (philosophisch verstandene) Einheitsproblem im ,Faust' mit einiger Konsequenz demonstriert werden, so ist es nötig, die Faust-Linie als möglichst einheitliche, von e i n e r philosophischen Intention getragene herauszuheben. Dies führt jedoch leicht dazu, die ganze Entwicklung Fausts unter e i n e m oder einigen wenigen philosophischen Gesichtspunkten zu betrachten, was zwangsläufig die Kritik anderer Interpreten, die andere zentrale philosophische Prinzipien im ,Faust' verwirklicht sehen wollen, auf den Plan ruft. Positionen solcher philosophischen Einseitigkeit sind etwa diejenigen von Beutler und Hertz. So sieht Beutler den Sinn von Faust I primär darin, daß Faust Mephistopheles mehr und mehr verfällt, während seiner Ansicht nach der Sinn von Faust II darin besteht, Faust von Mephistopheles zu lösen, ihn „zur Natur, zu Gott, denen beiden der Magier einst abgesagt und geflucht hatte, zurückzuführen". 4 Hertz hingegen sieht die Entwicklung der Faust-Linie unter der Polarität von Natur und Geist; die Faust-Linie wird zur „Irrfahrt des Helden nach der in der Unendlichkeit winkenden Ruhe der Vollendung im ewigen Frieden zwischen der Stoffseele und der Geistseele".5 Beide Interpretationen sind in hohem Grade einseitig, reduzieren das ganze philosophische ,Faust-System' auf einen einzigen philosophischen Zentralwert, aber nur aus der Perspektive solcher Einseitigkeit läßt sich im echten Sinne des Wortes von einer philosophischen Einheit des ,Faust' sprechen. Weniger radikal sind andere Versuche, das Einheitsproblem im ,Faust' 4
Ernst Beutler: Der zweite Teil von Goethes Faust. — Goethe-Kalender. Bd. 30. 1937. S. 70. 5 Gottfried Wilhelm Hertz: Natur und Geist in Goethes Faust. 1931. (Deutsche Forschungen. Bd. 25) S. III.
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zu lösen. Dabei wird die Einheit freilich zwangsläufig als ,Vieleinheit' verstanden. So unterscheidet etwa Kurt May in Faust II drei Stadien in der Entwicklung Fausts, ein politisches (Kaiserhof), ein ästhetisches (Helena) und ein ethisch-soziales Stadium. Hier haben wir nicht mehr, wie bei Beutler und Hertz, die Subordination der ganzen Faustentwicklung unter einen einzigen philosophischen Zentralbegriff, sondern die Koordination gleichwertiger Glieder, die wohl untereinander zusammenhängen, jedoch nicht konsequent ineinander übergeführt werden können und so eine weitgehende Selbständigkeit behalten. Die Reduktion des Faustgeschehens auf einige Stadien Fausts erlaubt es nun nur noch innerhalb dieser Stadien, von Einheit zu sprechen, was freilich auch hier noch (nur in geringerem Maße als bei Beutler und Hertz) dadurch erkauft wird, daß eine komplizierte und weitverzweigte Linienführung einigen Zentralbegriffen untergeordnet wird. Diese Unterordnung bleibt auch hier Vergewaltigung; auch hier läßt sich nicht jede Arabeske als Verwirklichung und Ausdruck eines Faustschen Stadiums deuten. So bleibt, will man sämtliche Linien, Linienansätze, ja punktuelle Äußerungsformen erfassen, nur die Möglichkeit, ein dichtgefügtes Relationssystem zu schaffen, in dem jedes Detail seinen Stellenwert hat. Dies geschieht etwa bei Emrich.6 Ein solches System, in dem alles symbolisch vermittelt ist, enthält ein Maximum an Koordination und ein Minimum an Subordination. Hier wird die ,Vieleinheit' radikal. Damit löst sich der Einheitsbegriff jedoch zugleich mehr und mehr auf, denn das Detail wird nun nicht mehr, kann nicht mehr oder zumindest nur noch partiell über einen Zentralbegriff vermittelt werden, so daß die Vermittlung im Detail steckenbleibt. Ohne Subordination gibt es — dies zeigen ja auch die großen philosophischen Systeme — keinen echten Einheitsbegriff. Es sei denn, man geht, wie Kurt May, 7 von der Einheit der Sprache aus, wobei freilich dieser Einheitsbegriff ganz anderer Natur ist als der philosophisch-systematische. Alle bisher genannten Kritiker, die eine Lanze für die Einheit des,Faust' zu brechen versuchten, versuchten dies im Namen einer geistigen Einheit, keiner dramatischen. Gelang es ihnen, eine philosophisch konsequente Faust-Linie zu konstruieren (Beutler, Hertz), verschiedene Existenzformen Fausts herauszuarbeiten, sie zu koordinieren, ihren Stellenwert in der Entwicklung Fausts aufzuzeigen (May) oder gar alles zu vermitteln (Emrich), so war für sie das Problem der Einheit im ,Faust' gelöst. Eine solche Systemeinheit darf jedoch nicht mit dramatischer β 7
Wilhelm Emrich: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Kurt May: Faust II. Teil. 1957. In der Sprachform gedeutet. 3
Einheit verwechselt werden. Wenn wir etwa den Übergang von der Existenzform Fausts in .Auerbachs Keller' zur erotischen Existenzform in der Gretchentragödie betrachten, so sehen wir leicht, daß die erotische Existenzform aus Fausts Existenzform in ,Auerbachs Keller' hervorgeht. Dennoch sind beide Existenzformen nicht dramatisch vermittelt. Zum Schluß unserer Kritik sollen deshalb noch zwei Versuche angeführt werden, die Einheit des ,Faust' auch dramatisch zu retten. Bei genauer Betrachtung stellt sich jedoch die dramatische Einheit auch hier als philosophische Einheit heraus. Rickerts8 Versuch, die Faust-Linie klar herauszuarbeiten und die Vielfalt des Geschehens mit ihr, oft nicht ohne Gewaltsamkeit, in Beziehung zu bringen, übersieht, daß diese Faust-Linie ja gar keine dramatische Linie, sondern nur eine geistige Entwicklungslinie ist. Ähnlichen Irrtümern verfällt Petsdi. Nach ihm ergibt sich „der innere Aufbau der Akte . . . aus dem . . . rhythmischen Wechsel zwischen dem Erhabenen und dem Gemeinen, dem Vorwärtsdrängenden und dem .Starren' ".9 Petsdi spricht von ,Stufen' der dramatischen Entwicklung, aber diese Stufen sind natürlich ebenfalls geistige Entwicklungsstufen Fausts und als solche gegenüber echter dramatischer Entwicklung indifferent. Zusammenfassend läßt sich für die Methode aller Apologeten des Einheitsprinzips im .Faust' sagen, was Helene Hermann vom echten Faustinterpreten fordert: „Ihm ist es angelegen, die bildenden Grundkräfte zu erkennen, die das Ganze durchwirkt halten, und deren Walten er an entscheidenden und vollendeten Stellen des Werkes geahnt hat. Jene Tatsachen wird er demgemäß erst als Formbesonderheiten, als Modifikationen dichterischer Formen durch jene Grundkräfte zu verstehen suchen. Wo das nicht mehr gelingt, wird er zu erkennen trachten, wo und weshalb die formenden Prinzipien aussetzten." 10 Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch bei allen Apologeten des Einheitsprinzips im .Faust', daß sie die einzelnen .Formen' des .Faust' letztlich nicht als Ausdruck von .Grundkräften' zu verstehen vermögen, daß ein solches Verstehen letztlich nur ein Reduzieren einer Mannigfaltigkeit von Formen auf ein paar abstrakte Begriffe ist, ein Reduzieren, das seiner Natur nach immer eine Konstruktion bleibt. Wollen die Apologeten der Einheit des ,Faust' (wie etwa Rickert) diese Konstruktion vermeiden, so enden sie fast zwangs-
β
Heinrich Rickert: Goethes Faust. Die dramatische Einheit der Dichtung. 1932. ® Robert Petsdi: Die dramatische Kunstform des Faust. — Euphorion 33, 1932. S. 236. 10 Helene Herrmann: Faust, der Tragödie zweiter Teil. Studien zur inneren Form des Werkes. - Zeitschrift für Ästhetik Bd. XII, 1917. S. 87.
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läufig bei der bloßen Beschreibung der Formmannigfaltigkeit, wobei sie je nach Gelegenheit und wo sich die Notwendigkeit dazu ergibt, versuchen, diese Formmannigfaltigkeit ein wenig zu systematisieren. Einem solchen Systematisieren wohnt jedoch keine Notwendigkeit inne. Die verschiedenen Existenzformen Fausts, die Darstellung eines unendlichen Kosmos von Personen, die Begegnungen der einzelnen Personen untereinander haben ein eigenes Selbstsein, das man zwar immer auch bis zu einem gewissen Grade systematisieren kann, jedoch selten muß. Die Linien, die man innerhalb des ,Faust-Systems' ziehen kann, sind nicht mit dramatischen Linien zu vergleichen. Unsere Aufgabe wird nun darin bestehen, wirklich konsequent das Problem der d r a m a t i s c h e n Einheit in Angriff zu nehmen und dieser nicht eine bloße Systemeinheit unterzuschieben. Dabei zeigt sich sehr schnell, daß von einer dramatischen Einheit im ,Faust' nie die Rede sein kann. Dies gründet in der Faustkonzeption selbst. Faust ist kein dramatischer Charakter. Er steht unter der Kategorie der Möglichkeit, er entwirft, er provoziert die Situation, ist ihr nicht unterworfen. Wir haben im ,Faust' keine echte dramatische Situation; nur diese würde jedoch eine dramatische Einheit garantieren. Aber selbst die philosophische Einheit ist unserer Ansicht nach nur in einigen großen Umrißlinien zu verifizieren; dies rührt daher, daß die Möglichkeitsexistenz Fausts auf Totalität drängt, auf Totalität in der Verwirklichung des Ichs, eine Totalität, der die Welt in ihrer Totalität, der .Totalität der Materie' (um mit Schiller zu reden), gegenübersteht. Es liegt jedoch im Begriff der Totalität, daß in ihr — wiewohl sie zum Philosophisch-Allgemeinen und damit auch zur philosophischen Systembildung drängt — nicht alles vermittelt werden kann. Eine vollständige Vermittlung würde sie als Totalität aufheben, würde zugleich die Faustgestalt in ein System pressen, in dem für ihre Möglichkeitsexistenz wenig Raum mehr bliebe. Das Ziel unserer Untersuchung besteht also darin, die d r a m a t i s c h e Einheit des ,Faust' zum Problem zu machen. Eine unserer Grundintentionen ist, die dramatische Einheit gegen die philosophische abzugrenzen, ja zu zeigen, daß Philosophisches, philosophische Systembildung entdramatisierend wirkt. Doch ist dies natürlich nur ein Gegenstand unserer Untersuchung. Der zentrale Gegenstand besteht darin, sich zu fragen, welche dramatischen Möglichkeiten und Formen sich der Darstellung einer auf Totalität drängenden Möglichkeitsexistenz anbieten. Zu diesem Zweck führen wir die Kategorien Substantialität und Funktionalität ein. Die Konsequenz, mit der wir diese Kategorien zu verifizieren versuchen, 5
erlaubt es uns nur selten, auf andere Untersuchungen über das Einheitsproblem im .Faust' einzugehen. Da alle diese Untersuchungen überdies letztlich die philosophische Einheit des ,Faust' zu ihrem Gegenstand haben, berühren sie unsere Problemstellung nur am Rande.
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METHODISCHE
GRUNDLEGUNG
I Allgemeine Vorbemerkung
Unser Ziel, Goethes ,Faust' mit Hilfe der Kategorien Substantialität und Funktionalität in seiner Struktur näher zu bestimmen, bedarf zunächst einmal einer Begriffsbestimmung dieser beiden Kategorien. Vereinfachend läßt sich sagen, daß die Elemente des ,Faust', die wir mit der Kategorie der Substantialität einzufangen hoffen, gewöhnlich als ,episch' bezeichnet werden, besonders seit der Brechtsche Begriff des .epischen Theaters' diesem Terminus im Bereich der dramatischen Dichtung eine so große Bedeutung verliehen hat. Die ,dramatischen' Elemente sollen mit der Kategorie der Funktionalität erfaßt werden. Wir bringen die Begriffe Substantialität und Funktionalität ins Spiel, weil die Gattungsbegriffe ,episch' und ,dramatisch', wie wir im folgenden aufzuweisen versuchen, terminologisch schwankend sind. Sie werden zunächst in einem rein äußerlichen Sinn für die erzählende Dichtung und die Bühnendichtung gebraucht. Es ist jedoch einleuchtend, daß unter diesen Umständen im ,Faust', ja überhaupt im modernen, an Brecht und anderen orientierten Drama nicht von einer Vermischung der poetischen Gattungen gesprochen werden kann. Denn von ,epischen' Elementen in ,dramatischer' Dichtung zu reden, könnte dann nur bedeuten, daß der dramatische Stil von Partien unterbrochen wird, wo eine außerhalb des dramatischen Geschehens stehende Person einen Kommentar abgibt oder einzelne, relativ wenig koordinierte Teile einer dramatischen Entwicklung verbindet. Um eine so geartete literarische Technik handelt es sich im ,Faust' streng genommen nirgends, denn der Kommentar etwa, den die kaiserliche Hofgesellschaft dem Erscheinen von Paris und Helena, einer Handlung in der Handlung, zukommen läßt, ist ja selbst immer noch ins dramatische Geschehen integriert. Wenn wir von einer Vermischung der poetischen 7
Gattungen reden, so müssen wir deshalb den Gattungsbegriff anders ansetzen. Hier begegnen wir indessen unüberwindlichen Schwierigkeiten, weil, wie wir im einzelnen zeigen werden, die Begriffe .episch' und .dramatisch', einmal aus der oben angeführten Bedeutung gelöst, kaum zu fixieren sind. Sie enthalten die verschiedenartigsten Elemente, teils formkonstituierende, teils inhaltliche. Wenn wir etwa einige Bestimmungen, die Georg Lukács für das Epos, in dem sich epischer Stil dodi am reinsten verwirklichen sollte, anführt, einer Kritik unterziehen, so zeigt sich sofort, wie schwierig es ist, diese Bestimmungen in einem literarischen Kunstwerk zu verifizieren. Lukács schreibt etwa, daß es in der Welt des griechischen Epos nodi keine Innerlichkeit gebe, „denn es gibt noch kein Außen, kein Anderes für die Seele".1 „Sein und Schidksal, Abenteuer und Vollendung, Leben und Wesen sind dann identische Begriffe." 2 Oder: „Das Verhalten des Geistes in dieser Heimat ist deshalb das passiv-visionäre Hinnehmen eines fertig daseienden Sinnes·"3 „Es ist eine homogene Welt, und auch die Trennung von Mensch und Welt, von Idi und Du vermag ihre Einstoffigkeit nicht zu s t ö r e n . . . Denn nicht einsam steht der Mensch, als alleiniger Träger der Substantialität, inmitten reflexiver Formungen: Seine Beziehungen zu den anderen und die Gebilde, die daraus entstehen, sind geradezu substanzvoll, wie er selbst, ja wahrhafter von Substanz erfüllt, weil allgemeiner, .philosophischer', der urbildlichen Heimat näher und verwandter: Liebe, Familie, Staat." 4 Die Welt Homers ist in sich abgerundet; sein Epos gibt die Totalität einer Welt wieder, eine ,extensive' Totalität, durch die ein .empirisches Idi' hindurchgeführt wird. Alle diese Bestimmungen zeigen deutlich, wie schwierig es ist, von .episch' und .dramatisch' zu sprechen, wenn man darunter nidit einfach erzählende Dichtung und Bühnendichtung verstehen will. Denn wie sollte man die die dramatische Entwicklung auflösende Begrifflidikeit im zweiten Teil des ,Faust' mit dem Begriff ,episch' einfangen, wenn es eine solche Begrifflichkeit in einem .epischen' Zeitalter noch in keiner Weise gab. Die psychologischen Bestimmungen, die aus den poetischen Gattungsbegriffen nicht ausgeklammert werden können, machen den Begriff der poetischen Gattung überhaupt verdächtig, wenn nidit gar unmöglich. Poetische Gattungsbegriffe behalten nach Croce „nur den Wert empirischer Begriffe, die sich niemals auf strenge Wissenschaft oder auf die Philosophie zurückführen lassen, es wäre denn höchstens in der Weise, daß 1
Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein gesdiichtsphilosophischer Versudi über die Formen der großen Epik. 1963. S. 23. 2 s 4 G. Lukács, S. 23. G. Lukács, S. 25. G. Lukács, S. 26.
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die Philosophie sie, wenn sie sich hervorwagen und für strenge, philosophische Begriffe gelten wollen, damit straft, daß sie sie auflöst". 5 Und an einer anderen Stelle: „Sicher aber hat jene Einteilung, die alle Traktatschreiber unentwegt ihrer Darstellung weiter zugrunde legen, keine Geltung: Die Dreiteilung der Dichtung in Lyrik, Epik und Dramatik."· Diese Dreiteilung ist philosophisch schon deshalb inkonsequent, weil sich dann zwangsläufig „in jeder Lyrik Erzählung und Drama, in jedem Drama Lyrik und Erzählung finden.. ." 7 Daß Croces nominalistisdie Poetik gegenüber der .realistischen' Gattungspoetik Recht hat, steht für uns außer Frage. Denn die poetischen Gattungsbegriffe sind, wie wir schon andeuteten, deshalb so schwankend, weil sidi in ihnen formkonstituierende und inhaltliche Bestandteile mischen. Die methodische Aufgabe, der der erste Teil unserer Untersuchung gewidmet ist, besteht nun darin, die Begriffe ,episch' und .dramatisch' mit den Begriffen Substantialität und Funktionalität zu konfrontieren, die ersteren auf die letzteren als die ihnen zugrunde liegenden formkonstituierenden Elementarbegriffe zurückzuführen und ihre inhaltliche Komponente aus der Diskussion auszuscheiden. Die einzelnen Bestimmungen der Begriffe .episch' und ,dramatisch' sollen nun in zwei beispielhaften Versuchen, das Wesen dieser .Grundbegriffe der Poetik' zu erfassen, nämlich an Goethes und Schillers Versuch als Paradigma klassischer und Emil Staigers Versuch als Paradigma moderner Poetik, resümiert und unseren Begriffen gegenübergestellt werden. Zunächst sollen jedoch diese Begriffe selbst in ihrer logischen Struktur dargelegt werden. Ihre Wahl geht auf ein antithetisches Begriffspaar zurück, das Schiller in seinem Briefwechsel mit Goethe gebraucht. Ausgehend von dem Verhältnis des Epikers und des Dramatikers zur Exposition, schreibt er: „Er (der Dramatiker. Anmerkung des Verfassers) steht unter der Kategorie der Kausalität, der Epiker unter der der Substantialität; dort kann und darf etwas als Ursache von was anderm da sein, hier muß alles sidi selbst um seiner selbst willen geltend machen."8 Wenn wir die Kategorie der Kausalität durch die Kategorie der Funktionalität ersetzen, so hat dies folgende Gründe. Zunächst handelt es sich bei Kausalität und Substantialität um Begriffe, die nicht der * Benedetto Croce, Für eine moderne Poetik. In: Croce, Kleine Schriften zur Ästhetik. Bd. 2. 1929. S. 120. 7 • B. Croce, Poetik, S. 125. B. Croce, Poetik, S. 126. 8 Schiller an Goethe: Brief vom 25.4.1797. In: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hg. von Hans Gerhard Gräf und Albert Leitzmann. 1955. Bd. 1, S. 326.
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gleichen Begriffsebene angehören, denn der Substanz entspricht logisch die Relation, nicht die Kausalität. Letztere legt bereits fest, um welche Art von Relation es sich handelt, nämlich um das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Handelt es sich, wie im Falle Schillers, darum, die Funktion der Exposition zu bestimmen, so ist die Kategorie der Kausalität durchaus am Platze, ist doch das Verhältnis von Exposition zum weiteren Fortgang der dramatischen Entwicklung ein Ursache-WirkungVerhältnis. Will man jedoch grundsätzlich für das Epische die Kategorie der Substanz geltend machen, so muß für das Dramatische die Kategorie der Relation, der Relation als Vorgang, als prozessuale, als Funktion in Anspruch genommen werden. Die Begriffe Substantialität und Funktionalität bedeuten Substanz- und Funktion-Sein. Mit der Kategorie der Substantialität sollen alle diejenigen literarischen Data erfaßt werden, die in einem Dichtkunstwerk ,um ihrer selbst willen geltend gemacht werden', mit der Kategorie der Funktionalität alle diejenigen, die ihre ästhetische Bedeutsamkeit aus dem prozessualen Fortschreiten einer Handlungslinie bekommen.
II D i e G a t t u n g s p o e t i k Schillers und Goethes
In der Antwort auf einen Brief Goethes, in dem dieser die Eigenschaft des Retardierens, welcher Begriff später durch den Terminus des Retrogradierens ersetzt wurde, als eine Haupteigenschaft des ,epischen Gedichts' bezeichnet hatte, schreibt Schiller am 21. 4. 1797: „Es wird mir aus allem, was Sie sagen, immer klarer, daß die Selbständigkeit seiner Teile einen Hauptcharakter des epischen Gedichts ausmacht. Die bloße, aus dem Innersten herausgeholte Wahrheit ist der Zweck des epischen Dichters: er schildert uns bloß das ruhige Dasein und Wirken der Dinge nach ihren Naturen, sein Zweck liegt schon in jedem Punkt seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig zu einem Ziele, sondern verweilen uns mit Liebe bei jedem Schritte." 1 In seiner Antwort schreibt Goethe: „Ich suchte das Gesetz der Retardation unter ein höheres unterzuordnen, und da scheint es unter dem zu stehen, welches gebietet: daß man von einem 1
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Schiller an Goethe: Brief vom 21. 4.1797. In: BriefWechsel, Bd. 1, S. 320.
guten Gedicht den Ausgang wissen könne, ja wissen müsse, und daß eigentlich das Wie bloß das Interesse machen dürfe." 2 Dieses Argument wird von Schiller indessen stark angezweifelt. Er schreibt: „Indessen mödite ich jenes höhere epische Gesetz doch nicht ganz so aussprechen, wie Sie getan haben. In der Formel: daß eigentlich nur das Wie und nicht das Was in Betracht komme pp., dünkt es mir viel zu allgemein und auf alle pragmatischen Dichtungs-Arten . . . anwendbar zu sein. Wenn ich meinen Gedanken darüber kurz heraussagen soll, so ist es dieser. Beide, der Epiker und der Dramatiker, stellen uns eine Handlung dar, nur daß diese bei dem letzteren der Zweck, bei ersterem bloßes Mittel zu einem absolut ästhetischen Zwecke ist." 3 Und weiter, die Funktion der Exposition in beiden Gattungen betreffend: „Dem Epiker möchte ich eine Exposition gar nicht einmal zugeben; wenigstens nicht in dem Sinne, wie die des Dramatikers ist. Da er uns nicht so auf das Ende zutreibt wie dieser, so rücken Anfang und Ende in ihrer Dignität und Bedeutung weit näher aneinander, und nicht, weil sie zu etwas führt, sondern weil sie selber etwas ist, muß die Exposition uns interessieren. Ich glaube, daß man dem dramatischen Dichter hierin weit mehr nachsehen muß; eben weil er seinen Zweck in die Folge und an das Ende setzt, so darf man ihm erlauben, den Anfang mehr als ein Mittel zu behandeln." 4 Und nun der von uns bereits zitierte Satz: „Er steht unter der Kategorie der Kausalität, der Epiker unter der der Substantial!tat; dort kann und darf etwas als Ursache von etwas anderm dasein, hier muß alles sich um seiner selbst willen geltend madien." 5 Mit diesem Satze Schillers, in dem die ganze bisherige Diskussion nodi einmal zusammengefaßt wird, verschwindet die Frage der poetischen Gattungen zunächst aus dem Briefwechsel der beiden Klassiker. Der Verlauf, den die bisherige Diskussion nahm, ist typisch für alle Gattungspoetik: man beginnt mit der Beschreibung einer einzelnen Eigenschaft eines literarischen Gebildes, die für die Gattung charakteristisch ist, und man endet damit, die abstraktesten philosophischen Begriffe für die verschiedenen Gattungen zu bemühen. Dennoch darf man Goethe und Schiller in diesem ersten Teil der Diskussion nicht den Vorwurf madien, formkonstituierende und inhaltliche Kategorien in einen Topf zu werfen. Alle bisher angeführten Eigenschaften (Selbständigkeit der Teile des epischen Gedichts, Retardieren, Ziel in jedem Punkt der Bewegung usw.) sind formkonstituierender Natur und
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Goethe an Schiller: Brief vom 22. 4.1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 321. » Schiller an Goethe: Brief vom 25. 4.1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 324. 4 5 - Schiller an Goethe: Brief vom 25.4.1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 326.
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Streicher, Faust
gehen auf die inhaltliche Beschaffenheit des episdien Gedichts in keiner Weise ein. Als formkonstituierende Eigenschaften lassen sie sich ohne weiteres auf Werke der modernen Literatur (so den .Faust') anwenden, die man, sofern sie die bisher angeführten Bestimmungen erfüllten, durchaus als .episch' bezeichnen könnte. Nur bleibt eben der Begriff .episch' auf diese Weise ziemlich leer oder vielmehr, er wird dabei ganz neu definiert. So scheint es uns bereits an diesem Punkte der Erörterung, um jede terminologische Konfusion zu vermeiden, angebracht, den Begriff der Substantialität für das Epische, wie es sich uns bis jetzt dargestellt hat, einzuführen, denn all die genannten formkonstituierenden Eigenschaften lassen sich, wie wir später zeigen werden, leicht unter ihm zusammenfassen. Würden wir hingegen die bisher genannten Eigenschaften unter dem Begriff ,episch' zusammenfassen, so würde dessen terminologische Eindeutigkeit in dem Augenblick getrübt werden, wo die inhaltlichen Elemente (Schlachten usw.) zu den formkonstituierenden hinzutreten. Dies geschieht in Goethes Aufsatz ,Über epische und dramatische Dichtung'. Zunächst sollen in dem Aufsatz Goethes die formkonstituierenden und die inhaltlichen Bestimmungen der Begriffe .episch' und .dramatisch' getrennt werden. Dabei sollen die Formbegriffe auf unsere Begriffe Substantialität und Funktionalität zurückgeführt, die inhaltlichen Begriffe, da sie zu einer Formanalyse nicht geeignet sind, aus der Diskussion ausgeschieden werden. Um Goethes Aufsatz zu verstehen, muß man sidi die literarhistorische Situation, in der er entstanden ist, vor Augen führen: er ist als Goethes diditungstheoretische Rechtfertigung seines eigenen epischen Schaffens zu begreifen und wendet sich besonders gegen die Wolffsche Epentheorie, der gegenüber Goethe auch für den Epiker das Gesetz der Einheit geltend macht. Er schreibt: „Der Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen poetischen Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetz der Einheit und dem Gesetz der Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände und können beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr großer wesentlicher Unterschied besteht aber darin, daß der Epiker die Begebenheit als v o l l k o m m e n v e r g a n g e n vorträgt und der Dramatiker sie als v o l l k o m m e n g e g e n w ä r t i g darstellt. Wollte man das Detail der Gesetze, wonach beide zu handeln haben, aus der Natur des Menschen herleiten, so müßte man sich einen Rhapsoden und einen Mimen, beide als Dichter, jenen mit seinem ruhig hordienden, diesen mit seinem ungeduldig schauenden und hörenden Kreise umgeben, immer vergegenwärtigen, und es würde nicht schwer fallen, zu entwickeln, was einer jeden von diesen beiden Dichtarten am meisten frommt, welche Gegenstände jede vorzüglich wählen, welcher 12
Motive sie sich vorzüglich bedienen wird; ich sage vorzüglich: denn, wie ich schon zu Anfang bemerkte, ganz ausschließlich kann sich keine etwas anmaßen." 6 Und später: „Die G e g e n s t ä n d e des Epos und der Tragödie sollten rein menschlich, bedeutend und pathetisch sein; die Personen stehen am besten auf einem gewissen Grade der Kultur, wo die Selbsttätigkeit noch auf sich allein angewiesen ist, wo man nicht moralisch, politisch, mechanisch, sondern persönlidi w i r k t . . . Das epische Gedicht stellt vorzüglich persönlich beschränkte Tätigkeit, die Tragödie persönlich beschränktes Leiden vor, das epische Gedicht den a u ß e r s i c h w i r k e n d e n Menschen: Schlachten, Reisen, jede Art von Unternehmung, die eine gewisse sinnliche Breite fordert; die Tragödie den n a c h i n n e n g e f ü h r t e n Menschen, und die Handlungen der echten Tragödie bedürfen daher nur wenigen Raumes." 7 Goethe führt nun fünf Motivarten an: 1. „ V o r w ä r t s s c h r e i t e n d e , welche die Handlung fördern; deren bedient sich vorzüglich das Drama. 2. R ü c k w ä r t s s c h r e i t e n d e , welche die Handlung von ihrem Ziele entfernen; deren bedient sich das epische Gedicht fast ausschließlich. 3 . R e t a r d i e r e n d e , welche den Gang aufhalten oder den Weg verlängern; dieser bedienen sich beide Dichtarten mit dem größten Vorteile. 4. Z u r ü c k g r e i f e n d e , durch die dasjenige, was vor der Epoche des Gedichts geschehen ist, hereingehoben wird. 5. V o r g r e i f e n d e , die dasjenige, was nach der Epoche des Gedichts geschehen wird, antizipieren; beide Arten braucht der epische so wie der dramatische Dichter, um sein Gedicht vollständig zu machen." 8 Nach der Aufzählung der Motive folgen nun „die Welten, welche zum Anschauen gebracht werden sollen."9 Diese sind grundsätzlich beiden Dichtungsgattungen gemein, wenn auch jede Gattung ihre Vorliebe für eine bestimmte ,Welt' hat. Goethe unterscheidet drei .Welten': 1. „Die p h y s i s c h e , und zwar e r s t l i c h die n ä c h s t e , wozu die dargestellten Personen gehören und die sie u m g i b t . . . Zweitens die entferntere Welt, wozu ich die ganze Natur rechne. Diese bringt der epische D i c h t e r . . . durch Gleichnisse näher, deren sich der Dramatiker sparsamer bedient. • Johann Wolfgang von Goethe, Über epische und Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 12. 3. Aufl. 7 Goethe, Uber episdie und dramatische Dichtung, S. 8-4 Goethe, Uber episdie und dramatische Dichtung, S.
dramatische Dichtung. In: 1958. S. 249. 249 f. 250. 13
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2. Die s i t t l i c h e ist beiden ganz gemein und wird am glücklichsten in ihrer physiologisdien und pathologischen Einfalt dargestellt. 3. Die Welt der P h a n t a s i e n , A h n u n g e n , E r s c h e i n u n g e n , Z u f ä l l e und S c h i c k s a l e . Diese steht beiden offen, nur versteht sich, daß sie an die sinnliche herangebracht wird; wobei denn für die Modernen eine besondere Schwierigkeit entsteht, weil wir für die Wundergeschöpfe, Götter, Wahrsager und Orakel der Alten, so sehr es zu wünschen wäre, nicht leicht Ersatz finden."10 Der Aufsatz schließt mit einer detaillierten Schilderung rhapsodischen und mimischen Verhaltens, wobei für den Rhapsoden noch einmal die epische Distanz, für den Mimen die sinnliche Gegenwärtigkeit geltend gemacht wird. Ehe wir versuchen, die formkonstituierenden Begriffe dieses Aufsatzes auf unsere beiden Grundkategorien Funktionalität und Substantialität zurückzuführen, sollen zunächst einmal alle inhaltlichen Begriffe aufgezeigt und von den formkonstituierenden Begriffen getrennt werden. Ein inhaltlich bestimmter Begriff, einer der Grundbegriffe des Aufsatzes, ist der Begriff der Tragödie. Goethe spricht zwar einerseits vom Dramatiker, andererseits jedoch von der Tragödie. Es ist unschwer" einzusehen, daß der Mime, mit dessen Hilfe Goethe die Grundsituation des Dramatikers verdeutlichen will, nicht eo ipso tragisch ist. Dieser ist lediglich Ausdruck dafür, daß die Begebenheit als .vollkommen gegenwärtig' dargestellt werden soll, das heißt, daß die epische Distanz aufgehoben ist. Der Begriff .tragisch' ist jedoch in dieser Bestimmung nicht implizit enthalten. Auch wenn Schiller als Antwort auf Goethes Aufsatz an diesen schreibt: „Ihr Hermann hat wirklich eine gewisse Hinneigung zur Tragödie, wenn man ihm den reinen strengen Begriff der Epopöe gegenüberstellt. Das Herz ist inniger und ernstlicher beschäftigt, es ist mehr pathologisches Interesse als poetische Gleichgültigkeit darin" . . . , u so zeigt sich in der Gegenüberstellung von episch und tragisch, von ,poetischer Gleichgültigkeit' und ,pathologisdiem Interesse' wiederum, daß die Kriterien seines Urteils nicht formkonstituierender, sondern psychologischer, das heißt inhaltlicher Natur sind. Neben dem Begriff der Tragödie sind es vor allem die gegenstände' der beiden Dichtungsgattungen sowie die „Welten, welche zum Anschauen gebracht werden sollen", 12 die inhaltlich bestimmt sind. Die gegenstände', 10 11 12
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Goethe, Über epische und dramatische Diditung, S. 250. Schiller an Goethe: Brief vom 26.12.1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 457. Goethe, Uber epische und dramatische Diditung, S. 250.
die „rein menschlich, bedeutend und pathetisch sein sollen", 13 setzen, wie man leicht sehen kann, ein ganz bestimmtes, historisch genau fixierbares Menschenbild als Träger der Handlung voraus, nämlich eben jenes, das auf einer Kulturstufe steht, „wo man nicht moralisch, politisch, mechanisch, sondern persönlich wirkt". 1 4 Auch die folgenden, Epos und Tragödie unterscheidenden Charakteristika sind inhaltlicher Natur und können aus der Gegenüberstellung von Rhapsode und Mime keineswegs schlüssig abgeleitet werden. Der Gegensatz von Tätigkeit und Leiden, von ,außer sich wirkendem* und ,nadi innen geführtem' Menschen, den Goethe für das Verhältnis von Epos und Tragödie postuliert, gehört der individuellen Psychologie der literarischen Gestalten an; deren Tätigkeit und Leiden, die Form ihres Verhältnisses zu ,Außen* und ,Innen' sind von ihrer geschichtlichen Situation, dem geistigen Kosmos ihrer Epoche abhängig. Das gleiche gilt natürlich für die „Welten, welche zum Anschauen gebracht werden sollen". 15 Die .physische' Welt, wozu Goethe die Welt der dargestellten Personen sowie die ,ganze Natur' rechnet, unterliegt ebenso dem Wandel der Zeit wie die sittliche, die für Goethe am „glücklichsten in ihrer physiologischen und pathologischen Einfalt dargestellt" 16 wird. Läßt der Begriff der ,physischen' Welt auf Grund der Allgemeinheit seiner Bestimmung auch für den modernen Autor noch die Möglidikeit offen, sich ans Epos oder die Tragödie zu wagen, so zeigt sich bei der Bestimmung der sittlichen' Welt das ganze Maß an Schwierigkeiten, dem sich Goethe in seinem Ringen um Epos und Tragödie gegenübersah, da bereits seine Epoche (wieviel mehr die unsere) ihre physiologische und pathologische Einfalt' weitgehend verloren hatte. Besonders aber die „Welt der Phantasien, Ahnungen, Erscheinungen, Zufälle und Schicksale", 17 die nach Goethe sowohl dem Epos als auch der Tragödie offensteht, zeigt, wie schwer sich bereits zu Goethes Zeiten der Begriff von Epos und Tragödie (letztere wird von Goethe freilich an dem Modell der antiken Tragödie gemessen) realisieren ließ, hat sich doch die Psychologie im Laufe der Zeiten immer mehr dieser „Wundergeschöpfe, Götter, Wahrsager und Orakel" 1 8 bemächtigt und ihr scheinbar objektives Sein als subjektives, nach außen projiziertes psychisches Innen-Sein aufgedeckt. Doch versteht sich, daß der epische, ,außer sich wirkende' Mensch unter dem Aufkommen eines psychologischen Weltbildes weit mehr leidet als der tragische, ,nach innen geführte' Mensch, da in dessen -
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Goethe, Goethe, Goethe, Goethe,
Über Über Uber Über
epische episdie episdie epische
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dramatische dramatische dramatische dramatische
Dichtung, Dichtung, Dichtung, Dichtung,
S. S. S. S.
249. 250. 403. 250.
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Psychologie mythologische, für den epischen Kosmos unbedingt notwendige Gegebenheiten, wie die von Goethe angeführten, ohnehin schon dialektisch geworden sind und so ohne weiteres als nach außen projiziertes Innen aufgedeckt werden können, ohne daß dabei der Begriff des Tragischen aufgehoben zu werden brauchte. Wohl aber wird dessen Begriff inhaltlich stark modifiziert. Die Möglichkeit einer derartigen Modifikation, die bis zur totalen Auflösung der alten Begriffsbedeutung gehen kann, ist aber gerade ein Ausdruck dafür, daß es sich hierbei um einen inhaltlichen Begriff handelt, der — und dies zu zeigen ist die Absicht dieses ganzen Exkurses — eben nicht für eine Forminterpretation zu verwenden ist. Und nun zu den formkonstituierenden Unterschieden. Hierzu gehört der entscheidende Unterschied, den Goethe zwischen epischer und dramatischer Behandlung eines Stoffes sieht, nämlich der, „daß der Epiker die Begebenheit als v o l l k o m m e n v e r g a n g e n vorträgt und der Dramatiker sie als v o l l k o m m e n g e g e n w ä r t i g darstellt". 19 Diese beiden Zeitbestimmungen werden von Goethe mit der Vorstellung eines Rhapsoden und eines Mimen in Zusammenhang gebracht, dergestalt, daß dem Mimen die Gegenwart, dem Rhapsoden die Vergangenheit zugeordnet wird. Es erübrigt sich fast zu sagen, daß die Temperamentsunterschiede, die Goethe für Mime und Rhapsode postuliert, für unsere Forminterpretation nicht in Betracht kommen dürfen. Für uns steht der Mime für die Gegenwart, der Rhapsode für die Vergangenheit. Was dabei unberücksichtigt bleiben muß, ist die Intensität des mimischen oder rhapsodischen Mediums. Wir wollen nun versuchen, dieses verschiedene Verhältnis zur Zeit auf unsere Begriffe Funktionalität und Substantialität zurückzuführen, läßt sich doch mit deren Hilfe das Zeitverhältnis des Mimen und Rhapsoden zu ihrem Gegenstand in dessen Struktur selbst nachweisen. Mehr noch: Es kann nur in dessen Struktur selbst nachgewiesen werden, denn Zeit als Anschauungsform bedarf, wie Kant zeigte, der Gegenstände und der Veränderung der Gegenstände, um sich zu verwirklichen. Wir bestreiten natürlich keineswegs, daß die Personalbegriffe des Mimen und des Rhapsoden methodisch das Kompositionsprinzip von Epos und Drama hervorragend aufzuschließen vermögen, aber eben doch nur methodisch, denn man müßte, von diesen Begriffen ausgehend, erst „entwickeln, was einer jeden von diesen beiden Dichtungsarten am meisten frommt". 2 0 So ist es ohne Zweifel logisch zwin** 20
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Goethe, Über epische und dramatische Dichtung, S. 249. Goethe, Über epische und dramatische Dichtung, S. 402.
gender, aus dem literarischen Kunstwerk selbst auf sein Zeitverhältnis zu seinem Autor zu schließen, als aus einem Zeitverhältnis apriorisch eine literarische Gattung ableiten zu wollen. Daß die beiden Begriffe nur methodischen Wert haben, soll zunächst am Mimen veranschaulicht werden. Dieser ist Ausdruck dafür, daß die Begebenheit als .vollkommen gegenwärtig' dargestellt wird. Es ist nun aber ganz offensichtlich, daß eine punktuelle Gegenwart noch kein Kompositionsprinzip ausmacht. Gegenwart in diesem Sinne ist überhaupt kein Zeitbegriff, denn Zeit als Relationsbegriff kann sich überhaupt erst im Verhältnis der Dinge zueinander konstituieren. Der einzelne Akt, sei es erzählter oder dargestellter Akt, ist als punktueller absolut zeitindifferent. So betrachtet ist das epische Präteritum in der Tat nur Formalpräteritum. Realpräteritum wird es erst innerhalb der Struktur des epischen Kunstwerks in seiner Ganzheit. Genau dasselbe gilt vom ,dramatischen Präsens'. Auch dieses wird zum Realpräsens erst innerhalb der Struktur des Ganzen. Diese basiert jedoch auf dem Begriff der Funktionalität. Deren konsequente Verwirklichung im dramatischen Kontinuum, die absolute Immanenz des Handlungsablaufes macht an dessen jeweiligem Endpunkt ein reales, durch keine übergeordnete Perspektive relativiertes Präsens möglich. Die Auflösung des linear vorwärtsschreitenden dramatischen Kontinuums führt hingegen zur Selbständigkeit der Teile des literarischen Kunstwerks, führt in abstracto zum Begriff der reinen Addition. „Das wahrhaft epische Kompositionsprinzip ist die einfache Addition", 21 schreibt Emil Staiger in den ,Grundbegriffen der Poetik'. Hier verwirklicht sich die Kategorie der Substantialität, hier muß sich alles um seiner selbst willen geltend machen. Durch die Auflösung des dramatischen Kontinuums verliert audi dessen Endpunkt seinen präsentischen Charakter. Ein permanentes Vor- und Rückwärtsblenden schafft ein aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gebildetes Zeitsystem, das der Rhapsode als ein geschlossenes Ganzes überblickt, so daß es von seiner Perspektive aus als .vollkommen vergangen' erscheint. Freilich ist dieses Zeitsystem keineswegs besonders klar gegliedert, so daß wir eine eindeutige Vergangenheit, eine eindeutige Zukunft und eine eindeutige Gegenwart hätten. Die reine Addition .substantieller' Einheiten kennt überhaupt keine eigentliche Zeitstruktur mehr, und Schiller spricht deshalb in seiner Antwort auf Goethes Aufsatz mit Recht von einem Vergangensein, „welches als stille stehend gedacht werden kann." 22 Es erübrigt 21 a
Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, 3. Aufl. 1956. S. 117. Schiller an Goethe: Brief vom 26.12.1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 455.
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sich zu sagen, daß diese Zeitlosigkeit natürlich nur ein abstrakter Grenzbegriff ist, ebenso wie das Prinzip der ,einfachen Addition' nur dem Begriff nach gilt. Schließlidi soll nodi darauf hingewiesen werden, daß die Termini ,episches Präteritum' und ,dramatisches Präsenz* nicht mehr im äußerlichen Sinne an die entsprechenden literarischen Gattungen gebunden sind. So erzählt K a f k a im .dramatischen Präsens', während die moderne Vor- und Rückblendungstechnik des Theaters und des Films eine Atmosphäre des Vergangenseins heraufbeschwören. Neben der Gegenüberstellung von Mime und Rhapsode, dem Schlüssel von Goethes Aufsatz, sind die weiteren formkonstituierenden Unterschiede der beiden Dichtungsgattungen von geringerer Bedeutung. Das Gesetz der Einheit und der Entfaltung, dem, nach Goethe, beide, der Epiker und der Dramatiker, unterworfen sind, zeigt, daß es immer gefährlich ist, eine Grundtendenz einer poetischen Gattung, wie das Additionsprinzip des Epos, zu verabsolutieren. Wie wir schon oben angedeutet haben, wendet sich Goethe mit diesen beiden Gesetzen gegen die Wölfische Epentheorie, die die Selbständigkeit der Teile in einer für Goethes Empfinden unerträglichen Weise hervorhebt. Diese Theorie zu akzeptieren, bedeutete nach Goethes Ansicht, für das epische Gedicht die allgemeinen poetischen Gesetze überhaupt außer acht zu lassen. Die Frage, inwieweit die Selbständigkeit der Teile eine Einheit des Epos ausschließt, ist jedoch abstrakt gar nicht zu beantworten, da es sich hier um ein Verhältnis handelt, bei dem es um ein Mehr oder Weniger der einen oder der anderen Komponente, nicht aber um ein Entweder-Oder geht. Der Begriff der Einheit ist nur graduell zu verwirklichen. Das gleiche gilt freilich auch von dem Additionsprinzip. Wenn Schiller sagt, daß der Epiker unter der Kategorie der Substantialität stehe, so bedeutet dies keineswegs, daß das Gesetz der Einheit, ohne das für Goethe, ebenso wie für ihn selbst, Dichtung überhaupt nicht möglich ist, schlechterdings aufgehoben wäre. Als letztes Unterscheidungsmerkmal von Epos und Tragödie, das unserer Ansicht nach formkonstituierender Natur ist, sei Goethes Aufzählung der ,Motivarten' angeführt. Auch sie sollen auf unsere beiden Grundbegriffe zurückgeführt werden. In unser oben skizziertes Funktionskon tinuum können dabei folgende ,Motivarten' eingegliedert werden: 1. „Vorwärtsschreitende, welche die Handlung fördern." 2 3 2. „Retardierende, welche den Gang aufhalten oder den Weg verlängern.'' 24 23-24
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j -ψ v_ Goethe: Über epische und dramatische Dichtung, S. 250.
3. „Zurückgreifende, durch die dasjenige, was vor der Epoche des Gedichts geschehen ist, hereingehoben wird. 4. Vorgreifende, die dasjenige, was nach der Epoche des Gedichts geschehen wird, antizipieren." 25 Die letztgenannten Motivarten müssen dabei jedoch vollständig in den Gang der Handlung integriert werden, so daß ihr Vergangenheits- oder Zukunftscharakter dem hic et nunc des dramatischen Augenblicks untergeordnet wird. Geschieht dies nicht, so bilden sie eine ,epische' Enklave im dramatischen Kontinuum, wie dies etwa bei den schlechten Expositionen der Fall ist. Diese sollte in ihrem Idealtypus „schon ein Teil der Entwicklung" 26 sein. Daß sich dies nur in Ausnahmen gänzlich realisieren läßt, davon zeugen Schillers Ausführungen über die Exposition in seinem Brief an Goethe vom 25.4.1797. Der Satz: „ . . . ich kann mir solche dramatische Stoffe recht wohl denken, wo die Exposition gleich auch Fortschritt der Handlung ist", 27 zeigt, daß Schiller weit davon entfernt ist, hier realiter ein Gesetz zu postulieren, obwohl er mit Goethes Idealtypus der Exposition grundsätzlich einverstanden ist. Was für die Exposition gilt, hat seine Entsprechung am Ende des dramatischen Kontinuums. Mit der bloßen Aufzählung nodi zu erwartender Leichen oder Heiraten ist es nicht getan, vielmehr muß die Antizipation dessen, „was nach der Epoche des Gedichts geschehen wird", 28 in den Handlungsablauf eingegliedert werden. Audi dieses läßt sich freilich nur dem Begriff nach verwirklichen. Dodi erlaubt uns die Vorstellung eines solchen Idealtypus, beide Motivarten für die Kategorie der Funktionalität in Anspruch zu nehmen. Die letzte Gruppe von Motiven, die Goethe anführt, die sog. ,rückwärtsschreitenden', bringen nun ein Moment echter Vergangenheit mit ins Spiel, das die lineare Struktur des Handlungsablaufes auflöst. Ein permanentes Vor- und Rückwärtsschreiten der Handlung würde schließlich jede echte Zeitstruktur aufheben, das Handlungskontinuum nach Belieben durchbrechen, so daß in abstracto das Prinzip der Addition postuliert werden kann, das überhaupt keine echte Zeitstruktur mehr kennt, und das wir mit der Kategorie der Substantialität in den Griff bekommen wollen. Die Antwort Schillers auf Goethes Aufsatz ,Über epische und dramatische Dichtung' führt nun die Frage nach dem Wesen der beiden poetischen 25 26 27 28
Goethe, Über episdie und Goethe an Schiller: Brief Schiller an Goethe: Brief Goethe, Über episdie und
dramatische vom 22. 4. vom 22. 4. dramatische
Dichtung, S. 250. 1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 322. 1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 322. Dichtung, S. 250.
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Gattungen mit der Schiller eigenen Konsequenz zu Ende, oder, wenn man lieber will, ad absurdum. Das Problem kann unserer Ansicht nach nicht gelöst werden, weil beständig mit formkonstituierenden und inhaltlichen Kategorien zugleich operiert wird. Indem er auf Goethes Gegenüberstellung von Rhapsode und Mime Bezug nimmt, schreibt Schiller: „Ich möchte noch ein zweites Hülfsmittel zur Ansdiaulichmachung dieses Unterschieds in Vorschlag bringen. Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, um die epische bewege ich mich selbst, und sie scheint gleichsam stille zu stehen. Nach meinem Bedünken liegt viel in diesem Unterschied. Bewegt sich die Begebenheit vor mir, so bin ich streng an die sinnliche Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert alle Freiheit..., alles Nachdenken ist mir versagt, weil ich einer fremden Gewalt folge. Beweg idi mich um die Begebenheit, die mir nicht entlaufen kann, so kann ich einen ungleichen Schritt halten, ich kann nach meinem subjektiven Bedürfnis mich länger oder kürzer verweilen, kann Rüdsschritte machen oder Vorgriffe tun und so fort." 29 Und über das Verhältnis der Dichtung als solcher zu den beiden poetischen Gattungen: „Ich setze nodi hinzu: Es entsteht daraus ein reizender Widerstreit der Dichtung als Genus mit der Spezies derselben, der in der Natur wie in der Kunst immer sehr geistreich ist. Die Dichtkunst, also solche, macht alles sinnlich gegenwärtig, und so nötigt sie auch den epischen Dichter, das Geschehene zu vergegenwärtigen... Die Dichtkunst, als solche, macht alles Gegenwärtige vergangen und entfernt alles Nahe (durch Idealität), und so nötigt sie den Dramatiker, die individuell auf uns eindringende Wirklichkeit von uns entfernt zu halten und dem Gemüt eine poetische Freiheit gegen den Stoff zu verschaffen. Die Tragödie in ihrem höchsten Begriffe wird also immer zu dem epischen Charakter hinaufstreben und wird nur dadurch zur Dichtung. Das epische Gedicht wird ebenso zu dem Drama herunterstreben und wird nur dadurch den poetischen Gattungsbegriff ganz erfüllen; just das, was beide zu poetischen Werken macht, bringt beide einander nahe. Das Merkmal, wodurch sie spezifiziert und einander entgegengesetzt werden, bringt immer einen von beiden Bestandteilen des poetischen Gattungsbegriffs ins Gedränge, bei der Epopöe die Sinnlichkeit, bei der Tragödie die Freiheit, und es ist also natürlich, daß das Contrepoids gegen diesen Mangel immer eine Eigenschaft sein wird, welche das spezifische Merkmal der entgegengesetzten Dichtart ausmacht. Jede wird also der andern den Dienst erweisen, daß sie die Gattung (die Dichtung im allgemeinen. Der Verf.) gegen die Art (d. h. hier M
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Schiller an Goethe: Brief vom 26.12.1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 455.
gegen die poetische Gattung. Der Verf.) in Schutz nimmt. Daß dieses wechselseitige Hinstreben zueinander nicht in eine Vermischung und Grenzverwirrung ausarte, das ist eben die eigentliche Aufgabe der K u n s t . . ." 30 Wir haben soeben die These vertreten, daß Schiller in diesem Brief die Diskussion über Epos und Tragödie ad absurdum führe. Diese These will bewiesen sein. Der erste Schritt der Schillerschen Argumentation besteht darin, daß Schiller Goethes Gegenüberstellung von Mime und Rhapsode von dem Eindruck aus betrachtet, den diese auf einen Zuschauer oder Zuhörer ausüben. Dem Rhapsoden entspricht dabei das Prinzip der Freiheit, dem Mimen das Prinzip der .Sinnlichkeit', d. h. der totalen Hingabe an den sinnlichen Eindruck. Wir haben, indem wir Goethes Schlüsselfiguren auf unsere beiden Grundkategorien zurückführten, ohne viel Umstände von deren Psychologie abstrahiert, sie der Vergangenheit und Gegenwart zugeordnet, ohne darauf zu reflektieren, daß in diesen Zeitverhältnissen bei Goethe bestimmte psychische Valeurs mitverstanden werden müssen. Goethes Charakteristik des Rhapsoden als eines weisen Mannes, „der in ruhiger Besonnenheit das Geschehene übersieht", 81 und des Mimen, der will, „daß man an ihm und seiner nächsten Umgebung ausschließlich teilnehme", 82 haben wir stillschweigend übergangen, weil diese psychischen Eigenschaften keine Kriterien für die Interpretation der Form eines literarischen Kunstwerks abgeben können. Wenn der Mime etwa die Begebenheit als ,vollkommen gegenwärtig' darstellt, so ist in diesem Zeitbegriff kein psychisches Valeur enthalten. Die Intensität der Vergegenwärtigung, die Qualität des ,mimischen' Mediums, das die versdiiedensten Intensitätsgrade bis zu einer ,mystischen' Gegenwärtigkeit hervorbringen kann, ist psychisch-inhaltlicher Natur und hängt von der Rolle des Mimen sowie von seiner schauspielerischen Suggestionskraft ab. Indem Schiller die Rezeptionsweisen des Zuschauers oder des Zuhörers zu Kriterien für die Bestimmung der beiden literarischen Gattungen macht, nimmt er indirekt diese psychisch-inhaltlichen Elemente in seine Bestimmung hinein. ,Sinnlichkeit' und Freiheit, sollen sie wirklidi konkretisiert werden, hängen deshalb vom Stoff ab. Sie sind aposteriorische Begriffe, Begriffe der Psychologie, die sich, als Antwort auf ein dichterisches Medium, im Empfangenden in den verschiedensten Ausprägungen verwirklichen. Diese sind das einzige, was wirklich gegeben ist. Indem Schiller, hier ganz Platoniker, .Sinnlichkeit' und Freiheit als so 31 32
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Schiller an Goethe: Brief vom 26.12.1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 456. Goethe, Uber episdie und dramatisdie Dichtung, S. 251.
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Ideen den ihnen jeweils entsprechenden poetischen Gattungen zuordnet, löst er diese im Grunde bereits auf. Denn da .Sinnlichkeit' und Freiheit sich nicht dem Begriffe nach verwirklichen lassen, können auch die poetischen Gattungen, die ihnen jeweils zugeordnet werden, nicht als Ideen betrachtet werden. Das Postulat eines wechselseitigen ¡Hinstrebens' jeder poetischen Gattung zur andern ist nichts weiter als ein Ausdruck für Schillers Eingeständnis, daß keine Gattung sich als Idee verwirklichen läßt, ja ihre Verwirklichung nicht einmal gedacht werden kann, sondern nur abstraktes Postulat bleibt. So wird die Wirkung des dichterischen Mediums auf den Empfangenden als Freiheit plus Tendenz zur Sinnlichkeit' und umgekehrt bestimmt, je nachdem, ob es sich mehr um ein Epos oder um eine Tragödie (oder, verallgemeinert, um ein Drama) handelt. Daß das ,wechselseitige Hinstreben' der poetischen Spezies „zueinander nicht in eine Vermischung und Grenzverwirrung ausarte", 33 ist jedoch auch nur als Postulat aufrechtzuerhalten, denn in Wirklichkeit ist mit diesem .wechselseitigen Hinstreben' für die Vermischung und gegenseitige Durchdringung beider Spezies Tür und Tor geöffnet. Indessen muß man sich fragen, ob Begriffe wie .Vermischung' und ,Grenzverwirrung' überhaupt einen Sinn haben. Sie setzen nämlich voraus, daß die poetischen Gattungen zeitlose Ideen sind, die sich unabhängig vom Stoff immer wieder neu verwirklichen lassen. Aber diese poetischen Gattungen sind ja selbst nur historische Gebilde, die dann als Normen aufgefaßt wurden. Die Schwäche aller platonisch-normativen Poetik liegt jedoch, wie wir zu zeigen versuchten, darin, daß ihre Begriffe zugleich formkonstituierender und inhaltlicher Natur sind, wobei die Inhaltsbegriffe der Zeit unterworfen sind und sich dabei in ihrer qualitativen Beschaffenheit wandeln. Indem Schiller die dichterische Gattung von der Rezeptionsweise des Zuschauers oder Zuhörers aus zu erfassen versucht, ist er gezwungen, im Dichtkunstwerk, das auf diese einwirkt, eine Einheit von formkonstituierenden und inhaltlichen Elementen vorauszusetzen, wodurch er eben letztlich die Gattungspoetik ad absurdum führt. Das Vage der poetischen Gattungsbegriffe zeigt sich besonders eindeutig in d e m Augenblick, wo es gilt, einen Stoff konkret zu bearbeiten. Wir wollen ja Goethe und Schiller nicht das Recht bestreiten, aus konkreten literarischen Werken gewisse Begriffe zu abstrahieren. Das eigentliche Problem stellt sich erst dann, wenn die an konkreten Werken gewonnenen abstrakten Begriffe für die Gestaltung eines neuen Stoffs herange33
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Schiller an Goethe: Brief vom 26.12.1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 456.
zogen werden. Hier zeigt sich, daß sie zu abstrakt sind. Der Gattungsbegriff, den etwa das Homerische Epos darstellte, ließe sich auch dann nicht mehr erfüllen, wenn alle aus dem Homerischen Epos abstrahierten Gattungsbegriffe auf einen neuen Stoff angewandt würden, denn dieser Stoff hat sich seit Homer so sehr gewandelt, daß alle formkonstituierenden Elemente, die er mit dem Homerischen Epos gemeinsam haben könnte, doch die Reinheit der epischen Gattung nicht wiederzuerwecken vermöchten. Daß dies auch nicht in der Absicht der beiden Klassiker lag, zeigen Goethes Kommentare zu .Hermann und Dorothea'; es sind bewußte Konzessionen, die Goethe bei seinem Versuch, das Epos noch einmal zu beleben, an das pathologische Interesse' seiner Zeit machte. Wenn wir versuchen wollten, Goethes und Schillers bisher erörterte dichtungstheoretische Probleme in einem Satz zu resümieren, so ließe sich vielleicht sagen, daß für beide Klassiker das Verhältnis von Stoff und Form im letzten noch nicht kritisch geworden war. Während im Bereich der Erkenntnis durch Kant die Frage, wie Erkenntnis überhaupt möglich sei, aufgeworfen wurde, blieb die Frage, wie das Schöne überhaupt zum Schönen werde, noch im Dunkeln. Nicht daß man nicht über das Schöne nachgedacht hätte. Aber dies geschah vom Standpunkt einer allgemeinen Philosophie aus, die, indem sie Ästhetisches zu ihrem Gegenstande machte, eo ipso aus ihm herausgetreten war. Dichten war letzten Endes Sache des Vollzugs. Wohl wurden, wie der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe zeigt, formkonstituierende Kategorien aufgestellt, aber sie wurden mit rein inhaltlichen Begriffen vermengt. Die Frage, wie ein Satz ästhetisch wirksam werde, seine Melodie, das Verhältnis von Sinn und Klang, seine Stellung im Kontext waren für die beiden Klassiker noch keine Probleme. Wenn wir vom einzelnen Satz zur Gesamtstruktur des literarischen Kunstwerks aufsteigen, kommen wir zu Begriffen wie Einheit der Handlung, des Orts, der Zeit, Personeneinführung, Motiventwicklung, Vor- und Zurückgreifen, Analogien, Verweisungen usw., Begriffe, die zum Teil audi bei Schiller und Goethe auftauchen. Dichtung so zu betrachten, heißt sie in ihrer Form betrachten, heißt trennen zwischen ihrem Stoff und der Formung dieses Stoffes. In den Begriffen ,episch' und .dramatisch' ist diese Trennung jedoch nicht vollzogen, und so ist es kein Wunder, daß sie zu einer Formanalyse nicht zu gebrauchen sind. Bei allem Piatonismus in der Bestimmung der poetischen Gattungen erkennt man in den Bemühungen der beiden Klassiker doch nie eine Tendenz, die großen modellhaften Verwirklichungen der Gattungsbegriffe, das Homerische Epos und die attische Tragödie, auf außerliterarische platonische Ideen zurückzuführen und sie als exemplarische Realisationen 23
dieser Ideen aufzufassen. Vielmehr gehen sie von den realen antiken Modellen aus, sprechen von .epischem Gedicht' und .Tragödie' und der konkreten Situation des Epikers und des Dramatikers. Dies heißt freilich nicht, daß damit die Vorstellung der Reinheit der Gattungsbegriffe aufgegeben wäre. Sondern: Die antiken Muster s i n d die Gattungsbegriffe. Wir haben auf dieses Schwanken zwischen nominalistischer und .realistischer' Poetik bereits hingewiesen. Will man jedoch Begriffe wie .episch' und ,dramatisdi' wirklich als zeitlose Ideen postulieren, so kann dies nicht mehr dadurch geschehen, daß man sie aus konkreten literarischen Kunstwerken abstrahiert, sondern man muß sie — da eine metaphysischaußerpsychische Realität dieser Ideen im Sinne Piatons heute nicht mehr zur Debatte steht — als psychische, der Seele eingeborene Ideen begreifen, die in den literarischen Kunstwerken ihren Niederschlag finden. Diese letzte Möglichkeit eines konsequenten Piatonismus ist die Entsprechung einer seit Goethe und Schiller immer mehr nominalistisch gewordenen Poetik. Wir begegnen ihr etwa in Emil Staigers .Grundbegriffen der Poetik'. Die Begriffe ,lyrisch', ,episch' und .dramatisch' werden hier im Anschluß an Husserl als psychische Wesenheiten aufgefaßt, die in sich selbst nicht schwanken können. N u r die Zuordnung der literarischen Kunstwerke zu diesen Wesenheiten läßt sich nicht schlüssig beweisen, da jedes literarische Kunstwerk an allen drei Wesenheiten Anteil hat. Ehe wir eine grundsätzliche Kritik des Staigerschen Ansatzes in Angriff nehmen, sollen zunächst die Begriffe ,episch' und .dramatisch', wie sie sich für Staiger als ideale Wesenheiten präsentieren, unter die Lupe genommen werden. Das Lyrische bleibt dabei vorerst außerhalb unserer Überlegungen. Wir verfolgen auch hier wiederum das Ziel, scheinbar einheitliche und in sich abgeschlossene Begriffe in ihre formkonstituierenden und inhaltlichen Bestandteile zu zerlegen, erstere auf unsere Kategorien Substantialität und Funktionalität zurückzuführen und letztere aus der Diskussion auszuscheiden.
III Emil Staigers .Grundbegriffe der Poetik'
Staiger beginnt mit der Darlegung seiner Apriori. Die Begriffe ,lyrisch', ,episch' und .dramatisch' werden als eingeborene Wesenheiten bestimmt. Es folgt die Beschreibung der einzelnen Gattungen in ihrer Wesenhaftig24
keit. Hier sollen nun zunächst die wichtigsten Charakteristika des Epischen referiert werden. Staiger geht von der Psychologie des Epikers aus, die im ganzen derjenigen von Goethes Rhapsoden entspricht. Sein Wesen ist Gleichmut. Dieser Gleichmut ist möglich, weil alles Geschehen ,Gegenstand' ist, dem der Epiker, als einem vergangenen, in ruhiger Gelassenheit gegenübersteht. In solchem Gegenüber werden die Dinge fixiert; der .Gegenstand' wird in der Erscheinungen Flucht in seiner Identität mit sich selbst festgehalten. Stereotype Formeln versuchen, ihn mit Hilfe eines Déjà vu ins Bewußtsein des Zuhörenden einzuhämmern. „Sie stellen ein Ding, einen Vorgang als so beschaffen, als so verlaufend fest. Sie stellen ihn ,vor' — so dürfen wir sagen, um das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das Stellen von einem festen Standpunkt aus, terminologisch einzubeziehen. Vorstellung in diesem Sinn ist das Wesen der epischen Poesie." 1 Homers Bildhafligkeit, das Lichtprinzip der griechischen Antike sind Ausdruck dieser auf Identifikation gerichteten Bewußtseinsstruktur. Wenn wir diese Bestimmungen des ,epischen Stils' betrachten, so scheint es zunächst schwierig, sie auf die Kategorie der Substantialität zurückzuführen. Bei genauer Betrachtung ist dies jedoch fast einfacher als bei Goethes und Schillers entsprechenden Bestimmungen. Auch hier müssen wir darauf hinweisen, daß unserer Ansicht nach die Struktur eines literarischen Kunstwerks nicht schlüssig aus der Psychologie seines Erzeugers abgeleitet werden kann. Es scheint uns deshalb nicht gerechtfertigt, vom ,Gleichmut' des Epikers auf eine Erzählweise zu schließen, in der alles Geschehen .Gegenstand' ist. Dieser Sdiluß rächt sich dadurch, daß der Begriff Gegenstand vage bleibt. Der rigorose Piatonismus Staigers, der will, daß die Vielheit der Begriffe, durch die das Epische in der traditionellen Poetik bestimmt wurde, auf eine Grundidee mit unklarem Verhältnis zu ihren Akzidenzien zurückgeführt werde, muß es in Kauf nehmen, daß diese Grundidee in ihrer Bedeutung schwankend bleibt. Der Begriff .Gegenstand' ist zunächst formkonstituierender Natur. Er drückt als soldier keine Qualität eines Dings, eines Vorgangs aus, sondern nur das Verhältnis zwischen diesen und einem Subjekt, das auf sie reflektiert. ,Gegenstand' könnte danach alles werden, was von einem Bewußtsein identifiziert und damit zugleich von ihm abgehoben wird. So betrachtet handelt es sich freilich bei Homer und Proust um die gleiche Art des Erzählens. Der Irrtum rührt daher, daß dem Begriff Gegenstand neben dieser Bedeutung noch eine ganz andere Bedeutung, eine inhaltliche, zukommt, nämlich seine spezifische Gegenständlichkeit, sein Dingdiarakter. 1
E. Staiger, Grundbegriffe, S. 92.
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Beide Bedeutungen werden von Staiger nicht getrennt, oder vielmehr, es wird angenommen, daß der erste Begriff den zweiten mitenthält. Der Versuch, Heideggersche Sprachetymologien einzuschmuggeln, rächt sich selbst bei den unschuldigsten Absichten. Doch ist es kaum zu leugnen, daß das formale Subjekt-Objekt-Verhältnis nichts über die Qualität des Objekts auszusagen braucht, es sei denn dies, daß alles Geschehen in einer ständigen Beziehung zum erzählenden Subjekt steht, daß nur so eine Identifikation des Geschehens möglich ist, wie überhaupt der Begriff der Identifikation nur dadurch Sinn hat, daß ein identifizierendes Bewußtsein immer gegenwärtig ist. Man gewinnt bei Staiger den Eindruck, als ob Begriffe wie Gegenstand und Identifikation durchaus auch in der Immanenz des Geschehens ihre Berechtigung hätten, ein Mißverständnis, das dadurch hervorgerufen wird, daß er die Gegenständlichkeit des Geschehens, seinen Realitätscharakter, mit dem Verhältnis von Erzähler und Erzähltem in Zusammenhang bringt, wenn nicht gar aus diesem Verhältnis ableitet. Die Anwesenheit des Erzählers im Erzählten braucht dieses jedoch keineswegs ,realistisch' zu machen; sie kann auch dazu dienen, es zu verfremden, zu ironisieren oder audi zu idealisieren, kurzum, sie sagt über das Erzählte inhaltlich überhaupt nichts aus. Weder die Bildhaftigkeit Homers noch das Lichtprinzip griechischen Geistes können aus ihr abgeleitet werden. Aber sie hat dennoch für das Erzählte eine entscheidende Bedeutung: sie hebt die Immanenz des Geschehens auf. Diese will, daß das Geschehen seinen eigenen Gesetzen gehorche. Dadurch wird jedoch eine Identifikation der einzelnen Momente des Geschehens unmöglich. Die Staigerschen Begriffe des gegenständes' und der Vorstellung (des ,Stellens von einem festen Standpunkt aus') sind nur dadurch möglich, daß die Funktionalität des Geschehens aufgehoben ist, seine einzelnen Teile selbständig und nach Belieben der Reflexion des Epikers unterworfen sind. Dies führt schließlich zu Staigers Aussage, daß die Addition das Grundkompositionsprinzip des Epos sei. Die einzelnen Elemente des Geschehens sind für den Erzähler frei verfügbar. Sie sind Substanzen, die jederzeit beschworen werden können. Die Addition substantieller', in sich abgeschlossener Geschehniseinheiten charakterisiert, zumindest dem Begriffe nach, den epischen Stil. Und nun zum dramatischen Stil. Dieser zentriert sich nach Staiger um den Begriff der Spannung. Hier sollen nun kurz seine einzelnen Eigenschaften referiert und mit unserer Kategorie der Funktionalität konfrontiert werden. Staiger beginnt mit einer Bestimmung, die zunächst relativ abseitig erscheinen könnte, die sich aber bald als hervorragender metho26
discher Schlüssel erweist, um die Idee des dramatischen Stils aufzuschließen, nämlich mit dem Pathos. „Das Pathos setzt einen Widerstand voraus, offene Feindschaft oder auch Trägheit und versucht, ihn mit Nachdruck zu brechen."2 Diese ganz andere Situation macht alle weiteren Stilmerkmale des Pathos verständlich. Das Pathos wird eingehämmert. Hierzu dient das Hervorheben einzelner Wörter, rhetorische Wiederholungen, komplizierte Rhythmik. Die pathetische Rede setzt ein Gegenüber voraus, „ein Gegenüber aber, das sie n i c h t . . . anerkennt, sondern aufzuheben trachtet". 3 Die Rechtfertigung einer solchen Aufhebung liegt darin, daß das Pathos dem Bestehenden ,voraus' ist. Mit dem ,Voraussein', einem formkonstituierenden Begriff, begegnet das Pathos dem p r o blem', einem Begriff, der von Staiger in seiner etymologischen Bedeutung als ,das Vorgeworfene' gefaßt wird, „das der Werfende in der Bewegung einholen muß". 4 Pathos und .Problem' sind für Staiger die beiden Grundelemente des dramatischen Stils, seines Vorwärtsdrängens, seiner Finalität. Das ,Problem' ist dabei das objektiv Vorgeworfene, während das Pathos das subjektiv-emotionale Verhältnis zum ,Problem' ist. Es versteht sich von selbst, daß wir nicht sämtliche Bestimmungen des dramatischen Stils, die Staiger anführt, im einzelnen wiêdergeben können. Wir müssen uns darauf beschränken, seine Grundkonzeption zu skizzieren und diese einer Kritik zu unterwerfen. Die Begriffe ,Problem' und Pathos genügen unserer Ansicht nach, diese Konzeption in ihren Grundlagen aufzuzeigen. Ausgangspunkt unserer Kritik ist deshalb der Begriff des,Problems', das von Staiger als Vorgeworfenes, „das der Werfende in der Bewegung einholen muß", 5 definiert wird. Staiger übersieht jedoch, daß es eine objektiv antizipierte Zukunft, in der das .Vorgeworfene' über das hic et nunc des Geschehens objektiv hinausgriffe, im dramatischen Stil gar nicht geben kann. Eine echte, über die Perspektive der dramatischen Personen hinausgreifende Antizipation des Zukünftigen ist ein ausgesprochen episches Element, das die Anwesenheit eines Rhapsoden voraussetzt. Damit ist jedoch das hic et nunc des dramatischen Augenblicks, wie wir schon bei Goethe sahen, aufgehoben oder zumindest relativiert. Dies zu demonstrieren liegt natürlich keineswegs in Staigers Absicht. Der Irrtum rührt daher, daß Staiger den Begriff des ,Problems' in seinem Verhältnis zum hic et nunc des Geschehens nicht scharf genug ins Auge faßt. Während er am Ende der .Grundbegriffe der Poetik' den dramatischen Stil dem Heidegger sehen Begriff des .Verstehens', des Entwer2 4
E. Staiger, Grundbegriffe, S. 147. E. Staiger, Grundbegriffe, S. 160.
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E. Staiger, Grundbegriffe, S. 149. E. Staiger, Grundbegriffe, S. 160.
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Streicher, Faust
fens des Daseins zu seinem Seinkönnen, mit andern Worten der Zukunft als Richtung zuordnet, wird hier das ,Problem' zum real Zukünftigen, das der Werfende in der Bewegung einholen muß. Als ob nicht diese Bewegung das einzige wäre, was realiter gegeben ist! Wir glauben nicht, daß wir uns hier einer Fehlinterpretation des Staigersdien Textes schuldig machen. Das Epigramm Lessings, das er zur Verdeutlichung problematischer' Dichtung heranzieht, bestätigt unsere Auffassung: Faustin Faustin, der ganze fünfzehn Jahr Entfernt von Haus und Hof und Weib und Kindern war, Ward, von dem Wucher reich gemacht, Auf einem Schiffe heimgebradit. „Gott", seufzt' der redliche Faustin, Als ihm die Vaterstadt in dunkler Fern' erschien, „Gott, strafe mich nidit meiner Sünden Und gib mir nicht verdienten Lohn! Laß, weil du gnädig bist, mich Tochter, Weib und Sohn Gesund und fröhlich wiederfinden." So seufzt' Faustin, und Gott erhört den Sünder. Er kam und fand sein Haus in Überfluß und Ruh. Er fand sein Weib und seine beiden Kinder, Und — Segen Gottes! — zwei dazu.*
Das ,Problem' als ein »Vorgeworfenes' wird in diesem Epigramm durch die Pointe am Schluß repräsentiert. Es ist freilich evident, daß alles auf diese Pointe hinführt. Zu diesem Schluß kommen wir aber erst, wenn wir die Pointe bereits gelesen haben. Wir nehmen in diesem Augenblick den Standpunkt des Dichters ein, d. h., wir betrachten das Gelesene retrospektiv von seinem Endpunkt aus. Dies ist jedoch nicht der Eindruck, den die handelnde Person, Faustin, von ihren Aktionen hat, die sie in ihrer ironischen Brechung gar nicht durchschauen kann. Für sie und damit für jede dramatische Person, als deren Paradigma sie steht, gibt es kein real ,Vorgeworfenes', sondern nur den Entwurf auf Zukünftiges hin, ein Entwurf, in dem nichts realiter antizipiert werden kann. Faustin ist keineswegs ein Werfender, der das ,Vorgeworfene' „in der Bewegung einholen muß", 7 denn er selbst erfährt von diesem (Vorgeworfenen', seinem .Problem', erst in dem Augenblick, wo er mit ihm konfrontiert wird. Diese Tatsache macht jedoch das .Problem' als solches zweideutig. Denn wer sollte es in der Tat .vorwerfen', und das dergestalt .Vorgeworfene' in der Bewegung einholen, wenn nicht der Wer6 7
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Gotthold Ephraim Lessing, Gesammelte Werke. Bd. 1. 1954. S. 229. E. Staiger, Grundbegriffe, S. 160.
fende selbst? Staiger übersieht in dem Lessingschen Epigramm, daß die Pointe ja gerade dadurch zustande kommt, daß sie nicht entworfen war, daß sie im Geschehnisablauf nicht intendiert war, kurz, daß sie nur dadurch zustande kommt, daß sie sich aus dem Erzählkontinuum heraushebt und die logisch-immanente Entwicklung des Geschehens sprengt. Die Pointe bleibt in der T a t ein real ,Vorgeworfenes', aber eben nur dadurch, daß sie aus dem Funktionszusammenhang des Geschehens heraustritt und dieses auf eine paradoxe Weise zu Ende führt. Sie ist alles in allem eher ein ,episches' Moment, als ein dramatisches, ist sie dodi eine Art Verfremdungseffekt, der für das ,epische' Theater in Anspruch genommen wird, das mit Effekten arbeitet, die ja gerade das dramatische Kontinuum aufreißen sollen. Die Immanenz des dramatischen Geschehens zeichnet sich jedoch im Gegenteil dadurch aus, daß nichts den Funktionszusammenhang der dramatischen Entwicklung stört, daß keine fremden Motive von außen an diesen herangetragen werden, und alles nach der immanenten Logik des Geschehens abläuft. Wollte man hier von einem ,Problem' reden, so könnte dies nur geschehen, indem in jedem Augenblick der Handlung bestimmt wird, was noch problematisch', d. h. ungelöst ist, und was infolgedessen noch in die Zukunft weist, sich in die Zukunft entwirft. Dieses Entwerfen vollzieht sich in jedem hic et nunc der Handlung, jedes hic et nunc entwirft sich auf das nächste hin, so daß dadurch eben jenes dramatische Kontinuum entsteht, für das wir die Kategorie der Funktionalität in Anspruch genommen haben. Dieses dramatische Kontinuum muß in abstracto als unendlich fortschreitend angenommen werden, ebenso wie der Begriff des gegenständes', den Staiger für den epischen Stil postuliert, abstrakt als völlig in sich selbst ruhendes Moment angenommen werden muß. Ein unendlich fortschreitendes Kontinuum setzt jedoch voraus, daß jedes hic et nunc des Geschehens noch immer in sich problematisch' ist. Dies bleibt freilich rein hypothetisch, denn jeder ,Problemkreis' ist ein Organismus, der trotz alledem relativ in sich abgeschlossen ist, und der nicht nach Belieben erweitert werden kann. Zumindest im konventionellen Drama gibt es noch keine totale, durch nichts begrenzte, radikal offene Funktionalität. Einen Grenzwert haben wir bei Kafka. Dieser rührt daher, daß das ,Problem' der Personen sich laufend ändert, daß ihr Entwurf nur Stückwerk bleibt, von neuen, ebenso aussichtslosen Entwürfen abgelöst wird, wodurch, anstatt einer relativ in sich abgeschlossenen Entwicklungslinie, ein Staccato von Entwürfen entsteht, in dem Mikrokosmos sich an Mikrokosmos reiht, wodurch die Vorstellung eines unendlichen Fortschreitens erzeugt wird. Hier wird in der Tat jedes einzelne hic et nunc .problematisch'. Doch
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ist dieses Formprinzip nicht mit dem Prinzip der einfachen Addition zu verwechseln, weil hier jedes hic et nunc als Paradox aus dem vorhergehenden hervorgeht, dieses also, im Gegensatz zum epischen, durchaus ,gerichtet' ist, wenn auch das, auf das hin es sich entwirft, sich im nächsten Augenblick als nicht realisierbar erweist. Wir sehen hier bereits — und dieses Thema soll am Ende der Arbeit noch einmal aufgenommen werden — daß die radikale Verwirklichung eines formkonstituierenden Prinzips, wie hier der Funktionalität, eine philosophische Position, hier die Auflösung des philosophischen Substanzbegrifis, voraussetzt. Es könnte zunächst scheinen, als ob wir, indem wir das ,Problem' als Organismus betrachten, es wieder in seiner alten Bedeutung als Vorgeworfenes' durch die Hintertür einschmuggeln, nachdem wir es nodi kurz vorher offiziell durch die Vordertür hinausgeleitet hatten. Denn der Begriff des Organismus beinhaltet ja ein Hinausgreifen über das jeweilige hic et nunc des dramatischen Augenblicks, dessen Stellenwert innerhalb der Struktur des Organismus relativiert wird. Doch übersieht diese Argumentation, daß in solchem hic et nunc die Lösungsmöglichkeiten des ,Problems' zwar antizipiert werden können, aber eben doch nur als Möglichkeiten. Im Gegensatz zu Kafka, wo die Reichweite des Entwurfs auf ein Minimum zusammenschrumpft, ist es im konventionellen Drama möglich, den zukünftigen Verlauf des Geschehens bis zu einem gewissen Grade zu antizipieren. Doch bleibt dies, wohlgemerkt, immer nur hypothetisch. Die Reichweite solcher Antizipation hängt von der Beschaffenheit des ,Problems' und den jeweiligen Möglichkeiten ab, im betreffenden Augenblick des Geschehens eine Lösung zu erspähen. So bekommt das ,Problem* einen gewissen interpretatorischen Wert, der darin besteht, die Reichweite der Antizipationsmöglichkeiten zu bestimmen, den Verlauf der Handlungslinien in seiner Funktionalität aufzuzeigen, kurz die Einheit der Handlung im Detail nachzuweisen. Indessen liegt eine solche Interpretation des ,Problems' Staiger denkbar fern. Dies rührt daher, daß es neben seiner formkonstituierenden Bestimmung als ,Vorgeworfenes' auch, wie könnte es anders sein, eine inhaltliche Seite hat. Es bedeutet in dieser Eigenschaft, was man landläufig unter ,Problemen' versteht: Ideen, mit denen man sich identifiziert und an deren Verwirklichung man leidenschaftlich Anteil nimmt. Das ,Vorgeworfene' Staigers ist immer eine Idee. Auch das ,Voraussein' gegenüber dem Bestehenden ist immer ideelles Voraussein. So erfährt der Begriff des dramatischen Stils eine weitgehende Bedeutungseinschränkung und entfernt sich natürlich weit von unserer Kategorie der Funktionalität, die, als bloß formkonstituierendes Prinzip, diese Idee des drama30
tischen Stils nicht zu repräsentieren vermag, sondern nur eines ihrer Akzidenzien ist. Wir können es uns hier ersparen, die anderen Akzidenzien des dramatischen Stils im Detail anzuführen. Zuletzt sei nur noch erwähnt, daß audi die Spannung, die f ü r Staiger das Wesen des Dramatischen darstellt, inhaltlicher N a t u r ist: Sie folgt nicht aus dem reinen Begriff der Funktionalität, sondern bedarf inhaltlich bestimmter Motive (die in ihrem Spannungscharakter natürlich auch der Zeit sowie der Individualpsychologie der einzelnen Zuschauer unterworfen sind), um sich zu konkretisieren. Nachdem wir das Wesen des epischen und dramatischen Stils, wie es sich f ü r Staiger darstellt, auf unsere Grundkategorien zurückgeführt haben, soll der Versuch unternommen werden, die methodischen Apriori der Staigerschen Konzeption aufzuzeigen und sie einer Kritik zu unterziehen. Die Begriffe ,lyrisch', ,episch' und ,dramatisch' sind, wie wir gesehen haben, nicht mehr nur Begriffe der Literaturwissenschaft: sie werden eingeborene Ideen, die zwar alles Dichterische konstituieren, sich jedoch nicht auf dieses beschränken. Die Schwierigkeit liegt indessen darin, daß diese eingeborenen Ideen in ihrem psychischen So-Sein gar nicht erfaßt werden können. So füllt Staiger ihre Hohlform ganz einfach mit konkreten Fakta der traditionellen Gattungspoetik aus. Wohl versucht er, die Vielfalt der Gattungsbestimmungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. So werden Erinnerung, Vorstellung und Spannung als das Wesen lyrischen, epischen und dramatischen Stils postuliert. Diese Begriffe sind jedoch aus konkreten Bestimmungen der Poetik hergeleitet, die auf Grund ihrer inhaltlichen, der Zeit unterworfenen Eigenschaften diese Begriffe jeweils anders konstituieren. Erinnerung, Vorstellung und Spannung schwanken deshalb in der Gattungspoetik ebensosehr wie in der Psychologie, ja sie sind, losgelöst von konkreten Inhalten, nicht einmal denkbar. Sie sind psychisch-inhaltliche Begriffe, die rigoros abstrahiert wurden, um in dieser Abstraktheit als Hohlformen von Wesenheiten zu dienen, die mit den heterogensten Inhalten gefüllt werden können. Als solche inhaltlichen Begriffe können sie nicht zu einer Formanalyse verwendet werden. Daneben ist jedoch nodi ein grundsätzlicher, rein logischer Einwand zu machen. Sind ,lyrisch', ,episch' und ,dramatisch' wirkliche Wesensbegriffe, so lassen sie sich gar nicht auf andere Begriffe zurückführen. Denn die ,ousia', das Wesen, bedeutet ja nichts weiter als ,Substanz', d. h. letzte Einheit, die auf nichts mehr zurückgeführt werden kann. Die Staigerschen Begriffe der Erinnerung, Vorstellung und Spannung können also nur Akzidenzien der Wesensbegriffe .lyrisch', ,episch' und ,dramatisch' 31
sein, wenn wir nicht die elementarsten Prinzipien der Ontologie außer Kraft setzen wollen. Die Unmöglichkeit, die ,Grundbegriffe der Poetik' aus sich selbst als Wesenheiten zu begreifen, da alle ihre Bestimmungen entweder nur historischer Natur sind oder als ihre bloßen Akzidenzien nicht mit ihnen identifiziert werden können, zeigt, daß sie auf grundlegendere Begriffe zurückgeführt werden müssen, die, formkonstituierender Natur, nodi nicht inhaltlich bestimmt sind. Deshalb haben wir für den epischen Stil das Substanz-, für den dramatischen Stil das Funktionsprinzip geltend gemacht. Das Lyrische betrifft unsere Untersuchung nicht unmittelbar. Abstrahiert man von ihm alle inhaltlichen Bestimmungen, alle psychischen Valeurs, so kommt man zu dem Begriff der Stimmung, der psychischen Zuständlichkeit, des Mediums. Auch diese Begriffe spielen im ,Faust' eine große Rolle, werden jedoch nicht als Grundbegriffe der Untersuchung eingeführt, sondern jeweils in ihrem spezifischen Verhältnis zu Substantialität und Funktionalität bestimmt. Die Reduzierung der Begriffe ,lyrisch', .episch' und ,dramatisch' auf die ihnen zugrunde liegenden formkonstituierenden Elementarbegriffe wird uns helfen, gewissen Staigerschen Schwierigkeiten beizukommen. So etwa dem Gedanken, daß an jedem Dichtkunstwerk alle literarischen Gattungen Anteil haben, daß nur ein quantitatives Mehr einer Gattung uns veranlaßt, es dieser Gattung zuzuordnen. Dieses quantitative Mehr ist in concreto jedoch in keiner Weise zu bestimmen. Die Schwäche der Staigerschen Poetik besteht darin, daß sie am poetischen Mikrokosmos versagt. Die Staigerschen Gattungsbegriffe erlauben es nicht, vom poetischen Mikrokosmos zum Makrokosmos aufzusteigen, wodurch jedoch allein die Struktur eines literarischen Kunstwerks erschlossen werden könnte. Sie können nur an dieses herangetragen werden, das dann gefühlsmäßig einer Gattung zugeordnet wird. Staiger sieht die Schwierigkeit, Idee und konkrete Fakta aufeinander abzustimmen. Er zitiert Goethes Ideenbegriff : „Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um diese zu fassen, um sie mir eigen zu machen."8 Diese quasi methodische Bestimmung der Idee wird nun zwar von Staiger für seine Gattungsbegriffe übernommen, im nächsten Augenblick jedoch bereits widerrufen. Er schreibt: „Allein, nun ist das Verhältnis der einzelnen Dichtung zur Gattungsidee ein anderes als das der einzelnen Pflanze zur U r p f l a n z e . . . Keine einzelne Pflanze stellt zwar rein den Typus Pflanze d a r . . . Doch bei der Pflanze bedeutet das nur, daß jede einzelne bestimmt und durch 8
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J. W. v. Goethe, Briefe. Bd. 2. Hamburger Ausgabe. 1964. S. 237.
tausend Zufälligkeiten bedingt ist. Auch in solcher Bedingtheit aber bleibt die Pflanze nichts als P f l a n z e . . . Ein lyrisches Gedicht dagegen kann, gerade weil es ein Gedicht ist, nicht bloß lyrisch sein. Es nimmt in verschiedenen Graden und Arten an allen Gattungsideen teil, und nur ein Vorrang des Lyrischen bestimmt uns, die Verse lyrisch zu nennen." 9 Dieser kleine Exkurs, bestimmt, das Verhältnis von Gattungsidee und konkretem Dichtkunstwerk aufzuweisen, zeigt erneut die logischen Schwächen der Staigerschen Poetik. Die Idee, die im Anschluß an Goethe zunächst als ,Organ' bezeichnet wurde, um Gegenstände der Erfahrung zu fassen, wird unter der Hand zur bloßen Art: das Verhältnis von Urpflanze zu Pflanze erscheint so als Verhältnis von Art zu Individuum. Dies ist jedoch ein rein logisches Verhältnis, und die Idee wird dabei als bloßer Artbegriff aufgefaßt, der die allen Individuen gemeinsamen Eigenschaften umfaßt. Das Wesen der Idee ist es aber, sich im Konkreten zu realisieren, dieses zu durchdringen und nicht einfach Oberbegriff für verschiedene konkrete Fakta zu sein. Staiger, der dies sieht, versucht der Schwierigkeit dadurch Herr zu werden, daß er sagt, jedes Kunstwerk habe an allen drei Gattungen Anteil. Aber natürlich ist das konkrete poetische Faktum durch deren Zusammenspiel und Vermischung keineswegs determiniert. Wie bei jedem Piatonismus wird an der poetischen Materie eben das erkannt, was apriorisch in sie hineingetragen wurde. Sie selbst bleibt in ihrem So-Sein letztlich von allen an sie herangetragenen Apriori unberührt, denn könnte sie in ihrer Stellung zwischen den Gattungen eindeutig bestimmt werden, so müßte sie auch aus diesen konstruiert werden können. D a dies nicht der Fall ist, muß vom poetischen Mikrokosmos ausgegangen werden; dieser muß in seiner Stellung innerhalb der Struktur des Ganzen erfaßt werden oder vielmehr, der Makrokosmos erschließt sich im Zusammenspiel mit dem Mikrokosmos. Dazu dienen unsere Kategorien Substantialität und Funktionalität. Die zahlreichen Analogien, die Staiger zu seinen .Grundbegriffen der Poetik' gibt, zeigen im Grunde nur, daß er diese nicht genügend auf ihre formkonstituierenden Elementarbegriffe zurückgeführt hat. Daß die Abstrakta Medium, Substanz und Funktion, wenn sie mit Inhalten gefüllt werden, als Formalia zahlloser Begriffstrinitäten (wie etwa Silbe, Wort, Satz; Fühlen, Zeigen, Beweisen) dienen können, ist außer Zweifel. Alle diese Begriffstrinitäten sind natürlich Analogien zu ,lyrisch', ,episch' und d r a matisch', da ihnen dieselben abstrakten Elementarbegriffe zugrunde liegen. Aber es scheint uns methodisch glücklicher zu sein, diese Analogien gleich »
E. Staiger, Grundbegriffe, S. 203-204.
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vom Blickpunkt dieser Abstrakta zu betrachten, da sonst das ihnen Gemeinsame schwer in den Griff zu bekommen ist. Aber man hat bei Staiger den Eindruck, daß gerade diese Zweideutigkeit seiner poetologischen Metaphysik dienen soll. Bevor wir uns an die konkrete Interpretation des ,Faust' heranwagen, soll noch ein Begriffspaar in Augenschein genommen werden, mit dessen Hilfe versucht wird, ,epische' Elemente im Drama aufzuweisen. Es handelt sich um das Begriffspaar der ,offenen' und geschlossenen' Form, Formen, die Volker Klotz 1 0 in Handlung, Ort, Zeit, Personenkreis und Sprache des Dramas nachzuweisen versucht. Er verfolgt dabei letztlich den gleichen Zweck wie wir. Der Begriff der geschlossenen' Form bedeutet die, freilich nur dem Begriff nach zu denkende totale Realisierung des Prinzips der Funktionalität. Das Gleiche gilt für das Verhältnis von ,offener' Form zum Prinzip der Substantialität. Volker Klotz wehrt sich dagegen, in diesen Formen Idealtypen zu sehen. Dennoch impliziert die Aufstellung solcher Formen, sie zunächst einmal in ihrer idealtypisehen Verwirklichung zu denken. Die Schwierigkeit der Klotzschen ,Formen' besteht, wie die der Staigerschen ,Grundbegriffe der Poetik', darin, daß sie nicht methodisch verwendet werden können. Volker Klotz geht von Formen, Organismen aus, die unseren Kategorien in einem im Grunde nie genau zu bestimmenden Grade genügen. Sie können nicht methodisch an ein literarisches Kunstwerk herangetragen werden, vielmehr kann dieses nur, nach dem Grad seiner ,Geschlossenheit' oder ,Offenheit', bald mehr der einen, bald mehr der andern Form zugeordnet werden. Die Geschlossenheit' oder ,Offenheit' kann nicht am poetischen Mikrokosmos nachgewiesen werden, weil diese Eigenschaften sich nur innerhalb der Ganzheit eines Organismus verwirklichen lassen. Während unsere Begriffe die einzelnen poetischen Fakta in ihrem Zusammenhang zu erfassen versuchen, lassen sich die .Formen' von Volker Klotz nur in ihrer Ganzheit beschreiben. Freilich hat Klotz auch keineswegs die Absicht, vom poetischen Mikrokosmos auszugehen, denn seine Begriffe wollen das Drama als Ganzes erfassen, dessen Struktur trotz allem als relativ einheitlich vorausgesetzt wird. Im ,Faust' ist jedoch die Erfassung des poetischen Mikrokosmos als einer in sich geschlossenen Einheit notwendig, da die Summe jener Einheiten eben die Welt, die Gesamtsubstanz, die .Totalität der Materie' ist, die Faust durchschreiten, durchleiden, sich zur Anschauung bringen muß. Die ,offene' Form ist nicht in der Lage, das Gegenüber von Ich und ,Materie' im Detail einzufangen, 10
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Volker Klotz, Geschlossene und offene Form im Drama, 1960.
da sie als Begriff, der für das traditionelle Drama geschaffen wurde, in erster Linie die verschiedenen möglichen Formen eines Handlungsablaufs im Auge hat. Das Nur-sich-zum-Bewußtsein-Bringen der ,Totalität der Materie' durch ein Subjekt, ja die bloße Selbstdarstellung dieser .Materie* ist ein Phänomen, das außerhalb des traditionellen Begriffs des Dramas liegt, selbst wenn dieser als außerordentlich weit gedacht wird. Es läßt sich deshalb unserer Ansicht nach nicht mit der ,offenen' Form erfassen. Wohl aber gelingt dies mit unserer Kategorie der Substantialität. Daß, indem wir in unserer Interpretation zu größeren Einheiten, zu ganzen Organismen im ,Faust' aufsteigen, diese auch als ,offene' Formen bezeichnet werden können, versteht sich von selbst. Indem wir unsere beiden Grundbegriffe den poetischen Gattungsbegriffen ,episch' und ,dramatisch' gegenüberstellten, verfolgten wir den Zweck, sie, die ja beide rein philosophische Termini sind, als Kategorien für eine literarische Interpretation einzuführen. Anstatt sie jedoch sofort in der konkreten Interpretation zu exemplifizieren, haben wir es vorgezogen, sie zunächst einmal mit den literarischen Techniken, die durch sie erfaßt und unter ihnen subsumiert werden können, zu konfrontieren. Dies schien uns glücklicher, als beide Begriffe ohne literarischen Hintergrund einzuführen und ihre Konkretion der Untersuchung am ,Faust' zu überlassen. Der Übergang von abstraktester Philosophie zur Interpretation am literarischen Detail wäre dann viel zu abrupt, ja vielleicht gänzlich unverständlich.
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DIE DRAMATISCHE EINHEIT VON G O E T H E S ,FAUST*
I Die Personen als Funktionsträger
1. Personen als Träger von Kurzdefinitionen Die literaturwissenschaftliche Analyse eines dramatischen Geschehens geht stets von zwei Seiten an ihren Gegenstand heran: vom Charakter der dramatischen Personen und von der Situation, in der sich diese befinden. Keines ist ohne das andere zu denken, beide zusammen ergeben ein Geflecht von Beziehungen, einen Organismus, dessen Einzelelemente nicht aus dem Zusammenhang des Ganzen herausgelöst werden können, in den sie die Kunst des dramatischen Dichters gebracht hat. Gerade dieser gegenseitige Bezug von Person und Situation darf jedoch im ,Faust' nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Dies hängt damit zusammen, daß viele ,Personen' des ,Faust' überhaupt nicht wirklich ,in Siuation' geraten können, aus dem einfachen Grunde, weil ihr psychischer Habitus nicht dazu geeignet ist, an echten Handlungen teilzunehmen, diese in Szene zu setzen oder auf sie mit menschlichem Bewußtsein zu reagieren, kurz, Beziehungen zwischen sich und anderen Personen zu stiften und zu unterhalten. Während im normalen dramatischen Geschehen sich der Charakter der einzelnen Personen aus ihrem gegenseitigen Zusammenspiel ergibt, die Substanz, Personsubstanz erst ganz allmählich und annäherungsweise aus einer Welt von Relationen hervorgeht, ohne jemals eindeutig und unwiderruflich festzustehen, müssen wir im ,Faust' von in abstracto völlig isoliert gedachten Personen ausgehen. Hierzu dient die Kategorie der Substantialität. Wir beginnen unsere Analyse infolgedessen mit solchen Gestalten, die dieser in höchstem Grade gehorchen, die sich in ihren Aussagen darauf beschränken, ihr Wesen kurz und rein 36
definitorisdi zu umreißen und darüber in keiner Weise hinausgreifen, Gestalten, die in der Entwicklung des Geschehens ein Maximum an Desintegration aufweisen. Ausgehend von diesen Gestalten, steigen wir allmählich zu einem immer höheren Grad von Funktionalität auf, der dann in Faust selbst seinen Höhepunkt findet. Das Grundprinzip unseres Handlungskontinuums besteht — wie wir in unserer Einleitung zu zeigen versuchten — darin, daß alles aus der Immanenz des Geschehens verständlich werden muß. Dieses Prinzip gilt in gleicher Weise für die erzählende Literatur wie für die Bühnenliteratur. Für letztere bedeutet dies, daß jede Person in ihrer Aussage und durch diese mit sich selbst identifiziert werden kann. Gerade bei Kurzdefinitionen ist diese Forderung jedoch nicht immer einfach zu befriedigen, da hier leicht die Gefahr droht, daß dabei eine unendliche Reihe von formal immer gleichen Definitionen erzeugt wird, die auf die Dauer erschreckend monoton erscheinen würde. Besonders in Szenen wie dem ,Walpurgisnachtstraum' entstünde die Gefahr einer bloßen Aneinanderreihung des im Grunde immer Gleichen, wodurch die von Goethe freilich nicht ganz unbeabsichtigte Wirkung der Langeweile schließlich Formen annehmen würde, die künstlerisch nicht mehr zu rechtfertigen wären. Kurzdefinitionen haben wir etwa bei Ariels Auftreten im ,Walpurgisnachtstraum'. Er präsentiert sich dem Blocksbergpublikum mit folgenden Worten: Ariel bewegt den Sang In himmlisch reinen Tönen; Viele Fratzen lockt sein Klang, Doch lockt er audi die Schönen.1
Die Nennung des Namens zu Beginn seines Erscheinens macht Ariels Aussage vollkommen verständlich. Freilich geben gewisse literarische Reminiszensen beim Zuschauer seinem Auftreten eine größere Wirkung; die Shakespearische Zauberwelt erscheint als Hintergrund und durchdringt und bereichert unbewußt den engen Raum seiner Aussage durch einen weiten Assoziationsraum, der freilich vage bleibt und zu der Aussage hinzutreten kann, aber nicht muß. Diese verändert sich dadurch in keiner Weise; auch ist es immer gefährlich, Psychologie und Bildungsgrad bei der Interpretation eines literarischen Kunstwerks in Betracht zu ziehen, da beides letztlich unfaßbar bleibt. Die Form der Wesensaussage unter Nennung des Namens, wie wir sie 1
Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Hamburger Ausgabe. Bd. 3. 4. Aufl. 1959. S. 133. Zitate aus dem Faust wurden ohne Anmerkungen wiedergegeben. Statt dessen wird hinter jedes Zitat die Seitenzahl in Klammern gesetzt.
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bei Ariel (oder auch etwa bei Puck) haben, ist in dieser Unmittelbarkeit im ,Walpurgisnachtstraum' sehr selten. Die Tendenz, alles zu identifizieren, ist, wie wir bei Staiger sahen, ausgesprochen episch. Sie erfordert einen Rhapsoden, der dem Geschehen als einem ,Gegenstand' gegenübersteht. Wenn diese Identifikation von der dramatischen Person selbst vollzogen wird, werden muß, wirkt sie unnatürlich und, sofern es sich um eine lange Kette von Identifikationen handelt, monoton. Dennoch ist es die einzige Möglichkeit, auf so engem Raum das Erscheinen einer Person und ihr Verhältnis zu ihrer Aussage vollkommen verständlich zu machen. Stellen wir diesem Modellfall nun das erste Auftreten Obérons, des Geisterkönigs, entgegen. Er begrüßt die Teilnehmer an seiner und Titanias goldener Hochzeit mit den königlichen Worten: Seid ihr Geister, w o ich bin, So zeigt's in diesen Stunden; König und die Königin, Sie sind aufs neu verbunden.
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Man sieht, daß aus dieser Aufforderung an die Geister keineswegs schlüssig hervorgeht, daß es sich bei dem König der Geister um Oberon handelt, ja, es wird nicht einmal deutlich, daß der König der Geisterwelt hier selbst spricht. Zumindest setzt das Verständnis der Aussage die Kenntnis von Shakespeares ,Sommernachtstraum' voraus, denn nur auf dem Umweg über diesen sind Oberon und Titania mit einiger Sicherheit zu identifizieren. Daß der Geisterkönig wirklich Oberon ist, erfahren wir erst später durch den ,Neugierigen Reisenden', der Obérons Namen dem Zuschauer preisgibt. Bis es zu dieser Identifikation kommt, ist jedoch Obérons und Titanias Auftritt bereits zu Ende. Die ironischen Trivialitäten über das Eheleben, die die Beiden zum Besten geben, haben bereits die Rampe passiert, ohne daß der Zuschauer weiß, daß es sich hier um die beiden Großen der Geisterwelt handelt; da aber diese Trivialitäten nur auf dem Hintergrund der Märchenwelt des ,Sommernachtstraums' ihre parodistische Wirkung bekommen, verpuffen sie ohne jeglichen Nachhall. Dennoch ist eine solche nachträgliche Identifikation noch immer besser als gar keine. Wenn der Anblick Obérons im .Orthodoxen' folgendes Urteil hervorruft: Keine Klauen, keinen Schwanz! Doch bleibt es außer Zweifel: So wie die Götter Griechenlands, So ist auch er ein Teufel. (133)
so ist leicht zu sehen, daß diese geistreiche Form, sein Verhältnis zu einer anderen Person zu bestimmen und damit zugleich das eigene Wesen mit38
zuumschreiben, doch nur dadurch möglich ist, daß der Begriff ,Orthodox' schon vor der Aussage selbst feststeht. Dies widerspricht jedoch eindeutig dem Grundgesetz der Immanenz des dramatischen Stils. Einen Ersatz für die Namensnennung haben wir dann, wenn eine Person sich durch ihre Aussage so eindeutig definiert, daß keine Differenz mehr zwischen dieser Definition und ihrem Wesen besteht. Freilich ist dieses Prinzip zumeist nur graduell zu verwirklichen. Es liegt jedoch dann besonders nah, wenn eine Personenbezeichnung unverständlich, wenn sie gar, wie im Falle des Proktophantasmisten, eine reine Erfindung des Dichters ist. So überläßt es Goethe dem hierfür besonders geeigneten Mephistopheles, den Begriff des Proktophantasmisten zu übersetzen, was natürlich gleichbedeutend mit definieren ist, und ihn dazuhin noch zu illustrieren und breitzutreten. Er bringt diese Definition als Antwort auf die pathetische Ankündigung des Proktophantasmisten, den .Geistesdespotismus', und damit natürlich audi den Despotismus des Teufels, ,auszurotten', in betont grober Form: E r (der Proktophantasmist. Anm. des Verf.) wird sich gleich in eine Pfütze setzen, Das ist die Art, wie er sich soulagiert, U n d wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen, Ist er von Geistern und von Geist kuriert. (131)
Diese Schilderung bringt eine vollständige Wesensbeschreibung des Proktophantasmisten. In unserem Falle ist dies so einfach, weil der Begriff Proktophantasmist eine Substantivbildung zu einer genau einzugrenzender Tätigkeit ist. Es kommt dabei nicht zu jener Spannung zwischen Person und Aussage, die dazu führt, daß diese mißverständlich, ja unverständlich wird, weil die genaue Bezeichnung jener dem Zuschauer im dramatischen Stil vorenthalten werden muß, ihre Kenntnis aber Voraussetzung zum Verständnis der Aussage ist. Freilich enthält, wie bei Ariel, der Name Proktophantasmist einen über die literarische Immanenz hinausgreifenden Verweis, diesmal parodistisdier Natur, aber dieser Verweis hindert audi dieses Mal nicht das Verständnis der Stelle, da die Fakta der historischen Wirklichkeit, die hier glossiert werden sollen, genau die gleichen sind, die sich in der Glosse selbst finden. Goethe ironisiert hier die dilettantischen medizinischen Versuche des Schriftstellers Friedrich Nicolai, sich gegen Halluzinationen, die durch übermäßigen Blutandrang zum Gehirn hervorgerufen wurden, dadurch zu helfen, daß er sich Blutegel ans Hinterteil ansetzen ließ, wodurch er glaubte, daß das Blut vom Gehirn abgezogen würde. Da aber Mephisto in seinem Kommentar über den Proktophantasmisten die gleichen Vorstellungen, wenn.39
gleich in gedrängter und damit überspitzt ironischer Form ausspricht, ist der Verweis auf Nicolai nicht nötig, wenngleich er, wie analog die Kenntnis der Shakespearischen Zauberwelt bei Ariel, der Stelle einen weiteren, hier allerdings kaum voraussetzbaren Assoziationsraum verleiht. Zusammenfassend läßt sich über die verschiedenen Formen von Kurzdefinitionen im dramatischen Stil folgendes Gesetz aufstellen: Da in diesem alles aus der Immanenz des Geschehens verständlich sein muß, besteht seine erste Voraussetzung darin, daß die dramatischen Personen durch ihre Aussage vom Zuschauer in ihrer vollen Identität erschlossen werden können. Dies geschieht, indem sie entweder ihren Namen preisgeben oder sich so vollständig definieren oder definieren lassen, daß jedes Mißverständnis über sie ausgeschlossen ist. Beidesmal werden jedoch die Möglichkeiten dramatischen Stils auf ein Minimum eingeschränkt. In dem Maße — und hierin besteht eben die Gesetzmäßigkeit — wie sich die einzelnen Personen dramatischer gebärden, müssen sie zwangsläufig darauf verzichten, dem Zuschauer ihre volle Identität ins Bewußtsein zu bringen. Sie stellen sich in Aktion dar, wodurch sie dramatischer, zugleich jedoch unverständlicher werden. Am Auftreten Obérons zeigt sich dies deutlich: der Verzicht darauf, sich und seine Situation erst einmal zu exponieren, ermöglicht es Oberon, sich gleich parodistisch medias in res zu stürzen. Dafür geht jedoch der Hintergrund, auf dem die Parodie erst zur rechten Wirkung kommen könnte, Shakespeares,Sommernachtstraum' mit der Trennung und Wiedervereinigung Obérons und Titanias, alles in märchenhaft-idealischem Gepräge, gänzlich verloren. Ohne diesen Hintergrund bleibt der Dialog Obérons und Titanias indessen nur allgemeines, sentenziöses Ehegeplänkel. Man sieht: der dramatische Elan, mit dem sich die einzelnen Personen sofort in die Aktion stürzen, rächt sich dadurch, daß diese dem Zuschauer unverständlich wird, der darin nur eine nicht näher bestimmbare Erregung eines intensiven, aber vagen dramatischen Agens plus einigen mehr oder minder gelungenen Bonmots zu erkennen vermag. Goethe wählt zwischen den beiden skizzierten Formen einen Mittelweg. Zumeist stellen sich die Personen jedoch in Aktion dar, wodurch im allgemeinen eine ausreichend präzise Selbstdefinition ausgeschlossen ist. Der Begriff Aktion darf jedoch nidit mißverstanden werden. Sie dient ausschließlich dazu, das Wesen der einzelnen Personen zu umreißen und will diese keineswegs miteinander in eine dramatische Verwicklung bringen. Es ergibt sich daraus also in keiner Weise eine Handlung, ja auch nur ein Ansatz zu einer solchen. Vielmehr muß für das Erscheinen der Personen zunächst das totale, durch kein gruppierendes System gegliederte Addi40
tionsprinzip angenommen werden. Daß dieses eineEinschränkung und wie es diese Einschränkung erfährt, wird im folgenden dargelegt werden. Was zunächst jedoch in die Augen springt, ist ein Karneval heterogenster Personen. Geister aus der Welt Shakespeares treffen mit Goethes literarischen Feinden zusammen, Typen und Individuen, Vertreter philosophischer Richtungen und .Künstler' der leichten Muse erscheinen wechselweise, ErotischLaszives und Ironisch-Pointiertes verträgt sich und ergänzt sich hier aufs trefflichste; alles wird personifiziert und redet in Ichform, freilich nicht, um mit einem anderen Idi in eine echte Beziehung zu treten, sondern weil sich die Ichform eben aus der dramatischen Form der Aussage ergibt. Bei genauerer Betrachtung erkennen wir wohl verschiedene Arten der Bezugnahme, doch sind diese vom Standpunkt echter dramatischer Beziehung aus betrachtet im Grunde zur Aussichtslosigkeit verdammt. Auch bleiben sie immer einseitig: Keine Person erwartet eine Antwort auf ihre Frage; Aufforderungen an andere Personen sind rein rhetorisch zu verstehen. Niemand richtet sich an eine bestimmte Person, sondern stets an die leicht erregbare, aber kommunikationslose Allgemeinheit, die alle aus ihr hervortretenden Einzelakteure, nachdem sie sich produziert haben, wieder absorbiert und von der kein Echo zu erwarten ist. Wenn die Sternschnuppe etwa mit den Worten: Aus der Höhe schoß ich her Im Stern- und Feuerscheine, Liege nun im Grase quer — Wer hilft mir auf die Beine?
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hervortritt, wäre es natürlich paradox, anzunehmen, daß ihre Frage durch irgend jemand beantwortet, geschweige die in ihr ausgesprochene Bitte erfüllt würde. Ebenso rhetorisch ist die Frage des .Neugierigen Reisenden' (es handelt sich nach Kuno Fischer hier wiederum um eine Parodie Nicolais), der sich dem Publikum in einer Art Rätselform, sich selbst in der dritten Person präsentierend, vorstellt: Sagt, wie heißt der steife Mann? Er geht mit stolzen Schritten. Er schnopert, was er sdinopern kann. ,Er spürt nach Jesuiten.' (135)
Indem er seine Frage selbst beantwortet, teilweise beantwortet, zeigt er, daß sie nur rhetorisch gemeint war. Nur wo Elemente die demokratische Ordnung dieser Art Revue durch undemokratisches Benehmen zu zerstören drohen, wie die .Massiven', die ihren Forderungen allzu laut Geltung zu verschaffen suchen, wehrt sich die Allgemeinheit, repräsentiert 41
durch Puds, worauf das Ganze in seiner alten poetischen Ordnung zu Ende geführt wird. Die häufigste Form der Bezugnahme haben wir jedoch nicht in Appell und Frage an die Allgemeinheit, sondern als Reaktion auf die Selbstdarstellung anderer Personen. Wenn etwa die Junge Hexe' sich in ihrer Nacktheit aufspielt, reagiert darauf neidvoll-prüde die Matrone: Wir haben zu viel Lebensart, Um hier mit euch zu maulen; Doch, hoff' idi, sollt ihr jung und zart, So wie ihr seid, verfaulen. (134)
Indessen kommt es nie zu einem wirklichen Frage- und Antwortspiel der einzelnen Personen untereinander, denn damit wäre das Prinzip der Kurzdefinition in einer Art Revue, auf dem der ,Walpurgisnachtstraum' aufgebaut ist, durchbrochen. Dennoch setzt diese Form der Bezugnahme voraus, daß sich die einzelnen Personen bis zu einem gewissen Grade nach einem System gruppieren lassen, mag dieses oft auch sehr klein sein und nur zwei oder drei, als Maximum fünf Glieder umschließen. Ein solches Zusammenschließen zu einem intimen, sich gegen die anderen abschließenden Verein bedeutet jedoch nicht, daß es zu einer allseitigen Bezugnahme der verschiedenen Teilnehmer untereinander käme. Diese äußern sich, wie gänzlich isolierte Personen, durchaus monologisch, so daß wir, von der dramatischen Immanenz aus betrachtet, von einer Gruppierung zu einem System überhaupt nichts merken. Ein schönes Beispiel hierfür sind die fünf Philosophen, der Dogniatiker, der Idealist, der Realist, der Supernaturalist und der Skeptiker, von denen jeder seine Lehre kurz zusammenfaßt, ohne sich auf die anderen zu beziehen. Lediglich der Skeptiker unterwirft, seiner philosophischen Tendenz gemäß, die Positionen der anderen seinem Zweifel, wonach nachträglich die Einheit dieser Gruppe audi aus einer dramatisch-immanenten Aussage deutlich wird. Davon abgesehen, vollzieht sich die Systembildung von außen; die Hand eines .Rhapsoden', der die einzelnen Personen nach der inhaltlichen Zusammengehörigkeit und Aufeinanderfolge ihrer philosophischen Standpunkte anordnet, wird in diskreter Weise fühlbar. Dies zeigt, daß das Prinzip der reinen Addition ohne jegliche Gruppierung der Personen nach dem Inhalt ihrer Aussagen dodi nur sehr bedingt zu verwirklichen ist, wenn nicht ein totales Chaos entstehen soll, ein Chaos, das trotz dieser Systembildungen der Szene nodi immer das Gepräge verleiht. Zum Schluß dieser Betrachtung erhebt sich deshalb die Frage, ob und inwiefern die Form der bloßen Reihung von Wesensaussagen künstlerisch, 42
d. h. hier dramatisch gerechtfertigt ist, oder ob sie im dramatischen Stil nicht eine Enklave darstellt, die, trotz alles Witzes im Detail, im Ganzen der Handlung störend wirkt. Dies führt uns zu der Frage, welche Funktion dem ,Walpurgisnachtstraum' innerhalb der Gesamtstruktur des ,Faust' oder zumindest innerhalb der .Walpurgisnacht' zukommt. Auch hier herrscht, wie man leicht sehen kann, bis zu einem gewissen Grade das Additionsprinzip vor. Dennoch hatte Goethe ursprünglich die Absicht, das Böse, das zu Beginn als Isoliertes, Parzellenhaftes in Erscheinung tritt, im Verlauf des Hexensabbaths zu systematisieren, seine Einzelphänomene in Funktion zu bringen und eine Hierarchie zu schaffen, die eine Analogie und Parodie zum Reich des Heiligen werden sollte. Die ,Walpurgisnacht' sollte auf dem Gipfel des Blocksberges in der Erscheinung und dem Cultus des Satans selbst „ihren Höhe- und Schlußpunkt erreichen".2 Die Thronrede des Satans findet sich jedoch nur in den Paralipomena. Der Zynismus, mit dem der Satan Geld und Wollust preist, wäre für Goethes Zeitgenossen ohne Zweifel schockierend gewesen. Dodi scheint uns diese Erklärung Kuno Fischers für die Unterdrückung dieser Szene nicht vollständig, wenn sie auch genügen mag, die Streichung der Szene hinreichend zu motivieren. Entscheidender scheinen uns Bedenken philosophischer und künstlerischer Natur, die Goethe bewogen haben, auf die Szene zu verzichten. Die volle Darstellung des Bösen als Weltprinzip widerspricht der Grundkonzeption des ,Faust'. Denn Faust soll ja, gemäß der Wette zwischen Gott und Mephistopheles, dem Bösen nicht dadurch anheimfallen, daß er es mit Bewußtsein faustisch-ekstatisch erlebt und ergreift, sondern dadurch, daß er sich selbst untreu wird, daß er sich im Genuß des Augenblicks verliert. So ist es philosophisch durchaus konsequent, daß Mephisto Fausts Drang, audi das radikal Böse, das Böse in seiner ,Idealität* wie jede Erscheinung der .Totalität der Materie', sich zu assimilieren, durch Hinweise auf ein erotisch-unpathetisches Genießen im Zeichen des Isolationsprinzips zu zerstreuen versucht. Er begegnet Fausts Erkenntnis- und Erlebnistrieb, der sich in Vorahnung der Erscheinung des bösen Prinzips in die Worte „da muß sich manches Rätsel lösen" kleidet, mit der lakonischen Antwort „doch manches Rätsel knüpft sich auch", (127) worauf er Faust von der ,großen Welt' abzulenken versucht, um ihn in der Intimsphäre junger Hexlein und zuletzt sogar in dem öden Dilettantentheater sich selbst zu entfremden. Faust, philosophisch hier etwas naiv, wundert sich, daß Mephisto sich die Chance, ihm sein ureigenstes Reich in seiner größtmöglichen Dichte und Verfüh2
Kuno Fischer, Goethes Faust. Bd. 3. o. J. 2. Aufl. S. 654.
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Strsidier, Faust
rungskraft vorzustellen, entgehen läßt. Mephistos seltsamem Drang nach Privatsphäre im Reich des offiziell Bösen begegnet er mit Erstaunen: Du Geist des Widerspruchs! Nur zu! du magst midi führen. Idi denke dodi, das war recht klug gemacht: Zum Brodten -wandeln wir in der Walpurgisnacht, Um uns beliebig nun hieselbst zu isolieren. (127) Mephistos Methode besteht in der Tat darin, Faust das Isolierte, Unvermittelte vorzuführen, ihn aus dem Reich der abstrakten, platonische Sehnsüchte erweckenden Ideen ins Reich der sinnlichen Einzeldinge hinüberzuziehen, um auf diese Weise seine allmählich erschlaffte Seele in seinen Besitz zu bringen. Im Zusammenhanglosen, Kommunikationslosen, Abrupten, Inkohärenten sah Goethe, wie auch Kierkegaard, das Böse. Diese Form des Bösen ist nicht ein ekstatisch Böses, sondern viel eher Langeweile, Leere. Und so ist es durchaus konsequent, daß die anfängliche Erregung des Hexensabbaths in einem müden Dilettantentheater ausklingt. Das ekstatisch Böse, das man war, verliert seine anziehende Perversität, und so verfällt man auf die Idee, die aufkommende Leere durch Spiel abzugleichen, wodurch sie natürlich nur noch größer wird. Bewußtsein des Bösen hält sich deshalb audi nur noch in Faust, nicht weil er Böses ansieht — dieses Böse parodiert sich selbst — sondern weil er es tut, nämlich dadurch, daß er sich in diesem, für Gretchen so entscheidenden Augenblick treiben läßt. So wird das Maß an Langeweile, die ihm dieser Karneval einflößen muß, zum Maße seiner Schuld, da er trotz dieser Langeweile nichts unternimmt, um Gretchen zu retten. Dabei erhebt sich freilich die Frage, ob diese psychische Verfassung Fausts dadurch dargestellt werden kann, daß, vom Ganzen der dramatischen Entwicklung aus betrachtet, eindeutig Fremdkörper in diese eingebaut werden. Die subjektive Leere Fausts rechtfertigt ohne Zweifel die objektive dramatische Leere nicht. Tatsächlich wurde der ,Walpurgisnachtstraum' audi gar nicht im Zusammenhang mit dem ,Faust' komponiert. Kuno Fischer referiert seine Entstehung folgendermaßen: „Der Ursprung dieser kleinen satirischen Gedichte ist der Xenienkampf, der mit dem goethesdien Faust gar nichts zu thun hat; ihr Ziel ist Schillers Musenalmanach vom Jahre 1798, wo sie . . . die gewünschte Unterkunft nicht finden: dieser U m s t a n d . . . hat die Entgleisung einer großen Sammlung goethescher Xenien herbeigeführt, die nicht in den sdhillerschen Musenalmanach, wohin sie wollten, sondern statt dessen in den goetheschen Faust, in die Walpurgisnacht bis auf den Biodisberg gelangten, wo sie nicht hingehör-
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ten." s Kuno Fischer wendet sich mit Recht gegen gewisse Faustinterpreten, die trotz solcher Entgleisungen hartnäckig fortfahren, die »Einheit des goetheschen Faust laut zu preisen und anzustaunen". 4 Diesem Urteil schließen wir uns an. Eine solch totale Verwirklichung des Prinzips der Substantialität muß notgedrungen zur Aufhebung der dramatischen Einheit eines literarischen Kunstwerks führen. Freilich haben wir es hier mit einem isolierten Phänomen im ,Faust' zu tun, das in solcher Radikalität sich sonst nirgends mehr findet. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Form der Definition, auf der diese Szene aufgebaut ist, sich nicht auch noch an anderen Stellen des ,Faust' findet, ja, sie ist ein Kompositionsprinzip, das, in aufgelockerter Form, den ganzen ,Faust' durchzieht.
2. Wesenheiten der außermenschlichen Welt Die formale Analyse der Kurzdefinition in ihren verschiedenen Spielarten beruhte auf einer Voraussetzung, auf die wir bisher überhaupt nicht eingegangen sind, nämlich der qualitativen Unbestimmtheit ihrer Träger. Diese waren bald historische Persönlichkeiten, bald Geister, bald personifizierte Abstrakta und Konkreta aller Art. In der gedrängten Form der Kurzdefinition waren die Möglichkeiten echter dramatischer Entwicklung für alle Personen unterschiedslos minimal; die qualitativen Unterschiede zwischen ihnen traten noch nicht hervor und machten sich als dramatische Potenzen noch nicht bemerkbar; es war noch gleichgültig, ob eine ,Person' die Bezeichnung ,Purist' oder ,Ci-devant Genius der Zeit' trug. Indem wir jedoch aus dem engen Rahmen der Kurzdefinition heraustreten, wird es notwendig, die verschiedenen Personen und Personengruppen nach den unterschiedlichen dramatischen Möglichkeiten, die in ihnen schlummern, zu sondern. Während der ,Purist' in einem Drama, etwa einer Charakterkomödie, jederzeit nach Herzenslust agieren könnte, würde ,Ci-devant Genius der Zeit' als personifizierter Titel einer Zeitschrift allenfalls vorübergehend parodistischen Erfolg erzielen, aber audi das nur als Requisit, nicht als handelnde Person. Als Kanon für unser Gliederungsprinzip dient der Grad der Individuation, den die einzelnen Personen aufweisen. Faust, als der vollkommen Individuierte, als der eigentliche Funktionsträger des dramatischen Geschehens, kommt als verbindendes Glied zuletzt. Im einzelnen ist es jedoch sehr schwierig, ja im Grunde unmöglich, die verschiedenen Gestalten nach dem Grade ihrer Individuation zu klassifizieren, da dasjenige, was ihnen zu deren vollen » K. Fisdier, Goethes Faust. Bd. 3. S. 610.
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K. Fisdier, S. 611. 45
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Entfaltung fehlt, in kein hierarchisch geordnetes System zu bringen ist, man also nie ganz genau sagen kann, ob die Aussagen einer Person mehr unter der Kategorie der Substantialität zu betrachten sind als diejenigen einer anderen Person. Außerdem hat Goethe, oft mehr reiner Poet als Psychologe, in seiner Lust, alles zu personifizieren, seinen Gestalten zuweilen Worte in den Mund (oftmals auch nur in den Schnabel im wörtlichen Sinne) gelegt, die diese ihrem Wesen nach niemals sagen könnten. Andrerseits werden dann wiederum vollwertige menschliche Gestalten so sehr zu Ideen oder zu Funktionen, die sie verkörpern, daß sie als Funktionsträger auf einer Stufe mit Sphinxen, Lamien, Greifen und anderen Fabelwesen stehen. Wenn wir mit den .Wesenheiten der außermenschlichen Welt' beginnen, worunter wir eben diese Sphinxe, Lamien und Greife, aber auch Sirenen, Nereiden und Tritonen, Phorkyaden, Lemuren, Hexen, dazu audi alle Arten von Engel, ja letztlich auch Gottvater verstehen, so gehen wir einfach vom Maß realisierter Funktionalität aus, wohl wissend, daß dieses grundsätzlich auch anders beschaffen sein könnte. Freilich ist es letztlich überhaupt unmöglich, die Bewußtseinsstruktur dieser .Wesenheiten' genau zu bestimmen und so bleibt uns oft nichts anderes übrig, als ihren Charakter als die bloße Summe ihres Geschwätzes, das psychologisch oft ohne jede Konsequenz ist, zu postulieren. Auch ist nicht nur innerhalb der Gesamthierarchie der Personen, sondern auch innerhalb der .Wesenheiten der außermenschlichen Welt' die Nähe zum Personhaft-Individuellen sehr verschieden. Neben Gestalten, die, wie etwa die Phorkyaden, eine menschliche Eigenschaft, die Häßlichkeit, mythologisch übersteigert verkörpern, gibt es solche, wie die Greife, die überhaupt keinen (abstrakten) Wesenskern besitzen, sondern die, reine Geschöpfe einer psychologiefremden Imagination, nur in ihrer äußeren Erscheinung als Schnarrer und in ihrer Tätigkeit als Schätzehüter zu beschreiben sind. Der Dialog zwischen Mephistopheles und den Sphinxen möge als Paradigma einer Form von ,dramatischer' Wechselrede dienen, wie sie möglich ist, wenn einer der Gesprächspartner eine .Wesenheit der außermenschlichen Welt' ist. Mephistopheles hat sich mit einer der Mythologie, in der er sich bewegt, angemessenen Unmittelbarkeit zwischen die Sphinxe gesetzt. Nach einer kurzen Wechselrede wird er aufgefordert, sich vorzustellen. Er tut dies, selbst sphinxhaft, indem er auf die englischen Moralitäten anspielt, in denen er den Namen ,01d Iniquity' trug, dessen Ursprung und philosophische Bedeutung er nicht zu wissen vorgibt. Damit ist die Selbstidentifikation Mephistos abgeschlossen. Nach einem kleinen Exkurs in die Astrologie dringt Mephisto in die Sphinx, ihre mythologische Rolle auch ihm gegenüber zu praktizieren, d. h., ihm
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ein Rätsel aufzugeben. Er parodiert auf diese Weise seinen Vorgänger ö d i p u s ; aber auch die Sphinx hat sich säkularisiert: aus der mythologischen Gestalt ist eine Psychologin geworden, die alle Rätselhaftigkeit im Menschen selbst sieht, und so ist es kein Wunder, daß sie Mephisto ein Rätsel aufgibt, dessen Lösung und Gegenstand er selbst ist: Sprich nur dich selbst aus, wird schon Rätsel sein. Versuch einmal, dich innigst aufzulösen: D e m frommen Manne nötig wie dem bösen, D e m ein Plastron, aszetisch zu rapieren, K u m p a n dem andern, Tolles zu vollführen, U n d beides nur, um Zeus zu amüsieren. (218)
Aber da Mephisto natürlich erkennt, daß dieses Rätsel auf ihn zielt, und die Sphinx ihn nur dadurch, und nicht einmal besonders schmeichelhaft, charakterisieren will, also im Grunde gar keine Antwort von ihm erwartet, endet der Rätseldialog mit einem großen Schweigen, in das sofort die Greife treten, um ihrer Antipathie gegen Mephistopheles L u f t zu machen und ihm zu erklären, wie deplaziert sein Erscheinen an diesem Orte sei. Die Sphinx nimmt ihn hingegen in Schutz, da sie weiß, daß er sich hier nicht in seinem Element befindet und sich deshalb bald wieder in seine nordischen Gefilde zurückziehen dürfte. Er erwidert ihre Güte wiederum mit mythologisch-unvermittelter Direktheit: D u bist recht appetitlich oben anzusdiauen, Doch unten hin die Bestie macht mir Grauen.
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Worauf die Sphinx, gänzlich ungekränkt, Mephistos Fremdheit in dieser Welt noch einmal aufgreift: D u Falscher kommst zu deiner bittern Buße, Denn unsere Tatzen sind gesund; Dir mit verschrumpftem P f e r d e f u ß e Behagt es nicht in unserem Bund. (219)
D a m i t ist die gegenseitige Vorstellung zwischen Mephistopheles und der Sphinx zu Ende. Diese übernimmt nun, eine A r t Vergil, die Aufgabe, dem wißbegierigen Teufel des Nordens weitere Gestalten seiner klassischmythologischen Umgebung vorzustellen. A u f seine Frage, die Sirenen betreffend, Wer sind die Vögel in den Ästen Des Pappelstromes hingewiegt?
antwortet sie mit der Warnung G e w a h r t eudi nur! D i e Allerbesten H a t solch ein Singsang schon besiegt.
(219)
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Darauf spielen die Sirenen ihre bekannten mythologischen Reize aus, um Mephisto ihre Verführung fühlbar zu machen, während die Sphinxe, diesem makabren Melos abhold, es ironisch akkompagnieren. Schließlich erscheint Faust, um an diesem Ort etwas über Helena zu erfahren. Nachdem die Sphinx ihn an Chiron verwiesen hat, fährt sie fort, Mephistopheles als Führer durch die .Klassische Walpurgisnacht' zu dienen. Stymphaliden, lernäische Schlange, Lamien werden von ihr nacheinander beschrieben. Mephistos Neigung zu einem kleinen, scheinbar gar nicht so mythologischen Abenteuer mit den Lamien findet ihre Zustimmung. Doch dieser ist von der stoischen Gelassenheit der Sphinxe, die merkwürdig angenehm zu der allgemeinen nervösen Erregung kontrastiert, so sehr beeindruckt, daß er, nach genossenen Erotika, auf eine weitere Bekanntschaft ungern verzichten möchte. Melancholisch-weise offenbaren sie ihm die Zeitlosigkeit ihres Seins, das ironisch-heiter auf seine erotischen Versuche in der klassischen Welt herabzusehen vermag: Ja! Misdie dich zum luftigen Gesinde. Wir, von Ägypten her, sind längst gewohnt, Daß unsereins in tausend Jahre thront. (222)
So bleibt ein neues Rendezvous für Mephisto jederzeit möglich, dodi nicht, weil die Sphinxe ihn noch einmal zu sehen wünschen, sondern weil die Zeitlosigkeit ihres Seins zwangsläufig zu immer neuen Begegnungen mit ihm führen kann. Versuchen wir an diesem Beispiel, das Verhältnis von Substantialität und Funktionalität konkret zu erfassen: Inwiefern und inwieweit geht diese Form des Dialogs über die reine Wesensaussage, wie wir sie früher beschrieben haben, hinaus? Auch hier erscheint eine repräsentative Auswahl dessen, was Schiller als ,Totalität der Materie' bezeichnete, eine repräsentative Auswahl, deren Funktion darin besteht, die Vielfalt und Desorganisation einer noch kaum organisierten Welt, einer Welt, in der das Nachtprinzip herrscht, zu verkörpern. Die klassische Nacht dient dazu, Faust den Weg zu Helena, der Repräsentantin des klassischen-, des Tagprinzips, zu weisen. Im Namen Helenas findet alles seine Zuordnung zum Ganzen; in der ,Klassischen Walpurgisnacht' zerfällt alles in Einzeldinge. Dennoch gibt sich hier die ,Totalität der Materie', wie das Beispiel der Sphinx zeigt, nicht mehr so rein .material', wie das in der ersten Walpurgisnacht der Fall war. Hier handelt es sich um die Nacht in ihrer Zuordnung zum Tag, nicht mehr um das Böse als Isolationsprinzip, in dessen Namen alles in Atome zerfällt. Freilich bleibt das Grundprinzip, die Welt, den objektiven, im Gegensatz zum subjektiven, stets im Entstehen 48
begriffenen Faust-Geist zu erfassen, das der Identifikation. Dies zeigt der Dialog zwischen der Sphinx und Mephisto ziemlich eindeutig. Zugleich ist dieser Dialog jedoch ein Beispiel dafür, mit welch erstaunlichem Raffinement das Identifikationsprinzip gehandhabt werden kann. Die Rätselhaftigkeit der Sphinx, ihre Lust, Rätsel aufzugeben, diese substantiellen' Eigenschaften, werden zur dramatischen Agentia, zu Trägern von Funktionalität. Freilich bleibt der Dialog trotzdem relativ diskontinuierlich, da das Frage- und Antwortspiel der Beiden zwangsweise dauernd den Gegenstand wechselt. Audi hat das zentrale Rätsel der Sphinx für Mephisto nicht mehr die Bedeutung, die es für ödipus hatte: Dieser war ein Mensch, dem seine Lösung die Tore Thebens öffnete, seine Nicht-Lösung den Tod brachte; jener ist selbst ein Mythos, der sich mit der Sphinx in einer Art prästabilierter Harmonie befindet, die es ihm erlaubt, aus einer solchen Begegnung ein Spiel zu machen. Die gegenseitige Kenntnis der beiden Partner ist jedoch nicht nur ein Hindernis für die Entwicklung des Dialogs. Sie vermag ihn auch zu fördern, weil sie eine wie auch immer geartete Exposition überflüssig macht. Das Kompositionsprinzip der gegenseitigen Anspielungen, das im ,Walpurgisnachtstraum' zu einer oft unauflösbaren Verschlüsselung der Aussagen führte, hier ist es recht am Platze, da beide Dialogpartner leicht zu identifizieren sind und der Dialog, besonders wenn er, wie hier, auf gegenseitige Erkenntnis gerichtet ist, methodisch ohnehin zum Verständnis der beiden Personen geeigneter ist als die reine Wesensaussage. Wir versetzen uns dabei ganz einfach in die Lage der beiden Gesprächspartner und vollziehen unmittelbar mit, wie sie sich gegenseitig ihre mythologischen Eigenschaften zum Bewußtsein, d. h. in Erinnerung bringen, und so erschließt sich uns alles, was uns aus der Mythologie noch nicht bekannt ist, durch ihr Frage- und Antwortspiel. Dieses will freilich nicht im eigentlichen Sinne dramatisch sein. Es ist eine pikant verschlüsselte Form der gegenseitigen Identifikation, die zwar ausreicht, einen Dialog einigermaßen in Gang zu halten, nicht aber, um eine wirklich dramatische Situation hervorzubringen. Alles bleibt Spiel, prästabiliertes, sich in einem relativ geschlossenen System vollziehendes Spiel, dessen Zweck in sich selbst liegt und das sich in dem engen Rahmen der mythologischen Möglichkeiten, die in der Sphinx angelegt sind, bewegt. Alle Bestandteile, die den Dialog unterhalten, wie Frage und Antwort, Sympathie- und Antipathiekundgebungen, Komplimente und boshafte Anspielungen, gemeinsame Erinnerungen und dergleichen, alles Elemente, die als Stimulantia eines Dialogs dienen können, sie alle bleiben im relativ engen Rahmen .substantieller', das Wesen der Gesprächspartner dialo49
gisch umreißender Aussagen. Die Form des Dialogs ist in der zentralen mythologischen Eigenschaft der Sphinx, dem Aufgeben von Rätseln, vorgezeichnet. Das Gemisch von Weisheit, Sentimentalität und romantischer Ironie, das den Grundzug des Dialogs bildet, stammt teils von der Sphinx, teils ist es Mephistos Leier. Das Prinzip der Identifikation legt es nahe, daß beide Partner, nachdem sie ihre mythologischen Personalien abgegeben haben, zunächst einmal verstummen. Doch sofort bietet sich eine neue Gelegenheit, das Gespräch wieder aufzunehmen. Goethe kommt auf den Einfall, die ihrer Weisheit und ihres in Jahrtausenden erworbenen Wissens wegen berühmte Sphinx als eine Art Rhapsodin zu benützen, um Mephistopheles in die ,Klassische Walpurgisnacht' einzuführen, ihm die anderen mythologischen Gestalten zu beschreiben und, wenn nötig, zu deuten. Daß diese Funktion mit dem Wesen der Sphinx trotz der angegebenen Motivation nur nodi sehr vage zusammenhängt, liegt auf der Hand. Im Grunde wird hier zum bisher beschriebenen Wesen der Sphinx rein additiv eine neue Eigenschaft hinzugefügt: im Reich der herabgesunkenen, entdogmatisierten Mythologie kann man zu den alten Abstrusitäten nach Belieben neue hinzuaddieren. Anstelle einer ,Psycho-Analyse' tritt eine radikale ,Psycho-Synthese'. So ist es kein Wunder, daß, mit Einschränkung natürlich, jede Funktion von jeder Person übernommen werden kann. Andererseits setzt die Tätigkeit des Beschreibens und Identifizierens, die die Sphinx nun übernimmt, audi keine konsequent entwickelte und systematisierte Psychologie voraus, handelt es sich doch nur darum, das andrängende Chaos in der Erscheinungen Flucht festzuhalten, es Mephisto zu beschreiben und mit seiner mythologischen Kennmarke zu versehen. So stellt sie ihm Sirenen, Stymphaliden, lernäische Schlange in bunter Reihenfolge vor, bis endlich mit dem Erscheinen der Lamien wieder die Möglichkeit eines Dialogs, ja eines wirklichen Vorgangs gegeben ist. Das Prinzip der Heteronomie, der totalen Disparatheit der Eigenschaften, zeigt sich wohl am deutlichsten bei den Greifen. Sie sind am ausgeprägtesten Geschöpfe des Proteus, des Repräsentanten dafür, daß alles sich in alles verwandeln, jede Eigenschaft sich mit jeder Person verbinden kann. Die Greife sind Fabelwesen aus Indien, „tierische Ungeheuer, zusammengesetzt aus Adler, Löwe und Wolf", 5 denen es oblag, unermeßliche Goldschätze zu bewahren. Diesen mythologischen Kerneigenschaften fügt Goethe nun rein additiv einen ganzen Exkurs über ihre Etymologie hinzu. Auf Mephistos 5
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K . Fisdier, Goethes Faust. Bd. 4. Teil 2. S. 87.
„Glück zu den schönen Fraun (gemeint sind die Sphinxe. Der Verf.), den klugen Greisen!" (217) antwortet einer von diesen ,schnarrend': Nicht Greisen! G r e i f e n ! — N i e m a n d hört es gern, D a ß man ihn Greis nennt. J e d e m Worte klingt Der Ursprung nach, w o es sich her bedingt: G r a u , grämlich, griesgram, greulich, Gräber, grimmig, Etymologisch gleicherweise stimmig, Verstimmen uns. Mephistopheles. U n d dodi, nicht abzuschweifen, G e f ä l l t das Grei im Ehrentitel Greifen. Greif. (Wie oben und immer so fort.) N a t ü r l i d i ! Die Verwandtschaft ist erprobt, Z w a r oft gescholten, mehr jedoch gelobt; Man greife nun nach Mädchen, Kronen, G o l d , D e m Greifenden ist meist Fortuna hold. (217)
S o ergibt sich aus Mephistos provozierendem Mißverständnis ein Spiel um Etymologie, das mit dem Charakter der Greife, wenn man einen solchen überhaupt annehmen will, in keiner Weise mehr zusammenhängt. A u d i hier haben wir, und in noch stärkerem Maße als bei der Sphinx, eine reine Addition von Eigenschaften, die auf keinerlei gemeinsamen psychologischen Nenner zu bringen sind, eine systemlose Summation von Eigenschaften, unendliche Möglichkeiten des Spiels, da es nichts gibt, was, als eine A r t Exposition, sei's eines Charakters, sei's einer Situation, eine sich daraus ergebende logische Entwicklung und damit eine gewisse Einschränkung dieser Möglichkeiten verbürgen könnte. Mit den Greifen sind wir am weitesten vom Modell einer dramatischen Person entfernt; sie sind am wenigsten dazu geeignet, Funktionsträger zu werden. Dies hängt, wie angedeutet, damit zusammen, daß es nichts gibt, was ihrer ,Psychologie' nicht entspräche, daß sie nach Belieben sich den fremdesten Stoff assimilieren können. D o d i vollzieht sich diese Assimilation eben nicht von einem feststehenden, wenngleich entwickelbaren Charakter aus, der, wie Faust, sich die Fülle der Welt aneignen möchte; vielmehr ist dieser .Charakter' nur eine H o h l f o r m , in die man alles nach Belieben hineinstecken kann, ja, er ist wahrlich die Summe des Geschwätzes, das die Greife von sich geben. So sind ihre Handlungen zufällig, nicht in ihrem Wesen begründet, ihre Aussagen heteronom und viel zu speziell, als daß sich daraus ein festes Bild von einem Charakter ergeben könnte, was ohne ein gewisses Maß von Abstraktion nicht möglich ist. Während sonst die klassische Mythologie im allgemeinen das Begriffliche im Bilde antizipiert und demgemäß konsequent in der griechischen Philosophie endet, repräsentie51
ren die Greife, zumindest hier im .Faust', eine rein poetisch-imaginative Mythologie, hinter der sich nichts Philosophisches verbirgt. Sie stehen damit für viele andere Gestalten, die wir im einzelnen nicht alle aufzählen können. Waren die Greife von allen bisher skizzierten ,Wesenheiten der außermenschlichen Welt' diejenigen, die von unserem Modell eines voll entwickelten Funktionsträgers am weitesten entfernt waren, so kommen wir diesem mit den Phorkyaden am nächsten. Der Grund dafür liegt darin, daß die Phorkyaden eine echte menschliche Eigenschaft als Idee darstellen, nämlich die Häßlichkeit. Wir haben die Absicht, Repräsentanten von Begriffen und Ideen und ihr Verhältnis zu Substantialität und Funktionalität in einem besonderen Kapitel zu behandeln. Wenn wir die Phorkyaden dennoch hier anführen, so deshalb, weil ihnen noch viel Mythisches anhaftet. Wir sind uns klar darüber, daß der Ubergang von Personen, die Abstraktes mythisch-bildhaft verkörpern, zu solchen, die es auf der Höhe des klassischen Tags, wie Helena, als Idee durch ihre rein menschliche Erscheinung in aller Unmittelbarkeit ohne mythologische Verbrämung darstellen, durchaus fließend ist. Indem Mephistopheles von den Phorkyaden die Gestalt borgt, in der er Helena gegenübertreten will und tritt, verbindet er Mythologie und reale menschliche Existeez, wird er menschliche Idee der Häßlichkeit und stellt sich damit mit Helena auf eine Stufe. Doch zunächst zur Beschreibung der Phorkyaden durch Mephisto. Selbst diesem kommen bei ihrem Anblick Zweifel, ob das Schönheitsideal der Antike überhaupt Gültigkeit hat: . . . Ich sehe was, und staune! So stolz idi bin, muß idi mir selbst gestehn: Dergleichen hab' ich nie gesehn, Die sind ja schlimmer als Alraune . . . Wird man die urverworfnen Sünden Im mindesten noch häßlich finden, Wenn man dies Dreigetüm erblickt? Wir litten sie nicht auf den Schwellen Der grauenvollsten unsrer Höllen. Hier wurzelt's in der Schönheit Land, Das wird mit Ruhm antik g e n a n n t . . . (242)
Der folgende Dialog zwischen Mephisto und den Phorkyaden zeigt, daß für diese ihre Häßlichkeit noch ganz mythisch-unbewußt bleibt. Sie sind bescheiden, bezeichnen sich als .Nächtlichem verwandt', ohne daß dieser Zustand sie zum bewußten Ergreifen ihres Prinzips führte. Ihre Häßlichkeit bleibt mythologisch-äußerliche Erscheinung; erst Mephistopheles, indem er von den Phorkyaden die Gestalt borgt, macht sie zum Programm, 52
zur Idee: seine Rolle als Apologet der Häßlichkeit erfordert den systematisch und antithetisch denkenden Teufel, dessen moralisierende Haltung seinem H a ß gegen die moralfreie Schönheit der Antike entspringt. Diese Eigenschaften erst machen ihn zum Träger von Funktionalität, nicht seine von den Phorkyaden übernommene Gestalt. Dennoch ist die Rolle, die Mephisto in ihr spielen kann, in nuce in ihr selbst angelegt: es bedarf nur der Reflexion, um das Ressentiment der Häßlichkeit mit Bewußtsein darzustellen, und der unmittelbare Haß, den der Chor der gefangenen Trojanerinnen Mephisto-Phorkyas, der äußeren Erscheinung und der moralisierenden Diktion entgegenbringt, zeigt, daß beides durchaus als Einheit empfunden wird. Keineswegs wirkt sich die nordischreflektierende Moralitätsattitüde Mephistos dahingehend aus, daß Zweifel an der Identität von äußerer und innerer Person entstehen: so sehr durchdringen sich beide, so leicht läßt sich die Mythologie in den Bann satanischer Beredsamkeit zwingen und verschwindet hinter ihr. Trotz alledem ist die Erhebung der Häßlichkeit zur Idee ein Werk Mephistos, Zeitgenossen des deutschen Idealismus, und die Phorkyaden bleiben Mythos, Bild, dessen Erscheinung zwar die Idee der Häßlichkeit zu suggerieren vermag, aber eben doch nur dem, der in abstrakten Kategorien denkt. Deshalb bleibt die Begegnung Mephistos mit ihnen relativ kurz; der Dialog ist wiederum eine aufgelöste Beschreibung ihrer äußeren Erscheinung; ihre Häßlichkeit bleibt wohl einheitsbildender Gegenstand, vermag sich jedoch nicht zur Idee aufzuschwingen, weil ihnen hierzu die Reflexion fehlt. Die Funktionalität, die in der Selbstdarstellung der Idee in allen ihren Bezugsmöglichkeiten liegt (eine Funktionalität, die natürlich gegenüber der voll individuierten Person immer noch relativ eingeschränkt bleibt), kann sich nodi nicht voll entfalten; auch erlauben es ihnen ihre Bescheidenheit und ihr gänzlicher Mangel an Ironie nicht, auf Mephistos ironische Komplimente einzugehen, was vielleicht zu einem etwas lebhafteren Dialog hätte führen können. Andererseits zeigen sie erstaunlich menschliche Züge; zum ersten Male wird über Mephistos Existenz in der Mythologie nicht der Bann gesprochen („Er scheint Verstand zu haben, dieser Geist" [242]), seine Selbstcharakteristik als „des Chaos vielgeliebter Sohn" (243) findet ihr Echo in einem illusionslosen „Des Chaos Töchter sind wir unbestritten". (243) Trotz dieser Gabe der Reflexion, dieser Nähe zum Menschsein, will sich kein rechter Dialog entspinnen. Das Bewußtsein der Häßlichkeit läßt jedes Wort in ihrem Munde ersterben, während es Mephistopheles, den Mann und Satan, später zu dämonischer Beredsamkeit führen wird. Sie erwidern seine Komplimente mit müder Resignation, und so ist es kein Wunder, daß Mephisto, nach53
dem er ihre Bekanntschaft gemacht hat, bald dazu übergeht, sich von einer von ihnen, oder vielmehr von allen dreien die Gestalt zu entlehnen, womit für ihn die ,Klassische Walpurgisnacht' zu Ende ist, und er sich in der Zwischenzeit darauf vorbereiten kann, im vierten Akt als Phorkyas Faust erneut auf seine Weise dienstbar zu sein. Zum Schluß unserer Analyse der .Wesenheiten der außermenschlichen Welt' sollen noch solche Gestalten betrachtet werden, bei denen es Goethe nicht so sehr darauf ankommt, ein genaues Profil zu entwerfen, sondern eine lyrische Zuständlichkeit zu schaffen, um die Gesamtatmosphäre des ,Faust' zu steigern, einen Zustand des Erhobenseins hervorzubringen, der nur vage an eine bestimmte dramatische Person gebunden ist, über deren Kern und Identität man dabei nicht sehr viel erfährt. Wir haben den Begriff der Stimmung, der psychischen Zuständlichkeit, des Mediums schon bei unserer Kritik der Staigerschen ,Grundbegriffe der Poetik' erwähnt und angedeutet, daß wir ihn im Verlauf unserer Analyse unter unseren Kategorien Substantialität und Funktionalität betrachten werden. Wenn eine dichterische Partie den Charakter des rein Stimmungshaften ausstrahlt, wenn sich aus ihr im Grunde genommen gar kein Gegenstand oder Vorgang heraushebt, so steht eine solche Partie weitgehend unter der Kategorie der Substantialität. Anstelle der Einheit der Motiventwicklung tritt die Einheit der Stimmung. Dabei können parataktisch gereihte Sätze, die untereinander kaum eine Beziehung haben, eine eminente dichterische Wirkung ausüben. Daß das Prinzip der psychischen Zuständlichkeit, der Stimmung, als Selbstzweck im ,Faust' überall gegenwärtig ist, steht außer Frage. Hier soll dieses Problem zunächst nur unter dem Aspekt des Personseins betrachtet werden, d. h. es sollen einige Gestalten, eine Gruppe von Gestalten vorgestellt werden, die relativ reine Stimmungsträger sind. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß solche Gestalten keinen echten Personenkern, sei's auch nur im rein äußerlichen Sinne, haben; daß weder eine Beschreibung ihrer äußeren Erscheinung, noch ein Aufriß ihrer ,Psychologie' im Sinne des Dichters lag, sondern die Darstellung reiner Zuständlichkeit in ihrer maximalen lyrischen Intensität. Auch soll die Stimmung absoluter Selbstzweck sein, nicht, wie in gewissen lyrisch-erotischen Partien der Gretchentragödie, zugleich eine bestimmte Funktion im dramatischen Geschehen haben. Freilich ist diese absolute Autonomie nur dem Begriff nach zu verwirklichen, auch kann dies, da der ,Faust' schließlich trotz allem ein Drama ist, nicht Ziel der Komposition sein. Der Wechselgesang zwischen Ariel und dem Chor der Elfen möge eine relativ reine lyrische Zuständlichkeit vorführen. Wir finden Faust, nach der Katastrophe am Ende des ersten Teils einer Er54
neuerung und Verwandlung bedürftig, „auf blumigen Rasen gebettet, ermüdet, unruhig, schlafsuchend". (146) Da beginnt Ariel, von Äolsharfen begleitet, seinen Gesang: Wenn der Blüten Frühlingsregen Ober alle schwebend sinkt, Wenn der Felder grüner Segen Allen Erdgebornen blinkt, Kleiner Elfen Geistergröße Eilet, w o sie helfen kann, O b er heilig, ob er böse, Jammert sie der Unglücksmann. (146)
Schon in diesem einleitenden Gesang überwiegt das Lyrisch-Stimmungshafte. Wem kommt es schon zum Bewußtsein, daß die vier ersten Zeilen nur Zeitbestimmungen zu den zwei nächsten Zeilen darstellen. Der in ihnen liegende Lyrismus macht sie selbständig und läßt den Zeitbezug ganz vergessen; auch die logische Unterordnung unter den Hauptsatz fühlt man kaum. Erst mit den beiden letzten Zeilen beginnt man eine Situation zu erahnen, die dann im folgenden Passus („Die ihr dies H a u p t umschwebt im luft'gen Kreise, erzeigt euch hier nach edler Elfen W e i s e . . . " [146]) eindeutig offenbar wird. Der Chor der Elfen antwortet ebenso rein lyrisch: Wenn sich lau die Lüfte füllen U m den grünumschränkten Plan, Süße Düfte, Nebelhüllen Senkt die Dämmerung heran. Lispelt leise süßen Frieden, Wiegt das Herz in Kindesruh; U n d den Augen dieses Müden Schließt des Tages Pforte zu. (146-147)
Auch hier haben wir nur ganz zu Ende einen direkten Verweis auf Faust; sonst bleibt alles im Lyrisch-Allgemeinen. Die ersten vier Zeilen bestehen aus einer reinen Beschreibung, wobei auch hier wiederum der Zeitbezug, der den Nebensatz dem Hauptsatz unterordnet, nicht ins Gewicht fällt. In den beiden nächsten Zeilen fordern die Elfen sich gegenseitig auf, Fausts Herz ,in Kindesruh' zu wiegen. Alles bleibt noch im Rahmen locker-lyrisch aneinandergefügter Aussagen, deren gegenseitiger Bezug zuweilen nicht einmal ganz klar ist, wie etwa in der Zeile .Lispelt leise süßen Frieden', eine Zeile, die wohl als Aufforderung der Elfen an sich selbst gemeint ist, deren Subjekt aber auch die in der vorausgehenden Zeile angerufene Dämmerung sein kann. Indessen fallen solche Schwä55
chen der logischen Beziehung nicht ins Gewicht, ja sie können in ihrem logisch nicht genau bestimmten Schwebezustand sogar sehr verführerisch wirken. Der Satz ,Wiegt das Herz in Kindesruh' leitet dann allmählich wieder zur konkreten Situation über, ohne indessen schon eindeutig aus der lyrisch-allgemeinen Stimmung herauszutreten. Erst der letzten Strophe entnehmen wir etwas über Fausts Befinden: Wunsch um Wünsche zu erlangen, Schaue nach dem Glänze dort! Leise nur bist du umfangen, Schlaf ist Schale, wirf sie fort! Säume nicht, dich zu erdreisten, Wenn die Menge zaudernd schweift; Alles kann der Edle leisten, Der versteht und rasch ergreift. (147)
Wir fühlen, wie Faust allmählich zu neuem Leben erwacht; der Gesang der Elfen, bisher schlafbeschwörendes Melos, gleitet allmählich in einen mehr ethischen, zum Handeln auffordernden Tonfall hinüber. Zugleich wird die Tendenz zur Maxime fühlbar, doch bleibt auch sie noch im Rahmen rein lyrischer, alles integrierender Aussagen. Die Elfen als Träger, Kollektivträger heilend-erneuernder Zuständlichkeit, sind kaum individualisiert, treten kaum aus dem Naturgeschehen heraus, der Satz . . . Kleiner Elfen Geistergröße Eilet, wo sie helfen kann, Ob er heilig, ob er böse Jammert sie der Unglücksmann.
(146)
ist eigentlich alles, was wir über sie selbst erfahren. Gerade dieser reine, gegenstandslose Lyrismus hat, wenn er auch in sich selbst nahezu funktionslos ist, als ganzer die Funktion, Faust wieder ins Reich der Lebendigen zurückzurufen. Dies geschieht nicht durch ausdrückliche Aufforderung dazu, sondern mittelbar, durch die bloße Gegenwärtigkeit der Elfen, in denen sich alles Schöne und Heilende auf assoziativ-lyrische Weise zusammenfindet. Doch bleibt der Kern dieser Wesen, bleibt das Agens, das die Kräfte des Schönen und Heilenden auf den Plan ruft, selbst unbestimmt. Nur in dieser Unbestimmtheit läßt sich jedoch reine Zuständlichkeit verwirklichen, lassen sich die kosmisch-heilenden Kräfte rein und ungebrodien .vermitteln'. Jeder eigene Kern von Personalität führt zu einer Abgrenzung des eigenen Idi gegenüber dem Naturgeschehen; die helfende Liebe wird zum menschlichen, aus Hingabe und Forderung, aus Anziehung und Abstoßung gemischten Wechselverhältnis. 56
3. Die begriffliche Welt a) Personifizierte
Begriffe
Indem wir in die Welt des Begrifflichen eintreten, eröffnet sich uns ohne Zweifel ein größeres Maß an realisierbarer und auch realisierter Funktionalität als bei den ,Wesenheiten der außermenschlichen Welt' oder gar den Kurzdefinitionen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die dort skizzierten Formen der Funktionalität nicht auch im Reich des Begrifflichen gültig wären. Eine Gegenüberstellung zweier Gestalten aus der Mummenschanz möge dies verdeutlichen. In beiden Fällen handelt es sich um eine aufgelockerte Form der Selbstcharakteristik. Zunächst sei als Paradigma der .Wesenheiten der außermenschlichen Welt' die Parze Klotho vorgestellt. Sie parodiert gemütlich-ironisch ihre Parzenexistenz und-funktion: Wißt, in diesen letzten Tagen Ward die Schere mir vertraut; Denn man war von dem Betragen Unserer Alten nicht erbaut. Zerrt unnützeste Gespinste Lange sie an Licht und Luft, Hoffnung herrlicher Gewinste Sdileppt sie schneidend zu der Gruft. Dodi auch idi im Jugendwalten Irrte midi sdion hundertmal; Heute midi im Zaum zu halten, Sdiere steckt im Futteral. Und so bin ich gern gebunden, Blicke freundlich diesem Ort; Ihr in diesen freien Stunden Schwärmt nur immer fort und fort. (166)
Die Form, in der sich Klotho hier charakterisiert, kann als Selbstdefinition in actu bezeichnet werden, wie wir es in Kurzform bei Oberon kennengelernt haben. Launisch fügt sie ihre mythologischen Attribute aneinander, löst sie in kleine Vorgänge auf und kommentiert diese zuweilen vor dem Publikum. Bei alledem löst sie sich nicht aus dem Rahmen ihrer begrenzten Wesenheit, die sie spielerisch-parodistisdi darstellt. Parodie mythologischer Eigenschaften, Auflösung dieser Eigenschaften in Histörchen, Anspielungen auf die Mummenschanz und ihr Publikum, alles bleibt im Grunde nur Umschreibung und findet in den mythologischen Gegebenheiten dieser Gestalt seine Grenzen. Demgegenüber weist nun die Darstellung des Begrifflichen gewisse Unterschiede auf. Bei aller, durch die Gleichheit der Situation bedingten Ähnlichkeit des Auftretens unter57
scheidet sich die Selbstdarstellung der Parze doch von derjenigen der ,Furcht': Dunstige Fackeln, Lampen, Lichter D ä m m e r n durchs verworrne Fest; Zwischen diese Truggesiditer B a n n t mich, adi! die K e t t e fest. F o r t , ihr lächerlichen Lacher! E u e r Grinsen gibt Verdacht; Alle meine Widersacher Drängen mich in dieser Nacht. H i e r ! ein Freund ist Feind geworden, Seine Maske kenn' idi schon; Jener wollte mich ermorden, N u n entdeckt schleicht er davon. A d i wie gern in jeder Richtung Flöh' ich zu der Welt hinaus; Doch von drüben droht Vernichtung, H ä l t mich zwischen Dunst und Graus.
(169)
Auf den ersten Blick scheinen beide Gestalten sich in ihrem Auftreten zu gleichen. Beide umreißen in nuce ihr Wesen, beide Male geschieht dies in einem Zwischenzustand zwischen dramatisch-dargestellter und episch-beschreibender Form. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß der Monolog der ,Furcht' Keimzelle eines kleinen Dramas ist, oder zumindest sein könnte, derjenige der Klotho dagegen nicht. In der Tat handelt es sich bei der ,Furcht' nicht um eine Wesensbeschreibung im strengen Sinne des Wortes, sondern um die Beschwörung verschiedener Kleinvorgänge, in denen Furcht sich exemplarisch ausdrückt. Die Begriffsweite eines psychologischen Begriffes wie der ,Furcht' erlaubt es, einzelne Vorgänge zu beschwören, die Furcht einzuflößen vermögen. Der Begriff kann dabei, wie es in unserem Fall geschieht, fragmentarisch-andeutend evoziert werden, wobei es zu einer Reihung typischer Schreckensvorstellungen kommt, er kann aber auch als Einzelvorgang nach Belieben ausgesponnen werden, so daß wir plötzlich einen kleinen Schauerroman zu hören bekommen. Auf diese Weise würde die ,Furcht' zu einer Art Rhapsodin, die hinter ihrer Geschichte ganz verschwindet, die zwar den Zustand der Furcht verbreitet, jedoch nicht mehr auf den Begriff Furcht reflektiert. Hinter der vollen Repräsentanz eines Begriffs verschwindet dieser in seiner begrifflichen Ausdrücklichkeit. Genau das gleiche geschieht später bei Helena mit dem Begriff der Schönheit. Die volle Gegenwärtigkeit der Idee im Symbol verdrängt die ausdrückliche Nennung des Schönheitsbegriffes, oder überläßt diese Funktion denen, die an der Schönheit selbst nicht oder nur teilweise partizipieren, deren Kraft nicht zur vollen Repräsen58
tation ausreicht. Helena jedoch i s t die Schönheit. Als solche assimiliert sie sich jeden Stoff, auch den ihrem Begriff im Grunde fremden, und verwandelt ihn in Schönheit. Einen Ansatz hiezu haben wir audi bei der ,Furcht'. Auch hier fällt bezeichnenderweise der Terminus .Furcht' selbst nicht, sondern wird erst nachträglich durch eine andere Gestalt ins Spiel gebracht. Dennoch ist der begriffliche Kern der .Furcht' noch nicht so aufgelöst wie bei Helena: die Evokation einzelner exemplarischer Bilder, die sehr schnell wechseln und sich nirgends zu einer Handlung ausweiten, suggeriert nodi eindeutiger einen expliziten Begriff, als dies bei Helena der Fall ist, deren Schönheitsbegriff — wiewohl audi er unmittelbar ausgesprochen wird — in einer Handlung .aufgehoben' ist. In der Gestalt der .Sorge' haben wir nun zum ersten Male einen psychologischen Begriff, der als echte Repräsentation vorgeführt wird und als solcher eine Weiterführung der Tendenz, die wir bei der ,Furcht' beobachten konnten, bedeutet. Hier bleibt es zum ersten Male nicht bei einer Definition oder definitorisdier Beschreibung eines abstrakten Begriffs, sondern dieser wird, wenn auch nur in einer einzigen Szene, als relativ vollwertige dramatische Person behandelt. Dies rührt daher, daß die Begegnung Fausts mit der .Sorge' im Grunde eine Begegnung mit sich selbst im Zeichen der Sorge ist. Ob diese als selbständige Person oder nur als Personifikation von Fausts sorgenvoller Stimmung aufzufassen ist, bleibt dabei in der Schwebe. Rein äußerlidi handelt es sich um einen Dialog zweier getrennter Personen, dodi ist dieser Dialog wiederum nur dadurch möglich, daß die ,Sorge' im Grunde nur Fausts eigene Gedanken wiedergibt, es sich also sozusagen um einen Monolog zu zweien handelt. Dadurch kommen die fließenden Übergänge bei der gegenseitigen Ablösung der beiden Dialogpartner zustande, aber audi der Eindruck, daß es sich bei diesem Dialog um ein Für und Wider, ein Auf und Ab in Faust selbst handelt, bei dem die ,Sorge' jeweils den negativen, nach unten ziehenden, nichtfaustischen Dialogpart übernimmt. So erweist sich die ,Sorge' als vorzügliche Dialogpartnerin, jedoch nicht dadurch, daß sie für Faust ein edites dramatisches Gegenüber ist, sondern dadurch, daß sie, Inkarnation von Fausts sorgenvoller Stimmung, immer mit ihrem ,Geleier' einsetzt, sobald in diesem die positiven Kräfte einen Augenblick erschlaffen. Das monologische Hin und Her garantiert als Thesis und Antithesis eine relativ lückenlose Kontinuität. Freilich ist es eben die Kontinuität eines Monologs, nicht diejenige einer dramatischen Situation. Und hier zeigt sich nun wiederum, daß die Weite eines Begriffs entscheidend für das Maß an Funktionalität ist, das er zu verwirklichen vermag. Grundsätzlich läßt sich, wie das Beispiel Heideggers zeigt, auf Grund der Weite des Begriffs 59 5
Streicher, Faust
Sorge alles darunter betrachten. Die ,Sorge' hat also unendliche Möglichkeiten, ihre ,schlechte Litanei' ad infinitum auszudehnen: Wen idi einmal mir besitze Dem ist alle Welt nidits nütze; Ewiges Düstre steigt herunter, Sonne geht nicht auf nodi unter, Bei vollkommnen äußern Sinnen Wohnen Finsternisse drinnen, Und er weiß von allen Schätzen Sidi nicht in Besitz zu setzen. Glück und Unglück wird zur Grille, Er verhungert in der Fülle. Sei es Wonne, sei es Plage, Schiebt er's zu dem andern Tage, Ist der Zukunft nur gegenwärtig, Und so wird er niemals fertig. (345)
Das Kompositionsprinzip dieses Monologs ist demjenigen, dem wir bei der ,Furcht' begegnet sind, ziemlich ähnlich: assoziative Aneinanderreihung von Bildern, hier audi von Sentenzen und psychologischen Gemeinplätzen zum Zweck der Selbstdarstellung der ,Sorge'. Bei aller Ähnlichkeit war jedoch das Auftreten der ,Furcht' noch stärker auf Selbstbeschreibung und -Identifikation ausgerichtet; bei der ,Sorge' ist alles schon viel mehr bloßer Tonfall, Sorgentonfall, dem Faust seinen Fausttonfall entgegensetzt. Freilich bedarf audi die Trägerin eines Tonfalls der Identifikation. Das elementare „Ich heiße die Sorge" (343) zeigt jedoch, daß die Identifikation hier eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Sie dient nur als Basis, auf der die Rhetorik der ,Sorge' eine Zuständlichkeit schafft, die, wie jede Zuständlichkeit, im Grunde statiseli ist, mehr in sich kreist als die Handlung vorantreibt. Die Wendung ins Zuständliche, die mit der Darstellung eines abstrakten psychologischen Begriffs anstelle einer bloßen Definition gegeben ist, schafft zwar gegenüber der bloßen Definition ein größeres Maß an Funktionalität, doch bleibt dieses noch immer relativ beschränkt. Als Ganzes soll die Szene jedoch nicht zu sehr aufs Zuständliche festgelegt werden. Vielmehr finden sich in ihr auch wirklich dramatische Motive. Schon die elementaren, rasch aufeinanderfolgenden Selbstdefinitionen der ,grauen Weiber' zu Beginn der Szene enthalten ein gewisses dramatisches Moment: Erste. Zweite. Dritte. Vierte.
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Idi heiße der Mangel. Idi heiße die Schuld. Ich heiße die Sorge. Ich heiße die Not. (343)
Auch das Erscheinen der .Sorge' bei Faust und die Art und Weise, sich erkennen zu geben, enthält ein dramatisches Moment: Faust. Sorge. Faust. Sorge. Faust. Sorge. Faust,
Ist jemand hier? Die Frage fordert Ja! Und du, wer bist denn du? Bin einmal da! Entferne dich! Ich bin am rechten Ort. (erst ergrimmt, dann besänftigt, für sich) Nimm dich in acht und sprich kein Zauberwort.
(344)
Aber erst die folgende ,Litanei' der ,Sorge' führt zu deren voller Erkenntnis für Faust: Würde mich kein Ohr vernehmen, Müßt* es dodi im Herzen dröhnen; In verwandelter Gestalt Üb' idi grimmige Gewalt. Auf den Pfaden, auf der Welle, Ewig ängstlicher Geselle, Stets gefunden, nie gesucht, So geschmeichelt wie geflucht. — Hast du die Sorge nie gekannt? (344)
Diese rhetorische Frage, mit der sich die ,Sorge' Faust zu erkennen gibt, führt nun aber nicht, wie es in dramatischem Stil natürlich wäre, zum Erschrecken oder zumindest zu einer unmittelbaren Reaktion Fausts. Faust beginnt vielmehr, als hätte er von der ,Sorge' eine gleichsam platonische Urkenntnis, der .Sorge' gegenüber seine eigene Existenz und Vergangenheit zu rechtfertigen. Dies deutet wieder darauf hin, daß die .Sorge' als Personifikation von Fausts sorgenvoller Stimmung zu verstehen ist, deren Bewußtwerdung sich in ihm langsam, aber hartnäckig vollzieht und die, nachdem sie einmal durchgebrochen ist, als Personifizierte nicht mehr die Überraschung einer plötzlich auftauchenden, echten dramatischen Person auszulösen vermag. Indessen widerspricht dieser psychologischen Interpretation der große dramatische Schlußeffekt dieser Szene, auf den alles hinausläuft: die Erblindung Fausts, ein Werk der ,Sorge', das dadurch zustande kommt, daß sie Faust anhaucht. Hier haben wir erneut einen Akt rein postulierter Psychologie, denn dieser Vorgang läßt sich mit dem Wesen der ,Sorge', sei diese als selbständige Gestalt, sei sie als personifizierte Projektion von Fausts psychischer Nachtseite zu verstehen, in keiner Weise in Einklang bringen. Es handelt sich einfach um einen dramatischen Effekt, der zwar für Faust einen neuen Schritt in seiner Entwicklung bedeutet, bei dem es jedoch nicht darauf ankommt, 61 5»
weldie Person und aus welchen psychologischen Motiven sie ihn hervorbringt. Dieses Beispiel zeigt, wie leicht Goethe die in der Begrifflichkeit eines psychologischen Abstraktums angelegten Möglichkeiten überspielt, wie er es in Situationen hineinführt, die ihm als Abstraktum im Grunde gar nicht entsprechen, und wie es gerade dadurch dramatisch wird. b)
Allegorien
Eine kurze Bestimmung der Allegorie, die die Analyse verschiedener allegorischer Gestalten einführen soll, möge den Untersdiied zwischen reinen Begriffen und Allegorien kurz verdeutlichen. Die Allegorie ist ein Bildbegriff, sie „verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei". 9 Diese zwei Dimensionen der Allegorie, die Begriffs- und Bilddimension, machen die Allegorie im dramatischen Stil, ja letztlich in jeder auf der Entwicklung einer Handlung basierenden literarischen Stilart problematisch. Denn in dem Maße wie sich eine Allegorie in ein Geschehen stürzt, ein Geschehen, an dem sie in ihrer äußeren, metaphorischbildhaften Erscheinung teilhat, nimmt das Bildhafte eine eigene, durchaus realistische Konsequenz an, die mit der begrifflichen Entwicklung nie voll zur Deckung zu bringen ist. Da der begriffliche Hintergrund jedoch keineswegs gänzlich verloren geht, kommt es zu einer Mischung rein äußerlicher und begrifflich-sinnbildhafter Vorgänge, wofür Plutus und der Knaben Lenker, später noch Euphorion als Paradigmen dienen mögen. Diese Mischung unter unseren Kategorien zu betrachten, soll die Aufgabe sein, die wir uns bei der Betrachtung der drei genannten Gestalten zu stellen haben. Plutus ist Allegorie der Fülle, des Reichtums; der Knabe Lenker eine Modifikation hiervon: Poesie als Verschwendung, als Reichtum der Seele. Diese Abstrakta finden zunächst in der äußeren Erscheinung der beiden Gestalten eine bildhaft-gleichnishafte Konkretion. Doch schon hier — um wieviel mehr, wenn sich ihre ,Psychologie' in der Aktion äußert — liegen sich Begriff und bildhaft-gleichnishafte Darstellung nicht so nah, daß im Bild der dahinterliegende Begriff unmittelbar gegenwärtig würde. Vielmehr versagt der Herold, Interpret der einzelnen Nummern der .Mummenschanz', dieses Mal bei der Vorstellung und Identifikation seiner Attraktionen: a
J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen. In : Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 12. 3. Aufl. 1958. S. 471.
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Knabe Lenker. Herold, auf! nach deiner Weise, Ehe wir von euch entfliehen, Uns zu schildern, uns zu nennen; Denn wir sind Allegorien, Und so solltest du uns kennen. Herold. Wüßte nicht, dich zu benennen; Eher könnt' idi didi beschreiben . . .
(172)
Schließlich ist es die Poesie selbst, die ihre allegorische Verschlüsselung auflöst: Knabe Lenker. Bin die Verschwendung, bin die Poesie; Bin der Poet, der sich vollendet, Wenn er sein eigenst Gut verschwendet.
(173)
Erst hier zeigt sich, daß die äußere Erscheinung des Knaben Lenker bildhaft-allegorischer Ausdruck der Poesie war. Freilich ist diese Erscheinung im Hinblick auf den Begriff der Poesie relativ zufällig. D a ß sie bei Goethe den Glanz des Erotischen in all seiner Ausstrahlung annimmt, darf uns nicht wundern. Im Grunde antwortet der Herold auf die A u f forderung des Knaben Lenker, ihn zu beschreiben, mit Komplimenten, die eigentlich kaum der Erscheinung der Poesie, wenn diese überhaupt verkörpert werden kann, gelten: Herold.
Man muß gestehn: Erstlich bist du jung und schön, Halbwüchsiger Knabe bist du; doch die Frauen, Sie möchten dich ganz ausgewachsen schauen. Du scheinest mir ein künftiger Sponsierer, Recht so von Haus aus ein Verführer. Knabe Lenker. Das läßt sich hören! fahre fort, Erfinde dir des Rätsels heitres Wort. Herold. Der Augen schwarzer Blitz, die Nacht der Locken, Erheitert von juwelnem Band! Und welch ein zierlidies Gewand Fließt dir von Schultern zu den Socken, Mit Purpursaum und Glitzertand! Man könnte didi ein Mäddien schelten; Doch würdest du, zu Wohl und Weh, Audi jetzo schon bei Mädchen gelten, Sie lehren didi das ABC. (172-173)
In der Köstlichkeit der knabenhaft-anziehenden Erscheinung drückt sich die Schönheit der Poesie allegorisch aus. Freilich ist dabei nicht jedes Einzelbild allegorisch zu verstehen, sondern nur die Erscheinung des Knaben Lenker in ihrer Gesamtheit. Sie setzt sich aus einzelnen, additiv aneinandergereihten Bildern zusammen, die als Bildfolge jenes Ideal kna63
benhafter Schönheit ergeben, das Allegorie der Poesie zu sein vermag. Die Bildfolge selbst ist durchaus ,offen' und nach Belieben erweiterbar; sie ist keineswegs begrifflich durchkonstruiert; das Einzelbild hat keinen genau bestimmbaren begrifflichen Wert, sondern, als durchaus realistisches, nur die Funktion, zusammen mit anderen Bildern des Schöne zu beschwören. Mit dieser .Offenheit' ist jedoch gegenüber der strengen Konzentration auf das Begriffliche im Bild keineswegs ein höheres Maß an Funktionalität vorhanden, da hier ja nur Bilder gereiht und keineswegs Handlungen in Szene gesetzt werden. Dasselbe gilt von der Beschreibung des Plutus, des Geistesverwandten der Poesie: Knabe Lenker. Und dieser, der als Prachtgebilde Hier auf dem Wagenthrone prangt? Herold. Er sdieint ein König reich und milde, Wohl dem, der seine Gunst erlangt! Er hat nichts weiter zu erstreben, Wo 's irgend fehlte, späht sein Blick, Und seine reine Lust zu geben, Ist größer als Besitz und Glück. Knabe Lenker. Hiebei darfst du nicht stehen bleiben, Du mußt ihn recht genau beschreiben. Herold. Das Würdige beschreibt sich nicht. Doch das gesunde Mondgesicht, Ein voller Mund, erblühte Wangen, Die unterm Schmuck des Turbans prangen; Im Faltenkleid ein reidi Behagen! Was soll ich von dem Anstand sagen? Als Herrscher sdieint er mir bekannt. Knabe Lenker. Plutus, des Reichtums Gott genannt! Derselbe kommt in Prunk daher. Der hohe Kaiser wünscht ihn sehr. (173)
Auch hier ist die äußere Erscheinung wiederum Allegorie des dahinterliegenden Begriffs. Man kann sich freilich fragen, ob es sich dabei — und das gleiche gilt auch für die Erscheinung des Knaben Lenker — nicht einfach um die bloße Personifikation eines Begriffs handelt, ob die äußere Gestalt der betreffenden Person nicht einfach unmittelbarer Ausdruck dieses Begriffs ist. Dennoch scheint uns, daß die äußere Gestalt beider Personen das Begriffliche in allegorisch-verschlüsselter Form darstellt. Sie ist Gleichnis, nidit bloß unmittelbare, ,ins Fleisch gewendete' Verdeutlichung eines Begriffs. Daß Plutus und der Knabe Lenker erst durch ihre äußere Erscheinung hindurch entschlüsselt werden müssen, scheint sie unserer Ansicht nach eindeutig als Allegorien auszuweisen. Bei der reinen Beschreibung der äußeren Erscheinung war das Verhältnis von Begriff und Bild bei Plutus und dem Knaben Lenker jeweils das 64
gleiche. Beidesmal reihte sich Bild an Bild, um dem dahinterliegenden Begriff metaphorisch-verkörperlicht Ausdruck zu verleihen. Dies ändert sich, sobald die Personen in Aktion treten. Im Gegensatz zu Plutus bleibt der Knabe Lenker audi hier seinem Begriff treu: sein zentrales Motiv ist die allegorisch ins Realistisch-Prosaische umgedeutete Verteilung der Schätze, die der Dichter austeilt und die Art und Weise, wie das Publikum sie entgegennimmt. Nachdem er sein Diditertum in einem allegorischen Vorgang dargestellt hat, tritt er ab, begleitet von den mitfühlenden Worten des Plutus, der das Wirken des Dichters in der Einsamkeit preist. Plutus selbst, umdrängt von der Menge, öffnet nun seine Schatzkiste, die dieses Mal keine poetisch-illusionsfördernde, sondern magisch-verderbenbringende Schätze enthält. Wiederum kommt es zur großen Desillusion, dieses Mal jedoch in zwiefacher Weise. Zunächst ist es, analog der Szene des Knaben Lenker, die Menge, die desillusioniert wird. Doch auch der Kaiser in der Gestalt des großen Pan hat keinen ausgeprägteren Sinn für das Metaphorisch-Spielerische dieses Schätzeverteilens als die Menge. Gierig drängt er sich an das ,magische Scheingold' heran, doch entzündet sich sein Bart und alles droht in dem ausbrechenden ,Flammengaukelspiel' unterzugehen, bis Plutus eingreift und Magie und Realität wieder scheidet. Schon diese kurze Inhaltsangabe zeigt, daß Plutus aus dem Rahmen seiner BegrifFlichkeit weit herausgetreten ist. Denn es liegt ja — im Gegensatz zum Knaben Lenker, der Poesie — keineswegs im Wesen des Plutus, derartige Verfremdungseffekte zu provozieren; vielmehr will er Wohltäter der Menschheit sein, wie es ja auch in der zu Anfang gegebenen Beschreibung seiner Erscheinung zum Ausdruck kam. Die Desillusionierung ist freilich audi gar nicht eigentlich das Werk des Plutus, sondern Fausts, der sich hinter Plutus verbirgt, sich jedoch mehr und mehr von seiner Rolle zu lösen beginnt und in eigener Person und Regie die ,Mummenschanz' zu Ende führt. Immer mehr kommt in Faust der Magier zum Vorschein, immer mehr gibt er dabei dem Spiel eine gleichnishafte Bedeutung bezüglich der historischen und sozialen Situation, in der sich Kaiser und Reich befinden. Besonders im letzten Teil der ,Mummenschanz', wo der Kaiser als großer Pan selbst auftritt, wird dies eindeutig: moralisierend wird auf die Folgen hingewiesen, die allzu große und unverantwortliche Verschwendungssucht mit sich bringt. Dies geschieht nach wie vor in allegorischem Rahmen, doch bezieht sich das Allegorische nun nur noch auf die Zustände am Kaiserhof; Plutus ist dabei weitgehend entallegorisiert, wiewohl er nodi seine alte Maske trägt. Die Gestalt des Plutus zeigt also wiederum, wie leicht Goethe die Be65
grifflichkeit einer Person überspielt. Erneut haben wir ein typisches Beispiel von ,Psycho-Synthese', wobei unter diesem Begriff die Summation von Äußerungen einer Person verstanden werden soll, die kein System ergeben und aus denen auch kein .Charakter' abstrahiert werden kann. Denn Plutus-Faust hat hier wirklich keinen Charakter. Er ist reiner Maître de plaisir, der alles inszeniert, ohne mit irgend etwas identisch zu sein. So haben wir eine Allegorie, deren allegorischer Kern sich immer mehr verflüchtigt, an deren Stelle ein Maître de plaisir tritt, der mit magischen Mitteln alles nach Belieben beherrscht, wobei freilich das Magische bloßes Spiel bleibt, und daraus keineswegs der Charakter eines echten Magiers entsteht. Dieser Zwischenzustand zwischen begrifflicher Einschränkung und echter ,Offenheit' rein menschlicher Psychologie charakterisiert die Gestalt des Plutus und bestimmt das Maß an Funktionalität, das ihr zu entwickeln möglich ist. Auch in der Gestalt Euphorions mischt sich Allegorisches und Reales auf seltsame Weise. In seinen Gesprächen mit Eckermann bezeichnet Goethe Euphorion ausdrücklich als „kein menschliches, sondern nur ein allegorisches Wesen".7 „Es ist in ihm die Poesie personifiziert, die an keine Zeit, an keinen Ort und an keine Person gebunden ist." 8 Im ,Faust' selbst findet sich die Entschlüsselung und begriffliche Fixierung dieser Gestalt erst sehr spät — der größte Teil der Euphorionhandlung ist bereits vorüber — und zwar an der Stelle, wo Euphorion mit der Gewaltsamkeit, die der Form von Poesie, die er verkörpert, eigen ist, seiner tragischen Bestimmung entgegeneilt. Das sinnlose, nie zu stillende Crescendo himmelstürmender Poesie, das sich in Euphorions Drang zur Höhe, zum ,Immer-höher-Felsauf' allegorisch-verräumlicht ausdrückt, findet im Chor der gefangenen Trojanerinnen, dem Weiblich-Elementhaften, ein seliges Echo: Heilige Poesie, Himmelan steige sie! Glänze, der schönste Stern, Fern und so weiter fern! Und sie erreicht uns dodi, Immer man hört sie nodi, Vernimm sie gern. (297)
Die Wendung ins Begriffliche, die sich in der Anrufung Euphorions als ,heiliger Poesie' kundtut, unterbricht das vorangehende bildhafte und zunächst nodi nicht explizit begrifflidi bestimmte Geschehen ohne jeglichen Übergang und läßt dieses plötzlich in seiner allegorischen Bedeutung er7 8
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Johann Peter Eckermann: Gesprädie mit Goethe. S. 355-356. 1955. Eckermann, S. 356.
scheinen. Im Gegensatz zu den Gestalten des Plutus und des Knaben Lenker, wo das mehr oder minder allegorische Geschehen sich von Anfang an auf der Basis einer klar umrissenen Begrifflichkeit entwickelte, wird hier der begriffliche Kern einer Person erst nachträglich und fast beiläufig einem zunächst nodi relativ unbestimmt gleichnishaften Geschehen hinzugefügt. Der Grund hierfür liegt in der speziellen Konzeption des Poesiebegriffs, den Euphorion verkörpert. Dieser enthält, trotz der von Goethe selbst postulierten Wesensgleichheit mit dem Poesiebegriff, dem der Knabe Lenker Gestalt verleiht, eine ganz andere Nuance, eine Nuance, die mit dem Begriff der Poesie nicht eo ipso gegeben ist, und die sich erst im Laufe der Handlung eindeutig herausbildet. Während der Knabe Lenker, nachdem er im Anschluß an ein kleines Frage- und Antwortspiel seine Identität preisgegeben hat, seinem Begriff noch ein wenig allegorisch Genüge tut, ist auf Grund des speziellen Poesiebegriffs dies bei Euphorion nicht möglich. Hier bedingen sich Begriff und bildhafter Vorgang gegenseitig: der Begriff füllt sich erst im Vollzug des Geschehens, während das Geschehen erst in wechselseitigem Zusammenspiel mit dem Begriff in seiner Sinnbildlichkeit deutlich wird. Bei der Gestalt des Knaben Lenker treten Begriff und bildhaft-übertragene Verwirklichung dieses Begriffs additiv nebeneinander. Bei Euphorion haben wir hingegen eine einzige Linie, in der sich Begriffliches und Nichtbegriffliches ergänzt und aneinander klärt. Beides zusammen ermöglicht eine Deutung der Euphorionhandlung, wie sie etwa Emil Staiger im dritten Band seines Goethebuches gibt: „Das ganze Ereignis, das sich in wenig mehr als zweihundert kurzen Versen abspielt, erweist sich als Allegorie des dichterischen Genius einer Spätzeit." 9 Staiger spricht hier mit Recht von einer Allegorie eines dichterischen Genius, nicht, wie Goethe, von einer Allegorie der Dichtkunst, der ,Poesie'. Der ,dichterische Genius' ist aber letztlich überhaupt nicht zu einer Allegorie zu machen, da er nicht auf einen eindeutigen Begriff zu bringen ist, der dann in ein Bild gewendet werden könnte. Die Stadien, die Euphorion durchläuft (KindheitTanz, verschiedene Formen von Liebe, Krieg, Tod), sind durchaus .realistisch'; sie sind nur aufs äußerste typisiert und abstrahiert. Das Allegorische beschränkt sich deshalb auf die dem Gesamtgeschehen trotz allem innewohnende Irrealität (Geburt, „erhöhte Beweglichkeit",10 Gestalt, Gestaltswechsel), eine Irrealität, die der Ausdruck dafür ist, daß hier eine spezifische Form dichterischer Existenz als B e g r i f f konzipiert wurde, wobei das Wenden dieses Begriffs ins Bild zum Irrealen führt. So wenig • 10
E. Staiger, Goethe. Bd. 3. Atlantis-Verlag. Cop. 1959. S. 392. E. Staiger, Goethe, Bd. 3. S. 392.
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jedoch der ,dichterische Genius einer Spätzeit' auf einen eindeutigen Begriff zu bringen ist, so wenig ist das bildhaft-irreale Geschehen eindeutig an diesen Begriff zu binden. Hiezu kommt noch, daß Euphorion ja audi noch Sohn Fausts und Helenas ist. Durch alle diese Eigenschaften greift er über den Rahmen einer eindeutigen Allegorie weit hinaus und zeigt damit die Schwierigkeit an, Allegorien zu dramatisieren. c) Übergang
vom Begriff zum Charakter:
Mephistopheles
Alle bisher behandelten personifizierten Abstrakta und Allegorien blieben im relativ engen Rahmen ihrer Begrifflichkeit oder Bildbegrifflichkeit, die sie bald definitorisch umschrieben, bald als Zustand darstellten, bald, wie etwa der Knabe Lenker, in einem exemplarischen Vorgang sinnbildlich darstellten. Bezeichnenderweise traten sie zum größten Teil in Masken auf, spielten ihr Wesen als Spiel um Identifikation und verschwanden hiernach aus dem Geschehen. Wird eine Gestalt, wie etwa Plutus, in ihren Aktionen rein menschlich, zu einer Art Maître de plaisir, so geht das Allegorische mit seinem begrifflichen Kern verloren, die Maske bleibt zwar vorgebunden, verliert jedoch mehr und mehr ihren Bezug zu ,Psychologie' und Intentionen ihres Trägers. Daß dies nicht zu sein braucht, daß in einer Gestalt Begriffliches und rein Menschliches ineinander überzugehen vermögen, soll am Beispiel Mephistos verdeutlicht werden. Während bei Plutus dem allegorisch-abstrakten Kern eine relativ fremde Psychologie gegenübersteht — eine Psychologie, die diesem Kern nur angegliedert, nicht voll integriert werden kann — verwirklicht Mephistopheles auf rein menschliche Weise eben jene Eigenschaft, deren Begriff er zugleich ist. Das Böse als Begriff wächst allmählich ins rein menschlich Böse hinüber. Daß es überhaupt als begrifflich Böses konzipiert wurde, kann, wie bei früher behandelten psychologischen Begriffen, nur eine explizite Definition ausweisen. Doch sind wir nicht der Ansicht Schillers, der in seinem Brief vom 26. 6. 1797 an Goethe schreibt, er finde eine Schwierigkeit der Faustkonzeption darin, „daß der Teufel durch seinen Charakter, der realistisch ist, seine Existenz, die idealistisch ist" , u aufhebe. Eine solche Betrachtungsweise einer literarischen Gestalt scheint uns allzu philosophisch-abstrakt. Warum sollte nicht ,ideal' Böses und ,real' Böses sich gegenseitig durchdringen? Mephistos einmal gegebene Selbstdefinition bewirkt, daß seine ganze Strategie als Ausdruck des Bösen als Abstraktum betrachtet wird. Dennoch bleibt sein Handeln im einzelnen durchaus realistisch-unbegrifflich und er selbst, Agens dieses Handelns, 11
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Schiller an Goethe. Brief vom 26. 6.1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 350.
durchaus kein Abstraktum, sondern, als eines auf Faust und dessen Psychologie eingestelltes Verführungsagens, ein echter Charakter. Andererseits zeigt sich die ,Idealität' des Bösen wiederum dadurch, daß das ,real' Böse in sich selbst keine große psychologisch-immanente Konsequenz bildet, daß es als ,real' Böses Beispiel des ,ideal' Bösen ist und durch dieses Beispielsein auf das Prinzip, das hinter dem Einzelbösen steht, verweist. Ganz wie Faust versucht Mephistopheles, sein Prinzip in einer Fülle von Einzelbeispielen zu verwirklichen und durchzuexerzieren. Dieses Verhältnis von Prinzip und Beispiel macht, bei allem Realismus im Charakter Mephistos, dessen grundlegenden Unterschied zu Charakteren wie Richard I I I oder Jago aus. Aus diesem Grunde ist Mephistos Aktion auch nicht kontinuierlich wie diejenige eines bloß bösen Charakters, sondern setzt sich, wie diejenige Fausts, aus relativ diskontinuierlichen Einzelhandlungen zusammen, die allesamt illustrierende Modifikationen jenes einen Prinzips des Bösen sind. Die .Idealität' Mephistos bildet gewissermaßen den Rahmen, innerhalb dessen sich seine .Realität' ausbreitet. Dabei findet das Prinzip der Diskontinuität, das bisher für die großen Linien der Strategie Mephistos galt, in dessen Charakter eine Entsprechung und Verfeinerung. Wie wir bei unserer Analyse der ,Walpurgisnacht' zu zeigen versuchten, kann man im Sprunghaft-Ubergangslosen, Diskontinuierlichen die moderne, durch Goethe inaugurierte Verwirklichung des Bösen sehen. In der .Walpurgisnacht' erschien das Prinzip der Diskontinuität als Prinzip, das in der ,Totalität der Materie', in den Dingen liegt. Es findet sich jedoch audi in Psychologie und Assoziationsweise Mephistos selbst, zeigt sich als Tendenz zur Auflösung, zum Chaos, als dessen wunderlichen Sohn Mephistopheles sich selbst bezeichnet. Ironie, Verfremdung, Witz, zersetzende Reflexion in jeder Form sind seine sublimen, einer moralisch raffinierter gewordenen Welt entgegenkommenden Ausdrucksformen. Alle diese Eigenschaften sind echte Charaktereigenschaften und als solche realistisch: als verschiedene psychologische Schattierungen des ,Geistes, der stets verneint', schaffen sie Diskontinuität, entfunktionalisieren die Handlung, intendieren als letztes Ziel die Atomisierung der Welt. So ist es kein Wunder, daß sich Mephisto zugleich als ,Geist, der stets verneint' und als ,des Chaos wunderlichen Sohn' bezeichnet. Doch ist dieses Chaos, diese Heteronomie der Dinge nur das letzte Ziel satanischer Strategie und würde, da in diesem Augenblick nichts mehr zu verneinen bliebe, zugleich das Ende der Negation bedeuten. Indem diese sich, um sich nicht selbst aufzuheben, immer auf das Bestehende richtet, ist sie gezwungen, sich in dieses einzuleben, um es von innen heraus allmählidi aufzulösen. So muß
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Mephisto seine Strategie auf die Psychologie Fausts ausrichten, sie nachvollziehen, um bei jeder sich bietenden Gelegenheit dem faustischen Pathos ein wenig von jener zersetzenden Säure zuzuführen, die auf die Dauer zu seiner Auflösung führen soll. .Geist, der stets verneint' zu sein, kann also nidit bedeuten, jedem Urteil Fausts ein Gegenurteil entgegenzusetzen. Dadurch würde jeder Dialog in Kürze ins Leere führen. V e r neinen' bedeutet hier überhaupt nicht urteilen, sondern einen Zustand der Negation, der Leere zu schaffen, in den Faust allmählich hinübergezogen werden soll. Und dieses Hinüberziehen ist selbst funktionsbildend, es erfordert von Mephistopheles ein dämonisch-dienerhaftes Kleben an Wort und Geste seines Herrn, eine Form der Einfühlung, die ein vorzügliches Mittel zur Dialogführung ist. Und so dürfen alle Charaktereigenschaften Mephistos wie Witz, Reflexion, Parodie, Verfremdung nicht nur als handlungshemmende Elemente angesehen werden: sie sind zugleich Stimulantia der Dialogführung, was freilich nicht bedeutet, daß der Dialog schließlich nicht doch ins Leere führte. So erscheint unser Verhältnis von Funktionalität und Substantialität, ins Böse variiert und transponiert, als Verhältnis von Einfühlung und Rückzug, von Verführung und Loslassen, von Servilität und plötzlich ausbrechender Unverschämtheit. Die erste Begegnung zwischen Faust und Mephisto möge das bisher abstrakt Vorweggenommene nun in concreto erhärten. Grundmotiv der Begegnung ist Mephistos Versuch, sein Böses Faust auf eine ihm gemäße Art vorzutragen. Wir haben hier eine derjenigen Szenen, in denen sich Mephisto eindeutig zum Abstraktum des Bösen aufwirft. Als Antwort auf Fausts Frage nach seinem Namen öffnet Mephisto ihm sein Wesen, seine ,Idealität', sein, des Nichts, des Nachtprinzips Verhältnis zu Sein und Licht. Dodi schon die Form, in der sich Mephistopheles definiert, zeigt, daß er mit dieser Definition sich in Fausts Geist insinuieren will: Faust. N u n gut, wer bist du denn? Mephistopheles. Ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Faust. Was ist mit diesem Rätselwort gemeint? Mephistopheles. Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht; Drum besser wär's, daß nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz, das Böse nennt, Mein eigentliches Element. (47)
Mit dieser hermeneutisch ausgeworfenen ,Rätseldefinition' versucht Mephisto, Fausts geistige Neugier zu reizen; das Böse, dergestalt intellek70
tualisiert und zugleich mystifiziert, soll auf diese Weise seinen vollen, unverhüllten und später nicht mehr besonders geistvollen, sondern rein apologetisch-unmittelbaren Ausdruck vorbereiten. Dieser intellektuelle Kunstgriff macht sich bezahlt. Faust dringt in Mephisto, seine ,Rätseldefinition' näher zu interpretieren. So hat der Teufel alle Möglichkeiten, sein Prinzip in seiner größten Dichte und Intensität vorzutragen. Doch schon hier hält in ihm der Verführer dem revoltierenden Dämon die Waage: er vergißt nicht, seinem H a ß gegen Sein und Licht jenen quasi melodramatischen Unterton beizumischen, der, halb parodistisch, halb sentimental, die Aussichtslosigkeit des Bösen in seinem Kampf gegen die Ubermacht von Sein und Licht beklagt und mit dieser Klage bei Faust zugleich für sich zu werben versucht. Man sieht: Die ihrem Wesen nach funktionslose und undramatische Emanation des Nichts in einer Fülle von ,nichtenden' Metaphern wird zu einem Dialog zurechtgestutzt, der eine Verheißung auf Fortsetzung in sich trägt. Mephistos Werbung hat Erfolg. Zwar schlägt sich Faust nicht auf seine Seite, sondern stellt sein Faustisches gegen ihn, versucht ihn von seinem Wege abzuleiten. Dennoch hat sich Mephistos Taktik der Einfühlung gelohnt: die große Psychomachie kann beginnen, Mephisto wird Führer durch die ,kleine und die große Welt'. Freilich ist er dabei gezwungen, sein ,ideal' Böses mehr und mehr zu kaschieren, ja zu pervertieren, es als Diener und Buffo Fausts bis zum Ende von Fausts Tagen zurückzuhalten, um es dann, einmal im Besitz von Fausts Seele, sich zurückzugewinnen. Dieser ,Idealitätsverlust' wird schon nach dem Ausklang von Mephistos Apologie deutlich: Nachdem das Prinzip der Negation in einer dichtgefügten Bilderreihe beschworen wurde, bleibt auf der Ebene der .Idealität' nichts mehr zu sagen, und so gleitet die Begegnung ins Arabeskenhafte, Skurrile, in leeres poetisches Rankenwerk ab, das sich in aller Ernsthaftigkeit als mythischer Brauch gibt. In solchen Skurrilitäten weiß sich Mephistopheles als moderner, auf Faust weit mehr zugeschnittener Dämon als in seinen ekstatischen, für modernes Empfinden schon leicht verstaubten Augenblicken totaler Negation. Hier feiern Witz, pointiert zugespitzte Aperçus, poetisch-barocke Einfälle, schnell wechselnde Mystifikationen und Enthüllungen ihre Orgien der Leere. So wird der Drudenfuß auf Fausts Schwelle Anlaß zum ersten Dialog auf ,nichtidealistischer' Basis: das Geplänkel zwischen Faust und Mephistopheles zeigt zum ersten Male das Verhältnis der beiden Antagonisten als Charakterverhältnis: Faust als unmittelbar zupackende Herrennatur, Mephisto als reflektierte Dienerund Buffonatur, die sich jeder unmittelbaren Konfrontation mit ihrem Herrn dadurch zu entziehen weiß, daß sie jede Frage in eine Fülle von 71
Reflexionen, neuen Fragestellungen, Ausflüchten, Teil- und Scheinantworten abdrängt, zugleich im Sich-Entziehen, Entgleiten ihren Herrn jedoch nur nodi fester an sich bindet. In diesem Geplänkel haben wir ein echtes Paradigma einer .realistischen' Dialogführung mit ihrem möglichen Maß an Funktionalität oder Substantialität, ein Paradigma, das gerade deshalb so typisch ist, weil die beiden Antagonisten in ihre Auseinandersetzung noch nicht die .Totalität der Materie' einbeziehen, sondern ihren Dialoggegenstand aus sich selbst nehmen. Dies wird sich bald ändern; zugleich wird Mephisto damit jedoch mehr und mehr zum bloßen Mittler zwischen Faust und der Welt; er tritt als unmittelbarer Gegenspieler Fausts zurück und überläßt dessen Verführung der Welt selber. Wie Faust schlüpft auch er in die verschiedenen Rollen, die ihm die Welt anbietet: als Liebhaber, als Geiz, als Antiklassizist spielt er, eine Art Gegenfaust, verschiedene Rollen Faust unter eigener Flagge; als Narr, als moralisierende Häßlichkeit verzichtet er zwar auf direkte Analogie zu Faust, parodiert diesen jedoch unausdrüdklich in seiner nordischen Ernsthaftigkeit und seinem Eros zur Klassizität. Gegenfaust bedeutet dabei keineswegs Gegenspieler Fausts, sondern Entwurf eines mehr oder minder eindeutigen Gegenbilds zu Faust, was oft ohne unmittelbare Berührung oder gar Konfrontation mit diesem geschieht. Daneben bleibt es freilich seine zentrale Aufgabe, die Begegnungen Fausts mit der ,Totalität der Materie' in Szene zu setzen, jede dieser Begegnungen in einer Kaskade von Witzeleien, Pointen, Verfremdungseffekten, ironischen Aperçus und zynischen Moralitäten als ein Begegnung mit dem Nichts zu interpretieren, um Faust allmählich müde zu machen.
4. Die Welt des ,Allgemeinen' Mit dem .Allgemeinen' eröffnet sich unserer Analyse ein Gegenstand, der sich, wiewohl unausdrücklich, als Faden durch unsere Interpretation der personifizierten Begriffe und Allegorien zog, im Kapitel über Mephistopheles zeitweilig fast verlorenging und nun wiederaufgenommen und explizit thematisiert werden soll. Wenn im ,Faust' menschliche Eigenschaften und Zustände wie Furcht, Sorge, Reichtum oder Poesie zu personifizierten Begriffen oder Allegorien abstrahiert werden, so haben wir es hier mit Erscheinungen des .Allgemeinen' zu tun. Doch erschöpft sich das ,Allgemeine' nicht in solchen psychologischen Abstrakta oder Bildabstrakta. Schlüssig zu bestimmen, welche poetischen Data dem Allgemeinen' und welche dem ,Besonderen' zuzuordnen sind, ist unmöglich, da es sich hier ja nicht um ein logisches oder exaktwissenschaftliches Verhält72
nis von Gattung und Individuum — ein Verhältnis, das eindeutig zu bestimmen wäre — handelt. Dennoch läßt sich im Detail sehr wohl sagen, ob eine Gestalt, ein Vorgang ,allgemein' sind, welcher Art, ja welchen Grades dieses .Allgemeine' in einem größeren geistigen Zusammenhang ist. Grundsätzlich unterscheiden wir zwei Formen des ,Allgemeinen': ein ,mittelbar Allgemeines', das wir mit Goethe Symbol nennen, und ein »unmittelbar Allgemeines', für das uns keine weitere Bezeichnung zur Verfügung steht, zu dessen Verständnis aber sofort ein Paradigma gegeben werden soll. Ziel unserer Interpretation wird es wiederum sein, das ,Allgemeine' in seiner mehr oder minder großen Hinneigung zu Funktionalität oder Substantialität zu bestimmen. Zunächst sollen jedoch seine beiden Formen eindeutig fixiert werden. Eine genaue Trennung beider Formen ist freilich nur theoretisch möglich; in concreto gehen sie ineinander über und durchdringen sich. Wir beginnen mit dem ,unmittelbar Allgemeinen', weil es sich an unsere Analyse der personifizierten Begriffe und Allegorien lückenlos anschließt. Es genügt, den Vorgang der Abstraktion, den wir an diesen wahrnehmen konnten, audi auf andere Gestalten und die mit ihnen verbundenen Vorgänge auszudehnen. So repräsentieren etwa Philemon und Baucis, schon gekennzeichnet durch ihre im dramatischen Zusammenhang an sich sinnlose mythische Namen, die glückliche Liebe des Alters, die sich im Sturm der Zeiten bewährt hat, als Idee, Modell, exemplarische Verwirklichung oder wie immer man das,Allgemeine' nennen mag. Helenas Reaktion auf des Turmwächters Lynkeus Liebesverzauberung, das Bewußtsein ihrer erotischen Fatalität, möge zeigen, wie ein .Allgemeines', hier ein Bewußtseinszustand, sich ausdrückt. Helena. Das Übel, das ich brachte, darf ich nicht Bestrafen. Wehe mir! Welch streng Geschick Verfolgt mich, überall der Männer Busen So zu betören, daß sie weder sich Noch sonst ein Würdiges verschonten. Raubend jetzt, Verführend, fechtend, hin und her entrückend, Halbgötter, Helden, Götter, ja Dämonen, Sie führten mich im Irren her und hin. Einfach die Welt verwirrt' ich, doppelt mehr; Nun dreifach, vierfach bring' ich N o t auf Not. Entferne diesen Guten, laß ihn frei; Den Gottbetörten treffe keine Schmach. (279)
Was will nun besagen, ein Bewußtseinsiustand, hier derjenige erotischer Fatalität, stelle sich als .Allgemeines' dar. Dies bedeutet nichts weiter, als daß er einen wesenhaften, exemplarischen, durch Abstraktion und Kon73
zentration auf seinen ideellen Kern gewonnenen Ausdruck, seinen Ausdruck in nuce findet. Bewußtsein der erotischen Fatalität, zum Gegenstand eines literarischen Kunstwerkes gemacht, kann ja auch so in die Gesamtstruktur dieses Kunstwerks integriert, so ins Realistisch-Psychologische aufgelöst werden, daß er als ein der Idee nach konzipierter Bewußtseinszustand überhaupt nicht explizit aktualisiert wird, sondern lediglich theoretisch-interpretatorisch aus dem Kunstwerk abstrahiert werden kann. Helena vollzieht diesen Abstraktionsprozeß jedoch in ihrer Aussage selbst, zeichnet ihre erotische Fatalität in wenigen Strichen und wird dadurch antikes Modell, Modell überhaupt, idealer erotischer Weiblichkeit, die, mit Noblesse und ohne jedes Triumphgefühl, die Verfallenheit der Männer mit vollem Bewußtsein erkennt und, Repräsentantin klassischen Maßes, die sie zugleich ist, ohne Einschränkung und Heuchelei bedauert. Diese Modellhaftigkeit eines Bewußtseinszustandes (oder eines Vorgangs, einer Begegnung, einer Konstellation; das Bewußtsein erotischer Schicksalhaftigkeit diente ja nur als Beispiel), diese durch Abstraktion gewonnene ,Idealität', Typushaftigkeit ist jedoch nur dort zu verwirklichen, wo Abstraktion und Konzentration auf ein Wesenhaftes möglich sind, d. h. im Bereich der Erscheinungen des Geistes. Im Bereich des Sinnlich-Empirischen herrscht nur das Verhältnis von Individuum und Gattung. Während dieses eindeutig zu bestimmen ist, ist es oft schwierig, einen Bewußtseinszustand, ein psychisches Verhältnis usw. in seiner Ausprägung als ,Allgemeines', als Idee von seiner Ausprägung als besonderem' abzugrenzen, gibt es doch eine Gradualität des .Allgemeinen': der Übergang vom Bewußtsein erotischer Fatalität als einem ,Allgemeinen' zu dessen psychologisch-realistischer Analyse ist fließend. Dies bedeutet nicht, daß das ,Allgemeine' nicht eine unmittelbare Evidenz besäße, eine Evidenz, die sich nicht zuletzt dadurch ergibt, daß jede Form dichterischer Konzentration auf ein ,Allgemeines' zwangsläufig eine relativ klare Abgrenzung gegenüber anderen dichterischen Elementen (seien diese selbst wesenhaft-,allgemein' oder bloß realistisch-,besonders') mit sich bringt, eine Abgrenzung, die zu erfassen uns unsere Kategorie der Substantialität helfen soll. Die dichterischen Mittel, die zur Evidenz bringen, daß ein Bewußtseinszustand, ein psychisches Verhältnis usw. wirklich zur Idee, zum Modell werden, sind als Stilmittel im einzelnen sehr schwer zu bestimmen. Doch fühlt man sofort, wo es sich um d i e Begegnung, d i e Huldigung, wo nur um e i n e Begegnung, um e i n e Huldigung handelt. Könnte man bei den einzelnen, isoliert gedachten Vorgängen oder Zuständen noch zweifeln, ob hier ein ,Allgemeines' oder ein ,Besonderes' erscheint — da schließlich 74
auch in einem realistisch konzipierten Drama, besonders aber in einem Melodrama, eine Begegnung oder Huldigung, pathetisch übersteigert, zu einem — falsch verstandenen — ,Allgemeinen' werden könnte — so läßt der geistige Gesamtzusammenhang, in dem sich das Einzelelement befindet, an dessen Modellcharakter kaum mehr zweifeln.,Geistiger Zusammenhang' bedeutet dabei keineswegs dramatischer Funktionszusammenhang, sondern eine Art System, das zwar in eine lineare Entwicklung gebracht wurde, dessen einzelne Elemente jedoch wie die einzelnen Glieder eines philosophischen Systems zusammenhängen. In diesem philosophischen System werden die einzelnen Elemente zu Modellen; zugleich ist die Abstrahierbarkeit, Ideierbarkeit dieser Elemente jedoch Voraussetzung zur Bildung jener Form eines poetisierten Systems, das der Helenaakt ist. Beides hängt zusammen, ergänzt sich, stützt sich gegenseitig: einen isolierten Vorgang zu ideieren ist ebenso sinnlos, wie ein System aus empirischen Einzeldingen zu schaffen. Nachdem jedoch einmal ein System oder die Skizze eines Systems sich abzuzeichnen beginnt, lassen sich in dieses System auch Elemente integrieren, die selbst nicht zu einem ,Allgemeinen' stilisiert werden können, sondern die von Natur aus immer ,besonders' sind. Die körperliche Vereinigung zwischen Faust und Helena im Zenith des Helenaaktes läßt sich — als solche betrachtet — nicht zur Idee erheben; sie bleibt, wie alles Konkrete, stets individueller Einzelvorgang, isoliertes, in sich ein- und abgeschlossenes ,En soi'. Wenn sie trotzdem am ,Allgemeinen' teilhat, so deshalb, weil sie im Rahmen eines gegebenen Systems (zu dem sie selbst nichts beiträgt) durch ihre ,Besonderheit' hindurch das ,Allgemeine' aufleuchten zu lassen vermag und damit zum Symbol wird. Mit dem Symbolbegriff kommen wir zu jenen ästhetischen Schlüsselbegriffen, um die Goethe ein Leben lang gerungen hat, die er im Laufe seiner geistigen Entwicklung immer neu zu formulieren und seiner übrigen ,Philosophie' zu integrieren suchte. Eine entscheidende Verdeutlichung erfuhr er nicht çuletzt durch seine Abgrenzung zur Allegorie. Goethe versucht dabei, den Unterschied zwischen Allegorie und Symbol als Unterschied in deren Verhältnis zum ,Besonderen' und zum ,Allgemeinen' zu bestimmen. Allegorische Dichtung haben wir dann, wenn „der Dichter im Allgemeinen das Besondere sucht";12 symbolische hingegen, wenn er „im Besonderen das Allgemeine schaut". 13 Beim Allegorischen dient „das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen", 14 das Symbolische „aber ist eigentlich die Natur der Poesie",15 es „spricht ein Besonderes 12 15
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Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 471.
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Streidier, Faust
aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nur dieses Besondere lebendig erfaßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden". 16 Unsere Analyse der Allegorie stand ganz im Zeichen einer weiteren Forderung Goethes, nämlich „daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei".17 Im Unterschied zur Allegorie fehlt dem Symbol die explizite Verweisung zwischen Bild und Begriff, zwischen .Besonderem* und ,Allgemeinem*. Dennoch — und hier scheint uns, als widersprächen wir Goethe — wird das ,Besondere' erst im Rahmen eines geistigen Zusammenhangs, eines Systems, das freilich nie als explizit systematisiertes erscheint, zum Symbol. Als Paradigma eines symbolischen Vorgangs möge das Reimspiel zwischen Faust und Helena dienen. Die schöne Griechin fühlt sich durch die Reime, zu denen Lynkeus der Türmer sich hinreißen läßt, merkwürdig berührt. Sie versucht, ihre Verzauberung zu ergründen und bittet Faust, sie in das Geheimnis dieser ,Sprechart' einzuführen. Helena. Vielfache Wunder seh' ich, hör' idi an. Erstaunen trifft midi, fragen mödit' ich viel. Doch wünscht' ich Unterricht, warum die Rede Des Manns mir seltsam klang, seltsam und freundlich. Ein Ton scheint sidi dem andern zu bequemen, Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt, Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen. (282) Und nun das eigentliche Reimspiel: Helena. So sage denn, wie spredi' ich auch so sdiön? Faust. Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehn. Und wenn die Brust von Sehnsudit überfließt, Man sieht sich um und fragt — Helena. wer mitgenießt. Faust. Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, Die Gegenwart allein — Helena. ist unser Glück. Faust. Schatz ist sie, Hodigewinn, Besitz und Pfand; Bestätigung, wer gibt sie? Helena. Meine Hand. (283) usw.
Hier verwirklicht sich der Goethesche Symbolbegriff in wahrhaft idealer Weise. In einem Reimspiel, also etwas durchaus ,Besonderem' (wir betrachten hierbei nicht den Inhalt des Reimspiels, die Epiphanie des Glücks im vollendeten erotischen Gegenwärtigsein, also etwas ,Allgemeines'), leuchtet zugleich das ,Allgemeine' auf, ein ,Allgemeines', das immer .unendlich wirksam' und dabei doch unerreichbar bleibt. Doch bekommt das 19 17
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Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 471.
,Besondere' diesen, ein ,Allgemeines' zum Leuchten bringenden Wert eben erst im Zusammenhang des gesamten Faust-Helena-Komplexes, einem geistigen Zusammenhang, der, wie bereits gesagt, keineswegs mit dramatischer Entwicklung gleichzusetzen ist. Das Reimspiel wird repräsentatives Bild der Begegnung zwischen Faust und Helena und den Prinzipien und Welten, die beide vertreten. Sein reines So-Sein in seiner ,Besonderheit' hat also keineswegs Symbolwert, erst sein Für-Etwas macht es symbolisch. Dies gilt auch für die großangelegte Exposition, die Helena in Form eines Monologs von sich und ihrer Situation gibt, zeigt sie Helena unserer Ansicht nach doch deutlich als Symbol, da sich in diesem Monolog keinerlei Ansatz zu einer Thematisierung eines expliziten Schönheits- oder Klassizitätsbegriff findet. Die Bilder, die sie beschwört, lassen nichts Abstraktes aufkommen, sondern führen den klassischen Morgen in seiner Klarheit und Konturenreinheit, gebrochen im Spiegel weiblichen Helligkeitsprinzips, in aller Konkretheit vor. Diese Konkretheit manifestiert sich auch als Konkretheit der Situation, die die heimkehrende Helena erwartet. Das Schwert des Damokles hängt über dem weiblichen Idealbild der Antike und ihrem Gefolge. Doch gerade in dieser Konkretheit wird das ,Allgemeine' deutlich. Es schimmert durch die Exposition als sprachliches Medium hindurch. Durch diese Sprache wird Helena zum Symbol der Antike. Doch muß noch einmal mit aller Deutlichkeit gesagt werden, daß ihr — der Sprache — dieser Symbolcharakter nur im geistigen Gesamtzusammenhang des ,Faust' zukommt, daß nur hier sie zum Begriff klassischer Schönheit zu werden vermag. Die selbe archaische Sprache, von Aeschylos — dem sie nachgebildet ist — selbst gesprochen, beschwört in dessen Tragödien keineswegs die Antike, Frühantike als Idee. Ihr würde hier jener Für-etwas-Charakter fehlen, durch den sie im ,Faust' zur Symbolhaftigkeit aufsteigt. Die Symbolhaftigkeit, das Hindurchschimmern des .Allgemeinen' durchs ,Besondere', modifiziert zugleich den Begriff der Exposition. Diese ist, im Gegensatz zu ihrer Funktion im dramatischen Stil, nicht in erster Linie Mittel, um eine Handlung in Gang zu bringen, sondern hat ihren Zweck in sich selbst, im Vergegenwärtigen klassischer Schönheit. Die Sprache als deren Medium steht ganz unter der Kategorie der Substantialität: jedes Detail atmet sein eigenes Schönes und hat als solches teil am .allgemein' Schönen. Die ungemeine Länge der Exposition bekommt nur dadurch ästhetische Rechtfertigung, daß in ihr Helena als Repräsentantin der Klassizität sich zur Anschauung bringt. Auf die Dauer nimmt jedoch die Intensität der Symbolhaftigkeit ab, da das ,Allgemeine' sich im ,Beson77 6»
deren' längst erschöpft hat und im Gesamtzusammenhang des .Faust' als .Allgemeines' identifiziert worden ist, und alles weitere sich nach den Gesetzen der frühantik-aeschyläischen Exposition entwickelt, wobei immer das gleiche ,Allgemeine' im ,Besonderen' aufleuchtet. Man sieht: In dem Maße, wie das ,Besondere', die konkrete Exposition, in linearer, auch zeitlich linearer Handlungsimmanenz fortschreitet, in dem Maße verliert das Geschehen seinen Symbolcharakter. Das ,Allgemeine', das durch das .Besondere' hindurchwirkt, vermag die immanente Entwicklung des ,Besonderen' nicht in gleichbleibender Intensität zu begleiten: je echter die Symbolik, je isolierter und damit funktionshemmender das ,Besondere', in dem das .Allgemeine' aufzuleuchten vermag. Dies gilt nicht nur vom Symbolischen als dem .mittelbar Allgemeinen', sondern noch mehr vom .unmittelbar Allgemeinen'. Während ersteres die lineare Entwicklung einer Handlung nicht grundsätzlich ausschließt, diese als Ganzes, wenn audi in immer abgeschwächterer Form, Repräsentanz klassisdien Schönheitsbegriffs zu bleiben vermag, vollzieht sich die Erhebung Helenas zum expliziten Schönheitsbegriff durch den Chor der gefangenen Trojanerinnen als statisches hic et nunc. Anstelle des rhapsodischen Wiedererwekkens der Vergangenheit in Helenas Monolog, einer Vergangenheit, die zeitlich fortschreitet, tritt die volle, stillstehende Gegenwart des Rühmens im Zeichen der unmittelbaren Evokation des Schönheitsbegriffs als eines .Allgemeinen'. Zugleich spricht sich in diesem Rühmen auch das Verhältnis von weiblich-kreatürlicher, amorpher Schönheit zur klassisch-idealen, völlig humanisierten Schönheit Helenas in exemplarisch-,allgemeiner' Weise aus. Dodi verliert sich diese ,Allgemeinheit' des Verhältnisses immer mehr, wird mehr und mehr zum bloßen Charakterverhältnis, wenngleich sich eine gewisse Typushaftigkeit bis zum Ende des Helenaaktes hält. Diese Wandlung beginnt in d e m Augenblick, wo die primär auf Repräsentation des antiken Schönheitsbegriffes ausgerichtete Exposition in die Schürzung des dramatischen Knotens übergeht. Im Angesicht der drohenden Gefahr wird Helena mehr und mehr zum Charakter: Noblesse, Todesbereitschaft, Furchtlosigkeit, klassischer Gleichmut, ja ein gewisser Fatalismus treten an Stelle des reinen Schönheitsbegriffes und modifizieren ihn. Alle diese Eigenschaften sind jedoch nicht mehr symbolisch, sondern treten in aller Unmittelbarkeit in Erscheinung, sind jedoch ihrerseits zu Wesenheiten stilisiert. Der neue Charakter Helenas macht sich auch im Dialog mit dem Chor der gefangenen Trojanerinnen bemerkbar: dieser tritt aus dem Rahmen handlungsfremden Rühmens heraus und nimmt teil am dramatischen Gesdiehen. Psychische Unterstützung Helenas in der Gefahr, eigene Todesfurcht, Erinnerungen an vergangene Zeiten, 78
beschworen in einem Chorlied, um das Handlungsvakuum während der Abwesenheit Helenas zu überbrücken, sind seine wesentlichen Aktionsweisen als dramatische Kollektivperson. Auf diese Weise wird das Geschehen funktionalisiert, zugleich schwächt sich jedoch das philosophische Verhältnis zwischen Helena und dem Chor der gefangenen Trojanerinnen mehr und mehr ab. Die folgende Beschreibung der Phorkyas durch Helena ist wiederum in hohem Grade ein ,Allgemeines', ja im Grunde ein bloß Begriffliches. Die Summation quasi idealtypischer Bilder des Häßlichen ergibt einen Häßlichkeitsbegriff, der in seinem Maß an Funktionalität nicht über früher behandelte abstrakte Begriffe (etwa die ,Furcht') hinausgeht. Mit dem Erscheinen der Phorkyas geht jedoch die substantielle' Beschreibung des Häßlichkeitsprinzips allmählich in eine gewisse Form dramatischer Aktion über. Zunächst geschieht dies dadurch, daß sich das Häßlichkeitsprinzip mit dem Moralprinzip zu einem einheitlichen Komplex zusammenschließt, der zwar auch noch im Rahmen des ,Allgemeinen' bleibt, in dem sich aber die moralisierende Komponente, mit Mephistopheles im Hintergrund, immer mehr durchsetzt. Dieser, der sich hinter der Maske der Phorkyas verbirgt, erträgt es auf die Dauer kaum, nur Repräsentant des Häßlichkeitsprinzips zu bleiben. „Er bleibt der Geist, der stets verneint." 18 Als soldier greift er über die Beschränkungen, die einer Existenz als Typus auferlegt sind, weiter als Helena und der Chor hinaus, obwohl auch diese, besonders Helena, sich vermenschlichen. Der Übergang vom Häßlichkeitsund Moralitätsprinzip zum Diener Fausts in Mephistopheles-Phorkyas vollzieht sich jedoch erst später. Zunächst bleibt noch alles im Rahmen philosophisch-,substantieller' Konfrontation. Die ,Idealität' dieser Konfrontation läßt sich deshalb so rein verwirklichen, weil Phorkyas (bei der wir nun die Maske als solche, ohne Mephistopheles als ihren Träger, zu Wort kommen lassen wollen) noch nicht Helena selbst, sondern dem Chor der gefangenen Trojanerinnen gegenübertritt, der zu ihr einen philosophischen, begrifflich leicht zu bestimmenden Kontrapunkt bietet. Auf der einen Seite kreatürliche, moralfreie weibliche Schönheit, auf der anderen Seite moralisierende Häßlichkeit, dieses antithetische Verhältnis ist leicht zu bestimmen, und so ist es kein Wunder, daß Phorkyas beide Prinzipien in expliziter Begrifilichkeit einander gegenüberstellt. Die Unvermitteltheit der Antithese macht das Verhältnis beider Prinzipien statisch. Die Paraphrasierung, die der expliziten begrifflichen Formulierung dieser Prinzipien und ihres gegenseitigen Verhältnisses durch Phor18
E. Staiger, Goethe. Bd. 3. S. 367.
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kyas folgt, intensiviert diese Prinzipien nur, bringt sie durch immer neue Metaphern zum Glühen, variiert jedoch ihren begrifflichen Kern nicht, nodi treibt sie die Handlung vorwärts. So gehorcht der Haß, mit dem sich Phorkyas und der Chor der gefangenen Trojanerinnen verfolgen, ganz und gar unserer Kategorie der Substantialität: er findet in der Handlung weder eine Motivation noch dient er als dramatisches Agens. Zu Helena steht Phorkyas in einem viel komplizierteren Verhältnis als zu der kreatürlichen Weiblichkeit des Chors. Die stärkere Entwicklung des Personseins in Helena ruft eine andere Phorkyas auf den Plan, eine Phorkyas, die nicht mehr nur als Idee moralisierender Häßlichkeit gegen die Schönheit eifert, sondern, mephistophelisch, sich der Schönheit anpaßt, um sie so zu entsubstantialisieren, sich selber zu entfremden. „In einem atemberaubend sich steigernden Dialog, dessen wirkliche Form gerade nicht ein dualistisches Prinzip, sondern ein gleichstimmig die Partner aufeinander einstellendes, ihre Gedanken aufgreifendes und fortführendes Formgesetz d a r s t e l l t . . . rollt phantasmagorisch kaleidoskopartig" 1 9 Helenas Vergangenheit ab. Dennoch enthält der Dialog, wenn auch nicht explizit, das ganze Böse der Phorkyas (oder hier besser Mephistos). Im Zeichen des Bösen läßt sie die ganze Galerie von Helenas Liebhabern, Theseus, Aphidnus, Patroklus, Menelaos und Paris in deren Geist vorübergleiten, die sich dort zur Idee männlich-erotischen Begehrens verdichten, unter dessen Einwirkung sich Helena selbst in der Erinnerung zur Idee, zum Idol, zum mythischen Urbild der ,großen Hure' wird. So gelingt es Phorkyas, das ,Allgemeine' zunächst mittelbar-unbewußt, in Helena wieder zu intensivieren, was damit endet, daß deren ,Idolcharakter' sich aus den einzelnen vorgestellten erotischen Begegnungen herauszudestillieren beginnt und schließlich Helena selbst bewußt wird. Der Vorgang ist in hohem Grade ,allgemein' und infolgedessen in sich abgeschlossen: die Beziehung Helena-Böses-Bewußtmachen und Bewußtwerden des Idolcharakters und damit Schwächung des Schönheitsbegriffs läßt sich philosophisch systematisieren und auf einen Nenner bringen. Nach Helenas kleinem Schwächeanfall tritt Phorkyas als philosophische Opponentin mehr und mehr zurück, Mephistopheles kommt immer deutlicher zum Vorschein, wird Mittler zwischen Faust und Helena, Inszenator und Verbinder einzelner symbolischer oder .unmittelbar allgemeiner' Vorgänge, selbst aber immer weniger Typus. J a , seine Mittlertätigkeit zeigt deutlich folgendes Gesetz: je philosophischer gewisse Handlungsmomente, "
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Wilhelm Emridi: Die Symbolik von Faust II. 1957. S. 315.
gewisse Konstellationen zwischen Personen sind, desto künstlicher, desto anorganischer ist der Handlungsfaden, der sie zusammenhält. Das ,Allgemeine', das als Symbol oder Unmittelbares erscheint, läßt keine kontinuierliche Verbindung zwischen seinen einzelnen Verwirklichungen aufkommen: damit die philosophische Begegnung zwischen Faust und Helena Zustandekommen kann, bedarf es Partien, die größtenteils nichts Philosophisches haben, die jedoch auch dramatisch nicht befriedigen können. Denn: Der Diskontinuität der symbolischen oder ,unmittelbar allgemeinen'Vorgänge entspricht die Diskontinuität des Dramatisch-Realistischen: erstere unterbrechen jeden Ansatz zur dramatisch-immanenten Entwicklung realen Geschehens und reduzieren dieses weitgehend zum bloßen Bindeglied zwischen den einzelnen Manifestationen des ,Allgemeinen*. Alle symbolischen und ,unmittelbar allgemeinen' Elemente zeichnet eine gewisse Tendenz zur Abgrenzung gegenüber anderen Elementen, eine gewisse Selbstisolierungstendenz aus, ganz besonders dann, wenn sie von lauter realistischen Elementen umgeben sind. Etwas geringer ist die Isolationstendenz dann, wenn das ,Allgemeine' selbst eine gewisse Konsequenz in sich entwickelt, wenn die einzelnen Elemente eines philosophischen Systems sich schnell folgen und nicht permanent durch andere Elemente unterbrochen werden. So bringt die Begegnung Fausts mit Helena eine ununterbrochene Reihe symbolischer oder »unmittelbar allgemeiner' Vorgänge hervor: alles ist exemplarisch, alles zeigt an, daß sich hier in idealer Männlichkeit und Weiblichkeit zugleich zwei Welten begegnen und für Augenblicke durchdringen. Da die einzelnen Vorgänge als Variationen des einen Zeritralmotivs, der Begegnung von antikem und deutsch-mittelalterlichem Geist, inhaltlich nahe beieinanderliegen, gehen sie leicht ineinander über. Dennoch hat jedes Einzelmotiv sein Exemplarisches, wodurch es sich vom vorangehenden und nachfolgenden Motiv abgrenzt. Mit großem Geschick vermeidet es Goethe, Faust und Helena bei ihrer Begegnung gleich zu Beginn allzusehr auf sich selbst zu konzentrieren. Vielmehr zeigt sich der Einbruch antiker Schönheit ins .Barbarische' zunächst an einem erotisch widerstandslosen Jüngling, dem Turmwächter Lynkeus, den Helenas Anblick bei ihrem Herannahen in solche Liebestrunkenheit versetzte, daß er darüber seine Pflicht, sie zu melden, vergißt. Faust führt ihn gefesselt vor das Angesicht der schönsten Frau, der es obliegt, ihm sein Versagen zu verzeihen. Bereits in dieser Episode, die die eigentliche Begegnung zwischen Faust und Helena vorbereitet, zeigen sich Züge einer ,allgemeinen', typushaften Konstellation, die sich leicht schematisieren läßt. Lynkeus repräsentiert das lyrisch Erotische in all sei81
ner Unmittelbarkeit, Reinheit und Hingabe. In seinem ersten Monolog drückt sich exemplarisch das Verhältnis oder besser Unverhältnis zwischen antik Schönem und germanisch Jünglingshaftem aus. Das Exemplarische läßt audi hier keine dramatische Entwicklung zu: alles bleibt lyrisch, bleibt bei aller weitschweifigen Paraphrase statisch. Helenas Reaktion auf diesen lyrischen Ausbruch ist ebenso exemplarisch; es spricht sich hier die Haltung einer Frau aus, die viel geliebt worden ist und die mit der Liebe rechnet. Sie erkennt sich, fast schmerzlich, als erotisches Fatum für die Männer — und verzeiht. Audi Faust wird mehr und mehr Idee. Nach seinem ersten, wirklich dramatischen Auftritt mit dem gefesselten Lynkeus „zur Seite", (278) wird er mehr und mehr Repräsentant beherrschter, ihrer selbst gewissen Männlichkeit, die die weibliche Schönheit und Verführungskraft mit vollem Bewußtsein als Geschenk und Gabe erkennt und sich in ihre Dienste begibt. Seine Form herrschaftlich-schlichten Dienens hat ihre vulgäre Analogie in einer weitschweifigen Huldigung des Lynkeus an Helena, der ihr sein Herz in Form einer Schatzkiste vor die Füße wirft. Beide Formen des Dienens haben in ihrem Kontrast wiederum etwas Exemplarisches: die kurzen, knapp bemessenen Worte Fausts heben sich vom jünglingshaftweitschweifigen Lyrismus des Lynkeus scharf ab und zeigen durch ihre Noblesse an, daß nun die sternenhafte Begegnung zwischen Antike und deutschem Geist, zwischen idealer Männlichkeit und idealer Weiblichkeit in ihren Zenith eintreten kann. Helena ist es, die Faust auffordert, ihr zur Seite auf dem Throne Platz zu nehmen. Als eine Art Ritual entwikkelt sich das Geschehen weiter: Faust kniet vor Helena, küßt ihre Hand und vollzieht mit ihr durch das Reimspiel im Bereich der Sprache jene symbolische Vereinigung, die als Vorstufe zur körperlichen, gleichfalls symbolischen Vereinigung anzusehen ist. Das Reimspiel wird durch Phorkyas unterbrochen, die das Herannahen von Menelaos und seinen ,Volkeswogen' ankündigt. Dodi leitet Phorkyas ihren durchaus dramatisch-realistischen Bericht durch eine Parodie des Reimspiels zwischen Faust und Helena ein, eine Parodie, die das Verhältnis des Teufels zum mystischen Sich-Gegenwärtigwerden der beiden Liebenden wiederum als ,Allgemeines' zum Ausdruck bringt. Helena.
Ich scheine mir verlebt und doch so neu; In dich verwebt, dem Unbekannten treu. Faust. Durchgrüble nicht das einzigste Geschick! Dasein ist Pflicht, und wär's ein Augenblick. Phorkyas. (heftig eintretend) Buchstabiert in Liebesfibeln,
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Tändelnd grübelt nur am Lieben, Müßig liebelt fort im Grübeln, Doch dazu ist keine Z e i t . . . Menelaos mit Volkeswogen Kommt auf euch herangezogen; Rüstet euch zu herbem Streit! (284)
Die hereinbrechende Gefahr gibt Faust die Möglichkeit, sich in die Rolle eines Beschützers antik zarter Weiblichkeit hineinzuspielen. Doch geht die Modellhaftigkeit dieses Zustandes in der konkreten Aktion weitgehend verloren: Kriegsapotheose Fausts und Auszug der nordischen Krieger zum Schutze arkadischen Glücks sind bei aller Typushaftigkeit doch in erster Linie dramatische Elemente. An die Kriegsapotheose Fausts schließt sich dessen Schilderung arkadischen Glücks an, dem schließlich, als absoluter Gipfel, die körperliche Vereinigung zwischen Faust und Helena folgt, ein Gipfel, der als zentraler Systemwert so wenig in ein Handlungskontinuum integrierbar ist, daß er sich in eine bloße Regiebemerkung („Faust und Helena werden nicht gesehen") (289) flüchten muß. Nach diesem Höhepunkt verlagert sich die Begegnung im Zeichen des Eros (mit all ihren geistigen Implikationen) zu einer Begegnung im Zeichen von Vater- und Mutterschaft. Euphorion, Kindsymbol, Symbol der Vereinigung, aber zugleich audi des Scheiterns dieser Vereinigung, reißt nun das Geschehen an sich. In dem Bild, das Phorkyas von ihm entwirft, zeigt er sich als Vereinigung zweier Welten: faustisch Drängendes wird anmutig, und antik Anmutiges wird dynamisch. Als Vereinigung zweier Welten gehört auch Euphorion der Welt des ,Allgemeinen* an; die verschiedenen Stadien, die er durchläuft (Tanz, Liebe, Krieg und Tod), sind allgemeine' Stadien. Ihre ,Allgemeinheit' läßt keine wirkliche Entwicklung einer Handlung aufkommen. Dies gilt audi für Faust und Helena, besonders nach Euphorions Tod. Die zunächst relativ realistische Psychologie besorgter Eltern wird nach Euphorions Tod wieder zur .Psychologie' von Ideenträgern, denen, abstrakte Schemen, nur noch die Trennung übrigbleibt: Helena,
(zu Faust) Ein altes Wort bewährt sich leider auch an mir: Daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint. Zerrissen ist des Lebens wie der Liebe Band; Bejammernd beide, sag' idi schmerzlich Lebewohl Und werfe midi nodi einmal in die Arme dir . . . (Sie umarmt Faust, das Körperliche verschwindet, Kleid und Schleier bleiben ihm in den Armen.) (300)
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Auch die Trennung ist Trennung par excellence, Idee der Trennung und nicht nur lyrischer Abschied zweier Liebender auf Nimmerwiedersehen. Zum Schluß unserer Analyse des ,Allgemeinen' muß nodi erwähnt werden, daß, vom Gesichtspunkt der Personenanalyse aus betrachtet, einer solchen Analyse größere Schwierigkeiten entgegenstehen als etwa derjenigen der personifizierten Allegorien und Abstrakta. Während letztere bereits durch ihren Namen in ihrer Personsubstanz zu identifizieren sind, und diese Personsubstanz sich dann durch die Aktion bestätigt (zuweilen die Aktion auch darüber hinausgreift), verwirklicht sich das ,Allgemeine' erst im Gang der Handlung, in idealtypischen Konstellationen, Verhältnissen usw. und füllt erst nachträglich seinen Träger, dessen Namen zunächst nur Hohlform ist, mit seiner philosophischen Substanz aus. Weder Helena noch Faust sind a priori Verkörperungen des ,Allgemeinen'. Sie werden es erst im Verlauf ihrer Begegnung, die, eine Art linear ausgerichtetes System, sie zu idealtypischen Repräsentanten zweier Welten macht. Abstraktion und Konzentration auf ein Wesenhaftes sind, da sie sich oft erst im konkreten poetischen Akt vollziehen, also nicht an eine apriorisch gegebene Personsubstanz gebunden. Sie können, wie das Beispiel Fausts zeigt, audi den Bereich ursprünglich rein menschlicher Psychologie in ihren Bann ziehen. 5. Die menschliche Welt Mit dem Kreis der Personen, dem wir uns nun zuwenden, tritt uns ein Problem entgegen, das in unserer bisherigen Analyse nur kurz angeschnitten wurde: das Verhältnis von möglicher und realisierter Funktionalität im Hinblick auf die Personstruktur der einzelnen Gestalten. Wir haben zu Beginn der Analyse der ,Wesenheiten der außermenschlichen Welt' (bei den Kurzdefinitionen war, da diese noch keine der verschiedenen Struktur der einzelnen Personen entsprechende Möglichkeiten der Funktionsbildung zuließen, dieses Problem noch nicht aktuell geworden) die These aufgestellt, daß aus der in der Personenbezeichnung gegebenen Personstruktur dieser Gestalten a priori kein schlüssiges Urteil über das Maß an Funktionsbildung, dessen sie fähig sind, gefällt werden kann. Dennoch war unsere Methode, dieses Maß im Detail zu bestimmen, nicht die eines reinen Aposteriori, vielmehr versuchten wir, es aus der Personstruktur der einzelnen Gestalten als etwas Gesetzmäßiges zu verstehen, was nicht zuletzt an der Übertretung dieser Gesetzmäßigkeit und den damit verbundenen größeren funktionalen Möglichkeiten leicht zu demonstrieren war. Indem etwa die ,Sorge' Faust anhaucht, damit er erblinde, 84
wird sie zwar echtes dramatisches Agens, verfügt jedoch ziemlich frei über ihre Personsubstanz, ihre ,Psychologie'. Die Grenzen zwischen dramatischen Funktionen, die eine Gestalt auf Grund ihrer Personsubstanz noch ausüben kann und solchen, wo dies nicht mehr möglich ist, sind freilich letztlich sehr schwer zu ziehen. Dennoch ist der Spielraum zwischen ,psycho-analytisch' noch möglicher und rein durch ,Psycho-Synthese' zustande gekommener Funktionalität relativ eng: ,Psycho-Analyse' bedeutete zumeist nicht viel mehr als die getreue Wiedergabe des Begriffsinhaltes einer Personsubstanz. Verlassen wir diesen Bereich, so betreten wir fast ohne Übergang den oft barocken Raum der ,Psycho-Synthese', wo Greife etymologisieren und Pygmäen Reiher morden. Das Identifikationsprinzip, werde es gedrängt und zugespitzt oder, wie bei der ,Sorge', als psychische Zuständlichkeit vorgetragen, bedarf jedoch einer Voraussetzung: eines klaren, in der Personbezeichnung a priori gegebenen Wesenskerns, von dem aus andere, sich aus einer möglichen Berührung mit anderen Gestalten ergebende Wesenszüge und Übergänge ins rein Menschliche als Uberschreitungen bestimmt werden können. Diese Voraussetzung gilt für die Gestalten der Welt des ,Allgemeinen' nur noch sehr bedingt. Wohl repräsentieren Marthe und Lieschen (Gretchens Klatschfreundin) in typisierter Form weibliche Gefühlszustände, die in einem psychologischen Begriff zusammengefaßt werden könnten. Aber weder Marthe noch Lieschen sind dieser Begriff. Ihre Psychologie ist nach Belieben erweiterbar, sie kann nach Belieben aus dem Genrehaften heraustreten und zum zentralen Thema eines literarischen Kunstwerks werden: mögliche und realisierte Funktionalität klaffen bei rein menschlichen Gestalten weit auseinander. Um in der Welt des ,Allgemeinen' noch eine gewisse Gesetzmäßigkeit zu finden, müssen wir uns dorthin wenden, wo die Abstraktion deutlicher fühlbar ist als in jenen typisierten, nach rein realistischer Psychologie hin stets ,offenen' Bewußtseinszuständen: ins Reich der geistigen Zusammenhänge, des Systems. Nicht zufällig haben wir in unserer Analyse die Welt des .Allgemeinen' an die personifizierten Begriffe angeschlossen. Zwar ist Helena (auch Homunculus wäre hier zu nennen) in ihrer Personsubstanz nicht mehr auf einen einzelnen Begriff zu bringen, doch bleiben sie und das Geschehen, das sie auslöst, bei aller Menschlichkeit in ihren Grundzügen philosophisch-begrifflicher Natur. Für rein menschliche Gestalten fällt somit das — freilich bisher auch nur mit Einschränkung geltende — Gesetzesverhältnis zwischen möglicher und realisierter Funktionalität weg. Es wird von nun an keinen Sinn mehr haben, die Ursache für die mangelnde Integration einer Person in 85
den Gang der Handlung in der Psychologie dieser Person zu sehen. Faust ist seiner Psychologie nach nicht prädestinierter, zur zentralen Figur eines Dramas zu werden, als Marthe. Daß Marthe nicht zur zentralen Figur des ,Faust' wird, hat seinen Grund in der Gesamtkomposition des ,Faust', nicht in der Psychologie Marthes. Dabei zeigt sich, daß die Gestalten der ,menschlichen Welt' an allen jenen dramatischen Einschränkungen, denen die Gestalten der anderen Welten in ihrer Psychologie zwangsläufig unterworfen sind, ebenfalls teilhaben können, ja müssen, wollen sie sich dem Wesen weniger funktionstragender Gestalten anpassen. Faust, dessen Psychologie die weitestgespannte ist, wird durch die Begegnung mit Helena zur Idee, durch die Begegnung mit der ,Sorge' zu ,Anti-Sorge', einer Art Begriff, durch Euphorion, seinen Sohn, Vater einer Allegorie. Nur bleiben die Funktionseinschränkungen, denen Begriff, Allegorie und Idee unterworfen sind, für ihn bloße Möglichkeiten, die er in der Begegnung mit diesen Gestalten ergreifen muß, die ihn aber nicht auf ewig binden. Jene sagen ihr Wesen in seiner Totalität aus, Fausts Wesen aber paßt sich ihnen als Möglichkeiten an, dringt in sie ein und assimiliert es sich. Diese Verbreiterung einer Psychologie läßt sich, freilich mit Einschränkung, an jeder menschlichen Psychologie demonstrieren. Nicht nur Faust, auch Mephisto, Gretchen, Marthe, Valentin oder Lieschen können ihre Psychologie verbreitern. Gewisse Unterschiede der Psychologie sind dabei geringfügig neben der grundsätzlichen Möglichkeit, sich in eine dramatisch-lineare Entwicklung zu integrieren und diese ihrerseits zu beeinflussen. Trotz dieser Möglichkeit unterliegen jedoch auch die rein menschlichen Gestalten des,Faust' zum allergrößten Teil, ja im Grunde alle, gewissen dramatischen Einschränkungen, deren Formen nun rein deskriptiv wiedergegeben werden sollen oder vielmehr, da die meisten bereits beschrieben wurden oder in wenigen Strichen skizziert werden können, nur kurz erwähnt werden sollen, um ihnen dann die verschiedenen Gestalten, in denen sie eine Ausprägung finden, ohne viel erläuterndes Beiwerk zuzuordnen. Hinzuzufügen wäre dabei nodi, daß diese Formen oft nur hermeneutische Bedeutung haben, daß sie ineinander übergehen, und die allermeisten Gestalten infolgedessen an verschiedenen Formen teilhaben. Wir beginnen mit dem Personenkreis, dessen dramatische Bedeutung sich im Spiel um Identifikation, das wir dieses Mal stricte sensu verstanden wissen wollen, erschöpft. Hierher gehören in erster Linie alle rein menschlichen Gestalten jener ,revueartigen' Szenen wie des ,Walpurgisnachtstraums' oder der ,Mummenschanz', Szenen, die sich aus einer Reihung spielerisch vorgetragener Selbstidentifikationen in Kurzform konstituie86
ren. Außerhalb des Spiels tendieren Gestalten mit rein menschlicher Psychologie im allgemeinen nicht zur Selbstidentifikation, vielmehr bleibt hier diese Domäne denjenigen Gestalten vorbehalten, deren Wesen nicht unmittelbar in ihrer Erscheinung aufgeht, sich mit ihr deckt, so daß sie sich erst identifizieren müssen, wie den personifizierten Begriffen oder Allegorien oder, in noch höherem Maße, den ,Wesenheiten der außermenschlichen Welt'. Die Selbstidentifikation (oder zuweilen auch Fremdidentifikation) kann jedoch so sehr in reine Repräsentation übergehen, daß nur nodi der Charakter des Spiels sie rechtfertigt. Verliert sich schließlich dieser Spielcharakter, so bekommen wir eine mehr oder minder gedrängte Darstellung einer Wesenheit, die nach einer echten Charakterdarstellung hin offen ist. Im Spiel um Identifikation wurde die Frage nach den grundsätzlichen dramatischen Möglichkeiten der einzelnen Gestalten der menschlichen Welt noch nicht aktuell. Bei weiterer Entfaltung und Differenzierung müssen diese jedoch gegliedert werden, soll ihr mögliches Maß an Funktionalität deutlich werden. So gilt etwa für die fünf Philosophen des ,Walpurgisnachtstraums' die übliche Kurzform der Identifikation, in der noch keine Differenzierung nach der Personstruktur der einzelnen Gestalten möglich ist. Anaxagoras und Thaies, ihre Kollegen, haben jedoch einen weiteren Spielraum für die Darbietung ihrer philosophischen Theorien. Wir fassen sie daher unter einer eigenen Kategorie, der Identifikation mit einer geistigen Position'. Auch sie sind jedoch nodi einer weitgehenden dramatischen Einschränkung unterworfen. Diese besteht darin, daß Thaies und Anaxagoras sich so vollständig mit ihren metaphysischen Theorien identifizieren, daß sie selbst dahinter fast verschwinden, und lediglich jenes Maß an Funktionalität zustande kommt, das sich aus der von der Psychologie ihrer Träger unabhängigen Konfrontation zweier philosophischer Standpunkte ergibt. Eine solche weitreichende Identifikation ist freilich ein Grenzfall. Andere Identifikationen mit einer geistigen Position', wie diejenige Wagners, ja Mephistos und Fausts, zeigen, daß im allgemeinen eine solche Position nicht im psychisch luftleeren Raum frei herumschwebt, sondern, soll sie audi nur ein Minimum an echter Funktionalität hervorbringen, sich vermenschlicht, sich zu einer Charakterhaltung, sei diese auch noch immer ziemlich ideologischer Natur, erweitert. Die Grenzen zwischen rein theoretisch vorgetragener Philosophie und der Vertretung philosophischer Standpunkte aus der Ganzheit einer Persönlichkeit heraus sind auch hier wiederum nicht eindeutig zu bestimmen. Ja, solche philosophischen Standpunkte können, wie das Beispiel Fausts zeigt, so vitalisiert, so inkarniert werden, daß sie 87
ihren explizit philosophischen Charakter verlieren, nur noch eine Grundrichtung geistiger Orientierung anzeigen, Spiegel werden, in dem die Welt sich reflektiert. Neben der Identifikation mit einer geistigen Position' ist es besonders die Identifikation mit einer Funktion, die eine Gestalt in ihren dramatischen Möglichkeiten einschränkt. Kaiser, Kanzler, Heermeister, Kämmerer, Narr und Page sind solche Gestalten. Für den Grad an Einschränkung gilt ähnliches wie für die ,Identifikation mit einer geistigen Position'. Da alle diese Gestalten jedoch gesellschaftlich vermittelt sind, zu einer Situation (dem Zustand, in dem sich Kaiser und Reich befinden) sprechen, haben sie etwas größere dramatische Möglichkeiten, ohne jedoch den Rahmen dramatisch aufgelockerter Darstellung ihrer Funktionen eindeutig zu sprengen. Neben der dramatischen Einschränkung, die sich aus der Identifikation mit einer ,geistigen Position' oder einer Funktion ergibt, gibt es für rein menschliche Gestalten noch eine weitere Form der ,Entdramatisierung': die ,allgemeine' Darstellung von psychischen Zuständen, Eigenschaften, Verhältnissen und Beziehungen, kurz jeder Form von psychischen Gegebenheiten, die typisiert und damit als in sich abgeschlossene Phänomene identifizierbar sind. Marthe, Philemon und Baucis, Gretchen in ihren verschiedenen erotischen Stadien, Liesdien, Valentin u. a. sind solche typisierten Gestalten. Neben der Identifikation eines Wesens k e r n e s in ihren verschiedenen Spielarten gibt es jedoch für rein menschliche Personen noch eine weitere Form funktionaler Einschränkung, nämlich jene Form aperçuhafter Kurzcharakteristik, wie wir sie etwa in der Szene ,Vor dem Tor' haben: Einige Handwerksbursdien. Warum denn dort hinaus?
Andere.
Wir gehn hinaus aufs Jägerhaus.
Die Ersten. Ein Handwerksbursdi. Zweiter. Die Zweiten. Ein Dritter. Vierter.
Wir aber wollen nach der Mühle wandern. Idi rat' euch, nach dem Wasserhof zu gehn. Der Weg dahin ist gar nicht schön. Was tust denn du? Ich gehe mit den andern. Nach Burgdorf kommt herauf, gewiß dort findet ihr Die schönsten Mädchen und das beste Bier Und Händel von der ersten Sorte. D u überlustiger Gesell, Juckt dich zum drittenmal das Fell? Ich mag nicht hin, mir graut es vor dem Orte. (32)
Fünfter.
Diese Form charakterisierenden Aperçus läßt sich, wiewohl sie sich oft der Wesensidentifikation annähert, doch zumindesten dem Begriff nach 88
von dieser als eigenständige Form abgrenzen. Denn jenen Gestalten geht es ja keineswegs um eine ausdrückliche Identifikation ihrer Wesenheit, was sich bei einem Personenkreis, dessen einzelne Glieder sich kennen und sich außerdem in nichts unterscheiden, erübrigt; sie agieren nicht auf der Ebene des Spiels, in dem man sich in wenigen treffenden Strichen kurz skizziert; sie präsentieren sich nicht einem Publikum, sondern charakterisieren sich unausdrücklich im Gespräch untereinander, wobei die einzelnen Gesprächsfetzen in ihrer Zufälligkeit Stellvertretungen, partes pro toto für eine ganze Welt sind, die in ihnen angedeutet wird. Diese Form der Stellvertretung ist nicht zu verwechseln mit echter Identifikation, die freilich auch oft bruchstückhaft bleibt, deren Bruchstücke jedoch nicht zufällige Stellvertretungen sind, sondern zentrale Eigenschaften einer Gestalt, deren echter Torso. 6. Faust Unsere Analyse der ,menschlichen Welt' stand unter der zentralen These, daß jede rein menschliche Psychologie nach Belieben funktionalisierbar und in ein funktional sich entwickelndes Geschehen integrierbar sei. Diese These soll nun im folgenden eine Einschränkung erfahren, Einschränkung freilich nicht grundsätzlicher, sondern nur gradueller Natur. Denn ohne Zweifel gibt es menschliche Bewußtseinsstrukturen, von denen a priori gesagt werden kann, daß sie als dramatische Agentia und Reagentia schwach sind, kaum über punktuelle Äußerungsformen hinauskommen und ein Geschehen allenfalls mittelbar (analog bloßen Gegenständen wie etwa Desdemonas Taschentuch) zu beeinflussen vermögen. Kinder, Paranoiker, mit irgendwelchen geistigen Absenzen behaftete Gestalten weisen solche Schwächen an Funktionalität auf. Liegen diese in einer Bewußtseinsstruktur, die die enge Hülle ihres intellektuellen Mikrokosmos nicht abstreifen kann, so weist ihr Gegenpol, jene auf einen intellektuellen und vitalen Makrokosmos ausgerichtete Bewußtseinsstruktur, diejenige Fausts, als dramatisches Agens gleichfalls Schwächen auf. Ist jene in sich selbst eingeschlossen und hat kein Bewußtsein von Freiheit und Möglichkeit, so lebt diese rein unter der Kategorie der Möglichkeit, verhält sich zu sich selbst und zu der Welt rein experimentierend und geht im Namen eines totalen Experiments über das jeweilige Einzelexperiment hinweg. Die „immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende" 20 erlaubt es Faust nicht, sich mit einer besonderen Form von Tätigkeit eindeutig 20
Eckermann, Gespräche mit Goethe, S. 471.
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zu identifizieren. Vielmehr versucht er, mit dem Licht seines Geistes die Unendlichkeit einer geistigen und vitalen Landschaft zu durchdringen. Diese Existenz unter der Kategorie der Möglichkeit hat zur Folge, daß sich das konventionelle Verhältnis von Charakter und Situation, wie es sich seit Shakespeare im neuzeitlichen Dramentypus darstellt, in entscheidender Weise modifiziert. Nicht mehr ist ein Charakter in eine Situation gestellt, mit der er sich auseinanderzusetzen hat, sondern er entwirft, provoziert eine Situation, die nicht mehr als gegeben vorausgesetzt werden kann. An Stelle des Primats der Situation tritt nun der Primat des Charakters, wobei nun freilich der Begriff des Charakters in stark modifizierter Bedeutung verstanden werden muß. Denn dieser Charakter bedeutet ja Entwurf, Entwurf verschiedener Existenzformen. Faust als Erkennender, als Liebender, als Höfling und Krieger, als Schönheitssuchender, Faust im Zustande der Langeweile, der Schuld, der Vorahnung des Todes, des letzten, orgiastisch ausbrechenden Tätigkeitsdranges, der Heiligkeit und des Erlöstseins, Faust als Allegorie und Symbol, als Raum und Zeit überspringendes Prinzip sind solche Existenzformen. Die Begegnung von Faust-Ich und Welt vollzieht sich also nicht als unmittelbare Konfrontation zwischen einem feststehenden Charakter und einer Situation, sondern durch das Medium von Existenzformen hindurch, hinter denen freilich ein einheitliches Idi steht. Der ,Materie' in ihrer Totalität entspricht die Totalität des Ichs. Dieses Verhältnis von Faust-Ich und seinen verschiedenen Entwürfen, von Prinzip und Beispiel, ist die Ursache dafür, daß es im ,Faust' nicht zu jenem konventionellen Verhältnis von Situation und Charakter kommt, auf dem jede echte funktional-immanente Entwicklung eines Geschehens beruht. Denn Immanenz bedeutet immer Immanenz der Handlung, nicht aber bloße, kontinuierlich durchgehaltene Selbstidentität eines Charakters, der sich in verschiedenen Entwürfen bestätigt. In d e m Augenblick, wo der Primat der Situation über den Charakter verschwindet, wo die Situation zur bloßen Möglichkeit wird, ist es mit der Immanenz der Situation vorbei; das Geschehen, in einer Art Exposition, die im Grunde nur eine ,Exposition' eines Charakters ist, philosophisch-programmatisdi ausgeworfen, vollzieht sich als eine Folge von Entwürfen, die, als Realisationen einer einheitlichen Intention, durch ihren Analogiecharakter zwar eine geistige, nicht aber eine dramatische Einheit aufweisen.
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II D i e Einheit der H a n d l u n g 1. Vorbemerkung Unsere Untersuchung der Personen in Goethes .Faust' ging von der Konzeption einer ,Person an sich', d. h. einer isolierten, nicht in eine funktionale Entwicklung integrierten und dieser unterworfenen Personstruktur aus. Bei editen dramatischen Gestalten hätte eine solche Konzeption — wir haben dies unserer Untersuchung ausdrücklich vorausgeschickt — nur hermeneutische Bedeutung. Charakter und Situation durchdringen sich hier so vollständig, daß sie nur theoretisch voneinander getrennt werden können. Eine solche Trennung ist jedoch eine Konstruktion und greift über die Immanenz des dramatischen Geschehens hinaus. In actu bilden beide eine so vollkommene Einheit, daß ein ,Charakter an sich' und eine .Situation an sich' nur rückblickend, aus der Gesamtbetrachtung des dramatischen Geschehens, durch Abstraktion gewonnen werden können. Selbst dort, wo die immanente Entwicklung des Geschehens durchbrochen wird, wo ein Ich sich durch Reflexion aus der Situation herausnimmt, um sich in dieser zu fixieren, ja sie erst als Situation, als Gegenüber zu bestimmen, bleibt dieses Ich der Situation verhaftet, ist punktuelles, situationsbedingtes Ich, kein absoluter, entwicklungsunabhängiger Charakter. J e lückenloser die Funktionalität eines Geschehens ist, desto weniger ist selbst ein solch punktuelles und durch die weitere Entwicklung des Geschehens wieder aufhebbares oder modifizierbares Ich möglich. Wenn wir in unserer Analyse der Personen im .Faust' trotzdem von einer ,Person an sich' ausgingen, so deshalb, weil diese hier wirklich existiert, ihre ästhetische Funktion in reiner, nur vage an einen größeren Geschehenszusammenhang gebundener Selbstdarstellung besteht. Freilich vollzieht sich auch diese oft als Vorgang, doch bleibt der Grundcharakter der in sich abgeschlossenen Selbstdarstellung erhalten: der identifizierende Vorgang weist nicht über sich hinaus. Die Handlung, oft mit ausdrücklichem Spielcharakter, ist nur eine andere Form für beschreibende Identifikation. In Plutus und dem Knaben Lenker stehen beide Formen nebeneinander. Voraussetzung dieser .Identifikation als Vorgang' ist jedoch, daß das Identifizierte einen einheitlichen, klar umrissenen Wesenskern aufweist. Sobald die .Identifikation als Vorgang' in eine Geschehensfolge übergeht, wie etwa im Helenaakt, verliert sich der Charakter der Identifikation, die ,Person an sich' löst sich in einen wandelbaren, dem Vollzug des Ge91 7
Streicher, Faust
sdiehens unterworfenen Charakter auf. Sie wird zur nachträglichen Konstruktion, auch wenn sie nicht aus einem echten dramatischen Geschehen, sondern, wie Helena, nur aus einer .allgemeinen' Geschehnisfolge abstrahiert wurde. Wie bei editen dramatischen Gestalten ist auch bei Helena keine absolute, geschehnisunabhängige ,Psychologie' vorhanden, sondern diese ist im Geschehen ,aufgehoben' und läßt sich aus diesem nur durch Abstraktion gewinnen. Die ,Psychologie' Helenas unter dem Gesichtspunkt von Substantialität und Funktionalität betrachten, heißt deshalb im Grunde bereits eine Analyse des Helenaaktes unter diesen beiden Kategorien geben. Je weiter wir uns von der reinen Selbstdarstellung der personifizierten .Materie'entfernen, desto mehr verknüpft sich die Analyse einer Person mit der Analyse der Handlung. Jene volle Einheit von Person und Situation, die allein eine funktional-immanente Entwicklung des Geschehens garantiert, haben wir im ,Faust' jedodi nur in Ansätzen: Fausts Existenz unter der Kategorie der Möglichkeit läßt eine solche Einheit nicht zu. An Stelle der Einheit der Situation tritt die Einheit des Charakters, des Entwurfcharakters, oder besser, die Einheit der Intention. Eine Analyse der Einheit der Handlung darf, soll sie sich nicht nur auf die großen Handlungslinien beschränken, jedodi nicht nur Faust, seine einzelnen Entwürfe und sein Verhältnis zur .Totalität der Materie' ins Auge fassen, sondern muß auch versuchen, die .Materie' als solche unseren Kategorien der Funktionalität und der Substantialität zu unterwerfen, um so die Möglichkeiten zur Funktionsbildung, die im Totalitätsprinzip überhaupt, d. h. in der Totalität des Ichs u n d der ,Materie' beschlossen liegen, zu erfassen. 2. Der .Prolog im Himmel' Unser Versuch, das architektonische Grundgefüge des ,Faust' aus der Begegnung eines Ichs mit der Welt, der ,Totalität der Materie' zu verstehen, geht allzusehr von der irdisdien Immanenz des Faustgeschehens aus und übersieht dabei, daß diese Immanenz immer in jenem metaphysischen Rahmen ,aufgehoben' ist, der zu Beginn des ,Faust' im ,Prolog im Himmel' dem irdischen Faustgeschehen vorgeworfen wird. Gilt demnach für den ,Prolog im Himmel' jener Charakter des Begegnens von Idi und .Totalität der Materie' noch nicht, so wird die Faustkonzeption dennoch bereits hier, wenn auch indirekt, für die Komposition der Szene konstitutiv. Freilich nodi nicht in ihrer Verwirklichung, nodi nicht in actu — dazu bedarf es Fausts — sondern als Gegenstand eines Gesprächs zwischen Gott und Mephistopheles. Daß sie dergestalt dem Faustgeschehen 92
vorausgeschickt werden kann, ist zutiefst in der Faustkonzeption selbst angelegt. Ein solches .Vorwerfen* ist Ausdruck dafür, daß diese philosophisch-begrifflicher Natur ist. Rein dramatische Motive lassen sich aus dem Geschehniszusammenhang überhaupt nicht isolieren und demgemäß auch nicht,vorwerfen'. Jedes echte dramatische Motiv ist so sehr funktionalisiert, daß ein Variieren, Vorwerfen, Wiederaufnehmen in einer anderen Konstellation absolut unmöglich ist. Ein auf diese Weise aus seinem Funktionszusammenhang herausgerissenes Motiv ist eben mit dem ursprünglichen Motiv nicht mehr identisch. Dies zeigt sich audi deutlich an der Verkürzung eines Motivs. Ein dramatisches Motiv kann im Grunde nicht verkürzt werden, da die Funktionalität des dramatischen Geschehens durch eine solche Verkürzung Brüche bekommt, Brüche, die bewirken, daß das neue Geschehen mit dem alten nicht mehr identisch ist. Nicht so bei der Faustkonzeption. Diese kann, und darin besteht eben ihre philosophisch-begriffliche Natur, in wenigen Zeilen formuliert werden; sie kann sich jedoch auch, wie in den großen Faustmonologen, zu einer ,unendlichen Melodie1 ausweiten, deren Entwicklung keine Grenzen gesetzt sind. Als philosophisches Apriori ist sie v o r aller Verwirklichung in einem bestimmten Geschehen, v o r jeder durch dieses Geschehen festgelegten Form; sie kann sich in ihrer Form jederzeit der gegebenen dramatischen Konstellation anpassen. Diese Unabhängigkeit vom dramatischen Geschehen macht es möglich, sie dem Beginn des eigentlichen Faustgeschehens vorauszuschicken, dieses auf einer metaphysischen Ebene vorzubereiten und für es jenen metaphysischen Kanon zu gewinnen, an dem es gemessen wird. Die Vorwegnahme des Faustprinzips und Faustgeschicks in der Zeitlosigkeit des Himmels erfüllt trotz der Kürze und Abstraktheit voll und ganz den Zweck einer »Exposition': sie bereitet die Begegnung Fausts mit Mephistopheles vor und bekommt so eine funktionale Bedeutung; zugleich schildert sie in nuce den Charakter Fausts, die Angriffsflächen, die er einer Psychomachie bietet, kurz, das Grundprogramm, nach dem sich das Faustgeschehen entwickeln wird. In seiner Gesamtheit zeigt der ,Prolog im Himmel' ein typisches Merkmal der Kompositionstechnik, deren sich Goethe im ,Faust' bedient: das allmähliche, gleichsam zufällige Herantasten an das zentrale, zu Entwicklung und Weiterführung bestimmte Motiv. Langsam führt die Funktionslinie von der Darstellung der Zeitlosigkeit des Himmels, verkörpert durch die Engel, über das Erscheinen Mephistos, mit dem zum ersten Male Zeit und damit Entwicklung gesetzt wird, zu Faust, zum Kampf um Fausts Seele. Dieses schrittweise Erschließen des Motivkerns ist ein häufiges Stil93 7
mittel im ,Faust', bedürfen doch hier viele Motive eigener ,Expositionen', die nur dadurch zu rechtfertigen sind, daß sie ihren Wert in sich selbst haben, daß sie dem Reich der Substantialität angehören. Freilich ist ihr Sinn in der Immanenz des Faustgeschehens ein anderer als im ,Prolog im Himmel': ergeben sie sich dort aus der Begegnung Fausts mit der,Totalität der Materie', wobei jede Begegnung, jeder Entwurf, um sich voll entfalten zu können, einführender Partien bedarf, so besteht hier ihr Sinn darin, aus der Zeitlosigkeit des Schönen und Heiligen über die Geschichtlichkeit allmählich zum Faustthema hinzuführen. Dieser Unterschied des Sinns hebt jedoch die Ähnlichkeit der formalen Kompositionsweise nicht auf. 3. Die ,methodische Grundlegung* des ,Faust* Mit der eigentlichen Fausttragödie betreten wir nun jenen geistigen Raum, in dem Idi und Welt auseinandertreten, wobei sich zugleich die Möglichkeit der Begegnung ergibt, eine Möglichkeit, die in der ungeschiedenen Einheit des Himmels noch nicht hervortreten konnte. Zunächst bleibt freilich die Welt noch am Rande des Geschehens, erscheint in der Brechung durch ein Ich, dessen Selbstanalyse und Selbstreflexion das zentrale Thema ausmachen. Wir haben in unserer Analyse des Faustcharakters von dessen ,Exposition' gesprochen und uns dabei unausdrücklich auf diese monologischen oder quasi monologischen Partien der Faustintroduktion bezogen, deren Funktion darin besteht, die geistige Basis des ganzen ,Faust', das ,Faustische' freizulegen. Die ganze Introduktion ist eine einzige Paraphrase jenes faustischen Drangs, den der Herr im ,Prolog im Himmel' in die Worte „es irrt der Mensch, solang er strebt" (18) kleidet. Das geringe Maß an Funktionalität, das uns hier begegnet, hat seinen Grund in Introversion und jWeltlosigkeit' Fausts. Im Gegensatz zu späteren Szenen und Szenenkomplexen, etwa der Gretchentragödie, gerät Faust hier noch nicht in den Strudel eines Geschehens, das er zwar entworfen hat, das sich aber bald nach immanenten Gesetzen weiterentwickelt und für ihn zur Situation — wenn auch selten im wirklich dramatischen Sinne des Wortes — wird. Eine solche Verstrickung in die ,Materie' bedarf einer gewissen Vorbereitung, die in der Introduktion, besonders dann aber im Pakt, geleistet werden soll: von diesen selbst kann sie noch nicht erwartet werden. Zwar vollzieht sich die Grundlegung des Faustprinzips nicht ausschließlich in der Askese reiner, monologisch vorgetragener Selbstreflexion, doch die Welt, die dabei gegenwärtig wird, ist noch nach außen projizierte Innenwelt und dient lediglich dazu, für das Innere Gleichnisse zu liefern, um den ,Weg nach innen' nicht allzu sehr im 94
Gegenstandslosen zu belassen. Hier begegnen sich also noch nicht ein Ich und die Welt, sondern das Ich stellt aus sich einige scheinbar dramatische Vorgänge heraus, die in Wirklichkeit jedoch gar keine echten dramatischen Vorgänge sind, wiewohl sich ein Selbstmordversuch unter ihnen befindet, sondern eine in Vorgänge aufgelöste Schilderung von Fausts Wesen, in deren monologisch-reflexiver Darstellung sie dann auch bald wieder aufgehen. Auch objektive, von außen hereindringende Vorgänge wie der Gesang der Engel, der Weiber und Jünger, enthüllen sich bei näherer Betrachtung als subjektiviert : sie sind lediglich Entsprechungen zu einem inneren Vorgang Fausts, seinem Stimmungsumschwung am Ende der monologischen Introduktion; sie sind mehr durch die Außenwelt bereitgestellte Gleichnisse als Ursachen (womit sie zu dramatischen Agentia würden) des neu erwachenden Lebenswillens Fausts. Die ganze Grundlegung des Faustprinzips, worunter wir nicht nur die monologische Introduktion, sondern die gesamte Entwicklung bis zum Pakt verstehen, ist also primär ich-, nicht weltbezogen; die Welt liefert zwar ihre materialen Requisiten, doch bleiben diese immer dem integrierenden Ichbezug unterworfen und vermögen sich nicht zu einer eigenen Welthaftigkeit auszuformen, die Faust in ihren Bann ziehen, ihn zu Begegnungen zwingen und ihm im Strudel solcher Begegnungen eine gewisse Kontinuität und Entwicklung seines Handelns abgewinnen könnte. So bleibt die ganze Darstellung des Faustischen im Grunde eine einzige entwicklungs- und situationsfremde Paraphrase. Nicht daß sich von dieser nicht gewisse Handlungsansätze abhöben, aber diese werden eben nur in sehr eingeschränktem Maße zu Situationen; sie sind stimmungsbedingte und stimmungsunterworfene Entwürfe, die jederzeit leicht in die monologischreflexive Darstellung von Fausts psychischer Zuständlichkeit zurückgenommen werden können. Bereits die Regiebemerkung der ersten Faustszene zeigt die ,Weltlosigkeit' von Fausts monologischer Existenz. Was könnte radikaler die sich im Monolog aussprechende Introversion verdeutlichen als jenes „Nacht. In einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer. Faust, unruhig auf seinem Sessel am Pulte". (20) Diesen Raum und dieses Idi durcheilend, die eine Art geistiger Einheit bilden, spinnt sich der Monolog nun unaufhörlich fort, bis mit der Beschwörung der ,heiPgen Zeichen' die Reflexion in Tätigkeit übergeht. Doch führen diese Beschwörungen nur scheinbar ins Offene der Begegnung: Makrokosmos und Erdgeist sind keine Geister, die Faust in neue, ihm unbekannte Reiche führen könnten; sie bringen keine echten Begegnungen mit sich, die ihn in sich hineinziehen und ihn einer wirklichen Situation unterwerfen könnten. Vielmehr sind Fausts 95
Beschwörungen Experimente, deren Ablauf der Experimentierende, wie in den exakten Wissenschaften, kennt. Erkenntnis, sei sie magisch oder exaktwissenschaftlich, kann nie wirklich dramatisch werden, ist sie doch durch eine Kombination von Apriori und Aposteriori bestimmt: die Anordnung des Experiments, des ,Versuchs', schließt eine Entwicklung auf gut Glück, eine Entwicklung ins Offene aus. Was Faust sich von seinen Experimenten erhofft, ist also nicht primär Erkenntnis, sondern die Befriedigung seines Faustischen, Befriedigung in der Ekstase, zu der ihm Magie verhelfen soll. Die Beschwörung von Makrokosmos und Erdgeist ist wesentlich Beschwörung dessen, was Faust unter ihrem Einfluß zu werden hofft, ja im Grunde soll hier mit Hilfe der Magie ein psychischer Zustand geschaffen werden, der in nuce schon vorher vorhanden ist (da seine Beschwörung ja von einer emotionalen Disponibilität für ihn, einer Vorkenntnis, ausgeht), durch Magie aber zu größerer Intensität gebracht werden soll. Der Gebrauch der Magie gleicht also in gewisser Weise dem Gebrauch von Narkotika, deren Wirkung man kennt, dessenungeaditet man unter ihrem Einfluß selbst zum interessanten, stets in Verwandlung begriffenen und so bis zu einem gewissen Grade dramatischen Gegenstande wird. Die Beschwörung der Zeichen setzt also die Selbstreflexion als Selbstexperiment fort; die Paraphrase lockert sich zu untereinander gegliederten Experimenten auf, ohne sich indessen als lyrisch-reflexiver Grundstrom völlig aufzulösen. Besonders bei der Betrachtung des Zeichens des Makrokosmos bilden Zeichen und reflektierendes Ich, das in es versunken ist, eine kaum zu trennende Einheit. Dennoch läßt sich aus dieser eine rein beschreibende (ebenso wie eine reflexive) Partie herauslösen, die, wiewohl sie stark subjektiv-emotionale Züge trägt, Beschreibung bleibt und damit, durch Kontrastbildung zur Reflexion, zu einem gliedernden Moment innerhalb des Experiments wird und somit die durch das Experiment als Ganzes gegebene Gliederung des Monologs innerhalb des Experiments selbst fortsetzt und verfeinert. Mit dem Erscheinen des Erdgeistes wird nun auch dieses immer noch einfache Gliederungsprinzip des Alternierens von Beschreibung und Reflexion durchbrochen: ein scheinbar echter, sich im Dialog vollziehender Vorgang tritt an Stelle des Monologs; das beschworene Zeichen erscheint nicht mehr in der Brechung durch ein Ich, sondern als selbständiges dramatisches Agens., Der Dialog, der sich dabei zwischen Faust und dem Erdgeist entspinnt, ist indessen relativ .geschlossen': er bleibt dialogisierte Wesensdarstellung und Wesenskonfrontation, ja, trotz aller scheinbaren Objektivität der Begegnung gilt auch für die Beschwörung des Erdgeists: das Beschworene ist wesentlich das in der Intention des Beschwörenden bereits Antizipierte, der 96
Dialog ein etwas künstlich in eine objektive dramatische Form gezwungener Dialog zwischen zwei Wesensseiten Fausts. Das Ende des Dialogs macht diese Künstlichkeit besonders deutlich: Faust. Der du die weite Welt umschweifst, Geschäftiger Geist, wie nah fühl ich mich dir! Geist. Du gleidist dem Geist, den du begreifst, nicht mir! (verschwindet) Faust, (zusammenstürzend) Nicht dir! Wem denn? Ich Ebenbild der Gottheit! Und nicht einmal dir! . . . (24)
Die Erschütterung Fausts wirkt ausgesprochen künstlich, da die ganze Beschwörung ja ein vorgezeichnetes Experiment war, hervorgegangen aus Fausts qualvollem Bewußtsein seiner Fremde gegenüber der ,Erde' und dem Willen, sich durch Magie diese ,Erde' wiederzugewinnen. So kann das Urteil des Erdgeistes allenfalls verborgene Tendenzen in Fausts Bewußtsein freilegen, nicht aber ihn in ein offenes Reich der Erkenntnis führen. Dies gilt für die philosophisch-psychologische Seite des Experiments in noch höherem Grade als für die magisch-spektakuläre: Ist diese in ihrem Detail a priori noch nicht so festgelegt, daß ein dialogisches, magische Begegnung vollziehendes Hin und Her, ein gewisses Maß an ,Offenheit' in der Dialogführung nicht noch möglich wäre, so steht die philosophisch-psychologische Grundtendenz dieses Experiments von Anfang an fest und bedarf keiner Bestätigung mehr. Trotz diesem determinierenden Apriori zeigt eine Gegenüberstellung beider Experimente deutlich, daß das zweite Experiment in seinem Verlauf wesentlich differenzierter und gegliederter ist als das erste. Nicht nur sind die einzelnen Elemente des Dialogs zwischen Faust und dem Erdgeist in ihrem Nacheinander klar zu bestimmen, schon die Betrachtung des Erdgeistzeichens wird, indem sie sich zur Beschwörung des Erdgeistes steigert, zu einem echten Vorgang. Die ersten acht Zeilen stellen sich zwar wiederum als jene Einheit von Betrachtung und Selbstreflexion dar, die nicht klar gegliedert ist, keine echte lineare Entwicklung aufweist, doch dann geht Faust ganz in der reinen Betrachtung magischen Geschehens auf, gibt einfach dessen einzelne Akte wieder und vergißt darüber, auf seinen sentimentalischen Bezug zu ,der Erde Weh und Glück' zu reflektieren. Schließlich bricht aus der Betrachtung des Zeichens unwiderstehlich der Drang hervor, den Erdgeist zu beschwören; die erneut einsetzende Selbstreflexion sprengt diesmal ihren statischen Rahmen, sie wird dynamisch sich steigernder Aufruf zur Tat und geht schließlich in diese über. Was 97
für die Betrachtung und Beschwörung des Erdgeistzeichens gilt, gilt noch mehr für die Erscheinung des Erdgeistes selbst. Doch audi die Begegnung mit diesem ist im Grunde nur eine Dramatisierung einer philosophischpsychologischen Konstellation, des Verhältnisses Fausts zur ,Erde' und als solche kein echter dramatischer Vorgang. Nach der Begegnung mit dem Erdgeist, diesem relativ klar gegliederten Vorgang, gleitet das Geschehen wieder ins Selbstanalytisch-Reflexive hinüber, das nun jedoch, zumindest vorläufig, in die Form eines Dialogs gekleidet wird, eines Dialogs, der zwar die Monologform sprengt, die Paraphrase in ihrer Statik jedoch beibehält. Das Gespräch zwischen Faust und Wagner bewegt sich als philosophisches kreisförmig, nicht linear; jeder gibt Beispiele für seine ,Philosophie', deren verschiedene Aspekte Ausdruck einer Gefühlsapriorität sind und diese Gefühlsapriorität paraphrasieren. Das Intermezzo Wagner hat im dramatisch-immanenten Verlauf der Handlung keinerlei Funktionswert, es dient lediglich dazu, die monologische Paraphrase Fausts durch eine dialogische abzulösen und durch die Setzung einer Antithese dem Faustischen noch einmal ein Maximum an Konzentration zu verleihen. Freilich wird die Gestalt Wagners später wieder aufgenommen und dient dann dazu, über Homunculus Faust den Weg zu Helena freizumachen. Doch findet sich in der ersten Wagnerszene keine Spur einer Ankündigung dieses Motivs, vielmehr geschieht der spätere Rückgriff auf Wagner gänzlich unvorbereitet und zu einem Zeitpunkt der dramatischen Entwicklung, da man Wagner und seine Bildungsideologie längst aus dem Blick verloren hat. So ist auch Wagners späteres Erscheinen ein in der dramatischen Entwicklung kaum integriertes, nichtsdestoweniger jedoch absolut notwendiges Bindeglied, da es zwei Welten verbindet, die ohne es nicht ineinander übergehen könnten. Nach Wagners Abgang — und zunächst als Reaktion auf diesen — erhebt sich die monologische Paraphrase Fausts mit neuer Kraft. In dem Maße wie die lyrisch-reflexive Intensität zunimmt, verliert der Monolog jede klare Gliederung. Er wird zum permanent durchgehaltenen Fortissimo, einem verzweifelten Fortissimo, das nur im Tode einen Ausweg sieht. So leicht sich jedoch im Musikalischen eine Kadenz aufzulösen vermag, so schwierig ist es hier, den Übergang von der Verzweiflung Fausts zum konkreten Motiv des Selbstmords zu finden. Die typische ,Situationslosigkeit' gerade der monologischen Existenz Fausts zeigt sich hier deutlich: das Motiv des Selbstmords entspringt keiner aus einer echten dramatischen Situation hervorgehenden Notwendigkeit; es ist .Entwurf* einer Stimmung und kann durch die Änderung dieser Stimmung wieder zu98
rüdtgenommen werden. Eine Stimmung ist jedoch keine Motivation, die ausreichte, um ein so schwerwiegendes Motiv wie einen Selbstmordversuch dramatisch zu begründen. Da diesem jedoch kein konkret zu fassendes Motiv als Ankündigung und Exposition vorausgeht, ist man, fast möchte man sagen, wie Faust selbst, einigermaßen erstaunt, ihn den Weg des Todes beschreiten zu sehen. Einen Selbstmordversuch in der Immanenz eines Monologs darzustellen, birgt immer die Gefahr der Künstlichkeit in sich. Die Einführung des Todesmotivs zeigt dies deutlich: sie hängt gänzlich in der Luft; zwischen dem Maximenstil, mit dem die reine Selbstbetrachtung endet und der ersten Andeutung des Todesmotivs klafft eine Lücke: Faust. Weit besser hätt' idi doch mein weniges verpraßt, Als mit dem wenigen belastet hier zu schwitzen! Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen. Was man nicht nützt, ist eine schwere Last, Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen. Dodi warum heftet sich mein Blick auf jene Stelle? Ist jenes Fläschdien dort den Augen ein Magnet? Warum wird mir auf einmal lieblich helle, Als wenn im nächt'gen Wald uns Mondesglanz umweht?
(28—29)
So künstlich und abrupt das Todesmotiv eingeführt wird, so organisch entwickelt es sich weiter. Die Künstlichkeit tritt immer dort in Erscheinung, wo Faust aus der Monadenhaftigkeit seiner inneren Existenz heraustritt, um sich an der Außenwelt zu orientieren. Der Übergang zwischen Innen und Außen ist notwendig abrupt; das Außen durchs Innen kaum vorzubereiten. Ist das Außen jedoch einmal beschworen, wird es alsbald Gegenstand der Reflexion, subjektiviert, verwandelt und in diese integriert: der Monolog kann sich fortspinnen, die Todessehnsucht, ausgelöst durch den Anblick der Phiole, beflügelt die Reflexion aufs neue. Indem sich die lyrisch-reflexive Paraphrase nun an einem Sujet orientiert, bekommt sie wiederum eine gewisse Gliederung und Entwicklung, sei's auch nur durch Intensivierung des Lyrismus in seiner Todessehnsucht. Die spielerische, heiter-ernste Betrachtung der Phiole und ihrer ,holden Schlummersäfte' macht in Faust eine todessüchtige Stimmung frei, die die Ruhe des Todes, zugleich jedoch auch den Aufbruch zu neuen Ufern preist. Mehr und mehr löst sich Fausts Todesmystizismus von der konkreten Betrachtung der Phiole und gleitet in ein unaufhörliches Crescendo der Selbstbeschwörung, „zu diesem Schritt s i c h . . . zu entschließen", (30) hinüber, ein Crescendo, das das Motiv des Selbstmords, wie es der lyrischreflexiven Paraphrase entspricht, nicht als Handlung, als psychologisch99
lineares Fortschreiten im Sich-Gewiß werden entwickelt, sondern durch steigernde Bildintensivierung der Paraphrase nach vorwärts treibt. Ihr Ende findet diese heroische Form der Selbstbeschwörung im konkreten Vorgang des Öffnens des Futterals; indem die Paraphrase nun den eigentlichen Selbstmordversuch, das Ansetzen der „Schale an den Mund" (30) vorbereitet, wandelt sich ihr heroisdier Akzent in einen lyrisch-zurückblickenden, eine Art Coda, die das Ende ankündet. Die Chöre, die nun einsetzen, um das Fest der Auferstehung zu feiern, bleiben in ihrem Verhältnis zu Faust ähnlich ambivalent wie Erdgeist und Makrokosmos, ist ihr Gesang und das Motiv der Auferstehung, das in ihnen triumphierend durchbricht, doch einer psychischen Zuständlichkeit Fausts zugeordnet, zugleich jedoch Geschehen einer objektiven Außenwelt. Diese Ambivalenz und die in ihr liegende Motivationsindifferenz sind charakteristisch für ein Geschehen, das Faust noch nicht im Zeichen der Begegnung mit der .Totalität der Materie' sieht. Die Dinge werden noch nicht in ihrer objektiven ,Welthaftigkeit' ergriffen, sondern sind noch a priori subjektiviert, werden einer subjektiven Innenwelt zugeordnet und dienen lediglich dazu, diese zu verdeutlichen. Die Motivationsschwäche, die sich daraus ergibt, ist evident: sind Erdgeist und Makrokosmos lediglich magisch-pseudoobjektive Zeichen für zwei Wesensseiten Fausts, werden sie zum bloßen Freimachen dieser Wesensseiten als magische Stimulantia beschworen, so ist das Verhältnis zwischen Faust und den einsetzenden Osterchören noch vager. Ohne jegliche Ankündigung dringt die Welt in d e m Augenblick in Fausts Klause ein, wo dieser sich anschickt, das Reich des Todes zu betreten, ja sie dringt sogar mit jenem Motiv ein, das für die geglückte Überwindung des Todes das strahlendste Beispiel bildet: der Auferstehung des Herrn. Psychische Innenwelt und objektive Außenwelt treffen aufeinander, ohne daß dieses Zusammentreffen irgendwie begründet wäre: die Welt ist einfach da, wenn es gilt, Faust zu retten. Die gleiche Motivationsfreiheit zeigt sich auch im weiteren Verlauf der Szene: Chor und Faust, Außen und Innen lösen sich gegenseitig nach Art zweier Dialogpartner ab, ohne daß zwischen ihnen eine unmittelbare Berührung wie in einem Dialog gegeben wäre. Dieses Bereitstehen des .Materialprinzips', das für den ,Faust' kennzeichnend ist, gewinnt in der großen monologischen Introduktionsszene einen so paradigmatischen Ausdruck, weil hier die Welt in ihrer Materialität noch keine immanente Entwicklung kennt, sondern, ohne jede Expositionsmöglichkeit, aus dem Monolog hervorgeht und in diesen wieder zurückgenommen wird, kurz in ihm .aufgehoben' ist. Indem wir jedoch den Bereich der monologisch100
weltintegrierenden Existenz Fausts verlassen, treten Idi und Welt auseinander, wodurch die ,Materie' eine gewisse Freiheit der Entwicklung bekommt, nicht mehr so .material' bleibt, wie sie es als jederzeit bereitstehende im Monolog sein muß. Freilich verdankt sie diese Entwiddungsmöglichkeiten Faust, der sie nach seinen Vorstellungen formt und aus ihr in der Begegnung eine Entwicklung hervortreibt, zu der sie aus sich selbst nicht fähig wäre. Bleibt diese Begegnung mit Faust aus, so verharrt sie in ihrer Monadenhaftigkeit, kombiniert sich zwar zuweilen zu kleinen, ja größeren Systemen, tritt jedoch aus einer mehr oder minder aufgelockerten Substantialität nicht heraus. Wir haben den einführenden Monolog so ausführlich behandelt, weil er für die Gesamtstruktur des ,Faust' von entscheidender Bedeutung ist. Ein literarisdies Werk, das, zumindest in seinen großen Linien, sich weniger nach dramatisch-immanenten Gesetzen als nach den Gesetzen eines philosophischen Systems entwickelt, muß zunächst einmal die Apriori dieses Systems darstellen. Das fundamentalste Apriori des ganzen Werks ist jedoch Fausts reines und mit der Welt noch unvermitteltes Ich, ist jenes „Es-irrt-der-Mensch-solang'-er-strebt" (18), das, im ,Prolog im Himmel' programmatisch vorweggenommen, sich in der einführenden Monologszene zur vollen Breite einer Existenzbeschreibung entfaltet. Die Welt als Gegenstand der Begegnung kann dabei nur am Rande gestreift werden. Wo sie erscheint, ist sie a priori subjektiviert und dem Ich zu-, das heißt untergeordnet. Die Trennung von Ich und Welt als Voraussetzung jeder echten dramatisch-immanenten Entwicklung ist hier noch nicht vollzogen: Die Welt ist nodi im Ich ,aufgehoben', das sie nach Belieben aus sich herausstellt und wieder in sich zurücknimmt. Und dodi ist dieses Herausstellen und Zurücknehmen, wenn wir von den Crescendi und Decrescendi der Reflexionsintensität absehen, das einzige Mittel, um bereits auf der Ebene des einführenden Monologs ein gewisses Maß an Funktionalität zu schaffen. Daß dieses so gering ist, liegt an der Niditdramatisierbarkeit eines philosophischen Apriori, das sich zwar zur ,Existenzerhellung' ausweiten kann, als solche jedoch relativ undramatisch bleibt. In der nächsten Szene tritt Faust aus der Weltlosigkeit seines Inneren heraus, ohne sich indessen schon auf die Welt hin zu entwerfen. Diese bleibt noch in der Distanz, ist nodi .material', nodi nicht in den Strudel faustischen Drangs hineingerissen. Der Spaziergang ist ein Paradigma solcher Weltbegegnung. Nach seiner Existenz als Ringender und Verzweifelter sehen wir Faust nun in seiner entgegengesetzten, komplementären Wesensseite, in seinem Sinn für die Idylle, fürs Pastorale. Auch diese Szene dient 101
noch ganz der Darstellung von Fausts Charakter: sie zeigt Faust in der Welt, aber einen Faust, der sein Ich noch aus der Welt heraushält, noch über sie reflektiert, sie noch nicht ergreift. Solch reflektierendes Bewußtsein, dem nodi alles Begegnende in gleicher Weise zur Verfügung steht, hat auf der Objektseite als Äquivalent eine offen daliegende Welt, aus der sich nodi nichts Einzelnes heraushebt, um sich in einer Begegnung mit Faust zu funktionalisieren, sondern die noch ganz Substantialität ist. Goethe benützt bei der Gestaltung dieser Szene wieder jenes Kompositionsmittel, auf das wir schon bei der Analyse des ,Prologs im Himmel' gestoßen sind, das sich jedoch besonders für die Begegnung Fausts mit der ,Totalität der Materie', also für die irdische Immanenz des Faustgeschehens eignet: er entwirft erst eine Welt, einen in sich abgeschlossenen Weltausschnitt, in dem dann, fast beiläufig, Faust erscheint, um ihn allmählich mit seinem Faustischen zu durchdringen und zu erfüllen. So besteht die Szene bis zum Auftritt Fausts mit Wagner aus einem revueartigen Kommen und Gehen von Gestalten, das ohne jeden Ansatz zur Funktionsbildung bleibt. Wir haben für diese Gestalten und ihre Art und Weise, sich zu präsentieren, den Begriff der pars pro toto, der Stellvertretung eingeführt. Im Gegensatz zu den späteren, dem Spiel gewidmeten Szenen, besteht ihr Zweck nicht darin, eine oder mehrere Personen auf eine mehr oder minder geistreiche Art zu identifizieren, sondern sie durch einen zufälligausschnitthaften, keineswegs ,wesenhaften' Dialog, der jedoch stellvertretend für ihre Welt steht, zu charakterisieren. Die ,Handwerksbursche', fünf an der Zahl, bilden den Auftakt; in schnellem Wechsel der Perspektive folgen dann Dienstmädchen, zwei Schüler, dazwischen ein Bürgermädchen; Bürger, unterbrochen vom Intermezzo eines Bettlers, eine ,Alte', noch einmal das Bürgermädchen, dieses Mal im Gespräch mit einem anderen, und schließlich der Chor der Soldateska, der jedoch aus dem bürgerlich-idyllischen Rahmen nicht herausfällt. Dies ist die Welt, in die Faust eintritt; freilich hält er zu ihr noch immer die Distanz eines sentimentalisdien Bewußtseins, eine Distanz, die sich konsequenterweise, obschon nur zu Beginn der Szene, in einem großen Monolog niederschlägt. Die Spiegelung einer nunmehr objektivierten Welt im Ich macht indessen den Monolog am Ende noch statischer als Reflexion und Selbstbegegnung, die immerhin gewisse Crescendi und Decrescendi aufwiesen: Bild reiht sich hier in friedlicher Addition an Bild und entwirft aus der Perspektive Fausts noch einmal jene bürgerliche Idylle, die im ersten Teil der Szene in einzelnen Gestalten an unserem Auge vorbeigezogen war und nun durch den Natur- und Landschaftsrahmen, der sie umgibt, ergänzt wird. Und nun mischen sich Faust und Wagner unters Volk, nehmen, jeder auf 102
seine Weise, am bäuerlichen Idyll teil: Faust patriarchalisch-sentimentalisdi, Wagner dagegen mit dem gewissen Widerwillen dessen, der sich „nur des einen Triebs bewußt" ist. (41) Auch diese Welt, diese Skizze einer Welt, stellt sich zunächst als in sich abgeschlossene Einheit dar: Tanz und Gesang sind ihre Elemente, bis Faust und Wagner erscheinen, und in einem kurzen Wechselgespräch Fausts patriarchalisches Verhältnis zum Volk sichtbar wird. Dieser Dialog regt Faust wieder zu neuer Selbstbetrachtung an; wieder treten wir ins Reich der lyrisch-reflexiven Paraphrase ein, die in ihrer Statik noch weniger als bei der nächtlichen Begegnung mit Wagner durch ein dialogisches, auf der Antithese beruhendes Entwicklungsprinzip aufgelöst wird. Aus der Natur strömt eine unendliche Fülle von Bildern und Gleichnissen, um Fausts sehnsüchtigen Drang zu beflügeln; dodi dieser bleibt noch immer in sich eingeschlossen, trotz aller Weltgeöffnetheit weltlos, noch auf keinen bestimmten Gegenstand, in dem er ganz und gar aufgehen könnte, gerichtet. Dies ändert sich in d e m Augenblick, wo der Pudel auf der Bildfläche erscheint. Fausts geistige Wachheit erlaubt es ihm, nach einer Fülle von Erscheinungen, die in der vollen Helle des Tages an ihm vorbeigezogen waren, ohne sich seinem Geiste aufzudrängen, bei schon niedergehender Dämmerung j e n e Gestalt zu erkennen, die für ihn zum Schicksal werden soll. Wagner hingegen sieht nichts, oder vielmehr, er sieht das gleiche und sieht doch nichts. Für ihn bleibt das Tier, in dem er viel schneller als Faust einen Pudel zu erkennen vermag, ein Tier wie andere auch. Faust hingegen sieht in den Bewegungen des Pudels ,magisch-leise Schlingen', er ahnt in dem weiten ,Schneckenkreise', den der Pudel um ihn und Wagner beschreibt, eine geistige Kraft, eine physisch-allegorische Vorform zu jenem werbenden Einkreisen, das später Mephistos Taktik gegenüber ihm ausmachen wird. Zum ersten Male treten wir aus dem Ich-Raum mit seinem integrierenden Weltbezug heraus: man beginnt zu ahnen, daß sich die Psychomachie, im ,Prolog im Himmel' angekündigt, nun allmählich vorbereiten wird. Wenn man beim Erscheinen des Pudels von der Möglichkeit einer editen Begegnung sprechen kann, so darf dieser Begriff doch nicht mißverstanden werden. Die Begegnung zwischen Faust und Mephistopheles ist nicht eine jener Begegnungen zwischen Faust und der ,Totalität der Materie', wie sie Mephistos eigene Regie bald inszenieren wird. Mephistos Gestalt und Prinzip sind nicht Ziel, nicht Entwurf Fausts; Mephisto ist nur Mittler zwischen Faust und der ,Totalität der Materie', zugleich jedoch audi negative Analogie Fausts, die, wie dieser, nur unter anderem Zeichen, die Welt durcheilt und ergreift. Von solcher Analogie ist freilich 103
zunächst wenig zu spüren; wenn Mephistopheles auch, im Gegensatz zum Erdgeist, nicht besdiworener, der ,Weltseite' angehörender Dämon ist, sondern Dämon, der sich Faust in Freiheit aufgedrängt hat und der später zur Subjektseite des Geschehens gehören wird, so gehört er doch zunächst nodi zur »Materie', einer Form von ,Materie', die mit Hilfe von Magie erschlossen wird. Das zentrale Motiv dieser Szene, wie so vieler Szenen, ist deshalb auch hier wieder das Motiv der Identifikation, freilich nicht nur der Selbstidentifikation, wie bei den meisten Gestalten, die dem Reich der .Materie' angehören, sondern der vorbereitenden Identifikation durch Faust und seine Magie. Das Prinzip der Identifikation ist indessen hier nicht reiner Selbstzweck, steht nicht ausschließlich unter der Kategorie der Substantialität: Für Faust sind, wie bereits angedeutet, das Nichts und das Böse nicht Gegenstand, nicht Telos, sondern, analog der Magie, bloßes Mittel seines Strebens, und auch Mephistopheles weiß, daß die Darstellung seines Prinzips für Faust allenfalls ein Anreiz, ein Auftakt zu weiterer Bekanntschaft sein kann. So sieht er sich als Mittler zwischen Faust und der ,Totalität der Materie', was ihn nicht hindert, zunächst einmal seine Reize und Fähigkeiten als Dämon voll auszuspielen, nicht zuletzt, um sich dadurch für die Rolle eines Mittlers zu empfehlen. Der Einbruch Mephistos in die Faustwelt bringt ohne Zweifel einen entscheidenden Fortschritt in der Entwicklung der Handlung: Indem der Pudel Fausts Aufmerksamkeit auf sich zieht, bricht er die monologische oder quasi-monologische Selbstdarstellung des Faust-Ich in seiner lyrischreflexiven Statik, bringt er Geschichtlichkeit mit ins Spiel. Die Beschwörung des Pudels durch Magie ist eine echte Handlung und nicht nur ein pseudodramatisches Intermezzo in einer monologischen Selbstdarstellung, wo Beschwörendes und Beschworenes wenn nicht eins, so doch a priori vermittelt sind. Indessen soll das Handlungselement nicht überschätzt werden, ist sein Ziel doch die Identifikation des Pudels, eine Identifikation, in der es .aufgehoben' ist. Mit der Identifikation des Pudels und dem Hervortreten Mephistos bricht die Handlungslinie zunächst ab; ihre Fortführung muß (dies geschieht allerdings erst in der nächsten Szene, der Paktszene) neu exponiert werden, wobei diese ,Exposition' dann für das ganze irdische Faustgeschehen ihre Gültigkeit behält. Sie erst macht Faust die Bahn für eine Begegnung mit der ,Totalität der Materie' frei und ermöglicht ihm, sich nach verschiedenen Seiten zu entwerfen; sie erst setzt Mephistopheles als Mittler und negatives Analogon Fausts ein und eröffnet damit den Kampf um Fausts Seele. Obwohl der Identifikation Mephistos innerhalb der Entwicklung der gesamten Fausthandlung lediglich die Funktion eines 104
nicht zu umgehenden Prélude, einer Art Vor-Exposition zukommt, wird sie durch einen großangelegten Exorzismus eingeführt. Dessen dramatisches Element sollte freilich nicht überschätzt werden, sind doch dem Maß realisierbarer Funktionalität bei allen Identifikationen, zu denen auch magische Beschwörungen gehören, eindeutig Grenzen gesetzt. Staiger nennt die ,Beschwörungszeremonie' nicht zu Unrecht eine „pathetische Fratze". 1 Der Beginn der Szene nimmt das spätere Verhältnis zwischen Faust und Mephistopheles in gleichsam allegorischer Form vorweg: er zeigt Faust und seinen lyrisch getragenen Tonfall in einem noch unterschwelligen Kampf mit dem unruhigen und unruhigmachenden Gestus Mephistos, verkörpert zunächst im ,Rennen, Schnoppern' und ,Knurren' des Pudels, später, nadi Fausts „Auslegung des johanneischen Logos", 2 im ,Heulen' und ,Bellen' und schließlich im Anschwellen seiner Gestalt, bei deren Anblick Faust gezwungen ist, seinen lyrisch getragenen Tonfall endgültig aufzugeben, um zum Exorzismus überzugehen. Dieser ist ein unaufhörliches Crescendo, bestehend aus Appellen Fausts an sich selbst, magischen Beschwörungsformeln und ,epischer' Beschreibung des Pudels unter dem Einfluß des Exorzismus. Schließlich tritt Mephistopheles, „indem der Nebel fällt, gekleidet wie ein fahrender Scholastikus, hinter dem Ofen hervor". (46) Der Übergang vom Exorzismus zum nächsten großen Motiv der Szene, Mephistos Verherrlichung seines Prinzips, vollzieht sich fast ohne Bindeglied; der Gestus der Überraschung löst in Faust unmittelbar die Frage nach Mephistos Identität aus, die dieser dann auch, zunächst in dialektisch-werbender, schließlich mehr und mehr unverhüllt apologetischer Form preisgibt. Fausts Verhältnis zu dieser Emanation von Mephistos Prinzip ist merkwürdig indifferent; nichts Faustisches regt sich in ihm angesichts des Pathos des Teufels; fast gilt für ihn eine Reaktion auf dieses Pathos, die Mephistopheles im ,Prolog im Himmel' Gott selbst unterzuschieben geneigt ist: die Reaktion des Lachens. Doch ist Fausts Reaktion nicht so hart. Mephistopheles ist für ihn kein Gegenprinzip, sondern lediglich ein Kuriosum. Die Quintessenz, in der er seine Antwort auf Mephistos Apologie zusammenfaßt, ist ironisch-gutmütig, indifferent, ja von einem gewissen pädagogischen Eros geleitet, der für Mephistopheles im Grunde beleidigend ist: Was anders sudie zu beginnen, Des Chaos wunderlicher Sohn!
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Damit ist das Motiv der Selbstidentifikation des Teufels zu Ende. Die klare Abgrenzung zu anderen Motiven erklärt sich aus der Indifferenz »-*
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Fausts gegenüber dem Prinzip Mephistos, einem Prinzip, dem Faust nicht als Entwerfender gegenübersteht, und das er nicht in einer echten Begegnung, wie etwa das Schöne, zu funktionalisieren vermag. So muß sich, ähnlich wie die personifizierten Begriffe, zu denen er nach seinem bisherigen Auftreten im Grunde ja auch gehört, Mephistopheles zunächst mit der Rolle der Identifikation und Repräsentation seines Prinzips begnügen. Freilich nur zunächst, denn durch die Übernahme seiner Mittlerrolle tritt er bald aus dem engen Rahmen eines personifizierten Begriffs heraus, von dem er sich bisher nur durch sein äußeres, weltmännisches Gehaben, nicht aber im Kern unterschied. Der Übergang zwischen beiden Rollen ist jedoch nicht so leicht zu vollziehen. Die Mittlerrolle setzt nämlich die Schließung des Pakts voraus. Staiger, der diese Szene rein dramatisch betrachtet, fragt sich deshalb nicht ohne Grund, warum Faust „den Teufel, ohne nach einem triftigen Grund zu suchen, wieder abziehen" 3 läßt. Er glaubt eine Motivation darin zu sehen, daß Goethe „die Unterbrechung beibehalten" habe (eine Unterbrechung, die in der Volkssage gerechtfertigt war. Anm. des Verf.), „um Raum für den Disputationsakt auszusparen", 4 schränkt dies aber durch den Hinweis, diese Erklärung besage „eigentlich nur, daß der das Ganze begründende Auftritt nodi weiter hinausgeschoben wird", 5 wieder ein. Der Bruch, der nach Mephistos Selbstdefinition entsteht, hat seinen Grund darin, daß Faust und Mephistopheles sich selbst nicht Gegenstand zu werden vermögen, daß ihre ganze Beziehung der Vermittlung der ,Totalität der Materie' bedarf, hierzu jedoch der Pakt als Voraussetzung nötig ist. D a dieser erst der nächsten Szene vorbehalten bleiben soll, bestünde, von einer rein dramatischen Entwicklung des Geschehens aus betrachtet, für Mephistopheles nur die Möglichkeit, nach seiner Selbstdefinition die Szene zu verlassen und mit dem Beginn der nächsten Szene wieder zu erscheinen, um den dramatischen Faden dort wieder aufzunehmen und fortzuspinnen, wo er bei seinem Abtreten zerrissen wurde. Ein solch unmotiviertes Ab- und Wiederauftreten, zwischen dem keinerlei Entwicklung eines Geschehens liegt, ist jedoch, wird es mit der Nacktheit des funktional absolut Notwendigen durchgeführt, eine Groteske. Goethe macht jedoch aus der N o t eine Tugend. Er weitet jenes bedeutungslose und überdies unmotivierte Abtreten Mephistos zu einem kleinen Drama mit einem philosophisch-systematischen, absolut notwendigen Kern aus. Der Drudenfuß auf Fausts Schwelle wird Anlaß zu einer ersten, nodi spielerischen Machtprobe zwischen Faust und Mephistopheles: der Winkel des Pentagramms macht es diesem, der -
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dem „Gesetz der Teufel und Gespenster" (49) verpflichtet ist, unmöglich, Fausts Zimmer wieder zu verlassen; er ist in Fausts Macht, und das ganze ,Drama' besteht nun darin, daß Mephistopheles dieser Macht entfliehen will, obwohl für eine solche Flucht keinerlei Grund besteht. Was vom Gesichtspunkt der funktional-immanenten Entwicklung des Geschehens (und der Psychologie der Gestalt, die Träger dieser Entwicklung ist) eklatante Schwäche ist, erweist sich bei einer philosophisch-systematischen Betrachtung als eindeutige Stärke, denn Mephistos Du wirst, mein Freund, für deine Sinnen In dieser Stunde mehr gewinnen Als in des Jahres Einerlei. (50)
hat im philosophischen Fortschreiten der Handlung (das hier der funktionalen Entwicklung des Geschehens fast zuwiderläuft, sie auf jeden Fall stark retardiert) einen eindeutigen und klar zu bestimmenden Stellenwert: Die Synthese idealer akustischer, optischer und anderer Sinnesreizungen, jene konzentrierten Narkotika, mit denen Mephisto Faust in den Schlaf hinüberzuziehen sucht, ist in gewisser Weise eine ,Analogie' zu Fausts Eingangsmonolog; so wie dort ,Tätigkeit', so soll hier Verführung' als Motiv eingeführt werden, jedoch, wie dort, noch nicht über die Begegnung mit der .Totalität der Materie', sondern als Lyrismus, der ein Maximum an Verführungsintensität durchhält. Dieser Lyrismus kennt nodi keinerlei Funktionsbildung: weniger noch als bei Fausts Paraphrase hebt sich ein klar umrissenes Einzelmotiv, eine Entwicklungslinie, sei's auch nur in Form eines Crescendo oder Decrescendo, aus der Einheit des Lyrischen heraus; Bild reiht sich additiv an Bild, trifft, da Faust der Verführung vor dem Pakt nodi nicht zu antworten braucht, sondern die Narkotika noch ästhetisch-rezeptiv genießen kann, noch nicht auf Fausts Möglichkeitsexistenz und damit auf Widerstand, der eine solche Begegnung' zu funktionalisieren vermöchte. Daß Faust sich diesem ,Gesamtkunstwerk' hingibt, bedeutet also noch keineswegs, daß er der Verführung unterlegen ist. Die eigentliche Psychomadiie hat noch gar nicht begonnen, Mephistopheles erwartet noch keine Antwort, sondern will lediglich seine Künste demonstrieren. Das mephistophelische Gift wird Faust hier noch nicht, wie später, als müdemachende Reflexion über den Umweg der Begegnungen mit der ,Totalität der Materie' eingeflößt, sondern erscheint noch unmittelbar, als betäubende ,Kunst', deren Aufnahme Faust noch zu nichts verpflichtet. Der philosophisch-systematische Sinn dieses lyrischen Intermezzo besteht darin, daß Mephistopheles, nachdem er sein Wesen preisgegeben hat, sich Faust, der in diesem noch keine unmittelbaren an ti faustischen Tendenzen entdecken kann, zum ersten Male 107 8
Streicher, Faust
als Verführer präsentiert. D a ihn mit Faust noch keine .Materie' verbindet, gestaltet er seinen Verführungsakt rein lyrisch. Doch kündigt sich in solchem Lyrismus Mephistos Verführungsziel als Programm an: So wie Faust im Banne verzaubernder „Schmeichelwirkung1'6 von Mephistos ,zarten Geistern' dem Schlummer verfällt, so soll er dereinst, vom Gang durch die „kleine, dann die große Welt" (66) erschöpft, in sich zusammensinken und, gemäß dem Pakt, dem Teufel verfallen. Was hier nodi Unverbindlichkeit der ,Kunst' bleibt, soll dort zur existentiellen, mit Blut unterzeichneten Realität werden. So kündet sich in diesem lyrischen Intermezzo mittelbar Mephistos Programm an; Faust soll erfahren, worin s e i n e Form des Bösen besteht, was i h n zur Hölle ziehen soll und ist aufgerufen, sich des Teufels als eines Mittlers zu bedienen und sich mit ihm zu messen. Kompositioneller Zweck des Gesangs der Geister ist es also, die Schließung des Pakts vorzubereiten. Der unmittelbare Übergang von Mephistos Selbstdefinition zur Paktszene wäre zu abrupt; ohne dieses lyrische und zugleich philosophisch-programmatische Zwischenglied müßten Mephistos Verführungsintentionen für Faust noch dunkel bleiben, da die Mischung von Pathos und Burleske, deren sich Mephistopheles bei seiner Selbstdefinition bedient, in ihrem Verhältnis zum Faustprinzip noch schwer zu bestimmen ist. Vom Gesichtspunkt der Funktionalität aus zeigt sich dabei ein Zug, der für den ganzen Faust, nicht nur für die .methodische Grundlegung', symptomatisch ist: Um einem geistigen, philosophisch-systematischen Phänomen zum Durchbruch zu verhelfen, wird der Gang der dramatischen Entwicklung nach Belieben vergewaltigt; zumeist, wie etwa im Übergang von der .Klassischen Walpurgisnacht' zum Helenaakt, wird sie verkürzt, zuweilen, wie hier, wird sie erweitert, wobei beides dramatisch nicht zu rechtfertigen ist. Das ganze Drama um Mephistos Abgang dient also primär dazu, den dramatischen Rahmen für ein philosophisches Geschehen bereitzustellen, dieses in dramatisch hinreichend motivierter Form einzuführen. Die Motivation selbst bleibt jedoch ihrerseits unmotiviert: das kleine Drama steht weitgehend unter der Kategorie der Substantialität und ist nur lose mit der Entwicklung des dramatischen Gesamtgeschehens verbunden. Seine geringe Integration und Motivation in diesem wirkt auch auf es selbst zurück: die Arabeske tritt an Stelle strenger Motiventwicklung, barocke Einfälle geben sich als mythisch-verpflichtender Brauch und durchdringen auch die ,methodische Grundlegung' des ,Faust' mit einem gewissen Spielbewußtsein. •
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Bevor wir in die Interpretation der Paktszene eintreten, sollen noch einmal kurz alle jene Stilmerkmale, die sich aus der Zwischenstellung zwischen Philosophisch-Systematischem und Poetisch-Dramatischem in der .methodischen Grundlegung' bisher ergaben, zusammengefaßt werden, um diese Zwischenstellung als einheitliches Phänomen in seinem Verhältnis zu Substantialität und Funktionalität zu fixieren, nicht zuletzt, um sie an der Paktszene, dem letzten, entscheidenden Glied der ,methodischen Grundlegung' nodi einmal zu demonstrieren und sie vom rein Dramatischen abzugrenzen. Die .methodische Grundlegung' erschließt sich als eine Art geistigen Systems, dessen einzelne Glieder zwar miteinander in Beziehung stehen, jedoch nicht nach den Gesetzen dramatischer Funktionalität auseinander hervorgehen, sich nicht in einer geschlossenen Entwicklungslinie auflösen, sondern die Selbständigkeit ihrer Existenz als Glieder — ein Begriff, der in einem voll realisierten Handlungskontinuum ja überhaupt keinen Sinn mehr hat — zu bewahren. Das Grundgefüge dieses geistigen Systems ist sehr einfach, besteht es doch nur aus drei fundamentalen Apriori, von denen jedes spätere auf dem oder den früheren aufbaut (ein solches ,Aufbauen-Auf' ist von einem funktionalen ,Hervorgehen-Aus' sehr scharf zu trennen) : der Fixierung des Faust-Ich, der Formulierung des MephistoPrinzips und der Aufstellung des Faust-Programms im Pakt. Keines der früheren Glieder exponiert dabei ein späteres Glied, zieht ein späteres Glied herbei, doch schafft es, wie in einem philosophischen System, jeweils die Basis, auf der ein neues Glied introduziert werden kann. Es entspricht der Nähe der .methodischen Grundlegung' zum Philosophisch-Systematischen, daß jedes ihrer fundamentalen drei Apriori einer expliziten Definition oder einer definitorischen Paraphrase bedarf. Freilich erschöpft sich diese Systembildung nicht in der Einführung der drei fundamentalen Apriori, vielmehr differenzieren sie sich (oder zumindest die beiden ersten) nodi: das Idi Fausts stellt sich nicht nur ,rein', sondern auch in verschiedenen Modalitäten (Erkenntnismüdigkeit, Drang zu Natur und Erde, sentimentalisdi-patriarchalische Beziehung zum ,Volk') dar, Modalititäten, die in sich wiederum eine Art System bilden, für das die gleichen Gesetze gelten wie für das System im Großen. Einheitsbildendes Moment für dieses System bleibt jedoch die Selbstdarstellung eines Ich, wobei deren einzelne Elemente zu einem Gesamtbild zusammentreten, ohne explizit aufeinander hinzuweisen, einander zu motivieren und so eine psychologische Entwicklung zu schaffen, die Teil einer dramatischen Exposition wäre. Auch der Teufel gibt sich, wie wir gesehen haben, auf zweierlei Weise: als pathetischer, sein Prinzip darstellender und formu109 8*
lierender Dämon und als ästhetischer Verführer. Wir haben den ersten Punkt, die Darstellung seines Prinzips, als fundamentales Apriori gewertet, doch fragt sich, ob die programmatische Ankündigung des Verführungsprinzips nicht ein ebenso entscheidendes Glied in der ,methodischen Grundlegung' des ,Faust' ist wie die Identifikation Mephistos selbst. Es liegt in der Natur eines philosophischen Systems, daß man darüber diskutieren kann, wie zentral ein Glied innerhalb dessen Gefüge ist, doch ändert diese Frage nichts an der grundsätzlichen Andersartigkeit der Erschließung eines Systems und einer dramatischen Entwicklung. Es versteht sich von selbst, daß die einzelnen Glieder dieses Systems nicht einfach definiert werden, wie es in einem echten philosophischen System nötig wäre. Vielmehr wird ihr Kern paraphrasiert, als Existenzerhellung vorgetragen, was freilich nicht bedeutet, daß das System nicht deutlich gegenwärtig bliebe. Außerdem werden allerlei pseudodramatische Vorgänge in es eingeblendet, wie etwa Fausts Beschwörung von Makrokosmos und Erdgeist, sein Selbstmordversuch, das Erscheinen Wagners, das Auftaudien des Pudels und dessen Beschwörung durch Faust, Mephistos Ausbruch aus Fausts Zimmer, alles Vorgänge, die nicht im echten Sinne des Wortes dramatisch sind, die bald wieder in Identifikation und Definition eines Philosophischen einmünden, dieses ein wenig dramatisieren, es zusammenhalten, sich aber nie zu einer echten dramatischen Entwicklungslinie ausweiten. In der nächsten Szene, der Paktszene, kristallisiert sich nun das in Fausts und Mephistos Selbstdarstellung latent enthaltene philosophische Verhältnis dieser beiden Antagonisten in seinen dramatischen Möglichkeiten heraus: der Pakt ist das erste ,Ereignis' im präzisen Sinne des Worts, der erste geschichtliche', nicht nur der Wesensanalyse dienende, diese einführende oder umschreibende Vorgang des irdischen Faustgeschehens. Der philosophische Charakter des Pakts schließt Geschichtlichkeit, Zum-Ereignis-Werden nicht aus. Freilich genügt, wie die Analyse der Szene zeigen wird, die bloße Ereignishaftigkeit noch nicht, um eine Szene dramatisch zu machen. Ihr philosophischer Kern macht sich auch durch diesen Ereignischarakter hindurch entdramatisierend bemerkbar. In der Paktszene vollendet sich die ,Exposition', ja in ihr gewinnt dieser Begriff, wenn er im ,Faust' überhaupt einen Sinn hat, zum ersten Mal volle Aktualität. Wohl kann man die Eröffnung der Psychomachie durch die Wette zwischen Gott und Mephistopheles im ,Prolog im Himmel' als Exposition betrachten, doch was hier exponiert wird, ist lediglich Mephistos Redit, über Fausts Seele frei zu verfügen, Faust von .seinem Urquell' abzuziehen, die Ansprüche der Hölle auf seine Seele geltend zu machen. 110
Über die Art der Psychomachie, die Frage, worin das Böse für Faust besteht, wodurch er Mephistopheles verfallen und damit von diesem überführt werden kann, liegt noch der Schleier des Geheimnisses. Die Skizze, die der Herr und Mephistopheles, jeder von seiner Perspektive aus, im .Prolog im Himmel' von Fausts Wesen entwerfen, vermag den geistigen Ansatzpunkt der Psychomachie ebensowenig schlüssig zu bestimmen wie Fausts monologische Selbstdarstellung zu Beginn des irdischen Faustgeschehens. Beides dient als eine Art Vorexposition, was eben nur bei einem Erschließen einer Exposition nach Art eines Systems möglich ist. Erst mit dem Pakt, jenem ,Werd'-ich-zum-Augenblicke-sagen' gewinnt die Psychomachie ihre spezifische, auf Faust zugeschnittene Gestalt (freilich auch hier noch nicht endgültig, da das letzte Glied des Systems, die Uminterpretation der Paktformel, sich erst kurz vor dem Ende Fausts erschließt), wird unmittelbar deutlich, wodurch Faust erlöst oder verdammt werden wird. Wird im ,Prolog im Himmel' im Grunde nur Mephistos Erscheinen auf Erden und die damit beginnende Psychomachie angedeutet, ist also die in dieser Vorexposition gegebene relative Determination des folgenden dramatischen Geschehens, die uns erlaubte, von ,Exposition' zu reden, noch sehr gering, so bewirkt das Herauskristallisieren der kontinuierlich durchzuhaltenden Faustlinie als Ansatzpunkt der Psychomachie eine Konzentration und Einschränkung des Geschehens, die, wenn irgend etwas im ,Faust', als ,Exposition' bezeichnet werden können. Freilich unterscheidet sich diese Form der Exposition — und damit treten wir unmittelbar ins Zentrum unserer Analyse des Pakts ein — grundsätzlich von der traditionellen Form dramatischer Expositionen. Während diese die Skizze eines Geschehens entwerfen, das in sich unabgeschlossen, ungelöst, .problematisch' ist und infolgedessen aus sich heraus auf eine Lösung drängt, ist im Pakt noch keinerlei dramatisches Geschehen in seiner Latenz angelegt. Vielmehr gleicht der Pakt dem Auswerfen einer philosophischen Thesis: die Intention, die im dramatischen Geschehen verwirklicht werden soll, wird zu Beginn diesem Geschehen programmatisch vorgeworfen, ohne mit ihren Verwirklichungen schon hier in irgend einer Weise vermittelt zu sein. Zwischen jeder Darlegung methodischer Apriori und der konkreten Durchführung und Verifikation dieser Apriori in einem Stoff klafft naturgemäß eine Lücke. Diese Erscheinung findet sich auch im ,Faust'. Mit der Paktszene bricht zunächst einmal das Geschehen ab; die ,methodische Grundlegung' ist ein Komplex in sich, der zwar die philosophischen Voraussetzungen, unter denen Faust der .Totalität der Materie' begegnen wird, schafft, an eine solche Begegnung jedoch noch keineswegs durch eine Exposition im dramatischen 111
Sinne heranführt. Der fließende Übergang zwischen Exposition und dramatischem Geschehen widerspricht dem philosophischen Verhältnis zwischen Thema und Variation. Und hier stellt sich nun sogleich ein neues Problem, nämlich das Problem, wie und inwieweit die Thesis in der Durchführung überhaupt verifiziert werden kann. Denn im Pakt entwirft Faust ja nicht nur die Existenzform, in der er der ,Totalität der Materie' gegenübertreten will — dieses Verhältnis von Ich und Welt wurde ja in den Eingangsszenen von immer neuen Seiten belichtet, so daß es in der Paktszene nur eine letzte, programmatische Zuspitzung erfährt — vielmehr macht er das Heil seiner Seele von der Durchführung, vom Durchhalten seines als Thesis ausgesetzten Prinzips abhängig und setzt Mephistopheles als Richter über sich ein. Freilich ist diese Richterfunktion Mephistos nur theoretisch: die Frage, ob Faust sein Prinzip noch oder schon nicht mehr erfüllt, wird in der Immanenz der Durchführung überhaupt nicht thematisiert, doch bedeutet solche Nichtthematisierung gemäß der Formulierung des Pakts ja ihre Bejahung. Indessen liegt das Problem noch ein wenig tiefer; daß sich in der Begegnung Fausts mit der »Totalität der Materie' überhaupt nicht stringent bestimmen läßt, ob der Thesis noch Genüge geschieht oder ob Faust ihr untreu geworden ist, liegt in der Inadäquatheit von philosophischem Prinzip und dramatischem Geschehen: jenes müßte, wollte es sich in diesem bestätigt wissen, sich immer neu mit begrifflicher Ausdrücklichkeit formulieren, was freilich höchst undramatisch wäre. Die Tatsache, daß Nichtthematisierung der Thesis deren Bejahung bedeutet, überbrückt zwar die Inadäquatheit von Philosophischem und Poetisch-Dramatischem, bedeutet jedoch keineswegs eine Lösung. Eine solche Lösung kann es gar nicht geben. Der Pakt kann nur durch eine ausdrückliche Wiederaufnahme, einen expliziten Rückgriff auf die ursprüngliche Formulierung eingelöst werden. Eine solche Wiederaufnahme ist jedoch philosophisch-systematischer Natur. Indem Faust sich im höchsten Alter auf die alte Formel des Paktes besinnt, um sie zu modifizieren, hebt er sich aus der unmittelbaren Begegnung mit der ,Totalität der Materie', aus der Immanenz des Geschehens heraus. Die Wiederaufnahme der alten Paktformel in modifizierter Form, dieser rituelle Vorgang ist, wie jede explizite Analogie in einem dramatischen Geschehen, nur durch ein hohes Maß an Stilisierung möglich; ein Kennwort markiert die Analogie, der Schlüsselbegriff des Augenblicks. Indem Faust sich im Pakt die Wiederaufnahme der Paktformel in eigener Person vorbehält, setzt er automatisch die .Totalität der Materie' als Kriterium über seine Erlösung oder Verdammnis außer Kraft. Niemand erwartet in der Unmittelbarkeit der Begegnung Fausts mit ihr den Ein112
bruch einer metaphysischen Instanz, die Faust richten könnte. So sehr also die Begegnung mit der .Totalität der Materie' als Durchführung des Faustschen Credo empfunden wird, so wenig wird die Frage, ob dieses Credo erfüllt ist, ausdrücklich thematisiert. Keineswegs ist sie ein P r o blem' im Staigerschen Sinne, ein .Vorgeworfenes, das der Werfende in der Bewegung einholen muß', und die Entwicklung der einzelnen Motivkomplexe, der einzelnen ,Tragödien' des,Faust' wird von ihr nur mittelbar berührt. Sie ist, um es noch einmal zu sagen, in der Durchführung der Faustintention .aufgehoben' und damit eo ipso bejaht. Sie ist damit kein Motiv, das die Vielfältigkeit des Faustgeschehens in d r a m a t i s c h e r Weise zusammenhielte: die dramatische Spannung, die sich in der alten Faustsage auf dem Hintergrund der christlichen Heils- und Sündenlehre aus dem Pakt ergab, diese halb im Metaphysischen, halb im Abenteuerlichen liegende Spannung ist in Goethes ,Faust' längst überwunden. Nicht jeder Schritt Fausts ist mehr ein Schritt zu Verdammnis oder Erlösung, nicht jeder Vorgang wird von einer metaphysischen Instanz kontrolliert und kann das Ende bedeuten. Sondern das Durchhalten seiner Intention erlaubt es Faust, am Ende seines Lebens sein altes Credo als eine Art Coda in modifizierter Form wieder aufzunehmen, wodurch er der Erlösung teilhaftig werden kann. Der Pakt ist also kaum als Exposition im strengen Sinne des Worts zu bezeichnen. Er und seine Einlösung sind philosophische' Klammern, in die die .poetische' Durchführung der Faustintention eingezwängt ist; sie bestätigen Schillers These, daß „die Anforderungen an den F a u s t . . . zugleich philosophisch und poetisch'' seien, daß „die Natur des Gegenstandes" Goethe zwangsläufig „eine philosophische Behandlung" auferlegen werde und seine „Einbildungskraft sich zum Dienst einer Vernunftidee bequemen" 7 werden müsse. So wenig der Pakt als .Exposition' funktionsbildende Kraft für das weitere Geschehen besitzt, so wenig weist die Paktszene in sich selbst eine Entwicklungslinie auf, die dramatisch voll befriedigen könnte. Dies liegt darin, daß ihr philosophischer Kern eine wahrhaft dramatische Entwicklung unmöglich macht. Während es die Funktionalität eines dramatischen Geschehens nicht erlaubt, ein einzelnes Motiv aus der Kontinuität dieses Geschehens herauszunehmen, um es nach Belieben auszugestalten, hat das Motiv im Faust eine in sich abgeschlossene, .substantielle' Bedeutung. An Stelle einer funktionalen, alle Einzelmotive dialektisch aufhebenden Entwicklung des Geschehens im konventionellen Drama tritt im 7
Schiller an Goethe. Brief vom 23. 6. 1797. In: Briefwechsel, Bd. 1, S. 348.
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,Faust' ein Umkreisen, allmähliches Erschließen des Einzelmotivs als eines relativ selbständigen Organismus. Dies gilt nicht nur für Fausts Begegnungen mit der .Totalität der Materie', die eine solche Technik geradezu aufdrängen, sondern auch für das Auswerfen der Thesis, aus der diese Begegnungen später hervorgehen. Soll ein Thema durchgeführt werden, muß es zunächst einmal in seiner Identität eindeutig feststehen, denn jede Form der Modifikation wird als Modifikation erst in Beziehung aufs ursprüngliche Thema deutlich. Das programmatische Herausstellen des ,Kopfthemas' des Faust, der Faustintention mit dem Pakt als Zentrum, ist ein durch keinerlei dramatische Entwicklung funktionalisiertes Motiv, ein Motiv, das, wie viele Motive im ,Faust', eine ganze Szene füllt. Im Einkreisen, allmählichen Erschließen und Ausgestalten dieses Motivs erschöpft sich das Maß an Funktionalität, das der Paktszene gesetzt ist. Langsam tastet sich Mephistopheles an den Kern des Motivs, den Pakt heran. Nach der kurzen Begrüßungszeremonie steuert er sogleich auf einen entscheidenden Punkt zu: er fordert Faust auf, aus der Enge seines Studierzimmers herauszutreten, mit ihm die Welt zu durchmessen, um zu erfahren, „was das Leben sei". (53) Fausts Antwort auf diesen Appell Mephistos ist ein hamletmüdes Reflektieren über die Welt und die Nichtigkeit ihrer Verlockerungen, die in der trüben Quintessenz Und so ist mir das Dasein eine Last, Der Tod erwiinsdit, das Leben mir verhaßt.
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endet. In dieser ziemlich langen Reflexionspartie klingt nodi einmal, schon halb als Reminiszenz, der alte Fausttenor der Introduktionszene an. Dort wie hier haben wir ein paraphrasisches Umkreisen eines Gefühlszustandes, ein entwicklungsfremdes Schwelgen in immer neuen Formen des immer Gleichen. Dieser neue Einbruch der Faustparaphrase scheint Mephistopheles und sein Prinzip zunächst aus der geistigen ,Aura' Fausts zu verbannen. Dodi zeigt sich Mephisto nun als jenes Agens, das „reizt und wirkt und muß als Teufel schaifen", (18) ein Agens, das von Gott selbst in seine Funktion eingesetzt wurde. Der kreisenden Faustparaphrase setzt er, zunächst in Form unaufdringlicher Insinuation, geschichtliches, seine Spitzen Fausts eigener geschichtlicher Existenz entnehmendes Bewußtsein entgegen: Und dodi ist nie der Tod ein ganz willkomm'ner Gast.
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Faust übergeht jedoch Mephistos Spitze, fügt seinem todessüchtigen Monolog nodi ein weiteres Bild schwelgerischer Todessehnsudit hinzu, bis Mephistopheles, dieses Mal mit stärkerem Akzent, Faust in seiner 114
Paraphrase zu fixieren, seine Todessiichtigkeit zu verfremden versucht. Sein Stachel dringt diesmal in Faust ein und bleibt in ihm haften: die melancholische Todessehnsucht geht, durch Mephistos provozierendes Gift geklärt, in die hellere Tonart totaler Negation über, die im Fluch auf den ,Balsamsaft der Reben', auf Liebe, Hoffnung, Glaube, vor allem jedoch auf die Geduld ihren Höhepunkt findet. Der einsetzende Geisterchor (auch dieser wieder ein Beispiel für das Bereitstehen der ,Materie', wenn es sich darum handelt, Faust als ein zu ergreifendes Objekt, oder, wie hier, als Antwort, als Resonanz auf einen Bewußtseinszustand zu dienen, wobei jedoch, im Gegensatz zum plötzlichen Einsetzen der Osterchöre, hier durch Mephistos Regie eine gewisse Motivation ins Spiel kommt) beklagt die Zerstörung der ,schönen Welt' und fordert den ,Halbgott', den ,Mächtigen der Erdensöhne' auf, sie in seinem Busen ,neu und prächtiger' aufzubauen. In diesem Appell an eine neue Form des Faustischen kündet sich indessen schon Mephistopheles an, der dann seine ,Kleinen' auch auf seine Weise kommentiert und ihren Appell weiterführt. Faust soll aus der reinen Negation, „aus der Einsamkeit, wo Sinnen und Säfte stocken", (55) in die Welt gelockt werden, um hier „Mensch mit Menschen" (55) zu sein. Mephisto bietet ihm an, dabei die Funktion eines Vergil zu übernehmen. Auf Fausts Frage nach den Bedigungen, die er dabei stellt, antwortet er: Idi will mich hier zu deinem Dienst verbinden, Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; Wenn wir uns drüben wiederfinden, So sollst du mir das gleiche tun. (56)
Die Formulierung dieser Antwort ist absichtlich so neutral wie möglich gehalten, da der Pakt ja nicht auf einem klar umrissenen christlichmetaphysischen Hintergrund mit dem Ausblick auf einen christlichen Himmel oder eine christliche Hölle geschlossen werden soll. Faust greift Mephistos vage Bestimmung eines ,Drüben' auf, um von dessen Negation aus sein eigenes Credo zu entwerfen, das ihn dereinst auf s e i n e Weise zur Erlösung oder zur Verdammnis führen soll. Mit der Formulierung des Pakts und seiner Unterzeichnung „mit einem Tröpfchen Blut" (58) ist der Motivkern der Paktszene erschlossen; dem allmählichen Herantasten an ihn entspricht ein Ausklingen des Paktmotivs, ein Heraustreten aus dessen ,Ereignischarakter' in seiner ,Geschehnisstruktur'. Freilich vollzieht sich, im Gegensatz zum Herantasten an den Motivkern, dieses Heraustreten nicht in leicht fixierbaren psychologischen Stufen, die doch so etwas wie eine dramatische Entwicklung bilden, vielmehr nimmt Faust sein kreisförmiges Paraphrasieren wieder auf, doch nicht mehr im Zei115
chen einer wie audi immer gearteten Negation, sondern eines ekstatischen Ich-Will, das Mephistopheles mit aufreizenden Synkopen sekundiert. Charakteristisch für die ,Substantialität' dieses paraphrasischen Kreisens ist, daß sich in ihm noch keinerlei Spur einer Exposition, eines Pläneschmiedens für eine Begegnung mit der .Totalität der Materie' findet; Mephistos lakonisches „Wir-gehen-eben-fort" (60) zeigt nodi einmal mit aller Deutlichkeit den Bruch zwischen ausgeworfener Thesis und ihrer Durchführung, ein Bruch, der sich aus der Natur dieses Verhältnisses und damit aus der Faustkonzeption selbst ergibt. 4. Die Schülerszene Zwischen der programmatischen Aufstellung der Faustthesis und deren Durchführung in den verschiedenen Entwürfen Fausts hat Goethe eine Szene eingeschoben, die in verschiedener Weise als Übergangsglied gelten kann: die Schülerszene. Als Szene, die noch nicht im Zeichen der Begegnung mit der ,Totalität der Materie' (einer Begegnung, die ja auch für Mephistopheles als Fausts negativem Analogen gilt), sondern noch im Zeichen philosophischer Auseinandersetzung steht, gehört die Schülerszene noch dem Komplex der ,methodischen Grundlegung' an. Als Szene, die Mephistopheles in einem Entwurf, nämlich der Parodie des Faustschen Erkenntnisstrebens zeigt, als ,Spielszene', liegt sie auf e i n e r Ebene mit späteren Szenen, in denen sich Mephistopheles zur Faustanalogie aufwirft, ist sie Teil der Durchführung des Mephistoprinzips in seinen verschiedenen Modifikationen. Doch fällt dieser letzte Punkt nicht so sehr ins Gewicht, da sich Mephistos parodistischer Entwurf ja eben auf jenen Faust richtet, der sich erst anschickt, den ,Cursum durdizuschmarutzen', d. h. den Faust der .methodischen Grundlegung'. Damit bleibt er selbst noch innerhalb dieses Komplexes, dessen Stilmittel er aufweist. Der philosophische Charakter der Sdiülerszene zeigt sich, wie bei einem Teil der vorausgegangenen Szenen, primär darin, daß die Sdiülerszene ein einziges, in sich abgeschlossenes Motiv aufweist, das philosophisch formulierbar und damit (was wichtiger ist, da hierin sein eigentlicher Kontrast zur funktional-dramatischen Entwicklung eines Geschehens besteht) in echter Weise resümierbar, ,auf den BegrifF zu bringen' ist. Die hierin beschlossene Substantialität schließt, wie wir schon früher, etwa bei dem ,Gesang' der ,zarten Geister' gesehen haben, nicht aus, daß ein solches Motiv Glied in einem .philosophischen System' zu werden vermag und dort einen ganz bestimmten Stellenwert einnimmt, ja sein philosophischer Charakter erschließt sich erst richtig innerhalb eines solchen .Systems'. 116
So wird die Schülerszene zum letzten Glied der ,methodischen Grundlegung' des ,Faust'; sie vervollständigt und beschließt dieses,System' durch die Parodie von Fausts bisheriger Existenz und verfolgt damit zugleich den Zweck, neben dem pathetisch-selbstdefinitorischen und dem ästhetischverführenden Aspekt des Satans jenen Aspekt einzuführen, der im Verlauf des ,Cursum' sein entscheidender sein wird: den Aspekt ironischreflektierender Zersetzung und Auflösung. Zwar blieb auch in der Paktszene und schon vorher der Ironiker in Mephistopheles nicht verborgen, doch wirkte Ironie hier als Kontrast zu Fausts pathetischem Tenor, wirkte aufmunternd, brachte Bewegung ins Spiel, kurz, war dem Geschehen unterworfen und zeigte sich noch nicht in ihrer letzten Nacktheit: als Zersetzung, als Leere. In diesen beiden Punkten, der Parodie von Fausts wissenschaftlicher' Existenz und der Einführung des dritten Mephistoaspekts besteht der philosophische Systemwert der Schülerszene innerhalb der ,methodischen Grundlegung' des ,Faust'. Natürlich kann Mephistopheles diese Parodie nicht im Angesicht Fausts selbst vorführen. Aus diesem Grunde bedarf es einer zeitweiligen Suspension der Faust-Mephistopheles-Beziehung, des Rollentausches und der Einführung einer dritten Gestalt, des Schülers, der den dramatischen Anlaß der Schülerszene gibt. Wie man sieht, hat auch hier die philosophische Notwendigkeit, oder zumindest der philosophische Reiz einer Episode einen absoluten Primat über die funktional-immanente Entwicklung des Gesamtgeschehens: dieser Primat führt eine dramatische Konstellation herbei, die innerhalb des Gesamtgeschehens ein Fremdkörper bleibt, verbannt vorübergehend die Hauptgestalt von der Szene, läßt Rollen tauschen, ohne daß dieser Tausch innerhalb einer Intrige dramatischen Wert besäße, und führt ohne Exposition eine Gestalt ein, die nach dem Ende der Parodie wieder verschwindet und deren Erscheinen ohne dramatische Folgen bleibt. Die parodistische Fixierung Fausts in seinem Erkenntnisdrange ist also das Grundmotiv der Schülerszene und bestimmt deren dramatische Entwicklung. Ähnlich wie in den Wagnerszenen, doch nodi ausgeprägter, erschöpft sich deshalb auch hier die Funktion des Schülers darin, dem Lehrer Stichworte zu geben, die für diesen zum Ausgangspunkt für kleinere oder größere Monologpartien werden. Im Gegensatz zur philosophischen Auseinandersetzung zwischen Faust und Wagner, die, da sie keinen fixierbaren Stoff besitzt, sich paraphrasisch kreisend bewegt, ist die Parodie Mephistos klar gegliedert; parodiert wird hier nicht ein relativ gegenstandsloses Streben nach Erkenntnis oder wohl auch die Müdigkeit, die aus solchem Streben erwächst, sondern die Materien, in 117
denen sich das Streben nach Erkenntnis verwirklicht. Logik, Metaphysik, Rechtswissenschaft, Theologie und Medizin werden der Reihe nach glossiert; der freilich recht bescheidene Erkenntnisdrang des Schülers wird mehr und mehr verfremdet und ins Erotische hinübergeführt, das, verallgemeinert, als Vitalismus gegen die ,graue' Theorie ausgespielt wird und damit Mephistos Sensualismus, eine weitere, allerdings zweitrangige Wesensseite Mephistos zeigt. Die konträre Wesensseite, Mephistos reflektierende Moralität findet in ihrer biblisch-klassischen Formulierung (eritis sicut Deus, scientes bonum et malum) Eingang im Stammbuch des Schülers, der sich, nachdem er Mephistos Signatur entziffert hat, mit Ehrerbietung empfiehlt, ohne freilich Mephistopheles in ihr erkannt zu haben. So einfach die philosophische Intention der Schülerszene ist, so köstlich ist ihre poetische Ausführung. Dieses Poetische — und hierin liegt der intellektuell-undramatische Charakter der Szene — ist wesentlich ironische Betrachtung und Definition der einzelnen ,Fakultäten' aus der Perspektive Mephistos. Dennoch ist die Szene nicht nur eine Folge ironischer Aperçus, sie ist auch eine psychologische Studie des Schülers, die freilich im Rahmen dessen bleibt, was wir mit der Kategorie des ,Allgemeinen' zu erfassen versuchten. Diese ,Allgemeinheit' hat ihren Grund darin, daß der Schüler, wie viele andere Gestalten im ,Faust', nur dazu dient, einen Bewußtseinszustand einer Hauptgestalt dialogisch herauszuarbeiten. Er ist diesem Bewußtseinszustand zugeordnet und bleibt, da dieser ,allgemein' bleibt, selbst,allgemein'. Der Schüler ist also Typus, seine Fragen und Reaktionsweisen sind typisch und erschöpfen sich in der Darstellung der Idee des Schülerseins. Kein darüber hinausgreifender Vorgang kristallisiert sich im Verlauf des Gesprächs heraus; beide begnügen sich damit, den Kosmos der Wissenschaften zu durchstreifen, der Schüler mit der naiven Gläubigkeit des Uneingeweihten, der auf des Meisters Wort vertraut, Mephistopheles mit dem ironischen Tonfall dessen, der, ohne den Schüler in unhöflicher Weise zurückstoßen zu wollen, solche Gläubigkeit zu verfremden trachtet. Das geringe Maß an Funktionalität liegt neben dem Intellektualcharakter der Szene und der .Allgemeinheit' der Beziehung beider Gesprächspartner audi darin, daß der Schüler Mephistos Aperçus oft gar nicht zu folgen vermag. Seine Funktion erschöpft sich primär darin, von Zeit zu Zeit ein neues Stichwort, ein Zeichen der Bejahung oder des Zweifels vorzubringen, um auf diese Weise Mephistos definitorischen Elan wieder zu beflügeln, Impulse für dessen Exkurse in ironisch-defaitistischer Erkenntnisbetrachtung zu geben. Dadurch wird die im Intellektualcharakter der Szene liegende dramatische Schwäche 118
noch weiter verstärkt, so daß diese im Grunde nur eine Folge von Definitionen Mephistos, unterbrochen von einigen typischen Reaktionen des Schülers ist. 5. Auerbachs Keller Bleibt die Schülerszene trotz der spielerisch-experimentierenden Züge Mephistos noch weitgehend im Bereich der ,methodischen Grundlegung' des ,Faust', so treten wir mit .Auerbachs Keller' in die Durchführung des Faustprinzips, in die verschiedenen Entwürfe und Existenzformen Fausts ein. Im Gesamtsystem dieser Existenzformen bezeichnet ,Auerbachs Keller' jene Existenzform Fausts, in der dieser noch nicht zu einem Entwurf gekommen ist, in der seine Begegnung mit der Welt noch passiv und der Regie Mephistos überlassen bleibt. Während dieser später gezwungen ist, seine magischen Fähigkeiten in den Dienst von Fausts Entwürfen zu stellen, führt er in ,Auerbachs Keller' Magie als Selbstzweck, als reines Amüsement vor, in der Hoffnung, Faust auf dieser Stufe seiner Existenz zu halten und ihn so allmählich sich zu entfremden. Um dies zu demonstrieren, um Faust in jener Entwurffremde im Gesamtsystem seiner Existenzformen zu zeigen, genügt eine einzige Szene. Als Paradigma steht diese unter der Kategorie der Substantialität; weder geht ihr eine Exposition voraus noch dient sie dazu, ein späteres Geschehen einzuführen oder anzukündigen. Der philosophische Stellenwert, für den die Szene steht, findet jedoch keine Entsprechung in der Ausführung der Szene selbst. Die ,Materie', die zur Demonstration dieser Existenzform Fausts dient, ist denkbar wenig abstrakt. Sie hat nichts Philosophischallgemeines' an sich, vielmehr wird sie in vollem Umfang demjenigen gerecht, das wir als ,pars pro toto' zu bezeichnen versuchten. Weder die Saufkumpane, in deren Kreis Faust und Mephistopheles eintreten, noch das magische Spiel, das Mephistopheles mit ihnen spielt, haben als solche die ,Allgemeinheit' des Philosophischen oder auch nur des Typischen. Ihre philosophische Bedeutung bekommen sie erst im Gesamtzusammenhang der Entwürfe Fausts, weil sie hier stellvertretend für eine Welt stehen, auf die hin Faust sich nicht entwerfen kann, die ihn langweilt. Sie selbst sind jedoch höchst konkret. In dieser Konkretheit unterscheidet sich die Szene von den vorausgehenden Szenen; sie zeigt nicht mehr jene Stilmerkmale, die sich aus dem Eindringen des Philosophisch-Systematischen ins Dramatische ergeben. Daß sie als Ganzes einen philosophischen Systemwert erfüllt, tut dabei nichts zur Sache; in der Immanenz ihrer Entwicklung entbehrt sie jeden begrifflichen Elements. 119
Wie so oft wird audi in dieser Szene wiederum eine Welt ,vorgeworfen', ehe Faust, hier zum ersten Male in Begleitung Mephistos, in sie eintritt, um sie sich zu assimilieren und sich zum Bewußtsein zu bringen. Diese Welt, die Welt der wüsten Studentenkneipe, wird, im Gegensatz zu früheren, mit Identifikation oder stellvertretender Kurzcharakteristik arbeitenden Weltskizzierungen als Medium, als Atmosphäre .vorgeworfen*. Siebel, Altmayer, Frosch und Brander sind repräsentative Vertreter dieser Atmosphäre; ihre Psychologie ist nicht differenzierte Individualpsychologie, sondern Psychologie eines Milieus. Die Atmosphäre dieses Milieus wird nicht nur stellvertretend angedeutet — eine Atmosphäre kann, soll sie zum Schwingen kommen, niemals nur dem Begriff nach skizziert werden — sondern in voller Breite ausgeführt. Das Maß an Funktionalität ist freilich auch hier denkbar gering, die Dialogform ist eine Folge von einzelnen Gesprächsfetzen, die nach Belieben auch anders hätten angeordnet werden können, ohne daß man diese Veränderung bemerken würde. Das,Plötzliche', in dem Kierkegaard einen wesentlichen Bestandteil des ,Dämonischen' sah (man erinnere sich in diesem Zusammenhang seiner Analyse der Psychologie Mephistos im ,Begriff Angst'), findet in der Diskontinuität von Ausrufen und Gefühlsausbrüchen aller psychischen Schattierungen, sporadischen Improvisationen, besonders pseudoballadesker Art, kleinen Zoten und gegenseitigen Anpöbelungen einen vulgären Ausdruck, und so ist es kein Wunder, daß Mephistopheles hier eine wenn auch harmlose Form seines Reiches verwirklicht sieht, die er Faust vorzuführen wünscht. Aus diesem Grunde versucht er zunächst sich dieser Atmosphäre zu assimilieren. Mehr und mehr kündigt sich in ihm jedoch der Magier an, der, da er fühlt, daß Faust mit einer bloßen Teilhabe an diesem Milieu nicht gedient ist, darauf drängt, sich zu produzieren. Mit der Vorbereitung der magischen .Darbietung' wird das rein Atmosphärische deshalb in eine gewisse dramatische Entwicklungslinie hineingezogen. Das Ganze ist freilich mehr ein Trick mit Introduktion und Nachspiel als ein echter, durchkomponierter Vorgang, ist ein magischer Effekt, aus dessen Kern sich durch künstliche Dramatisierung eine kleine Komödie entwickelt. Mephistos Absicht besteht ja auch nicht darin, mit seinen ,Opfern' in eine .Intrige' verwoben zu werden, sondern darin, Faust seine magischen Fähigkeiten zu zeigen, was eine gewisse Distanz, ein Spielbewußtsein, das Bewußtsein, Regie zu führen, kurz jenes Verhältnis eines ,rhapsodischen' Ego zu seinem ,Gegenstand' erfordert, aus dem Staiger alle Stilmerkmale des .Epischen' ableitet, ein Verhältnis, das natürlich auch innerhalb einer der äußeren Form nach dramatischen Szene vorkommen kann. 120
Fassen wir zusammen. Der philosophische Sinn der Szene ,Auerbachs Keller', ihr Systemwert im Gesamtzusammenhang des ,Faust* besteht darin zu zeigen, daß Faust zu Beginn des ,Cursum' seinen ,Stoff' noch nicht gefunden hat. Eine echte Konfrontation zwischen ihm und der .Materie' ist noch nicht möglich. Nur eine solche Konfrontation, ein Ineinander-Aufgehen von Subjekt und Objekt vermag jedoch jenes Maß an Funktionalität zu schaffen, das im ,Faust' überhaupt möglich ist und das sich natürlich vom Aufgehen eines Charakters in einer dramatischen Situation noch immer wesentlich unterscheidet. Noch fehlt das geistig und dramatisch Einheitsbildende der Entwürfe Fausts mit all den Verstrickungen, die sich aus diesen Entwürfen ergeben. So wird Langeweile und Ekel zur ersten Existenzform Fausts in seiner Begegnung mit der ,Materie'. Charakteristischerweise erschließt sich diese Existenzform nur mittelbar, durch Schweigen, denn außer einem kurzen, allerdings unmißverständlichen Wink zum Aufbruch gibt Faust kein Zeichen seines Widerwillens gegen Mephistopheles als Magier und Farceur. Dieser, später nur nodi Mittler zwischen Faust und d e s s e n ,Materie' (wir sehen hierbei von seiner Existenz als negativer Analogie Fausts ab), dem Magie dazu dienen muß, den ,Stoff' für Fausts Entwürfe bereitzustellen, blendet hier noch mit Magie als Selbstzweck, doch bleibt solche Magie und die Wirkung, die sie bei ihren Opfern tut, immer nur eine Folge isolierter Effekte und vermag nicht jene Kontinuität zu stiften, die in einem echten Entwurf beschlossen liegt. 6. Die Hexenküche Der Ubergang von ,Auerbachs Keller' zur .Hexenküche' zeigt in exemplarischer Weise den Übergang zwischen zwei Welten im ,Faust': nicht nur wird die ganze Reaktion Fausts auf Mephistos magisches Experiment in .Auerbachs Keller' ausgespart, zwischen dieser Szene und der Hexenküche' liegt die Begegnung Fausts mit jener ganzen Mephistowelt der .flachen Unbedeutenheit', deren Paradigma ,Auerbachs Keller' ist. Solche Paradigmen sind charakteristisch für die .substantielle' Kompositionstechnik, deren sich Goethe im ,Faust' bedient und unterscheiden diese grundsätzlich von einer funktionalen, wo jedes Faktum nur als das, was es in sich selbst ist, funktionalisiert werden kann, nicht stellvertretend für etwas anderes stehen kann. Dieser Charakter des Paradigmatischen von .Auerbachs Keller' darf, will man den Übergang von dieser Szene zur ,Hexenküche' redit verstehen, nicht vergessen werden. Auf seinem Hintergrund wird erst die Verkürzung der dramatischen und psychologischen 121
Entwicklung deutlich, die wir zwischen den beiden Szenen annehmen müssen. Reinhard Buchwald beschreibt diese wie folgt: „Wir wissen nicht, durch wie viele Gaststätten mit den Reizen von ,Auerbachs Keller' Faust von Mephisto noch geschleppt worden ist und durch wie viele Kunststücke von der Art des Weinzaubers dieser geglaubt hat, ihn für sich gewinnen zu können." 8 Und, die psychische Entwicklung Fausts retrospektiv, von der .Hexenküche' aus, aufrollend: „Jedenfalls hat er, als wir die beiden wiedertreffen, das Gegenteil erreicht, und er hat sich zu einem stärkeren Mittel entschlossen."* Nachdem das magische Amüsement nicht verfangen hat, soll das erotische Faust in die Falle des Teufels locken. Im Verhältnis beider Formen der Verführung oder, von Faust her betrachtet, beider Formen der Weltbegegnung, haben wir wieder eine exemplarische Verwirklichung der substantiellen' Kompositionsweise, die sich aus Fausts Möglichkeitsexistenz ergibt. Ist e i n e Existenzform erschöpft, wendet man sich einer anderen zu. Die ,Hexenküche' führt diese neue Existenzform freilich erst ein; sie ist nur die Überleitung „zu der ersten großen Versuchung Fausts durch sinnliche Liebesleidenschaft, mit der Mephistopheles sein Opfer allmählich dahin bringen will, daß es Staub frißt". 1 0 Aber auch dieses Einführen und Überleiten ist nicht dramatisch; vielmehr ist es eine Art Prolog zur Gretchentragödie, in dem jedoch deren Motivkomplex und die Existenzform Fausts als Liebender charakteristischerweise noch nicht antizipiert werden. Was in der .Hexenküche' exponiert wird, ist lediglich die Vorbereitung Fausts zum Erotischen, eine Vorbereitung, die ein selbständiges, in sich abgeschlossenes Motiv darstellt, das nur lose mit der Gretchentragödie verbunden ist, und das deshalb in hohem Grade unter der Kategorie der Substantialität steht. Dies erhellt, wie gesagt, dadurch, daß die Form von Fausts zukünftiger erotischer Existenz noch gänzlich offen ist. J a , die Verwandlung zum Erotiker vollzieht sich fast ohne Bewußtsein Fausts; sie ist ein Werk Mephistos, der Faust für s e i n e Vorstellung von der ,Liebe' gewinnen will. Faust sieht in dem Liebestrank zunächst nur einen Verjüngungstrank, begreift jedoch unter Mephistos Einfluß zum Schluß der Szene die erotischen Möglichkeiten, die ihm dieser Trank eröffnet. Doch die konkrete Form von Fausts erotischer Entwicklung, ihre verschiedenen Stadien, die Psychologie des Mädchens, das diese Entwicklung auslöst, die Möglichkeit des Schuldigwerdens, all Reinhard Buchwald, Führer durch Goethes Faustdichtung. Erklärung des Werkes und Geschichte seiner Entstehung. Mit 7 Bildtafeln. 1942. S. 121. » B u d i w a l d , S. 121. 10 H . Ridcert, S. 215.
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dies bleibt noch im Dunkel. Ähnlich wie in der Paktszene wird auch hier noch kein konkretes Geschehen exponiert, sondern nur eine, freilich gegenüber der Abstraktheit der dort ausgeworfenen Faustthesis relativ konkrete Möglichkeit angedeutet, eine Möglichkeit, die, wie gesagt, die »Hexenküche' von der Wirklichkeit der Gretchentragödie klar abgrenzt. Diese Abgrenzung ist nur dadurch möglich, daß das Motiv der Hexenküche*, die Vorbereitung Fausts zum Erotischen, einen klar umrissenen, im Grunde sehr abstrakten Kern enthält, einen Kern, der jedoch, im Gegensatz zum ,Pakt', nicht in einem größeren philosophischen Bezugsystem steht und der infolgedessen nicht aus diesem, es enthaltend und auf ihm aufbauend, als Abschluß hervorgehen, nicht allmählich erschlossen, sondern nur umschrieben werden kann. Freilich wird dieser abstrakte Kern, der im Trinken des Verjüngungs- und Liebestranks durch Faust einen konkret-bildhaften, fast möchte man sagen, symbolischen, d. h. zugleich konkreten und abstrakten Ausdruck findet, auf mannigfache Weise vorbereitet, aber dieses Vorbereiten ist kein Erschließen, berührt doch all das Kauderwelsch, das die Hexe und die Tiere von sich geben, diesen Kern nicht unmittelbar. Dieses Kauderwelsch, an dem, wenn audi in vernünftigerer Form, ja auch Mephistopheles teilnimmt, zeigt mittelbar an, daß der eigentliche Motivkern der Szene nicht erweitert, nicht entwickelt werden kann. Nur eine Möglichkeit ,vorwerfend' und infolgedessen relativ funktionslos in der Entwicklung des Gesamtgeschehens, enthält er auch in sich selbst ein relativ geringes Maß an Funktionalität. Die Zeremonie, der sich Faust unterziehen muß, hat zwar als Ganze die Funktion, das Trinken des Verjüngungstrankes vorzubereiten, die Sprüche, deren sich die Hexe dabei bedient, ihr ,Hexeneinmaleins' und ihre Kurzparodie der Wissenschaft haben jedoch mit der Vorbereitung zur Verjüngung Fausts inhaltlich überhaupt nichts zu tun. Sie sind weder allegorischer noch symbolischer Ausdruck dieses Vorgangs und weisen infolgedessen auch nicht jenes Maß an Funktionalität auf, das konsequent gebauten Allegorien oder Symbolen eigen ist. Wohl stehen sie f ü r einen Vorgang, aber dieses Für wird nicht explizit thematisiert, das ganze Kauderwelsch bleibt inhaltlich von der magischen Vorbereitung Fausts auf das Trinken des Liebestranks getrennt und ist infolgedessen in sich selbst überhaupt kein echtes Motiv. Vielmehr fügt die Hexe Spruch an Spruch, und nicht zufällig findet diese Form eines radikalen Additionsprinzips ihren Höhepunkt im Zahlenspiel des Hexeneinmaleins. Die Hexe gehört zu jenen Gestalten des ,Faust', die nur sehr bedingt eine koordinierte Psychologie aufweisen; wie für Sphinxe, Greife und andere Gestalten mit der .Psychologie' des Walpurgishaft-Chthonisdien gilt auch 123 9
Streidier, Faust
für sie, daß ihre Psychologie die Summe ihres Geschwätzes ist. Dieser Mangel an Konsequenz in ihrer Psychologie erlaubt es Goethe, das assoziative Gerede der Hexe mit satirischen Anspielungen „auf die Französische Revolution . . . , die kirchliche Dreifaltigkeitslehre" und „Literarisches" 11 zu durchsetzen, wodurch demonstriert werden soll, daß das Hexenhafte sich nicht nur in einem mythischen Archetypus inkarniert, sondern etwas stets Gegenwärtiges ist, das uns alltäglich in vielerlei Äußerungsformen begegnet. So wird die Hexe mittelbar freilich wieder zu einer Art Charakter; sie wird Mephistoanalogie, .Tochter' des Chaos; die freie Assoziation, ein psychologisch neutraler Begriff, nimmt, dafür sorgt die Gegenwart Mephistos, die Färbung des Bösen an. Das Gleiche gilt auch für die Tiere, die Trabanten der Hexe. Doch zeigt sich bei all diesen Gestalten (bei den Tieren deutlicher noch als bei der Hexe), daß sich dieses Böse nicht zu einem vollen Charakter auszukristallisieren vermag; es bleibt bloße, in sich eingeschlossene, nur von sich selbst,besessene' Naturmacht und bedarf, soll es nach außen dringen, der Vermittlung Mephistos, seines Herrn und Meisters. Dieser versucht denn auch, Faust in die Hexenwelt und ihre Bräuche einzuführen; er dient als eine Art Vergil, dessen Begleiter dieser Form von Unterwelt allerdings keinen besonderen Reiz abgewinnen kann. Vielmehr bleiben beide Welten ziemlich unvermittelt: auf der einen Seite steht die hierarchisch aufgebaute Welt des Satanischen, die sich primär mit sich selbst unterhält, sich selbst zur Darstellung bringt, .material' bleibt, auf der anderen Seite steht Faust, dieser Welt ein Fremder und unfähig, sie in seinen Strudel hineinzuziehen und so zu funktionalisieren: Widerstreben ist die einzige Form der Beziehung, die er mit ihr zu unterhalten vermag. Die eigentliche Faust-Linie — wenn man in diesem Tohuwabohu überhaupt von einer Linie sprechen kann — bleibt außerhalb des Walpurgismäßig-Hexenhaften: im Motiv der sinnlich-erotischen Verzauberung durch eine nackte, mit allen sinnlichen Reizen ausgestattete Frau, die Faust in einem Zauberspiegel erblickt, kündet sich das Erosmotiv an, das dann in der Gretchentragödie zum ersten großen Entwurf Fausts führt. Auch hier haben wir ein typisches Beispiel von verschiedener Ausgestaltung eines Motivkerns, wie sie in einem funktionalen Kontinuum, das nur eine Motiventwicklung, nicht aber die Variation eines Motivkerns und die damit verbundene, auf Analogie und Abweichung gegründete Systembildung kennt, in keiner Weise erscheinen kann. Das Verhältnis der beiden Erosformen Fausts ist leicht zu bestimmen: Während in der Gretchentragödie 11
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R. Buchwald, S. 122.
sich Fausts Liebesbegehren an der Realität messen muß und an dieser schließlich zerbricht, vermag Erotisch-Sinnliches, von Mephistopheles in einem Zauberspiegel diskret zur Schau gestellt, in voller ,Idealität' zu wirken. Faust, von einem Idealbild des Sinnlich-Erotischen als Teufelswerk getroffen, dies ist die Faust-Linie in der ,Hexenküche'. Sie ist von der Hexenwelt und ihrem Treiben deutlich abgegrenzt, entwickelt ihr eigenes, in sich abgeschlossenes Motiv, das sie mit einem Maximum an lyrisch-erotischer Intensität vorträgt. Wie wenig Faust sich in der Hexenwelt auskennt, wie sehr seine Welt von dieser getrennt bleibt, zeigt sich besonders eindeutig in der psychologischen Tatsache, daß er die sinnlicherotischen Reize der nackten Frau im Zauberspiegel keineswegs als Verführungsmittel Mephistos erkennt; der Zusammenhang zwischen jenem Reiz und der Hexenwelt, ihr gemeinsames Böses, bleibt ihm fremd oder wird zumindest nicht ausdrücklich thematisiert. Auch den Verjüngungstrank trinkt er nicht mit Bewußtsein als Liebestrank. Wir haben also durchaus zwei getrennte Motivlinien, die kaum miteinander in Berührung kommen, was wiederum typisch für jene Anfangsszenen des ,Faust' ist, wo Faust seinen ,Stoff' noch nicht gefunden hat, dem ,Stoff', den ihm Mephistopheles herbeischafft, jedoch fremd gegenübersteht, oder, wie das Erlebnis mit dem Zauberspiegel zeigt, sich aus der Fülle des auf ihn Eindringenden e i n e n Gegenstand herausgreift und zu eigen macht. Erst mit dem Schluß der Szene fließen beide Motive in einem einzigen zusammen, wird die erotische Gemeinsamkeit beider Motive deutlich: Faust.
Laß midi nur schnell noch in den Spiegel schauen! Das Frauenbild war gar zu schön! Mephistopheles. Nein! Nein! D u sollst das Muster aller Frauen N u n bald leibhaftig vor dir sehn. (Leise) D u siehst, mit diesem Trank im Leibe, Bald Helenen in jedem Weibe. (84)
In diesem Bonmot formuliert Mephistopheles den Systemwert der ganzen Szene, die Disponibilisierung Fausts zur Liebe, in unübertrefflicher Weise. Daß dieser Wert, dieses Motiv erst zum Schluß der Szene mit solcher Deutlichkeit formuliert wird, hat seinen Grund in seiner relativen ,StofPoder Gegenstandslosigkeit, die ihrerseits darin gründet, daß hier eine Begegnung zwischen Faust und einer Welt, der Welt der Liebe, erst vorbereitet wird, die Funktionalität, die sich aus dem ,Liebesentwurf' Fausts ergibt, der bloßen Disponibilisierung zu diesem noch fehlt. Vermag die Liebe eine tragische Konsequenz anzunehmen, so läßt sich die Vorbereitung zur Liebe in zwei Zeilen formulieren. D a ein solches Motiv in seiner 125 9
Gegenstandslosigkeit nicht entwickelt und durchgeführt werden kann, wird es durch eine Fülle relativ fremden Stoffs angereichert. Der psychologisch-abstrakte Vorgang der Disponibilisierung Fausts zum Erotischen wird durch das Trinken eines Liebestranks konkretisiert und damit zu einem kleinen Drama erweitert; da dieses jedoch auch noch ziemlich kurz wäre, wird seine Vorbereitung zu einem neuen Drama in nuce; diese Vorbereitung erfordert, soll das Kauderwelsch der Hexe (das das Zentralmotiv ja längst nicht mehr thematisiert) einen Sinn bekommen, eine vorbereitende Darstellung der Atmosphäre der .Hexenküche', deren Walpurgishaftes ganz unter der Kategorie der Substantialität steht und der gegenüber, ähnlich wie derjenigen in .Auerbachs Keller', Faust nur Abstoßung empfindet. 7. Die Gretchentragödie Der Übergang von Fausts Vorbereitung zur Liebe zu seinem .Liebesentwurf' vollzieht sich ohne jedes als Exposition dienende Zwischenglied: Faust, soeben mit neuer Liebesfähigkeit begabt, spricht unvermittelt ein junges Mädchen an. In diesem Ansprechen haben wir wie selten im,Faust' einen absolut freien, durch keinerlei Exposition (die bloße erotische Disponibilisierung kann, analog dem Auswerfen der Faustthesis im Pakt, nicht als echte Exposition betrachtet werden) eingeführten und bedingten Akt, einen reinen, nur aus sich selbst hervorgehenden Entwurf. So rein dieser Entwurfcharakter zunächst ist, so wenig läßt er sich jedoch in der Entwicklung des Geschehens aufrechterhalten. Vielmehr wird die Gretchentragödie mehr und mehr zu einem Komplex, in dem sich einmal Entworfenes nach immanenten Gesetzen weiterentwickelt und so keinen neuen Entwurf, sondern nur noch Reaktion zuläßt. Freilich bedeutet weder Entwicklung nach immanenten Gesetzen', daß die Gretchentragödie im strengen Sinne des Worts eine Tragödie ist, noch .Reaktion', daß der Held einer echten .Situation' ausgeliefert ist und damit tragisch werden könnte. Die Unterschiede zur editen Tragödie sind vielmehr eindeutig zu bestimmen und gründen im Wesen der Faustkonzeption selbst. Das Verhältnis von Faust-Ich und .Materie' bleibt nämlich audi in der Gretchentragödie erhalten. Es wird hier zum Verhältnis von erotischem .Subjekt' und erotischem .Objekt'. Durch die Konzentration auf dieses Verhältnis wird das Geschehen zum rein erotischen Geschehen. Dies gilt nicht nur für den Akt des erotischen Entwerfens selbst, wo Bewußtsein des Verführens, Subjekt-Objekt-Bewußtsein noch vollständig vorhanden ist, sondern für den gesamten Ablauf des Geschehens, das wir als Fausts 126
.Liebesentwurf' im erweiterten Sinne bezeichnen. Durch diese ,Reinheit', d. h. Ausschließlichkeit des Erotischen unterscheidet sich die Gretchentragödie von anderen Liebestragödien wie etwa Shakespeares ,Romeo und Julia'. Im Gegensatz zu diesen ist in der Gretchentragödie Liebe (und auch spätere, weniger rein erotische Gefühlsstadien) nidit, oder nur am Rande mit einer ,Intrige' (dieser Begriff dient uns dazu, alles nicht unmittelbar erotische oder überhaupt Gefühlsgeschehen zu bezeichnen) verquickt, wird sie als Idee, als Nur-Liebe deutlich. Gibt es in der Gretchentragödie eine Geschehnisstruktur, so besteht diese primär in der Entwicklung des Liebesgeschehens selbst, eines Liebesgeschehens, das freilich durch die Begegnung zweier bestimmter Charaktere seine spezifische Färbung, seine spezifische Form der Tragik, seine spezifischen Konstellationen, kurz seine spezifische Entwicklung aufweist. Dies bedeutet jedoch nicht, daß es deshalb aufhörte, rein erotisches Geschehen zu sein und zum echten Drama würde. Worin besteht nun aber der Unterschied zwischen einem dramatischen Geschehen und einem Geschehen, dessen ,Drama' ausschließlich die Liebe ist? Mit dieser Frage stoßen wir ins Zentrum der Gretchentragödie. Ein Geschehen, das sich darauf beschränkt, Liebe zu sein, ist notwendig relativ ,allgemein'. Das eigentliche Geschehnismoment der Gretchentragödie liegt im Nacheinander einzelner modellhafter erotischer Stadien, Konstellationen und Vorgänge, die sich aus der Begegnung zwischen Faust und Gretchen ergeben. Ein solches Geschehen ist jedoch — wir haben dies in unserer vorbereitenden Analyse der Helenatragödie gesehen — nur sehr eingeschränkt als dramatisch zu bezeichnen. Wie in der Helenatragödie bedarf jedoch auch hier das ,Allgemeine', soll es eine lineare Entwicklung bekommen, gewisser Übergänge, gewisser Elemente einer ,Intrige', die hier wie dort zumeist der Regie Mephistos zufällt. Im Vergleich zur Helenatragödie weisen jedoch in der Gretchentragödie die einzelnen modellhaften Ausprägungen erotischen Verhaltens einen geringeren Grad an ,Allgemeinheit' auf. Der Charakter des philosophischen Systems, in dem diese erst richtig zur Geltung kommt, fehlt hier vollständig. Das erotische Geschehen der Gretchentragödie ist bei aller ,Allgemeinheit' durchaus realistisch-unbegrifflich. Dem entspricht, daß in der Gretchentragödie die einzelnen Ausprägungen des ,Allgemeinen' viel organischer und natürlicher ineinander übergehen als in der Helenatragödie, wo es komplizierter und im Grunde oft recht künstlicher Machinationen Mephistos bedarf, um zwei Prinzipien miteinander in Berührung zu bringen und diese Berührung aufrechtzuerhalten. Die Diskrepanz zwischen den modellhaften Ausprägungen des Erotischen und den verbindenden Handlungselementen der ,Intrige' ist in der Gretchentragödie 127
geringer als in der Helenatragödie. Kennzeichen dieser geringeren ,Allgemeinheit' in der Gretchentragödie ist audi, daß hier die einzelnen erotischen Zustände, Konstellationen oder Vorgänge weit mehr in eine konkrete Welt, ein konkretes Milieu verwoben sind als in der Helenatragödie. Welch ein Unterschied zwischen der Abstraktheit der Liebesvereinigung zwischen Faust und Helena (die in dieser Abstraktheit nur in einem einzigen Satz angedeutet werden kann) und den ganzen Umständen, die mit der Liebesvereinigung zwischen Faust und Gretchen verbunden sind und die entscheidend mitspielen. Doch bedeutet solches Mitspielen nicht, daß das eigentliche Geschehen nicht Gefühlsgeschehen wäre. Marthe, Lieschen, Valentin, sie alle haben nur die Funktion, dieses Geschehen vorzubereiten oder seinen Rahmen abzugeben. Dazu bedarf es weder einer Exposition nodi eines Ausblicks auf ihr weiteres Schicksal. Als Zuordnungen zu ,allgemeinen' erotischen Verhaltensweisen sind sie selbst,allgemein', sind Typen und erschöpfen sich in der Darstellung ihres typisierten Wesenskerns, sind also nicht an sich, sondern nur im Zusammenhang der Faust-Gretchen-Linie funktionsbildend. Dennoch bewirkt das Mitspielen einer Welt, der Faust und Gretchen unterworfen sind, daß die Gretchentragödie ein größeres Maß an Funktionalität aufweist als die Helenatragödie in ihrer Abstraktheit und Weltfreiheit. In der Folge soll nun der Grad an .Allgemeinheit' bestimmt werden, der der Gretchentragödie eignet und der darin liegt, daß aus dem erotischen Entwurf Fausts eben nicht eine Liebestragödie à la ,Romeo und Julia', sondern d i e Tragödie der Liebe, freilich die Tragödie der Liebe Fausts, hervorgeht. Als Paradigma einer Konzentration aufs Modellhafte kann bereits die erste erotische Szene, die Begegnung zwischen Faust und Gretchen, gelten. Zwei Zeilen männlichen Werbens, zwei Zeilen weiblicher Antwort, kürzer läßt sich eine erste Begegnung zwischen Mann und Weib nicht formulieren. Der erotische Vorgang wird auf ein Äußerstes an Abstraktion reduziert; Fausts Frage ist d i e Frage des Mannes, des erotischen ,Subjekts', Gretchens Antwort d i e Antwort des unschuldigen jungen Mädchens, des erotischen .Objekts'. Jede Erweiterung des Dialogs in diesem Anfangsstadium würde die .Reinheit' des erotischen Vorgangs beeinträchtigen. Ähnlich modellhaft wie die Begegnung selbst ist die Reaktion Fausts auf Gretchens Erscheinung: es ist d i e Reaktion des Mannes auf eine jugendfrische und unmittelbar-naive Weiblichkeit, eine Weiblichkeit, deren Psychologie, wie sich im Spiegel männlicher Reaktion zeigt, ebenfalls keineswegs besonders individualisiert ist. Auch die nächste Stufe in der Entwicklung des erotischen Geschehens gehorcht ganz und gar dem Gesetz reinster Modellerotik (die man in diesem Stadium audi 128
als Kollektiverotik, ja Vulgärerotik bezeichnen kann); sie gipfelt in Fausts Forderung, ihm „die Dirne" zu „schaffen" (84) und zeigt damit in allgemeinster Weise den natürlichen erotischen .Appetit' an, den ein Mann verspürt, der soeben einem jungen hübschen Mädchen auf der Straße begegnet ist. Erst mit Mephistos „Nun, welche?" (84) treten wir aus der Modellhaftigkeit erotischen Verhaltens, jenem quasi Männchenhaft-Automatischen im Vollzug der einzelnen erotischen Stufen heraus, um in die ,Intrige' der Verführung einzutreten. Mephistopheles zeigt sich auch hier wieder als Regisseur. Er weist die Spur, die aus einem abstrakten Verführenwollen ein konkretes Verführen machen soll. Hierzu bedarf es zunächst einmal der Kenntnis der näheren Umstände von Gretchens Leben: Mephistopheles zeigt sich auch hier allwissend. Die Frage, woher er diese Kenntnis nimmt, warum er sich, ohne Auftrag Fausts, an Gretchens Beichtstuhl vorbeigeschlichen und ihre Wohnung aufgespürt hat, ist für einen Dämon seines Ranges beleidigend. Für einen allwissenden Satan erübrigt sich jede Exposition, ist jede Exposition in seinem Allwissen .aufgehoben'. Dieses Nicht-begründen-Müssen des Vermittlers erleichtert und verkürzt die Voraussetzungen der Begegnungen zwischen Faust und der ,Totalität der Materie', in unserem Fall der ,Liebesmaterie'. So vermag Mephistopheles, als Faust ihn vor die Alternative stellt, ihm ,die Dirne' zu ,schaffen' oder sich von ihm zu trennen, ihm eine Besichtigung des Zimmers Gretchens während deren Abwesenheit in Aussicht zu stellen, womit der erste Faden für das Gewebe einer echten ,Intrige' gesponnen ist. Faust fügt mit der Absicht, Gretchen ein Geschenk zu hinterlassen, dem ersten Faden einen zweiten hinzu. Neben diesen Elementen, in denen sich .Intrige' als ,Intrige' herauskristallisiert, haben die anderen Elemente nur mittelbar funktionalen Wert. Wohl dient das Hin und Her zwischen Fausts erotischem Stürmen und Drängen und Mephistos ironischhinhaltender Beschwichtigungstaktik dazu, die ,Intrige' vorzubereiten, doch liegt seine Bedeutung zugleich in der .substantiellen', ihren Sinn in sich selbst tragenden Auseinandersetzung zwischen Faust- und Mephistoprinzip in der .Materie' des Erotischen. Denn Mephistopheles ist ja nicht nur Mittler zwischen Faust und der .Totalität der Materie', er ist zugleich Verführer Fausts. Neben der erotischen Tragödie steht, untrennbar mit dieser verbunden, das Drama der Verführung Fausts durch Mephistopheles. Diese Verführung, die hier nicht als Verführung zu etwas, d. h. zur Liebe, wozu es ja keiner Verführung mehr bedarf, sondern als Hinüberziehen ins Leere verstanden werden muß, nimmt auch im Bereich des Erotischen jene Gestalt an, deren sich Mephistopheles in seinem Ringen um Fausts Seele auch im Bereich anderer Existenzformen bedient: des 129
hinterhältigen Angriffs des Reflexionsprinzips auf das Unmittelbarkeitsprinzip Fausts. Erotischer Unmittelbarkeit, die freilich hier auch noch ziemlich sinnlich ist, wird erotische Reflexion, für die Erotisches nur sublimierte und mit Raffinement vorbereitete und vorzubereitende Sinnlichkeit ist, in aller Illusionslosigkeit entgegengesetzt. Mephistopheles. Ihr sprecht schon fast wie ein F r a n z o s ' ; Doch bitt' ich, laßt's Euch nicht verdrießen: Was hilft's, nur grade zu genießen? D i e Freud' ist lange nicht so groß, Als wenn Ihr erst herauf, herum, Durch allerlei Brimborium, D a s Püppdien geknetet und zugeridit't, Wie's lehret manche welsche Geschieht'. (85)
Indessen bricht diese Auseinandersetzung zweier Prinzipien erst in d e m Augenblick in voller Stärke aus, wo Faust beginnt, am Erotischen zu leiden, wo das Reflexionsprinzip aufs Seelenprinzip, nicht aufs selbst nodi ziemlich sinnliche Verführungsprinzip trifft. In unserem Stadium der Entwicklung kündet sie sich erst als Präludium an und ist noch nicht so sehr geistig-moralischer Selbstzweck wie später, ist noch weitgehend in der Vorbereitung der .Intrige' aufgehoben und dient dazu, diese in Gang zu bringen. Wie wir bereits angedeutet haben, sollte jedoch das Gewicht der ,Intrige' nicht überschätzt werden. Ihre einzelnen Elemente dienen immer nur dazu, relativ allgemeine' erotische Vorgänge, Zustände und Konstellationen einzuführen, diese zu verbinden oder ihre Folgen zu demonstrieren. Eine konsequente Durchführung einer ,Intrige' als ,Intrige' gibt es nicht. Die Entwicklung der Gretchentragödie als typisiert erotische Tragödie schließt eine solche Durchführung aus. Diese Schwäche der .Intrige' zeigt sich audi in der nächsten Szene — ,Abend' — wiederum in aller Deutlichkeit, steht dodi audi sie primär im Zeichen modellhafter Ausprägungen erotischer Zustände. Zunächst .erotische Neugierde' als Modell: Margarete, (ihre Z ö p f e flechtend und aufbindend) Ich gab' was drum, wenn ich nur wüßt', Wer heut der H e r r gewesen ist! Er sah gewiß recht wacker aus, U n d ist aus einem edlen H a u s ; D a s könnt' idi ihm an der S t i m e lesen — Er w a r ' auch sonst nicht so keck gewesen.
(86)
Diesem erotischen Zustand folgt nun ein zweiter erotischer Zustand, ein Zustand Fausts, der nach Gretdiens Abtreten deren Zimmer betritt und 130
sich plötzlich vollkommen verwandelt sieht: seine Sinnlichkeit, sein erotischer ,Appetit' fallen von ihm ab, sein Herz öffnet sich dem Zauber reiner, unschuldsvoller Weiblichkeit: Faust. Mich drang's, so grade zu genießen, Und fühle midi in Liebestraum zerfließen!
(87-88)
Im Gegensatz zur erotischen Neugierde Gretchens ist dieser erotische Zustand Fausts in voller lyrischer Breite ausgeführt; die Atmosphäre von Gretchens Zimmer dringt in Faust ein und schafft in ihm eine lyrisch breite erotische Zuständigkeit, in der die einzelnen Gegenstände des Zimmers aufgegriffen und zu erotischen Stimulantia werden. Auch dieser Zustand ist trotz seiner Breite und des in ihn integrierten ,Stoffs' als Zustand ,rein', enthält kein Element von ,Intrige' und kann, im Gegensatz zu dieser in ihrer Funktionalität, als in sich abgeschlossene Stufe der erotischen Entwicklung leicht formuliert und resümiert werden. Aus dieser Stufe löst sich — dieses Mal in einem einzigen Ausruf konzentriert — die nächste Stufe von Fausts Gefühlsentwicklung heraus: das Bewußtsein der Unvereinbarkeit der idyllischen Welt Gretchens mit der eigenen, titanischen Faustwelt, das Bewußtsein, daß hier ein Brückenschlagen rein erotisch wäre und damit Schuld bedeuten würde. Faust. Fort! Fort! Ich kehre nimmermehr!
(88)
Bis zum nächsten Einsetzen des Liebesgeschehens gehört die Szene Mephistopheles; er, für den die Liebe zwischen Faust und Gretchen zugleich Verführung Fausts bedeutet, sieht in dem neuen Zustand Fausts eine Gefährdung seines bisherigen Werkes und drängt deshalb darauf, die erotische Linie fortzuführen. Dazu bedarf es eines neuen Elements von .Intrige': Mephistopheles „stellt das Kästchen in den Schrein und drückt das Schloß wieder zu". (88) Das Verhältnis von Eros zu ,Intrige', als welches sich das Verhältnis der Liebenden zu Mephistopheles in unserer Szene darstellt, läßt sich bis zu einem gewissen Grade auf die ganze Gretchentragödie übertragen: Faust (und vor allem Gretchen) obliegt es, die einzelnen, in sich relativ selbständigen erotischen Stufen des Geschehens darzustellen, Mephistopheles hingegen, diese Stufen durch eine ,Intrige' zu verbinden, sie in eine ,Intrige' einzukleiden: jenen die Arien, diesem das Rezitativ. Freilich gilt dies nur cum grano salis, gilt primär für die ,Intrige' im prägnanten Sinne des Worts, das Zusammenziehen der Fäden, gilt nicht so sehr für die .Intrige' im erweiterten Sinne, d. h. für alle den erotischen Kern des Geschehens umspielenden Geschehnismomente. An einer .Intrige', so verstanden, haben auch Faust und Gret131
chen teil, dodi ist diese dann nicht mehr so ausschließlich ,Intrige' wie unter Mephistos Regie, ohne indessen den nichterotischen Geschehniskern zu verlieren und nur noch Stufe in der allgemeinen' erotischen Entwicklung zu sein. Der letzte Teil der Szene — ,Abend' — mag hierfür als Beispiel gelten. Die Szene beginnt zunächst wieder mit einer modellhaften Darstellung eines erotischen Zustands, der auch hier, wie überall, wo er sich ,rein' gibt, leicht definiert, d. h. von anderen Zuständen abgegrenzt werden kann. Im Begriff der ,erotischen Unruhe' scheint uns dieser Seelenzustand Gretchens, dem sie sich bei ihrer Rückkehr in ihr Zimmer und beim anschließenden Auskleiden überläßt, vollständig enthalten zu sein. Ähnlich wie bei den Zaubersprüchen der Hexe in der ,Hexenküche' wird das eigentliche Motiv der Situation, Gretchens erotische Unruhe, nicht ausdrücklich thematisiert, sondern nur mittelbar, durch ein Motiv, das mit dieser Unruhe in keiner unmittelbaren thematischen Beziehung steht, angedeutet. Daß Gretchen versucht, sich ihre ihr noch halb unbewußte Angst von der Seele zu singen, wird nur aus der vorausgehenden kurzen Skizzierung ihrer erotischen Unruhe deutlich. Im Gegensatz zu Fausts breitem erotischem Lyrismus verfügt Gretchen zur Darstellung ihrer einzelnen Liebesstadien nur über sehr wenig Raum: ihr Gefühl vermag nicht unbegrenzt in sich selbst zu kreisen, sondern bedarf eines Gegenstandes, an dem es sich orientieren und durch den hindurch es sich äußern kann. So konzentriert Goethe die unmittelbare Selbstdarstellung der erotischen Zuständlichkeit auf engstem Raum und setzt sie mittelbar, durch ein balladeskes Intermezzo fort. Das Maß an Funktionalität, das dabei zustande kommt, ist freilich nicht größer als bei der breiten lyrisch-erotischen Paraphrase Fausts, denn das balladeske Intermezzo enthält keinerlei Elemente, die über es selbst hinausdeuten und ist audi in sich selbst kaum dramatisch zu nennen. An die Darstellung der,erotischen Unruhe' schließt sich nun ein Motiv von jener Form der ,Intrige' an, deren Trägerin Gretchen selbst ist und die deshalb sehr schnell wieder vom Erotischen absorbiert wird. Gretchen „öffnet den Schrein, ihre Kleider einzuräumen, und erblickt das Schmuckkästchen''. (89) Was sich jedoch aus diesem Stück ,Intrige' ergibt, ist schon wieder ein ganz und gar modellhafter Gefühlsvorgang: die Verwunderung über das schöne Kästchen, noch ein halb dramatisches Motiv, gleitet ins Modellbild des Mädchens, das vor den Spiegel tritt und sich putzt, hinüber und verliert so mehr und mehr seinen Funktionszusammenhang. Die drei nächsten Szenen — ,Spaziergang', ,der Nachbarin Haus' und 132
,Straße' — sind wieder primär der ,Intrige' gewidmet, was jedoch nicht bedeutet, daß sie deshalb besonders dramatisdi wären. Mephistopheles, dem es obliegt, das Gewebe der ,Intrige' zu spinnen, sorgt zugleich dafür, daß in dieses allerhand fremde Maschen hineingesponnen werden. Alle drei Szenen dienen dazu, die Begegnung zwischen Faust und Gretchen in Marthes Garten vorzubereiten. Drei rein ,methodische' Szenen sind jedoch zu viel in einem Werk, das weitgehend unter der Kategorie der Substantialität steht. So sorgt Mephistopheles schon in der ersten Szene — ,Spaziergang' — dafür, daß das Gewebe der .Intrige' durch eine fremde Masche durchbrochen wird: Die Wut des „geprellten Teufels, daß Gretchens Mutter seine Kleinodien zum Pfaffen getragen hat und daß sie der Kirche zugute gekommen sind", 12 ist primär Buffoelement, das seinen Zweck in sich selbst hat, was ja schon daraus ersichtlich wird, daß Mephistopheles seine kleine ,Intrige' wiederholen muß, wobei der Erfolg der Wiederholung sich von demjenigen, den sich Mephistopheles bei seinem ersten Versuch erhofft hatte, nicht unterscheidet. In der nächsten Szene — ,der Nachbarin Haus' — spinnt Mephistopheles den Faden seiner ,Intrige' ein gutes Stück weiter; es gelingt ihm, Fausts Besuch bei Marthe und damit die Begegnung zwischen Faust und Gretchen vorzubereiten. Der ganze Roman, den er sich zu diesem Zweck zurechtlegt, geht jedoch auch hier wieder über diesen Funktionswert im dramatischen Gefüge (ein Funktionswert, der sich auch hätte einfacher darstellen lassen) weit hinaus und hat seinen Sinn in seinem burlesken Selbstwert. Die dritte der vorbereitenden Szenen — ,Straße' — hat im Grunde überhaupt kein funktionstragendes Motiv; Mephistos Aufforderung an Faust, über Herrn Schwerdtleins Tod falsch Zeugnis auszusagen, dient nur als Angriff Mephistos auf Fausts Liebeszustände, ein Angriff, den Faust zu parieren versucht. Auch die beiden vorangehenden Szenen haben neben der Weiterführung der ,Intrige' und der burlesken Selbstpersiflage Mephistos den Substantialitätswert, Mephistopheles in seinem Verhältnis zum Erotischen zu zeigen. Dieses Verhältnis erscheint in zweierlei Gestalt: in Mephistos ironischer Reflexion der Liebeszustände Fausts (,Spaziergang') und in seiner Art, mit Frauen umzugehen, ihnen zu schmeicheln oder sie hinters Licht zu führen (,der Nachbarin Haus'). Nach diesen drei Szenen treten die ,intrigetragenden' Elemente, ohne die der Nur-Eros Fausts und Gretchens nicht eingeführt werden könnte, mehr und mehr zurück und räumen diesem das Feld. Damit bildet sich 12
R. Buchwald, S. 129. 133
der Entwurfcharakter, der der erotischen Existenzform Fausts wie aller anderen Existenzformen eignet und das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das dieser Entwurfcharakter impliziert, stärker heraus. Dieses SubjektObjekt-Verhältnis äußert sich zunächst in der relativen Isoliertheit der Entwicklung von erotischem ,Subjekt' (Faust) und erotischem ,Objekt' (Gretchen), einer Isoliertheit, die sich darin zeigt, daß Gretchen, einmal erotisch in Bewegung gebracht, sich in ihrer Liebe nach psychologischimmanenten Gesetzen weiterentwickelt, mit Faust also nicht in eine gemeinsame ,Intrige' hineingerissen wird. Der eine gemeinsame ,Intrige' ausschließende Entwurfcharakter Fausts beweist jedoch zugleich, daß sich das Verhältnis von Faust und Gretchen in höherem Grade auf das rein Erotische konzentriert als dies bei einer Liebestragödie mit,Intrige', etwa ,Romeo und Julia', der Fall ist. Das Verhältnis von erotisch angreifendem Agens und erotischem Reagens, von Subjekt und Objekt, zwischen denen es nicht die Vermittlung einer ,Intrige' gibt, ist der Grund dafür, daß die einzelnen erotischen Stadien und Vorgänge des Geschehens relativ ,rein' hervortreten. Dies gilt in gleicher Weise für jene Szenen, wo sich Subjekt und Objekt in unmittelbarer Berührung gegenüberstehen, wie für jene, wo beide getrennt ihr Erotisches zur Darstellung bringen. Hier wie dort haben wir ein erotisches ,Subjekt-Sein' und ein erotisches ,Objekt-Sein', haben wir das alte Grundverhältnis zwischen Faust-Ich und ,Materie', ein Verhältnis, das audi in der Gemeinsamkeit des Erotischen erhalten bleibt und der Grund dafür ist, daß die Liebe nicht zum Drama wird. Im Gegensatz zu ,Romeo und Julia', wo das erotische Einssein jede Trennung von Subjekt und Objekt auflöst, ja die Frage, wer Subjekt, wer Objekt ist, überhaupt nicht gestellt werden kann, bleibt im ,Faust' selbst in jenen Szenen, wo die erotische Entwicklung bei einem solchen Einssein angelangt ist, noch immer ein Gegenüber von Subjekt und Objekt, ein Gegenüber, das für Faust, das ,Liebessubjekt', bald die Gestalt der Verführung, eines intentionalen Lieben-Wollens (das jedoch das Objekt als Objekt beläßt), bald die Gestalt sentimentalisch-gerührter oder schuldbewußter Betrachtung des ,Liebesobjekts' annimmt. Deutlicher jedoch als in jenen Szenen, wo Faust und Gretchen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, zeigt sich dieses Verhältnis von Subjekt und Objekt dort, wo beide wieder aus ihrer unmittelbaren Relation entlassen werden und jedes, auf sich selbst zurückgeworfen, sich auf seine Weise weiterentwickelt. Die einzelnen erotischen Stadien Gretchens sind Stadien, die der Welt-, der ,Materialseite' des .Faust' angehören, jener Seite, die primär auf Faust und seine Aktion reagiert, nicht selbst, oder zumindest nicht im eigentlichen Sinne des Worts, agiert. Freilich ist der Ubergang 134
zwischen Aktion und Reaktion fließend, nimmt doch die Reaktion des erotischen ,Objekts', nachdem dieses einmal in Bewegung gekommen ist, eine Konsequenz an, die eine echte Aktion vorzutäuschen vermag. Umgekehrt wird Faust, das erotische ,Subjekt', mehr und mehr in die Defensive gedrängt; bei der immanenten Konsequenz, mit der Gretchens erotische Entwicklung ihren Lauf nimmt, bleibt ihm nur noch die Möglichkeit der Reaktion. Dies bedeutet indessen nicht, daß das erotische .Objekt' nun zu einer Art ,Subjekt' würde. Seine relative Zugehörigkeit zur g â terie' bleibt nach wie vor erhalten, zeigt sich darin, daß die einzelnen erotischen Stadien in hohem Grade ,allgemein' sind; es sind d i e Stadien, die das erotische ,Objekt', einmal verführt und sich überlassen, zu durchlaufen pflegt. D a ß es zu einer F o l g e von erotischen Stadien kommt, daß Erotisches seinem Begriff nach Entwicklung und damit Funktionalität ist, schränkt die ,Materialität' des erotischen ,Objekts' jedoch wieder ein. Dieser Zwischenzustand zwischen ,Materialität' und entwicklungsfähiger und entwicklungstragender Subjektivität des erotischen ,Objekts' unterscheidet dieses von der reinen ,Materie', und das Mißverhältnis zwischen seinem Heraustreten aus der,Materie' zu erotischer Entfaltung und seinem Zurückgeworfenwerden in die ,Materialität' dieser ,Materie' durch Faust macht Fausts Schuld, macht die spezifische Form des Tragischen als eines provoziert Tragischen und damit eigentlich Untragischen in der Gretchentragödie aus. Hier ist dieses Mißverhältnis so groß, weil das Verhältnis zwischen Faust-Ich und ,Materie' noch nicht so ,rein' hervortritt wie in späteren Entwürfen Fausts, wo die ,Materie' sich weniger funktionalisiert und das Tragische sich mehr auf Seiten Fausts als auf Seiten der ,Materie' befindet. Dies führt in der Gretchentragödie dazu, daß das Entwurfbewußtsein Fausts mehr und mehr zurücktritt und einer weitgesponnenen Geschehnisfolge der ,Materie' Platz macht, die in dieser Konsequenz später keine Wiederholung mehr findet und unter der die Entwicklung der Faust-Linie ohne Zweifel leidet. Die beiden nächsten Szenen — ,Garten' und ,ein Gartenhäuschen' — führen die Reihe der rein erotischen Szenen fort. Beide Szenen gehen ineinander über und bilden so sehr eine geschlossene Einheit, daß sie als e i n e Szene betrachtet werden können. Die Konzentration aufs N u r Erotische ist hier so stark, daß alle Motive, die zur Vorbereitung dieser Szene dienen, ja dienen müßten, unterdrückt werden. So wird etwa die Frage, ob Faust, um seinen Besuch bei Marthe zu motivieren, nun wirklich „falsch Zeugnis abgelegt" (97) hat, mit keinem Wort erwähnt. Die Szene ist von Beginn bis zum Schluß rein erotische Szene. Ihre Entwicklung — und sie hat durchaus eine Entwicklung — ist ausschließlich 135
erotische Entwicklung. Sie setzt (wir betrachten zunächst nur die FaustGretchen-Linie) mit einem sehr verhaltenen Gefühlstimbre ein und endet mit Küssen und Liebeserklärungen. Dazwischen liegt eine ganze Skala erotischer Nuancen, wie sie zwischen zwei Temperamenten von Fausts und Gretchens Art auf dieser Stufe ihrer Beziehung möglich sind. Das ausschließlich Erotische dieser Entwicklung zeigt sich besonders deutlich in dem Kompositionsprinzip, das der ganzen Szene ihren Reiz gibt, in der Kontrastierung der Faust-Gretchen- und der Mephisto-Marthe-Erotik. Der schnelle Szenenwechsel wäre bei einer Entwicklung eines dramatischen Geschehens wenig sinnvoll. Die Entwicklung eines rein erotischen Geschehens findet jedoch darin die ihr angemessene Form. Jeder neue Ausschnitt bedeutet im Faust-Gretchen-Verhältnis eine Steigerung des Erotischen, eine Steigerung, die nur durch die vorhergehende Unterbrechung fühlbar wird und die als durchgehendes, langsam ansteigendes Crescendo sehr schwer darstellbar wäre. Auch liegt es in der Natur des Erotischen, daß ihm dort, wo es sich in einem Maximum an ,Reinheit' herauskristallisiert, wenig ,Stoff' zur Verfügung steht. Die Technik, nur Ausschnitte des Liebesgeschehens zu geben (die im übrigen ja für die ganze Gretchentragödie gilt), erlaubt es, fremden ,Stoff' vom rein Erotischen fernzuhalten und dieses in seiner Konzentration auf sich selbst darzustellen. An Stelle einer ,Episierung' des Kerns der Faust-GretchenBeziehung tritt, alternierend zu dieser, die Darstellung der Liebesform zwischen Mephisto und Marthe. Die Einführung Mephistos als eines negativen Analogons Fausts auch im Bereich des Erotischen zeigt an, daß der Analogiecharakter zwischen beiden ungebrochen gilt, und daß das Liebesverhältnis zwischen Faust und Gretchen immer dem philosophischen Rahmen der Faustkonzeption unterworfen bleibt und sich nicht zur Liebestragödie als solcher entwickeln kann; die gewisse Systembildung, die sich aus der Gegenüberstellung zweier Liebesformen ergibt, wirkt entdramatisierend. Der psychologische Reiz, der im Vergleich zwischen Fausts und Mephistos Liebesform liegt, die Frage, was alles Liebe ist und sein kann, diese phänomenologische Frage läßt die Frage nach der Liebesg e s c h i c h t e zwischen Faust und Gretchen in den Hintergrund treten. Freilich gilt dies nur für diese eine Szene; nur hier haben wir Mephistos negative Analogie zu Fausts,Liebesentwurf'. Während letzterer nach dieser Szene mit allen Konsequenzen fortschreitet, bleibt Mephistos (Liebesentwurf' nur ein Kabinettstück. Für Faust hat diese Szene einen Funktionswert, für Mephisto nicht. Für diesen hat sie nur den Selbstzweck, die Liebesform des Teufels in nuce vorzuführen und damit eine neue Modifikation des Negationsprinzips darzustellen. 136
Wenn wir bisher von der .Reinheit', der ,Allgemeinheit' des Erotischen gesprochen haben, so verstanden wir darunter ausschließlich, daß das Erotische nicht mit einer ,Intrige' verwoben ist, daß diese nur dazu dient, es einzuführen oder seine Folgen zu demonstrieren. Wir sprachen nicht vom Erotischen selbst. Daß auch die Nur-Liebe und ihre einzelnen Stadien ,reiner' oder weniger ,rein' sein können, diese Frage wurde dabei nicht berührt. Doch ist hier das Problem der ,Reinheit' anderer Natur als beim Verhältnis zwischen Erotischem und .Intrige'. Während dort genau zu bestimmen ist, wo das Erotische aufhört und die ,Intrige' beginnt, ist innerhalb des Erotischen selbst zwischen dem Nur-Erotischen und einer erotischen Individualpsychologie keine genaue Trennungslinie zu ziehen. Für das Erotische gibt es nicht eigentlich einen fremden ,Stoff', vielmehr assimiliert es sich alles und durchtränkt es mit seinem Medium. Es hört jedoch damit nicht auf, rein erotisch zu sein. Das kleinbürgerliche Milieu, in dem Gretchen lebt und das ihre Psychologie bestimmt, geht in das Erotische ein, bleibt in diesem ,aufgehoben' und verleiht ihm seine spezifischen Valeurs. Es wird nicht zum handlungstragenden Element und ändert am rein erotischen Charakter der Gretchentragödie nichts. Natürlich soll nicht geleugnet werden, daß sich für Faust mit der Liebe zugleich eine soziale Welt erschließt, aber diese Welt bildet nur den Hintergrund des Liebesgeschehens, stellt für dieses nur die Kulissen bereit. Selbst der Richtspruch der bürgerlichen Welt am Ende (dieses nicht mehr nur atmosphärisch das Liebesgeschehen durchdringende Ereignis) ist in letzter Konsequenz nicht Ursache des tragischen Schicksals Gretchens (als welcher er dramatische Funktion hätte und an der Oberfläche gesehen zweifellos auch hat), sondern nur ein ins Gesellschaftlich-Objektive gehobener A u s d r u c k der geistig-seelischen Katastrophe, die aus Fausts ,Liebesentwurf' mit konsequenter Logik folgen mußte. Die Gretchentragödie ist also, wir wiederholen es, primär erotische Tragödie, ihre Entwicklung vollzieht sich nach den .allgemeinen' Gesetzen erotischer Entwicklung, die freilich, was ,Allgemeinheit' nicht ausschließt, durch den Entwurfcharakter der Faustschen Liebesform spezifiziert sind. In den beiden nächsten Szenen — ,Wald und Höhle' und ,Gretchens Stube' — tritt die erotische Gemeinsamkeit wieder in die isolierte Aktion von erotischem .Subjekt' und erotischem ,Objekt' auseinander. Beide Szenen ergänzen sich gegenseitig. Die Szene ,Wald und Höhle' zeigt einen Faust, der sich als erotisches ,Subjekt' wieder aus der Berührung mit dem erotischen ,Objekt' zurückgenommen hat, dieses wieder als echtes Objekt, Verführungsobjekt sieht und sich damit wieder auf seine Ausgangsposition, die erotische Existenz als Möglichkeitsexistenz zurück137
gezogen hat. N u r ist diese in der Zwischenzeit kritischer geworden. Fausts .Liebesentwurf', unter dem Einfluß des Hexentranks noch naturhaftimmoralisch, schält sich mehr und mehr als Böses heraus. Die sexuelle Erregung, aus der heraus Weibliches zum Geschlechtlich-Gegenstandshaften, zur geschlechtlich zu ergreifenden ,Materie' wird, schwächt sich zu einem erotisch-reflexiven Gefühlszustand ab; Faust ahnt, daß sich Gretchen der Objektivation, die in der reinen Verführung liegt, widersetzen werde, daß die Verführung mit einer ,Geschichte', mit Verstrickung und Schuld enden werde. Dieses neue erotische Stadium macht den Kern der Szene aus. Im Gegensatz zu Gretchen, bei der die Darstellung der einzelnen erotischen Stadien zumeist mit der Szene identisch ist, worin sich eben das Eingeschlossensein ins Nur-Erotische, das erotische ,Objektsein' zeigt, läßt sich Faust in seinen einzelnen Szenen nicht ausschließlich auf ein die Szene füllendes bestimmtes erotisches Stadium festlegen, vielmehr vermag er, wie es ihm als Möglichkeitsexistenz entspricht, in einer einzelnen Szene verschiedene Gefühlszustände zu durchlaufen, diese gegeneinander abzuwägen und sie, nicht zuletzt, gegen die Angriffe Mephistos zu verteidigen. Dieser sucht, gemäß seiner Bestimmung als Teufel, ,der wirkt und schafft', die im Grunde statischen, in sich kreisenden und ihren Wert in sich selbst tragenden erotischen Zustände Fausts zu einem Vorgang zusammenfassen und macht damit die Szene erst zur Szene. Dieser Vorgang stellt sich, wie so oft im ,Faust', als klar umrissenes Motiv dar: Mephistopheles arbeitet darauf hin, Faust zur Verführung Gretchens bereitzumachen. Mit dem Ende der Szene hat er dieses Ziel erreicht. Dieses Motiv ist jedoch — hierin läge ein Gegensatz zum Motivbegriff als etwas Substantiellem' — nicht ein durchgehender ,Prozeß', sondern steht als Intention Mephistos von Anfang an fest, und der Prozeß besteht lediglich darin, dieser Intention zum Durchbruch zu verhelfen. Dies geschieht durch zunehmende Intensivierung der erotischen Einflüsterungen des Teufels, die, wie in anderen ,Diskussionsszenen' der Gretchentragödie, den Funktionswert haben, das Geschehen der Katastrophe zuzutreiben, die aber zugleich (und ohne dies wäre die Länge solcher ,Diskussionen' nicht gerechtfertigt) den philosophisch-,substantiellen' Zweck verfolgen, das Bild eines sinnlich-reflektierten, zynischen Bewußtseins dessen, was man so Liebe heißt, zu zeichnen und es vom seelisch-unmittelbaren, bei aller Qual liebesgläubigen Liebesbild abzugrenzen. Ein solches Herausarbeiten eines latent bereitstehenden Gefühlszustandes ist etwas gänzlich anderes als die Durchführung einer psychologischen Entwicklungslinie. Diese ist absolut offen und in ihrer Qualität nodi nicht bestimmt, während jener qualitativ feststeht und nur nodi diskutiert 138
wird. In solchen Unterschieden zeigt sich, daß der .Faust' im Grunde kein psychologisches Drama und damit überhaupt kein Drama, sondern, neben anderem, eine moralische Demonstration ist, deren einzelne Gegenstände a priori feststehen und deren ,Drama* lediglich darin besteht, zu diesen Gegenständen ja oder nein zu sagen. Die nächste Szene — ,Gretchens Stube' — kann als Komplementärszene zu ,Wald und Höhle' gelten. Haben wir in dieser erotisches .Subjektsein', erotische Möglichkeitsexistenz und damit Ringen, Entwicklung, kurzum Funktionalität, so haben wir hier ein in sich abgeschlossenes erotisches ,Objektsein', das keine Entwicklung kennt. Vielmehr sagt Gretchen die erotische Zuständlichkeit, in die sie gebracht worden ist, in rein lyrischer Weise aus. Wie jedes,reine', in sich abgeschlossene erotische Stadium, läßt sich auch dieses leicht formulieren und resümieren; in den beiden Zeilen Meine R u h ' ist hin, Mein H e r z ist schwer . . .
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ist im Grunde die ganze .Szene' enthalten. Diese zeichnet sich vor anderen Szenen dadurch aus, daß sie überhaupt keine funktionstragenden Elemente (auch keine solchen, die nur der Entwicklung des rein erotischen Geschehens dienen, oder vielmehr dieses erst als Geschehen konstituieren) enthält, sondern sich als .Szene' in der Darstellung erotischer Zuständlichkeit erschöpft. Zwischen den beiden Szenen ,Wald und Höhle' und ,Gretchens Stube' besteht keine unmittelbare Beziehung. Die Polarisierung des Liebesv e r h ä l t n i s s e s nach .Liebessubjekt' und ,Liebesobjekt' läßt eine solche Beziehung nicht zu. Beide schreiten, voneinander getrennt, ihren Kreis ab, in dem sie, jedes auf seine Weise, gefangen sind. Beide befinden sich in einer erotischen Zuständlichkeit, die zu einer Entscheidung drängt, und so gewinnen beide Szenen, auch die rein lyrische, einen funktionalen Wert, den Wert der unmittelbaren Heranführung an Gretchens Verführung, womit die aufsteigende Linie in die absteigende übergeht. Wollte man auf die Gretchentragödie, was ja nur vergleichsweise möglich ist, die Gesetze der echten Tragödie anwenden, so könnte man die nächste Szene — ,Marthens Garten' — als Schürzung des Knotens bezeichnen. Bei der .Allgemeinheit', mit der das erotische Geschehen bisher seinen Gang genommen hat, kann jedoch auch dessen entscheidendes Motiv, Fausts und Gretchens Entschluß, eine Liebesnacht miteinander zu verbringen, nur eingeschränkt als dramatisch bezeichnet werden. So wenig dieser Entschluß als solcher dramatisch ist, so dramatisch ist das Geschehen, das durch ihn ausgelöst wird. Mehr und mehr zeigt sich, daß hinter dem Erotischen die Machinationen des Satans stehen; mehr und 139 10
Streidier, Faust
mehr verstricken sich die Beiden im Teufelsnetz, wodurch das rein Erotische des Geschehens allmählich ins Dramatisch-Tragische hinübergleitet. Dodi soll das Plus an ,Intrige', das die absteigende Linie der Gretchentragödie gegenüber der aufsteigenden kennzeichnet, nicht überbetont werden. Nach wie vor bleibt das Geschehen relativ ,allgemein', bleibt auf das Verhältnis von erotischem,Subjekt' und erotischem .Objekt' beschränkt. Die dramatische Ausgestaltung der einzelnen Motive, die die eigentliche Tragödie ausmachen (Tod der Mutter, Kindsmord, Gretchens ganzer Leidensweg bis zum Gefängnis), kann nicht Gegenstand einer literarischen Technik sein, die sich die Aufgabe stellt, das Verhältnis von Faust-Ich und ,Totalität der Materie' herauszuarbeiten. Gemäß der Konzeption des ,Faust' soll Funktionalität nur dort entstehen, wo sich dieses Verhältnis als Verhältnis konstituiert; die .Materie' selbst soll sich nicht funktionalisieren; s i e steht unter der Kategorie der Substantionalität. Dieses Grundverhältnis wird im Bereich der Liebe zum Verhältnis von .Liebessubjekt' und .Liebesobjekt'. Das in Szene gesetzte Geschehen muß sich also auf dieses Verhältnis und seine verschiedenen Stadien konzentrieren. Ohne Zweifel nimmt die immanente Entwicklung des .Liebesobjekts' schon eine Konsequenz an, die im Grunde der Faustkonzeption widerspricht. Wollte man die ganze Tragödie Gretchens in actu darstellen, so würde dadurch die Gesamtkonzeption des ,Faust' empfindlich gestört werden. Der größte Teil der Gretchentragödie wird deshalb, wie die Analyse zeigen wird, mittelbar, wenn man so will, ,episch' erschlossen. Faust und Gretchen werden zu .Rhapsoden', freilich nicht zu jener ruhiggelassenen, objektiv-objektivierenden Form des Rhapsoden, wie sie Goethe beschreibt, sondern zu Rhapsoden, die zugleich am Geschehen beteiligt sind, die Mime und Rhapsode in eins sind. Die .episch' wiedergegebenen Elemente sind zugleich integrierter Bestandteil der Handlung, wie sich besonders schön an der Kerkerszene (aber audi an der Szene ,Trüber Tag') demonstrieren läßt, wo Gretchen, von einem hic et nunc des Geschehens aus, rückblickend dessen Vorgeschichte ,episch' aufgreift, zugleich in solchem Aufgreifen jedoch die Szene dramatisch vorwärts treibt. Man kann sich fragen, ob die absteigende, die tragische Linie der Begegnung zwischen Faust und Gretchen nodi im vollen Sinne des Worts als erotisch bezeichnet werden kann. Gretchen unterscheidet sich wesentlich von anderen Verführten, etwa Donna Elvira: Leben diese ihrem Liebessdimerz, so tritt bei Gretchen das erotische Element mehr und mehr hinter dem rein menschlichen und vor allem dem moralisch-religiösen zurück. Dies schließt nicht aus, daß auch die absteigende Linie noch relativ .allgemein' bleibt. Auch Gewissen und Reue sind psychische Zustände, die als 140
Modelle dargestellt werden können. So wird schon die Szene ,Marthens Garten', die ,Schürzung des Knotens', von einem moralisch-religiös bestimmten Modellzustand oder besser Modellverhältnis, dem ,Religionsgespräch', eingeführt. Wie die meisten dieser Zustände oder Verhältnisse ist auch das ,Religionsgespräch' zwischen Faust und Gretchen ein in sich abgeschlossener Komplex. Es ist keineswegs als Gewissenserforschung vor der körperlichen Vereinigung gedacht, ist es doch Gretchen, die auf das ,Religionsgespräch', aber Faust, der anschließend auf ein nächtliches Rendezvous drängt. Auch liegt zwischen beiden Motiven ein klarer Bruch. Ein lückenloses Ineinanderübergehen beider Motive wäre allzu peinlich und würde ein psychologisches Raffinement erfordern, über das weder Faust noch Gretchen verfügen. Freilich ist der abrupte Übergang zwischen religiöser Gewissenserforschung und sexuellen Absichten auch ziemlich geschmacklos, doch entspricht es der Möglichkeitsexistenz Fausts, sein Objekt nach verschiedenen und voneinander relativ weit entfernten Möglichkeiten zu erfassen. Das Herabwürdigen Gretchens zu diesem Objekt macht eine Trennung zwischen ,ideologischem* und erotischem Verhalten durchaus möglich. So bildet das ,Religionsgespräch' ein religiöses Intermezzo in einer bis dahin rein erotischen Entwicklung. Wie die einzelnen erotischen Stadien ist es als ein in sich abgeschlossenes, typisiertes Motiv leicht zu formulieren und zu resümieren. Im Gegensatz zu den erotischen Stadien ist es jedoch nicht in einem einzigen Gefühlsbegriff zusammenzufassen, enthält es doch, wenn wir das Gespräch über Mephistopheles mit einbeziehen, ein psychologisches Dreiecksverhältnis, eine Art kleinen psychologisch-philosophischen Systems, dessen Maß an Funktionalität ein wenig größer ist als dasjenige der rein erotischen Stadien, das jedoch dafür als Ganzes weniger über sich hinausgreift als jene. Dieses System setzt sich, nachdem es Faust gelungen ist, Gretchens Einverständnis für eine gemeinsame Liebesnacht zu gewinnen, im anschließenden Dialog zwischen Faust und Mephistopheles fort; noch weniger als im Dialog der beiden Liebenden (der immerhin als mißglückte Vorform der späteren Erlösungsfunktion Gretchens gelten mag und insofern zwar nicht dramatisch, aber doch philosophisch über sich hinausweist) hat es hier irgendwelche weiterführende Bedeutung; sein Zweck liegt in ihm selbst, liegt im philosophisch-,substantiellen' Verhältnis des sinnlich-reflektierten Teufels zum Weiblich-Seelischen und dem Männlichen, das sich diesem erotisch verbunden fühlt. Der Ausklang der Szene zeigt dies deutlich: Faust. Was geht didi's an? Mephistopheles. Hab' ich doch meine Freude dran!
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Mephistos Auftritt in dieser Szene hat keinerlei dramatische, sondern lediglich die sidi über den ganzen ,Faust' hin erstreckende geistige Funktion, das Faustische allmählich aufzulösen, Faust zu sich hinüberzuziehen und so in den Besitz seiner Seele zu gelangen. Sind ,Religionsgespräch' und Dialog zwischen Faust und Mephistopheles Intermezzi im bisher rein erotischen Gang der Handlung, so ist Fausts und Gretchens Übereinkommen, miteinander eine Liebesnacht zu verbringen, seinerseits ein erotisches Intermezzo in einer insgesamt »moralisch' (wobei ,moralisch' im Sinne der französischen Moralisten zu verstehen ist) bestimmten Szene. Dieses erotische Motiv führt jedoch insofern aus der ,Allgemeinheit' des erotischen Geschehens heraus, als hier Erotisches mit einer ,Intrige' verbunden ist, einer ,Intrige', die mephistotelischer Provenienz ist, und deren Folgen Teil des echten Dramas sind, das sich aus dem Erotischen ergibt. Die drei Tropfen, die Gretchen dem Trank ihrer Mutter beimischen soll, damit diese tiefer schlafe, erweisen sich als tödlich. Doch zeigt sich auch im weiteren Verlauf des Geschehens wieder die in der Faustkonzeption liegende Tendenz, die Handlung auf das Verhältnis von erotischem .Subjekt' und erotischem ,Objekt' zu konzentrieren und die mit diesem Verhältnis mitgegebene Welt und ihre Katastrophen in ihrer ,Materialität' zu belassen. So wird der Tod der Mutter nur in ,episch' verkürzter Form angedeutet; die zwei Textstellen Böser Geist, (zu Gretchen) Betst du für deiner Mutter Seele, die Durch dich zur langen, langen Pein hinüberschlief? und
Gretdien. Meine Mutter hab' idi umgebracht. (142) enthalten in aller Kürze eine ganze Katastrophe, eine Katastrophe, die als V o r g a n g von anderen, unmittelbar auf Faust und Gretchen bezogenen Vorgängen überdeckt wurde und deshalb retrospektiv in ,episch' verkürzter Form aufgegriffen wird. Die beiden nächsten Szenen — ,Am Brunnen' und ,Zwinger' — sind wieder ,reine', nun kaum mehr erotisch zu bezeichnende Gefühlsstadien, und als solche wiederum relativ ,allgemein'. Keines dieser Stadien weist auf das nächste Stadium hin oder greift auf ein früheres zurück; das Fortschreiten der psychischen Entwicklung ergibt sich aus ihrer bloßen Addition, wobei freilich jedes Stadium als Fundament des nächsten dient. Diese wenig funktionalisierte Psychologie Gretchens entspricht deren Objekt-, deren Weltsein, das in möglichst großer ,Allgemeinheit' dargestellt werden muß, soll es noch dieses Weltsein bleiben. Besonders gilt dies für die nun immer zahlreicher werdenden Szenen, wo Faust nicht in das Geschehen eingreift. Funktionalität bildet sich, wir wiederholen es, 142
nur dort, wo die .Materie' in den Strudel Fausts hineingerissen wird. Dies erfordert, daß beide unablässig miteinander in Berührung sind. Die d a terie' vermag sich selbst nicht zu funktionalisieren. Was für sie in ihrer ausgeprägten ,Materialität' (etwa in den Walpurgisnachtszenen) gilt, gilt bis zu einem gewissen Grade auch für Gretchen. Die Konzentration aufs ,Allgemeine' ihrer Gefühlszustände ist Ausdruck dieser ,Materialität', die freilich bei Gretchen noch sehr viel Funktionalität enthält. Die beiden Szenen, die als Ausgangspunkt dieser kleinen Reminiszenz dienten, unterscheiden sich jedoch bei all ihrer gemeinsamen Allgemeinheit' in einem Punkt: die erste ist ein Monolog, die zweite ein Dialog. In der ersten Szene zeigt sich wieder ein typisches Stilmittel des ,Faust': die Einführung einer Dialogperson (Lieschens), um einen Gefühlszustand einer Hauptperson im Dialog mit einer zweiten Person ein wenig aufzulockern, zu dramatisieren. Die Funktion einer solchen Person erschöpft sich jedoch darin, Zuordnung zum Gefühlszustand der Hauptperson zu sein, und ihre Psychologie entspricht infolgedessen der ,Allgemeinheit' dieses Gefühlszustandes. Aus dieser Zuordnung ergibt sich auch, daß der Einführung einer solchen Person keine Exposition voranzugehen noch die weitere Entwicklung dieser Person verfolgt zu werden braucht. Das Verhältnis Lieschen-Gretchen ist als Gefühlsverhältnis wiederum ein in sich abgeschlossener Komplex; f ü r Gretchen bedeutet es das Bewußtsein ihres Falls. In der nächsten Szene — ,Zwinger' — wird dieses zur Angst. Im Unterschied zur vorangehenden Szene haben wir hier wieder eine monologische Gefühlsdarstellung, die keinen dramatischen Kern, audi keinen scheindramatischen, enthält. Anders ist es bei der nächsten Szene, der Szene ,Nacht', der Valentinszene. Sie wird als Einzelszene in ihrer Funktionalität nur noch von der Kerkerszene übertroffen. Charakteristisch f ü r den ,Faust' ist jedoch, daß sich dieses Maß an Funktionalität nur auf einzelne Szenen beschränkt, daß immer nur einzelne Motive zum Drama werden, nicht aber das Ganze. Das Auswahlprinzip, nach dem von verschiedenen, auf der gleichen Motivebene liegenden Motiven das eine dramatisch ausgeführt wird, das andere jedoch nicht, hängt davon ab, ob Faust selbst an der Aktion beteiligt ist. So sollte etwa „nach der Szenenüberschrift im j U r f a u s t ' . . . das Totenamt f ü r Gretchens Mutter gefeiert werden", im ,Faust' selbst „wird jedoch nur noch im Text darauf angespielt, daß Gretchen f ü r ihrer Mutter Seele betet, die an dem Schlaftrank gestorben ist, den Faust ihr durch Gretchen geben l i e ß " . . , 13 D a ß gerade die Valentinszene dramatisch voll ausgeführt wurde, hat seinen 13
R. Buchwald, S. 138.
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Grund wohl darin, daß Faust hier zum ersten Male eindeutig böse wird. Die Szene hat deshalb nicht nur dramatischen Selbstwert, sondern ist zugleich Demonstration eines Schuldigwerdens, das aus der Möglichkeitsexistenz Fausts zwangsläufig folgt. N u r dieser Charakter der Demonstration rechtfertigt die volle dramatische Ausführung eines an sich relativ sekundären (wenn man bedenkt, daß die ganze Katastrophe Gretchens nicht in actu dargestellt wird) Motivs. Dieser philosophische Wert wird in der Valentinszene als Stellvertretung, als pars pro toto verwirklicht. In ihm sind die funktionalen Möglichkeiten der Szene .aufgehoben', durch ihn grenzt sich diese von anderen Szenen ab. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß sie in ihrer immanenten Entwicklung nicht dramatischrealistisch wäre. Sie ist ein Drama im Kleinen und enthält als solches alle entscheidenden Elemente, die zu einem Drama gehören: eine Exposition (Valentin erläutert seine Situation), einen Höhepunkt (Kampf), eine Katastrophe (Valentin fällt) und, zumindest was Valentin allein betrifft, eine Art Katharsis. Doch bewirkt der übergeordnete Wert der Demonstration, daß sich alle diese Stadien sehr schnell ablösen, sich auf engstem Räume konzentrieren, und die so entstandene Miniaturtragödie fast etwas Komisches bekommt. Dieses Komische ist zugleich jedoch eine besondere Form des Tragischen. Es ist Ausdruck dafür, daß die ,Materie' sich nicht zum voll entwickelten Tragischen erheben kann, ihr vielmehr, wiewohl sie Recht und Ursache zum Tragischen im echten Sinne des Wortes hat, auf Grund der Faustkonzeption nur eine halb melodramatische Miniaturtragödie zugestanden wird. Die Beiläufigkeit, mit der jeder Widerstand, der sich Fausts Entwurf in den Weg stellt, weggeräumt wird, ist Ausdruck für die dramatischen Möglichkeiten (hier sich zu wehren), die der .Materie' gegeben sind. In dieser Beiläufigkeit zeigt sich, daß die ,Materie' i h r Drama nicht haben, daß sie in ihre ,Materialität' zurückgestoßen werden soll. Denn gerade hier, im Kern der Szene, wäre ein echtes Drama durchaus möglich, wäre Stoff zu einer dramatischen Gestaltung gegeben, treffen doch hier Faust-Ich und ,Materie' aufeinander, ist die .Materie' nicht auf die relativ geringe Funktionalität der Selbstdarstellung angewiesen. Exposition und melodramatisches Ende entsprechen dem pseudodramatischen Kern der Szene. Die isolierten ,Expositionen' der ,Subjekt'- und der ,Objekt'-Linie und das Sich-selbst-überlassen-Sein des .Objekts' und seiner Welt sind Analogien zum Subjekt-Objekt-Verhältnis, das sich im Zum-Objekt-Machen Valentins, in der Beiläufigkeit, mit der dieser durch Mephistos Magie weggeräumt wird, äußert. Die Szene beginnt mit einem längeren Monolog Valentins, in dem dieser die Schande seiner Schwester 144
beklagt und zugleich die Reaktion der kleinbürgerlichen Umwelt auf diese Schande schildert. Wie die meisten Gestalten der Weltseite des ,Faust' ist auch Valentin wesentlich Typus, und wie bei allen Typen besteht seine Funktion nicht zuletzt darin, sich selbst darzustellen. Die Valentinszene hat also nicht nur den Funktionswert, Demonstration für Fausts Schuldigwerden zu sein, sie hat auch den substantiellen' Wert eines Kabinettstücks. Völlig getrennt von der ,Objekt'-Linie entwickelt sich die ,Subjekt'-, die Faust-Mephisto-Linie. Wohl sieht Valentin ,ihrer zwei' ,herbeischleichen', aber bevor es zwischen ihm und diesen zum Zusammenstoß kommt, wird diesen, mehr melodramatisch als dramatisch, noch ein Gespräch über Fausts Liebeszustände, Mephistopheles gar ein parodistisches Ständchen für Gretchen zugestanden. Erst dann tritt Valentin aus dem Dunkel hervor, provoziert Faust und Mephistopheles und fällt schließlich im Kampf gegen die Übermacht des Satanischen. Nach dieser kurzen Berührung zwischen ,Subjekt'- und ,Objektwelt' ist sich die ,Objektwelt' wieder selbst überlassen. Gretchen, Marthe und das Volk strömen nun zum Ort der Tat herbei, wo der sterbende Valentin seine Schwester verflucht. So dramatisch oder besser melodramatisch sich Valentin in seinem Sterben gibt, so sehr bleiben sein Soldatentod und seine Verfluchung der Schwester im ,Allgemeinen'. Der Charakter der Demonstration, der nicht nur für die ,Subjektseite', Fausts Schuldigwerden, sondern audi für die Reaktion der Welt, an der Faust schuldig wird, gilt, läßt ein echtes Drama nicht aufkommen. Kampf und Tod Valentins werden zum Paradigma der Reaktion einer Welt auf Fausts Möglichkeitsexistenz, und solch ein Paradigma ist seinem Wesen nach undramatisch. Dieser paradigmatische Charakter isoliert das Demonstrationsobjekt innerhalb der Gesamthandlung des ,Faust' und hebt seine Tragödie als klar umrissenes Motiv heraus. So wird die Szene, obwohl ihr Motiv in sich selbst nach allen Regeln der Kunst .dramatisiert' wird, doch nicht wirklich dramatisch; sie bleibt Kleindrama, Kabinettstück, ,Tragödie' der ,Materie', kurzum Melodrama'. Freilich läßt sich der Charakter der Demonstration nur aus der Gesamtkonzeption des ,Faust' wirklich verifizieren, und auch das FaustWelt-Verhältnis in seiner funktionshemmenden Wirkung, das wir in dieser Szene aufzuspüren versuchten, läßt sich dort nur d a n n finden, wenn es bereits feststeht und schon formuliert wurde. Alle jene funktionshemmenden Elemente, wie Trennung zwischen .Subjekt'- und ,Objekt'Linie, ,Allgemeinheit' der Personen, ,Beiläufigkeit' im Wegräumen des Widerstandes der ,Materie' gewinnen erst auf dem Hintergrund der Faustkonzeption und des damit verbundenen Charakters der Demonstra145
tion überhaupt ihre Evidenz. In ein weitgespanntes Handlungskontinuum integriert, brauchten sie nicht dramatisch retardierend zu wirken, sondern könnten, nun nicht mehr Ausdruck des Faust-Welt-Verhältnisses, als Elemente, die in diesem Kontinuum ,aufgehoben' sind, volle dramatische Wirkung erlangen. Daß es jedoch zu einem soldi integrierenden Aufgehobensein nicht kommt, ist eben Ausdruck des Faust-Welt-Verhältnisses und rechtfertigt unsere Interpretation. Aus der Immanenz einer einzigen Szene läßt sich nie genau bestimmen, ob diese dramatisch, d. h. funktionstragend oder nur melodramatisches Kabinettstück ist. Die nächste Szene — ,Dom' — ist wieder ein ,reines' Stadium in der erotischen Leidensgeschichte Gretchens. Chor und ,böser Geist' sind, wie Lieschen, wiederum Gestalten, die diesem Stadium zugeordnet sind und nur dazu dienen, es ein wenig zu dramatisieren. Im Gegensatz zu Liesdien ist der ,böse Geist' jedoch nicht einmal eine selbständige Gestalt; er ist Inkarnation von Gretchens Gewissensangst, und der Dialog zwischen ihm und Gretchen im Grunde ein Monolog. Durch die Darstellung reiner Zuständlichkeit hindurch zeigt sich dabei zugleich das Fortschreiten der Tragödie an. Böser Geist. Gretchen! Wo steht dein K o p f ? In deinem H e r z e n Welche Missetat? Betst du für deiner Mutter Seele, die Durch dich zur langen, langen Pein hinüberschlief? Auf deiner Schwelle wessen Blut? U n d unter deinem Herzen R e g t sich's nicht quillend schon U n d ängstigt dich und sidi Mit ahnungsvoller Gegenwart? (120)
Wir haben auf diese ,epische' Technik schon hingewiesen: sie dient dazu, die einzelnen Stadien der Entwicklung Gretchens relativ ,rein' zu halten und sie nicht durch unnützen dramatischen Ballast zu beschweren. Diese Technik nimmt nun, da das spezifisch Erotische der Gretchentragödie längst zu Ende gegangen ist und die Nur-Tragödie an seine Stelle tritt, mehr und mehr Platz ein. Sie erweist sich audi insofern als unbedingt notwendig, als die ganze Entwicklung der Tragödie durch Fausts Abkehr vom Erotischen und seinen Verpflichtungen (eine Abkehr, die, soll die Faustkonzeption einigermaßen erhalten bleiben, nun nicht mehr aufgeschoben werden kann), der Teilnahme an der ,Walpurgisnacht', überdeckt wird. Erst nach dieser wird die Katastrophe — die Mephistopheles Faust bisher verheimlicht hatte — in ihrer ganzen Größe offenbar. 146
Als vergangene kann sie dann nur noch ,episch' zusammengefaßt werden. Die Linie Gretchens wird erst wieder ganz zum Schluß in szenischer D a r stellung vorgeführt, wobei die ganze Tragödie, auch diejenigen Teile, die Faust in seinem vorausgehenden Monolog bereits aufgegriffen hat, noch einmal ,episch' zusammengefaßt wird, um damit die Folgen von Fausts ,Liebesentwurf' in letzter Konsequenz zu demonstrieren. Diese .epischen' Zusammenfassungen, wir wiederholen es, sind nötig, soll die Faustkonzeption einigermaßen erhalten bleiben. Sie gerät durch die vielen Monolog- oder Quasi-Monologszenen Gretchens ohnehin mehr und mehr in Bedrängnis. Die Unterbrechung der Gretchen-Linie durch die ,Walpurgisnacht' ist Ausdrude f ü r Fausts Versuch, sich sein Faustisches zurückzugewinnen und sich aus den Verstrickungen des Erotischen und seiner Folgen zu lösen. So hat die ,Walpurgisnacht' die kompositionelle Funktion, gegen die sich in sich selbst immer weiterspinnende Leidensgeschichte Gretchens ein Gegengewicht zu schaffen, das den Ausgangspunkt Fausts wieder festhält. Dieses Wiedergewinnen des Faustprinzips ist jedoch kein dramatisches, sondern ein philosophisches Motiv. Primäre Funktion der ,Walpurgisnacht' ist es, diesem philosophischen Motiv zum Durchbruch zu verhelfen. Daneben hat sie jedoch auch die dramatische Bedeutung, die entscheidenden Vorgänge der Gretchentragödie zu überbrücken. Der philosophisch-systematische Stellenwert, den die ,Walpurgisnacht' in der Entwicklung des Faustgeschehens einnimmt, macht aus ihr, wie wir dies bei anderen Szenen beobachten konnten, einen in sich abgeschlossenen, nach außen abgedichteten Komplex, der zwar zu anderen Szenen (etwa auch zur ,Klassischen Walpurgisnacht') ein philosophisches, aber kein dramatisches Verhältnis unterhält. Bei der ,Walpurgisnacht' ist diese Isolierung gegen andere Szenen deshalb so groß, weil sie Gegenbewegung zur Gretchentragödie ist und, im Gegensatz zu den einzelnen erotischen Stadien Gretchens, die in ihrer reinen Zuständlichkeit auch klar voneinander abgegrenzt sind, aus jeder Motiventwicklung herausfällt. Die Möglichkeit, Philosophisches der funktionalen Geschehnisentwicklung überzuordnen, eine Szene als Trägerin einer philosophischen Intention dort hinzusetzen, wo es ihr philosophischer Stellenwert erfordert, unterscheidet den ,Faust' von allen Ausprägungen des traditionellen Dramentypus. Charakteristisch für die .Walpurgisnacht' und f ü r alle Szenen, die (wie etwa auch ,Auerbachs Keller') f ü r einen philosophischen Systemwert stehen, ist, daß dieser Systemwert keineswegs explizit thematisiert zu werden braucht. Die ,Walpurgisnacht' ist keineswegs eine philosophische Szene. Das Problem der Wiedergewinnung des Faustprinzips wird nirgends aufgegriffen. Und doch steht die Szene als Ganzes f ü r dieses Wie147
dergewinnen, und dieser philosophische Wert ist es denn auch, der sie von anderen Szenen abgrenzt. Dieses Für-Stehen braucht also noch nichts über die immanente Entwicklung einer Szene auszusagen. Hinzu kommt, daß der philosophische Systemwert, für den die ,Walpurgisnacht' steht, so abstrakt ist, daß weder Fausts Existenzform in ihr nodi ihre .Materie' aus ihm abgeleitet werden könnte. Lediglich als Atmosphäre ist die W a l purgisnacht' vermittelt: ihr Sinnlich-Hexenhaftes steht gegen die erotische Ernsthaftigkeit Gretchens und zeigt damit an, daß Faust sich von seiner bisherigen Liebesform lösen will. Doch ist die Szene durch diese negative Analogie im Atmosphärischen noch lange nicht determiniert, und so darf es nicht wundern, daß Goethe hier eine ausgesprochene ,Materialszene' einschiebt, in der die Faust-Linie weitgehend untergeht. Dieses Untergehen findet seinen symbolischen Ausdruck im Sich-Verlieren Fausts, im Getrenntwerden von Mephistopheles und in seiner Unfähigkeit sich in diesem ,Hexenelement' zu orientieren. Nirgends erscheint die ,Materie' so sporadisch, wechselt sie so kaleidoskopartig, ist sie so vollständig desorganisiert wie hier. In der ,Mummenschanz', der großen ,Revueszene', präsentiert sie sich als organisierter Kosmos, dessen Allegorien, personifizierte Begriffe und sonstige Gestalten eine je in sich organisierte Eigenwelt darstellen, deren jede in einem großen Kosmos, dem Kosmos des Spiels, aufgeht. Die ,Klassische Walpurgisnacht' wird durch Faust, Mephistopheles und Homunculus, diese drei Träger von Funktionalität, zusammengehalten. Auch weist hier die ,Materie', obwohl sich in ihr die Nachtseite der klassischen Antike verkörpert, eine klassisch-organisierte Form der Selbstdarstellung auf. Die Aussagen ihrer einzelnen Repräsentanten sind zumeist geistige Organismen, die, ähnlich denen der ,Mummenschanz', sich um einen zentralen, öfters begrifflichen Kern (so etwa bei den Sphinxen, Lamien, Phorkyaden) gruppieren, den sie poetisch umspielen. Ganz anders in der ersten .Walpurgisnacht'. Die meisten Kommentatoren neigen hier dazu, in dieser ein negatives Äquivalent zur Gretchentragödie, die reine gegenüber der seelisch sublimierten Geschlechtlichkeit zu sehen. Ohne Zweifel ist diese Gegenüberstellung richtig, doch ist damit über die Komposition der Szene noch nichts Entscheidendes gesagt. Mit der Herausstellung der beiden antithetischen erotischen Verhaltensweisen Fausts, symbolisiert in seinem Blick auf Lilith und seiner Vision Gretchens, orientiert sich unserer Ansicht nach die Interpretation viel zu sehr an der Faustgestalt. Die Geschlechtlichkeit Fausts, wie überhaupt die Faust-Linie, ist jedoch in der ,Walpurgisnacht' nicht entscheidend. Die .Materie' aber — und sie ist es, die der Szene das Gepräge gibt — ist nicht primär geschlechtlich. Mit dem Geschlechtlichen hat sie 148
jedoch gemein, daß sie, im Gegensatz zum Erotischen, keine kontinuierliche Entwicklung kennt, sondern sich in der Punktualität einzelner Reizungen erschöpft. Ihr Böses, oder vielmehr das Böse, das Mephistopheles ihr im Hinblick auf Faust abzugewinnen hofft, besteht darin, daß durch sie die kontinuitätstragenden, die erotisch-seelischen, treuehaltenden Kräfte in Faust neutralisiert werden sollen. Sie erscheint dabei in zweierlei Gestalt: als,Sinnliches' (wobei,sinnlich' im weitesten, kantischen Sinne zu verstehen ist) und als Ironisch-Pointiertes, als Witz, als Esprit. Beiden gemein ist die Punktualität einer in sich abgeschlossenen Reizausübung. So folgt impressionistisch Reiz auf Reiz, ohne daß sich aus dieser Folge ein klares Motiv herauskristallisierte, es sei denn dasjenige des Hexenhaft-Walpurgismäßigen, das jedoch kein eigentliches Motiv, sondern nur eine Atmosphäre der Erregung ist, die, wie jede Atmosphäre, sofern sie sich ,rein' verwirklicht, nur in einem funktionslosen In-Sich-Kreisen besteht. Mit der nächsten Szene — ,Trüber Tag' — treten wir in die letzte Phase der Gretchentragödie ein. Wie so oft (etwa zwischen ,Auerbachs Keller' und der ,Hexenküche') werden auch beim Übergang von der Walpurgisnacht' zu dieser Szene große Teile der dramatischen Linienführung unterdrückt. Der Kontrast zwischen Fausts Amüsement in der ,Walpurgisnacht' und seiner Verzweiflung über Gretchens Schicksal, dieser substantielle' Kontrast zwischen zwei Existenzformen (im rein Dramatischen gibt es keine derartigen nichtfunktionalisierten oder nur schwach funktionalisierten Kontrastwirkungen; sie sind ein Element des Melodramatischen') kann nur dann voll herausgearbeitet werden, wenn gewisse Voraussetzungen, gewisse Zwischenglieder der dramatischen Entwicklung unterdrückt werden. Die Szene selbst ist nicht eigentlich als dramatisch zu bezeichnen. Sie ist einerseits Rückgriff auf ein vergangenes Geschehen, das Schicksal Gretchens bis zur Einlieferung in den Kerker, andererseits Exposition eines Zukünftigen, der Befreiung Gretchens aus dem Kerker. Beides, Rückgriff und Exposition, sind ,epische' Techniken. Die Szene hat im Grunde kein wirklich funktionalisierbares Motiv; an dessen Stelle tritt eine Art melodramatisierten Berichts. Die relative Kürze, die mit jeder episch-erzählenden Wiedergabe eines Geschehniskerns verbunden ist, wird durch die zum Melodrama ausgeweitete Verzweiflung über dieses Geschehen kompensiert, zu dem jedoch dramatisch nichts Neues hinzutritt. Dieses Melodrama darf nicht mit einem echten Drama verwechselt werden. Es kennt keine funktionstragende Entwicklungslinie, sondern ist ein gequältes In-Sich-Kreisen eines psychischen Zustandes, dessen Ursache, das Schicksal Gretchens, zu Beginn der Szene in ,epischer' Kurzform 149
.vorgeworfen' wird, dessen Ergebnis, der Aufbruch zur Befreiung Gretchens, sich zwar im letzten Teil der Szene ,herausprozessiert', aber in solchem ,Herausprozessieren' die Gesetze des Epischen nicht umstößt, sondern nur ein wenig auflockert. Das Verhältnis von ,episch' verkürzter Wiedergabe eines Geschehens und paraphrasisch kreisender Reflexion über dieses Geschehen ist zutiefst Ausdruck des Verhältnisses zwischen Idi und ,Materie'. Denn es handelt sich hier ja keineswegs so sehr darum, die Gretchentragödie in allen Einzelheiten wiederzugeben, sondern darum, die Reaktion Fausts auf die Katastrophe seines ,Liebesentwurfs', s e i n e Tragödie darzustellen. Zugleich bezeichnet diese Reaktion — sie wird in der Auseinandersetzung mit Mephistopheles vorgetragen — einen genau bestimmten philosophischen Ort in der Beziehung zwischen Faust und Mephistopheles, nämlich jenen, wo das Böse Mephistos nicht mehr als Ironie, Reflexion oder Reiz, sondern nackt und triumphierend erscheint. Es hat sich — und hierin unterscheidet sich die Gretchentragödie von der Helenatragödie — in seiner ursprünglichen Intension durchgesetzt. Die Reaktion Fausts auf dieses Böse nimmt deshalb eine Gestalt an, die wir sonst nirgends im ganzen ,Faust' finden, die Gestalt unverhüllten Hasses. Dieses Gefühlsverhältnis zwischen Faust und Mephistopheles ist — und hierin liegt sein philosophischer Systemwert — ein Übergangsverhältnis. Es markiert den philosophischen Ort, von dem an Faust in seinen Entwürfen und Begegnungen mit der ,Materie' sich von Mephistopheles freimacht, diesen zum Diener und Buffo degradiert und sich, im Gegensatz zu seinem .Liebesentwurf', nicht mehr in eine ,Intrige' hineinziehen läßt. Als solches bezeichnet es eine Stufe in der Entwicklung zu jener .immer höheren und reineren Tätigkeit' Fausts, von der Goethe zu Eckermann spricht, eine Stufe, die zugleich ein neues Verhältnis von Faust-Ich und .Materie' und damit ein neues Verhältnis von Substantialität und Funktionalität ankündigt. Die Reaktion Fausts auf Mephistopheles triumphans war, wie wir gesehen haben, Haß. Dieser Haß ist jedoch — und darin liegt sein .substantieller' Wert — nicht funktionalisierbar, nicht in eine .Intrige' auflösbar; er ist Haß an sich, Haß als Begriff, wie es der philosophischundramatischen Auseinandersetzung zwischen Faust und Mephistopheles entspricht. Als solcher kann er wie ähnliche Begriffe, etwa die ,Sorge', nur ,melodramatisiert', nur als intensives Medium dargestellt werden. Der Übergang von der Szene ,Trüber Tag' zur Kerkerszene ist, obwohl zwischen beiden noch ein verbindendes Zwischenglied, das Stimmungsbild ,Nacht. Offenes Feld', liegt, einer der lückenlosesten im ganzen ,Faust'. Hierin zeigt sich, daß das Geschehen nun wirklich dramatisch zu werden 150
beginnt. Die Kerkerszene enthält das Höchstmaß an Dramatik, das im ,Faust' überhaupt möglich ist. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß diese ,Dramatik' relativ wenig Funktionalität enthält. Dramatik besagt hier weniger dramatische Entwicklung als einen besonders hohen Grad von Erregung, dem psychische Entwicklung, psychische Veränderung durchaus nicht immanent sind. .Dramatisch' ist in der Kerkerszene in erster Linie der äußere Rahmen des Geschehens, die ,Situation', die hier im traditionellen Sinne als Unaufhebbares, dem sich Faust nicht mehr als Möglichkeit nähert, verstanden werden muß: Faust „mit einem Bund Schlüssel und einer Lampe", erscheint vor dem „eisernen Türchen" des Kerkers. „Er ergreift das Schloß", schließt das Türdien auf, „faßt" Gretchens „Ketten, sie auf zuschließen." (139—140) „Die Ketten fallen ab." (141) Er will sie mit sich fortziehen, sie aber, trotz Liebkosungen, widerstrebt ihm und bleibt nach einer langen, visionären, von Faust stets nur kurz unterbrochenen Monologfolge im Kerker zurück. Soweit die äußere Form des Geschehens, die ,Situation'. Sie erfüllt ohne Zweifel alle Forderungen, die man an eine Situation im vollen, dramatischen Sinne des Worts stellen kann. Doch bleibt sie eben nur Rahmen f ü r ein Geschehen, das ganz und gar innerlich ist, Rahmen, der nur die Bedeutung hat, der letzten Gefühlskonstellation zwischen Faust und Gretchen einen dramatischen Hintergrund zu verleihen. Diese Gefühlskonstellation ist jedoch zutiefst undramatisch. Sie kennt keine Entwicklung. Nicht daß sie sich nicht erst allmählich ,herausprozessierte', aber ein solches ,Herausprozessieren' ist nicht mit einer ,offenen', in ihren Möglichkeiten noch nicht vorausschaubaren Gefühlsentwicklung zu vergleichen. Dem ganzen ,Prozeß' sind durch den P a k t relativ enge Grenzen gesteckt. Soll das Faustische bewahrt werden — und es muß bewahrt werden — so muß das Erotische überwunden werden, so ist Gretdiens Schicksal besiegelt. Sie kann im Grunde gar nicht befreit werden. Dieser philosophische Hintergrund, das Bewahren der Möglichkeitsexistenz Fausts, darf bei aller ,Dramatik', die in der ,Situation' liegt, nicht vergessen werden. Das zentrale Thema der Szene ist das,Herausprozessieren', das Zum-Bewußtsein-Erheben dieses philosophischen Hintergrundes. Der logische Widerspruch, der darin besteht, daß Faust zugleich Gretchen retten will und seiner Konzeption treu bleiben muß (ein Widerspruch, der, wäre er durchdacht, die ganze Szene erübrigen würde), wird dabei dadurch umgangen, daß, paradoxerweise, Gretchen die Initiative ergreift und den Bruch herbeiführt. Dies ist jedoch nur dadurch möglich, daß sie, unter dem Eindruck von Fausts Möglichkeitsexistenz, die sie fühlt und vor der ihr graut, zum Gegenprinzip Fausts, zu einem Teil des Ewig-Weiblichen wird, als wel151
cher sie später zur Erlösung Fausts beiträgt. Es ist müßig, sich zu fragen, ob diese Erhöhung Gretchens zum philosophischen Prinzip, dieses allmähliche Sich-Entfremden gegenüber Faust nur eine psychologisch raffiniert gedeckte Notlösung ist, die sich der Notwendigkeit, die Faustkonzeption weiterzuführen, anbietet, oder ob diese Vorbereitung der Erlösung Fausts in einem so frühen Stadium seiner Entwicklung schon einer Notwendigkeit der philosophischen Gesamtkonzeption entspricht. Das eine schließt das andere nicht aus. Doch läßt sich nicht leugnen, daß aus der Gretchenpsychologie auch eine andere Reaktion auf Fausts Drängen hätte hervorgehen können. Dies ändert indessen nichts an der unumgehbaren Determiniertheit des Geschehens, einer Determiniertheit, die letztlich, obwohl diese ganz in den Hintergrund gedrängt wird, in der Faustkonzeption beschlossen liegt. Die Kerkerszene ist, wir haben es schon angedeutet, die Szene Gretchens, die Szene der .Objekt'-, der Weltseite, die in einem großen Monolog ihr ,Objekt'-, ihr Weltsein aus seiner Verbindung mit der ,Subjektseite' zurücknimmt, sich von dieser abgrenzt und sie wieder als volle Möglichkeitsexistenz inthronisiert. Faust selbst verhält sich dabei gänzlich passiv, unterbricht nur dann und wann den Monolog, der ihm seine Freiheit wiedergibt. Dieses Sich-Bewußtwerden des Auf-der-Weltseite-Stehens Gretchens ist kaum als echter psychologischer V o r g a n g und damit als funktionstragend zu bezeichnen. Er vollzieht sich in Form einer kaleidoskopartigen Reihung von visionären Fetzen, vollzieht sich, bei aller Klarsicht Gretchens, in der Assoziationsweise der Geistesgestörtheit. Wir haben hier ein ,melodramatisches' ,Herausprozessieren' einer philosophisch-psychologischen Konstellation. Ein solches .Melodrama' unterscheidet sich von einem echten Drama dadurch, daß sich hier ein Gefühlszustand zwar ungemein intensiviert, sich aber im Grunde nicht entwickelt. So .prozessiert' sich das Fremdwerden zwischen Faust und Gretchen auf melodramatische' Weise heraus: die Intensität und Unbeirrbarkeit, mit der Gretchen trotz der drohenden Gefahr in ihren visionären Vorstellungen verharrt, i s t bereits dieses Fremdwerden, ein Fremdwerden, das sich dann am Ende der Szene in voller Unmittelbarkeit ausspricht und eine ausdrückliche metaphysische Überhöhung erfährt. So ist Gretchens großer Monolog weniger ein psychisches Drama mit all den Möglichkeiten an Funktionalität, die in einem solchen Drama liegen; vielmehr besteht sein philosophischer Sinn darin, die Rektion der Welt-, der ,Materialseite' auf Fausts Möglichkeitsexistenz in Form einer Demonstration vorzutragen, einer Demonstration, die zugleich ein Sich-Zurücknehmen der Welt und ein Freigeben Fausts zu neuen Möglichkeiten bedeutet. 152
8. Anmutige Gegend Diesem Freigeben Gretchens entspricht jedoch — wir haben dieses Paradox angedeutet — auf Fausts Seite noch kein bewußtes Ergreifen seiner neuen Freiheit, seiner neu gewonnenen Möglichkeitsexistenz. Der Bann, den der Zusammenbruch Gretchens auf ihn ausübt, läßt sich erst später und nur sehr langsam abstreifen. Dies geschieht in der Szene ,Anmutige Gegend', die dadurch zu einer typischen Übergangsszene wird. Der Charakter des Übergangs ist hierbei jedoch reiner als in analogen Szenen. Ähnlich wie in der ,Paktszene' und der ,Hexenküche* haben wir auch hier eine bloße Vorbereitung einer neuen Existenzform. Im Gegensatz zu diesen beiden Szenen bleibt jedoch hier ganz im Dunkeln, welche Existenzform Faust nach seiner geistigen Wiedergeburt wählen wird. Wurde in der ,Hexenküche' eine erotische Existenzform, in der Paktszene wenigstens das Faustcredo .vorgeworfen', so bleibt hier die ,Möglichkeit-Zu' ganz und gar inhaltsleer. Freilich, die neue Existenzform wird wiederum faustisch sein, aber dies Faustische ist, da ja die im Pakt ausgeworfene Faustthesis für den ganzen weiteren Verlauf des Faustgeschehens gilt, nicht mehr ausdrücklicher Gegenstand unserer Szene. So bleibt diese als Übergangsszene nicht nur ohne dramatische Funktion, sie verfügt nicht einmal mehr — was sonst bereits als entdramatisierendes Element gelten konnte — über einen philosophischen Systemwert im Gesamtsystem des ,Faust', denn die bloße Verbindung zweier Existenzformen, von denen die neu zu ergreifende noch im Dunkeln liegt, ist nur in sehr eingeschränktem Maße als echter philosophischer Wert zu bezeichnen. Wohl ist mit dem Motiv des Geheiltwerdens ein klar umrissener physisch-psychischer Vorgang gegeben, aber im Grunde ist dieser Vorgang nur ein ins Physisch-Psychische gewendeter symbolischer Ausdruck für ein ganz und gar formalisiertes Vorbereiten-Zu. Geheiltwerden gehört nicht zu den Entwürfen und Existenzformen Fausts, ist ein Zwischenglied, das die Möglichkeit einer neuen Existenzform Fausts freimacht, selbst aber nicht ins System dieser Entwürfe und Existenzformen gehört. Ein solches Wieder-Freiwerden Fausts findet sich auch nach der Betäubung durch die Helenatragödie. Nach dieser bedarf es jedoch nicht der Einführung eines heilenden Mediums (wie der Elfen), vielmehr gelingt es Faust, sich aus eigener Kraft aus der Betäubung zu befreien und das Vergangene, symbolisiert im Dahingleiten einer helenaähnlichen Wolke, ruhig-heiter zu betrachten und sich von ihm zu lösen. Hierzu genügt ein monologisches Intermezzo. Dies genügt jedoch nach der Katastrophe der Gretchentragödie nicht, und so gliedert sich die erste Genesungsszene in zwei Teile: der zweite Teil, 153
ein Monolog Fausts, wird von einem vorangehenden Präludium, dem Gesang Ariels und der Elfen, eingeführt. Beide Intermezzi treffen sich als Gesamtkomplexe in der formalen Funktion, f ü r Faust eine neue, oder, wenn man so will, die alte Ausgangsbasis zu schaffen. Weder sind die psychischen Valeurs der beiden Monologe Fausts echte Existenzformen, nodi die Personen (Ariel, Elfen) oder Gegenstände (Wolke), die Fausts psychischen Zuständen zugeordnet sind, echte ,Materie', die in diesen Existenzformen begegnen könnte. Vielmehr sind sie in der formalen Funktion, Faust seine Möglichkeitsexistenz zurückzugeben, ,aufgehoben' und nur poetische Umschreibungen dieser Funktion, die, als extrem formale, ja in irgendeiner Weise ,materialisiert', ,psychisiert' werden muß. Es liegt in der N a t u r soldier .Materialisationen', daß die Hohlform, die sie ausfüllen müssen, nur lyrisch ausgefüllt werden kann. Da Freiwerden zu neuen Möglichkeiten noch nicht Begegnung mit einer Welt ist, kann es nur als psychische Zuständlichkeit dargestellt werden. Im zweiten Teil unserer Szene, im Monolog Fausts, zeigt sich dies deutlich. Wohl nimmt dieser, ähnlich wie derjenige, mit dem Faust die Helenatragödie überwindet, von einem Gegenstand, der am Horizont heraufkommenden Sonne, seinen Ausgang, aber bald gleitet er ins Lyrisch-Reflexive hinüber, das, wie so oft im ,Faust', Bilder aus der Fülle der N a t u r nimmt, diese in sich integriert, in die Stimmung einer vollkommenen Wiedergeburt, einer echten Renaissance des Faustischen einschmilzt. Ähnlich lyrisch wie Fausts Monolog sind auch die Gesänge Ariels und der Elfen. Als Zuordnungen zu bloßen psychischen Zuständlichkeiten Fausts sind sie selbst zuständlich. Ihr heilender Lyrismus singt Faust in den Schlaf. Dieser Lyrismus ist freilich nicht gänzlich statisch, vielmehr verfolgt er die einzelnen Bewußtseinsstadien Fausts und wird schließlich zu einem durchgehenden Crescendo, mit dessen Ende Faust wieder im vollen Besitz seiner Kräfte ist. Für die Substrate dieser lyrischen Zuständlichkeit, Ariel und die Elfen, gilt das Gleiche wie für andere personifizierte Zuordnungen zu Bewußtseinszuständen von Hauptpersonen (Beispiel Lieschen): sie bedürfen weder einer Exposition nodi eines Ausblicks auf ihr weiteres Schicksal; sie kommen und gehen mit den Bewußtseinszuständen, denen sie zugeordnet sind. Diese lyrische Zuständlichkeit ist, wie wir zu zeigen versuchten, Korrelat der formal-inhaltslosen Vorbereitung einer neuen Existenzform Fausts, die die Szene zur Übergangsszene mit klarer Abgrenzung zu anderen, im Zeichen bestimmter Existenzformen stehender Szenen macht. Die Träger des Lyrisch-Heilenden sind nicht Gestalten, die als ,Materie' zur Begegnung gebracht werden sollen, tun sie doch ihr Werk an einem Faust, 154
dessen Verhältnis zur .Materie' in Übermüdung und tiefem Schlaf verloren ging. So hat die Szene, von diesem Verhältnis aus betrachtet, überhaupt kein echtes und damit funktionsbildendes Motiv; sie ist scheindramatisch aufgelockerter Lyrismus, als welcher sie eine neue, noch unbekannte Existenzform Fausts vorbereitet. 9. Kaiserliche Pfalz Mit dem Betreten der ,Kaiserlichen Pfalz' eröffnet sich uns ein geistiger Raum, der sich von dem der Gretdientragödie in seinem Verhältnis zu Substantialität und Funktionalität grundlegend unterscheidet. In der Gretchentragödie konzentrierte sich das ganze Geschehen auf ein einziges Thema, das, so ,allgemein' es war, in solcher Konzentration erst eine Geschehnisstruktur ermöglichte, Faust in diese hineinzog, alle nichterotische, innerhalb des Erotischen nicht aktualisierbare .Materie' a priori ausschloß. Diese wurde in die .Walpurgisnacht' abgedrängt. Wir hatten hier eine Polarisation ziemlich radikaler Natur: auf der einen Seite die relativ linear-konstante Entwicklung eines trotz seiner ,Allgemeinheit' realistischen Geschehens, auf der anderen Seite das Zusammendrängen einer chaotischen Form von ,Materie', deren einzelnen Elemente nur der Minimalraum einer Kurzdefinition blieb, einer ,Materie', die für Faust keine Möglichkeiten einer Begegnung in sich trug, sondern nur als zugleich erregende und ermüdende Atmosphäre auf ihn einzudringen vermochte. Im zweiten Teil des ,Faust' ändert sich dieses Verhältnis von Faust-Ich und .Materie' grundlegend. Wir wollen hierbei zunächst den Obergangskomplex der .Kaiserlichen Pfalz' aus unserer Betrachtung ausklammern, um einen Vorblick auf die beiden großen Entwürfe Fausts, die Helena- und die Herrschertragödie, zu werfen, diese mit der Gretdientragödie zu vergleichen und rückblickend der .Kaiserlichen Pfalz' im System dieser großen drei Entwürfe ihren philosophischen Ort zuzuweisen. Als Schlüsselbegriff einer Unterscheidung zwischen Fausts .Liebesentwurf' und den beiden anderen Entwürfen bietet sich der Begriff der .Tätigkeit' an. Das Fortschreiten in der .Reinheit' der .Tätigkeit', dieses geistige Element, enthält den Schlüssel zum Verständnis der Form des zweiten Teils des ,Faust' und seines Unterschieds zur Gretchentragödie. In dieser ist der Begriff der .Tätigkeit' noch sehr unvollkommen ausgebildet, das Faustprinzip noch ziemlich an den Rand gedrängt. .Tätigkeit' besteht ihrem Wesen nach darin, ein ,vorgeworfenes' Ziel, eine .vorgeworfene' Intention durchzuführen. Dieser Teloscharakter ist in der Gretchentragödie noch kaum gegeben. Im Gegensatz zu Helena 155 11
Streidier, Faust
oder zur Landgewinnung ist Gretchen kein echtes Telos Fausts. Wir haben zwar versucht, das Ich-,Materie'-Verhältnis auch auf die Gretchentragödie anzuwenden, haben Gretchen als erotisches ,Objekt' bezeichnet, aber, abgesehen von der gewissen Künstlichkeit, die damit ohne Zweifel verbunden war, sind die Begriffe Objekt und Telos ja keineswegs identisch. Gretdien bleibt zwar immer bis zu einem gewissen Grade erotisches ,Objekt', aber, im Gegensatz zu Helena, nie echtes erotisches Telos Fausts. Das Schema .Vorwerfen' des Telos-Weg-Erfüllung (wir lassen dabei den tragischen Absturz, der für alle drei Entwürfe gleichermaßen gilt, unberücksichtigt), in dem ,Tätigkeit' erst ihren Begriff voll erfüllt und nicht nur irgendein Tun bedeutet, bricht erst im zweiten Teil des ,Faust' endgültig durch und kennzeichnet die größere .Reinheit' der .Tätigkeit' Fausts gegenüber seinem .Liebesentwurf'. Zwar wird nach der ersten Begegnung zwischen Faust und Gretchen eine ,Intrige' inszeniert, die den Zweck verfolgt, das in der ersten Begegnung .Vorgeworfene' .einzuholen', aber eine solche .Intrige' kann kaum als .Weg zu Gretdien' gelten. Gretchens .Antezedentien' gibt es nicht. Die .Intrige' ist im Grunde nur ein Zwischenspiel zwischen zwei Begegnungen, deren erste ja durchaus schon echte Begegnung ist, das Telos (wobei dieser Begriff freilich seinen eigentlichen Sinn verliert) ja durchaus schon gegenwärtig war. Ein .Vorwerfen' eines Telos, das in der weiteren Entwicklung des Geschehens .eingeholt' werden soll, wofür das Verhältnis von phantasmagorischer und körperlich-realer Erscheinung Helenas als Beispiel dienen kann, gibt es in der Gretchentragödie noch nicht. Aus dem Schema .Vorwerfen' des Telos-Weg-Erfüllung läßt sich nun ohne große Schwierigkeit das neue Verhältnis zwischen Substantialität und Funktionalität entwickeln. Während in der Gretchentragödie das Telos von Fausts .Liebesentwurf' von Anfang an gegeben ist, dergestalt, daß von einem echten Telos im Grunde gar nicht die Rede sein kann, bedarf es in der Helena- und Herrschertragödie eines langen Wegs, um dieses Telos zu erreichen. Die Gretchentragödie steht von Beginn an im Zeichen der B e g e g n u n g , die eine lineare Entwicklung garantiert, die ,Materie' als Totalität ausschließt oder zumindest an den Rand des Geschehens — in die ,Walpurgisnacht' — drängt. In den beiden anderen Tragödien ist dieser Charakter der Begegnung jedoch nicht a priori gegeben. Vielmehr liegt hier zwischen dem als Intention vorgeworfenen Telos Fausts und der Erfüllung dieses Telos ein unendlich langer Weg, der zwar dazu dient, Faust seinem Telos näherzubringen, der aber sonst über dieses nicht viel aussagt. D a das Telos in unendliche Ferne rüdkt, gewinnt der Weg zu ihm eine relativ große Selbständigkeit. J a der Begriff 156
des Weges verliert überhaupt seinen ursprünglichen Sinn, besteht er doch nur in der subjektiven Intention Fausts, der sein Telos durch eine Fülle von .Materie' trägt, nicht aber in der ,Materie' selbst, die Faust zwar zuweilen seinen Weg weist, selbst jedoch ganz und gar unter der Kategorie der Substantialität steht. Dieses Freiwerden des ,Materialprinzips' ist das Korrelat zu einer bloß subjektiven Teleologie, die ihr Telos nicht in der Vermittlung mit der ,Materie' dramatisch zu erarbeiten, sondern es nur, mit der Hoffnung, auf den rechten Weg gewiesen zu werden, durch das Chaos der ,Materie' zu tragen vermag. Oft geht dabei die Faust-Linie in diesem Chaos unter. So steht der zweite Teil des ,Faust' weit mehr im Zeichen eines unfunktionalisierten ,Materialprinzips' als der erste. Wird dieses hier in eine einzige Szene, die .Walpurgisnacht', abgedrängt, so wird dort die ,Materie' bewußt erschlossen. In der .Mummenschanz', dem geistigen Zentrum der ,Kaiserlichen Pfalz', wird dieses Erschließen zum Programm und ist, einmal eingeführt, von nun an immer gegenwärtig. Die Existenzform Fausts, die dem Freiwerden des ,Materialprinzips' entspricht, das Bewußtsein der unendlichen Fülle der Welt und ihrer selbst, findet in der Gestalt des Plutus ihren zum Begriff erhobenen Ausdruck. Plutus ist jener Entwurf Fausts, in dem dieser sein Verhältnis zur .Materie' nicht in eine bestimmte Existenzform, etwa die Liebe, kleidet, sondern dieses Verhältnis als solches zum Gegenstand macht. Es erhebt sich deshalb die Frage, ob Plutus überhaupt eine edite Existenzform Fausts ist. In einem tieferen Sinne muß man diese Frage ohne Zweifel verneinen, denn, soll das Verhältnis zur ,Materie' in ihrer .Totalität' offen gehalten werden, darf sich das Ich, das dieses Verhältnis unterhält, nicht in eine bestimmte Existenzform kleiden, die immer einen Teil der .Materie' von einer Begegnung ausschließen muß. Entwurf und Existenzform bestimmen deshalb lediglich den spielerisch-allegorischen Rahmen, in dem Faust sein Verhältnis zur ,Totalität der Materie' vorträgt. Natürlich ist jede Übernahme einer Rolle ein Entwurf, unterscheidet sich jede gespielte Existenz von der Normalexistenz des Spielenden und ist insofern eine neue Existenzform, doch kann das bloße Rollenbewußtsein, die allegorische Hülle nicht als echte neue Existenzform Fausts angesprochen werden. Diese Hülle dient Faust nur dazu, sich der Situation der .Mummenschanz' anzupassen. Hinter ihr aber verbirgt sich ein Faust, der nicht mehr, oder nodi nicht wieder, diese oder jene Existenzform ergreift, sondern dem alle Existenzformen zur Verfügung stehen, der die Totalität eines Ichs repräsentiert. Im Herausarbeiten dieses Totalitätsprinzips sehen wir den philosophischen Stellenwert der .Mummenschanz' im Gesamtsystem der Entwicklung Fausts, einen Stellenwert, dem der 157 11 ·
ganze Komplex der ,Kaiserlichen Pfalz' letztlich nur als szenischer Rahmen dient. Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß gerade die Verwirklichung des Totalitätsprinzips ausgesprochene dramatische Schwächen mit sich bringt. Heinrich Rickert streift — ohne es freilich im Kern zu erfassen — dieses Problem, indem er darauf hinweist, „daß Plutus, hinter dem Faust steckt, sich völlig indifferent verhält." . . . u Tatsächlich ist das Totalitätsprinzip dramatisch überhaupt nicht zu gestalten. Staigers Hinweis, daß Faust als Plutus „mit einer bestimmten Absicht eine Rolle" spiele, „die er menschlich keineswegs auszufüllen" 1 5 brauche, wäre dahingehend zu ergänzen, daß er diese Rolle menschlich nicht nur nicht auszufüllen braucht, sondern sie gar nicht ausfüllen kann, denn gerade hierin besteht ja das Prinzip der Totalität eines Ichs, das ohne Zweifel einen philosophischen Systemwert im Gesamtsystem des ,Faust' besitzt, so daß „die Frage nach Fausts Entwicklungsstufe" nicht „falsch gestellt" 16 zu sein braucht. Dieses Totalitätsprinzip weist jedoch im Gegensatz zu echten Existenzformen, etwa der Liebe, keine wirkliche Geschehnisstruktur auf; es kann nur als personifizierter Begriff, oder, in Anpassung an die Situation der ,Mummenschanz', als Bildbegriff dargestellt, ja im Grunde nur definiert werden. Dies ist unserer Ansicht nach die Ursache dafür, daß Faust sich im folgenden so völlig indifferent verhält. Hier ist Plutus Magier und hat als solcher überhaupt keine echte Psychologie, vielmehr ist diese im magischen Akt .aufgehoben', ist allenfalls eine indifferente Form von Spielbewußtsein, das jedoch mit der Faustschen Psychologie überhaupt nichts gemein hat. Der Charakter des Spiels, der ja nicht nur in den ausdrücklichen ,Spielszenen' der .Kaiserlichen Pfalz', der .Mummenschanz' und dem Liebesspiel zwischen Paris und Helena, sondern, freilich nur dem Geiste, nicht der äußeren Form nach, im ganzen Komplex der »Kaiserlichen Pfalz' herrscht, ist ein Korrelat zur Gegenstandsunabhängigkeit eines Totalitätsprinzips, das es Faust nicht erlaubt, die .Materie' in einen echten Entwurf .hineinzuziehen', sie durch eine echte Existenzform zu ,binden' und damit zu funktionalisieren. So haben wir auf der einen Seite das nur auf dem relativ engen Raum der Identifikation darstellbare Prinzip der Ich-Totalität, auf der anderen Seite eine Art Revue, die zur Darstellung der .Materie' dient. Beides ergänzt sich wechselseitig. Der .Reinheit' des Faustprinzips entspricht die ,Reinheit' des ,Materialprinzips'. Diese .Reinheit' schließt eine Vermittlung beider Prinzipien aus. Eine solche könnte man allenfalls darin sehen, daß Faust-Plutus unmittelbar nach der Revue der .Materie' auftritt und 14
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Rickert, S. 300.
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E. Staiger, Goethe. Bd. 3, S. 287.
beide Prinzipien auf diese Weise aufeinander hinweisen, freilich nur mittelbar hinweisen, denn einen expliziten Hinweis des Plutus auf ein Verhältnis zur vorausgehenden Revue gibt es nicht. So wird die .Materie' in keiner Weise in einen Entwurf Faust hineingezogen, gehorcht ganz und gar der Kategorie der Substantialität, wird sich selbst zum Programm. In einer systematischen Erschließung der ,Materie' in ihrer ,Totalität' (die natürlich nur mit Hilfe des Prinzips der Stellvertretung möglich ist) nimmt die Darstellung des .Materialprinzips' eine andere Form an als in einer Szene wie der .Walpurgisnacht', wo die .Materie' noch eine spezifische Färbung, die des Hexenhaft-Walpurgismäßigen, aufweist, in deren Atmosphäre sie integriert, der sie untergeordnet ist, und in der nur gewisse Bereiche der .Materie' zur Darstellung gelangen können und nicht der ganze Kosmos der .Materie', nicht das ,Materialprinzip' als solches, das weder einer Atmosphäre untergeordnet noch auf gewisse .Materialbereiche' beschränkt ist. Der sporadischen, desorganisierten Form, in der die .Materie' in der .Walpurgisnacht' Reiz auf Reiz ausstrahlt, entspricht die organisierte, abgerundete Form, in der sie sich in der .Mummenschanz' erschließt, ihr Wesen als einen in sich abgeschlossenen Kosmos zur Darstellung bringt. Dies setzt freilich voraus, daß die einzelnen Repräsentanten des .Materialprinzips' überhaupt über ein Wesen verfügen, das als geistiger Kosmos zu bezeichnen ist. Aus diesem Grunde kann hier nicht jede, sondern nur eine relativ abstrakte, ideierbare Form von .Materie' dargestellt werden. Was für die .Mummenschanz' gilt, gilt in gleicher Weise für den weiteren Gang von Faust II. Die .Mummenschanz' kennzeichnet den Ubergang von der bei aller .Allgemeinheit' .realistischen' Welt der Liebe zur Welt der Ideen. Diese Ideierung ist notwendig, soll das Verhältnis eines Ichs zur .Totalität der Materie', ein Verhältnis, das seinem Wesen nach abstrakt ist, seinem Begriff nadi dargestellt werden und sich nicht in der Zufälligkeit von Einzelbegegnungen erschöpfen. Will die .Mummenschanz' die .Materie' als .Totalität' darstellen, so kann dies nicht dadurch geschehen, daß eine Unendlichkeit von zufälligen und speziellen ,Einzelmaterien' aneinandergereiht wird (eine solche Summation ergibt ohnehin nie eine Totalität, die, als abstrakter Grenzbegriff, überhaupt nie vom Konkreten ,eingeholt' werden kann), sondern nur dadurch, daß für diese Unendlichkeit ein Kosmos mehr oder minder abstrakter Repräsentanten des ,Materialprinzips' steht, in dem alles Partikulare .aufgehoben' und auf den es reduzierbar ist. Grazien, Furien, Parzen, Parasiten, .Furcht', .Hoffnung' und .Klugheit' sind solche Abstraktionen, die für ganze Weltausschnitte stehen. 159
Die angemessenste Form, das .Materialprinzip' zur Darstellung zu bringen, ist das Spiel, ist die Identifikation in einer Art Revue, wie sie sidi in der .Mummenschanz' verwirklicht. Hier vermag sich ,Materie' in ihrer größten .Reinheit', vermag sich als Nur-.Materie' zu geben. Der Begriff der .Materie' ist im .Faust' jedoch sehr weit. .Materie' im weitesten Sinne bedeutet alles, was von Faust (und seinen verschiedenen Analogien) aus betrachtet, Nicht-Ich ist. Die Form der Selbstdarstellung in einer Art Revue weist hierbei den höchsten Grad von ,Materialität' auf. Die ,Materie' hat hier Bewußtsein ihrer .Materialität', ein Bewußtsein, das sich als Spiel um Identifikation versteht, wodurch sich die einzelnen Repräsentanten des .Materialprinzips' voneinander abgrenzen. Einen geringeren Grad von .Materialität' haben wir in der Selbstdarstellung der höfischen Welt, einer Welt, deren Repräsentanten sich nicht ausdrücklich identifizieren, sich nicht im Spiel um Identifikation präsentieren, was jedoch nicht hindert, daß diese Welt in gewisser Weise auch Spiel ist. Handelt es sich dabei nicht um ausdrückliche Identifikation, so doch um eine spielerisch vorgetragene Selbstdarstellung, die ihren Sinn in sich selbst trägt. Diese Welt liefert den Rahmen, innerhalb dessen sich eine Repräsentanz der ,Totalität der Materie' darstellen kann. Auch sie bleibt .material', audi sie wird nicht in einen Entwurf Fausts hineingezogen, ja Faust bleibt, im Gegensatz zur ,Mummenschanz', sogar gänzlich aus dem Spiel. Während er in der .kleinen Welt' sehr bald den ihm angemessenen ,Stoff' fand, bleibt er zur ,großen Welt' zunächst ohne jeglichen Bezug. Mephistopheles hingegen beginnt sofort in ihr zu wühlen, sich sofort auf die Situation einzustellen und diese in seinem Sinne zu verändern. Er trägt zu diesem Zweck die Kappe des Hofnarren, eine Rolle, die als Modifikation seines Prinzips und damit als philosophischer Systemwert wiederum eine in sich geschlossene Einheit bildet. Freilich erschöpft sich seine Funktion nicht in der bloßen Repräsentation dieser Rolle, vielmehr benützt er sie zu seiner intriganten Aktion, unterwirft sie der Situation, wodurch sie sich von seinen rein in der Selbstdarstellung aufgehenden Rollen (Geiz, weitgehend auch Phorkyas) wesentlich unterscheidet. Die Situation, in der Mephistopheles intrigiert, ist nur sehr eingeschränkt als dramatisch zu bezeichnen. Sie ist ,Stoff', ,Vorwurf' für seine Machenschaften, nicht aber dramatische Situation, der dramatische Personen unterworfen sind, und die eine dramatische Lösung erfordert. Die höfische Gesellschaft, Kaiser und Reich können nicht zu echten dramatischen Personen werden. Der Niedergang eines Reiches, die Misere am kaiserlichen Hof, Verschwendung im Zeichen der Dekadenz 160
konstituieren als solche noch keine dramatische Situation, können allenfalls als Zeitgemälde, aus dem ein individuelles Schicksal herauswächst, einen gewissen expositionellen Wert bekommen. Doch ist zu diesem Zweck die ,Situation' viel zu wenig funktionalisiert, bleibt ohne zielgerichtete Entwicklung, ist reine Repräsentation, obwohl sie von Mephistopheles in einen Entwurf hineingezogen wird. Auch sollte die Geschehnisstruktur von Mephistos Versuch, Kaiser und Reich durch Einführung von Falschgeld zu ruinieren, nicht überschätzt werden. Wohl gibt sie der Szene eine gewisse lineare Entwicklung, dennoch erschöpft sich die .Situation' primär darin, sich als soziales Sittengemälde darzustellen: aus der Perspektive editen Faustgeschehens erscheint sie als ein Spiel, das sich selbst genügt. Kaiser, Kanzler, Heermeister, Schatzmeister, Marschalk und „Hofgesinde aller A r t " (149) führen eine Form höfischen Lebens vor, hinter der es knistert. Das Ganze ist eine Art Revue, die sich, im Gegensatz zur ,Mummenschanz f , nicht als Revue versteht, und die infolgedessen auch nicht das klar gegliederte Nacheinander einer Revue auf der Basis des Additionsprinzips aufweist. Vielmehr wird die Situation, in der sich Kaiser und Reich befinden, als Sittengemälde komponiert und weist damit alle Eigenschaften auf, die ein Gemälde — in einer durchaus nicht metaphorischen, sondern konkreten Bedeutung — kennzeichnen: das spezifische Verhältnis von Ganzheit und Detail, das sich darin äußert, daß in jedem Detail das Ganze mitgegeben, dieses nur die integrale Summe der Details ist, beides zugleich gegenwärtig wird. Ein solches Gemälde kennt im Grunde keine Entwicklung. Lessings Unterscheidung zwischen Dichtung und bildender Kunst gilt für eine Dichtung, die selbst ,Gemälde' ist, nur in sehr eingeschränktem Maße. Zwar stellt sich, wie alles, was sich im Medium der Sprache vollzieht, auch ein ,Sittengemälde' als Nacheinander dar, aber dieses Nacheinander gleicht nur demjenigen, das man erhält, wenn man einen Gegenstand der bildenden Kunst mit den Mitteln der Sprache wiedergibt, ihn ins Medium der Sprache überträgt. Eine solche Übertragung schafft jedoch keine echte Funktionalität. Lessings Unterscheidung zwischen Literatur und bildender Kunst betrifft infolgedessen letztlich nur diejenigen literarischen Kunstwerke, die auf dem Prinzip der Funktionalität beruhen, nicht aber jegliche Form literarischen Kunstwerks. Durch ihre Integration in ein Sittengemälde unterscheiden sich die Personen der ,Kaiserlichen Pfalz' grundsätzlich von denen der ,Mummenschanz'. Eine bloße Selbstidentifikation ist hier nicht möglich. Zwar besteht, wie wir in unserer vorbereitenden Analyse zu zeigen versuchten, der Zweck der Personen der ,großen Welt' wesentlich darin, ihre Funk161
tionen in dieser Welt zu repräsentieren, aber sie sind mit diesen Funktionen keineswegs identisch. Wir haben also keine Revue, in der sich .Hofgesinde aller Art' in seinem gesellschaftlichen und politischen Status identifizierte, vielmehr sprechen alle zur Situation, zur prekären Lage, in der sich Kaiser und Reich befinden, und nur durch diese Situation hindurch erschließen sich in repräsentativer Weise ihre Funktionen am Kaiserhof. Beides ist gleichermaßen funktionsschwach, gehört der .Materialseite' des .Faust' an, was sich ja auch darin ausdrückt, daß Faust selbst in dieser Welt keine ihm adäquate Existenzform, sei's auch nur eine bloße Rollenexistenz, finden kann. Das einzige Agens, dem diese Welt zur .vorgeworfenen' ,Materie', zum bildbaren .Stoff' wird, ist Mephistopheles, der seine Idee, Kaiser und Reich durch Falschgeld zu ruinieren, mit großer Konsequenz verfolgt und damit — nach dem Intermezzo der .Mummenschanz' — auch zum Ziel gelangt. 10. Helenas .Antezedentien'
a) Der ,Vorwurf' des
Helenamotivs
Der zweite große Entwurf Fausts, die Helenatragödie, hat bei allen Unterschieden zur Gretchentragödie eine entscheidende Gemeinsamkeit: seine .Materie' wird an Faust herangetragen. Wohl beginnt die Gretchentragödie mit einem absolut freien Akt, der durch keine dramatische, die Situation von ,Liebessubjekt' und ,Liebesobjekt' betreffende Vorbedingungen eingeschränkt ist, einem Akt, in dem das ,Liebessubjekt' sein Objekt sidi gleichsam ,schafft', Liebe als Setzung postuliert. Dodi kann der Charakter der Setzung, des Postulats (Begriffe, die im Bereich des Erotischen natürlich nur in Anführungszeichen gebraucht werden dürfen) nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Voraussetzung des Faustschen ,Liebesentwurfs', die erotische Disponibilisierung sich ohne Zutun Fausts vollzieht: sie ist ein Versuch Mephistos, nachdem Faust der Welt der .flachen Unbedeutenheit' (Paradigma ,Auerbachs Keller') nicht verfallen war, ein stärkeres Verführungsmittel einzusetzen und wird Faust allmählich, ihm nur halb bewußt, insinuiert. Ähnliches gilt für das Helenamotiv. Auch dieses wächst für Faust gleichsam zufällig aus einer ihm indifferenten Welt, der Welt des höfischen Spiels, hervor und gewinnt für ihn erst allmählich jene zentrale Bedeutung, die es zum Gegenstand seines zweiten großen Entwurfs, seiner zweiten .Tragödie' macht. Nur im letzten Entwurf Fausts, der Landgewinnung, kristallisiert sich das Telos nicht aus einem Faust zunächst relativ fremden Geschehen heraus: es ist reine Setzung, freier Akt Fausts und kennzeichnet damit die höchste 162
.Tätigkeit', die Faust erreichen kann. Ohne Zweifel liegt in einer solch reinen Setzung eines Telos und dessen Ausführung, die ja kein dramatischoffenes Beginnen mehr, sondern nur noch die unmittelbare, gewalttätige Durchführung eines bereits klar konzipierten Telos kennt, eine große Schwäche des Dramatischen beschlossen. Nicht umsonst ist für Goethe der dramatische Held wesentlich ein leidender, d. h., verallgemeinert, ein der Situation überantworteter, nicht sie schaffender. Die schrittweise Einführung des zentralen Telos macht, bei aller Inkohärenz und Zufälligkeit, die sie mit sich bringt, das dramatische Plus der beiden ersten großen Entwürfe Fausts gegenüber seinem letzten, ,reinsten' Entwurf aus, bei dem Idee und Realisierung so zusammenrücken, daß sie nur noch gewaltsam getrennt werden können, was dann durch total desintegrierte Partien geschieht. So .material' die .Mummenschanz', so wenig funktionalisiert sie in sich selbst ist, so bereitet sie doch durch ihr Spiel mittelbar das Helenamotiv vor, freilich nicht, indem sie mit Bewußtsein aus sich selbst dieses Motiv hervorbrächte, sondern indem aus der Vielfalt des revuehaft vorgetragenen Spiels um Identifikation und der Langeweile maskiert-mythologisierter Selbstdarstellung von Kaiser und Hof das Bedürfnis nach dem Kitzel echter Mythologie erwächst. Das erotische Spiel zwischen Paris und Helena soll also als galantes Spiel nur die .Mummenschanz' fortsetzen, künstliche Mythologie durch echte ersetzen. Aus der Perspektive des Kaisers ist das Erscheinen von Paris und Helena ein Spiel unter anderen, ein Spiel, das sich zwar nicht in bloßer Selbstdarstellung mythischer Gestalten erschöpft, sondern nach dieser über ein galantes Liebesspiel in einen editen Vorgang, den Raub der Helena, hinübergleitet. Der ,Vorgang' ist jedoch im Grunde nur eine erweiterte Identifikation der beiden mythischen Gestalten; ihr Liebesspiel ist eben jenes mythische Attribut, durch das sie identifiziert werden können, ist ein Spiel um Identifikation, das als Liebesspiel zwei Personen umfaßt und das sich, im Gegensatz zu den meisten Gestalten der ,Mummenschanz', doch in Analogie zu Plutus und dem Knaben Lenker, in actu vorträgt. Ein solches Auflösen der Identifikation in einen identifizierenden Vorgang bedeutet jedoch noch lange nicht, daß Paris und Helena aus der Gebundenheit des ,Materialprinzips' entlassen wären. Sie sind ein Stück ,Materie', dessen Funktion sich in reiner Vergegenwärtigung erschöpft. Ähnlich wie bei der echten, dem Orkus entrissenen Helena, stellt sich auch bei der Beschwörung der phantasmagorischen Helena (und dem phantasmagorischen Paris) das dramatische Problem des Verhältnisses von ,vorgeworfenem' und realisiertem Telos. Auch hier kann das Telos nicht 163
auf dramatische Weise erarbeitet werden, da es nicht im ,Weg' aufgehoben ist, aus diesem allmählich ,herausprozessiert' werden kann, sondern sich am Ende eines mit ihm unvermittelten Wegs dem Suchenden plötzlich erschließt. Ähnlich wie der Weg zur Helena des klassischen Tags dient deshalb auch der Weg zur phantasmagorischen Helena dazu, zwischen .vorgeworfenem' und erfülltem Telos wiederum Ausschnitte der .Totalität der Materie' einzufügen, die dramatisch mit der Gewinnung des Telos nur sehr vage in Zusammenhang zu bringen sind, und die primär den Zweck verfolgen, Faust in eine neue Welt, die Welt der .Mütter', einzuführen. Im Gegensatz zur ,Klassischen Walpurgisnacht', wo Faust in der Verfolgung seines Telos in actu dargestellt wird, wird Fausts Gang zu den Müttern nur als .Programm' vorgeworfen, seine Ausführung aber unterdrückt und durch andere Geschehnisse überbrückt. Solch ein programmatisches ,Vorwerfen' ist ein ausgesprochen ,episches' Stilmittel, episch durchaus in der konventionellen Bedeutung der Beschreibung im Gegensatz zur Darstellung in actu. Der Grund hierfür liegt unserer Ansicht nach in der Gegenstandslosigkeit des Mütterprinzips, das nicht mehr konkretisiert — was zu einer echten Begegnung unerläßlich ist — sondern nur noch in relativ abstrakten Begriffen beschrieben werden kann. Göttinnen nennt Mephistopheles die ,Mütter', doch bedeutet dieser Begriff im Grunde nichts Konkretes. Zwar verspricht er Faust, er werde die ,Mütter' s e h e n , doch läßt die Abstraktheit des Mütterprinzips nur eine Beschreibung in sehr vagen Bildvorstellungen zu. Begriffe wie „Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung" (193) können nicht mehr dargestellt werden, und Faust ihnen infolgedessen auch nicht mehr begegnen. D a sich in ihnen das ,Materialprinzip' als solches, die .Materie' in ihrer ,Totalität' („umschwebt von Bildern a l l e r Kreaturen") (193) repräsentiert, tritt nichts Einzelnes hervor, das eine konkrete Gestalt annehmen könnte. Auch sind in ihrem Reich Raum und Zeit aufgehoben. Die Begriffe ,Weg' oder ,Gang', deren räumliches Element wir oben unkritisch voraussetzten, sind nur metaphorische Umschreibungen für ein abstraktes Prinzip, das in kein raumzeitliches Koordinatensystem einzuordnen ist. Faust. Wohin der Weg? Mephistopheles. Kein Weg! Ins Unbetretene, Nicht zu Betretende . . . Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben, Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben . . . (191)
und schließlich
Versinke denn! Ich könnt' audi sagen: steige!
164
(193)
Diese Aufhebung von Raum und Zeit, die freilich nicht konsequent durchzuführen ist, so wenn Mephistopheles etwa vom .Sitzen, Stehen und Gehen' der ,Mütter' spricht, was keine bloßen Metaphern sind, sondern notwendige Transformationen des Abstrakten in ein raumzeitliches Koordinatensystem, ohne die Abstraktes überhaupt nicht personifiziert werden kann (und in irgendeiner Weise sind die .Mütter' ja doch Personifikationen, mag ihr Personkern audi das ,Materialprinzip' als soldies und damit überhaupt nichts Bestimmtes sein), macht es unmöglich, Fausts Gang zu den ,Müttern' darzustellen, und so wird er im Dialog zwischen Faust und Mephistopheles als Möglichkeit beschworen, wird beschrieben statt vollzogen. Es ist durchaus konsequent, daß das .Materialprinzip' als Idee sich selbst nicht mehr im Medium der Sprache darstellen kann, daß die .Mütter' stumm sind. Schon aus diesem Grunde ist es naheliegend, sie episch zu beschreiben, und Mephistopheles tut deshalb im Grunde nichts anderes, als was Faust, würde seine Begegnung mit den ,Müttern' dargestellt werden, auch tun müßte. Das Pathos, in das Mephistopheles dabei verfällt, ist eine jener psychologischen Inkonsequenzen, die wir bei einfachen Gestalten schon des öfteren beobachten konnten (obwohl man hier besser von Apsychologie als von psychologischer Inkonsequenz spräche), die uns aber bei Mephistopheles als einer voll individuierten Gestalt überrascht. Sein Heraustreten aus dem üblichen Mephistotonfall hat seinen Grund darin, daß er bei der Beschwörung der ,Mütter' (da er diese wirklich in ihrem echten Sein beschwört) zwangsläufig seine Psychologie seiner .Materie' angleicht, daß diese Psychologie ganz und gar hinter dieser,Materie' verschwindet. Ein solches Entpsychologisieren, ja eine solche Deformation der gewöhnlichen Psychologie ist ein Grenzfall der verschiedenen Modifikationen der Grundpsychologie der beiden Zentralgestalten und kennzeichnet ihr Verhältnis zur ,reinen' ,Materie', der sie nicht mehr in einer besonderen Existenzform begegnen. Bei den .Müttern' ist dieser Fall im höchsten Grade gegeben. Ihnen gegenüber neutralisiert sich Mephistos ironisch-reflektierte Psychologie, ja pervertiert sich geradezu zu einer Form faustischer Ekstase. Solche durch die Begegnung mit der .Materie' hervorgerufenen Brüche oder Neutralisationen der Psychologie sind charakteristisch für den .Faust' und unterscheiden diesen von der konventionellen Form des Dramas, dessen ,Held' seine Psychologie nie verliert, da es nicht in seiner Natur liegt, situationslos ,Materie' zu begreifen und zu beschreiben, er vielmehr der Situation unterworfen ist und ihr mit seiner im Verlauf des Geschehens ,herausprozessierten' Psychologie zu antworten hat. 165
Mephistos als Auftrag, als Programm beschworene Schilderung von Fausts Gang zu den Müttern und all den Vorgängen, die notwendig sind, um die phantasmagorische Helena ans Tageslicht zu rufen, zwingt dazu, die dramatische Lücke, die durch Fausts Abwesenheit entsteht, in irgendeiner Weise auszufüllen. Ein solches Ausfüllen von Lücken (in gewisser Weise ein Äquivalent zum Einschieben nichtintegrierter Intermezzi) ist charakteristisch für den ,Faust' und wäre in einem echten, durchfunktionalisierten Drama wiederum nicht möglich. Der Stoff, mit dem solche Lücken ausgefüllt werden, ist dabei absolut zufällig und in keiner Weise motivlich ins Gesamtgeschehen integriert. So spielt Mephistopheles, dessen magische Fähigkeiten in der Zwischenzeit am Hofe bekannt geworden sind, während Fausts Abwesenheit die Rolle eines Beraters in Fragen, die für das galante Hof leben wichtig sind: eine Blondine, eine Braune, eine Dame, ein Page schildern ihm ihre Nöte und bekommen allesamt eine Antwort, die Mephistos würdig ist und sie dennoch befriedigt. Nach diesem Intermezzo beginnt nun das eigentliche Schauspiel, das, geisterhaft-stumm, als reine Pantomime vor sich geht. Von einem Schauspiel kann schon aus diesem Grunde kaum die Rede sein, und die Geschehnisstruktur des Vorgangs ist denn auch auf das Minimum eines stilisierten Liebesspiels reduziert, an dessen Ende zwar der ,Raub' der Helena angedeutet, dessen Ausführung jedoch durch den Skandal Fausts schon sehr frühzeitig unterbrochen wird. Der ganze Vorgang ist nur eine erweiterte Form des Spiels um Identifikation und setzt als soldier die ,Mummenschanz' fort; er beginnt, nachdem der Dreifuß seinen Dienst getan hat, mit dem ,Hervortreten' von Paris, dem in einem gewissen zeitlichen Abstand Helena folgt. Beider Funktion erschöpft sich zunächst in reiner Selbstdarstellung. Allmählich geht diese dann in jene Form stilisierten Liebesspiels über, das in seiner Stilisierung der .Allgemeinheit' des mythologischen Motivs entspricht. Das ganze Liebesspiel wird, wie angedeutet, von seinen Akteuren nicht im Medium der Sprache, sondern pantomimisch vollzogen; es erscheint ausschließlich in der Widerspiegelung durch die Hofgesellschaft, wird gleichsam episch erschlossen, wobei es freilich nicht einfach in seinem Vollzug wiedergegeben, sondern aus einem Mosaik von mikrokosmischen Einzelkommentaren zusammengesetzt wird. So verschwindet es als Vorgang weitgehend hinter dem Kommentar über es, wird wohl in seiner objektiven Geschehnisstruktur deutlich, dodi ist es primär .Materie', die dazu dient, die höfische Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Erotischen zu charakterisieren. So ist jeder Mosaikstein, den die einzelnen Gestalten der höfischen Gesellschaft zum Bild der beiden mythischen Schönheiten herbeitragen, zugleich ein Urteil, 166
Urteil über diese und über sich selbst. Das ,Hervortreten' des Paris löst eine Fülle entzückter Kommentare der Damen aus, während die Herren sich über die schwach entwickelnde Virilität des Knaben mokieren. Beim Erscheinen Helenas haben wir die umgekehrte Reaktion. Mit dem Beginn des Liebesspiels gleitet dann das der bloßen ästhetischen B e t r a c h t u n g immanente Urteilen allmählich in ein urteilsfreieres Nachvollziehen des erotischen Vorgangs hinüber, der sich seinem Höhepunkt, dem ,Raub' der Helena, nähert. In diesem Augenblick gehen Geisterspiel und Realität ineinander über: Faust, hingerissen von der Schönheit Helenas, greift in das erotische Spiel der beiden Geister ein, versucht die Entführung Helenas aufzuhalten und berührt zu diesem Zweck Paris mit seinem glühenden Schlüssel. Dadurch kommt es zu einer „Explosion, Faust liegt am Boden. Die Geister gehen in Dunst auf". (201) „Finsternis, Tumult" (201) beschließen die Szene und damit zugleich Fausts und Mephistos Treiben am kaiserlichen Hof. Mit diesem Eingriff durchbricht Faust zum ersten Male die Sphäre des Spiels, die ja nicht nur die ,Mummenschanz* als ausdrückliche ,Spielszene', sondern, im erweiterten Sinne eines geistigen Klimas, den ganzen Komplex der ,Kaiserlichen Pfalz' beherrscht. Hier hat Faust zum ersten Male s e i n e n ,Stoff' gefunden, das Spiel um Identifikation wird in den Strudel des Faustischen hineingezogen und damit funktionalisiert. Freilich ist es nicht reines Spiel um Identifikation, aus dem der neue Faustentwurf hervorgeht. Die ,Materie' enthält selbst schon eine Geschehnisstruktur: Sehr geschickt wählt Goethe den Übergang von der Spielrealität zur Faustrealität an jener Stelle, wo das erotische Spiel aus dem bloßen Repräsentationscharakter in einen Vorgang, die Entführung Helenas, übergeht. Der Geschehnischarakter dieses Vorgangs ist es, der Fausts Eingriff in das erotische Spiel der beiden mythischen Gestalten herbeiführt und damit die Trennung von mythisch-geisterhafter und höfischer Sphäre, von Spiel und Reflexion, die, wenn man so will, epische Distanz aufhebt und alles in die Eindimensionalität eines echten Vorgangs hineinreißt. Dieser Vorgang bleibt freilich noch immer dem Spiel vermittelt und weist infolgedessen ein relativ geringes Maß an Funktionalität auf: er erschöpft sich im Versuch Fausts, aus seiner Welt in die Welt des Spiels zu transzendieren, ein Versuch, der sich auf den bloßen Akt mißglückten Oberschreitens beschränken muß: Faust ist es nicht vergönnt, sich um die Gunst der mythischen Helena zu bewerben; diese bleibt .Materie', löst sich beim Zugriff Fausts ,in Dunst auf' und Faust liegt, von der Explosion .paralysiert', am Boden. Die Kürze des Vorgangs ist Ausdruck dafür, daß Helena hier erst als 167
.Materie' ,vorgeworfen' wird, daß es noch nicht zur editen Begegnung kommen kann. Diese jMaterialität' bestimmt die Struktur des ganzen ersten Teils der ,Antezendentien' Helenas: ein bloßes Spiel um Identifikation wird zum Kern einer ganzen Szene, einer Szene, die sich um diesen Kern herumgruppiert, ihn auskristallisiert, ohne ihn indessen zu einem echten dramatischen Motiv erweitern zu können. So wird diesem Kern viel,Materie' addiert, die ihn nicht wirklich dramatisch ,erarbeiten' kann und deshalb weitgehend unter der Kategorie der Substantialität steht. b) Die Einführung
der
Humonculusgesta.lt
War Irreales bisher Spiel und als solches durch das Bewußtsein des Spiels .gedeckt', d. h. durch die Abhebung vom Hintergrund des normalen Realitätsbewußtseins ausdrücklich als Irreales gekennzeichnet, so gehen mit Homunculus zum ersten Male beide Sphären ineinander über. Durch Homunculus werden zum ersten Male alle psychologischen (und damit auch dramatischen) Gesetze außer Kraft gesetzt: seine Psychologie ist rein axiomatisch, wird einfach postuliert und bedarf keinerlei Motivation. Das Außerkraftsetzen der menschlich-realen Psychologie (d. h. der Psychologie überhaupt) ist notwendig, um Faust den Weg zu Helena freizumachen. Hierzu bedarf es einer Form des Geistes, die nicht an menschliche Erkenntnisdimensionen, nicht an Raum und Zeit gebunden ist, kurzum des Geistes des Homunculus. Das Nicht- oder Übermenschliche dieser .Psychologie' (wir behalten den Terminus trotz der oben gemachten Einschränkungen bei) ist jedoch nicht nur ein menschliche Psychologie Transzendierendes, sondern ist zugleich .Allgemeines'. Im Gegensatz zur .Mummenschanz', wo dieses .Allgemeine' noch weitgehend »Materie', Spiel um Identifikation blieb, beginnt es sich nun selbst zu funktionalisieren, die dramatische Geschehnisstruktur zu bestimmen, zu verbegrifflichen, kurzum sich als eigentliche Realität zu inthronisieren. Der Kern der .Psychologie' des Homunculus ist relativ einfach zu bestimmen. Homunculus ist körperlose Entelechie, die nach ihrer Verkörperlidiung strebt. Dieser Körperlosigkeit entspricht auf der anderen Seite eine geistige Hellsicht, die „Abbild des göttlichen Geistes"17 ist, alles durchdringt und nur eines nicht vermag: sich eine körperliche Hülle zu geben. Diese beiden Eigenschaften sind es, die den Weg Fausts zu Helena freimachen: als Wesen hellster Geistigkeit weiß Homunculus um die .Klassische Walpurgisnacht', als noch körperloses Wesen treibt es ihn in deren Chthonisch-Dunkles, das zur Gestaltwerdung drängt und von 17
168
E. Staiger, Goethe. Bd. 3, S. 318.
dem er sich selbst Gestaltwerdung erhofft. Mit Homunculus gelangt auch Faust — freilich noch immer von „Helena paralysiert" (202) und daher denkbar unfaustisch — in die ,Klassische Walpurgisnacht*, wo er, kaum erwacht, sofort sein Telos durch die labyrinthisch verschlungenen Wege der Mythologie zu verfolgen beginnt. Im Freimachen des Wegs zu Helena besteht somit der dramatisch-funktionale Wert der Homunculusgestalt innerhalb des Faustgeschehens. Doch sollte die Betrachtung des Homunculus nicht allzusehr von diesem Funktionswert ausgehen. Es liegt im Wesen des ,Faust' (und hierin äußert sich ja eben das Prinzip der Substantialität), daß in diesem jede Funktion, jedes nur aus .methodischen' Gründen notwendige Zwischenglied zugleich einen geistigen Selbstwert hat, ja daß dieser Selbstwert den Funktionswert übertrifft. Ohne Zweifel wäre es Goethe möglich gewesen, Faust auch auf andere Weise in die ,Klassische Walpurgisnacht' einzuführen (freilich nicht auf dramatischrealistische Weise) als durch die Mittlertätigkeit des Homunculus. Vom dramatischen Gesichtspunkt aus gehören die Erschaffung des Homunculus und der Aufbruch zur .Klassischen Walpurgisnacht' ohne Zweifel zu den am meisten konstruierten Motiven des ,Faust', so daß dramatisch gewiß keine Notwendigkeit zu ihrer Einführung bestand. Der Rekurs auf die Omnipotenz einer quasi gottgleichen, Raum und Zeit überwindenden Spiritualität ist als Mittel dramatischer Motivation (oder vielmehr als Mittel, echte dramatisch-psychologische Motivation außer Kraft zu setzen, um an ihre Stelle eine rein postulierte ,Motivation' zu setzen) so prekär, daß er ohne einen geistigen Selbstwert dieser Spiritualität nicht gerechtfertigt wäre. So verbindet sich mit der Mittlertätigkeit des Homunculus eine ganze philosophische Konzeption, die ihren Wert zunächst in sich selbst trägt, darüber hinaus jedoch noch einen philosophischen (nicht dramatischen) Systemwert im Gesamtsystem des ,Faust' einnimmt. Spirituelle Omnipotenz, Körperlosigkeit und Sehnsucht nach Körperlichkeit werden zunächst rein als Eigenschaften des Homunculus präsentiert, bilden eine Art philosophischen Kleinsystems, ehe sich daraus, fast beiläufig, ein Funktionswert für die Weiterführung der Faust-Linie ergibt. Vom Gesichtspunkt der Funktionalität, der Entwicklung der Faust-Linie aus, sind .Erzeugung' und Aufbruch des Homunculus zur .Klassischen Walpurgisnacht' barocke Intermezzi von ungemeiner Breite, deren künstliche Dramatisierung nur Ausdruck dafür ist, daß sie in die Gesamthandlung des .Faust' nur sehr lose integriert sind, daß sie die Faust-Linie mehr unterbrechen als sie fortführen. Wäre Faust nicht ohnehin von Helena .paralysiert', er müßte, um das Intermezzo der Geburt des Homunculus nicht zu stören, auf andere Weise paralysiert' werden. So erlebt er die 169
Geburt einer weiteren Analogie in tiefem Schlaf, der, als reinster Ausdrude eines faustischen ,Tiefs' (wir haben schon anläßlidi der Elfenszene auf das Verhältnis und die Übergänge zwischen Höhepunkten, Epiphanien des Faustischen und dessen Tiefpunkten hingewiesen) auch hier wiederum dazu dient, einen neuen Ausgangspunkt für Fausts Möglichkeitsexistenz zu schaffen. Ähnlich wie in der ,Kaiserlichen P f a l z ' wird die Faust-Linie so sehr über eine Vielzahl von Zwischengliedern, so fern ihrem neuen Durchbruch wiederaufgebaut, daß zunächst keine H a n d lungstendenz, die wieder auf sie zuführte, spürbar ist. Dieses Unteleologische hält sich in abgeschwächter Form über die ganze Homunculusepisode. Deren Funktionswert für die Faust-Linie ergibt sich gleichsam zufällig aus einer komplizierten Kombination einzelner zufälliger Konstellationen, die wohl von außen durch die unsichtbare H a n d eines ,Rhapsoden' auf diesen Funktionswert hinkonstruiert sind, hinter denen jedoch keine durchgehende dramatisch-immanente Tendenz steht. Faust, von Helena paralysiert', fällt als Funktions- oder, genauer, Tendenzträger natürlich aus. Heinrich Rickert hat versucht, Mephistopheles zu diesem Tendenzträger zu machen. Wir geben die zentralen Punkte seiner Argumentation kurz wieder. Zunächst schildert er die Begegnung zwischen Mephistopheles und Wagner, dessen wissenschaftliche Laufbahn sich auf ihrem Höhepunkt befindet: Wagner „ist damit beschäftigt, in einer Flasche auf künstlichem Wege einen Menschen zu machen, einen h o m u n culus', wie man ihn nannte. D a s erregt die Aufmerksamkeit des Mephistopheles, der diesen Versuch für seine Pläne benutzen will. Dadurch wird der Zusammenhang mit der Fausthandlung h e r g e s t e l l t . " 1 8 . . . „Jedenfalls ist klar: nach Goethes Absicht haben wir in Homunculus ein Werkzeug des Mephistopheles zu sehen, und das ist wichtig, denn nur von hier aus wird die Stellung dieser Figur im dramatischen Zusammenhang verständlich. Dem Teufel kommt es auf die traditionelle Klugheit des H o munculus an. Er will von ihm die Mittel kennenlernen, durch welche Faust wieder zum Bewußtsein zu bringen ist. D a er sich in der griechischen Welt nicht zurechtfindet, braucht er solche H i l f e . " 1 9 Eine solche Betrachtung erweist sich, so richtig sie im Detail ist, in ihrer Ganzheit als Konstruktion. Rickert geht hier allzu sehr von der dramatischen Einheit des ,Faust' aus, die er von der geistigen Einheit nicht scharf genug trennt. Die geistige Einheit, die Einheit im System, ist jedoch etwas ganz anderes als die dramatische Einheit. So sehr die einzelnen Glieder dieses Systems untereinander zusammenhängen, so sehr hat jedes Glied einen gewissen 18
170
H. Rickert, S. 330.
18
H. Rickert, S. 332.
Selbstwert. Glieder eines philosophischen Systems bilden kein Handlungskontinuum (in dem der Begriff des Gliedes ja ohnehin seinen Sinn verliert), sondern werden durchaus additiv aneinandergeführt, was nicht heißt, daß dies dergestalt Addierte dann nicht eine geistige Einheit bildete. Charakteristisch für diese Form, ein Geistiges, einen geistigen Organismus zu erschließen, ist, daß es hier, im Gegensatz zum Dramatischen, kein .Problem', kein ,Vorgeworfenes, das der Werfende in einer Bewegung einholen', kein Ungelöstes, das in einer Bewegung gelöst werden könnte, gibt. Mit der Einführung des Homunculus wird eine Welt als Realität postuliert, die außerhalb jener psychologisch-dramatischen Gesetze steht, denen gemäß eine dramatische Person von einem hic et nunc des Geschehens aus einen freilich nur subjektiv zu antizipierenden Horizont einer dramatischen Entwicklung zu überschauen vermag. Ganz verschwindet dieser Horizont natürlich nicht, aber er rückt näher an den Betrachter heran, dessen Blickfeld sich mehr und mehr einschränkt. In dieser Situation befindet sich Mephistopheles. Die ,Bewegung', die er ausführt, um ein ,Vorgeworfenes' ,einzuholen', reduziert sich auf die Geste, ein ihm unmittelbar vor die Füße Geworfenes aufzuheben und, wenn möglich, es zuweilen selbst ein Stüdt ,weiterzuwerfen'. Rickert überträgt auf geistig-philosophische Organismen eine Form psychologischer Motivation, die im Bereich echter Psychologie ihren Sinn hat, hier jedoch zur Konstruktion wird. Homunculus, seine ,Erzeugung' und seine Funktion für die Entwicklung der Faust-Linie allzu sehr als .Intrige' Mephistos zu betrachten, hieße diesem eine durchgehende Tendenz, eine Form des Darauf-Hinarbeitens unterschieben, die das echte Erstaunen, das Mephistopheles für die verschiedenen Eigenschaften und Künste des Homunculus empfindet, zur Heuchelei machte. Dies bedeutet nicht, daß Mephistopheles diese Eigenschaften und Künste nicht in den Dienst möglicher eigener Intentionen stellte, aber sie sind Möglichkeiten, die sich für ihn jeweils ergeben, nicht aber eine von ihm entworfene geschlossene Konstruktion. Schon das zeitliche Zusammenfallen von Mephistos Rückkehr mit dem .paralysierten' Faust und Wagners letzten Vorbereitungen zur .Erzeugung' des Homunculus ist ein Element von Zufälligkeit, das nur hingenommen oder allenfalls wiederum als nicht weiter zu begründender Ausdruck für Mephistos Allwissenheit verstanden werden kann, ohne daß indessen diese Allwissenheit dabei thematisiert würde. Der langsame Wiederaufbau des Helenamotivs, der Versuch, Mythologie als Realität in Erscheinung treten zu lassen, nachdem sie als mythischgeisterhaftes Spiel zur ,Paralyse' Fausts führte, kommt ohne soldie Arrangements nicht aus. Die Szene spielt zunächst in Fausts altem 171 12
Streidicr, Faust
Studierzimmer und beginnt mit einer kurzen, nur rhetorisch gemeinten Ansprache Mephistos an den .paralysierten' Faust, den man im Hintergrund „auf einem altväterlichen Bette" (202) hingestreckt erblickt. Sehr schnell wendet sich Mephistopheles in seinem Monolog von Faust ab, um die Szene, die sich in der Zwischenzeit verändert hat, zu beschreiben. Ein Chor der Insekten, in dem der Unrat, der sich angesammelt hat, inkarniert und personifiziert wird, begrüßt ihn und löst damit die reine Beschreibung vorübergehend auf, ,dramatisiert' die .Materie', wie wir dies des öfteren gesehen haben. Dann erscheint der Famulus, schließlich der Baccalaureus, mit dem sich Mephistopheles in einen langen Disput über das Generationsproblem und anderes einläßt. Faust verharrt bei alledem in tiefer Bewußtlosigkeit. Die ganze Szene dient lediglich dazu, die Veränderungen zu schildern, die sich seit Fausts und Mephistos Aufbruch zugetragen haben. Dies macht sie primär zur Milieuszene, wenn audi schon gewisse Anspielungen auf Wagner und sein Werk darin enthalten sind. Der Baccalaureus wird zum Repräsentanten der Milieuveränderung. Mit ihm wird, ehe, durch Homunculus eingeführt, Geistiges entpsychologisiert und zum Philosophisch-Systematischen abstrahiert wird, noch einmal eine Bewußtseinsstruktur gezeigt, die vollkommen ,realistisch' ist, die sich, wie einstmals Faust, in paraphrasischer Breite, nur mit einem anderen Tonfall, darstellt. Dieser ,Realismus' hindert nicht, daß der Gestalt des Baccalaureus ein gewisser philosophischer Systemwert zukommt, finden wir in ihm doch den Schüler wieder, dessen geistige Entwicklung wir nun auf einer neuen Stufe kennenlernen. Ein solches .Stufenverhältnis' (dessen einzelne Stufen untereinander ohne jegliche dramatischfunktionale Verbindung bleiben) ist charakteristisch für den ,Faust' und zeigt wiederum das Übergewicht des Geistigen über die Immanenz des Dramatischen an. Das bedeutendste Stufenverhältnis findet sich im Zurückgreifen auf Gretchen bei der Erlösung Fausts, dem keinerlei dramatische Vorbereitungen vorausgehen, ja wo es möglich ist, daß Gretchen das alte Thema der Anrufung der Gottesmutter („Ach neige, du Schmerzensreiche, dein Antlitz gnädig meiner Not!") (114) in absoluter Freiheit von jeder Funktionslinie aus einem Moll in ein strahlendes Dur verwandelt. Das Stufenverhältnis zwischen Schüler und Baccalaureus kommt im Gegensatz zu diesem Zurückgreifen Gretchens vollständig natürlich zustande, was freilich kein dramatisches Plus bedeutet. Daß Goethe den Disput zwischen Mephisto und dem Baccalaureus trotz seinem geringen Integrationsgrad im Gesamtgeschehen so weit ausgebaut hat, gründet wiederum in der für den ,Faust' so typischen Handhabung des Einzelmotivs, das nicht in einer kontinuierlich sich entwickelnden 172
Funktionslinie erschlossen, sondern nur umschrieben, präludiert oder durch eine Coda zu Ende geführt werden kann. Die ,Erzeugung' des Homunculus ist in hohem Grade ein solches Motiv. Es bedarf keiner echten Exposition. Diese, vom klassischen Drama mit Vorliebe ins Vorzimmer verlegt, verliert hier ihren dramatischen Sinn. Andererseits kann die ,Erzeugung' des Homunculus und die Funktion, die Mephistopheles dabei zukommt, auch nicht gänzlich unvorbereitet in Szene treten; es bedarf einer vorbereitenden Szene; da deren funktionaler, auf das kommende Motiv hinführender Wert jedoch nicht ausreicht, um aus ihr eine echte Szene zu machen, wird ein Motiv ausgebaut, das, zumindest in dieser Breite, ein Fremdkörper im dramatischen Gang des Geschehens ist, mögen auch gewisse Parallelen zu Faust und seiner Entwicklung es vom philosophisch-systematischen Gesichtspunkt aus ein wenig rechtfertigen. Für die .Erzeugung' des Homunculus gilt mit Einschränkung jenes Gesetz, auf das wir schon bei der Beschwörung von Makrokosmos und Erdgeist gestoßen sind: .Wissenschaftliche' Versuche unterscheiden sich durch ihre Mischung von Apriorität und Aposteriorität grundsätzlich von dramatischen Vorgängen. Dies bedeutet nicht, daß sie nicht dramatisiert werden könnten. Die Möglichkeit hierzu spricht jedoch wiederum gegen ihre ,Wissenschaftlichkeit': die ,Materie' ist noch nicht so determiniert, so .material', daß nicht nodi ein subjektiver Bezug zu ihr möglich wäre, der dramatisch wirksam wird. Das Alchimistisch-Unwissenschaftliche von Wagners .Versuch' macht aus diesem noch einen echten, ,offenen' Vorgang. Gelingen oder Mißlingen wird zum dramatischen Agens. Die Funktionalität, die dabei möglich ist, zeigt jedoch zugleich die Grenzen auf, die in dieser Art von .Versuch' beschlossen liegen: es ist eine Funktionalität, die durch das Versuchsziel determiniert ist, ein Versuchsziel, das offen daliegt und dessen Dramatisches für den Experimentator lediglich in der Ungewißheit des Erfolgs besteht. Es handelt sich, ähnlich wie bei den Beschwörungen von Makrokosmos und Erdgeist, also auch hier wieder mehr um ein künstliches Dramatisieren denn um ein echtes Drama: die .Materialität' des zu erreichenden Telos läßt echte Funktionalität nicht aufkommen. Freilich ist die ,Erzeugung' des Homunculus ein Prozeß, während Makrokosmos und Erdgeist bei ihrer Beschwörung und Erscheinung a priori als einheitliche S u b s t a n z e n feststehen. Der .Prozeß' ist jedoch ,Prozeß', der sich an der ,Materie' vollzieht und sich als soldier von einem echten dramatischen Vorgang grundsätzlich unterscheidet. Der Dialog zwischen Wagner und Mephistopheles ist eine Mischung von objektiver Beschreibung dieses Prozesses und allgemeinen Reflexionen, wobei beide Dialogpartner sich im Tonfall wesentlich unterscheiden: Wagners weit173 12 ·
schweifigen Wissenschafts- und Menschheitsvisionen steht Mephistos lakonische Skepsis entgegen, für die solche Visionen Utopien bleiben. Daß das Experiment schließlich gelingt, die ,Erzeugung' des Homunculus Wirklichkeit wird, ist jedoch trotz aller Wissenschaftsgläubigkeit Wagners ein Werk Mephistos. Dessen Eingriff geht zwar aus der dialogisierten Beschreibung des Experiments nicht unmittelbar hervor, doch gibt Mephistopheles zum Schluß der Szene das Geheimnis seiner Autorschaft preis: Am Ende hängen wir dodi ab, Von Kreaturen, die wir machten.
(214)
Dieser Eingriff ist wiederum typisch für Mephistos Art und Weise, in einer der psychologischen Gesetzlichkeit immer mehr entzogenen Welt ein Element von ,Intrige' einzuschmuggeln, ein Element, das jedoch kaum über sich hinausweist. Die verschiedenen Interpretationen seines Funktionswertes zeigen dies deutlich. Rickerts Interpretation, nach der Homunculus ein Werkzeug Mephistos ist, bestimmt, durch seine überdimensionale Erkenntnisfähigkeit „Faust wieder zum Bewußtsein zu bringen", 20 was nur durch Betreten der griechischen Antike möglich ist, zu der Homunculus den Schlüssel besitzt, steht Buchwalds weniger auf konsequente Konstruktion ausgerichtete Interpretation entgegen, wonach Homunculus Mephistopheles zunächst nur als Mittel dienen sollte, „wodurch er Faust eine Zeitlang bei seinen wissenschaftlichen Interessen packen und in ihm die Gedanken an Helena verdrängen w o l l t e . . ." 21 Beide Interpretationsversuche sind jedoch Konstruktionen und vergessen, daß es überhaupt keine antizipierende Hinweise Mephistos auf Homunculus gibt (wir sehen dabei von ganz vagen, die Gestalt des Homunculus in keiner Weise determinierenden Hinweisen ab), daß Mephistopheles vielmehr immer nur auf Fragen, Künste und Intentionen des ,chemischen Männleins' r e a g i e r t , sie nie provoziert und sich nirgends im Besitz eines editen Vorwissens zeigt. Ein solches Vorwissen, eine gedankliche Antizipation dessen, was später in Erscheinung treten soll, würde die Unmittelbarkeit des Akts der Erscheinung relativieren, wäre lediglich eine doppelte Wiedergabe des gleichen Motivs, die nur dann einen Sinn hätte, wenn Mephistopheles ein ,episches' Verhältnis zu Homunculus unterhielte, wenn er etwa an diesem sein Wirken demonstrieren wollte, Programm und Demonstration in einem bestimmten Wechselverhältnis stünden, was jedoch keineswegs der Fall ist. So bleibt das jeweilige hic et nunc des Geschehens durch keinerlei übergeordnete Perspektive relativiert, 2
»
174
H. Ridcert, S. 332.
21
R. Buchwald, S. 199.
bleibt in actu, was dann, sobald sich Homunculus selbst in Szene setzt, zur Psychologiefreiheit oder, besser, zur postulierten, axiomatischen ,Psychologie' führt. Das plötzliche, gänzlich unvermittelte Lossprechen des Homunculus, seine Kenntnis Mephistos, sein Drang nach Tätigkeit sind psychologische' Setzungen, die weder motivierbar sind nodi einer Motivation bedürfen. Diese Setzungen werden im Dialog vorgetragen, Homunculus identifiziert sich dabei mit Wagner und Mephistopheles, gibt Paradigmata seiner allesdurchdringenden Erkenntnisfähigkeit, indem er Mephistopheles als Geistverwandten, als ,Vetter' begrüßt und Fausts Traumvisionen durchleuchtet. Die Form des Paradigma ist ein notwendiges Äquivalent einer abstrakten ,Ideenpsychologie': da diese nicht in einer Handlung ,aufgehoben' ist, sich aber auch nicht in einem bloßen Spiel um Identifikation aussagen kann (wozu Begriffe wie allesdurchdringende Erkenntnisfähigkeit ohnehin zu abstrakt sind), nimmt sie, um sich nicht in ihrer Abstraktheit darstellen zu müssen, konkrete Beispiele, die ihr aus der unmittelbaren Gegenwart der Situation zufließen, in denen aber das Abstrakte ,aufgehoben' ist. Zuweilen wird dieses jedoch auch unmittelbar ausgesprochen: Homunculus. Dieweil ich bin, muß ich auch tätig sein.
(211)
Aber auf dieses Abstrakte folgt unmittelbar die Hinwendung zum Konkreten: Homunculus fordert Mephistopheles auf, ihm zu solcher Tätigkeit ,die Wege' zu ,kürzen', worauf ihn Mephistopheles an das Lager des bewußtlosen Faust führt, in dessen Traumvisionen er einzudringen und auf diese Weise wieder ein Paradigma seiner Kunst zu geben vermag. Die gänzlich unvorbereitete Einführung des Begriffs der Tätigkeit, der in seiner Abstraktheit nur gesetzt, nicht motiviert werden kann und all das Weitere, das sich aus dieser Setzung ergibt, zeigen die Aussichtslosigkeit, im Bereidi postulierter ,Psychologie' eine weitreichende Funktionslinie im voraus zu überblicken oder ins Werk zu setzen, wie dies Rickert Mephistopheles unterschiebt. Vielmehr reiht sich fast zufällig Motiv an Motiv: des Homunculus Drang nach Tätigkeit führt zur Wiedergabe von Fausts Traumvisionen und schließlich zum Aufbruch in die — eben beginnende — .Klassische Walpurgisnacht', deren Klassizität, vom Traumelement zur Wirklichkeit geworden, Faust aus seiner tiefen Bewußtlosigkeit reißen soll. All diesen Vorgängen steht Mephistopheles ausschließlich reagierend gegenüber, während Homunculus das Geschehen an sich reißt. Dieses besteht, da die .Psychologie' seines Trägers, ähnlich wie später diejenige Euphorions, auf Grund ihrer Abstraktheit keiner verbindlichen Motivation mehr bedarf, aus einer Addition ,gesetzter' Akte, die, will 175
man das Ganze überhaupt vom Blickpunkt dramatisch-psychologischer Entwicklung aus betrachten, ein Höchstmaß von Konstruktion, von Gewalttätigkeit aufweisen. c) Die ,Klassische
Walpurgisnacht'
Das Mißverhältnis zwischen Funktionalität und axiomatischer .Psychologie', das wir in der ersten Homunculusszene beobachten konnten, zeigt sich besonders evident an der zentralen Eigenschaft des Homunculus, seinem Drang nach Körperlichkeit. Dieser ist überhaupt kein Prinzip, das auf dramatischem Wege zu einer ,Erfüllung' gelangen könnte. Homunculus vermag ihn immer nur an verschiedene Formen von,Materie* heranzutragen, um aus der Begegnung mit ihnen einen Gewinn für seine ,Erfüllung' zu ziehen. In diesem Verhältnis zur ,Materie' begegnet er sich mit Faust. Das Verfolgen eines Telos durch das Chaos einer diesem Telos unvermittelten ,Materie' unterscheidet sich grundsätzlich vom dramatischen ,Erarbeiten' eines Telos durch eine ,Intrige', in der alles vermittelt ist. Bei Homunculus tritt außerdem noch eine Eigenschaft hinzu, die das Maß an Funktionalität, das in der Verfolgung eines Telos noch immer beschlossen liegt, unglaubwürdig macht: seine überdimensionale Geistigkeit, die es ihm erlauben müßte, die Möglichkeiten zu seiner ,Entstehung' zu finden und die infolgedessen die ganze Irrfahrt durch die ,Klassische Walpurgisnacht' überflüssig machen müßte. Um unter dem Einfluß weiblich-erotischer Kräfte sein Glas entzweizuschlagen, hätte Homunculus die Antike nicht zu betreten brauchen. Zu solchen Freuden hätte ihm auch Wagner verhelfen können. Inkonsequenterweise fehlt der allesdurchdringenden Erkenntnisfähigkeit des Homunculus offenbar nur dies e i n e Wissen: das Wissen um die Fähigkeit, sich zur Körperlichkeit zu verhelfen. Homunculus, der die Tiefen der Zeiten, also audi der klassischen Zeiten, durdidringt, ahnt zwar, daß im Chthonischen der Frühantike irgend eine Form des Geborenwerdens möglich ist, aber er weiß nicht welche. Seine Klage Idi schwebe so von Stell' zu Stelle Und möchte gern im besten Sinn entstehn, Voll Ungeduld, mein Glas entzweizuschlagen ; Allein, was ich bisher gesehn, Hinein da möcht' ich mich nicht wagen. (238)
bekundet eine Ahnungslosigkeit, die bei einem Geist, der Fausts Traumvisionen zu durchdringen vermag, befremden muß. Doch dieser Rückzug auf eine fast kindliche Psychologie ist notwendig, könnte man sonst doch nicht verstehen, warum Homunculus sein Telos quer durch die 176
.Klassische Walpurgisnacht' hindurch verfolgt. Doch befriedigt diese psychologische Veränderung letztlich nicht gänzlich und kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß auf Grund der ursprünglichen Konzeption der Geistigkeit des Homunculus bei diesem die Verfolgung seines Telos etwas unnatürlich ist. Solche psychologischen Schwächen werden jedoch durch einen höheren, philosophischen Wert, der Psychologisches notfalls vergewaltigen darf, überdeckt: Homunculus, als Entelechie, ist eine Analogie zu Faust. Die Analogie besteht freilich, was im Analogiecharakter beschlossen liegen kann, gerade im Unterschied der Zielrichtung der Entelechie: Homunculus ist reiner Geist und versucht, für diesen Geist eine körperliche Hülle zu finden, Faust hingegen beginnt als irrender Mensch und endet in der reinen Geistigkeit der Verklärung. Dieser Analogiecharakter, der in der Verschiedenheit der ,Erlösung' Fausts und des Homunculus, in der Gegenüberstellung von Gretchen- und Galateaprinzip gipfelt, ist als Pfeiler des philosophischen Systems, das der ,Faust' nun mehr und mehr wird, so notwendig, daß darüber die Frage, ob des Homunculus Weg zu seiner ,Erlösung' natürlich ist, in den Hintergrund treten muß. Hat man schon einmal begonnen, sich von einer konsequenten psychologischen Motivation zu befreien, so steht einer weiteren Auflösung der Psychologie nichts im Wege. Die funktional-immanente Geschehnisentwicklung wird mehr und mehr durch eine Art philosophischen Systems, das die prozessualdynamische Relation durch eine statische, die Immanenz der Geschehnisentwicklung übergreifende und durchbrechende ersetzt. Ein hervorragendes Mittel hierzu ist die Analogie. Die einzelnen Gestalten, die zueinander in Analogie stehen, brauchen keineswegs miteinander in Berührung zu treten. So bleiben etwa die ,Erlösung' des Homunculus und Fausts untereinander ohne jeden dramatischen Bezug. Ja, soll die ,Erlösung' des Homunculus als Motiv voll herausgearbeitet werden (wodurch erst die Analogie zu Fausts Erlösung vollkommen deutlich wird), muß die FaustLinie vorübergehend suspendiert werden. Ein ähnliches Gesetz läßt sich auch im Verhältnis zwischen Faust und Mephistopheles beobachten. In dem Maße, wie Mephistopheles zur negativen Analogie Fausts wird — und dieser Analogiecharakter erreicht seinen Höhepunkt ohne Zweifel im Verhältnis beider zur Klassizität, zeigte sich jedoch auch sehr schön im Verhältnis zum Erotischen, wo Mephistopheles die Rolle des erotischen Buffos Fausts übernahm — lösen sich beide voneinander und gehen ihre eigenen Wege. In der .Klassischen Walpurgisnacht' haben wir nun ein Paradebeispiel für diesen entfunktionalisierenden Charakter der Analogie. Faust, Mephisto177
pheles und Homunculus, jeder hat sein spezifisches Verhältnis zur Nachtseite des Klassischen, ein Verhältnis, das die einzelnen Personen gegenseitig isoliert, wobei gerade in dieser gegenseitigen Isolierung das Prinzip der Analogie besonders deutlich herausgearbeitet werden kann. Auf dieser gegenseitigen Isolierung basiert das Kompositionsprinzip der ,Klassischen Walpurgisnacht'. Wie in der Szene in Marthes Garten, die audi zum großen Teil von der Analogie (der Analogie im Bereich des Erotischen) lebt, haben wir auch in der,Klassischen Walpurgisnacht' einen beständigen Wechsel der Szene, durch den das verschiedene Verhältnis Fausts, Mephistos und des Homunculus zum ,Materialprinzip' der Antike von immer neuen Seiten beleuchtet werden kann. Es wäre indessen falsch, wollte man die .Klassische Walpurgisnacht' allzusehr von den drei ,Funktionsträgern' und ihrem Verhältnis zu ihr betrachten. Sie ist primär ,Materialszene' und hat als solche ihren Sinn in sich selbst. Als Ganzes freilich hat sie den philosophischen Systemwert, Helena, den klassischen Tag, vorzubereiten. Dieser Systemwert ist wiederum nicht mit einem dramatischen Wert zu verwechseln, denn die Funktionslinien, d. h. die Linien Fausts und Mephistos, die die .Klassische Walpurgisnacht' und das Helenageschehen verbinden, sind mit so geringer Konsequenz durchgeführt, daß sie im philosophischen Kontrast zwischen klassischer Nacht und klassischem Tag fast untergehen. Das Philosophische dieses Kontrasts ist, wie wir dies schon des öfteren bei Philosophischem beobachten konnten, wiederum nur als atmosphärischer Kontrast wiederzugeben. Staiger paraphrasiert die Atmosphäre der .Klassischen Walpurgisnacht* mit folgenden Worten : In der .Klassischen Walpurgisnacht' ist noch nichts „festgelegt, keine Gestalt, kein Sprechton, keine Perspektive. Die Phantasie behält sich vor, sogleich wieder aufzuheben, was sie probeweise zu setzen gelüstet. Ein Verfahren, das dem Sinn der Szene, die höchste Schönheit einzuleiten, aufs wunderbarste gerecht wird. Aus all dem Ungewissen, Schwankenden bilden sich schließlich die reinen Konturen, der gültige Umriß, der nicht um Haaresbreite mehr eine Veränderung duldet und nach den halbgeglückten und wieder verworfenen Versuchen der proteischen Physis mit Monstren und Fabelwesen den Willen Gottes vollendet darstellt.'' 22 Proteus ist in der Tat die Inkarnation und Personifikation dessen, was die .Klassische Walpurgisnacht' in ihrer Ganzheit als Atmosphäre darstellt. Die bloße Beschreibung dieser Atmosphäre genügt jedoch ebensowenig, die Szene als Gesamtkomplex zu erfassen, wie das bloße Verfolgen der funktionstragenden Linien Faust, Mephistopheles und Homunculus. 22
178
E. Staiger, Goethe. Bd. 3, S. 325.
Denn die .Klassische Walpurgisnacht' ist als Atmosphäre nicht mehr so ,rein' wie ihre nordische Analogie, in der die Einzelelemente der g â terie' überhaupt nicht richtig greifbar werden; die .Materie' drängt sich hier nicht mehr auf engstem Raum zusammen, sondern organisiert sich, funktionalisiert sich und gewinnt dadurch die Möglichkeit, sich Faust, Mephistopheles und Homunculus aufzuschließen, diese in sich hineinzuziehen und so die Vorform einer Begegnung zwischen nordischer und antiker Welt zu bilden, eine Vorform, die zwar nodi nicht die Koordination und lineare Entwicklung des Helenageschehens aufweist, andererseits sich aber auch nicht mehr, wie in der ersten ,Walpurgisnacht', in der reinen Punktualität des Reizverhältnisses zwischen ,Materie' und Ich erschöpft. So wenig also die Verfolgung der Linien des Homunculus, Fausts und Mephistos durch die ,Klassische Walpurgisnacht' etwas über die spezifische .Materialität' der ,nachtantiken' ,Materie' auszusagen braucht, so sehr sind diese Linien geeignet, als methodische Schlüssel diese .Materie' aufzuschließen. Wir beginnen dabei mit der Linie des Homunculus, weil für diesen, im Gegensatz zu Faust und Mephistopheles, die .Klassische Walpurgisnacht' nicht nur Durchgang, sondern ,Erfüllung' ist. Das Proteische, von dem Staiger spricht, ist das eigentliche Element des Homunculus. In ihm, in Gestaltung und Umgestaltung der ,Materie', fühlt sich Homunculus wohl. Hier hofft er, sein „Glas entzweizuschlagen". (238) Im Gegensatz zu Faust, der ein klares Telos vor Augen hat und die .Materie' nur als Wegweiser zu Helena benützt, sucht Homunculus in dieser Form proteisch sich wandelnder ,Materie' sein Telos. Wohl kann ihn diese zunächst nicht erlösen, doch weist sie ihn allmählich und gleichsam zufällig zu jenem Element hin, in dem die ganze .Klassische Walpurgisnacht' mündet: dem Wasser, der ,Lebensfeuchte', dem weiblichen Elementareros, dessen Inkarnation Galatea ist. Das Verhältnis des Homunculus zur ,nachtantiken' ,Materie' ist also ganz anders als das Fausts: weit mehr als dieser geht Homunculus in dieser ,Materie' auf, sucht sein Telos in ihr zu verwirklichen und benützt sie nicht nur als Wegweiser. Daß sie dabei ebenfalls zum Wegweiser wird, zum Wegweiser, der ihn schließlich zu Galatea führt, tut dabei nichts zur Sache. Auch daß es keineswegs die ,Materie' in ihrer proteischen Unmittelbarkeit ist, daß es vielmehr abstrakte Prinzipien (Thaies, Nereus, Proteus) sind, die ihn den Weg zur Erfüllung seines Telos weisen, ändert nichts an der grundsätzlichen Symbiose, der grundsätzlichen Zuordnung von Homunculus und dem ,nachtklassischen' Prinzip, in dessen letztem Urgrund (Galatea) er dann ja auch seine .Erlösung' findet. Nach dieser allgemeinen Charakteristik seines Verhältnisses zur .Materie' 179
des klassischen Nachtprinzips soll nun den verschiedenen Begegnungen des Homunculus mit den Repräsentanten dieser .Materie' nachgespürt werden. Die Szene beginnt freilich nicht unmittelbar mit dem Treiben dieser .Materie', sondern hat eine Art Ouvertüre, die das klassische Nachtprinzip mit seinen „halbgeglückten und wieder verworfenen Versuchen der proteischen Physis" 2 3 zunächst einmal als Prinzip vorwegnimmt, was durch die Beschreibung der Pharsalischen Felder in ihrer Finsternis geschieht. Mit dieser Beschreibung einer längst vergangenen Zeit und längst vergangener Ereignisse ist die Aufhebung der Zeit verbunden, die die Voraussetzung zum Auftauchen „hellenischer Sage Legion" (215) bildet. Diese Ouvertüre kann von niemand besser übernommen werden als von Erichto, der „um tote Vergangenheit" bemühten „Magierin", 2 4 die die Uberwindung der Zeit am besten zu repräsentieren und als ,düstere' den Nachtakzent der Klassizität am besten vorzutragen vermag. Nach dieser .Setzung' des klassischen Nachtprinzips beginnt das Getümmel der klassischen Schatten, zu deren Begegnung die drei ,Luftfahrer' sich nun rüsten. Des Homunculus erste Begegnung mit klassischen Schatten ist die Begegnung mit den antiken Naturphilosophen Thaies und Anaxagoras. Wir haben diese beiden Gestalten in unserer vorbereitenden Analyse unter der Kategorie der,Identifikationen mit einer geistigen Position' rubriziert und versucht, das mögliche Maß an Funktionalität zu bestimmen, dessen solche Identifikationen fähig sind. Gemäß dem Prinzip der reinen Repräsentation, das für jede Form der Identifikation (also auch dort, wo noch eine Trennung von Person und identifiziertem Gegenstand, sprich philosophischer Position, besteht) gilt, beginnen die beiden Naturphilosophen gänzlich unvermittelt mit einem philosophischen Streitgespräch, in dem sie ihre ontologischen Theorien gegeneinander abgrenzen. Charakteristisch für den proteischen Charakter der .Klassischen Walpurgisnacht' ist, daß Naturtheorie und Naturereignis, Gedachtes und realer Vorgang noch in gegenseitiger Wechselwirkung stehen, die es erlaubt, die Theorie durch einen realen, magisch beschworenen Vorgang zu exemplifizieren: Anaxagoras, der Vulkanist, ruft zum Beweis seiner Theorie die Mondgöttin Hekate um Hilfe an. Ein riesiger Meteorstein, der auf einem Berg, dem Sitz der Pygmäen, aufschlägt und dort alles zerstört, parodiert in grausamer Weise seine Theorie. Ein solches Verhältnis von Theorie und Demonstration, ein Verhältnis, dessen beide Glieder nur in der mythischzeitlosen Welt in reiner Aktfolge, ohne ,epische' Vermittlung einer Zwi2S
E. Staiger, Goethe. Bd. 3, S. 325.
180
24
E. Staiger, Goethe. Bd. 3, S. 331.
scheninstanz einander folgen können, ist wiederum charakteristisch für das Übergewicht des Philosophischen gegenüber dem Funktionalitätsprinzip im ,Faust'. Es ist von der gleichen Struktur wie das Verhältnis von Prinzip und Beispiel, das uns schon öfters begegnet ist. Homunculus spielt in dem Streitgespräch zwischen den beiden Ontologen nur eine sehr periphere Rolle. Die Möglichkeiten eigener Tätigkeit, die er in der ,Klassischen Walpurgisnacht' auszuüben vermag, sind insgesamt sehr beschränkt. Sie erschöpfen sich darin, sein Telos verschiedenen, mehr oder minder bedeutenden klassischen Schatten vorzutragen. Bezeichnenderweise sucht er, nachdem alle seine bisherigen Versuche, im richtigen ,Element' sein Glas entzweizuschlagen und so die erste Stufe zur Verkörperung zu erreichen, fehlgeschlagen sind, sein Heil bei den Naturphilosophen. Die Insinuation in deren philosophisches Streitgespräch führt jedoch zunächst zu nichts: die Identifikation der beiden Ontologen mit ihren Ontologien ist so innig, daß für die Erscheinung des Homunculus wenig Raum in ihrem Geiste übrigbleibt. Homunculus vermag die philosophische Auseinandersetzung nicht in seinen Bann, nicht in seine Funktionslinie hineinzuziehen, sondern nur hier und dort einen bescheidenen Einwurf zu machen, für die beiden Philosophen als Beispiel ihrer Entwicklungstheorien zu dienen oder, zum Schluß des Intermezzo, als eine Art Schiedsrichter zwischen beiden zu fungieren. Dennoch hat die Begegnung für ihn einen Systemwert auf seinem Weg zu Galatea: sie zeigt, daß die Verfolgung seines Telos nicht über eine proteisch sich wandelnde Form von ,Materie', sondern nur über den Weg (oder, wenn man so will, Umweg) philosophischen Bewußtseins führt. Die erste, noch wenig versprechende Stufe ist die Begegnung mit Thaies und Anaxagoras. Diese bringt indessen für Homunculus den unschätzbaren Vorteil, in Thaies, dem Neptunisten, einen Vergil durch die ,Klassische Walpurgisnacht' zu finden, einen Vergil, in dessen philosophischer Intention es liegt, Entelechien zu ihrer »Erfüllung' zu verhelfen. So verläuft von nun an der Weg des Homunculus nicht mehr in der Irre, sondern bekommt eine Richtung, führt über verschiedene Stationen zu Galatea, Inkarnation der ,Lebensfeuchte', des weiblichen Elementareros, an deren Muschelwagen Homunculus sein Glas zerschellt, um sich im Schoß des Meeres aufzulösen. Der Weg, der zu Galatea führt, ist — wie Galatea selbst — ohne Zweifel bis zu einem gewissen Grade ein philosophischer, sein Maß an Funktionalität dasjenige philosophischer Systembildung, deren einzelne Glieder mehr addiert werden als daß sie eine durchgehende Funktionslinie bildeten. Freilich können in einem philosophischen System, nachdem dieses als Gerüst feststeht, weitere Glieder einen gewissen Grad an 181
Notwendigkeit bekommen; sie werden dadurch antizipierbar, was zu einer gewissen Ähnlichkeit mit echter dramatischer Antizipation führt. Zu einer solchen Geschlossenheit eines Systems kommt es jedoch nur in der Helenatragödie. In der ,Klassischen Walpurgisnacht' hat Philosophisches noch nicht die Helle des klassischen Tags erreicht, sondern ist selbst noch dem Nachtprinzip verhaftet, noch proteisch-unkoordiniert. Die Versuche Thaies' des Neptunisten, Homunculus seinem Telos näherzubringen, haben infolgedessen selbst noch viel Zufälliges; weder vermag er seine Lehre, die doch darin besteht, das Wasser als den Ursprung alles Lebens zu postulieren, auf Homunculus anzuwenden, noch ist er in der Lage, die einzelnen Stadien, die Homunculus durchlaufen muß, a priori genau zu bestimmen. Audi würde eine solche Antizipation wiederum den Begegnungscharakter zwischen Ich und ,Materie' relativieren. Hier gilt das Gleiche, was wir anläßlich der ,Erzeugung' des Homunculus über Mephistopheles sagten: im Bereich einer .Materie', die keinerlei psychologischen Gesetzlichkeiten mehr unterworfen ist, ist die Reichweite möglicher Antizipation sehr gering; würde aber eine größere Reichweite einfach postuliert — was ja bei Homunculus, Mephistopheles oder Thaies ohne weiteres möglich wäre — so würde das In-die-Wirkli