Goethes theatralische Sendung: Vom »Urgötz« zum »Faust II« 9783412502164, 9783412501914


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Goethes theatralische Sendung: Vom »Urgötz« zum »Faust II«
 9783412502164, 9783412501914

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Theo Buck

Goethes theatralische Sendung Vom „Urgötz“ zu „Faust II“

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Andy Warhol, Goethe © 2015 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Artists Rights Society (ARS), New York

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Dr. Rainer Landvogt, Hanau Satz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50191-4

Es ist wirklich eine Wohlthat, die man einem großen Publikum erzeigt, wenn man es, zu seinem besten, aufklärend bearbeitet. Goethe: Actenstücke zu Epimenides (WA I.16, S. 509) Nichts ist zu Ende, wenn es gemacht ist. Thomas Brasch Il immenso continente poetico di Goethe. Giorgio Strehler bei der Arbeit an seinem „Faust“-Projekt

I N H A LT

VO RWO RT   1 1 DRAMATU RGISC H E AN FÄNG E MIT „ GÖTZ VO N B ER L I C H I N GE N“  19 „Dramatische Belebung“ Goethes von Jugend an  19 Tradition und Innovation  20 „Götz von Berlichingen“ oder Goethes Beitrag zur Erneuerung des deutschen Dramas im Zeichen der Sturm-und-Drang-Bewegung  23 Auktoriale Umgestaltungen von Götzens Biographie  27 Zur Entstehungsgeschichte des Stückes  31 „Urgötz“ und „Götz von Berlichingen“ oder Die Reduktion der realpolitischen Aspekte  39 „Götz von Berlichingen“, eine dramaturgische Revolution  44 Produktive Rezeption der neuen Dramaturgie oder Die weitere Entwicklung in der Frankfurter Zeit: „Urfaust“, „Prometheus“-Fragment, „Clavigo“, „Stella“, „Egmont“  55  Auswertung  66 DI E DRAMATU RGI SC H E WE N D E MIT „I PH I GEN I E AU F TAU R I S “   69 Die Zeit vor „Iphigenie“: Eingewöhnung in Weimar  69 Zur Entstehung der „Iphigenie“ (I): Die Weimarer Prosafassung von 1779  71 Zur Entstehung der „Iphigenie“ (II): Die Versfassung von 1786  76 Prosafassung versus Versfassung  82  Bewußtseinsdramaturgie  89 „Iphigenie“: „erstaunlich modern und ungriechisch“  96 Warten auf Iphigenie – Schwerpunkte der Bühnenrezeption  103 Seitenblick auf „Torquato Tasso“ als Bewußtseinsdrama  110 Exkurs zur Bremer und zur Bochumer Aufführung  119 Auswertung  125

Inhalt 7

F O RM EXPER I MENTE MIT O PER („E G MONT“-SC H LUSS), MO NO DRAMA („PRO SER PI N A“) U N D FE STSPI E L („DES EPIMEN I DES ERWAC H E N“)   129 Annäherung an die Oper mit „Egmont“  129 Das Monodrama oder die Erprobung der Möglichkeiten des Gesamtkunstwerks am Beispiel von „Proserpina“  143 Festspiel als Testfall neuer Dramaturgie: „Des Epimenides Erwachen“  154 Auswertung  168 VOM „U R FAUST“ ZU „ FAUST  I I“  – E I N DRAMATU RGI SC H ER D U RC H L AU F  169 „Urfaust“ – ein Torso als Muster der Sturm-und-Drang-Dramaturgie  169 „Recapitulationen alter Ideen“ oder Innovation? Zu „Faust. Ein Fragment“  180 Dramaturgische Vorentscheidung für die Weiterarbeit: „Selbständigkeit der Theile“ als kommunikative Bauelemente des Dramas   185 Die Ausführung des Plans: „Faust. Der Tragödie erster Theil“  191 Schwierigkeiten mit „Faust II“  198 Kontinuierliche Ausarbeitung von „Faust II“ von 1825 bis 1831  202 Exkurs I: Zur finalen Reflexionsstufe: Metamorphose und Entelechie als Lebensgesetz Goethes am Beispiel des Gedichts „Selige Sehnsucht“  205 Reflexionsdramaturgie. Zur Dramaturgie der Faustdichtung am Beispiel einiger Kernszenen  234  Zur Gretchen-Figur  236 Landgewinnung, Papiergeld und die Folgen  239 Kunstfiguren: Knabe Lenker, Helena und Euphorion  241 Bergschluchten  245  Auswertung  254  Zur Wirkung  257 Exkurs II: Vom Zauberlehrling zum Homunculus und so weiter  262 Zur Aufführungspraxis: Erste Aufführungen von „Faust I“  273 Exemplarische Aufführungen von „Faust I“ bis 1933  281 Zu einigen Aufführungen von „Faust II“ bis 1933  291 „Faust“ im Dritten Reich und im Exil  298 Wegweisende „Faust“-Inszenierungen in den ersten Jahrzehnten nach 1945  303

8  Inhalt

Inszenierungen zwischen 1975 und 2000. Eine Auswahl: Grüber I, Peymann, Grüber II, Schleef, Marthaler, Stein  308 „Faust“-Inszenierungen seit 2000  325 „Faust“ auf einigen ausländischen Bühnen  335 Auswertung der Aufführungsgeschichte  341 B I B L IO GRAPH I E  3 47 Zitierte Goethe-Ausgaben  347  Siglierte Literaturangaben  347 PERSO N EN R EGI STER  3 50

Inhalt  9

VO RWORT

Nicht selten ist in Literaturkreisen die Meinung anzutreffen, Goethe sei kein genuiner Dramatiker gewesen. Es kam geradezu einer Provokation gleich, als der Regisseur Peter Stein den nüchternen Sachverhalt aussprach, der Verfasser der Faustdichtung sei „der einzige Theatermann unter den deutschen Klassikern“ gewesen1. Noch zu Goethes Lebzeiten bemängelte etwa Ludwig Tieck, es sei „mehr ein Negatives, was er (Goethe) gewirkt (habe), als daß das Theater durch ihn vorgeschritten wäre“2. Ähnlich provozierend erklärte Heiner Müller noch 1989 kategorisch: „Goethe war kein Dramatiker“3. In der Regel geht die Kritik dahin, die dramatische Energie der Stücke aus der Sturm-und-Drang-Phase sei zwar durchaus anzuerkennen, in den danach entstandenen Dramen könnten jedoch bestenfalls für die Bühne ungeeignete Lesedramen gesehen werden. So äußerte etwa der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer mit gewundener Unschärfe: „Man muß wohl eingestehen, daß Goethe zwar unendlich viel dramatisches, aber nicht ebensoviel theatralisches Talent besitzt“4. Unter Bezugnahme auf Goethes „Faust“ folgerte er deshalb paradoxerweise, dieses Drama sei – was immer das heißen soll – „in seiner Ganzheit … nicht als Bühnenstück gedacht, sondern Theater über das Theater“5. Vereinzelt wird sogar die überspitzte Meinung vertreten, der Weimarer Theaterdirektor habe sich in der zweiten Lebenshälfte vom Drama bewußt abgewandt. Solch extremen Ansichten steht freilich, ungeachtet immer wieder zu verzeichnender natürlicher Unterbrechungen, ein durchgängiger Fluß dramatischer Arbeiten innerhalb des Werkzusammenhangs entgegen. Mit gutem Grund sah Goethe sogar die Arbeit am zweiten Faustteil während der letzten Lebensjahre als sein „Hauptgeschäft“6 an. Wohlgemerkt war dabei die Rede von einem dramatischen Spiel mit seinen, wie der Autor selbst betonte,

1 2 3 4 5 6

Stein, Peter: Goethe – ‚Faust‘. Gespräch mit Knut Lennartz. In: Die deutsche Bühne. Das Theatermagazin. 70. Jg., Heft 8/1999, S. 28. Tieck, Ludwig: Kritische Schriften, Bd. 2. Leipzig 1848, S. 238 („Goethe und seine Zeit“, 1828). Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 3. Texte und Gespräche. Frankfurt/M. 1994, S. 61. Borchmeyer, Dieter: Goethes Totaltheater. In: Die deutsche Bühne (s. Anm. 1), S. 22–25; Zitat: S. 22. Ders., ebd.: S. 25. WA III.11, S. 58 (Eintragung im Tagebuch vom 18.5.1827) und WA III.13, S. 106 (die Eintragung vom 10.7.1831 lautet: „Das Hauptgeschäft ununterbrochen fortgesetzt“). Vorwort  11

„neuen Erfindungen“ zur Darstellung einer „höheren, breiteren, helleren, leidenschaftsloseren Welt“7 – also sehr bewußt von dramatisch-theatralischer Gestaltung. Darum ist es das Ziel dieser Untersuchung, die vielfältigen Beiträge Goethes zur Entwicklung des Dramas über mehr als sechs Jahrzehnte hin an besonders charakteristischen Beispielen als wegweisend für die Zukunft der Gattung nachzuweisen und entsprechend zu würdigen. Häufig war die jeweilige Ausarbeitung Ergebnis eines langwierigen Gestaltungsprozesses. Man denke nur an die verschiedenen Fassungen von „Götz“ und „Stella“ oder auch an die etappenweise vor sich gehende Arbeit an „Egmont“ und „Tasso“, ganz zu schweigen von der mühseligen Umgestaltung der Prosafassung der „Iphigenie“ zum Versdrama. Selbst an eher beiläufigen Singspieltexten wie „Erwin und Elmire“ oder „Claudine von Villa Bella“ pflegte der Autor zeitraubende Veränderungen vorzunehmen. Einen einmaligen Fall stellt ohnehin der sechs Jahrzehnte anhaltende Umgang mit dem Fauststoff dar, den man ohne weiteres als ein Konzentrat der Entwicklungen Goethes im Bereich des Dramas ansehen kann. Im Mittelpunkt standen dabei meistens Formlösungen auf der Grundlage dramaturgisch innovativer Überlegungen. Diesem Prozeß genauer nachzugehen ist das zentrale Erkenntnisinteresse des Buches. Goethe beschäftigte sich von Beginn an experimentierend mit den verschiedensten Ausprägungen des Dramas. Seine grundsätzliche Affinität zur dramatischen Denk- und Ausdrucksform erklärt sich vorrangig aus der Tatsache, daß auf diesem Wege der Phantasie mit allen Sinnen wahrnehmbare Spielräume eröffnet werden können. Bei der szenischen Umsetzung wird der Sprachtext zum Bühnentext. Die gattungsspezifischen Elemente – Inszenierung, Darstellung, Bühnenbild, Kostüme, gelegentlich auch Bühnenmusik – sind für Goethe ein mit zu bedenkender, ja alles­ entscheidender Teil der vom Autor zu leistenden ästhetischen Organisation. Früh schon erkannte er in der so erweiterten Formgebung eine wesentliche poetische und soziale Grundkomponente des Dramas. Erklärend ist hierfür etwa im „WilhelmMeister“-Roman, wie der Titelheld den Geist des Schauspielers beschreibt als „einen Spiegel des Herrlichsten und Prächtigsten“ all dessen, „was die Welt an Verhältnissen, Gesinnungen und Leidenschaften hervorgebracht“. Deswegen erscheint ihm der Dramentext als „eine Art von productiver Imagination“, die uns infolge der „inneren Wahrheit der Darstellungskraft“ menschlich weiterbringt8. Um eine solch „productive Imagination“ war es dem Dramenschreiber Goethe allemal zu tun. Neben den Grundformen der Gattung – Tragödie, Schauspiel und Komödie – interessierten ihn ebenso Schäferspiel, Monodrama, Schwank, Farce, Singspiel, Oper und Maskenzüge. Nur kurze Zeit währte die unumgängliche Auseinandersetzung 7 8

Zu Eckermann am 17.2.1831 (zit. n.: MA 19, S. 411). WA I.21, S. 87 und WA I.22, S. 180 f.

12  Vorwort

mit dem vorgegebenen Kanon. Nie bestand bei ihm die Gefahr epigonal-konventioneller Orientierung. Bereits in jener Frühphase setzten die bis zum Lebensende andauernden Überlegungen Goethes zum Faustspiel und zum damit verbundenen Helena-Komplex9 ein. Die Breite seiner anfänglichen Versuche läßt sich den sehr unterschiedlichen Stücken ablesen, an denen er nach- und vor allem nebeneinander noch in Frankfurt arbeitete: „Urfaust“, „Prometheus“, „Clavigo“, „Stella“ sowie den ersten Notizen zu „Egmont“. Im Zeichen glühender Shakespeare-Begeisterung entstand damals vor allem jenes historische Sozialdrama, das für den theatralischen Anfänger den bahnbrechenden künstlerischen Durchbruch brachte, das Schauspiel „Götz von Berlichingen“ (1771/72). Goethe war es, der im deutschen Sprachraum die Bresche schlug für die offene Form. Ohne seine Vorarbeit sind Dramen des Sturms und Drangs wie „Die Pfandung“ (1774) und „Julius von Tarent“ (1775) von Johann Anton Leisewitz oder „Die Zwillinge“ von Friedrich Maximilian Klinger (1775), „Der Hofmeister“ (1774) und „Die Soldaten“ (1776) von Jakob Michael Reinhold Lenz sowie „Die Kindermörderin“ (1776) von Heinrich Leopold Wagner nicht zu denken. Sogar noch Friedrich Schillers Anfänge von den „Räubern“ (1781) bis zu „Kabale und Liebe“ (1784) gehören in diesen Entwicklungszusammenhang. Trotz der vielfältigen Aktivitäten am Weimarer Hof führte Goethe die dramatische und theatralische Arbeit dort nach Kräften fort, hauptsächlich mit der Prosaversion der „Iphigenie auf Tauris“ und ihrer sofortigen szenischen Erprobung unter seiner höchsteigenen Mitwirkung als Regisseur und Darsteller. Damals entstand auch eine ganze Reihe experimenteller Dramentexte wie das Monodrama „Proserpina“, die Aristophanes-Bearbeitung „Die Vögel“, die Posse „Triumph der Empfindsamkeit“ und der Einakter „Die Geschwister“. Im Zuge dieser neuen Versuchsreihe mußte ihm die shakespearisierende Unmittelbarkeit der Darstellung für das anders geartete jetzige dramatische Programm mehr und mehr als unzuträglich erscheinen. Denn aus der Wahl Iphigenies als Protagonistin resultierte eine einschneidende, substantielle Veränderung des dramaturgischen Verfahrens. Die dem Autor von Euripides und Racine her vertraute antike Dramenfigur erzwang eine perspektivische Umänderung. Zunehmend trat dabei, noch verstärkt durch die Eindrücke des römischen Aufenthalts, die historische Realitätsdimension in den Hintergrund zugunsten einer eher mittelbaren Darstellung gemeinmenschlicher Symbolik. Der durch die fest vereinbarte achtbändige Göschen-Ausgabe bestehende Terminzwang erwies sich als ausgesprochen förderlich für die Ausarbeitung der neuen dramaturgischen Prinzipien. Im Dramenbereich konnte so die eindrucksvolle Zwischenbilanz mit der Versfassung 9

Im Brief an Sulpiz Boisserée vom 22.10.1826 betont Goethe: „Die Helena ist eine meiner ältesten Conceptionen, gleichzeitig mit Faust, immer nach Einem Sinne, aber immer um und um gebildet“ (WA IV.41, S. 209). Vorwort  13

der „Iphigenie auf Tauris“ (1779 > 1786/87), mit „Egmont“ (1787) und „Torquato Tasso“ (1789) vorgelegt werden. Divergierende Entwicklungslinien liefen allerdings kurze Zeit noch nebeneinander. Das Beispiel der Arbeit am „Egmont“ zeigt das besonders deutlich. In Schauspielen wie „Iphigenie“ und „Tasso“ mischte sich indes die festgefügte, geschlossene Form des Klassizismus mit der Gestaltung kommunikativ angelegter Bewußtseinsstrategien. Dadurch wurde, wie zu zeigen sein wird, die scheinbar idealtypische ‚Klassizität‘ der Stücke um Iphigenie und Tasso auf dramaturgisch interessante Weise aufgebrochen. Als Verfechter ästhetischer Erziehung organisierte der Autor hierbei „mit den Mitteln der indirekten Darstellungsweise“10 auf seine eigene Art eine offene, unmittelbar transsubjektiv aktivierende ‚Dramaturgie des Publikums‘. Auch Goethes künstlerische Reaktion auf das große historische Ereignis des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die Französische Revolution, erfolgte – neben dem Epos „Hermann und Dorothea“ und den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ – ebenso im Bereich des Dramas mit mehreren Stücken eindeutig kritischer Distanznahme. Es sind das „Der Groß-Cophta“ (1791), „Der Bürgergeneral“ und „Die Aufgeregten“ (1793) sowie „Das Mädchen von Oberkirch“ (1795/96). Diese eher harmlosen Beiträge reichten indes, dramaturgisch gesehen, über konventionelle Praktiken nicht hinaus. Eine eher regressive Orientierung am klassizistischen französischen Theater sowie „echtgriechische und poetische Moralität“ ( Jean Paul11) bestimmten formal ebenso das Drama „Die natürliche Tochter“ (1803) wie dann die beiden Übersetzungen von Voltaires Tragödien „Mahomet“ und „Tancred“ (1802). Eindeutig war danach eine grundlegende Neubesinnung angezeigt. Immerhin kam es mit der Veröffentlichung des ersten Faustteils „Faust. Eine Tragödie“ (1808) zu einer abrundenden Zusammenfassung aller formalen Anfangsentwicklungen. Danach folgte eine auffallende Zäsur in der Dramenproduktion. Der Autor nutzte diese Phase für eine prinzipielle Neuorientierung. Die hierfür nötigen Anregungen beruhten nicht zuletzt auf Goethes praktischen Theatererfahrungen. Bekanntlich leitete er vom Eintreffen in Weimar 1775/76 an bis 1784 das höfische Liebhabertheater12 und war dort als Autor, Bearbeiter, Regis10 So Hinderer im Vorwort zu seinem Sammelband (Hinderer, S. 8). 11 Einschätzung Jean Pauls zur „Natürlichen Tochter“ im Brief an Caroline Herder vom 22.11.1803 (zit. n.: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 3. Abt., Bd. 4: Briefe 1800–1804. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin 1986, S. 254). 12 Beim Weimarer Schloßbrand im Mai 1774 wurde auch das Theater mit sämtlichen Requisiten, Dekorationen und Kostümen vernichtet. Die Truppe von Abel Seyler zog deshalb weiter, so daß der professionelle Theaterbetrieb in Weimar für ein Jahrzehnt zum Erliegen kam.

14  Vorwort

seur, Dramaturg und anfangs auch als Schauspieler tätig. Künstlerisch bedeutsam war dann hauptsächlich seine Arbeit als Direktor des Hoftheaters von 1791 bis 1817. Über 4000 Aufführungen fanden unter seiner Verantwortung statt. Während dieser Zeit, immerhin ein Vierteljahrhundert lang, wurde neben dem üblichen Repertoire der damaligen Bühnen auch „ein Großteil der klassischen Dramen Goethes und Schillers aufgeführt“13. Gerade diese umfassende Bühnenpraxis machte ihm jedoch die große Kluft zwischen den bestehenden Möglichkeiten und seinen eigenen Vorstellungen besonders bewußt. Gegenüber Eckermann äußerte er sich dazu eindeutig wie folgt: „Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sei es möglich, ein deutsches Theater zu bilden. Ja ich hatte den Wahn, als könne ich selber dazu beitragen und als könne ich zu einem solchen Bau einige Grundsteine legen. Ich schrieb meine ‚Iphigenie‘ und meinen ‚Tasso‘ und dachte in kindischer Hoffnung, so würde es gehen. Allein es regte sich nicht und rührte sich nicht und blieb alles wie zuvor. Hätte ich Wirkung gemacht und Beifall gefunden, so würde ich euch ein ganzes Dutzend Stücke wie die ‚Iphigenie‘ und den ‚Tasso‘ geschrieben haben. An Stoff war kein Mangel. Allein … es fehlten die Schauspieler, um dergleichen mit Geist und Leben darzustellen, und es fehlte das Publikum, dergleichen mit Empfindung zu hören und aufzunehmen“14.

Deutlich genug zeigt der konstatierte Mangel Goethes Abstand zur Zeitgenossenschaft. Aus historischer Distanz betrachtet, geben Goethes Dramen in dramaturgischer Hinsicht eine ebenso verblüffende wie in ihrer Konsequenz faszinierende Versuchsreihe zu erkennen. Fortgesetzte experimentelle Innovation war offenbar ein Bedürfnis für den Mann, der mit dem gängigen Theateridiom wenig und mit der Zeit immer weniger anzufangen wußte. Bewußt bewegte er sich weg von der dramatischen Gattungsnorm, hin zu einem sämtliche theatralischen Ausdrucksmöglichkeiten nutzenden offenen Dramendiskurs mit dem Ziel bewußtseinsbezogener Universalität. Zunehmend ließ Goethe dabei Illusionswahrung und Widerspiegelungsanspruch der konventionellen Guckkastenbühne hinter sich. Sein primäres Interesse galt nunmehr der durch szenische Impulse angeregten Einbildungskraft der Zuschauer. Ihm schwebte, durchaus unter Nutzung der vertrauten Mittel des Zeigetheaters, ein ‚Kopftheater‘ vor, das den Akzent radikal von der äußeren auf die innere Wirkung verlagerte. Die daraus resultierende ‚Bewußtseinsdramaturgie‘ setzte in wachsendem

13 Müller-Harang, Ulrike: Das Weimarer Theater zur Zeit Goethes. Weimar 1991, S. 21. 14 Zu Eckermann am 27.3.1825 (zit. n.: MA 19, S. 513). Vorwort  15

Maße auf die unmittelbar imaginative Aktivierung des Publikums. Derlei stieß beim Gros der Zeitgenossen freilich auf weitgehendes Unverständnis. Unter diesen deprimierenden Erfahrungen konzentrierten sich die weiteren Aktivitäten des Dramatikers während der letzten drei Jahrzehnte seines Lebens fast ausschließlich auf die Ausarbeitung des zweiten Faustteils. Was da von den ersten Entwürfen im Schema von 1800 bis zum Einsiegeln des Manuskripts im Sommer 1831 entstand, ist – gattungsgeschichtlich betrachtet – eine kopernikanische Wende. Goethe verzichtete weithin auf die Unmittelbarkeit der Darstellung und konzentrierte sich vornehmlich auf das Typische und Symbolische. Er ging sogar so weit zu sagen: „Es ist nichts theatralisch, was nicht für die Augen symbolisch wäre“15. Daraus erwuchs die zukunftsgerichtete Dramaturgie einer individuellen Denk- und Ausdrucksform, die den Rezipienten über Text und theatralische Vermittlung aktivierend einbezieht, also zum mitarbeitenden Partner macht. Da keine linear-kontinuierliche Handlungsentwicklung mehr gegeben ist, sieht sich das Publikum zum einen einer Phänomenologie der Weltlage in bezeichnenden Ausschnitten, zum andern den Bewußtseinsreflexen der Protagonisten konfrontiert. Demzufolge handelt es sich um ein aus innerer Vorstellung heraus aufgebautes Welt- und Lebensspiel in sprachszenischer Fügung durch den Autor. Wir erleben also im theatralischen Ereignis wirklich, wie es der Fausttext formuliert, den „farbigen Abglanz des Lebens“16, was heißen soll: die Widerspiegelung des äußeren wie des inneren Lebens. Auf diesem Wege machte es Goethe möglich, die demonstrative Wiedergabe exemplarischer Lebensstrukturen der Polarität und der Steigerung in kommunikativer Verbindlichkeit für die Bühne zu gestalten. Das war Ausfluß seiner spezifischen, ausgesprochen modernen Wirklichkeitserkenntnis. Dabei wirken Anschauung, Erfahrung und Phantasie eng zusammen. Er war damit seiner Zeit um ein volles Jahrhundert voraus. Als Autor mußte er deswegen in Kauf nehmen, daß die zeitgenössische Theaterpraxis keine akzeptablen Möglichkeiten der szenischen Umsetzung bot. So kam er zu der Feststellung: „In den neunziger Jahren … [des 18. Jahrhunderts] war die eigentliche Zeit meines Theater-Interesses schon vorüber und ich schrieb nichts mehr für die Bühne“17. Der das sagte, blieb freilich entschieden ein dramatischer Aktivist, der unbeirrbar den eingeschlagenen dramaturgischen Weg mit Texten für die koproduzierende Phantasie des Lesers fortsetzte. Sein universales Bewußtseinstheater der die dramatische Arbeit abschließenden „Faust-II“-Stufe machte ihn zu einem herausragenden Initiator des modernen Theaters. Freilich war das bei ihm 15 WA I.42.2, S.  251 (Maximen und Reflexionen. Aus dem Nachlaß) und WA I. 41.1, S. 66 f. (Shakespeare und kein Ende). 16 WA I.15.1, S. 7 (Faust, V. 4727). 17 Zu Eckermann am 26.7.1826 (zit. n.: MA 19, S. 164).

16  Vorwort

entschieden die Frucht lebenslanger Bemühung um eine angemessene Dramaturgie. Goethe erwies sich dabei als ein ausgesprochener Dramatiker. Durch viele Formen schreitend, erreichte er im Verlauf immer neuer Versuche mit der offenen Form schließlich durch die von ihm entwickelte Bewußtseinsdramaturgie eine innovierende Projektion des Dramendialogs ins Szenisch-Objektive und dann weiter in unmittelbare geistige Kommunikation. Nahe dem szenisch-visuellen Ursprung des Theaters in der breiten Öffentlichkeit der altgriechischen Polis, leistete er die dramatische Akzentuierung des Wortes im Sinne der nach wie vor aktuellen Forderung Herbert Jherings, „der Dichtung die Sprach- und Raummöglichkeiten des modernen Theaters dienstbar“ zu machen18. So gelang es ihm, dem künftigen Publikum wirklich „des Lebens Bilder“19 erhellend vorzuführen – als Vorgriff auf ein das Bewußtsein direkt ansprechendes ‚totales Theater‘20. *** Die Idee zu diesem Buch ist alt. Sie reicht in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück. Seminare, Vorlesungen und Vorträge bildeten Keimzellen dafür. Mit mehreren Artikeln erfolgte eine erste Erprobung des Gedankengangs in den einzelnen Kapiteln21. Der Einführungsartikel zu dem 1996 von mir herausgegebenen Dramen-Band des Goethe-Handbuchs kann als eine knapp gefaßte Vorstufe dieses Buches gesehen werden. Dramaturgische Aspekte von „Götz“ bis zu „Iphigenie“ und „Torquato Tasso“ fanden ebenso Eingang in mein gleichfalls im Böhlau-Verlag 2008 erschienenes Buch „‚Der Poet, der sich vollendet‘. Goethes Lehr- und Wanderjahre“. Aus all diesen Ansätzen entwickelte sich langsam, aber sicher die zusammenhängende genetische Untersuchung, wie sie nun vorliegt.

18 Jhering, Herbert: Aktuelle Dramaturgie. Berlin 1924, S. 32. 19 WA I.15,1, S. 81 (Faust, V. 6430). 20 Buck, Theo: Goethes Erneuerung des Dramas: ‚Götz von Berlichingen‘ in heutiger Sicht. In: Text und Kritik. Sonderband: Johann Wolfgang von Goethe. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1982, S. 33–42. Ders.: Goethes ‚Iphigenie‘ als dramaturgisches Modell des Bewußtseinstheaters. In: Der Deutschunterricht. Heft 1/99: Goethe. Hrsg. v. Bernd Leistner. Velber 1999, S. 30–39. Ders.: Die Dramaturgie der Faust-Dichtung. In: Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller. Hrsg. v. Werner Frick, Susanne Komfort-Hein, Marion Schmaus und Michael Voges. Tübingen 2003, S. 115–127. 21 Buck, Theo: Goethe als Dramatiker. In: GH 2, S. 1–20. Vorwort  17

D RAMATU RG I SC H E A N FÄ NG E MIT „ GÖTZ VON B E R L I C H I NG E N “ „Dramatische Belebung“ Goethes von Jugend an Schon als Kind wurde Goethe geradezu magisch angezogen vom Drama und vor allem von der dadurch eröffneten Möglichkeit unmittelbar vergegenwärtigender Darstellung lebender Bilder auf einer Bühne, habe sie noch so provisorischen Charakter. Dankbar vermerkte er in seinem biographischen Bericht „Dichtung und Wahrheit“, daß ihm bereits im Alter von vier oder fünf Jahren die Großmutter ein Puppentheater schenkte. Die „zu eigner Übung und dramatischer Belebung“ anregende Gabe „erschuf “ ihm, wie er betonte, „eine neue Welt“22. Goethe war ein typischer Augenmensch. Sein Zugang zur Außenwelt war primär visueller Natur. Das theatralische Spiel habe, wie er betonte, bei ihm „das Erfindungs- und Darstellungsvermögen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und befördert, wie es vielleicht auf keinem andern Wege, in so kurzer Zeit, in einem so engen Raume, mit so wenigem Aufwand hätte geschehen können“23. Mit Sicherheit sorgten die Eltern auch dafür, daß der vom Marionettentheater begeisterte Junge hin und wieder die Frankfurter Puppenbühne am Liebfrauenberg besuchen konnte. Seit damals beschäftigte ihn die „bedeutende Puppenspielfabel“24 vom Doktor Faust, die ihn sein Leben hindurch verfolgen sollte. Durch die in der alten Freien Reichs- und Messestadt häufig gastierenden Wandertruppen lernte er alle möglichen Formen des Theaters kennen, Tragödie und Komödie, nicht zuletzt Stücke Shakespeares, sowie Singspiele und Opern, aber ebenso Maskenzüge, Guckkastenbühne, Jahrmarkts- und Fastnachtsspiel. Zudem machten auch die Gastspiele französischer Theaterensembles den Heranwachsenden mit den Stücken des Klassizismus am Versailler Hof in der Originalsprache bekannt, mit den Tragödien Corneilles und Racines sowie mit den Komödien Molières. All das waren für Goethe wirkliche Schlüsselerlebnisse. Ohnehin kam das Direktverfahren einer sprachlich und szenisch in Rede und Gegenrede entwickelten Handlung seiner gestalterischen Prädisposition sehr entgegen. Sah er doch das menschliche Leben allemal in der ur-‚dramatischen‘ Spannung von Selbstbestimmung und vorgegebener Naturnotwendigkeit, in der Polarität von Möglichkeit und Wirklichkeit, von individueller Metamorphose und Typus. 22 WA I.26, S. 19 (Dichtung und Wahrheit, I,1). 23 WA I.26, S. 75 (Dichtung und Wahrheit, I,2). 24 WA I.27, S. 321 (Dichtung und Wahrheit, II,10). „Dramatische Belebung“ Goethes von Jugend an  19

Während des Studiums in Leipzig hatte Goethe dann hauptsächlich Umgang mit der dramatischen Produktion der deutschen Aufklärung, insbesondere mit den Dramen von Gottsched, Lessing, Johann Elias Schlegel und Christian Felix Weiße. Ebenso begann damals seine praktische Theaterarbeit als Schauspieler in kleineren Rollen bei häuslichen Liebhaberaufführungen, die er dann in den Weimarer Anfangsjahren am Hof mit Hauptrollen und Regieführung weiter ausbaute. All das deutet auf eine enge Beziehung zum Drama wie zum Theater hin. Dank dieser vielfältigen Aktivitäten verfügte Goethe über eine solide Erfahrungsgrundlage für seine Arbeit als Dramatiker. Im Jugendwerk dominieren dem Umfang nach eindeutig große, durchweg Fragment gebliebene Stoffe und kleine Dramen aller Art. Die angestellten Versuche gingen in die verschiedensten Richtungen. Sie reichten von Belsazar und Caesar bis zu Hanswursts Hochzeit und zum Jahrmarktsfest zu Plundersweilern, vom hohen Ton des Bibeldramas bis zur derben Populartradition, formal vom Alexandriner bis zum Knittelvers oder einfacher Prosa. Offensichtlich dienten sie der praktischen Einübung in möglichst viele der gegebenen Ausdrucksmöglichkeiten. Einen guten Teil dieser dramatischen Fragmente hat Goethe dann wieder verbrannt. Ohne weiteres kann aber festgehalten werden, daß er keine Mühe scheute, sich mit der gesamten Skala des dramatischen Formrepertoires vertraut zu machen. Dergestalt war er ständig bestrebt, experimentierend die für seine Absichten geeigneten Möglichkeiten szenischer Wiedergabe von signifikanten Ausschnitten der Wirklichkeit zu erproben. So erklärt sich seine frühe Bekundung: „O wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe, ich ging zu Grund“25. Ein Jahrzehnt später legte er sogar Wert darauf festzustellen: „die Causa finalis der Welt und Menschenhändel ist die dramatische Dichtkunst“26. Diese knappe Bemerkung zeigt hinreichend, welch hohen Stellenwert er dem Drama innerhalb der künstlerischen Arbeit einräumte.

Tradition und Innovation Unter der erhaltenen frühen dramatischen Produktion Goethes sind zweifellos das Schäferspiel „Die Laune des Verliebten“ (1767/68) und die groteske Typenkomödie „Die Mitschuldigen“ (1768/69) Belege für die Erprobung verschiedener Gestaltungsansätze. In beiden Fällen handelt es sich um Versuche, in der Auseinandersetzung mit der Theatertradition, hier mit Pastoraldichtung und Farce, einen eigenen Weg zu finden. Aus diesem Grund deutet sich von Beginn an auch immer wieder textim25 WA IV.2, S. 242 (an Auguste von Stolberg am 7.3.1775). 26 WA IV.7, S. 19 (an Charlotte von Stein am 3.3.1785).

20  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

manent ein deutliches Bedürfnis zur Distanzierung von den historischen Mustern an. Kritisierte doch bereits der junge Leipziger Student nach der Einweihung des dortigen Theaters 1766 mit Johann Elias Schlegels patriotischem Trauerspiel „Hermann“27, „daß solche Stücke in Zeit und Gesinnung zu weit von uns ablägen“. Deswegen suchte er „nach bedeutenden Gegenständen in der späteren Zeit“ und fand so, wie er weiter darlegte, den „Weg, auf dem [er] einige Jahre später zu Götz von Berlichingen gelangte“28. Solch ein „bedeutender Gegenstand in der späteren Zeit“ war demzufolge für ihn der unüberbrückbare Gegensatz zwischen mittelalterlichem Rittertum und ständisch-politischem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts. Er sah in jener Vergangenheit einen vergleichbaren sozialen Umbruch zu dem im 18. Jahrhundert verstärkt einsetzenden bürgerlichen Freiheitsstreben. Zunächst aber ist zu fragen: Welche kulturelle Situation fand der angehende Dramatiker im damaligen Deutschland eigentlich vor? Verglichen mit Ländern wie England, Frankreich, Italien und Spanien stand im föderalistisch organisierten ‚Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation‘ der Umgang mit der Gattung des Dramas bis weit ins 18. Jahrhundert hinein unter einem wenig glücklichen Stern. Von der Mitte Europas gingen in dieser Hinsicht keine innovierenden oder gar traditionsbildenden Impulse für das Theater aus. Deutliches Indiz dafür ist das weitgehende Fehlen von Übersetzungen deutschsprachiger Stücke. Wir sehen daran: Das Ausland nahm schlichtweg keine Kenntnis von dramatischen Texten in der Art von Hans Sachs, Gryphius oder Lohenstein, ganz zu schweigen von Klopstocks unsäglichen Bardieten. Über die Gründe ist viel gemutmaßt worden. Insbesondere hat man bei der Suche nach Erklärungen dafür die hierzulande nicht vorhandene theatralische Öffentlichkeit in Gestalt eines Hauptstadtpublikums geltend gemacht. Bekanntlich wollte Lessing dem Übel mit seinem Kampf um ein Nationaltheater in Hamburg abhelfen. Er mußte resigniert aufgeben. Zutreffend merkte er darum an: „Wir haben kein Theater. Wir haben keine Schauspieler. Wir haben keine Zuhörer“29. Er hätte hinzufügen können: Wir haben keine Stücke. 27 Schlegel, Johann Elias: Werke. Hrsg. v. Johann Heinrich Schlegel. Bd. 1. Kopenhagen, Leipzig 1761 (Neudruck: Frankfurt/M. 1971). Schlegels Drama über einen einheimischen Helden  – Hermann, den Fürsten der Cherusker  – ist 1740/41 entstanden und wurde 1743 in der ‚Deutschen Schaubühne‘ veröffentlicht. Natürlich kannte Goethe ebenso Klopstocks „Bardiet für die Schaubühne“ von 1769 mit dem Titel „Hermanns Schlacht“. 28 WA I.36, S. 226 (Biographische Einzelheiten, Leipziger Theater, 1768). 29 Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe, die neueste Literatur betreffend. 81. Brief (7.2.1760). Zit. n.: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Karl Lachmann. 3. A. besorgt von Franz Muncker, Bd. 8. Leipzig 1892, S. 216 f. Tradition und Innovation  21

Indes liegen die wahren Gründe für den betrüblichen Sachverhalt tiefer. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen muß nämlich für die deutsche Literatur zwischen Renaissance und Aufklärung generell die gleiche Mangelsituation konstatiert werden30. Nicht ohne Grund sprach Goethe von „der wässerigen, weitschweifigen, nullen Epoche“, aus welcher die Schriftsteller „sich herauszuretten“ hatten31. Konventionalität, Unsicherheit im Formalen, Rückständigkeit, Provinzialität und Nachahmerei waren da eher prägend als Eigenständigkeit, Wirklichkeitssinn und Kreativität. Es gab keinerlei Ansätze zu einer gewissen Weltläufigkeit. Wie hätte es anders auch sein können in einem Land, dessen gesellschaftliche und ökonomische Strukturen weit mehr als anderswo durch eine tiefgreifende Heterogenität im kirchlich-konfessionellen wie im landschaftlich-politischen Bereich bestimmt wurden. Ein verbindliches gesellschaftliches und kulturelles Zentrum konnte unter derartigen Umständen nicht entstehen. Der maßgebliche Naturrechtslehrer des 17. Jahrhunderts, Samuel Freiherr von Pufendorf, kritisierte die extrem partikularistische Reichsverfassung als „monströses Gebilde“ („irregulare aliquod corpus et monstro simile“32). Nicht ohne Spott pflegte man landläufig vom ‚Flickenteppich Deutschland‘ zu sprechen. Erst durch den massiven Druck eines sich zwar nicht politisch, aber doch wenigstens ökonomisch und kulturell allmählich emanzipierenden Bürgertums kam es zu einem reichlich verspäteten Wechsel33. Dem fortdauernden Absolutismus zum Trotz bildeten sich im 18. und verstärkt im beginnenden 19. Jahrhundert praktische Möglichkeiten heraus, Kunst und Öffentlichkeit, Bildung und Besitz für eine breitere soziale Gruppierung miteinander zu verbinden. Die literarische Produktion erhielt dadurch einen anderen Stellenwert und insofern eine völlig neue soziale Grundlage. Im gleichen Zuge fand die überfällige theatralische Expansion statt. Neben den bahnbrechenden Schrittmacherdiensten Lessings war es vor allem Goethe, der mit „Götz von Berlichingen“ dem deutschen Drama zum Durchbruch verhalf. Dieses Stück war vom Inhalt wie von der Form her eine wirkliche Innovation, die weit mehr als nur den Sturm und Drang einläutete.

30 Vgl. hierzu die anregende, polemisch zugespitzte Schrift „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ von Heinz Schlaffer (München 2002). 31 WA I.27, S. 88 (Dichtung und Wahrheit, II,7). 32 Zit. n.: Haas, Julia: Die Reichstheorie in Pufendorfs ‚Severinus de Monzambano‘. Monstrositätsthese und Reichsdebatte im Spiegel der politisch-juristischen Literatur von 1667 bis heute. Berlin 2007. 33 Vgl. hierzu: Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe. 1770–1910. Frankfurt/M. 1970.

22  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

„Götz von Berlichingen“ oder Goethes Beitrag zur Erneuerung des deutschen Dramas im Zeichen der Sturm-und-Drang-Bewegung Wie aber ist es eigentlich zu Goethes folgenreichem Innovationsschub gekommen, mit dem er alle bislang gültigen dramaturgischen Regeln über den Haufen warf ? Die hierfür nötigen faktischen Anregungen seien wenigstens kurz erwähnt. Durch die Straßburger Begegnung mit Herder, dem damals von ihm anerkannten kunstrichterlichen Präzeptor, erfolgte der eigentliche Anstoß für die intensive Beschäftigung mit dem nationalen Stoff um Gottfried, genannt Götz von Berlichingen (1481–1562), den ‚letzten Ritter‘. Der geschichtsphilosophisch engagierte Freund machte ihn auf die besondere Bedeutung des Jahrhunderts von Maximilian I., Karl V., Ulrich von Hutten, Martin Luther, Philipp Melanchthon, Thomas Müntzer, Erasmus von Rotterdam, Sebastian Franck, Albrecht Dürer, Hans Sachs, Paracelsus und Faust für die weitere historische Entwicklung aufmerksam. Ebenso wies er ihn auf die rechtshistorische Schrift Justus Mösers über das mittelalterliche Faustrecht hin34, also auf jenes den Rittern zuerkannte Fehde-Recht, eine von ihnen praktizierte Selbsthilfe beim vorgeblichen Kampf gegen das Unrecht, die dann, häufigen Mißbrauchs wegen, 1495 durch den von Kaiser Maximilian verkündeten ‚Allgemeinen Landfrieden‘ aufgehoben wurde. An die Stelle der ritterlichen Fehde und Selbstgerichtsbarkeit traten seitdem die Entscheidungen des Reichskammergerichts in Wetzlar. Das bedeutete praktisch das Ende des die alte Ordnung prägenden Reichsrittertums. Goethe sah in den gesellschaftlichen Veränderungen des 16. Jahrhunderts auffallende Parallelen zur Problematik der absolutistischen Herrschaft seiner Zeit. Der zeitkritischaktuelle Zusammenhang drängte ihn zu fortlaufender Beschäftigung mit diesem Thema. Gleich nach der Rückkehr von Straßburg beschaffte er sich im August 1771 die vier Jahrzehnte zuvor in Nürnberg erschienene, von Georg Tobias Pistorius 1731 herausgegebene „Lebens-Beschreibung Herrn Gözens von Berlichingen, Zugenannt mit der Eisern Hand, Eines zu Zeiten Kaysers Maximiliani I. und Caroli V. kühnen und tapfern Reichs-Cavaliers“35. Die Lektüre dieser im hohen Alter verfaßten Autobiographie des Ritters stimulierte ihn so sehr, daß er unverzüglich beschloß, ein 34 Mösers Schrift erschien zuerst 1770 unter dem Titel „Von dem Faustrechte“; hier zit. n.: Möser, Justus: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 4, bearbeitet von Ludwig Schirmeyer, Nachdruck: Osnabrück 1986, S. 263–268. 35 Neudruck der „Lebensbeschreibung“, herausgegeben von Albert Leitzmann in der Reihe „Quellenschriften zur neueren deutschen Literatur“, Bd.  2, Halle a.d.S.  1916. Kurzer Auszug in: Erläuterungen und Dokumente zu Johann Wolfgang Goethes: Götz von Berlichingen. Hrsg. v. Volker Neuhaus (= Reclams Universal-Bibliothek 8122). Stuttgart 1973, S. 91–108. Goethes Beitrag zur Erneuerung des deutschen Dramas  23

Drama daraus zu machen36. Dem Straßburger Freund Johann Daniel Salzmann schrieb er dazu: „Mein ganzer Genius liegt auf einem Unternehmen worüber Homer und Schäkespear und alles vergessen worden. Ich dramatisire die Geschichte eines der edelsten Deutschen, rette das Andencken eines braven Mannes und die viele Arbeit, die mich’s kostet, macht mir einen wahren Zeitvertreib“37. Man horcht auf: „Einer der edelsten Deutschen“? Dieser dem Stück innewohnende idealisierende Aspekt rückte bei der Rezeption anfangs stark in den Vordergrund. So charakterisierte Jakob Michael Reinhold Lenz gleich 1774 Götz als „ganzen Mann, immer weg geschäftig, tätig wärmend und wohltuend wie die Sonne“38. Einige der späteren Interpreten ließen sich ebenfalls dazu hinreißen, den Titelhelden emphatisch zu verklären. Sie berauschten sich an der „ungebrochenen, naturgewachsenen Kraft der großen Individualität“ (Benno von Wiese) oder feierten den ‚rechtschaffenen‘ Götz als einen Menschen, „wie er unmittelbar aus dem Schoß der Allnatur hervorgeht“ (Emil Staiger), ja sogar als „eine mächtige Entelechie“ (Wolfgang Kayser) 39. Derart übersteigernde, von Goethe freilich teilweise vorgegebene Töne klingen dem heutigen Ohr fremd und unglaubhaft. Dabei wird übersehen, daß der Autor die Symbolik der „eisernen Hand“ bewußt nicht allein im Sinne der Kraftentfaltung eines großen Charakters, sondern ebenso als Signatur eines „verstümmelten Subjekts“40 verstanden sehen wollte. Götz ist, objektiv betrachtet, ein nur in der Vergangenheit Lebender. Ausschließlich rückwärtsgewandt hat er, wie er am Ende eingestehen muß, sich „selbst überlebt“41. Die von ihm vertretene altväterliche Idealvorstellung – „Denn wir sehen im Geist unsere Enckel glücklich. … Wenn die Diener der Fürsten so edel und frey dienen wie ihr mir, wenn die Fürsten dem Kayser dienen wie ich ihm dienen mögte“42 – war völlig ungeeignet, unter den bestehenden Verhältnissen eine gerechte Gesellschaft herbeizuführen. Dem realitätsblinden, treu-biederen Haudegen fehlt gänzlich die Fähigkeit zur Einschätzung der gesellschaftlichen Notwendigkeiten. 36 Vgl. hierzu die vom Engländer Henry Crabb Robinson überlieferte Äußerung Goethes 1771 zu seiner Mutter: „Oh, mother, I have found such a book in the public library, and I will make a play of it! What great eyes the Philistines will make at the Knight with the Ironhand“. Zit. n.: Gräf, II.3, S. 24. 37 WA IV.1, S. 7 (an Salzmann am 28.11.1771). 38 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Über Götz von Berlichingen. In: Werke und Briefe. Hrsg. v. Sigrid Damm. Bd. 2: Prosadichtungen und Schriften. München 1987, S. 640. 39 Wiese, Benno von: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. 2. A. Hamburg 1952, S. 64; Staiger, Bd. I, S. 85; Kayser, Wolfgang: Anmerkungen: Die Figur (HA 4, S. 484). 40 So Rainer Nägele (Nägele, Rainer: Götz von Berlichingen. In: Hinderer, S. 65–77; Zitat: S. 66). 41 WA I.39, S. 185 sowie WA I.8, S. 169. 42 WA I.39, S. 116 sowie WA I.8, S. 114.

24  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

Sein Kampf für die ihm vorschwebende Freiheit kann allein im Tod Erfüllung finden. „Himmlische Lufft – Freyheit, Freyheit!“43, lauten vielsagend die letzten Worte des Sterbenden. Überzeugender Kampf für die Freiheit läßt sich jedoch nicht führen, indem man die in Unfreiheit Lebenden auf das Jenseits vertröstet. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die Wirkung des Götz-Dramas seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich nachgelassen hat. Dies um so mehr, als bedauerlicherweise das Stück im Verlauf seiner Wirkungsgeschichte allzu oft in die Hände deutschtümelnder Spießer geraten ist. Vornehmlich dieser patriotisch-kraftmeierische Ballast erschwert uns heute den Zugang. Die breite Masse unter den Besuchern der Jagsthausener Freilichtaufführungen pflegt sich ohnehin fast ausschließlich an den pseudorebellischen Gestus des sattsam bekannten verbalen Kraftausdrucks zu halten. Dabei enthält der „Urgötz“-Text des jungen Goethe bisher kaum erkannte dramaturgische Beigaben, wie sie beispielsweise der gewitzte Theatermann und Autor Einar Schleef als Regisseur der Frankfurter Aufführung von 1989 mit Martin Wuttke in der Titelrolle freigelegt hat. Statt der gewohnten historisierenden Kraftmeierei stellte er „Intrigenmechanismus und Machtgefüge“ des „historischen Konflikts zwischen Rittertum und Fürstenstand“ in plastisch „durchchoreographierten Arrangements“ in den Mittelpunkt44. Dabei handelte es sich um szenische Bilder und orgiastisch ritualisierte Sprechpartien, die uns den Handlungsablauf im Vergleich zum üblichen naturalistischen Rittergehabe einprägsamer und überzeugender ins Bewußtsein förmlich einhämmern. Fraglos erbringt ein solches Wagnis dramaturgischer Untermauerung des Dramas durch theatralisch-visuelle Bilder und choreographisch ergänzte Sprechrhythmen entschieden mehr an Erkenntnis als die langweilige Routine kostümierter Ritter-Götz-Spektakel. Derlei ist im übrigen ganz im Sinne des jungen Goethe, der ohnehin ein weiter gespanntes Wirkungsziel im Auge hatte. Sah er doch in diesem Stück das „Symbol einer bedeutenden Weltepoche“45. Eindringlich bezog er deswegen die im 16. Jahrhundert herrschenden Machtverhältnisse in seine Konzeption ein. Unverkennbar ist der „krüpliche Körper“46 des Kaiserreichs im Niedergang in Parallele gesetzt zum 43 WA I.39, S. 186 sowie WA I.8, S. 169. 44 So berichtet Eckhard Franke in seiner ansonsten völlig ablehnenden Rezension (Franke, Eckhard: Gewalt mit Gewaltsamkeit. Frank Castorf inszeniert ‚Hamlet‘-Assoziationen in Köln, Einar Schleef den ‚Urgötz‘ in Frankfurt. In: Theater heute. 6/1989, S. 22–26; Zitate: S. 26. In den einleuchtenden Symbolbildern sieht Franke bloß „Gewalt-Bilder“, in den Dialogen „zerdehnte, überbrüllte Szenarien“, in der Choreographie „donnernde Massenauftritte“, die ihn an „stalinistische Ikonen und nazistische Kolonnen“ erinnern (S. 23). 45 WA I.29, S. 162 (Dichtung und Wahrheit, IV,9). 46 WA I.39, S. 115 sowie WA I.8, S. 113. Goethes Beitrag zur Erneuerung des deutschen Dramas  25

Manko der fehlenden Hand des Ritters. Hoffnung auf Freiheit ist in einem derartigen Rahmen von vornherein vergeblich. Götzens Verstümmelung gewinnt ihren tieferen Sinn gerade durch den Zusammenhang mit den Verstümmelungen des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Deshalb war es dem Autor für die Dramenkonzeption so wichtig, den Bauernkrieg in das Gesamtgeschehen einzubeziehen, weil damit die desolate sozialpolitische Lage unmittelbar vorgeführt werden konnte. Im Verlauf des Handlungsablaufs tritt die angesprochene Doppelgesichtigkeit des Protagonisten überdeutlich in Erscheinung. Einerseits ist Götz die heroisch-tätige, ritterliche Leitfigur, der Mann, „den die Fürsten hassen, und zu dem die Bedrängten sich wenden“47. Doch bleibt dieser vermeintliche Idealtyp mit dem Anspruch des überholten ritterlichen Faustrechts eben hoffnungslos in der ihm anerzogenen ständisch-konservativen Hierarchiekonzeption sowie im Denken des ritterlichen Gewaltrechts befangen. Im Grund ist er nichts anderes als ein Raubritter. Sein angeblich freies Handeln rührt nicht an die überlebte, ständisch geprägte Gesellschaftsordnung und bleibt insofern unwirksam. Zwangsläufig gerät er in Gegensatz zu den sozialen Entwicklungen seiner Zeit. Was der Stürmer und Dränger Goethe mit der grundredlichen Götz-Figur zeigen wollte, den großen, vollkommen in sich ruhenden Charakter, das Muster eines autonomen Individuums, kann darum nur begrenzt überzeugen. Völlig zu Recht konstatiert Götzens Frau Elisabeth: „Du verglühst in dir selbst“48. Zu wirklich autonomem Handeln ist er unfähig. Sein vermeintliches ‚Recht‘ entspricht überholtem Rechtsdenken. Das versetzt ihn zwangsläufig ins Unrecht. Denn der ritterliche Kämpfer für das ‚Recht‘ gerät in die Revolte der Bauern hinein und wird wider Willen ihr Anführer. Er selbst muß in dieser Entscheidung einen Wortbruch gegenüber dem Kaiser sehen. Seine widersprüchliche Haltung im Konflikt zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten macht ihn zum unschuldig Schuldigen, eben zum „verstümmelten Subjekt“. Der Verfechter des mittelalterlichen Patriarchats hat keinesfalls das Zeug zu politischem Handeln. Seine Zeitkritik kennt keine Zukunft, weil er in der Vergangenheit lebt. Deshalb ist er dem Untergang geweiht. Mit den Triebkräften des 16. Jahrhunderts, also mit der Festigung der Territorialherrschaft und der bürgerlichen Emanzipation, mit der wachsenden Bedeutung des Handels, mit Humanismus, Reformation und Gegenreformation vermag er nichts anzufangen. Gleich dem blutigen Ausgang des Bauernkriegs ist sein Schicksal von vornherein festgelegt. Konsequent verfolgt der Autor die absteigende Linie seines Weges ins Gefängnis und in den Tod. Unausweichlich ist damit Tragik verbunden49. 47 WA I.39, S. 14 sowie WA I.8, S. 16. 48 WA I.39, S. 165 sowie WA I.6, S. 165. 49 Wolfgang Kayser spricht deshalb von der „tragischen Spannung …, in die Götz gestellt ist“ (HA 4, S. 486).

26  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

Goethe hebt sie dadurch auf, daß er die erreichte Scheinfreiheit seines Titelhelden prononciert als Haltung eines freien Individuums im Protest gegen die gesellschaftlichen Zwänge des Absolutismus ans Ende des Dramas stellt. Mit dem Schlußwort Lerses – „Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!“50 – fordert der Autor indirekt seine Zeitgenossen und deren Nachfahren dazu heraus, über Götzens altdeutsche Biederkeit hinauszudenken und wirkliche Emanzipation anzustreben. Ungeachtet der begeisterten Aufnahme des Stückes blieb diese Wirkungsabsicht leider weithin leere Programmatik. Die politischen und sozialen „Verhältnisse“ in Deutschland waren eben, mit Brecht zu sprechen, „nicht so“. Um so mehr ist es bemerkenswert, daß Goethe sich mit dieser „Utopie eines alternativen Lebens“ (Andreas Huyssen51) literarisch durchsetzen konnte. Er rührte damit an den kritischen Punkt der Subjektproblematik in einer rigid von oben nach unten durchorganisierten Ständegesellschaft.

Auktoriale Umgestaltungen von Götzens Biographie Die vom Autor vornehmlich angestrebte, heutzutage wenig überzeugende ‚Positivität‘ der Titelfigur ergibt sich nicht zuletzt aus dem dramatisch ergiebigen Kontrast zu verschiedenen Gegenbildern. Darin liegt die eigentliche Bedeutung der zahlreichen Handlungsfäden. Was sich um Adelbert von Weislingen und Adelheid von Walldorf, um Franz, die Bamberger Hofwelt, die Bürgerschaft von Heilbronn, die Reichsexekutionstruppen, die Zigeuner und das Femegericht, um Franz von Sickingen sowie um die rebellierenden Bauern herum entfaltet, gibt Einblick in die gesamte Breite der damaligen deutschen Wirklichkeit. So wird aus dem Charakterdrama ein in der Druckfassung von 1773 weithin politisch entschärftes, historisches Gesellschaftsdrama. Aus der Personenfülle ragen zwei Figuren besonders heraus: Adelheid, die Inkarnation der dämonischen Frau, und Weislingen, der treulose Freund. Beide entstammen nicht der Lebenschronik des Götz von Berlichingen. Sie sind vom Autor frei erfunden. Wohl deshalb billigte der ihnen innerhalb der Dramenkonstruktion eine große Portion eigenen Schicksals zu. Für die Bühnenwirkung des Stückes war es unerläßlich, über Weislingen und Adelheid die vom Titelhelden her schwache dramatische Energie der Handlung aufzuladen. Um wenigstens einen gewissen Zusammenhang mit der Götz-Handlung zu gewährleisten, wurde im Verlauf der Ausarbei50 WA I.39, S. 186 sowie WA I.8, S. 169. 51 Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche. München 1980, S. 143. Auktoriale Umgestaltungen von Götzens Biographie  27

tung das drohende Übergewicht dieser Gegenspieler dann wieder partiell zurückgenommen. Mußte der Autor doch darum bemüht sein, die Handlung im Sinne des Charakterdramas schwerpunktmäßig auf den Titelhelden zuzuschneiden. Weglassungen und Umarbeitungen trugen außerdem entscheidend dazu bei, die letzten Endes tragisch-pessimististische Geschichtskonzeption der Erstfassung partiell zu revidieren. Ersichtlich war Goethe darum bemüht, dem Stück „immer mehr historischen und nationalen Gehalt zu geben, und das, was daran bloß leidenschaftlich war, auszulöschen“52. Die kritisch dargestellte Spannung zwischen der vom Kaiser repräsentierten Einheit der Nation und den Partikularinteressen der Territorialfürsten trug, wie gesagt, wesentlich zur starken Wirkung bei, die das Stück bei den davon direkt angesprochenen Zeitgenossen auslöste. Mit der Figur des wankelmütigen, willensschwachen Weislingen hat Goethe seinem Götz einen ‚feindlichen Bruder‘ beigegeben53. Bestimmt ist diese Figur so vielschichtig ausgefallen, weil der Autor auf sie etwas von den eigenen Schuldgefühlen im Zusammenhang mit dem Friederike-Komplex nach der Flucht von Sesenheim übertragen hat. Weislingen wird im Stück zum Hauptgegner Götzens. Als Jugendfreunde waren sie eng verbunden wie „Castor und Pollux“54. Ihr diametral entgegengesetztes Wesen führte sie dann jedoch auseinander. Weislingens schwankender, ja zwiespältiger Charakter ist, im Verein mit seinem grenzenlosen Karrierestreben, das krasse Gegenteil des treu-biederen Selbsthelfers Götz. Die kraftstrotzende Vitalität, das derb-herzhaft Männliche und Naturwüchsige des kämpferischen Ritters sind dem ehrsüchtigen Höfling vollkommen fremd. Diesen unzuverlässigen „Paradiesvogel“55 ziehen Machteinfluß und Eleganz der neuen Gesellschaft an. Er lebt mit seiner Zeit und verkörpert vor allem deren Laster. Als der Schwächere will er dem stärkeren Götz seine Überlegenheit beweisen. Der wirft ihm deshalb vor: „Da hielt dich das unglückliche Hofleben, und das Schlenzen und Scherwenzen mit den Weibern“ und zieht daraus die bündige, in der Sache zutreffende Folgerung: „du wirst ein Spitzbub“56. Zunächst glaubt er indes, den von ihm freigelassenen Gefangenen über die Liebesbeziehung zu seiner Schwester Maria als Schwager und „rechte Hand“57 an sich binden zu können. Freilich wird die wiedergefundene Freundschaft von Weislingen unter dem Einfluß Adelheids rasch wieder verdrängt. An ihre Stelle tritt erbitterte Feindschaft. Nicht ohne Grund muß Weislingen rückblickend von 52 53 54 55 56 57

WA I.28, S. 199 f. (Dichtung und Wahrheit, III,13). Rainer Nägele hat als erster darauf hingewiesen (a.a.O., Anm. 40, S. 72). WA I.39, S. 28 sowie WA I.8, S. 29. WA I.39, S. 44 sowie WA I.8, S. 45. WA I.8, S. 30. WA I.39, S. 29 sowie WA I.8, S. 30.

28  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

sich selbst sagen: „Mein Herz ist verschlossen“58. Sein treuloser Wortbruch scheint sich anfangs günstig für ihn auszuwirken. Er gewinnt Adelheid zur Gemahlin und gelangt dadurch in die Nähe des Kaisers. Dabei entwickelt er sich zum unerbittlichen Verfolger Götzens. Er hat sogar die Gewalt über dessen Leben und Tod59. Am Ende wird er aber, vergiftet, zum Opfer seines Machtstrebens und seiner erotischen Schwäche („Gift von meinem Weibe!“60). Dem „armen Verlaßnen“61 bleibt lediglich die Fürbitte Marias. Immerhin zerreißt er noch, von Reue getrieben, das bereits unterfertigte Todesurteil für Götz. Angesichts des Todes ergibt sich sogar eine überraschende Übereinstimmung der Antipoden. Beide, der Sünder wie der „edle Mann“, lassen sterbend den gleichen Satz verlauten: „Meine Kraft sinkt nach dem Grabe“62. In der übereinstimmenden Erklärung ihrer Todesbereitschaft kommen sie sich, wenigstens in der Zweitfassung, so wieder näher. Psychologisch einfacher liegen die Dinge bei Adelheid. In reiner Ausprägung ist sie die schöne, dämonische, kalt berechnende Verführerin, die mit ihren Intrigen insgeheim das Geschehen lenkt, bis das Femegericht den Machenschaften der erotischen „Zauberinn“63 ein Ende bereitet. In der Erstfassung charakterisiert sie sich selbst am besten mit der egomanen Bekundung: „Die mächtigsten Leidenschafften waren meiner Seele Gesellschaft genug“64. In seiner autobiographischen Rückschau hat Goethe eingestanden, wie das Interesse an dieser faszinierenden Gestalt, einem wirklichen Solitär unter der damaligen Damenwelt, ihn dazu hinriß, ihrem Tun über Gebühr Raum zu geben. Erklärend hielt er dazu fest: „Ich hatte mich, indem ich Adelheid liebenswürdig zu schildern trachtete, selbst in sie verliebt, unwillkürlich war meine Feder nur ihr gewidmet, das Interesse an ihrem Schicksal nahm überhand, und wie ohnehin gegen das Ende Götz außer Thätigkeit gesetzt ist und dann nur zu einer unglücklichen Theilnahme am Bauernkriege zurückkehrt, so 58 WA I.8, S. 162. 59 Weislingen rät dem Kaiser zur Verfolgung Götzens (WA I.39, S. 83 sowie WA I.8, S. 82). Außerdem betreibt er als „Commissar“ (WA I.39, S. 167 sowie WA I.8, S. 158) die Acht­ erklärung (WA I.39, S.  97 und WA I.8, S.  96), steht hinter dem Heilbronner Verfahren (WA I.39, S. 132 sowie WA I.8, S. 130) und befehligt die Verfolgung der von Götz angeführten aufrührerischen Bauern (WA I.39, S.  104 sowie WA I.8, S.  158). Er will sogar Götz selbst fangen und heimlich hinrichten lassen (WA I.39, S. 164 sowie WA I.8, S. 151 f.). 60 WA I.8, S. 161. 61 WA I.39, S. 177 sowie WA I.8, S. 162. 62 WA I.39, S. 174 sowie WA I.8, S. 160 und WA I.8, S. 168 (fehlt in der Erstfassung). 63 WA I.39, S. 74 sowie WA I.8, S. 76. 64 WA I.39, S. 182. Auktoriale Umgestaltungen von Götzens Biographie  29

war nichts natürlicher, als daß eine reizende Frau ihn bei dem Autor ausstach. … Diesen Mangel, oder vielmehr diesen tadelhaften Überfluß, erkannte ich gar bald“65.

Im Zuge der Ausarbeitung der Zweitfassung nahm Goethe den Adelheid-Szenen ihre Eigendynamik und reduzierte den ausufernden Handlungsstrang auf das nötige Minimum66. Sie war nun nicht mehr „Heldin eines eigenen Spiels“67 wie in der Erstfassung, sondern – textimmanent – signifikanter, machtbesessener Ausbund einer pervertierten absolutistischen Gesellschaft mit entlarvendem Symbolwert68. Insgeheim bleibt sie aber die „heimliche Gegenspielerin“69 von Götz. Mehr noch als am zwiespältigen Weislingen gewinnt dessen Wort an Adelheids Lust am Bösen unrühmliche Gestalt: „Schließt eure Herzen sorgfältiger als eure Thore. Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihm Freiheit gegeben“70. Wie gesagt trägt am Ende des Stückes die Aufnahme der Szenen zum Bauernkrieg entscheidend dazu bei, ein wirklichkeitsgetreues Zeitpanorama zu vermitteln. Bestimmt deswegen hat Goethe dieses Ereignis der Jahre 1524/25 in seine Gestaltung aufgenommen. Ohne die ‚Revolution des kleinen Mannes‘ wäre nämlich eine wesentliche Komponente der damaligen deutschen Geschichte ausgespart geblieben. Historisch hatte das Ende Gottfrieds von Berlichingen mit dem klassenkämpferischen Aufstand nichts zu tun. Goethe brauchte die Empörung der Bauern und die Mitwirkung Götzens an deren Aufstand aber auch, um die Widersprüche in dessen Haltung sinnfällig zu machen. Seine erzwungene Teilnahme bedeutete, rechtlich betrachtet, den Bruch der Urfehde. Das machte ihn vor Kaiser und Recht zum Meuterer, dem die Todesstrafe drohte. Seiner Frau Elisabeth ist diese Sachlage vollkommen bewußt, als sie über Götzens Mitwirkung sagt: „Da ist’s nun wie mir alles ahnete! Gefangen, als Meuter, Missethäter in den tiefsten Thurn geworfen“71. Daß es so weit kommen konnte, den Ritter zur Übernahme der Führung im Kampf der „räuberischen und mörderischen 65 WA I.28, S. 198 (Dichtung und Wahrheit, III,13). 66 Goethe baute in der Zweitfassung die Szene IV,4 (Dialog zwischen Adelheid und Weislingen) weiter aus und strich dafür die Szene IV,6 der Erstfassung (Auftritt von Adelheid und Franz). Die stärksten Verändereungen entfallen auf den 5. Akt. Dort werden die Adelheid-Szenen entweder radikal umgestaltet (A V,1 > B V,6; A V,9 > B V,8) oder ganz weggelassen (A V,3, V,11, V,15). Sickingen ist in der Zweitfassung nicht mehr einer der Liebhaber Adelheids, sondern Bräutigam Marias. 67 So die Formulierung Wolfgang Kaysers (HA 4, S. 487). 68 In den späteren Bearbeitungen taucht Adelheid im zweiten Akt nicht mehr auf und spielt insgesamt nur noch eine „eher gewandelte, z. T. allegorische Rolle“ (HA 4, S. 495). 69 So Huyssen (a.a.O., Anm. 51, S. 153). 70 WA I.39, S. 185 sowie WA I.8, S. 169. 71 WA I.8, S. 157.

30  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

Rotten der Bauern“ (Martin Luther72) zu bewegen, geht auf die Drohung der gewalttätigen Bauern zurück, andernfalls sein Schloß anzuzünden und ihn umzubringen. Götz ist, als Ritter und Edelmann mit völlig anderen Wert- und Ehrbegriffen, in jeder Hinsicht eindeutiger Gegner der Revolution. Da die Bauern ihre Zusage zum Gewaltverzicht nicht einhalten, gerät er in die mißliche Lage eines verratenen Verräters. In der Erstfassung kommen die wahren Gründe des Bauernaufstands hinreichend zur Geltung. In der Zweitfassung hingegen ist die Revolte auf eine knappe Episode verkürzt, bei der die Bauern außerdem vollkommen ins Unrecht gesetzt werden. Sie erscheinen, ihrer Blutrünstigkeit wegen, lediglich noch als brutaler Mörderhaufen. Die eigentlichen Gründe für ihre Empörung werden nicht mehr unvoreingenommen zur Sprache gebracht, weil die dafür aussagekräftige Szene, die sogenannte ‚HelfensteinSzene‘, stark umgeändert wurde. In der Sekundärliteratur taucht immer wieder die Behauptung auf, Goethe habe diese Szene gestrichen73. Das trifft indes nicht zu. Was genau verändert wurde und was nicht, wird in der Folge noch zu ermitteln sein. Mit der stärkeren Konzentration auf das Charakterstück um Götz erfuhr die Widerspiegelung der Wirklichkeit jedoch eine entscheidende Einbuße. Die bessere Logik und Stringenz in der Motivation der Zweitfassung ist insofern teuer erkauft. Goethe tat das sicher, weil die mit dem Bauernkrieg verbundene revolutionäre Tradition längst wieder abgewürgt worden war. Man sollte dabei nie vergessen, daß sein „Götz von Berlichingen“ vor der amerikanischen und der französischen Revolution geschrieben wurde. Insofern handelte der Autor im berechtigten Gefühl, den Zeitgenossen statt einer unrealistischen Utopie besser ein Idealbild von Kraft, Mut und Aufrichtigkeit als Gesellschaftsziel vorzuführen.

Zur Entstehungsgeschichte des Stückes Die Entstehungsgeschichte von Goethes großem Geschichtsdrama läßt sich in ihrer Komplexität nicht einfach knapp zusammenfassen. Sie muß deshalb genauer beschrieben werden. Innerhalb von sechs Wochen erfolgte, ständig dazu ermuntert von der 72 Luther, Martin: Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (1525). In: Hutten, Müntzer, Luther. Bd.  2. Berlin, Weimar 1970, S.  256–262. Die entscheidende Gegenposition zu Luther stammt von Friedrich Engels (Der deutsche Bauernkrieg, 1850). 73 So etwa Volker Neuhaus, der kurzerhand den „Wegfall der Szene“ behauptet (GH 2, S. 85). Ebenso unterstellte das ‚Kollektiv für Literaturgeschichte‘ der DDR den angeblichen „Verzicht“ auf diese Szene (Erläuterungen zur deutschen Literatur: Klassik. 6. A. Berlin 1971, S. 89). Zur Entstehungsgeschichte des Stückes  31

Schwester Cornelia, im Oktober/November 1771 in einer wahren Schreibwut die Niederschrift der Erstfassung (Fassung A) unter dem Titel „Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand dramatisirt“74. Unmittelbar davor hatte Goethe am 14. Oktober zum Namenstag Shakespeares75 die hymnische Rede „Zum Schäkespears Tag“ abgefaßt und emphatisch zelebriert. Er huldigte darin dem dramatischen Vorbild, das ihn thematisch und formal bei der Abfassung seines Geschichtsdramas wesentlich beeinflußte. In der entscheidenden Partie heißt es programmatisch: „Ich zweifelte keinen Augenblick dem regelmäsigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerckermäsig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskrafft. Ich sprang in die freye Lufft, und fühlte erst dass ich Hände und Füsse hatte“76. Das bedeutete den völligen Bruch mit der dramatischen Konvention und damit das längst fällige, neue dramaturgische Programm einer entschieden offenen Form. Goethe war sich über die Tragweite dieses Schrittes vollkommen im klaren. Hielt er doch unterstreichend fest: „Durch die fortdauernde Theilnahme an Shakespeare’s Werken hatte ich mir den Geist so ausgeweitet, daß mir der enge Bühnenraum und die kurze einer Vorstellung zugemessene Zeit keineswegs hinlänglich schienen, um etwas Bedeutendes vorzutragen“77. Dementsprechend bietet die Erstfassung, der sogenannte „Urgötz“, ein breit entfaltetes gesellschaftliches Spektrum von fast 60 Szenen78. Bewußt veränderte Goethe das überlieferte Geschehen um den Ritter ‚mit der eisernen Hand‘ nach eigenem Gutdünken. Besonders die vom Autor erfundenen Konfigurationen mit Adelheid, Weislingen, Sickingen oder Franz greifen, wie schon erwähnt, beträchtlich über das historische Material hinaus. Szenen wie die Auftritte von Kaiser Maximilian und den eigenwilligen Reichsfürsten, von Beamten, Kaufleuten, Handwerkern und Bauern oder die Begegnung „zweyer Reichs-Knechte“ („Wald an einem Morast“), die Sitzung des Femegerichts und die unheimliche Wald-Episode mit den Zigeunerinnen weiten das im Titel angekündigte Individualdrama zum Gesamtbild eines gewaltigen sozialen Umbruchs. Der autonome Umgang mit Zeit und Raum wie die offene Figurenkonstellation und Handlungsführung ermöglichen einen dramatischen Querschnitt durch diese Zeitenwende, den man ohne weiteres als Anfang des modernen Sozialdramas bezeichnen kann. Damit war eine großräumige, formsprengende Dramaturgie etabliert, die schlaglichtartig die gesellschaftliche Interaktion einer 74 75 76 77 78

Hier zitiert nach: WA I.39, S. 1–186. Erstdruck: Ausgabe letzter Hand, Bd. 42 (1833). Im protestantischen Kalender ist der 14. Oktober der Wilhelmstag. WA I.37, S. 131. WA I.28, S. 197 (Dichtung und Wahrheit, III,12). Die Erstfassung umfaßt insgesamt 59 Szenen: 1. Akt: 5 Szenen, 2. Akt: 10 Szenen, 3. Akt: 22 Szenen [!], 4. Akt: 6 Szenen, 5. Akt: 16 Szenen [!].

32  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

ganzen Epoche in ausschnitthaften Einzelszenen und filmschnittartigem Szenenwechsel zusammenfassen konnte. Sie wurde – in der überarbeiteten Form der 1773 gedruckt erscheinenden Zweitfassung – zur formalen Richtschnur für die Dramenproduktion der Sturm-undDrang-Zeit. Mehr noch: Der Ansatz Goethes bedeutete für die Entwicklung der Gattung den entscheidenden Schritt, der die geschlossene Form des Dramas durch die der offenen Dramaturgie ablöste. Ab diesem Zeitpunkt stand den Dramatikern neben den konzentrierenden drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung eine umfassende, auf gereihten Einzelszenen basierende innovative Ausdrucksmöglichkeit zur Verfügung. Dieser befreienden Erweiterung hin zu einer möglichst breit erfaßten Wirklichkeitsdimension gehörte die Zukunft. Verglichen mit dem einheitlich komponierten geschlossenen Drama erfordert der komplexe Erlebnisrahmen der offenen Form mit ihrem andeutenden, mehr fragmentarisch angelegten Gestaltungsverfahren einen intensiveren Mitvollzug. Sie setzt also beim aktiv einbezogenen Zuschauer kreative Imagination voraus. Es war in erster Linie der Autor des Dramas um Götz von Berlichingen, der diese dramaturgische, ja dramengeschichtliche Wende eingeleitet hat. Deutlich untertreibend bezeichnete Goethe gegenüber Herder sein erstes großes Werk noch als unfertig, „weiter nichts als Skizzo“79. Dennoch schickte er ihm voller Hoffnung das Manuskript. Im Begleitbrief versicherte er: „Das aber darf ich sagen, daß ich recht mit Zuversicht arbeitete, die beste Kraft meiner Seele dran wendete, weil ich’s that, um Sie drüber zu fragen, und wußte, Ihr Urtheil wird mir nicht nur über dieses Stück die Augen öffnen … Auch unternehm’ ich keine Veränderung bis ich Ihre Stimme höre, denn ich weiß doch, daß alsdann radicale Wiedergeburt geschehen muß, wenn es zum Leben eingehn soll“80. Groß dürfte jedoch seine Enttäuschung gewesen sein, als er im – leider verlorengegangenen – Antwortschreiben lesen mußte, „Dass euch Schäckesp. [Shakespeare] ganz verdorben pp.“81 Offenkundig überschritt Goethes exzessiv ‚shakespearisierende‘ Art der Gestaltung mit ihrer extrem ausgeweiteten Episodenfolge in der Sicht Herders jedes ästhetisch angängige Maß. Der so Kritisierte ging durchaus beipflichtend auf diesen Vorwurf ein. In seiner Antwort ließ er Herder wissen: „Von Berlichingen ein Wort. Euer Brief war Trostschreiben, ich setzte ihn weiter schon herunter als ihr. Die Definitiv [das Urteil] ‚Dass euch Schäkesp. ganz verdorben pp.‘ erkannt ich gleich in ihrer ganzen Stärke, 79 WA IV.2, S. 10 (an Herder, Ende 1771). 80 WA IV.2, S. 11 (an Herder, Ende 1771). 81 Herders Kritik ist uns in ihrem Tenor und als obiges Teilzitat aus dem Antwortbrief Goethes überliefert (WA IV.2, S. 19, an Herder am 10.7.1772). Goethe unterschlägt dabei allerdings dessen durchaus auch lobende Gesamtwürdigung. Zur Entstehungsgeschichte des Stückes  33

genug es muss eingeschmolzen von Schlaken gereinigt mit neuem edlerem Stoff versetzt und umgegossen werden. Dann solls wieder vor euch erscheinen“82. Herders Einspruch zeigte also Wirkung. Tatsächlich machte sich der so Herausgeforderte um die Jahreswende 1772/73 daran, den „Urgötz“ gründlich umzuarbeiten. Diese Aktion erfolgte so zügig, daß der vom Freund Merck angeregte anonyme Druck der Zweitfassung im Selbstverlag bereits im Juni 1773 unter dem Titel „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel“ (Fassung B) an die Öffentlichkeit gebracht werden konnte83. Wenn Goethe jedoch in „Dichtung und Wahrheit“ verlauten läßt, „daß in wenigen Wochen ein ganz erneutes Stück vor mir lag“84, so trifft das zwar sehr wohl für die versöhnlichausgleichend umgestaltete Thematik zu, keineswegs aber für die weithin übereinstimmende Formgestalt. Wie die Fassung A zielt auch die Fassung B auf die Vermittlung dramatisierter Geschichtselemente, die ein Epochenbild widerspiegeln. Insofern wurde also die neu gefundene Ausdrucksform beibehalten. Die Aufnahme des anonym veröffentlichten Druckes kam einer Sensation gleich. Wurde doch hier ein neues Bewußtsein vom Menschen und von einer anderen Gesellschaft propagiert. Im politisch schlafend dahindämmernden Deutschland wirkte Goethes Text mit seiner antihöfischen Grundtendenz geradezu wie ein Revolutionsappell85. Infolge der großen Nachfrage und als Reaktion auf einen unberechtigten Nachdruck wurde gleich 1774 eine „Zwote Auflage“ nachgedruckt. Zunächst wirkte das Buch allein als Lesedrama. Trotz des beträchtlichen Publikumserfolgs ließ nämlich die theatralische Umsetzung auf sich warten, weil das Stück, der radikal neuen Dramenform und -sprache wie auch der Länge wegen, als unspielbar galt. Immerhin erfolgte am 14. April 1774 in Berlin die Uraufführung durch die Kochsche Truppe, erstmals in historischen Kostümen. Diese Inszenierung blieb bis 1777 im Repertoire. Im Oktober 1774 folgte eine zweite Aufführung in Hamburg durch Friedrich Ludwig Schröder, dort sogar mit historischen Kulissen. Beide Inszenierungen zeigten indes lediglich stark gekürzte Fassungen. Dem durchschlagenden Erfolg, hauptsächlich in Berlin, tat das keinen Abbruch. Im folgenden Jahr, 1775, kam es, sehr zum Ärger Goethes, zum Nachdruck der Zweitfassung durch den Berliner Verleger Himburg. Bezeichnenderweise wurden dabei angeblich ‚anstößige‘ 82 WA IV.2, S. 19 (an Herder am 10.7.1772). 83 Hier zitiert nach: WA I.8, S. 1–169. Weitere wichtige Drucke: Erstdruck: anonymer Privatdruck (1773), zwei Nachdrucke im selben Jahr, 2. A.: 1774, Nachdruck bei Himburg (1775), Göschen-Ausgabe (1787), Ausgabe letzter Hand, Bd. 8. 84 WA I.28, S. 200 (Dichtung und Wahrheit, III,13). 85 Hierzu Huyssen. Er spricht ausdrücklich von der Wirkung als „Revolutionsstück“ (a.a.O., Anm. 51, S. 157).

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Stellen und oberdeutsche Spracheigenheiten getilgt. Auf der Grundlage dieser ‚gereinigten‘ Fassung wollten nun viele Bühnen das Erfolgsstück nachspielen. Immerhin kam es so, rasch nacheinander, zu Aufführungen in Breslau, Leipzig, Frankfurt am Main, Wien, Hannover und Bremen. Besondere Aufmerksamkeit fand die Regie von Wolfgang Heribert von Dalberg 1786 in Mannheim. Auch er strich den Text erheblich zusammen, nicht zuletzt entfernte der gewiefte Praktiker die Invektiven gegen die Kirche. Nach alledem setzte sich die Auffassung durch, daß mit diesem Schauspiel erstmals ein rundum deutsches Drama auf die Bühne gelangt sei. Völlig unerwartet kam die gewaltige Wirkung in der damaligen Öffentlichkeit. Ein anonymer Schriftsteller propagierte individuelle Freiheit auf eine Weise, welche die Gemüter vieler bewegte. Es ist gewiß keine Übertreibung, diesem literarischen Jugenderfolg beträchtlichen Anteil an der intellektuellen Revolte der jungen Generation des ausgehenden 18. Jahrhunderts zuzusprechen. Wenn manche meinen, aus dem vielschichtigen „Skizzo“ sei bei der Ausarbeitung der Zweitfassung zugleich auch ein vereinheitlichtes Aktedrama geworden, man habe es also mit der „Verwandlung eines szenischen Bilderbogens in ein tektonisches Drama“86 zu tun, so ist dem entgegenzuhalten, daß formal nur geringfügige Veränderungen vorgenommen wurden87. Das Grundprinzip durchgängiger Ausgestaltung in einer offenen Form wurde uneingeschränkt beibehalten. Nicht ohne Grund tadelte Lessing am Drama Goethes, ohne freilich dessen Namen zu nennen: „Er füllt Därme mit Sand, und verkauft sie für Stricke. Wer? Etwa der Dichter, der den Lebenslauf eines Mannes in Dialogen bringt und das Ding für Drama ausschreit“88. Noch schroffer kritisierte der völlig vom französischen Klassizismus eingenommene Friedrich II. von Preußen: „erst vor einigen Jahren ist ein ‚Götz von Berlichingen‘ auf unserm Theater erschienen, eine abscheuliche Nachahmung jener schlechten englischen Stücke [gemeint ist vor allem Shakespeare], und doch bewilligt unser Publikum diesem eckelhaften Gewäsche seinen lauten Beyfall“89. 86 So Volker Neuhaus (GH 2, S. 85). Er bezeichnet die Zweitfassung sogar kurzerhand als „ein traditionelles fünfaktiges Drama“. 87 Den 59 Szenen der Erstfassung stehen in der Zweitfassung nicht viel weniger, nämlich 56 Szenen, gegenüber. Nur eine Szene im 4. Akt und zwei Szenen im 5. Akt wurden gestrichen. Allerdings wurden etliche Szenen erheblich umgearbeitet oder durch andere ersetzt. Vgl. hierzu: Minor, Jakob: Die zwei ältesten Bearbeitungen des Götz von Berlichingen. In: ders.: Studien zur Goethe-Philologie. Wien 1880, S. 186–218. 88 Lessing, Gotthold Ephraim: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Karl Lachmann. 3. A. besorgt von Franz Muncker. Bd. 16. Leipzig 1902, S. 535 (Selbstbetrachtungen und Einfälle). 89 Friedrich der Große: Ueber die deutsche Litteratur, die Mängel die man ihr vorwerfen kann, die Ursachen derselben und die Mittel sie zu verbessern. Aus dem Französischen übersetzt. Berlin 1780. Hrsg. v. Ludwig Geiger. Berlin 1902, S. 66. In der Originalfassung Zur Entstehungsgeschichte des Stückes  35

Im Gegensatz zu diesen im konventionellen Denken befangenen ablehnenden Stimmen war die Begeisterung bei den meisten Schriftstellerkollegen und weiten Teilen des kulturell interessierten Publikums groß. Sie erkannten nicht nur das inhaltliche Gewicht, sondern ebenso die historische Bedeutung dieser wirklichkeitsnahen, innovativen Dramaturgie. Wieland etwa schrieb: „Es ist augenscheinlich, daß er [Goethe] in dem Augenblick, da er den Entschluß faßte, aus Götzens von ihm selbst beschriebener Geschichte, ein Schauspiel zu machen, sich vorsezte, alle Regeln des Aristoteles, als Fesseln, mit denen sein noch ungebändigter Genie sich nicht schleppen wollte, von sich zu werfen“90. Dementsprechend äußerte sich Gottfried August Bürger mit folgenden Worten: „Edel und frey, wie sein Held, tritt der Verfasser den elenden RegelnCodex unter die Füße“91. Und Johann Georg Hamann ordnete Goethes Beitrag sogar bereits gattungsgeschichtlich ein: „Der Name seines Götzen wird wol ein Omen für unsern theatralischen Geschmack seyn, oder die Morgenröthe einer neuen Dramaturgie“92. Die neue Dramensprache fand demnach weithin positive Resonanz. Mit Recht wurde deshalb gesagt: „Der Sturm und Drang … konstituiert sich geradezu dadurch, daß er die unauflösliche Einheit von Gegenstand, Dramaturgie und Sprache erkennt“93. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Goethe insgeheim doch von der originären Leistung der Erstfassung überzeugt blieb. Gegen seine sonstige Gewohnheit hat er nämlich dieses Manuskript nicht etwa den Flammen übergeben, sondern es im Gegenteil sorgfältig aufbewahrt. Gezielt nahm er gerade diesen Text in die ,Ausgabe letzter Hand‘ auf94. Sicherlich geschah das aus mehr als bloß sentimentalen Gründen. Offenkundig war der sich selbst historisch Gewordene in der Rückschau darum bemüht, Leben und Werk zu objektivieren. Sein erster Wurf als Stürmer und Dränger sollte der Nachwelt erhalten bleiben. Unterschied er sich doch von der Zweitfassung durch zum Teil wesentlich andere weltanschauliche Überzeu-

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heißt es: „imitation détestable de ces mauvaises pièces anglaises“ und „ces dégoutantes platitudes“. Die Aussagen Friedrichs II. beziehen sich auf die erfolgreiche Berliner Uraufführung des Stückes am 14.4.1774 durch die Kochsche Truppe. Wieland, Christoph Martin: Der Teutsche Merkur vom Jahr 1774. 6. Bd., 3. Stück. Weimar o.J., S. 324. Brief Bürgers an Heinrich Christian Boie vom 8.7.1773. Zit. n.: Briefe von und an Gottfried August Bürger. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit. Hrsg. v. Adolf Strodtmann. Bd. 1: Briefe von 1767–1776. Berlin 1874 (ohne Seitenangabe). Hamann, Johann Georg: Briefwechsel. Bd. 3: 1770–1777. Hrsg. v. Walter Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden 1957, S. 99. So Volker Neuhaus (GH 2, S. 95). Die Erstfassung erschien 1832 postum, zusammen mit der Bühnenfassung von 1804 (Fassung D), in Bd. 42 der ‚Nachgelassenen Schriften‘.

36  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

gungen. Tatsächlich führte die Überarbeitung, wie bereits erwähnt, dazu, dem Stück „immer mehr historischen und nationalen Gehalt zu geben, und das, was daran bloß leidenschaftlich war, auszulöschen“95. Offenkundig geschah das unter dem Anspruch politischer Gegenwartskritik. In diesem Sinne konnte gesagt werden: „Der Ritter mit der eisernen Hand wird für Goethe … zum Symbol eines Mannes, der für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen niemals zögert, denn beide glauben in einer Zeit zu leben, die ihre menschliche Existenz bedroht“96. Darum hatte die Zweitfassung mit ihrer idealisierenden Grundierung eine so große Wirkung bei der jungen Generation des aufstrebenden Bürgertums. Allerdings widerlegte, wie gleich gesagt werden muß, die geschichtliche Entwicklung vor allem in Deutschland derartige Erwartungen gründlich. Aus der erhofften Befreiung des Individuums ist, jedenfalls politisch gesehen, für lange Zeit nicht viel geworden. Um so leichter dürfte es dem Autor bei der Zusammenstellung der ‚Ausgabe letzter Hand‘ gefallen sein, die pessimistischere Erstfassung ans Licht der Öffentlichkeit zu holen. Sie ist mit ihrer größeren Direktheit der Darstellung nicht allein sprachlich plastischer, atmosphärisch reicher, psychologisch dichter und als historisches Gesamtbild stringenter, sondern – ungeachtet ihrer weniger ausgeprägten Überschaubarkeit – im Hinblick auf die angestrebte gesellschaftliche Zeitkritik weit radikaler und vor allem näher an der widersprüchlichen Realität. Der „Urgötz“ versetzt das Publikum wirklich auf die Bühne des Lebenstheaters jener brutalen Zeitenwende. Die Entstehungsgeschichte ist damit noch nicht zu Ende. Als Goethe 1787 die Göschen-Ausgabe seiner Schriften vorbereitete, übernahm er zum Teil die stilistischen Umänderungen des Berliner Nachdrucks bei Himburg. Nicht genug damit. 1803, fast drei Jahrzehnte nach der Hamburger Uraufführung, ging er im Gedankenaustausch mit Schiller daran, sein erstes großes Drama endlich auch in Weimar aufzuführen. Dabei entstand abermals eine umgearbeitete Fassung (Fassung C). Goethes weltanschauliche und politische Ansichten hatten sich zwischenzeitlich stark verändert. Bezeichnenderweise ging er unter dem Eindruck der Französischen Revolution daran, das Drama nicht etwa zu kürzen, sondern vor allem politisch noch mehr zu entschärfen. Um keinen Preis wollte er als Revolutionär gelten. Obwohl er mit der Neubearbeitung die Absicht verfolgte, das rebellische Götz-Drama „zu einem Bissen zusammen zu kneten, den unser Deutsches Publikum allenfalls auf einmal hinunterschluckt“97, wuchs ihm der Text unter der Hand zu sechsstündiger Auffüh95 WA I.28, S. 199 f. (Dichtung und Wahrheit, III,13). 96 So Jürgen Schröder (Schröder, Jürgen: Individualität und Geschichte im Drama des jungen Goethe. In: Hinck, Walter (Hrsg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Kronberg/Ts. 1978, S. 192–212; Zitat: S. 202). 97 WA IV.17, S. 77 (an Zelter am 27.2.1804). Zur Entstehungsgeschichte des Stückes  37

rungsdauer an. Dementsprechend fielen die Reaktionen des Publikums bei der Erstaufführung am 22. September 1804 ziemlich gemischt aus. Deshalb strich Goethe diese überlange Version gleich wieder energisch zusammen. So entstand die am 8. Dezember desselben Jahres wiederum in Weimar kreierte kürzere Fassung (Fassung D). Sie wurde in der Folgezeit am häufigsten gespielt. August Wilhelm Iffland (1759– 1814), der damals vorrangige ‚Theatermacher‘ in Deutschland, übernahm sie sogleich für seine Berliner Inszenierung. Aber schon 1809 wurde der kürzere Text abermals zu einer ausführlicheren Fassung umgearbeitet. Goethe erstellte nun sogar eine Version in zwei Teilen: „Adelbert von Weislingen“ und „Götz von Berlichingen“. Beide Ritterschauspiele wurden an zwei Abenden im Dezember 1809 in Weimar aufgeführt (Fassung E). Die Reaktionen fielen jedoch eher unbefriedigend aus. Resigniert mußte der Autor im Blick auf die unbewältigte Masse des Stoffs feststellen: „Welche Mühe habe ich mir nicht mit meinem ‚Götz von Berlichingen‘ gegeben! aber doch will es als Theaterstück nicht recht gehen. Es ist zu groß, und ich habe es zu zwei Teilen einrichten müssen“98. Seine Selbstkritik in diesem Punkt war eindeutig: „Eigentlich kann diese Umarbeitung nur durch den theatralischen Zweck entschuldigt werden, und kann auch nur insofern gelten, als durch die sinnliche Gegenwart der Bühne und des Schauspiels dasjenige ersetzt wird, was dem Stücke von einer andern Seite entzogen werden mußte“99. Zehn Jahre später legte Goethe sogar noch eine weitere Fassung vor (Fassung F), die 1828 wiederum in Weimar auf die Bühne gebracht wurde. Die Dramatisierung dieses so überaus wirkungsreichen Themas ließ ihn einfach nicht los. Die verschiedenen Umarbeitungen zeigen die Schwierigkeit, den ausufernden Stoff einigermaßen zu bändigen. Im Vordergrund stand hierbei allemal die Entscheidung, was weggelassen werden konnte und was nicht. An den inhaltlichen Kern rührten die späteren Varianten nicht. In formaler Hinsicht änderte sich allein der jeweilige Umfang, nicht jedoch die grundsätzlich beibehaltene offene Form. Der Vollständigkeit halber sei lediglich noch erwähnt, daß zum Geburtstag Goethes 1830 eine Festaufführung mit dem Götz-Drama in der Fassung D stattfand. Und schon Anfang 1830 zeigte der so Gefeierte befriedigt Johann Peter Eckermann das sorgfältig aufbewahrte Manuskript der Erstfassung (Fassung A)100. Erkennbar legte er Wert darauf, diesen Text in die „Nachgelassenen Schriften“ aufzunehmen und damit den Vergleich mit der am meisten verbreiteten Zweitfassung (Fassung B) zu ermöglichen. Offenkundig wollte er den Urtext unbedingt erhalten sehen. Ohne weiteres kann man deshalb die zahlreichen übrigen Varianten (Fassungen C, D, E und F), so 98 Zu Eckermann am 26.7.1826 (zit. n.: MA 19, S. 162). 99 WA IV.22, S. 163 (an Rochlitz am 11.9.1811). 100 Bericht Eckermanns vom 31.1.1830 (MA 19, S. 640).

38  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

interessant die thematischen Unterschiede im einzelnen sein mögen, unter dem Gesichtspunkt der Dramaturgie ausklammern und das Interesse auf die beiden ersten Fassungen konzentrieren. Hier wie dort praktizierte Goethe die einmal getroffene Grundsatzentscheidung zum konsequenten Gebrauch einer offenen Dramaturgie mit klarer Abbildfunktion. Ihre Wirkungsweise soll deshalb noch an einigen charakteristischen Beispielen genauer betrachtet werden. Zuvor ist es jedoch unerläßlich, wenigstens am konkreten Beispiel der sogenannten ‚Helfenstein-Szene‘ auf die thematische Veränderung in der Zweitfassung näher einzugehen.

„Urgötz“ und „Götz von Berlichingen“ oder Die Reduktion der realpolitischen Aspekte Ein systematischer Vergleich der Fassungen von 1771 (Fassung A) und 1773 (Fassung B), so aufschlußreich er auch wäre, kann nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein. Immerhin sollen die entscheidenden Tendenzen der thematischen Umarbeitung wenigstens an einer Kernszene des Stückes nachgewiesen werden. Dafür eignet sich besonders die in den fünften Akt eingebaute ‚Helfenstein-Szene‘, weil in ihr das sozialpolitische Grundproblem der damaligen Gesellschaftslage unmittelbar zur Darstellung gebracht wird. In der Erstfassung (A:V,2: Nacht. Eine halbverfallne Capelle auf einem Kirchhoff101) erfährt die zum Bauernaufstand führende Konfliktsituation insofern eine historisch bemerkenswert objektive Wiedergabe, als hier den Bauern – immerhin 80 Prozent der damaligen Bevölkerung – der Status mündiger Handlungsträger zugebilligt wird. Der marxistische Literaturkritiker Franz Mehring meinte sogar 1899, Goethe habe damit seinen Götz „zum sittlichen Revolutionär“ gemacht102. Demgegenüber kommt die Revolte der Bauern in der Zweitfassung (B:V,1 und B:V,2: Bauernkrieg. Tumult in einem Dorf und Plünderung – Feld. Man sieht in der Ferne zwei Dörfer brennen und ein Kloster103) lediglich noch als „blutrünstige Greuelorgie eines entmenschten Pöbels“104 zur Darstellung. Eindeutig hat der Autor bei der Umarbeitung die Überfülle der sich teilweise zu sehr verselbständigenden 101 WA I.39.1, S. 148–154. 102 Mehring, Franz: Gesammelte Schriften, Bd. 10. Berlin 1961, S. 53 („Johann Wolfgang Goethe“). 103 WA I.8, S. 139–146. 104 So Zimmermann (Zimmermann, Rolf Christian: Geschichte Gottfriedens von Berlichingen. In: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Bd. 2: Interpretation und Dokumentation. München 1979, S. 39–76; Zitat: S. 75). Die Reduktion der realpolitischen Aspekte  39

Einzelszenen im Rahmen des Gesamttextes mit guten Gründen reduziert und geglättet. Zugleich entschärfte er aber im selben Zug auch den brisanten realpolitischen Akzent. Was dadurch verlorengegangen ist, gilt es nun zu ermitteln. Die ‚Helfenstein-Szene‘ beginnt in der Erstfassung mit der Gefangennahme einiger der schlimmsten Peiniger der aufrührerischen Bauern, darunter Graf Ludwig von Helfenstein, dessen Untaten besonders hervorgekehrt werden. Er war es, der den Bruder Georg Metzlers, eines der hier auftretenden Anführer der Rebellion, wegen eines bloßen Verstoßes gegen das Jagdprivileg des ‚gnädigen Herrn‘ als Wilderer „zu Todte gequält hat“105. Dementsprechend malt sich der am Leben gebliebene Bruder in blutgesättigten Bildern eine Vergeltungsvision aus, wie sie seinem lange zurückgehaltenen Rachebedürfnis entspringt. Was er sagt, macht ihn zur führenden Einzelstimme der Aufständischen. Ihr kollektives Leiden schlägt um in kollektive Wut. Das hört sich dann wie folgt an: Seht wie die Gebürge von der wiederscheinenden Glut ihrer Schlösser in glühendes Blut getaucht daherum liegen. Sonne komm, Sonne komm! Wenn dein erster gebrochner Stral [Strahl] roht [rot] dämmert und sich mit dem fürchterlichen Schein der Flamme vereinigt. Dann wollen wir sie hinaus führen, mit Blutrothen Gesichtern wollen wir dastehn, und unsre Spise [Spieße] sollen, sollen auf hundert Wunden ihr Blut zapfen. Nicht ihr Blut! Unser Blut. Sie gebens nur wieder wie Blutigel106.

Vergeblich bleibt daher der Versuch der Gemahlin des Ritters, Gnade für ihren Mann zu erwirken. Vielmehr weckt das den verstärkten Zorn Metzlers. Weit davon entfernt, sich erweichen zu lassen, führt er der Bittstellerin noch einmal die Mordtat Helfensteins in aller Deutlichkeit vor Augen: Wie der gifftige Drache, dein Mann, meinen armen Bruder, und noch drey Unglückliche in den tiefsten Turn [Turm] warf. Weil sie mit Hungriger Seele seinen Wald eines Hirsches beraubt hatten ihre armen Kinder und Weiber zu speisen. – Wir jammerten und baten. So kniete die arme Frau wie du kniest, und so stand der Wütrich wie ich stehe. … Er stund der Abscheu wie ein ehrener Teufel, stund er und grinste uns an. Verfaulen sollen sie lebendig und verhungern im Turn knirscht er. Damal war kein Gott für uns im Himmel, ietzt soll auch keiner für ihn seyn107.

105 WA I.39, S. 149. 106 WA I.39, S. 149. 107 WA I.39, S. 151.

40  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

Ein letztes Mal läßt Metzler seinem Zorn freien Lauf mit der Verwünschung: „heisse höllenheisse Flüche – über das Mördergeschlecht“108. Welch tiefe Verzweiflung dahinter steckt, zeigt der unmittelbar nachfolgende Ausbruch, in dem er das düstere Bild einer absoluten Verfinsterung von Welt und Geschichte evoziert: „Und dann. Stürm stürm, Winterwind, und zerreiss sie, und heul sie tausend Jahr um den erdkreiss herum und noch tausend, biss die Welt in Flammen aufgeht, und dann mitten mitten mit Ihnen ins Feuer“109. Wahrlich, ein unerbittlicher Richtspruch, zugleich ein ausdrucksstarkes Bild für die elende Situation der unterprivilegierten Bauern wie auch für die rücksichtslosen Teilhaber eines unmenschlichen Absolutismus. Mit dem ihm vom Autor mitgegebenen ideologiefreien, rein impulsiven, vom Bibeldeutsch genährten, lebenswahren Sprechakt kündigt Metzler das historische, im unsäglichen Bündnis von Thron und Altar gefestigte Herr-Knecht-Verhältnis auf. Seine Worte zielen darauf, die Ausbeutungssituation der Bauern als den einzigen „Lastträger[n] des Staates“ ( Johann Gottfried Seume110) gewaltsam zu beenden. Darin sieht er einen sozialen Auftrag. Er nimmt es dabei in Kauf, daß die von ihm angestrebte Menschwerdung, denn darum handelt es sich bei seinem Protest, mit Blut befleckt wird. Das ist die dunkle Kehrseite seiner sozial-apokalyptischen Rede. Goethe hat mit diesem Text etwas Überraschendes geleistet. Er hat hier nämlich geradezu, mit Ernst Bloch zu sprechen, eine „Mythologie der Empörung“ hergestellt111. Jedenfalls erklären die Worte Metzlers die von den Bauern eingeforderte soziale Befreiung, will sagen: die Abschaffung der Feudalherrschaft. Konkret bedeutete das die Beseitigung der Leibeigenschaft und der Frondienste, die Aufhebung der Zins-, Pacht- und Zehntabgaben sowie die Freiheit von Jagd und Fischerei – mit den unzweideutigen Worten der zeitgenössischen Flugschriften aus dem Lager der Bauern: „Alle Landesobrigkeit und Herrschaft wollen wir abtun und austilgen“112. Ohne Gewalt konnte das logischerweise nicht abgehen. Das historische Muster für die ‚Helfenstein-Szene‘ lieferte die sogenannte ‚Weinsberger Bluttat‘, bei der ein Anführer der Bauern den Grafen Ludwig von Helfenstein in den Ostertagen 1525 qualvoll hinrichtete. Dieser Gewaltexzeß erregte vor allem deswegen breites Aufsehen, weil es sich dabei um den Schwiegersohn des Kaisers Maximilian I. handelte. Goethe hat diesen Vorfall in freier Abwandlung übernommen, 108 WA I.39, S. 152. 109 WA I.39, S. 154. 110 Zit. n.: Von deutscher Republik. 1775–1795, Bd. II: Theoretische Grundlagen. Hrsg. v. Jost Hermand. Frankfurt/M. 1968, S. 96. 111 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 3. Frankfurt/M. 1967, S. 1149. 112 Brieger, Theodor: Reformation. In: Pfugk-Harttung, Julius: Geschichte der Neuzeit. Das religiöse Zeitalter 1500–1650. Berlin 1908, S. 302. Die Reduktion der realpolitischen Aspekte  41

um gleichzeitig die naturrechtlich begründeten Ursachen für den Bauernaufstand darlegen zu können. Zweifellos war das sein Anliegen zum Zeitpunkt der Niederschrift der Erstfassung. Natürlich wußte er ebenso, daß die deutschen Bauernkriege jeweils lokale und insofern zersplitterte Aufstände von Massen waren, die, ungeachtet ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit, den Truppen der Machthaber hoffnungslos unterlegen waren. Mit Äxten, Sensen und Dreschflegeln konnte man einer von strategisch erfahrenen Feldhauptleuten angeführten Schar von professionell bewaffneten Landsknechten nicht begegnen. So war der Sieg der herrschenden Kräfte vorprogrammiert. Am Ende wurden die Bauern vernichtend geschlagen. Ihre Niederlage war so verheerend, daß sie für lange Zeit politisch nicht mehr in Erscheinung traten. Darin ist wohl der Grund zu sehen, warum Goethe bei der Ausarbeitung der Zweitfassung die revolutionären Vorgänge in einem anderen Licht darstellte. Mit der inhaltlichen Veränderung ging die Auflösung in ein Szenenpaar einher (A:V,2 > B:V,1 und 2). Die Frage stellt sich: Wie kam es zu diesem Eingriff ? Natürlich wußte Goethe, daß Luther eine verbreitete Meinung vertrat, als er die Aktion der Bauern mit den Worten verurteilte: „Drum soll sie hie zuschmeißen, wurgen und stechen, heimlich und offentlich, wer da kann, … gleich als wenn man einen tollen Hund totschlahen muß“113. Wie tolle Hunde treten die Protagonisten der „Bauernkriegs“Szene (B:V,1) nun auch in den beiden neu gestalteten Szenen auf. Metzler läßt sich hier völlig anders vernehmen. Etwa wenn er sagt: „Wir haben sie zusammengestochen, daß es eine Lust war“ oder: „Siehst du wie die Kerls über einander purzelten und quiekten wie die Frösche! Es lief mir so warm über’s Herz wie ein Glas Branntwein“114. Im gleichen Sinne wurde der Bericht über die unmenschliche Bestrafung der Wilddiebe umgepolt zum unmenschlichen Bild einer Treibjagd, bei der die bisherigen Unterdrücker niedergestreckt werden: Da war ein Rixinger, wenn der Kerl sonst auf die Jagd ritt, mit dem Federbusch und weiten Naslöchern, und uns vor sich hertrieb mit den Hunden und wie die Hunde. Ich hatt’ ihn die Zeit nicht gesehen, sein Fratzengesicht fiel mir recht auf. Hasch! Den Spieß ihm zwischen die Rippen, da lag er, streckt’ alle Vier über seine Gesellen. Wie die Hasen bei’m Treibjagen zuckten die Kerls über einander115.

Ersichtlich orientierte sich auch Goethe nunmehr am herrschenden Klassenrecht. Von der berechtigten Opposition der Bauern ist jedenfalls nicht mehr die Rede. Im veränderten Erscheinungsbild macht sie der Wegfall ihres Kampfes um eine gerechte 113 Luther, Martin: Schriften, Bd. 2. Berlin, Weimar 1970, S. 257. 114 WA I.8, S. 140 und 141. 115 WA I.8, S. 141.

42  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

Sache zu reinen Mordbrennern („Mordhunden“, wie es im Text heißt116). Dieser auffallende perspektivische Wechsel erklärt sich aus der Tatsache, daß die Dramenkonstruktion bei der Neubearbeitung im Unterschied zur Erstfassung ausschließlicher auf Götz von Berlichingen zugeschnitten wurde. Goethe wollte kein Drama über die Bauernkriege schreiben, sondern eine dramatische Würdigung des ‚letzten Ritters‘ vorlegen. Fast zwingend ergab sich die vorgenommene Umakzentuierung aus der Verquickung des Götz-Geschehens mit dem Bauernkrieg. Berlichingen wird ja unter Drohungen „zum Hauptmann“ der Aufständischen117. Sein Streben nach Freiheit ist jedoch grundverschieden von den Absichten der Bauern. Das kommt allein in der Zweitfassung direkt zum Ausdruck, weil dort der bestehende Widerspruch dargelegt wird. Götz stellt klare Bedingungen für die Zusammenarbeit. Er will ein sofortiges Ende der Gewalttaten: Warum seid ihr ausgezogen? Eure Rechte und Freiheiten wieder zu erlangen? Was wüthet ihr und verderbt das Land! Wollt ihr abstehen von allen Übelthaten, und handeln als wackre Leute, die wissen was sie wollen; so will ich euch behülflich sein zu euern Forderungen. … Und gelobt mir den Vertrag den ihr mit mir gemacht, schriftlich an alle Haufen zu senden, ihm bei Strafe streng nachzukommen118.

Hingegen ist die Meinung der Aufrührer zwiespältig. Längst nicht allen paßt die Reaktion eines der gemäßigten Anführer: „Das Rasen und Brennen und Morden mußte doch einmal aufhören, heut oder morgen! so haben wir noch einen braven Hauptmann dazu gewonnen“. Mehrheitlich halten sie es darum mit Metzler, der unerbittlich zum Weitermachen auffordert: „Was aufhören? Du Verräther! Warum sind wir da? Uns an unsern Feinden zu rächen, uns empor zu helfen“119. Mit Götzens eidbrüchiger Verstrickung in den Aufruhr wird sein Scheitern unausweichlich. Der Preis für die Konzentration auf die Mittelpunktfigur war indes hoch. Er implizierte eine weitgehende Reduktion der realpolitischen Aspekte. Das wiederum bedeutete den Verzicht auf die Darstellung der berechtigten Forderungen der Bauern. Ihnen wurden nun die pervertierten Sozialbeziehungen hauptsächlich angelastet. Das erklärt sich letzten Endes durch den bürgerlich-vorrevolutionären 116 WA I.8, S. 139. 117 WA I.39, S. 153. Elisabeth, die Frau Berlichingens, spricht das klar aus: „Die Bösewichter sie drohten ihn zu ermorden und sein Schloss zu einem Scheiterhauffen zu machen. … Er hat sich zu Rebellen, Missetätern Mördern gesellt“ (WA I.39, S. 156 und 157). 118 WA I.8, S. 144 und 145. 119 WA I.39, S. 145 f. Die Reduktion der realpolitischen Aspekte  43

Standpunkt Goethes. Ob er allerdings damit der Zielsetzung gerecht werden konnte, seinem Drama „immer mehr historischen und nationalen Gehalt zu geben“, bleibt mehr als fraglich. Sein Götz reagiert eben als Grundherr alten Schlags. Dessen ständisch geprägte Vorstellung von Freiheit läßt sich mit derjenigen der Bauern grundsätzlich nicht vereinbaren. Das unter Zwang herbeigeführte ‚Bündnis‘ war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Insofern hatte die von Goethe vorgenommene Umpolung der ‚Helfenstein-Szene‘ ihre innere Konsequenz. Er schrieb weder ein Geschichtsdrama noch eine Sozialutopie, sondern ein Musterstück zur Wiederbelebung der im Absolutismus unterdrückten Freiheit. Dahinter steckte allemal scharfe Kritik an den deutschen Verhältnissen. Absichtsvoll ließ Goethe in der Erstfassung Kaiser Maximilian I. bitter anklagend sagen: „Teutschland, Teutschland, du siehst einem Moraste ähnlicher als einem schiffbaaren See“120. In der Zweitfassung lautet die kaiserliche Rede dann nur noch resigniert: „wenn ich auf mein vergangenes Leben zurück sehe, möcht’ ich verzagt werden; so viel halbe, so viel verunglückte Unternehmungen! Und das alles, weil kein Fürst im Reich zu klein ist, dem nicht mehr an seinen Grillen gelegen wäre als an meinen Gedanken“121. Zweifellos hat Goethe mit der vereinseitigenden Wiedergabe des Bauernaufstands einen wesentlichen Bestandteil der ursprünglichen Sozialkritik preisgegeben. Immerhin hat er wenigstens die vehemente Ablehnung der auf krassen Partikularinteressen des Fürstenstands beruhenden „Wirtschafts- und Zweckrationalität des aufgeklärten Absolutismus“122 beibehalten und vor allem in unmißverständlich deutenden Bildern festgeschrieben. Die Neufassung des Götz-Dramas war darum immer noch rebellisch genug, um Mißtrauen und Ablehnung manch eines Herrschenden – wie etwa des preußischen Königs – auszulösen.

„Götz von Berlichingen“, eine dramaturgische Revolution Betrachtet man die weithin epigonale deutsche Dramenproduktion im 18. Jahrhundert vor dem Erscheinen von Goethes Schauspiel im Jahre 1773, so sind da eigentlich gerade noch die vollkommen dem französisch-klassizistischen Regelschema folgenden heroischen Tragödien Johann Christoph Gottscheds immerhin als Reformver120 WA I.39, S. 82. 121 WA I.8, S. 80 f. 122 So die Formulierung von Schulte-Sasse (Schulte-Sasse, Jochen: Drama. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution. 1680–1789. Hrsg. v. Rolf Grimminger. Zweiter Teilband. München, Wien 1980, S. 423–499; Zitat: S. 479).

44  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

suche erwähnenswert. Bereits zum Zeitpunkt ihrer Entstehung waren seine Stücke überholt, doch war er dabei allemal ehrlich um eine ernsthafte Bühnenpraxis bemüht. Vorrangig ist sein Verdienst jedoch in der folgenreichen Normierung der Schriftsprache zu sehen. Allein drei Dramen Lessings bilden die große Ausnahme im düsteren Gesamtbild: Das vom Dramatiker Lillo und den empfindsamen Romanen Richardsons beeinflußte bürgerliche Trauerspiel „Miß Sara Sampson“ (1755)123, das Lustspiel „Minna von Barnhelm“ (1767) und ein weiteres bürgerliches Trauerspiel: „Emilia Galotti“ (1772). Doch hatte Lessings reformbewußte Programmatik mehr zu tun mit der Entwicklung des bürgerlichen Selbstbewußtseins als mit innovativen dramaturgischen Konzepten. Bei seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ trieb ihn der leider unerfüllt bleibende Wunsch nach einem Nationaltheater mit einem Repertoire qualitativ überzeugender Stücke, professionell geschulten Schauspielern und einem dafür aufgeschlossenen Publikum. In dramaturgischer Hinsicht lockerte er zwar unter Berufung auf Shakespeare das rigorose Korsett der drei Einheiten ein wenig. Indes schaffte er es damit nicht, eine nachhaltige Befreiung des deutschen Dramas und Theaters von der Formkonvention herbeizuführen. Erst der unter dem Einfluß Herders gänzlich dem Shakespeare-Kult hingegebene junge Goethe brachte es, dank seiner dramatischen Energie und der Eröffnung neuer Ausdruckshorizonte, fertig, mit dem Schauspiel „Götz von Berlichingen“ den Bann des vorherrschenden unproduktiven Epigonentums zu brechen und einer neuen dramaturgischen Formgestaltung den Weg zu ebnen. Was den Traditionalisten regellose Un-Form zu sein schien, war einfach neue, an der Realität orientierte Form. Damit war der Sturm und Drang auf dem Gebiet des Dramas künstlerisch eingeleitet. Ohne diese Schrittmacherdienste hätte sich die ungemein reiche und vielfältige Dramenproduktion der Folgejahre wie überhaupt die Herausbildung der Tradition des Sozialdramas schwerlich entwickeln können. Mit der konsequenten Preisgabe der einengenden drei Einheiten eröffnete Goethe unerwartete Möglichkeiten der Darstellung wie etwa eine unbegrenzte Personenzahl und die ungescheut direkte Einbeziehung der Außenwelt sowie die freie Disposition über Raum und Zeit. Das wiederum bedeutete formal die mosaikartige Montage unterschiedlicher, teilweise voneinander unabhängiger Realitätspartikel und, als Folge davon, den Verzicht auf die einheitliche Verssprache zugunsten von realitätsnahen, die jeweiligen Sprecher charakterisierenden Sprechakten. Es gelang Goethe dabei, eine mögliche Zersplitte123 George Lillos Drama „The London Merchant“ (1751) gilt als Hauptquelle Lessings. Samuel Richardson veröffentlichte nacheinander die erfolgreichen Romane bürgerlicher Tugend „Pamela“ (1740/41) und „Clarissa“ (1747/48). Bestätigung aus Frankreich erfuhr Lessing durch die bürgerlichen Dramen von Denis Diderot: „Le Fils naturel“ (1757) und „Le Père de famille“ (1758). „Götz von Berlichingen“, eine dramaturgische Revolution  45

rung des dramatischen Ablaufs zu verhindern und die verschiedenen Wirklichkeitsausschnitte zu einer faktisch begründeten, spannungsvollen Einheit zusammenzufügen. All diese umwälzenden Neuerungen hat er mit seinem „Götz von Berlichingen“ beispielhaft realisiert. Das bedeutete eine wirkliche Zäsur. Dergestalt wurde durch ihn das Drama zur Schaubühne expressiver Realitätszusammenhänge und scharfer Gesellschaftskritik weiterentwickelt. Was hierdurch für die äußere Bauform und die innere Struktur des Dramas geleistet wurde, hat Schiller in seiner Kritik des „Egmont“ zutreffend mit den folgenden Beobachtungen erfaßt: „Hier ist keine hervorstechende Begebenheit, keine vorwaltende Leidenschaft, keine Verwickelung, kein dramatischer Plan, nichts von dem Allem; – eine bloße Aneinanderstellung mehrerer einzelner Handlungen und Gemählde, die beynahe durch nichts als durch den Charakter zusammengehalten werden … Die Einheit dieses Stücks liegt also weder in den Situationen noch in irgendeiner Leidenschaft, sondern sie liegt in dem Menschen“124. Mit diesen von Schiller kritisch gedachten Anmerkungen lieferte er unbeabsichtigt eine stimmige Charakteristik der offenen Form, wie sie Goethe in diesem Stück erstmals konsequent praktizierte. Gemeint ist damit das dramaturgisch neue Prinzip der Verschränkung verschiedenster Realitätselemente zu einem breit ausholenden dramatischen Erlebnisrahmen mit einer demzufolge besonders ausgeprägten Wirkstruktur. Diese Ausdrucksform entsprach dem leidenschaftlichen, spannungsgeladenen Lebensgefühl der jungen Generation jener Jahre. Goethe traf den Nerv der Zeit. Wie sein innovatives dramaturgisches Konzept funktioniert, soll nun an einigen Beispielen genauer hergeleitet werden. Zunächst muß hierzu auf die prinzipielle Umgestaltung der Dramensprache vom Vers zur Prosa aufmerksam gemacht werden. Das bedeutete die Entscheidung: weg vom abgehobenen, uneigentlichen Sprechen in gebundener Rede, hin zu Dialogen in der Umgangssprache. Aus der von Goethe getroffenen Entscheidung für die Wiedergabe von Wirklichkeitsausschnitten ergab sich zwangsläufig ein solches Umdenken der sprachlichen Ausgestaltung. Das einheitliche Redekontinuum der geschlossenen Form läßt sich mit lebendigem Sprechen nicht gut vereinbaren. Goethe brauchte für sein Stück ‚natürliches‘ Sprechen, das den jeweiligen Rollenträger charakterisiert, ihn für das Publikum zum Leben erweckt. Die Dialoge sollen reale gesellschaftliche Verhältnisse und individuelle Mitteilungs- und Bewußtseinsformen wirklichkeitsnah wiedergeben. Die aus den jeweiligen Augenblickssituationen erwachsenden Sprechakte folgen dem emotionalen Fluß einer eruptiven, zerstückelten, expressiven, jeweils der individuellen psychischen Dynamik entspringenden Diktion. 124 SNA 22, S. 200 („Ueber Egmont“, Rezension für die ‚Jenaische Allgemeine LiteraturZeitung‘, 1788).

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Isolierte Redeteile wie etwa die spontanen Äußerungen Metzlers belegen schlagend das im Stück entwickelte Prinzip unverbundener Reihung. Exemplarisch zeigt das sein kurzer, emphatischer Bericht von der Ermordung des Anführers der Adligen: „Dietrich von Weiler tanzte vor. Der Fratz! Wir waren mit hellem wüthigem Hauf herum, und er oben auf ’m Kirchthurn wollt gütlich mit uns handeln. Paff ! Schoß ihn einer vor’n Kopf. Wir hinauf wie Wetter, und zum Fenster herunter mit dem Kerl“125. Das ist der unstilisierte, rein situationsbedingte Gestus direkter Erlebniskontinuität in der Volkssprache, keine personale Argumentation, sondern unmittelbar, in befriedigtem Nachvollzug atemlos herausgeschleuderte Haß- und Vergeltungsrhetorik. Wir begegnen hier dem für die offene Form grundsätzlich festgestellten „Gebanntsein des Sprechers durch das Nächste und Einzelne“, das keinen „sicheren Überblick über das Ganze“ erlaubt (Volker Klotz)126. Aus kleinsten Partikeln ersteht die schroffe Sprachgebärde einer ausdrucksstarken Aussage, die zum statuarischen Bild einer maßlosen Haßorgie ausgestaltet erscheint. Gleichermaßen sozialbedingt verschieden sind ebenso bestimmte dialogische Partien, in denen, fernab jeglicher Exposition, an die Stelle eines Gesprächszusammenhangs persönlich befangene Sprechbereiche treten. Solch einem diffusen Sprechakt, der völlig der momentanen Befindlichkeit eines der Sprecher entstammt, begegnen wir etwa in den folgenden beiden Zeilen eines Rollendialogs zwischen Götz und einem gegnerischen Knecht. Es heißt da lapidar: „Halt Kerl, oder du bist des Todes!“ – „Schont meines Lebens!“127 Zwar handelt es sich dabei um Anrede und Replik. Die reagierende Antwort aus nur drei Worten ist jedoch rein psychologisch vom Ich des Knechts her bedingt als hilfloses Angstsignal. Zugespitzt führt das bis zur fast zerstückelten Rede. Wenn etwa Götz den befreundeten Selbitz dazu auffordert: „Wir wollen fort! Und soll die Hasenjagd angehn!“128 Eine derartige Textgestaltung in Satzpartikeln treibt das dialogische Verfahren an eine Grenze, weil das Wort weniger kommunikative, sondern fast nur noch gestische Bedeutung hat. Ergänzt wird die häufige Diskontinuität der Rede durch ebenso häufige abrupte Szenenschnitte. Die dramaturgische Konstruktion ist nicht mehr ganzheitlich, dafür jedoch breiter und variabler angelegt. Das Kontinuum knapp bemessener Realitätssplitter führt beispielsweise im dritten Akt der Erstfassung wie auch in der Druckfassung von 1773 dazu, daß 12 der 22 Szenen weniger als eine Seite ausmachen. Die „Lager“-Szene im dritten Akt (B:III,16, A:III,17) besteht sogar aus bloß 5 Zeilen. Derartig ausschnitthafte Kurzszenen führen zu permanenten Zäsuren in Gestalt von 125 126 127 128

WA I.8, S. 140. Klotz, S. 234. WA I.8, S. 95. WA I.8, S. 97. „Götz von Berlichingen“, eine dramaturgische Revolution  47

Ortswechseln und Zeitsprüngen, ebenso erleichtern sie die Erweiterung des Figurenensembles. Diese komplexe Entwicklung zur Wiedergabe eines wirklichkeitsnahen, aber lediglich andeutenden Handlungszusammenhangs erfordert, ganz im Sinne der vom Autor vertretenen Autonomieforderung, verstärkt den aktiven Mitvollzug des Publikums. Das bedeutet den radikalen Bruch mit der konventionellen, normierten Ästhetik und ihrer zielstrebigen Handlungsführung und Sprachlenkung. Gewonnen wird hierdurch ein erweiterter Erlebnisbereich und damit, dank der an der geschichtlichen Wirklichkeit orientierten dramatischen Gestaltung, ein Zuwachs an realhistorischer Erkenntnis der gesellschaftlichen Lage. Wenigstens tendenziell wird somit durch die auktorial vorgegebene aktivierende Kommunikationsstruktur die Trennung von Leben und Kunst aufgehoben. Dieser neue dramaturgische Akzent erscheint vor allem am Schluß des Stückes besonders ausgeprägt. Nach dem Tod Berlichingens mit den letzten Worten seiner unrealistischen Freiheitsutopie („Himmlische Luft – Freiheit! Freiheit!“129) werden drei Reaktionen der ihn umgebenden Personen angefügt. Seine Frau Elisabeth argumentiert situationsbezogen. Sie knüpft direkt an die hoffnungsvolle Bekundung ihres Mannes an. Indem sie aber die Freiheitserwartung vom Diesseits ins Jenseits verlagert, erklärt sie insgeheim eine Lösung des gesellschaftlichen Konflikts unter den herrschenden Verhältnissen für unmöglich („Nur droben, droben bei dir. Die Welt ist ein Gefängniß“). Ungewollt wird dadurch Götzens Schlußwort als Selbsttäuschung entlarvt. Hatte er doch kurz zuvor noch Klage geführt über die kommenden „Zeiten des Betrugs“. Seine letzte Äußerung hat insofern mehr mit einer Wahnvorstellung als mit „Verklärung und Versöhnlichkeit“ zu tun, wie ein Interpret irrtümlich meinte130. – Maria, die Schwester, findet hingegen höchst lobende Worte für ihren Bruder. Völlig im Sinne von Goethes erster Verlautbarung im Brief an Salzmann, er „dramatisire die Geschichte eines der edelsten Deutschen“, bekundet sie uneingeschränkte Anerkennung für den Selbsthelfer („Edler Mann! Edler Mann! Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß!“). Hier artikuliert sich die Begeisterung über ein großes Individuum als ein Muster möglicher Selbstbestimmung des Menschen. Das vermittelte Idealbild sorgte für die ungeheure Durchschlagskraft des Stückes bei den Zeitgenossen. Diese Position wird dann noch abschließend untermauert durch 129 WA I.8, S. 169. 130 Martini, Fritz: Goethes ‚Götz von Berlichingen‘. Charakterdrama und Gesellschaftsdrama. In: Ingen, Ferdinand van, u. a. (Hrsg.): Dichter und Leser. Studien zur Literatur. Groningen 1972, S.  28–46; Zitat: S.  42. Vergleichbar spricht Graham von der „Reife und Abgeklärtheit“ Götzens (Graham, Ilse A.: Vom Urgötz zum Götz. Neufassung oder Neuschöpfung? Ein Versuch morphologischer Kritik. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. 9. Jg., Stuttgart 1965, S. 245–282; Zitat: S. 271).

48  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

den die Zukunftsebene einbeziehenden Zusatz mit dem Wort des getreuen Lerse: „Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!“ Die das Ende des Ganzen bildende Warnung erscheint als vom Autor unmittelbar an alle zukünftigen Rezipienten gerichtet. Sie enthält nämlich die unausgesprochene Forderung, das herrschende „Gefängniß“ in ein Reich der Freiheit umzuwandeln. Eindeutig ist der Appell direkt an das Publikum kommender Zeiten gerichtet. – Damit sieht sich der Zuschauer oder Leser mit zwei Möglichkeiten konfrontiert, die Götz-Figur zu sehen: als scheiternden Utopisten oder als Vorkämpfer der Freiheit. Jeder Besucher einer Aufführung, jeder Leser des Dramas muß danach für sich selbst entscheiden, welche der beiden Reaktionen er bevorzugt. Überdies kann er natürlich beide verwerfen und seinen eigenen Standpunkt dagegensetzen. Jedenfalls kann daraus gefolgert werden: Mit „Götz von Berlichingen“ beginnt im Drama die das Publikum verstärkt einbeziehende kooperative Ästhetik. Dieser bedeutsame Schritt hat viel zu tun mit der Grundforderung des Autors einer notwendigen menschlichen Steigerung auf der Grundlage produktiver Einbildungskraft und selbstbewußter Gestaltung des individuellen Lebens. Besonders bezeichnend für das von Goethe entwickelte dramaturgische Verfahren ist eine weithin verselbständigte Szene im dritten Akt, die Szene „Wald an einem Morast“131. Bedauerlicherweise wird sie in vielen Inszenierungen kurzerhand weggelassen. Unvermittelt treffen da „zwei Reichsknechte“132 aus der nach der Achterklärung Götzens aufgebotenen kaiserlichen Exekutionstruppe aufeinander. Sie begegnen sich zufällig, weil der eine den Auftrag hat, Proviant zu beschaffen, der andere desertieren will. Ehe sie es mit Götz und seinem Aufgebot zu tun bekommen, ergibt sich der folgende, höchst aufschlußreiche Dialog: Erster Knecht: Was machst du hier? Zweiter Knecht: Ich hab’ Urlaub gebeten meine Nothdurft zu verrichten. Seit dem blinden Lärmen gestern Abends ist mir’s in die Gedärme geschlagen, daß ich alle Augenblicke vom Pferd muß. Erster Knecht: Hält der Trupp hier in der Nähe? Zweiter Knecht: Wohl eine Stunde den Wald hinauf. Erster Knecht: Wie verläufst du dich denn hierher? Zweiter Knecht: Ich bitte dich verrath mich nicht. Ich will auf ’s nächste Dorf, und sehn ob ich nit mit warmen Überschlägen meinem Übel abhelfen kann. Wo kommst du her? Erster Knecht: Vom nächsten Dorf. Ich hab’ meinem Offizier Wein und Brot geholt.

131 WA I.8, S. 94 f. (B:III,7) sowie WA I.39, S. 94 ff. (A:III,8). 132 ‚Reichsknechte‘ sind Landsknechte, im Dienst des Kaisers angeworbene Söldner. „Götz von Berlichingen“, eine dramaturgische Revolution  49

Zweiter Knecht: So, er thut sich was zu Gut vor unserm Angesicht, und wir sollen fasten! Schön Exempel! Erster Knecht: Komm mit zurück, Schurke. Zweiter Knecht: Wär’ ich ein Narr! Es sind noch viele unter’m Haufen, die gern fasteten, wenn sie so weit davon wären als ich. Erster Knecht: Hörst du! Pferde! Zweiter Knecht: O weh! Erster Knecht: Ich klettere auf den Baum. Zweiter Knecht: Ich steck mich in’s Rohr. (Götz, Lerse, Georg, Knechte zu Pferde) … (Sie ziehen vorbei.) Erster Knecht (steigt vom Baum): Da ist nicht gut sein. Michel! Er antwortet nicht! Michel! Sie sind fort! (Er geht nach dem Sumpf.) Michel! O weh er ist versunken. Michel! Er hört mich nicht, er ist erstickt. Bist doch krepirt, du Memme. – Wir sind geschlagen. Feinde, überall Feinde!

Die Frage stellt sich: Was ist dem kurzen, jedoch spannungsgeladenen Vorgangsfetzen zu entnehmen? Innerhalb der vielfach gebrochenen Szenenflut treffen wir auf diesen eigenartigen dialogischen Ausschnitt, der mit dem Charakterdrama um Götz wenig zu tun zu haben scheint, sondern vielmehr Einblick gibt in die Abgründe zwischen den Menschen am Beispiel der absurden Situation zweier zur Beteiligung am Kampf gezwungener Söldner, die vergeblich versuchen ihre Haut zu retten. Erkennbar betreibt Goethe hier aggressive Zeit- und Gesellschaftskritik. Der erste Knecht will sich dem mörderischen Geschehen durch Flucht entziehen und findet ein plötzliches Ende im Sumpf. Der zweite Knecht will zwar die übernommene soldatische Aufgabe erfüllen, muß aber erkennen, daß er in ein absolut zerstörerisches Getriebe geraten ist. An beiden zeigt sich das sinnentfremdete Bild einer Wirklichkeit schroffer Dissonanz. Überlegt trägt der Autor bei der Dialoggestaltung der sozialen Zugehörigkeit beider Sprecher Rechnung. Ihre inhaltlich gegenläufigen Aussagen werden in der unmündigen Sprachhaltung oder besser Sprachnot der Unterschicht gehalten. Es sind ruckartig aufeinanderfolgende Sprechpartien mit stellenweise unbeendet bleibenden Sätzen. Eine damals ungewohnte Realitätsnähe zeichnet dieses Gestaltungsverfahren aus. Der kommentarlos vorgeführte Ablauf erfaßt demonstrativ die zerfallene Ordnung einer heillosen Welt, in der jeder instinktiv nur an sich denkt. Genau erfaßt das Sprachbild die katastrophale geistige und materielle Lage pauperisierter Menschen. Der scheinbar handlungsgemäß nicht zugehörige Text erweist sich bei genauerer Betrachtung als wichtiger komplementärer Angelpunkt der Dramenkonstruktion. Im Partikularleiden der Knechte spiegelt sich generelles Leiden in einem chaotischen sozialen Zwangszustand. Der dadurch offenbarte prinzipielle gesellschaftliche Defekt zeigt eine kollektivierende Entspre50  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

chung zum Scheitern des Titelhelden auf. In unerhörter Dichte breitet sich im isolierten szenischen Ausschnitt vor dem Publikum eine ganze Skala der Verhaltensmuster unselbständiger, unterprivilegierter Menschen aus. Die Mischung aus Angst, Verzweiflung, Haß, Lüge, Gemeinheit, Niedertracht und Hohn gibt dem Momentbild eine die pervertierte, beziehungslose Gesellschaftssituation entlarvende Aussagekraft. So wird sie zur Parabel einer absurden Weltlage. Abermals ist die strategisch ausgerichtete Kommunikationsstruktur der zum Zuschauer oder Leser hin offenen Form zu vermerken. Ein heutiger Leser kann sich unschwer einen Zusammenhang dieses beklemmenden theatralischen Schlaglichts zu den atmosphärisch symbolgeladenen Szenen in Dramen Büchners133 bis hin zu Brecht, Beckett oder Heiner Müller vorstellen. Natürlich finden sich im Stück ebenso Dialoge aus elaborierten Redepartien in wohlgefügter Abfolge. Insbesondere die berechnenden Äußerungen Adelheids weisen dieses selbstgewisse, raffiniert zurückgenommene Argumentationspathos auf. Deshalb beherrscht die eiskalte Machtfanatikerin bis kurz vor ihrem Ende durch „Strang und Schwert“134 souverän den Part der Gewinnerin in dem von ihr bestimmten Spiel der Rededuelle. Bezeichnend hierfür ist etwa die Szene, in der sie den erotisch von ihr abhängigen Weislingen für sich gewinnt und damit dessen Treubruch gegenüber Berlichingen herbeiführt. Weiß sie doch, daß ihre sinnliche Ausstrahlung den Gesprächspartner aus der Fassung bringt. Geschickt verbrämt sie ihr rein egoistisches Geltungsbedürfnis mit der rationalen, zielgerichteten Argumentation, Weislingen sei „historisch objektiv im Recht“135, wenn er sich von Götz abwende und dadurch seine Treue zum Kaiser bezeuge. Dazu die entscheidende Textpartie der intriganten Schönen, mit der sie den Angesprochenen wohlkalkuliert auffordert, sich zu entscheiden: … Was habt ihr versprochen? Und wem? Einem Mann, der seine Pflicht gegen den Kaiser und das Reich verkennt, in eben dem Augenblick Pflicht zu leisten, da er durch eure Gefangennehmung in die Strafe der Acht verfällt. Pflicht zu leisten! Die nicht gültiger sein kann als ungerechter gezwungener Eid. Entbinden nicht unsere Gesetze von solchen Schwüren? Macht das Kindern weiß, die den Rübezahl glauben. Es stecken andere 133 Baumann hat wohl zuerst auf den Zusammenhang zwischen dem jungen Goethe und Büchner hingewiesen. Bei beiden vergegenwärtigen sich, seiner Auffassung nach, die szenischen Begebenheiten „unter Verzicht auf jegliche geistige und logische Vermittlung … ausdrucksunmittelbar“ (Baumann, Gerhart: Georg Büchner. Die dramatische Ausdruckswelt. Göttingen 1961, S. 213). 134 WA I.8, S. 163 f. (A:V,15: anderer Schluß; B:V,11). 135 So Huyssen, a.a.O., (Anm. 51), S. 154. „Götz von Berlichingen“, eine dramaturgische Revolution  51

Sachen dahinter. Ein Feind des Reichs zu werden, ein Feind der bürgerlichen Ruh und Glückseligkeit! Ein Feind des Kaisers! Geselle eines Räubers! du, Weislingen, mit deiner sanften Seele! … Geh und bilde dir ein, Geselle von ihm zu sein. Geh! und laß dich beherrschen. … du wirst ein Sklave eines Edelmanns werden, da du Herr von Fürsten sein könntest. … Lebt wohl136.

Eindeutig ist mit dieser aggressiven Rede ein Entscheidungszwang verbunden. Das schlüssige syntaktische Register eines gedanklich abgerundeten, kontinuierlich deduktiv angelegten Satzgefüges kommt überzeugend zum Tragen. Mit dem überlegenen, suggestiven Sprachfluß der massiv gebündelten Argumentationskette liefert Adelheid die willkommenen Vorgaben für Weislingens Gesinnungsänderung. Ihr emphatisch fragendes und dringlich aufrufendes Sprechen ist charakteristischer Teil ihres skrupellosen, selbstsicheren Auftretens. Goethe trifft genau ihren Verhaltensgestus im gesellschaftlichen Kontext, wie überhaupt die stimmige Vielfalt der Sprachebenen des gesamten Personals im Stück hervorgehoben werden muß. Ungeachtet ihrer Position in der Gesellschaft erscheinen jedoch alle Auftretenden als Gefangene ihrer jeweiligen Lebenssituation. Gleichfalls bezeichnend für die erweiterte Formgestaltung ist es, daß auch ein Lied in die dramatische Konstruktion eingefügt wird. Goethe ließ sich dieses atmosphärisch-metaphorisch aussagekräftige Zeichen aus dem Alltagsleben der Menschen nicht entgehen. In der belagerten Burg Götzens singt im dritten Akt der Bube Georg das Lied vom Vogel, der aus dem Käfig fliegt, vor sich hin. Die auffallende Analogie zur Situation der Belagerten liegt auf der Hand. Spürbar treibt den Jungen die unausgesprochene Hoffnung, dem Eingeschlossensein entrinnen zu können. Geradezu kommentierend stimmt er sein anspruchsloses Liedchen an, das mehr an lustige Bänkelsängertöne als an Volksliedidylle gemahnt. Hier der Wortlaut: Es fing ein Knab ein Vögelein. Hm! Hm! Da lacht er in den Käfig ‘nein. Hm! Hm! So! So! Hm! Hm! Der freut sich traun so läppisch, Hm! Hm! Und griff hinein so täppisch, 136 WA I.8, S. 66 f. (II,6).

52  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

Hm! Hm! So! So! Hm! Hm! Da flog das Meislein auf ein Haus Hm! Hm! Und lacht den dummen Buben aus. Hm! Hm! So! So! Hm! Hm! 137

Überraschenderweise haben die Interpreten das Lied bisher so gut wie gar nicht beachtet. Auch viele Regisseure ließen sich diese besondere Gelegenheit entgehen, die dramaturgisch gebotene Chance direkterer Kommunikation mit dem Publikum zu nutzen. Offenbar wirkt der Text auf viele als bloß beiläufige oder gar unnötige Zutat. Dabei geht die symbolische Verklammerung des Liedes mit der dramatischen Handlung verloren. Denn das scheinbar harmlose Lied ‚hat es in sich‘. Vom Kontext her erweist es sich als eine wichtige Stütze für die Wirkungsabsicht des Autors, kritisches Nachdenken auszulösen. Das zentrale Bild des sich aus dem Käfig befreienden Vogels wurde vom Autor keinesfalls beliebig gewählt, sondern gezielt in der Mitte des Textes plaziert. Denn in der Vogel-Metapher steckt ein hintergründig zündender Witz mit einer klaren sozialen Funktion. Insgeheim besteht nämlich eine thematische Verbindung zwischen dem Käfig des Vogels und der Darstellung schockierender Unfreiheit im „Gefängnis“138 der herrschenden Gesellschaftslage, wie sie im Stück durchgängig Ausdruck findet. Erkennbar symbolisiert der sich befreiende Vogel mithin den revolutionären Impuls, der nötig wäre, um die allfälligen gesellschaftlichen Umwälzungen herbeizuführen. Insofern macht das ironische Lied als szenisches Muster öffentlich bewußt, was im Deutschland der Feudalherren hätte geschehen müssen. Hierzulande war das in den Jahren vor der Französischen Revolution eine der wenigen und beschränkt bleibenden literarischen Möglichkeiten, um den unerträglichen Zustand der Gesellschaft anzuprangern. In herkömmlicher dramatischer Technik wäre das kaum möglich gewesen. Allein der erweiterte Spielraum der neuen Dramaturgie erlaubte diese harmlos daherkommende Präsentation eines sozialen Traums, der die bestehende gesellschaftliche Unordnung in ihrer Fragwürdigkeit bloßstellt. Die anregende Wirkkraft der drei einfachen Strophen Georgs überträgt sich, rhythmisch gesungen im Takt der hart gefügten Jamben, direkt auf 137 WA I.8, S. 116 f. (B:III,21); ebenso: WA I.39, S. 118 (A:III,21). 138 So die stimmige Bezeichnung der Gesellschaftssituation durch Elisabeth: WA I.8, S. 169. „Götz von Berlichingen“, eine dramaturgische Revolution  53

das Publikum. Hauptsächlich der vielsagend verkürzte Refrain unterstützt die kommunikative Initialzündung, macht sie zu einer ironisch vorgenommenen Horizont­ erweiterung. Die wenigen gewählten Beispiele zeigen hinreichend, welches kommunikative Potential Goethe mit den neuen dramaturgischen Möglichkeiten gestalterisch erschlossen hat. Die weitgehende Ablösung des strengen Baus der konventionellen Aktestücke durch die aneinandergereihte Folge von Einzelszenen in „Götz von Berlichingen“ ermöglicht eine umfassendere Einbeziehung verschiedenster Elemente der Wirklichkeit und dadurch die spannungsvolle Verbindung komplementärer Handlungsteile und Ausdrucksmittel. Das gibt dem Text seine gesellschaftliche Breite und Tiefe. Weniger die „kraftvolle, selbständige, unverbildete Persönlichkeit“139 und noch weniger die zweifelhafte Freiheits-Utopie des Ritters Götz macht für uns Heutige den Wert dieses Dramas aus, sondern in erster Linie die kritische Befragung der abgebildeten Realität mit Hilfe der neuen Dramaturgie und ihrer radikalen Öffnung der Formgestaltung. Was Bertolt Brecht am „Urfaust“ so schätzte, er habe als „eine Art Jungbrunnen für das deutsche Theater“ gewirkt140, gilt angesichts der damaligen Gesellschaftssituation in weit höherem Maße für Goethes erstes großes Drama. Er hat nämlich damit einer qualitativ und quantitativ überzeugenden Dramenproduktion in deutscher Sprache den Weg geebnet. Deshalb liegt in der ausgelösten produktiv-anregenden Wirkung vorrangig die literaturgeschichtliche Bedeutung dieses historischen Schauspiels. Es ist darum nicht verwunderlich, daß „Götz von Berlichingen“ auch im Ausland nachhaltige Resonanz gefunden hat. Zeitlich zuerst ist hier die 1799 erschienene Übersetzung ins Englische durch Walter Scott zu nennen, die er in der Folge für die Arbeit an den eigenen historischen Romanen fruchtbar machen konnte. Speziell die dramaturgische Revolution übertrug sich durch die zustimmende Reaktion Germaine de Staëls in ihrem Buch „Über Deutschland“ („De l’Allemagne“, 1810) ebenso auf Frankreich, wo noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Formkonvention der Einheit von Ort, Zeit und Handlung als unabdingbares Muster galt. Ihre Bemerkung, daß „Goethes Genie sich nicht in den für das Theater geltenden Grenzen halten könne“141, weckte breites Interesse in den literarischen Kreisen des Nachbarlandes. Als dann 1826 die französische Übersetzung von Dramen Goethes in vier Bänden durch den seit 1803 in Paris lebenden Schweizer Philipp Albert Stapfer erschien, war darunter 139 Keller IV, S. 154 (Das Drama Goethes). 140 Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Bd. 6. Frankfurt/M. 1964, S. 330. 141 Madame de Staël: Über Deutschland. Vollständige Ausgabe nach der deutschen Erstübertragung von 1814. Hrsg. v. Monika Bosse (= it 623). Frankfurt/M. 1985, S. 323 („Götz von Berlichingen und Egmont“).

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auch „Götz von Berlichingen“. Im Jahr darauf, 1827, schrieb Victor Hugo das „Vorwort zu Cromwell“ („Préface de Cromwell“). Das darin von ihm verfochtene Programm prinzipieller Ablehnung der klassizistischen Regeldramatik wurde zum Manifest der romantischen Bewegung in Frankreich. Es ist bekanntermaßen stark von Shakespeare geprägt142, steht jedoch ebenso unter dem Eindruck von Goethes Geschichtsdrama. Mit gutem Grund hat Alfred Mézières, Mitglied der Académie Française, in seinem bemerkenswerten Goethe-Buch von 1872 darauf aufmerksam gemacht. Er betonte: „Von ‚Götz von Berlichingen‘ und nicht von Shakespeare kommt, wie man nicht vergessen sollte, das historische Drama zu uns“143. Goethe war sich darüber völlig im klaren. Zu Eckermann sagte er in diesem Zusammenhang 1830: „Der Keim der historischen Stücke, die bei ihnen [den Franzosen] jetzt etwas Neues sind, findet sich schon seit einem halben Jahrhundert in meinem ‚Götz‘“144. Natürlich registrierte er befriedigt, daß sein dramatischer Jugendstreich nun auch noch jenseits des Rheins Einfluß ausübte. Er selbst hatte allerdings zu jener Zeit die Dramaturgie seiner Anfänge schon lange hinter sich gelassen.

Produktive Rezeption der neuen Dramaturgie oder Die weitere Entwicklung in der Frankfurter Zeit: „Urfaust“, „Prometheus“Fragment, „Clavigo“, „Stella“, „Egmont“ Goethes dramaturgische Methode, die er mit „Götz von Berlichingen“ einführte, löste rasch ein gründlich gewandeltes Gattungsverständnis aus. Die meisten der in der unmittelbaren Folgezeit entstandenen Stücke übernahmen sein Gestaltungsverfahren und entwickelten es auf ihre Weise weiter. So erklärt sich, daß in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts geradezu von der Theatralisierung einer ganzen Periode der deutschen Literatur gesprochen werden kann. Hinlänglich belegen das die schon in der Einleitung erwähnten Autoren des Sturms und Drangs (Leisewitz, Klinger, Lenz, H. L. Wagner und Schiller in seinen Anfängen, um nur sie zu nennen). Wie der Initiator Goethe richteten die Schriftstellerkollegen ebenso den Blick auf die problematischen Verhältnisse der Gesellschaft. Wenn Jakob Michael Reinhold Lenz für das Drama forderte, „Gemälde der menschlichen Gesellschaft“ vorzustellen, und dazu ergänzend bemerkte: „wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend

142 Maßgeblich dafür war die 1823 bis 1825 erschienene Streitschrift Stendhals (d.i. MarieHenri Beyle), „Racine et Shakespeare“. 143 Mézières, Alfred: W. Goethe. Les œuvres expliquées par la vie. Paris 1872, S. 95. 144 Zu Eckermann am 6.3.1830 (zit. n.: MA 19, S. 651). Produktive Rezeption der neuen Dramaturgie  55

werden“145, so waren fraglos die korrumpierten zwischenmenschlichen Beziehungen in der damaligen deutschen Wirklichkeit gemeint. Die damit programmatisch erhobene Forderung kritischer Distanznahme fand vielfache Anwendung. So zu verfahren setzte indes die Übernahme der mit der neuen Dramaturgie gegebenen Techniken voraus. Allesamt verfolgten diese Dramatiker das gleiche Ziel, sich mit ihren an der bestehenden Realität orientierten Stücken dem Publikum anzunähern, es herauszufordern. Die dabei gebrauchten szenisch-theatralischen, visuell und akustisch, sensorisch und intellektuell wirkenden Mittel lassen unschwer die Anregung durch die Vorgaben Goethes erkennen. Es ist nicht zuviel gesagt, in der Dramenproduktion jener Jahre Sekundärwirkungen des „Götz“-Dramas zu sehen. Auch Goethe selbst setzte eine ganze Weile den einmal eingeschlagenen dramaturgischen Weg fort. Die noch in den Frankfurter Jahren begonnene Arbeit an verschiedenen dramatischen Versuchen bewegte sich durchweg in Auseinandersetzung mit der im „Götz“ angewandten Dramaturgie. Freilich blieb er dabei stets der streng sich selbst prüfende Experimentator. Davon zeugen einerseits die zahlreichen Fragmente, andererseits die vielen Umarbeitungen. Er ließ sich Zeit bei seinem Tun. Völlig zu Recht streute er in die später verfaßten Lebenserinnerungen die Bemerkung ein, er habe: „bei einer jeden neuen Arbeit … immer von vorne tasten und versuchen“ müssen146. Dabei gehörte der jeweiligen Formgebung seine besondere Aufmerksamkeit. Zeitweise simultan, jedenfalls aber kurz hintereinander arbeitete er an sehr unterschiedlichen Projekten. Ein guter Teil davon – „Mahomet“, „Sokrates“ und „Der ewige Jude“ – blieb in ersten Ansätzen stecken. Die Spannweite der zu jener Zeit von ihm bearbeiteten, zum Teil auch ausgearbeiteten Themen reicht von Prometheus und Faust über „das Memoire des Beaumarchais gegen Clavigo“147 und „Stella“ bis zu Egmont. Ganz zu schweigen von Nebenwerken wie den Singspielen, Farcen, Schwänken, Satiren und Hanswurstiaden, die in dramaturgischer Hinsicht, einmal abgesehen von den Singspielen, eher einen Rückgriff auf konventionelle Ausdrucksformen darstellen148. Zwangsläufig ergaben sich dabei beträchtliche Unterschiede im dramaturgischen Verfahren. Ohne Übertreibung kann indes von einer wahren Dramenflut in Goethes damaligem Schaffen gesprochen werden.

145 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Rezension des Neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt. In: Werke, a.a.O. (s. Anm. 38), S. 703. 146 WA I.28, S. 312 (Dichtung und Wahrheit, III,15). 147 WA I.28, S. 346 (Dichtung und Wahrheit, III,15). 148 Zwischen 1773 und 1775 entstanden 10 Farcen, Schwänke und Satiren sowie 3 Singspiele.

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Wenigstens kurz sei schon an dieser Stelle auf den „Urfaust“ eingegangen, zumal der Autor mit diesem dramatischen Ansatz den Grundstein für das Hauptwerk seines Lebens legte. Goethe arbeitete an der frühen Fassung schubweise in der Zeit von 1772 bis kurz vor der Übersiedlung nach Weimar. Dort fand im November 1775 eine erste Lesung vor der Hofgesellschaft statt. Die Hofdame von Herzogin Anna Amalia, Luise von Göchhausen, fertigte glücklicherweise bald danach eine Abschrift an, die Erich Schmidt 1887 in deren Nachlaß entdeckte und alsbald veröffentlichte. Dadurch haben wir genauere Kenntnis von dieser Keimzelle der Faust-Dichtung, dem sogenannten ‚Frankfurter Faust‘. Goethe hat von Beginn an die Dramenkonstruktion erweiternd so angelegt, daß ergänzend zu den Vorgaben der „Puppenspielfabel“149 mit Gelehrtentragödie und Teufelspakt die Gretchentragödie hinzukam. Weit mehr noch als das Geschehen um Götz von Berlichingen erlaubte die Fausthandlung die exemplarische Präsentation der unbedingten Selbstentfaltung eines titanischen Individuums. Fausts empirischer und sinnlicher Erkenntnisdrang kennt keine Grenzen. Freilich erforderte deswegen die theatralische Umsetzung dieser Gegebenheiten und ihrer transzendierenden Implikationen, wie Magie und Teufelsbund und damit der Erscheinung des Erdgeists und des Mephistopheles, eine noch stärkere Auflösung der realen Handlungseinheit. Immerhin ergab sich so, wie Albrecht Schöne betonte, „eine kühne, balladeske Bildreihe“, ein „auf freistehenden Szenenpfeilern errichtetes Stationenstück“150. Der Stückeschreiber Brecht sah in dieser stark gerafften, andeutenden Dramaturgie „eine wunderbare Skizzenform“151. Von vornherein zeichnete sich indes ab, daß die ‚kleine Welt‘ um das Gelehrtenzimmer und Gretchens Häuschen den anvisierten thematischen Dimensionen nicht genügen konnte, weil, wie richtig bemerkt wurde, dem „Urfaust“-Status „die Schlüssigkeit des Abgeschlossenen fehlt“152. Die Szenenfolge erscheint lückenhaft, der Schluß ist völlig offen, die Ausgestaltung in Versen uneinheitlich. Allerdings sind die Metren – vor allem Knittelvers, Madrigalvers, Alexandriner und vers commun – dem jeweiligen Handlungszusammenhang angepaßt. Am Ende der beiden Handlungsschwerpunkte – Gelehrtentragödie und Gretchentragödie – geht der Dialog gezielt in grelle Prosapartien über (Auerbachs Keller sowie die Schlußszenen). Hinter alledem spürt man das Bedürfnis, der Nüchternheit der offenen Form in der „Götz“-Manier ästhetischen Mehrwert zu verleihen. Hierfür mußte die bloße Abbildungsfunktion der Dramaturgie aufgebrochen werden. Jedenfalls sind die angedeuteten Befunde Indizien dafür, daß eine zu eng an der äußeren Realität orientierte 149 150 151 152

WA I.27, S. 321 (Dichtung und Wahrheit, II,10). Schöne 2, S. 828. Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Bd.  6. Frankfurt/M. 1964, S. 328. Keller IV, S. 312 (Goethes ‚Urfaust‘ – historisch betrachtet). Produktive Rezeption der neuen Dramaturgie  57

Öffnung der Darstellungsmittel dem komplexen Vorhaben der Faustdichtung nicht beikommen konnte. So erklärt sich im übrigen auch, warum Goethe erst gegen Ende der italienischen Reise, also nach einer mehr als zwölfjährigen Pause, die Arbeit an dem Torso wieder aufnahm. Andere Probleme ergaben sich wiederum bei dem im Sommer 1773 unternommenen Versuch, ein Drama über Prometheus zu verfassen. Jener Titan, der den Menschen das Feuer brachte und dafür von Zeus zu ewiger Qual an den Kaukasus angeschmiedet wurde, gehörte mit Götz, Faust, Egmont, Caesar und anderen zum Stammpersonal von Goethes Sturm-und-Drang-Revolte. Er sah in Prometheus den symbolischen Repräsentanten menschlicher Emanzipation. Davon ist allein die flammende Anklage in der gleichnamigen Hymne bekannt geworden, die als Monolog den dritten Akt des Dramas eröffnen sollte. Heute gehört wenigstens dieses Gedicht aus dem aufgegebenen Dramenprojekt zum Kanon des Deutschunterrichts. Das vom Autor mit „heilig glühendem Herzen“ (V. 34) angegangene Thema von Selbstkonzentration und Selbstermächtigung durch die trotzige Radikalopposition eines einzelnen gegen die willkürliche „Obergewalt“153 drängte förmlich dazu, einen feierlich hohen, hymnischen Ton anzuschlagen. Deswegen entschied sich Goethe dazu, den Text in der gemessenen Bewegung freier Rhythmen auszuarbeiten. Demzufolge gestaltete er die dramatische Rede nach dem Schema offener, auf Verszeilen verteilter, nach Klang und Rhythmus besonders akzentuierter Satzfiguren. Zwei Akte wurden fertiggestellt, dann geriet die Arbeit ins Stocken und blieb liegen. Der Grund dafür ist sicher darin zu suchen, daß dem Ganzen eine ausgeprägte Handlung fehlte. So kam lediglich eine lose Folge kurzer Szenen zustande, deren „stilisierte Strenge“154 jeder dramatischtheatralischen Entfaltung entgegenwirkte. Die eigentlich beabsichtigte Wucht der Aussage beschränkte sich mithin auf den erwähnten Monolog des „Prometheus“Fragments. Glücklicherweise blieb er als Inbegriff eines tief menschlichen Protests gegen das auferlegte Schicksal im Gedicht erhalten. Aus der vom Autor angestrebten theatralischen Variante zur faustischen Entgrenzung ist jedoch leider nichts geworden. Worauf das zurückzuführen ist, kann kaum vom konfliktgeladenen Thema hergeleitet werden. Eher dürfte das Scheitern darauf beruhen, daß die gewählte tektonische Formgestalt ohne wirklichen Gegenspieler mit der im Schauspiel um „Götz“ gefundenen empirisch-konkreten Dramaturgie offener Form nicht zu vereinbaren war. Das gescheiterte Experiment zeigt aber immerhin, daß der Dramatiker auf der Suche nach neuen Wegen war.

153 WA I.28, S. 347 (Dichtung und Wahrheit, III,15). 154 So Kayser (HA 4, S. 523).

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Ein wesentlicher Teil von Goethes damaligem dramaturgischem Suchen ist ebenso das Trauerspiel „Clavigo“. Im Frühjahr 1774 entdeckte er die gerade erschienenen Erinnerungen von Beaumarchais155. Darin fand er dessen Bericht über den treulosen Clavijo, einen ehrgeizigen Schriftsteller, der des erhofften Aufstiegs in der höfischen Gesellschaft wegen zweimal sein Heiratsversprechen gegenüber Marie Beaumarchais, der Schwester des Chronisten, brach. Die wahre Begebenheit aus dem Jahr 1764 weckte in Goethe die Erinnerung an seine Weislingen-Gestalt mit ihren sehr persönlichen Implikationen, so daß er später sagen konnte, „schon beim ersten und zweiten Lesen“ sei ihm „der Gegenstand dramatisch, ja theatralisch vorgekommen“156. Jedenfalls interessierte ihn dieser Gegenwartsstoff. Im Frankfurter Freundeskreis trug er die aufwühlende Episode aus dem französischen Original vor und hatte damit großen Erfolg. Leichtfertig versprach er, binnen einer Woche aus dem anekdotischen Vorfall ein Drama zu machen und der Gesellschaft vorzulesen. Tatsächlich lag acht Tage danach das Trauerspiel „Clavigo“ fertig vor. Überraschend war in kürzester Zeit ein eher konventionell angelegtes ‚Trauerspiel in fünf Akten‘ in der Manier von Diderot und Lessing entstanden. Spannungsreiche Prosadialoge zwischen Clavigo und seinem Freund Carlos wie auch zwischen Clavigo und Beaumarchais prägen den Handlungsablauf. Goethe bewegte sich dabei weithin im Rahmen des einheitlichen Schemas der drei Einheiten. Unmittelbar nach der Fertigstellung hielt er in einem Brief dazu fest, er habe das Ganze „dramatisirt mit möglichster Simplizität und Herzenswahrheit“157. Darum ist es nicht verwunderlich, daß die Resonanz auf dieses erstmals unter seinem Namen veröffentlichte Stück bei den Theatern äußerst günstig ausfiel. Innerhalb eines Jahres kam es zu sechs Nachdrucken und zu Aufführungen an mehreren Orten, darunter vor allem in Hamburg durch die Truppe von Friedrich Ludwig Schröder. Das intime Trauerspiel erwies sich bis in unsere Tage hinein als ausgesprochen bühnenwirksam. Die im Vordergrund stehende ziemlich schematische Gestaltung gebrochener Charaktere und ihrer inneren Konflikte lenkte die Aufmerksamkeit des Publikums unmittelbar auf die jeweiligen Bewußtseinsprozesse. Zweifellos merkt man dem auf vordergründige Effekte bedachten Text die schnelle Ausarbeitung an. Besonders die dramatisch überzogene Lösung des Schlußakts, wo sich am Sarg Maries Rache und Versöhnung zwischen Clavigo und Beaumarchais zugespitzt überlagern, wirkt doch ziemlich gewaltsam. Dramaturgisch interessant ist daran allein die distan155 Im Februar 1774 war der vierte Band der Erinnerungen von Beaumarchais in Broschürenform erschienen mit dessen Bericht von seiner Spanienreise (Fragment de mon voyage d’Espagne). 156 WA I.28, S. 347 (Dichtung und Wahrheit, III,15). 157 WA IV.2, S. 171 (an Gottlob Friedrich Ernst von Schönborn am 1.6.1774). Produktive Rezeption der neuen Dramaturgie  59

zierende Einbeziehung der Musik, wie sie Goethe dann bei der Arbeit am Ende des Dramas um Egmont gestalterisch konsequent angewandt hat. An dieser Stelle ergibt sich ein die strenge Tektonik des Trauerspiels sprengender Stilbruch, der geeignet ist, durch die so erzeugte symbolische Vertiefung die Reflexion des Publikums herauszufordern. So überrascht es nicht, daß in einem Bericht Anton Schweitzers, des Kapellmeisters der Seylerschen Theatertruppe, von der Aufführung in Weimar zu lesen steht: „Gestern wurde Clavigo aufgeführt, nach meinem Gefühl sehr gut. … Vielleicht ist nie ein Stück bei einer so ganz feierlichen Stille der Zuschauer aufgeführt worden; ich sage Ihnen es hat erstaunende Sensation gemacht. … Zum Monolog des Clavigo im 5. Aufzug sowie auch zum Leichenbegängnis habe ich Musik getan“158. Zweifellos gehört „Clavigo“ zu den am besten spielbaren Stücken Goethes. Das belegt die lange Reihe von Aufführungen, parodierend vom jungen Karlsschüler Schiller 1780, einfühlsam vorgetragen durch Ludwig Tieck 1828 im Hause Goethes, bis hin zu so unterschiedlichen Regisseuren und Regisseurinnen wie Fritz Kortner (1970), Achim Freyer (1974), Klaus Emmerich (1988), Leander Haußmann (1992), Alfred Kirchner (2011) sowie Alexandra Liedtke, Lilja Rupprecht (2012) und Stephan Kimmig (2015). Goethe hat es verstanden, diesem ‚bürgerlichen Trauerspiel‘ haltbare provokatorische Kraft zu geben. Die weitgehende Annäherung an das Schema geschlossener Dramaturgie hat sicher entscheidend dazu beigetragen. Der Rückgriff Goethes auf die Konvention erklärt sich unschwer vom begrenzten personellen und thematischen Rahmen des Clavigo-Dramas her. Er überrascht lediglich insofern, als der Autor zur selben Zeit, von Februar bis Mai 1774, am Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ arbeitete. Dabei entwickelte er hier mit der narrativen Formlösung ein direkt auf das aktive Mitdenken des Lesers angelegtes, die Kommunikationssituation der Bewußtseinsdramaturgie vorwegnehmendes Erzählsystem. Werthers fortlaufend brieflich bekundete reflexive Selbstvergewisserung wirkt im Endeffekt als direkt an den Leser herangetragene Entäußerung seines Inneren. Gestützt wird diese Wirkung durch die Umwandlung des herkömmlichen dialogischen Briefromans in eine monologisch ausgeführte, über den Text hinausweisende Variante. Die von Goethe konsequent angewandte Innenperspektive erlaubt die uneingeschränkte Wiedergabe der zum Ausdruck kommenden Gefühle und Gedanken des Titelhelden. Das wiederum gibt dem Leser die Möglichkeit, sich dem fiktiven Adressaten der Briefe unmittelbar zu substituieren. Dergestalt kann die Innenwelt des unheilbar an der Gesellschaft und an seiner Liebe leidenden Protagonisten über die Außenvermittlung des Textes unverstellt, das heißt in ihrer komplexen Problematik, direkt an das Bewußtsein des mitdenkenden Rezipienten gelangen. Daneben 158 Anton Schweitzer richtete diesen Bericht am 16.3.1776 an Friedrich Bertuch, damals ‚Geheimer Sekretär‘ des Herzogs Carl August (zit. n.: MA 1.1, S. 1000).

60  Dramaturgische Anfänge mit „Götz von Berlichingen“

brauchte der Autor für die Gestaltung der Begebenheiten nach dem Selbstmord Werthers eine Möglichkeit zu distanziertem epischen Bericht. Er fand sie in der Form des ‚dokumentarisch‘-fiktiven Schlußkommentars mit der Überschrift „Der Herausgeber an den Leser“. Gleichgerichtete verstärkende Umakzentuierungen der Kommunikationsstruktur sollten sich in der Zukunft auch als wegweisend für eine publikumsbezogene, aktivierende dramaturgische Gestaltung der maßgeblichen Dramen Goethes erweisen. Einen Sonderfall unter den Dramen der Frankfurter Zeit stellt die bald nach den „Leiden des jungen Werthers“ zu Anfang 1775 entstandene elegische Liebesutopie in fünf Akten dar: „Stella. Ein Schauspiel für Liebende“. Goethe unternahm damit ein riskantes Experiment. Wie im „Werther“-Roman schlug er das Thema der Revolte gegen die Zwänge der Konvention an. Der Legende vom Grafen von Gleichen und seinen beiden Frauen folgend, wird in diesem kammerspielartigen Stück der Fall eines der Leidenschaft verfallenen Mannes, Fernando, zwischen zwei Frauen, Cäcilie (in der Erstfassung: Cezilie) und Stella, in der ganzen Spannweite widersprüchlicher Gefühle zwischen Anziehung und Fluchtbedürfnis vorgeführt. Für Fernando wird Bindung immer auch schnell zur Fessel; für die Frauen dagegen bildet die Liebesbegegnung mit ihm das Zentrum ihres Lebens. Während aber die durch Leiden gereifte Cäcilie mit der Zeit Ausgleich in Entsagung und verantwortungsbewußter Wirksamkeit findet, lebt Stella, „ganz Herz, ganz Gefühl“159, mit ihrer grenzenlosen Liebe nur noch der Erinnerung. Das unvermittelte Zusammentreffen der drei Protagonisten erzwingt eine Lösung der in der Vergangenheit angesammelten Spannungen. Erneut spielte hierbei persönliche Erfahrung eine gewisse Rolle. Jedoch sollte man die Dramenkonstruktion weithin von biographischen Zusammenhängen abgelöst betrachten. Goethe wollte mit dem Stück „für Liebende“ einen irdischen Traum vom Paradies vorführen. Böse Zungen sagen, es sei ein typischer Männertraum geworden. Wie auch immer. Derartige Utopien bedürfen einer Durchbrechung der Norm und insofern einer „Lockerung des Kausalzusammenhangs“160. Dennoch begegnete es kritischem Einwand, daß die drei Hauptfiguren nach langer Trennung ausgerechnet am selben Tag aufeinander treffen. So bemängelte etwa Emil Staiger, das Stück sei „primitiv in seiner Struktur, unzulänglich in allem, was der klaren Motivierung bedürfte“161. Er übersah dabei nur, daß Goethes durchgängige Bemühung vorrangig der gestalterischen Bewältigung dieser Dreierbeziehung mit all den daraus resultierenden Gefühlsbewegungen und Verhaltensweisen gilt. So allein konnte er 159 WA I.11, S. 148 (2. Akt). 160 So Georg-Michael Schulz (GH 2, S. 127). 161 Staiger, Bd. I, S. 185. Produktive Rezeption der neuen Dramaturgie  61

die durch das Beispiel Cäcilies eingebrachte Vision geläuterter Liebe als Herzensbund einer Ehe zu dritt ausklingen lassen mit der programmatischen Deklaration: „Eine Wohnung, Ein Bett, und Ein Grab“162. Selbstverständlich wirkte das vorgeschlagene Lösungsmodell auf die bürgerlichen Leser oder Zuschauer ausgesprochen schockierend. Der streitbare orthodoxe Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze163 erreichte, daß die angebliche ‚Verherrlichung der Bigamie‘ bei der Uraufführung durch Friedrich Ludwig Schröder nach sechs Abenden verboten wurde. Gleiches begab sich in Berlin. Goethe hatte mithin richtig vermutet, als er bald nach der Fertigstellung dieses Skandalons schrieb: „Es ist nicht ein Stück für jedermann“164. Seine suchende utopische Probe war eben an frei und vernünftig Denkende, nicht an bornierte Existenzen und bigotte Moralapostel gerichtet. Dem Autor war es um das Zielbild eines neuen Menschen zu tun, der dazu befähigt ist, mit dem jeweiligen Partner im beiderseitigen Ausgleich von Geben und Nehmen zu leben. Dieses Streben nach neuen sozialen Fähigkeiten hängt letzten Endes eng zusammen mit Goethes Grundkonzeption von Entsagung als einer existentiell notwendigen, im Endeffekt produktiven Gestaltungskraft der zwischenmenschlichen Beziehungen. In dramaturgischer Hinsicht entfernt sich „Stella“ auch in diesem Stück weit von der extrem offenen Bauweise des „Götz“-Dramas. Die beschränkte Personenzahl, die auf zwei Schauplätze konzentrierte, klar geführte Handlung und die intime Konfliktsituation geben dem Werk eine fest gefügte äußere Geschlossenheit. Offen ist der Text indes durch die dem überraschenden Dramenschluß geradezu programmatisch-aufklärerisch eingeschriebene publikumsgerichtete, gleichermaßen emanzipative wie humane Forderung, aus der Liebes-Utopie eine soziale Realutopie zu machen. Wer die finale Umarmung der drei Beteiligten („Fernando beide umarmend, … Stella, seine Hand fassend, an ihm hangend, … Cäcilie, seine Hand fassend, an seinem Hals“165) nicht als überzeugende Geste, sondern als Zumutung empfindet, mag sich moralisch im Recht fühlen. Menschlich überzeugen kann jedoch eine derartige Reaktion keinesfalls. Als Goethe dann drei Jahrzehnte später, 1805, im Rahmen seiner Arbeit als Theaterdirektor daranging, das Stück endlich auch in Weimar aufzuführen, schreckte 162 WA I.11, S. 191. 163 Artikel Goezes in den ‚Freywilligen Beyträgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit‘ (23.2.1776). Schon zwei Wochen davor stand im Altonaer ‚Reichs-Postreuter‘ vom 8.2.1776 die ironische Bemerkung zu lesen: „‚Stella‘ ist eine Schule der Entführungen und Vielweiberei. Treffliche Tugendschule“ (zit. n.: MA 1.2, S. 716 ff.). 164 WA IV.2, S. 271 (an Sophie von La Roche am 1.8.1775). 165 WA I.11, S. 416 (Lesarten: Schluß des Schauspiels für Liebende).

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er wohl vor der utopischen Energie seines „Schauspiels für Liebende“ zurück. In kurzer Zeit erarbeitete er, ganz im Lessingschen Sinne des bürgerlichen Trauerspiels, eine veränderte Fassung mit einem völlig entgegengesetzten Ausgang. Absichtsvoll legte der Autor nunmehr die Gattungsbezeichnung „Trauerspiel“ im Untertitel fest. Unversehens wurde so die Liebesutopie zurückgenommen. An deren Stelle trat ein eher landläufig emotionsgeladenes Drama, das mit dem Selbstmord Fernandos und Stellas endete. Diese Neufassung wurde am 15.1.1806 erstaufgeführt166 und dann auch so in die Ausgaben der Folgezeit übernommen167. Mit einem Schlag verkehrte sich damit die Intention der Erstfassung in ihr Gegenteil. Offensichtlich reagierte Goethe mit der neuen Version auf den unbestreitbaren Sachverhalt, „daß das HappyEnd seine Negativität erst im Prozeß der Rezeption entfaltet“168. Glücklich war diese Entscheidung allerdings nicht. Zwar wurde die Zweitfassung vom Publikum weit besser aufgenommen als die utopische Erstfassung, doch nimmt der tragische Schluß dem Drama seine dramaturgische Offenheit. Zudem wird die schöne Utopie vom „Reich der ungeahnten Möglichkeiten“169 gründlich zerstört. Auffallend findet aber neuerdings die in sich stimmigere Erstfassung größeren Widerhall bei den Regisseuren wie auch beim Publikum170. Offenbar hat die humane Forderung des jungen Goethe – und insofern die offene Dramaturgie des Schlusses mit ihrer Durchbrechung 166 Goethe wiederholte die Aufführung, des nachhaltigen Erfolgs wegen, in den Spielzeiten 1807, 1808, 1810 und 1815. Sehr zu seinem Ärger wurde 1815 die 1808 von August von Kotzebue verfaßte Parodie der Trauerspielfassung „Der Graf von Gleichen. Ein Spiel für lebende Marionetten“ von Laienspielern in Weimar aufgeführt. 167 Die Trauerspielfassung erschien gedruckt erstmals 1816 im 6. Band der 20bändigen Werkausgabe, ebenso dann 1827 in der ‚Ausgabe letzter Hand‘. Die meisten Ausgaben stützen sich auf die Zweitfassung und verbannen die Hinweise zur Erstfassung in den Anhang. Beide Fassungen finden sich in vollem Wortlaut in MA 1.2 (Erstfassung) und MA 6.1 (Zweitfassung). 168 So Hans-Dieter Weber, der allerdings dem groben Irrtum erliegt, in der tief humanen Forderung des „Stella“-Schlusses ein simples „Happy-End“ zu sehen (Weber, Hans-Dieter: Stella oder die Negativität des Happy-End. In: ders. (Hrsg.): Rezeptionsgeschichte oder Wirkungsästhetik (= Konstanzer Beiträge zur Praxis der Literaturgeschichtsschreibung). Stuttgart 1978, S. 142–167; Zitat: S. 156). 169 So Lothar Pikulik im Schlußsatz seiner Interpretation (Pikulik, Lothar: Stella. Ein Schauspiel für Liebende. In: Hinderer, S. 89–103; Zitat: S. 102). 170 Seit Max Reinhardts Inszenierung bei den Salzburger Festspielen 1931 taucht das Stück in den Spielplänen der meisten Theater immer wieder auf. Neuerdings sind hauptsächlich folgende Inszenierungen zu nennen: Luc Bondy (1973), Wilfried Minks (1976), Ernst Wendt (1982), Alexander Lang (1986), Frank Castorf (1990), Wolfgang Engel (1991), Andrea Breth (1999), Stephan Kimmig (2002) und Andreas Kriegenburg (2011 und 2013). Produktive Rezeption der neuen Dramaturgie  63

des linearen Denkens – doch den längeren Atem. Dann könnte sich eines Tages vielleicht die ironische Wendung erübrigen, daß – wie in der denkwürdigen Abschiedsinszenierung von Andrea Breth an der Berliner Schaubühne 1999 – ein kleiner Junge zum Vorspiel mit krakeliger Schrift auf den Bühnenvorhang schreibt: ‚Es war einmal‘. Zu erwähnen bleibt nun noch die möglicherweise bereits Ende 1774, mit Sicherheit aber zu Beginn des Jahres 1775 einsetzende Arbeit am Trauerspiel „Egmont“. Es handelt sich dabei um einen thematisch dem „Götz“-Drama benachbarten Stoff. Rückblickend erwähnte Goethe 1813 in „Dichtung und Wahrheit“, wie es dazu kam. Hier sein Bericht: „Nachdem ich im Götz von Berlichingen das Symbol einer bedeutenden Weltepoche nach meiner Art abgespiegelt hatte, sah ich mich nach einem ähnlichen Wendepunct der Staatengeschichte sorgfältig um. Der Aufstand der Niederlande gewann meine Aufmerksamkeit. … Im Egmont waren es festgegründete Zustände, die sich vor strenger, gut berechneter Despotie nicht halten können“. Im gleichen Zusammenhang sprach er von diesem „in meinem Kopf schon fertigen Stück“171. Erkennbar wollte er direkt an die in „Götz von Berlichingen“ eingeschlagene inhaltliche und formale Lösung anknüpfen. Nach gründlichem Studium der einschlägigen Quellen – „Historia belgica“ von Emanuel van Meteren (1597) in einer Übersetzung von 1627 sowie „De bello belgico decades duae“ von Famianus Strada (1632–1647)172 – kam er zu der ausschlaggebenden Erkenntnis: „Höchst dramatisch waren mir die Situationen erschienen und als Hauptfigur … war mir Graf Egmont aufgefallen, dessen menschlich ritterliche Größe mir am meisten behagte“173. Also wiederum, in bewährter Manier des Sturms und Drangs, die Geschichte eines großen Individuums. Goethe formte die Egmont-Figur ganz nach seinem Geschmack als jugendlichen Freiheitskämpfer und Liebhaber Klärchens. Gegenüber Eckermann betonte er dazu: „Hätte ich den Egmont so machen wollen, wie ihn die Geschichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kindern, so würde sein leichtsinniges Handeln sehr absurd erschienen sein. Ich mußte also einen andern Egmont haben, wie er

171 WA I.29, S. 162 (Dichtung und Wahrheit, IV,19). 172 Die 1627 in Amsterdam erschienene Übersetzung trägt den Titel „Eygentliche und vollkommene Historische Beschreibung deß Niederlaendischen Kriegs“. Sie stellt die Ereignisse in protestantisch-niederländischer Sicht dar. Die Gegendarstellung Stradas vertritt die Belange der katholisch-spanischen Seite. 173 WA I.29, S. 174 f. (Dichtung und Wahrheit, IV,20).

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besser mit seinen Handlungen und meinen dichterischen Absichten in Harmonie stände“174. Die Absicht ist deutlich genug. Auf seinen Götz sollte sein Egmont folgen. Das hört sich höchst zielbewußt an. Indes geriet die Ausführung des Plans nur zögerlich in Gang. Zum einen gestaltete sich die Lebenssituation Goethes in den letzten Frankfurter Monaten äußerst bewegt175; zum andern war er gleichzeitig noch mit „Stella“ beschäftigt. Jedoch erklärt das nicht allein, warum die Arbeit an „Egmont“ nur schleppend voranging. Den Anfang scheint der Autor mit den Hauptszenen gemacht zu haben, also wohl mit den Dialogen zwischen dem Titelhelden und Wilhelm von Oranien sowie dem Herzog von Alba. Wie weit er damit gediehen ist, läßt sich nicht ermitteln, weil wir leider über keinen ‚Ur-Egmont‘ verfügen. Jedenfalls scheint es reichlich übertrieben zu sein, wenn wir in „Dichtung und Wahrheit“ in Erinnerung an jene Zeit lesen: „so schrieb ich an meinem Egmont fort und brachte ihn beinahe zu Stande“176. Bis dahin war indes noch ein langer Weg zurückzulegen. Fest steht auf alle Fälle, daß die hin und wieder versuchten chronologischen Zuschreibungen ‚fertiger‘ Stufen allesamt hypothetisch geblieben sind, und ebenso, daß die Weiterarbeit am Trauerspiel mit der Übersiedlung nach Weimar für mehrere Jahre völlig ins Stocken kam177. Nicht allein in den äußeren Umständen sind die Gründe zu suchen. Ebensowenig lag es am Inhalt des Dramas, denn über die Handlungskonstruktion hatte sich Goethe längst die nötigen Gedanken gemacht. Wenn das unfertige Manuskript kurzerhand ins Weimarer Reisegepäck für den Aufbruch zur italienischen Reise verfrachtet wurde, so ist die Ursache darin zu sehen, daß die im „Götz“ praktizierte dramaturgische Methode der Widerspiegelung für diesen Stoff nicht zureichte. Das war gemeint, als Goethe Charlotte von Stein zur weiteren Beschäftigung mit „Egmont“ wissen ließ: „ich will nur das allzuaufgeknöpfte, Studentenhaffte der Manier zu tilgen suchen, das der Würde des Gegenstands widerspricht“178. Was umgewandelt werden sollte, waren mithin die Auswüchse der Sturm-und-DrangDramaturgie und ihrer Tendenz zu bloßer Nachahmungspoetik. Die von Goethe angesprochene „Würde des Gegenstands“ erforderte eine andere Formgestaltung, konkret gesprochen: eine andere dramaturgische Lösung. Aus diesem Grund wird 174 Zu Eckermann am 31.1.1827 (zit. n.: MA 19, S. 208). Die gleiche Erklärung gibt Goethe im 20. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ (WA I.29, S. 175). 175 Man denke nur an die Verlobung mit Lili Schönemann und die baldige Trennung, an die erste Schweizreise und die Begegnung mit Carl August, an den Plan einer Italienreise und die Übersiedlung nach Weimar. 176 WA I.29, S. 182 (Dichtung und Wahrheit, IV,20). Im gleichen Sinne schrieb Goethe am 12.12.1781 an Frau von Stein: „Mein Egmont ist bald fertig“ (WA IV.5, S. 239). 177 Ab Ende 1778 machte Goethe neue Anläufe zur Weiterarbeit, die aber ebenfalls im Ansatz steckenblieben. 178 WA IV.5, S. 285 (an Charlotte von Stein am 20.3.1782). Produktive Rezeption der neuen Dramaturgie  65

der schließlich zwölf Jahre später erfolgenden Fertigstellung des Trauerspiels in der Folge ein gesondertes Kapitel gewidmet.

Auswertung Mit „Götz von Berlichingen“ war Goethe ein aufsehenerregendes, wahrhaft zündendes Musterdrama für die produktive Weiterentwicklung der Gattung gelungen. Der damit verbundene Riesenschritt bedeutete die Auflösung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Damit bahnte der Autor einem realitätsbezogenen, leidenschaftlichen, kreativen, dynamischen und subjektiven Drama den Weg, das sich kritisch mit Geschichte und Gegenwart auseinandersetzt. In den Vordergrund rückte dabei die Erkenntnis des notwendigen Ausgleichs von Freiheit und Notwendigkeit, von Ich und Gesellschaft. Allein diese Synthese macht – kraft der naturnahen Demonstrationsenergie des Dramas – den Rezipienten zum produktiv kooperierenden Teil des Ganzen. Was Goethe damit anstrebte, hat er in der Rede „Zum Schäkespears Tag“ schon 1771 unter Verweis auf das Vorbild des englischen Dramatikers wie folgt formuliert: „Seine Plane sind, nach dem gemeinen Styl zu reden, keine Plane, aber seine Stücke, drehen sich alle um den geheimen Punckt, den noch kein Philosoph gesehn und bestimmt hat: in dem das Eigenthümliche unsres Ich’s und die prätendirte Freyheit unsres Willens, mit dem nothwendigen Gang des Ganzen zusammenstösst“179. Von diesem hohen Anspruch her genügte ihm das mit dem „Götz“-Drama Erreichte schon bald nicht mehr. Zu stark wurde dabei der Charakter realitätsnaher Demonstration hervorgekehrt, zu wenig die Vermittlung der Ideensubstanz. Deutlich ist den unmittelbar folgenden Dramen abzulesen, warum Goethe sich mit der Dramaturgie der offenen Form und der damit verbundenen Gefahr reiner Widerspiegelung nicht zufriedengeben konnte. Bei aller Heterogenität zeigen die im zeitlichen Umfeld ausgearbeiteten Stücke durchweg weiterreichendes Experimentieren im Sinne reflektierenden Mitvollzugs. Man kann sie als eine dramaturgische Abfolge immer neuen Erprobens ansehen. Neben den meist gebrauchten ‚natürlichen‘ Dialogen in Prosa überprüfte er mit den freien Rhythmen im „Prometheus“-Fragment und mit der Versifikation im „Urfaust“ auch wieder die besondere Ausdrucksqualität gebundener Rede. Vor allem aber geben alle nach „Götz von Berlichingen“ in der Frankfurter Zeit verfaßten Dramen zu erkennen, daß die ungehemmte Dispersion der offenen Form seinem künstlerischen Ausdruckswillen nicht entsprach. Forderungen nach Vereinheitlichung oder gar Symmetrie lehnte er gleichfalls ab. Ohne also die Zwangsjacke der drei Einheiten überzustreifen, näherte er sich einer wieder 179 WA I.37, S. 133.

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einheitlicheren, aber keineswegs sich abschließenden Form. Auf der Ebene eines solchen Ausgleichs entstanden ausgesprochen bühnenwirksame, publikumsfreundliche Stücke wie „Clavigo“ und die erste Fassung von „Stella“ („Ein Schauspiel für Liebende“). Allemal suchte Goethe nach anderen Möglichkeiten funktionalisierter Kommunikation mit dem Publikum. Die szenisch vermittelten, vom Autor dementsprechend vorgedachten Texte sollten mit ihrer poetischen Energie die Imagination der Zuschauer zum Mitdenken anregen. Man kann ohne weiteres sagen, daß Goethe – gemäß seiner Vorstellung von der produktiven Natur des Individuums – intensiven methodischen Anteil hat an der Entwicklung einer bühnengerechten und zugleich publikumsbezogenen Organisation des Dramas. Im Rückblick auf jene produktive Phase legte er Wert auf die Feststellung: „In der Zeit meines Clavigo wäre es mir ein Leichtes gewesen, ein Dutzend Theaterstücke zu schreiben; an Gegenständen fehlte es nicht, und die Produktion ward mir leicht; ich hätte immer in acht Tagen ein Stück machen können, und es ärgert mich noch, daß ich es nicht getan habe“180. Wie immer man diese Aussage einschätzen mag, steht eines fest: Ab den Weimarer Jahren fiel dem Dichter das Stückeschreiben längst nicht mehr so leicht. Als Dramaturg suchte er mehr und mehr nach einer ausgeprägt multiperspektivischen Struktur. Er beabsichtigte, wie richtig bemerkt wurde, die „Freisetzung des Zuschauers zu seiner Rezeption“181. Auf diesem Wege entstanden dann Dramen einer, im Falle des Gelingens, immer größeren poetischen und symbolisch bedeutsamen Substanz. Diesem Teil der dramatischen Produktion gelten die weiteren Betrachtungen.

180 Zu Eckermann am 26.7.1826 (zit. n.: MA 19, S. 164). 181 Fehr, S. 231. Auswertung  67

D I E D RAMATU RG I SC H E W E N D E MIT „ I PH IGE N I E AU F TAU R I S“

Die Zeit vor „Iphigenie“: Eingewöhnung in Weimar In den ersten Weimarer Jahren kam Goethe nicht viel zum Schreiben. Erst einmal mußte er sich an den nicht sonderlich abwechslungsreichen Alltag der begrenzten Welt des kleinen Hofes eines kleinen Landes gewöhnen182. Hohe Erwartungen wurden dort in ihn gesetzt. Das zeigt allein schon die Vielfalt der ihm übertragenen administrativen Aufgaben. Zu seinen Kommissions-Obliegenheiten gehörten die Steuerbehörde, die Bildungsanstalten, der Wege- und Straßenbau, der Bergbau sowie das Militär. Schon bald berichtete er dem Freund Merck: „Ich bin nun ganz in alle Hof- und politischen Händel verwickelt“183. Bereits ab Sommer 1776 wurde er Mitglied des ‚Geheimen Consiliums‘ im Rang eines Ministers. Wie in die zeitraubende Amts- und Regierungsarbeit bezog der junge Carl August den favorisierten Neuankömmling selbstverständlich ebenso in seine ungezügelten, spätpubertären Unternehmungen mit Jagen, Trinken und Lieben ein. Beides zusammen legte immerhin den Grund für den lebenslangen Freundschaftsbund zwischen dem Herzog und seinem ‚Geheimen Legationsrat‘184. Zwar nahm das bewegte Leben dieser Anfangszeit gelegentlich geniehaft-theatralische Züge an, doch fehlten allemal Zeit und Muße zu ernsthafter, konzentrierter poetischer Arbeit. Der Hof erwartete vom Autor des „Götz“ und des „Werther“ in erster Linie schöngeistige Unterhaltung jenseits der üblichen ‚Blinde-Kuh‘- und ‚Plumpsack‘Spiele. In dieser Absicht las Goethe wiederholt aus seinen frühen Stücken vor. Gele182 Noch 1786 hatte die Stadt Weimar nicht mehr als etwas über 6000 Einwohner. Außer dem Hof gab es nur Kleinhandwerk und landwirtschaftliche Dörflichkeit, also weder Industrie noch Handel. Zum Vergleich: Goethe kam aus der Handelsmetropole Frankfurt mit damals rund 35.000 Einwohnern. 183 WA IV.3, S. 21 (an Merck am 22.1.1776). 184 Allerdings muß man dabei auch die relativierende Bemerkung Goethes über den „verstorbenen Großherzog“ mit bedenken: „Ihm wäre zu gönnen gewesen, daß er sich meiner Ideen und höherer Bestrebungen hätte bemächtigen können, denn wenn ihn der dämonische Geist verließ und nur das Menschliche zurückblieb, so wußte er mit sich nichts anzufangen, und er war übel daran“ (zu Eckermann am 8.3.1831; zit. n.: MA 19, S. 427). Die Zeit vor „Iphigenie“: Eingewöhnung in Weimar  69

gentliche Aufführungen von kleinen Komödien, Singspielen, Maskenzügen oder Scharaden unterbrachen gleichfalls das einförmige Hofleben. Er wirkte dabei lesend, schauspielernd und inszenierend als Spiritus rector des Weimarer Liebhabertheaters185. Nebenbei machte ihn das näher mit den Einzelheiten der Bühnentechnik vertraut, mit Kulissen, Kostümen, Beleuchtung und mancherlei szenentechnischen Effekten des Theaterapparats. Daraus zog er später als handwerklich ausgewiesener Kenner der Materie vielfachen Nutzen. Der einzige dramatische Text, der zunächst entstand, war das wenig belangvolle Gelegenheitsstück „Lila. Ein Festspiel mit Gesang und Tanz“, das beim Geburtstag von Herzogin Louise 1777 dargeboten wurde. In literarischer Hinsicht ist lediglich zu erwähnen das im Winter 1776/77 begonnene Einleitungskapitel zum Roman-Projekt „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“. Es dauerte noch zwei weitere Jahre, bis Goethe, mittlerweile fast dreißig Jahre alt, Ende 1778 daranging, ein neues Drama als höfisches Festspiel zu konzipieren. Mit dem Plan einer Neugestaltung des in der Antike und seit der Renaissance häufig bearbeiteten Stoffkomplexes um Iphigeneia ging er um, seitdem er die Weimarer Hofszene betreten hatte. Anknüpfend an die Tradition „mythologisch-allegorischer Überhöhung des absolutistischen Hoflebens“186, wählte er mit Iphigenie einen Stoff aus dem Kernbestand der antiken Überlieferung. Dieser Sagenkreis gehörte zu den besonders beliebten Themen jener Zeit187. So konnte er beim damaligen Publikum die Vorgeschichte der Opferung Iphigenies durch ihren eigenen Vater Agamemnon in Aulis ohne weiteres voraussetzen188. Mehr interessierte ihn nämlich ihr Aufenthalt 185 Der erste Bühnenauftritt Goethes in Weimar war im Februar 1776. Er spielte die Hauptrolle in der damaligen Erfolgskomödie „Der Westindier“ von Richard Cumberland (1774). Nacheinander wurden dann auch Goethes eigene Stücke und Stückchen gespielt: „Die Laune des Verliebten“, „Die Mitschuldigen“, „Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“, „Erwin und Elmire“ (mit der Musik von Herzogin Anna Amalia) und „Lila“. 186 So die zutreffende Bestimmung Hackerts (Hackert, Fritz: Iphigenie auf Tauris. In: Hinderer, S. 144–168; Zitat: S. 146). 187 In diesen Kontext gehört das Trauerspiel des Privatschriftstellers Christoph Friedrich von Derschau, „Orest und Pylades, oder Denckmaal der Freundschafft“ (1757), das 1758 am Wiener Hof und 1760 in Augsburg aufgeführt wurde, ebenso das musikalische Schauspiel „Iphigenie in Tauris“ des Wiener und dann Mannheimer Hofdichters Mattia Verazi (1764). Vor allem aber erschien 1774 Christoph Willibald Glucks Erfolgsoper „Iphigenie in Aulis“, der dann 1779, praktisch gleichzeitig mit Goethes Schauspiel, seine „Iphigenie auf Tauris“ folgte. 188 Der Vorgeschichte nach forderten die Priester die Opferung Iphigenies, weil eine Windstille die Weiterfahrt der Griechen nach Troja in Aulis verhinderte. Agamemnon ließ das geschehen. Diana jedoch rettete die Unschuldige und brachte sie in das ihr geweihte Heiligtum auf Tauris.

70  Die dramaturgische Wende mit „Iphigenie auf Tauris“

auf Tauris, bei den barbarischen Kaukasiern unter ihrem König Thoas, mit den dort sich herauskristallisierenden Problemen durch das Auftauchen ihres Bruders Orest. Dieser Teil der Geschichte war ihm von Euripides her wohlvertraut. Goethe konnte freilich nur entfernt ahnen, auf welch faszinierendes humanes und dramaturgisches Abenteuer er sich damit einzulassen im Begriff war.

Zur Entstehung der „Iphigenie“ (I): Die Weimarer Prosafassung von 1779 Endlich, im Februar 1779, wohlgemerkt sechs Jahre nach „Götz von Berlichingen“ und über drei Jahre nach dem Eintreffen in Weimar, konnte der Dichter schreiben: „Meine Seele löst sich nach und nach durch die lieblichen Töne aus den Banden der Protokolle und Acten“. Er konnte nämlich damit beginnen, „die fernen Gestalten leise herüber“-zurufen zu sich189. Gemeint war damit die Beschäftigung mit dem Schicksal Iphigenies, Orests und des Skythenkönigs Thoas. Leicht fiel ihm das Schreiben neben den Alltagsverpflichtungen her keineswegs. Wie lähmend sich tatsächlich die administrative Tätigkeit auswirkte, verrät die einem Brief anvertraute eindringliche Klage: „Den ganzen Tag brüt’ ich über Iphigenien, dass mir der Kopf ganz wüst ist. … So ganz ohne Sammlung, nur den einen Fus im Steigriemen des Dichter Hyppogryphs190, wills sehr schwer seyn, etwas zu bringen, das nicht ganz mit Glanzleinwand-Lumpen191 gekleidet sey“192. Hinzu kam eine weitere, psychisch belastende Schwierigkeit. Goethe hatte, im Zuge der ihm übertragenen Wegebauarbeit und Rekrutenaushebung, im Gebiet um Apolda zu tun und erlebte so hautnah die materielle Notlage der dortigen Bevölkerung. Besonders kraß wurde ihm daran der unüberbrückbare Gegensatz vom schönen Reich der Poesie und dem inhumanen Lebensalltag einer Mehrzahl der Bevölkerung bewußt. An Frau von Stein schrieb er verzweifelt: „Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden, als wenn kein Strumpfwürker in Apolde hungerte“193. 189 WA IV.4, S. 11 (an Charlotte von Stein am 22.2.1779). 190 Re-gräzisierte Form des italienischen Begriffs ‚ippogrifo‘. Anknüpfend an Vergil tauchte in der Literatur der Renaissance, vor allem bei Ariost, dieses Fabeltier, halb Roß, halb Greifvogel, auf und wurde bald zum Synonym für das geflügelte Pferd Pegasus und damit zum Musenroß. 191 Das Wort „Glanzleinwandlumpen“ ist gemäß der Definition des Goethe-Wörterbuchs eine „Metapher für die täuschende, bloß oberflächlich ansprechende Wirkung eines Dichtwerks“ (GW, Bd. 4, S. 242), also Talmikunst. 192 WA IV.4, S. 11 (an Charlotte von Stein am 14.2.1779). 193 WA IV.4, S. 18 (an Charlotte von Stein am 6.3.1779). Das in der Unterschicht der Bevölkerung herrschende Elend empörte Goethe. Aber ihm schwebte eine von oben ausgeDie Weimarer Prosafassung von 1779  71

Allen Hindernissen zum Trotz schaffte es Goethe dennoch, bis Mitte März die ersten drei Akte194 und am 19. März auch den vierten Akt abzuschließen. Und bereits unter dem Datum des 28. März, also nach etwas mehr als sechs Wochen mühsam gestohlener Zeit, konnte der Eintrag ins Tagebuch erfolgen: „Abends: Iphigenie geendigt“195. Damit war die erste, in Prosa geschriebene Fassung des Dramas, die sogenannte ‚Weimarer Fassung‘ abgeschlossen196. Bereits eine gute Woche danach, am 6. April 1779, fand die Uraufführung auf der Liebhaberbühne im Hauptmannschen Haus zu Weimar statt. Corona Schröter spielte die Titelrolle, Goethe den Orest, Karl Ludwig von Knebel den Thoas, Prinz Constantin den Pylades197 und der Erzieher Johann Wilhelm Seidler den Arkas. Im Tagebuch vermerkte Goethe die günstige Aufnahme beim Publikum: „Iph.[igenie] gespielt, gar gute Würckung davon besonders auf gute Menschen“198. Mit diesem Eintrag ist das entscheidende inhaltliche Wirkungsmoment des Schauspiels angesprochen: die befreiende Kraft wahrhaftig praktizierter Humanität. Dieses kommunikative Ziel hatte Goethe schon einmal erreicht. Die inhaltliche Gestaltung des Dramas war mit der Prosafassung eigentlich abgeschlossen. Schon in diesem Stadium der Textgenese lag fest, daß die überlieferte Tragik des Fluchs der Tantaliden von Goethe aufgehoben wurde zugunsten eines stark verinnerlichten Reagierens der Handlungsträger. Damit verlagerte er den Akzent von der antiken Schicksalsbestimmung durch die Götter hin zu einer rein zwischenmenschlichen Problemlösung mit „der Wahrheit Stimme“199. Die Konfliktsituation wird von zwei Kernpunkten her entwickelt. Einerseits geht es in der Iphigenie-OrestHandlung um den Fortgang der blutigen Atridengeschichte (Gattenmord, Muttermord, drohender Brudermord), andererseits im Iphigenie-Thoas-Geschehen um unerwiderte Liebe, um die Rolle der Frau, aber ebenso um die Barbarei des Men-

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hende Reform dieses Unrechts vor. Der Gedanke einer sozialen Revolution war seine Sache nicht. Goethe schrieb in diesem Zusammenhang Frau von Stein: „Knebeln (d.i. Karl Ludwig von Knebel) können Sie sagen dass das Stück sich formt und Glieder kriegt“ (WA IV.4, S. 13; an Charlotte von Stein am 2.3.1779). WA III.1, S. 84. Die Prosafassung ist unter anderem abgedruckt in Baechtold, Jakob (Hrsg.): Goethes Iphigenie auf Tauris in vierfacher Gestalt. Freiburg i. Br., Tübingen 1883; ebenso in WA I.39, S. 325–404 sowie in MA 2.1, S. 247–291. Bei der Aufführung der „Iphigenie“ am 12.7.1779 in Ettersburg spielte sogar Carl August den Pylades. WA III.1, S. 84 (Eintragung vom 6.4.1779). WA I.39, S. 394. Versfassung: „die Stimme / Der Wahrheit und der Menschlichkeit“ (V. 1937 f.; V,3).

72  Die dramaturgische Wende mit „Iphigenie auf Tauris“

schenopfers. In der Person der Titelheldin laufen die Problemkonstellationen zusammen. Als Priesterin in fremder Umgebung lebend, empfindet Iphigenie ihren Aufenthalt auf Tauris als Gefangenschaft. Daß sie in Orest unerwartet ihren Bruder wiederfindet, bietet ihr die Gelegenheit, die sehnsüchtig herbeigewünschte Heimkehr zu betreiben. Allerdings verschärft sich ihre Konfliktlage dadurch noch mehr. Zwei elementar wichtige Entscheidungen werden ihr abverlangt: Annahme oder Ablehnung des Heiratsangebots von Thoas sowie Verheimlichung oder Offenbarung ihres Fluchtplans. Es ist ein Dilemma, dessen Konsequenzen keineswegs nur für sie und die beiden anderen Protagonisten von Bedeutung sind. Iphigenies Familie und das Volk der Taurier werden gleichfalls davon betroffen. Die Einwilligung in das Heiratsangebot würde für Iphigenie nämlich nicht allein den Verzicht auf ihre Heimkehr und damit auf die Entsühnung ihrer Familie vom Tantalidenfluch bedeuten, sondern ebenso die Annahme der innerlich von ihr abgelehnten untergeordneten Rolle der Frau, jedoch immerhin das Ende des bei den Skythen üblichen Menschenopfers. Eine durch Lüge herbeigeführte Flucht wiederum beraubte die in der fremden Umgebung Lebende der für sie zwingenden Voraussetzung, ihr Exil „mit reinen Händen, wie mit reinem Herzen“200 verlassen zu können. Schlimmer noch: Die Alternativen implizieren den Tod des Bruders und eigene Blutschuld oder neue Menschenopfer und den Zorn des Mannes, der ihr zum „zweiten Vater“201 geworden ist. Offensichtlich ist das Konfliktpotential so angelegt, daß die Handlung tragischer Unauflöslichkeit entgegenzutreiben scheint. Eine derart schicksalhafte Tragik widersprach jedoch Goethes Dramenkonzeption wie überhaupt seiner Weltsicht. Darum verzichtete er völlig auf die überlieferten Strafmechanismen mythischer Mächte in Gestalt der Furien. An die Stelle von Schicksal und Gewalt, von Schuld und Opfer setzte er mit dem ethischen Appell zu humaner Besinnung die freie Selbstentscheidung des Individuums. Sein herausforderndes Vertrauen in die ethische Verantwortung jedes einzelnen ermöglichte es ihm, die Tragödie göttlicher Schicksalsfügungen umzuwandeln in ein dramatisches Exempel gelingender Humanität. Goethes Lösungsmuster stellt mit der Überwindung des tragischen Ausgangs einen aufklärerischen Gegenentwurf zur antiken fatalistischen Schicksalskonzeption dar. Entscheidend ist hierbei die Einsicht aller Beteiligten. Um das zu erreichen, stellt der Autor den „blutigen Beweis“ als negative und die Stimme des „innersten Herzens“ als positive Möglichkeit einander gegenüber202. Der dadurch ausgelösten Erkenntnis 200 WA I.39, S. 395. Versfassung: „mit reinem Herzen, reiner Hand“ (V. 1968; V,3). 201 WA I.39, S. 403. Versfassung: „Wert und teuer / Wie mir mein Vater war, so bist du’s mir“ (V. 2155 f.; V,7). 202 WA I.39, S. 400 und 401. In der Versfassung (WA I.9, S. 91) wird daraus der noch deutlichere Gegensatz von „blutigem Beweis“ (V. 2064) und „hülfreicher Liebe“ (V. 2056). Die Weimarer Prosafassung von 1779  73

und Einsicht entspringt die „unerhörte That“203 außergewöhnlicher Selbstüberwindung. Goethe verweist hierdurch auf die herausfordernde Spannung von Regel und Ausnahme und macht zugleich klar, daß allein durch solch „unerhörte That“ der Teufelskreis von Gewalt, Lüge und Mord durchbrochen werden kann. Damit stellt er eine direkte Verbindung zur Realitätslage des Publikums her. Das Schauspiel Goethes wendet sich konsequent gegen den Tod. Sein dramatisches Denk-Bild sozialer Produktivität vermittelt uns eine Vision des real Machbaren in Gestalt eines „fröhlich selbstbewußten Lebens“204 und wendet sich damit grundsätzlich gegen die herrschenden Bedingungen. Aber da ist noch mehr und anderes. Iphigenie agiert und reagiert als Frau. Es charakterisiert ihre Weiblichkeit, daß sie der Waffengewalt, dem unsinnigen „Loos [Los] der Waffen“205, den ausgleichenden, unblutig klärenden Dialog entgegensetzt. Ungeschützt läßt sie verlauten: „Ich habe nichts als Worte“206. Doch mit ihrem überzeugenden verbalen Handeln gibt sie ein Beispiel für die Überführung der kriegerischen Männergesellschaft in eine Gesellschaft der Menschen unter dem „Friedenszeichen“207. Sie verkörpert die humane Gegenlinie zur Geschichte der Kriege. Diese ihre praktisch vorgelebte Menschlichkeit gilt es zu erkennen. Dann tritt die mythische Vorlage in den Hintergrund und mit ihr die Idealität. Wir begegnen einer wichtigen Partnerin. Wer Goethe sozialen Eskapismus vorwirft, hat ihn nicht richtig gelesen. Immer wieder taucht die Meinung auf, Goethes „Iphigenie“ spiele sich „fernab aller historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit“ ab208. Eine solche Auffassung verkennt, in wie starkem Maße die Idealität des Dramas auf die Realität bezogen ist. Unvermerkt wurde so das Stück zum humanen Weihespiel denaturiert. Man übersieht dabei freilich, daß der Autor seine ethische Herausforderung direkt an das Publikum und somit an dessen jeweilige Wirklichkeitssituation richtet. Er wollte, wie August Wil-

203 WA I.39, S. 393. Dort heißt es noch „unerhörte Thaten“, in der Versfassung dann „unerhörte That“ (WA I.9, S. 83; V. 1892). Damit kommt in beiden Fällen die sinngebende Aktion gelingender Menschlichkeit zum Ausdruck. Zuvor taucht im Text der Begriff in seiner todbringenden Bedeutung als ‚Untat‘ auf (WA I.39, S. 336 und WA I.9, S. 18 (V. 377)). 204 Allein in WA I.9, S. 7 (V. 110). In der Prosafassung ist nur vom „fröhlichen Leben“ die Rede (WA I.39, S. 327). 205 WA I.39, S. 391 und WA I.9, S. 82 (V. 1866). 206 WA I.39, S. 391 und WA I.9, S. 81 (V. 1863). 207 WA I.39, S.  396 (dort heißt es nur: „zum schönen Zeichen“) und WA I.9, S.  86 (V. 1987). 208 So etwa Keller. In: Keller IV, S. 151–184; Zitat: S. 160 (Das Drama Goethes).

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helm Schlegel richtig erkannte, „neue poetische Lebensregung in die Zeit bringen“209. Wohlgemerkt „in die Zeit“ und insofern in die Gesellschaft. Wilhelm von Humboldt hat die aktivierende kommunikative Grundstruktur von Goethes wirklichkeitsbezogener Schreibweise exakt beschrieben. Er statuierte: „Die poetische Welt, die seine [Goethes] Einbildungskraft in ihm bildet, hat eine Wahrheit, einen Zusammenhang, eine Wirklichkeit, wie die reelle um ihn her, von der sie sich nur durch ihre Idealität unterscheidet. Er lebt in ihr, wie in seiner Heimat. … Sie möchte er ohne Verlust, ohne das Mindeste ihrer Wahrheit aufzuopfern, vor die Phantasie des Zuhörers stellen“210. Wohlgemerkt: „vor die Phantasie des Zuhörers stellen“, also auf sein Bewußtsein einwirken. Damit ist alles gesagt zum Realitätsgehalt von Goethes ‚Idealität‘. Im Rahmen der Aufführungsgeschichte wird darauf zurückzukommen sein. Es gibt zwei schöne Beispiele dafür, wie wichtig es für den Autor war und wie sehr es ihn beglückte, eine solche Wirkung unmittelbar erleben zu dürfen. Den einen Fall berichtete er Charlotte von Stein aus Rom wie folgt: „Ich las Tischbeinen [d.i. der Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, bei dem Goethe in Rom wohnte] meine Iphigenie vor. … Die sonderbare, originale Art wie dieser das Stück ansah und mich über den Zustand in welchem ich es geschrieben aufklärte, erschröckte mich. Es sind keine Worte wie fein und tief er den Menschen unter dieser Helden Maske [Heldenmaske] empfunden“211. Genau darauf kam es Goethe an: „den Menschen unter dieser Helden-Maske [zu] empf[i]nden“. Den anderen Fall teilt er in der „Italienischen Reise“ mit. Dort steht zu lesen: „Angelica [d.i. die Malerin Angelika Kauffmann] hat aus meiner Iphigenie ein Bild zu mahlen [malen] unternommen; der Gedanke ist sehr glücklich … Man sieht auch hieran wie zart sie fühlt und wie sie sich zuzueignen weiß, was in ihr Fach gehört“212. Derartige ‚Zueignung‘, will sagen: vertieftes Verstehen, wollte er allemal auslösen. Zu der im Schauspiel utopisch vorweggenommenen Lebenspraxis gehört vorrangig die Qualität gelingender Kommunikation. Ein geradezu ideales Beispiel hierfür liefert die anrührende Bemerkung Zelters in einem Brief an Goethe vom Jahr 1824: „Was Du das Humane an Deiner Iphigenia nennst, wollte ich mir gern klar machen; da mußte ich denn erst das Stück wieder lesen, und so geriet ich tiefer hinein und zurück. Euripides, Sophokles, Aeschy209 Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1808). In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Eduard Böcking. Bd. 6. Leipzig 1846 (Nachdruck: Hildesheim 1971, S. 413–417). 210 Wilhelm von Humboldts Briefe an Christian Gottfried Körner. Hrsg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1940, S. 52 (Brief aus Paris vom 21.12.1797). 211 WA IV.8, S. 94 (an Charlotte von Stein am 14.12.1786). 212 WA I.31, S. 48 (Eintragung vom 13.3.1787). Die Weimarer Prosafassung von 1779  75

los mußten herhalten. Beide Iphigenien, Orest, die Eumeniden, Elektra, Agamemnon. Diese sind Griechen; Deine Leute sind Menschen, dazu gehöre ich und will so zu bleiben versuchen“213. Alle drei Reaktionen beziehen sich indes auf die Versfassung, deren lange dauernde Entstehung erst noch beschrieben werden muß.

Zur Entstehung der „Iphigenie“ (II): Die Versfassung von 1786 Schon bald nach der erfolgreichen Uraufführung empfand Goethe formales Ungenügen an seinem Schauspiel. Gegenüber Lavater bekannte er freimütig: „Meine Iphigenie mag ich nicht gern, wie sie iezo ist“. Er suchte nach einer angemesseneren Formlösung und betonte, es gelte, dem Stück „mehr Harmonie im Stil zu verschaffen“214. Deshalb machte er sich daran, seine Gestaltung von Grund auf neu zu überdenken. Sowohl Wieland215 als auch besonders Herder bestärkten ihn in der Ansicht, der hohe Anspruch des Gegenstands müsse vor allem auch seine Entsprechung in der Form finden. Bereits in den 1766 verfaßten Fragmenten „Über die neuere deutsche Literatur“ hatte Herder auf die steigernden Ausdrucksmöglichkeiten des metrischen Silbenmaßes bildkräftig aufmerksam gemacht. Es könne nämlich „wie ein Pfeil treffen, sich wie ein Adler aufschwingen, … die Sprache durchgraben und sich wieder, ohne zu sinken, schwimmend erhalten“216. Genau dergleichen schwebte Goethe vor. Einige wenige jambisierende Versuche in den Jahren 1780 und 1781 mußten indes erfolglos abgebrochen werden. Der Autor fand einfach nicht die dafür nötige Zeit. Zu sehr war er eingebunden in die Tretmühle des „gewöhnlichen Welt-, Geschäffts-

213 Brief Carl Friedrich Zelters an Goethe vom 15.7.1824 (zit. n.: MA 3.1, S. 770). 214 WA IV.4, S.  318 (an Lavater am 13.10.1780). Im gleichen Sinne bezeichnete Goethe die Prosafassung als bloß vorläufige „Skizze“ (WA IV.4, S. 17; an Charlotte von Stein am 4.3.1779) oder als einfachen „Entwurf “ (WA IV.8, S.  214; an Philipp Seidel am 15.5.1787). 215 Wieland verweist auf den jambischen Fluß der noch ungedruckten Prosafassung von „Iphigenie auf Tauris“; er spricht von einer „Tragödie in Jamben … regelmäßiger als irgendein französisches Trauerspiel“ (Wieland, Christoph Martin: Briefe an einen jungen Dichter, Nr. 3, 1784; in: ders.: Werke, Bd. 4. Berlin und Weimar 1967, S. 103). Früh schon würdigte er damit die von Beginn an sich abzeichnende Formgesinnung Goethes. In einem Brief an Herder weist Goethe ausdrücklich darauf hin, es sei Wieland gewesen, „der zuerst die schlotternde Prosa in einen gemeßnern Schritt richten wollte“ (WA IV.8, S. 124; an Herder am 13.1.1787). 216 Herder, Johann Gottfried: Werke, Bd.  1. Hrsg. v. Wolfgang Pross. Darmstadt 1984, S. 100 (Fragmente über die Eigenheit unserer Sprache).

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und Hoflebens“217. Aus diesem Grund gab er dem ‚Kurmainzischen Statthalter‘ in Erfurt, Carl Theodor von Dalberg, der sich wegen einer möglichen Aufführung ein Manuskript erbat, ablehnend zum Status des Stückes zu bedenken: „Auch ist es viel zu nachlässig geschrieben als dass es von dem gesellschafftlichen Theater [der Weimarer Liebhaberbühne] sich so bald in die freye Welt wagen dürfte“218. Erst im Zuge der insgeheim betriebenen Vorbereitung der italienischen Reise holte Goethe 1786, acht Jahre nach der Fertigstellung der Prosafassung, das Manuskript wieder hervor und begann mit der systematischen Umarbeitung in ein Versdrama. Unbedingt wollte er nämlich im Rahmen der gerade vereinbarten GöschenAusgabe das Schauspiel „Iphigenie“ in würdiger Form präsentieren. Wie Wieland in „Lady Johanna Gray, oder der Triumph der Religion“ (1758) sowie in seiner Übersetzung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ („Ein St. Johannis NachtsTraum“, 1762), Lessing in „Nathan der Weise“ (1779) und Schiller in „Don Carlos“ (Erstfassung 1785) entschied er sich für den shakespearesierenden Blankvers. Den Karlsbader Badeaufenthalt im Sommer wollte er für die Versifikation des Stückes nutzen. Allerdings war das leichter gesagt als getan. Galt es doch, die ungebundene, stellenweise rhythmisch akzentuierte Prosaversion in einen regelmäßig durchgeformten Verstext aus reimlosen jambischen Fünfhebern zu übertragen. Aus Karlsbad berichtete Goethe hierzu Charlotte von Stein: „Gestern Abend ward Iphigenie gelesen und gut sentirt. … Jetzt da sie in Verse geschnitten ist macht sie mir neue Freude, man sieht auch eher was noch Verbesserung bedarf “. Und weiter: „Ich bleibe noch acht Tage und solang hab ich noch zu thun. Herder hilft mir treulich, noch wird an Iphigenien viel gethan“219. Aber die Schaffensfreude hielt nicht lange vor. Wenige Tage später teilte Goethe unter dem Eindruck der Versgestaltung bei Sophokles mit sechshebigen Jambenversen, den sogenannten Trimetern, dem kurz zuvor abgereisten Freund Herder bedauernd mit, „daß mir nun die kurzen Zeilen der Iphigenie ganz höckerig, übelklingend und unlesbar werden“220. Bei diesem Stand der Dinge blieb es zunächst. Erst nachdem Goethe die Flucht nach Italien angetreten hatte, konnte die Umarbeitung wenigstens ansatzweise fortgeführt werden. Im Rückblick der „Italienischen 217 218 219 220

WA IV.5, S. 217 (an Lavater am 14.11.1781). WA IV.4, S. 47 (an Carl Theodor von Dalberg am 21.7.1779). WA IV.8, S. 7 und WA IV.8, S. 8 f. (an Charlotte von Stein am 23.8. und am 27.8.1786). Vgl. hierzu das Schreiben Goethes. Der ausführliche Text lautet: „Nach deinem Abschied laß ich noch in der Elecktren [Elektra] des Sophokles. Die langen Jamben ohne Abschnitt [Zäsur] und das sonderbare Wälzen und Rollen des Periods [Pause], haben sich mir so eingeprägt daß mir nun die kurzen Zeilen der Iphigenie ganz höckerig, übelklingend und unlesbar werden“ (WA IV.8, S. 8; an Herder am 1.9.1786). Die Versfassung von 1786  77

Reise“ heißt es dazu: „Als ich den Brenner verließ, nahm ich sie [Iphigenie] aus dem größten Packet und steckte sie zu mir. Am Gardasee, … wo ich wenigstens so allein war als meine Heldin am Gestade von Tauris, zog ich die ersten Linien der neuen Bearbeitung, die ich in Verona, Vicenz, Padua, am fleißigsten aber in Venedig fortsetzte. Sodann aber gerieth die Arbeit ins Stocken“221. Während der gesamten Reise wurde ihm diese Arbeit zur „süßen Bürde“222. So schrieb er etwa aus Verona: „An der Iphigenie wird gearbeitet, nach meiner Rechnung soll sie Ende Oktbr. [Oktober] aufwarten, ich wünsche mir nur daß die Musterbilder von Versen viele ihres Gleichen mögen hervorgebracht haben. Nachdem mir das lang muthwillig verschloßne Ohr endlich aufgegangen, so verjagt nun eine Harmonische Stelle die nächste unharmonische und so wird hoffentlich das ganze Stück rein“223. Aus dem Oktobertermin wurde indes nichts. Wie häufig bei Terminangelegenheiten täuschte sich der Briefschreiber gründlich. Es sollte noch vier weitere Monate dauern, bis die Versfassung fertig vorlag. Immerhin konnte er schon Ende September ins Tagebuch für Frau von Stein zu „Iphigenie“ eintragen: „sie soll euch freuen da sie unter diesem Himmel [Italiens] reif geworden“224. Während der gemächlichen Anreise mit ihren vielfältigen Eindrücken waren freilich die Gedanken des Dichters nebenher immer auch auf seine „Iphigenie“ gerichtet. Das zeigt uns ein Eintrag im Tagebuch vom 19. Oktober 1786 aus Bologna. Darin erwähnt Goethe den folgenden für seine Arbeit wichtigen Eindruck von einem damals noch Raffael zugeschriebenen Bild225: „Im Palast Ranuzzi hab’ ich eine St. Agatha von Raphael gefunden … Er hat ihr eine gesunde sichre Jungfräulichkeit gegeben ohne Reitz, doch ohne Kälte und Rohheit. Ich habe sie mir wohl gemerkt und werde diesem Ideal meine Iphigenie vorlesen und meine Heldinn nichts sagen laßen was diese Heilige nicht sagen könnte“226. Damit ist das Ideal einer wie selbst221 222 223 224 225

WA I.30, S. 245 (Eintragung vom 6.1.1787). WA I.30, S. 167 (Eintragung vom 19.10.1786). WA IV.8, S. 24 (an das Ehepaar Herder am 18.9.1786). WA III.1, S. 226 (Eintragung vom 24.9.1786). Es handelt sich hierbei, Herbert von Einem zufolge (HA 11, S. 600), um das Bild „Agatha im Gefängnis“ des hauptsächlich in Bologna arbeitenden Malers Giovanni Francesco Barbieri, genannt Guercino (1591–1666). Das Gemälde wurde 2007 bei Sotheby’s London versteigert. Im Werkkatalog Raffaels gibt es keine „St. Agatha“. Norbert Miller und Hartmut Reinhardt statuieren kurzerhand: „Das Bild der heiligen Agathe ist in Bologna nicht mehr nachweisbar“ (MA 3.1, S. 716). Im Tagebuch von 1786 geht Goethe noch davon aus, es handle sich um ein Gemälde Raffaels. In der „Italienischen Reise“ spricht er dann von einer „Arbeit von Raphael oder die ihm wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit zugeschrieben wird“ (WA I.30, S. 166). 226 WA III.1, S. 306.

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verständlich rational handelnden Verfechterin der Menschlichkeit angesprochen. Die Aussage hat natürlich ebensoviel zu tun mit der den Autor augenblicklich beschäftigenden Formlösung der Versfassung. Nach der Ankunft in Rom kam Goethe dann wieder zu kontinuierlichem Arbeiten. Definitiv konnte nun „das stockende Sylbenmaas … in fortgehende Harmonie“ verwandelt werden227. Wie schwierig sich jedoch die konkrete Umformung gestaltete, ist einem weiteren Brief Goethes an Herder zu entnehmen. Darin ließ er den Freund wissen: „An der Iphigenie habe ich noch zu thun. Sie neigt sich auch zur völligen Crystallisation. Der vierte Ackt wird fast ganz neu. Die Stellen die am fertigsten waren plagen mich am meisten, ich mögte ihr zartes Haupt unter das Joch des Verses beugen ohne ihnen das Gnick [Genick] zu brechen. Doch ists sonderbar daß mit dem Sylbenmas sich auch meist ein beßerer Ausdruck verbindet“228. Im Zuge der Arbeit stellte sich heraus, daß der Text nicht einfach umgearbeitet, sondern regelrecht umgeschrieben werden mußte229. Demzufolge strebte der Autor unbedingt eine ästhetische Steigerung durch die konsequente Formlösung an, gleichsam einen gefestigten poetischen Aggregatzustand für das handlungsmäßig fertig vorliegende Drama, eben die „völlige Crystallisation“. In der Tat bedeutete das ein metrisch penibles Umschreiben bis ins letzte Detail. Das ging nur Schritt für Schritt vonstatten. Goethe berichtete darüber wie folgt: „Alle Morgen eh ich aufstehe wird an der Iphigenie geschrieben, täglich erobre ich eine Stelle und das Ganze macht sich. Ich bin ganz nah fertig zu seyn“ … „Mein Verfahren dabei war ganz einfach: ich schrieb das Stück ruhig ab und ließ es Zeile vor Zeile, Period vor Period regelmäßig erklingen. … Ich habe dabei mehr gelernt als gethan“230. Diese Feststellung des geplagten Versifikators war allerdings stark untertrieben. Er lernte zwar bestimmt einiges dabei, hat aber ebenso viel oder eher weit mehr selbst getan. Besonders hilfreich waren ihm bei der Umschreibung die prosodischen Thesen von Karl Philipp Moritz (1756–1793), der sich seit November 1786 in Rom aufhielt. Der Berliner Gymnasialprofessor machte ihn beim gelegentlichen Meinungsaustausch mit der metrisch wegweisenden Erkenntnis bekannt, daß im Deutschen nicht nach langen und kurzen, sondern nach betonten und unbetonten Silben unterschieden werden muß. Diese Wende von der quantifizierenden zur akzentuierenden Versifikation erwies sich als höchst brauchbar bei 227 WA IV.8, S. 25 (an Carl August am 18.9.1786). 228 WA IV.8, S. 32 (an Herder am 14.10.1786). 229 Dem befreundeten Komponisten Philipp Christoph Kayser in Zürich schrieb Goethe am 6.2.1787 ausdrücklich: „… werden Sie Iphigenien umgeschrieben finden (warum ich nicht umgearbeitet sage werden Sie am Stücke sehn)“ (WA IV.8, S. 175). 230 WA IV.8, S. 76 (an das Ehepaar Herder am 2.12.1786) sowie WA I.30, S. 246 (Eintragung vom 6.1.1787). Die Versfassung von 1786  79

der endgültigen Ausarbeitung der Versfassung. Goethe ging sogar so weit zu sagen: „Iphigenia in Jamben zu übersetzen hätte ich nie gewagt, wäre mir in Moritzens Prosodie nicht ein Leitstern erschienen. … so hat man doch indessen einen Leitfaden an dem man sich hinschlingen kann. Ich habe diese Maxime öfters zu Rathe gezogen und sie mit meiner Empfindung übereinstimmend getroffen“231. Erst zum Jahresende 1786 konnte Goethe Herder, dem selbstlosen Korrektor und Vermittler gegenüber dem Göschen-Verlag, erleichtert schreiben: „Endlich kann ich dir mit Freuden melden daß meine Iphigenie fertig ist. … Wenige Verse möchte ich noch verbessern und dazu will ich sie noch eine Woche behalten, dann übergeb ich sie dir mit völliger Macht und Gewalt darin nach Belieben zu korrigiren“232. Zwei Wochen danach, am 13. Januar 1787, ging dann die Sendung des Manuskripts tatsächlich nach Weimar ab. Nunmehr konnte die Redaktion des dritten Bandes der Werkausgabe zügig abgeschlossen werden233. Eine für die Zukunft entscheidende Arbeitsphase lag damit hinter dem Dichter. Er hatte für den neuen Inhalt die passende neue Form gefunden. Tatsächlich bedeutet die Fertigstellung der römischen Fassung der „Iphigenie“ einen Meilenstein innerhalb des Werkablaufs. Denn für die Entwicklung Goethes zum Repräsentanten der ‚klassischen‘ Dichtung stellen Vollendung und Publikation der Versfassung den wesentlichen Schritt dar. Daß das in Rom geschah, ist gewiß kein Zufall. An der lebendig erfahrenen antiken Kunst schulte der lernbegierige Besucher die eigene Kreativität. Hier reifte in ihm vollends die Überzeugung von der Notwendigkeit einer ästhetischen Umorientierung. Von nun an setzte er der von ihm als ungenügend erkannten gesellschaftlichen Realität als kritischen Gegenentwurf das davon abgehobene Ideal einer autonomen Kunst entgegen. Deren Ziel ist die ästhetische Erziehung des Menschen. Die für den Verfasser von „Götz“ und „Werther“ eingenommenen Verehrer wußten indes wenig anzufangen mit der neuen Ästhetik. In der „Italienischen Reise“ beschreibt Goethe die unerwartete Wirkung einer Lesung seiner Vers-„Iphigenie“ im Kreis der jungen Maler der deutschen Kolonie in Rom mit den Worten: „Diese jungen Männer, an jene früheren, heftigen, vordringenden Arbeiten gewöhnt, erwarteten etwas Berlichingisches, und konnten sich in den ruhigeren Gang nicht gleich finden“234. In ihren Ohren klang das feierliche Versesprechen wie eine veraltete Stimme 231 WA I.30, S. 248 und 249 (Eintragung vom 10.1.1787). 232 WA IV.8, S. 108 (an Herder am 29.12.1786). 233 „Iphigenie auf Tauris“ bildete mit „Clavigo“ und „Die Geschwister“ den 1787 publizierten dritten Band der Göschen-Ausgabe. Gleichzeitig erschien ein selbständiger Druck des Schauspiels. Von der Prosafassung (1779) gab es zunächst nur einen Abdruck in der Zeitschrift Schwäbisches Museum, Band 1, 1785. 234 WA I.30, S. 249 (Eintragung vom 10.1.1787).

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der Vergangenheit. Ähnlich zurückhaltend fiel die Reaktion der meisten Weimarer Leser aus. Der Autor notierte dazu enttäuscht: „Ich merke wohl daß es meiner Iphigenie wunderlich gegangen ist, man war die erste Form [gemeint ist die Prosafassung der „Iphigenie“] so gewohnt, … nun klingt das alles anders, und ich sehe wohl, daß im Grunde mir niemand für die unendlichen Bemühungen dankt“235. Wie viel der Schritt von der Prosafassung zur Versfassung des Schauspiels Goethe bedeutete, ist der Dankesbekundung für seinen hauptsächlichen Helfer abzulesen. Er versicherte Herder: „Hier mein lieber wenn man etwas wiedmen und weyhen kann die Iphigenie, dir gewiedmet und geweyht. … nimm vorlieb und freue dich wenigstens über einen folgsamen Schüler. … Wenn ich nur dem Bilde, das du dir von diesem Kunstwerke machtest, näher gekommen bin. Denn ich fühlte wohl bei deinen freundschaftlichen Bemühungen um dieses Stück, daß du mehr das daran schätztest was es sein könnte als was es war. Möge es dir nun harmonischer entgegenkommen“236. Die Versfassung löste bei dem formbewußten Übersetzer antiker Dichtungen, Karl Ludwig von Knebel, große Begeisterung aus. Spontan schrieb er Herder, der ihm ein Manuskript zu lesen gegeben hatte: „Sie [die „Iphigenie“] hat mir ein unaussprechlich süßes Vergnügen gemacht, da der vollen, reifen Frucht nun nichts zu vergleichen ist. Es liegt für den Liebhaber der Kunst bei Vergleichung mit dem ersten Originale [gemeint ist die Prosafassung] ein Begriff von Ausbildung darinnen, der den Dichter so hoch stellt als beinahe die Erschaffung des Werkes selbst“237. Eine entsprechende Äußerung des Adressaten dieser Zeilen läßt sich nicht finden. Zwar scheint Herder mit dem Ergebnis zufrieden gewesen zu sein, denn er bemerkte gegenüber Hamann: „die Iphigenie ist ganz neu geworden“238. Ebenso lobte er nach der Übersendung der Kupferplatten für den Druck in der Göschen-Ausgabe die Illustrationen Angelika Kauffmanns zu „Iphigenie“ mit den Worten: „Sie sind sehr schön u. im innern Geschmack des Werks selbst“239. Zweifellos war das auch anerkennend für die neue Textversion gemeint. Doch fällt auf, daß es in seiner Korrespondenz keine weitere Reaktion auf die Versfassung gibt. Herder teilte Goethes Humanitätsauffassung durchaus. Weniger gefiel ihm freilich dessen in Rom entwickelter Autonomieanspruch für die Kunst. Von diesem Punkt her und mehr noch wegen politischer Divergenzen kam es in der Folgezeit zur langsamen Entfremdung 235 WA I.31, S. 53 (Eintragung vom 16.3.1787). 236 WA IV.8, S. 123 f. und MA 3.1, S. 755 (an Herder am 13.1.1787). 237 Begleitschreiben Knebels an Herder vom 2.3.1787 zur Rücksendung des ihm noch vor dem Druck überlassenen Manuskripts der Versfassung (zit. n.: MA 3.1, S. 757). 238 Herder, Johann Gottfried: Briefe, Bd.  5 (Sept. 1783–August 1788). Weimar 1979, S. 206 (an Johann Georg Hamann, Ende Januar 1787). 239 Ders.: ebd., S. 213 (an Georg Joachim Göschen am 15.2.1787). Die Versfassung von 1786  81

beider. Nicht umsonst betonte Herder im 104. Humanitätsbrief nachdrücklich: „Form ist Vieles bei der Kunst; aber nicht Alles“240. Das war eindeutig gegen Goethe gerichtet. Dergestalt nahm die enge künstlerische Zusammenarbeit zwischen den ungleichen Weimarer Kulturrepräsentanten leider einen eher unerquicklichen Verlauf.

Prosafassung versus Versfassung Inhaltlich betrachtet lag das Wirkungskonzept Goethes, wie beschrieben, von Beginn an fest. Er wollte mit seiner „Iphigenie“ eine dramatische Parabel praktizierter Humanität und Toleranz vermitteln. Das Schauspiel sollte die subversive Kritik am Mißbrauch weltlicher und religiöser Autorität befördern und vernunftbestimmtes Handeln auslösen, ferner Gewalt durch das Gespräch ersetzen und die Frau als Repräsentantin des Humanen herausstellen. In dieser Absicht wurde die tragisch angelegte griechische Vorlage zum versöhnlich endenden Drama umgedacht. Was dabei zunächst fehlte, war, wie der Autor schon früh bemerkte, die adäquate sprachliche und formale Umsetzung. Das angestrebte Ziel ist den dafür gewählten Begriffen abzulesen: „Crystallisation“, „Harmonie“, „Reinheit“ und „Wohlklang“. Demnach sollte die Formlösung mit der thematisch vorgegebenen Wirkungsabsicht in Einklang gebracht werden. Ging es doch darum, der abzulehnenden Wirklichkeitssituation eine kritisch darauf bezogene Idealität entgegenzusetzen, die auch in der Form ihren adäquaten Ausdruck findet. Mit gutem Grund bezeichnete Goethe die Fassung in gebundener Sprache darum auch als „Gedicht“241. Die metrische Verdichtung und Gliederung sollte, wie er gegenüber seinem Verleger betonte, das Schauspiel „einer guten Aufnahme würdiger machen“242. Die „gute Aufnahme“ durch das Publikum ließ allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, geraume Zeit auf sich warten. Fragt man nach den Gründen, warum der Autor die Entscheidung traf, den Text, wie er es nannte, „in Verse zu schneiden“, ist dafür, neben dem unwiderstehlichen Bedürfnis nach künstlerischer Regeneration und der damit verbundenen Notwendigkeit strenger Tektonik, ein sozialpsychologischer Grund anzuführen. Im Zuge seiner Weimarer Erfahrungen war Goethe zu der enttäuschenden Erkenntnis gelangt, daß politische und soziale Reformen in Deutschland auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt waren, weil selbst so aufgeklärte Herrscher wie Carl August nicht bereit 240 Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Bd. XVIII. Berlin 1883, S. 121 (Briefe zur Beförderung der Humanität, Nr. 104). 241 WA IV.8, S. 204 (an Charlotte von Stein am 19.2.1787). Auch Lessing bezeichnete sein Parabeldrama „Nathan der Weise“ (1779) im Untertitel als „dramatisches Gedicht“. 242 WA IV.8, S. 198 (an Göschen am 20.2.1787).

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waren, grundsätzliche Reformen durchzuführen243. Er sah als Künstler nur noch indirekte, vermittelte Möglichkeiten, der fest etablierten Gefährdung des Humanen zu begegnen. Insofern wurde Kunst für ihn zum utopischen Vorschein des real Herbeizuführenden. Deswegen substituierte er dem direkten kritischen Eingreifen ein ideales Leitbild vom Menschen, das ausschließlich auf eine zu wünschende, praktisch gewendete Humanität hinzielt. Was wir aus dem historischen Abstand heraus als den Übergang vom Sturm und Drang zur Klassik bezeichnen und damit literarhistorisch einordnen, ist im Entwicklungsgang Goethes zunächst einmal nichts anderes als eine grundlegend neue ästhetische Orientierung. Dieser Schritt war seine Reaktion auf die unbefriedigende sozialpolitische Lage. Kunst als der einzig mögliche Freiraum in der absolutistischen Herrschergewalt. Bei seiner ministeriellen Tätigkeit hatte er sich vergeblich um ausgleichende Lösungen bemüht. Jetzt in Italien, als Künstler unter Künstlern und unter dem direkten Eindruck lebendiger Antike, konnte er sie wenigstens im ästhetischen Bereich finden. Das ‚Umgießen‘ seines prosaischen Dramentextes in den Text durchformende Blankverse (ᴗ - ᴗ - ᴗ - ᴗ - ᴗ -)244 bewirkte, über den durch die metrische Gestaltungsnorm geschaffenen Ausgleich hinaus, eine entscheidende Veränderung der dramatischen Sprechsituation. Die Monologe und Dialoge des Schauspiels verlieren infolge der durchgängig gleich gebauten Versanordnung den Charakter des natürlichen Sprechakts. Obgleich die Versversion inhaltlich weithin mit der Prosafassung übereinstimmt, wirkt sie ausdrucksmäßig in ihrer Realitätsdimension eingeschränkt. Ein reduzierender, zugleich jedoch fokussierender Wirklichkeitsgrad ist mithin der ‚Preis‘, den der ästhetische Programmwechsel fordert. Dafür schafft der jambisch gestützte und rhythmisch akzentuierte Sprach- und Sprechzusammenhang der Versversion eine eigene, ganz aus der Sprache kommende, konzentrierte und gesteigerte Kunst-‚Wirklichkeit‘, eine Art Sprechgesang. Die gleichmäßig durchrhythmisierte und insofern abgehobene Diktion gibt dem bewegt-abbildhaften Inhalt der Prosafassung einen über den Text hinausreichenden Reflexionsanstoß. Was damit gemeint ist, zeigt am besten der konkrete Vergleich.

243 Aufschlußreich ist hierzu ein Eintrag Goethes im Tagebuch vom 8.4.1779. Nach dem abendlichen Besuch bei Herzogin Anna Amalia notierte er: „Man thut Unrecht, an dem Empfindens und Erkennens Vermögen der Menschen zu zweifeln, da kan man ihnen viel zu trauen [zutrauen], nur auf ihre Handlungen muß man nicht hoffen“ (WA III.1, S. 84 f.). Wohlgemerkt war das nur zwei Tage nach der Uraufführung der „Iphigenie“. 244 Der Blankvers ist fünfhebig jambisch und reimlos. Gelegentlich kann der Auftakt auch trochäisch ( - ᴗ ) oder spondeisch ( - - ) ausgefüllt sein; ebenso kann am Versende eine überzählige Senkung angefügt werden. Prosafassung versus Versfassung  83

Wählen wir dafür die beiden Anfangssätze des Eingangsmonologs von Iphigenie. Sie lauten in der Prosafassung wie folgt: Iphigenie: Heraus in eure Schatten, ewig rege Wipfel des heiligen Hains hinein ins Heiligthum der Göttin, der ich diene, tret’ ich mit immer neuen Schauer, und meine Seele gewöhnt sich nicht hierher! So manche Jahre wohn’ ich hier unter euch verborgen, und immer bin ich wie im ersten fremd, denn mein Verlangen steht hinüber nach dem schönen Lande der Griechen, und immer möcht’ ich über’s Meer hinüber das Schicksal meiner Vielgeliebten theilen.245

Nach erfolgter Umarbeitung in Blankverse nimmt der weithin gleiche Text, zumal als rezitierter Bühnentext, eine gänzlich andere Form an. Intonation, Melodie, Rhythmus und Betonung erfahren eine substantielle, ausdruckssteigernde Veränderung. Dank der einheitlichen Phrasierung verlagert sich die Aussage vom subjektiven Abbild des Handlungsvorgangs zu einem eher übertragbaren, wirkungsvoller organisierten Sprachfluß. Dadurch wird die Versfassung zum transsubjektiv angelegten, ästhetisch mediatisierten Funktionsensemble. Sie gewinnt so einen nicht zu übersehenden Zuwachs an Objektivität. Entscheidend tragen hierzu die syntaktischen Einschnitte an bestimmten Verszäsuren bei. Doch lassen wir das Formmuster der fünfhebigen Jamben direkt auf uns wirken: Iphigenie:

5

10

Heraus in eure Schatten, rege Wipfel Des alten, heil’gen dichtbelaubten Haines, Wie in der Göttin stilles Heiligthum, Tret’ ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl, Als wenn ich sie zum erstenmal beträte, Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher. So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe; Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd. Denn ach! Mich trennt das Meer von den Geliebten, Und an dem Ufer steh’ ich lange Tage, Das Land der Griechen mit der Seele suchend; Und gegen meine Seufzer bringt die Welle Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.246

245 WA I.39, S. 323. 246 WA I.10, S. 3.

84  Die dramaturgische Wende mit „Iphigenie auf Tauris“

Iphigenie beschreibt zu Beginn der Exposition des Dramas situierend ihre entfremdende Zwangslage im Land der Skythen und ihr brennendes Heimweh. So kommt von vornherein ihr Widerstand gegen das auferlegte Schicksal direkt zur Sprache. Trotz langjähriger Gewohnheit löst das Betreten des heiligen Tempelbezirks in ihr immer noch tiefe Ablehnung, ja „schauderndes Gefühl“ (V. 4) aus. Ihre Sehnsucht gilt der Heimat, dem „Land der Griechen“ (V. 12). Der Vergleich beider Fassungen zeigt deutlich, daß die Umarbeitung nicht an das inhaltliche Konzept der Prosafassung rührt. Mehr noch, fast das gesamte Wortmaterial wird, hauptsächlich in den ersten neun Versen, übernommen. Nur wenige Wörter werden ausgetauscht. Die übrigen Eingriffe scheinen sich auf versinterne Glättung und deutlichere Rhythmisierung zu beschränken. Jedoch zeigt genaueres Hinsehen ebenso einschneidende Unterschiede. Tendenziell läßt sich nämlich den Wortsubstitutionen und den übrigen Veränderungen eine weitgehende Zurücknahme individueller psychischer Sachverhalte ablesen247. Das wiederum deutet auf eine gezielte Reduktion des Subjektiven hin. Sicher geschah das in der Absicht, eine besser vermittelbare, allgemein gehaltene Ausdrucksebene herzustellen. Sie ist im Zwischenbereich von Realität und Ideal angesiedelt. Überzeugend hat Matussek diesen generellen Sachverhalt wie folgt interpretiert: „Ganz bewußt werden die Phänomene über ihr empirisches Dasein hinausgehoben, zu Repräsentanten allgemeiner Ideen stilisiert und typisiert“248. Vornehmlich wird die objektivierende Ausrichtung der Endfassung durch die Versifikation gestützt. Was sich dabei in erster Linie verändert, ist die Sprach- und Sprechmelodie. In der Regel trägt das Schema der metrisch gleichmäßig organisierten Verszeilen den Satzfluß. Versgrenze und syntaktische Grenze stimmen miteinander überein, wie etwa im sechsten Vers: „Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher“. Das erbringt die jambisch getragene und metrisch in sich geschlossene Information, daß Iphigenie auf Tauris, ungeachtet ihrer erzwungenen physischen Präsenz, sich nicht wirklich zugehörig, sondern „fremd“ fühlt. Die Art dieses „Fremd“-Seins bedarf zusätzlicher Klärung. Im Text geschieht das hauptsächlich durch einen veränderten Sprechzusammenhang. Zur konkreten Erläuterung sei als Beispiel das „verborgene“ Leben der Iphigenie herausgegriffen. Es erscheint in der Prosafassung einfach berichtend im ganz vom Ich ausgehenden, ruhig als Mitteilung dahingesagten Teilsatz: „So manche Jahre 247 Hierzu die folgenden Beispiele: „Göttin, der ich diene“ > „Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe“ – „Seele“ > „Geist“ – „denn mein Verlangen steht hinüber nach dem schönen Lande der Griechen“ > „Das Land der Griechen mit der Seele suchend“ – „Verlangen“ > „Seele“ – „immer möcht ich über’s Meer hinüber das Schicksal meiner Vielgeliebten theilen“ > „bringt die Welle / Nur dumpfe Töne brausend mir herüber“. 248 Matussek, S. 114. Prosafassung versus Versfassung  85

wohn’ ich hier unter euch verborgen“. Daraus wird in der Versversion die emotional aufgeladene Aussage: „So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen / Ein hoher Wille“ (V. 7/8). Man horcht auf, weil das Enjambement den metrisch vorgegebenen Zeilenstil durchbricht und den Satz in den anschließenden Vers hinübertreibt. Wie an zwei anderen Stellen (V. 1/2 und V. 13/14) drängt hier die Syntax über die Versgrenze hinaus. Der auffallende Widerstreit von Metrik und Syntax verleiht dem sprachlichen Ausdruck punktuell erhöhte Spannung. Durch die Versbrechung erscheint die Wendung „bewahrt mich hier verborgen / Ein hoher Wille“ besonders herausgehoben, weil die rhythmische Rede sich unerwartet über die Zäsur hinweg in die Länge zieht. Unwillkürlich rücken damit die Zuschreibungen „verborgen“ und „ein hoher Wille“ in den Vordergrund des Interesses. Tatsächlich kommt ja mit dem „hohen Willen“ die göttliche Schicksalsanmaßung zur Sprache. Hörer oder Leser werden so förmlich, nämlich durch die Ausdrucksform des Enjambements, darauf gestoßen, daß in diesem „hohen Willen“ die Ursache für Iphigenies „Verborgen“-Sein, aber gleichfalls für ihre widerständige Haltung zu suchen ist. Erst in der Versfassung taucht die ergänzende Wendung auf: „dem ich mich ergebe“ (V. 8). Das könnte Ergebung in den göttlichen Willen bedeuten. In Wahrheit handelt es sich, vom Kontext her, um eine reine Geste der Dankbarkeit gegenüber der Göttin Diana, die durch ihr Eingreifen Iphigenies Opferung, in Wahrheit ihre Abschlachtung, verhinderte. An ihrer kritischen Distanznahme zur göttlichen Autorität ändert sich dadurch nichts. Ein Blick auf die unterschiedliche syntaktische Gliederung beider Fassungen zeigt ebenfalls die zu beobachtende Veränderung. Die Prosafassung besteht aus zwei weitgespannten Sätzen („Heraus … hierher!“ – „So … theilen“), wobei in der kürzere Periode mehr der seelische Schmerz Iphigenies, in der längeren mehr ihr Heimweh dargestellt wird. Pointierend kommt so die persönliche Lage Iphigenies realitätsnah zum Ausdruck. Die Versfassung hingegen gliedert sich in drei Teile („Heraus … hierher“, V. 1–6 – „So … fremd“, V. 7–9 – „Denn … herüber“, V. 10–14). Um die Kernverse herum (V. 7–9) sind, nahezu symmetrisch, zwei erläuternde Versblöcke gruppiert, in denen das „schaudernde Gefühl“ (V. 4) der Exilierten sowie ihr sehnsüchtiges „Verlangen“ nach der Heimkehr zum Ausdruck gebracht werden. Daraus ergibt sich eine verstärkte periodische Ordnung der Aussage. Die fünf abschließenden Verse weichen gezielt stärker vom Wortmaterial der Urfassung ab. In dieser Textpartie, die mit einem im Affekt gesprochenen Ausrufesatz anhebt („Denn ach!“, V. 10), wird zwar der Leidenszustand Iphigenies vertieft vorgeführt, zugleich aber, von der eingeschriebenen Wirkungsstruktur her, ins Objektive übertragen. Um das zu realisieren, braucht man nur die beiden Formulierungen der Heimatsehnsucht Iphigenies nebeneinanderzuhalten: den subjektiv gefärbten Teilsatz: „denn mein Verlangen steht hinüber nach dem schönen Lande der Griechen“ und den verallge86  Die dramaturgische Wende mit „Iphigenie auf Tauris“

meinernden Vers: „Das Land der Griechen mit der Seele suchend“ (V. 12). Vordergründig anschaulicher und bildstärker ist zweifellos die prosaische Version. Demgegenüber leistet die Versvariante, dank ihrer einheitlich geregelten Phrasierung, eine gesteigerte, eindringlichere und damit für das Publikum wirkungsmächtigere sprachliche Organisation. Nicht ohne Grund wurde dieser Vers zum geflügelten Wort für die Griechenlandbegeisterung. In die gleiche Richtung gehen die Neuprägungen der Versfassung. Besonders auffallend ist dabei die Zunahme der Adjektive wie überhaupt der situativen Charakterisierungen und ebenso der metaphorischen Valeurs249. Durch diese Anreicherung des dramatischen Diskurses mit verdichtenden, präzisierenden oder symbolisch verdeutlichenden Bestimmungen und Bildern schaffen sie den nötigen Ausgleich für die bewußt preisgegebenen, subjektiv eingefärbten Konkreta. Was dadurch erreicht wird, liegt auf der Hand. Der Akzent der Aussage verlagert sich vom Abbild des Handlungsvorgangs in der Prosafassung zum leichter übertragbaren, ästhetisch mediatisierten Funktionsensemble der Versversion. Inhalt und Form sind dort überzeugend zur Symbiose gebracht250. Nur so viel zum Beginn des Eingangsmonologs. Damit voll übereinstimmende Befunde ergeben sich im Gesamttext, wenn man sich der lohnenden Mühe unterzieht, beide Fassungen miteinander zu vergleichen. Als ein weiteres Beispiel mag das der an die Götter gerichtete Monolog Iphigenies am Ende des vierten Aktes demonstrieren. Goethe hat ihn in der Endfassung in vielsagender Weise metrisch ausgebaut. Hier zunächst der Wortlaut in der Prosafassung:

249 Neu sind folgende Adjektive: „alt“ und „dichtbelaubt“ (V. 2), „still“ (V. 3), „hoch“ (V. 8), „lang“ (V. 11), „dumpf “ (V. 14), also direkt beschreibende Epitheta mit klarer Valenz. Dafür werden unbestimmte Adjektive wie „ewig“ und „schön“ weggelassen. Bezeichnend ist der häufige Gebrauch des Adjektivs „rein“. Anstelle der dominant gefühlsmäßigen Argumentation in der Prosafassung erbringen die neuen Wendungen in den Versen 10, 11, 13 und 14 konkrete bildhafte Gestaltungen in ‚objektiv‘ nachvollziehbarer, übertragbarer Bedeutung, wie etwa: „gegen meine Seufzer bringt die Welle / Nur dumpfe Töne brausend mir herüber“. 250 Schiller kritisierte merkwürdigerweise am Stück „den Geist der Sentenzen“ sowie „eine Überladung des Dialogs mit Epitheten“ (SNA 22, S. 212; „Über die Iphigenie auf Tauris“, ebd.: S. 211–238). Im Rahmen seiner Inszenierung der „Iphigenie“ hielt er sogar dafür: „Auch ein paar Gemeinsprüche würde ich dem dramatischen Intereße aufzuopfern rathen“ (SNA 30, S. 136; an Goethe am 7.1.1800). Er selbst hat allerdings in der Folgezeit den „Geist der Sentenzen“ weit mehr bemüht als Goethe. Prosafassung versus Versfassung  87

Iphigenie:

Kaum wird mir in Armen ein Bruder geheilt, kaum naht ein Schiff, ein lang erflehtes, mich an die Stätte der lebenden Vater-Welt zu leiten, wird mir ein doppelt Laster von der tauben Noth geboten, das heilige, mir anvertraute Schutzbild dieses Ufers wegzurauben und den König zu hintergehn. Wenn ich mit Betrug und Raub beginn’, wie will ich Segen bringen, und wo will ich enden? Ach warum scheint der Undank mir wie tausend andern nicht ein leichtes, unbedeutendes Vergehn?251

Aus dem vehementen Protest Iphigenies gegen den Erbfluch wird in der Versfassung die deutlichere Bekräftigung ihres Bedürfnisses nach unbedingter Wahrhaftigkeit. In ihrer Empörung über den ihr abverlangten Raub und Betrug steckt schon der Ansatz für ihre völlige Ablehnung der göttlichen Willkür. Sie beginnt zu ahnen, daß allein die Emanzipation von den höheren Mächten autonomes menschliches Handeln ermöglicht. Diesen entscheidenden Wendepunkt faßte Goethe in die folgenden Verse, deren feingliedrige Beweglichkeit ihnen eine unerwartete innere Dynamik verleiht: V. 1703 Iphigenie:

V. 1707

V. 1712

Kaum wird in meinen Armen mir ein Bruder Vom grimm’gen Übel wundervoll und schnell Geheilt; kaum naht ein lang erflehtes Schiff, Mich in den Port der Vaterwelt zu leiten, So legt die taube Noth ein doppelt Laster Mit ehrner Hand mir auf: das heilige Mir anvertraute, viel verehrte Bild Zu rauben und den Mann zu hintergehn, Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke. O daß in meinem Busen nicht zuletzt Ein Widerwille keime! … 252

Hier spricht eine Ernüchterte, die nicht mehr glauben kann, weil die Götter ihr „mit ehrner Hand“ eine Art zu handeln abfordern, die mit ihrer inneren Ethik nicht zu vereinbaren ist. Wenn sie darin „taube Noth“ (V. 1707) erkennen muß, ist damit bereits jener Schritt vorbereitet, der die Emanzipation vom Gottesglauben bedeutet und damit die menschliche Autonomie einleitet. Zwangsläufig ergibt sich nämlich daraus für die humane, völlig entsakralisierte Problemlösung am Ende die Einsicht in die Notwendigkeit zur selbsthelferischen Teilhabe an der sozialen Gemeinschaft. 251 WA I.39, S. 385 f. 252 WA I.10, S. 74 (V. 1703–1714; IV,5).

88  Die dramaturgische Wende mit „Iphigenie auf Tauris“

Von nun an erstrebt Iphigenie die Loslösung von den verhängnisvollen archaischen Wurzeln. Die prinzipielle Abkehr von überlieferten religiösen Dogmen deutet sich an mit der erst in der Versfassung direkt angeschlossenen, dringlich an die Götter gerichteten Bitte: „Rettet mich / Und rettet euer Bild in meiner Seele!“ (V. 1716 f.) Unausgesprochen argumentiert Iphigenie damit gegen die göttliche Willkür. Hinter ihrer dringlichen Bitte lauert eine rebellische Kampfansage. Ihr geht es dabei um etwas, das nicht für den Menschen, sondern im Menschen heilig ist: um Menschenwürde. Das gibt der monologischen Partie Schlüsselcharakter für das Verständnis des ganzen Dramas. Besonders gut läßt sich daran ausmachen, welch entscheidenden Anteil die Versifikation an der vorgebrachten Religionskritik hat. Ihre steigernde Wirkung wird an dieser Verspartie deutlich erkennbar. Mit Ausnahme der Verse 1711 f. bestimmt Enjambement den interpretierten Teil des Monologs insgesamt. Die dynamisch-rhetorisch über die metrische Grenze hinausgezogenen Sätze lenken vermehrte Aufmerksamkeit auf die Schnittstellen. Die in Verse umgeformte und so stärker akzentuierte Sprache eröffnet dem Leser oder Hörer produktives Verstehen. Das ist einer der wesentlichen Gründe, warum Goethe davon überzeugt war, „daß die Verse den poetischen Sinn steigerten oder wohl gar hervorlockten“253. Er sah im Adressaten den Teilhaber der sprachlich und dramaturgisch vermittelten Sinnkonstitution. So allein kann der vermittelte Sinn tiefere Bedeutung gewinnen. Ein dergestalt funktionalisiertes Kunstprogramm gesteigerter Poetizität läßt die mimetische Sturm-und-Drang-Ästhetik bewußt hinter sich. Die damit verbundene grundlegende Veränderung des kommunikativen Systems gilt es nun näher zu bestimmen.

Bewußtseinsdramaturgie Absichtlich meidet das neue ästhetische Programm den Aufwand pathetisch ausholender Gefühlsäußerung. Das geschieht zugunsten einer sprachlich konzentrierend durchgestalteten „Entäußerung der Leidenschaft“254. Die Wirkung des distanzierenden Stils lenkt die Aufmerksamkeit von der vordergründigen Bühnenaktion um zu der das Bewußtsein ansprechenden, szenisch vermittelten Symbolsprache und damit zu der das Publikum einbeziehenden Ebene kommunizierender Reflexion. Zielpunkt der Textgestaltung ist das Bewußtsein des Zuschauers. Auf sein aktiviertes Echo setzt die textuelle Kommunikationsstruktur. Die mitvollziehende Präsenz des jeweiligen Rezipienten ist entschiedener gefordert, weil der Autor seinem Text eine das Mit- und Nachdenken fördernde innere Bewegung gibt, wie sie Gottfried Benn einmal zutref253 Zu Eckermann am 25.10.1823 (zit. n.: MA 19, S. 53). 254 WA I.30, S. 249 (Eintragung vom 10.1.1787). Bewußtseinsdramaturgie  89

fend beschrieben hat. Er merkte dazu unter anderem an: „Was verbindet sie [Autor und Publikum], was verbindet die Generationen, was hebt die Landesgrenzen auf, was überbrückt die Lebensalter – es ist die Richtung gewisser Figuren, ihr Aufbruch, ihr Inhalt, ihr Ziel – will man dem einen Namen geben, so hieße er Produktion, Bemühung um Ausdruck und Stil, so hieße er Wille, gewisse Besitztümer, schwere lastende innere Besitztümer des Menschen, die nicht überall erkennbar sind, aber fast seinen Rang bestimmen, der Mitwelt darzustellen“255. Solch referentielle Reflexion erstreckt sich vom auktorialen Bewußtsein und den davon ausgehenden Impulsen über deren Niederschlag in der Textkonstruktion sowie in der szenischen Umsetzung bis zum Bewußtsein des in den kommunikativen Funktionsrahmen aktiv integrierten Adressaten. Der kann und soll sie dann seinem eigenen inneren Fundus zuführen. Goethe gehört zu den wenigen, die seinerzeit das Gespür dafür hatten, daß die gesellschaftliche Entwicklung zur Vereinzelung des Menschen tendierte. Hierzu bemerkte er gegenüber Eckermann einmal: „Auch braucht man nicht zu fürchten, daß das Besondere keinen Anklang finde. Jeder Charakter, so eigentümlich er sein möge … hat Allgemeinheit“256. Um so wichtiger wurde darum die geistige Kommunikation zwischen den Menschen. Goethe sprach dem Reflexionsvermögen besondere Bedeutung zu, weil im Menschen, wie er sagte, „alle Radien von seinem Bewußtsein ausgehen und dahin wieder zurückkehren“. Was ihm dabei als Ziel vorschwebte, war die Steuerung der zwischenmenschlichen Beziehungen durch „ein vernünftig richtendes Bewußtsein“257. Angewandt auf das Drama bedeutet das, den Dialog als zwischenmenschliche Aktion mit kognitiver Wirksamkeit zu begreifen. Das macht den Theaterbesucher vom simplen Zuschauer zum direkt angesprochenen Mitarbeiter. Interessanterweise hat Hegel in seinen „Vorlesungen über die Ästhetik“ diese veränderte Kommunikationssituation folgendermaßen beschrieben: „Das eigentlich sinnliche Material der dramatischen Poesie ist … nicht nur die menschliche Stimme und das gesprochene Wort, sondern der ganze Mensch, der nicht nur Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken äußert, sondern, in eine konkrete Handlung verflochten, seinem totalen Dasein nach auf die Vorstellungen, Vorsätze, das Tun und Benehmen anderer wirkt“258. Damit liegt ein zeitgenössisches Beschreibungsmuster der Bewußtseinsdramaturgie und der daraus resultierenden kommunikativen Textarchitektur vor. 255 Benn, Gottfried: Sämtliche Werke. Prosa 4 (Stuttgarter Ausgabe). Hrsg. v. Gerhard Schuster. Stuttgart 2001, S. 45 (Rede in Darmstadt). 256 Zu Eckermann am 29.10.1823 (zit. n.: MA 19, S. 58). 257 Vgl. hierzu: GW, Bd. 2, S. 619. 258 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Hermann Glockner. Bd. 14. Stuttgart 1964, S. 512.

90  Die dramaturgische Wende mit „Iphigenie auf Tauris“

Ganz allgemein ist literarische Kommunikation Ergebnis eines „doppelten Prozesses“, nämlich des Prozesses „der Übersetzung aus der inneren Sprache [des Autors] in die äußere [des Textes] bzw. der Rückübersetzung aus der äußeren in die innere“ [des Rezipienten]259. Im Unterschied zur alltäglichen Kommunikation verlangt die von Bild und Symbol getragene ästhetische Konstruktion eines Textes größere Aufmerksamkeit und „kommunikative Kompetenz“ ( Jürgen Habermas260), weil der über die diskursive Strategie des Textes vermittelte Sinngehalt, will sagen: die im Text enthaltenen emotionalen, politischen und weltanschaulichen Hintergründe, ohne die Selbstreproduktion und Ausdifferenzierung durch den Empfänger nicht zur Wirkung kommen kann. Von entscheidender Bedeutung sind hierbei die Dimensionen des Bezugsfelds beim Adressaten. Wie schon einer der ästhetischen Wortführer des deutschen Idealismus, Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780–1819), erkannte, müssen nämlich die „inneren Beziehungen der Gemüter zu einander“ entfaltet werden261. Es geht um einen gemeinsamen, offenen Diskurs. Die erwähnten hohen Ansprüche steigen noch im Falle des Prozesses reiner Bewußtseinsbildung über die theatralische Kommunikation mit ihrer starken „symbolischen Referenz“262. Die Wirkung darf sich nicht auf bloß konsumierende Rezeption beschränken. Sie setzt vielmehr eine antizipierende und wirklichkeitsverändernde Reflexivität beim Adressaten voraus. Dialektisch angelegtes Theater muß auf dialektisches Denken und Freiheit an Assoziationen treffen, wenn es zu einer geistigen Begegnung oder gar zu einem Prozeß der Veränderung kommen soll. Eine überzeugende auktoriale Ausdrucksgestaltung wirkt als suggestives oder, genauer, appellatives Energiezentrum. Sie kann im Verein mit stimmiger theatralischer Versinnlichung die überbrückende Verbindlichkeit und somit den geistigen Transfer der Bewußtseinsdramaturgie auslösen. Goethes Entschluß, diesen Weg zu beschreiten, war allerdings ein riskantes Unterfangen. Bewußtseinsdramaturgie kann Verstehen herbeiführen, ist aber auch Mißverständnissen ausgesetzt. Die Problematik wurde noch vergrößert durch die

259 Zimmermann, Hans Dieter: Vom Nutzen der Literatur. Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der literarischen Kommunikation (= es 885). Frankfurt/M. 1979, S. 52. 260 Habermas, Jürgen: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: ders. / Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt/M. 1971. 261 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Hrsg. v. Ludwig Tieck und Friedrich von Raumer. Bd. 2. Leipzig 1826, S. 615 (Besprechung von August Wilhelm Schlegels Vorlesungen zur dramatischen Kunst und Literatur). Solger (1780–1819) war als Philologe und Philosoph von den Zeitgenossen hochgeschätzt, er gilt auch heute noch als Theoretiker des Symbols. 262 Zimmermann: a.a.O., S. 130. Bewußtseinsdramaturgie  91

Umgestaltung zum Versdrama, weil die „völlige Crystallisation“ das kommunikative System radikal verwandelt. Wohl als erster hat, wie bereits erwähnt263, Wieland auf die grundsätzliche Bedeutung der damit herbeigeführten substantiellen Veränderung hingewiesen, als ihm Goethe erste Proben der Blankvers-Experimente zu kritischer Begutachtung vorlegte. Er lenkte dadurch die Aufmerksamkeit auf die ästhetische Umorientierung vom Abbild der „Götz“-Stufe zum Sinnbild der „Iphigenie“-Stufe. Um diese Aktion wirksam gestalten zu können, stellte Goethe die beschriebene Kommunikationssituation her. Sie reicht vom auktorialen Bewußtsein und dessen Reflex im Text bis zum Bewußtsein des mitarbeitenden Rezipienten. Demnach ist der Adressat, im Idealfall noch gestützt durch die theatralische Inszenierung, aktiv in die Funktionalität des dramatischen Sprach-Spiels integriert. Diese Orientierung ging historisch einher mit der Leitvorstellung jener Epoche des sich herausbildenden bürgerlichen Individualismus und eingeforderter Menschenrechte. Nicht umsonst legte Goethe großen Wert auf die Feststellung: „Ich möchte keinen Vers geschrieben haben, wenn nicht tausend und aber tausend Menschen die Productionen läsen und sich etwas dabey, dazu, heraus oder hineindächten“264. Man kann das eine progressive „imaginative Dramaturgie“ nennen265. Besser ist es wohl, von einer Dramaturgie des Bewußtseins zu sprechen. In der attischen Tragödie hatte diese vermittelnde Funktion bis zu einem gewissen Grad der Chor. Als Vehikel der Bewußtseinsdramaturgie übernimmt dessen kommunikative Aufgabe in der „Iphigenie“ die dem Text eingeschriebene aktivierende Kommunikationsstruktur. Gemeint ist mit dem Begriff ‚Bewußtseinsdramaturgie‘ der mit dramaturgischen Mitteln über das Medium des dramatischen Textes und der Bühne ausgelöste mentale Direkt-Prozeß zwischen Autor und Rezipient. Demzufolge handelt es sich um eine kommunikative Darstellungstechnik. Bewußtseinsbildung ist zu verstehen als bewußtes Wissen, als Mitwahrnehmung und Mitdenken im Sinne des ins Deutsche übernommenen lateinischen Begriffs der ‚conscientia‘266. Derartiges Mitdenken setzt, wie gesagt, beim Adressaten die nötige geistige und seelische Substanz sowie Fähigkeit und Willen zur Verwandlung, zur Bewußtseinsveränderung voraus. Nur dann 263 Vgl. hierzu: Anm. 90 und vor allem Anm. 215. 264 WA IV.26, S. 338 (an Zelter am 14.4.1816). 265 So etwa Fehr (Fehr, S. 64). Er geht dabei allerdings nur von den „szenischen Imaginationen (die sich aus den Potenzen der ‚weisenden‘ Sprache entfalten)“ und den „Verstehensbemühungen der Zuschauer“ (ebd.) aus, übersieht jedoch, daß die Dramaturgie in erster Linie dem auktorialen Text rezeptionslenkend eingeschrieben ist. 266 ‚Conscientia‘ heißt ‚Mit-Wissen‘. Es war bezeichnenderweise der Aufklärungsphilosoph Christian Wolff (1679–1754), der diesen Begriff in Deutschland einführte.

92  Die dramaturgische Wende mit „Iphigenie auf Tauris“

kann die aktivierende Kommunikation gelingen. Der Inhalt des ihm, wortwörtlich, zu-geschriebenen ästhetischen Textes liegt trotz der verdeutlichenden theatralischen Vermittlung nicht einfach auf der Hand. Um den angestrebten Erkenntnisgewinn herbeizuführen, müssen die Implikationen des Textes vom Adressaten mit genauer Reflexion denotiert werden, wie der Musiker eine Partitur denotiert. Er muß in die akustisch und visuell vermittelten Dialoge und Monologe eindringen, ihren ganzen Inhalt hervorholen und das Aufgenommene an den eigenen Erfahrungen messen. So wird er zum geistigen Koproduzenten. Dann allein kann der dramatische Text sein volles Volumen gewinnen. Der die Techniken der Bewußtseinsdramaturgie beherrschende Autor schreibt im Wissen um diesen Mitwissenden, arbeitet ihm zu. Bewußtseinsdramaturgie gehört mithin zu den besonders intensiven Vermittlungstechniken der Kunst. Als Teil der literarischen Sprache öffnet sie der hermeneutischen Reflexion das textuelle Bedeutungssystem. Hierbei bestimmt das Sein nicht, wie nach Auffassung von Karl Marx, das Bewußtsein, sondern umgekehrt soll es durch die dramaturgisch ausgelösten Bewußtseinsimpulse angesprochen, beeinflußt und verändert werden. Ein typisches Merkmal der Bewußtseinsdramaturgie ist die offenkundige Tendenz des Dramentextes zur Maxime und zur Sentenz. Bekanntlich war Goethe nicht zuletzt auch ein großer Aphorist mit ausgeprägtem Talent zur prägnanten und sentenziösen Formulierung. Ungeachtet der Gebundenheit an den dramatischen Kontext gewinnen die ethisch-normativem Interesse entspringenden didaktischen Erfahrungssätze in Versform, ganz im Sinne der Konzeption Kants vom Ausdruck des praktischen Vernunftstrebens, generelles Gewicht. Das gibt ihnen gegenüber dem Kontext, dem sie integriert sind, eine jederzeit abrufbare Autonomie. Dank dieser Transformationskraft sind sie in der Lage, aus einfachen Begriffen Normen werden zu lassen. Direkt auf die allgemeine Lebensführung anwendbar, tragen die objektivierten Leitsätze viel dazu bei, den Appellcharakter der „Iphigenie“-Parabel zu befördern, weil sie die allgemeine Bedeutung auf einen konkreten Nenner bringen. Verse wie „Der Frauen Zustand ist beklagenswert“ (V. 24), „Frei atmen macht das Leben nicht allein“ (V. 106), „Ein unnütz Leben ist ein früher Tod“ (V. 115) oder „Hat denn zur unerhörten Tat der Mann / Allein das Recht?“ (V. 1892 f.) zeigen, welche kommunikative und zugleich verinnerlichende Energie gerade durch die methodisch angewandte Bewußtseinsdramaturgie in ihnen steckt267. Nebenbei versteht man so, warum Franz Kafka nach der Lektüre der „Iphigenie“ in seinem Tagebuch notierte. „Darin ist wirklich … die ausgetrocknete deutsche Sprache … förmlich anzustaunen. Jedes Wort wird von dem Vers vor dem Lesenden im Augenblick des Lesens auf die 267 Gleiches gilt, um wenigstens einige Beispiele anzuführen, für die Verse 29, 76, 213 f., 680 f., 1405 ff., 1863 ff., 1893 f. und 2115. Bewußtseinsdramaturgie  93

Höhe getragen, wo es in einem vielleicht magern, aber durchdringenden Lichte steht“268. Gleiche kommunikative Kraft im Sinne der Bewußtseinsbildung geht von den stichomythischen Dialogen der Versfassung aus, in denen pointiert Positionen einander entgegengesetzt werden. Schlagartig wechselnde Rede und Gegenrede dienen dem alleinigen Zweck, dem Bewußtsein des Publikums den einzuschlagenden Weg überzeugend als den einzig wahren zu vermitteln. Die inhaltlichen Aussagen hierfür sind schon in der Prosafassung vorgegeben. An dieser Stelle werden die Voraussetzungen für den versöhnlichen Ausgang geschaffen. Es heißt da: Iphigenie: O reiche mir die Hand zum schönen Zeichen! Thoas: Du foderst (forderst) viel in einer kurzen Zeit. Iphigenie: Um Guts zu thun, braucht’s keiner Überlegung. Thoas: Sehr viel, ob aus dem Guten Böses nicht entspringe! Iphigenie: Zweifel schadet dem Guten mehr als das Böse selbst. Bedenke nicht, gewähre, wie du’s fühlst.269

In dieser stark rhythmisierten Formulierung ist rein ‚wortsprachlich‘ bereits weithin eine Art ‚Jambenprosa‘ angelegt. In der endgültigen Fassung wird die metrische Normierung dann vollends konsequent vorgenommen: Iphigenie: O reiche mir die Hand zum Friedenszeichen. Thoas: Du forderst viel in einer kurzen Zeit. Iphigenie: Um Gut’s zu thun braucht’s keiner Überlegung. Thoas: Sehr viel! denn auch dem Guten folgt das Übel. Iphigenie: Der Zweifel ist’s, der Gutes böse macht. Bedenke nicht; gewähre wie du’s fühlst. (V. 1987–1992270)

Trotz des fast gleichen Wortbestands wird offenkundig, in wie starkem Maße die vollständige Versifikation den kommunikativen Gestus und damit die Konzentration steigert. Das Kompositionsprinzip des Versdramas kommt der praktisch-szenischen 268 Kafka, Franz: Tagebücher. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt/M. 1954, S.  26 (Eintragung vom 16.11.1910). Ziemlich ähnlich spricht Theodor W. Adorno von einer „in der deutschen Dichtung gänzlich neue[n] sprachliche[n] Höhe“ (Adorno, Theodor W.: Zum Klassizismus von Goethes ‚Iphigenie‘. In: ders.: Noten zur Literatur. IV. Frankfurt/M. 1974, S. 15). 269 WA I.39, S. 396. 270 WA I.10, S. 86 f. (V,3).

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Umsetzung entgegen, da mit diesem Schritt das Funktionsmuster der mental wirkenden Bewußtseinsdramaturgie eine verstärkte, wirklichkeitsverändernde Reflexivität herbeizuführen in der Lage ist. Die unbedingt zur Bewußtseinsdramaturgie gehörende reflektierende Erkenntnis produktiver Koproduktion des Rezipienten läßt sich direkt einleuchtend am Beispiel des Schlußverses der „Iphigenie“ verständlich machen. Das letzte Wort im Schauspiel hat Thoas, also derjenige, der ein Höchstmaß an Entsagung aufbringen muß. Sein Abschiedswort fällt auf den ersten Blick äußerst dürftig aus. Der Sprecher begnügt sich mit der landläufigen Abschiedsformel „Lebt wohl!“ (V. 2174), die sich zudem formal in der Ausdehnung auf einen einzigen Spondeus, das heißt auf eine gleich betonte, zweisilbige ‚Vers‘-Variante zum Jambus ( - - ), reduziert. Deutlich herausgehoben, macht diese Aussage jedoch klar, welche seelischen Erschütterungen und existentiellen Emotionen dieser Geste vorausgehen und welchen Gefühlssturm Thoas hinter sich hat. Nach dieser Überlegung wird man Adorno zustimmen, der von dieser knappen Floskel sagte, daß ihre „Konventionalität im Kontext beispiellose Schwere des Gehalts aufspeichert“271. Mit vollem Recht bezeichnete der Literaturkritiker Paul Rilla jenes vielsagende, nur mit Mühe über die Lippen kommende „Lebt wohl!“ als die „wunderbarste poetische Verzauberung eines Alltagsworts“272. Die beiden Worte enthalten überzeugende Präsenz des Menschlichen. Bleibt jedoch die lebendige Koproduktion des Publikums aus, bleiben auch die komplexen Dimensionen der angeführten „Schwere des Gehalts“ unerfaßt. Um sie voll erschließen zu können, bedarf es gründlicher geistiger Resonanz des auktorialen Bedeutungssystems im Bewußtsein dessen, der sich von ihr ansprechen läßt. Dann nur wird realisiert, welch hohes Maß an Liebe, Selbstüberwindung, Entsagung, versöhnender Vernunft und Mitdenken des anderen die Haltung des Thoas voraussetzt, der ja allen Grund hätte, bitter und enttäuscht zu reagieren. Als ein im Sinne solch geistiger Mitarbeit produktiv reagierender Adressat erwies sich der Leser Friedrich Schiller. In einer unvollendet gebliebenen Besprechung der „Iphigenie“ hielt er fest: „Hier hat das Genie eines Dichters, der die Vergleichung mit keinem alten Tragiker fürchten darf, durch den Fortschritt der sittlichen Kultur und den mildern Geist unsrer Zeiten unterstützt, die feinste edelste Blüte moralischer Verfeinerung mit der schönsten Blüte der Dichtkunst zu vereinigen gewußt und ein Gemälde entworfen, das mit dem entschiedensten Kunstsiege auch den weit schönern Sieg der Gesinnungen 271 Adorno: s. Anm. 268, S. 15. 272 Rilla, Paul: Theaterkritiken. Hrsg. v. Liane Pfelling. Berlin 1978, S. 164. Bei der Inszenierung der „Iphigenie“ durch Jossi Wieler 2009 an der Berliner Schaubühne ließ der Regisseur Thoas am Ende türenknallend durch den Zuschauerraum abgehen. Damit wurde Goethes Wirkungsabsicht mit einem Schlag zunichte gemacht. Bewußtseinsdramaturgie  95

verbindet und den Leser mit der höheren Art von Wollust durchströmt, an der der ganze Mensch teilnimmt, deren sanfter wohltätiger Nachklang ihn lange noch im Leben begleitet“273. Schiller hat mit dieser Reaktion aus dem Jahr 1789 ein überzeugendes Beispiel angemessener Koproduktion und hermeneutischer Reflexion gegeben. So sollte eine funktionierende Bewußtseinsdramaturgie allemal wirken.

„Iphigenie“: „erstaunlich modern und ungriechisch“ Mit seinem Schauspiel um Iphigenie hat Goethe ein Stück vorgelegt, das in jeder Hinsicht – und nach der ausdrücklichen Zuordnung durch den Spezialisten – ein „,klassisch‘ geschlossenes Drama“274 zu sein scheint. In der Tat hat der Autor mit Bedacht den gesamten Text einem einheitlichen Stilwillen unterworfen und dementsprechend zusätzlich metrisch eingebunden. Bau und Figurenkonstellation gehorchen strenger Symmetrie. Ebenso strikt werden die drei Einheiten (Ort, Zeit, Handlung), das Akteschema und sogar die Ständeklausel eingehalten. Man könnte meinen, Goethe habe noch ein übriges getan und auf Nebenfiguren, Massenszenen und ebenso den antiken Chor verzichtet, um so das Geschehen gleichsam unter Ausschluß der Öffentlichkeit ablaufen zu lassen. Durchweg sind das Merkmale der geschlossenen Form. Da kann es nicht wundernehmen, daß viele glaubten, hier sei ein dezidierter Klassizist zu Werke gegangen, zumal der Autor seinerseits explizit auf das „Gräcisirende“ (Gräzisierende) seines Dramas hingewiesen hat275. Der Sachverhalt scheint eindeutig zu sein. Aber ist dem Schauspiel damit wirklich Genüge getan? Das bedeutete ja, Goethe habe auf die klassizistische Tradition Gottscheds, bestenfalls Corneilles, Racines und Voltaires zurückgegriffen. Dagegen spricht allein schon eine aufschlußreiche Lücke in der ansonsten so geschlossen wirkenden Dramenkonstruktion. Es war bezeichnenderweise Schiller, der sie sogleich bemerkte und auch kritisierte. Ihn störte die „Haltung des Ganzen …, die für die dramatische Foderung [Forderung] zu reflektierend“ sei, insbesondere ein „zuviel moralischer Casuistik“. Seine Einwände faßte er in der Bemerkung zusammen, „daß dasjenige, was man eigentlich Handlung nennt, hinter den Koulißen [Kulissen] vorgeht, und das Sittliche, was im Herzen vorgeht, die Gesinnung, darinn zur Handlung gemacht ist“276. Schillers Beurteilung 273 SNA 22, S. 233 („Über die Iphigenie auf Tauris“: SNA 22, S. 211–238). 274 Klotz, S. 91. 275 Im Brief Goethes an Schiller vom 19.1.1802 steht zu lesen: „Hiebey kommt die Abschrift des gräcisirenden Schauspiels. Ich bin neugierig was Sie ihm abgewinnen werden“ (WA IV.16, S. 11). 276 SNA 31, S. 93 (an Goethe am 22.1.1802).

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trifft genau zu. Nur macht das, was er tadelt, gerade die spezifische Qualität des Stückes aus. Das „Reflektierende“, die „moralische Casuistik“, die nach innen gerichtete Handlung, in Wahrheit die „zur Handlung gemachte Gesinnung“ sind tragende Komponenten von Goethes kommunikativer Wirkungsästhetik. Unbeabsichtigt umschrieb Schiller mit seinen Einwänden eine Zielbeschreibung der Bewußtseinsdramaturgie. Denn sie hebt in der Tat dezidiert auf „das Reflektierende“ ab. Goethe handelte äußerst planvoll. Gewiß kommen mit der „Iphigenie“ diejenigen, die auf dramatische Direktheit, aufwühlende Affekte, Zeit- und Ortswechsel sowie eine spektakuläre Handlung Wert legen, nicht auf ihre Kosten. Dafür schuf der Autor einen interessanten Ausgleich, indem er „das Sittliche, was im Herzen vorgeht“, in den Vordergrund rückte. Er wandte sich direkt an den mitdenkenden Zuschauer oder Leser und wollte durch die theatralisch vermittelte literarische Kommunikation Bewußtseinsklarheit und geistiges Einvernehmen herbeiführen. Freilich läßt sich das, was er mit seiner dramaturgischen Innovation bezweckt, nicht mit herkömmlichen Kategorien fassen. Ins Zentrum der Gestaltung rücken in seinem Text nun diskursive Allgemeingültigkeit und demonstratives, symbolisches Spiel. Das Gestische steht über der konkreten Handlung. Inhalt und Form, thematische Musterlösung und Modellcharakter des sprachlichen Ablaufs sind unmittelbar auf das Publikum bezogen. Zweifellos basiert die dadurch in Gang gebrachte Bewußtseinsaktion auf einer – verglichen mit Dramen der herkömmlichen ‚geschlossenen Form‘ – grundsätzlich anderen Kommunikationsstruktur. Im Gegensatz nämlich zur illusionistisch aufzunehmenden Handlungsdramaturgie in der Manier Schillers wird das Publikum der „Iphigenie“ nicht, üblichen Erwartungen gemäß, in eine spannende Bühnenaktion hineingezogen, sondern einem theatralisch neuartigen textuellen Denk-Bild konfrontiert, das die Angesprochenen im Zuge fortschreitender Texterfahrung zur erkennenden und handelnden Re-Aktion antreiben soll. Demnach fungiert der Text für die Adressaten als theatralisch vermittelter Denkanstoß im Sinne einer ‚ad spectatores‘, also auf das Publikum bezogenen experimentellen Versuchsanordnung. Ähnlich wie später im ‚epischen Theater‘ Brechts wird auch hier schon „der Mensch als Prozeß“277 verstanden. Eine geschlossene Form ist das wahrlich nicht. Vielmehr haben wir es mit einer Dramaturgie des Bewußtseins zu tun, mit Bewußtseinstheater neuer und ganz eigener Prägung. Im Unterschied zur Dramaturgie der Sturm-und-Drang-Stücke mit ihrer offenen Form wird hier keine Wirklichkeitsanalyse durchgespielt. Die Aktionen um Iphigenie zielen letzten Endes auf nichts Geringeres als die Erkenntnis einer Art 277 Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Berlin, Frankfurt/M. 1957, S. 20 (Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘). „Iphigenie“: „erstaunlich modern und ungriechisch“  97

„Quintessenz der Menschheit“. Zu solchem Zweck werden, jedenfalls in der Sicht Goethes, die im Drama dargestellten „menschliche[n] Zustände, Gefühle Ereignisse“, die sich „in ursprünglicher Natürlichkeit … nicht … auf ’s Theater bringen lassen“, vom Autor „verarbeitet, zubereitet, sublimiert“ an Zuschauer oder Leser weitergegeben278. Die auffällige Verkleinerung des dramatischen Horizonts läßt an die vereinheitlichenden, konzentrierenden Merkmale der geschlossenen Form denken. Dabei ist der weithin entsinnlichte „Iphigenien“-Text völlig auf die Erfahrungsmöglichkeit des Publikums ausgerichtet und insofern denkbar weit ‚offen‘. Jedenfalls ist – wie im Drama der offenen Form – die anders zu gestaltende Wirklichkeit das eigentliche Wirkungsziel. Man muß es unterstreichend sagen: Die Bewußtseinsdramaturgie Goethes sucht soziales Eingreifen. Dafür entwickelte er eine neuartige, ganz nach außen offene dramaturgische Text-‚Architektur‘. Sie ist dem Dramentext in der Art eines begleitenden Generalbasses eingeschrieben. Direkter Wirklichkeitsanalyse substituiert der Autor dabei die auf den Rezipienten unmittelbar bezogene Erkenntnis möglicher anderer Wirklichkeit. Darin sah er von nun an die Aufgabe gestalteter und gestaltender Kunstwirklichkeit. Goethe nahm es zunächst in Kauf, den äußeren Erlebnisradius zu reduzieren, weil die Konflikte ins Innere der Personen verlagert werden. Grundfalsch ist darum die Annahme, Iphigenie ziehe, „selbst in den bewegtesten dramatischen Momenten, ihr gefährdetes Ich in den sicheren Hort der gnomischen Sentenz zurück, in den festen Bereich gemeinverbindlicher Gültigkeiten, welcher schützend bereitsteht, das handelnde und sprechende Ich aus der einmaligen Situation des Hier und Jetzt heraus aufzunehmen in das Überall und Immer überindividueller Satzungen“279. Ganz im Gegenteil. Iphigenie ist der Gefährdung durch ihre Probleme voll ausgesetzt. Es gibt für sie keine schützenden „überindividuellen Satzungen“, denn es charakterisiert gerade ihre Position, daß sie ihre humane Grundeinstellung gegen derartige „Satzungen“ behaupten muß. Auffallend bleibt: Der Autor gibt den Kern der seiner Protagonistin zugeschriebenen Entscheidung sogleich an das Publikum weiter, um so auf dem Wege der Bewußtseinsbildung aktivierend an dessen Gewissen zu appellieren. Am Schluß des Schauspiels steht für die Rezipienten das durch das Texterlebnis demonstrativ vermittelte Humanitätssignal herausfordernd im Raum. Das muß nachdrücklich betont werden. Immer wieder ist nämlich die Behauptung zu hören, die harmonische Lösung des Stückes sei zu glatt, zu sehr von der Wirklichkeit entfernt. Jedoch wird dabei etwas Entscheidendes übersehen. Iphigenie setzt bei ihrer Entscheidung nicht mehr auf die Götter, sondern auf das ‚Göttliche‘ im Men-

278 WA I.41.1, S. 353 (Calderon, Die Tochter der Luft). 279 Gegen Klotz (Klotz, S. 147 f.).

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schen280. Sie ist gewiß keine Heiligenfigur. Die von ihr gezeigte Emanzipation ist kein Akt der Gnade, sondern entspringt ausschließlich ihrem rational begründeten Entschluß und ist somit durchaus diesseitig. Überdies haben alle Beteiligten ihren Teil dazu beigetragen. Das Schauspiel verschafft uns die nötige Aufklärung darüber, wie menschliche Steigerung und Vernunft gesellschaftliche Konflikte in friedliches Einvernehmen überführen kann. Im Endeffekt wollte Goethe mit seinem dramatischen Modell ein Zeichen allgemeiner Humanisierbarkeit setzen. Automatisch schließt das scharfe Kritik an den bestehenden Herrschaftsstrukturen ein. Man kann ohne weiteres sogar eine besondere Radikalität in der Tatsache sehen, daß er in seiner Zeit offenbar nur indirekte, vermittelte Möglichkeiten sah, der eingefleischten Unmenschlichkeit zu begegnen. Deshalb hielt er sich an das poetisch entfaltete Symbol des human Möglichen, wie es speziell der Versfassung des Schauspiels abzulesen ist. Spürbar reibt sich die ästhetisch vorgeführte Lösung provozierend an der herrschenden Wirklichkeit. Geistige Gegensteuerung, das scheinbar Unzeitgemäße, erweist sich als das einzig Zeitgerechte. Tiefer eingreifend hätte der damit verbundene dramaturgische Funktionswechsel gar nicht sein können. An die Stelle realitätsorientierter Sprachgebung im Sinne der Stürmer und Dränger tritt mit der Versfassung das überformende, feingeschliffene Blankverskontinuum. Für den Inhalt und seine Wirkung bedeutete das: Äußere Spannung macht konzentrierter und lenkender Reflexion Platz. Mit dem Schauspiel „Iphigenie“ bezweckte der Autor nämlich, wie er betonte, nicht allein „einigen guten Menschen Freude zu machen“, sondern auch „einige Hände Salz ins Publikum zu werfen“281. Sein Drama sollte als gesellschaftlicher Zündstoff wirken. Was in den Augen Schillers und vieler nach ihm „ein zu ruhiger Gang“ und deswegen eine „auf epische Art verfehlte“ Dramaturgie war282, sollte vom heutigen Standpunkt aus als fundamental neue dramaturgische Möglichkeit begriffen und gewürdigt werden. Lenkende Instanz dieser hauptsächlich auf geistige Wirkung angelegten Dramaturgie ist, wie gesagt, das Bewußtsein. Es wird zur entscheidenden Komponente des kommunikativen, zum Kompositionsverfahren gehörenden Prozesses. Um den geistigen Transfer zwischen Autor, Text, theatralischer Umsetzung und Publikum zu erleichtern, verzichtete Goethe auf herkömmliche ‚Hilfskonstruktionen‘ im Dramenbau wie Furien und Götter. Schiller empfand das als Manko, weil er die Auffassung vertrat: „ohne Furien ist kein Orest“283. Wir stoßen damit auf bezeichnende 280 Goethe brachte das auf die Formel: „Wie der Mann so auch sein Gott“ (Noten und Abhandlungen zum Divan. Israel in der Wüste): WA I.7, S. 180. 281 WA IV.4, S. 22 (an Karl Ludwig von Knebel am 14.3.1779). 282 SNA 29, S. 178 (an Goethe am 26.12.1797). 283 SNA 31, S. 92 (an Goethe am 22.1.1802). „Iphigenie“: „erstaunlich modern und ungriechisch“  99

diametrale Positionen. Gängige Handlungsdramatik steht gegen innovatives Bewußtseinstheater. Der Verfasser der „Iphigenie“ vertrat die Auffassung, „daß aber das innere Leben hervorgekehrt werde, daran liegt’s“284. Dramaturgisch gesehen war das zugleich die Entscheidung für ein Kommunikationsverfahren dialektischer Anlage. Das von Goethes Bewußtsein ausgehende Humanitätsprogramm hat mit der antiken Tragödie nichts zu tun. Es ist dezidiert gegenwarts- und mehr noch zukunftsgerichtet, mithin nur sehr äußerlich ‚gräzisierend‘, vielmehr im Gegenteil, wie Schiller befand, „erstaunlich modern und ungriechisch“285. Seine Bemerkung trifft die neue Sachlage genau. Modernität dieser Art gehörte seit dem römischen Aufenthalt zu Goethes Kunstprogramm. Er reagierte damit auf eine Realität katastrophaler Entfremdung und auf die permanent uneingelöst bleibenden Versprechen der Geschichte. ‚Gräzisierend‘ ist das Drama allein wegen seiner stofflichen Orientierung am antiken Mythos, in gewisser Weise auch, wie erwähnt, durch den äußeren dramatischen Bau, nicht jedoch in seiner Wirkungsperspektive und erst recht nicht in seiner ausgesprochen modernen Einschätzung der menschlichen Möglichkeiten. In wie starkem Maße die Bewußtseinsdramaturgie als programmatische Kritik an der Gesellschaft zu verstehen ist, belegt eine Bemerkung gegenüber Eckermann. Goethe sagte da 1825 zur geringen Wirkung seiner Dramen: „Das Publicum findet sie langweilig. Sehr begreiflich! Die Schauspieler sind nicht geübt, die Stücke zu spielen, und das Publicum ist nicht geübt, sie zu hören. … Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sei es möglich, ein deutsches Theater zu bilden. … Ich schrieb meine Iphigenie und meinen Tasso und dachte in kindischer Hoffnung, so würde es gehen. Allein es regte sich nicht und rührte sich nicht und blieb Alles wie zuvor“286. Die bittere Reaktion spricht eine deutliche Sprache. In der Tat gaben auf Deutschlands Bühnen in jener Zeit andere den Ton an. Die meistgespielten Autoren waren August Wilhelm Iffland, August von Kotzebue, Friedrich Ludwig Schröder und Charlotte BirchPfeiffer, danach – mit Abstand – Schiller. Die Dramen Goethes wurden außerhalb Weimars nur gelegentlich gespielt. Der erfolgreiche Kotzebue schätzte die reale Publikumssituation richtig ein, als er resümierend festhielt: „Was hat nicht Goethe versucht! Und wie klein ist in Weimar dasjenige Publikum, welches sich in solchen Vorstellungen nicht gelangweilt hat! … Sobald ein Schauspiel den Geist mehr beschäftigt als die Einbildungskraft, so wird es nimmermehr ein großes Publikum haben“287. 284 285 286 287

Zu Eckermann am 1.4.1827 (zit. n.: MA 19, S. 549). SNA 31, S. 89 f. (an Körner am 21.1.1802). Zu Eckermann am 27.3.1825 (zit. n.: MA 19, S. 513). Zit. n.: Müller, Curt (Hrsg.): Ifflands Briefwechsel mit Schiller, Goethe, Kleist, Tieck und anderen Dramatikern. Leipzig o.J. (1910), S. 247 (August von Kotzebue an Graf Brühl am 15.10.1815).

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Noch krasser ließ sich der ehemalige Kölner und danach Leipziger Theaterdirektor Friedrich Sebald Ringelhardt wenige Jahre nach Goethes Tod vernehmen. Vielsagend offenbarte er den eindeutigen Sachverhalt, er habe „‚Lumpazivagabundus‘ von Nestroy 23mal bei ausverkauftem Haus gegeben, dagegen Goethes ‚Tasso‘ nur einmal mit einer Bruttoeinnahme von 50 Talern“. Er ergänzte das mit der bitteren Bemerkung über ausbleibende Einnahmen: „Na ja, da haben wir den Herrn Schiller! Und der Goethe ist auch so ein Schweinehund!“288 Das war die kulturelle Realität an den deutschen Bühnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts! Fazit: Aus der mit „Iphigenie“ beabsichtigten Publikumserziehung ist nichts geworden. Leider hat sich daran bis in unsere Zeit nicht viel geändert. Fragt man nach den Gründen, muß man sie wohl vor allem in der vom Autor gewollten „reinen Form“ eines Sprachkosmos imaginativer Energie und gesellschaftlicher Produktivität, also nicht zuletzt in der Bewußtseinsdramaturgie suchen. Goethe meinte: „Eine reine Form hilft und trägt“289. Jedenfalls war das sein neu entwickeltes künstlerisches Ziel. Im Fall gelingender Kommunikation ist das zweifellos richtig. Andererseits kann die helfende Wirkung nicht zum Tragen kommen, wenn im Publikum die nötige produktive Resonanz ausbleibt. Das hatte die schlimme Folge, daß, in durchaus bester Absicht, die „Iphigenie“ zum Humanitäts-Festspiel deklariert und damit in eine Sphäre über der realen Welt erhoben wurde. Auf die üble Kehrseite dieser Entrückung wird noch im Rahmen der Aufführungsgeschichte einzugehen sein. Man sah nur Idealität, wo eigentlich die Wirklichkeit sich hätte herausgefordert sehen müssen. Das war wohl der Grund für die in der Forschung der letzten Jahrzehnte verbreitete Tendenz, die hochelaborierte Sprache des Schauspiels als Quell eines vorgeblichen ‚idealistischen Übels‘ anzuprangern oder darin zumindest etwas „kompromißlos Weltfernes“290 sehen zu wollen. Nicholas Boyle ging sogar so weit zu behaupten, es handle sich um „ein rein und exklusiv höfisches Werk“291. Im Grunde ähnlich sah Heiner Müller in der „Glätte“ der Verse gar ein Zeichen der „Lüge“292. In die nämliche Richtung zielten ebenso andere Interpreten. 288 Ringelhardt, Friedrich Sebald: Einige Worte über das hiesige Theater an das Leipziger Publicum, Extrabeilage zu Nr. 334 des ‚Leipziger Tagblattes und Anzeigers‘, 30.11.1835, S. 4, sowie: Devrient, Eduard: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, Bd. 2, hrsg. v. Rolf Kabel und Christoph Trilse. Berlin 1967, S. 241. 289 WA IV.12, S. 352 (an Schiller am 30.10.1797). 290 Matussek, S. 106. 291 Boyle: Bd. 1, S. 377. 292 „Der Prosa gelang es nicht, die Barberei wegzudrücken. Deswegen kam die Jambifizierung … Die Glätte ist keine wirkliche Glätte. Es gibt Pulsschläge unter dieser glatten Oberfläche, und die zittern dauernd“ (Müller, Heiner: „Ich schulde der Welt einen Toten“. Gespräch mit Alexander Kluge, 1994; zit. n.: ders.: Werke 12, Gespräche 3. „Iphigenie“: „erstaunlich modern und ungriechisch“  101

Da ist die Rede vom „Tonfall gezierter Konvention“ (Siegfried Melchinger), von „pathetischer Zweckrhetorik“ (Wolfdietrich Rasch), „gedrechselter Dialektik“ (Fritz Hackert) und der „Verstärkung des klassizistischen und esoterischen Zugs“ (HansDietrich Dahnke), ja sogar von „Stilisierungen“, die das Stück „fast in die Erhabenheit der Legende“ entrückten (Arthur Henkel), oder von der Sprache, die „wie ein idealisierender Filter“ wirke (Hans Robert Jauß)293. Zwangsläufig stellt sich die Frage, wo die so argumentierenden Philologen in diesem Punkt ihre sprachliche Erkenntnisqualität, insbesondere ihr poetisches Feingefühl gelassen haben. Jedenfalls ignorierten sie, was Goethe mit seiner Bewußtseinsdramaturgie leistete, nämlich die Durchsetzung einer im Endeffekt gesellschaftsstiftend wirkenden Poetizität für das Drama einer, wie Goethe betonte, „ungeheuren Opposition“294. Das war, weiß Gott, innovativ und modern genug und außerdem intensiv realitätsbezogen. Peter von Matt hat die enge Zuordnung zu unserer Wirklichkeit hinreichend geklärt mit der Feststellung: „Iphigenie erleidet die Wahrheit wie in den Wehen einer Geburt. Nur so wird das epochale Signal des Stücks möglich: Jede Intrige ist Verstellung, jede Verstellung ist Lüge, und die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Das ist humanistischer Fundamentalismus, großartig in seiner Bedingungslosigkeit“295. Goethe zeigt an seiner Iphigenie, wie das „Wort“ („Ich habe nichts als Worte“) zur „unerhörten That“ humaner Bewährung führen kann. Gerade nach den historischen Erfahrungen von Auschwitz und Hiroshima ist ein derartiger Appell dringend notwendig.

Frankfurt/M. 2008, S. 492 f.). Heiner Müllers These, die Glätte der Verse sei eigentlich der Beleg dafür, daß Goethe die Barbarei weglüge, verwechselt die platte Realität mit dem poetisch suggerierten Überzeugungsbild praktizierter Humanität. 293 Melchinger, Siegfried: Das Theater Goethes. Am Beispiel der Iphigenie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 11. Jg., Stuttgart 1967, S. 297–319 (Zitat: S. 313); Rasch, Wolfdietrich: Goethes ‚Iphigenie auf Tauris‘ als Drama der Autonomie. München 1979, S. 184; Hackert, Fritz: Iphigenie auf Tauris. In: Hinderer, S. 144–168 (Zitat: S. 153); Dahnke, Hans-Dietrich: Im Schnittpunkt von Menschheitsutopie und Realitätserfahrung: Iphigenie auf Tauris. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Text und Kritik. Sonderband: Johann Wolfgang von Goethe. München 1982, S. 110–129 (Zitat: S. 128); Henkel, Arthur: Goethe. Interpretationen. Düsseldorf 1964, S. 170–194 (Zitat: S. 193); Jauß, Hans Robert: Racines und Goethes ‚Iphigenie‘. In: Neue Hefte für Philosophie. 4/1973, S. 1–29 (Zitat: S. 28). 294 WA I.28, S. 314 (Dichtung und Wahrheit, III,15). 295 Matt, Peter von: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. 2. A., München 2009, S. 256.

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Warten auf Iphigenie – Schwerpunkte der Bühnenrezeption Hauptsächlicher Grund für die lange Zeit hindurch verfehlte Rezeption der neuen Dramaturgie Goethes war, wie angedeutet, die Verzerrung des Textes in pathetischweihevolle Idealität. Goethe selbst hat dem in gewisser Weise vorgearbeitet mit den vielzitierten Widmungsversen für den 1827 in Weimar gastierenden Schauspieler Georg Wilhelm Krüger296: „Alle menschlichen Gebrechen / Sühnet reine Menschlichkeit“297. Im Zusammenhang mit der in Weimar 1802 von Schiller inszenierten Aufführung der „Iphigenie“ hatte er ja auch schon sein Stück bei erneutem Hineinsehen als „ganz verteufelt human“298 bezeichnet. Der Angesprochene reagierte darauf mit großer Einfühlung in die kommunikative Grundkomponente der Bewußtseinsdramaturgie. Hier seine Antwort in vollem Wortlaut: „Ich werde nunmehr die Iphigenia mit der gehörigen Hinsicht auf ihre neue Bestimmung lesen, und jedes Wort vom Theater herunter, und mit dem Publicum zusammen, hören. Das, was Sie das ‚Humane‘ darinn nennen, wird diese Probe besonders gut aushalten und davon, rathe ich, nichts wegzunehmen“299. Insgeheim hegte Schiller jedoch weit größere Vorbehalte als sein Auftraggeber. Er hat sie einem tags darauf an den Freund Körner gerichteten Brief anvertraut und rügte da an Iphigenie: „Sie ist ganz nur sittlich, aber die sinnliche Kraft, das Leben, die Bewegung und alles was ein Werk zu einem ächten dramatischen specifiziert, geht ihr sehr ab“300. Der Konvention der dramatischen Gattung folgend, monierte er ebenso gegenüber Goethe höchst prinzipiell: „Man hört zwar …, aber man sieht nichts davon, es ist nichts sinnliches vorhanden“. Seinem Gefühl nach fehlten Aktionen, „damit auch die äußere Handlung stetig bliebe“. Immerhin gestand er dem Autor zu, „daß etwas Stoffartiges dabei mit unterlaufen mochte. Seele möchte ich es nennen, was den eigentlichen Vorzug davon ausmacht“301. Wie in allen seinen Reaktionen auf Goethes dramaturgische Neuorientierung spielt hierbei der fundamentale Unterschied zwischen Aktionsdramatik und Bewußtseinsdramatik eine entscheidende Rolle. Von vornherein konnte deshalb die von ihm zu

296 Krüger gastierte in der Rolle des Orest am Weimarer Hoftheater. Goethe nahm an der Aufführung nicht teil, ließ sich aber genau darüber berichten und verfaßte danach die wohlmeinende Widmung. 297 WA I.4, S. 277 (Datum der Widmung: 31.3.1827). 298 WA IV.16, S. 11 (an Schiller am 19.1.1802). Vgl. hierzu: Henkel, Arthur: Die ‚verteufelt humane‘ Iphigenie. In: Euphorion. 59/1965, S. 1–17. 299 SNA 31, S. 87 f. (an Goethe am 20.1.1802). 300 SNA 31, S. 90 (an Körner am 21.1.1802). 301 SNA 31, S. 93 (an Goethe am 22.1.1802). Warten auf Iphigenie – Schwerpunkte der Bühnenrezeption  103

lösende Aufgabe, „Iphigenia zur theatralischen Erscheinung zu bringen“302, nicht sonderlich überzeugend ausfallen. Im Hinblick auf die Aufführungsgeschichte hatte das Beispielcharakter. Es kam, wie es kommen mußte. Man sah im Schauspiel nur noch die Demonstration der Idee verklärter Menschlichkeit, nicht aber den allein durch Selbstüberwindung zu bewältigenden erzieherischen Anspruch humaner Praxis eines jeden Beteiligten, erst recht nicht den Aufruf zur Neubestimmung der Gesellschaft im Zeichen gegenseitiger Toleranz. So konnte es geschehen, daß Goethes Musterdrama „über Menschwerdung“ (Claus Peymann303) in die unverbindliche Distanz eines statuarischen Bildungsguts entrückt wurde. Was dabei herauskam, war eine auf das Klischee von ‚edler Einfalt‘ und ‚stiller Größe‘ reduzierte Iphigenie ohne Fleisch und Blut. Germaine de Staël hat in ihrem Buch „Über Deutschland“ 1813 diesen Eindruck folgendermaßen festgeschrieben: „Iphigenie hat nicht weniger Achtung vor der Wahrheit als Antigone (bei Sophokles), aber sie vereinigt die Ruhe eines Philosophen mit der Glut einer Priesterin; der keusche Kult der Diana und das Asyl in einem Tempel reichen für das träumerische Dasein aus, das die Sehnsucht nach der fernen Heimat, nach Griechenland, sie leben läßt. … ihre Seele ist mit einer starken und doch zarten Ergebung in den höheren Willen erfüllt, einer Ergebung, die sozusagen zwischen Stoizismus und Christentum die Mitte hält“304. Diese bestimmt wohlmeinende und insoweit achtbare Auffassung steht leider der Wirkungsabsicht des Autors diametral entgegen. Unabhängig davon ist sie in der Sache völlig abwegig, weil dabei die opponierende Radikalität Iphigenies fast gänzlich ausgeblendet wird. Von der kämpferischen Gedankenwucht ihrer Forderung an uns bleibt dabei nichts übrig. Wie Madame de Staël reagierte freilich die Mehrheit des Publikums. Iphigenie wurde zur Ikone des Humanen entschärft. Von ihrer plastischen Fülle blieb lediglich ein Flachrelief übrig. Der Maler Anselm Feuerbach hat diese gefühlsgeladene Geste für das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts in der unerträglichen Sehnsuchts- und Edelmutspose seines 1862 entstandenen Gemäldes visualisiert. Damit war die Bahn bereitet für die unselige Rezeption von Goethes „Iphigenie“ als dem deutschen „Seelendrama“305 und

302 SNA 31, S. 120 (an Goethe am 20.3.1802). 303 So Claus Peymann bei einem Probengespräch im August 1977. Zit. n.: Johann Wolfgang Goethe ‚Iphigenie auf Tauris‘. Programmbuch Nr. 30. Stuttgart 1977/78, S. 227. 304 Staël, Germaine de: De l’Allemagne (1813). Deutsche Übersetzung von Robert Habs, zit. n.: MA 3.1, S. 769. 305 So zuerst Scherer. Er prägte die folgenreiche Formulierung von „eine[r] neue[n] Gattung des Schauspiels, … die man Seelendrama nennen könnte“ (Scherer, Wilhelm: Geschichte der Deutschen Literatur. 10. A., Berlin 1905, S. 539).

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Humanitätsevangelium schlechthin. In wohlfeiler andächtiger Affirmation ignorierte man die Abgründe unter der Oberfläche des idealistischen Textes. Die einseitige Idealitätsfixierung hatte natürlich Folgen für die Aufführungsgeschichte. Ohnehin ließ deren Beginn bezeichnenderweise volle 13 Jahre (!) nach Vollendung der Versfassung auf sich warten. Erst am 7. Januar 1800 kam die „Iphigenie auf Tauris“ in der Wiener Hofburg im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten des Erzherzogs Joseph zur höfisch-zeremoniellen und darum wirkungslosen Uraufführung. Doch scheint im Umfeld dieser Inszenierung Goethe der Gedanke gekommen zu sein, die „Iphigenie“ auch im Weimarer Hoftheater spielen zu lassen. Er besprach sich darüber mit Schiller, der ihm just am Tage der Wiener Premiere schrieb: „Ich habe heute Ihre Iphigenie durchgesehen und zweifle gar nicht mehr an einem guten Erfolg der Vorstellung“306. Von vornherein war also daran gedacht, Schiller mit der Einrichtung des gesamten Unternehmens zu betrauen. Es sollte aber noch zwei Jahre dauern, bis das Vorhaben in die Tat umgesetzt werden konnte. Mitte Januar 1802 schickte Goethe dem Freund das Manuskript der Versfassung. Bald danach schlug er ihm direkt vor, nicht nur die Erstellung einer bühnengemäßen Textfassung, sondern auch die Regiearbeit zu übernehmen. Er schrieb ihm: „Mit der Iphigenie ist mir unmöglich etwas anzufangen. Wenn Sie nicht die Unternehmung wagen …, so glaube ich nicht daß es gehen wird, und doch wäre es in der jetzigen Lage recht gut und sie würde denn vielleicht für andere Theater verlangt“307. Der so dringlich Aufgeforderte stimmte wohl oder übel zu. Mit Textbearbeitung und szenischer Einstudierung gab er sich redliche Mühe308. Nach mehreren Wochen intensiver Arbeit, vor allem mit der Hauptdarstellerin309, konnte die Premiere zum 15. Mai 1802 angesetzt werden. Mit bewegten Worten bedankte sich Goethe bei Schiller kurz vor der Erstaufführung: „Ob noch Sonnabend den 15. Iphigenie wird seyn können, hoffe ich durch Ihre Güte morgen zu erfahren, und werde alsdann eintreffen, um, an Ihrer Seite, einige der wunderbarsten Effecte zu erwarten, die ich in meinem Leben gehabt habe“310. Sonderliche Resonanz löste die Aufführung indes nicht aus. Goethe trug nüchtern ins Tagebuch ein: „Abends Iphigenie., sodann Hr. Hofr. Schiller“311. Das klingt nicht nach Premierenfeier. Immerhin entschloß sich Iffland 306 307 308 309

SNA 30, S. 136 (an Goethe am 7.1.1800). WA IV.16, S. 57 f. (an Schiller am 19.3.1802). Vgl. hierzu: SNA 31, S. 120 und S. 128 (an Goethe am 20.3. und 5.5.1802). Die Titelrolle übernahm Friederike Margarete Vohs (1777–1860). Johann Jakob Graff spielte den Thoas und Friedrich Cordemann den Orest. Hinzu kamen nach Friedrich Haide als Pylades und Heinrich Becker als Arkas. 310 WA IV.16, S. 84 (an Schiller am 11.5.1802). 311 WA III.3, S. 56 (Eintragung vom 15.5.1802). Warten auf Iphigenie – Schwerpunkte der Bühnenrezeption  105

unter dem Eindruck dieser Inszenierung dazu, „Iphigenie auf Tauris“ auch in Berlin aufzuführen. Die dortige Premiere im Januar 1803 war Teil seiner Bemühungen um ein Repertoire mit nationalen Dramen. Er übernahm dabei die leider nicht überlieferte Schillersche Bearbeitung des Textes. Es war nur konsequent, daß dann sein Nachfolger, Graf von Brühl, die Einweihung des von Karl Friedrich Schinkel gestalteten klassizistischen Neubaus des königlichen Theaters am Gendarmenmarkt im Mai 1821 mit einer weiteren Inszenierung der „Iphigenie“ feierlich beging. Brühl folgte dabei getreu der nun einmal eingeführten Rezeptionslinie. Seitdem wurde das Schauspiel als eine Art Weihespiel nur allzu oft und ungeniert über sämtliche Bühnen gezerrt. Um konkret zu belegen, was mit dieser Einschätzung gemeint ist, seien wenigstens drei Beispielaufführungen mit besonders plump angemaßtem chauvinistischem Festcharakter herausgegriffen. Ausgerechnet mit „Iphigenie“ wurde 1917, in Anwesenheit ‚seiner Majestät des Kaisers‘ (Wilhelms II.), das ‚Theater der deutschen Truppen‘ im besetzten Lille eröffnet. Schlimmer noch: 1940, also zeitgleich mit den nationalsozialistischen Verbrechen an Juden und Polen im sogenannten ‚Generalgouvernement‘, gab es eine propagandistisch gleich angelegte Aufführung des Dramas im Sommertheater des Lazienki-Parks in Warschau, und am 14. und 15. April 1942 gastierte ‚auf Veranlassung des Reichspropagandaministeriums‘ eine Theatergruppe des Münchner Schauspielhauses in der Pariser Comédie-Française. Robert Minder, der französische Germanist, hat den ebenso verlogenen wie perversen Vorgang zutreffend beurteilt: „Iphigenie als Gehilfin am Feuerofen“312. Damit nicht genug. Die Linie peinlicher Alibi-Inszenierungen setzte sich in den nach 1945 allenthalben andachtsvoll zelebrierten theatralischen Bekundungen ‚wiedergefundener Humanität‘ mit Goethes Stück und Lessings „Nathan“ fort. Dieses beflissene, nicht immer von Heuchelei freie Bildungstheater stand durchaus in Einklang mit der gesellschaftlichen Entwicklung nach der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands. Weithin verwechselte man nämlich die notwendige demokratische Umerziehung mit restaurativer Orientierung. Jedenfalls war das so in den westlichen Besatzungszonen. In der sowjetisch besetzten Zone bestimmte ohnehin die Besatzungsmacht den Gesamtkurs. In beiden Teilen Deutschlands war Goethes „Iphigenie“ allemal ein willkommener Humanitätsvorwand. Neben der gleichfalls idealisierenden Verarbeitung im gymnasialen Unterricht der Oberstufe war es hauptsächlich jene unselige Aufführungstradition ideologischer Mißdeutungen, die ein angemessenes Verständnis des Stückes so gut wie ganz verhindert hat. Diese Iphigenie gehört unweigerlich auf den Friedhof geschändeter Rezeptionsleichen.

312 Minder, Robert: Wozu Literatur? Reden und Essays. Frankfurt/M. 1971, S. 40.

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Erst die Stuttgarter Inszenierung Claus Peymanns von 1977 setzte dem unguten Routinetreiben ein Ende313. Er hatte bereits einige Jahre vorher bemerkt, daß man „Iphigenie“ nicht in statuarischer Deklamation herunterspielen durfte. Zusammen mit Joseph Beuys inszenierte er 1969 in Frankfurt eine ‚Kunstaktion‘ „Iphigenie / Titus Andronicus“, durch die der Text als akustisches Material distanzierter Betrachtung unterzogen wurde. Bei seiner Stuttgarter Regiearbeit ging er von der psychologisch einleuchtenden These aus: „nicht der Sieg des Humanen über die Barbarei, sondern: wie Humanität denn möglich sein könnte unter verschiedenen Umständen, darum scheint es zu gehen; jede Person im Stück ist gleichermaßen gefährdet inhuman zu handeln“314. Zusammen mit seinem Ensemble suchte Peymann demnach den Zugang zum Stück in erster Linie über den von unserer heutigen gesellschaftlichen Problematik her faßbaren Themengehalt. So gelang ihm eine für heutige Rezipienten sachgerechte Interpretation des Textes als Symbol humaner Resistenz und produktiver Selbstgestaltung, aber im Wissen um einen jederzeit möglichen Rückfall ins Inhumane. Daraus erwuchs die denkwürdige Aufführung eines kritisch-prüfend angelegten Emanzipationsdramas vor dem Hintergrund des verfinsterten Umfelds jener Jahre in der Bundesrepublik. Allerdings mußte sich die äußerst erfolgreiche Inszenierung, die sogar beim Wechsel des Ensembles von Stuttgart nach Bochum dort noch geraume Zeit weitergespielt wurde, von einem Kritiker „Banalisierung“ des Goethe-Texts vorwerfen lassen315. Offensichtlich rauschte die im Einklang mit Goethes Wirkungsabsicht gründlich herausgearbeitete Aktualisierung an ihm vorüber. Auch Kritiker werden eben, ungeachtet der ihnen zu unterstellenden kognitiven Kompetenz, gelegentlich zu Opfern falscher Rezeption. Um einen wesentlich anderen Zugang bemühte sich Dieter Dorn 1981 für seine Inszenierung an den Münchner Kammerspielen316. In einem schwarz verhängten Bühnenraum mit einer die Schauspieler heraushebenden weißen Rückwand entfaltete er die strenge Spielanordnung zum getreuen Nachvollzug des komplexen SprachSpiels. Vollkommen den Intentionen der Bewußtseinsdramaturgie folgend, lenkte er die Aufmerksamkeit des Publikums konzentrierend auf Goethes herausfordernde 313 Inszenierung: Claus Peymann, Bühnenbild und Kostüme: Ilona Freyer; Iphigenie: Kirsten Dene, Thoas: Branko Samarovski, Orest: Martin Schwab, Pylades: Gert Voss, Arkas: Hans Mahnke (nach dessen Tod: Traugott Buhre). 314 Programmbuch Stuttgart (s. Anm. 303), S. 323. 315 Hensel, Georg: Das Theater der siebziger Jahre. Kommentare, Kritik, Polemik. Stuttgart 1980, S. 234. 316 Inszenierung: Dieter Dorn, Bühnenbild und Kostüme: Jürgen Rose; Iphigenie: Gisela Stein, Thoas: Thomas Holtzmann, Orest: Klaus Eberth, Pylades: Felix von Manteuffel, Arkas: Edgar Selge. Warten auf Iphigenie – Schwerpunkte der Bühnenrezeption  107

ästhetisch-ethische Bühnenreflexion. Unverständig grobe Kritik sah darin „Schallplattentheater“ und „Verweigerung der Bildsphäre“317. Abermals begegnen wir damit einem offenkundigen Versagen der Kritik. Genau das gleiche Phänomen machen die einhelligen Verrisse geradezu schmerzhaft bewußt, die 1998 bei der Inszenierung der „Iphigenie“ durch Klaus Michael Grüber an der Berliner Schaubühne zu registrieren waren318. Mehr noch als zwei Jahrzehnte zuvor Peymann hinterfragte Grübers Regiekonzept die Vision Goethes von selbstloser Menschlichkeit und vom Sieg der Vernunft. Er zeigte die Agierenden „randvoll mit Trauer“319 und setzte somit hinter den schönen Traum des Stückschlusses das düstere Fragezeichen heutiger gesellschaftlicher Wirklichkeit. Der am Schluß allein zurückbleibende Thoas zeigt, daß praktizierter Humanismus „auch eine traurige und tragische Engführung des eigenen Lebens“320 bedeuten kann. Da Goethes Text auf jeden direkten Appell verzichtet, die Auswertung mithin dem Publikum überläßt, steht diese Haltung im Raum als symbolischer Gestus für das, was ist und was sein sollte. Insofern muß die von Grüber an den Schluß gesetzte Skepsis erlaubt sein. Gerade derlei tut not in einer Welt, wo jeder jeden Tag zum Opfer des herrschenden falschen Bewußtseins werden kann. Eine weitere Aufführung hat in der Folge mit Recht von sich reden gemacht, eine Aufführung ohne Regisseur und in ungewöhnlicher Besetzung dazu. Es handelt sich dabei um eine Koproduktion der Ruhrfestspiele 2011 mit dem Maxim Gorki Theater Berlin. Aus der Gemeinschaftsarbeit von fünf Theaterbegeisterten erwachsen, bestritten zwei Schauspieler mit ihrer Spielenergie eine sehr eigene Inszenierung besonderer Art: Franziska Walser und Edgar Selge321. Im Zentrum der Aufführung stand die radikale Auseinandersetzung mit dem Text Goethes im Zeichen von Erkun317 Rühle, Günther: Iphigenie – auf dem Weg zur Schallplatte. In: Theater heute. 3/1981, S. 11 f. 318 Inszenierung: Klaus Michael Grüber, Bühnenbild: Gilles Aillaud, Kostüme: Susanne Raschig; Iphigenie: Angela Winkler, Thoas: Ulrich Wildgruber, Orest: Martin Wuttke, Pylades: Sylvester Groth, Arkas: Wolf Redl. Ein repräsentativer Querschnitt der Kritiken zur Aufführung ist abgedruckt in: Theater heute. 4/1998, S. 6–11. 319 So Franz Wille in einer positiven Rezension von Grübers Inszenierung (Wille, Franz: Der Traum der Vernunft gebiert Lügen. Von Goethe lernen, heißt verlieren lernen. In: Theater heute. 4/1998, S. 6–8; Zitat: S. 6). 320 So Dermutz (Dermutz, Klaus: Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen (= Resonanzen. Theater, Kunst, Performance. Hrsg. v. Ingrid Hentschel, Bd. 2). Berlin, Münster 2008, S. 87). 321 Iphigenie: Franziska Walser, alle vier männlichen Rollen: Edgar Selge; Dramaturgie: Sibylle Dudek, Bühne, Video und Kostüme: Peter Baur und Falko Herold. Selge war

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dung, Annäherung und kritischer Befragung. An den Saalwänden erinnerte eine Bandbildfolge an die blutige Atriden-Geschichte als den schwer lastenden Hintergrund des Geschehens. Zwei Stühle, ein Tisch, ein paar Menschenpuppen und eine Kamera mit Leinwandprojektion genügten als Ausstattung. Den beiden Akteuren blieb es überlassen, durch Konzentration und Improvisation das Publikum permanent einzubeziehen und zum Mitdenken zu veranlassen. Vollkommen im Sinne Brechtscher Verfremdung waren sie zugleich in und neben ihren Rollen. So wurden die Dialoge und Monologe unmittelbar in den Theatersaal hineingetragen. Diese Direktkonfrontation weitete die bewußtseinsdramaturgische Methode zur total offenen Form eines direkten Gedankenaustauschs mit dem Rezipienten aus. Der Rezensent des Deutschlandfunks bezeichnete diese neue Form szenischer Aktion zutreffend als „Diskurstheater“. Jedenfalls war das ein überzeugender Beweis für den nötigen Protest gegen das traditionelle Iphigenien-Bild. Daß die theatralische Umsetzung durchaus spielerisch, mit Witz und Ironie geschah, trug wesentlich zur Qualität dieser originellen Aufführung bei. Die angeführten vier Beispiele lassen hoffen. Sie belegen, daß Goethes sehr ernstes Sprach-Spiel, endlich verstanden als Bewußtseinstheater für das Publikum, mit seiner Hoffnung wie mit seiner Skepsis, dazu beitragen kann, gegen die Verfinsterung durch das Unmenschliche anzugehen. Darin liegt der hauptsächliche Erkenntnisgewinn derartiger Inszenierungen. Es genügt, den Text der „Iphigenie“ gründlich zu hinterfragen, um klar zu erkennen: Die Titelheldin ist keine von unserer Realität abgekoppelte, esoterische Figur, sondern geistige Mitkämpferin in der nötigen politisch-sozialen Auseinandersetzung322. Ihre ästhetisch vermittelte Botschaft hat illustrativen Charakter und insoweit auch eine zeitlich nicht begrenzte, jeweils aktuelle sozialpolitische Funktion. Vom Bewußtsein der Frau auf Tauris kann punktuell jederzeit jenes von Franz Kafka angesprochene „durchdringende Licht“ ausgehen, das unserer Gesellschaft so sehr fehlt. Entschieden gilt darum das Motto: warten – auf Iphigenie. dabei wohl die treibende Kraft. Er hat schon 1981 die Rolle des Arkas in der erwähnten Münchner Inszenierung von Dieter Dorn gespielt. 322 Wie man diese richtige Erkenntnis gründlich ad absurdum führen kann, zeigte eine Inszenierung von Jörg Reimer am Theater Aachen zum Spielzeitbeginn 2013/14. Im Zuge gewaltsamer Aktualisierung („jung, stark, modern“) machte er Orest zum Trinker, Thoas zum gezähmten Wüterich, die er beide dann, zusammen mit Iphigenie, am Ende von Arkas, hier dem Verfechter der Staatsraison, selbdritt erschießen läßt. Was dem weithin klassikfernen, jungen Publikum durchaus gefallen konnte, war indes nichts anderes als ebenso unnötige wie unerträgliche Versündigung an Goethes humaner Utopie. Warten auf Iphigenie – Schwerpunkte der Bühnenrezeption  109

Seitenblick auf „Torquato Tasso“ als Bewußtseinsdrama Dramaturgisch gesehen ist die Formlösung des Dramas um den am Hof zu Ferrara tätigen Renaissancedichter Torquato Tasso (1544–1595) ein Parallelfall zu „Iphigenie auf Tauris“. Wie im zeitlich vorangegangenen Stück hat Goethe damit erneut ein Kammerspiel verfaßt, das sich sogar noch mehr auf das Wort konzentriert. Beide Dramen miteinander vergleichend, bemerkte der Autor zu „Tasso“: „Der Gegenstand fast noch beschränkter als jener, und will im Einzelnen noch mehr ausgearbeitet sein“323. Durchaus angemessen ist eine so tief reichende Gestaltung diesem ersten Künstlerdrama der Literaturgeschichte, von dem Goethe bei der Berliner Aufführung durch Iffland 1811 mit Recht sagte, es sei ein Werk „auf das ich ganze Epochen meines früheren Lebens verwendet habe“324. Abgesehen von einem Minimum an theatralischen Grundgebärden oder Dingsymbolen325 ist der Text insgesamt auf die sprachlich zielgerichtete Autonomie der fünf Handlungsträger (Tasso, Herzog, Antonio, beide Leonoren) aufgebaut. Verstärkt durch die ausgeprägt symmetrische Figurenkonstellation, scheinen auch hier unzweifelhaft die Merkmale der geschlossenen Form gegeben zu sein. So liegt es nahe, daß manch einer im „Tasso“ einfach ein „Musterbeispiel klassizistischer Kunstgesinnung“326 sieht. Indes zwingt gerade die extrem konzentrierte Gestaltungsperspektive das Publikum dazu, sich intensiver und unmittelbarer als gewöhnlich mit den prägnanten, stellenweise spruchartig zugespitzten Dialogen und Monologen auseinanderzusetzen. Das gehört zu den Zielsetzungen der klassischen, nicht aber der klassizistischen Kunstgesinnung. Wie am Beispiel der „Iphigenie“ gezeigt werden konnte, verwandelt die reflektorische Sprechsituation den dramaturgischen Funktionsrahmen von Grund auf. Er findet seine eigentliche Begründung im offenen Raum freier Kommunikation. Erst durch die Mitarbeit des aktivierten Adressaten, mithin durch vollständige kommunikative Öffnung, gewinnt der Dramentext Goethes Leben und Sinn. Darin besteht der Unterschied etwa zur wirklich in geistiger Totalität geschlossenen, nicht übertragbaren Tragödie im Stil von Corneille, Racine oder Voltaire. Auch im „Tasso“ begegnen wir mithin dem ästhetischen Erziehungsprogramm Goethes in der Form eines vom auktorialen Bewußtsein getragenen und das Bewußtsein der Rezipienten direkt ansprechenden Schauspiels. 323 WA I.30, S. 278 (Die italienische Reise, Eintragung vom 21.2.1787). 324 WA IV.22, S. 219 (an Friederike Bethmann am 17.12.1811). 325 Konkrete Beispiele dafür sind die auffallend präsentierten Hermen von Vergil und Ariost, das Bild des Seidenwurms, die das Ganze krönende Metapher vom Felsen und dem Schiffbrüchigen sowie Dingsymbole wie Lorbeerkranz und Degen. 326 MA 3.1, S. 907 (Kommentar zu „Torquato Tasso“).

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Das Thema des Stücks, die zwiespältige Situation eines Künstlers in der Abhängigkeit von einem Hof, lag Goethe denkbar nahe. Befragt nach der dahinter zu suchenden Idee, äußerte er ziemlich erregt: „Idee? … daß ich nicht wüßte! Ich hatte das Leben Tassos, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand in mir das Bild des Tasso, dem ich als prosaischen Kontrast den Antonio entgegenstellte, wozu es mir auch an Vorbildern nicht fehlte. Die weiteren Hof-, Lebens- und Liebesverhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara, und ich kann mit Recht von meiner Darstellung sagen: sie ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“327. Eigene Erfahrungen gehören also zur Substanz des Dramas. Gewiß nicht zufällig erwuchs die zündende Idee zum Stück aus dem Arbeits- und Lebensalltag in Weimar heraus. Goethe notierte im März 1780 im Tagebuch: „… hatt ich den erfindenden Tag. Anfangs trüblich ich lenckte mich zu den Geschäfften, bald wards lebendiger. … Gute Erfindung Tasso“328. Das spricht entschieden für den autobiographischen Hintergrund. Doch sollte man diese Tatsache auch wiederum nicht überbewerten. Von Jugend an war der Autor mit den widrigen Lebensumständen Tassos vertraut. Im Verlauf der weiteren Arbeit informierte er sich zusätzlich über die umfangreiche Lebensbeschreibung des Dichters von Abate Pier Antonio Serassi, die 1785 in Rom erschien329. In ziemlich abgemilderter, freier Form übernahm er wesentliche Elemente der biographischen Fakten für seine Dramenkonstruktion. Freilich ging es ihm letztlich um eine generelle Darstellung des Spannungsfelds von höfischer Integration und Selbstwertkrise des abhängigen Dichters einerseits und dem Künstlertraum von freier Selbstbestimmung andererseits. Das war sein ureigenes Problem als ‚Tasso in Weimar‘. Dafür spricht gleichfalls die eindeutige Bekundung gegenüber Eckermann, mit der er ihn wissen ließ: „daß die Verzweiflung mich nach Italien getrieben, und daß ich dort, mit neuer Lust zum Schaffen, die Geschichte des Tasso ergriffen, um mich in Behandlung dieses angemessenen Stoffes von demjenigen frei zu machen, was mir noch immer aus meinen weimarischen Eindrücken und Erinnerungen Schmerzliches und Lästiges anklebte“330. Der hauptsächliche Grund für die Tatsache, daß die Arbeit am „Tasso“ nur langsam vonstatten ging, ist demnach weithin in der persönlichen Problematik zu suchen.

327 Zu Eckermann am 6.5.1827 (zit. n.: MA 19, S. 571). 328 WA III.1, S. 113 (Eintragung vom 30.3.1780). 329 Am 28.3.1788 schrieb Goethe an Carl August: „Ich leße [lese] jetzt das Leben des Tasso, das Abbate Serassi und zwar recht gut geschrieben hat. Meine Absicht ist, meinen Geist mit dem Charackter und den Schicksalen dieses Dichters zu füllen“ (WA IV.8, S. 366). 330 Zu Eckermann am 3.5.1827 (zit. n.: MA 19, S. 563 f.). Seitenblick auf „Torquato Tasso“ als Bewußtseinsdrama  111

In der Zeit vom Herbst 1780331 bis zum Herbst 1781 versuchte Goethe immer wieder vergeblich, das Projekt voranzutreiben. Er brachte aber lediglich die beiden ersten Akte „in poetischer Prosa“332 zustande. Carl August zeigte sich überdies wenig angetan von diesem Vorhaben, weil er lokale Anspielungen witterte. Das wirkte natürlich gleichfalls hemmend, ganz zu schweigen von der Fülle anfallender Verwaltungsarbeiten. Sechs Jahre danach erst fand der Autor in Italien 1787 die Möglichkeit zur Weiterarbeit am mitgeführten ‚Ur-Tasso‘-Manuskript333. Ziel war die Ausgestaltung des Gesamttextes nunmehr in Blankversen oder, mit den Worten Goethes, „die Form vorwalten und den Rhythmus eintreten“ zu lassen334. Doch erwies sich das unter den Bedingungen der Reise als ebenso mühselig wie zeitraubend. Erst nach der Rückkehr in die heimatlichen Gefilde gelang die allmählich fortschreitende Schlußredaktion. Ende Juli 1789, fast ein Jahrzehnt nach dem Beginn der Arbeit, konnte Goethe endlich vermerken: „Tasso ist fertig“335. Im Februar 1790 erschien der Text gedruckt bei Göschen. Auf die Theater gelangte das Schauspiel lange nicht. Es dauerte 17 Jahre, bis am 16. Februar 1807 die Uraufführung in Weimar stattfinden konnte. Am 23. November 1807 folgte eine im Jahr darauf auch in Weimar gezeigte Inszenierung des Berliner Hoftheaters mit Iffland in der Titelrolle. Goethe bedankte sich 1811 bei der an der Aufführung in der Rolle der Hofdame Leonore Sanvitale beteiligten Schauspielerin, Friederike Bethmann, mit den Worten: „Haben Sie allerseits recht vielen Dank, daß Sie dieses theaterscheue Werk hervorgezogen und in ein günstiges Bühnenlicht gestellt haben“336. Zu oft hatte er in der Zwischenzeit hören oder lesen müssen, daß sich „Torquato Tasso“ nicht für die Bühne eigne. Es blieb weithin bei den unter seiner Leitung am Weimarer Theater stattfindenden Aufführungen. Selbst die festliche Aufführung zu seiner Genesung von einer gefährlichen Herzbeutelentzündung am 22. März 1823 hatte bloß lokale Bedeutung. 331 Im Tagebuch findet sich der Hinweis „Tasso angefangen zu schreiben“ unter dem Datum des 14.10.1780 (WA III.1, S. 125). 332 WA I.31, S. 82 (Die italienische Reise, Eintragung vom 30.3.1787). 333 Goethe suchte in Ferrara das angebliche Gefängnis Tassos (vgl. hierzu: MA 3.1, S. 130) und in Rom dessen Grab auf. Über diesen Besuch schrieb er Frau von Stein: „wir … kamen auch auf St. Onufrio wo Tasso in einem Winckel begraben liegt. Auf der Bibliothek haben sie eine Büste von ihm. Das Gesicht ist von Wachs und soll über seinen Leichnam gegossen sein. Es ist nicht ganz scharf und hier und da verdorben, im ganzen aber ein trefflicher, zarter, feiner Mensch“ (WA IV.8, S. 158; an Charlotte von Stein am 2.2.1787). 334 WA I.31, S. 83 (Die italienische Reise, Eintragung vom 30.3.1787). 335 WA IV.9, S. 142 (an Herzogin Anna Amalia am 22.7.1789). 336 WA IV.22, S. 218 (an Friederike Bethmann am 17.12.1811).

112  Die dramaturgische Wende mit „Iphigenie auf Tauris“

Immerhin lebte dadurch der Text im Autor wieder auf. Im Jahr 1823 kam es dann zu der Marienbader Begegnung mit Ulrike von Levetzow, und es hatte sicher innere Konsequenz, daß Goethe seiner schmerzerfüllten Marienbader „Elegie“ als Motto die Verse aus „Torquato Tasso“ voranstellte: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide“ (V. 3432 f.). Allerdings weist das Zitat eine aufschlußreiche Veränderung auf, denn im Motto wird aus „wie ich leide“ die wesentlich pessimistischere Wendung „was ich leide“. Damit kommt eine sehr dunkel getönte Sicht des Lebens zum Ausdruck, die am Schluß des Dramas gerade noch umgangen wird. Im Motto geht es schlicht um Leben und Tod, im Drama um den leidvollen Konflikt zwischen künstlerischer Autonomie und gesellschaftlichem Zwang. Im Gegensatz zu den historischen Fakten läßt Goethe Tasso einen untragischen Ausgang finden. Dadurch erst wird das Stück zur Reflexion über die produktiven Möglichkeiten des Dichters in der Gesellschaft – als der souverän über der Wirklichkeit stehende, schöpferische Geist. Das hat entschieden mit der Wirkungsabsicht des Dramatikers zu tun. Die Resonanz in der Öffentlichkeit fiel allerdings spärlich aus. Immerhin kam Zustimmung zum Stück aus dem Weimarer Umkreis, vor allem vom Ehepaar Herder und von Knebel, sodann von den Berliner Freunden Carl Friedrich Zelter und Wilhelm von Humboldt. Letzterer entschied kategorisch: „Es ist mir doch immer, als wäre er [Goethe] unser einziger Dichter. Sein Tasso und einige Stellen im Faust haben mich aufs neue darin bestärkt“337. Direkten Bezug auf die Wirkungsstrategie nehmen Äußerungen von Karl Philipp Moritz und Friedrich Schlegel. Moritz, der sich am Jahreswechsel 1788/89 in Weimar aufhielt und dabei das Manuskript gelesen hatte, ließ Goethe wissen: „Der Tasso hat so was wunderbar Anziehendes, daß ich mit meinen Gedanken gern immer dabei verweilen möchte“338. Ähnlich äußerte sich Friedrich Schlegel ein Jahrzehnt später: „Das Charakteristische im ‚Tasso‘ ist der Geist der Reflexion und der Harmonie; nämlich daß alles auf ein Ideal von harmonischem Leben und harmonischer Bildung bezogen und selbst die Disharmonie in harmonischem Ton gehalten wird“339. Bezeichnenderweise spielen beide Reaktionen auf den Wirkungsmechanismus der bewußtseinsgerichteten Kommunikation an und sehen darin den besonderen Wert des Stücks. Madame de Staël hingegen kritisierte gerade diesen Punkt mit den Worten: „Von den Zuschauern oder Lesern zu fordern, daß sie auf das Interesse für die Begebenheiten verzichten, um 337 Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi am 20.6.1790 (zit. n.: Bode, Bd. 1, S. 417). 338 Karl Philipp Moritz an Goethe am 6.6.1789 (zit. n.: MA 3.1, S. 935). 339 Schlegel, Friedrich: Kritische Schriften. Hrsg. v. Wolfdietrich Rasch. 2. A. München 1964, S. 521 (Gespräch über die Poesie, 1800). Seitenblick auf „Torquato Tasso“ als Bewußtseinsdrama  113

ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf die Bilder und Gedanken zu richten, ist zu viel verlangt“. Immerhin gestand sie dem Autor lobend zu: „Die Eleganz und Würde des poetischen Stils im ‚Tasso‘ sind unvergleichlich: Goethe hat sich hier als deutscher Racine gezeigt“340. Dem bleibt nur zu entgegnen, daß Goethe Racine zwar hochschätzte, es ihm aber gewiß nicht gleichtun wollte. Lassen wir es lieber beim deutschen Goethe und bei dessen hohen Anforderungen an das Publikum. Alle Entwicklungslinien der Handlung des Dramas scheinen in Scheitern zu münden. Der erste Teil der Schlußszene demonstriert die den Titelhelden schon lange quälende Angst, als Außenseiter in eine sich immer mehr verstärkende Selbstwertkrise zu geraten. Die Furcht, zum „Nichts“ (V. 800) zu verkommen, verrät das Ausmaß seiner existentiellen Verzweiflung. Sie treibt Tasso in finstere Wahnvorstellungen, in denen sein berechtigter Zorn über absolutistischen Machtdünkel und Machtmißbrauch in blinden Haß umschlägt. Sagte er zunächst: „Die Willkür macht mich frei, wie sie mich band“ (V. 2555), steigert er sich am Ende in maßlose Verdächtigungen und verzweifelte „Wuth“ (V. 3372) hinein. Der ihn fördernde Herzog erscheint ihm nun als „Tyrann“ (V. 3304), der ihn zum „Opferthier“ (V. 3314) herabwürdigt und ihm sogar sein „einziges Eigenthum“, sein „Gedicht“ (V. 3316) rauben will. Die ihm in platonischer Liebe zugetane Prinzessin Leonore, die seine ungestümen Liebesbekundungen indes schroff zurückweist, beschimpft er als „Sirene“ (V. 3333), ja er deformiert das „heilig Bild“ (V. 3347), das er sich von ihr machte, zum häßlichen Zerrbild einer „Buhlerin, die kleine Künste treibt“ (V. 3348). Die für ihn eingenommene Gräfin Leonore Sanvitale diffamiert er als „verschmitzte kleine Mittlerin“ (V. 3352), und der ohnehin verhaßte Antonio ist in seinen Augen bloß noch „ein theures Werkzeug des Tyrannen“ (V. 3301), sogar ein „Kerkermeister“ und „Marterknecht“ (V. 3302). Für ihn sind damit alle Grundlagen für die Beziehungen seines menschlichen Umfelds zerstört. Tasso befindet sich am absoluten Tiefpunkt. Hellsichtig gebraucht er für seine Situation am Hof das Bild der „vollgeschriebenen Qualentafel“ (V. 2817). Wäre das die vom Text ausgehende Botschaft, würde das Drama wirklich in tragischer Enttäuschung und Verzweiflung enden. Für die adäquate Rezeption ist es indes wichtig, zu erkennen, daß Tasso aus seiner vorübergehenden Verblendung herausfindet und zu selbstgewissem Gebrauch der ihm verliehenen schöpferischen Gaben gelangt. Den Wendepunkt dieser erlösenden Entwicklung bildet der zweite Teil der Schlußszene. Entscheidend ist hierfür die Stelle, an welcher der Titelheld bemerkt, daß er sich „selbst entwandt“ (V. 3418) ist. Durch die von Antonio ohne Überheblichkeit und ohne jedes Triumphgefühl, vielmehr in natürlich-menschlicher Solidarität vorgebrachte Aufforderung „Vergleiche dich! Erkenne, was du bist!“ (V. 3420) findet er den Anstoß zur nötigen Identi340 Staël, Germaine de: a.a.O. (s. Anm. 141), S. 260.

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tätsfindung. Indem er sich von seinem bisherigen Leben distanziert, schlägt entgegen aller Erwartung der heftige Antagonismus beider Männer in Teilnahme und gegenseitiges Verstehen um. Zwar ist Tasso an den Regeln des höfischen Lebens gescheitert, doch wird ihm nun bewußt, ‚wer und was er ist‘. Sein Wert liegt in der Fähigkeit „zu sagen, wie ich leide“ (V. 3433). Das war gemeint, als Goethe den Sinn seines Schauspiels in die Formel der „Disproportion des Talents mit dem Leben“341 faßte. Zum Wirkungsprogramm gehörte die Vorstellung, der Künstler müsse seiner Arbeit im Wissen um Schmerz und Verlust nachkommen. Tasso läßt darum die zweifelhafte Scheinidylle des Hofdichters hinter sich. Dadurch erst wird er zum wahren Dichter. Bezeichnenderweise plazierte Goethe an genau dieser Stelle einen entscheidenden nonverbalen, rein gestischen Vorgang: „Antonio tritt zu ihm (Tasso) und nimmt ihn bei der Hand“ (nach V. 3433). Was als bloße Bühnenanweisung daherkommt, ist in Wahrheit stummes, doch vielsagendes Zeugnis eines exemplarischen menschlichen Einvernehmens über Gegensätze hinweg. Beide Antagonisten bewegen sich in diesem Augenblick aufeinander zu. Ihre gestische Aktion bedarf keiner Worte, um gebührend verstanden zu werden (ähnlich der Abschiedsfloskel „Lebt wohl!“ am Schluß der „Iphigenie“). Die intensive Symbolkraft des szenischen Moments genügt vollkommen, um die humane Dimension zu übertragen, die es Tasso erlaubt, sich schlagartig vom Vergangenen zu lösen. Kompensierend entwickelt er aus dem begriffenen und bewältigten Leiden jenen kreativen Elan, der ihn zu künstlerischer Selbstermächtigung befähigt. Darin liegt der tiefere Sinn des vom Autor in den anschließenden Versen vorgenommen Tempuswechsels ins Präsens. Was nun im Text noch folgt, ist zwar äußerlich dialogische Anrede Antonios durch Tasso. Der wahre Adressat dieser Aussage indes ist das Publikum. Es soll die jetzt zwischen den Dialogpartnern herrschende Übereinstimmung aufnehmen. Tassos Rede zu dem, der ihn bei der Hand ergriffen hat, ist dramaturgisch offen. Sie wird, getragen vom Bildgegensatz von „Welle“ und „Fels“, zur programmatischen Mitteilung an alle, die sich auf den Text einlassen: O edler Mann! Du stehest fest und still, Ich scheine nur die sturzbewegte Welle. Allein bedenk’, und überhebe nicht, Dich deiner Kraft! Die mächtige Natur, Die diesen Felsen gründete, hat auch Der Welle die Beweglichkeit gegeben. (V. 3434–3439) 341 Goethe äußerte sich mit diesen Worten gegenüber Caroline Herder, die darüber ihrem in Rom befindlichen Mann berichtete. Zit. n.: Bode, Bd. 1, S. 393 (Caroline Herder an Johann Gottfried Herder am 20.3.1789). Seitenblick auf „Torquato Tasso“ als Bewußtseinsdrama  115

Äußerem Scheitern zum Trotz hat Tasso an Substanz gewonnen. Er teilt sich deshalb auf gleicher Augenhöhe dem Kontrahenten mit. „Fels“ und „Welle“ haben beide ihre Berechtigung und ihren spezifischen Eigenwert. Antonio, der Staatssekretär, hat einen selbstverständlichen „festen“ Platz im herrschenden System. Tasso bleibt zwar der Außenseiter, aber sein Verhältnis zum gesellschaftlichen Kontext hat sich gewandelt. Die ihm gegebene „Beweglichkeit“ hat die ihn neu belebende Qualität einer nun bewußt vollzogenen künstlerischen Freisetzung. Rückblickend, und deswegen noch einmal kurz in der Vergangenheitsform, erinnert der Dichter sich seiner früheren, nunmehr hinter ihm liegenden, ganz der Etikette folgenden Art, für den Hof zu arbeiten. Der am Ende dieser Partie, nach Vers 3445, gesetzte Gedankenstrich markiert sein Umdenken zu befreiender Identität und damit zur Selbstanerkennung. Tasso bekennt – wiederum im Präsens – dem neu gewonnenen Freund, was er aus seinem Scheitern durch die von Antonio angeregte Selbstbesinnung gelernt hat: Der Gedankenstrich ist zugleich von den Bühnenpraktikern zu übertragendes Interpunktionssignal für den Rezipienten, nachzudenken über die nötige Einheit von Bindung und Freiheit, von Denken und Handeln. Am dadurch indirekt eingeforderten Lebensrecht für jedes Individuum kann der so Angesprochene das lernen. Hierzu der Text: Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt Der Boden unter meinen Füßen auf ! Ich fasse dich mit beiden Armen an! So klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte. (V. 3448–3453)

Das mehrschichtige Wort- und Versgefüge bildet die Schlußsequenz des Dramas. Ihr von etlichen Interpreten mißverstandener Ausdruckswert wird bedeutungsmäßig geprägt vom letzten Wort: „sollte“. Das Verb ist in diesem Fall im Konjunktiv des Perfekts, dem sogenannten ‚Konjunktiv II‘, zu orten. Somit kommt, um eine sprachwissenschaftliche Definition aufzugreifen, die „Nichtwirklichkeit des Ausgesagten“342 zum Ausdruck. Demzufolge meint die Formulierung „scheitern sollte“ unzweideutig kein völliges Scheitern, sondern lediglich ein Beinahe-Scheitern. Bei einigen Interpreten löste das Verständnisprobleme aus. Entgegen der klaren Absicht Goethes, der „Tasso“ im Untertitel ausdrücklich gattungsmäßig als „Schauspiel“ einstufte,

342 So Wahrig (Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch. Gütersloh 1970, Sp. 167).

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legten sie sich auf einen tragischen Ausgang fest343. Demgegenüber muß unbedingt betont werden: Goethes Gestaltung des Schlusses duldet keine tragische Ausdeutung, kein Versagen und erst recht keinen Zusammenbruch. Vielmehr beschreibt sie einprägsam einen für den Künstler Tasso unter Schmerzen erzielten Heilungsprozeß. Er gewinnt dabei kritischen Abstand zur Hofwelt. Das vordergründige, gekünstelte Leben dort weicht für ihn spannungsvoller, aber ihn steigernder „Disproportion des Talents mit dem Leben“ – „Disproportion“ zwar, jedoch wohlgemerkt „mit dem Leben“. Das gerade charakterisiert seine Identität als Künstler. Lawrence Ryan erklärte die Verwandlung mit Recht als die „Selbstentfaltung von Tassos Dichtertum“344. Sie ist in Wahrheit allgemeines Symbol für die nötige Selbstentfaltung des Künstlers und des schöpferischen Menschen überhaupt. Wie am Schluß der „Iphigenie“ vermeidet Goethe im letzten Augenblick den drohenden tragischen Ausgang, indem unerwartet Mitgefühl, Anteilnahme und sogar ein Anflug von Solidarität zwischen den beiden Antagonisten aufkommt. Die Initiative zur Beendigung der gegenseitigen Feindschaft geht eindeutig von Antonio aus. Er entschließt sich dazu, die ihm gewiß nicht leicht fallende Ermutigung für Tasso auszusprechen: „Ich werde dich in dieser Noth nicht lassen; / Und wenn es dir an Fassung ganz gebricht, / So soll mir’s an Geduld gewiß nicht fehlen“ (V. 3377–3379). Er ist es auch, der ihn bei der Hand nimmt und dadurch aus dem Übermaß seiner Verzweiflung reißt. Geradezu nüchtern, jedenfalls völlig unsentimental hat Goethe dem Finale das Beispiel gelingender Humanität eingeschrieben. 343 Hierzu nur einige Beispiele: „Goethes ‚Tasso‘ ist eine Tragödie vom Scheitern des Künstlers und der Kunst“ (Kraft, Herbert: Goethes ‚Tasso‘. Nachfrage zu einem Bündnis zwischen Kunst und Politik. In: GJ 104/1987, S. 84–95; Zitat: S. 84); „Tasso aber scheitert und bietet, wie immer man den Schluß auch lese, den Anblick eines Zusammenbruchs“ (Staiger, Bd. I, S. 389); „Sein Scheitern ist und bleibt ein vollständiges“ (Elisabeth M. Wilkinson: ‚Torquato Tasso‘. In: Goethe im XX. Jahrhundert. Spiegelungen und Deutungen. Hrsg. v. Hans Mayer. Hamburg 1967, S. 98–119; Zitat: S. 117); „Untergang der titanischen leidenschaftlichen Kräfte beim Zusammenstoß mit der gesetzlichen Wirklichkeit“ (Gundolf, Friedrich: Goethe. Berlin 1916, S. 323). – Mehr vermittelnd äußert sich Hinderer wie folgt: „Die Katastrophe hat den Gegensatz von Poesie und Politik, Dichter und Staatsmann, Welle und Fels wenn nicht aufgehoben, so doch in einer humanen Beziehung entschärft“ (Hinderer, Walter: Torquato Tasso. In: GH 2, S. 241). 344 Ryan, Lawrence: Die Tragödie des Dichters in Goethes ‚Torquato Tasso‘. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 9. Jg., Stuttgart 1965, S. 283–322; Zitat: S. 288. Ebenso betont Angelika Jacobs: „Der Dichter wird zum Modus der Selbsterhaltung“ ( Jacobs, Angelika: ‚Torquato Tasso‘: Goethes Antwort auf Rousseau. In: Klassik und Antiklassik. Goethe und seine Epoche. Hrsg. v. Ortrud Gutjahr und Harro Segeberg. Würzburg 2001, S. 35–62; Zitat: S. 59). Seitenblick auf „Torquato Tasso“ als Bewußtseinsdrama  117

Das symbolisch vorgeführte Miteinander ist, gemessen an der feudalen Realität der Entstehungszeit, fraglos als Handlungsanweisung zu verstehen und insofern Kritik am bestehenden Gesellschaftssystem. Darauf beruht dann gleichfalls der davon ausgehende Appell an das Publikum. Dem hohen humanen Anspruch entspricht die hohe Formgestalt. Goethes Dramaturgie macht das Drama zum Bekenntnistheater. In jeder Hinsicht genügt die angebotene menschliche und poetische Lösung den Anforderungen jenes Weltbilds, das in der Folge als ‚klassischer Humanismus‘ bezeichnet wurde. Goethe hat ein Künstlerdrama über den sich mühsam von höfischer Abhängigkeit emanzipierenden Dichter Tasso geschrieben, wie er ihn sah und gestalten wollte. Bewußt wich er auch in diesem Stück in verschiedenen Punkten vom überlieferten historischen Vorbild ab. Viel Seelenverwandtschaft mit dem Autor schlägt bei der Titelfigur durch, so daß der Eindruck einer Projektionsfigur entstehen kann. Tassos tiefgreifende Schwierigkeiten lassen sich jedoch mit der ungefährdeten Existenz Goethes nicht vergleichen. Dagegen ist die Annahme Eduard Sprangers sehr bedenkenswert, der zum Gegensatz Tasso–Antonio anmerkte, es handle sich um den „Kampf zweier Daseinsstile, den sich der Dichter (Goethe) von der Seele schreibt“345. Das ist insoweit anregend, als der Weimarer Minister in manchen Zügen durchaus auch mit der Antoniofigur übereinstimmte. Für den aus Italien Heimgekehrten kam die Niederschrift seines Schauspiels ebenfalls einer Neubestimmung der eigenen Position gleich. Im Gegensatz zu Tasso gelang es ihm dabei, sich eine Nische zu schaffen, die ihm künstlerische Unabhängigkeit und materielle Sicherheit im Einvernehmen mit dem Hofe gewährleistete. Vor dem Hintergrund der Arbeit am „Tasso“ erscheint das von Goethe Erreichte besonders bemerkenswert. Thomas Mann fand für diese Leistung die schöne Formulierung von „Göthe’s Aristokratentum“, das, wie er sagte, „künstlerischer Art war und in der Intimität und Innerlichkeit seiner Absichten und Aufgaben beruhte“346. Um den gleichen Kunstwillen ging es, vom Ende her gesehen, dem Goetheschen Tasso. Die Aufführungsgeschichte des Schauspiels zeigt in den Anfängen eine äußerst zurückhaltende Aufnahme. Schuld daran waren hauptsächlich die Vorbehalte im Hinblick auf die Eignung für die Bühne. „Zur Vorstellung ist es nicht“, schrieb sogar Knebel347, und meinte damit die fehlende Theatertauglichkeit. Um so erstaunlicher ist, daß im Verlauf des vorigen Jahrhunderts bekannte Schauspieler sich in großer Zahl

345 Spranger, Eduard: Goethe. Seine geistige Welt. Tübingen 1967, S. 81. 346 Mann, Thomas: Gesammelte Werke. Bd. IX. Frankfurt/M. 1960, S. 351. 347 Brief Knebels an seine Schwester vom 11.1.1790; zit. n.: Bode, Bd. 1, S. 411.

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gerade um diese Rolle intensiv bemüht haben348. Goethes Tasso muß sie magisch angezogen haben. Das läßt vermuten, daß darunter eine beachtliche Zahl faszinierender Reaktionen auf den herausfordernden, angeblich ‚undramatischen‘ Text Goethes zu vermerken ist. Von vielen der Interpretationen konnten produktive Impulse an das Publikum weitergegeben werden349. Jede theatralische Umsetzung birgt freilich ebenso das Risiko fehlgeleiteter Interpretation. Dieses Problem läßt sich an den wohl meistdiskutierten Inszenierungen von „Torquato Tasso“, durch Peter Stein 1969 in Bremen und Claus Peymann 1980 in Bochum, am besten illustrieren.

Exkurs zur Bremer und zur Bochumer Aufführung Nicht wenige Theaterkritiker bescheinigten der Bremer Produktion350, es handle sich um das wichtigste Theaterereignis des Jahres 1969. Einige erhoben die Inszenierung sogar zum Modell progressiven Theaters schlechthin351. Unter diesen Vorzeichen wurde die Aufführung auch zur ‚Experimenta‘ in Frankfurt und zur Theaterbiennale in Venedig sowie an eine Reihe anderer europäischer Bühnen eingeladen. Sie wurde dann durch den gewaltigen Erfolg ebenso zum Kernstück der Anfangsarbeit an der Berliner ‚Schaubühne am Halleschen Ufer‘. Der weitere Weg des dafür maßgeblichen 348 Die lange Liste von Darstellern des Tasso soll wenigstens mit einigen Namen belegt werden: Josef Kainz (Wien 1906, Berlin 1907), Horst Caspar (München 1939), Gustav Gründgens (Düsseldorf 1949), Erich Schellow (Berlin 1949), Will Quadflieg (Tourneetheater 1956), Klaus Kinski (Wien 1956), Oskar Werner (Wien 1964), Thomas Holtzmann (München 1968), Bruno Ganz (Bremen 1969), Christian Grashof (Berlin 1975), Branko Samarovski (Bochum 1980), Peter Simonischek (Salzburg 1982), Ulrich Wildgruber (Hamburg 1990), Udo Samel (Wien 1994), Götz Schubert (Berlin 1996), Philipp Hochmair (Wien 2007), Valerie Tscheplanowa (München 2015). 349 Beispielhaft dafür ist ein Text Hofmannsthals – Unterhaltung über den ‚Tasso‘ von Goethe (1906) – über einen Theaterabend mit Josef Kainz als Tasso im Wiener Burgtheater. Zu finden in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 31. Hrsg. v. Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1975 ff., S. 107–117 (Erfundene Gespräche und Briefe). 350 Erstaufführung: 30.3.1969: Bremer Bühnenfassung: Peter Stein / Yaak Karsunke, Regie: Peter Stein, Bühnenbild: Wilfried Minks; Tasso: Bruno Ganz, Leonore von Este: Jutta Lampe, Leonore Sanvitale: Edith Clever, Herzog Alfons: Wolfgang Schwarz, Antonio: Werner Rehm. Wichtige Aufschlüsse gibt das von Volker Canaris herausgegebene Regiebuch (R). 351 Vgl. hierzu, neben den im Regiebuch enthaltenen Beiträgen von Volker Canaris, Peter Iden, Ivan Nagel und Botho Strauß, folgende Rezensionen: Urs Jenny (Süddeutsche Zeitung vom 1.4.1969), Hellmuth Karasek (Theater heute, Jahresheft 1969, S. 23), Günther Rühle (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.4.1969). Exkurs zur Bremer und zur Bochumer Aufführung  119

Regisseurs Peter Stein hat die große Zustimmung zu dieser Aufführung bei Publikum und Kritikern voll bestätigt. Allerdings fehlte es auch nicht an scharfen Gegenstimmen. Sie störten sich in erster Linie an der – in ihrer Sicht – parodierenden bis denunzierenden Spielweise, die dem Kunstanspruch Goethes diametral entgegenstehe. Ebenso stützten sie ihre Kritik auf den übermäßig zusammengestrichenen Text und die weitgehende Preisgabe der Versgestaltung, hauptsächlich aber auf die gewaltsame Reduktion der menschlichen Dimension aller fünf durch unangebrachte Ironisierung ihrer Persönlichkeit beraubten Dramenfiguren. Im Endeffekt wandten sie sich ebenso gegen die einseitige aufklärerisch-gesellschaftskritische Ausrichtung des Schauspiels als Exempel für die grundsätzliche Infragestellung ästhetischer Produktion und damit gerade auch des Theaters im Kapitalismus. Die zugespitzte Polarisierung der Meinungen zwischen Reaktion und Revolution ergab sich zwingend aus der politisch angespannten Situation der 68er Jahre. Die einen wollten sich den hohen Anspruch der Kunst in der Gesellschaft bewahren, die anderen wollten ihn demontieren. Aus heutigem Abstand heraus wird man beiden Seiten ein gewisses Recht zubilligen. Denn damals mußte tatsächlich die Frage des Verhältnisses von Persönlichem und Öffentlichem, von Kunst und Gesellschaft, von Geist und Macht völlig neu gestellt werden. So kamen Stein und seine Mitstreiter mit guten Gründen auf den Gedanken, Goethes „Tasso“ sei „das Drama von dem überflüssigen (d. h. luxuriösen) Zuckerguß der Hohen Kunst, mit dem das unnötige Elend überzogen wird, um es genießbar zu machen. Hergestellt wird diese Konditorware von einem Produzenten, den man für frei Kost und Logis engagiert hat, und dem in der konventionell formalisierten Feudalgesellschaft die Rolle des Emotionsclowns zufällt“352. Generell gesehen war das gewiß nicht falsch. Nur wurde das Kind mit dem Bade ausgegossen. Ohnehin hatte man mit Goethes Drama um Tasso eigentlich das falsche Beispielstück gewählt. Zwar meinten Stein/Karsunke: „Unsere Produktion verbleibt im Goetheschen Kunstrahmen“, doch mußten sie gleichzeitig einräumen, „vornehmlich Poesie gestrichen“ zu haben353. Daß darin ein Widerspruch liegt, scheint ihnen im sozialpolitischen Eifer jener Jahre nicht aufgegangen zu sein. Der zu entrichtende Preis bestand nämlich darin, daß sich die Inszenierung eben gerade nicht mehr „im Goetheschen Kunstrahmen“ bewegte. Aus gereiftem Abstand scheute sich Stein nicht, das selbst einzubekennen. Unter Verwendung des GoetheTextes sollte ‚Kunst/Theater im Kapitalismus‘ denunzierend, bestenfalls als schöner Anachronismus vorgeführt werden. Mit Absicht wurde der Titelheld zum erbärmlichen „clown“ herabgestuft, über den in Karsunkes „simplem sonett auf Torquato 352 So die grundsätzliche Erklärung zur Inszenierung von Peter Stein und Yaak Karsunke: R, S. 135. 353 R, S. 136.

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Tasso“ bloß noch gesagt werden kann: „daß der beherrschte sich nicht selbst beherrscht, heißt: schuld. / & prompt entzieht der herrscher ihm die huld, / steckt Tassos arbeit ein, verläßt den ort, // & nimmt auch noch die beiden Leonoren mit sich fort. / zu spät schreit unser held jetzt auf: tyrann! / (dann biedert er sich bei Antonio an.)“354 Mit einer solchen Deutung des Inhalts verkommt Goethes Stück und die enthaltene tiefe Reflexion über die Leiden des Künstlers und eine mögliche Versöhnung von Kunst und Wirklichkeit zwangsläufig zur platt klassenkämpferischen Moritat. Darum wohl bezeichnete Peter Handke mit scharfer Ablehnung die Aufführung schlechtweg als „die ärgerlichste aller Produktionen“355. Das könnte die Kritiker der Aufführung bestätigen, als deren Wortführer Joachim Kaiser fungierte. Seinen Vorwurf formulierte er wie folgt: „Er [Stein] hätte (den Goetheschen Figuren) die Chance geben müssen, in einer Welt des falschen oder vergangenen Bewußtseins doch gleichwohl direkt, ernsthaft, einsehbar zu leiden und zu denken, zu lieben und zu klagen, sich anzupassen und zu frustrieren“, statt sie „in eine Mischung aus Dummköpfen und Spinnern“ zu verwandeln356. Sosehr das zutrifft, ist es doch nicht die volle Wahrheit über die Steinsche Inszenierung. Gewiß wurde an Goethe schwer gesündigt. Daß es dem Regisseur und seinem Ensemble dennoch gelungen ist, eine theatralisch beispielhafte Inszenierung zu präsentieren, liegt daran, daß ernsthaft versucht wurde, „Goethes Kunstwelt in ihrer abgeschlossenen Künstlichkeit darzustellen und sie dadurch zugleich genießbar und kritisierbar zu machen“357. Zwar konnte das im Hinblick auf das „Genießbar“-Machen von „Goethes Kunstwelt“ allein mit unangebrachter Ironie gelingen. Was jedoch mit der entlarvenden Bühnenfassung ermöglicht wurde, war die kritische Vermittlung der von allen Beteiligten angestrebten Distanzierung vom „schönen Umsonst“ des Theaters. So formulierte es Botho Strauß, der in einem Beitrag unter diesem Titel feststellte: „Die nicht leicht vergleichbare Qualität der Bremer Inszenierung liegt begründet in der Erkenntnis von einer objektiven Unangemessenheit, Bedeutungslosigkeit des Goetheschen ‚Tasso‘ gegenüber den zeitgenössischen Verhältnissen von ehedem und jetzt“358. Wohlgemerkt „gegenüber den zeitgenössischen Verhältnissen“. Ideologiekritisch leisteten Stein 354 Karsunke, Yaak: reden & ausreden. Neununddreißig Gedichte. Berlin 1969, S.  40; ebenso: R, S. 193. 355 Handkes Polemik erschien in Die Zeit vom 13.6.1969; vgl. hierzu: R, S. 176. 356 Kaiser, Joachim: Stein vergnügt sich an fünf dümmeren Menschen. In: Theater heute, Jahresheft 1969, S. 22; zuvor schon in Die Zeit vom 20.6.1969. 357 So Werner Rehm, Darsteller des Antonio, bei der Diskussion mit dem Publikum (zit. n.: Theater heute. 5/1969, S. 16; Kennen Sie Ihre Bedürfnisse? Pausenveranstaltung zu ‚Tasso‘ in Bremen); ebenso: R, S. 123. 358 Strauß, Botho: Das schöne Umsonst. Peter Stein inszeniert ‚Tasso‘ in Bremen. In: Theater heute. 5/1969, S. 12–16; Zitat: S. 12; ebenso: R, S. 160–167 (Zitat: S. 160). Exkurs zur Bremer und zur Bochumer Aufführung  121

und seine Mitspieler Beträchtliches. Auch unter theatergeschichtlichem Aspekt ist seiner Inszenierung, wie gleich kurz beschrieben werden soll, hoher Respekt zu zollen. Was also gilt, Zustimmung oder Ablehnung? Ein derart zweischneidiges Ergebnis kann sich aus der Bewußtseinsdramaturgie ergeben. Sie erlaubt es dem Rezipienten, die in den Subtext des Dramas eingespeicherten Impulse nach seinem Dafürhalten weiterzudenken. Ganz allgemein lebt davon das ‚Regietheater‘ mit seinen gelungenen wie mit seinen abwegigen Einfällen. Für die Umsetzung einer Dramenfigur durch den Schauspieler gilt das genauso. Deshalb konnte Volker Canaris zur Gestaltung des Tasso durch Bruno Ganz anmerken: „Das Bewußtsein des Schauspielers von seiner Rolle ist sichtbar mit eingegangen in die Rolle“. Er lobte an dieser Reflexivität des Spiels die „Balance zwischen dem Vorführen einer Figur und ihrer Analyse“359. Gleich intensiv aufnehmendes und analysierendes Mitdenken sollte ein jeder Adressat beim Sehen oder Lesen einbringen. Worin aber besteht eigentlich die Leistung Steins? Wie hat er die Bewußtseinsdramaturgie theatralisch umgesetzt? Die Antwort lautet: Er hat Goethes „Tasso“ im Sinne seiner Interpretation entschieden verfremdet, indem er den Denkstil der Figuren radikal veränderte. Das der Intention von Goethes Dramenlösung völlig entgegenstehende Resultat war, für sich genommen, eine durchaus ehrliche, zum Nachdenken anregende künstlerische Aktion. Der völlig von Goethes Tasso abgelöste Schein-Tasso wurde wirklich als „Emotionsclown“ gezeigt, wie ihn der engagierte Regisseur brauchte, um seine gesellschaftskritischen Absichten an einem charakteristischen Opfer vorzuführen. Sofern man bereit ist, dies einzuräumen, kann das theatralische Ereignis als solches gebührend gewürdigt werden. Die konsequent durchdachte Inszenierungsarbeit stützte sich grundlegend auf das Bühnenbild und die stilgerecht entworfenen Kostüme. Auf giftgrünem Kunst­ rasen und vor einer die Szenerie abschließenden Plexiglaswand mit golden schimmerndem Hintergrund waren vom Anfang bis zum Schluß der Aufführung alle fünf Schauspielerinnen und Schauspieler in diesem verstörenden, preziösen Dekor präsent. Eine auf dem Boden stehende Goethe-Büste, ein Tisch für Tasso, ein Sessel für den Herzog und Stühle für die beiden Leonoren genügten360, um einen angemessenen Rahmen für die jeweiligen Auftritte zu schaffen. An die Stelle der fünf Akte trat eine offenere Komposition. Stein brauchte für sein Vorhaben eine eigene Bühnenfassung. In einem Vorspiel stellten sich alle Personen des Dramas kurz vor. Danach fügte er 359 Canaris, Volker: Bruno Ganz spielt und analysiert Tasso. In: R, S.  171–173 (Zitate: S. 171 und 172). 360 Links vorne saß die Schwester des Herzogs, halb links dahinter Tasso am Schreibtisch, halb rechts hinten der Herzog im Sessel und rechts vorne lag Antonio und neben ihm saß Leonore Sanvitale.

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in die zehn herausgegriffenen Szenen des insgesamt stark gekürzten Textes zwei Zwischenspiele mit collageartig zusammengefaßten, teilweise synchron gesprochenen Passagen ein. Die dadurch auffallend herausgehobenen Textfetzen erlaubten es dem Publikum, gestützt von Steins sorgfältiger Sprach- und Körperchoreographie, sich rasch ein Bild der auftretenden Personen und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen oder Spannungen zu verschaffen. Das erwies sich als zündender Theatercoup. Die veränderte Bauweise des Dramentexts kam der Absicht entgegen, den erhabenen Originaltext in eine Parodie umzuwandeln. Es ist so, wie gesagt wurde: „Wir sehen und hören eine lächerliche Gesellschaft, die ihr Spiel treibt mit einem nicht minder lächerlichen Menschen“361. Unbeirrbar wurde die damit eingeschlagene Richtung umgesetzt und virtuos ausgespielt. Diese Verfahrensart erlaubte es den Schauspielern, einmal ‚aufzudrehen‘ und, komödiantisch übertreibend, ihre Rollen analysierend, aber auch parodierend, unmittelbar der Kritik des Publikums vorzulegen. Der gesuchten Wirkung entsprach das völlig. Zudem kam es so zu einer hinreißenden und wirkungsvollen Inszenierung. Allein mit Goethe hatte das nicht mehr viel zu tun. Zwischen ihm und dem jungen Stein klafften damals Welten. Mittlerweile hat sich das entschieden geändert. Spätestens mit Steins Inszenierung beider „Faust“-Teile 2000 wurde diese Kluft in schönster Weise überbrückt362. Die „durchdachteste, aufregendste Inszenierung, die seit langem dem Theater hierzulande vergönnt war“, wie Botho Strauß mit einem gewissen Recht von der Bremer Aufführung 1969 meinte363, gehört inzwischen der Theatergeschichte an. Goethes Schauspiel über die Problematik des Künstlerlebens bleibt jedoch ungebrochen aktuell, sofern es von unseren heutigen Problemen her kritisch befragt wird. Ähnlich ‚frei nach Goethe‘ präsentierte Claus Peymann am 11. Januar 1980 den „Tasso“ zum Auftakt der Arbeit des ‚Bochumer Ensembles‘364. Sein Ansatz war grundverschieden. Er zeigte keinen „Emotionsclown“, sondern einen an den Machthabern der modernen Gesellschaft scheiternden Künstler, fast einen Märtyrer, dem der Dichterlorbeer wie eine Dornenkrone aufgesetzt wird. Dementsprechend bewegten 361 So Melchinger (Melchinger, Siegfried: Stein produziert Steins ‚Tasso‘. In: Theater heute, Jahresheft, S. 25–27; Zitat: S. 26). 362 Das Verhältnis Peter Steins zu Goethe änderte sich in der Folgezeit grundlegend. Er nahm 2001 in Weimar die Goldene Goethe-Medaille entgegen, las 2003 in Salzburg den vollständigenen zweiten Faustteil und in Weimar 2009 im Stadtschloß die Kapitel 10–18 des zweiten Teils der „Wahlverwandtschaften“. Ebenso las er in Moskau 2007 (vgl. hierzu Anm. 1142) und in Salzburg 2011 „Faust Fantasia“. 363 R, S. 167. 364 Regie: Claus Peymann, Bühnenbild: Karl-Ernst Hermann; Tasso: Branko Samarovski, Leonore von Este: Barbara Nüsse, Leonore Sanvitale: Kirsten Dene, Herzog Alfons: Ulrich Pleitgen, Antonio: Martin Schwab. Exkurs zur Bremer und zur Bochumer Aufführung  123

sich die Hofleute in Abendkleid und Smoking, Zigaretten rauchend und das Sektglas in der Hand, während Tasso, schlampig gekleidet, in einem engen Glaskäfig mit Schreibmaschine, Schiefertafel, einem Plattenspieler und überall herumliegenden Papierhaufen seiner Arbeit nachging. Diesem krassen Gegensatz gab der Bühnenbildner Karl-Ernst Hermann einen die Scheinwelt entlarvenden Glashausrahmen, der mit einem Deckenventilator an eine Wartehalle erinnerte. Für das Programmbuch zur Aufführung und als Neonleuchtschrift über der Bühnenszenerie wählte Peymann das Motto pathetischer Sehnsüchte aus Hölderlins ‚Plänen und Bruchstücken‘: „Tasso / politisch Sorgen herzungewisse“365. Zwar können wir nicht wissen, welches Projekt Hölderlin damit verfolgte. Mit Sicherheit läßt sich von dem semantischen Spannungsfeld dieser vier Worte immerhin herleiten, daß sein Vorhaben um Tasso mit sozialpolitischer Kritik, republikanischer Utopie und tiefen „Sorgen“ angesichts des drohenden Scheiterns zu tun hatte. Das paßte genau zur Regiekonzeption Peymanns. Seiner Auffassung nach wurde der Tasso Goethes zum Opfer der Herrschenden und damit unmenschlicher Gesellschaftshierarchie366. Um diese Umdeutung des Schauspiels in einen ausweglosen tragischen Ablauf zu untermauern, ließ der Regisseur den letzten Teil der Schlußszene zwischen Antonio und Tasso kurzerhand weg. Das Stück endete in Bochum mit dem allein gelassenen Tasso auf der Bühne und den kompromißlos herausgeschleuderten Versen: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide“ (V. 3432 f.). Diese künstlerische, wirklich „herzungewisse“ Selbstbekräftigung zum Weitermachen erfolgte in der Abkehr vom sozialen Umfeld, also gegen die Gesellschaft. Allerdings geschah das unter gröblicher Verletzung der feinfühlig von Goethe geschaffenen Synthese am Ende des Dramas und damit gegen seine Wirkungsabsicht, einen möglichen Ausgleich von Kunst und Gesellschaft als Ziel ästhetischer Erziehung kenntlich zu machen. Dennoch kam auch in Bochum eine in sich schlüssige, faszinierende Aufführung zustande367. Wie beide Inszenierungen zeigen, wäre jedoch eine theatralische 365 Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. v. Friedrich Beißner, Bd. 2.1: Gedichte nach 1800. Stuttgart 1951, S. 336 (Pläne und Bruchstücke: 70). 366 Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß neben Hölderlin auch Wolfgang Koeppen ein nicht ausgeführtes Tasso-Projekt über „den scheiternden Intellektuellen“ hatte, das er als sein „Endbuch“ bezeichnete. Er benutzte unter anderem die Inszenierung Peymanns, um damit sein Nicht-schreiben-Können zu begründen. Eine seiner vielen Ausreden („Ich bitte um ein Wort …“ (Brief vom 5.2.1980). In: Der Briefwechsel Wolfgang Koeppen  – Siegfried Unseld. Hrsg. v. Alfred Estermann und Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2006, S. 350). 367 Gleiches läßt sich leider nicht sagen von zwei weiteren „Tasso“-Aufführungen: Vom „großmäuligen Psycho-Trip“ (Volker Ullmann) des Hans Neuenfels 1990 am Hambur-

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Wiedergabe dringend geboten, die eine gleichwertige Bühnenqualität mit den Intentionen Goethes in Einklang zu bringen verstünde. Also heißt es leider auch hier noch: warten – auf Tasso.

Auswertung Goethes Entwicklung im Bereich der Dramaturgie hat mit „Iphigenie auf Tauris“ und „Torquato Tasso“ eine wesentliche Veränderung erfahren. Man muß geradezu von einem Paradigmenwechsel sprechen. Nach der anfänglichen Shakespeare-Nachfolge mit verschiedenen Spielarten des Dramas der offenen Form und seiner historischen Realitätsdimension, entschloß sich der dramatische Dichter zur Abkehr von dieser erprobten englischen und dann auch in Deutschland eingeführten Form. Das Publikum sollte, wie Goethe schon früh forderte, nicht mehr „eine fremde, meist theatralisch zusammengeflickte Welt, wo wir nur angaffen“, erleben, sondern „mitwirkend genießen“368. Die Dramen um Iphigenie und Tasso erweckten vielerorts den Anschein, der Autor habe sich plötzlich für die streng geschlossene Form eines in sich gerundeten Ganzen um die Konflikte von Protagonisten und Antagonisten im Rahmen einer festgefügten Ordnung entschlossen. Man schrieb ihm eine antikisierende Manier zu mit strikter Einhaltung der drei Einheiten, symmetrischer Bauweise und penibler Versgestaltung. Wie jedoch gezeigt wurde, beruht diese verbreitete Annahme auf einem Mißverständnis. Die äußerlich geschlossen erscheinende dramaturgische Lösung weist in Wahrheit eine anders geartete, offene Struktur auf, weil der Text so organisiert ist, daß sein Produzent den Weg direkter Rezeption mitdenkt. Das vom Autor ausgehende Fühlen und Denken ist übertragbar organisiert als dem Text eingeschriebene dramatische Reflexionspoesie. Die demgemäß angelegte Sinnstruktur zielt über die theatralisch-spielerische Vermittlung unmittelbar auf das Bewußtsein des Adressaten. Das bedeutet einen bewußten Verstoß gegen die klassizistische Dramaturgie. Goethe strebte, wie schon erwähnt, die „Freisetzung des Zuschauers zu seiner Rezeption“369 an. Er gab seinen Dramen nunmehr die zum

ger Schauspielhaus und von der anarchischen „Text-Zerstückelung“ (Benjamin Henrichs) durch Frank Castorf 1991 am Münchner Residenztheater. 368 Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden. Hrsg. v. Hanna FischerLamberg. Berlin 1963  ff., Bd.  III: September 1772–Dezember 1773, S.  84 und 95 (Rezensionen Goethes für die ‚Beiträge zu den Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘; dort ist unter anderem die Rede vom Menschen, der „mitwürkend genießt“). 369 Fehr, S. 231. Auswertung  125

Bewußtsein des Adressaten sprechende Substanz. Die nötige Antwort liegt beim Zuschauer oder Leser. Um solch freie Erkenntnis und „mitwirkendes Genießen“ herbeizuführen, bedarf es einer viel intensiveren Kommunikation als bei gewöhnlichen literarischen Texten. Über die bloße Aufnahme im Sinne des Verstehens hinaus erfordert die Bewußtseinsdramaturgie, wie betont, beim Zuschauer oder Leser angeregt-produktives Mitdenken und nachhaltige individuelle Weiterarbeit mit der poetischen Form- und Problemgestaltung. Im geistigen Austausch mit dem Text erschließt sich ihm dessen Bedeutung. Natürlich bleibt der Rezipient frei in seiner interpretierenden Reaktion auf die ihm vorgeführte Persönlichkeits- und Ideensubstanz. Allerdings kann das Verstehen bei einer so offenen Kommunikationsstruktur natürlich auch zum Mißverstehen geraten. Im Fall des Gelingens gilt jedoch unbedingt die Feststellung der Schauspielerin Isabelle Huppert über die produktive Begegnung mit einem Text: „man kann die Einbildungskraft so spielen lassen, daß daraus ein unendliches Drama erwächst“370. Den Theaterregisseuren und Schauspielern als den wichtigen Vermittlern kommt dabei große Möglichkeit, jedoch gleichfalls große Verantwortung zu. Im Falle mißlungener Kommunikation gefährdet das den Rezeptionsprozeß zwangsläufig erheblich. Dieses Risiko ist Goethe bewußt eingegangen. Es war ihm klar, daß er sich damit für ein Minderheitenprogramm entschied. Ungeachtet all dessen wollte er am Beispiel von „Iphigenie“ und „Tasso“ gemeinmenschliche Symbolik auf die Bühne und von dort ins Bewußtsein des Publikums bringen. Versuchsweise hat er damit einen offenen Prozeß verschiedener Entwicklungsmöglichkeiten eingeleitet. Er konnte nun sogar darangehen, die von ihm zunächst abgelehnte ‚Klassizität‘ der AlexandrinerTragödien Voltaires in seiner Übersetzung von „Mahomet“ und „Tancred“ (Uraufführung 1800 bzw. 1801, Erstdruck 1802) in dialektisches Theater zu überführen. Seine distanzierende Blankvers-Variante fordert dialektisches Denken heraus. Im Idealfall kann dabei die hohe Stilisierung des Individuellen die beabsichtigte beispielhafte überindividuelle Haltung zur Wirkung bringen. Der dafür zu entrichtende Preis war die deutliche Ferne zum herrschenden Publikumsgeschmack. Gleiches gilt ebenso für das Trauerspiel „Die natürliche Tochter“. Jedenfalls aber hatte Goethe mit den beiden Musterstücken – „Iphigenie“ und „Tasso“ – die für seine zukünftige Arbeit als Dramatiker wegweisende Methode in Gestalt einer herausfordernd aktivierenden Bewußtseinsdramaturgie gefunden. Deren eigentliche Funktion besteht darin, die vom Autor dem Drama eingeschriebene Problematik an jeden dafür Auf370 Huppert, Isabelle: Le plaisir de lire Sade. Propos recueillis par Raffaëlle Rérolle. In: Le Monde, 28.6.2014. Sie hob dabei hervor: „Dans une lecture … on peut créer de l’imaginaire, du drame à l’infini“ (a.a.O., S. 3).

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geschlossenen mit der Maßgabe weiterzugeben, sie für sich zu erschließen und seiner Lebensgestaltung einzuverleiben. Zunächst reichte es dabei lediglich zu einem exemplarischen, aber punktuellen Ausschnitt in einem beschränkten, auf einen konkreten Konflikt fixierten Personenkreis, hier Iphigenies humanitäre Herausforderung und Tassos brennende Frage nach dem Stellenwert der Kunst in der Gesellschaft. Von der weiteren Entwicklung her gesehen war das die nötige Durchgangsstufe zur Gestaltung einer multiperspektivischen Totalität in Gestalt des nach Zeit, Raum und Personal offenen Welttheaters im zweiten Faustteil. Zuvor mußten freilich noch unterschiedliche Versuche gemacht werden, um diesen Weg einschlagen zu können. Dabei handelt es sich um verschiedene formale Gestaltungsmittel deren ausdrucksmäßige Möglichkeiten jeweils am Objekt ermittelt und sondierend überprüft werden müssen. Drei solcher Experimente sind unter diesem Gesichtspunkt besonders interessant. Ihnen gilt der folgende Untersuchungsschritt.

Auswertung  127

F OR M EXP E R I M E NTE M IT O PE R („ EGMONT“ -SC H LU SS), MO NODRAMA („ P ROS E R P I NA“) U N D FE STSPI E L („ D E S E P IM E N I DE S E RWAC H E N“ ) Annäherung an die Oper mit „Egmont“ Einen wichtigen Schritt in der Entwicklung von Goethes Dramaturgie stellt seine Entscheidung dar, in die Gestaltung des Dramenschlusses von „Egmont“ durch Musik konstituierte Ausdruckselemente in Anlehnung an die Oper einzubeziehen. Das bereits 1775 in Frankfurt begonnene und dann liegengebliebene Manuskript muß dem Autor, als er es zwölf Jahre später, gegen Ende der italienischen Reise, sich wieder vornahm, ziemlich merkwürdig vorgekommen sein. Die Themenkombination des von Egmont geführten Freiheitskampfes der Niederlande gegen die spanische Herrschaft mit der persönlichen Liebesbeziehung des Titelhelden zur Bürgertochter Clärchen lag zwar in den Grundzügen fertig vor, doch fehlte die allesentscheidende Ausgestaltung des Schlusses. Außerdem ergaben sich Schwierigkeiten bei der Anlage des Dialogs im 4. Akt zwischen Egmont und Alba, dem Statthalter der spanischen Besatzungsmacht. Goethe wollte unbedingt vermeiden, den Repräsentanten des Absolutismus in ein einseitig negatives Schema zu pressen371. Verschiedene noch in Weimar unternommene Ansätze zur Wiederaufnahme der Arbeit am Text führten nicht weiter372. Resigniert heißt es in einem Brief von 1782: „Am Egmont ist nichts geschrieben die Zerstreuung lässts nicht zu“373. Kurz entschlossen wurde darum die Weiterarbeit zunächst einmal abgebrochen. Das hatte, abgesehen von den vielfältigen Verpflichtungen am Hofe, nicht zuletzt auch formale Gründe. Waren doch die bereits vorliegenden Teile des Dramas noch ganz im Sturm-und-Drang-Fieber mit realistischen Dialogen in Sprechaktmanier abgefaßt. Die Nähe zum shakespearerisierenden Gestaltungsverfahren im „Götz“ war offenkundig. Doch erforderte die Goethe nun vorschwebende Lösung des Schlusses eine völlig andere dramaturgische Ausrichtung. Daraus ergab sich beim neuerlichen Schreibansatz ein methodisches Problem. Das 371 Goethe sprach deshalb in einem Brief vom „fatalen vierten Akt“ (WA IV.5, S. 239; an Charlotte von Stein am 12.12.1781). 372 Hinweise im Tagebuch und in Briefen zeigen, daß Goethe vom Herbst 1778 bis zum Frühjahr 1782 immer wieder vergebliche Versuche anstellte, am Stück weiterzuarbeiten. 373 WA IV.5, S. 297 (an Charlotte von Stein am 6.4.1782). Annäherung an die Oper mit „Egmont“  129

vorliegende Manuskript war Relikt einer anderen Weltsicht. Orientierungsmäßig befand sich der Autor mittlerweile jedoch auf der Stufe der Versfassung der „Iphigenie“ (1786/87) und des nachfolgenden, formal gleichgerichteten „Tasso“ (1789). Er mußte also einen anderen Weg finden, um Sprachgestaltung und thematische Entwicklung der neuen Ästhetik anzupassen, ohne die bisherige „Form und Constitution des Stücks“374 völlig zu verändern. Nichts weniger als ein dramaturgisches ‚Ei des Kolumbus‘ mußte demnach gefunden werden. Auf der Suche nach einer dafür geeigneten Möglichkeit kam Goethe der Gedanke, in die ihm nun vorschwebende dramaturgische Lösung die Musik einzubeziehen. Gründliche Erfahrungen mit dem Singspiel und sein ausgeprägtes Gefallen an der italienischen Opera buffa dürften ihn in dieser Absicht bestärkt haben. Für den Dramenausgang hatte Goethe in dramaturgischer Hinsicht eine klare Zielsetzung: weg von der dramatischen Gestaltungsnorm mit ihrem Widerspiegelungsanspruch, hin zu einem sämtliche theatralischen Ausdrucksmöglichkeiten nutzenden, formal ‚offenen‘ Dramendiskurs. Es ging ihm um eine bewußtseinsmäßig verbindliche, kommunizierbare Universalität des Gestaltens. Das bedeutete eine mit „Iphigenie“ und „Tasso“ bereits erprobte radikale Umakzentuierung vom Besonderen und Subjektiven zum Typischen und Symbolischen. Dabei sollte die politische Position des tragisch endenden Egmont als Verfechter der Freiheit unbedingt erhalten bleiben, obwohl, äußerlich betrachtet, die vom Gegenspieler Alba verkörperte Machtwillkür obsiegt. Goethe löste diese Schwierigkeit, indem er das historisch vorgegebene Scheitern seines Protagonisten in ethisch-moralischem Gelingen aufhob. Wie schon für die Versfassung der „Iphigenie“ brachte der römische Aufenthalt auch für „Egmont“ hierzu die entscheidenden Impulse. Sie ergaben sich wie selbstverständlich aus dem dort gefundenen organischen Lebensalltag als Künstler. Gleich nach der Rückkehr von der Reise durch Süditalien machte sich der Autor im Sommer 1787 an die Arbeit. Im Reisebericht beginnen die darauf bezogenen Eintragungen am 5. Juli mit dem Hinweis: „Egmont ist in Arbeit, und ich hoffe er wird gerathen. … Es ist recht sonderbar, daß ich so oft bin abgehalten worden das Stück zu endigen, und daß es nun in Rom fertig werden soll. Der erste Act ist in’s Reine und zur Reife, es sind ganze Scenen im Stücke, an die ich nicht zu rühren brauche“375. Vom raschen Fortgang der Neubearbeitung zeugen weitere Eintragungen vom 9. und 16. Juli. Es heißt da: „Ich bin fleißig, mein Egmont rückt sehr vor“ und ferner: „Egmont ist schon bis in den vierten Act gediehen … In drei Wochen denke ich fertig zu sein“. In der Tat konnte Goethe am 30. Juli nach Weimar berichten: „Egmont ruckt zum

374 WA IV.8, S. 365 (an Carl August am 28.3.1788). 375 WA I.32, S. 26 f.

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Ende, der vierte Act ist so gut wie fertig“376. Allerdings zog sich der endgültige Abschluß dann doch noch bis Anfang September hin. Erst am 5. September erfolgte die erfreute Meldung: „heute ist Egmont eigentlich recht völlig fertig geworden. Der Titel und die Personen sind geschrieben, und einige Lücken, die ich gelassen hatte, ausgefüllt worden“377. Mit der Absendung des fertigen Manuskripts war endlich auch der fünfte Band der Werkausgabe bei Göschen druckfertig. Unschwer ist die damit verbundene Erleichterung dem folgenden Kommentar zu entnehmen: „Es war eine unsäglich schwere Aufgabe, die ich ohne eine angemessene Freiheit des Lebens und des Gemüths nie zu Stande gebracht hätte. Man denke, was das sagen will: ein Werk vornehmen, was zwölf Jahre früher geschrieben ist, es vollenden ohne es umzuschreiben“378. Indes entspricht diese Einschätzung dem Sachverhalt nicht ganz. Die Endfassung des Dramentexts bedeutete eben nicht bloß einfache Fortschreibung, sondern auch zu einem guten Teil Umschreibung und Neugestaltung. Dabei veränderte sich zwangsläufig der Gestus der Darstellung nicht unbeträchtlich. Was manch einem als Preisgabe der öffentlich-politischen Funktion Egmonts zugunsten seiner Privatinteressen in der Liebeshandlung mit dem „Naturmädchen“379 Clärchen vorkommt, ist in Wahrheit die Einführung einer utopischen Qualität, welche beide Ebenen, Öffentliches und Privates, exemplarisch miteinander verbindet. Gerade dadurch scheint für das Publikum hinter dem Tod des Titelhelden zwingend die Vision der Freiheit auf. Egmonts Verbundenheit mit dem Volk spiegelt sich im todesverachtenden Liebesbund mit Clärchen wider. Um aber die Verbindung beider Ebenen theatralisch angemessen darzustellen, bedurfte es eines verändernden dramaturgischen Eingriffs. Unbedingt wollte Goethe den ‚naturalistischen‘ Ansatz der Anfangskonzeption des Stückes, vor allem dessen Illusionswahrung und Widerspiegelungsanspruch, förmlich, nämlich durch die Form, zum Utopisch-Ideellen hin aufreißen. Vom Traumende her war das am ehesten möglich. Es war Angelika Kauffmann, die sogleich die notwendige neue Qualität des Textes erfaßte. Voll zustimmend berichtete Goethe von ihrer einfühlsamen Reaktion: „Angelica sagte: da die Erscheinung [Clärchens] nur vorstelle, was in dem Gemüthe des schlafenden Helden [Egmont] vorgehe, so könne er mit keinen Worten stärker ausdrücken, wie sehr er sie liebe und schätze, als es dieser Traum thue, der das liebenswürdige Geschöpf nicht zu ihm herauf, sondern über ihn hinauf hebe. Ja, es wolle ihr wohl gefallen, daß der, welcher durch sein ganzes Leben gleichsam wachend 376 377 378 379

WA I.32, S. 31, 33 und 39. WA I.32, S. 75. WA I.32, S. 135 f. (Eintragung vom 3.11.1787). WA I.29, S. 175 (Dichtung und Wahrheit, IV, 20). Annäherung an die Oper mit „Egmont“  131

geträumt, … daß dieser zuletzt noch gleichsam träumend wache, und uns still gesagt wird, wie tief die Geliebte in seinem Herzen wohne“380. Damit ist ein entscheidender Punkt herausgestellt: Im Mittelpunkt des Interesses steht das „uns“ – wohlgemerkt: „uns“, dem Publikum, – „still Gesagte“ der Traumgestaltung. Sicher waren es die gerade mit der Versfassung der „Iphigenie“ gemachten dramaturgischen Erfahrungen, die den Autor auf den Gedanken brachten, zwar nicht gleichfalls die streng gemessene Verssprache anzuwenden, wohl aber eine Formlösung herbeizuführen, welche Schiller in seinen kritischen Bemerkungen zum Stück vom September 1788 treffend als „Salto mortale in eine Opernwelt“ bezeichnete381. Allerdings war das, was der gattungsbewußte Schriftstellerkollege als Mangel betrachtete, ein „Salto mortale“ in die Dramaturgie des Bewußtseins, nämlich die innovative Durchbrechung des seinerzeit gängigen Theateridioms in Gestalt eines offenen Dramendiskurses. Denn das vermeintliche „Trauerspiel“, wie die von Goethe vorgenommene Gattungszuweisung lautet, erweist sich bei tieferer Betrachtung als unmittelbar an die Zuschauer oder Leser gerichtetes Fanal einer generell in der Gesellschaft durchzusetzenden freiheitlichen Lebensmaxime. Die Einwände Schillers deuten auf ein fundamental gegensätzliches ästhetisches Programm. Als Rezensent kritisierte er die Dramenkonstruktion Goethes insgesamt, würdigte lediglich die überzeugende Figurengestaltung. Dem Stück fehle nicht allein die dramatische Ökonomie einer durchgängigen Handlung, sondern ebenso „Außerordentlichkeit …, Größe und Ernst“382 des Gehalts. Vor allem aber bemängelte der Verfasser der gerade erschienenen Schrift über die „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ den lockeren Umgang mit den historischen Fakten. Schiller wußte sich dabei in vollem Einklang mit den Gattungsansprüchen der Dramentradition. Was jedoch die dramaturgische Lösung im „Egmont“ für uns in erster Linie interessant macht, ist gerade der Verstoß gegen die gewohnten Kategorien. Goethe sah in der Gattungsnorm nichts weiter als die „Nothdurft des dramatischen Puppen- und Lattenwerks“383. Sein Ansatz reicht entschieden tiefer und weiter, weil er die Bewußtseinsperspektive zum Angelpunkt der Darstellung 380 WA I.32, S. 180 f. (Bericht: Dezember 1787). 381 SNA 22, S.  199–209 (Ueber Egmont, Trauerspiel von Goethe, zuerst abgedruckt in der ‚Jenaischen Allgemeinen Litteratur-Zeitung‘, 1788). Ähnlich kritisierte Madame de Staël den Schluß mit der ganz der Tradition verhafteten dogmatisch-formalistischen Bemerkung: „Diese märchenhafte Lösung ist in einem historischen Drama nicht am Platze“ (zit. n.: MA 3.1, S. 857). 382 SNA 22, S. 202. 383 WA I.32, S.  136 (Italiänische Reise. Zweiter Römischer Aufenthalt. Correspondenz, 3.11.1787).

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erhebt. Nach gründlicher Überlegung verabschiedete er all das, was für den ‚Handlungsdramatiker‘ Schiller ausschlaggebende Bedeutung hatte: „hervorstechende Begebenheit“, „vorwaltende Leidenschaft“, „Verwickelung“ sowie Linearität des „dramatischen Plans“384. An die Stelle äußerlich wirkungsvoller dramatischer Stringenz und spannungsvoller Interaktion setzte Goethe die unmittelbar auf das Publikum als Gegenüber gerichtete Bewußtseinsdramaturgie. Ohne weiteres bediente er sich dabei, neben den Dialogen, visueller und vor allem klanglicher Theatralisierung, um die angestrebte generalisierende Symbolisierung zur rechten Wirkung zu bringen. Er war eben davon überzeugt, daß Musik als dramaturgisches Gestaltungsmittel eingesetzt werden und sogar formbildend wirken kann. An der genaueren Betrachtung des „Egmont“-Schlusses läßt sich besonders klar der diametrale Unterschied zum Gestaltungsverfahren Schillers ausmachen. Interessanterweise vertrat Schillers Freund, der Schriftsteller, Übersetzer und Journalist Ludwig Ferdinand Huber, in seiner Ergänzung zu dessen „Egmont“-Rezension eine eher gegenteilige Auffassung. Er sah im Drama Goethes immerhin einen „Gewinnst für die dramatische Kunst“, ja „ein Wagstück, das nur dem Geist, der es beschloß, gelingen konnte, und an welchem die Kritik sich nur belehren soll, weil es die Gränzen [Grenzen] ihrer Erfahrung erweitert“. Indes verband er mit dieser Zustimmung zur erweiterten Dramaturgie die Forderung an den Autor, sein Verfahren näher zu erklären. Als überzeugter Rationalist merkte er dazu kritisch an: „Auch wird, bei aller Gefangennehmung der Vernunft unter den Glauben an eine so mächtige Phantasie die Erscheinung der mit der Geliebten des Helden identifizierbaren Freiheit, immer ein ‚salto mortale‘ bleiben, eine Kühnheit, über welche wir von dem Dichter selbst Rechenschaft zu erhalten wünschten, weil weder die Einbildungskraft, noch der Verstand, noch die Illusion des Lesers oder des Zuschauers, ohne eine unmögliche Verwirrung der Gefühle und Begriffe, hinreichen, sie zu erklären oder zu gestatten“385. Obwohl Huber also Verständnis zeigte für die Erweiterung der dramatischen Ausdrucksmöglichkeiten, ist ihm offensichtlich der Zugang zur „Phantasie der Erscheinung“ und damit zur utopischen Komponente der direkt das Bewußtsein des Publikums ansprechenden Gestaltung Goethes dann eben doch verschlossen geblieben. Die Frage stellt sich: Was hat es mit der abschließenden Traumpantomime konkret auf sich? Goethe hat, unter Hinweis auf den Konflikt zwischen Egmont und Alba, in „Dichtung und Wahrheit“ erklärend auf die utopische Wirkungsabsicht seines Dramas hingewiesen. Es heißt da: „Das Dämonische, was von beiden Seiten 384 SNA 22, S. 200. 385 Huber, Ludwig Ferdinand: Anzeige von Goethes Schriften (1792); zit. n.: MA 3.1, S. 851. Annäherung an die Oper mit „Egmont“  133

im Spiel ist, in welchem Conflict der Liebenswürdige untergeht und das Gehaßte triumphirt, sodann die Aussicht, daß hieraus ein Drittes hervorgehe, das dem Wunsch aller Menschen entsprechen werde, dieses ist es wohl, was dem Stück, freilich nicht gleich bei seiner Erscheinung, aber doch später und zur rechten Zeit die Gunst verschafft hat, deren es noch jetzt genießt“386. Das hier angesprochene „Dritte“ ist gerade das, worauf es dem Autor ankommt. Tatsächlich propagiert der von ihm gefundene Schluß in einem dramaturgischen und thematischen „Salto mortale“ jene von ihm erhoffte Realisierung der utopischen Vision. Sie soll, gemäß seiner festen Erwartung, „dem Wunsch aller Menschen entsprechen“. Von den Lesern und Zuschauern soll der finale Freiheitstraum Egmonts „am Rande des gähnenden Grabes“387 als Vorschein verwirklichter Freiheit unter den Menschen begriffen werden. Darin sah Goethe die sittliche Selbstverwirklichung des Individuums, und sei es nur im letzten Moment des Lebens, als Wissen um die „göttliche Freiheit“, die den „Wall der Tyrannei zusammen[reißt]“388. Man mag das als einen „Akt künstlerischer Gewalt“389 betrachten, Goethe jedoch brauchte und wollte eine solch traumhafte Verklärung der Wirklichkeit oder, wie er ironisch formulierte, solche „Gauckeleyen der Poesie“390. Sie führten, seiner festen Überzeugung nach, die notwendige Metamorphose des einzelnen im Sinne menschlicher Höherentwicklung beispielhaft vor. Es war wohlüberlegt, daß er seine Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ mit dem Zitat zielgewisser Bekundung unbeirrbaren Selbstvertrauens aus dem Munde Egmonts ausklingen ließ: „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksal leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als muthig gefaßt die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine her, vom Sturze da, die Räder wegzulenken“391. In diesem einen Satz kommt Goethes produktiver Umgang mit dem Unbegreiflichen des Schicksals bündig zum Ausdruck. Aktive Schicksalsbewältigung und Selbstbehauptung durch individuelle Leistung und Produktivität über den Tod hinaus, wie im „Egmont“, gehörte zu seinem Lebensprinzip. Wie aber hat der Autor die Lösung des Schlusses konkret gestaltet? Die Gefängnisszene im fünften Akt erreicht in dem Augenblick ihren Höhepunkt, als nach dem Weggang Ferdinands, des die Gedanken Egmonts weitertragenden Sohnes von Alba, der Titelheld in Erwartung seiner Hinrichtung allein zurückbleibt. Was ihn, den Tod vor Augen, dazu bringt, dieses Schicksal anzunehmen, ist die Überzeugung, 386 387 388 389 390 391

WA I.29, S. 175 f. (Dichtung und Wahrheit, IV,20). WA I.8, S. 296. WA I.8, S. 304. Boyle: Bd. 1, S. 605. WA IV.8, S. 366 (an Carl August am 28.3.1788). WA I.8, S. 220 und WA I.29, S. 192.

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dadurch freigesetzt zu sein. Im Gegensatz zur ersten, unruhig verbrachten Nacht im Kerker ist er nun vollkommen gefaßt. Er tritt gleichsam neben sich und erfährt den Tod als individuelle Befreiung und zugleich als Zeichen heraufziehender allgemeiner Freiheit. Zwar ist ihm jede äußere Hoffnung genommen, dafür aber unterliegt sein Denken keiner Einschränkung mehr. Darum konnte er zu Ferdinand abschließend sagen: „Es glaubt der Mensch sein Leben zu leiten, sich selbst zu führen; und sein Innerstes wird unwiderstehlich nach seinem Schicksale gezogen“392. Eine derartige Feststellung setzt persönliche Schicksalsbewältigung voraus. Nur so bewirkt diese Haltung, daß der Todeskandidat, aus gewonnenem Abstand heraus, innerlich befreit, einen produktiven Schlußstrich unter das erfahrene Walten des Dämonischen im Leben zu ziehen vermag. Die dadurch erreichte menschliche Steigerung erlaubt es ihm, sich nun „mit unbezwinglicher Gewißheit“ dem Schlaf zu überlassen. Dergestalt kann Goethe den Tod Egmonts zur theatralischen Allegorie genereller Befreiung erheben. Bezeichnenderweise, und auch das charakterisiert die neue Dramaturgie, setzt an dieser Stelle Musik ein. Sie leitet über zur nächtlichen Ruhe und damit zur Traumerfahrung des Titelhelden. Er ist „eingehüllt in gefälligen Wahnsinn“393, was heißen soll: Ihn umgeben klanglich erhebende und bestätigende Eindrücke. Sie evozieren vor seinen Augen Traumbilder, mit denen er eine neue Stufe der Bewußtseinserfahrung erlebt. Dadurch findet er zur Bewährung seiner „entelechischen Bestimmtheit“394, also zur Zielstufe der Selbstverwirklichung und damit zu einer vertretbaren, fortdauernden Lebensbilanz. Deutlich sah Goethe die Notwendigkeit zur Einbeziehung der Musik. Unbedingt wollte er seine Dichtung durch eine adäquate Tondichtung ergänzt sehen. Noch aus Rom wandte er sich an den Komponisten Philipp Christoph Kayser mit der Frage: „Wollten Sie … die Symphonie, die Zwischenackte, die Lieder und einige Stellen des fünften Ackts, die Musick verlangen, komponiren“? Klug berechnend ergänzte er seine Aufforderung mit dem Hinweis: „daß Ihre Komposition gleich auf allen Theatern Fuß faßte, denn ich glaube Egmont wird gleich gespielt werden. Wenigstens hie und da“395. Unverzüglich machte sich der Angesprochene daraufhin nach Rom auf und nahm dort die Arbeit in Angriff. Indes ist Goethes Meldung „Kayser komponirt alles was an Musik zum Egmont nötig ist und seine Studien darüber sind mir sehr unterrichtend“396 reichlich übertrieben. Jedenfalls kam das Projekt zu keinem guten 392 WA I.8, S. 301. 393 WA I.8, S. 303. 394 So die sachgerechte Bestimmung im Kommentar der Münchner Ausgabe (MA 3.1, S. 827). 395 WA IV.8, S. 244 (an Philipp Christoph Kayser am 14.8.1787). 396 WA IV.8, S. 305 f. (an Carl August am 8.12.1787). Annäherung an die Oper mit „Egmont“  135

Ende. Dennoch war der Autor seiner Sache sicher. Generell schrieb er der Tonwelt die Kraft zu, „eine sinnlich-sittliche Begeisterung“ herbeizuführen397. Eben diese Qualität war im „Egmont“ vonnöten. Im frei und gelassen den Raum füllenden wortlos-atmosphärischen Klangbild einer sich allmählich in Schüben herauskristallisierenden „Siegessymphonie“398 erkannte Goethe den angemessenen Ausdruck für den an dieser Stelle stattfindenden perspektivischen Wechsel. Man kann Richard Wagner nur zustimmen, wenn er von der inneren Notwendigkeit spricht, die den Autor dazu gebracht habe, bei der Ausführung des Dramenschlusses „zum Wunder und zur Musik [zu] greifen“399. Es kam Ludwig vanBeethoven gewiß gelegen, im Auftrag des Wiener Burgtheaters 1809 das zur Aufführung von „Egmont“ bestimmte und im Folgejahr auch aufgeführte gleichnamige Orchesterwerk (op. 84) zu komponieren. Hier konnte er seine Konzeption der ‚Ideenmusik‘ an einer überzeugenden thematischen Vorgabe erproben. Goethes Textur eignete sich für seine Art der Vertonung, „weil“, wie er sagte, „hier der Musik keine feste Form vorgegeben war“400. Beethoven erkannte das inhärente musikalische Gespür des Dichters. In keinem anderen Fall ließ er sich so sehr auf Schauspielmusik ein. Sagte er doch: „Es läßt sich keiner so gut komponieren wie er [Goethe]. Ich schreibe nur nicht gern Lieder“401. Jedenfalls schrieb er gerade diese Musik ausdrücklich „aus Liebe zum Dichter“ und bekannte dabei, er habe den „herrlichen Egmont … wieder durch Sie [Goethe] gedacht, gefühlt und in Musik gegeben“402. Getreulich folgte er in diesem Fall der vorgegebenen Handlung von der Ouvertüre bis zur abschließenden Siegessymphonie. Zwei Lieder, viermalige Zwischenaktmusik sowie eine Komposition „Clärchens Tod bezeichnend“ und das Melodram „Süßer Schlaf “ wurden diesem Rahmen kongenial eingefügt. Das macht Beethovens Komposition mit ihrer gestisch geprägten Klanggestalt zum ausgepräg397 WA II.11, S. 288 („Zur Tonlehre“). 398 WA I.8, S. 305. 399 Wagner, Richard: Oper und Drama (1850/51). Hrsg. v. Klaus Kropfinger. Stuttgart 1984, S. 206. 400 So Günter Hartung (GH 4/1, S. 101). 401 So Beethoven zu Friedrich Rochlitz im Juni 1822; zit. n.: Braun, Felix (Hrsg.): Beethoven im Gespräch. Leipzig 1952, S. 67. Immerhin hatte er kurz zuvor Klaviervariationen über das Goethe-Lied „Ich denke dein“ komponiert und dann in die Liedsammlungen übertragen (op. 52, op. 75 und op. 83). 402 So Beethoven im Brief an Goethe vom 12.4.1811. Bezeichnenderweise beendete er sein Schreiben mit den Worten: „Euer Excellenz Großer Verehrer Ludwig van Beethoven“. Die Kontaktnahme mit Goethe war ihm so wichtig, daß er den Brief von seinem Vertrauten Franz Oliva persönlich überbringen ließ. Goethe bat bei mehreren Besuchen Olivas darum, ihm Teile der „Egmont“-Musik auf dem Flügel einläßlich vorzuspielen.

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ten Muster wirklicher Schauspielmusik. Sie erweist sich ebenso als reiner Ausdruck musikalisch ausgeführter Bewußtseinsdramaturgie. Glücklicherweise gibt es wenigstens dieses eine Zusammenwirken der Hauptrepräsentanten von Literatur und Musik ihrer Zeit. In seiner Besprechung von Beethovens Vertonung legte Ernst Theodor Amadeus Hoffmann 1813 Wert auf die Feststellung: „jeder Ton, den der Dichter anschlug, klang in seinem [Beethovens] Gemüte, wie auf gleichgestimmter, mitvibrierender Saite, wider, und so bildete sich die Musik, die nun, wie ein, aus strahlenden Tönen gewobenes, leuchtendes Band, das Ganze durchschlingt und verknüpft“403. Anfang 1812 schickte der Komponist seine „Egmont“-Vertonungen an Goethe. Der Überlieferung nach machte vor allem das abschließende Melodram auf den Dichter einen tiefen Eindruck. Im Sommer des gleichen Jahres begegneten sich beide Künstler in Teplitz, dem böhmischen Kurort der zentraleuropäischen ‚Hautevolee‘. Sie kamen sich dabei jedoch nicht näher. Zu groß war der sie trennende Generationsunterschied und mehr noch ihr grundverschiedenes Gesellschaftsbild404. Immerhin brachte Goethe ab 1814 die in Weimar inszenierten Aufführungen seines Dramas mit der Musik Beethovens auf die Bühne. Das läßt fraglos auf Einverständnis schließen. Generell hat sich diese musikalische Ergänzung für die Aufführungsgeschichte entschieden anregend ausgewirkt. Anfangs fand das Drama nämlich nur geringe Resonanz405. Aus diesem Grund stellt sich besonders dringlich die Frage nach dem dramaturgischen Funktionswert der melodramatischen Begleitung durch musikalische Einfügungen. Was also leistet die Musik? Sie untermalt anfangs das langsame Hinübersinken Egmonts in den Schlaf. Der zum Tod Verurteilte resümiert die mit rasender Eile in seiner Erinnerung aufsteigenden Lebensbilder in der eingedenkenden Bewußtseinskonzentration seines Erfahrungstraumbereichs. Die hierdurch freigesetzte Lebensbilanz wird nicht mehr behindert von dem schlimmen, einen Todgeweihten lähmenden „Knoten der strengen Gedanken“ des chaotisch zurückbleibenden politischen und gesellschaftlichen Umfelds. Im Entschlummern können jetzt die erinnerten 403 Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke, Bd. 5. Hrsg. v. Friedrich Schnapp. München 1963, S. 170. 404 Goethe beschreibt seinen Eindruck von Beethoven dem Freunde Zelter wie folgt: „Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie dadurch weder für sich noch für andere genußreicher macht“ (an Carl Friedrich Zelter am 2.9.1812). Beethoven wiederum bemängelte am Dichter: „Göthe behagt die Hofluft zu sehr – mehr als es einem Dichter ziemt“ (an den Verleger Härtel am 9.11.1812). 405 Bezeugt sind lediglich Aufführungen in Frankfurt und Mainz 1789 sowie in Weimar und Wien 1791. Erst die Weimarer Aufführung 1796 in Schillers Bearbeitung mit August Wilhelm Iffland in der Titelrolle fand eine gewisse Aufmerksamkeit. Annäherung an die Oper mit „Egmont“  137

„Bilder der Freude und des Schmerzes“ zusammenfließen zu einem „Kreis innerer Harmonien“. Mit der Stufe des ‚Entschlafens‘ setzt das Sprechen Egmonts vorübergehend aus und ebenso die Dramenrede insgesamt. Musikalische und szenische Gestaltungsmittel sollen allein auf die Affekte des Publikums einwirken. Deutlich markiert die Bühnenanweisung „Er entschläft, die Musik begleitet seinen Schlummer“ diesen einschneidenden dramaturgischen Ausdruckswechsel. Für eine Weile tritt somit reine Klangwelt an die Stelle verbaler Artikulation. Ausschließlich fixiert auf Bilder und Klänge, sieht sich der Rezipient aufgefordert, das visuell und klanglich Vermittelte in sich zum Sprechen zu bringen. Unverkennbar geht durch den medialen Wechsel der szenische Wahrnehmungsakt schwerpunktmäßig von den Bühnenfiguren auf das Publikum über. Die Musik akzentuiert den humanen Appell des exemplarischen Traumvorgangs. Hierzu ist es äußerst wichtig zu sehen, wie Goethe den Austritt aus dem ‚realen‘ Handlungszusammenhang kenntlich macht. In der zugehörigen Bühnenanweisung unterstreicht er mit der einfachen Formulierung „scheint“ den vollzogenen Übergang zum Symbolisch-Allgemeinen. Der einschlägige Text lautet so: „hinter seinem [Egmonts] Lager scheint sich die Mauer zu eröffnen, eine glänzende Erscheinung zeigt sich. Die Freiheit in Himmlischem Gewand von einer Klarheit umflossen ruht auf einer Wolke. Sie hat die Züge von Clärchen“406. Andeutend bleibt die Präsenz der Titelfigur, mithin des das finale Gelingen vorstellenden Subjekts, erhalten. Darüber hinaus weitet sich die Bildfolge der Traum-Pantomime durch die schöpferische Offenheit zum unbedingt mitzudenkenden Symbol absoluter Freiheitsbekundung. Als vertiefendes Bild der Kunst signalisiert die einsetzende Musik die Durchbrechung der realistischen Bühnenillusion und weitet so den Fortgang der Handlung in die absoluten Dimensionen des dramatischen Sinnbildstils aus. Der Text gewinnt hierdurch eine aus dem bisher vorgeführten Geschehen herausfallende futurische Perspektive. Ihre vorausdeutenden Implikationen verbinden sich zu einem Ensemble breiter sozialer Symbolwirkung. Darin enthalten sind nicht bloß die Befreiungsvisionen Egmonts und Clärchens sowie Brackenburgs Vorstellung vom sieghaften Untergang Egmonts in den ersten beiden Akten des fünften Aufzugs, sondern hauptsächlich die bildkräftigen Verweise auf das „Bündel Pfeile“, den „Stab mit dem Hute“ und den „Lorbeerkranz“ als die zu jener Zeit gemeinverständlichen Zeichen der Freiheitsverheißung und der Siegesgewißheit407. Für die Leser oder Zuschauer 406 Sämtliche Zitate: WA I.8, S. 303. 407 Vgl. hierzu: WA I.8, S. 283, 287 und 290 sowie 219, 280 und 303 f. Pfeilbündel und „Stab mit dem Hute“ sind klassische Symbole für Einheit und Unabhängigkeit. Bezeichnenderweise findet sich der „Stab mit dem Hute“ auf der Titelvignette der Erstausgabe von Rousseaus „Contrat social“ (1762) und ebenso auf Schillers Erstausgabe der „Geschichte

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umschreiben sie die vom Autor angestrebte produktiv-anregende „Zeitspannung zur Zukunft“408. Damit wird die „Untergangshandlung“409 des Dramas aufgehoben. Der Bühnenvorgang konzentriert sich demgemäß hauptsächlich auf die antizipierende Traumvision. Wie beiläufig setzt Goethe so den Trauerspielcharakter des Stückes völlig außer Kraft. Dabei zielt seine Wirkungsabsicht auf eine substantielle Revolutionierung humaner Energie. Im Bewußtsein des Rezipienten soll am Ende vorrangig das „schöne Bild“ der „göttlichen Freiheit“ aufscheinen410 und aus sich heraus anregend fortwirken. Die verklärende Traum-Episode läuft mit dem Wiedererwachen Egmonts aus, ohne daß dabei Traumpathos und Sinnbildstil aufgegeben würden. Unbedingt sollte die Rückwendung zur Bühnen-‚Realität‘ in Gestalt des Protagonisten und der Wachsoldaten verstanden werden als notwendige Rückbindung der Freiheitsallegorie an den auslösenden Handlungsablauf. Verbal-stimmliche, klangliche und szenischoptische Intelligenz sollen dabei zusammenwirken. Abermals zeigt die Musik den Wechsel der Perspektive an („Schall … kriegerischer Musik von Trommeln und Pfeifen“). Zum Schluß steht wiederum der Realitätsstatus des Titelhelden im Zentrum des Interesses. Egmont offenbart in einer monologischen Reflexion die seinen Tod belebende schöpferische Energie. Orest und Faust gleich verdankt er den existentiellen Umschlag seinem ‚Heilschlaf ‘. Liebesgewißheit und Freiheitserwartung sind stärker als die ihn erwartende Hinrichtung. Vielmehr gestaltet sich der Untergang für ihn zur persönlichen Erhebung. Dementsprechend wird das Wortfeld des Todes – „kriegerische Musik“, „Blut“, „Soldaten“, „Hellebarden“, „Schwerter“, „Feind“, „Wache“ – wirkungsvoll zurückgedrängt, um schließlich ganz von der „Siegeshymne“ als dem Signal heraufziehender Freiheit verdrängt zu werden. Egmonts letzte Worte, bilanzierend bereits in der Vergangenheitsform ausgedrückt, sind unverkennbar vorausdenkend-visionär angelegt: „Es war mein Blut und vieler Edeln Blut. Nein, es ward nicht umsonst vergossen“. Unter solchem Anspruch kann der Todeskandidat als Repräsentant der Befreiung auftreten: „ich sterbe für die Freiheit für die ich lebte und focht, und der ich mich jetzt leidend opfre“. Er sieht sich als Kämpfer, geführt von der Freiheit als „Siegesgöttin“, der einen letzten, human erfüllten Erfolg erringt, des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ (1788). Mütze und Stab waren für die Leser des ausgehenden 18. Jahrhunderts von allen verstandene Symbole. Die Freiheitsmütze wurde sogar in der Französischen Revolution – in Anlehnung an die traditionelle Kopfbedeckung befreiter Sklaven im alten Rom – zur phrygischen Mütze der Revolutionäre. 408 So im Kommentar der Münchner Ausgabe (MA 3.1, S. 826). 409 So Wolfgang Kayser im Kommentar der Hamburger Ausgabe (HA 4, S. 582). 410 WA I.8, S. 304. Annäherung an die Oper mit „Egmont“  139

diesmal nicht auf dem „Felde des Streits“, sondern durch das Opfer eines „muthigen Lebens“. Das gibt ihm jenen „höhern Muth“, der es ihm erlaubt, seiner Mit- und Nachwelt „ein Beispiel“ zu geben. Mit diesem exemplarischen Gestus setzt der Autor für den Rezipienten einen direkten Akzent gegen das „hohle Wort des Herrschers“ und insofern gegen absolutistische Machtwillkür. Auf einer derart gefestigten Grundlage rechtfertigt sich der entschieden gegenstrebige Ausklang zur tragischen Binnenhandlung. Zielstufe der Dramenkonzeption ist eindeutig die Parabel der Freiheit, in Form der das finale Gelingen unterstreichenden „Siegessymphonie“411. Die metaphorisch beschworene Freiheitserwartung findet zum Schluß bestätigende Resonanz in der Vortragsart der Musik. „Allegro con brio“, also heiter, ja sogar sprühend und feurig soll der Intention Beethovens nach das Ganze auslaufen. Gerade die untermalenden Klänge transponieren die theatralische Konstruktion des Dramenendes ausdrucksmäßig in eine nach innen, genauer: ins Innere eines jeden Zuschauers oder auch Lesers gerichtete aufbauend-befreiende Kommunikation. Ihr humanes Ziel besteht, wie Goethe ausdrücklich dazu hervorhob, darin, „eine ungemessene Freiheit des Lebens und des Gemüths“412 heraufzuführen. Die Traumperspektive darf nicht einfach psychologisch genommen werden. Sie durchbricht vielmehr das dramatisch-theatralische Handlungsgefüge des gestalterischen Ansatzes und läßt mit einem Schlag alles Vorausgegangene als definitiv Vergangenes zurück. Gestützt durch die begleitende Musik substituiert sich die auktorial aufgewertete Bühnenanweisung in Gestalt einer wortlos ablaufenden TraumPantomime den gewohnten dramatischen Dialogen und Monologen. Dieser radikale Eingriff in das realistisch angelegte Dramengefüge verändert die Rezeptionssituation von Grund auf. Durch den Schock der futurisch ausgerichteten Bewußtseinsdramaturgie wird die visionäre Bühnen-‚Wirklichkeit‘ zum Bestandteil der Betrachterwirklichkeit. Stärker als gewöhnlich verlagert gerade die futurische Komponente den vorgeführten Wahrnehmungsakt von den Dramenfiguren hinüber zum Publikum, macht sie zur generellen humanen Bewegung und Aufgabe im Sinne der antizipierenden Traumvision. Erst dadurch wird einsichtig, wie in der Perspektive des Autors schicksalhafte Tragik und Tod produktiv umgemünzt werden zur Gewißheit eines neuen Zeitempfindens vertrauensvoller Lebenserwartung und humanen Zusammenlebens. Was aber hat es auf sich mit Schillers Einwänden gegen den „Salto mortale in eine Opernwelt“? Richard Wagner hat dazu mit Recht angemerkt: „Wie bezeichnend ist es, daß gerade der idealisierende Schiller diesen ungemein bedeutungsvollen Zug

411 Sämtliche Zitate: WA I.8, S. 304 f. 412 WA I.32, S. 135 (Eintragung vom 3.11.1787).

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von Goethes höchster künstlerischer Wahrhaftigkeit nicht verstehen konnte“413. Wir sehen daran: Der großartige Verfechter einer Theorie „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ war blind für die im Sinne der angestrebten ästhetischen Erziehung wirkende Schreibpraxis bewußtseinsaktivierender Kommunikation. Es war darum ein Kardinalfehler Goethes in seiner Eigenschaft als Theaterdirektor, ausgerechnet diesem Kritiker 1796 Bearbeitung und Inszenierung des „Egmont“ zu übertragen. Denn natürlich machte sich Schiller als Liebhaber des theatralischen Effekts sogleich daran, den Text, wie er meinte, „zu korrigieren“414. Mit seiner Bühnenbearbeitung verwandelte er die Komposition Goethes durch Änderungen, Streichungen, Zusätze und Szenenverschiebungen von Grund auf. Besten Gewissens fügte er als ‚Verschlimmbesserer‘ nach Gutdünken Figuren hinzu, insbesondere in den Volksszenen, und ließ andererseits kurzerhand die Lieder Clärchens wie auch die Regentin und Machiavell völlig weg. Auf lediglich drei Akte mit acht Szenen strich er die fünf Akte aus dreizehn Szenen zusammen. Vor allem aber unterdrückte er bei seiner Umgestaltung die allegorische Erscheinung der Freiheit, um so den von ihm bemängelten „Salto Mortale in eine Opernwelt“ zurückzunehmen. Was seinerseits in bester Absicht geschah, kann nur als Versündigung an der vom Autor gewollten Symbiose von dramatischer Kunst und Musik bezeichnet werden. Goethe machte gute Miene zum bösen Spiel und übte längere Zeit vornehme Zurückhaltung. Schon die erwähnte ambivalente Rezension des „Egmont“ von Schiller (anonym veröffentlicht in der ‚Allgemeinen Litteratur-Zeitschrift‘ im September 1788) hatte er eher wohlwollend registriert415. Auch an dessen Bühnenbearbeitung lobte er 1796 gegenüber Iffland, wie ihm sein Stück „durch Schillern … so unerwartet wiedergeschenkt“ worden sei416. Jedoch ließ er vier Jahre später hinsichtlich der Bearbeitung wissen: „Ich habe einen Augenblick hineingesehen, um zu überlegen, was man etwa zu Gunsten einer Vorstellung noch daran thun könnte, allein ich erschrak über die Arbeit die man unternehmen müßte, um etwas daraus zu machen wofür man allenfalls stehen dürfte“417. Das sind in der Tat deutliche Worte. Sie verraten uns Goethes wahre Meinung in dieser Sache418. Er 413 Wagner, Richard: a.a.O. (s. Anm. 399), S. 206. 414 Biedermann, II, S. 209 (Gespräch zwischen dem 14. und 20.9.1794). 415 Goethe schrieb dazu: „In der ‚Litteratur-Zeitung‘ steht eine Recension meines Egmonts welche den sittlichen Theil des Stücks gar gut zergliedert. Was den poetischen Theil betrift, möchte Recensent andern noch etwas zurückgelaßen haben“ (WA IV.9, S. 37; an Carl August am 30.3.1796). 416 Gräf, Bd. 6, S. 228 (Goethe zu Iffland am 30.3.1796). 417 WA IV.15, S. 160 (an Friederike Unzelmann am 16.12.1800). 418 Hatte doch Schiller sich nicht gescheut, in der Kerkerszene mit Ferdinand dessen Vater Alba in Schwarz gekleidet und mit einer übergezogenen Kapuze und dem Henkerschwert in der Hand auftreten zu lassen. Egmont riß ihm dann unter den hinzugefügten Annäherung an die Oper mit „Egmont“  141

fand Schillers Redaktion, wie ein Aufsatz von 1815 belegt, in Wahrheit einfach „grausam“419. Die grundverschiedene Auffassung beider in dramatischer und dramaturgischer Hinsicht führte dazu, daß manche Verfechter der Dramenkonvention Goethes zukunftweisende Offenheit ablehnten. Noch Emil Staiger pflichtete in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Auffassung Schillers bei und interpretierte die Traum-Episode als „seltsame Ausflucht“ und als „Kulissenzauber“, der nicht „dem verbindlichen Wort verpflichtet“ sei420. Besonderen Sinn für die notwendige Weiterentwicklung der dramatischen Gattung wie des Theaters hat er damit gewiß nicht bewiesen. Hauptsächlich aber verhindert eine solche Interpretation das vom Autor gewollte Verständnis für die exemplarisch abgeklärte Haltung gelingenden inneren Seins und mehr noch für das im „Egmont“-Schluß nachdrücklich angestrebte innerweltliche Wissen um die reale Möglichkeit der Freiheit, etwa im Gegensatz zum jenseitsgerichteten Prinzip heilbringenden Leidens in der Barocktragödie. Als Antipode Schillers legte Goethe größten Wert darauf, die Tragik des Untergangs in neue Lebenshoffnung zu überführen. Darum war ihm bei der Gestaltung des Schlusses der Impuls der appellativen Bewußtseinsdramaturgie so wichtig. Daraus allein resultiert jener qualitative Sprung des Dramas, der, musikalisch begründet, die konkreten Freiheitsphantasien Egmonts zu einem Stück Welttheater ausweitet. Im Hinblick auf den dramaturgischen Umgang mit Bewußtseinsabläufen, die vom Autor über das Medium der dramatischen Figuren auf das Publikum übertragen werden sollen, hat Goethe mit dem dramaturgischen Schwenk zur Oper im „Egmont“ einen wichtigen Schritt getan. Die Einbeziehung intermedialer Möglichkeiten erschloß ihm für die theatralische Darstellung produktive neue Ausdrucksvarianten. Unzweifelhaft gehört er damit zu den wegweisenden Experimentatoren der Dramenund Theatergeschichte.

Worten „Ja, ich darf es sagen, und wenn Herzog Alba selbst es hören sollte“ die Kapuze vom Gesicht (!). Gegenüber dem Schauspieler Heinrich Schmidt bemerkte Goethe dazu am 26.12.1806: „Ja, ich erinnere mich, daß es damals so arrangiert war, und zwar von Schiller selbst. In Schillersche Stücke hätt’ es auch wohl gepaßt; allein das ist mein Genre nicht“ (Biedermann, I, S. 468 f.). Vgl. hierzu auch die späteren Äußerungen Goethes: „Ich protestierte jedoch und die Figur blieb weg“ (zu Eckermann am 18.1.1825: MA 19, S. 131) sowie: „Aber Schiller hatte in seiner Natur etwas Gewaltsames; er handelte oft zu sehr nach einer vorgefaßten Idee, ohne hinlängliche Achtung vor dem Gegenstande, der zu behandeln war“ (zu Eckermann am 19.2.1829: MA 19, S. 290). 419 So im Aufsatz „Über das deutsche Theater“ (zit. n.: MA 11.1, S. 164). 420 Staiger, Bd. I, S. 292 und 291.

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Das Monodrama oder die Erprobung der Möglichkeiten des Gesamtkunstwerks am Beispiel von „Proserpina“ Als Goethe in der zweiten Hälfte des Jahres 1777, nicht einmal zwei Jahre nach dem Eintreffen in Weimar, daranging, das kleine Drama über Proserpina zu verfassen, konnte er noch nicht ahnen, daß er sich damit auf eine Aktion einließ, die ihn über lange Zeit hin wiederholt beschäftigen sollte. Erst im Verlauf der Jahre und sogar Jahrzehnte zeigte sich, welche Probleme, aber auch welche Möglichkeiten, besonders in dramaturgischer Hinsicht, mit dem Monodrama verbunden waren. Was den Autor am Thema der zur Göttin des Totenreichs verdammten Proserpina interessierte, war der vielschichtige Symbolgehalt der von Pluto in die Unterwelt entführten Tochter von Jupiter und Ceres, deren Schicksal besonders ausgeprägt zwischen Liebe und Verrat, Leben und Tod angesiedelt ist. Bei seiner Bearbeitung konzentrierte sich Goethe, anders als die meisten seiner Vorläufer, auf die Phase unmittelbar nach dem brutalen Brautraub. Bezeichnenderweise beließ er es bei bloß gelegentlichen Andeutungen des komplexen Rahmengeschehens um die Titelheldin. Ihn interessierte weder die grenzenlose Herrschsucht von Venus, die ihren Einfluß auch noch auf die Unterwelt ausdehnen will und zu diesem Zweck Pluto durch Amor einen Liebespfeil verpaßt, noch die langwierige verzweifelte Suche der Ceres nach ihrer Tochter oder die spannungsvolle Beziehung zwischen Proserpina und Pluto, ebensowenig ihre beschränkte Rückkehr auf die Oberwelt. Was ihn zur Darstellung trieb, war der dramatische Moment extremer Verlustangst und Verzweiflung im Innern seiner Titelheldin, also die quälende Lage der ins Reich der Finsternis Entführten unmittelbar nach Raub und Vergewaltigung durch den Herrscher des Orkus421. Die Ausgestaltung dieser dunkelsten Erfahrung ihres jungen Lebens wurde für Goethe zum Anlaß intensiver Beschäftigung. Wohl deshalb traf er die dramaturgisch schlüssige Entscheidung, seinen Text als Monolog, als Monodrama anzulegen. Das Selbstgespräch Proserpinas erlaubt keine abbildbare dramatische Handlung. Jedoch schafft der direkt vermittelte Reflexionsablauf eine das Publikum unmittelbar ansprechende dynamisch aufgeladene Kommunikationsebene. So kann sich der ‚innere Monolog‘ nach außen entfalten. Verstärkt wird diese Tendenz noch dadurch, daß im Ein-Personen-Stück gegen Ende die Rede Proserpinas vom Chor der unsichtbar bleibenden Parzen begleitet wird422. Deren immergleicher Gesang macht die Befürchtungen der Verzweifelten zur schrecklichen Gewißheit. Leser, Zuschauer oder Hörer 421 Vgl. hierzu: Buck, Theo: Goethes Monodrama ‚Proserpina‘. Köln, Weimar, Wien 2012. 422 Goethe merkte zur Funktion des Parzen-Chors an: „Eine geforderte und um desto willkommenere Wirkung thut der Chor der Parzen, welches mit Gesang eintritt und das ganze recitativartig gehaltne Melodram rhythmisch-melodisch abrundet: denn es ist Das Monodrama oder die Erprobung der Möglichkeiten des Gesamtkunstwerks  143

können dadurch den Seelenzustand der Sprechenden intensiver mitfühlend und mitdenkend nachvollziehen. Dies um so mehr, als das Monodrama, wie es sich im 18. Jahrhundert, hauptsächlich angeregt von Rousseaus Melodrama „Pygmalion“, herausbildete, in der Regel von Instrumentalmusik begleitet wurde. Damit war eine dramatische Untergattung entstanden, die in ihrer perspektivischen Anlage ausgesprochen publikumsaktivierend ausgerichtet war. Man kann ohne weiteres sagen, daß Goethe sich damit entschieden „auf dem Weg zum Universaltheater“423 befand. Thematischer Hintergrund für die Wahl des Proserpina-Motivs war eindeutig eine für die damalige Entwicklung des Autors charakteristische Ablehnung willkürlicher Götterherrschaft, wie überhaupt der ihm existentiell wichtige Protest gegen die dadurch herbeigeführte Unsicherheit des Lebens zwischen Hoffnung und Abgrund. Seit der Arbeit am Prometheus-Komplex und den ersten Überlegungen zum Iphigenien-Thema war speziell die Subversion der göttlichen Macht für ihn ein Kernproblem des Menschenlebens. Überdies trieb ihn dazu eine tiefe Trauer und Klage über das Ausgeliefertsein der Opfer, besonders der Frauen. Offenkundig kam das tragische Schicksal der in die Unterwelt gestürzten Proserpina der zu jener Zeit zwischen Extremen hin und her schwankenden Gestimmtheit Goethes besonders nahe. In der tragischen Grundierung unterscheidet sich dieser Stoff kaum vom „Werther“-Roman. Die dramatische Abfolge geballter Schicksalsschläge endet für das unschuldig ins Totenreich entführte Mädchen mit der bitteren Erkenntnis, definitiv den Unterirdischen angehören zu müssen. Im Unterschied zu Werther reagiert sie aber, wie am Ende deutlich wird, wesentlich anders auf ihr tragisches Ausgeliefertsein. Instinktiv wollte Goethe nach Fertigstellung der in Prosa gehaltenen Erstfassung die äußerst bedrückende Gesamttönung des Stückes abfangen. Er unternahm deshalb den Versuch, durch Einfügung des Textes in den völlig anderen Stilhorizont einer Burleske den tragischen Charakter aufzuheben. In solcher Absicht verfiel er auf den wenig glücklichen Gedanken, das Monodrama kurzerhand in das gleichzeitig in Arbeit befindliche, ironisch-heitere Possenspiel „Der Triumph der Empfindsamkeit“ einzubauen424. Das war möglicherweise ein lustiger Einfall für die eher karnevaleske Uraufführung auf der Liebhaberbühne im Schloß Ettersburg zur Geburtstagsfeier von Herzogin Louise am 30. Januar 1778. Der Autor mußte jedoch schnell einsehen, daß die das Ganze umpolende Parodie eine unverzeihliche Versündigung am Geist nicht zu läugnen, daß die melodramatische Behandlung sich zuletzt in Gesang auflösen und dadurch erst volle Befriedigung gewähren muß“ (WA I.40, S. 113). 423 Hartmann, S. 407. 424 WA I.17, S. 40–49. Der Untertitel lautete zunächst „Festspiel mit Gesängen und Tänzen“, dann entschied sich der Autor für die Formulierung „eine dramatische Grille“.

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seines Monodramas bedeutete. Reumütig notierte er in den „Tag- und Jahresheften“ hierzu: „Bei Gelegenheit … festlicher Tage [wurde] letztere („Proserpina“) freventlich in den ‚Triumph der Empfindsamkeit‘ eingeschaltet und [damit] ihre Wirkung vernichtet“425. Die unausweichliche Konfliktsituation gehört eben unbedingt zu diesem Drama. Von daher erklärt sich die überraschende, über drei Arbeitsphasen verteilte Entstehungsgeschichte des Textes. Die Niederschrift und die ersten szenischen Erprobungen wurden in den Jahren 1777–1779 und 1786 vorgenommen sowie dann noch einmal 1814–1815. Nach der Fertigstellung der Prosafassung in der zweiten Hälfte des Jahres 1777 erschien im Januar 1778 als Textbuch zur Uraufführung ein Separatdruck. Noch im selben Jahr folgten zwei Abdrucke dieser Urfassung426. Eine erste Aufführung als selbständiges Drama mit der begleitenden Musik von Karl Siegmund von Seckendorff kam am 10. Juni 1779 im Rahmen des herzoglichen Liebhabertheaters mit Corona Schröter in der Titelrolle427 zustande. Kurioserweise wurde der „Proserpina“-Text 1787 immer noch als Teil des Schwanks „Der Triumph der Empfindsamkeit“ in die erste, von Goethe selbst besorgte Werkausgabe bei Göschen übernommen, allerdings nun nicht mehr in der Prosafassung, sondern in der 1786 erarbeiteten Versfassung428. Mit diesem gestalterisch überlegten Schritt machte der Autor aus dem pathetischen Sprechakt der Erstfassung eine dynamisierte, zu intensivem reflexivem Mitvollzug durch den Leser herausfordernde Versvariante. Damit hatte er die dem spannungsvollen Thema adäquate Ausdruckssteigerung der dramatischen Rede gefunden. Um die dadurch erzielte Wirkung konkret nachvollziehen zu können, sei wenigstens der Anfang beider Fassungen vergleichend einander konfrontiert. Zunächst der Wortlaut des Prosatextes von 1777: Halte! Halt einmal Unselige! Vergebens irrst du in diesen rauhen Wüsten hin und her! Endlos liegen sie vor dir die Trauergefilde, und was du suchst liegt immer hinter dir. 425 WA I.35, S. 6. 426 Der erste Abdruck erschien in Wielands ‚Teutschem Merkur‘, der zweite in Nummer IX der in Berlin erscheinenden ‚Litteratur- und Theaterzeitung‘. Der gleiche Text wurde noch 1779 in den 4. Band der vom Verleger Himburg in Berlin veranstalteten Raubdruckausgabe von „Goethes Schriften“ übernommen. 427 Corona Schröter hatte auch schon im Januar 1778 die Rolle der Königin Mandandane bei der Uraufführung des Possenspiels „Der Triumph der Empfindsamkeit“ gespielt, also die Parodie der Königin Proserpina. 428 Mit der Versfassung von 1786 knüpfte Goethe an die freien Rhythmen der Frankfurter Zeit an. Erst mit der Versfassung von „Iphigenie auf Tauris“ erfolgte der Übergang zum geregelten Blankvers. Das Monodrama oder die Erprobung der Möglichkeiten des Gesamtkunstwerks  145

Nicht vorwärts, aufwärts auch soll dieser Blick nicht steigen! Die schwarze Höhle des Tartarus umwölkt die liebe Gegenden des Himmels, in die ich sonst nach meines Ahnherrn froher Wohnung mit Liebesblick hinaufsah. Ach! Enkelin des Jupiters, wie tief bist du verloren! – 429

In der Versfassung wird daraus ein überlegt rhythmisierter, thematisch akzentuierter, nach innen gewandter, verzweifelter Monolog. Das klingt dann folgendermaßen: Halte! Halt! Einmal, Unselige! Vergebens Irrst du in diesen rauhen Wüsten hin und her! Endlos liegen vor dir die Trauergefilde, Und was du suchst, liegt immer hinter dir. 5

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Nicht vorwärts, Aufwärts auch soll dieser Blick nicht steigen! Die schwarze Höhle des Tartarus Verwölkt die lieben Gegenden des Himmels, In die ich sonst Nach meines Ahnherrn froher Wohnung Mit Liebesblick hinauf sah! Ach! Tochter du des Jupiters, Wie tief bist du verloren! – 430

Wie im Falle der beiden Versionen von „Iphigenie“ stellt sich auch hier die Frage: Was erbringt diese auffallend unregelmäßige metrische ‚Ordnung‘ für das Textverständnis? Abgesehen von der sachlich notwendigen Berichtigung des familialen Zusammenhangs („Enkelin“ > „Tochter“) stimmt das Wortmaterial in beiden Fassungen so gut wie ganz überein. Lediglich eine Wortveränderung ist zu verzeichnen: „umwölkt“ erscheint in der ausdrucksstärkeren Variante „verwölkt“ (V. 8). Trotzdem vernehmen wir einen gründlich verwandelten Text. Durch den Widerstreit von Satz- und Versordnung im Verein mit der völligen Variabilität der Verse entsteht eine dynamisch synkopierte Bewegung. Sie überformt die Aussage sinnprägend. Aus der prosaisch vorgegebenen, rein semantisch artikulierten Wortkette wird durch die eigenrhythmische Umakzentuierung eine eigentümlich vertiefte Ausdrucksebene mit ungewohnt eindringlicher, kommunikativ herausfordernder Sprachenergie. Diesem zusätzlich durch zahlreiche Enjambements ständig weitergetriebenen Sprach429 MA 2.1, S. 161 (nach: ‚Der Teutsche Merkur‘, Februar 1778). 430 WA I.17, S. 40 (V. 1–13).

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strom sieht sich das Publikum unmittelbar ausgesetzt. Der emotional heftig herausgeschleuderte, pathetisch aufgeladene Monolog Proserpinas gewinnt dadurch eine sehr direkte Ausdrucksintensität. Sie gewährleistet die unverstellte Vermittlung von Proserpinas Gedanken an das Bewußtsein des Publikums. Fast vier Jahrzehnte nach der Erstaufführung nahm der mittlerweile 65jährige Autor die Auseinandersetzung mit seiner versifizierten „Proserpina“ erneut auf. Den Anstoß dazu gab die Anfrage des Weimarer Musikdirektors Carl Eberwein im Frühjahr 1814, ob er eine Neufassung der Musik zum Monodrama ausarbeiten könne. Goethe stimmte dem Vorschlag um so lieber zu, als ihm damit eine „neue Verkörperung dieses abgeschiedenen Theatergeists“ ermöglicht wurde. Er war sich darüber im klaren, daß dieses Experiment ihm erlaubte, innovative wirkungsstrategische Möglichkeiten zu erproben. Stärker als bei den ersten Aufführungen konnte nun auf das die Wirkung steigernde Zusammenwirken von deklamierter Monologrede und musikalischer Begleitung geachtet werden. In gleicher Absicht hatte Goethe schon der Versfassung von 1786 einen verdeutlichenden Schlußakzent in Gestalt einer abschließenden Wiederholung des chorischen Huldigungsrufes der Parzen angefügt. Der scheinbar geringfügige Zusatz unterstreicht Härte und Zwänge des Schicksals von Proserpina und intensiviert zugleich den kommunikativen Gestus nicht unbeträchtlich, weil das Publikum mit diesem einprägsamen Schlußvers in den Alltag entlassen wird. Für die besondere Akzentuierung sorgte dabei der eindringliche chorische Schlußgesang. Der dritte Arbeitsschritt ist in dramaturgischer Hinsicht der mit Abstand interessanteste. Goethe widmete nämlich der ihm damit erneut ermöglichten Inszenierung seine volle Aufmerksamkeit. War er doch überzeugt, damit ein „brauchbares Musterstückchen“431 für die Verbreitung und Durchsetzung seiner Konzeption des Zusammenwirkens aller Künste im Sinne des Gesamtkunstwerks erarbeiten zu können. Zu Beginn der Regiearbeit deklamierte der Autor, vom Komponisten Eberwein am Klavier begleitet, mit „einer gewaltigen Tiefe der Empfindung“432 allen an der Aufführung Beteiligten den gesamten Text als eine Art lebendiger Partitur. Der demonstrative Auftakt bezeugt den Ernst, mit dem Goethe die szenische Umsetzung des Monodramas anging. Es folgten einläßliche Proben mit der unter dem Aspekt ihrer deklamatorischen und mimischen Darstellungskunst besonders geeigneten Schauspielerin Amalie Wolff. Selbstgestecktes Ziel dieser Zusammenarbeit war es, seine Sprachbilder nicht nur als Klangbilder, sondern gleichfalls als Körper- und Raumbilder wirken zu lassen. Neben dem dichterischen Wort sollte eine adäquate schauspielerische Gestaltung und ein angemessener Bühnenrahmen sowie die Büh431 WA IV.25, S. 330 (an Zelter am 17.5.1815). 432 Gespräch mit Carl Eberwein am 29.5.1814 (vgl. hierzu: Biedermann, S. 227). Das Monodrama oder die Erprobung der Möglichkeiten des Gesamtkunstwerks  147

nenmusik die Gesamtwirkung vertiefen, um durch die intensivierende Gattungsmischung die Kommunikation mit dem Publikum zu verstärken. Befriedigt notierte Goethe in den „Tag- und Jahresheften 1814“: „Das Monodrama ‚Proserpina‘ wurde, nach Eberweins Composition, mit Madame Wolff eingelernt, und eine kurze, aber höchst bedeutende Vorstellung vorbereitet, in welcher Recitation, Declamation, Mimik und edelbewegte plastische Darstellung wetteiferten, und zuletzt ein großes Tableau, Plutos Reich vorstellend und das Ganze krönend, einen sehr günstigen Eindruck hinterließ“433. Demzufolge hat der Autor bei seiner Inszenierung den Schlußakzent mit dem Vers der Parzen durch ergänzende theatralische Mittel noch mehr hervorgekehrt. Neben der illustrierenden Schlußmusik zeigte das interpretationsfördernde Bühnenbild einen repräsentativen Querschnitt durch das Personal der Unterwelt und deutete ebenso das dortige düstere Ambiente an434. Der Theaterdirektor Goethe war hierbei in seinem Element. Absichtsvoll suchte er „diese Richtung, in welcher sich Autoren, Schauspieler und Publicum wechselweise bestärken“435. Die gründlich vorbereitete Wiederaufführung fand am 4. Februar 1815 im Weimarer Hoftheater statt. Es war eigentlich eine Neuaufführung. Äußerer Anlaß war diesmal der Geburtstag des Erbprinzen Karl Friedrich436. Die Resonanz fiel äußerst günstig aus. Befriedigt konnte Goethe dem Berliner Freund Zelter berichten: „Meine ‚Proserpina‘ habe ich zum Träger von allem gemacht, was die neuere Zeit an Kunst und Kunststücken gefunden und begünstigt hat“437. Mehr noch, gegenüber Eberwein betonte er, dieses Monodrama „in einer Weise in Scene [zu] setzen, wie man noch nichts Ähnliches gesehen habe“438. Durchaus in programmatischer Absicht veröffentlichte er im ‚Journal für Litteratur, Kunst, Luxus und Mode‘ neben der für die weiteren Ausgaben verbindlichen Versfassung der „Proserpina“ einen Aufsatz, in dem er die bei der Regiearbeit eingesetzten Mittel genau erläuterte439. Nicht ohne Bedauern verwies er ebenso darauf, daß „diese Idee [des Gesamtkunstwerks] auf dem Weimarischen Theater mehr angedeutet als ausgeführt“ bleiben müsse, weil für die ihm vorschwebende theatralische Umsetzung die materiellen Voraussetzungen nicht gegeben seien. Er verband damit die Erwartung: „hier wäre es, wo größere Bühnen 433 WA I.36, S. 89. 434 Es gibt zum Schlußtableau einen Bühnenbildentwurf von Johann Heinrich Meyer (im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main); vgl. hierzu auch: Anm. 448. 435 WA IV.25, S. 292 (an Brühl am 1.5.1815). 436 Im wiederum beigegebenen Textbuch heißt es ausdrücklich: „Zum Geburtsfeste des Durchlauchtigsten Herrn Erbprinzen von Weimar“ (WA I.17, S. 321 f.). 437 WA IV.25, S. 330 (an Zelter am 17.5.1815). 438 Gespräch mit Carl Eberwein am 29.5.1814 (Biedermann, S. 227). 439 WA I.40, S. 106–118 („Theater und Schauspielkunst: Proserpina“).

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unter sich wetteifern und eine bedeutende, dem Auge zugleich höchst erfreuliche Decoration aufstellen könnten“440. Doch dafür war die Zeit noch längst nicht reif. Zu weiteren Aufführungen kam es jedenfalls nicht. Goethes Versuch, neue Dimensionen in die damalige Theaterwelt einzubringen, war unter den gegebenen Umständen zum Scheitern verurteilt. In diesem Zusammenhang ist es auch von Interesse, daß der Autor gleichzeitig mit Plänen zu einer monodramatischen Bühnenfassung des ersten Faust-Teils umging. War ihm doch nur zu gut bewußt, welche Schwierigkeiten die szenische Umsetzung gerade dieses Stoffes bereitete. Wohl unter dem Eindruck der kurz zuvor gemachten Erfahrungen mit der „Proserpina“-Inszenierung hielt er zu seinem Faust-Projekt fest: Es „steht gar zu weit von theatralischer Vorstellung ab“441. Bereits einige Jahre zuvor, 1809, hatte er sich für die Hausaufführung einiger „Faust“-Szenen die Ausdrucksmöglichkeiten des gerade in Mode kommenden chinesischen Schattenspiels zunutze gemacht. Beide Versuche mit dem Text des ersten Faustteils bezeugen Goethes unbedingten Willen, als Dramatiker die vorgegebenen Grenzen des auf der Bühne Darstellbaren zu durchbrechen. Der dramatisch und dramaturgisch durchgestaltete Bewußtseinsstrom Proserpinas wurde für den Autor, einmal abgesehen vom großen Weltspiel um Faust, zum willkommenen Gegenstand seiner Experimentierfreudigkeit. Der Proserpina-Mythos erhielt durch ihn eine geradezu rationalisierte, zweckorientierte Bedeutung mit konkreter, historisch objektivierter Funktion. Sie reicht vom bereits erwähnten Protest gegen willkürliche Götterherrschaft über die Kritik an jeglicher Fremdbestimmung des Lebens bis zur grundsätzlichen Infragestellung hegemonialer Machtverhältnisse und zur Zurückweisung des weiblichen Ausgeliefertseins. In der Sicht der meisten Leser wirkte das Monodrama wie die Katastrophenvision eines Alptraumspiels. Wenn man aber die Auseinandersetzung mit dem Text vertiefend anlegt, erscheint das Tragische am Ende in wissender Erkenntnis der Lebenshintergründe aufgehoben. Es geht dabei um den von Goethe schon 1772 als existentiell notwendig angesehenen Erwerb der individuellen Fähigkeit, „sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten“442. Reflektiertes Unterlaufen der Tragödie macht das Drama um Proserpina zum humanen Exempel. Proserpina hat in Abgründe geblickt. Im Nachdenken darüber läßt sie nicht viel verlauten. Ihre wenigen Worte sagen jedoch genug. 440 WA I.40, S. 109. 441 WA IV.25, S. 293 (an Brühl am 1.5.1815). 442 WA I.37, S.  210 (Rezension von Johann Georg Sulzers Schrift „Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung“ in den ‚Frankfurter gelehrten Anzeigen‘ von 1772). Das Monodrama oder die Erprobung der Möglichkeiten des Gesamtkunstwerks  149

Dieser Bedeutungsakzent wird vorbereitet in der zentralen Monolog-Sequenz mit dem Granatapfel. An dieser Stelle wird besonders sinnfällig, daß Proserpina ohnmächtiges Opfer höherer Gewalten ist. Unerwartet hoffnungsvoll setzt die Szene ein mit der verwunderlichen Entdeckung ihrer Lieblingsfrucht: „Seltsam! Seltsam! / Find ich diese Frucht hier?“ (V. 179 f.) Goethe hat den überraschenden Vorgang folgendermaßen beschrieben: „Die Erscheinung ihrer [Proserpinas] Lieblingsfrucht, ein Granatbaum, versetzt ihren Geist wieder in jene glücklichen Regionen der Oberwelt, die sie verlassen“443. In der ansonsten makabren, völlig leeren Todeslandschaft dieses Ein-Ort-Dramas ohne Requisiten wirkt jener Anblick belebend auf sie. Was dann passiert, vermittelt die knappe Bühnenanweisung: „Sie bricht den Granatapfel ab“. Damit bringt der Autor ein uraltes, vielschichtiges naturmythisches Kultsymbol von Liebe, Sexualität, Fruchtbarkeit, Verführung, Leben und Tod ins Spiel. Vorrangig ist hier die Bedeutung des Granatapfels „als Symbol der Verführung“444 gemeint. Sie verweist darauf, wie sehr das moralisierende Verbot der die Sinne öffnenden Frucht den oberen Instanzen zupaß kam. Als Machthaber erklärten sie kurzerhand Erkenntnis und natürliches sinnliches Begehren zum Sündenfall und ahndeten ihn mit der Vertreibung aus dem Paradies. Goethe erinnert daran mit dem Hinweis der Betroffenen, wie ihr „erste Freude“ zur „Qual“ wurde (V. 207). Ist doch der natürliche Liebesdrang der jungen Frau mit den Angstattacken des Gewaltraubs und mit brutaler Vergewaltigung durch Pluto verbunden. Im Monolog erfahren wir zunächst von Proserpinas Liebeserwartung durch den in ihr aufkeimenden Wunsch, unbedingt die „freundliche Frucht“ (V. 184) zu genießen: „Laß mich vergessen / Alle den Harm!“ (V. 185 f.) Um so schärfer fällt die Desillusionierung dieses Wunschbilds aus. Unter „entsetzlichen Schmerzen“ (V. 201) kommt ihr zu Bewußtsein, daß sie sich getäuscht hat. Nüchtern kommentierend hält der Autor dazu fest: „Was ihr [Proserpina] als Unterpfand der Befreiung erschien, urplötzlich wirkt es als magische Verschreibung, die sie unauflöslich dem Orcus verhaftet. Sie fühlt die plötzliche Entscheidung in ihrem Innersten“445. Naturgemäß drückt das Unbegreifliche ihrer definitiven Vernichtung Proserpina nieder. Deswegen vermittelt ihre deprimierende Folgerung eine generelle atmosphärische Verfinsterung: „Im fernen Schoose des Abgrunds / Dumpfe Gewitter tosend sich erzeugen“ (V. 212 f.). Angewandt auf ihre Situation bedeutet das die ewige Verdammnis als Herrscherin ins Totenreich. Trotz aller berechtigten Verzweiflung beginnt sich dabei in ihr jedoch auch ein innerer Wandel zu regen. Proserpina fühlt in sich Verantwortung und Widerstandswillen

443 WA I.40, S. 108. 444 Sauder, Gerhard: Dramenfragmente und kleine Dramen. In: GH 2, S. 66. 445 WA I.40, S. 108.

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wachsen. Der damit gelegte Keim emanzipativer Selbstbestimmung kann sich von nun an weiterentwickeln. Deshalb geht Goethes eigenwillige, poetisch selbständige Gestaltung des alten Themas in der versifizierten Endfassung, wie gesagt, nicht mit Proserpinas Wunsch nach Verdammung zu Ende („Wirf mich … in die zerstörende Qual“, V. 270). Für das Verständnis ist entscheidend, daß das letzte Wort den Parzen gehört. Fraglos bestätigt nämlich deren Huldigungsruf („Unser! Unser! Hohe Königin!“, V. 271) die Fortdauer der Haß-Zweisamkeit Proserpinas mit Pluto. Ausdrücklich hat Goethe unter dem Eindruck seiner Neuinszenierung 1815 auf die Bedeutung dieses Ausgangs hingewiesen und im Blick auf seine Protagonistin festgehalten: „Angst, Verzweiflung, der Huldigungsgruß der Parzen, alles steigert sie wieder in den Zustand der Königin, den sie abgelegt glaubte: sie ist die Königin der Schatten, unwiderruflich ist sie es; sie ist die Gattin des Verhaßten, nicht in Liebe, in ewigem Haß mit ihm verbunden. Und in dieser Gesinnung nimmt sie von seinem Throne den unwilligen Besitz“446. Unzweifelhaft klärt der angefügte Schlußvers definitiv das über Proserpina verhängte ungerechte Los. Aber im Wissen darum entwickelt die so vielfach physisch und psychisch mißbrauchte und vergewaltigte junge Frau, im leicht erkennbaren Unterschied zu der mit Vers 270 endenden Prosafassung, aus ihrem tiefsten Elend heraus eine entschlossen widerstehende, trotzig protestierende Gegenkraft. Sie befreit sich vom drohenden hoffnungslosen Fatalismus. Gewaltsam aus dem Stand der Unschuld gerissen, hat die dermaßen Desillusionierte in kurzer Zeit die Lektion der widersprüchlichen menschlichen Lebenszusammenhänge erlernt. In ihrer Haltung artikuliert sich ein von Selbstlosigkeit, Moral, Güte und Würde getragener, wie selbstverständlicher humaner Geist. Was so zur Wirkung kommt, ist eine mögliche Humanisierung der herrschenden Daseinsleere in einer Welt verlorengegangener Totalität. Dabei war es Goethe durchaus um eine normative Bestimmung des Humanen zu tun. Wußte er doch nur zu gut, daß allein im Blick auf „das lebendige Ganze, das zu allen unsern geistigen und sinnlichen Kräften spricht“447, wahre Humanität möglich wird. In diesem Wissen widmete der Autor bei der szenischen Einrichtung seines Monodramas der Gestaltung des Schlusses besondere Aufmerksamkeit. Zur Klärung seiner Konzeption merkte er betont an: „Indem nämlich Proserpina in der wiederholten Huldigung der Parzen ihr unwiderrufliches Schicksal erkennt und, die Annäherung ihres Gemahls ahnend, unter den heftigsten Gebärden in Verwünschungen 446 WA I.40, S.  108. Es ist also nicht einfach so, wie der Kommentator der Frankfurter Ausgabe annimmt, „daß Proserpina sich selbst zu ewiger Höllenqual verdammt“ (FA 5, S. 959). Vielmehr reagiert sie offensiv auf ihre Zwangslage. 447 WA I.45, S. 254. Das Monodrama oder die Erprobung der Möglichkeiten des Gesamtkunstwerks  151

ausbricht, eröffnet sich der Hintergrund, wo man das Schattenreich erblickt, erstarrt zum Gemählde und auch sie die Königin zugleich erstarrend als Theil des Bildes“448. Eindeutig belegt dieser Kommentar die Übernahme der Rolle einer ständigen Opponentin im Totenreich durch Proserpina. In der gewonnenen Haltung offenbart sich eine uneigennützige Geste überzeugender Menschlichkeit. Goethe gab damit dem Proserpina-Thema eine völlig neue Ausrichtung. Nach den gemachten Erfahrungen kann das für die Figur der Titelheldin nur bedeuten, daß sie mit dem festen Willen zum Weitermachen der im Schattenreich herrschenden „zerstörenden Qual“ (V. 270) energisch entgegenwirken wird. Mag ihr Leben, äußerlich betrachtet, gescheitert sein. In ihrem Innern leuchtet aber nun die Flamme zwingenden Beharrungsvermögens und unerschütterlicher Widerstandskraft. Proserpinas Widerstand ist ihre Rettung. Sie irrt am Ende nicht mehr hilflos durch die Landschaft des Todes. Sie läßt sich auch nicht mehr von der Vergangenheit binden, erst recht nicht von der verfinsterten Gegenwart. Ihr aus den bedrückenden Erlebnissen erwachsener Lebensmut erlaubt es ihr sogar, die ihr zugemutete Rolle dazu zu nutzen, eine durchaus ethisch zu nennende Haltung einzunehmen, die für eine vom Belieben der Götter und Tyrannen befreite Gesellschaft steht. Selbstvergessenheit und Selbsterweiterung bilden die hierzu unerläßliche Voraussetzung. In der so beschriebenen Zielstufe ist das menschlich überzeugende Ergebnis der überstürzten, extrem negativen Sozialisation Proserpinas zu sehen. Allerdings muß eingeräumt werden, daß diese den tragischen Charakter des Stückes umakzentuierende Interpretation hauptsächlich durch den Zusatz des Schlußverses sowie den Kommentar Goethes aus dem Jahr 1815 gestützt wird. Der Wortlaut der Prosafassung von 1777 kann zunächst einmal eher nahelegen, einen elegisch-resignativen, ja apokalyptischen Ausgang im Zeichen des Todes anzunehmen. Indes deutet bereits der im Monolog immer wieder durchschlagende gesellschaftlich-politische Gehalt darauf hin, im Sturz Proserpinas aus göttlich-privilegierter Höhe eine radikal kritische Parabel sozial produktiver innerer Umkehr zu sehen. In ihrer zunächst völlig hoffnungslos klingenden Schlußforderung wirkt unüberhörbar ihr früher geäußertes Wort von einer möglichen humanen Verwirklichung jenseits der Abgeschiedenheit 448 WA I.40, S. 113. Der die Aufführung besuchende Weimarer Hofrat Johann Diederich Gries berichtete in einem Brief vom 7.2.1815 über das Schlußtableau folgendermaßen: „… als … der hintere Vorhang aufging, und nun das ganze Höllenreich in seiner finstersten Pracht sich zeigte. In einer Höhle saßen die drei Parzen. Auf dem Felsen darüber der Höllenkönig in seiner ganzen Majestät. Umher, auf dem Gestein zwischen den Felsstücken waren die übrigen Bewohner des Tartarus … gruppiert. Dies gab ein ganz einziges Bild“ (zit. n.: FA 5, S. 951). Methodisch nimmt diese Bühnenbildkonzeption heutige Video-Piktogramme vorweg.

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fort: „Hoffnung gießt / In Sturmnacht Morgenröthe!“ (V. 168 f.) Hinter der artikulierten Todessehnsucht bricht demnach der ihr gleichfalls eigene innere Lebenswille gestärkt hervor. Im Endeffekt bedeutet das eine vehemente Selbstbehauptung im Sinne von Goethes Maxime: „Es gibt keine Lage, die man nicht veredeln könnte durch Leisten oder Dulden“449. Proserpina veredelt entschieden durch Leisten. Dulden ist ihre Sache nicht. Angesichts einer totalitären Sachlage wird sie nicht weiter ihre Misere hinausschreien, sondern in neuer Entschlossenheit gezielt widerständig eingreifen. Ihr Schmerz gebiert unerwartete Kraft. Das durch die äußeren Umstände unterdrückte Ich überschreitet sein selbstbezogenes Dasein. Es wird mit zuvor unbekannter Energie mitmenschlich aktiviert. Die dergestalt in die Zukunft ausgreifende Deutung des mythischen Stoffes bezeugt die völlig eigene Perspektive von Goethes dramatischer Proserpina-Studie. Mit der direkt auf das Bewußtsein ausgerichteten Dramaturgie des Monodramas war die stimmige Formlösung gefunden für diese allein über das Bewußtsein des Lesers, Zuschauers oder Hörers erkennbare Aufhebung des Tragischen. Grundlegend für eine solche Wirkung war die dramaturgische Entscheidung für die melodramatische Präsentation. Sie ergänzte den Text durch klanglich erzeugte Energie. Neben der Nutzung der ureigenen Mittel des Theaters – Raum, Sprache, Körper, Bewegung – ermöglicht das von Goethe praktizierte ästhetische Verfahren eine symbolisch getragene Erweiterung der semantischen Ebene durch die begleitende Musik und ebenso durch die übrigen szenischen Zutaten wie Bühnenbild, Kostüme, Choreographie und steigernde Deklamation. Mit guten Gründen bezeichnete Tina Hartmann das so erzielte Resultat als „antimimetisches Kunstwerk“450. Der mit „Iphigenie“ und „Tasso“ eingeschlagene methodische Weg Goethes ging eindeutig in die Richtung zunehmender Abkehr vom vordergründigen Abbildcharakter. Zwangsläufig führte die Absicht, die verschiedenen Künste miteinander zu vereinigen, zu dieser Schreibstrategie auf der neuen dramaturgischen Grundlage. Mit „Proserpina“ hat der Autor die ihn faszinierende musiktheatralische Ausdrucksmöglichkeit von der naiv-vordergründigen Singspieltradition abgelöst. Die gelungene melodramatische Wiederaufführung des Stückes 1815 wurde für den Autor zu einem ermunternden Zeichen für die Weiterarbeit an der Faustdichtung nach der 1808 erfolgten Veröffentlichung von „Faust I“. Goethe hielt diese Erkenntnis mit der Bemerkung fest: „Die Absicht ist, Fausten mit seltener musicalischer Begleitung recitieren zu lassen“451. Daran erkennen wir die wegweisende Bedeutung der mit dem Monodrama eingeschlagenen dramaturgischen Gestaltung im Sinne von theatralischer Interaktion. Die hier erprobten 449 HA 12, S. 514 (Maximen und Reflexionen, 1052). 450 Hartmann, S. 540. 451 WA IV.25, S. 292 (an Brühl am 1.5.1815). Das Monodrama oder die Erprobung der Möglichkeiten des Gesamtkunstwerks  153

gestalterischen Ausdrucksmittel konnten dann bei der anstehenden Weiterarbeit an dem zum symbolischen Weltspiel ausgeweiteten Faust-Stoff des zweiten Teils vielfältig genutzt werden.

Festspiel als Testfall neuer Dramaturgie: „Des Epimenides Erwachen“ Im Mai und Juni 1814 hielt sich Goethe in Begleitung seiner Frau Christiane und deren Gesellschafterin Caroline Ulrich zu einer Kur im nahe gelegenen Schwefelbad Berka an der Ilm auf. Weitab von den historischen Ereignissen jener Tage genoß er den so gewonnenen inneren Abstand zu den unruhigen Zeitläuften. Dem befreundeten Johann Heinrich Meyer schrieb er am 18. Mai: „hier ist es so still und friedlich, als wenn seit hundert Jahren, und hundert Meilen weit kein Kriegsgetümmel existirte“452. Tags davor bekam er indes überraschend den Besuch des Weimarischen Hofkammerrats Franz Kirms. Der überbrachte ihm die dringende Bitte des Generaldirektors des Königlichen Schauspiels zu Berlin, August Wilhelm Iffland, anläßlich der Rückkehr des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. aus Frankreich ein Festspiel zur Siegesfeier der Gegner Napoleons zu verfassen. Der Dichter solle „etwas, der Zeit und des Gegenstandes würdig“, dazu schreiben453. Der so eindringlich Angesprochene reagierte darauf zögerlich hinhaltend. Zu kurz erschien ihm die dafür vorgesehene Terminierung von nur vier Wochen. Zunächst also eher ablehnend eingestellt, teilte er dann doch schon am 20. Mai Kirms mit, er nehme den „allzu schmeichelhaften“ Auftrag an454. Der Mittelsmann hatte ihn wissen lassen, daß bei diesem Ereignis wohl auch Zar Alexander I. anwesend sei, ebenso sollten der österreichische Kaiser Franz II. und der schwedische Kronprinz Bernadotte (der spätere König Karl XIV. von Schweden) in die Huldigung einbezogen werden. Dem ehrenvollen Vorschlag war noch absichtsvoll die Bemerkung angefügt worden, niemand sei eher dazu berufen, dieses Festspiel zu schreiben, als „der erste Mann der Nation“455. Um Goethes Zusage voll verstehen zu können, muß man sich jedoch den weitläufigen historischen Kontext zu diesem Anerbieten bewußtmachen. Bekanntlich überstürzten sich die politischen Ereignisse nach der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813. Um allein die wichtigsten zu nennen: Auflösung des Rheinbunds, Einmarsch der verbündeten Truppen in Frankreich, Abdankung Napoleons und Verbannung auf die Insel Elba, Wiedereinsetzung der Bourbonen mit Ludwig XVIII. 452 453 454 455

WA IV.24, S. 273 (an Johann Heinrich Meyer am 18.5.1814). Iffland an Kirms am 6.5.1814 (zit. n.: HA 5, S. 535). WA IV.24, S. 284 (an Kirms am 20.5.1814). Gräf, II.2, S. 302.

154  Formexperimente

und Vorbereitung der Restauration Europas durch den Wiener Kongreß. Für das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach war diese Entwicklung von besonderer Bedeutung. Herzog Carl August hatte nach der verlorenen Schlacht von Jena und Auerstedt das Kommando als preußischer Generalleutnant niederlegen müssen und nur durch den Eintritt in den Rheinbund seine Position unter Napoleon retten können. Wegen der engen Verbindung zum russischen Hof – sein Sohn, Erbprinz Karl Friedrich, hatte 1804 die russische Großfürstin Maria Pawlowna, die Schwester von Zar Alexander, geheiratet – stand ihm mit dem Ende des napoleonischen Einflusses eine neue Karriere offen, die schließlich durch die Einflußnahme des Zaren beim Wiener Kongreß sogar zu seiner Erhebung zum Großherzog führen sollte. Vor diesem komplexen Hintergrund machte sich Goethe an die Arbeit. Obwohl er in gewisser Weise als ein Bewunderer Napoleons gelten kann, der in dem genialen Korsen „das Dämonische … im höchsten Grade“ verwirklicht sah456, einen, der sich selbst zum Weltgeist erhob („Dieses Kompendium der Welt“457), erkannte er durchaus auch dessen Fehler und Grenzen. Unmißverständlich bemerkte er dazu: „Überhaupt ist es mir angenehm, über Napoleon die entgegengesetztesten Meinungen zu hören“458. Sehr wohl war ihm klar, daß der tyrannische Eroberer im Endeffekt nicht Freiheit und Ordnung, sondern vielmehr Unterdrückung, Tod und Verderben gebracht hatte459. Mit dem „Festspiel“460 beabsichtigte Goethe, „alles zur Sprache und zur Darstellung zu bringen, was in den Gemüthern seit so vielen Jahren vorging, und was sich nun in diesen letzten Zeiten so glücklich entfaltet hat“461. Letzten Endes sah er im Scheitern Napoleons eine Bestätigung seiner Geschichtskonzeption von schädlicher Revolution und nützlicher Evolution. Auch deswegen erklärte er sich bereit, das gewünschte Festspiel zu verfassen. In erster Linie beabsichtigte er damit, „der Nation auszusprechen, wie ich Leid und Freud mit ihr empfunden habe und empfinde“462. Ob ihm 456 457 458 459

MA 19, S. 424 (zu Eckermann am 2.3.1831). MA 19, S. 159 (zu Eckermann am 16.2.1826). MA 19, S. 637 (zu Eckermann am 22.1.1830). Nach verläßlicher Schätzung starben in Europa in den beiden von Napoleon bestimmten Jahrzehnten (1795–1815) rund fünf Millionen Soldaten. Gemessen an der damaligen Bevölkerungsgröße entspricht das in der Relation ziemlich genau den Verlusten während des Ersten Weltkriegs. 460 Die Bezeichnung ‚Festspiel‘ gebrauchte Goethe von Anfang an bewußt (etwa im Tagebuch am 7.7.1814). An Bernhard Anselm Weber schrieb er am 21.12.1814: „‚Das Erwachen des Epimenides‘ kann man am füglichsten ein Festspiel nennen, indem es das erste Mal an einem bedeutenden Feste gegeben wird und, wenn es Gunst erlangt, nur an Festtagen wiederholt werden kann“ (WA I.16, S. 527). 461 WA IV.24, S. 310 (an Carl Liebich am 7.7.1814). 462 WA IV.24, S. 299 (an Iffland am 15.6.1814). Festspiel als Testfall neuer Dramaturgie: „Des Epimenides Erwachen“  155

dabei die zwiespältige Aussicht auf die drohende Restauration der alten Scheinordnung wirklich bewußt war, bleibt mehr als fraglich. Sein Festspiel zielte jedenfalls in die Richtung einer produktiven Überwindung des Zurückliegenden. Völlig zutreffend bezeichnete man darum das Experiment als „visionäres Phantasiestück“463. In den Mittelpunkt des Festspiels rückte Goethe, wie schon kurz zuvor mit „Pandora“, wiederum eine mythologische Figur: Epimenides (griech. Epimenides), den Seher und Sühnepriester aus Kreta aus dem siebten vorchristlichen Jahrhundert. Der Legende nach war es diesem Günstling der Götter vergönnt, ein volles Menschenleben schlafend hinter sich zu bringen, um dann wieder wie neu geboren zu erwachen. Epimenides verschläft dabei eine „unselige Zwischenzeit zwischen erfüllter Vergangenheit und erhoffter Wiederkehr“464. Die Evokation dieser mythischen Symbolik sollte die aktuellen europäischen Entwicklungen positiv beeinflussen und zugleich zeigen, daß der Autor an den zeitgeschichtlichen Ereignissen engagierten Anteil nahm. Um jedoch die angestrebte Wirkung dieses von Goethe selbst so bezeichneten „mysteriösen Werkes“465 einigermaßen zu gewährleisten, empfahl er, den folgenden erläuternden Text „unter das minder gelehrte Publikum [zu] bringen: ‚Epimenides, einer Nymphe Sohn, auf der Insel Kreta geboren, hütete die väterlichen Herden. Einst verirrte er sich bei der Aufsuchung eines verlornen Schafs und kam in eine Höhle, wo er vom Schlaf überfallen wurde, der vierzig Jahre dauerte. Als er wieder aufwachte, fand er alles verändert; doch ward er wieder von den Seinigen anerkannt. Die Nachricht dieses Wunderschlafes verbreitete sich über ganz Griechenland, man hielt ihn für einen Liebling der Götter und verlangte von ihm Rat und Hülfe. … In der neuen Dichtung nimmt man an, daß die Götter den weisen und hilfreichen Mann zum zweitenmal einschlafen lassen, damit er eine große Unglücks-Periode nicht mit erlebe, zugleich aber auch die Gabe der Weissagung, die ihm bisher noch versagt gewesen, erlangen möge‘“466.

Neben die mythologisch überlieferte Rahmenhandlung um Epimenides stellte Goethe die ästhetisch distanzierte, allegorische Präsentation der politischen Gegenwart. In ideologischer Hinsicht wagte er sich damit auf ein gefährliches Terrain. Geriet er doch dadurch unweigerlich in die geistige Nähe zur provinziellen Deutschtümelei der patriotischen Zeitgenossen („So rissen wir uns ringsherum / Von fremden Ban463 464 465 466

So Gerhard Sauder (GH 2, S. 338). MA 9, S. 1159 (Kommentar der Herausgeber). WA I.16, S. 508. WA I.16, S. 508 und 509 (an Iffland am 15.6.1814).

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den los. / Nun sind wir Deutsche wiederum, / Nun sind wir wieder groß“, V. 955–958). Derartige, dem unguten Zeitgeist einer ‚blutigen Romantik‘467 geschuldete Töne waren ihm bislang fremd geblieben. Offensichtlich maß der Autor dem Friedensfestspiel besondere Bedeutung im Hinblick auf seine Stellung in der Öffentlichkeit zu. Während der napoleonischen Herrschaft war er gewiß nicht als Parteigänger der ‚Freiheitskrieger‘468 aufgefallen. Wichtiger als die politische und soziale Szenerie war es ihm, bedächtig Stein auf Stein am Gebäude seiner Werke zusammenzufügen. In dieser Absicht waren in den letzten Jahren nacheinander „Die Wahlverwandtschaften“ (1809), „Die Farbenlehre“ (1810), ein Schema für eine neue Ausgabe seiner Werke (1812), „Dichtung und Wahrheit“ (1811–1815) und eine ganze Reihe wichtiger Gedichte, insbesondere die „Sonette“ und Spruchsammlungen, entstanden. Im Verbund stellen sie den organischen Übergang zum Alterswerk dar. Von aktiver Teilnahme am vaterländischen Geschehen jener Jahre konnte jedenfalls bei ihm keineswegs die Rede sein. Goethe verspürte deshalb eine gewisse Schuld, die er nun abzutragen gedachte. Der Berliner Vorschlag kam ihm in dieser Situation wie gerufen. Konnte er doch so „dasselbige, was sich die Deutschen bisher so oft in dürrer Prosa vorgesagt, symbolisch … wiederholen, daß sie nämlich viele Jahre das Unerträgliche geduldet, sich sodann aber auf eine herrliche Weise von diesem Leiden befreyt“ haben469. Wie man sieht, steckt hinter dem Schlaf des Epimenides und dessen Erwachen unverkennbar die reumütige Absicht Goethes, den eigenen ‚Schlaf ‘ vor den Zeitgenossen richtungsweisend in eigenes Erwachen zu überführen. Daß dabei strategisches Einvernehmen mit Carl August wie überhaupt mit dem Zeitgeist mitschwingt, liegt auf der Hand. Sein reines Empfinden („Daß du rein empfinden kannst“, V. 866) hat er dabei nicht verraten, denn er legte den Akzent deutlich auf die nötige Vorbereitung der Befreiung im Sinne des Epimenides in der Zukunft: „Nun aber soll mein Blick entbrennen, / In fremde Zeiten auszuschaun. // Und nun soll Geist und Herz entbrennen, / Vergangnes fühlen, Zukunft schaun“ (V. 951–954). Goethe beläßt es also in seinem festlichen Friedensspiel beim „frommen Hoffen“ (V. 947) utopischer 467 Nur ein Beispiel: Theodor Körner schrieb 1813 das unsägliche „Schwertlied“, in dem es unter anderem heißt: „Du Schwert in meiner Linken, / Was soll dein heitres Blinken? / Schaust mich so freundlich an, / Hab’ meine Freude dran. / Hurra!“ (zit. n. dem Katalog des ‚Militärhistorischen Museums Dresden‘, „Blutige Romantik – 200 Jahre Befreiungskriege“. Dresden 2013). 468 Gemeint sind vor allem die fanatischen Agitatoren Ernst Moritz Arndt, der soeben erwähnte Theodor Körner, der ‚Turnvater‘ Friedrich Ludwig Jahn und leider auch der Philosoph Johann Gottlieb Fichte. 469 WA IV.25, S. 251 (an Knebel am 5.4.1815). Festspiel als Testfall neuer Dramaturgie: „Des Epimenides Erwachen“  157

Erwartung in Gestalt einer geläuterten Gesellschaft. Leider vermochte er mit seiner Friedensvision den konventionellen Gang der Geschichte in keiner Weise zu beeinflussen. Erste Schritte zur Ausführung des Geplanten ließen nicht lange auf sich warten. Schon mit der Zusage vom 20. Mai verband der herausgeforderte Autor den Hinweis: „In einigen Tagen soll der Entwurf abgehen, wird er gebilligt, so können Kleider, Decorationen, Instrumentalmusik, durchaus vorbereitet werden. Die Gesänge schickte ich zuerst, sodann den Dialog. Da alles was zu sprechen ist, unter viele Personen vertheilt wird, so macht sich keine Rolle stark, sie sind alle Tage zu lernen“470. Von Beginn an machte er sich eine klare Vorstellung davon, wie das Bühnengeschehen konkret ablaufen sollte. Ihm schwebte eine melodramatische Lösung mit Opern- oder Oratoriencharakter vor. Interessanterweise war er kurz zuvor mit der Wiederaufführung der „Proserpina“ beschäftigt gewesen, also voll in die praktische Theaterarbeit mit dem Einsatz sämtlicher Kunstmittel eingeübt. Eine ähnliche Erweiterung des Festspieltextes im Zusammenwirken der Künste sollte bei der Berliner Aufführung erfolgen. Das dortige Theater verfügte, anders als die bescheidene Weimarer Bühne, über die erforderlichen personellen Kräfte und ebenso über die nötige technische Apparatur. Nur vier Tage später wurde ein ausführlicher Entwurf zum geplanten Festspiel, „Programm“ überschrieben, nach Berlin abgeschickt471. Was der vorläufigen Orientierung Ifflands dienen sollte, war bereits eine ausführliche Inhaltsübersicht, gegliedert in vier als „Decorationen“ (d. h.: Bilder) bezeichnete Teile. Präzise Angaben zu den einzelnen Rollen, zu Bühnenbild, Choreographie, Kostümen und musikalischer Begleitung zeigen, wie klar dem Autor das fertige Stück schon zu diesem frühen Zeitpunkt vorschwebte. Eintragungen im Tagebuch belegen sodann eine kontinuierliche Ausarbeitung nach diesem Schema in der Zeit vom 25. Mai bis zum 15. Juni 1814. Wie sehr das die übrigen anstehenden Vorhaben beeinträchtigte, belegt die folgende Äußerung: „Ich bin diese Tage durch eine allzukühn übernommene Arbeit so festgehalten, daß ich mich nicht umsehen kann“472. Die gewaltsam betriebene Aktion wuchs sich für den bald 65jährigen Goethe zu einem anstrengenden Kraftakt aus. Immerhin konnte er im Rückblick konstatieren: „Ich beschäftigte mich nun, im wörtlichen Sinne, Tag und Nacht, mit der Arbeit, so daß sehr bald der größte Theil des Stückes, und zwar 470 WA IV.24, S. 284 (an Kirms am 20.5.1814). 471 Goethe lieferte nach Berlin eine detaillierte Beschreibung, wie er sich den Ablauf des Festspiels auf der Bühne vorstellte. Dieses „Programm“ ging bereits am 22.5.1814 aus Berka an Iffland ab: WA I.16, S. 494–506 (‚Aktenstücke zur Entstehung des Epimenides‘). 472 WA IV.24, S. 302 (an Johann Friedrich Heinrich Schlosser am 20.6.1814).

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alles lyrische, nach Berlin, durch Estafette, abgehen konnte“473. Die Anspannung all seiner Kräfte hatte sich ausgezahlt. Mitte Juni ging der fertige Text, ergänzt durch praktische Anweisungen, an Iffland ab. Der Berliner Intendant zeigte sich überaus zufrieden. In seinem Dankschreiben kündigte er Goethe die umgehende Ankunft des mit der Komposition zum Festspiel betrauten Berliner Kapellmeisters Bernhard Anselm Weber an. Der traf dann auch schon am 24. Juni in Begleitung des Verlegers Karl Friedrich Wilhelm Duncker in Berka ein. Goethe hatte nämlich den Vorschlag Ifflands aufgegriffen, den Festspieltext bei Duncker und Humblot in einer „schönen Quartausgabe“ und parallel einer „Ausgabe in Taschenformat“ gedruckt vorzulegen474. Mit Duncker wurden die Einzelheiten der Drucklegung vereinbart. Die Zusammenarbeit mit Weber verlief für beide Seiten mehr als zufriedenstellend. Goethe verstand sich gut mit dem in der Tradition Glucks stehenden Komponisten. Hauptsächlich sagte ihm die Möglichkeit stimmiger Kooperation mit dem als Musikdirektor ausgewiesenen Bühnenpraktiker zu. Hierbei ließen sich die von ihm gewünschten Differenzierungen zur Deklamation in gemeinsamer Entscheidung direkt vornehmen. Denn Goethe wollte beim Vortrag dieser Einheit von Dramentext und Libretto die verschiedenen Elemente – „reine Recitation ohne Accompagnement“, Rezitation mit „melodramatischer Behandlung“ und „Recitativ mit mehr oder weniger Begleitung“, also musikalisch begleiteten Sprechgesang – jeweils voneinander unterschieden sehen475. So konnte die musikalische Behandlung des Textes Wort für Wort, Note für Note von beiden Seiten her genau abgesprochen werden. Weber blieb noch bis zur Rückkehr Goethes Ende Juni in Weimar. Dann mußte das direkte Zusammenwirken abgeschlossen werden, weil der Dichter Mitte Juli eine seit langem geplante Reise ins Rhein-Main-Gebiet antreten wollte. Bereits am 7. und 12. Juli konnte das Manuskript an den Berliner Verlag abgeschickt werden. Mehrere Wochen hindurch hatte der Autor Schwerarbeit geleistet. Erleichtert schrieb er nun: „Mein Festspiel für Berlin ist, Gott sey Dank, fertig; es hat mir zuletzt die meiste Qual gemacht: denn bis so ein gebornes Kind getauft wird, ist der Umständlichkeiten kein Ende“476. Goethe konnte, als er das sagte, noch nicht wissen, welche weit größeren „Umständlichkeiten“ ihm noch bevorstanden. Denn aus dem schönen Vorhaben wurde zunächst gar nichts. Zwar fand die Berliner ‚Siegesfeier‘, wie vorgesehen, am 3. August statt, aber nicht mit Goethes Festspiel, sondern mit dem Drama „Asträas Heimkehr“ des vielbeschäftigten, aber eher unbedeutenden Berliner Theaterdichters Karl Alexander 473 474 475 476

WA I.16, S. 519 („Geschichtserzählung“). WA I.16, S. 511 („Actenstücke zu Epimenides“). Vgl. hierzu: WA I.16, S. 512. WA IV.24, S. 313 (an Knebel am 9.7.1814). Festspiel als Testfall neuer Dramaturgie: „Des Epimenides Erwachen“  159

Herklots. Intendant Iffland redete sich darauf hinaus, die Aufführung von „Des Epimenides Erwachen“ solle erst zum Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig oder nach Abschluß des Wiener Kongresses stattfinden. Er berief sich auf eine königliche „Cabinetts Order, … wornach, bey Höchst Ihro Rückkunft die zu veranstaltenden Festlichkeiten nichts enthalten sollten was sich auf die Zeitverhältnisse bezöge“477. Das gab Anlaß zu mancherlei Spekulationen. Zu allem Übel starb dann auch noch Iffland völlig unerwartet am 22. September. Von alledem wußte Goethe nichts Genaues. Er befand sich ja bis Oktober auf seiner Reise durch die „hochgesegneten Gebreiten“478 seiner engeren Heimat. Freilich war er über die „böse Verzögerung“479 verständlicherweise ziemlich ungehalten. In einem Epigramm, das dann in die „Zahmen Xenien“ aufgenommen wurde, machte er gleich im Herbst seinem Ärger Luft. Es lautet vielsagend: „Was haben wir nicht für Kränze gewunden! / Die Fürsten, sie sind nicht gekommen; / Die glücklichen Tage, die himmlischen Stunden / Wir haben voraus sie genommen. / So geht es wahrscheinlich mit meinem Bemühn, / Den lyrischen Siebensachen; / Epimenides, denk ich, wird in Berlin / Zu spät zu früh erwachen. / Ich war von reinem Gefühl durchdrungen; / Bald schein ich ein schmeichelnder Lober: / Ich habe der Deutschen Juni gesungen, / Das hält nicht bis in October“480. In gedanklicher Zuspitzung gibt Goethe hier selbstkritisch Aufschluß über seine verfehlte Gestaltung als „schmeichelnder Lober“ der bereits wieder unglaubwürdig gewordenen vorgeblichen ‚deutschen Befreiung‘ in der aktualisierenden Epimenides-Projektion. Schnell war ihm klar geworden, wie gut er beraten war, mit der poetischen Arbeit am „West-östlichen Divan“ die freie Bahn des orientalischen Geistesbruders Hafis eingeschlagen zu haben. Die epigrammatisch hervorgehobene politische Tendenz der zwölf gereimten Spruchverse bedeutete eine polemische Absage an chauvinistische Vereinnahmung für einen „Juni“-Enthusiasmus, welcher nicht einmal die wenigen Monate bis zum „October“ der Realität standhielt. Einmal mehr bestätigte sich ihm die in dem auf die Französische Revolution bezogenen Xenion „Der Zeitpunkt“ von 1796 festgeschriebene skeptische Einschätzung der Zeitlage: „Eine große Epoche hat das Jahrhundert geboren, / Aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht“481. Ungeachtet dessen las er im Winterhalbjahr 1814/15 im Kreis von Freunden und Bekannten Auszüge aus dem Festspiel vor. Da er darüber jeweils im Tagebuch 477 WA I.16, S. 523. 478 So seine Bezeichnung im Gedicht „Zu des Rheins gestreckten Hügeln“ (1817): WA I.4, S. 46. 479 WA IV.25, S. 28 (an Friedrich Wilhelm Riemer am 29.8.1814). 480 WA I.5.1, S. 148. 481 WA I.5.1, S. 209, Nr. 31.

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Notizen machte, verrät das ein fortbestehendes Interesse seinerseits. Auch die Arbeit mit dem Komponisten Weber wurde weitergeführt, weil dieser sich mehrfach wegen der Abänderung einzelner Arien an Goethe wandte. Außerdem ließ er noch im Jahr 1814 unter dem Titel „Vorwärts!“ einen gesonderten Druck des Chorlieds „Brüder, auf ! die Welt zu befreien!“ (V. 773 ff.482) sowohl in der Sammlung „Das erwachte Europa“ als auch im ‚Morgenblatt für gebildete Stände‘ erscheinen483. Wir sehen daran, daß er sich offenbar doch eine gewisse Öffentlichkeitswirkung von seinem dramatischen Versuch versprach. Wie Goethe vermutet hatte, erwachte aber Epimenides in der Tat „zu spät“, weil das Stück erst längere Zeit nach dem vorgesehenen Termin auf die Bühne kam. Dabei entwickelten sich die Berliner Probleme noch relativ günstig. Im Januar 1815 wurde als Nachfolger Ifflands der Goethe aus Weimar wohlbekannte Graf von Brühl ernannt. Der neue Generalintendant teilte ihm schon Anfang März mit, das Festspiel werde nun zum Jahrestag der Einnahme von Paris am 30. März aufgeführt. Einen zu diesem Zeitpunkt vorbereiteten Protestbrief, in dem Goethe den betrüblichen Verlauf der verhinderten Aufführung in allen Etappen schilderte, schickte dieser darum nicht ab, sondern legte ihn zu den Akten484. Dem Freund Knebel schrieb er: „So muß uns denn doch zuletzt etwas ernstlich Gesäetes und Gepflanztes unvermuthet entgegen keimen“485. Zu allem Unglück stand jedoch der nun festgelegte Uraufführungstermin ebenfalls unter keinem guten Stern. Denn mittlerweile hatte Napoleon Elba verlassen und erneut die Macht in Frankreich übernommen. Durch die nur hundert Tage dauernde Herrschaft waren die zeitgeschichtlichen Voraussetzungen des Festspiels über den Haufen geworfen. Goethe sprach deshalb mit Recht von einem „seltsamen Document einer so merkwürdigen Epoche“486. Rasch mußte der Text an einigen Stellen der gewandelten Situation angepaßt werden. Immerhin fand die Aufführung statt. Am zweiten Abend nahm sogar die Hofgesellschaft daran teil. Goethe hielt dazu befriedigt fest: „Epimenides ist am 30. März endlich in Berlin erwacht“487. Indes war es keineswegs bloß die unerwartete Rückkehr Napoleons, welche die Aufnahme und Wirkung der Berliner Aufführung negativ beeinflußte. Es war in 482 WA I.16, S. 372 f. (Siebenter Auftritt). 483 Das erwachte Europa, zweiter Band, fünftes Heft. Berlin 1814, S. 86/87; Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 275, 17.11.1814, S. 1099. Am 18.10.1814 wurde in der Berliner Singakademie in Anwesenheit des Hofes das auf Blücher, den ‚Marschall Vorwärts‘, bezogene Lied nach einer Melodie von Zelter gesungen (s. hierzu: WA I.16, S. 530). 484 Der Wortlaut des Briefes findet sich unter der Überschrift „Geschichtserzählung“ in WA I.16, S. 518–523. 485 WA IV.25, S. 252 (an Knebel am 5.4.1815). 486 WA IV.25, S. 278 (an Knebel am 22.4.1815). 487 WA IV.25, S. 251 (an Knebel am 5.4.1815). Festspiel als Testfall neuer Dramaturgie: „Des Epimenides Erwachen“  161

erster Linie die von Goethe gewählte Textlösung und deren dramaturgische Einkleidung, die mit ihrer allegorisch verschlüsselten Sprachform das Publikum eindeutig überforderte. Bloß drei Aufführungen waren das magere Resultat der Berliner Inszenierung. Bewußt hatte der Autor die mit Symbolik befrachtete Dramenkonstruktion gänzlich abgelöst von seiner bisherigen Praxis aufeinander bezogener Handlungsabläufe. Das von ihm verfolgte Ziel bestand darin, das Festspiel als theatralisches Symbolspiel auszugestalten, um so stimmige Objektivationen der Gesellschaftsmechanismen bildhaft einprägsam vermitteln zu können. Allerdings erschwerte die an sich vernünftige Absicht in diesem Fall das Verständnis, weil die nicht leicht zu durchschauende Kombination mythischer und zeitgeschichtlicher Begebenheiten sich entschieden hemmend auswirkte. Gleichsam entschuldigend richtete der Autor, der kühlen Aufnahme wegen, an Graf von Brühl die folgende Erklärung: „Man hat die höheren Forderungen der Poesie, die sich eigentlich auf dem Theater nur symbolisch oder allegorisch aussprechen können, der Tragödie und Comödie durchaus verkümmert, und alles was nur einigermaßen die Einbildungskraft in Anspruch nimmt, in die Oper verwiesen. … Diese Richtung, in welcher sich Autoren, Schauspieler, Publicum wechselweise bestärken, ist nicht zu ändern …; aber sie zu lenken und zu leiten geht doch an“488. Goethe wußte demnach sehr wohl, was er tat. Aber er vertraute dabei viel zu sehr auf die anspruchsvolle kommunikative Anforderung seines idealistischen Bildungsprogramms. Erst nach weiteren Enttäuschungen mit der eigenen Inszenierung in Weimar 1816 begann Goethe die Kluft zum Publikum und die eigene Isolation als Künstler wirklich zu sehen. In einem Brief an Zelter mußte er sich eingestehen: „Das Resultat das mir entgegentritt möchte ich so ausdrücken: Es gebricht im Ganzen an Einbildungskraft und Gefühl, und so muß bald einmal Übertreibung, bald Ermangelung eintreten“489. Exakt zum selben Ergebnis kam Knebel. Zur Ablehnung des Festspiels durch das Publikum bemerkte er gegenüber Charlotte Schiller: „Andere waren nicht so zufrieden … und dann fanden sie, dass manches in der Allegorie zu fein und daher zu unbestimmt für den anschauenden Sinn sei“490. Beide Äußerungen benennen den problematischen Kern der Gestaltung zwischen antiker Mythologie, christlicher Symbolik (Glaube, Liebe, Hoffnung) einerseits und Zeitgeschichte andererseits wie dann auch noch in der Gestaltung zwischen Deklamation und Gesang. Aus dieser inszenierten Mischung vielfältiger Erinnerungen mit futurischen Erwartungen ergibt sich zwangsläufig eine undurchsichtige Kommunikationsstruktur. Der beabsichtigte zündende Funke nationaler, befreiender Wiedergeburt und zwischenmenschlicher 488 WA IV.25, S. 292 (an Brühl am 1.5.1815). 489 WA IV.26, S. 13 (an Zelter am 16.6.1815). 490 Knebel an Charlotte Schiller am 16.2.1816.

162  Formexperimente

Harmonie konnte darum nicht auf das Parkett überspringen. Der eigentliche Zweck der Aufführung war damit von vornherein verfehlt. Schuld daran ist ebenso die Art, wie mit diesem Symboldrama der Anspruch der Bewußtseinsdramaturgie geradezu gewaltsam um die beabsichtigte Wirkung gebracht wird. Eine Regiebemerkung in der Schlußszene des ersten Aufzugs (I,15), zwischen dem Dämon der Unterdrückung und der Hoffnung, belegt das schlagend. Sie beschreibt die Situation des von der Hoffnung beeindruckten Dämons folgendermaßen: „Er wehrt sich gegen die von der Einbildungskraft ihm vorgespiegelte Vision, weicht ihr aus, wähnt in die Enge getrieben zu sein, ist ganz nahe zu knien. Die Hoffnung nimmt ihre ruhige Stellung wieder an. Er ermannt sich“491. Was der Beschreibung pantomimischer Ausführung dienen soll, wird hier nicht etwa im Wortlaut des dramatischen Textes faßbar, obwohl es entscheidend wäre, gerade diesen Schwachpunkt des Dämons, der ihn bis zu einem gewissen Grad seiner Selbstsicherheit beraubt, genau anzusprechen. Noch wichtiger wäre dabei das positive Herausstellen der Hoffnung. An dieser Stelle verdeckt das Symbolische das Konkrete der Handlung vollständig. Das Publikum kann mit einem Text, der Entscheidendes in Bühnenanweisungen verlagert, unmöglich auf seine Kosten kommen. Sosehr es einleuchtet, daß Goethe hier die Annäherung an die Zeitgenossenschaft suchte, sosehr rächte es sich auch, daß er dabei thematisch einen Weg beschritt, welcher den von ihm eingeschlagenen Denkbahnen nicht in allen Punkten entsprach. Manches im Text steht außerhalb seiner sonst konsequent verfolgten geistigen Ausrichtung. An nicht wenigen Stellen, besonders am Schluß, wird zudem überdeutlich erkennbar, in wie starkem Maß es sich um eine patriotisch huldigende Auftragsarbeit handelt. Daraus ergaben sich Probleme, die in vollem Umfang zu lösen der Autor offensichtlich nicht in der Lage war. Man kann der kritischen Anmerkung Christoph Siegrists nur beipflichten, der zu der einschränkenden Bewertung kommt: „Erst in den Kontext des Spätwerks gestellt, gewinnt es [das Festspiel] – als Lesedrama – seine Relevanz“492. Verstanden als Probelauf des hier angewandten dramaturgischen Verfahrens für wesentliche Gestaltungselemente der ein Jahrzehnt später wieder aufgenommenen Arbeit an der Faust-Dichtung, gewinnt das Festspiel in formaler Hinsicht weit mehr Gewicht, als ihm vom Text her zukommt. Im Miteinander von Dichtung, Musik, Choreographie, Bauten und Kostümen sah Goethe in beiden Fällen die angemessene formale Struktur für die Vermittlung der ihm wichtigen Symbolik. Nur so glaubte er sein Festspiel des Friedens und die demonstrative Darstellung einer 491 WA I.16, S. 361. 492 Siegrist, Christoph: Dramatische Gelegenheitsdichtungen: Maskenzüge, Prologe, Festspiele. In: Hinderer, S. 226–245 (Zitat: S. 239). Vgl. hierzu auch: ders.: Kommentar in MA 9, S. 1159–1180. Festspiel als Testfall neuer Dramaturgie: „Des Epimenides Erwachen“  163

harmonischen Gesellschaftsutopie weitergeben zu können. Die damit verbundene Entscheidung für den Weg fortschreitenden Symbolisierens sollte die bildende Kraft des Textes steigern und damit das Publikum aktivieren. Jedenfalls bekundete der Autor im Vorspruch des Festspiels mit Nachdruck die Absicht, so zu wirken: „Durch Mitverdienst gemeinsamen Erregens, / Gesang und Rede, sinnigen Bewegens“493. Allerdings ließ dieser kommunikative Effekt bei den Aufführungen entschieden auf sich warten. Zutreffend hat Emil Staiger diesen Sachverhalt angesprochen, indem er festhielt: „Nie schloß der Gürtel der Einsamkeit sich enger um Goethes Leben und Schaffen als eben in dieser Stunde, in der er als Sprecher der Nation auftrat“494. Doch wie stellt sich die konkrete dramatische und dramaturgische Lösung inhaltlich und formal dar? Der Aufbau des allegorischen Festspiels wird klar gegliedert in zwei Eingangsstanzen als Prolog und zwei ungleich lange Aufzüge, deren erster fünfzehn und deren zweiter zehn Auftritte oder Szenen umfaßt495. Dementsprechend übersichtlich ist die Figurenkonstellation gehalten. Außer Epimenides treten zwei allegorische Dreiergruppen vorrangig in Erscheinung: die destruktive der Dämonen des Krieges, der List und der Unterdrückung, sodann die produktive Gruppierung der paulinischen Tugenden in Gestalt von Liebe, Glaube und Hoffnung. Hinzu kommen außerdem die Muse, der die Völker zusammenführende Jugendfürst, die Einigkeit als vierte Tugend sowie die Genien und Chöre. Schon aus dieser Rollenverteilung geht der übermäßige Symbolgestus des Festspiels eindeutig hervor. Epimenides ist der Weise, der das Glück hat, die schlimmen „Zeiten … so fieberhaft“ (S. 339) verschlafen zu dürfen und zudem Einsicht zu gewinnen in die Ordnung des Lebens und in den Sinn der abgelaufenen Geschichte. Das befähigt den gereift wieder Erwachenden zu produktivem Umgang mit dem Künftigen. In dieser Hinsicht entspricht der Text in vollem Umfang der politischen Leitidee Goethes, welche im Frieden die unerläßliche Voraussetzung für jegliche produktive Entwicklung in der Gesellschaft sah. Durchgängig ist das Textensemble in Deklamation und Gesänge aufgeteilt. Goethe unterscheidet hierbei „reine Recitation und Declamation“ einerseits und „melodramatische rezitativische oder melodische Behandlung“ andererseits496. Da auch noch außergesangliche, rein vertonte Partien als Zwischenmusik hinzukommen, verbinden sich Sprache, Gesang, Tanz, Pantomime und Musik zu einem wirklichen

493 WA I.16, S. 332; V. 15/16. 494 Staiger, Bd. II, S. 528. 495 Prolog (WA I.16, S. 331/332), Erster Aufzug (WA I.16, S. 335–361), Zweiter Aufzug (WA I.16, S. 362–381). 496 WA I.16, S. 520.

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Gesamtkunstwerk497. Dies um so mehr, als der Theatermann Goethe zudem der Bühnenausstattung, den Kulissen und Kostümen, seine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Vier symbolische Dekorationselemente geben Aufschluß über den stationsartigen Ablauf in den relativ kurzen fünfundzwanzig Auftritten. Die „erste Decoration“ (I,1–3) – „Ein prächtiger Säulenhof; im Grunde ein tempelähnliches Wohngebäude“ (S. 325 und 494) – umrahmt, atmosphärisch stimmig, die nacheinander erfolgenden Auftritte der Muse, des Epimenides und der Genien. Sie stehen für Ordnung, Ruhe und Frieden. Nach diesem programmatisch-humanen Auftakt kündigt ein „ferner Donner“ (S. 340) am Ende des dritten Auftritts indes den unausweichlichen Umschlag zu Betrug, Krieg und Zerstörung an. Ein Heereszug (I,4 und I,6), die Dämonen des Kriegs (I,5), der Zwietracht und der List (I,6–I,9) tun das Ihre, um die Harmonie des Friedens systematisch in allseitige Destruktion zu überführen. Am Ende „bricht alles zusammen“ (S. 349). Folgerichtig ist die „zweyte Decoration“ eine „Ruine“ (S. 498 f.). In diesem düsteren Reich dominiert der Dämon der Unterdrückung (I,10–12). Im Scheingrün der „dritten Decoration“ (I,13–II,7; „Efeu übergrünt … die Ruine“; S. 500) entfaltet er seine Macht zu despotischer Sklaverei und allgemeiner, entartender Deformation. Dadurch sehen sich Liebe (I,13) und Glaube (I,14) vorübergehend entmachtet. Selbst die hinzutretende Hoffnung (I,15) kann sich zunächst nicht durchsetzen. Immerhin erreicht sie, daß der Dämon der Unterdrückung sich zurückzieht. Als „der Vorhang fällt“, ist auch die Hoffnung zunächst „nicht mehr zu sehen“ (S. 361). Damit endet der erste Aufzug im Ungewissen. Der zweite Aufzug hebt in gleicher Negativität an. Liebe und Glaube werden sogar in Verzweiflung getrieben (II,1). In dieser schlimmen Situation will die doch wiederum auftretende Hoffnung (II,2) neues Vertrauen herbeiführen. Diese Szene betrachtete Goethe als die „Achse“ des Dramas498. Im Verein mit den herbeieilenden Genien finden Liebe, Glaube und Hoffnung zu neuem Bewußtsein ihrer Kraft (II,3 und 4). Danach kann ein „unsichtbarer Chor“ (II,5) die gezielt angestrebte „Wiederaufrichtung“ (S. 504) beschwören. Damit ist die Voraussetzung geschaffen zum Wiedererwachen des Epimenides. Zwar sieht er zunächst nur einen üblen „Traum von Ängstlichkeiten“ (S. 369) um sich (II,6). Er wird jedoch von den Genien und dem unsichtbaren Chor auf das baldige Ende der bösen Zeit durch die befreiende Tat vorbereitet. Dieser Veränderung entspricht die „vierte Decoration“ (II,8–10). Sie versinnbildlicht die wiedergewonnene Einheit von Natur und Kultur, ein Vorgang, den der Autor mit der Bühnenanweisung erläutert: „Indessen sind die Ruinen wieder aufgerichtet. Ein 497 Tina Hartmann hat die Bedeutung der Vertonung des Dramas genauer untersucht (Hartmann, S. 432–439). 498 WA IV.25, S. 268 (an Zelter am 17.4.1815). Festspiel als Testfall neuer Dramaturgie: „Des Epimenides Erwachen“  165

Theil der Vegetation bleibt und ziert“ (S. 375). Der destruktiven Bewegung von Unterdrückung, Betrug, Zerstörung, Gewalt, Krieg, Verfall und Finsternis setzen die produktiven Mächte der Wiedergeburt Licht, Vereinigung, Harmonie und Frieden entgegen (II,7–10). Sie ermöglichen im Verein mit den Chor, „welcher die verschiedenen zu diesem Kriege verbündeten Völker bezeichnet“ (S. 372), den Aufstand der Unterdrückten zur Selbstbefreiung. Das führt zu der aus historischem Abstand eher grotesk wirkenden, pathetisch überdrehten Bemerkung des Epimenides: „Und wir sind alle neugeboren, / Das große Sehnen ist gestillt, / Bei Friedrichs Asche war’s geschworen / Und ist auf ewig nun erfüllt“ (II,10; S. 379). Mit der Realgeschichte ist derlei keineswegs zu vereinbaren. Das war der hohe Preis, den der Autor für seine Bereitschaft zur Abfassung dieser ausgesprochenen Gelegenheitsdichtung entrichten mußte. Ein inhärenter Widerspruch durchzieht das Drama insgesamt, weil im vermeintlich Neuen eben entschieden das üble Alte der damaligen deutschen Restaurations-Wirklichkeit steckt. Entschieden leidet das Ganze unter dem unglücklichen Schwanken zwischen dem mit „nationalem Impetus“499 vertretenen konkreten Anlaß der Befreiung vom napoleonischen Joch und der utopisch-zeitlosen Grundüberzeugung von Goethes weltanschaulicher Position einer notwendigen gesellschaftlichen Metamorphose in friedlichem Miteinander. Gleich eingangs zeigt das von der Muse beschworene „Glanzbild“ der Freiheit diese problematische Seite der gesamten Dramenkonstruktion, die zu fatalen textimmanenten Brüchen führt. Denn die von der Muse behauptete Veränderung („Und rings umher ist keine Spur des Alten“, V. 8) entspricht der mit dem Drama gefeierten restaurativen Wirklichkeit nach dem Sieg über Napoleon in keiner Weise. Wenn etwa die Hoffnung emphatisch, dazu noch durch Versbrechung unterstützt, dreifach und laut die Freiheit beschwört („Mit Überzeugung laut: ‚Freiheit!‘ – Gemäßigter: ‚Freiheit!‘ – Von allen Enden Echo: ‚Freiheit!‘“; S. 367), so zeigt sich daran eine in absolutem Widerspruch zur Wirklichkeit stehende leere Rhetorik. Insbesondere wirkt die Schlußszene (II,10) insgesamt gewaltsam konstruiert und darum unglaubwürdig. Sie gerät zur bloßen Phrase, die vor dem historischen Hintergrund wie eine unfreiwillige Groteske wirken muß. Goethe scheiterte, so gesehen, an dem Drahtseilakt, Zeitgeschichte mit seinem eigenen Kunstprogramm zur Deckung bringen zu wollen. Was so deutlich vom Ende her offenbar wird, gilt für das fehlgeratene ‚Festspiel‘ insgesamt. Der ausholende Formenaufwand Goethes von den einleitenden Stanzen über die sich anschließenden Blankverspartien bis zu den gereimten Kurzstrophen, meist jambischen Vierzeilern, kann nicht verhindern, daß die elaborierte Wort- und Klanginszenierung weithin hohl wirkt. Der von der realgeschichtlichen Zeitenwende 499 Hartmann, S. 431.

166  Formexperimente

wenig angetane Autor konnte eben nicht gegen seine innere Überzeugung anschreiben. Was eigentlich Bekenntnis sein sollte, geriet stellenweise eher zur unfreiwilligen Parodie. Das Festspiel um Epimenides ist im Gesamtwerk ein ausgesprochener Grenzfall, der uns viel verrät über den Grad von Goethes Isolation. Mit seiner verfremdenden Symbolik verfehlte er gänzlich die beabsichtigte Kommunikation, weil sein Zukunftsdenken einer Harmonie galt, die nichts zu tun hatte mit den Zielsetzungen der demagogischen Patrioten. Wenig später, im Oktober 1817, äußerte er dann direkt seine Ablehnung der ausgerechnet auf der nahen Wartburg versammelten Burschenschaftler und damit der nationalistischen Tendenzen. Sein Suchen nach dem Zeiterlebnis konnte von der ihm eigenen abgehobenen Position her nicht aufgehen. Deswegen hielt er sich in der Folge an die geistige Vorwegnahme der im Augenblick aufblitzenden Dauer und damit letzten Endes an den Anspruch des Ewigen. Wenn nach alledem eher vom Scheitern des Epimenides-Projekts gesprochen werden muß, läßt sich im Hinblick auf die Dramaturgie des symbolischen Dramas immerhin positiv vermerken, daß der Autor sich konsequent um neue symbolische Ausdrucksformen bemüht hat. Man muß diesem Experiment sogar für die Werkentwicklung in zweierlei Hinsicht ein besonderes Gewicht bescheinigen. Einerseits wurde hier inhaltlich das Prinzip der Metamorphose, bekanntlich ein Zentralbegriff von Goethes Morphologie, auf den Ablauf der zwischenmenschlichen Beziehungen und der geschichtlichen Bewegung übertragen und dadurch prinzipiell als produktives Element der Steigerung des sozialen Zusammenlebens vorgeführt. Das Miteinander der verschiedenen dramaturgischen Techniken erlaubte es, jenen vielschichtigen Zusammenhang von den einzelnen Komponenten her einleuchtend vorzuführen. Allein schon ein Blick auf das Verzeichnis der auftretenden Personen macht das deutlich. Nimmt man die Verteilung auf Soli und Chöre wie überhaupt die Stimmverteilung hinzu, verstärkt sich dieser Eindruck noch mehr. Goethes utopisches Geschichtsmodell bricht sich leider gänzlich an der historisch gegebenen Realität. Andererseits fand er über seine Evokation des Friedens eine für seine weitere Arbeit als Dramatiker wegweisende Synthese zwischen Mythos und Zeitgeschichte. Sicher war es diese Verbindung, die in ihren formalen Konsequenzen dazu führte, eine Formstruktur zu finden, die dann in der gemischten Versifikation und Dramaturgie des zweiten „Faust“-Teils, insbesondere in der „Mummenschanz“ und im Helena-Akt, ihre stimmige Anwendung und künstlerische Vollendung gefunden hat. Insofern kommt der dem Stück vorangestellte hohe Anspruch künstlerischer Wirksamkeit – „Der Dichter sucht das Schicksal zu entbinden, / Das, wogenhaft und schrecklich ungestaltet, / Nicht Maß, noch Ziel, noch Richte weiß zu finden / Und brausend webt, zerstört und knirschend waltet“ (S. 332) – zwar nicht im angestrebten sozialen Rezeptionsrahmen zur Wirkung, aber doch wenigstens im ästhetischen Modell der Festspiel-Dramaturgie zu einer vorwegnehmenden Verwirklichung. Mit den mageFestspiel als Testfall neuer Dramaturgie: „Des Epimenides Erwachen“  167

ren ‚Pfunden‘ des opernhaften Melodramas konnte der Schöpfer einer universellen Theaterform dann im zweiten Teil der Faustdichtung souverän ‚wuchern‘.

Auswertung Im Grunde geben die drei gewählten Beispielfälle allesamt eine für Goethes dramaturgische Entwicklung mit zunehmendem Alter charakteristische Nähe zur Opernästhetik zu erkennen. Das ist insofern interessant, als ihm dabei ersichtlich eine Ausdruckssymbiose von Drama und Musik vorschwebte, die weit hinausging über die in den Schauspielen mit eingefügtem Gesang und in den Singspielen praktizierte lediglich begleitende, mehr untergeordnete Funktion der Musik. Demgegenüber wollte er nunmehr das antimimetische Spiel der Klänge als universales Ausdrucksmittel voll nutzen. Diese Entwicklung erklärt sich aus der von ihm eingeschlagenen generalisierenden Tendenz zum Typischen und Symbolischen eines zeit- und raumübergreifenden Universaltheaters. Die Annäherung an die Oper mit „Egmont“, die der Deklamation und der Pantomime unterstützend zugeordnete musikalische Begleitung im Monodrama „Proserpina“ sowie die aus der Festspieltradition erwachsende, gestalterisch wichtige Rolle der Musik in „Des Epimenides Erwachen“ beruhen jeweils auf einer dramaturgisch-wirkungsstrategisch funktionalisierten Rolle der Musik als einer die Handlungsaspekte zusätzlich stützenden Kommunikationshilfe. Selbstverständlich bleibt die Einbeziehung des Musiktheaters allemal strikt auf den alles bestimmenden Dramentext bezogen. Es wäre grundfalsch, diese Dramen etwa als Libretti aufzufassen. Von verschiedenen Ansätzen her zeigen uns die drei Beispiele indes übereinstimmend einen Autor „auf dem Weg zum Universaltheater“500. Großen Wert legte Goethe hierbei auf die gleichwertige Integration der Musik in die breit gestreute dramatisch-theatralische Ausdrucksskala. Unverkennbar erscheinen diese zusätzlichen dramaturgischen Erfahrungen, vom Werkverlauf her betrachtet, als gestalterische Vorstufen für bestimmte Stationen seines universalen Welttheaters in der Faustdichtung. Hauptsächlich bei den allegorischen Ausdruckselementen erweist sich die den Text gleichsam mitdenkende und mitgestaltende Komposition als sinn­ akzentuierende Stütze und somit als Vehikel der vom Autor beabsichtigten Konzentration des Bewußtseins auf eine die bestehenden Verhältnisse transzendierende Gegenwelt. Sie stellt einen wesentlichen Beitrag zur Ausgestaltung eines offenen, kommunikationsfördernden und zugleich herausfordernden dramatischen Diskurses dar.

500 Hartmann, S. 407.

168  Formexperimente

VOM „ U R FAU ST “ ZU „FAU ST  I I “  – EI N D RAMATU RG I SC H E R DU RC H L AU F „Urfaust“ – ein Torso als Muster der Sturm-und-Drang-Dramaturgie In der Faustdichtung Goethes spiegeln sich alle Facetten seines dramatischen Schaffens. Für den lebenslangen Arbeitsprozeß gilt die Bemerkung des „Faust“-Kommentators Ulrich Gaier: „Die Arbeitsphasen, in denen Goethe am ‚Faust‘ geschrieben hat, sind nicht als bloße Fortsetzungen der früheren Arbeit zu sehen, sondern als Phasen jeweils neuer Konzeption des Dramas“501. Der Weg vom „Urfaust“ bis zu dem Punkt, an welchem der Autor schreiben konnte: „das Ganze liegt vor mir, und ich habe nur noch Kleinigkeiten zu berichtigen; so siegle ich’s ein“502, gestaltete sich als ein wiederholt, teilweise sogar über längere Zeit unterbrochenes, jedoch immer wieder aufgenommenes Ringen mit dem komplexen Thema. Dabei änderten sich nicht bloß Dimensionen und Akzentuierungen des Stoffes und des Dramenpersonals, sondern vor allem der gestalterische Zugriff. Der Autor hat den Verlauf der Veränderungen vom Ende her selbst präzise zusammengefaßt mit der klärenden Bemerkung: „Die Behandlung mußte aus dem Spezifischen mehr in das Generische gehen; denn Spezifikation und Varietät gehören der Jugend an“503. Durchgängig verfolgte er also die Absicht, den sich fortwährend weiter gestaltenden Stoffkomplex vom Individuell-Spezifischen zum Allgemeinen und Ideellen hin auszuweiten. Aus den konkreten Anfängen der Konfiguration um Faust mit Mephisto (Teufelspakt) und Gretchen (Liebesgeschichte) entwickelte sich allmählich eine räumlich und zeitlich zunehmend ausgedehnte, zugleich immer mehr vertiefte Symbolik, so daß aus der Faustgestalt der überlieferten Faustsage („Historia vnd Geschicht Doctor Johannis Fausti des Zauberers“, 1572) der faustische Mensch als Sinnbild des Menschen schlechthin wurde. Der lange Weg der Faustdichtung Goethes über sechzig Jahre hin zielt konsequent auf Emanzipation, Progressivität, Erweiterung des Bewußtseins und Selbstgestaltung. Dadurch wurde sie zur Parabel des neuzeitlichen Menschen, ja zum „großen, symbolischen Menschheitsdrama“504.

501 Gaier, Ulrich: Goethes Faust-Dichtungen. Ein Kommentar. Bd.  1: Urfaust. Stuttgart 1989, S. 7. 502 Fehlt in WA; zit. n.: Gräf, II.2, S. 586 (an Johann Heinrich Meyer am 20.7.1831). 503 Biedermann, IV, S. 414 (zu Friedrich Wilhelm Riemer, etwa 1831). 504 So die Formulierung von Edith Zehm (MA 3.1, S. 987). „Urfaust“ – ein Torso als Muster der Sturm-und-Drang-Dramaturgie  169

Die Faustforschung hat sich darauf geeinigt, einen Entstehungsprozeß von vier Phasen anzusetzen: um 1770–1775 („Urfaust“), 1788–1790 („Faust. Ein Fragment“), 1797–1806 („Faust. Der Tragödie erster Teil“) sowie vor allem 1825–1831 („Faust. Der Tragödie zweiter Teil“). Zu Lebzeiten Goethes gab es gedruckt allein die ‚Fragment‘-Fassung (1790) und die Fassung von „Faust I“ („Faust. Eine Tragödie“, 1808) sowie Drucke des dritten Akts („Helena, klassisch-romantische Phantasmagorie. Zwischenspiel zu Faust“, 1827) und der Szenen am Kaiserhof aus dem ersten Akt von „Faust II“ (1828). Entgegen dem Wunsch des Autors veröffentlichten Eckermann und Riemer den Gesamttext des zweiten Faustteils noch im Todesjahr 1832 im ersten Band der „Nachgelassenen Schriften“. Vom „Urfaust“ existierte lediglich die 1887 von Erich Schmidt entdeckte und sogleich veröffentlichte Abschrift der Weimarer Hofdame Luise von Göchhausen aus den Jahren 1776 oder 1777 („Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt nach der Göchhausenschen Abschrift“)505. Diese früheste Textfassung enthält jedenfalls den großen Teil der bis zu diesem Zeitpunkt fertigen Szenen, wie sie Goethe der Weimarer Hofgesellschaft vorgetragen hat. Man bezeichnet diese genialische Textstufe im Zeichen des Sturms und Drangs auch als ‚Frankfurter Faust‘, weil Goethe sie dort vor allem ausgearbeitet hat506. Doch belassen wir es bei der Benennung „Urfaust“, denn so hat sie sich eben eingebürgert. Die Anfänge der Arbeit am „Urfaust“-Text reichen mindestens in die Jahre 1769/70 zurück. Auch in Straßburg ging Goethe das Projekt ständig durch den Kopf. Im 10. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ berichtet er, wie er sich dort bei den ersten Begegnungen mit Herder scheute, von seinen literarischen Plänen zu sprechen. Er schreibt dazu: „Am sorgfältigsten verbarg ich ihm das Interesse an gewissen Gegenständen, die sich bei mir eingewurzelt hatten und sich nach und nach zu poetischen Gestalten ausbilden wollten. Es war Götz von Berlichingen und Faust. … Die bedeutende Puppenspielfabel507… klang und summte 505 Ein Streit über Für und Wider der Bezeichnung „in ursprünglicher Gestalt“ ist müßig, weil die Vorschläge anderer Textlösungen allesamt zu nichts geführt haben. Seien wir froh, wenigstens diesen Beleg zu haben. 506 Im Rückblick betonte Goethe: „Der ‚Faust‘ entstand mit meinem ‚Werther‘; ich brachte ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar. Ich hatte ihn auf Postpapier geschrieben und nichts daran gestrichen; denn ich hütete mich, eine Zeile niederzuschreiben, die nicht gut war und die nicht bestehen konnte“ (MA 19, S. 282; zu Eckermann am 10.2.1829). Leider ist das von ihm erwähnte Manuskript nicht überliefert. Vermutlich hat er es selbst vernichtet, nachdem die Fassung von 1808 („Faust. Der Tragödie erster Teil“) gedruckt vorlag. 507 Goethes erste Bekanntschaft mit dem Faustthema geht wohl auf eine der zahlreichen Puppenspielfassungen zurück. Für das Jahr 1746 ist die älteste datierbare Aufführung des Faustdramas als Puppenspiel in Hamburg nachgewiesen (vgl. hierzu: Faust. Ein deutscher Mann. Lesebuch von Klaus Völker. Berlin 1975, S. 47).

170  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

gar vieltönig in mir wieder“508. Auch im Zusammenhang seiner Darlegungen zum Lustspiel „Die Mitschuldigen“ erwähnt er eine gewisse thematische Verbindung mit dem „Urfaust“ durch den interessanten Hinweis: „Allein mich hatte eine tiefe, bedeutende, drangvolle Welt schon früher angesprochen. Bei meiner Geschichte mit Gretchen509 und an den Folgen derselben hatte ich zeitig in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit welchen die bürgerliche Societät unterminirt ist“510. Die hauptsächliche Arbeit erfolgte dann in den Frankfurter Jahren 1773–1775. Zeugnisse von Freunden (Boie, Gotter, Knebel, Merck) belegen den fortgeschrittenen, in Wahrheit aber nur halbfertigen Charakter der Textgestalt in der Frühstufe. Der Handlungsverlauf gibt hier noch auffällige Lücken zu erkennen. Daß der „Urfaust“ ein Fragment, ein Torso ist, steht außer Zweifel. Immerhin gibt der Zusammenhang der vorhandenen Szenen eine klare Konzeption des Handlungsgerüsts zu erkennen. In den Teilen der Gelehrtentragödie folgte Goethe weithin der Überlieferung. Selbständig fügte er die Universitätssatire und die breit ausgeführte Gretchentragödie511 hinzu und hielt sich dabei zum Teil an eigene Erfahrungen während der Leipziger und Straßburger Studentenzeit sowie, für die Gretchentragödie, an seine genaue Kenntnis der Prozeßakten über die 1772 in Frankfurt hingerichtete Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt. Zum Zeitbild des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit im 16. Jahrhundert kommen mithin ergänzend aktuelle Erlebnisse des 18. Jahrhunderts. Moderne „Neuwertung der Sinne und der Sinnlichkeit“ (Werner Keller512) stößt sich hierbei an den erstarrten, im Grunde weithin noch spätmittelalterlich bestimmten Gesellschaftskonventionen. Goethe hat diese kühn-dämonische Konstruktion unter Berücksichtigung der eingesetzten verschiedenen Sprachebenen szenisch-ausschnitthaft und wirklichkeitsgetreu ausgestaltet. Mit guten Gründen betonte Erich Trunz: „Fast mehr als im Gehalt unterscheidet sich der ‚Urfaust‘ in der Form von dem fertigen Werk. Wichtige Szenen, die später in Versen erscheinen, haben hier eine kräftige, leidenschaftliche Prosa. Die Sprache hat den Stil des Sturm und Drang; alles, was ausdruckskräftig, charakteristisch, lebendig wirkt, ist ihr recht. Deswegen greift sie zu Neubildungen, mehr noch zu Umgangssprachlichem und Mundartlichem“513. So zu verfahren deckt sich mit der am Realen orientierten Grundkonzeption der „Urfaust“-Stufe.

508 509 510 511 512 513

WA I.27, S. 320 f. Gemeint ist hier das Frankfurter Gretchen, des jungen Goethe erste Liebe. WA I.27, S. 113. 17 der 21 Szenen des „Urfaust“ thematisieren die Gretchentragödie. Zit. n.: Keller II, S. 642 (Nachwort). Trunz, Erich: HA 3, S. 639. „Urfaust“ – ein Torso als Muster der Sturm-und-Drang-Dramaturgie  171

Die fetzenhaft angelegte Szenerie der Frühfassung fand im Dezember 1774 den besonderen Beifall des Freundes Karl Ludwig von Knebel („ganz ausnehmend herrliche Scenen“514) und bald danach ebenso den von Johann Heinrich Merck („ein Werk, das mit der Größten Treue der Natur abgestohlen ist“515). Gleich zu Beginn der Freundschaft mit Goethe erbat sich dann Schiller in den späten neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts mit spürbarem Interesse Einblick in den ursprünglichen Text. Welchen Wert er darauf legte, zeigt der folgende Auszug aus seinem Brief: „Aber mit nicht weniger Verlangen würde ich die Bruchstücke von Ihrem Faust, die noch nicht gedruckt sind, lesen; denn ich gestehe Ihnen, daß mir das, was ich von dem Stück gelesen516, der Torso des Herkules ist. Es herrscht in diesen Szenen eine Kraft und eine Fülle des Genies, die den ersten Meister unverkennbar zeigt“517. Goethe scheute sich jedoch, zu diesem Zeitpunkt „das Packet aufzuschnüren“518. Schillers dramaturgisches Interesse blieb zunächst unbefriedigt. Er ließ sich jedoch dadurch nicht entmutigen. Vielmehr trug er in der Folge sehr viel dazu bei, daß Goethe dann doch die Weiterarbeit am Faustdrama wieder aufnahm. Die für die Mehrzahl der Zeitgenossen und auch noch längere Zeit danach ungewohnte dramaturgische Lösung wurde, wie bereits erwähnt, fast zwei Jahrhunderte später von Bertolt Brecht treffend charakterisiert als „hingeworfen in einer wunderbaren Skizzenform“. Der Nachfahre begründete die von ihm 1952/53 am Berliner Ensemble initiierte Aufführung der „Urform“ in der Regie von Egon Monk mit dem Hinweis: „Es ist dem Theater leichter gemacht als beim fertigen Werk, der Einschüchterung durch die Klassizität sich zu erwehren und sich die Frische, den Entdeckersinn, die Lust am Neuen des erstaunlichen Textes anzueignen“. Brecht ist voll des Lobes für diesen frühen, noch ‚unfertigen‘, aber sehr direkten, realitätsnahen, rebellischen Text Goethes. Ausführlich bringt er seine Begeisterung wie folgt zum Ausdruck: „Diese Fabel, welch ein Wurf ! Der Einfall allein, den hochaktuellen Stoff von der Kindesmörderin mit dem alten ‚Puppenspiel vom Dr. Faustus‘ zu verknüpfen! Diese Sprache: der Hans-Sachs-Vers grobianischer Prägung, gepaart mit der neuen, humanistischen Prosa! Diese Gestalten! Sie waren Volksgestalten gewesen und wurden wieder Volksgestalten! Welche Grundidee: die Tragödie des Gretchens als eine 514 Gräf, II.2, S. 16. 515 Brief Mercks vom 19.1.1776 an Friedrich Nicolai (zit. n.: MA 1.2, S. 749). 516 Schiller nimmt hier wohl Bezug auf die 1790 gedruckte Ausgabe von „Faust. Ein Fragment“. 517 SNA 27, S. 95 (Schiller an Goethe am 29.11.1794). 518 WA IV.10, S. 209 (an Schiller am 2.12.1794). Goethe begründete die Ablehnung wie folgt: „Ich könnte nicht abschreiben ohne auszuarbeiten, und dazu fühle ich mir keinen Mut. Kann mich künftig etwas dazu vermögen, so ist es gewiß Ihre Teilnahme“.

172  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Episode bei der Vermenschlichung und Höherentwicklung des Individuums Faust! … Die Liebesgeschichte ist die kühnste und tiefste der deutschen Dramatik“. Man begreift danach, warum Brecht der Frühfassung „ein durchaus eigenes Leben“ zusprach – weil, wie er betonte, sie zu jenen seltenen Fragmenten gehöre, die „nicht unvollkommen, sondern Meisterwerke sind“519. Tatsächlich ist Goethes innovativer Auftakt als Dramatiker und Dramaturg in dieser frühen Produktionsphase unschwer am Text nachzuweisen. Als begeisterter Leser der Dramen Shakespeares übertrug er die dabei gewonnenen Erfahrungen auf die simultan von ihm angeordneten Einzelszenen und fügte sie zu einer die Imagination herausfordernden, kaleidoskopartigen Komposition. Statt der – danach längere Zeit aus dem Blick geratenen – „schwankenden Gestalten“ der „Zueignung“ erstehen vor uns plastische Figuren mit scharf umrissenem Wirklichkeitsgrad. Das Publikum sieht sich einer Bilderreihe gegenüber, einem lückenhaften, aber realitätsgesättigten Stationendrama. Der episodische Fragmentzustand fordert die aktive Mitarbeit des Publikums förmlich heraus. Atmosphärisch komplementäre Realitätsausschnitte und magisch-kosmologisch transzendierende Ausweitungen wie etwa in der Erdgeist-Szene, die getragen werden von den der jeweiligen Situation entsprechenden Sprechhaltungen, bilden ein spannungsvolles Ganzes. Durch das Fehlen von später entstandenen Handlungsteilen wie Paktszene, „Hexenküche“, „Walpurgisnacht“ und „Walpurgisnachtstraum“ treten indes in der Frühstufe die metaphysischen und mythologischen Elemente der späteren Dramenkonstruktion relativ wenig in Erscheinung. „Vielheit, Dispersion und der Zug zur empirischen Totalität“520, diese Grundmerkmale offener Dramaturgie, sind der Gestaltung abzulesen. Der junge Goethe hat mit dem ausschließlich im Realen verankerten „Urfaust“ ein Musterdrama der offenen Form, wahrlich ein „Dokument der Sturm-und-Drang-Dramatik“ (Gerhard Sauder521) vorgelegt, das stilbildend hätte wirken können, wenn der Text gedruckt worden und damit eine theatralische Umsetzung auf der Bühne möglich gewesen wäre. Mehr noch als „Götz von Berlichingen“ hatte die frühe Faustfassung mit ihrer hämmernden Szenenfolge das Zeug dazu, Theatergeschichte zu schreiben. Die dazu nötige literarische Kommunikation mit der Zeitgenossenschaft konnte leider nicht zustande kommen. Erst Brecht blieb es überlassen, dieser gewaltigen Leistung fragend-untersuchend den nötigen Respekt zu zollen, indem er forderte, gerade diesem Werk seine Eigenwertigkeit zu belassen und es mit dem angemessenen

519 Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Bd. 6. Frankfurt/M. 1964, S. 328, 329 und 330 („Ist die Aufführung des Fragments gerechtfertigt?“). Vgl. hierzu auch: Mahl I. 520 Klotz, S. 230. 521 So Sauder in seinem Kommentar (MA 1.2, S. 746). „Urfaust“ – ein Torso als Muster der Sturm-und-Drang-Dramaturgie  173

realen Zugriff „produktiv, phantasievoll und lebendig“ aufzuführen522. Er hat damit Goethes wichtigsten Beitrag zum Drama der Sturm-und-Drang-Zeit richtig gewürdigt. Die wahre (Wieder-)Entdeckung der spezifischen Qualität des „Urfaust“Textes durch ihn erlaubt einen unmittelbaren Zugang zu diesem genialischen Auftakt. Der Augsburger Stückeschreiber hat der frühen Rohfassung damit den Weg zu dynamischem Theaterspiel und vor allem in das Repertoire der Bühnen eigentlich erst eröffnet. Was zuvor lediglich als unausgeführte thematische Vorstufe zum ersten Faustteil angesehen wurde, hat er als durchaus selbständigen dramatischen Wurf erkannt und durchgesetzt. Für die dramaturgische Lösung der frühen Arbeitsphase Goethes nach dem Prinzip der offenen Form ist eine kurze Szene besonders aufschlußreich, die sich allein im „Urfaust“ findet: „Landstraße“ (V. 453–456). An ihre Stelle tritt später die wesentlich breiter ausgeführte „Hexenküchen“-Szene. Hier der Originalwortlaut dieses Szenenfetzens523: „LAND STRASE. Ein Kreuz am Weege [Wege], rechts auf dem Hügel ein altes Schloß, in der Ferne ein Bauernhüttgen [kleine Bauernhütte]. FAUST Was giebts Mephisto hast du Eil? Was schlägst vorm Kreuz die Augen nieder? MEPHISTOPHELES Ich weis es wohl es ist ein Vorurtheil, Allein genung mir ists einmal zuwieder [zuwider].

Nach der Faust abstoßenden Erfahrung in „Auerbachs Keller“ und unmittelbar vor dem Gretchenteil der Dramenkonstruktion ist dieses kleine Intermezzo ein Musterbeispiel für den andeutend verkürzten Gestaltungsmodus im „Urfaust“. Die einleitende Bühnenanweisung lenkt die Aufmerksamkeit mit dem Gegensatzbild „Schloß“ und „Bauernhütte“ von vornherein auf die schroffen sozialen Gegensätze in der Feudalgesellschaft. Zusätzlich wird diese Anspielung auf die alten Metaphern des Gegensatzpaars ‚Palast‘ und ‚Hütte‘ noch verstärkt durch den Hinweis auf das „Kreuz“ als Zeichen des ideologischen Zusammenspiels von ‚Thron und Altar‘. Mit der unver522 Brecht, Bertolt, a.a.O. (s. Anm. 519), S. 328 („Humor und Würde“). 523 Diese Kurzszene ist der einzige in Goethes eigener Handschrift überlieferte Text aus dem ‚Urmanuskript‘.

174  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

kennbaren Kritik an der gesellschaftlichen wie an der religiösen ‚Ordnung‘ gibt das Bühnenbild dieser Szene ihr atmosphärisches und weltanschauliches Gewicht. In den so geschaffenen spannungsvollen ‚Rahmen‘ ist dann die Liebesbegegnung zwischen Faust und dem zum ‚niedrigen Volk‘ gehörenden Gretchen vorbereitend eingefügt. Der anschließende konzise Dialog zwischen Faust und dem in der Schülerszene unvermittelt auftauchenden Mephistopheles ersetzt in gewisser Weise die im „Urfaust“ noch fehlende Paktszene. Beide sind auf dem Wege zur vereinbarten ‚kleinen Weltfahrt‘. Hier treffen sie in ironisch wohlgereimter Rede dialogisch aufeinander. Zur szenographisch vorgegebenen bildlichen Gestaltungskomponente kommt die sprachlich-klangliche des Dialogs. Mit Recht sagte der Philosoph Ernst Bloch: „Der gespielte Mensch ist eine Klangfigur“524. Erstmals und nur hier fällt im Stück der Name Mephistos. Durch sein Ausweichen vor dem Kreuz wird von vornherein deutlich, daß die teuflische Macht nicht unbegrenzt ist. Im geistreichen, fast kumpanhaften Plauderton fechten beide miteinander ein Wortduell aus, das sich in der Folge noch oft wiederholen wird. Die charakteristische Situation zeigt Faust als den scheinbar Überlegenen, der das Ausmaß seines Scheiterns noch nicht ahnen kann. Ohne die teuflischen Konsequenzen zu bedenken, folgt er Mephisto, weil der ihm die Dynamik sinnlicher Welterfahrung verschafft. Bloß vier Verse und eine Regiebemerkung genügen, um all das zu vermitteln, sofern das Publikum die spezifische Kommunikationsstrategie der offenen Form mitvollzieht. In den Notaten zu dieser Szene für die Brecht-Monksche Inszenierung ist erklärend angemerkt: „Faust ist der Herr, nicht der Teufel. … Mephisto empfindet Schmerzen beim Anblick des Kreuzes. … Faust lacht schallend, schadenfroh. Er will ihn demütigen, ihm wehtun. … Jetzt kann Faust noch lachen, seine Seele bekommt der Teufel ja erst später“525. Dadurch sollte die ironische Grundhaltung zwischen beiden direkt zur Darstellung kommen. Brecht ergänzte dann noch die ‚Lücke‘ zwischen „Auerbachs Keller“ und der Gretchenhandlung durch die erläuternden Brückenverse: „Fausten stach sein fleischlich List / daß er ein Buhler worden ist“526. Das war seine Art, dem Publikum das literarische Erbe ins Bewußtsein zu heben. Die Gretchentragödie und das zwiespältige Verhalten Fausts waren so in aller Kürze für die Zuschauer klargelegt. Ein Blick auf die Dom-Szene („Dom. Exequien der Mutter Gretgens“, V. 1311– 1371) bestätigt den gleichen Sachverhalt. Sowohl in der „Urfaust“- wie in der „Fragment“-Fassung ist diese Szene noch vor der Szene mit Valentin („Nacht. Vor Gretgens Haus“) plaziert, so daß hierdurch eine konsequente Handlungsabfolge 524 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1. Frankfurt/M. 1967, S. 487. 525 Zit. n.: Mahl I, S. 150. 526 Zit. n.: Mahl I, S. 152. „Urfaust“ – ein Torso als Muster der Sturm-und-Drang-Dramaturgie  175

Brunnen – Zwinger – Dom gegeben ist, die das ablaufende ‚bürgerliche Trauerspiel‘ in Gestalt der Gretchentragödie entscheidend bestimmt. Im Dom wird Gretchen im Rahmen der Totenmesse für ihre Mutter durch die Worte des „bösen Geistes“ bewußt, daß sie rettungslos ausgeliefert und verloren ist. Ihrer Reaktion ist das unmittelbar zu entnehmen: Betest du für deiner Mutter Seel Die durch dich sich in die Pein hinüberschlief. – Und unter deinem Herzen, Schlägt da nicht quillend schon, Brandschande Maalgeburt!527 Und ängstiget dich und sich Mit ahnde voller Gegenwart. (V. 1322–1328)

Atmosphärisch lastend bestimmt der Kirchenraum den gesamten szenischen Ablauf („Mauern, Pfeiler und Gewölbe“, „Amt, Orgel und Gesang“). Zum Gesang des Chores mit den ‚Dies-irae-Sequenzen‘ aus der mittelalterlichen Totenmesse kommen die verzweifelte Stimme Gretchens und die gnadenlosen Einflüsterungen des „bösen Geistes“, der gemäß der Bühnenanweisung „hinter Gretgen“ steht. Es ist, wie richtig bemerkt wurde, „der fremde Blick auf sich selbst“528. Offenkundig personalisiert der Autor damit die innere Stimme ihres Gewissens. Sie ist der unbeugsame Widerhall der alle Sünde rächenden Kirchendoktrin (‚Dies irae‘ > ‚Tag des Zornes‘). Sehr bewußt klammert hier der an Glaubensdogmen stark zweifelnde junge Goethe die Sequenzen der Hoffnung auf die göttliche Gnade aus. Im Bewußtsein der ‚Sünderin‘ soll allein das strafende Gericht zur Wirkung kommen. Beide Instanzen – Kirche und indoktriniertes Gewissen – versagen Gretchen den gebotenen Trost. Ihr verzweifelter sprachlicher Reflex faßt eine unerträgliche Last zusammen in den reimlos gefügten Worten: „Mir wird so eng. / Die Mauern Pfeiler / Befangen mich / Das Gewölbe / Drängt mich! – Lufft!“ (V. 1351–1355) Unter der erstickenden Last der ihr zugesprochenen Schuld bricht sie zusammen („sie fällt in Ohnmacht“). Brecht notierte dazu im Zuge seiner Mitwirkung an der „Urfaust“-Inszenierung im Arbeitsjournal: „nicht zu schwierig, die domszene etwa als seelische und körperliche exekution gretchens durch die kirche zu spielen und vor allem als moralische

527 Bezeichnende Wortbildung des jungen Goethe im Sturm-und-Drang-Gestus. Durch die Verschränkung der Begriffe ‚Brandmal‘ und ‚Schandgeburt‘ intensiviert sich der Ausdruck. Zugleich wird so die Verwirrung Gretchens direkt vermittelt. 528 Fehr, S. 209.

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exekution“529. Das Miteinander der knappen, völlig hoffnungslosen Worte Gretchens und der dominierenden Stimmen der Strafinstanzen – die knochenharten Worte des „bösen Geistes“ und der unerbittlich strafende Singsang der „exekutions“-Choristen – umreißt das Ausmaß der Gretchen überkommenden Trostlosigkeit und Isolation. In den im Berliner Bertolt-Brecht-Archiv aufbewahrten Notaten zu den Proben steht hierzu der von den Mitwirkenden der Inszenierung übereinstimmend erarbeitete Befund im Telegrammstil: „Echte Katastrophe: Meineid, Schwangerschaft und dazu noch der Mann verschwunden. Faust erfährt es, reitet zurück. Geht wegen Tod der Mutter weg, ist wichtig, weil er schon genug [hat], weils tragisch wird“530. Die kurzgefaßten, nüchternen Erläuterungen belegen den sozialkritischen Grundgestus der Brecht-Monkschen Inszenierung. Deren leitende Idee bestand darin, „Charakterfreiheit gegen Schicksalszwang“ durchzusetzen und so, wie Paul Rilla richtig formulierte, „die abgerissene Linie einer deutschen Entwicklung sichtbar zu machen“531. Auf dieser sozialkritischen Basis wurde eine Spielweise praktiziert, „die den beobachtenden Geist [des Publikums] frei und beweglich“ werden lassen sollte532. Erst der realistische Ansatz Brechts hat, das kann ohne weiteres so gesagt werden, das Interesse für den „Urfaust“ über den Kreis der Philologen hinausgetragen. Er hat erkannt, daß die Wirkungsästhetik des jungen Goethe den Weg ebnete für seine gestalterische Konzeption des nichtaristotelischen Dramas. Bezeichnend für die Kulturpolitik der DDR war es, daß die den Inhalt und die Form des Fragments besonders aufmerksam berücksichtigende Aufführung als „formalistisches Experiment“ abgetan wurde, das unter der „ungenügenden Entfaltung der Charaktere“ leide533. Großspurig monierte die parteitreue Rezensentin im ‚Neuen Deutschland‘ „die Absage an die klassischen Traditionen unserer Nationalkultur“534. Sie folgte damit der offiziell verfügten Verurteilung. Die kommunistischen Funktionäre wollten, wie Alexander Abusch, damals Stellvertreter des Ministers für Kultur, es schwülstig formulierte, Faust als „die geistige Heldenfigur [!] des leidenschaftlichen Kampfes gegen die deutsche Misere und zugleich für eine allseitige Erkenntnis der Welt“535. Entsprechend äußerte sich ebenfalls Walter Ulbricht. Goethe hätte sich 529 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal 1942–1955. Frankfurt/M. 1973, S.  903 (Eintragung vom 7.5.1949). 530 Zit. n.: Mahl I, S. 162. 531 Rilla, Paul: Analyse der Bearbeitung (des Lenzschen ‚Hofmeisters‘). In: Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles. Berlin 1952, S. 80–82 (Zitat: S. 80). 532 Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Bd. 7. Frankfurt/M. 1964, S. 31 („Kleines Organon für das Theater“). 533 ‚Neue Zeit‘ (26.4.1952); zit. n.: Mahl I, S. 188. 534 ‚Neues Deutschland‘ (28.5.1953); zit. n.: Mahl I, S. 192. 535 Zit. n.: Mahl I, S. 198. „Urfaust“ – ein Torso als Muster der Sturm-und-Drang-Dramaturgie  177

über ‚Verteidiger‘ dieses Schlages gewiß mokiert. Seine theatergeschichtliche Leistung mit dem „Urfaust“ wurde von Brecht kongenial weitergetragen. Dieser folgenreiche Schritt rückte die Beurteilung der Anfangsstufe des Faustdramas in eine völlig neue, für die Bühnenpraxis interessante Perspektive. Nicht zuletzt auf dieser Erkenntnisgrundlage konnte Nicholas Boyle zu der treffenden Feststellung kommen, der „Urfaust“ sei „das überzeugende poetische Meisterwerk des jungen Goethe“. Indes braucht man noch lange nicht gleich Boyles weitere These zu übernehmen, die Urform dieses Dramas sei sogar „die Quintessenz seiner literarischen Persönlichkeit“536. Zweifellos hatte der Dichter Goethe in der Zeit kurz davor und danach noch allerhand mehr zu bieten. Immerhin hat der „Urfaust“ durch Brechts Initiative definitiv einen festen Platz in den Spielplänen der Theater gefunden. Allein im relativ kurzen Zeitrahmen von 2009 bis 2012 sind gut zwanzig „Urfaust“-Inszenierungen auszumachen537. Regisseurinnen und Regisseure wie Felicitas Brucker, Regine Heintze, Andreas Kriegenburg, Enrico Lübbe, Stefan Nolte, Armin Petras, Julia von Sell und eine Reihe anderer haben die theatralische Spielanleitung Brechts aufgegriffen und weiterentwickelt, bis hin zur Interpretation der Liebesgeschichte von Faust und Gretchen als „Höllentrip in die Seelen zweier verzweifelter Existenzen“538. Weit mehr als die späteren Fassungen des Stückes regt die direkte Dramaturgie der frühen Version dazu an, das, was Brecht als das „dialektische Moment in der Darstellung“ zu bezeichnen pflegte, hervorzukehren, nämlich eine durch die ständige Spannung von Erkenntnisdrang und Teufelsbund erzeugte „großartige Widersprüchlichkeit der Goetheschen Faustfigur“539. Sogar bei nicht wenigen Inszenierungen des endgültigen Textes der Faustdichtung ist die Ausstrahlung des Brechtschen Ansatzes „lebendiger, menschlicher Darstellungen“540 zu spüren. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Aufführungen von „Faust I“ in der Regie von Wolfgang Heinz und Adolf Dresen am Deutschen Theater Berlin 1968, die Inszenierungen beider Faustteile durch Claus Peymann 1977 am Staatstheater Stuttgart und durch Christoph Schroth 1979 am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin sowie die direkt an die Inszenierung 536 Boyle: Bd. 1, S. 238. 537 Ein kurzer Blick ins Internet belegt Aufführungen in Aachen, Annaberg, Bad Oeynhausen, Bensheim, Berlin, Bielefeld, Chemnitz, Coburg, Dresden, Frankfurt, Hamburg, Leipzig, Mainz, Moers, Pforzheim, Schwerte, Weimar und Wien sowie auf Schloß Ettersburg bei Weimar. 538 Pressebericht zur Aufführung des Theaters Chemnitz (Chemnitzer Morgenpost, 1.10.2009). 539 Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Bd. 6, S. 330 f. („Ein dialektisches Moment in der Darstellung“). 540 Ders., a.a.O., S. 324 („Einschüchterung durch die Klassizität“).

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von Brecht und Monk anknüpfende Aufführung des „Urfaust“ 1984 am Berliner Ensemble in der Regie von Horst Sagert. Diese experimentelle Linie läßt sich weiterverfolgen bis hin zu Einar Schleefs denkwürdiger Frankfurter Aufführung beider Teile der Faustdichtung 1990 (mit elf ‚Fäusten‘, vierzehn Gretchen, einem Satan, einem Mephisto und einem Massenchor)541. Die auffallend starke Resonanz der „Urfaust“-Rezeption seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg steht im Gegensatz zu den Jahrzehnten davor. Für den 1887 publizierten Text ist zunächst keine theatralische Umsetzung nachzuweisen. Erst am 8. Mai 1918 fand in Frankfurt am Main die Uraufführung unter der Regie des Intendanten Richard Weichert statt. Dieser leidenschaftliche Wegbereiter der expressionistischen Dramen bemühte sich auch um die Stücke des Sturms und Drangs. In die Endphase des Ersten Weltkriegs paßte der dramatisch-dramaturgische ‚Rohling‘ „Urfaust“ mit der spannungsvoll-dämonischen Skizze eines zwiespältigen Charakters zwischen Geist und Gewalt gut hinein. Zwei Jahre nach dieser Pioniertat entschloß sich ebenso Max Reinhardt zur Aufführung von Goethes Jugendwerk am Deutschen Theater Berlin. Er versuchte dabei, „dem jugendlichen Lebensgefühl der Dichtung durch eine entsprechende Darstellergeneration nahe zu kommen“542. Sein Faust, Paul Hartmann, sein Gretchen, Helene Thimig, und sein Mephisto, Paul Wegener und dessen Vertreter Ernst Deutsch, standen damals allesamt am Anfang ihrer Karriere. Reinhardt verfolgte vorrangig das Ziel, die sterile Hoftheatertradition zu überwinden. Schon seine 1909 erarbeitete Inszenierung von „Faust I“ stand im Zeichen der Maxime: „Spielen, wie wenn es neue Stücke wären“. Weichert und Reinhardt waren die ersten, die den Eigenwert des „Urfaust“-Textes theatralisch zu würdigen wußten. Danach trat wieder eine längere Pause ein. Erst im Frühjahr 1944 spielte Heinrich George im ausgebombten Schillertheater Berlin wieder die Frühfassung des Stückes. Interessant war daran hauptsächlich die wechselnde Besetzung der Rollen. George und Horst Caspar spielten abwechselnd den Faust, Will Quadflieg erst den Mephisto, dann ebenfalls den Faust. Hier konnten sich mit Caspar und Quadflieg junge Talente intensiv in den Faustkomplex einarbeiten543. Ihre weitere Karriere profitierte von dieser Erfahrung mit dem „Urfaust“ in mannigfacher Weise. Manche sehen in diesen Aufführungen auch den Anstoß für eine ganze Welle von Inszenierungen bald 541 Vgl. hierzu: Mahl. 542 Zit. n.: Faust und Mephisto. Goethes Dramenfiguren auf dem Theater. Hrsg. v. Helmut Grosse und Bernd Vogelsang (Theatermuseum der Universität Köln). Köln 1983, S. 94. 543 George spielte den „Urfaust“ auch noch im russischen Gefangenenlager Hohenschönhausen. Vgl. hierzu: Drews, Berta: Wohin des Wegs. Erinnerungen (= UB 22020). Frankfurt/M., Berlin 1988, S.  258–260. In dem von Joachim Lang erstellten Dokudrama „George“ (2013, SWR/Arte) wird das aufgegriffen. „Urfaust“ – ein Torso als Muster der Sturm-und-Drang-Dramaturgie  179

nach dem Zweiten Weltkrieg: Berlin (Herbst 1945), Hamburg (Frühjahr 1946), Stuttgart (April 1947), Dresden (April 1948) und Köln (August 1948). Doch handelte es sich dabei, wie schon unter Heinrich George, um eher konventionelle Aufführungen, die ohne überregionale Wirkung und erst recht ohne innovative Impulse blieben. Zum wirklichen Erneuerungsschub kam es dann erst durch Brecht 1952/53. Sehr indirekt wurde er ebenso zum Anreger für verschiedene mehr oder weniger kritische Auseinandersetzungen von Schriftstellerkollegen mit Goethes Text, beispielsweise für Friedrich Dürrenmatt (Inszenierung mit einem greisen Faust, 1970), Elfriede Kuzmany („Der Anti-Faust. Ein fiktives Regiebuch“, 1985), Einar Schleef („Droge Faust Parzifal“, 1997) und Elfriede Jelinek („FaustIn and out“, „Sekundärdrama zu ‚Urfaust‘“, 2012544). All diese Experimente fußen gleichfalls auf freiem Umgang mit dem eigenwilligen, offensichtlich höchst anregenden „Urfaust“-Text und seiner offenen Dramaturgie. Schon Frank Wedekind hatte diese Ausrichtung 1912 mit seiner doppelgesichtigen „Faust“-Travestie „Franziska“ (als einer Art ‚Faustin‘) vorgezeichnet. Auf so kaum zu erwartende Weise hat sich Brechts zunächst eher überraschende Zuschreibung tatsächlich als richtig erwiesen: „der ‚Urfaust‘ ist eine Art Jungbrunnen für das deutsche Theater“545.

„Recapitulationen alter Ideen“ oder Innovation? Zu „Faust. Ein Fragment“ Fast anderthalb Jahrzehnte blieb das Paket mit dem „Urfaust“-Manuskript unangetastet liegen. Da Goethe jedoch fest vorhatte, „endlich auch über Faust her[zu]gehn“, ja „Faust zu endigen“546, legte er 1786 entschlossen diesen Haufen alter Papiere547 zu seinem Gepäck für die Reise nach Italien548. Neben dem lebhaften und zeitraubenden Interesse am alltäglichen mediterranen Leben der Italiener und an der Fülle kultu544 Vgl. hierzu: Skasa, Michael: Faust und Elfriede. Allerhand Goethe, etwas Jelinek. In: Die Zeit, 15.3.2012. 545 Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Bd. 6, S. 330. 546 WA IV.8, S. 83 (an Carl August am 12.12.1786) und WA IV.8, S. 143 (an Charlotte von Stein am 20.1.1787). 547 In der „Italienischen Reise“ steht unter dem Datum des 1.3.1788: „Das alte Manuscript macht mir manchmal zu denken, wenn ich es vor mir sehe. Es ist noch das erste, ja in den Hauptscenen gleich so ohne Concept hingeschrieben, nun ist es so gelb von der Zeit, so vergriffen (die Lagen waren nie geheftet), so mürbe und an den Rändern zerstoßen, daß es wirklich wie das Fragment eines alten Codex aussieht“ (WA I.32, S. 288). 548 Beim Aufenthalt in Karlsbad vom 27.7. bis 2.9.1786 las Goethe in kleinem Kreis aus dem alten „Urfaust“-Manuskript vor (vgl. hierzu: Schöne 1, S. 767).

180  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

reller Traditionen dieses gesegneten Landstrichs war allerdings die weitgehende Beförderung der bei Göschen erscheinenden Ausgabe sämtlicher „Schriften“ Hauptziel von Goethes römischem Aufenthalt. Vor allem die Beendigung von „Egmont“ und „Tasso“ zog sich dabei sehr in die Länge. Erst in den Monaten unmittelbar vor der Rückreise kam der vielfältig Beschäftigte dazu, die Arbeit am Faust-Projekt wieder aufzunehmen. Offenbar stellte er erstmals eine (leider nicht überlieferte) Gesamtkonzeption zusammen, denn er hielt dazu im Reisebericht fest: „Zuerst ward der Plan zu Faust gemacht, und ich hoffe, diese Operation soll mir geglückt sein“549. Voller Optimismus schrieb er nach Weimar: „Dieses Summa Summarum meines Lebens giebt mir Muth und Freude, wieder ein neues Blat [Blatt] zu eröffnen“550. Konzeptionell war demnach ein großer Sprung zu verzeichnen. Aber die textuelle Umsetzung ließ auf sich warten. Immerhin entstanden nacheinander drei wichtige neue Szenen oder zumindest deren Grundidee: zum einen Fausts monologartige Rede – „Und was der ganzen Menschheit zugetheilt ist“ – sowie der zugehörige Dialogteil mit Mephisto und dessen Schlußwendung, zum andern die breit und grotesk ausgeführte ‚nordische‘ Kontrastszenerie zur südländischen Erlebnissphäre in der „Hexenküche“ mit der im „Urfaust“ noch fehlenden Verjüngung Fausts und ferner der Monolog Fausts in „Wald und Höhle“551. Die vorgenommenen Ergänzungen änderten freilich nicht viel am vorläufigen Charakter der neuen Textstufe, denn das Problem auffälliger Motivationslücken blieb ungelöst. Um endlich überhaupt eine Druckfassung für das lesende Publikum vorlegen zu können, entschloß sich Goethe zur Aufnahme dieser erweiterten Fassung in den siebten Band der „Schriften“552. Bilanzierend mußte er, übrigens zeitlich eine Woche vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, einräumen: „Faust will ich als Fragment geben“553. Der FragmentDruck erschien dann 1790. So konnte Goethe immerhin befriedigt konstatieren: „Ich bin wohl und fleißig gewesen. Faust ist fragmentirt, das heißt in seiner Art für dießmal abgetan“554.

549 WA I.32, S. 288. 550 WA IV.8, S. 348 (an Carl August am 16.2.1788). 551 Im Paralleldruck Kellers: V. 249–254 und V. 255–346, V. 816–1067 sowie V. 1889– 1922 (Keller I und II). 552 Die Fragment-Fassung ergänzt den „Urfaust“-Text durch die drei in Italien angefangenen Szenen und die Umarbeitungen, die Goethe nach der Rückkehr in Weimar für die Druckfassung am Gesamttext vornahm. 553 WA IV.9, S. 139 (an Carl August am 5.7.1789). 554 WA IV.9, S. 160 (an Carl August am 5.11.1789). Ähnlich schreibt Goethe am 2.11.1789 an Johann Friedrich Reichardt: „hinter Fausten ist ein Strich gemacht. Für dießmal mag er so hingehn“ (WA IV.9, S. 159). „Recapitulationen alter Ideen“ oder Innovation?  181

In der Regel wird die Auffassung vertreten, die Fragment-Fassung sei lediglich im entstehungsgeschichtlichen Ablauf von gewissem Interesse. Rein quantitativ betrachtet trifft das in der Tat zu, weil sogar die Valentin-Handlung und die Szene „Trüber Tag. Feld“555 weggelassen wurden. Jedoch ist neben den erwähnten inhaltlichen Ergänzungen ebenso durch die systematische Umarbeitung in Verse eine beträchtliche Veränderung der Textur in gestalterischer Hinsicht zu verzeichnen. Mit vollem Recht betonte Goethe seine persönliche Veränderung unter der Sonne Italiens: „Die Wiedergeburt, die mich von innen heraus umarbeitet, wirkt immer fort“556. Wiedergeburt als Steigerung. Das neue Leben erweckte, die Versfassung der „Iphigenie“ macht das überdeutlich, ebenso ein neues Schreiben. Unter dem Einfluß der literarischen Energie dieser ‚römischen Ästhetik‘ veränderte sich die klangliche Wirkung des teilweise prosaischen Textes der Erstfassung durch die vorgenommene „Politur des Versbaues“ (August Wilhelm Schlegel557). Sie drängt die Unmittelbarkeit der Darstellung der „Urfaust“-Fassung zurück, eröffnet dem Typisierenden die Bahn. Die durchgreifende Überformung – meist in fünfhebigen, gereimten Jambenversen – ist besonders deutlich zu vernehmen in der Szene „Auerbachs Keller in Leipzig“. Aus der kurzen, trockenen Eingangsrede Mephistos („Nun schau wie sie’s hier treiben! Wenn dir’s gefällt, dergleichen Sozietät schaff ich dir Nacht nächtlich“) wird da gleich einleitend durch die Versifikation ein grobianisch-konkret ausgefülltes Stimmungsbild, wie es für vulgäre Stammtischrunden charakteristisch ist (V. 637–646). Inhaltlich und formal exemplarisch tritt der somit existentiell und ästhetisch begründete Tonwechsel in der neu hinzugefügten kurzen Partie Fausts prägend hervor (V. 249–254). In den wenigen Versen begegnet uns ein neuer, veränderter Faust, ein, wie Werner Keller zutreffend formulierte, wahrer „Repräsentant des Menschengeschlechts“558: Und was der ganzen Menschheit zugetheilt ist, Will ich in meinem innern Selbst genießen, Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen, Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen, 555 Der Dialog zwischen Faust und Mephisto ließ sich offenbar nicht in Verse bringen. Deshalb taucht diese Szene als einzige Prosapartie dann, mit der lokalisierenden Überschrift versehen, in „Faust I“ wieder auf. 556 WA I.30, S. 236. 557 Schlegels Rezension der Fragment-Fassung erschien 1790 in den ‚Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen‘ (zit. n.: MA 3.1, S. 1000). 558 Keller II, S. 630 f.

182  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Und so mein eigen Selbst zu Ihrem Selbst erweitern, Und, wie sie selbst, am End’ auch ich zerscheitern. (V. 249–254 > V. 1770–1775)

Dieses mitten in der Rede einsetzende Bruchstück der späteren Paktszene, also des künftigen Schlußteils der zweiten Studierzimmerszene, eröffnet erstmals den Horizont von Goethes Gesamtkonzeption der Faustdichtung. Denn an dieser Stelle deutet sich die Ausweitung der Fausthandlung von der kleinen in die große Welt an. In gezielter Stilisierung durch das vereinheitlichende Metrum559 ist die monologisch daherkommende Anrede Mephistos durch Faust gehalten. Der Titelheld artikuliert in diesem anaphorisch prononcierten560 und über sechs Verse ausgedehnten Konjunktionalsatz eine veränderte Zielsetzung. Anfangs erfüllte den Gelehrten bis zum Erscheinen des Erdgeists der Drang zu unbegrenzter Erkenntnis des Kosmos und zu gottgleich-titanischem Agieren. Sein Scheitern weist ihn in den irdisch-humanen Bereich zurück. Freilich stellt die Beschränkung auf die „Menschheit“ eindeutig einen substantiellen Zuwachs dar. Vollkommen im Sinne der Herderschen Humanitätslehre561 will Faust „das Höchst’ und Tiefste“ aller menschlichen Möglichkeiten und Erfahrungen „in [s]einem innern Selbst genießen“, mithin die Qualität der irdischen Lebensmöglichkeiten voll in sich aufnehmen und umsetzen. Die metaphorische Umschreibung durch die Wendung „auf meinen Busen häufen“ vermittelt einen plastischen Eindruck vom genußvoll-sinnlichen Streben des transitorischen Ichs nach der Fülle des Lebens, will sagen nach einer Summe des Menschseins. Dabei geht es darum, das „eigen Selbst“ durch höhere und tiefere Erkenntnis zum „Selbst … der ganzen Menschheit“ auszuweiten. Allerdings ist dem so intensiv nach Ich-Erweiterung Strebenden durchaus bewußt, daß zur Lebenstotalität ebenso das „Weh“ der Menschheit gehört und damit destruktive Kräfte bis hin zu unmenschlicher Niedertracht und Barbarei. Deren Wirkung gefährdet letztlich die angestrebte ideelle Vervollkommnung. Bereits hier klingt die fatale Konsequenz der „Fausttragödie“ an: daß er, „wie sie (die Menschheit) selbst, am End’ auch … zerscheitern“ muß. Faust nimmt also das Risiko vollständigen Scheiterns bewußt in Kauf. Vielsagend hat der Autor dafür die Intensivbildung des finalen „Zerscheiterns“ gewählt. Mit dieser schwer lastenden, rhetorisch angelegten Vorausdeutung schließt die offenkundig program-

559 Das erste Verspaar folgt dem Blankversschema, während die beiden folgenden, gleichfalls fünfhebigen Verspaare durch Reimbindung zusätzlich den melodischen Fluß klanglich unterstreichen. 560 Dreimal ist das Wort ‚und‘ an den Versbeginn gesetzt. Diese Wortwiederholung trägt den ganzen Satz. 561 Überzeugender Hinweis von Edith Zehm (MA 3.1, S. 1006 f.). „Recapitulationen alter Ideen“ oder Innovation?  183

matisch gemeinte Bekundung der Titelgestalt. Von nun an bestimmt diese Problematik das ambivalente Geschehen. Zur Musterfigur ist demnach Faust gewiß nicht geschaffen. Fragt man, was der Autor damit bezweckt, so liegt es auf der Hand, darin eine für den Fortgang der Faustdichtung entscheidende Uminterpretation zu sehen. Goethe machte aus dem Magier und Teufelsbündler der Faustsage einen Erkenntnis suchenden, modernen Menschen mit all seinen Fehlern und Widersprüchen. Die für ihn charakteristische „Polarität und Steigerung“562 spiegelt im Guten wie im Bösen das zerrissene Bewußtsein der modernen Gesellschaft. Gegenüber der in dieser Hinsicht noch offenen „Urfaust“-Fassung stellt die kurze faustische Bekundung in kompositorischer Hinsicht einen wichtigen Wendepunkt dar. So gesehen stecken in der Fragment-Fassung neben offenkundigen „Recapitulationen alter Ideen“563 auch höchst progressive Innovationsansätze. In dramaturgischer Hinsicht bedeutet das jedenfalls einen Schritt in die dann mit „Faust I“ gefundene, auf den aktiv mitarbeitenden Rezipienten setzende textuelle Funktionsweise. Darum interessierte „Faust. Ein Fragment“ die damaligen Theater so gut wie gar nicht. Diese Zwischenstufe galt einfach als Lesedrama. Als solches fand es freilich vielfaches Echo. Wie man sich dem Text hätte nähern sollen, zeigte in der Folge der Philosoph Friedrich Wilhelm Schelling. In seiner „Philosophie der Kunst“ schrieb er dazu: „Soweit wir das Gedicht übersehen, erkennen wir deutlich, daß Faust … durch das Höchste Tragische gehen soll. … Das wilde Leben, in welches Faust sich stürzt, wird für ihn nach einer notwendigen Folge zur Hölle“, bis er „durch Erhebung über sich selbst und das Unwesentliche das Wesentliche schaut und genießen lernt“564. Der Zeitgenosse August Wilhelm Schlegel begnügte sich hingegen mit der Feststellung: „Bis jetzt steht das mitgeteilte Fragment wie ein unaufgelöstes Rätsel da, welches man bewundern muß, ohne die Absichten des Dichters ganz überschauen zu können“565. So wie er reagierte die Mehrzahl der Leser. Die Theaterpraktiker konnte derlei verständlicherweise nicht zu szenischer Umsetzung animieren. Die zeitgenössische Bühnenpraxis kannte keine Möglichkeit angemessener Wiedergabe solcher das Mitdenken des Publikums voraussetzender ‚Bei-Spiele‘. Sie blieb auf eine die Realität im ‚Guckkasten‘ widerspiegelnde Unmittelbarkeit der 562 Es handelt sich hier um zwei Kernbegriffe von Goethes Weltanschauung. Vgl. hierzu: GH 4.2, S. 663–665 (Stichwort: Polarität/Steigerung) sowie Matussek, S. 160. 563 WA IV.8, S. 347. 564 Schelling, Friedrich Wilhelm: Philosophie der Kunst (1802/03, gedruckt: 1859); zit. n.: MA 3.1, S. 1002 f. 565 Schlegel, August Wilhelm: Berliner „Vorlesungen“ über schöne Literatur und Kunst (1803); zit. n.: MA 3.1, S. 1003.

184  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Darstellung beschränkt. Mag der Entwicklungssprung von der Erstfassung zum Fragment, quantitativ gesehen, wenig bedeutsam erscheinen, weil noch viele „Recapitulationen alter Ideen“ darin stecken, muß man doch den Herausgebern der Münchner Ausgabe beipflichten, die auf die Feststellung Wert legten, „daß Goethe in der ‚italienischen‘ Phase seiner großen Lebensdichtung zu jener Distanz findet, mit der er Faust und seine Welt … in späteren Jahren spürbar behandelt hat“566. Damit ist mit Sicherheit ein entscheidender Punkt in der langen Genese der Faustdichtung angesprochen. Denn die sich anbahnende Distanznahme zu seinem Gegenstand war Voraussetzung für die thematische Ausweitung in die Dimensionen einer Weltdichtung wie auch für die künftige Formgestaltung des Dramas. Die erwähnten Verse Fausts in der Fragment-Fassung können hierfür als dramaturgische Initialzündung betrachtet werden567.

Dramaturgische Vorentscheidung für die Weiterarbeit: „Selbständigkeit der Theile“ als kommunikative Bauelemente des Dramas Etwas mehr als sieben Jahre nach dem Erscheinen der „Fragment“-Fassung tauchte in dem seit 1794 regelmäßig geführten Dialog mit Schiller am 22. Juni 1797 die briefliche Nachricht auf: „Da es höchst nöthig ist, daß ich mir, in meinem jetzigen unruhigen Zustande568, etwas zu thun gebe, so habe ich mich entschlossen an meinen Faust zu gehen und ihn, wo nicht zu vollenden, doch wenigstens um ein gutes Theil weiter zu bringen, indem ich das, was gedruckt ist [gemeint ist: „Faust. Ein Fragment“], wieder auflöse und mit dem was schon fertig oder erfunden ist, in große Massen disponire und so die Ausführung des Plans, der eigentlich nur eine Idee ist, näher vorbereite“569. Es ging demzufolge um weit mehr als eine bloße Neuordnung und Fortsetzung des vorliegenden Manuskripts. Die mit der „Fragment“-Fassung begon566 MA 3.1, S. 600. 567 In gleicher Weise bereitet die „Hexenküchen“-Szene durch die dort erfolgende Verjüngung Fausts nicht nur die Gretchen-Handlung, sondern ebenso die Helena-Erscheinung im zweiten Faustteil vor, wie sie Goethe von Beginn an vorschwebte. 568 Tags davor schreibt Goethe: „Mein Zustand, der zwischen Nähe und Ferne, zwischen einer großen und kleinen Expedition sich hin und wieder wiegt, hat in dem Augenblick wenig erfreuliches, und ich werde mich noch einige Wochen so hinhalten müssen“ (an Schiller am 21.6.1797; WA IV.12, S. 163 f.). Er plante damals eine neue Italienreise mit Johann Heinrich Meyer, die dann der Erkrankung Meyers wegen nicht zustande kam. Vgl. hierzu auch das Schreiben an Schiller vom 24.6.1797 (WA IV.12, S. 168 f.). 569 WA IV.12, S. 167 (an Schiller am 22.6.1797). „Selbständigkeit der Theile“ als kommunikative Bauelemente  185

nene durchgängige Versifikation mußte weitergeführt werden, weil sie den typisierenden Charakter der Darstellung stützte. Im Vordergrund stand aber eine dramaturgische Aufgabe. Galt es doch, die dem Autor vorschwebende „Idee“ des Stückes „in große Massen“ zu gliedern und zu entfalten. Vorausgegangen waren wiederholte Versuche Schillers, den Freund zur Weiterarbeit am Fragment anzuregen. Der von den Auswirkungen der Französischen Revolution abgestoßene Goethe suchte eher die gegenwartsferne Nähe klassisch-griechischer Ästhetik. Erst über die gemeinsam mit Schiller betriebene Balladendichtung näherte er sich auch wieder den ‚barbarischen‘ Faust-Gefilden. Von Goethe angesprochen auf den „wieder auflebenden Faust“570, antwortete Schiller mit präzisen Hinweisen, was bei der Fortführung gestalterisch zu beachten sei. Weil er dabei eine dramaturgische Weichenstellung beschrieben hat, die für die weitere Ausarbeitung tiefgreifende Konsequenzen hatte, ist wenigstens der Kern seiner Antwort festzuhalten. Er lautet: „Soviel bemerke ich hier nur, daß der Faust … bei aller seiner dichterischen Individualität die Fo[r]derung an eine Symbolische Bedeutsamkeit nicht ganz von sich weisen kann, wie auch wahrscheinlich Ihre eigene Idee ist. Die Duplicität der menschlichen Natur und das verunglückte Bestreben das Göttliche und das Physische im Menschen zu vereinigen, verliert man nicht aus den Augen, und weil die Fabel ins Grelle und Formlose geht und gehen muß, so will man nicht bei dem Gegenstand stille stehen, sondern von ihm zu Ideen geleitet werden“571. Und weiter: „… daß mir der Faust seiner Anlage nach auch eine Totalität der Materie zu erfo[r] dern scheint, wenn am Ende die Idee ausgeführt erscheinen soll, und für eine so hoch aufquellende Masse finde ich keinen poetischen Reif der sie zusammenhält“572. Das sind in der Tat Vorschläge und Bedenken, die bereits viel von dem andeuten, was dann die imaginative und insofern gezielt kommunikative Dramaturgie des zweiten Faust-Teils im Sinne von Welt- und Universal-Theater bestimmte: „symbolische Bedeutsamkeit“, „Totalität der Materie“ und eine der Erfahrung entspringende, auf produktive Metamorphose abzielende Ideengestaltung573. Aus dem gleichen Grund bezeichnete Goethe die Wiederaufnahme ebenfalls als einen „Rückzug in diese Symbol-, Ideen- und Nebelwelt“574. Schillers Frage nach dem „poetischen Reif “, der 570 571 572 573

WA IV.12, S. 168 (an Schiller am 24.6.1797). SNA 29, S. 87 (an Goethe am 23.6.1797). SNA 29, S. 88 (an Goethe am 26.6.1797). Absichtsvoll heißt es im „Vorspiel auf dem Theater“: „So schreitet in dem engen Bretterhaus / Den ganzen Kreis der Schöpfung aus“ (V. 239 f.). 574 WA IV.12, S. 169 (an Schiller am 24.6.1797). Goethe spielt hier auf den schwierigen Übergang von der antik-mediterranen Atmosphäre in die nordische „Nebelwelt“ seiner Faustgestalt an.

186  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

„die aufquellende Masse … zusammenhält“, nimmt speziell die noch zu lösenden Formprobleme vorweg. Damit wurde die notwendige Suche nach der adäquaten dramaturgischen Lösung in den Vordergrund gerückt. Schon am 23. Juni hielt Goethe im Tagebuch fest: „Ausführlicheres Schema zu Faust“575. Leider ist dieses Schema nicht überliefert. Daß dabei jedenfalls auch grundsätzliche dramaturgische Überlegungen eine wesentliche Rolle spielten, also Fragen der Gliederung und Ausdehnung der Fausthandlung im Sinne einer erweiterten, offenen Bauform sowie die Problematik der Interaktion mit dem Publikum, ist leicht nachzuweisen. Denn einen Tag darauf machte sich Goethe an die Ausarbeitung der „Zueignung“576. Bald danach stellte er ebenso schon erste Überlegungen zum „Vorspiel auf dem Theater“ an. In beiden Fällen kommen nicht handlungsimmanente Bauelemente zur Darstellung, sondern Überlegungen mit dem allgemeineren Ziel kommunikativer Annäherung des Dramas an das Publikum, mithin neuartige konstitutive Elemente. Nicht etwa die Evokation der im zeitlichen Abstand „schwankend“ gewordenen „Gestalten“ des Fauststücks577 steht dabei im Mittelpunkt des Interesses, sondern die eigene Position Goethes als Dramatiker in seiner Beziehung zum lange begonnenen, immer noch nicht einmal halb fertigen Werk sowie desillusionierende Überlegungen zur angestrebten Wirkung in der Öffentlichkeit578. Insofern sind diese Texte weniger auf das Stück selbst bezogen, sondern vielmehr direkt an mögliche Rezipienten gerichtete Anreden. Sie erweitern die damals noch einteilige Bühnenaktion über das vorhandene Handlungsgerüst hinaus und schaffen eine offene Rezeptionsebene unmittelbarer Verständigung des Autors mit seinem Umfeld und der Nachwelt über Sinn und Zweck der theatralischen Kommunikation. Das bedeutet, unabhängig von möglichen textinternen Festlegungen für das noch zu leistende Pensum579, eine gewollte Durchbrechung des reinen Bühnengeschehens zum Zweck einer direkten Einflußnahme auf das Bewußtsein des Publikums. Dergestalt schuf

575 WA III.2, S. 74 (Eintragung vom 23.6.1797). 576 WA III.2, S. 75 (Eintragung vom 24.6.1797: „Zueignung an Faust“). 577 In „Faust I“ heißt es zu Beginn der „Zueignung“: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten / Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt“ (V. 1/2). 578 Hans Mayer hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht: „Einsamkeit spricht in dieser ‚Zueignung‘, der Dichter des ‚Vorspiels auf dem Theater‘ nimmt den Ton unmittelbar auf. Es ist filtrierte, verstandene Erfahrung“ (Mayer, Hans: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt/M. 1973, S. 15). 579 Wenig spricht für die spekulative These Scheibes, das Schema von 1797 habe 30 Punkte in Anlehnung an verschiedene thematisch damit zusammenhängende Paralipomena umfaßt (Scheibe, Siegfried: Noch einmal zum bezifferten Faustschema von 1797. In: GJ 89/1972, S. 235–260; vor allem: S. 245–253). „Selbständigkeit der Theile“ als kommunikative Bauelemente  187

Goethe ein geistiges Kontinuum, das bis in die jeweilige Gegenwart des Rezipienten reicht. Mit so gearteten ‚Spielen im Spiel‘ machte Goethe das symbolische Faustdrama schlagartig zur aktivierenden Kommunikationsinstanz. Die „Zueignung an Faust“, wie die Notiz im Tagebuch gewollt zweideutig festhält, bringt einerseits den Autor seinem schon zweimal liegengelassenen Dramenentwurf wieder näher. Aber die Präposition soll andererseits auch den Rezipienten näher an Faust heranbringen. Demzufolge fallen, der Eintragung im Tagebuch zufolge, Selbstverständigung und Einvernehmen mit dem Publikum in dieser Formulierung zusammen. Das bedeutet, zumindest vorbereitend, einen entscheidenden Schritt in Richtung der weiteren dramaturgischen Konzeption und Ausführung des Dramas als einer exemplarischen Illustration der humanistischen Idee vom autonomen, strebend sich in Welt und Geschichte – positiv wie negativ – entwickelnden Individuum. Vorderhand jedoch war erst einmal die direkte Fortführung des ersten Teils der „Tragödie“ zu leisten. Sie verlief eher stockend, zumal Goethe, wie meist, mit mehreren Projekten zugleich beschäftigt war580, ganz zu schweigen von der Leitung des Weimarer Theaters wie überhaupt seiner offiziellen Funktion am dortigen Hof. Immerhin konnte er Schiller kurz darauf berichten: „Ich werde sorgen daß die Thei­le anmuhtig und unterhaltend sind und etwas denken lassen; bey dem Ganzen, das immer ein Fragment bleiben wird, mag mir die neue Theorie des epischen Gedichts zu statten kommen“581. Diese Mitteilung ist in doppelter Hinsicht aufschlußreich. Die Neugestaltung soll nämlich zum einen „etwas denken lassen“, also auf das Bewußtsein des Publikums im Sinne der „Verstandesforderung“582, wie Goethe sagte, einwirken. Vor allem aber soll das mit Hilfe der „neuen Theorie des epischen Gedichts“ verwirklicht werden. Gemeint ist damit die von beiden Dichtern entwickelte These von der „Selbständigkeit der Theile im epischen Gedicht“583. Sie sollte nun auch auf das Drama angewandt werden. Mit der Übernahme dieses Begriffs war der gordische Knoten durchgeschlagen, der bislang die Fausthandlung im Fragment-Status eingeschnürt und so das „entwickelte Ganze“584 blockiert hatte. Hinfort konnte in zunehmend freier Handhabung autonomer Teile eine der weiteren Dramenkonstruktion angemessene offene Dramaturgie praktiziert werden. 580 Goethe arbeitete damals an den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, an „Benvenuto Cellini“, an der „Achilleis“ und an „Wilhelm Tell“ sowie an der „Sammlung der neueren Gedichte“. 581 WA IV.12, S. 170 (an Schiller am 27.6.1797). 582 So die Formulierung Goethes im Brief an Schiller vom 19.4.1797 (WA IV.12, S. 90). 583 SNA 29, S. 66 (an Goethe am 21.4.1797). 584 SNA 29, S. 88 (an Goethe am 26.6.1797).

188  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Bilanzierend merkte Goethe hierzu an: „Meinen Faust habe ich, in Absicht auf Schema und Übersicht, in der Geschwindigkeit recht vorgeschoben. … Es käme jetzt nur auf einen ruhigen Monat an, so sollte das Werk zu männiglicher Verwunderung und Entsetzen, wie eine große Schwammfamilie aus der Erde wachsen“585. Daraus wurde jedoch zunächst nicht viel. Freilich zeigt das von Goethe gebrauchte Bild der „Schwammfamilie“, daß sich der Autor die Konzeption eines Dramenbaus aus selbständigen Teilen entschieden zu eigen machte. Indes gestaltete sich der Umgang mit dieser, wie er ironisch anmerkte, „barbarischen Composition“586 alles andere als einfach. Wenig später mußte Goethe sogar vermelden: „Faust ist die Zeit zurückgelegt worden; die nordischen Phantome sind durch die südlichen Reminiscenzen auf einige Zeit zurückgedrängt worden, doch habe ich das Ganze als Schema und Übersicht sehr umständlich durchgeführt“587. Das bedeutet zwar viel im Blick auf die dramaturgische Theorie, wenig aber hinsichtlich des praktischen Fortkommens der Weiterarbeit am Dramentext. Im Verzeichnis der Schreibvorhaben für das Jahr 1798 heißt es darum vielsagend: „a) das Schema nochmals durchzugehen. b) Stimmung zur Ausführung abzuwarten“588. Das war allerdings leicht gesagt und schwer getan. Zum Frühjahrsbeginn 1798 mußte Goethe das Problem eingestehen, „den alten geronnenen Stoff wieder ins Schmelzen zu bringen“589. Danach konnte es nicht mehr verwundern, wenn im Mai die hinhaltende Bemerkung erfolgte: „Das alte, noch vorrätige, höchst konfuse Manuscript ist abgeschrieben und die Theile sind in abgesonderten Lagen, nach den Nummern eines ausführlichen Schemas hinter einander gelegt. Nun kann ich jeden Augenblick der Stimmung nutzen, um einzelne Theile weiter auszuführen und das Ganze früher oder später zusammen zu stellen“. Dabei sollte es zunächst bleiben. Als Haupthindernis stellte sich die Versifikation der Prosaszenen des Fragments heraus. Neue und alte Wirkungsabsicht waren nur mühsam miteinander in Einklang zu bringen. Auch dieses Problem wurde vom Autor gegenüber Schiller angesprochen: „Einige tragische Szenen [im Fragment] waren in Prosa geschrieben, sie sind durch ihre Natürlichkeit und Stärke in Verhältniß gegen das andere, ganz unerträglich. Ich suche sie deswegen gegenwärtig in Reime zu bringen, da denn die Idee wie durch einen Flor durchscheint, die unmittelbare Wirkung des 585 WA IV.12, S. 179 (an Schiller am 1.7.1797). 586 WA IV.12, S. 169 (an Schiller am 27.6.1797). 587 WA IV.12, S.  181  f. (an Schiller am 5.7.1797). Goethe war durch den Besuch des Archäologen Aloys Hirt mit der klassizistischen Theorie, vor allem mit Laokoon, befaßt. Er machte sich daran, darauf spielt der Hinweis auf die „südlichen Reminiscenzen“ an, einen Aufsatz zu diesem Thema zu schreiben („Über Laokoon“). 588 Zit. n.: MA 6.1, S. 852. 589 WA IV.13, S. 123 (an Charlotte Schiller am 21.4.1798). „Selbständigkeit der Theile“ als kommunikative Bauelemente  189

ungeheuern Stoffes aber gedämpft wird“ 590. Das neue Darstellungsverfahren mit dem Ziel, das Publikum „zu Ideen geleiten“ zu können, stieß sich an der sehr konkreten Wirklichkeitsnähe mancher Szenen, insbesondere der Gretchenhandlung. Die Übertragung in gereimte Verse stellt den Versuch dar, „die unmittelbare Wirkung“ der Prosaszenen ein wenig zurückzunehmen. Das bedeutete große Anstrengungen. Zunächst war Goethe guten Muts und ließ wissen, daß er „alle Tage wenigstens um ein Du[t]zend Verse“ vorrücke591. Doch hielt das nicht lange vor. Jedenfalls setzten Versifikation und Fortführung des Textes alsbald aus. Immerhin wußte Goethe nun, wie es weitergehen sollte. Das war das wesentliche Ergebnis seiner Beschäftigung mit der „Faust“-Dichtung zwischen dem Sommer 1797 und dem Frühjahr 1798. Die Schlußstanze der „Zueignung“ beschreibt das Erreichte und das noch zu Leistende: Und mich ergreift ein längst entwöhntes Sehnen Nach jenem stillen, ernsten Geisterreich, Es schwebet nun, in unbestimmten Tönen, Mein lispelnd Lied, der Äolsharfe gleich, Ein Schauer faßt mich, Thräne folgt den Thränen, Das strenge Herz es fühlt sich mild und weich; Was ich besitze seh’ ich wie im weiten, Und was verschwand wird mir zu Wirklichkeiten. (V. 25–32)

Viel blieb noch zu tun („Was ich besitze seh’ ich wie im weiten“). Klarheit war jedoch nun hergestellt über die Verfahrensweise beim Weiterkommen („Und was verschwand wird mir zu Wirklichkeiten“). Die vorrangige Arbeit, die Fertigstellung des ersten Faustteils, mußte jetzt unbedingt aufgenommen werden. Der Umgang mit Faust, Gretchen, Mephisto, Wagner, Erdgeist und Hexen erforderte freilich eine längere (Wieder-)Einstimmung. Erst zwei Jahre später fand Goethe die nötige Zeit zur Weiterarbeit. Kurz vor oder um die Jahrhundertwende entstand dann das überlieferte Schema einer Gesamtkonzeption, mit dem er das bis dato einteilige Drama in zwei Teile zerlegte und sich so die Möglichkeit schuf, zügig an die abschließende Arbeit des ersten Teils mit der ‚kleinen Welt‘ zu gehen und den zweiten Teil mit der ‚großen Welt‘ vorläufig zurückzustellen.

590 WA IV.13, S. 137 (an Schiller am 5.5.1798). 591 WA IV.13, S. 121 (an Charlotte Schiller am 18.4.1798).

190  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Die Ausführung des Plans: „Faust. Der Tragödie erster Theil“ Der unablässig und energisch um den Fortgang der Arbeit am „Faust“ bemühte Schiller versuchte nun sein Glück über den Verleger Johann Friedrich Cotta. Im Dezember 1798 und im März 1800 richtete er entsprechende Schreiben nach Tübingen mit dem ermahnenden Tenor: „Ich fürchte, Göthe läßt seinen Faust, an dem schon so viel gemacht ist, ganz liegen, wenn er nicht von aussen und durch anlockende Offerten veranlaßt wird, sich noch einmal an diese große Arbeit zu machen und sie zu vollenden. … Er rechnet freilich auf einen großen Profit, weil er weiß, daß man in Deutschland auf dieses Werk sehr gespannt ist“592. Cotta griff diese Anregung sogleich auf und machte Goethe ein entsprechendes Angebot593. Der nahm daraufhin tatsächlich die Faustaktion erneut in Angriff („das Werk heute vorgenommen und durchdacht“594). So erklärt sich auch die Anfertigung eines neuen Arbeitsplans. In dem mit ziemlicher Sicherheit vor September 1800595 zusammengestellten „Schema zur gesamten Dichtung“ zählte Goethe am Schluß seiner Planskizze drei Punkte auf, mit denen er erstmals eine ausgreifende Gesamtkonzeption der „Faust“-Dichtung andeutete. Er gliederte dabei den Ablauf der Tragödie in die drei folgenden Themengruppen: Lebens Genuß der Person von aussen gesucht: I. Theil in der Dumpfheit Leidenschaft. Thaten Genuß nach aussen und Genuß mit Bewußtseyn, Schönheit, zweyter Theil. Schöpfungs Genuß von innen: Epilog im Chaos auf dem Weg zur Hölle596.

Mit diesem Schema ist die klare Zweiteilung des „Faust“-Projekts in den „Lebensgenuß von außen“ („Faust I“) und den „Tatengenuß nach außen“ („Faust II“) wie auch die Betonung des Tragödiencharakters („Epilog im Chaos auf dem Weg zur Hölle“) vorgegeben. Damit war die endgültige Grundlage geschaffen für eine produktive 592 SNA 30, S. 146 (an Cotta am 24.3.1800). 593 Im Brief Cottas an Goethe vom 4.4.1800 schlägt dieser ein Honorar von 4000 Reichstalern vor. Das ist im Vergleich zum relativ hohen Jahresgehalt Goethes als Weimarer Minister in Höhe von 2500 Reichstalern ein höchst vorteilhaftes Angebot (vgl. hierzu: Schöne 1, S. 779). 594 WA IV.15, S. 56 (an Schiller am 11.4.1800). Am selben Tag notiert Goethe im Tagebuch: „Brief von Cotta. Faust angesehen“ (WA III.2, S. 287). 595 Goethe schreibt Schiller am 12.9.1800 über seine Arbeit am Auftreten Helenas und spricht dabei von den „Situationen … von denen Sie wissen“ (WA IV.15, S. 102). Das kann sich eigentlich nur auf die Kenntnis des zweigeteilten Stückes und insofern auf das Schema beziehen. S. hierzu auch: SNA 30, S. 195 f. (an Goethe am 13.9.1800). 596 Zit. n.: Schöne 1 (Texte), S. 577; vgl. hierzu auch: MA 6.1, S. 1052. Die Ausführung des Plans: „Faust. Der Tragödie erster Theil“  191

Weiterarbeit. Guten Gewissens konnte Schiller den Freund nun ermunternd dazu auffordern, hinfort in seinem Stück „überall“ sein „Faustrecht [zu] behaupten“597. Bezeichnenderweise machte Goethe sich daraufhin sogleich an die Arbeit. Neben den für den Schluß des Dramas gedachten Gedichten „Abkündigung“ und „Abschied“ nahm er sich zunächst das „Satyr-Drama“ über „Helena im Mittelalter“, also eine zentrale Episode zu „Faust II“, vor598. Die zeitgenössische Aktualität der griechischen Befreiungskriege trug dazu bei, das ohnehin vorhandene Interesse an der griechischantiken Kultur zu aktualisieren. Zur direkten Begegnung der antiken Heldin mit dem nordisch-barbarischen Faust kam es dabei zwar noch nicht. Dem Autor war es jedoch bei diesem Experiment wichtig, von Schiller hören zu können: „Das Barbarische der Behandlung, das Ihnen durch den Geist des ganzen auferlegt wird, kann den höhern Gehalt nicht zerstören und das Schöne nicht aufheben. Nur es anders specifizieren und für ein anderes Seelenvermögen zubereiten. Eben das Höhere und Vornehmere in den Motiven wird dem Werk einen eigenen Reiz geben, und Helena ist in diesem Stück ein Symbol für alle die Schönen Gestalten, die sich hinein verirren werden“599. Eine bessere Ermutigung zur Gestaltung des zweiten „Faust“-Teils hätte sich Goethe kaum wünschen können. Damit war tatsächlich, wie Schiller betonte, der „Schlüßel zu dem übrigen Theil des Ganzen gefunden“600. Zum jetzigen Zeitpunkt mußte jedoch erst einmal Teil eins der Faustgeschichte ernsthaft weiter vorangebracht werden. In dieser Absicht arbeitete Goethe, außer an dem erwähnten Helena-Fragment, im Spätsommer 1800 gleichfalls an den Szenen der „Walpurgisnacht“. Im Verein mit der bereits in Italien ersonnenen und ins „Fragment“ eingefügten „Hexenküche“ schuf er dadurch eine dramaturgisch wichtige Klammer für die Gretchenhandlung. Gründlich hatte sich der Autor durch eingehendes Quellenstudium auf den Hexensabbat und damit auf Fausts sinnlichen Entgrenzungsversuch in der von Mephisto angestifteten krassen Sexualsphäre vorbereitet601. Darauf konnte er nun bei der Weiterführung des Textes aufbauen. Die Wiedereinarbeitung in den Faust-Zusammenhang war damit geleistet. Aber manches blieb noch zu tun. Hauptsächlich mußte

597 SNA 30, S. 196 (an Goethe am 13.9.1800). 598 S.  hierzu: Schöne 1, S.  671–679. Schon zu den Anfängen von Goethes Kenntnis der Faustgestalt gehört die im Volksbuch erwähnte Verbindung mit dem „Schlafweib“ Helena als Episode der wüsten Sinnlichkeit. Bei Goethe erscheint sie sublimiert als Kunstfigur zur Verbindung Fausts mit der schönsten Frau der antiken Welt. 599 SNA 30, S. 195 f. (an Goethe am 13.9.1800). 600 SNA 30, S. 198 (an Goethe am 23.9.1800). 601 Vgl. hierzu: MA 6.1, S. 981 (Kommentar von Victor Lange).

192  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

erst einmal die „große Lücke“602 zwischen der Eingangsszene und der Wette mit Mephisto geschlossen werden. Mit dem Selbstmordversuch Fausts, dem weitläufig angelegten Osterfestgeschehen und der Seelenverschreibung Fausts wurde dem Genüge getan. Von September bis November 1800 sowie von Februar bis April 1801 tauchen im Tagebuch laufend Eintragungen auf, die den gezielten Fortgang der Arbeit bezeugen. Außer der „Walpurgisnacht“ entstanden der Osterspaziergang („Vor dem Tor“), die Wett-Szene mit Mephisto („Studierzimmer II“) wie dann ebenso die Valentin-Szene („Nacht“) und die in Verse gefaßte „Kerkerszene“603. Das war wirklich ein großer Fortschritt. Bald aber ließ der damit eingetretene Schwung wieder nach, so daß Schiller gegen Jahresende Cotta enttäuscht schrieb: „Beinahe verzweifle ich daran, daß er seinen Faust noch vollenden wird“604. Daran war keineswegs nur die schwere Krankheit Goethes605 zu Jahresbeginn schuld. Sie führte aber dazu, daß er danach mehrere Monate zur Erholung in Oberroßla und anschließend zur Kur in Bad Pyrmont zubringen mußte. Außerdem nutzte er die Gelegenheit, bei der Rückkehr von dort mehrere Wochen in Göttingen haltzumachen, um in der dortigen Bibliothek die Weiterarbeit an seiner „Farbenlehre“ zu befördern. Schiller zog daraus die Konsequenz: „Er [Goethe] ist zu wenig Herr über seine Stimmung; … und über den vielen Liebhaber[-]Beschäftigungen, die er sich mit Wissenschaftlichen Dingen macht, zerstreut er sich zu sehr“606. Für mehrere Jahre geschah wiederum nichts am Fausttext. Neben den naturwissenschaftlichen Bemühungen Goethes spielten dabei nicht zuletzt seine vielen gesellschaftlichen Aktivitäten eine Rolle. Zu jener Zeit beschäftigten ihn nicht nur Angelegenheiten der Universität Jena und, nach wie vor, die zeitraubende Direktion des Weimarer Theaters, sondern auch die Vorbereitung einer neuen Zeitung, der ‚Jenaischen Allgemeinen-Literatur-Zeitung‘. Außerdem widmete er sich mit Eifer der Organisation der von ihm angeregten Mittwochsgesellschaft, deren Themen er weitgehend selbst bestritt. Zusätzlich ergaben sich im Jahre 1804 durch die Einweihung des neuen Schlosses und die Heirat des Erbprinzen Karl Friedrich 602 WA IV.15, S. 214 (an Schiller am 4.4.1801). 603 Bei diesen Angaben folge ich den Ausführungen des Bearbeiters Victor Lange (MA 6.1, S. 982). 604 SNA 31, S. 77 (an Cotta am 10.12.1801). 605 Goethe kam an Weihnachten 1800 aus Jena mit einem schweren Katarrh nach Weimar zurück. Bald danach überzog eine Wundrose sein Gesicht. Zudem entwickelte sich ein Ödem des Kehlkopfs und eine Anschwellung der Mandeln. Das wiederum hatte Erstickungsanfälle im Gefolge sowie eine Hirnhautentzündung. Da er sogar mehrere Tage nicht bei Bewußtsein war, konnte er erst am 1.2.1801 seiner Mutter mitteilen, er wolle nun „die Lebensfäden wieder anknüpfen“ (WA IV.31, S. 173). 606 SNA 31, S. 77 (an Cotta am 10.12.1801). Die Ausführung des Plans: „Faust. Der Tragödie erster Theil“  193

mit der russischen Zarentochter Maria Pawlowna für ihn zahlreiche Verpflichtungen. Denn bei alledem war Goethe gefragt. Zu einem besonders heftigen Einschnitt in seinem Leben kam es durch den Tod Schillers am 9. Mai 1805. Der so sehr um die Fertigstellung bemühte, unermüdlich mahnende Freund erlebte also nicht einmal den Abschluß von „Faust I“607. Immerhin bereicherte der Altphilologe Friedrich Wilhelm Riemer ab 1803 als anregender Mitarbeiter den Goethe-Zirkel. Mit ihm konnte dann gleich zu Anfang des Jahres 1806 auch die Arbeit am ersten Teil der Tragödie schließlich doch weiter vorangetrieben werden. Erst im Zusammenhang der mit Cotta vorbereiteten neuen Ausgabe seiner Werke schrieb Goethe im September 1805 an den Verleger: „Was ich in den vierten Band bringe, darüber bin ich mit mir selbst noch nicht einig. Ist es mir einigermaßen möglich, so tret ich gleich mit Faust hervor“608. Wiederum ein halbes Jahr später findet sich im Tagebuch die Notiz: „Faust angefangen durchzugehen mit Riemer“609. Damit war der Bann gebrochen. Es war der Beginn eines extrem arbeitsintensiven Monats. Allerhand kompositorische Entscheidungen mußten vorrangig getroffen werden. Es ging dabei um den definitiven Verzicht auf die Szene „Land Strase“ sowie um die Verschiebung der „Dom“-Szene hinter die Szene „Nacht“. Gleichfalls zu prüfen waren – im Sinne der Selbstzensur – die für notwendig erachteten Weglassungen von Teilen des „Walpurgisnachtstraums“610. Bereits am 25. April 1806 folgte die Eintragung: „Faust, letztes Arrangement zum Druck“611. Es war der Gesamttext in Versen, mit Ausnahme der in Prosa belassenen Szene „Trüber Tag. Feld“. Außerdem fehlten noch einige Verse aus dem „Walpurgisnachts-Traum“ (V. 4335–4342), aber der „Walpurgissack“612 war ohnehin schon übervoll. Hauptsache, das Manuskript war nun abgeschlossen. Befriedigt konnte Goethe danach im Juli und August 1806 nach elfjähriger Pause wieder einmal zur Kur nach Karlsbad reisen. Wegen der napoleonischen Kriegswirren verzögerte sich jedoch die Herstellung des Drucks fast um weitere zwei Jahre. Erst zur Ostermesse 1808 konnte endlich „Faust. Der Tragödie erster Theil“ als achter Band der Cotta-Werkausgabe mit vier beigefügten Illustrationen von Christian Friedrich Osiander613 erscheinen. Damit 607 Mit Recht schrieb Wilhelm von Humboldt am 5.6.1805 bedauernd an Goethe: „Daß der arme Schiller auch Ihren Faust nun nie vollendet sieht“ (zit. n.: Schöne 1, S. 783). 608 WA IV.19, S. 65 (an Cotta am 30.9.1805). 609 WA III.3, S. 122 (Eintragung vom 21.3.1806). 610 Vgl. hierzu: Schöne, Albrecht: Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethe-Texte. München 1982. 611 WA III.3, S. 126 (Eintragung vom 25.4.1806). 612 Zit. n.: Gräf, II.2, Nr. 1174, S. 227 (Bericht Johannes Daniel Falks vom 21.6.1816). 613 Christian Friedrich Osiander legte Zeichnungen in Rembrandtscher Hell-dunkelManier vor. Seine Themen waren: „Erscheinung des Erdgeistes“, „Auerbachs Keller“,

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lag nunmehr der Text gedruckt vor, der zu Goethes meistgespielten Dramen gehört und von dem bestimmt die größte Wirkung bei der Nachwelt ausging. Allerdings blieb mit diesem ersten Teil, im Kern konzentriert auf Gelehrtentragödie und Gretchentragödie, Fausts Weltfahrt in ihren Anfängen stecken. Faust ist hier noch nicht der gesellschaftliche Ideenträger, sondern steht am Dramenschluß als tief Schuldiger da („Heinrich! Mir graut’s vor dir!“, V. 4610). Wir erleben in der „Kerker“-Szene das Ende einer Tragödie. Aber sie ist nicht das Ende Fausts. Mit Helena wie auch mit dem „Prolog im Himmel“ beschäftigte sich der Autor bereits mit dem „Tatengenuß nach außen“ des zweiten Teils. So gesehen ist auch „Faust I“ lediglich ein Torso, ein Fragment, das geraume Zeit als repräsentatives Endprodukt und Summum bonum der Nationalliteratur aufgefaßt wurde. Allermeist führten die Theater in der Folgezeit noch lange nach Goethes Tod allein den ersten Teil der Faustdichtung auf. In gleicher Weise beschränkte sich die Schullektüre in der Regel auf diesen leicht überschaubaren, paradigmatisch gut brauchbaren Mustertext des deutschsprachigen Bildungsprogramms. In dramaturgischer Sicht stellt „Faust I“ ersichtlich ein Konglomerat aller bisherigen Phasen der Gestaltung dar. Während die final gerichtete Gretchenhandlung mit ihren konkret wiedergegebenen Charakteren und Situationen noch vollkommen in Sturm-und-Drang-Manier und nach dem Schema des bürgerlichen Trauerspiels in dramatischer Vergegenwärtigung angelegt ist, reihen sich um diesen Kern herum zum Publikum hin offene Szenen mit zunehmend reflexiver Grundanlage. Die Tendenz zum Symbolischen gibt den unterschiedlichen Teilen der Dramenkonstruktion eine deutlich auf Zuschauer oder Leser übertragbare Transparenz. An die Stelle der Sinnlichkeit tritt mehr und mehr die Imagination im Geiste theatralischer Metaphorik. Goethe hat hier wirklich dramaturgisch „in großen Massen disponiert“614. Die Spannweite reicht vom Rüpelspiel in Auerbachs Keller bis zu den angehobenen Monologen Fausts. Das war die Umsetzung der von Schiller angesprochenen „Totalität der Materie“. Vor allem mit den drei ‚Präludien‘ („Zueignung“, „Vorspiel auf dem Theater“, „Prolog im Himmel“) eröffnete Goethe den Horizont des Welttheaters. Deswegen war der endlose Streit zwischen ‚Unitariern‘ und ‚Fragmentisten‘ von vornherein müßig. Stileinheit darf füglich nicht erwartet werden von einem Werk, an dem der Autor schon damals mehr als drei Jahrzehnte gearbeitet hatte. Alle dargestellten Elemente – Personen, Handlung, Komposition, Sprache und Sprachform – verändern sich mit dem Bewußtsein des Schöpfers. Die früh verfaßte Gretchentragödie bildet ein in sich geschlossenes Ganzes mit konsequent ablaufender Handlung. Gleiches gilt für den Eingangsmonolog Fausts. Demgegenüber spielt sich die weitere „Nacht. Offenes Feld“, „Kerker“. 614 WA IV.12, S. 167 (an Schiller am 22.6.1797). Die Ausführung des Plans: „Faust. Der Tragödie erster Theil“  195

Fausthandlung in uneinheitlichen, komplementären Ausschnitten ab. Sie bilden mit ihrer eigenen Raum- und Zeitbewegung ein anders geartetes, offenes dramatisches Gefüge. Besonders deutlich wird das Zusammenspiel von punktueller Autonomie und finaler Zuordnung der Teile am Beispiel der von Faust eingegangenen Wette, seine Seele dem Teufel zu verschreiben, wenn er je selbstzufrieden und wunschlos glücklich innehalten würde („Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! … Dann will ich gern zu Grunde gehen!“, V. 1699 f. und 1702). Conrady hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht: „Diese Wette gilt nun für das ganze weitere dramatische Geschehen, wenn auch von ihr nicht mehr die Rede sein wird“615. Derlei charakterisiert den andeutenden Faust-Stil. Gerade diese neu gefundene dramaturgische Lösung erwies sich als zukunftsträchtiges ästhetisches Programm. Für einige Zeit konnte Goethe nun in der Überzeugung leben, mit den dynamischen, antiillusionistischen Szenenfolgen außerhalb der Gretchenhandlung gestalterisch die nötige Innovation geleistet zu haben. Hauptsächlich aber trägt die auktorial gesteuerte Formgebung entscheidend dazu bei, die ausdrucksmäßig autonomen Elemente durch die abschließend praktizierte Gestaltungsebene durchgängiger Verssprache in den verschiedensten Versformen zur letzten Endes doch zusammengehörigen Komposition zu verschmelzen616. In erster Linie war mit der Versifikation der „poetische Reif “ gefunden, den Schiller für „die aufquellende Masse“ der einzelnen Bauteile gefordert hatte. Auch die dramaturgisch anders strukturierte Gretchenhandlung wird zu einem dem Gesamtspiel und der komplexen Gesamtidee zugeordneten Funktionselement. Dergestalt sprengte Goethe bewußt die eingefahrenen Gattungsschablonen. Das gerade gibt dem ersten Teil des Faust-Spiels sein besonderes formhistorisches Gewicht. Leicht wird dabei von vielen übersehen, daß der Text in hohem Maße auf theatralische Umsetzung zielt. Er enthält etliche unmittelbar Schauspieler, Regie, Bühnenbild, Masken oder technische Abläufe betreffende Anweisungen. Ersichtlich gehen sie auf die langjährigen Bühnenerfahrungen des Theaterdirektors Goethe zurück. Seiner Dramaturgie entspringen offene Texte, die er als theatralische Partituren anlegt. Er will damit Illusion schaffen, ohne zu leugnen, daß es sich um eine Illusion handelt. Das ist sein Weg, das Bewußtsein anderer anzusprechen, sie – wie es Schiller vorschwebte – „für ein anderes Seelenvermögen zu(zu)bereiten“. 615 Conrady: Bd.  II, S.  320. Erst im zweiten Teil der „Faust“-Dichtung, mithin kurz vor Schluß, greift Goethe darauf zurück (V. 11581 f.). 616 Vgl. hierzu auch: Zezschwitz, Eberhard von: Komödienperspektive in Goethes ‚Faust I‘. Dramentechnische Integration eines Sturm-und-Drang-Fragments in den Ideenzusammenhang der Klassik. (= Europäische Hochschulschriften, Bd. 803). Bern, Frankfurt/M., New York 1985.

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Goethe konnte sich für sein Drama von vornherein großer Resonanz bei den Zeitgenossen sicher sein. Manche Leser reagierten zwar eher ablehnend, wie etwa der Weimarer Kollege Wieland („Was wird sich der neue ‚Prometheus‘ für lustige Kontorsionen geben, um uns weiszumachen, daß dieser ‚Faust‘ das Nonplusultra des menschlichen Geistes und das göttlichst-menschlichste und teuflischste aller Dichterwerke sei?“617), oder vorsichtig distanziert, wie der Gymnasialdirektor Karl August Böttiger („… es ist das Höchste, wenn auch mitunter bizarrste, was der Genius der deutschen Dichtkunst hervorgebracht hat“618). Volle Anerkennung zollte hingegen Hegel. Der Philosoph würdigte in seiner „Ästhetik“ die von Goethe geschaffene „absolute philosophische Tragödie“ als „die tragisch versuchte Vermittlung des subjektiven Wissens und Strebens mit dem Absoluten“, die „eine Weite des Inhalts“ herbeiführe, „wie sie in ein und demselben Werke zu umfassen zuvor kein anderer dramatischer Dichter gewagt“ habe619. Auch im Ausland stieß „Faust I“ auf großes Interesse. Madame de Staël widmete dem Stück in ihrer 1810 publizierten und von Napoleon umgehend verbotenen Schrift „De l’Allemagne“ ein eigenes Kapitel. Der schottische Historiker und Essayist Thomas Carlyle verfaßte sogar zwei richtungsweisende Studien über den Faust (1822 und 1828). So rasch jedoch sich das nunmehr gedruckt vorliegende Werk unter der Leserschaft verbreitete, so zögerlich reagierten die Bühnen. Schuld daran waren nicht zuletzt die unruhigen politischen Verhältnisse nach dem unrühmlichen Ende des ‚Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation‘ und mehr noch infolge der fortgesetzten kriegerischen Unternehmungen Napoleons, mit denen dieser die Landkarte Europas von Jahr zu Jahr veränderte. Mit Fug und Recht sah Goethe in dem korsischen Emporkömmling, der sich im Alleingang vom General der blutigen Revolution zum autoritätsbesessenen Kaiser der Franzosen aufgeschwungen hatte, die Inkarnation des dämonischen Menschen schlechthin. Noch ehe er im Herbst 1808 diesem außergewöhnlichen Machtrepräsentanten beim Fürstentag in Erfurt persönlich begegnete, stufte er ihn als „die höchste Erscheinung“ ein, „die in der Geschichte möglich war“620. Unbedingt gehört die Erinnerung an jene zeitgeschichtlichen Ereignisse zur Beurteilung der anfänglichen Wirkungsgeschichte von „Faust I“. Die historischen Rahmenbedingungen waren jedenfalls für die theatralische Rezeption denkbar ungünstig.

617 Zit. n.: Bode, Bd. 1, S. 393. 618 Zit. n.: MA 6.1, S. 992 (Lange erwähnt hier in seinem ausführlichen Kommentar unter anderem auch die Rezension Böttigers). 619 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Ästhetik. Mit einem einleitenden Essay von Georg Lukács. Berlin 1955, S. 1094. 620 WA IV.19, S. 258 (an Knebel am 3.1.1807). Die Ausführung des Plans: „Faust. Der Tragödie erster Theil“  197

Schwierigkeiten mit „Faust II“ Von der abgeschlossenen Faustdichtung her gesehen war „Faust I“ dem Status nach immer noch ein bloßes, wenngleich grundlegendes Teilstück. Der mit dem „Prolog im Himmel“ umrissene total ausgeweitete Spielentwurf harrte weiterhin der Vollendung. Zwar hatte Goethe klare Vorstellungen von der Fortsetzung621, doch gelang es ihm lange nicht, der Masse des sich häufenden Stoffes Herr zu werden. Dies um so mehr, als er ja immer zahlreichen Arbeitsvorhaben nebeneinander nachging622. Beim Sprung Fausts in Welt und Geschichte galt es, wie er formulierte, „aus kleinen Kreisen Welt in Welt“ zu schaffen623. Viele Gestalten traten dabei in Erscheinung, Zeiten und Räume taten sich auf, die alle ihre jeweilige Selbständigkeit beanspruchten, aber gleichzeitig dem Faustkomplex integriert werden mußten. Resümierend bemerkte Goethe deshalb: „Der erste Teil ist fast ganz subjektiv. … Im zweiten Teile aber ist fast gar nichts Subjektives, es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt“624. Mit der konventionellen Erwartung einer ‚Einheit der Handlung‘ oder gar linearer Szenenfolge war hier kein Weiterkommen. Die offenkundige „Selbständigkeit der Teile“ wurde vom Autor, wie erwähnt, zutreffend mit dem Bild der „Schwammfamilie“ bezeichnet. Schon 1795 stufte er den neuen „Faust“ seiner uneinheitlichen Komposition wegen auch als „Tragelaph“625 ein. Diese eigenartige Bauweise einer sich allmählich dialektisch organisierenden Form war ein nur schwer zu behebendes strukturelles und kompositorisches Problem. Um es auf einen dem Dramenablauf gemäßen Nenner zu bringen, löste Goethe es am Ende etwas gewaltsam, aber im Einklang mit der vom Symbolischen und Allegorischen genährten Idealität des zweiten „Faust“-Teils, durch das konventionelle Bauschema eines Dramas in fünf Akten. Allerdings folgen die sehr verschieden langen Akte keiner durchgängigen dramatisch-kausalen Linie. Zwar durchziehen verschiedene Motivlinien das Ganze, aber die Autonomie der einzelnen Teile bleibt durchweg gewahrt. Im 621 Vgl. hierzu die Tagebucheintragung von Sulpiz Boisserée vom 3.8.1815 (HA 3, S. 430). Goethe beendete demnach beider Dialog über Faust mit der hinhaltenden Bemerkung: „Faust macht am Anfang dem Teufel eine Bedingung, woraus schon alles folgt“. 622 1809 legte Goethe „Die Wahlverwandtschaften“ vor, 1810 die „Farbenlehre“, ab 1811 „Dichtung und Wahrheit“ und 1814/15 den „West-östlichen Divan“. 623 So lautet V. 20 im Schlußgedicht zur Faustdichtung unter dem Titel „Abschied“: „Sie (Einigkeit) schafft aus kleinen Kreisen Welt in Welt“ (zit. n.: MA 6.1, S. 1051). 624 Zu Eckermann am 17.2.1831 (MA 19, S. 410 f.). 625 Der Begriff bezeichnet im Griechischen das Fabeltier des aus der Norm fallenden ‚Bockhirschs‘, will sagen ein verschiedenen Gattungen zuzuordnendes Mischwesen. Goethe hat den Begriff im Erfahrungsaustausch mit Schiller verwendet (WA IV.10, S. 265; an Schiller am 10.6.1795: „Hierbey ein Tragelaph von der ersten Sorte“).

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Grund bestimmt die Szenenfolge den Ablauf mindestens genauso wie die Akteinteilung. Kein Wunder, daß der Weg dahin voller Hindernisse steckte. Wohl hatte Goethe im September 1800 das „Helena“-Fragment („Helena im Mittelalter. Satyrdrama. Episode zu ‚Faust‘“626) in durchaus klassizistischer Manier begonnen, danach jedoch die Arbeit daran wieder ruhen lassen. Klassisches Ambiente und mittelalterliche Enge lagen zunächst einmal zu weit auseinander. Fausts Ichbezogenheit und die universale Typisierung seines Durchgangs durch die „große Welt“ mußten erst in Wechselbeziehung zueinander gesetzt werden. Mit Recht hat Albrecht Schöne die folgende Äußerung Goethes gegenüber dem Bremer Privatgelehrten und Gräzisten Carl Jacob Ludwig Iken (1789–1841) als wohl „die aufschlußreichste“ zu Komposition und Konstruktion des zweiten Faustteils bezeichnet627. Sie lautet: „Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direct mittheilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren“628. Die somit von Goethe vertretene Konzeption gegensätzlicher, aber aufeinander bezogener Vorgänge entspringt seinem grundsätzlichen PolaritätsDenken von Systole und Diastole, Kontraktion und Dilatation (Ausdehnung), Attraktion und Repulsion. Ziel ist dabei die Steigerung im Leben. Der Autor versteht sie als eine Verbindung von Gegensätzen, die trotz ihrer gegensätzlichen Bestimmung zu höherer, ästhetisch und moralisch wirkender Einheit finden. So auch im Wechselspiel der thematischen und architektonischen Bauelemente des zweiten Faustteils. Sie stellen, mit Schöne zu sprechen, das „eigentliche Bindemittel der FaustDichtung“629 dar. Erst sechzehn Jahre nach dem ersten Versuch mit Helena („Helena im Mittelalter“) skizzierte Goethe vom 16. bis 20. Dezember 1816, im Rahmen seiner Autobiographie, eine ziemlich detaillierte Inhaltsangabe des zweiten Faustteils630. Der Text blieb unveröffentlicht, weil Eckermann ihn zurückhielt und bei seinen Versuchen benutzte, Goethe unverdrossen zur Weiterarbeit zu ermuntern. Interessant ist daran die schon erkennbare Gestaltungslinie des Dramenauftakts. Der Umschlag gegenüber

626 627 628 629 630

Vgl. hierzu: MA 6.1, S. 327–334. Schöne 2, S. 50. WA IV.43, S. 83 (an Carl Jacob Ludwig Iken am 27.9.1827). Schöne 2, S. 50. Die Inhaltsangabe sollte in das 18. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ aufgenommen werden. Daß es dazu nicht kam, geht auf Eckermann zurück, der von der Veröffentlichung abriet (vgl. hierzu: MA 18.1, S. 543). Schwierigkeiten mit „Faust II“  199

der Machart des ersten Faustteils erfolgt gleich mit dem Zwischenspiel des Heilschlafs. Dazu heißt es bereits in der Inhaltsbeschreibung: Zu Beginn des zweiten Theiles findet man Faust schlafend. Er ist umgeben von Geister Chören, die ihm in sichtlichen Symbolen und anmuthigen Gesängen die Freuden der Ehre, des Ruhms, der Macht und Herrschaft vorspiegeln. Sie verhüllen in schmeichelnde Worte und Melodien ihre eigentlich ironischen Anträge. Er wacht auf, fühlt sich gestärkt, verschwunden alle vorhergehende Abhängigkeit von Sinnlichkeit und Leidenschaft. Der Geist, gereinigt und frisch, nach dem Höchsten strebend631.

Man sollte in dieser Beschreibung nicht gleich mit Wilhelm Emrich eine direkte Fortsetzung im Geiste der dramaturgischen Handlungsführung des ersten Faust-Teils sehen. Emrich unterstellt nämlich, Goethe habe erst im Zuge der Ausarbeitung der „Anmuthigen Gegend“ (V. 4613–4727), wohl im März 1826 und Sommer 1827, „dem Werk bewußt einen völlig neuen und anderen Charakter gegeben“632. Eher gilt da die organische Deutung Albrecht Schönes: „Die Gnade der Natur senkt den ‚Unglücksmann‘ hier in einen Heilschlaf, der ihn vergessen macht und ‚gesunden‘ läßt“633. Das Elfen-Intermezzo zeigt jedenfalls, wie auch schon die obige Inhaltsangabe klarlegt, von Beginn an einen ‚neuen‘, verwandelten Faust. Sein Weg durch die ‚große Welt‘ erbringt für ihn ein neues, geistig bestimmtes Leben mit neuen Herausforderungen. Goethe leitete davon her, „man müsse bey Bearbeitung eines zweyten Theils sich nothwendig aus der bisherigen kummervollen Sphäre durchaus erheben und einen solchen Mann, in höhere Regionen, durch würdigere Verhältnisse durchführen“634. Auf den qualitativen Unterschied zwischen beiden Teilen legte er größten Wert. In deutlicher Absicht machte er seinen französischen Übersetzer darauf aufmerksam: „Dieser zweyte Theil nun ist in Anlage und Ausführung von dem ersten durchaus verschieden, indem er in höheren Regionen spielt und dadurch von jenem sich völlig absondert“635. Der so umschriebene neue Ausdrucksgestus schlägt sich formal in einer konsequent veränderten Dramaturgie nieder. Daraus erwächst ein theatralisches Universum aus der kontrapunktischen Dramatik von hell und dunkel der spannungsvollen Lebensbewegung. Faust bewegt sich nicht mehr in 631 WA I.15.2, S. 173 f. (Paralip. 63: „Skizze der Urgestalt“); ebenso Schöne 1, S. 593 und 786 f. 632 Emrich, Wilhelm: Das Rätsel der ‚Faust ii‘-Dichtung. Versuch einer Lösung. In: Keller III, S. 26–54; Zitat: S. 29. 633 Schöne 2, S. 396. 634 WA I.15.2, S. 199 (Paralip. 123). 635 WA IV.42, S. 119 (an Albert Stapfer am 3.4.1827).

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einer konkreten Umwelt, vielmehr sieht er sich symbolisch pointierten Daseinsbereichen ausgesetzt. Er ist nicht mehr ‚Held‘ des Handlungsablaufs, sondern symptomatisches Objekt des Weltgeschehens. Dabei ließ Goethe allerdings den Ausgang des Ganzen mittels einer ironischen Floskel bewußt im dunkeln636. Insofern liest sich die Inhaltsangabe eher so, als wolle ihr Verfasser der Nachwelt wenigstens Bericht erstatten vom geplanten, aber nicht zu Ende geführten Gestaltungszusammenhang. Daß ihm Faust jedoch weiterhin durch den Kopf ging, zeigt die im Tagebuch vermerkte Lektüre des ihm vorher nur vom Hörensagen bekannten Marloweschen Faust-Dramas637. Ebenso bezeugt das anhaltende Interesse ein zwei Jahre später entstandener Brief an den Philologen Karl Ernst Schubarth (1796–1861), in welchem er dessen zutreffende „Conjecturen über den zweyten Theil“ zum Anlaß nimmt einzugestehen: „Sie haben mich hierüber wieder so lebhaft denken machen, daß ich’s, Ihnen zu Liebe, noch schreiben wollte“638. Dabei blieb es freilich zunächst einmal. Erst mit dem Jahr 1825, fast zwei Jahrzehnte nach der Fertigstellung des ersten Faustteils, tauchen im Tagebuch Hinweise auf, die eine entschlossene Wiederaufnahme der Arbeit belegen639. Damit kam Goethe endlich dazu, diejenige seiner poetischen Gestaltungen konsequent zu Ende zu bringen, die er in jenen Jahren als sein „Hauptgeschäft“ zu bezeichnen pflegte. Für die radikal neue Dramaturgie schufen Goethes Erfahrungen am Hof sowie als Theaterdirektor mit Festspielen, Maskenzügen, zahlreichen Singspiel- und Operninszenierungen sowie einer ganzen Reihe verschiedenster Bühnenbearbeitungen denkbar günstige Voraussetzungen. Außerdem machte er sich die gesamte Theatergeschichte zunutze, um zugleich weit darüber hinauszugreifen. Wir stoßen im Helena-Akt auf den Einfluß der antiken Tragödie, wie dann im „Prolog im Himmel“ und in der Schlußszene Elemente des mittelalterlichen Mysterienspiels erkennbar sind. An vielen Stellen schlägt die offene Form des elisabethanischen Theaters durch 636 Es heißt da nur: „Indessen altert er [Faust] und wie es weiter ergangen wird sich zeigen, wenn wir künftig die Fragmente oder vielmehr die zerstreut gearbeiteten Stellen dieses zweiten Theils zusammen räumen und dadurch einiges retten was den Lesern interessant seyn wird“ (Bericht für „Dichtung und Wahrheit“; Schöne 1, S. 193). 637 Eintragung vom 11.6.1818: „Dr. Faust von Marlowe“ (WA III.6, S. 215). Gemeint ist damit die 1592 uraufgeführte und 1602 veröffentlichte „Tragische Historie vom Doktor Faustus“ („The tragical History of the Life and Death of Doctor Faustus“) von Christopher Marlowe, der als erster das ins Englische übersetzte Volksbuch dramatisierte. 638 WA IV.34, S. 5 (an Karl Ernst Schubarth am 3.11.1820). 639 Erwähnt seien nur die folgenden Hinweise von 1825 (WA III.10, S. 23 und 25): „An Faust einiges gedacht und geschrieben“ (Eintragung vom 26.2.), „Betrachtungen über Faust. Die älteren Nacharbeitungen vorgenommen. Einiges zurechte gestellt“ (Eintragung vom 27.2.), „Einiges an Faust geordnet“ (Eintragung vom 2.3.). Schwierigkeiten mit „Faust II“  201

(z. B.: „Ad spectatores“, vor V. 11286). Wir begegnen sogar gelegentlichen Annäherungen an den Opernstil und ebenso Partien, die bis ins Parodistische gehen. Aus all diesen Grundlagen erwuchs ein vehementes Wort-, Bilder-, Klang- und Bewegungstheater, das universale Horizonte öffnet. Was dem Publikum solchermaßen theatralisch vorgesetzt wird, ist in keiner Weise einfache Reproduktion von Wirklichkeit. Vielmehr handelt es sich um stilisiert vermittelte symbolisch-analytische Reflexe einer Lebensparabel in poetisch-dramatischen Bildern. „Faust II“ ist ein aus innerer Vorstellung heraus aufgebautes Welt- und Lebensspiel in sprachszenischer Fügung.

Kontinuierliche Ausarbeitung von „Faust II“ von 1825 bis 1831 Die praktische Ausarbeitung des zweiten Faustteils erfolgte höchst unsystematisch. Zunächst nahm Goethe sich aus dem ersten Akt die weitläufige Szenerie am Kaiserhof vor (Thronsaal und die Mummenschanz640), dann Elemente des fünften Aktes („Auf dem Vorgebirg“), schließlich, bis 1827, den Helena-Komplex. Die Gestalt Helenas, „eine meiner ältesten Conceptionen“, wie der Autor sagte641, wurde jetzt, statt auf einer mittelalterlichen Burg im Rheingebiet wie im ersten Entwurf von 1800, zunächst wieder in ihrer spartanischen Heimat angesiedelt. So konnte sich für ihn die legendäre Gestalt ungebrochen in ihrer ‚klassisch-antiken‘ Sphäre als ideelle Inkarnation des Schönen und der Kunst entfalten. Bald nach der Fertigstellung der ‚faustischen‘ „Helena“ im Januar 1827642 mit der Zuschreibung als „Klassisch-romantische Phantasmagorie. Zwischenspiel zu Faust“ gab Goethe diesen Teil des Dramas, der am Ende den dritten Akt bildete, im Rahmen des 1828 erscheinenden vierten Bandes der ‚Ausgabe letzter Hand‘ zum Druck. Im selben Jahr legte er im zwölften Band den Hauptteil des ersten Aktes (V. 4613–6036) gedruckt vor, nachdem zwischen 1826 und Januar 1828 auch der Aktbeginn („Anmuthige Gegend“) abgeschlossen worden war. Mit diesen beiden Veröffentlichungen waren nun schon einmal zwei solide Bauelemente der Öffentlichkeit zugänglich.

640 Goethe gebraucht noch die frühneuhochdeutsche feminine Form der ‚Mummenschanz‘ als Bezeichnung eines Würfelspiels im Rahmen des Maskentreibens im Karneval. 641 WA IV.41, S. 202 (an Wilhelm von Humboldt am 22.10.1826). In den gleichen Zusammenhang gehören die 1804 verfaßten lyrischen Reflexionen über die „Verherrlichung der Helena“ („Polygnots Gemählde zu Delphi“; zit. n.: Ausgabe letzter Hand, Bd. 44. Stuttgart, Tübingen 1833, S. 99 f.). 642 Goethe notiert im Tagebuch: „Manuscript der Helena, nach Stuttgart“ (für den Druck bei Cotta): WA III.11, S. 12 (Eintragung vom 26.1.1827).

202  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

In den Jahren 1828 bis 1830 arbeitete Goethe in ständigem Wechsel, aber immer das Ganze im Auge behaltend, am ersten, zweiten und fünften Akt weiter. Durch seine laufenden Tagebucheintragungen läßt sich die allmähliche Vervollständigung ziemlich genau nachvollziehen. Im Mittelpunkt stand dabei die „Klassische Walpurgisnacht“ (V. 7005–8033) mit ihrer imposanten Gestalten- und Ereignishäufung. Infolge des unerwarteten äußeren Umstands von Carl Augusts Tod im Juni 1828 geriet die Arbeit verständlicherweise erneut ins Stocken. Langwierig gestaltete sich sodann ebenso die Ausführung des fünften Aktes. Nach den schon im Frühjahr 1825 in dreizehn Fassungen vorgefertigten Entwürfen erfolgte 1826 deren Zusammenführung zu einem fortlaufenden Text. Als dann im Mai 1831 die Szene „Offene Gegend“ (V. 11043–11141) und die endgültige Version des Faust-Monologs (V. 11398–11407) vorlagen, war damit auch der letzte Akt abgeschlossen. Schwierigkeiten bereitete nun allein noch der vierte Akt. Nach Helenas Abschied am Schluß des dritten Aktes kommen hier Kriegsgeschehen und „Herrschaftsverlangen Fausts“643 zur Darstellung. Erst im Verlauf des Jahres 1831 gelang es dem Autor, „die Lücke auszufüllen … zwischen“ dem Helena-Akt und, wie er formulierte, „dem völligen Schluß, der schon längst fertig ist“644. Als günstig erwies sich dabei, daß der gesamte vorliegende Text des zweiten Faustteils in eine Mappe geheftet wurde, mit weißen Blättern dazwischen, um das noch zu leistende Pensum sichtbar zu machen645. Am 20. Juli 1831 konnte er dem Freund Johann Heinrich Meyer berichten, er habe nun den „zweyten Theil des Faust in sich selbst arrangirt, bedeutende Zwischenlücken ausgefüllt und vom Ende herein, vom Anfang zum Ende das Vorhandene zusammengeschlossen“646. Die Tagebucheintragung zum gleichen Sachverhalt lautete kurz und bündig: „Das Hauptgeschäft zu Stande gebracht. Letztes Mundum647. Alles rein Geschriebene eingeheftet“648. Nachdem im August 1831 noch einmal das Ganze durchgesehen worden war, konnte er zur Fertigstellung an Graf von Reinhard schreiben: „Und es war in der Hälfte des Augusts, daß ich nichts mehr daran zu thun wußte, das Manuscript einsiegelte, damit es mir aus den Augen und aus allem Antheil sich entfernte“649. Aber völlig konnte sich Goethe doch noch nicht 643 So Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer: MA 18.1, S. 1025. 644 WA IV.42, S. 190 (an Carl Friedrich Zelter am 24.5.1827). 645 Vgl. hierzu: WA III.13, S. 31 (Eintragung vom 17.2.1831); ebenso: zu Eckermann am 17.2.1831: „… damit es mir als eine sinnliche Masse vor Augen sei“ (MA 19, S. 410). 646 WA IV.49, S. 11 (an Johann Heinrich Meyer am 20.7.1831). 647 ‚Mundum‘ ist der vom Lateinischen übernommene Fachterminus für die abschließende Reinschrift. 648 WA III.13, S. 112 (Eintragung vom 22.7.1831). 649 WA IV.49, S. 62 (an Carl Friedrich Graf von Reinhard am 7.9.1831). Kontinuierliche Ausarbeitung von „Faust II“ von 1825 bis 1831  203

von seinem Hauptwerk trennen. Das sorgfältig verschnürte und versiegelte Paket wurde im Januar 1832 wieder geöffnet, weil er das Bedürfnis hatte, die unveröffentlichten Teile des Textes noch einmal seiner Schwiegertochter Ottilie vorzulesen. Insgeheim war er nicht in vollem Umfang zufrieden damit, denn am 24. Januar steht im Tagebuch zu lesen: „Neue Aufregung zu Faust in Rücksicht größerer Ausführung der Hauptmotive, die ich, um fertig zu werden, allzu lakonisch behandelt hatte“650. Doch dann beließ es der Autor bei den festgeschriebenen 12.111 Versen. Das Manuskript wurde erneut weggepackt. Goethes letzter, an Wilhelm von Humboldt gerichteter, Brief enthält einige Zeilen, die in dieser Sache als sein Vermächtnis gelten können: Ganz ohne Frage würd es mir unendliche Freude machen, meinen werthen durchaus dankbar anerkannten, weitvertheilten Freunden auch bey Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzutheilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich so absurd und confus, daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu thun als dasjenige was an mir ist und geblieben ist womöglich zu steigern und meine Eigenthümlichkeiten zu cohabiren651.

Zweifellos sah Goethe in der Faustdichtung seine poetische Hauptkonfession. Dieses wirkliche Lebenswerk, das ihn sechs Jahrzehnte hindurch begleitet hatte, stellt eine einmalige Leistung dar. Er selbst hat am besten kommentiert, was das bedeutet. An Zelter schrieb er zum Abschluß der gewaltigen Arbeit: „Es ist keine Kleinigkeit, das, was man im zwanzigsten Jahre concipirt hat im 82. außer sich darzustellen und ein solches inneres lebendiges Knochengeripp mit Sehnen, Fleisch und Oberhaut zu bekleiden, auch wohl dem fertig Hingestellten noch einige Mantelfalten umzuschlagen, damit alles zusammen ein offenbares Räthsel bleibe, die Menschen fort und fort ergetze und ihnen zu schaffen mache“652. Die abschließend geäußerte Erwartung ist in hohem Maße eingetroffen. Goethe kannte seine Mitmenschen hinlänglich. Aber er ließ sich dadurch nicht beirren. Unablässig arbeitete er an der dramatisch-theatralischen Demonstration der schwierigen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung am Beispiel Fausts und bedeutete uns damit die im Umgang mit seinem Text anzuvisierende Reflexionsstufe: Steigerung und Höherentwicklung durch produktiv 650 WA III.13, S. 210 (Eintragung vom 24.1.1832). 651 WA IV.49, S. 283 (an Wilhelm von Humboldt am 17.3.1832). 652 WA IV.48, S. 205 f. (an Carl Friedrich Zelter am 1.6.1831).

204  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

gemachte Polarität. Eine dafür nötige Ausdrucksform hat er mit der auf intensive Kommunikation zielenden Reflexionsdramaturgie im „Faust“ gefunden. Dank ihrer dramaturgischen Möglichkeiten ist sie zu einem Prototyp des modernen Theaters geworden.

Exkurs I: Zur finalen Reflexionsstufe: Metamorphose und Entelechie als Lebensgesetz Goethes am Beispiel des Gedichts „Selige Sehnsucht“ An diesem Ort war ich noch niemals. Anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern. Franz Kafka Mit jeder Asche ist uns immer der Phönix zurückgegeben. Paul Celan

Es gilt in der Sicht vieler als ausgemacht, Goethes Leben, sein Handeln und sein Werk als Ergebnis einer durchgängig glücklichen Fügung anzusehen. Das könnte zu der irrigen Annahme verleiten, diesem ‚Liebling der Götter‘ sei alles souverän und mühelos von der Hand gegangen oder gar einfach in den Schoß gefallen. Dabei wird jedoch vollkommen übersehen, daß Goethes Daseinsweg in erster Linie ein mühseliges und schwieriges, oft auch leidvoll-schmerzliches Streben und Sich-selbst-Suchen war mit dem Ziel inneren Reifens, innerer Verwandlung und Steigerung. Wer sich wie er in der Sphäre der geistigen Welt bewegt, muß sich lebenslanges Werden zur Aufgabe machen. Denn nur so vermag ein Individuum die nötige Entwicklungsdynamik aufzubringen, um seinen Lebensablauf tätig-produktiv und gleichzeitig transitorisch als Höherentwicklung zu gestalten. In dieser Hinsicht ist es interessant zu sehen, daß ein solches Streben nach exis­ tentieller Gestaltwerdung bei Goethe von Anfang an auszumachen ist. Dem Zürcher Theologen und Physiognomieforscher Johann Caspar Lavater (1741–1801) gestand der gerade Dreißigjährige seinen hohen Anspruch mit dem Bild einer pyramidalen Steigerung. Er beschrieb ihm gegenüber sein Lebensziel wie folgt: „die Pyramide meines Daseyns, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spizzen“653. Unverkennbar ist dieser Aussage die Grundkomponente 653 WA IV.4, S. 299 (an Johann Caspar Lavater, etwa am 20.9.1780). Exkurs I  205

einer organischen Lebenskonzeption zielbewußter, emanzipatorischer Selbstbestimmung abzulesen. In die gleiche Richtung weist der sogenannte ‚Bildungsbrief ‘ Wilhelm Meisters mit dem Kernsatz: „Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht“654. Im Grund umreißen diese beiden Sätze den gesamten Vorstellungshintergrund einer angestrebten personalen Identität, die sich von der Kraft ausgreifender Phantasie sowie von gründlicher Analyse der gemachten Erfahrungen leiten läßt und dabei immer auch normativen Impulsen folgt. Noch kurz vor dem Tode bezeichnete Goethe im letzten Brief als Voraussetzung für das menschliche Glück die „geregelte Steigerung [der] natürlichen Anlagen … in einer freien Tätigkeit“655. Unzweifelhaft begriff er Selbstbestimmung und Selbstvervollkommnung als inneren Auftrag. Deswegen stand sein Leben permanent unter der prüfenden Anspannung dieses Anspruchs. Manche sehen heute in einer derartigen Leitvorstellung idealer Ganzheit bloß noch eine bürgerliche Residualkategorie656 oder einfach utopisches Wunschdenken. Gewollt oder ungewollt leugnen sie damit die Bildungsfähigkeit des Individuums, ja letzten Endes überhaupt gestufte menschliche Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Goethe jedenfalls sah das wesentlich anders. Nicht umsonst legte er Wert auf die nur scheinbar paradoxe Feststellung: „Der Geist des Wirklichen ist das wahre Ideelle“657. Zunächst gibt er mit dieser Bemerkung dem Wort „Geist“ den nötigen Akzent („der Geist des Wirklichen“). Er trennt also innerhalb des Realitätsrahmens bewußt das reale „Wesen der Dinge“658 vom Banal-Alltäglichen. Im Kern aber fügt seine Aussage die menschliche Lebensbewegung in den Rahmen der naturhaft organisierten kosmischen Ordnung ein. Daraus spricht eine vollkommen diesseitig verankerte, selbstsichere Lebensliebe, wie sie bei Goethe kontinuierlich zu beobachten ist. Immer respektierte er die unserer Erkenntnis gesetzten Grenzen. Ohne hier sein Verhältnis zur Religion und zum Göttlichen darlegen zu wollen, sei immerhin daran erinnert, daß er sich allemal auf einen faßbaren, immanenten Lebenssinn konzentrierte und darum dogmatische Begrenzungen jeder Art und Provenienz ablehnte. Evokationen des ungreifbar-dunklen Jenseits vermied er geflissentlich. Eindeutig lag für ihn der Sinn menschlicher Existenz in sittlich-tätiger Gestaltung eines grundsätzlich 654 WA I.22, S. 149 (Wilhelm Meisters Lehrjahre, 5. Buch, 3. Kapitel). 655 WA IV.49, S. 281 (an Wilhelm von Humboldt am 17.3.1832). 656 Vgl. hierzu: Simon, Dieter: Zukunft und Selbstverständnis der Geisteswissenschaften. In: Rechtshistorisches Journal. 8/1989, S. 226. 657 So 1827 in einem mit Friedrich Wilhelm Riemer geführten Gespräch (Biedermann, III, S. 484). In den „Maximen und Reflexionen“ bezeichnet Goethe das Ideal als „das letzte Erkennbare“ (MuR: 1369). 658 WA I.47, S. 80 (‚Stil‘).

206  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

frei gehaltenen Lebens. Selbstbestimmung stellte für ihn den Kern des Menschseins dar. Gegenüber dem frömmelnden Freund Stolberg659 betonte er deswegen, prononciert diesseitig argumentierend, daß er „alle [s]eine Prätensionen in den Kreis des Lebens einschließe“660. Durchaus mit ureigenster Überzeugung ließ er seinen Faust im mitternächtlichen Dialog mit der Sorge sagen: „Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; / Thor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet“661. Unter dogmatischen Aspekten machte das Goethe zum Häretiker, obwohl sein pantheistisches Naturbild ihn prinzipiell abhob vom Atheismus der Enzyklopädisten, speziell vom mechanistischen Weltkonzept, wie es ihm in der Straßburger Zeit die Lektüre des einschlägigen Buches von Holbach662 vermittelt hatte. Dessenungeachtet wirkte Goethes Grundposition eines naturreligiösen Materialismus in orthodox-bigotten Kreisen anstößig. Er sah jedoch in solcher Anmaßung eher eine ihn herausfordernde Bestätigung. Völlig im Sinne Kants begriff er die Bestimmung des Menschen als Selbstzweck. Um so dringlicher verfolgte er den stimulierenden Gedanken existentieller Selbsterweiterung und der damit verbundenen Problematik des Fortlebens nach dem Tode. Wandlung und Werden der autonomen Persönlichkeit in progressiver Entwicklung wurden dadurch für ihn zur verbindlichen Richtschnur. Sein nie endender Lebensdrang mit dem Ziel der Fort­ existenz auf dem Wege der Selbstverwirklichung löste in ihm die ebenso komplexe wie paradoxe Reflexion aus: „Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existiren“663. Damit kommt die Überzeugung zum Ausdruck, im Ende des Lebens nicht dessen Ziel zu suchen, weil geistige Leistung als „Quelle der Wiedergeburt“664 den Tod überdauert. Das gab Goethe die innere Gewißheit möglichen Weiterlebens im entgrenzenden Gestaltwandel hin zum Wesentlichen. Er kombinierte hierbei die individuelle Lebenszeit mit der kosmischen Zeitdauer, hielt sich also an das Naturgesetz der Metamorphose und die, wie er formulierte, geistige Qualität „der entelechischen Monade“665. Die komplizierten Zusammenhänge

659 Es handelt sich um den Juristen und Schriftsteller Friedrich Leopold (‚Fritz‘) Graf zu Stolberg (1750–1819). 660 WA IV.9, S. 78 f. (an ‚Fritz‘ Stolberg am 2.2.1789). 661 WA I.15.1, S.  309 („Faust  II“, V. Akt, V. 11442  f.). In die gleiche Richtung zielt der Spruch: „Wie? Wann? Und Wo? – Die Götter bleiben stumm! / Du halte dich ans Weil und frage nicht Warum“ (WA I.2, S. 216). 662 Paul-Henri Thiry d’Holbach (d.i. Paul Heinrich Dietrich): „Le Système de la Nature“ (1770). 663 WA I.42.2, S. 150 (Maximen und Reflexionen). 664 Muschg, S. 30. 665 WA IV.42, S. 95 (an Carl Friedrich Zelter am 19.3.1827). Exkurs I  207

dieser Natur- und Weltauffassung des Anspruchs lebendig fortdauernder Identität mit dem Universum sollen nun genauer ermittelt werden. Beide Begriffe – Metamorphose und Entelechie – gehen auf griechische Wurzeln zurück. Zunächst zur Metamorphose. Sie leitet sich her von ‚morphé‘ = ‚Gestalt‘ und bedeutet Verwandlung oder Umwandlung der Gestalt. Damit verbindet sich die generelle Vorstellung des Gestaltwandels im Sinne gestufter organischer Umbildung. Goethe machte aus dieser Konzeption einen Zentralbegriff seiner Morphologie sowohl im Bereich von Geologie, Botanik und Zoologie als auch dann vor allem im Hinblick auf die Situation des Menschen. In zwei Lehrgedichten, der Elegie „Die Metamorphose der Pflanzen“ (Sommer 1798) und dem lyrischen Fragment in Hexametern „Die Metamorphose der Tiere“ (um 1799), hat er sein Verständnis des Gestaltwandels in poetischer Form dargelegt. Im Grund können ebenso die 1817 verfaßten orphischen „Urworte“666 als eine dichterische Ausgestaltung der ‚Metamorphose des Menschen‘ gelten. Der Satz „Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur“667 hatte für ihn fundamentale Bedeutung. Deswegen anerkannte er den qualitativen Gestaltwandel „durch Nehmen und Geben, Gewinnen und Verlieren“668 als eine jeden verpflichtende persönliche Lebensarbeit. Seiner von pädagogischer Hoffnung getragenen Auffassung nach liegt darin die entscheidende Triebfeder der Selbstentfaltung wie überhaupt humaner Bildung. Deswegen konnte er die Forderung aufstellen: „Betrachten wir uns in jeder Lage des Lebens, so finden wir, daß wir äußerlich bedingt sind, vom ersten Athemzug bis zum letzten; daß uns aber jedoch die höchste Freyheit übrig geblieben ist, uns innerhalb unsrer selbst dergestalt auszubilden, daß wir uns mit der sittlichen Weltordnung in Einklang setzen und, was auch für Hindernisse sich hervorthun, dadurch mit uns selbst zum Frieden gelangen können“669. Symbolisches Musterbild der Selbstmetamorphose als Künstler war deshalb für Goethe die substantielle Umwandlung der Raupe zum Schmetterling. Seine generelle Lebensregel dafür lautet: „Jeder Morgen ruft zu: das Gehörige zu thun und das Mögliche zu erwarten“670. Sogar noch in der finsteren Galerie des zweiten Faustteils beschwört Mephistopheles das Gesetz der Metamorphose mit den Worten: „Gestaltung, Umgestaltung, / Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung“671. Der Dichter des 666 Vgl. hierzu: Buck, Theo: Goethes ‚Urworte  – Orphisch‘ interpretiert und mit einer Dokumentation versehen. Frankfurt/M. 1996. 667 WA II.6, S. 446 („Morphologie“, Paralipomena II). 668 WA I.42.2, S. 118. 669 WA IV.45, S. 32 (an Brühl am 23.10.1828). 670 Ebd. 671 WA I.15.1, S. 73 (I,5, V. 6287 f.). Gleichlautend heißt es im Gedicht „Parabase“: „Immer wechselnd, fest sich haltend; / Nah und fern und fern und nah; / So gestaltend, umge-

208  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

„Faust“ war demnach fest davon überzeugt, daß „Einheit und Freiheit des Bildungstriebes ohne den Begriff der Metamorphose nicht zu fassen sei“672. Wie um diese wesentliche Zuschreibung zu unterstreichen, notierte er in den „Tag- und Jahresheften“ die geradezu definitorische Bemerkung: „ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose sich erhebender Typus gehe durch die sämmtlichen organischen Geschöpfe durch“673. Demnach war die Metamorphose für ihn eine aus seinen naturwissenschaftlichen Beobachtungen erwachsene urtypische Kraft. Wesensverändernd beeinflußt sie das Schicksal des Menschen in einem dialektisch-dynamischen Prozeß von Polarität und Steigerung als den „großen Triebrädern der Natur“674. Im Tagebuch vom Mai 1808 merkte Goethe zur weiteren Klärung seiner grundlegenden Metamorphosenkonzeption an: „Systole und Diastole [Attraktion und Repulsion oder Ein- und Ausatmen] des Weltgeistes, aus jener [Einatmen] geht die Specification hervor, aus dieser [Ausatmen] das Fortgehn in’s Unendliche“675. In dieser produktiven Polarität des Wandlungsvermögens ist der unendliche Bildungsprozeß angesiedelt, der durch qualitative Umwandlung die defizitäre Existenz zu einem erfülltem Leben steigert, das den Durchgang durch die physische Existenzform relativiert oder vorbereitend anhebt. Deswegen konnte Konrad Burdach zur Goetheschen Auffassung anmerken: „Die Metamorphose reicht über den Abschluß der empirischen Existenz des Menschen hinaus“676. Direkt darauf bezogen ist die Konzeption der Entelechie. Das griechische Wort ‚Entelecheia‘ umschreibt, weitgehend synonym mit der griechischen ‚Enérgeia‘, die ‚ständige Wirksamkeit‘ eines immerfort tätigen Wesens. Für Aristoteles stellte die Seele die ‚erste Entelechie eines organischen Körpers‘ dar. Leibniz entwickelte auf dieser Grundlage ein dynamisches System von ‚Monaden als substantiellen Formen‘, das man sich als inneres Kraftzentrum lebendiger Entwicklung vorstellen muß. Darauf aufbauend bestimmte Goethe Entelechie als die dem Menschen eigene Wesensstruktur, welche eine final gerichtete Individualentwicklung auslöst. Sie bildet mit ihrer umartenden und sublimierenden Energie den „unvergänglichen Kern“677, also die Endgestalt menschlicher Bildung, gewissermaßen das Ergebnis der Abfolge von staltend – / Zum Erstaunen bin ich da“ (WA I.3.1, S. 84). So in den „Schriften zur Naturwissenschaft“ zum „Bildungstrieb“ (GN I.9, S. 100). WA I.35, S. 16 („Tag- und Jahreshefte“: 1790). WA II.1.1, S. 11. WA III.3, S. 336 f. (Tagebuch vom 17.5.1808: „Über Metamorphose und deren Sinn“). JA 5, S. 337 (Kommentar Burdachs zum Gedicht „Selige Sehnsucht“: JA 5, S. 332–338). Goethe selbst betonte gegenüber Sulpiz Boisserée am 3.8.1815: „alles ist Metamorphose im Leben“ (Biedermann, II, S. 314). 677 Formulierung von Andreas Anglet im Artikel „Entelechie“ (GH 4.1, S. 264). 672 673 674 675 676

Exkurs I  209

geistigen Metamorphosen. Das war gemeint, wenn er erklärte: „Jede Monas ist eine Entelechie, die unter gewissen Bedingungen zur Erscheinung kommt“678. Entelechie kann mithin als fortdauerndes Endresultat individueller Lebensbestimmung verstanden werden. Wesentlich ist hierbei, daß nach Goethes Auffassung Entelechien „ihre Tätigkeit im Moment der Auflösung selbst nicht einstellen oder verlieren, sondern noch in demselben Augenblicke wieder fortsetzen. So scheiden sie nur aus den alten Verhältnissen, um auf der Stelle wieder neue einzugehen“679. Er verbindet also Entelechie mit der Vorstellung des virtuell Unzerstörbaren und damit der Dauer, sofern die angelegten Möglichkeiten in tätigem Lebensablauf verwirklicht werden. Bewußt sieht er in ihr „ein Stück Ewigkeit“680. Insgeheim wird dadurch Unsterblichkeit zur eigentlichen Zielbestimmung. Es gilt, um den Weg ins Absolute zu finden, die Grenze des Lebens zu überschreiten. Nur zu gut wußte Goethe um den verunsichernden Sachverhalt: „Alles entsteht und vergeht nach Gesetz; doch über des Menschen / Leben, dem köstlichen Schatz, herrschet ein schwankendes Loos“681. Darum wollte er die Negation des Lebens durch den Tod außer Kraft setzen. Diese Denkposition erlaubte es ihm, dem befreundeten Carl Friedrich Zelter nach dem Selbstmord von dessen Sohn tröstend zu schreiben: „Die entelechische Monade muß sich nur in rastloser Thätigkeit erhalten; wird ihr diese zur andern Natur, so kann es ihr in Ewigkeit nicht an Beschäftigung fehlen“682. Als Summe des Endlichen macht die Entelechie das jeweilige individuelle Lebensresultat aus, das fortleben kann. Dergestalt von möglicher persönlicher Fortdauer „durch eigene Zuthat“683 überzeugt, wurden Steigerung und Vollendung des eigenen Wesens zur allesentscheidenden Aufgabe. Darauf gründeten Goethes unbeirrbarer Lebensglaube und sein „immanenter Weltsinn“ (Peter von Matt684). Er gehörte nicht zu jenen, die, enttäuscht vom Leben, Trost von einem besseren Jenseits erwarten. Ganz ähnliche Überlegungen bestimmten im damaligen Zeitzusammenhang das von Jean-Jacques Rousseau mit anthropologischem Optimismus vertretene ‚Perfektibilitäts-Prinzip‘685 substantieller Selbstverdeutlichung und ebenso Herders 678 679 680 681 682 683 684

„Maximen und Reflexionen“ (MuR: 1365). Gespräch mit Johannes Daniel Falk am 23.1.1813 (Biedermann, II, S. 172). So zu Eckermann am 11.3.1828 (MA 19, S. 609). WA I.1, S. 284 („Euphrosyne“). WA IV.42, S. 95 (an Zelter am 19.3.1827). „Maximen und Reflexionen“ (MuR: 273). Matt, Peter von: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München, Wien 1995, S. 314. 685 Rousseaus Gesellschaftskonzept, das er vor allem im „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes“ („Diskurs über die Ungleichheit“, 1755) entwickelt hat, basiert einerseits auf der Annahme eines irreversiblen historischen Verfalls-

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Gedanken von der Einzigartigkeit des Individuums. Es heißt da: „Vollkommenheit eines einzelnen Menschen ist also, daß er im Continuum seiner Existenz Er selbst sei und werde. Daß er die Kräfte brauche, die die Natur ihm als Stammgut gegeben hat, daß er damit für sich und andre wuchere“686. Goethes Prinzip einer entelechischen Lebensdeutung hat dazu den Vorteil, sich – ungeachtet der ideellen Zielsetzung – innerhalb der Grenzen des irdisch Machbaren zu halten. Schon in dem 1773 in Arbeit genommenen dramatischen „Prometheus“-Fragment begegnen wir am Schluß des zweiten Akts dem entgrenzenden Ineinander von Leben, Tod und Wiedergeburt. Prometheus beantwortet da die bange Frage seiner Lieblingstochter Pandora nach dem Sterbenmüssen mit Worten geradezu „dionysischer Entgrenzung“687: „Wenn alles – Begier und Freud’ und Schmerz – / Im stürmenden Genuß sich auflös’t, / Dann sich erquickt in Wonneschlaf, / Dann lebst du auf, auf ’s jüngste wieder auf / Von neuem zu fürchten, zu hoffen, zu begehren“688. Keimhaft ist hier bereits der Zusammenhang der Entelechie umrissen. Die symbolische Ausgestaltung des entelechischen Phänomens hat Goethe dann, leise, aber spürbar ironisch grundiert, demonstrativ an den Schluß der Faustdichtung gesetzt. Nach dem Tode des Titelhelden (Bühnenanweisung: „Faust sinkt zurück, die Lemuren fassen ihn auf und legen ihn auf den Boden“689) tut sich in der Grablegungs-Szene links, ganz nach mittelalterlicher Vorstellung, ein „greulicher Höllenrachen“ auf, während von rechts oben die Glorie der himmlischen Heerschar erscheint, wobei der den gesamten Raum einnehmende Chor der Engel „Faustens Unsterbliches“ entführt und dadurch dem darauf lauernden Mephistopheles entreißt. Ursprünglich lautete die Bühnenanweisung: „Faustens Entelechie heranbringend“. Da daraus in der endgültigen Fassung „Fausts Unsterbliches entführend“ wurde690, waren demnach im Verständnis des Autors „Entelechie“ und „Unsterbliches“ eindeutig synonyme Begriffe. Befreit von irdisch-stofflicher Gebundenheit, erweist sich die Entelechie als unsterblich. Bezeichnenderweise tritt an die Stelle des zunächst von Goethe geplanten Gerichts über Faust der erhebende himmlische Chor. Wenn dabei – „zum heitersten Schluß

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prozesses, andererseits auf dem Vertrauen in die „perfectibilité“, d. h. die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen. Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Bd. XVII. Berlin 1881, S. 115 (Briefe zur Beförderung der Humanität, 25. Brief ). So Inka Mülder-Bach im Artikel „Prometheus. Dramatisches Fragment“ (GH 2, S. 103). WA I.39, S. 212 (V. 419–423). WA I.15.1, S. 316 (V,5, nach V. 11586). WA I.15.1, S. 318 und 325 (V,6, nach V. 11643 und nach V. 11824). Exkurs I  211

des Ganzen“ – „scharf umrissene christlich-kirchliche Figuren und Vorstellungen“ 691 einbezogen werden, so geschieht das in der einfachen Absicht, mit, wie Goethe sagte, „mythologischen Figuren“692 des abendländischen Kulturkreises einen nachvollziehbaren religiösen Bildrahmen zu schaffen, der das Thema der Fortdauer des Lebens sinnfällig macht. Geht es doch um die finale Umartung von Fausts „Unsterblichem“, um Auflösung und bewahrende Neugestaltung. Begleitet wird dieser Vorgang der Transsubstantiation vom kommentierenden Gebetsaufschwung des Doctor Marianus: „Blicket auf zum Retterblick, / Alle reuig Zarten, / Euch zu seligem Geschick / Dankend umzuarten“693. Vordergründig betrachtet sieht das sehr nach Madonnenverehrung und christlich-kirchlichem Himmel aus. Indes wählte Goethe diese Bilder als „poetische Surrogate“694 für den entelechischen Bewahrungsvorgang. Welcher Leitgedanke hinter der vorgeführten Umartung steckt, hat er im erwähnten Brief an Zelter in die Worte gefaßt: „Wirken wir fort, bis wir …, vom Weltgeist berufen, in den Äther zurückkehren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Thätigkeiten, denen analog, in welchen wir uns schon erprobt, nicht versagen!“695 Dergestalt artikuliert sich – in der überlegenen, ironisch-distanzierten Offenheit „ernst gemeinter Scherze“696 – die versöhnliche Hoffnung auf umartend-gesteigerte Selbstwiederherstellung697. Nicht ohne tieferen Grund betonte Goethe zu dem von ihm gewählten Abschluß: „Ich durfte nicht hinter mir selbst bleiben und mußte also über mich selbst hinausgehen“698. Der schon greise Dichter sprach demnach gerade hier entschieden in eigener Sache. Keineswegs handelt es sich dabei um Läuterung oder gar Erlösung nach christlicher Heilserwartung. Vielmehr wird das von Faust schon in der Hochgebirgs-Szene geäußerte Hoffnungsgeschehen eingelöst: 691 WA IV.34, S. 5 (an Karl Ernst Schubarth am 3.11.1820) sowie MA 19, S. 456 (zu Eckermann am 6.6.1831). 692 WA I.40, S. 354 („Des Knaben Wunderhorn, Maria auf der Reise“). 693 WA I.15.1, S. 337 (V,7, V. 12096–12099). Bedenkenswert ist hierzu die originelle These Muschgs, der neben der Himmelskönigin Maria an eine andere ‚Mariane‘, nämlich Marianne von Willemer, erinnert (Muschg, S. 103). 694 Schöne 2, S. 783: Ähnlich bezeichnete Goethe Euphorion – wie zuvor auch den Knaben Lenker – als „allegorisches Wesen“ (MA 19, S. 343; zu Eckermann am 20.12.1829). 695 WA IV.42, S. 95 (an Zelter am 19.3.1827). 696 WA IV.49, S. 153 (an Sulpiz Boisserée am 24.11.1831). Interessanterweise findet sich die fast gleiche Formulierung („diese sehr ernsten Scherze“) im Brief an Wilhelm von Humboldt vom 17.3.1832 (WA IV.49, S. 283). 697 Vgl. hierzu die Verse aus der Rubrik „Höheres und Höchstes“ im „West-östlichen Divan“: „Bis im Anschaun ew’ger Liebe / Wir verschweben, wir entschwinden“ (WA I.6, S. 266; XII: Buch des Paradieses). 698 WA IV.49, S. 95 (an Sulpiz Boisserée am 27.9.1831).

212  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

„Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form, / Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin / Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort“699. In diesem souverän humanen Sinne kann die dauerhafte Zielstufe der Entelechie ohne weiteres als „das Beste des [menschlichen] Innern“ definiert werden700. Es führt in diesem Zusammenhang nicht weit, nach den Quellen für Goethes entelechische Konzeption zu suchen. Er hat sie nämlich weithin aus sich heraus entwickelt. Sehr gut kannte er zwar sowohl die antiken Jenseitsvorstellungen und Reinkarnationslehren von Platon bis Empedokles wie auch die antireligiöse Natur­ ethik des Lukrez oder die sogenannte ‚Wiederbringungslehre‘ des frühchristlichen Theologen Origines bis hin zu Spinozas Abhandlung zur Identität von Dasein und Vollkommenheit oder zu Lessings und Herders Gedanken über Seelenwanderung. Indes machte Goethe sich seinen eigenen Vers auf die Problematik des Unendlichen, ohne dezidiert die eine oder andere Position zu übernehmen. In der Frage der Entelechie folgte er allein der inneren Stimme. Allemal war es ihm um gesteigertes geistiges Leben, um sich entwickelnde Formung und um Vervollkommnung zu tun, weil seiner Überzeugung nach nur dann „unser Geist“ ein „Wesen ganz unzerstörbarer Natur“ zu werden vermag701. Exemplarisch wollte er mit dem aufhebenden Ausgang der Faust-Tragödie zeigen, was „eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende“ und die „von oben … zu Hilfe kommende ewige Liebe“702 im Verein bewirken können. Die von Goethe angenommene produktive Spannung zwischen individueller Existenz und kosmischer Natur erlaubt uns Rückschlüsse auf seine Position als Künstler. War er doch davon überzeugt, Entelechien seien „nicht auf gleiche Weise unsterblich“. Deshalb statuierte er kurzerhand: „um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muß man auch eine sein“703. Die daraus folgende Rangordnung hängt seiner Auffassung nach von der individuellen Lebensleistung ab. Einen besonderen Platz räumte er hierbei dem dynamisch-schöpferischen Menschen ein. Als Repräsentant der klassischen Autonomieästhetik hielt er dafür: „Dem Genie ist nichts vorzuschreiben, es läuft glücklich wie ein Nachtwandler über die scharfen 699 WA I.15.1, S. 246 (IV,1, V. 10064–10066). 700 Vgl. hierzu auch die überzeugenden Darlegungen Bremers und Zimmermanns (Bremer, Dieter: „Wenn starke Geisteskraft …“. Traditionsvermittlungen in der Schlußszene von Goethes ‚Faust‘. In: GJ 112/1995, S. 287–307); Zimmermann, Rolf Christian: Goethes ‚Faust‘ und die „Wiederbringung aller Dinge“. Kritische Bemerkungen zu einem unkritisch aufgenommenen Interpretationsversuch. In: GJ 111/1994, S. 171–185). 701 MA 19, S. 105 (zu Eckermann am 2.5.1824). 702 MA 19, S. 456 (zu Eckermann am 6.6.1831). 703 MA 19, S. 335 (zu Eckermann am 1.9.1829). Exkurs I  213

Gipfelrücken weg, von denen die wache Mittelmäßigkeit bei’m ersten Versuche herunterplumpt“704. Daraus folgerte er weiter: „Ist aber die Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen Naturen der Fall ist, so wird sie bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers nicht allein auf dessen Organisation kräftigend und veredelnd einwirken, sondern sie wird auch, bei ihrer geistigen Übermacht, ihr Vorrecht einer ewigen Jugend fortwährend geltend zu machen suchen“705. Wie man sieht, machte Goethe sich keine großen Sorgen um seine Entelechie. Im damals nicht mehr fernen Tod sah er die Bekräftigung des geistigen Fortlebens in Gestalt einer „kosmischen Metamorphose“706. Deswegen konnte ihn Nietzsche als einen beschreiben, „der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint“707. Man muß sich diesen Vorgang ausgeprägter Ich-Dynamik als ein organisches „Wiedereingehen der Entelechie in das reine Göttliche“708 denken. Goethe selbst hat dafür im „Entwurf einer Farbenlehre“ das an Platon und Plotin anschließende, tiefsinnige lyrische Bild gefunden: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt’ es nie erblicken; / Läg’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?“709 Daraus ergibt sich für die wahre Individuation, wie sie Goethe mit der Vorstellung einer zu leistenden Fortdauer im Ewigen sich zum Ziel setzte, der zwingende Anspruch einer konsequent philosophischen Lebensführung. Das neuplatonisch orientierte Kurzgedicht, dessen erste Niederschrift in einem Notizbuch aus dem Jahr 1805 zu finden ist, unterstreicht die Einheit von Ich und Kosmos. Mit der Analogie von Mikro- und Makrokosmos sieht der lyrische Sprecher ein unentfremdetes Leben gewährleistet. Deshalb konnte der Philosoph Eduard Spranger diesen Versen die spirituelle Bestimmung ablesen: „So liegt es auch für Goethe nahe, den Geist als inneres Licht, das Licht als den an die Natur entäußerten Geist zu bezeichnen“710. In der Tat sah der Dichter im produktiven Erkennen 704 WA I.45, S. 188 („Anmerkungen über Personen und Gegenstände, deren in dem Dialog ‚Rameau’s Neffe‘ erwähnt wird“). 705 MA 19, S. 610 (zu Eckermann am 11.3.1828). 706 So die Formulierung Dieter Bremers (a.a.O., Anm. 700, S. 294). 707 Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Hrsg. v. Karl Schlechta. München 1956, Bd. III, S. 512. 708 So die These Rolf Christian Zimmermanns (a.a.O., Anm. 700, S. 183). 709 Der von Plotin inspirierte Text gehört in den Rahmen der „Zahmen Xenien“ von 1805. Hier zitiert nach der ‚Ausgabe letzter Hand‘ von 1827 (WA I.3.2, S. 279). Im Erstdruck von 1810 lauten die Verse 2 und 3 etwas anders: „Wie könnten wir das Licht erblicken? / Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft“ (WA II.1, S. XXXI, Vorwort). 710 Spranger, Eduard: Goethe. Seine geistige Welt. Tübingen 1967, S. 308 („Goethes Weltanschauung“).

214  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

der Natur die Möglichkeit zur inneren Erschließung des Göttlichen. Goethes Lebenskunst basierte auf dieser ‚immanenten Transzendenz‘. Sie war Resultat seines „eigensten moralischen Imperativs“ (Konrad Burdach711). Gerade das Wissen um den Tod verstärkte seine Lebensintensität. Grundfalsch wäre es darum, die so herausgeforderte autonome Eigenkraft als billiges innerweltliches Arrangement oder als simplen Lebensoptimismus abzutun. Kaum jemand hat so wie Goethe die metaphysische Bewegtheit des Menschen als Aufgabe im Diesseits verankert. Konnte er doch das alles einschließende Postulat aufstellen: „Nichts vom Vergänglichen, / Wie’s auch geschah! / Uns zu verewigen / Sind wir ja da“712. Angewandt auf die Lebenspraxis bedeutet das, in einen bündigen Lehrsatz gefaßt: „Gedenke zu leben!“713 Ein Gedicht aus der Lebenshöhe Goethes bringt seine lebensgesetzliche Grundkonzeption besonders prägnant zum Ausdruck. Es findet sich im „West-östlichen Divan“ am Ende des ersten Buches, dem „Buch des Sängers“, und bekam in der Endfassung den Titel „Selige Sehnsucht“714. Die oft interpretierten und vielzitierten Verse gehören in den Zusammenhang von Goethes intensiver Beschäftigung mit der Lyrik des persischen Dichters Hafis715. Das Gedicht entstand während der im Sommer 1814 unternommenen Reise in die heimatlichen Gefilde des Rhein-Main-Gebiets. Wenige Wochen zuvor hatte der Verleger Cotta seinem Autor die gerade veröffentlichte Übertragung der Gedichte des Hafis durch Joseph Freiherr von HammerPurgstall zugeschickt, deren Thematik und Schreibweise den Beschenkten gleichermaßen faszinierten. Goethe erkannte in dem zeitfernen, ausgesprochen diesseitig orientierten Mystiker aus der persischen Stadt Schiras einen Geistesverwandten. Die Gründe dafür hat Karl Otto Conrady einleuchtend zusammengefaßt, wenn er feststellt: „Da war sinnliche Genauigkeit und zartes Hinüberspielen ins Geistige, vitale Direktheit und spirituelle Transparenz auf größere Zusammenhänge hin“716. Im Fall 711 So Burdach ( JA 5, S. 335). 712 WA I.3.2, S. 235 („Zahme Xenien“). 713 „Maximen und Reflexionen“ (MuR: 1405). Ganz dem entsprechend heißt es im „Westöstlichen Divan“: „Freude des Daseins ist groß / Größer die Freud’ am Dasein“ (WA I.6, S. 159; Divan VIII: Buch Suleika). 714 Zunächst notierte Goethe zum Gedicht nur den Verweis auf die anregende Quelle: „Buch Sad, Ghasel I“. Im überlieferten Manuskript hatte der Text die Überschrift „Selbstopfer“. Der Erstdruck im ‚Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817‘ firmierte dann unter dem Titel „Vollendung“. Die Endfassung im Rahmen der Erstveröffentlichung des „West-östlichen Divans“, Goethes letzter großer Gedichtsammlung (1819), bekam schließlich die Zuschreibung „Selige Sehnsucht“. 715 Hafis, Beiname des persischen Dichters Schems ed-Din Mohammed (ca. 1320–1389). 716 Conrady: Bd., II, S. 390. Exkurs I  215

des Gedichts „Selige Sehnsucht“ inspirierten den begeisterten Leser jener außergewöhnlichen Verse in erster Linie das „zarte Hinüberspielen ins Geistige“ sowie dann die „spirituelle Transparenz auf größere Zusammenhänge hin“. Aus dieser überwältigenden geistigen Begegnung erwuchs eine wahre lyrische Neugeburt Goethes, bei der die Erfahrung des Älterwerdens und neu gefühlte Lebenskraft ineinanderflossen. Ausdrücklich wies er darauf hin, im „West-östlichen Divan“ handle es sich um eine Art zu dichten, „wie sie meinen Jahren ziemt“717. An die Stelle der griechischen Antike trat nun der Einfluß der „Patriarchenluft“ des „reinen Ostens“718. Sie ermöglichte dem Dichter die symbolische Erfassung des Geheimnisses einer höheren Existenz. Nebenbei: Erst auf dieser Grundlage war es ihm möglich, die Arbeit am zweiten Faust-Teil aufzunehmen. Im Tagebuch hat Goethe genau festgehalten, daß das Gedicht „Selige Sehnsucht“ Ende Juli, genau am 31. Juli 1814719, entstanden ist. Der Dichter war für einige Tage im ‚Weißen Adler‘ in Wiesbaden abgestiegen. Dort erfolgte die Niederschrift. Hier der Text der endgültigen Fassung: Selige Sehnsucht Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebend’ge will ich preisen Das nach Flammentod sich sehnet. 5

In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest, Überfällt dich fremde Fühlung Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen 10 In der Finsterniß Beschattung, Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung.

717 WA IV.33, S. 27 (an Carl Friedrich Zelter am 11.5.1820). 718 Im Gedicht „Hegire“ schreibt Goethe programmatisch: „Flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten“ (WA I.6, S. 5). 719 Unter dem gleichen Datum findet sich die erste Erwähnung des Titels der Sammlung: „Divan geordnet“ (WA III.5, S. 121).

216  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Keine Ferne macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt, 15 Und zuletzt, des Lichts begierig, Bist du, Schmetterling, verbrannt. Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast 20 Auf der dunklen Erde.720

Beim Blick auf den sich über fünf Kurzstrophen erstreckenden Text gewinnt man, nicht zuletzt dank des klanglich verschränkenden Reimschemas (Kreuzreim: abab), den Eindruck einer einfachen, aber zugleich subtilen Versgestaltung. Wesentlich trägt dazu das im 19. Jahrhundert besonders oft angewandte Schema vierhebiger, harmonisch fallender, trochäischer Vierzeiler ( - ᴗ - ᴗ - ᴗ - ᴗ ) bei. Goethe machte aus dieser strikt alternierenden Verslösung mit klingender, ‚weiblicher‘ Kadenz am Zeilenende, die im Rahmen des „West-östlichen Divan“ auch als ‚Schenkenstrophe‘ bezeichnet wird, eine der beiden Grundformen der „Divan“-Gedichte721. Diese metrische Lösung gilt freilich nur für die ersten drei Strophen. In den zwei Schlußstrophen sind in vier Versen einsilbig (‚männlich‘) endende Kadenzen eingefügt (V. 14, 16, 17 und 19). Die so herbeigeführte metrische Variante läßt den sonst melodisch ausschwingenden Versschluß härter erscheinen, ein Effekt, der dann gegen Ende infolge der auf drei Hebungen verkürzten beiden Verse 18 und 20 noch verstärkt wird. Der Leser (oder Hörer) sieht sich dadurch aufgefordert, dem metrischen Wechsel Rechnung zu tragen. Mit der veränderten Sprachmelodie erfährt die Gedankenführung eine Zuspitzung. Sie kulminiert im Gegensatz des ernüchternden Befunds eines Erddunkels („Auf der dunklen Erde“, V. 20) zur pathetisch herausgestellten Aufforderung, unbedingt dem Lichttrieb nachzugeben („Dieses: Stirb und werde!“, V. 18). Der metrisch stimmig modulierte Formgestus kommt der gleichnishaftreflexiven Darstellung angemessen entgegen. Inhaltlich gliedert sich der Text klar in drei Teile. Nachdem einleitend in der ersten Strophe Standpunkt und Wirkungsabsicht des Autors dargelegt werden, folgt im drei Strophen umfassenden Mittelteil die konkrete Ausgestaltung. In der etwas 720 WA I.6, S. 28. 721 Zusammen mit der in den Kadenzen weiblich und männlich alternierenden Formlösung der metrisch nahe verwandten ‚Suleikastrophe‘, hier in der vierten Strophe angewandt, bildet die sogenannte ‚Schenkenstrophe‘ mit ihren vorwiegend weiblichen Kadenzen die bestimmende Ausdrucksform im „West-östlichen Divan“. Exkurs I  217

abgesetzten Schlußstrophe wird dann eine generelle Auswertung vorgenommen, so daß sich insgesamt ein strikt geometrisches Bauschema ergibt: 1 (I) + 3 (II–IV) + 1 (V). Von vornherein lenkt der Titel „Selige Sehnsucht“ die Aufmerksamkeit auf den gedanklichen Schwerpunkt des Gedichts: das Verlangen nach einem höheren Leben. Da es sich hierbei um ein „offenbar[es] Geheimniß“722, um „ein heilig heimlich Wirken“723 handelt, das die endliche Lebensrealität zum unendlichen Horizont des Universums hin öffnet, fehlen dafür feste Begriffe. So wird verständlich, warum Goethe die Überschrift des Gedichts zweimal änderte. Aus dem anfänglichen „Selbstopfer“ wurde zunächst „Vollendung“, bis am Ende der definitive Titel „Selige Sehnsucht“ gefunden war. Daraus spricht nicht etwa Unsicherheit. Vielmehr bezeugt die perspektivisch wechselnde Bezeichnung einen schwierigen Findungsprozeß, wie er der Komplexität des Themas geschuldet ist. Geht es doch um „das ewig Eine, / Das sich vielfach offenbart“724. Der erste Titel – „Selbstopfer“ – benennt zwar zutreffend das Ausmaß der zur Rückkehr in die universale Einheit erforderlichen vollständigen Hingabe, doch rückt dabei Verzicht im Sinne der Selbstaufgabe zu stark in den Vordergrund. Demgegenüber hebt der zweite Titel – „Vollendung“ – wiederum zu sehr auf das Stadium bereits erreichter Erfüllung ab. Da jedoch angestrebt wird, auf dem Wege sich steigernder Gestaltbildung der noch unerfüllten Fortdauer näherzukommen, entspricht der schließlich gewählte Titel – „Selige Sehnsucht“ – der vom Autor gewollten Aussage am besten. Insofern geht die Annahme fehl, es handle sich bei den Titeländerungen um „eine bloße Verdeutlichung“725. Vielmehr geht es um die richtige existentielle Gewichtung, wie sie dann in der dritten Variante zum Ausdruck kommt. Was aber sagt uns die am Ende gefundene Überschrift konkret? Die durch den gleichen Anlaut beider Worte726 klanglich herausgehobene Konfiguration eines die 722 So der Titel eines Hafis gewidmeten Gedichts im „West-östlichen Divan“ (WA I.6, S.  41). Im zeitlich und weltanschaulich benachbarten Gedicht „Epirrhema“ (direkte Anrede des Publikums zwischen den Chorliedern) taucht die gleichgerichtete Formulierung auf: „Heilig öffentlich Geheimniß“ (WA I.3.1, S. 83). Dieses Gedicht wurde von Goethe in der ‚Ausgabe letzter Hand‘ zwischen „Die Metamorphose der Pflanzen“ und „Die Metamorphose der Tiere“ plaziert. Die Endverse umschreiben das „Geheimniß“ wie folgt: „Freuet euch des wahren Scheins, / Euch des ernsten Spieles: / Kein Lebendiges ist ein Eins, / Immer ist’s ein Vieles“ (V. 7–10). 723 So im Gedicht „Allleben“ (WA I.6, S. 27, V. 26). 724 So im Gedicht „Parabase“ (WA I.3.1, S. 84, V. 5/6). 725 Gegen Schrader (Schrader, F. Otto: „Selige Sehnsucht“. Ein Bekenntnis zur Seelenwanderung. In: Euphorion. 46/1952, S. 48–58; Zitat: S. 49). 726 Gemeint ist die Alliteration: „selige Sehnsucht“.

218  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

beseligende Qualität unterstreichenden Adjektivs mit dem weit ausholenden Substantiv „Sehnsucht“ stellt sogleich klar, daß der Text die Rückkehr in eine höhere Einheit thematisiert. Sie soll den Sich-Sehnenden über die Begrenzungen der „dunklen Erde“ (V. 20) erheben. Nicht zufällig gebrauchte Goethe hierbei einen Zentralbegriff der zur gleichen Zeit ebenfalls nach Unendlichkeit strebenden Romantiker – „Sehnsucht“. Anders als jene sieht er allerdings seine Zielvorstellung nicht in himmlisch-jenseitiger Erfüllung, sondern, weit direkter, in weltseliger Synthese. Im selben Sinne beschwört er sein Vorbild Hafis mit dem Anruf: „Der du, ohne fromm zu sein, selig bist!“727 Ihm geht es mithin um diesseitige Hingabe an ein „Höher[es], Reiner[es], Unbekannte[s]“, die er ebenso noch 1825 in der „Elegie“ seiner „Trilogie der Leidenschaft“ als „selige Höhe“ einstufen wird728. In solch „seliger Höhe“ ist das von ihm ersehnte schöpferische Werden zu geformter Gestalt angesiedelt. Es entspringt jenem inneren Sinn des Lebens, wie er ihn in der „Farbenlehre“ definierte: „Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur“729. Diesen Zielgedanken fortschreitend aufhebender Synthese der Gegensätze bereitet die Überschrift „Selige Sehnsucht“ angemessen vor. Gleich zu Beginn der ersten Strophe führt der Autor ein Motiv der persischen Vorgabe weiter. Bei Hafis heißt es am Schluß des anregenden Ghasels ganz in der Linie altorientalischer Geheimlehre: „Gib die köstlichen Juwelen / Nur den Eingeweihten“730. Bewußt verlagert Goethe die exklusiv-esoterische Zuschreibung des Musters in den geistig faßbaren Bereich, den er das „erscheinende Dasein“ nennt731. Freilich ist auch er überzeugt, daß nicht jedem die Teilhabe an einem Wissen gegeben ist, das auf eine spirituelle Versenkung in die unbegrenzte kosmische Ordnung abzielt. 727 WA I.3.1, S. 41 („Offenbar Geheimniß“, V. 11). Mit Recht betonte Borchardt: „Es ist nichts Christliches in dem Gedicht, sondern nur Selig-Anschauendes des Seienden“ (Borchardt, Rudolf: Zu Goethes ‚Selige Sehnsucht‘. In: ders.: Gesammelte Werke: Prosa I. Stuttgart 1957, S.  472–475 (Zitat: S.  475)). Damit übereinstimmend bezeichnet Muschg den „West-östlichen Divan“ als „ein Buch gegen alles Pfaffen- und Vorschriftenwesen“ (Muschg, S. 97). Erich Trunz glaubte dagegen, im Gedicht ein deutliches „religiöses Streben“ ausmachen zu können (HA 2, S. 559; Kommentar). 728 WA I.3.1, S. 24 (V. 80 und 83). Sehr ähnlich spricht der Philosoph Schelling von der „potenzierten ästhetischen Anschauung“ (Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: „System des transzendentalen Idealismus“, 1800; in: Werke III, Nachdruck: Darmstadt 1990, S. 627–634). 729 WA II.1, S. 296. 730 Zit. n.: HA 2, S. 560. 731 In der „Italienischen Reise“ kommt Goethe auf den Niedergang der venezianischen Republik zu sprechen und stellt dazu fest: „Sie unterliegt der Zeit, wie alles, was ein erscheinendes Dasein hat“ (WA I.30, S. 106; Eintragung vom 29.9.1786). Exkurs I  219

Wer sich zwischen Endlichkeit und Ewigkeit bewegt, kann in der herrschenden Gesellschaft keine Mehrheit hinter sich bringen. Deswegen betonen die beiden Initialverse einschränkend: „Sagt es niemand, nur den Weisen, / Weil die Menge gleich verhöhnet“. Angesprochen ist zunächst allein „die geheime Gemeinde der Verstehenden“732. Man sollte indes den elitären Charakter dieser Bekundung nicht mit heutigen Maßstäben als Ausfluß des antidemokratisch-reaktionären Geistes eines notorischen Reformkonservativen abtun. Gänzlich anderes steckt dahinter, nämlich die notwendige Abgrenzung und Selbstverständigung des Dichters. Goethe verweist damit von vornherein auf die nicht jedermann zugänglichen Dimensionen seines überlegenen künstlerischen Ethos. Die davon hergeleitete ästhetische Position hat er einleuchtend in der oft bemühten, poetisch-poetologischenen Bildformel zusammengefaßt: „Schöpft des Dichters reine Hand, / Wasser wird sich ballen“733. Mit diesem paradoxen Symbol umschrieb er treffend den „geheimen Sinn“, der allein „dem Wissenden“ zugänglich ist, wie es gleichfalls im „West-östlichen Divan“ heißt734. Wirkliche Dichtung muß erarbeitet werden. In dieser Hinsicht wollte Goethe von nun an unbedingt erzieherisch wirken. Das bedeutet, daß er seinen Text als Vehikel möglicher Begegnung mit Gleichdenkenden verstand, gerade auch mit Lesern in der Zukunft. Dem entspricht hier die von ihm gewählte, über das Ich hinausweisende personale Anredeform im Plural („Sagt es …“). Allerdings machte er sich keinerlei Illusionen hinsichtlich des Erfolgs. Nur zu gut wußte er um die oft ausbleibende Resonanz seiner Alterswerke beim Publikum. Bekundete er doch gegenüber Eckermann den nüchternen Sachverhalt: „Meine Sachen können nicht popular werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen“735. Aufgrund 732 So Hölscher-Lohmeyer (Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Die Entwicklung des Goetheschen Naturdenkens im Spiegel seiner Lyrik – am Beispiel der Gedichte „Mailied“ – „Selige Sehnsucht“ – „Eins und Alles“. In: GJ 99/1982, S. 11–31; Zitat: S. 20). Nicht akzeptabel ist hingegen ihre sakralisierende Annahme: „Der Sänger wird hier zum Priester, zum Eingeweihten in das Prinzip des Lebens als ein Naturgeheimnis“ (ebd.). Ähnlich spricht Rösch vom „esoterischen Geheimnis“ (Rösch, Ewald: Goethes ‚Selige Sehnsucht‘ – Eine tragische Bewegung. In: Germanisch-romanische Monatsschrift. 20/1970, S. 241–256; Zitat: S. 24). 733 WA I.6, S. 22 („Lied und Gebilde“, V. 11/12). 734 WA I.6, S. 152 („Ginkgo biloba“, V. 3 und 4). Hier der genaue Wortlaut: „Gibt geheimen Sinn zu kosten, / Wie’s den Wissenden erbaut“. Abwegig ist darum die Meinung Korffs, das Gedicht bezeichne „sich selbst in den ersten Versen als mystische Geheimlehre“ (Korff, Hermann August: Goethe im Bildwechsel seiner Lyrik, Bd.  2. Hanau 1958, S. 129–133 („Selige Sehnsucht“); Zitat: S. 129). 735 MA 19, S. 266 (Eintragung vom 11.10.1828).

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seiner tiefen Skepsis gegenüber der Masse verwahrt Goethe sich deswegen gleich zu Beginn des Gedichts vor törichtem oder böswilligem Mißverstehen736. Nachdem so die nötige Positionsklärung erfolgt ist, kann im zweiten Verspaar unverzüglich das eigentliche Thema des Gedichts vorgestellt werden: „Das Lebend’ge will ich preisen, / Das nach Flammentod sich sehnet“ (V. 3/4). Zuerst gibt sich der Sprecher als Subjekt der Erfahrung und direkt kommunizierender Autor zu erkennen, der die lyrische Aussage in der ersten Person als seinen dichterischen Lobgesang vorstellt („… will ich preisen“). Erneut greift Goethe sodann ein Motiv des Hafis auf und denkt es auf seine Weise weiter. Es handelt sich dabei um die in der altpersischen Dichtung häufig nachweisbare Vorstellung des Fortlebens im reinigenden und entsühnenden Feuertod. Dieser Schritt wurde im indisch-persischen Kulturkreis als ein individuelles Erlöschen verstanden, das es erlaubt, mit dem Göttlichen eins zu werden. Hafis setzt den Feuerkult in Beziehung zu den Leiden des Liebenden und sieht im selbstvernichtenden Flammentod die Überwindung der Liebespein: „Wie die Kerze brennt die Seele, / Hell an Liebesflammen / Und mit reinem Sinne hab’ ich / Meinen Leib geopfert“737. Goethe, als Verfechter wissender Entsagung, wollte es anders. Selbstopfer war seine Sache nicht. Er akzentuierte deshalb den Vorgang des Musters um, indem er den ersehnten Tod des leidenschaftlich in Liebe Verstrickten der Ichbezogenheit entreißt und, mit Schelling zu sprechen, in „aktuelle Unendlichkeit“738 überführt. Sein ‚Liebesgedicht‘ bringt den Menschen auf den Kreislauf der Natur zurück. Mit dem Verweis auf den „Flammentod“ rückt an die Stelle der zeitlich begrenzten Liebe die Einbindung des unabweisbaren Sterbens in den ewigen Zyklus der Elemente. So kann, darin liegt das Geheimnis höherer Existenz, der Überlebensdrang „zu höherer Begattung“ (V. 12) mutieren. Darauf beruht die im Text herausgestellte Möglichkeit, „das Lebend’ge“ zu „preisen, das nach Flammentod sich sehnet“. Goethe schreibt kein Todesgedicht. Ebensowenig will er uns eine Auferstehungsgeschichte zumuten. Er konzentriert sich auf den Gedanken ultimativer Selbstverwirklichung im Wissen um das mögliche Einswerden mit dem Universum739. Eindeutig steht für ihn „das Lebend’ge“ im Vordergrund und 736 Aus dem gleichen Grund entschloß sich Goethe dazu, das Manuskript der Endfassung von „Faust II“ einzusiegeln. 737 Zit. n.: HA 2, S.  560. Goethe war mit der Feuermetaphorik als „Flammenschrift“ in Verbindung mit dem ewigen „Herzweh“ der Liebe auch von Petrarca her vertraut. Vgl. hierzu vor allem seine diesbezügliche poetische Auseinandersetzung mit dem „Canzoniere“ Petrarcas in V. 1 und 11 des Sonetts „Epoche“ (WA I.2, S. 18). 738 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Werke II: Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1806), Nachdruck: Darmstadt 1990, S. 146. 739 In einer aus dem Nachlaß überlieferten Notiz hielt Goethe zur „Metamorphose der Pflanzen“ fest, daß sie „aufwärts nach Luft und Licht eine entschiedene Richtung und Exkurs I  221

damit die steigernd gestaltete Existenz im Diesseits. So läßt sich, seiner Überzeugung nach, Verlorenheit in Unverlorenheit umwandeln. Ausschlaggebend hierfür ist die mit dem Entwerden erreichte irdische Endstufe erhöhten Lebens. Nicht ohne Grund setzte der Autor an die Stelle von „Flammentod“ ursprünglich das Wort „Flammenschein“. Zwar ist dieser Begriff weniger deutlich, doch bezeichnet er genauer die Ausrichtung des Sehnens. Daß schließlich dennoch die Endgültigkeit des Todes betont wurde, ergab sich aus Goethes Bedürfnis nach jener Freiheit, die es ihm erlaubte, im Bewußtsein „aktueller Unendlichkeit“ den Tod akzeptieren zu können, so daß, mit Hugo von Hofmannsthal zu sprechen, „des innern Lebens kein Ende ist“740. Diese Freiheit zu betonen gehört von vornherein zur irdischen Verankerung wie dann zur tiefen Humanität des Gedichts. Damit sind die Wirkungsdimensionen des Textes im Sinne des ‚lebendigen Lebens‘ hinreichend eingeführt. Mit der zweiten Strophe erfolgt der Übergang zu genauerer symbolischer Erfassung der „seligen Sehnsucht“. Dabei ging Goethe das in der damaligen Zeitlage nicht geringe Risiko ein, gleich im ersten Verspaar den Liebesakt anzusprechen. Gewarnt durch die teilweise entrüsteten Reaktionen beim Erscheinen der „Römischen Elegien“, wählte er, vorsichtig geworden, diesmal die Situation nach dem vollzogenen Höhepunkt der liebenden Vereinigung. Außerdem beschränkt er seine Beschreibung auf den typisierend bildlichen Zeichencharakter: „In der Liebesnächte Kühlung, / Die dich zeugte, wo du zeugtest“. Zwei Punkte werden in diesen zurückhaltend formulierten Versen als wesentlich herausgestellt: Das Motiv der die Menschheitsgeschichte bestimmenden Kette des Zeugens („die dich zeugte, wo du zeugtest“) und vor allem die Bedeutung des Nachdenkens über die im nun zurückliegenden Liebesaugenblick erfolgte Zeugung neuen Lebens. Erinnerung und Eingedenken – deswegen an dieser Stelle Präteritum! – lenken die Reflexion auf das Gesetz des unendlichen Lebens. Erst im Stadium abgekühlter Liebesglut („In der Liebesnächte Kühlung“) ist produktive Reflexion möglich. Allein die den elementar-heftigen Überlebenstrieb des Paarungstaumels ablösende „Kühlung“ kann das dafür erforderliche geistige Klima schaffen. Interessanterweise erfolgt genau an dieser Stelle eine für den weiteren Ablauf des Gedichts entscheidende dialogische Ausrichtung des Textes. Vorbereitet vom imperativischen Initialwort, prägt fortan die unmittelbare Du-Anrede das lyrische Sprechen741. Das lyrische „Ich des Erfahrenden“742 wird zum kommunikativ offenen Sehnsucht [!] aussprechen“ (GN I.10, S. 273). 740 Hofmannsthal, Hugo von: Goethes ‚West-östlicher Divan‘. In: ders.: Gesammelte Werke. Prosa III. Hrsg. v. Herbert Steiner. Frankfurt/M. 1952, S. 159–164 (Zitat: S. 159). 741 Neunmal taucht in den Strophen II–V das Personalpronomen der zweiten Person im Singular auf (in fünf Fällen „du“, in vier Fällen „dich“). 742 Hölscher-Lohmeyer, s. Anm. 732, S. 20.

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Du. Ungeachtet der Einschränkung zu Beginn des Gedichts („… nur den Weisen“) ist virtuell jedermann einbezogen. Offenkundig strebt Goethe eine geistige Begegnung mit der Leserschaft an, was heißen soll: mit jedem aufnahmebereiten Individuum. Bewußt legt er es mit seinem weltanschaulichen Spruchgedicht darauf an, im verallgemeinernden Dialog die geistige Kooperation möglicher Adressaten herbeizuführen. Auf dieser Grundlage weitet sich die Selbstverständigung des lyrischen Ichs zu genereller Wegweisung. Der damit verbundene qualitative Sprung setzt voraus, daß der Autor immer zugleich über seinem Text steht. Durchweg „sieht“ er, so hat Erich Trunz die Kommunikationssituation beschrieben, „das Gedicht und sieht sich selbst“743. Man muß dem nur noch hinzufügen: Er denkt zugleich immer auch seinen Leser mit. Auf dieser Basis kann er ebenso darauf vertrauen, daß der ‚unreine‘ Reim („zeugtest“ – „leuchtet“) als gestalterisch absichtsvoll gesetzt aufgenommen wird, um den Übergang von der „Finsterniß“ (V. 10) zum „Licht“ (V. 15) vorzubereiten. In der anderen Hälfte der zweiten Strophe wird der begonnene Satz schlüssig weitergeführt. Wir erfahren, was sich „in der Liebesnächte Kühlung“, also nach dem Liebesakt, im Innern des Nachdenkenden abspielt: „Überfällt dich fremde Fühlung, / Wenn die stille Kerze leuchtet“. Mit der „stillen Kerze“ deutet Goethe die kontemplative Atmosphäre des Raumes an, in dem der Liebende sich befindet. Worin aber besteht der tiefere Sinn dieser mehrdeutigen Metapher? Auffallend kontrastiert die von der Umwelt abgehobene Stille mit dem Lärm der in Vers 2 angesprochenen „verhöhnenden Menge“. Das zugleich ebenfalls vermerkte Leuchten ist entschieden mehr als, wie vermutet wurde, bloßer „Kerzenschein in einer Kammer“744. Die leuchtende „Kerze“ entzündet gleichsam eine geistige Bewegung, die gewohnte Grenzen durchbricht. Sie er-leuchtet. Fraglos ist es ein Kurzschluß, wenn Rudolf Borchardt annimmt, sie sei „der Dichter selbst“745. Eine derart schiefe Metaphorik war Goethe fremd. Er evoziert mit der „stillen Kerze“ den konzentrierten Rahmen für das freie Denkspiel zu innerem Aufbruch. Symbolisiert die herunterbrennende „Kerze“ doch ebenso das drohende Erlöschen des Lebens. Deswegen überkommt den lyrischen Sprecher überfallartig („überfällt dich“) eine ihm zuvor unbekannte, der Beobachtung nicht zugängliche „fremde Fühlung“. Was er bislang bloß ahnte, nimmt nunmehr – im „Sehen über das Leben hinaus“746 – gefühlsmäßig faßbare Gestalt an, wird zum Aufbegehren gegen die unerbittliche Biologie des Zeugens und Vergehens. Wohl deshalb wählte der Autor hier die dynamische Ausdrucksform des substantivierten 743 HA 2, S. 548 (Kommentar). 744 So Staiger (Bd. III, S. 36). 745 Borchardt (s. Anm. 727), S. 473. In gleicher Weise unterstellt Borchardt etwas später auch noch die „Identität zwischen Schmetterling und Dichter“ (ebd., S. 474). 746 Dies eine richtige Beobachtung Staigers (Staiger, Bd. III, S. 36). Exkurs I  223

Verbs (kühlen > „Kühlung“, fühlen > „Fühlung“). Im Gegensatz zur intensiven Nähe heißer „Liebesnächte“ umgibt den darüber Nachdenkenden die spirituell anregende Kühle einer „fremden Fühlung“. Sie reißt den Liebenden aus dem Lebensalltag heraus, treibt ihn zur Suche nach den geheimen Beziehungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, zwischen begrenztem Leben und Fortleben. Ihn überwältigt „selige Sehnsucht“ nach dem unendlich „Lebendigen“. Was im Anflug „fremder Fühlung“ zunächst lediglich metaphorische Andeutung bleibt, gewinnt dann in der Folge deutlichere Konturen. Darin liegt die Bedeutung der das Zentrum des Gedichts bildenden dritten Strophe. Sie erweist sich als Dreh- und Angelpunkt der lyrischen Konstruktion. Das überwältigend erfahrene Leuchten der „stillen Kerze“ hat einen existentiellen Umschlag zur Folge, der den nun anders, nämlich höher Fühlenden innerlich freisetzt: „Nicht mehr bleibest du umfangen / In der Finsterniß Beschattung“. Syntaktisch direkt miteinander verbunden, werden diese beiden Verse eng zusammengeschlossen. Bisher gaben die Verseinheiten den Formrahmen für weithin autonome Teilaussagen ab. Jetzt greift der Autor zum Mittel des Zeilensprungs. Er gibt dem „Umfangen“Sein „in der Finsterniß“ dadurch besonderes Gewicht. Das Enjambement markiert in gewisser Weise den Zeitpunkt, zu dem der lyrische Sprecher die Möglichkeit erkennt, nicht mehr „in der Finsterniß Beschattung“ verhaftet zu sein. Beflügelt vom Nachdenken über den tieferen Zusammenhang des schaffenden Zeugens, erschließt sich ihm der befreiende Weg zum „Licht“ (V. 15). Durch die „fremde Fühlung“ wird das Bedürfnis nach Erhellung geweckt747, um die einschränkende Wirkung einer verschatteten Existenz hinter sich lassen zu können. Im Grunde lebt das Gedicht insgesamt von der Polarität zwischen Finsternis und Licht. Der alles verändernde Umschlag wird, wie das folgende Verspaar noch deutlicher zeigt, zur existentiellen Wende: „Und dich reißet neu Verlangen / Auf zu höherer Begattung“. Jedes Wort, das hier fällt, unterstreicht die Bedeutung des Wandlungsvorgangs. Dazu gehört, daß erstmals im Text die koordinierende Konjunktion „und“ auftaucht, die dann in der Folge noch dreimal verwendet wird (V. 14, 15 und 17). Die zusammenreihende Funktion des ‚Bindeworts‘ unterstützt das angesprochene „neue Verlangen“. Es „reißt“ den Liebenden mit einem Schlag aus dem Bereich von „Finsterniß“ und „Beschattung“ heraus. Absichtsvoll wird das durch die am Versbeginn positionierte und wiederum durch Enjambement herausgehobene Präposition „auf “ ausdrücklich betont. Nicht mehr die terrestrisch-geschlechtliche Liebesvereinigung steht danach zur Frage, sondern die mögliche Erhebung zu „höherer Begattung“. Das mittlerweile kaum mehr gebrauchte Wort für die zeugende 747 Borchardt spricht hier zutreffend von geweckter „Lichtbegier“ (Borchardt, s. Anm. 727, S. 473).

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Paarung hebt die denkbar enge Verbindung von individuellem Leben und geistigem Auftrag hervor. Die Sehnsucht „nach Flammentod“ (V. 4) eröffnet dem Liebenden den ideellen Horizont des unendlichen Lebenskreises jenseits der Todesgrenze. Sicher bedeutet das mehr als bloß „gesteigerte Vitalität“748. Mit der „höheren Begattung“ hat Goethe ein Bild gefunden für die ersehnte definitive Selbstfindung im Aufgehen in der All-Liebe. Was hinter dieser noch fremd erscheinenden und schwer zu fassenden Vorstellung eines begriffenen, gesteigerten Lebensendes steckt, hat der Dichter schon 1797 im neunten Gesang von „Hermann und Dorothea“ vorweggenommen. „Lächelnd“ läßt er dort den Pfarrer sagen: Des Todes rührendes Bild steht, Nicht als Schrecken dem Weisen, und nicht als Ende dem Frommen. Jenen drängt es in’s Leben zurück und lehret ihn handeln; Diesem stärkt es, zu künftigem Heil, im Trübsal die Hoffnung; Beiden wird zum Leben der Tod. … daß beide des ewigen Kreises Sich erfreuen und so sich Leben im Leben vollende!749

Die lebensbetonende Botschaft des Geistlichen im Zeichen Uranias, der Muse der Astronomie, erweist sich als denkbar bester Kommentar zur „Seligen Sehnsucht“. Unstrittig zählte Goethe sich hierbei zur souveränen Gruppe der „Weisen“, also derjenigen, die es angesichts des Todes „ins Leben zurückdrängt“. Aus dem Zusammenspiel von Liebe und Tod, Körper und Geist leitet er ab, daß es eine diesseitige ‚Auferstehung‘ zu leisten gilt, die zu überzeugendem Handeln befähigt und so „sich Leben im Leben vollenden“ kann. Emil Staiger hat diese Haltung zutreffend als die des „Entsagenden“, bezeichnet, „den das Schicksal nicht erreicht“750. Damit ist ein Lebensprogramm umrissen, das den danach sich richtenden „Weisen“ in die Lage versetzt, „der Finsterniß Beschattung“ als unabänderlich gegeben, jedoch als individuell unverbindlich anzusehen. Die selbstverantwortliche Persönlichkeit zeichnet sich, nach Auffassung Georg Simmels, gegenüber dem bloß „quantitativen Individualismus“ der Menge durch die „Ganzheit des lebendigen Individuums“ aus, die er auch als „die Objektivität des Individuellen“ bezeichnet751. Eben das war von Goethe mit der „höheren Begattung“ gemeint. 748 So Gert Ueding (GH 1, S. 379). 749 WA I.50, S.  257  f. („Hermann und Dorothea“; IX: Urania, Aussicht, V. 46–50 und 53/54). 750 Staiger, Bd. III, S. 37. 751 Simmel, Georg: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hrsg. v. Michael Lachmann. Frankfurt/M. 1968, S. 189 und 217. Exkurs I  225

Die inhaltlich sich direkt anschließende vierte Strophe rundet den Mittelteil ab. Ihre vier Verse gehören syntaktisch eng zusammen: „Keine Ferne macht dich schwierig, / Kommst geflogen und gebannt, / Und zuletzt, des Lichts begierig, / Bist du, Schmetterling, verbrannt“. Der nicht einfach zu durchschauende Vergleich mit der hochgestimmten Flugbewegung und dem selbstzerstörerischen „Flammentod“ (V. 2) des Schmetterlings greift auf die in der ersten Strophe eingeführte Feuermetaphorik zurück. Die beiden ‚männlichen‘ Versendungen bringen als ‚stumpfe‘ Kadenzen in den bisher harmonisch ablaufenden metrischen Duktus punktuelle Härte hinein („gebannt“, V. 14; „verbrannt“, V. 16). Um jeweils eine Silbe verkürzt, lassen diese Verse aufhorchen. Die scheinbar geringfügige klangliche Veränderung genügt, um einen entscheidenden Punkt der lyrischen Aussage auch in der Form herauszuheben. Was aber ist den äußerst schwierigen vier Versen zu entnehmen? In Weiterführung der Selbstansprache wird der Vergleich mit dem heftig bewegten Schmetterlingsflug dem Dichter zum Zeichen jener unbändigen, sehnsüchtigen Lebensglut, ohne die eine „höhere Begattung“ nicht denkbar ist. Grenzen sind dabei keine gesetzt. Daß jede „Ferne“ bewältigt werden kann, bezeugt gerade das unendliche Ausgreifen des intensiv Lebenden. Insoweit ist das Gemeinte auf den ersten Blick unschwer nachzuvollziehen. Die Schwierigkeiten liegen im Detail. Gleich der einleitende Teilsatz – „Keine Ferne macht dich schwierig“ – erscheint in mehrfacher Hinsicht etwas verklausuliert. Nicht unbedingt zur Klärung hat Werner Kraft mit seinem Vorschlag beigetragen, an die alte Bedeutung des Adjektivs ‚schwierig‘ im Sinne von ‚aufrührerisch‘ und ‚rebellisch‘ anzuknüpfen752. Es liegt meines Erachtens näher, an weniger gesuchte semantische Referenzen wie ‚ist dir zu schwierig‘, ‚schreckt dich‘ oder ‚kann dich abhalten‘ zu denken. Kompliziert ist sodann ebenso die funktionale Bedeutung des Personalpronomens753, weil hierbei ein gewisser Kontinuitätsbruch zu vermerken ist. Durch den Direktvergleich mit dem Schmetterling entspricht das angesprochene Du nicht mehr allein dem lyrischen Ich oder dem jederzeit zu substituierenden Leser-Ich. In einer Art semantischer Rochade bezieht an dieser Stelle des Gedichts die Du-Anrede das Vergleichsobjekt, den Schmetterling, ein. Für die Interpretation muß darum im Rahmen der vierten Strophe eine mehrwertige Referentialität des Subjekts berücksichtigt werden. Außer dem Du des lyrischen Sprechers, das in intensiver Selbstansprache dem Text seinen Sinn gibt, sowie dem dialogisch einbezogenen Adressaten des Gedichts gilt die symbolische Anrede demnach nun unmittelbar auch dem Falter. Erst dessen Verbrennungstod beendet dann wieder die 752 Kraft, Werner: ‚Selige Sehnsucht‘. Erläuterungen. In: ders.: Augenblicke der Dichtung. Kritische Betrachtungen. München 1964, S. 295–303; insbesondere S. 298 f. 753 Borchardt unterstellt, es sei „nirgends genau zu sagen, wer das Du ist“ (Borchardt, s. Anm. 727, S. 474).

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vorübergehend sich kompliziert überlagernde Doppelfunktion des Personalpronomens. In einer knappen Einfügung – „Kommst geflogen und gebannt, / Und …“ – vermittelt der Text bildlich die unaufhaltsame Energie des einem Höhenflug zu vergleichenden Lebensdrangs, der seinem Gipfelpunkt zustrebt. Das tiefempfundene „Verlangen“ nach „höherer Begattung“ (V. 11/12) im „Licht“ (V. 15) gibt dem Flug die unbedingte Aufwärtsrichtung. Mit dem Partizip „gebannt“ kommt zum Ausdruck, wie sehr der Schmetterling von der magischen Gewalt jenes „Verlangens“ in Bann geschlagen ist. Der doppelte Gebrauch der Konjunktion „und“ schließlich untermalt diesen vergegenwärtigend mitgeteilten Vorgang im Sinne eines unmittelbaren Berichts. Dabei erfahren wir den eigentlichen Grund für den Höhenflug. Lichtbegier („Und zuletzt, des Lichts begierig“) und die Flucht aus „der Finsterniß Beschattung“ (V. 10) treiben den Licht Suchenden an754. Einigermaßen verwirrend wirkt sodann der die Strophe durchgängig prägende Vergleich mit dem Schmetterling. Dessen Lichtflug bedeutet ja zugleich sein Ende („Bist du, Schmetterling, verbrannt“). Das durch den Versauftakt akzentuierte Satzband, die Kopula „bist“, lenkt die Aufmerksamkeit auf den davon herzuleitenden neuralgischen Punkt existentieller Entscheidung. Goethe hat ihn schon früh in der Shakespeare-Rede von 1771 als den „geheimen Punckt“ angesprochen, „in dem das Eigenthümliche unseres Ich’s, die prätendirte Freyheit unsres Willens, mit dem nothwendigen Gang des Ganzen zusammenstösst“755. Zum „notwendigen Gang des Ganzen“ gehört aber ebenso die uns alle nötigende Finalität des Todes. Dies weiterdenkend, könnte man meinen, Goethe propagiere mit der Metapher des verbrannten Schmetterlings eine Getriebenheit, die keine Wahl mehr läßt („bist du … verbrannt“). Ein derartiger Flug in den Tod wäre in der Tat „Selbstopfer“, wie der Titel des Gedichts zunächst lautete. Mit der Änderung der Überschrift kommt jedoch ein anderer Akzent zum Ausdruck. Nachdem der Autor dann auch das entgegengesetzte Extrem der „Vollendung“ verworfen hat, wählte er am Ende „Selige Sehnsucht“ und entschied sich damit gegen den Tod und für die „Ganzheit des lebendigen Individuums“, wohl sogar, wie Emil Staiger vorgeschlagen hat, für eine „höchste Heiterkeit im Dasein“756. Anzunehmen, die geweckte Lichtbegier münde im Verderben, würde den Sinngehalt des Gedichts vollkommen auf den Kopf stellen. Der Feuertod des Falters („bist du, Schmetterling, verbrannt“) symbolisiert demzufolge im Kontext den wesentlichen Moment eines sich erfüllenden Lebens. Zu Recht spricht Muschg von einer 754 Goethe sah in den Schmetterlingen „wahre Ausgeburten des Lichts und der Luft“ (WA II.1, S. 257: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. Dritte Abteilung, chemische Farben). 755 WA I.37, S. 133 (Rede „Zum Schäkespears Tag“). 756 Staiger, Bd. III, S. 37. Er vertieft seine Interpretation mit dem Hinweis, „daß die Auferstehung, die Goethe meint, diesseitig ist“. Exkurs I  227

„Weiterschöpfung“757. Übertragen auf denjenigen, der „das Lebend’ge preisen“ will (V. 3), kann das nur heißen, daß sich ihm der Horizont zu „höherer Begattung“ (V. 12) öffnet. Er kann in einen neuen, leidenschaftlich erkannten und innerlich übernommenen Lebenskreis eintreten. Längst hatte Goethe die radikale Subjektivierung der Werther-Phase hinter sich gelassen. Ohne weiteres konnte er nun dem Tod im Leben das lebendige Leben im Wissen um den Tod entgegensetzen. Falsch wäre es also, von einer Identität zwischen Sprecher und Schmetterling auszugehen758. Der Vergleich fungiert lediglich als anschauliche Sinnfigur für die ausschlaggebende Erkenntnis neu gewonnener Lebensorientierung im „Licht“759. Nicht die Anziehungskraft des Todes treibt den Dichter um, sondern – gerade angesichts des unumgänglichen Endes – die immer weiter zu steigernde Qualität des „Lebend’gen“. So wird es möglich, die den Gesamttext bestimmenden antithetischen Positionen760 im Bewußtsein des Sprechers in höherer Einheit zu verbinden. Darauf aufbauend, kann dann derjenige, der dazu in der Lage ist, den Gegensatz von „stirb und werde“ in sich ausgleichen und wieder in die Lebensfülle eintauchen. Daß dies sich gerade im Wissen um das leibliche Sterbenmüssen ereignet, bleibt allerdings entscheidend. Es ist, wie Goethe an anderer Stelle sagt, „Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge“761. Todesbewußt und dadurch gestärkt, kehrt derjenige, der den Vergleich mit dem Flug des Schmetterlings wirklich begriffen hat, ins Leben zurück. 757 Muschg, S. 101. In die gleiche Richtung geht die Annahme Staigers, der eine „Auferstehung, die … diesseitig ist“, ins Feld führt (Staiger, Bd. III, S. 36). 758 Obwohl Borchardt von der „Identität zwischen Schmetterling und Dichter“ ausgeht (Borchardt, s. Anm. 727, S.  474), betont er andererseits, jegliche Identitätsbeziehung aufhebend, der Schmetterling sei nichts als ein „blindes Eintagswesen“, nichts als ein „knechtisches Objekt der Natur“ (S. 475). Hölscher-Lohmeyer versteht den Schmetterling sogar als „Selbstapostrophierung“ (Hölscher-Lohmeyer, s. Anm. 732, S. 23). 759 Werner Kraft hat hierzu eine vorsichtig argumentierende, durchaus bedenkenswerte gegenläufige Überlegung angestellt. Sie sei wenigstens in ihrem Kern zitiert. Es heißt da: „Entweder also hat der Tod das Leben besiegt, oder das Leben hat den Tod besiegt. … Vielleicht wollte Goethe beide Auffassungen in einer Strophe gestalten“ (Kraft, s. Anm. 752, S. 297). Offensichtlich sind das Vorschläge eines genau mitdenkenden Lesers. Dennoch bleibt diese Deutung zu unentschieden. In die stimmige Richtung geht der Vorschlag Hölscher-Lohmeyers, die Schmetterlingsmetapher sei ein „Hymnus auf die sich durch immer neue Tode erneuernde und vergeistigende Lebenskraft, ein Hymnus auf das Lebendig-Sein“ (Hölscher-Lohmeyer, s. Anm. 732, S. 24). 760 Folgende Gegensatzpositionen werden angesprochen: die „Menge“  – der „Weise“, Nähe – „Ferne“, „Liebesnächte“ – „fremde Fühlung“, „in der Finsterniß Beschattung“ – „höhere Begattung“, Kerzenlicht  – „Licht“, „Flammentod“  – „Lebend’ges“. Dahinter steht in allen Fällen die Dualität von Materie und Geist. 761 WA I.3.1, S. 93 („Im ernsten Beinhaus war’s“, V. 21).

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Es ist durchaus richtig, hier von einer „geläuterten Existenzform“, einer „geistigseelischen Wandlung“ und einem „vertieften Selbstgewinn“ zu sprechen762. Das alles ist in der Vorstellung von Metamorphose und Entelechie eingeschlossen. Unwillkürlich denkt man dabei an Goethes Worte „Bei Betrachtung von Schillers Schädel“: „Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, / Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare? / Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen, / Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre“763. Die Folgerung, die er daraus zieht, wurde, richtig interpretierend, in den Satz gefaßt: „Das vom Dichter zur Lobpreisung auserkorene ‚Lebend’ge‘ … kann nun gedeutet werden als ein schöpferisch tätiges Wirken, das bedingt ist durch die Bereitschaft zur Selbstaufgabe“764. Auf Goethe bezogen bedeutet das: Im Gedicht wird der „poetische Schöpfungsaugenblick selbst zum Gegenstand der Dichtung“765. Allerdings hat der Autor seinen Text unzweideutig allgemeiner gedacht, virtuell sogar zum generell Verbindlichen hin ausgeweitet. Die das Gedicht abschließende fünfte Strophe ist vom vorausgehenden Text metrisch in zweifacher Hinsicht abgehoben. Zum einen sind die Verse 18 und 20 auf drei trochäisch fallende Takteinheiten verkürzt, zum andern die Verse 17 und 19 ‚männlich‘ reimend um eine Silbe reduziert (wie schon in der vierten Strophe die Verse 14 und 16). Beides verändert das Klangbild der Verse erheblich, zumal dadurch auch der unterstreichende Gleichklang der Reime entschiedener ausfällt. Insgesamt wirken die letzten vier Verse deshalb konzentrierter und lakonisch härter, so daß die eingesetzten Worte eine noch stärkere Ausdrucksintensität bekommen. Völlig zutreffend bezeichnete Rudolf Borchardt die Fügung „Stirb und werde!“ sogar als ein „Urwort“766. Tatsächlich erscheint der Ausdrucksgestus in der Art eines Denkspruchs

762 Keller, Werner: Goethe  – über Leben und Sterben und das Leben im Sterben. In: Abschied und Übergang. Goethes Gedanken über Tod und Unsterblichkeit. Zürich 1993, S. 129–152; Zitate: S. 142 f. 763 WA I.3.1, S.  94. Es handelt sich um das im März 1826 entstandene Gedicht mit der Anfangszeile „Im ernsten Beinhaus war’s“. Eckermann versah es bei der Veröffentlichung 1833 mit dem Titel „Bei Betrachtung von Schillers Schädel“. Hier sind daraus die Schlußverse (V. 31–34) zitiert. 764 Bühler, Manfred / Schwieder, Gabriele: Schöpferischer Augenblick. ‚Selige Sehnsucht‘. In: Interpretationen. Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Hrsg. v. Bernd Witte (= Reclams Universal-Bibliothek 17504). Stuttgart 1998, S. 202–214 (Zitat: S. 212). 765 Dies.: a.a.O., S. 213. 766 Borchardt (s. Anm. 727), S. 474. Pyritz hat diese Formulierung übernommen (Pyritz, Hans: Goethe-Studien. Hrsg. v. Ilse Pyritz. Köln, Graz 1962, S. 213–216; Zitat: S. 213). Wilhelm Schneider spricht von einem „gebieterischen Weisheitsspruch“. Zit. n.: Schneider, Wilhelm: Goethe: ‚Selige Sehnsucht‘. In: Interpretationen zum West-östlichen Exkurs I  229

pointiert, so daß man geradezu von einer „Maxime“ sprechen konnte767. Gleichzeitig jedoch stellt das beiordnende Initialwort „und“ die nötige Verbindung zum übrigen Text her. Über diese konjunktionale ‚Klammer‘ gewinnt die Schlußstrophe den Charakter einer das Ganze abrundenden Auswertung, also einer Conclusio im Sinne der rhetorischen Tradition. Sinnvollerweise geht das perspektivisch einher mit der Rückkehr zum Selbstdialog und zur Anrede des Adressaten. Thematisch unterscheidet der Strophentext zwischen einer qualitativ unzureichenden und einer erfüllten Lebensform. Nachdrücklich bewirkt gleich zu Anfang eine weitere Konjunktion („so lang“), daß hier, noch dazu mit einem negativ steigernden Satzglied, eine ausschließende Einschränkung gemacht wird: „Und so lang du das nicht hast“. Was so mit konditionaler Bedeutung verneint wird, lenkt die Erwartung um so mehr auf den direkt angeschlossenen positiven Gegensatz: „Dieses: Stirb und werde!“ Mit dem Demonstrativpronomen („dieses“), dem sowohl substantivisch-absolute als auch attributive Funktion zukommt, hebt der Autor die zentrale Lebensmaxime appellartig heraus: „Stirb und werde!“ Zusätzlich mit einem Ausrufezeichen markiert, bestimmt diese Sentenz die Zielsetzung unzweideutig. Ihr Imperativ besteht in der Einsicht, daß allein ein „zwischen beiden Welten“ angesiedeltes Handeln jenen vertiefenden „Vollgewinn“768 des Lebens ermöglicht, der den Menschen instand setzt, sich über das Alltäglich-Gewöhnliche zu erheben und bewußt über sein physisches Ende hinauszudenken. Damit lenkt Goethe die Aufmerksamkeit auf die allesentscheidende Abgrenzung zwischen einer defizitären Existenz und einem „real geläuterten“769 Leben im geistig und sittlich gefestigten Bereich „seliger Sehnsucht“. Im Folgesatz wird die ungenügende Lebenssituation metaphorisch kontrastierend mit einer eindringlichen Warnung versehen: „Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde“. Ein zweites Mal gebraucht der Autor die direkte Anrede („bist du“), Divan Goethes (= Wege der Forschung, Bd.  CCLXXXVIII). Hrsg. v. Edgar Lohner. Darmstadt 1973, S. 72–83; Zitat: S. 81. 767 So Hölscher-Lohmeyer, s. Anm. 732, S.  20. Schon Burdach formulierte ähnlich: „es ertönt ein Fabula docet mit moralischer Vermahnung“ (Burdach, Konrad: JA 5, S. 332– 338, Zitat: 334 (Kommentar zu ‚Selige Sehnsucht‘)). Im Zuge des Rezeptionsprozesses ist die Sentenz „Stirb und werde!“ leider oft auch zum billigen Motto verkommen. 768 Dies der Titel eines 1820 erstmals gedruckten Gedichts (WA I.3, S. 45). Dort lautet V. 9: „Meines Werthes Vollgewinn“. Die Überschrift „Zwischen beiden Welten“ deckt sich mit der brieflichen Aussage: „Liebe, Neigung, zwischen zwey Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend“ (WA IV.33, S. 27; an Zelter am 11.5.1820). 769 Vgl. hierzu die vorige Anmerkung. Unangemessen spricht Hans Pyritz vom „gewaltigen Augenblick der Berührung mit dem göttlichen Weltgrund“, ja vom „transrationalen Mysterium“ (Pyritz, s. Anm. 766, S. 215).

230  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

um unmißverständlich klarzumachen, daß derjenige, der den sinnbildlichen Ausdruck des Geistigen verkennt, auch auf Erden nicht wirklich beheimatet ist, sondern „nur“ als „ein trüber Gast“ durchs Leben geht. Logischerweise nimmt für ihn darum die von Goethe zeitlebens als „herrlich leuchtend“ gefeierte Natur770 den düsteren Charakter einer „dunklen Erde“ an. Wenn somit in den beiden Schlußversen betont wird, daß sich dem ungenügend Lebenden die Horizonte verfinstern, zeichnet der Autor damit bewußt ein herausfordernd „dunkles“ Gesellschaftsbild. Es soll die Menschen dazu auffordern, ihrer Existenz einen tieferen Sinn zu geben, dem unvermeidlichen Sterben den festen Willen, das „Geisterzeugte“ eines gewandelten, ihn gleichsam erhellenden Werdens entgegenzusetzen. Voll im Sinne von Goethes Lebenskonzeption notwendiger Selbststeigerung durch Metamorphose und Entelechie erfahren wir in einem anderen Gedicht mit dem Titel „Um Mitternacht“, welche Wirkung von der geforderten geistig-seelischen Erhebung ausgeht. Ganz zu den Versen „seliger Sehnsucht“ passend, heißt es da, bildhaft komprimiert, zum sich immer wieder erneuernden und weiter steigernden Leben: „Bis dann zuletzt des vollen Mondes Helle / So klar und deutlich mir in’s Finstere drang, / Auch der Gedanke willig, sinnig, schnelle / Sich um’s Vergangne wie um’s Künftige schlang“771. Das ist für den Dichter der Weg aus „der Finsterniß Beschattung“, hin zu „höchstem Anschauen des eigenen Wertes“, wie Hofmannsthal zum „West-östlichen Divan“ bemerkte772. Wer solch souveränen Überblick über das Leben erreicht, kann getrost den humanen Höchstanspruch propagieren: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß“773. Wie man sieht, erkannte Goethe in diesseitiger, produktiv-steigernder Lebensgestaltung die ebenso tiefe wie geheimnisvolle Verbindung mit dem Göttlichen als dem Vehikel zu individueller Teilhabe an der universalen Ordnung. Deswegen entbehrt die These, das Gedicht „Selige Sehnsucht“ stehe „im Bann einer tragischen Bewegung“774, jeglicher Grundlage. Es bleibt dabei: Goethes Verse drücken seine „innere Gewißheit der 770 Schon im 1771 entstandenen Gedicht „Maifest“ finden sich die Verse: „Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur!“ (WA I.1, S. 72); und noch in „Wilhelm Tischbeins Idyllen“ von 1821 heißt es: „Der Natur ist’s wohl gerathen“ (WA I.3, S. 123). 771 So die Schlußstrophe des 1818 entstandenen Gedichts „Um Mitternacht“ (WA I.3, S. 47; V. 11–14). 772 Hofmannsthal (s. Anm. 740), S. 162. 773 WA I.15, S. 315 f. (Faust in der Szene „Großer Vorhof des Palasts“: V. 11575 f.). 774 So Ewald Rösch (Rösch, s. Anm. 732, S.  255). Er wendet sich darum, obwohl er im Schlußtext einen „inneren Imperativ“ ausmacht (S. 252), auch gegen die Annahme, im Gedicht eine „kluge Verhaltensregel“ oder einen „sittlichen Appell“ zu sehen (S. 255). Wohl deshalb verkürzt er den Inhalt auf die simplifizierende Aussage, hier werde „die tödliche Sehnsucht nach dem ungetrübten Licht selig gepriesen“ (S. 256). Exkurs I  231

Dauer“ (Werner Keller775) aus. Sie sind Zeugnis existentieller Regeneration und dazu eines die Psyche erhebenden Gleichgewichts. Die geistige Begegnung mit dem fremden östlichen Dichter und seiner wesentlich anderen Kultur erbrachte, wie leicht zu erkennen, für Goethe einen wesentlichen Bewußtseinsschritt. Er sah sich nunmehr neu angeregt und bestätigt, die schöpferische Kraft der Liebe zur schöpferischen Kraft des Lebensanspruchs auszuweiten. Mit der ausgleichenden Sentenz des „Stirb und werde!“ erfaßte er Metamorphose und Entelechie als organisch sich entwickelnde Haltung mündiger Humanität. Darum machte er sie zu seinem Lebensgesetz. Als Dichter hat er diesen existentiellen Auftrag der Selbstbegegnung und des Selbstgewinns in die poetisch ausgeführte Erfüllung seines Werkes überführt. – Darin „keine Lehre“, sondern bloßes „Spiel“ in Form eines „Rollengedichts“ zu sehen, kann niemals genügen. Mit dieser These unternahm es Hannelore Schlaffer, der, wie sie ironisch formulierte, „erbaulichen Rezeption“ entgegenzuwirken. Goethe habe das Gedicht nur geschrieben, um den „Sprachgestus“ des Propheten (Hafis) „als Möglichkeit zu erproben“. Ihr abwegiger Versuch erledigt sich allein schon durch die den Inhalt völlig verdrehende Behauptung: „Im Gedicht wird das Glück der Liebe zum Schrecken der Einsamkeit, die Umarmung zum Gefängnis, die Zeugung neuen Lebens ein Weg ins Grab, die Sehnsucht des Körpers zur Sehnsucht der Seele, das Streben nach dem Licht zum Todeswunsch, die Mühe des Weges zur Schwerelosigkeit einer Himmelfahrt, der Flammentod zur Auferstehung“776. Ein derartiges „Spiel“ ausgerechnet dem lebensklugen Goethe zuzuschreiben, schlägt mit voller Wucht auf die Urheberin zurück. Gleichermaßen abzulehnen ist die fatale Vereinnahmung des Gedichts für den desolaten Zustand der deutschen Nachkriegsgesellschaft durch Eduard Spranger in einem Aufsatz aus dem Jahr 1946. Der profunde Goethekenner schrieb da im Blick auf die Situation Deutschlands die – angesichts des Geschehenen – unsäglichen Sätze nieder: „Auch für die Völker gibt es ein ‚Stirb und werde‘. … Das Leiden am Mißerfolg [!] hat uns härter geglüht [!]. Der Wille ist zäher geworden, der Mut beschwingter [!], das Vollbringen behender und wendiger“ [!]777. Mit derartiger ‚Nutzanwendung‘ entfernte sich der Kulturphilosoph nicht nur meilenweit vom 775 Keller (s. Anm. 762), S. 148. 776 Schlaffer, Hannelore: Weisheit als Spiel. Zu Goethes Gedicht ‚Selige Sehnsucht‘. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 3: Klassik und Romantik. Hrsg. v. Wulf Segebrecht (= Reclams Universal-Bibliothek 7892 (5)). Stuttgart 1984, S. 335–341 (Zitate: S. 336, 335, 336, 337 und 339). 777 Spranger, Eduard: Stirb und Werde. In: Die Sammlung. 1/1945/6, S. 389–394 (Zitate: S. 393 und 391). Selbstkritisch hat Spranger diesen Text 1967 nicht in seine durchaus lesenswerte Aufsatzsammlung „Goethe. Seine geistige Welt“ aufgenommen.

232  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Text, sondern auch von der nach den Verbrechen des Dritten Reiches eigentlich angebrachten Scham über die begangene Schuld. Vorsicht ist ebenso angezeigt bei den nicht wenigen Interpretationen, die dem Gedicht „religiöse Eingebung“778 zusprechen wollen. Gänzlich unerträglich wird das beispielsweise beim Extremfall der – zu allem Übel auch noch sprachlich, pseudogeorgisch verstiegenen – ‚Deutung‘ des Juristen und Theologen Florens Christian Rang, der in den ‚Neuen deutschen Beiträgen‘ des Jahres 1922/23 verlautbarte: „Wir haben den ‚Divan‘ … als Nach-Bibel-Buch neuer Gläubung erkannt …, daß freie Bahn werde für möglichen Glauben, für werdendes Gott-Reich“779. Hätte er lieber geschwiegen! – Doch genug derartiger Erinnerungen. Fast könnte man sonst geneigt sein, Gert Ueding zuzustimmen, der zu den vorliegenden Interpretationen des Gedichts relativierend anmerkte: „Sein Rätsel hat alle Deutungen bis heute überdauert“780. Warum sollte man es aber dabei belassen? Goethes kommunikative, ästhetisch ausgefeilte und gestalterisch durchüberlegte Textgestaltung duldet keine derartige Kapitulation. Der Sinnkern seiner schwierigen Selbstreflexion richtet sich letztlich virtuell an jeden Leser. Im übrigen gibt es im Rahmen der vielen Interpretationen in den entscheidenden Punkten eine nicht geringe Zahl konvergierender Stimmen. Auf dieser Grundlage läßt sich ohne weiteres arbeiten. – Halten wir fest: Die Textintention ist keineswegs auf das Gleichnis vom tödlich endenden Schmetterlingsflug festzulegen. Mit der Sentenz „stirb und werde!“ drängt das Symbol des „Flammentods“ als Referenzobjekt in den Zusammenhang des individuellen Lebens hinein. Gemeint ist damit, angesichts einer „dunklen Erde“, Neugeburt auf der Grundlage eigener Verantwortung, aber auch reflektierter Entsagung. „Entsagung als Lebensformung“ stellte für Georg Simmel, den leider in der Goethe-Forschung zu wenig beachteten Geschichtsphilosophen, den „geistigen Sinn der Goetheschen Existenz überhaupt“ dar. Er beschrieb diese Art der Entsagung als „ein Von-sich-Absehen, … mit dem er [Goethe] sein eigenes Objektsein gewann“781. Ein derartiges, vollkommen aus dem eigenen Innern heraus erzeugtes „Objektsein“ sieht die angestrebte Erfüllung, dem Schöpfungsentwurf folgend, im Einvernehmen mit der Ordnung des natürlichen Kosmos. Voraussetzung dafür ist eine ständig erweiterte Welterkenntnis. Wenn sie gelingt, „stirbt“ das statisch in sich selbst verbleibende Ich und kann, dynamisch-„werdend“, im unendlichen Strom der Geschichte 778 Schneider, Wilhelm (s. Anm. 766), S. 81. 779 Rang, Florens Christian: Goethes ‚Selige Sehnsucht‘. In: Interpretationen zum Westöstlichen Divan Goethes (= Wege der Forschung, Bd. CCLXXXVIII). Hrsg. v. Edgar Lohner. Darmstadt 1973, S. 1–38 (Zitat: S. 38). 780 Ueding (GH 1, S. 378). 781 Simmel, Georg: Goethe. Leipzig 1913, S. 180 und Vorwort, S. V. Exkurs I  233

aufgehen. Der Dichter Paul Celan hat dafür ein tiefes Bild gefunden. Sein Aphorismus lautet: „Wer sich verwandelt, der will, als derselbe, ein anderer werden“782. Das ist jedenfalls qualitativ weit mehr als das bloße Leben unserer biologisch bedingten Erlebniswelt, die fast nur noch an der Befriedigung materieller Interessen und der technischen Optimierung des Körpers interessiert ist. Schlüssel für ein höheres Leben war für Goethe allemal das Gleichnishafte der Natur und des Universums. Dadurch kann sein anfangs erwähnter immanenter Lebenssinn real mögliche Gestalt gewinnen: „daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren“783. Vom ethischen Prinzip verwandelnder Selbststeigerung her zeichnet sich mithin als anthropologisches Zielbild ein verantwortlich tätiges Werden ab: die sittliche Metamorphose als Weg zu bewußt gestalteter und gelebter Entelechie. Allemal geht es letztlich um das zu leistende individuelle Bauwerk menschlichen Werdens. Darin liegt das Lebensgesetz Goethes, wie es dann auch am Schluß der Faustdichtung im eindringlichen Bild der in der All-Liebe aufgehobenen Entelechie Fausts zum Ausdruck kommt. Der Vorstellungshintergrund des Gedichts „Selige Sehnsucht“ verdeutlicht, was wir uns unter „Faustens Unsterblichem“ wie überhaupt unter der Wirkungsabsicht Goethes mit der „Faust“-Dichtung vorzustellen haben.

Reflexionsdramaturgie. Zur Dramaturgie der Faustdichtung am Beispiel einiger Kernszenen Goethe erreichte mit dem zweiten Faustteil das Endstadium und zugleich den Höhepunkt in der Entwicklung seiner vielen Gestaltungen als Dramatiker. Gegenüber den beschriebenen dramaturgischen Baustrukturen von den Anfängen mit „Götz von Berlichingen“ und dem „Urfaust“ sowie deren Weiterentwicklung von der „Iphigenie“ bis zu „Des Epimenides Erwachen“ zeichnete sich ein konsequenter Formwandel zu größerer Offenheit und damit zu kommunikativ-emanzipativer Reflexivität ab. Folgte die Dramaturgie des ersten Faustteils fast noch ganz einer linearen Handlungsführung, wiesen die Mephisto zugehörigen Szenen „Hexenküche“, „Walpurgisnacht“ und mehr noch das Intermezzo „Walpurgisnachtstraum“ bereits auf die unbegrenzten Erlebniswelten von „Faust II“ voraus. Diese Texte geben ausgeweitete Denkhorizonte zu erkennen. Einen weiteren Entwicklungsschritt stellte die Ausarbeitung der drei Präludien dar („Zueignung“, „Vorspiel auf dem Theater“, „Prolog im Himmel“). Mit dem Heilschlaf Fausts zu Beginn des ersten Aktes setzte dann definitiv jene steigernde 782 Celan, Paul: „Mikrolithen sinds, Steinchen“. Die Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt/M. 2005, S. 22. 783 WA I.42.2, S. 150.

234  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Erfahrung ein, deren polare Grundierung die universale Typisierung der Bewußtseinsdramaturgie erlaubt. Das war ein kühner Paradigmawechsel. Die symbolisch getragene Verfremdung des Wirklichen und das auffallende Zurücktreten der individuellen Charaktere öffnen den Zugang zur innerlich erfahrbaren Wahrnehmung eines über den personalen Rahmen weit hinausreichenden, generellen wirkungsästhetischen Bedeutungshorizonts. Der ‚neue‘ Faust „will stellvertretend die Menschheit als Totalität erleben“ (Hans Mayer784). Nicht er als Person, sondern das, was mit ihm geschieht, steht im Mittelpunkt des Interesses. Eine derartige Entfaltung der dramatischen Handlung sprengt die Geschlossenheit vollkommen. All das gehört zu den Merkmalen der avantgardistischen, auf Reflexion beruhenden Bewußseinsdramaturgie. Ihre offene, symbolisch pointierte Komposition setzt, man kann es nicht oft genug sagen, auf ästhetische Kommunikation, mithin auf die Eigeninitiative und Imaginationskraft des Rezipienten. Diese Textsorte basiert auf verinnerlichten Worten, Bildern und Gesten, die für jeden Mitdenkenden eine anregende, neue Bedeutung gewinnen und insofern subjektiv wesentlich werden können. Bewußtseinsdramaturgie fördert kollektiv die mögliche Teilhabe am kulturellen Gedächtnis wie dann vor allem Chance und Beglückung des eigenen Erkennens. So vermittelt sie dem Rezipienten die Freiheit innerer Worte, Bilder und Klänge, die in ihm auf eigene Weise fortzuwirken in der Lage sind. Die dramaturgische Anlage der Szenenfolge als „Schwammfamilie“ aus selbständigen Teilen soll den Zuschauer wie den Bühnenpraktiker mit emotionalen und intellektuellen Mitteln zum geistigen Mitarbeiter, zum erkennenden Subjekt machen. Reflexionsdramaturgie ist das Vehikel, das gleichsam den Dramentext intensiver zum Denken bringt und so das Publikum zu verstärktem Mitdenken einlädt. Die thematischen und formalen Bauelemente der Faustdichtung beziehen stets die anderen Kunstgattungen – Musik, Malerei, Architektur und Choreographie – ein. Dadurch erst werden Personen, Dramendialog, Monologe, Versifikation und Regiebemerkungen, kurz: die gesamte Textur, zu szenischem Leben erweckt. Die Idee des Gesamtkunstwerks zielt unmittelbar auf das mitarbeitende Bewußtsein des Publikums. Dem Autor gibt das eine nie zuvor gegebene Freiheit des Schaltens und Waltens jenseits aller Gattungstypologien. Für die Theaterpraktiker insgesamt gilt hierbei der bedenkenswerte Satz Denis Diderots: „Ein großer Schauspieler ist eine wunderbare Marionette, deren Fäden vom Dichter bedient werden“785. Mit diesem zunächst befremdlich erscheinenden Bild brachte der französische Philosoph und Dramatiker seine hohe Auffassung von 784 Mayer, Hans: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt/M. 1973, S. 9. 785 Diderot, Denis: Paradoxe sur le comédien (1769–1773; endgültige Ausarbeitung 1778). In: ders.: Œuvres. Texte établi et annoté par André Billy (= Bibliothèque de la Pléiade). Zur Dramaturgie der Faustdichtung am Beispiel einiger Kernszenen   235

der vermittelnden Aufgabe des Schauspielers zum Ausdruck, die er im Kern sehr ähnlich auffaßte wie später Brecht mit der Konzeption des Verfremdungseffekts und der damit verbundenen Fähigkeit zu tieferem Verstehen eines Textes. Genau das Gleiche gilt für die Zuschauer, sofern sie nicht in bedenklicher Kunstferne dahindämmern. Goethes dramaturgisches Programm ist jedenfalls im Blick auf mündige Leser oder Hörer unmittelbar herausfordernd und stimulierend angelegt. Durch die Schule des Lebens genährte Erfahrung bestimmt die dem Individuellen Fausts substituierte dramatisierte und theatralisierte Symbolik des Weltgeschehens. Angeregt und gestützt wird die poetische Denkbewegung des Stückes insgesamt vom eingearbeiteten dramaturgischen Impuls des symbolisch erweiterten Gestaltungsverfahrens. Heiner Müllers These zu „Faust“ – „der zweite Teil ist ganz projektiv“786 – erweist sich insofern als voll zutreffend.

Zur Gretchen-Figur Einprägsam sinnfällig wird der Wechsel des gestalterischen Zugriffs besonders an der Gretchen-Figur. Die von Goethe dem Personal der Faustsage hinzugefügte Margarethe787 (Gretchen, Gretgen) erweist sich als eine für die Gesamtkonstruktion der Tragödie entscheidende Zutat. Schon im „Urfaust“ weitet sich die mit ihrer Hinrichtung als Kindsmörderin endende Liebesgeschichte des aus beschränkten bürgerlichen Verhältnissen stammenden Gretchens zum exemplarischen Bild einer alles überwindenden Liebe. Deutlich genug offenbart der Schluß der Kerkerszene die bewußte Zurückweisung des teuflischen Elements und vor allem einen Umschlag der sinnlich-irdischen in die geistige Kraft unvergänglich-himmlischer Liebe. Es heißt da beim Auftritt Mephistos im Kerker: Margarete: Der! der! Lass ihn schick ihn fort! der will mich! Nein! Nein! Gericht Gottes komm über mich, dein bin ich! rette mich! Nimmer nimmermehr! Auf ewig lebe wohl. Leb wohl Heinrich. Faust (sie umfassend): Ich lasse dich nicht! Margarete: Ihr heiligen Engel bewahret meine Seele – mir grauts vor dir Heinrich. Paris 1957, S. 1033–1088. Originalzitat, S. 1065: „Un grand comédien est un autre pantin merveilleux dont le poète tient la ficelle“. 786 Müller, Heiner: Werke. Gespräche 3. Frankfurt/M. 2007, S. 405. 787 In der Faustsage taucht lediglich eine anonyme, aber peripher bleibende Magd auf. Goethe orientierte sich in erster Linie am 1772 stattfindenden Frankfurter Prozeß gegen die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt.

236  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Mephistopheles: Sie ist gerichtet! (er verschwindet mit Faust, die Thüre rasselt zu man hört verhallend): Heinrich! Heinrich!788

In der versifizierten Endform des ersten Faustteils wird die Härte des realistischen Prosatextes „gedämpft“. Das geschieht, um zu erreichen, so Goethe zu Schiller, daß „die Idee wie durch einen Flor durchscheint“789. Auf der einen Seite wird durch die unregelmäßigen, rhythmisch aufgelösten, am Ende sogar reimlosen, abgebrochenen Verse die reale Verzweiflung Gretchens unterstrichen. Andererseits verweist die Durchformung deutlicher auf deren klarsichtige Vision möglicher Erlösung. Die verwandelnde Kraft ihrer „Umgestaltung“ (V. 6287) läßt hinter dem tragischen irdischen Gericht noch eindringlicher als in der Prosafassung das himmlische Gericht erscheinen und damit das Symbol ewiger Liebe deutlicher spürbar aufleuchten: Margarete:

… Der! Der! Schick’ ihn fort! Was will der an dem heiligen Ort? Er will mich! Faust: Du sollst leben! Margarete: Gericht Gottes! Dir hab’ ich mich übergeben! Mephistopheles zu Faust: Komm! komm! Ich lasse dich mit ihr im Stich. Margarete: Dein bin ich Vater! Rette mich! Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen, Lagert euch umher, mich zu bewahren! Heinrich! Mir graut’s vor dir. Mephistopheles: Sie ist gerichtet! Stimme von oben: Ist gerettet! Mephistopheles zu Faust: Her zu mir! Verschwindet mit Faust. Stimme von innen, verhallend: Heinrich! Heinrich! (V. 4602–4612790)

Dieser Ausgang des ersten Faustteils ist ein Musterbeispiel für das, was Reflexionsdramaturgie zu leisten vermag. Unversehens wird so das tragische Ende der Gretchentragödie zum vorausweisenden Angelpunkt der Gesamthandlung. Weil hier wirklich „die Idee wie durch einen Flor durchscheint“, manifestiert sich hinter dem auf den ersten Blick bloß anrührenden Tragödienschluß schon vorbereitend die 788 Zit. n.: Schöne 1, S. 539. 789 WA IV.13, S. 137 (an Schiller am 5.5.1798). 790 Zit. n.: Schöne 1, S. 199. Zur Gretchen-Figur  237

transzendierende Liebe der in der „Bergschluchten“-Szene erscheinenden „Büsserin, sonst Gretchen genannt“. Ihre unschuldige Liebe mutiert angesichts des Diabolischen und durch die Erfahrung extremsten Leidens im Kerker zu ethisch-moralischer Freiheit. Vom Ende der Gretchentragödie her gesehen wird die aus ihren Leiden Lernende zur Zentralfigur für Fausts Erlösung. Die allein dem Schicksal ausgesetzte Margarete der Sturm-und-Drang-Version bleibt mit ihrem individuellen Konflikt im Kerker zurück. Am Schluß von „Faust I“ tritt, für das Publikum direkt faßbar in der „Stimme von oben“, der alles verändernde transzendierende Impuls jener „Büßerin“ hervor, der am Ende für Fausts Entelechie „steigenden Vollgewinn“ (V. 11979) ermöglichen wird. Unerheblich wird darum die Bemühung biographischer Interpreten, die hinter Gretchen entweder Goethes Erfahrung beim Frankfurter Prozeß der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt oder die Nachwirkung des Raffaelschen Gemäldes der heiligen Margareta von Antiochia sehen wollen. Derlei bleibt sekundär. Entscheidend ist die dramaturgisch vermittelte, thematisch wie formal gleichermaßen stimmige Transformation des die meisten Aufführungen prägenden, rührenden Abbild-Gretchens zum humanen Sinnbild ethisch steigernder Liebe. Ohne etwa eine Art Mysterienspiel daraus machen zu wollen, fassen wir damit bereits konkret die sinnbildhaft angelegte Gestaltungstendenz, welche den zweiten Faustteil durchgängig charakterisiert. In Weiterführung dieser Erfahrung kann Faust zu Beginn des vierten Aktes im Hochgebirg in dem ihn umschwebenden „zarten lichten Nebelstreif “ (V. 10055) der Zirruswolke das „entzückend Bild“ (V. 10058) des namentlich noch ungenannt bleibenden Gretchens ausmachen. In seinem Selbstgespräch veranlaßt ihn das zu dem huldigenden Bekenntnis: „Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form, / Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin, / Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort“ (V. 10064–10066). Dieses Bild wird ihn, ungeachtet der vielen ihm anzulastenden Verfehlungen und Irrtümer, bis in den Tod begleiten, der dann dem Gescheiterten durch Mithilfe Gretchens als „Büßerin sonst Gretchen genannt“ den Weg zu den höheren Sphären weist und ihm dadurch den abschließend verheißenen „steigenden Vollgewinn“ tatsächlich ermöglicht. Das allegorische Gretchen, die Büßerin, wird Fausts Entelechie im Geiste der All-Liebe „belehren“ (V. 12092), so daß die „Mater gloriosa“ mit fester Gewißheit sagen kann: „Wenn er dich ahnet, folgt er nach“ (V. 12095). Vom Ende her kommt dadurch der Gretchenrolle eine zunächst ungeahnte Bedeutung im Faustspiel Goethes zu.

238  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Landgewinnung, Papiergeld und die Folgen Dank der Reflexionsdramaturgie ist auch Fausts großangelegtes Projekt der Landgewinnung im vierten und fünften Akt für den Rezipienten transparent gehalten. Ohne weiteres kann man es deshalb vor dem realen Hintergrund des Entstehungskontexts der sozialhistorischen Zeitbewegung zwischen Feudalabsolutismus und bürgerlicher Emanzipation situieren, also innerhalb der unguten Restauration des Metternichschen Deutschen Bundes. Manche Interpreten wollten nicht einsehen, daß Goethe sich im Faustdrama aktuellen Zeitfragen widmete. Sie betrachteten etwa die zeitsatirischen Elemente in der „Walpurgisnacht“ und mehr noch im „Walpurgisnachtstraum“ als unnötigen Ballast791. Dabei war es dem Autor entschieden um Kritik seiner Zeit zu tun. Nicht zuletzt gilt das im Bereich der ökonomischen und technischen Entwicklungen. Dieser Problematik wird im Exkurs II unter dem Stichwort ‚Vom Zauberlehrling zum Homunculus und so weiter‘ noch gesondert nachgegangen. Der erfolgreiche fortschrittliche Unternehmer Faust, dessen „Arm die ganze Welt umfaßt“ (V. 11226), praktiziert bis ins hohe Alter sein rein empirisches Zweckdenken und ebenso, ohne Rücksicht auf Kollateralschäden, den ihn stets weitertreibenden Aktionismus. Seine Devise lautet: „Herrschaft gewinn ich, Eigenthum! / Die That ist alles, nichts der Ruhm“ (V. 10187 f.). Fortgesetzt gesteigerte Wertschöpfung nährt diesen Fortschrittsoptimismus. Nicht zufällig ist es Mephistopheles, der ihm in allen Fällen den Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit vermittelt. „Veloziferisches“792 bestimmt Fausts unablässiges Streben im Geiste des Zeitalters der Industrialisierung und ihrer zwanghaften Wachstumsdynamik. Die jeweiligen Ergebnisse fallen dementsprechend aus: „Tumult, Gewalt“ (V. 10123), „Trommeln und kriegerische Musik“ (nach V. 10233 und 10296 sowie zu Beginn der Szene „Auf dem Vorgebirg“), Mord und Totschlag („Menschenopfer mußten bluten, / Nachts erscholl des Jammers Qual, / Meerab flossen Feuergluthen, Morgens war es ein Canal“, V. 11127–11130), schließlich die Ermordung von Philemon und Baucis (V. 11360– 11369). Goethe schildert entlarvend die bis auf den heutigen Tag fortwirkende „zerstörerische, menschenmordende Macht der Technik“ (Wilhelm Emrich793). Hierzu gilt die von Mephisto gezogene Bilanz: „Und auf Vernichtung läuft’s hinaus“ (V. 11550). Goethe war sich wohl darüber im klaren, daß seine Fausttragödie „die 791 So beispielsweise Trunz: HA 3, S. 529. 792 „Veloziferisch“ ist Goethes originelle Wortschöpfung für das Diktat hektischer Betriebsamkeit um ihrer selbst willen. Er verbindet dabei die lateinische velocitas (Eile) mit Luzifer, dem Teufel, zu einem Wort: „alles veloziferisch“ (MuR: 180). 793 Emrich (Anm. 632), S. 52. Landgewinnung, Papiergeld und die Folgen  239

exemplarische Fortschrittstragödie des modernen Menschen“ ist794. Dazu gehört ebenso die Kritik am ökonomischen Mechanismus der Wertschöpfung. Es kann deshalb nicht überraschen, daß Karl Marx die darauf bezogenen, zynisch-mephistophelischen Verse gleich zu Beginn der Faustdichtung zum Exempel kapitalistischer Mehrwertschöpfung genommen hat. Mephisto klärt Faust wie folgt über Anmaßung und Folgen des Eigentumsrechts auf: Doch alles was ich frisch genieße, Ist das drum weniger mein? Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, Sind ihre Kräfte nicht die meine? Ich renne zu und bin ein rechter Mann, Als hätt’ ich vier und zwanzig Beine. (V. 1822–1827795)

Unmißverständlich wird mit den beiden rhetorischen Fragen und der lapidaren Antwort der zweifelhafte Wert des Privateigentums als Vorwand für die Ausbeutung anderer gezeigt. Wie Kapitalanhäufung die individuelle Leistung ersetzt, kommt in einer krassen Bildfolge zur Sprache. Der junge Marx sah in den Versen Goethes schon vier Jahre vor der Abfassung des „Kommunistischen Manifests“ den bildkräftigen Hebel für seine Fundamentalkritik am Typus des ausbeuterischen Kapitalisten. Kern seiner Interpretation ist der klassenkämpferisch kommentierende Satz: „Ich – meiner Individualität nach – bin lahm; aber das Geld verschafft mir 24 Füße; ich bin also nicht lahm; ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer“796. Goethe hat seinem Mephisto einige Verse in bester aufklärerisch-sozialkritischer Tradition in den Mund gelegt. Diese Konzeption findet dann Anwendung beim Erscheinen von Plutus, „des Reichthums Gott“ (V. 5569), sowie bei der Einführung des Papiergelds im ersten Akt des zweiten Faustteils797. Mit gutem Grund ließ Goethe verlauten, „daß in der Maske des Plutus 794 So Benjamin von Blomberg im Programmbuch zur Faustaufführung des Thalia Theaters Hamburg unter der Regie von Nicolas Stemann: Faust I + II von Johann Wolfgang von Goethe. Hamburg 2011, S. 5. 795 Zit. n.: Schöne 1, S. 80. 796 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844); zit. n.: Karl Marx / Friedrich Engels über Kunst und Literatur in zwei Bänden. Hrsg. v. Manfred Kliem. Bd. 1. Berlin 1967, S. 387. 797 Goethe orientierte sich bei der Einführung des Papiergelds in der kaiserlichen Pfalz am Vorgang der 1716 in Paris eingeführten, nicht mehr durch Metall, sondern durch Bodenhypotheken gedeckten Banknoten (vgl. hierzu: MA 18.1, S. 738 f.).

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der Faust steckt“798. Derartige Denkzusammenhänge im Bewußtsein des Publikums auszulösen gehört zu den Möglichkeiten der überlegt konstruierten Reflexionsdramaturgie. Ihre Methode durchzieht die Gesamtkonstruktion des Dramas in der Art eines inneren Monologs mit leitmotivartigen Bedeutungslinien. Um das leisten zu können, wendet sie den demaskierenden ‚doppelten Blick‘ an, jene selten anzutreffende Mischung aus weiträumigem Panoramablick und präzisem Detailblick. Sie erlaubt es, die komplexen sozialpolitischen Zusammenhänge der Gesellschaft im Optimierungswahn entlarvend zu durchschauen. Goethe hat hierzu wesentliche Schrittmacherdienste geleistet.

Kunstfiguren: Knabe Lenker, Helena und Euphorion Auf die gleiche Art wird beispielsweise auch das Thema der Kunst entfaltet. Schon im ersten Akt taucht bezeichnenderweise beim allegorischen Maskenfest der „Mummenschanz“ der „Knabe Lenker“ auf. Freiweg sagt er von sich selber: „Bin die Verschwendung, bin die Poesie. / Bin der Poet, der sich vollendet“ (V. 5573 f.). Damit spricht er seine übergroße Daseinsfülle an, die ihm Zugang zu allen Dimensionen des Lebens gewährt. Durch diesen inneren Reichtum verfügt er über den existentiellen Durchblick, über das „schärfere Gesicht“ (V. 5609). Deshalb ist er dazu berufen, wie er selbst betont, „der Schale Wesen zu ergründen“ (V. 5607). Das Erfahrene kann er dank seiner Phantasie als Sprachkünstler nach außen tragen. Heinz Schlaffer hat darauf aufmerksam gemacht, daß hier „die Poesie im Status der Allegorie … auftritt“799. Als solche spricht die Personifikation der Poesie in verdeutlichenden, überprüfbaren Bildern. Im Karneval des Festzugs stellt der Repräsentant der Poesie den Gegensatz zum materiell reich gesegneten Plutus dar. Der gibt ihn dann auch frei, weil er ihm anerkennend zubilligt: „Nur wo du klar in’s holde Klare schaust, / Dir angehörst und dir allein vertraust, / Dorthin wo Schönes, Gutes nur gefällt, / Zur Einsamkeit! – Da schaffe deine Welt“ (V. 5693–5696). Goethe charakterisierte die allegorische Figuration des „Knaben Lenker“ mit dem Hinweis, er sei „derselbige Geist, dem es später beliebt, Euphorion zu sein“800. Dergestalt bekräftigte er seine herausragende ästhetische Qualität. Indirekt beschreibt er aber zugleich am Beispiel des in die „Einsamkeit“ entlassenen Künstlers die von ihm vertretene Gegenposition völliger Zurückweisung einer derartigen ‚L’art-pour-l’art-Beschränkung‘. Eindeutig 798 MA 19, S. 343 (zu Eckermann am 20.12.1829). 799 Schlaffer, Heinz: Der Aufzug der Allegorien. Zur Mummenschanz. In: Keller III, S. 55–69; Zitat: S. 67. 800 Zu Eckermann am 27.12.1829 (MA 19, S. 343). Kunstfiguren: Knabe Lenker, Helena und Euphorion  241

situierte der Autor der Faustdichtung darum sein eigenes Arbeitsfeld in der sozialen und historischen Wirklichkeit. Eine besondere Rolle findet die Kunst im dritten Akt. Helena, gewissermaßen der Zentralpunkt, auf dem der zweite Faustteil entstehungsmäßig weithin aufgebaut ist, wird durch ihr Wiedererscheinen bei Faust in einen eigentümlichen allegorischen Lebenszusammenhang hineingezogen. Offenkundig gilt hier der Vers: „Der Dichter bringt sie, wie er’s braucht, zur Schau“ (V. 7429). Als poetisches Geschöpf ist sie die ideale Kunstgestalt der klassischen Antike und als solche mythologisches Urphänomen des Kunstschönen. Ihre Begegnung mit Faust vollzieht sich in einer sehr speziellen, neuzeitlich-historischen Wirklichkeit, Goethe zufolge: „in ästhetisch-vernunftgemäßer Folge“801. Wir bewegen uns im geistigen Raum verlebendigender Erinnerung. In dieser lebenspendenden Gedächtnislandschaft kann sich zwischen dem ‚mittelalterlich-romantischen‘ Faust und der ‚klassisch-antiken‘ Helena die „zeitverneinende Kraft der Liebe“802 realisieren. Als Produkt des Liebesbundes von schöpferischem Geist und Urbild des Schönen entsteht ein allegorisches Kunstgebilde, das Goethe sehr bewußt als Inkarnation der Poesie ausgewiesen hat. Helenas und Fausts Sohn, Euphorion, ein zweiter „Knabe Lenker“, wird vom Chor feierlich zu seiner eigentlichen, ästhetisch-‚arkadischen‘ Berufung ermahnt: Heilige Poesie, Himmelan steige sie. Glänze, der schönste Stern, Fern und so weiter fern, Und sie erreicht uns doch Immer, man hört sie noch, Vernimmt sie gern. (V. 9863–9869)

Diesen hohen Auftrag idealer Kunst und ästhetischer Emanzipation weist der von der Idee des Freiheitskampfes hingerissene Euphorion entschieden von sich. Als Erbe seines Vaters setzt er vor den poetischen Geist die kämpferische Tat. Zum Erbe seiner Mutter gehört aber auch, daß um die „vollkommenste Gestalt des Altertums“ (Max Kommerell803) ein legendär gewordener Krieg geführt wurde. Die Erklärung seiner Eltern – „Sehnest du von Schwindelstufen / Dich zu schmerzensvollem Raum“ (V. 9879 f.) – vermag den leidenschaftlich Strebenden in keiner Weise umzustimmen. 801 WA IV.43, S. 262 (an Zelter am 24.1.1828). 802 So im Kommentar der Münchner Ausgabe (MA 18.1, S. 927). 803 Kommerell, Max: Geist und Buchstabe der Dichtung. 6. A. Frankfurt/M. 1991, S. 57.

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Gesellschaftliche Wirkung hat er sich unbedingt zum Ziel gesetzt. Dadurch wird sein „Freiheitsdrang … zum Todestrieb“ mit dem Ergebnis: „Flug und Sturz sind der mißlingende Überschritt des poetischen Geistes in die politische Wirklichkeit“804. Springend, tanzend, kampfhungrig, sich enthusiastisch steigernd, fliegt Euphorion in den Tod. Jäh erlöscht so die ihm vom Text her zugesprochene „Flamme übermächtiger Geisteskraft“805. Goethe lehnte derartiges Engagement ebenso ab wie den bloßen Ästhetizismus des „Knaben Lenker“. Seine unabhängig-distanzierte Position setzte neue Maßstäbe für die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft. Er hat sie praktisch vorgeführt durch seine Arbeit am Hof von Weimar, die er leistete, ohne zum Hofdichter zu verkommen. Bezeichnenderweise zeigte Goethe sich höchlichst angetan von der einfühlsamen Deutung der Euphorion-Figur durch Henriette von Egloffstein806. Sie hatte ihren Text Kanzler Friedrich von Müller geschickt, der ihn wiederum Goethe vorlegte. Unter anderem schrieb sie da: „Vom Schönheitssinn und von der Kraft erzeugt, tritt das Genie des Meistersängers fessellos und unbezähmbar in die Welt. Es strebt und schwebt und reißt sich aus der Tiefe los, verschmäht der Erde Grund mit leichten Füßen zu berühren, ergreift im Wirbelsturm das Feuer als sein liebstes Spielzeug, steigt von Fels zu Fels bis zu dem höchsten Gipfel der Begeisterung, und einen flüchtigen Moment von ihr im Äther fortgetragen, stürzt er, wie Ikarus zur Erde nieder, verschwindet dann und läßt nur ein Gewand – die Außenseite seines Geistes – in der Hand der Überlebenden zurück“807. Im Tagebuch Goethes findet sich dazu bloß die Eintragung: „Ich erhielt eine merkwürdige frauenzimmerliche Äußerung über Helena“808. Gegenüber Kanzler von Müller jedoch war Goethe voll des Lobes über diese wirklich „ästhetisch-vernunftgemäße“ Interpretation: „Curios, diese Analyse … trifft geradezu den wichtigsten Punct und schafft sich im Analysiren und Reproduciren alsobald ein neues, höchst dichterisches und erhabenes Wesen. Curios, curios, aber sehr geistreich, sehr liebenswürdig“809. Die Leserin hatte demzufolge nach der Auffassung Goethes die Euphorion-Figur stimmig erfaßt. 804 MA 18.1, S. 1015. 805 WA IV.43, S. 85 (an Iken am 27.9.1827, Beilage). 806 Henriette von Beaulieu-Marconnay, geb. von Egloffstein (1773–1864), nahm aufgrund ihrer umfassend ausgeprägten Bildung eine anerkannte Stellung in der Weimarer Hofgesellschaft ein. 807 Zit. n.: Göres, Jörn: Die Entstehung von Faust II. Nachwort. In: Goethe: Faust. Zweiter Teil (= it 100). Frankfurt/M. 1975, S. 389–471 (Zitat: S. 418). 808 WA III.11, S. 86 (Eintragung vom 17.7.1827). 809 Brief des Kanzlers von Müller an Henriette von Beaulieu-Marconnay vom 16.7.1827 (zit. n.: Göres, a.a.O., Anm. 807, S. 418). Kunstfiguren: Knabe Lenker, Helena und Euphorion  243

Daß dem Autor mit Euphorion die Gestalt des als Freiheitskämpfer noch in jungen Jahren gestorbenen Lord Byron (1788–1824) vorschwebte, ist zwar in der Sache erhellend, hat jedoch für das Verständnis der szenischen Allegorie keine direkte Bedeutung. Die von Goethe in den Text eingefügte Bühnenanweisung klärt das Publikum wohl absichtlich nicht hinreichend auf über die von ihm gewollte Verbindung mit Byron, sondern erzwingt, über den Text hinausweisend, weiteres, vertiefendes Nachdenken darüber. Wir erfahren lediglich: „Ein schöner Jüngling stürzt zu der Eltern Füßen, man glaubt in dem Todten eine bekannte Gestalt zu erblicken; doch das Körperliche schwindet sogleich“810. Dadurch sehen wir uns gezwungen, nach dieser „bekannten Gestalt“ zu suchen. So zu verfahren gehört zur extremen Herausforderung der im Stück waltenden Reflexionsdramaturgie. Gleiches gilt im übrigen für den am Schluß des dritten Akts vorzufindenden, szenisch nur schwer einzulösenden, ziemlich ominösen Hinweis auf Mephisto, der „in sofern es nöthig wäre, im Epilog das Stück zu commentiren“ hätte811. In diesem Fall ist die kommunikativ aus dem Dramentext hinausweisende, weiterdenkende Reflexionsdramaturgie sogar direkt auffordernd spürbar. Goethe öffnet damit bisher verschlossene Türen für die Interpretation des Publikums. Der Tod Euphorions besagt: Im vergänglichen Element der realen Zeit kann sich die arkadische Erinnerungswelt nur vorübergehend am Leben halten. Deswegen ist mit dem Ende des Sohnes auch dasjenige seiner Mutter gekommen. Der „Zauber“ (V. 9962) der Helena-Episode löst sich mit einem Schlag auf. Indem Mephisto demonstrativ „Maske und Schleier zurücklehnt“812, wird das unmittelbar sinnfällig. Was außer den Gedanken zur Poesie bleibt, sind die von Goethe ausdrücklich empfohlenen intensiven Begleitklänge. Man braucht zwar nicht gleich, wie unlängst geschehen, so weit zu gehen, „‚Arkadien‘ als vollständig gesungene Passage“ anzunehmen813. Offenkundig ist jedoch, daß im Helena-Akt die musikalische Ergänzung eine wesentliche kommunikative Rolle spielt. Der klangliche Kommentar – fast möchte man sagen: das musikalische Mitdenken – setzt ein mit dem „reinmelodischen Saitenspiel“ bei der Geburt Euphorions, das schließlich in „vollstimmige Musik“ 810 Nach V. 9902; vgl. hierzu auch: Schöne 2, S. 629. 811 Nach V. 10038. 812 Ebd. 813 Gegen Hartmann (Hartmann, Tina: Von ‚Erwin und Elmire‘ zum ‚Faust‘-Libretto  – warum Goethe ein Leben lang Opern schrieb. In: GJ 128/2011, S. 60–68; Zitat: S. 67). Ebenso: Schöne („Für diese Passage hat der ‚Faust‘-Text Librettocharakter“; Schöne 2, S. 619) und Fähnrich (Fähnrich, Hermann: Goethes Musikanschauung in seiner Fausttragödie  – die Erfüllung und Vollendung seiner Opernreform. In: GJ, NF 25/1963, S. 250–263).

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übergeht814. Nach einer Pause ohne Musik übernehmen dann instrumental und gesanglich begleitete Soli, Duette, Terzette und der Chor sowie ein eingestreuter Reigentanz die Prägung der klanglichen Atmosphäre bis hin zum Trauergesang des Chors nach dem Tod Euphorions. Goethe vertraut hier völlig der Funktionalität und Wirkungsmacht der Musik. Das deutet auf einen ausgeprägten musikalischen Horizont hin. Zwar ist das gewiß keine „Apotheose der Oper“815, wohl aber konsequente Theatralisierung einer Dramenszene mit Hilfe musikalischer Begleitung in ergänzender Funktion, wie wir sie von „Egmont“, „Proserpina“ und „Des Epimenides Erwachen“ her schon kennen. Natürlich ist auch diese musikalische Untermalung konstitutiver Teil der dramaturgischen Praxis Goethes. Seine auffallende Virtuosität im Gebrauch der gattungsübergreifenden musikalischen Ausdrucksmittel erscheint, von heute her gesehen, ausgesprochen wegweisend und modern.

Bergschluchten Beträchtlicher Philologenschweiß ist beim Nachdenken über die „Bergschluchten“Szene schon geflossen. Die Spannweite der Deutungen reicht von ausgemachter „christlicher Mythologie“ bis zur These vom „Grotesk-Komischen im Umfeld von Fausts Schlußmonolog“ und des „Humors über der versöhnlerischen Phantasmagorie des Schlusses“816. Wie meist liegt die zu suchende Wahrheit dazwischen. Es sind eben sehr „ernste Scherze“ – wirkliche Lebensscherze Goethes. Die vielen Interpretationen dieser letzten und insofern allesentscheidenden Textpartie zeigen, daß die von ihm gefundene Lösung in geheimnisvoller Mehrdeutigkeit gehalten ist. Bleibt es bei der Tragödie als Gattungszuschreibung? Welchen Stellenwert haben Tod, Entelechie und Erlösung? Was hat Goethe mit dem ‚uns hinanziehenden EwigWeiblichen‘ (V. 12110 f.) zum Ausdruck gebracht? Um klarer zu sehen, muß zuerst der Zusammenhang von Fausts Ende insgesamt rekapituliert werden. Faust, mittlerweile „im höchsten Alter“ (vor V. 11143), ist immer noch damit beschäftigt, dem Meer Land abzugewinnen und seine Herrschaft als Kolonisator auszuüben. Der in einem Palast lebende Großunternehmer verfügt über die Mechanismen neuzeitlicher Technik und läßt sie in erprobter Ausbeutermanier rücksichtslos anwenden. Die Episode mit Philemon, Baucis und dem Wanderer veran814 Nach V. 9678. 815 Hartmann: s. Anm. 813, S. 67. 816 Breuer, Dieter: Goethes christliche Mythologie. Zur Schlußszene des ‚Faust‘. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, Nr. 84/85. 1980/81, S. 7–24.; sodann der Gegenpol: Mattenklott, Gert: Faust II. In: GH 2, S. 472. Bergschluchten  245

schaulicht sein widersprüchliches, von reinem Machtstreben diktiertes, letztlich amoralisches Verhalten. Unter diesen Vorzeichen vollzieht sich sein Tod. Atmosphärisch ist der Vorgang des Abscheidens steigernd gekoppelt an die Abfolge: „die Sonne sinkt“ (V. 11143) – „tiefe Nacht“ – „Mitternacht“. Das dramatische Geschehen folgt diesem Dreischritt der Verdüsterung. Mephisto bereitet das Publikum schon einmal darauf vor, was nun geschehen wird. Den Auftrag zur Zwangsumsiedlung von Philemon und Baucis übernimmt er, beiseite sprechend, mit den Worten: „Auch hier geschieht was längst geschah, / Denn Naboths Weinberg war schon da“ (V. 11286 f.). Den nicht unbedingt bibelfesten Rezipienten hat Goethe durch Angabe seiner Quelle („Regum I.21“, d. h.: 21. Kapitel im 1. Buch der Könige817) weitergeholfen. Das ist eine erste Vorhersage des nahenden Endes. In „tiefer Nacht“ erfolgt dann das Mordgeschehen um Philemon und Baucis. Faust will die Verantwortung von sich schieben, bekommt aber vom Chor zu hören: „Und bist du kühn, und hältst du Stich, / So wage Haus und Hof und – Dich“ (V. 11376 f.). Nach dieser zweiten düsteren Vorausdeutung kommt es um „Mitternacht“ zur Einlösung des Vorhergesagten. Faust erhält den allegorischen Besuch der „vier grauen Weiber“ (Mangel, Schuld, Not und Sorge). Allein die personifizierte Sorge drängt sich ihm als ängstigender Dämon auf. Zerstörerisch haucht sie ihn an, so daß er erblindet („Die Menschen sind im ganzen Leben blind, / Nun Fauste! werde du’s am Ende“, V. 11497 f.). Der in vielerlei Hinsicht verblendete Mann ist nun auch nach außen blind. Der Verlust seiner Sehkraft hat Symbolwert. Noch deutlicher wird so das Auseinanderklaffen von blinder, ‚dunkler‘ Tat und der selbsttäuscherischen Vorstellung eines ihn antreibenden, „im Innern“ leuchtenden „hellen Lichts“ (V. 11500). Insofern kann man in der Erblindung Fausts den negativen Höhepunkt der Dramenkonstruktion sehen. Jedoch selbst das hält den nunmehr Erblindeten nicht davon ab, weiterhin seinen uneingeschränkten Tatwillen und den Drang nach „Welt-Besitz“ (V. 11242) zu bekunden („Mein Reich unendlich“, V. 11153). Bewußt bleibt er der tonangebende Manager: „Des Herren Wort es gibt allein Gewicht. … Daß sich das größte Werk vollende, / Genügt Ein Geist für tausend Hände“ (V. 11502 und 11509 f.). Aus den durch ihn angerichteten Verbrechen hat er keinerlei Konsequenzen gezogen. Aber sein Ende naht. Dabei ist selbstverständlich auch Mephisto wieder anwesend. Vorsorglich hat er eine Schar Lemuren als Grabgeister mitgebracht. Das Geräusch ihrer Spaten – sie heben ein Grab aus – läßt Faust glauben, sie seien im Begriff, die befoh817 Im Buch der Könige wird von dem frommen Naboth berichtet, der im eigenen Weinberg nahe beim königlichen Palast wohnen bleiben will. Die Kaufangebote von Ahab, König von Samaria, lehnt er ab. Doch des Königs Frau Isebel sorgt dafür, daß Naboth gesteinigt wird, weil er Gott und den König beleidigt habe.

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lene Arbeit an den Deichen zu erledigen („Wie das Geklirr der Spaten mich ergetzt! / Es ist die Menge, die mir fröhnet, / Die Erde mit sich selbst versöhnet, / Den Wellen ihr Gränze setzt, / Das Meer mit strengem Band umzieht“, V. 11539–11543). Um das Publikum aufzuklären, verrät Mephisto „halblaut“, also an dem Betroffenen vorbei: „Man spricht, wie man mir Nachricht gab, / Von keinem Graben, doch vom Grab“ (V. 11557 f.). In blinder Täuschung wähnt sich Faust bei seiner letzten Rede immer noch im Besitz der vollen Lebensmacht. Programmatisch verkündet er die Vision einer freien Gesellschaft, also einen auffallenden Gegenentwurf zur eigenen Praxis: „Solch ein Gewimmel möchte ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn. – / Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick“ (V. 11579– 11586). Diese zwischen Irrealis und Potentialis schwankende Utopie bleibt zwar als erstrebenswertes Ziel des alten Faust im Bewußtsein haften. Freilich ist sie in eine sehr unbestimmte Zukunft verlagert. Außerdem holen ihn gleich nach seiner Rede die ihn fassenden Lemuren von der ideellen Höhe umgehend in die Negativität der Wirklichkeit zurück. Dadurch erscheint der Schlußmonolog Fausts entscheidend relativiert. Deswegen ist die Annahme Schönes, dies sei „der Punkt, an dem Goethe als Künstler den ideologiegeschichtlich weitesten Vorstoß seines Lebens“ unternommen habe, eher fragwürdig818. Faust eignet sich nicht zum Gesellschaftsvisionär oder gar zum Klassenkämpfer, Goethe selbst ebensowenig. Sonst hätten nämlich, zumindest in der Theorie, die DDR-Ideologen im freilich alles andere als ‚real existierenden Sozialismus‘ mit einem gewissen Recht den Vers 11580 für sich in Anspruch genommen819. Indes sollte man besser das hoffnungsträchtige humane Wunschdenken Fausts von einem „freien Volk auf freiem Grund“ nicht mit gesellschaftlicher Realutopie verwechseln. Im Augenblick, in dem der Todgeweihte seine Vision äußert, widerlegt 818 Schöne 2, S. 749. Andererseits führt er zu Recht ins Feld, Goethe habe „Fausts letzte Worte mit entschiedenen Vorbehalten umstellt und sie mit tiefer Ironie und Hoffnungslosigkeit umdüstert“ (a.a.O., S. 750). 819 Vgl. hierzu: Dietze, Walter: ‚Faust‘, Vers 11580. 3. A. Weimar 1983. Er sieht in diesem Faustvers nicht nur fälschlicherweise „die Schlußvision des ‚Faust  II‘“, sondern lobt, ideologisch beflissen, „den seltenen Glücksfall einer Aufgipfelung, einer epochenübergreifenden Progressivität in poetischem Gewande“ (a.a.O., S.  2). Interessant ist allerdings die Genese dieses Verses in der Abfolge: „Auf eigenem Grund und Boden stehn“ > „Auf wahrhaft eignem Grund und Boden stehn“ > „Auf wahrhaft freiem Grund und Boden stehn“ > „Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“. Das ist tatsächlich eine radikale Umpolung der ursprünglichen Zielsetzung. Freiheit war durchaus Goethes Sache, allerdings nicht im Sinne moderner republikanischer Demokratie – erst recht nicht als ‚Volksdemokratie‘. Seine liberalen Vorstellungen waren ständestaatlich eingebunden. Bergschluchten  247

ihn die Wirklichkeit eben gänzlich. Denn sein „höchster Augenblick“ ist zugleich der seines Todes. Mit gutem Grund bemerkte Goethe schon 1820 zum möglichen Schluß der Faustdichtung, es gebe „noch manche herrliche, reale und phantastische Irrthümer auf Erden, in welchen der arme Mensch sich edler, würdiger, höher, als im ersten, gemeinen Theile geschieht, verlieren dürfte“820. Ausdrücklich spricht er hier vom „Verlieren“. Allenfalls läßt sich das vereinbaren mit der im Kommentar der Münchner Ausgabe vertretenen Annahme, der Schlußmonolog Fausts zeuge „von der ungebrochenen Lebendigkeit seiner entelechischen Geisteskraft“821. An der „Bergschluchten“Szene wird das zu überprüfen sein. Vorläufig gilt eher die ernüchternde Bilanz Mephistos: „Da ist’s vorbei! Was ist daran zu lesen? / Es ist so gut als wär’ es nicht gewesen, / Und treibt sich’s doch im Kreis als wenn es wäre“ (V. 11600–11602). Zwischen den erwähnten Abläufen bis zum Tode Fausts und der „Bergschluchten“Szene ist die „Grablegung“ eingefügt. Sie wird zunächst von Mephisto und den Lemuren sowie den Dünn- und Dickteufeln nebst Höllenrachen, sodann von den himmlischen Heerscharen und Engelschören bestritten. Damit setzt jenes Darstellungsverfahren ein, mit dem Goethe am Schluß des Dramas seine „poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen“ in einer „wohltätig beschränkenden Form und Festigkeit“ ausgestalten konnte822. Die christlich getönte Bildwelt erinnert an mittelalterliche und barocke Mysterienspiele. Sie ist hier, deutlich spürbar, ironisch-ernst im Sinne der von Goethe angesprochenen „ernsten Scherze“823 gehalten. Überzeugend sind die verschiedenen Hinweise, zuerst von dem Kunsthistoriker Georg Dehio824, Goethe habe sich dabei von einem der Bilder aus dem 1812 in Florenz erschienenen Kupferstichwerk des Carlo Lasinio anregen lassen, nämlich dem Fresko „Triumph des Todes“ vom Kreuzgang des Friedhofs, des Campo Santo in Pisa825. Darauf sind unter einer alltäglich versammelten Menschenmenge Tote zu sehen, deren Seelen von Teufeln oder Engeln 820 WA IV.34, S. 5 (an Karl Ernst Schubarth am 3.11.1820). 821 MA 18.1, S. 1128. Der Kommentar wurde gemeinsam ausgearbeitet von Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer. 822 Zu Eckermann am 6.6.1831 (MA 19, S. 456). 823 WA IV, S. 283 (an Wilhelm von Humboldt am 17.3.1832). 824 Dehio, Georg: Alt-italienische Gemälde als Quelle zum Faust. In: GJ 7/1899, S. 251– 264. Vgl. hierzu vor allem: Schöne 2, S. 764 und Abb. 13 sowie MA 18.1, S. 1135. 825 Das Wandfresko in Pisa, „Triumph des Todes“, wird gelegentlich Andrea di Cione, gen. Orcagna (1320–1368), neuerdings eher Francesco Traini (1321–1366), von einigen auch Buonamico Buffalmacco (1262–1340) zugesprochen. Goethe kannte die Kupferstichreproduktion des großen Freskos von Carlo Lasinio (WA III.6, S. 260; Eintragung vom 1.11.1818: „Die Kupfer des Campo Santo zu Pisa angesehen“). In Anknüpfung

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in Empfang genommen werden. Die suggestiv gestaltete Bildfläche zerfällt in zwei Teile mit einer rechten, hellen, himmelwärts ausgerichteten und einer linken, dunklen Hälfte, auf der ganz oben ein Krater im „Feuer-Wirbel-Sturm“ (V. 11663) die Seelen der Sünder verschluckt. Damit war ein Bildrahmen gegeben, den Goethe nur noch mit lebendig-dramatischer Energie zu erfüllen brauchte. Figurenensemble und richtungsmäßig vorgegebene Choreographie inspirierten ihn spürbar bei der dramaturgischen und dramatischen Ausgestaltung der „Grablegungs“-Szene. Er konnte seinen Text und die Verse diesem Rahmen organisch einfügen. Der tote Faust ist zum „dumpfen Gast im hänfenen Gewand“ geworden (V. 11606). Der nun anhebende Streit der höllischen und der himmlischen Mächte um seine Seele greift auf Elemente der Faustsage zurück. Allerdings holte dort am Ende kurzerhand der Teufel den schlimmen Sünder. Darauf spekuliert auch Mephisto, wenn er sagt: „Der Körper liegt und will der Geist entfliehn, / Ich zeig ihm rasch den blutgeschriebnen Titel“ (V. 11613 f.). Er will sich des „Seelchens“, der „Psyche mit den Flügeln“ für den höllischen Abgrund bemächtigen (V. 11660). Doch die „Glorie von oben“ (nach V. 11675) leitet die Gegenbewegung ein. Sie erfolgt, ohne daß vor Fausts letalem Abgang überzeugende Zeichen einer Selbstvervollkommnung zu bemerken gewesen wären. Immerhin ist der irrende, gründlich gescheiterte, ‚negative‘ Protagonist durch seinen Gestaltungswillen als ein auch ‚positiv‘ Strebender ausgewiesen. Das sind die „freundlichen Spuren“ (V. 11682), welche die himmlischen Heerscharen aufnehmen. Fast satirisch – Schöne spricht mit Recht von einer „Gattungsparodie“, ja von einer „Posse“826 –, aber zugleich in vollem Ernst löste Goethe schließlich, nach zahlreichen dann wieder umgearbeiteten Versuchen, den Vorgang des Aufgehens in reiner Liebe. Er schreckte dabei – wohlgemerkt im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts (!) – nicht davor zurück, Mephisto durch homoerotische Ablenkung verführt zu zeigen. Mittels der sechs Engelschöre wird schrittweise die entscheidende Bewegung herbeigeführt, die es den Himmelsboten erlaubt, sich zu erheben und „Faustens Unsterbliches“ (nach V. 11824) zu entführen. Die entelechische Geisteskraft trägt den Sieg davon, weil ihr die Liebe von oben als Glorie gnadenspendend entgegenkommt. Fausts von Schuld befreite Entelechie wird emporgehoben und kann höhenwärts entschwinden. Mephisto bleibt geschlagen zurück. Auch sein Spiel ist damit beendet. Er kann sich nun dem nächsten Opfer zuwenden. Denn in uns allen steckt ein zwiespältiger Faust827. daran lieh er sich Lasinios Werk im Februar 1830 erneut aus, sicher um bei der Schlußredaktion dieser Sequenz die Komposition des Freskos noch einmal verifizieren zu können. 826 Schöne 2, S. 765. 827 Deshalb war es eine sachlich richtige Interpretation Max Beckmanns, bei seinen Zeichnungen zum zweiten Faustteil, die er 1943/44 in Amsterdam ausarbeitete, sich selbst mit Bergschluchten  249

Zum Schluß geht es nur noch um die Gewichtung von Fausts Lebensbilanz in Gestalt seiner Entelechie. Kein Wunder, daß Goethe an der „Bergschluchten“-Szene über einen längeren Zeitraum hin immer wieder intensiv arbeitete: im Frühjahr 1826, im Dezember 1830 und dann erneut im Frühjahr 1831. Nicht weniger als 14 Einzelhandschriften liegen dazu vor. Ursprünglich sollte ein himmlisches ‚Gericht über Faust‘ in Anwesenheit von Christus, seiner Mutter, der Evangelisten und aller Heiligen den Zusammenhang zum „Prolog im Himmel“ herstellen. Davon blieb nur eine halb säkularisierte Version mit Maria als „Himmelskönigin“ (V. 11995), „Herrscherin der Welt“ (V. 11997), „Jungfrau“, „Mutter“ und „Königin“ (V. 12009 ff. und 12102), dazu ein stark reduziertes Personal aus der christlichen Heiligen- und Engelshierarchie übrig. Auf das geplante Gericht wurde verzichtet. Goethe bevorzugte in der Hoffnung auf eine Gegenwelt „die Erlösung als sich selber vollziehenden Prozeß“828. Die Szenerie ist deshalb nicht mehr in himmlischen Gefilden, sondern absichtlich in der Kulisse von „Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde“ (vor V. 11844), also im nichtsakralen Naturraum zwischen unten und oben angesiedelt. Das Geschehen vollzieht sich unter dem „ausgespannten Himmelszelt“ (V. 11999), bleibt demzufolge im Erdbereich. Vieles spricht dafür, dem Religionswissenschaftler Mohsen Mirmehdi Recht zu geben, der darin eine „Kultsubstitution“ Goethes sieht, „eine eigene Version der Heilserfahrung, seine eigene Kunstreligion“829. Der Dichter hat sie selbst formuliert. Er ging dabei vom Chor der Engel aus, die „Faustens Unsterbliches“ (vor V. 11934) tragen: Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen, „Wer immer strebend sich bemüht Den können wir erlösen“. Und hat an ihm die Liebe gar Von oben Theil genommen Begegnet ihm die selige Schaar Mit herzlichem Willkommen. (V. 11934–11941)

Faust zu identifizieren. Vgl. hierzu: Fischer, Friedhelm: Zu Max Beckmanns Faust-Zeichnungen. In: Goethe: Faust. Zweiter Teil (= it 100). Frankfurt/M. 1975, S. 477–484. 828 MA 18.1, S. 1163. 829 Mirmehdi, Mohsen: Thesen zur Bergschluchten-Szene. In: Peter Stein inszeniert Faust von Johann Wolfgang Goethe. Das Programmbuch Faust  I und II. Hrsg. v. Roswitha Schieb unter Mitarbeit von Anna Haas. Köln 2000, S. 281–284.

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Goethe bemerkte dazu erklärend: „In diesen Versen ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten: in Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hülfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade“830. Das ist die ebenso einfache wie klare Beschreibung Goethes seiner Konzeption notwendiger selbständiger Steigerung und „Umartung“ in Teilhabe am universellen geistigen Leben („dankend umzuarten“ wird als Zielstufe genannt: V. 12099). Die letzte Metamorphose der sich vergeistigenden Entelechie ist mit Fausts Ableben erfolgt. In diesem Punkt sprach der Verfasser des „Faust“ durchaus in eigener Sache. Geradezu bekenntnishaft erklärte er: „Was hat man nicht alles über Unsterblichkeit philosophiert! Und wie weit ist man gekommen! Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer, denn die Natur kann die Entelechie nicht entbehren; aber wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muß man auch eine sein“831. Und weiter: „Jede Entelechie nämlich ist ein Stück Ewigkeit, und die paar Jahre, die sie mit dem irdischen Körper verbunden ist, machen sie nicht alt. Ist diese Entelechie geringer Art, so wird sie während ihrer körperlichen Verdüsterung wenig Herrschaft ausüben, vielmehr wird der Körper vorherrschen, und wie er altert, wird sie ihn nicht halten und hindern. Ist aber die Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen Naturen der Fall ist, so wird sie bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers nicht allein auf dessen Organisation kräftigend und veredelnd einwirken, sondern sie wird auch bei ihrer geistigen Übermacht ihr Vorrecht einer ewigen Jugend fortwährend geltend zu machen suchen“832. Um seine Konzeption versinnlichend weiterzugeben, wählte Goethe im „Faust“ die allgemein vertraute Vorstellungswelt der christlichen Mythologie und ihrer Bildvorstellungen im Zeichen der Erlösung. Er verlagerte freilich den Akzent von der Erlösung hin zur All-Liebe als dem entscheidenden transzendierenden Movens. Die positive Seite der strebenden Bemühungen Fausts ging in diese Richtung. Ihre zwar relative, aber dennoch im Endeffekt „kräftigende und veredelnde Einwirkung“ bewirkt, daß er sich „zu höhern Sphären“ (V. 12994) hin bewegen kann. So wird aus dem individuellen ein überindividuelles, geistiges Sein. Der Chorus mysticus bekräftigt das mit seinem kommentierenden Schlußgesang. Es bedarf also zur Klärung von Fausts „Fortgehn in’s Unendliche“833 keiner der umständlichen und eher gewaltsamen

830 831 832 833

MA 19, S. 456 (zu Eckermann am 6.6.1831). MA 19, S. 335 (zu Eckermann am 1.9.1829). MA 19, S. 609 f. (zu Eckermann am 11.3.1828). WA III.3, S. 336 f. (Eintragung vom 17.5.1808). Bergschluchten  251

Herleitungen christlich-theologischer Provenienz834. Die Vorstellungswelt Goethes vom transzendierenden Gestaltwandel durch das innere Kraftzentrum der Entelechie genügt vollkommen. Geflissentlich unterließ er es, den „Herrn“ des „Prologs im Himmel“ erneut auftreten zu lassen. Auf keinen Fall sollte die Szenerie zur Weiheveranstaltung ausarten. Der sie bestimmende hohe Ton verdankt sich der Ergriffenheit aller Beteiligten durch die sich verbreitende All-Liebe. Darum ist es schlüssig, daß der zuvor nicht in Erscheinung getretene „Chorus mysticus“ das Drama kommentierend abrundet: Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichniß; Das Unzulängliche Hier wird’s Ereigniß; Das Unbeschreibliche Hier ist’s gethan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan. (V. 12104–12111)

Der mystisch-geheimnisvolle Chor bringt eine andere Stimmlage in den Text ein. Der ursprüngliche Titel „Chorus in Excelsis“ wurde fallengelassen, vermutlich um die Ablösung vom liturgischen Teil zu verdeutlichen. Zutreffend spricht Schöne von einem „mystischen Meta-Text“, der „über diese ganze letzte Szene, ja über das ganze Spiel gesetzt“ ist835. Metrisch hat Goethe für ein tragendes Gerüst gesorgt, das die gewichtig daherkommenden, weithin autonomen Satzteile stützt. Die Form des Achtzeilers aus vier kurzen Doppelversen mit Kreuzreimbindung (ababacac) hebt jedes Wort unterstreichend hervor, zumal die trochäisch fallenden Zweiheber mit vorwiegend daktylischer Doppelsenkung diese Wirkung noch verstärken. Daraus ersteht eine adäquate Grundlage für die generalisierend spruchartig-ernst, ohne jedes weihevolle Pathos vorgetragene, wie selbstverständliche ‚Botschaft‘. 834 Hierzu wird vor allem die allversöhnende Wiederbringungslehre des Kirchenvaters Origines ins Feld geführt. (vgl. hierzu: Schöne 2, S.  775 und 790 f.; dagegen: MA 18.1, S.  1168). Mit gleichem Recht hat Thomas Gelzer neuplatonische Elemente im Faustschluß entdeckt (Gelzer, Thomas: Antike Hintergründe in den letzten Szenen des ‚Faust‘. In: Neue Zürcher Zeitung, 3.9.1966, Bl. 21). Auch Jochen Schmidt betont die „neuplatonisch-mystische Strukturierung der Schluß-Szene“ (Schmidt, Jochen: Die ‚katholische Mythologie‘ und ihre mystische Entmythologisiereung in der Schluß-Szene des ‚Faust II‘. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 34. Jg., 1990, S. 230–256). 835 Schöne 2, S. 813.

252  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Was aber will der geheimnisumwitterte Text uns sagen? Zunächst heißt es: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichniß“. Das besagt, daß allein unser irdisches Leben – das „Vergängliche“ – von uns verstanden, erklärt und bewertet werden kann. Dadurch erfährt es in seiner Qualität eine gewisse Aufwertung. Es kann nämlich bis zu einem bestimmten Grad, ungeachtet seines vorläufigen Charakters, auf die uns nicht zugänglichen Teile der geistigen Sphäre übertragen und so durch vergleichende Betrachtung zum Gleichnis werden. Das Adverb ‚nur‘ bedeutet in diesem Fall keine Einschränkung, sondern erkennbar eine qualitative Anhebung. An der Fortsetzung des chorischen Textes ist das abzulesen. Sie lautet: „Das Unzulängliche / Hier wird’s Ereigniß“. Nur das uns allein zugängliche vergängliche Leben – „das Unzulängliche“ – kann uns transitorisch partiellen Zugang zu dem uns verschlossenen Bereich der geistigen Welt und somit zu haltbaren Ergebnissen des Lebens verschaffen, die ebenso dort ihren Sinn bewahren836. Die Umstandsbestimmung des Ortes ‚hier‘ verweist auf Fausts Lebensbilanz. Sie wird zum „Ereignis“, weil sie einen ziemlich unbefriedigenden Lebensverlauf in potentielle geistige Erfüllung zu überführen vermag. Der folgende Teilsatz präzisiert diese existentielle Feststellung: „Das Unbeschreibliche / Hier ist’s gethan“837. Das uns nicht zugängliche höhere, geistige Leben – „das Unbeschreibliche“ – ist am Ende des „Faust“-Dramas in der Umartung der Entelechie des Titelhelden für uns ‚wirklich‘ und damit faßbar geworden. Als dramatisches Ereignis wird es im Text Goethes für unser Bewußtsein zugänglich, „ist“ damit wortwörtlich „gethan“. Zumindest können wir etwas von seiner Substanz ahnen, auch wenn wir es in seinen vollen Dimensionen nicht beschreiben können. Goethe hat das damit Gemeinte im „Versuch einer Witterungslehre“ exakt herausgestellt, indem er schrieb: „Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direct erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen“838.

836 Der alles-erklären-wollende und dabei oft kabbalistisch daneben greifende „Faust“Exeget Ferdinand August Louvier sprach in diesem Fall mit Recht von der „trancendentalen Logik“, siedelte sie dann allerdings sogleich in der Erscheinung eines „Engels“ personifiziert an (Louvier, Ferdinand August: Sphinx Locuta Est. Goethes Faust und die Resultate einer rationellen Methode der Forschung. Berlin 1887, S. 467). Ähnlich verkürzend und das Ganze verfälschend setzte er das „Ewig-Weibliche“ vereinfachend mit der „Vernunft“ gleich (a.a.O., S. 485). 837 Interessant ist hierzu, daß Goethe die metrisch ‚richtige‘ Version des Schreibers John „ist’s“ abgeändert hat in „Hier ist es gethan“. Die punktuelle Durchbrechung der Metrik macht den Vorgang noch stärker bewußt. 838 WA II.12, S. 74. Bergschluchten  253

In hohem Maße gilt das gerade für den mystischen Chor. Dessen vielzitiertes und meist falsch verstandenes ‚Fazit‘ artikuliert sich bewußt als „offenbar Geheimnis“. Im letzten Vierzeiler des so betitelten Gedichts aus dem „Divan“ wird absichtsvoll verlautbart: „Du aber bist mystisch rein, / Weil sie dich nicht verstehn, / Der du, ohne fromm zu sein, selig bist! / Das wollen sie dir nicht zugestehn“839. Auch der mystische Chor äußert sich, „ohne fromm zu sein“, will sagen: jenseits konfessioneller Fixierungen. Verkündet wird hier die Zielstufe eines erfüllten Lebens: „Das EwigWeibliche / Zieht uns hinan“. Sie erscheint in weiblicher Gestalt, genauer als „das Ewig-Weibliche“. Vermittelt wird auf diese Weise die besondere Qualität, die im Erotisch-Weiblichen wie dann im Mütterlich-Weiblichen liegt. In dieser ideellen Gestalt manifestiert sich steigernde Liebe. Sie erscheint als entscheidende, ja als einzige Grundlage für die nötige Umartung der individuellen Existenz in die allein so erreichbare Höhenlage des geistigen Lebens als fortdauernde entelechische Monade. Fausts Taten haben sich selbst widerlegt. Sein Tod besiegelt ein tragisches Scheitern. Aber das äußerliche Scheitern ist ebenso ein haltbares inneres Reifen. Zu Recht sah Adorno darin „die Negation der Negation“840. Darum kann Fausts Entelechie sich in der All-Liebe aufgehoben fühlen. Das bedeutet Bekenntnis und Aufforderung in einem, gleichsam eine universale Stimme aus der Welt- und Geschichtstiefe. Auch im Detail dieser wenigen Verse zeigt sich, daß die Reflexions- und Bewußtseinsdramaturgie Goethes allenthalben auf Fortwirkung drängt.

Auswertung Es dürfte einsichtig geworden sein, welch hoher Innovationsgrad die dramaturgische Lösung des zweiten Faustteils kennzeichnet. Goethe hat dabei das Kunststück fertiggebracht, Autonomie der offenen Form in Personen-, Sprach-, Raum- und Zeitgestaltung mit Normativität und Finalduktus der geschlossenen Form zu neuer, höherer Einheit zu verbinden. Bei aller Freiheit der Komposition, bei allem Verzicht auf Linearität läßt der Gesamttext doch klare thematische Kernlinien erkennen. Scheinbar ist die Einheit der Handlung aufgehoben. In Wirklichkeit fügen sich die autonomen Szenen zu einleuchtender Simultaneität. Getragen wird die Offenheit der Gesamtkonstruktion von der seit dem „Prolog im Himmel“ durchgehaltenen dynamischen Wirkungstendenz. Zu keinem Zeitpunkt strebte der Autor irgendwelche Symmetrie der Handlung an. Seine asymmetrische Bauweise ergibt dennoch ein 839 WA I.6, S. 41 („Offenbar Geheimniß“). 840 Adorno, Theodor W.: Zur Schluß-Szene des ‚Faust‘. In: Keller III, S. 375–383; Zitat: S. 382.

254  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

in sich zwingendes Sprach-, Bild- und Klangensemble um Faustens Lebensallegorie. Nur vordergründig lassen die unregelmäßig langen Einzelteile den Gedanken gegebener Dispersion aufkommen. Dem Aufmerksamen erschließt sich, aufs Ganze gesehen, der rote Faden, der sich bis zur „Bergschluchten“-Szene über beide Teile des Dramas durchzieht. Mithin handelt es sich um ein aus innerer Vorstellung heraus aufgebautes Lebens- und Weltspiel in sprachszenischer Fügung. Ungeachtet des Ausschnittscharakters vieler Szenen ergibt sich ein erhellendes allegorisches Nebeneinander von Weltaspekten. Sie gewährleisten, vom Schluß her gesehen, die Einheit des Spiels. Die zahlreichen typisierenden Integrationspunkte des Geschehens wirken ihrer Anlage und Intention nach auf eine durchgängige den Rezipienten herausfordernde und anregende ästhetische Kommunikation hin. Man denke nur an die Konfigurationen Gretchen > Büßerin, Gretchen > Helena, Schüler > Baccalaureus, Wagner > Doktor Wagner, Wagner > Homunculus, Kaiser > Gegenkaiser, Knabe Lenker > Euphorion, Philemon und Baucis oder an Konstellationen wie Kunst, Heilschlaf, Papiergeld, Krieg, Landgewinnung und anderes mehr. Neben den Dialogen, den Symbolen und Allegorien gehören lyrisch-reflexive Monologe ebenso zu den gestalterischen Grundelementen wie opernhaft orchestrierte Partien. All das fordert die Mitarbeit der Zuschauer förmlich heraus. Wer auf konventionelle Ereignisdramaturgie eingestellt ist, kann freilich hier nicht auf seine Kosten kommen. Interessanterweise laufen auch die Zeitstufen ineinander. Ohne weiteres kann der sich dem Ende nähernde Faust seine Schlußvision im Optativ artikulieren (V. 11563ff.). Das Futurisch-Konjunktivische hat mithin seinen Platz im Rahmen der Bewußtseinswiedergabe. Umgekehrt kann die erste Szene des fünften Aktes („Offene Gegend“), völlig ungewöhnlich für das in der Regel vergegenwärtigende Drama, im Plusquamperfekt anheben. Zum Universaltheater Goethes gehören neben der präsentierten ‚gegenwärtigen‘ Handlung Erinnerungen genauso wie Entwürfe und Visionen. Gelegentlich stellt sich sogar die Frage: Was ist hier überhaupt Bühne? Zum Beispiel lautet eine der szenischen Anweisungen Goethes: „Trommeln und kriegerische Musik im Rücken der Zuschauer, aus der Ferne, von der rechten Seite her“ (nach V. 10233). Eine extrem ausholende, kurz schon erwähnte Bühnenanweisung am Ende des dritten Aktes legt fest: „Der Vorhang fällt. Phorkyas im Proscenium richtet sich riesenhaft auf, tritt aber von den Kothurnen herunter, lehnt Maske und Schleier zurück, und zeigt sich als Mephistopheles, um, in sofern es nöthig wäre, im Epilog das Stück zu commentiren“ (nach V. 10038). Und gleich danach zu Beginn der „Hochgebirg“-Szene: „Eine Wolke zieht herbei, lehnt sich an, senkt sich auf eine vorstehende Platte herab. Sie teilt sich“. Derlei stellt Regisseure vor schwierige Aufgaben. Illusionsdurchbrechung und Simultaneität können jedoch, angemessen umgesetzt, ein theatralisches Fest besonderer Art auslösen. Freilich setzt, wie schon mehrfach betont, gelingende Kommunikation eine geschärfte und kreative WahnehmungsAuswertung  255

fähigkeit beim Publikum voraus. Goethe wußte genau, daß er viel erwartete. In der „Ankündigung der Helena“ wies er darauf hin: „So vieles und noch mehr denke sich wem es gelingt als gleichzeitig, wie es sich ergiebt, … denn eine halbe Weltgeschichte steckt dahinter, die Behandlung ist bei so großem Stoff nur andeutend und macht sehr große Ansprüche an den Leser“841. Dezidiert machte der Autor demzufolge die extrem hohen Ansprüche der Bewußtseinsdramaturgie als Vehikel möglicher vertiefender Kommunikation geltend. Der Rezipient sollte merken: „Die Wahrheit fällt nicht vom Himmel, sie kommt zwar aus der immanenten Stimmigkeit des Werks, aber sie weist über das Werk hinaus. … Sie muß wieder auf die Gesellschaft zurückfallen. So bleibt dem Werk nichts anderes übrig, als Affirmation oder Negation zu leisten“842. Im Falle der Affirmation kann jedoch produktives kommunikatives Handeln herbeigeführt werden. Natürlich setzt das die von Jürgen Habermas eingeführte Vorstellung der „kommunikativen Kompetenz“843 als gegeben voraus. Um allegorische Formulierungen in Denkimpulse, Bilder in Denk-Bilder zu verwandeln, bedarf es mitarbeitender Rezeptionsfähigkeit und weiterdenkender Energie. Nur dann kann ästhetische Kommunikation zustande kommen. Das aufgeschlossene Publikum merkt etwa, daß Mephisto als Phorkyas einen notwendigen Rollenwechsel vollzieht und das dem Parkett auch erklärt. Zu Beginn der „Arkadien“-Szene ruft er beispielsweise zum einen den eingeschlafenen Chor im Stück, jedoch ebenso die Zuschauer im Saal mit den Worten: „… Erstaunen soll das junge Volk; / Ihr Bärtigen auch, die ihr da drunten sitzend harrt, / Glaubhafter Wunder Lösung endlich anzuschaun“ (V. 9577–9579). Das ist die unzweideutige Aufforderung zum Mitmachen bei der Entschlüsselung der „glaubhaften Wunder“ in Arkadien und anderswo. Derartige Ansprache stellt weit mehr dar als ein bloßes Zeigen der Theaterrealität. Vielmehr wird das Drama – besser, mit Brecht gesagt, „die Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge“844 – an das Bewußtsein der Zuschauer oder Leser weitergeleitet. Die ihm übertragene Aufgabe besteht in aktiver Mitarbeit, in wirklichem Nach- und Weiter-Denken. Dann, aber nur dann, kann sich die Rezeption produktiv entwickeln, sofern das überlegte Verhältnis Goe841 WA I.15.2, S. 208 und MA 19, S. 201 (Eintragung Eckermanns vom 29.1.1827). 842 Soweit die Ausgangsthese von Hans Dieter Zimmermann für seine Theorie der literarischen Kommunikation (Zimmermann, Hans Dieter: Vom Nutzen der Literatur. Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der literarischen Kommunikation (= es 885). Frankfurt/M. 1979, S.  27). Davon ist unter anderem herzuleiten, daß bildungsferne Sozialisation fast zwangsläufig zur Negation literarischer Kommunikation führt. 843 Habermas, Jürgen: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, a.a.O., s. Anm. 260, S. 101–141. 844 Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater. In: Schriften zum Theater. Bd.  7. Frankfurt/M. 1954, S. 49.

256  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

thes zur Sprache, zum Vers und natürlich zur dramatischen Gestaltung in jeweiliger Eigeninitiative reflektierend mitvollzogen wird. Vergleichbare kommunikative Offenheit kennzeichnet im übrigen ebenso die narrative Freiheit des Erzählprogramms der „Wanderjahre“, insbesondere der zweiten Fassung von 1829. Mit Recht hat Muschg die „gelockerte Beziehung zum Stoff “ mit dem Hinweis erklärt, Goethe habe hier bewußt „die Grenzen des Romans“ überschritten, um die Initiative an den Leser weiterzugeben845. Die nämliche Absicht verfolgte er mit dem zweiten Teil der Faustdichtung. Nicht zuletzt mit den aktivierenden Mitteln der Bewußtseinsdramaturgie hat Goethe das Seine dazu getan, den dramatischen Diskurs in den Rezipienten hineinzuverlängern. Die Endstufe seiner Arbeit als Dramaturg lebt vom Aufbrechen der etablierten Regeln und vor allem von der geistigen Gemeinschaft zwischen ihm und dem Publikum. Deshalb war er auch stark an den Möglichkeiten der theatralischen Umsetzung und insofern an Kommunikation interessiert. Nur wußte er eben, daß er mit der in „Faust II“ erreichten Freiheit der Kunstform des Dramas nicht das Theater der damaligen Gegenwart, sondern ein Theater der Zukunft ansprach. In weiser Voraussicht hat er deswegen das Manuskript des zweiten Faustteils versiegelt. Etliche Zeitgenossen haben nach der voreiligen Drucklegung dann auch schnell gezeigt, wie berechtigt Goethes Vorbehalte in dieser Sache waren. Eindrucksvoll belegt das ein kurzer Blick auf die Wirkung bald nach dem Erscheinen des zweiten Faustteils in der Öffentlichkeit.

Zur Wirkung Schon kurz nach Goethes Tod entschlossen sich Johann Peter Eckermann und Friedrich Wilhelm Riemer unter Mißachtung von Goethes Verfügung, jedoch in bester Absicht dazu, „Faust II“ alsbald zu veröffentlichen. Zur Ostermesse 1833 erschien der noch auf das Todesjahr datierte Text „Faust. Der Tragödie zweyter Theil in fünf Acten“ als erster Band der ‚Nachgelassenen Werke‘ und 46. Band der ‚Ausgabe letzter Hand‘. Das war ein gutgemeinter, aber der Sache eher abträglicher Schritt. Goethe hatte da weiter gedacht, denn er war sich darüber im klaren, welche Kluft bestand zwischen der Wirkungsabsicht des Dramas und der tatsächlichen Rezeptionssituation. Seine einzige Hoffnung ging dahin, ein Werk geschaffen zu haben, das „gewiß denjenigen erfreuen“ werde, „der sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung versteht“846. Für sein universales Bewußtseinstheater dieser Endstufe gilt eben die von ihm geäu845 Muschg, S. 118 und 142. 846 WA IV.49, S. 64 (an Sulpiz Boisserée am 8.9.1831). Zur Wirkung  257

ßerte Bemerkung: „allein es ist schwer und erfordert einiges Studium, ehe man den Dingen beikommt und ehe man mit eigener Vernunft die Vernunft des Autors wieder herausfindet“847. Mit seiner Formulierung hat Goethe die Kommunikationssituation des zweiten Faustteils exakt bestimmt. Damit beglaubigte er zugleich die auktoriale Bewußtseinsdramaturgie als konsequent praktiziertes, kommunikativ intensivierendes Gestaltungsprinzip. Dieses moderne dramaturgische Verfahren lebt von der Verräumlichung der Zeit und der Verzeitlichung des Raumes. Goethe hat es in den letzten Jahren seiner Arbeit als Dramatiker programmatisch angewandt und unbeirrbar durchgesetzt. Daß er damit seiner Zeit weit vorauseilte, beweisen die Anfänge der Rezeption des zweiten „Faust“-Teils. Bereits die 1828 vorab veröffentlichten Einzeldrucke des Helena-Akts sowie von Teilen des ersten Akts stießen bei einigen Rezensenten ihrer Symbolik und besonders der ungewohnten Bauweise wegen auf große Reserve, teilweise sogar auf entschiedene Ablehnung848. Ohnehin konnte von breiter Wirkung keine Rede sein. Die nun praktizierte Fortsetzung der Dramengestaltung schien den Kritikern nicht zum ersten Teil des Dramas zu passen. Das von Goethe vorhergesehene Unverständnis dominierte. Was viele dachten, sprach Wolfgang Menzel, der Literaturkritiker der Jungdeutschen, unzweideutig aus. Unter anderem äußerte, er moralisierend fragend, was aus der „hohen tragischen Gestalt“ des ersten Faustteils geworden sei, und kam dabei im Blick auf das Ende zu dem Ergebnis: „Ist das noch Faust? … Können alle diese königlichen Hochzeits-Illuminationsanstalten das peinigende Gefühl des Treubruchs, Kindermords und Schaffots, die schmutzige Erinnerung der Hexennacht und der kollosalen Sodomiterei mit antiken Gespenstern übertäuben? … so läßt sich zur Rechtfertigung dieses vorliegenden Schlusses nichts geltend machen, als Goethes wirklicher und ernsthafter Glauben an die unbedingte Gnadenübung der ewigen, die Welt regierenden Liebe. … Wo bleibt Gott? Ist denn kein Mann mehr im Himmel?“849 847 MA 19, S. 558 (Eintragung Eckermanns vom 18.4.1827). 848 So stellte etwa der Hirschberger Gymnasiallehrer Karl Ernst Schubarth 1830 Überlegungen an, wie die beiden Teile zueinander in Beziehung gesetzt werden könnten. Goethe belehrte ihn schon 1818 mit dem Hinweis zu „Faust II“: „Alles was geschieht ist Symbol, und, indem es vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das übrige. In dieser Betrachtung scheint mir die höchste Anmaßung und die höchste Bescheidenheit zu liegen“ (WA IV.29, S. 122; an Schubarth am 2.4.1818). Ähnlich wie Schubarth argumentierte auch der damals noch in seinen Anfängen steckende Altphilologe Ferdinand Deycks in seiner 1834 erschienenen Schrift: „Goethe’s Faust. Andeutungen über Sinn und Zusammenhang des ersten und zweiten Theils der Tragödie“. 849 Menzel, Wolfgang im ‚Literaturblatt‘, der Beilage zum Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 48 und 49, 1833.

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Gegen derartige Kritik versuchte der Kölner Bibliothekar Heinrich Düntzer anzukämpfen in seinem Buch mit dem vielsagenden Titel „Göthe’s Faust in seiner Einheit und Ganzheit wider seine Gegner dargestellt“, das 1836 in erster Auflage erschien. Dem wohlmeinenden Positivisten Düntzer verdankt die Goethe-Philologie auch die seinerzeit im Bildungsbürgertum weitverbreitete „Faust“-Interpretation von 1850/51: „Goethe’s Faust. Erster und zweiter Theil. Zum erstenmal vollständig erläutert“. Dem war schon 1843 eine erste wissenschaftliche Untersuchung zu „Faust II“ vorausgegangen in Gestalt der Zürcher Habilitationsschrift „Zur Klassischen Walpurgisnacht im zweyten Theile des Goethe’schen Faust“ des im Jahr darauf 25jährig verstorbenen Salomo Cramer850. Eigentlich erst seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts begann die Germanistik sich allmählich als Hochschulfach zu etablieren. Dabei stand der Einfluß der idealistischen Geschichtsphilosophie im Vordergrund. Der anfänglichen FaustPhilologie ist das abzulesen. Zum Auftakt bewertete der Hegelianer Karl Rosenkranz, seines Zeichens Ordinarius in Königsberg, als erster die Eigenständigkeit des zweiten Faustteils eindeutig positiv. Dabei charakterisierte er dessen schichtweisen Aufbau dramaturgisch aufschlußreich als „al fresco-Stil“851. An Widerspruch gegen diese weithin von Verehrung getragene Darstellung fehlte es nicht. Vor allem der in Wien tätige Benediktinermönch und Literaturtheoretiker Michael Enk kritisierte die seiner Meinung nach im Faustdrama fehlende Versöhnung im Glauben852. Kritik kam auch von seiten Heinrich Heines, der 1851 ein 1847 verfaßtes FaustProjekt für den Londoner Theaterdirektor Benjamin Lumley veröffentlichte, das er als Ballett einstufte und mit dem Titel versah: „Der Doktor Faust, ein Tanzpoem, nebst kuriosen Berichten über Teufel, Hexen und Dichtkunst“. In den beigefügten „Erläuterungen“ erwies er sich bei aller sonstigen Ironie in diesem Fall unerwartet als ein eher konservativer Hüter des literarischen Erbes der Faustsage. Er warf da Goethe vor: „… in seinem Faustgedichte … vermissen wir durchgängig das treue Festhalten an der wirklichen Sage, die Ehrfurcht vor ihrem wahrhaftigen Geiste, die Pietät für ihre innere Seele … Er hat sich in dieser Beziehung einer Willkür schuldig gemacht, die auch ästhetisch verdammenswert war und die sich zuletzt an dem Dichter selbst gerächt hat. Ja, die Mängel seines Gedichts entsprangen aus dieser 850 Die 1845 gedruckt erschienen Habilitationsschrift von 1843 liegt seit 2010 in einem Neudruck vor. 851 Rosenkranz, Karl: „Göthe und seine Werke“ (1847, 2. A. 1856). Weithin übereinstimmend argumentiert der Leipziger Theologe und Philosoph Christian Hermann Weisse (Weisse, Chr. H.: Kritik und Erläuterung des Göthe’schen Faust (1837)). 852 Enk, Michael (d.i. Michael Leopold Enk von der Burg): „Briefe über Goethes Faust“ (1843). Zur Wirkung  259

Versündigung, denn indem er von der frommen Symmetrie abwich, womit die Sage im deutschen Volksbewußsein lebte, konnte er das Werk nach dem neu ersonnenen ungläubigen Bauriß nie ganz ausführen, es ward nie fertig, wenn man nicht etwa jenen lendenlahmen zweiten Teil des ‚Faustes‘, welcher vierzig Jahre später erschien, als die Vollendung des ganzen Poems betrachten will. In diesem zweiten Teile befreit Goethe den Nekromanten aus den Krallen des Teufels, er schickt ihn nicht zur Hölle, sondern läßt ihn triumphierend einziehen ins Himmelreich, unter dem Geleite tanzender Englein, katholischer Amoretten, und das schauerliche Teufelsbündnis, das unsern Vätern soviel haarsträubendes Entsetzen einflößte, endigt wie eine frivole Farce – ich hätte fast gesagt wie ein Ballett“853. Das ist leider nicht die gewohnte distanziert-ironische Reflexion Heines, sondern völlige Blindheit gegenüber dem avantgardistischen Verfahren universalen Spiels bei Goethe in „Faust II“ und vor allem gegenüber dem „neu ersonnen Bauriß“ in Gestalt der Bewußtseinsdramaturgie. Was dem Kritiker Heine „lendenlahm“ und dann auch wieder „frivole Farce“ zu sein schien, gehört zum Tiefsten, das in der deutschen Sprache zum Ausdruck gebracht wurde. Dafür hatte der unter Leiden gealterte Mann in seiner Matratzengruft offenbar keinen Sinn mehr. Früher hätte ihn die angeblich „frivole Farce“ bestimmt nicht gestört. Der „Faust-II“-Kritiker mit der größten Wirkung war der in Tübingen und Zürich wirkende Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer. Er war ein begeisterter Verfechter von „Faust I“854. Dagegen mißfielen ihm die überladene Allegorik und der, seiner Meinung nach, unverständliche Bildungsballast des zweiten Faustteils. Mehr noch stieß sich der Abgeordnete in der Frankfurter Paulskirche an der fehlenden politischen Ausrichtung des Dramenausgangs. Ihn störte nicht allein Goethes ‚hohe‘ Textlösung, sondern genauso die sich allmählich abzeichnende Flut der vorliegenden Interpretationen. Voller Zorn verfaßte er deshalb die Parodie: „Faust. Der Tragödie dritter Teil, treu im Geiste des zweiten Teils des Goetheschen Faust, gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky“ (1862). Da klagt am Schluß der „Unbekannte“ alias Vischer gegenüber dem „alten Herrn“ vehement: Hätt’ ich’s mit dir allein zu tun, Ließ ich vielleicht die spitze Feder ruh’n, Allein die blind lobpreisenden Verehrer, 853 Heine, Heinrich: Werke und Briefe. Hrsg. v. Hans Kaufmann. Bd. 7: Prosa. Berlin, Weimar 1980, S. 29. 854 Einige Zeit vor der Entdeckung der „Urfaust“-Abschrift erstellte Vischer sogar eine Rekonstruktion der Ur-Fassung, die der erst 1887 wiederentdeckten Göchhausenschen Abschrift überraschend nahekommt.

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Nußknackerisch scholastischen Erklärer, Kleinmeister, brillenaugigen Magister. Die famuli, die Pietätsphilister, Die selbstgefällig dir im Mantel nisten, Nur dieses Volk, für welches du ein Gott, Ist schuldig, daß mein Tadel ward zum Spott, Dir selber, denk’ ich, sind in Himmelshallen Die Schuppen von dem Auge schon gefallen. 855

Vischer war eben ein Mann rückwärtsgewandter Ästhetik. Dennoch wirkt seine Abrechnung mit unangemessener „Faust“-Idolatrie und übertriebenem Heroenkult ausgesprochen erfrischend. Bisweilen möchte man sich bei der Lektüre mancher Auslassungen heutiger Interpreten einen neuen ‚V-Vischer‘ wünschen. Vischer fand übrigens mit seiner Ablehnung eine große Reihe von Anhängern. Mehr und mehr aber setzte sich die unvoreingenommene Auseinandersetzung mit Goethes Text durch. Zum Glück wurde auch, dank der seit 1887 erscheinenden Weimarer Ausgabe (Sophienausgabe), eine verläßliche Textgrundlage geschaffen, die es den Philologen seitdem erlaubte, besser überprüfbare Arbeitsergebnisse vorzulegen. Bedenkenswert bleibt indes allemal die von Mattenklott zusammenfassend ausgesprochene Warnung: „… da die philologische Fachliteratur zu jedem Rätsel, das der Text stellt, mittlerweile jeweils eine Mehrzahl konkurrierender Lösungsvorschläge bereithält, hat sie sich zwischen die Dichtung als eine Theaterpartitur und das Publikum wie eine einschüchternde Barriere geschoben“856. Allerdings zeigt auch die Aufführungspraxis nicht gerade viele adäquate Interpretationen. Auf so manchen Bühnen werden gleichfalls Barrieren zum Publikum hin errichtet. Zur gelingenden oder mißlingenden Verwendung als „Theaterpartitur“ wird nach dem nun eingeschobenen Exkurs noch einiges zu sagen sein.

855 Vischer, Friedrich Theodor: Faust. Dritter Teil. Parodie (= ‚Die Bank der Spötter‘). Berlin 1949, S. 45. 856 Mattenklott, Gert: Faust II. In: GH 2, S. 473. Zur Wirkung  261

Exkurs II: Vom Zauberlehrling zum Homunculus und so weiter Sie wissen es nicht, aber sie tun es. Karl Marx denn alles was entsteht / Ist wert, daß es zugrunde geht Mephistopheles

Kurz vor dem Ende des 18. Jahrhunderts verfaßte Goethe in der ersten Julihälfte 1797 die Ballade „Der Zauberlehrling“857. Zwar ist das Motiv des unfertigen Adepten, der die von ihm gerufenen Geister nicht zu beherrschen vermag, mehrfach in der Kulturtradition nachzuweisen. Doch spricht alles dafür, Goethe habe die Idee von einer Episode aus den Satiren des griechischen Dichters Lukian von Samosata (120–um 180 n. Chr.) übernommen, die er in der 1788 erschienenen Übertragung Wielands kennengelernt hatte858. Dort ist unter anderem die Rede von einem Eukrates, der, Pankrates, den Zauberer, nachahmend, einen ‚Besen‘ oder einen ‚Stößel‘ in einen ‚Bediensteten‘ verwandelt, der ihm Wasser herbeischaffen soll, den er dann aber in Unkenntnis der Zauberformel nicht mehr zum Aufhören bringen kann, so daß der Zauberer Pankrates rettend eingreifen muß. Die anregende und belehrende Geschichte Lukians von Eukrates und Pankrates lautet wie folgt: Sobald wir in ein Wirtshaus kamen, nahm er [Pankrates] einen hölzernen Türriegel oder einen Besen oder den Stößel aus einem hölzernen Mörser, legte ihm Kleider an und sprach ein paar magische Worte dazu. Sogleich wurde der Besen, oder was es sonst war, von allen Leuten für einen Menschen wie sie selbst gehalten; er ging hinaus, schöpfte Wasser, besorgte unsere Mahlzeit und wartete uns in allen Stücken so gut auf als der beste Bediente. Sobald wir seiner Dienste nicht mehr nötig hatten, sprach mein Mann ein paar andere Worte, und der Besen wurde wieder Besen, der Stößel wieder Stößel wie zuvor. Ich [Eukrates] wandte alles mögliche an, daß er mich das Kunststück lehren möchte: aber mit diesem einzigen hielt er hinterm Berge, wiewohl er in allem andern der gefälligste Mann von der Welt war. Endlich fand ich doch einmal Gelegenheit, mich in einem dunkeln Winkel verborgen zu halten und die Zauberformel, die er dazu gebrauchte, aufzuschnappen, indem sie nur aus drei Silben bestand. … Den folgenden Tag, da er Geschäfte halber ausgegangen war, nehm ich den Stößel, kleide ihn an, spreche die besagten drei Silben und befehle ihm, Wasser zu holen. Sogleich bringt er mir 857 WA I.1, S. 215–218. 858 Lukian: Der Lügenfreund. Satirische Gespräche und Geschichten. Aus dem Griechischen von Christoph Martin Wieland (= Aufbau Bibliothek). Berlin 1998.

262  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

einen großen Krug voll. ‚Gut‘, sprach ich, ‚ich brauche kein Wasser mehr, werde wieder zum Stößel!‘ Aber er kehrte sich nicht an meine Reden, sondern fuhr fort, Wasser zu tragen, und trug so lange, daß endlich das ganze Haus damit angefüllt war. Mir fing an, bange zu werden, Pankrates, wenn er zurückkäme, möchte es übelnehmen (wie es denn auch geschah), und weil ich mir nicht anders zu helfen wußte, nahm ich eine Axt und hieb den Stößel mitten entzwei. Aber ich hatte es übel getroffen, denn nun packte jede Hälfte einen Krug an und holte Wasser, so daß ich für EINEN Wasserträger nun ihrer zwei hatte. Inmittelst kommt mein Pankrates zurück, und wie er sieht, was passiert war, gibt er ihnen die vorige Gestalt wieder! Er selbst aber machte sich heimlich aus dem Staube, und ich habe ihn nie wieder gesehen859.

Von dieser überlieferten Erzählung ging Goethe aus. Er hat sie auch schon vor der Gestaltung als Ballade in den Komplex des Wilhelm-Meister-Romans einbezogen, dort als Zeichen überströmender, noch nicht bewältigter Inspirationsfülle eines jungen dichterischen Talents. Bereits in „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“ (1777–1786) und dann in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795) ist das Motiv eingebettet in die dargestellte Entwicklungsproblematik des zur Kunst hinstrebenden jungen Menschen. Im achten Kapitel des fünften Buchs der Erstfassung heißt es dazu: Man erzählt von Zauberern, die durch magische Formeln eine ungeheure Menge allerlei geistiger Gestalten in ihre Stube herbeiziehen. Die Beschwörungen sind so kräftig, daß sich bald der Raum des Zimmers ausfüllt, die Geister, bis an den kleinen Kreis hinangedrängt, um denselben und über dem Haupte des Meisters in ewig drehender Fortwandlung sich bewegend vermehren. … Unglücklicherweise hat der Schwarzkünstler das Wort vergessen, womit er diese Geisterfluth wieder zur Ebbe bringen könnte. – So saß Wilhelm, und indem eine so große Bewegung in ihm vorging, wurden tausend Empfindungen und Fähigkeiten rege, von denen er keinen Begriff und keine Ahnung gehabt hatte860.

Das Motiv beschäftigte Goethe auch weiterhin. Ausführlich entfaltete er es dann im Gedicht vom „Zauberlehrling“, diesmal zugespitzt auf das im ‚Balladenjahr‘ für Schiller und ihn wichtige Thema von Meisterschaft und Dilettantismus861. Dabei 859 A.a.O., S. 59 f. („Der Lügenfreund oder der Unglaubige“). 860 Hier zitiert nach der frühen Fassung in „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“ (WA I.52, S.  153  f.). Im „Wilhelm-Meister“-Roman wurde der gleiche Text in das neunte Kapitel des dritten Buches eingearbeitet. 861 Deswegen spricht wenig für die wiederholt vorgebrachte Annahme einer Anregung durch die Prager Legende vom Golem des Rabbi Judah Löw. Der konnte durch Magie Exkurs II  263

ging es hauptsächlich um das ästhetische Erziehungsprogramm der Weimarer Klassik. Mit der Zurückweisung des Dilettantismus als einer Epochenkrise war die konsequente Ablehnung bloßer Naturwahrheit oder übertriebener Phantasie und in erster Linie künstlerischen Unvermögens gemeint. Orientierungshintergrund war dabei die sehr berechtigte Befürchtung, daß politische Machthierarchie und Vorrang der ökonomischen Interessen die Kunst an den gesellschaftlichen Rand drängt. Propagiert wurde das idealistische Gegenbild der „Kunstwahrheit“ und der Macht des Geistes. Der damit verbundene Anspruch lautet knapp und klar definiert: „Die Kunst giebt sich selbst Gesetze und gebietet der Zeit: der Dilettantism folgt der Neigung der Zeit“862. Die unter anderem daraus erwachsende Balladenwelle ging weithin auf die Initiative Schillers zurück. Goethe stand nicht an zu sagen: „Ich verdanke sie (die Balladen) größtensteils Schillern, der mich dazu trieb, weil er immer etwas für seine ‚Horen‘ brauchte. Ich hatte sie alle schon seit vielen Jahren im Kopf, sie beschäftigten meinen Geist als anmutige Bilder, als schöne Träume, die kamen und gingen“863. „Im Kopf “ hatte Goethe auch das weniger „anmutige Bild“ des Zauberlehrlings. Interessanterweise gestaltete sich die Rezeption dieses Gedichts wesentlich abweichend von der den Text auslösenden Idee. Die Phase der ‚terreurs‘, der jakobinischen Schreckensherrschaft in Frankreich, lag zur Zeit des Erscheinens der Ballade vom „Zauberlehrling“ im ‚Musen-Almanach für das Jahr 1798‘ nur wenige Jahre zurück. Die meisten Leser sahen damals in diesen Versen eine höchst aktuelle Warnung vor der Revolution, die ‚ihre Kinder frißt‘. Das war insofern naheliegend, als Goethes Position dem historischen Ereignis gegenüber durchaus ablehnend war864. Allerdings entsprach diese zeitbedingte gesellschaftspolitische Deutung nicht seiner eigentlichen Wirkungsabsicht. Eine eher einleuchtende Anwendung des Zauberlehrlings-Motivs kristallisierte sich in der Folgezeit immer deutlicher heraus: das Thema des von der Technisierung überforderten Menschen. den aus Lehm geschaffenen Golem zum Leben erwecken. Löws Frau soll ihn leichtsinnig als Wasserträger benutzt haben, bis dann Rabbi Löw weiteres Unheil verhinderte. Hinzu kommt, daß diese alte jüdische Legende erst 1830 in Druckfassung nachgewiesen ist, also mehr als drei Jahrzehnte nach der Entstehung des Gedichts. – Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß Karl Ludwig von Knebel meinte, „Der Zauberlehrling“ sei gegen die Kritiker der „Xenien“ gerichtet („seine Abfertigung der Anti-Xenisten“); vgl. hierzu: Bode, Bd. 1, S. 119 (Knebel an Karl August Böttiger am 1.11.1797). 862 WA I.47, S. 196 und 319 („Über den Dilettantismus“). 863 MA 19, S. 653 (zu Eckermann am 14.3.1830). 864 Goethe sagte in diesem Zusammenhang: „Es ist wahr, ich konnte kein Freund der Französischen Revolution sein, denn ihre Greuel standen mir zu nahe und empörten mich täglich und stündlich, während ihre wohltätigen Folgen damals noch nicht zu ersehen waren“ (MA 19, S. 494, zu Eckermann am 4.1.1824).

Damit rückte eine der Grundfragen unserer Zeit in den Blickpunkt: das Thema des Wissens und des unbedingten Wissen-Wollens zum einen, das Thema der Umformungen des individuellen und des öffentlichen Lebens unter dem Einfluß der Technik zum andern. Aus dem Zusammenstoß beider heraus entstehen bekanntlich die extremen Herausforderungen der modernen Welt. Dabei wird die Frage von Selbsterhaltung oder Selbstvernichtung der Menschheit zum Kernproblem. Nicht zuletzt unter dem Aspekt der Krisenwarnung fand gerade dieses Gedicht lange Zeit hindurch Aufnahme in fast alle deutschen Schullesebücher. Der französische Komponist Paul Dukas (1865–1935) legte 1897 das Orchesterwerk „L’Apprenti sorcier“ als Programmusik in der Form eines sinfonischen Scherzos vor. Er hat dabei Goethes Erzählgedicht kongenial vertont und den unglücklichen Zauberlehrling, der die Kontrolle über sein Tun verliert, so überzeugend melodisch nachvollzogen, daß sogar Walt Disney 1940 diese Ausgestaltung für seinen Film „Fantasia“ übernahm und damit publikumswirksam durchsetzte. Indes hat die ironisch getönte lyrische Parabel Goethes vom vermeintlichen und tatsächlichen Können eine überaus ernste Grundierung weitab vom Micky-Maus-Niveau. Sie macht uns nämlich auf die Problematik des fatalen Traums einer Omnipotenz des Menschen aufmerksam, der zum Alptraum jenseits aller Vernunft gerät. Anders ausgedrückt: Es geht um das jeder technischen Errungenschaft innewohnende Risiko. Goethe hat diese Frage schon zum Zeitpunkt des Beginns der Industrialisierung gestellt. Im Gedicht vom Zauberlehrling steckt, nicht zu übersehen, die Frage nach dem Umgang des Menschen mit unleugbarem Fortschritt wie mit den damit verbundenen Konsequenzen. Nicht ohne Grund wurden die beiden Kernverse – „Die ich rief, die Geister, / Werd’ ich nun nicht los“ (V. 91/92) – zu geflügelten Worten. Wie aber hat es Goethe geschafft, die zwischen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten oszillierende Aussage des dramatisch aufgeladenen Erzählgedichts in bündige lyrische Form zu bringen? Wie ist es ihm gelungen, mit der ironischen Abfertigung des Dilettantismus die drohende Geisterflut der sich technisierenden Welt ins Bewußtsein seiner Leser zu heben? Um diese beiden Fragen beantworten zu können, müssen erst einmal Form und Inhalt in Erinnerung gebracht werden. Der Gesamttext setzt sich aus sieben Doppelstrophen zusammen, die jeweils einen gereimten Achtzeiler mit einem sechszeiligen Refrain verbinden865. Der erzählte Inhalt wird in direkter Rede vermittelt: Wie sein Meister will der Lehrling mit einem 865 Die Achtzeiler bestehen aus verdoppelten Kreuzreimstrophen, die sich aus vier vierhebigen, trochäischen Versen mit klingender Kadenz und vier dreihebigen, trochäischen Versen mit wechselweise klingender und stumpfer Kadenz nach dem Reimschema abab – cdcd zusammensetzen. Dazu kommen die sechszeiligen Refrainstrophen. Sie setzen sich aus vier zweihebigen und zwei vierhebigen, trochäischen Versen mit jeweils klingender Exkurs II  265

Zauberspruch einen Besen in einen Wasserträger verwandeln, kann ihn dann aber nicht mehr aufhalten, weil er das Zauberwort vergessen hat, so daß der Meister ihn in höchster Not retten muß. Soweit das Geschehen. Dabei konzentriert sich der Großteil (V. 1–92) der lyrischen Schilderung auf den Zauberlehrling; allein der letzte Refrain gehört dem rettenden Meister (V. 93–98). Einem emotional stark differenzierten Wortschwall des Lehrlings steht demnach die kurze und klare Aussage des Meisters gegenüber. In dramatischer Abfolge erfahren wir die Selbstüberschätzung des Lehrlings und das aus der verfehlten Geisterbeschwörung erwachsende völlige Scheitern. Wichtigtuerische Überheblichkeit und ein hierdurch bewirkter Machtrausch weichen dabei ziemlich schnell der einsetzenden Angst und Beklemmung, bald auch hilfloser Wut und Verzweiflung, bis dann der Hilferuf im drohenden Fiasko vom rettenden Meister erhört wird. Der Ablauf gliedert sich in drei Teile. Den Anfang bildet die Phase der angeberischen Selbstsicherheit („Und mit Geistesstärke / Thu ich Wunder auch“, V. 7/8). Das geht so von V. 1 bis V. 40. Dann jedoch beginnt, mitten im dritten Refrain866, der Umschlag in Angst, Hilflosigkeit, Wut und Verzweiflung (V. 41–88). Alle Schattierungen des selbstgemachten Übels durchläuft der monologisierende Lehrling in direkt erlebter Rede. Bis dann sein Hilferuf mitten im letzten Achtzeiler den Meister erreicht867 (V. 89–98). Souverän kann der sogleich dem bösen Spuk ein Ende bereiten. Seine Worte stellen die vorherige Ordnung wieder her: „In die Ecke, / Besen! Besen! / Seid’s gewesen. / Denn als Geister / Ruft euch nur, zu seinem Zwecke, / Erst hervor der alte Meister“ (V. 93–98). Mithin kommt es nicht zur Tragödie. Erkennbar hat Goethe seine Darstellung aus ironischem Abstand heraus geschrieben. Der Dilettant hat sich selbst sein Urteil gesprochen. Neben den ästhetisch erzielten Resultaten war das dem Autor noch wichtiger. Das scheinbar versöhnliche Ende darf uns aber nicht täuschen. Es führt nämlich in der Konsequenz zur unmißverständlich hergeleiteten Einsicht, daß angesichts menschlicher Unzulänglichkeit kein Verlaß ist auf die Vernunft und somit tröstliche oder verharmlosende Versicherungen einem Verrat am Menschen gleichKadenz zusammen; Reimschema: abbcac. Die vierzehn Verse jeder Strophe bilden ein Ensemble von insgesamt 98 Versen. 866 Der Refrain lautet: „Stehe! stehe! / Denn wir haben / Deiner Gaben / Vollgemessen! / Ach, ich merk’ es, Wehe! wehe! / Hab’ ich doch das Wort vergessen!“ (V. 37–42) 867 Dort heißt es in höchster Not zu den losgelassenen Geistern und dann im verzweifelt an den Meister gerichterten Anruf: „Und sie laufen! Naß und nässer / Wird’s im Saal und auf den Stufen. / Welch entsetzliches Gewässer! / Herr und Meister! Hör’ mich rufen! – / Ach, da kommt der Meister! / Herr, die Noth ist groß! / Die ich rief, die Geister, / Werd’ ich nun nicht los“ (V. 85–92).

266  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

kommen. Mit Nachdruck hat Goethe hier, ohne auch nur andeutungsweise zu moralisieren, auf die Grenzen blind optimistischer Aufklärung aufmerksam gemacht. Das war eine „dezidiert unzeitgemäße Position“868 seines Denkens. Gleichzeitig gab er zu erkennen, Georg Lukács hat darauf hingewiesen, daß damit sein „aufklärerischhumanistischer, im wesentlichen evolutionärer Standpunkt“869 die herrschende mangelhafte Wirklichkeit genau trifft. Er schrieb ein Warngedicht gegen unser im ‚technischen Zeitalter‘ ungehemmtes Höher-streben-Wollen, als eine dringende Mahnung angesichts „der drohenden Selbstzerstörung der Industriegesellschaft“ (Muschg870) in suizidalem technologischem Größenwahn. Daß Goethe dabei durchaus in planvoller Voraussicht handelte, ja erstaunlich klarsichtiges Zukunftsdenken zu erkennen gibt, zeigt ebenso der zweite Faustteil. Völlig zutreffend konstatierte der bereits erwähnte Karl Rosenkranz schon früh: „Goethe hat in die Zukunft zu dringen versucht und ein positives Bild neuer Zustände entworfen“871. Allerdings stimmt das nur zur Hälfte, weil der Verfasser der „Faust“Dichtung nicht blindlings optimistischen Erwartungen anhing, sondern neben den positiven Entwicklungen auch die negativen Folgen klar erkannte. Mit „Faust“ schrieb er ebenso die Fortschrittstragödie der Menschheit. Der ironisch dem Baccalaureus in den Mund gelegte Monolog macht das sehr deutlich. Er wirkt wie eine Fortführung der Anfangsposition des sich überschätzenden Zauberlehrlings. Der Autor läßt den Baccalaureus großsprecherisch losschwadronieren: Dieß ist der Jugend edelster Beruf ! Die Welt sie war nicht eh’ ich sie erschuf; Die Sonne führt’ ich aus dem Meer herauf; Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf; Da schmückte sich der Tag auf meinen Wegen, Die Erde grünte, blühte mir entgegen. Auf meinen Wink, in jener ersten Nacht, Entfaltete sich aller Sternen Pracht. Wer, außer mir, entband euch aller Schranken 868 So die Formulierung Jaegers ( Jaeger, Michael: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne. Würzburg 2003, S. 14). 869 Lukács, Georg: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe (1934). In: Werke, Bd. 7. Neuwied, Berlin 1964, S. 89–124; Zitat: S. 95. 870 Muschg, S. 108. 871 Rosenkranz, Karl: Ludwig Tieck und die romantische Schule. In: Studien (1847); zit. n.: Hüppauf, Bernd (Hrsg.): Literaturgeschichte zwischen Revolution und Reaktion. Aus den Anfängen der Germanistik. 1830–1870. Frankfurt/M. 1972, S. 25. Exkurs II  267

Philisterhaft einklemmender Gedanken? Ich aber frei, wie mir’s im Geiste spricht, Verfolge froh mein innerliches Licht, Und wandte rasch, im eigensten Entzücken, Das Helle vor mir, Finsterniß im Rücken. (V. 6793–6806)

Hier artikuliert sich realitätsblinde Selbstgewißheit in der exzessiven Form jugendlich-absurder Übertreibung und Anmaßung872. Mephistos Antwort auf diesen Ausbruch des sich genialisch-monumental als „Original“ gebärdenden Nichts nimmt fast gönnerhaft die viele Luft aus dem aufgeblasenen Gehabe („Original, fahr hin in deiner Pracht!“, V. 6807). Der teuflische Repräsentant kann sich danach getrost direkt an das Publikum wenden. Die Bühnenanweisung „Zu dem jüngern Parterre das nicht applaudiert“ (nach V. 6814) ist unmittelbar an das Bewußtsein der im Theatersaal Versammelten gerichtet. Mit Hilfe der Reflexionsdramaturgie sollen die großspurigen Illusionen des Dilettanten für das Parkett bloßgestellt werden. Schöne merkte hierzu richtig an: „Auch die Theateraufführung wird hier eigentlich der Vorstellung des Lesers überantwortet, spielt auf der imaginären Bühne sich ab“873. Blinder Wissendurst schafft eine Situation, aus welcher der ‚unschuldige‘ Dilletant am Ende eindeutig schuldig hervorgeht. Indes figuriert der bornierte Baccalaureus lediglich als Überleitung zu dem „edlen Doktor Wagner“ (V. 6643), dem früheren Famulus und jetzigen Nachfolger Fausts. Der ehrgeizige Direktor des Laboratoriums will von sich reden machen als Schöpfer eines künstlichen Menschen, des Homunculus. Im 1826 verfaßten Schema wird sein alchimistisches Programm wie folgt angekündigt: „Wagners Laboratorium. Er sucht ein chemisch Menschlein hervorzubringen“874. Mit den Worten Wagners im Drama: „Es wird ein Mensch gemacht“ (V. 6835). Was damals vermessen war, wirkt heute, wo Forscher menschliche Embryonen aus normalen Körperzellen züchten, also eine Kopie des Menschen herstellen können, nur noch als jederzeit möglicher, wenngleich strittiger Eingriff in die Natur. Der Wagner von heute ist Chemiker, Atomphysiker, Biotechniker oder Stammzellenforscher zum angeblichen Nutzen der Menschheit oder, wie es im „Faust“-Text heißt, „zu phantastischen Zwecken“ (vor V. 6819). Ohne 872 Das ist nicht weit entfernt von Fausts anfänglichem Bekenntnis zur Selbsttransformation bei der Anrede des Erdgeists: „Schon fühl’ ich meine Kräfte höher, / Schon glüh’ ich wie von neuem Wein, / Ich fühle Mut mich in die Welt zu wagen, / Der Erde Welt, der Erde Glück zu tragen, / Mit Stürmen mich herumzuschlagen / Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen“ (V. 462–467). 873 Schöne 2, S. 503. 874 Schöne 1, S. 630.

268  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Rücksicht auf mögliche Verluste betreibt er seine Forschung. Um seine ethischmoralische Integrität ist es kein Haar besser bestellt als um diejenige des imaginären Vorläufers. Goethe hat diese extreme Konfliktsituation vorhergesehen und deswegen die Problematik um den ethischen Wert der Menschenwürde bewußt dem Faustkosmos zugeordnet. Sein Wagner will „den Menschenstoff gemächlich componiren“ (V. 6851) und rühmt den damit angeblich erzielten ‚Fortschritt‘: „So muß der Mensch mit seinen großen Gaben / Doch künftig höhern, höhern Ursprung haben“ (V. 6846 f.). Dabei kommt bloß „ein artig Männlein“ (V. 6874) in einer gläsernen Phiole zustande („Was künstlich ist, verlangt geschloss’nen Raum“, V. 6884). Den Vorstellungshintergrund hierzu lieferten die Automaten und Gedanken zum Maschinenmenschen, die seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Gemüter bewegten875. Ohnedies geisterten in der Humangeschichte seit Paracelsus Visionen vom künstlichen Menschen herum. Erinnerung und Vorausschau wirkten bei der Erfindung des Homunculus zusammen. Ihn charakterisiert von vornherein, daß er „nur halb zur Welt gekommen“ (V. 8248) ist. Die neue Dramenfigur führt sich selbst als „Vetter“ Mephistos (V. 6885) ein. Das spricht für seine groteske Epiphanie, die ihm ein unheimliches Ambiente beigibt. In der „Classischen Walpurgisnacht“ wird Homunculus sogar die Führung übernehmen und Mephisto vorübergehend ersetzen, bis er beim Meerfest wieder in seinem Element aufgeht. Goethe hat seine Absicht mit dieser Figur genauer beschrieben: „Überhaupt werden Sie bemerken, daß der Mephistopheles gegenüber dem Homunculus in Nachteil zu stehen kommt, der ihm an geistiger Klarheit gleicht, und durch seine Tendenz zum Schönen und förderlich Tätigen so viel vor ihm voraus hat“876. Homunculus kann demzufolge produktiv wirken und ist so dazu befähigt, dem „auf dem Lager hingestreckten“ Faust (nach V. 6902) gedanklich zu folgen. Schwebend über dem liebeskrank Träumenden und ihn beleuchtend, vermag er es, ihm sein Traumbild Helena suggestiv vorzuführen („In’s Leben ziehn die einzigste Gestalt“, V. 7439) und danach ihm und Mephisto den Zugang zur „Classischen Walpurgisnacht“ zu eröffnen. Selbdritt begeben sie sich als „Luftfahrer“ zu den pharsalischen Feldern. Ohne gleich

875 Im damals zivilisatorisch führenden Frankreich entwickelte der Ingenieur Jacques de Vaucanson seit den dreißiger Jahren des 18.  Jahrhunderts eine Reihe von Automaten, die großes Aufsehen erregten. Julien Offray de La Mettrie, Arzt und Philosoph, verfaßte die vieldiskutierte Schrift „L’Homme Machine“ („Der Maschinenmensch“, 1748). Goethe hat in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ vom aufkommenden „Maschinenwesen“ gesprochen. Heutzutage gehören Maschinen-Menschen, Roboter, fast schon zur Alltagswelt. 876 MA 19, S. 339 (zu Eckermann am 16.12.1829). Exkurs II  269

den zweiten Akt als „Homunculus-Akt“877 bezeichnen zu wollen, erlaubt die Einführung des künstlichen ‚Menschen‘, besser: des „wissenden Geistes“878, eine wie selbstverständliche Vertrautheit mit dem antiken Mythos und damit die Gewähr für das Gelingen der mythischen, der „klassisch-romantischen“ Begegnung879 Fausts mit Helena. Doktor Wagner, der bedenkenlose ‚Schöpfer‘ des Homunculus, bleibt sangund klanglos zurück. Damit läßt Goethe die beklemmende Problematik des Humanexperiments zunächst einmal beiseite. Er kommt darauf zurück im Rahmen der im vierten und fünften Akt dargestellten Phänomene der Fortschrittsdynamik und ihrer negativen Implikationen. Die Krisenwarnung als ethische Herausforderung ist für den Augenblick erfolgt. Dem Autor geht es nun um den Zugang zum kulturellen Gedächtnis, hier mit den Gestalten der griechischen Antike und ihrer Mythologie. Kurzerhand kündigt Homunculus darum an: „Jetzt eben, wie ich schnell bedacht / Ist classische Walpurgisnacht“ (V. 6940 f.). Dadurch erst erschließt sich für Faust der geistig-direkte Zugang zu Helena. Insofern ist der künstlich geschaffene Homunculus ein der Sehnsucht entsprungenes Geschöpf, ist belebende Allegorie des Schönen und Schöpferischen im Leben und darum Kunstfigur, „Geist schlechthin“880 oder, wie Goethe anmerkte: „durch eine vollkommene Menschwerdung noch nicht verdüstert und beschränkt“881. Deswegen ist er in der Lage, im weiteren Verlauf des zweiten Aktes nicht ohne Ironie ein geistvolles Spiel zu treiben: die Wiederbelebung der Vergangenheit im zeitsprengenden inneren Leben des faustischen Bewußtseins. Dabei gilt sein Ausruf: „Ich leuchte vor“ (V. 6987). Die dramatische Handlung wird dadurch zur kaleidoskopartig entfalteten allegorischen Bildfolge „im Fabelreich“ mit „neuen Wunderdingen“ (V. 7055 und 7069). Homunculus will voll ins Leben eintreten („Ich schwebe so von Stell’ zu Stelle / Und möchte gern im besten Sinn entstehn“, V. 7830 f.882). Sein Wunsch ist, „verkörperlicht“ (V. 8252) zu werden. In dieser Absicht vertraut er sich den beiden vorsokratischen Naturphilosophen Thales und Anaxagoras an. Beide Ratgeber vertreten die gegensätzlichen Erklärungspositionen der geologischen Voraussetzungen für die Entstehung des irdischen Lebens, die zur Goethezeit als Neptunismus und Vulkanismus diskutiert wurden. Anaxagoras repräsentiert den Vulkanismus („Durch 877 Schöne 2, S. 493. 878 So Trunz (HA 3, S. 555). 879 Der Helena-Akt wurde zunächst unter der Überschrift „Helena, klassisch-romantische Phantasmagorie“ veröffentlicht. 880 HA 3, S. 556. Adolf Muschg bezeichnet ihn richtig als „Kunst-Mensch“ (Muschg, S. 61). 881 MA 19, S. 339 (zu Eckermann am 16.12.1829). 882 Ebenso: „Mir selbst gelüstet’s zu entstehn!“ (V. 7858)

270  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

Feuerdunst ist dieser Fels zu Handen“, V. 7855), während Thales (wie gleichfalls Goethe) dem Neptunismus zuneigt („Im Feuchten ist Lebendiges entstanden“, V. 7856883). Mit ihm setzt Homunculus den weiteren Weg fort. Zuerst treffen sie auf Nereus, den Meeresgott. Der kündigt ihnen das baldige Kommen seiner Tochter, der schönen Galatee, im „Venus Muschelwagen“ (V. 8144) an und verweist sie an Proteus, den „Wundermann“, der weiß, „wie man entstehn und sich verwandlen kann“ (V. 8153). Nachdem Homunculus den „Proteus-Delphin“ (nach V. 8326) bestiegen hat, gelangt er im Trubel des Meerfests zum Muschelwagen der Galatee, an dem er in liebender Vereinigung – „Jetzt flammt es, nun blitzt es, ergießet sich schon“ (V. 8473) – „funkelnd zerschellt“ (V. 8475). Es ist ein magisches Verschwinden. Das „zerschellende“ Ende bedeutet zugleich sein Fortleben in der organischen Naturkraft, ganz im Sinne des Gedichts „Selige Sehnsucht“ und des dort verkündeten Prinzips von „Stirb und werde“884: Tod und Wiedergeburt in Liebe. Deswegen kann danach das große Bekenntnis zum Fest um die Meeresgöttin als Fest des Lebens und der Liebe hymnisch anheben mit dem Gesang der Sirenen, der dann im chorischen Finale „All Aller“ endet und damit den zweiten Akt mit dem Bekenntnis zum „schöpferisch organischen Leben“885 ausklingen läßt: Die Körper sie glühen auf nächtlicher Bahn, Und ringsum ist alles vom Feuer umronnen; So herrsche denn Eros der alles begonnen! Heil dem Meere! Heil den Wogen! Von dem heiligen Feuer umzogen; Heil dem Wasser! Heil dem Feuer! Heil dem seltnen Abentheuer! All Alle!

Heil den mildgewognen Lüften! Heil geheimnißreichen Grüften! Hochgefeiert seid allhier, Element’ ihr alle vier! (V. 8477–8487)

Wohl dem, der solch ein glühendes Lebenscredo noch im hohen Alter intensiv erschallen lassen und die vom Vollmond beschienenen „Felsbuchten des ägäischen Meers“ damit vor den Augen des Publikums zum Rahmen des Triumphs der Liebe 883 Ebenso: „Alles ist aus dem Wasser entsprungen! / Alles wird durch das Wasser erhalten!“ (V. 8435 f.) 884 Vgl. hierzu Schöne 2, S. 529. 885 Trunz (HA 3, S. 563). Exkurs II  271

ausrufen kann. Hierzu gilt, was Muschg einmal zu Goethes Schreiben anmerkte: „Die Poesie ist der Code, der das Mögliche bewahrt“. Ebensowichtig ist jedoch sein Zusatz: „Das ist aber auch eine Anweisung zum Widerstand gegen das, was uns heute alltäglich bedroht: die Vereisung durch Sachzwänge, den Tod im Leben, den Untergang der Menschheit – zuerst der Menschlichkeit – im Absterben der Phantasie; die Verzweiflung, die sich immer noch als Leistung, als Fortschritt des Bruttosozialprodukts präsentiert“886. Angewandt auf Homunculus heißt das: Er wird im Drama zur Metapher der Zeugung und des Werdens verwandelt. Aber das ist nicht alles. Die vorgeführte poetische Transsubstantiation des Homunculus veredelt zwar den bedenklichen Versuch der Begabtenzüchtung des Doktor Wagner. Goethe sah darin jedoch ebenso das gefährliche Sinnbild der Sucht nach einem generellen Lebenszustand ewigen Fortschreitens. Denn Homunculus bleibt Erzeugnis jener mephistophelisch „begabten Manns Natur- und Geisteskraft“ (V. 4896), an der die negativen Implikationen eines gewaltsamen Vorgehens gegen die Natur im kollektiven Bewußtsein haften. Sie bilden zusammen mit der künstlichen Wertschöpfung durch die Einführung des Papiergelds im ersten Akt, dem teuflischen Kriegsspiel im vierten und dem gewaltsam durchgesetzten Kultivierungsprojekt im fünften Akt eine durchlaufende Linie von Fausts Taten, die zu Untaten geraten. Wie man sieht, ist die Faust-Dichtung nicht allein auf die Ich-Erweiterung und die All-Liebe des Schlusses hin angelegt, sondern ebenso ein Drama der Gefährdung des Menschen durch den Menschen. Faust folgt seinem „unbedingten Willen zur extremen und schließlich extremistischen Tat“887. Seine Katastrophen bedrohen uns heute in verstärkter Form. Zur Innensicht der Faust-Figur gehört die Außensicht der ihn umgebenden Realität, in der er sich unbeirrbar höchst ambivalent betätigt. Durchweg fallen die Ergebnisse seines Tuns desillusionierend aus. Überall ist Gewalt im Spiel. Bedenkenlos, wie er die Wissensgewinnung betreibt, folgt Wagner auch seinem Tatendrang. Im Kriegsgeschehen um Kaiser und Gegenkaiser gilt wie selbstverständlich das von Eilebeute verkündete Motto: „Im Sieg voran! Und alles ist erlaubt“ (V. 10536). Aus dem Munde Fausts heißt das diplomatisch: „Es schadet nichts, wenn Starke sich verstärken“ (V. 10542). Auch das große Projekt der Landgewinnung – „Herrschaft gewinn’ ich, Eigenthum!“ (V. 10187) – kostet den hohen Preis gewaltsamer Durchsetzung. Das rücksichtslose Vorgehen beim Kolonisierungsprojekt führt zu Mord und Totschlag. Fausts Wege des Wissens führen in die Irre, weil sie mit einem menschlichen Beziehungsdefekt gekoppelt sind. Darum Goethes scharfsichtige, in die Zukunft weisende Kritik. Er sah voraus, was unbedingtes Wissen-Wollen und bedenkenlose Wertschöpfung nach sich ziehen. Der Verfasser des 886 Muschg, S. 98. 887 Jaeger, a.a.O., s. Anm. 868, S. 544 f.

272  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

„Faust“ würde heute wohl, ohne zu zögern, Hannah Arendt beipflichten, die aus dem Dilemma des unbedingten Wissen-Wollens folgerte, daß „der anscheinend unwiderstehliche technische Fortschritt … die Existenz ganzer Volksgruppen und potentiell die der Menschheit, ja des organischen Lebens überhaupt“ bedroht888. In die gleiche Richtung ging auch Goethes Denken. Denn er gehört, wie Hannah Arendt, zu den Humanethikern besonderer Qualität.

Zur Aufführungspraxis: Erste Aufführungen von „Faust I“ Goethe selbst äußerte sich eher skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit, mit seinem Fauststück beim Publikum auf Verständnis zu stoßen. Zu seinem englischen Besucher, dem Ingenieuroffizier Captain Hutton, der gerade „Faust“ zu lesen im Begriff war, sagte er 1825 unzweideutig: „Es ist tolles Zeug und geht über alle gewöhnlichen Empfindungen hinaus. … Faust ist ein so seltsames Individuum, daß nur wenige Menschen seine inneren Zustände nachempfinden können. So der Charakter des Mephistopheles ist durch die Ironie und als lebendiges Resultat einer großen Weltbetrachtung wieder etwas sehr Schweres“889. Dementsprechend gering waren seine Erwartungen hinsichtlich einer theatralischen Umsetzung. Kurz und bündig beschied er den Berliner Generalintendanten Graf von Brühl 1812 mit dem warnenden Hinweis: „An Faust wird schon seit einigen Jahren probirt, es hat aber noch nicht gelingen wollen. Er steht gar zu weit von theatralischer Vorstellung ab“890. Dennoch stellte er, wie schon angedeutet, für eine 1809 vorgesehene Hausvorführung des ersten Faustteils Überlegungen an, mit Hilfe der Technik des chinesischen Schattenspiels den Text in theatralische Bilder zu fassen. Ebenso findet sich in einem Brief an den Berliner Freund Zelter zweieinhalb Jahre nach dem Erscheinen von „Faust I“ die überraschende Nachricht: „Schließlich melde, daß uns ein seltsames Unternehmen bevorsteht, nämlich den Faust aufzuführen, wie er ist [das heißt: in der Fassung von 1808], insofern es nur einigermaßen möglich werden will“891. Doch das Vorhaben zerschlug sich ebenso wie der zwei Jahre später von Riemer und dem Schauspieler Pius Alexander Wolff entwickelte Plan einer Inszenierung am Weimarer Hoftheater. Goethe notierte in den „Tag- und Jahresheften“ hierzu: „… wodurch der Dichter verleitet ward mit diesem Gegenstand sich abermals zu beschäftigen, manche Zwischenscenen zu bedenken, ja sogar Decorationen und sonstiges Erforderniss zu 888 889 890 891

Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. München, Zürich 1970, S. 20. Zu Eckermann am 10.1.1825 (MA 19, S. 121). WA IV.25, S. 293 (an Brühl am 1.5.1815). WA IV.21, S. 419 (an Zelter am 18.11.1810). Zur Aufführungspraxis: Erste Aufführungen von „Faust I“  273

entwerfen“892. Obwohl der Aufführungsversuch zu nichts führte, ist die Eintragung insofern interessant, als sie belegt, daß der skeptische Autor durchaus gewillt war, über praktische Möglichkeiten für eine theatralische Darbietung im Rahmen der damaligen begrenzten Möglichkeiten nachzudenken. Zu diesem Zweck entwarf er sogar mehrere szenische Skizzen893. Allerdings standen der Ausführung große bühnentechnische Schwierigkeiten entgegen. Erst zum achtzigsten Geburtstag Goethes wurde eine Aufführung des ersten Faustteils in Weimar Wirklichkeit. Der Dichter nahm an der Aufführung aber nicht teil894. Eine gelegentlich als Uraufführung von „Faust I“ bezeichnete Veranstaltung fand im Juni 1820, mithin zwölf Jahre nach dem Erscheinen der Druckfassung, im heute nicht mehr vorhandenen Schloß Monbijou in Berlin895 statt. Es handelte sich aber bloß um eine Liebhaberaufführung von Teilen der Tragödie für den Hofkreis in der Regie von Graf Brühl mit der dazu komponierten Musik des Fürsten Anton Radziwill896. Melodramatisch wurden Kernszenen der Gelehrtenhandlung und der Gretchentragödie mit musikalischer Untermalung dargeboten. Goethe verfaßte sogar eigens eine zusätzliche Szene mit einem Auftritt Amors und zweier Teufelchen897. Daß er von dieser Inszenierung einiges erhoffte, zeigt die an Brühl gerichtete höchst lobende Äußerung: „Nur mit solcher Genialität und Vorliebe konnte das Geschäft

892 „Tag- und Jahreshefte“ vom November 1812 (zit. n.: Gräf, II.2, S. 263). 893 Aus der Zeit der Aufführungsplanungen um 1810 stammen drei Zeichenskizzen Goethes zum Prolog im Himmel, zum Studierzimmer und zu einem alchimistischen Labor sowie danach vier weitere Skizzen zur Erscheinung des Erdgeists, zur Hexenküche und zur Walpurgisnacht. 894 Goethe notierte am 29.8.1929, also am folgenden Tag, im Tagebuch: „Abends allein. Aufführung von Faust im Theater“ (WA III.12, S. 119). 895 Das am nördlichen Ufer der Spree gelegene Schloß wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört. Trotz heftiger Widerstände wurde die Ruine auf Beschluß der DDR-Regierung 1959 abgerissen. 896 Fürst Anton von Radziwill (1775–1833) hatte Goethe schon im April 1814 in Weimar besucht und ihm dabei auf dem Cello Teile seiner Komposition vorgespielt. Ihm schwebte eine Aufführung in der Art des Monodramas vor. Dem Verfasser der gerade von Goethe selbst inszenierten „Proserpina“ leuchtete dieser Gedanke sehr ein. Nach einer Art Generalprobe der Komposition für Soli, Chor und großes Orchester am 24.5.1820 im Palais Radziwill erfolgte zwei Wochen später die Aufführung im Schloß Monbijou. Vgl. hierzu auch: Allers, Hans-Hellmut: ‚Erlaubt ist, was gefällt‘. Der Dramatiker Goethe und seine Beziehungen zum Berliner Theater. Berlin 2004, S. 135–138 (‚Faust in Berlin‘). 897 Vgl. hierzu: Schöne 1, S. 584–588.

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glücklich angegriffen werden“898. Um so größer war dann die Enttäuschung über den ausbleibenden Erfolg. Das Berliner Experiment schien die Auffassung zu bestätigen, in der „Faust“Tragödie lediglich ein Lesedrama zu sehen, das sich bestenfalls durch malerische und zeichnerische Illustrationen optisch nachvollziehbar übertragen lasse. Hatte doch Goethe selbst bekannt: „Angeregt, den Faust wieder hervorzunehmen; allein, was ich auch tat, ich entfernte ihn [Faust] mehr vom Theater als daß ich ihn herangebracht hätte“899. August Wilhelm Schlegel faßte die verbreitete Skepsis ironisch mit den Worten zusammen: „Um Goethes ‚Faust‘ aufzuführen, müßte man Fausts Zauberstab und Beschwörungsformeln besitzen“900. Indes beweisen die vielen zeitgenössischen Illustrationen zu „Faust I“901, daß es durchaus möglich ist, den Text in gestisch einprägsame Bilder zu übertragen. Zuerst ist hier der Leipziger Ratsherr Christian Ludwig Stieglitz zu nennen, der gleich nach dem Erscheinen des Buches verschiedene Sepiazeichnungen anfertigte und Goethe zuschickte. Das veranlaßte diesen zu der brieflichen Äußerung: „Dem Dichter kann nichts angenehmeres begegnen, als wenn er auf eine so bedeutende Weise erfährt, daß ihm die Einbildungskraft des Lesers entgegen arbeite“902. Genau das war die ihm vorschwebende Rezeptionshaltung in Einklang mit seiner Konzeption der Bewußtseinsdramaturgie. Gleichfalls mit Illustrationen zu „Faust I“ traten zwischen 1810 und 1816 die folgenden Maler hervor: 1810 Ludwig Gottlieb Carl Nauwerck, 1811–1815 Gustav Heinrich Naecke, 1816 Friedrich August Moritz Retzsch und Peter von Cornelius. Zufrieden konnte Goethe 1817 registrieren: „… wir könnten ein langes Register von Kunstwerken liefern die aus demselben [Faust] geschöpft worden“903. Weitere Illustrationen sollten bald danach noch folgen904. Der Germanist Julius Petersen bemerkte dazu richtig: „Die Bildkunst sprang ein für die fehlende Bühne; sie erfaßte das Sichtbare des theatralischen Gehaltes in sinnlicher Prägung; sie erlebte die Vision der scharf umrissenen Erscheinungen; sie verlieh den Gestalten des Faust, des Mephistopheles, Gretchens und der Frau Marthe ihre charakteristischen Physiognomien und Kostüme; sie stellte 898 WA IV.31, S. 164 (an Brühl am 2.6.1819). 899 JA 30, S.  49 (Annalen oder Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, 1796). 900 Schlegel, August Wilhelm von: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Hrsg. v. Edgar Lohner. Zweiter Teil. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1967, S. 279. 901 Zuvor gab es bereits die am „Fragment“ orientierte Zeichnung von Asmus Jacob Carstens, „Faust in der Hexenküche“ (1796). 902 WA IV.21, S. 189 (an Christian Ludwig Stieglitz am 18.2.1810). 903 WA I.49.1, S. 44 (Neu-deutsche religiös-patriotische Kunst). 904 Hingewiesen sei lediglich auf Carl Gustav Carus, Friedrich Georg Kersting, Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld und natürlich Eugène Delacroix. Zur Aufführungspraxis: Erste Aufführungen von „Faust I“  275

diese Figuren in Gruppen vor einen szenischen Hintergrund: damit gab sie allen Einzelheiten der Erscheinung einen so bestimmten Umriß, daß spätere Bühnentradition zunächst nicht anders konnte, als sich der Führung der Bildkunst zu überlassen“905. Vor allem die anregenden Bildserien von Retzsch und Cornelius wurden bei der Aufführung in Berlin 1819 und auch später zu Rate gezogen. In gewisser Weise eröffneten hauptsächlich sie die Möglichkeit für die theatralischchoreographische Verbildlichung des dramatischen Ablaufs in „belebten Bildern“906. Erst Anfang 1829, mithin volle zwei Jahrzehnte nach der veröffentlichten Druckfassung, kam es zur wirklichen Uraufführung in Braunschweig. Der mittlerweile achtzigjährige Goethe war damals dabei, den weit umfänglicheren zweiten Faustteil abzuschließen. Allerdings war es wiederum keine reine Uraufführung, sondern in Wahrheit lediglich die deutsche Erstaufführung. Vorausgegangen waren Aufführungen in London 1825 und in Paris 1828. Jedoch ist auch das hinsichtlich der Aufführung von „Faustus. A Romantic Drama“ im Londoner ‚New Theatre, Drury Lane‘ zu relativieren. Denn bei dieser Inszenierung handelte es sich um eine sehr freie Bearbeitung von George Soane, nach Goethes Vorbild mit wörtlichen Anklängen in Verse gesetzt. Immerhin wurde der Maler Eugène Delacroix durch den Besuch dieser Aufführung zu seinen Illustrationen angeregt („Es ist der Faust von Goethe, aber arrangiert; das Wesentliche ist erhalten“907). – Die Pariser Aufführung 1828 im ‚Théâtre de la Porte Saint-Martin‘ folgte der schon 1823 veröffentlichten, von Goethe nachdrücklich gebilligten Übersetzung von „Faust I“ durch den in Paris lebenden Schweizer Albert Stapfer. Gleichzeitig mit der Aufführung erschien, unter Beifügung der Illustrationen von Delacroix, als vierter Band der Übersetzungen sämtlicher Dramen Goethes die Stapfersche Übertragung beider Faustteile (als Vorabdruck auch der schon fertigen Teile von „Faust II“). Diese Eindrücke sowie ein Artikel von Jean-Jacques Ampère in der progressiven Zeitschrift ‚Globe‘ regten wiederum Charles Gounod zu seiner 1859 uraufgeführten Faust-Oper („Margarethe“) an908. Vorausgegangen war eine Komposition von Hector Berlioz, der 1828/29 „Huit scènes de Faust“ musikalisch ausgestaltete und an Goethe schickte, der sie mit anerkennen905 Petersen, S. 7 f. 906 WA 13.1, S. 118. 907 Die Aussage von Delacroix im Brief an einen Freund ist von Georg Hensel überliefert (Hensel, Georg: Glücks-Pfennige. Lustvolles Nachdenken über Theater, Literatur und Leben. Frankfurt/M., Leipzig 1995, S. 74). 908 Vgl. hierzu: Marquart, Lea: Goethes ‚Faust‘ in Frankreich: Studien zur dramatischen Rezeption im 19. Jahrhundert. Heidelberg 2009; ebenso: Langkavel, Martha: Die französischen Übertragungen von Goethes Faust. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Übersetzungskunst. Straßburg 1902.

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dem Kommentar an den Freund Zelter weiterleitete909. Aus der Fortführung dieses Themas nach der 1828 erschienenen Übersetzung von „Faust I“ durch Gérard de Nerval entstand dann die 1846 in der ‚Opéra-Comique‘ uraufgeführte Oper „Fausts Verdammnis“ („La damnation de Faust“). Es ist also nicht zuviel gesagt, wenn man konstatiert, daß das Ausland den Deutschen in der theatralischen Faust-Rezeption ein gutes Stück zuvorgekommen ist. Doch lassen wir es bei der eingebürgerten Annahme der deutschen Uraufführung in Braunschweig am 19. Januar 1829. Regie führte der romantische Schriftsteller und Direktor des Braunschweiger Hoftheaters Ernst August Friedrich Klingemann910. Bezeichnenderweise vertrat der Theaterfachmann die verbreitete Meinung, Goethes „Faust“ sei nicht für die Bühne geschrieben. Er hatte sich deshalb selbst um eine theatralische Version des Themas bemüht. Sie fand das Interesse des regierenden Erzherzogs Karl von Braunschweig. Als der jedoch erfuhr, daß es ein solches Stück von Goethe gebe, ordnete er jene Aufführung an, die zur deutschen Uraufführung werden sollte. Klingemann machte aus Goethes Text eine „Tragödie in sechs Abtheilungen … für die Bühne redigiert“911. Die von ihm dergestalt „redigierte“ Fassung war stark zusammengestrichen. Er wollte eine Aufführungsdauer von nicht mehr als vier Stunden erreichen und als erfahrener Regisseur unbedingt die Zahl der Umbauten reduzieren. Deshalb verzichtete er auf die drei Präludien sowie auf die Szenen „Gretchens Stube“, „Am Brunnen“, „Walpurgisnacht“ und „Nacht. Offen Feld“. Sogar die Monologe Fausts wurden verkürzt, Örtlichkeiten umgestellt und der Titelheld als rücksichtsloser Egoist am Schluß kurzerhand in die Hölle verdammt. Diese grobschlächtige Verfahrensweise hatte freilich den Vorzug, gut eingängig zu sein. Außerdem erwies es sich für das Verständnis des Publikums als hilfreich, daß Klingemann seine Bewegungsregie und Kostümgestaltung an den Illustrationszyklen von Retzsch und Cornelius orientierte. Der Erfolg dieser übel zusammengestrichenen, jedoch szenisch einprägsamen Bühnenfassung gab ihm recht. Seine Inszenierung wurde sogar ins Repertoire übernommen und über mehrere Spielzeiten hinweg in Braunschweig erfolgreich gespielt912. Sie wurde deshalb auch außerhalb als Modell­ 909 Zelter reagierte mit einem vernichtenden Urteil, so daß Goethe die Sache nicht weiter verfolgte. 910 Ernst August Friedrich Klingemann (1777–1831), der bekannte Hoftheaterdirektor und Schriftsteller der Romantik. Zur Uraufführung vgl.: Parenth, Ulrich: Wie Goethes ‚Faust‘ auf die Bühne kam. Braunschweig 1986. 911 So der Wortlaut des Besetzungszettels der Uraufführung (zit. n.: Mahl, S. 19). Eduard Schütz war der erste Goethesche Faust der Theatergeschichte, Heinrich Marr spielte den Mephisto, Wilhelmine Berger das Gretchen. 912 Sogar nach Klingemanns Tod 1831 wurde die Inszenierung weiter gespielt. Die Gretchenrolle übernahm bei der Wiederaufnahme Sophie Schütz-Höffert. Zur Aufführungspraxis: Erste Aufführungen von „Faust I“  277

inszenierung angesehen. Schnell sprach sich das in Theaterkreisen herum. Mit einem Schlag wollte man nun plötzlich Goethes „Faust“ spielen, zumal es galt, den achtzigsten Geburtstag des Autors feierlich zu gestalten. Man hielt sich hierbei an die Braunschweiger Schrumpffassung. Noch im selben Jahr kam es neben- und nacheinander zu stark an Klingemanns Bearbeitung orientierten Aufführungen in Dresden, Frankfurt am Main913, Hannover, Leipzig und auch in Weimar914. Damit war „der Tragödie erster Teil“ endlich für die Bühne gewonnen. Nebenbei sei bemerkt, daß Goethe sich indirekt an der Weimarer Inszenierung beteiligte, obwohl er mit den aus Rücksichtnahme auf Religion und Moral vorgenommenen Streichungen keineswegs einverstanden war. Julius Petersen hat darauf aufmerksam gemacht mit dem Hinweis: „er [Goethe] veranstaltete eine Leseprobe, studierte mit La Roche [dem damals in Weimar arbeitenden Schauspieler Carl von La Roche] die Rolle des Mephistopheles und ließ den anderen Darstellern durch Eckermann Winke für die Auffassung ihrer Rollen zugehen“915. Keineswegs läßt das auf ein von manchen vermutetes Desinteresse schließen. Allen erwähnten Inszenierungen lagen Bearbeitungen zugrunde, durchweg mit peinlichen, von Kirche und Obrigkeit bestimmten ‚Prüderiestreichungen‘. Goethes „Faust“ galt nach damaliger Vorstellung nämlich als Produkt der Unmoral und der Blasphemie. Sowohl in Dresden wie in Leipzig spielte man die Bearbeitung Ludwig Tiecks mit entsprechenden Streichungen und Änderungen. An beiden Orten wurden die Aufführungen nach der Première sogar erst nach weiteren Eingriffen wieder freigegeben. Selbst in Weimar zollte man der „Pfaffenheit“, wie der lobenswerte Kritiker Ludwig Bechstein916 formulierte, den nötigen Tribut. Wie absurd diese 913 In Frankfurt beschränkte man sich auf die szenische Lesung ausgewählter Textpartien durch einige Schauspieler. Vgl. hierzu: Pfeiffer-Belli, Wilhelm (Hrsg.): Die erste Frankfurter Faust-Aufführung. Zur Erinnerung an den 27. August 1829. Frankfurt/M. 1929. 914 In der unmittelbaren Folgezeit sind zu erwähnen: Inszenierungen von Carl Seydelmann in Stuttgart (1832), von Karl Immermann in Düsseldorf (1835), von Karl Stawinsky in Berlin (1838), von Johann Ludwig Deinhardstein in Wien (1832 und 1839), von Heinrich Laube in Wien (1849) und von Franz Dingelstedt in München (1851). Vgl. hierzu auch: Mahl, S. 31–38. 915 Petersen, S. 18. 916 Ludwig Bechstein (1801–1860), der Schriftsteller und Bibliothekar in Meiningen, veröffentlichte 1831 Vorschläge für eine Bühnenfassung von „Faust  I“ unter dem Titel: „Die Darstellung der Tragödie Faust von Göthe auf der Bühne. Ein zeitgemässes Wort für Theaterdirektionen, Schauspieler und Bühnenfreunde“. Er setzte sich für eine textgetreue Wiedergabe ein und kritisierte, durchaus im Sinne Goethes, vor allem die bisherigen Inszenierungen mit ihren unangemessenen Streichungen aus politischen und religiösen Gründen.

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Streichungen waren, zeigte Petersen am Objekt. Er registrierte: „Da mußten nicht allein alle Nennungen Gottes beseitigt werden, sondern auch die Liebesszenen wurden für den Gebrauch der Töchterschule zurecht gemacht. Gretchen durfte nicht ‚heut Nacht‘, sondern nur ‚noch heut‘ in Fausts Armen ruhen; ‚Brust an Brust‘ wurde in ‚Blick in Blick‘, ‚Busen‘ in ‚Mund‘ und das ‚Strumpfband‘, das Fausts Liebeslust ersehnt, in ein ‚Armband‘ verwandelt“917. Die Kirche durfte keinen ‚großen Magen‘ und Faust nicht einmal ‚leider auch‘, sondern bloß ‚zuletzt auch‘ Theologie studiert haben. Solche Prüderie wurde zum üblichen Maßstab der Zensur, teilweise bereits der Selbstzensur der Bearbeiter. Im Grunde waren diese Eingriffe erste Anzeichen für die alsbald einsetzende ideologische Vereinnahmung des Faust-Dramas, die leider über lange Zeit hin die Bühnenrezeption in Deutschland bestimmen sollte. Wie es dazu kam, verrät der Blick auf einen in fataler Weise lobenden Artikel Friedrich Hebbels aus dem Jahr 1849. Der Verfasser der „Nibelungen“ bezeichnet da, sicher in bester Absicht, Goethes „Faust“ als „das wunderbare Gedicht, das alle Eigenschaften unseres Nationalcharakters abspiegelt“918. Gründlicher kann man die Wirkungsabsicht des Autors mit seinem Faust als Inkarnation des suchenden Geistes, der individuellen Selbstgestaltung und der normbrechenden Liebe nicht verkennen. Goethe hatte sich ein humanistisches Weltgedicht ausgedacht. Statt dessen propagierte, noch weit schlimmer als Hebbel, der inzwischen zum Direktor des Wiener Burgtheaters aufgerückte Franz Dingelstedt 1876 im Zeichen der Bismarckschen Reichsgründung Goethe als den „deutschesten aller Dichter“ und den „Faust“ als das „deutscheste aller Werke“, ja als „die zweite Bibel unserer Nation“919. Die von ihm geplante Faust-Trilogie sollte nicht an drei aufeinanderfolgenden Tagen, sondern an einem einzigen Tage als ein Festspiel zu Ehren des Dichters aufgeführt werden. In gleicher Absicht forderte Richard Wagner den Bau eines deutschen ‚Faust-Festspiel-Theaters‘ als einer Art Volksbühne920. Derlei gehörte zu seiner völlig unrealistischen Erwartung, die Politik 917 Petersen, S. 18, ebenso: GH 2, S. 525. 918 Hebbel, Friedrich: Sämtliche Werke, hrsg. v. Hermann Krumm. Bd.  11 Leipzig o.J., S. 103 f. („Faust von Goethe“, ‚Wiener Reichszeitung‘, 1849). 919 Dingelstedt, Franz: Eine Faust-Trilogie. Dramaturgische Studie. Berlin 1876, S. 95 und 50. 920 Wagner schwebte dabei eine Parallelkonstruktion zum Bayreuther Festspielhaus vor. S. hierzu: Wagner, Richard: Über die ‚Goethestiftung‘. Brief an Franz Liszt (1850). In: ders.: Dichtungen und Schriften. Hrsg. v. Dieter Borchmeyer. Bd. 6. Frankfurt/M. 1983, S. 326–341, vor allem S. 338–340. Der Komponist beschäftigte sich lebenslang eingehend mit Goethes Faustdichtung. Bekanntlich plante er eine Faust-Sinfonie. Er führte allerdings nur den Anfangssatz zu Ende, als seine „Faust-Ouvertüre“ (1855). Interessanterweise verfolgte ein anderer Komponist, Bernd Alois Zimmermann, für seine Oper Zur Aufführungspraxis: Erste Aufführungen von „Faust I“  279

werde in der künftigen Gesellschaft durch die Kunst ersetzt. Von ihm stammen auch die zeittypisch markigen Worte zu „Faust“: ein „symbolisches heiliges Buch. … Das deutsche Monument, das deutsche Meisterwerk“921. Solch chauvinistische Zuspitzung war entschieden zuviel und – von Richard Wagner so sicher nicht gewollt – Indiz des beginnenden Verrats an der humanistischen Kernidee des Faustdramas und damit Indiz einer grundfalsch eingeschlagenen Richtung in Gestalt einer ‚faustischen Ideologie‘922. Was scheinbar harmlos anfing, etwa in Oskar Walzels Aufsatz von 1909, „Goethe und das Problem der faustischen Natur“, setzte sich alsbald fort bis hin zur anmaßenden Identifikation inhumaner Machtausübung mit dem vorgeblich ‚Faustischen‘. Es war dann nicht mehr weit zur perversen Verzerrung der völlig von Goethe abgelösten Faustgestalt im Dritten Reich mit dem Anspruch des „deutschen Menschen, der in titanischem Kampf neues Land für sein Volk gewinnt“923, und weiter zum völlig geistlosen Mißbrauch Goethes durch Walter Ulbricht, der sich 1962 nicht scheute, angesichts der kommunistischen Herrschaft der Partei über das Volk zu sagen, in der DDR werde der dritte Teil der Faustdichtung geschrieben. Offenkundige Mißdeutungen und Verbiegungen des Goetheschen Textes wurden so zu propagandistischen Schlagworten gemacht, die über Schuld und Verbrechen in der nationalsozialistischen und der kommunistischen Diktatur hinwegtäuschen sollten. Diese ‚faustische Ideologie‘ hat sich leider auch des deutschen Theaters bemächtigt – in der Hitlerdiktatur und ebenso im ‚real existierenden Sozialismus‘ der DDR. Zum Glück gab es in beiden Fällen auch Ausnahmen.

„Die Soldaten“ (nach dem Drama von Jakob Michael Reinhold Lenz) den Traum von einem Theater als „Großraumgefüge, … in dem alles, auch das Publikum ‚mobil‘ sein sollte“ (zit. n.: Hagedorn, Volker: ‚Mitten durch die Eingeweide‘. In: Die Zeit, Nr. 40/2013, 26.9.2013). Er hätte sich dabei auch auf Goethes „Faust“-Dramaturgie berufen können. 921 Zit. n.: Wagner, Cosima: Die Tagebücher. Bd. 1 (1869–1877). Ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack. München, Zürich 1976, S. 417. 922 Paradoxerweise stammt die grundlegende ideologiekritische Darstellung „Faust und das Faustische“ von einem früheren Verfechter der nationalsozialistischen Ideologie. Manche sehen darin den Beweis einer Wandlung, andere – zu denen sich der Vf. zählt – eine strategisch überlegte, salvierende Anpassung an die neuen politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik: Schwerte, Hans (d.i. Schneider, Hans Ernst): Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1962. 923 So im Programmheft des Hamburger Schauspielhauses 1940 unter der Regie von Karl Wüstenhagen (zit. n.: Mahl, S. 127).

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Exemplarische Aufführungen von „Faust I“ bis 1933 Aus der Fülle von Inszenierungen auf sämtlichen deutschsprachigen Bühnen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts können in diesem Zusammenhang nur einige herausragende Aufführungen herausgegriffen werden, die als stilbildend gelten können. Von vornherein ist dabei zu bedenken, daß es sich durchweg um Bearbeitungen, also um mehr oder weniger zusammengestrichene Fassungen handelt. In der Regel waren Bearbeitungen unumgänglich, weil die Regisseure mit den begrenzten Möglichkeiten der Guckkastenbühne arbeiten mußten. Um dem abzuhelfen, machte Richard Wagner, dieser „fanatische Szeniker“, wie Thomas Mann ihn bezeichnete924, den wegweisenden Vorschlag, einen zum Publikum hin in jeder Hinsicht offenen Bühnenraum zu schaffen, zumal das den Schauspielern erlaube, natürlich zu spielen. Aufgetragenes Pathos, wie es damals üblich war, störte den Schöpfer pathetischer Musik gewaltig. Aufgrund seines besonderen Interesses an der Faustdichtung stellte er kontinuierlich Überlegungen an, wie man den vielschichtigen Text „in das Gebiet einer wahrhaft sinnigen theatralischen Poesie erheben“ könnte925. Als einer der wenigen damals machte er die von Goethe entwickelten innovativen dramaturgischen Ausdrucksmöglichkeiten zur Grundlage seiner Überlegungen. Cosima Wagner beschreibt in ihrem Tagebuch, wie ihr Mann sich beispielsweise den Anfang der Walpurgisnacht theatralisch ausmalte. Es heißt da über eine „Besprechung der Bühne“ für diese Szene: „… beim Spaziergang müßte sich der Boden umdrehen und verschiedene Landschaften gezeigt werden. Faust und Mephisto scheinbar gehen, eine Art Podium wie im Circus sein und für diese eine Szene das Stadttor vorstellen, für den Tanz können sie herunter. Es schadete nichts, wenn auch Vorgänge hinter dem Zuschauer vor sich gingen, das Umdrehen des Publikums belebte den Vorgang, sie wären Teilnehmende. … Vieles müßte nur angedeutet sein“926. Das sind präzise Angaben für eine offene, Publikum und Darsteller miteinander verbindende Bühnenwiedergabe in der von Goethe geforderten „Art von productiver Imagination“927. Richard Wagner hat den szenischen Rahmen für die im Text vorgegebene Strategie des Bewußtseinstheaters richtig erfaßt und aufgegriffen. Seine Vorschläge fußen auf der von Goethe für notwendig erachteten Re-Theatralisierung der zeitgenössischen Bühne im Sinne einer imaginativen, dynamischen und antiillusionistischen Dramaturgie. 924 Mann, Thomas: Gesammelte Werke, Bd. X: Reden und Aufsätze 2 („Versuch über das Theater“), 2. A. Frankfurt/M. 1974, S. 4. 925 Wagner, Richard: Über Schauspiel und Sänger. Leipzig 1872, S. 35. 926 Cosima Wagner, s. Anm. 921, S. 592 f. (Eintragung vom 7.11.1872). 927 WA I.22, S. 180. Exemplarische Aufführungen von „Faust I“ bis 1933  281

Sogar der aufs Erzählen fixierte Thomas Mann empfahl 1908 unter Berufung auf Wagner den Verzicht auf die theatralische „Raum-Naturalistik“ des ausdruckschwächenden, reliefartigen Szenenbilds der Guckkastenbühne zugunsten einer „neuen Szene“, auf welcher Offenheit und „das Symbol, die künstlerische Andeutung“ die Bühnenausstattung bestimmen. Ausdrücklich berief er sich dabei auf Goethes „Faust“, dergestalt, „daß etwa der ‚Prolog im Himmel‘ erwachsenen Menschen mit leidlicher Würde und ohne den Aufwand an Gazewolken und Perspektivenschwindel … wird vorgeführt werden können“928. Da jedoch aus dem Wagnerschen Projekt eines „Faust“Festspielhauses nichts wurde, blieben die damit verbundenen, durchaus produktiven Ideen noch geraume Zeit unausgeführt. Ab dem Jahr 1849 mit der ersten szenischen Inszenierung auch des zweiten Faustteils in Dresden wurde wiederholt der Versuch gemacht, bei den Aufführungen wenigstens Teile daraus einzubeziehen. Darauf wird später noch einzugehen sein. Für den Augenblick gilt das Interesse ausschließlich der Präsentation von „Faust I“. Goethes moderne dramatische Denk- und Nachdenkpoesie stellte bereits im ersten Faustteil ungewohnte Ansprüche an den damaligen Theaterbetrieb. Man braucht, um das zu erkennen, sich bloß die Erscheinung des Erdgeists zu vergegenwärtigen oder die Walpurgisnacht und den Walpurgisnachtstraum mit der eingestreuten Huldigung an Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ („Oberons und Titanias goldne Hochzeit“). Nicht ohne Grund ging der Autor sogar so weit zu sagen: „Es ist nichts theatralisch, was nicht für die Augen symbolisch wäre“929. Ihn interessierte eben vornehmlich die „Sinnhaftigkeit des verinnerlichten Erlebens“930 und damit das Typische und Symbolische. Diese Entwicklungsstufe war Ergebnis einer über Jahrzehnte reichenden, allmählichen Umorientierung von der scheinbar idealtypisch ‚klassischen‘ „Iphigenie“ zu den singulären, vorrangig zukunftsgerichteten dramaturgischen Lösungen im „Faust“. Zwangsläufig aber hatte die Umorientierung zum Symbolischen für den leidenschaftlichen Dramatiker die schmerzliche Erkenntnis im Gefolge, daß die zeitgenössische, eher statische Bühnenpraxis keine akzeptable Darstellung derartiger dramaturgischer Herausforderungen erlaubte. Goethe nahm das bewußt in Kauf. Unbeirrt verfolgte er den einmal eingeschlagenen gestalterischen Weg dynamischer Dramaturgie. Das war im übrigen auch gemeint mit der Bemerkung zu Eckermann: „… In den neunziger Jahren … war die eigentliche Zeit meines Theater-Interesses schon vorüber und ich schrieb nichts mehr für die

928 Mann, s. Anm. 924, S. 59. 929 WA I.42.2, S. 251. 930 So Werner Keller (Keller, Werner: Das Drama Goethes. In: Hinck, Walter (Hrsg.): Handbuch des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980, S. 133–156; Zitat: S. 141).

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Bühne“931. An der unwiderlegbaren Gegebenheit von Goethes ständigem Umgang mit dem Medium des Dramas änderte das freilich nichts. Als der Dichter so zu Eckermann sprach, steckte er mitten in den Schlußarbeiten für den zweiten Faustteil – wohlgemerkt entschieden als Dramatiker. Dabei fällt auf, wie zielstrebig Goethe nach Möglichkeiten suchte, bestehende Grenzen zu überschreiten. Es ist gewiß kein Zufall, daß er gegen Ende seines Lebens dramaturgische Lösungen entwickelte, deren Innovationsgrad seiner Zeit weit voraus war. Die mit „Iphigenie“ und „Tasso“ gewonnene aktivierende Kommunikationsstruktur des Bewußtseinstheaters dehnte er nun auf die breiteren und tieferen, zeitlich und räumlich unbegrenzten Erfahrungsinhalte der Faustdichtung aus. Gerade die Ausweitung des theatralischen Horizonts zur Totale macht Goethe zu einem wichtigen Initiator des modernen Dramas und Theaters. Die Bühnenpraktiker jener Tage konnten diesen Vorgaben naturgemäß nur sehr allmählich folgen. Einer von ihnen, Franz Dingelstedt, merkte dazu selbstkritisch an: „die Theateruhr geht immer langsam, oft nach, bleibt auch gern stehen“932. Eine wesentliche treibende Kraft, um die stehengebliebene „Theateruhr“ für Goethes Faustdichtung wieder in Gang zu bringen, war zweifellos Richard Wagner mit seinen Gedanken zu einer angemessenen „Faust“-Aufführung. Um jedoch das Verdikt ‚nicht bühnengerecht‘ außer Kraft zu setzen, bedurfte es einer Umorientierung auf breiter gesellschaftlicher Grundlage. Den Anfang machten die von August Klingemann angeregten Bearbeitungen etlicher Hof- und Stadttheater. Leider geschah das allemal mit verkürzten oder gar verstümmelten Bruch-Stücken von Goethes Tragödie. 1875 jährte sich Goethes Eintreffen in Weimar zum hundertsten Mal. Zur würdigen Ausgestaltung dieses Anlasses wählte der von 1873 bis 1876 dort tätige Otto Devrient (1838–1894) eine Inszenierung beider Teile der Faustdichtung als „ein Mysterium in zwei Tagewerken“, mithin als Festspiel, das er in jährlichem Turnus regelmäßig aufzuführen gedachte. Bewußt sollte diese Veranstaltung vom normalen Spielplan abgehoben bleiben. Im Mai 1876 wurden beide Teile an zwei Abenden aufgeführt. Devrient übernahm nicht nur die Ausarbeitung der Bühnenfassung, er führte auch Regie und spielte die Rolle Mephistos933. In den folgenden Jahren kamen, wegen des beträchtlichen Aufsehens, das diese Unternehmung fand, zahlreiche Besucher nach Weimar, um die Darbietung auf der dreifach gestuften ‚Mysterienbühne‘934 931 Zu Eckermann am 26.7.1826 (MA 19, S. 164). 932 Dingelstedt, s. Anm. 919, S. 106. 933 Neben Devrient in der Rolle des Mephistopheles spielten Paul Brock (Faust) und Marie Gündel (Gretchen). 934 Die Mysterienbühne Devrients ist dreiteilig gegliedert in Vorderbühne, Oberbühne (‚Brücke‘ genannt) und einen als ‚Zinne‘ bezeichneten weiteren Aufbau. Es handelt sich Exemplarische Aufführungen von „Faust I“ bis 1933  283

miterleben zu können. Diese Bühnengliederung erlaubte organische Szenenübergänge und einen weithin flüssigen Zeitablauf des Geschehens. Devrients Spielfassung erschien auch bald gedruckt935, so daß leicht nachgewiesen werden kann, wie er sich den ersten Faustteil bühnengerecht vorstellte. Auf „Vorspiel“ und „Prolog im Himmel“ ließ er, leider von Goethes freier Szenenkomposition mit Zwischentiteln abweichend, fünf Akte folgen: 1. Akt: Studierzimmer, „Nacht“, 2. Akt: Osterspaziergang, Studierzimmer-Szenen, einschließlich Schülerszene, 3. Akt: „Auerbachs Keller“, „Hexenküche“, Gretchentragödie bis zur Szene „Ein Gartenhäuschen“, 4. Akt: von „Gretchens Stube“ bis „Dom“ (ohne „Wald und Höhle“), 5. Akt: „Walpurgisnacht“, „Trüber Tag. Feld“ und „Kerker“ (ohne den „Walpurgisnachtstraum“). Das war ein kapitaler Verstoß gegen die dramaturgische Architektur eines brüchigen, zugleich aber in sich durchgegliederten Aufbaus. Abgesehen von jener unglücklichen Zusammenballung der Einzelszenen mit ihrem jeweils eigenen Gestus zum unangemessenen festen Aktionsrahmen der fünf Akte, ist es aber Devrient gelungen, den Text Goethes wirkungsvoll in gut nachvollziehbare theatralische Anschauung und ebenso in ein eingängiges Bild- und Klangerlebnis zu überführen. Bühnenbild und Musikbegleitung trugen viel zu der vom Publikum bejubelten Gesamtwirkung bei. Devrients Inszenierung wurde von einer ganzen Reihe von Theatern übernommen. Seine Einrichtung hielt sich bis ins Jahr 1904, also fast über drei Jahrzehnte. Den heutigen Betrachter der Bilddokumente dieser Aufführungen stört der allenthalben praktizierte, idyllisch-neogotische Bühnenrealismus, der sich noch bis über die Jahrhundertwende hinaus fortsetzte. Der Krakauer Germanist und Theaterwissenschaftler Wilhelm Creizenach stellte einerseits mir Recht lobend fest: „So ist auch sein Inscenierungsversuch gerade richtig gekommen zu einer Zeit, in welcher über die Einheit der Faustdichtung so viel debattiert wird und wie man auch über diese Einheit denken mag: die Consequenz, mit welcher Devrient mit seiner Bearbeitung der einzelnen Theile auf das Ganze festzuhalten sucht, hat etwas Imponirendes“. Hingegen lehnte Creizenach die „halbmystische Bedeutung“936 dieser Inszenierung entschieden ab. Er nahm damit vorweg, was ebenso den Literaturwissenschaftler und Theaterhistoriker Georg Witkowski störte: „Aber ein Grundmangel haftet doch seiner [Devrients] Einrichtung an, jene Schrulle der Mysterienbühne. … Die Bezeichnung ‚Mysterium‘ verführt zum Suchen nach einer geheimnisvollen, tiefsinnigen Weisheit, einer Idee, die sich hinter den bunten Bildern verbirgt und sich nur dem Eingeweihten enthüllt, und leitet so vom richtigen Ver-

also um eine vertikale Simultanbühne. Vgl. hierzu: Petersen, S. 35 und GH 2, S. 526. 935 Goethe’s Faust. Für die Aufführung als Mysterium in zwei Tagewerken. Bearbeitung von Otto Devrient. Karlsruhe 1877. 936 Creizenach, S. 54 f. und 56.

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ständnis ab“937. So berechtigt diese Kritik ist, muß man andererseits bedenken, daß – wie das Beispiel Richard Wagners zeigt – ein Weihetempel für Goethes „Faust“ eben durchaus dem Zeitgeist entsprach. Näher am normalen Theaterbetrieb bewegte sich die Kontrastinszenierung beider Teile 1877 durch Hermann Müller, Oberregisseur am Theater in Hannover938. Dieser uneitle, engagierte Spielleiter war darum bemüht, weitgehende Texttreue zu gewährleisten, also möglichst wenige Streichungen vorzunehmen. Deswegen dehnte sich bei ihm die Gesamtaufführung auf vier Abende aus. Sogar „Faust I“ wurde auf zwei Abende verteilt. Die erste Hälfte umfaßte die Szenen vom „Vorspiel“ bis zur „Hexenküche“, die zweite Hälfte die gesamte Gretchentragödie, einschließlich der „Walpurgisnacht“ (unter Weglassung des „Walpurgisnachtstraums“)939. Als problematisch für die Rezeption erwies sich der große Zeitaufwand von vier aufeinanderfolgenden Abenden. Manche Kritiker lobten demgegenüber die vorsichtige Strichfassung Devrients. Das war der Lohn für die von Müller angestrebte weitgehende Vollständigkeit des Goethe-Textes. Immerhin hat sich diese vom Publikum vorwiegend zustimmend aufgenommene Inszenierung über die Jahrhundertwende hinaus im Spielplan des Theaters in Hannover gehalten. Das unter der Leitung von Raphael Löwenfeld um das klassische Repertoire bemühte Berliner Schiller-Theater hat 1900 bewußt die Müllersche Fassung übernommen, weil man gleichfalls die pädagogischen Impulse dieser dramaturgischen Konzeption vermitteln wollte. Philologen wie Georg Witkowski gaben deshalb der in Hannover geübten respektvollen theatralischen Arbeit mit dem Text Goethes den Vorzug vor der verbreiteten Devrient-Tradition willkürlicher Strichfassungen. Zwischen den Polen des Weihespiels in der Art von Devrients Spielweise und dem mehr intuitiv angelegten, realistischen Regietheater Müllers bewegten sich die nachfolgenden Inszenierungen in kritikloser Übernahme noch mehrere Jahrzehnte hindurch. In der Regel rückten sie die in sich geschlossenen Aktionen der Gretchentragödie in das Zentrum der Aufführungen von „Faust I“. So kam es, daß die Rolle der weiblichen Hauptfigur meist gegenüber der Titelgestalt größeres Eigengewicht bekam. Zudem litten die Faust-Interpretationen häufig unter der nur schwer auszu937 Witkowski, Georg: Goethes ‚Faust‘ auf dem deutschen Theater. In: Bühne und Welt. 4/1901, S. 96. 938 Die Premiere fand vom 17. bis 20.3.1777 an vier Abenden statt. Vgl. hierzu: Erklärung der Faust-Vorstellungen am Königlichen Theater zu Hannover. Mit Benutzung der von Prof. Heinrich Duentzer herausgegebenen ‚Erläuterungen‘, zusammengestellt von Hermann Mueller. Hannover 1877. 939 Vgl. hierzu: Kilian, Eugen: Goethes Faust auf der Bühne. Beiträge zum Problem der Aufführung und Inszenierung des Gedichtes. München, Leipzig 1907, S. 8. Exemplarische Aufführungen von „Faust I“ bis 1933  285

gleichenden Spannung zwischen dem bärtigen Gelehrten im Studierzimmer zu Beginn und dem jugendlichen, stürmisch-sinnenfrohen Liebhaber Gretchens nach dessen Verjüngung in der „Hexenküche“. Reich differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten zwischen abgefeimt-düsterer Bosheit, derber Schalkhaftigkeit und ironischer Weltläufigkeit bot besonders die Rolle des Mephistopheles. Die überlieferten Abbildungen der Theatergeschichte mit den verschiedenen Interpretinnen und Interpreten veranschaulichen das sich durchsetzende Klischeehafte in aller Deutlichkeit. Sie zeigen, daß es nicht selten an der reflexiven Inszenierung des Spiels haperte. Statt den dramaturgischen Vorgaben zu folgen, verwendete man mehr Aufmerksamkeit auf chargierendes Spiel, Kostüme und szenische Einrichtung sowie auf pathetische Deklamation, teilweise sogar auf publikumswirksame Balletteinlagen und Musikbegleitung. Äußerlichkeit und Bequemlichkeit ersetzten die notwendige kritische Auseinandersetzung mit den Problemen der Zeit. Darum verfehlte man gründlich den auf Reflexion setzenden künstlerischen Ausdruck Goethes. Jedenfalls unterblieb nun weithin die Rücksichtnahme auf kirchliche und staatliche Zensur. Respekt vor Goethes Text setzte sich immerhin allmählich durch. Jedoch verkam die theatralische Umsetzung eben nicht selten zu bloßer Routine. Den notwendigen konzeptionellen Neuansatz in der Bühnengeschichte von „Faust I“ brachte dann die 1909 realisierte Einstudierung von Max Reinhardt (1873–1943) am Deutschen Theater Berlin940. Seine Regie war darum bemüht, mimische Phantasie und realistische Darstellung miteinander zu verbinden. Er setzte die durchdachte Detailregie jeder Rolle und deren Funktion im Zusammenspiel der Darsteller durch. Darin bestand die anregend-kreative Seite seiner Arbeit. Außerdem war er bestrebt, durch systematische Beschränkung von Streichungen eine möglichst vollständige Spielfassung zu vermitteln. Weil es ihm um die Illusion der Wirklichkeit, um Emotionalität und kulinarisches Erleben ging, sagte der Theaterkritiker Herbert Jhering über ihn: „Reinhardts Phantasie war die Phantasie des Naturalisten“941. Ernst und Leichtigkeit bestimmten im Verein das von ihm inszenierte publikumsnahe Spiel. 940 Die Premiere fand dreimal hintereinander in wechselnder Besetzung statt: am 25.3., am 31.3. und am 3.4.1909 im Deutschen Theater Berlin. Diese Inszenierung hielt sich, wie auch die des zweiten Faustteils, mehr als zehn Jahre im Spielplan. Nachdem Reinhardt als Jude Nazi-Deutschland verlassen mußte, entschloß er sich zu einer Neuinszenierung im Rahmen der von ihm mitbegründeten Salzburger Festspiele (Premiere am 17.8.1933). Auch im amerikanischen Exil realisierte er am 23.8.1938 eine Faust-Aufführung seiner Theaterschule für die kalifornischen Festspiele in Hollywood. 941 Jhering, Herbert: Der Kampf ums Theater und andere Streitschriften 1918 bis 1933. Berlin 1974, S. 106.

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Charakteristische Auswirkung seiner dynamisch-illusionistischen Inszenierungspraxis war die Einbeziehung neuer technischer Möglichkeiten. Brecht rühmte vor allem die konzentrierenden „Reinhardtschen Lichteffekte“942. Reinhardt war es auch, der die Ausdrucksmöglichkeiten der Drehbühne erfaßte und konsequent nutzte. Seine „Faust“-Inszenierung hat dadurch Maßstäbe gesetzt943. Die neue Bühnenform944 erlaubte rasche Szenenwechsel unter Beibehaltung realistischer Bühnenausstattung. Das kam der Abfolge zahlreicher, teilweise sehr unterschiedlicher Einzelszenen im ersten Teil der Faust-Dichtung zugute. Reinhardt konnte mit seiner Bühnen-Metaphorik die charakteristische dynamische Symbolik des Textes sowie dessen dramaturgisch vorgegebene Kommunikationsimpulse zur eindringlichen Illusion eines wirklich theatralischen Schau-Platzes steigern. Fausts sehnsüchtiges Streben und Irren, Gretchens innige Liebe und bittere Verzweiflung sowie die antreibende Gegenkraft des zielstrebigen Verderbers Mephistopheles wurden unter seiner konzentrierenden Regieführung für die Zuschauer zum sinnlich-emotional nachvollziehbaren Erlebnis. Für eine wesentlich andere Akzentsetzung entschied sich Leopold Jessner (1878– 1945)945. Der überzeugte Republikaner und Sozialist war im Dezember 1919 zum Nachfolger des Grafen von Hülsen als Intendant an das nun nicht mehr königliche, sondern staatliche Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt berufen worden. Der politisch engagierte Regisseur wollte einen wirklichen Neubeginn herbeiführen, aber mit einem kulturellen Programm, das seinen progressiven Anspruch nicht zuletzt auf der Grundlage des klassischen Erbes erfüllen sollte. Selbstverständlich gehörte dazu die Faustdichtung. Nur zu gerne hätte Jessner beide Teile in Szene gesetzt. Er hat es bloß geschafft, „Faust I“ aufzuführen. Schon in seiner Zeit als Leiter des Königsberger Theaters hatte er zur ersten Friedensweihnacht 1918 bewußt dieses Drama gewählt. 1923 folgte seine Inszenierung in Berlin mit Carl Ebert als Faust, Eugen

942 Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Bd. 3. Frankfurt/M. 1963, S. 81. 943 Passow, Wilfried: Max Reinhardts Regiebuch zu Faust I. Untersuchungen zum Inszenierungsstil auf der Grundlage einer kritischen Edition. München 1971; ebenso: Böhm, Guido: Max Reinhardt inszeniert Goethes Faust – Berlin 1909. München 2002. 944 Die Drehbühne bestand aus sieben ungleichen Kreissegmenten. Die unterschiedliche Breite der einzelnen Bildausschnitte ermöglichte eine große Variabilität der Örtlichkeiten. Sie erlaubte es ebenso, in die Höhe gehende Bühnenräume aufzubauen (vgl. hierzu: Mahl, S. 97 f.). 945 S. hierzu: Heilmann, Matthias: Leopold Jessner. Intendant der Republik. Der Weg eines deutsch-jüdischen Regisseurs aus Ostpreußen. Tübingen 2005. Exemplarische Aufführungen von „Faust I“ bis 1933  287

Klöpfer als Mephistopheles und Gerda Müller als Margarete946. Jessner wollte Schluß machen mit der Dominanz des Gretchenteils und ging deshalb dazu über, das gesellschaftlich bedeutsame Lebensdrama der Leitfigur wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Fest war er davon überzeugt: „Der deutsche Bürger begriff vom ‚Faust‘ im Wesentlichen die Gretchentragödie, und auch da empfand er kaum die Tragödie, sondern begriff die Friedrich-Wilhelminische-Moral, die eine Unzüchtige zu Tode brachte“947. Jessner suchte die Tragödie Fausts. Für ihn war das der Wesenskern von Goethes Drama. Darauf konzentrierte er die Intensität seines radikalen Kunstwillens. Bertolt Brecht merkte dazu lobend an: „So wird Goethes Faust zu Jessners Faust“. Seine Anerkennung galt dem „Heraushacken von organischen Teilen“ aus dem Text948. Denn Jessner verkürzte die Monologe Fausts949, ersetzte die Erscheinung des Geistes in der Flamme durch einen rings um die Bühne aufgestellten Chor, den Pudel durch Donnerschläge, nahm für die Kerkerszene den Prosatext aus dem „Urfaust“, um nur einige typische Eingriffe zu erwähnen950. Das war Teil seiner auf Konstruktivismus und Abstraktion zielenden, versachlichenden Wort- und Bildregie. Sie lebte von der rhythmisch geballten Sprache, symbolischen Gesten und einer exakten Choreographie sowie von der bewußt reduzierten Bühnenarchitektur im Verein mit einer jeweils atmosphärisch bestimmenden Lichtbewegung. Dahinter stecken Strenge, Genauigkeit, Konzentration, Einfachheit und dabei zugleich Tempo und Typik. Diese Faust­ interpretation wirkte düster, ja dämonisch. Jessner legte sie hauptsächlich auf den Trauerspielschluß hin an. Nicht ohne Grund gab Goethe selbst zu bedenken, „daß der erste Teil aus einem etwas dunkelen Zustand des Individuums hervorgegangen“

946 Die Königsberger Premiere fand am 21.12.1918 statt, die Berliner Premiere am 13.4.1923. Im dortigen Schillertheater erfolgte 1928 eine Wiederaufnahme in der Besetzung Walter Frank (Mephistopheles), Erwin Kaiser (Faust), Maria Paudler (Margarete). 947 Jessner, Leopold: Schriften. Hrsg. v. Hugo Fetting. Berlin 1979, S.  280 („Der Krückstock“). 948 Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 21. Frankfurt/M. 1992, S. 285 (Artikel zur „Faust“-Premiere im ‚Berliner Börsen Courier‘ vom 13.4.1923). 949 Alfred Döblin schrieb dazu am 21.4.1923 in seiner Rezension der Premiere im ‚Prager Tagblatt‘: „Die Monologe, die jeder auswendig kann, sind nur so zusammengeschmolzen. … Jeßners Szenen knapp und eindringlich, völlig für den Geist der Dichtung. … Er hat robust als Theaterfachmann aus dem gefühl- und gedankenwuchernden Werk die Handlung herausgearbeitet“ (Döblin, Alfred: Werkausgabe, Bd.  II: Kleine Schriften. Olten 1990, S. 241). 950 Eine genaue Beschreibung der szenischen Abläufe bietet Müllenmeister (Müllenmeister, Horst: Leopold Jessner. Geschichte eines Regiestils. Diss. Köln 1956, S. 62 f.).

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sei951. Dem folgte Jessner. Der Hell-dunkel-Gegensatz bildete die konsequente Grundlage seiner Regiekonzeption. Daraus erwuchs für das Publikum ein neuer, produktiv anregender Wahrnehmungshorizont. Mit Recht befand Jhering: „Jessner inszeniert aus der Form“952. Damit forderte er das intensive Mitdenken der Theaterbesucher heraus953. Ihm ging es nicht um psychologische Durchdringung (wie beispielsweise Max Reinhardt), sondern um die Wiedergabe des gelebten Dunkels scheiternder Entgrenzungsversuche und der tragisch auslaufenden Ambivalenz der Faust-Sehnsucht. Darin bestand das Novum. Es hatte den Vorteil, Mitdenkende ästhetisch und thematisch zu überzeugen. Eine wiederum gänzlich andere Wirkung ging von der 1926 herausgebrachten FaustVerfilmung Friedrich Wilhelm Murnaus (1888–1931) aus. Über das Medium Film wurden neue Publikumsschichten angesprochen. Zwar sparte der Titel „Faust. Eine deutsche Volkssage“ bewußt den Hinweis auf Goethe aus. Obgleich es sich um einen Stummfilm handelte, orientierte sich der Regisseur dennoch in erster Linie an Goethes Text. Freilich ging es dabei darum, das Geschehen in rasch wechselnde Bildfolgen zu übertragen. Hierfür war „Faust“ gut geeignet, weil der Augenmensch Goethe dem Visuellen in seiner Gestaltung der Faust-Handlung besonders breiten Raum gegeben hat. Jedoch ist der Sonderfall des Stummfilms, der das Wort auf Drehbuch und eingefügte Titel beschränkt, im Hinblick auf die dramaturgische Struktur von besonderem Interesse. Szenengliederung, Bildmontage, Kameraeinstellung, mögliche Doppelbelichtungen, Trickaufnahmen und Schnitt führten nämlich zu einem Resultat, das wie Goethes Dramenkonstruktion auf den Ausdrucksmitteln der Reflexionsund Kommunikationsdramaturgie beruht. Auf der Grundlage von Volksbuch, Marlowes Drama („The Tragical History of the Life and Death of Doctor Faustus“) und vor allem von Goethes erstem Teil der Faustdichtung gelang es Murnau, filmische Sequenzen zu schaffen, die naturgemäß nicht auf sprachlicher, sondern auf bildlicher Ausdruckskraft beruhen. Der französische Film- und Theaterregisseur Eric Rohmer hat in seiner Untersuchung von Murnaus Faustfilm ausdrücklich dessen „malerischen Aspekt“ hervorgehoben954. Weil es sich jedoch um bewegte Bildfolgen handelt, 951 Zu Eckermann am 3.1.1830 (MA 19, S. 347). 952 Jhering, s. Anm. 941, S. 178. 953 Jhering kritisierte das mit der Behauptung, daß Jessner „das Publikum unterjocht“ ( Jhering, S. 180). Döblin hingegen vertrat die Auffassung: „Die Aufführung strotzte übrigens von glänzenden Regieeinfällen Jeßners. Das … Publikum fand sich schwer zurecht. Aber man wagte nicht zu rebellieren“ (Döblin, s. Anm. 949, S. 242). 954 Rohmer, Eric: Murnaus Faustfilm. Analyse und szenisches Protokoll. München, Wien 1980, S. 31. Exemplarische Aufführungen von „Faust I“ bis 1933  289

ergeben sich überraschende Parallelen zur dramaturgischen Anlage von Goethes Drama. In beiden Fällen handelt es sich um eine Dramaturgie, die den Zuschauer bzw. den Filmbesucher aktivieren will. Der Charakter einer zum Mitdenken auffordernden Modellierung des Geschehens steht dabei im Vordergrund. Wie Jessner ging Murnau bei seiner atmosphärischen Gestaltung vom Kampf zwischen hell und dunkel, zwischen Licht und Schatten aus. Wie dieser Theaterkollege kontrollierte der Filmemacher deswegen die Darstellung seiner Schauspieler955 bis ins Detail. Das gab der Arbeit beider Künstler die überzeugende bildliche Ausdruckskraft. Beiden gelangen visuell vertiefte, zeitgemäße Klassik-Verdichtungen. Eine letzte überregional aufmerksam verfolgte Inszenierung von „Faust I“ stammt wiederum von Max Reinhardt. Der Mann, der das Berliner Theaterleben ein Vierteljahrhundert hindurch entscheidend beeinflußt hatte, sah sich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler als Jude gezwungen, wie übrigens auch Jessner, Deutschland zu verlassen. So kam es in Salzburg zu einem theatralisch faszinierenden Experiment. Denn Reinhardt, der zu den Gründern der dortigen Festspiele gehörte, hatte die provozierende Idee, im damals noch nicht zum Einflußgebiet der Nationalsozialisten gehörenden Österreich, dicht an der Grenze zu Deutschland, den ersten Teil von Goethes Tragödie auf seine Art zu spielen. Bei der Suche nach einer möglichst großen Simultanbühne stieß er auf die Felsenreitschule. Der Architekt Clemens Holzmeister baute ihm dort eine ‚Faust-Stadt‘, die es erlaubte, die szenischen Errungenschaften der Drehbühne großflächig-simultan auszuspielen. Der breit ausladende, bis zu zwanzig Meter hohe Spielort bot eine Vielfalt szenischer Möglichkeiten als Neben-, Über- und Untereinander. Das war – in Anlehnung an mittelalterliche Aufführungspraktiken auf öffentlichen Plätzen – eine für Reinhardts Illusionstheater geradezu ideale Spielstätte. Er erläuterte die damit verbundene Erwartung wie folgt: „Indem wir den Schauplatz aller Geschehnisse gleichzeitig zeigen, dem Besucher gegenüberstellen und ohne zeitliche Pausen ineinanderfließen lassen, schaffen wir jene nahe Verbindung, die notwendig ist, um den Faust und alles Geschehen als Wirklichkeit empfinden zu lassen. … Kein Vorhang trennt die Zuhörer von den Menschen, die bald hier, bald dort redend erscheinen, alles wird zur Wirklichkeit“956. Wieder wartete Reinhardt mit einer neuen Besetzung auf. Ewald Balser spielte den

955 Die Darsteller im Film waren Gösta Ekman (Faust), Emil Jannings (Mephistopheles) und Camilla Horn (Gretchen). Das Drehbuch schrieb Hans Kyser. 956 Max-Reinhardt-Forschungsstätte Salzburg (Hrsg.): Max Reinhardt. Sein Theater in Bildern. Velber bei Hannover 1968, S. 123.

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Faust, Max Pallenberg den Mephisto957 und Paula Wessely das Gretchen. Durch ihr streng koordiniertes Zusammenspiel erzielten sie einen durchschlagenden Erfolg. Versuche der nationalsozialistisch gelenkten Presse, die unbestreitbar intensive Wirkung dieser Aufführung als Zirkus, Revue oder Kitsch abzutun, vermochten die erzielte Leistung Reinhardts nicht zu schmälern. Kurz danach mußte er jedoch erfahren, daß er als Intendant des Deutschen Theaters abgesetzt sei. Erwin Piscator kommentierte das Ende der Berliner Karriere dieses Vollbluttheatralikers mit der bitter-ironischen Bemerkung, „‚Faust II‘ habe nicht mehr in der Felsenreitschule aufgeführt werden können, da Hitler ein noch größerer Regisseur als Reinhardt gewesen sei“958. Es folgte jener beispiellose Einschnitt in der kulturellen Entwicklung Deutschlands, der über die Theaterlandschaft hinaus das gesamte öffentliche Leben in diktatorisch-lähmende Kontrolle und vereinseitigende Ideologisierung überführte. Doch bevor dieses traurigste und kläglichste Kapitel deutscher Geschichte von den „Faust“-Inszenierungen her zu betrachten ist, muß noch die Aufführungsgeschichte des zweiten Faustteils in die Betrachtung einbezogen werden.

Zu einigen Aufführungen von „Faust II“ bis 1933 Besondere Schwierigkeiten bereitete den Bühnen die dramaturgische Anlage des zweiten Faustteils. Nur zu gerne nahmen die Theaterleute Abstand von Inszenierungen mit dem Hinweis, es handle sich um ein reines Lese- oder Buchdrama959. Goethe selbst war indes davon überzeugt, in dramaturgischer Hinsicht nicht zu weit gegangen zu sein. Wiederholt stellte er konkrete Überlegungen an, wie sein Text in szenische Wiedergabe umgesetzt werden könnte960. Einschränkend ließ er allerdings Eckermann wissen: „Aber das Ganze ist viel zu groß und erfordert einen Regisseur, wie es deren nicht leicht gibt“. Mit dieser Bemerkung traf er den Nagel auf den Kopf. Die damit verbundene Skepsis dehnte er sogleich ebenso auf die Theaterbesucher aus: „Geht nur und laßt mir das Publikum, von dem ich nichts hören mag. Die 957 Nach dem Tod Pallenbergs 1934 übernahmen Raoul Aslan und dann Werner Krauß diese Rolle. 958 Zit. n.: Mahl, S. 122. 959 Sogar der Germanist Wilhelm Creizenach vertrat noch 1881 die Auffassung, dem Autor sei bei der Arbeit an „vielen Stellen“ von „Faust II“ offenbar „der Bühnenhorizont entschwunden“ (Creizenach, S. 50). 960 Beispielsweise sah Goethe für die Rolle des Homunculus einen Bauchredner vor; ebenso könne ohne weiteres im ‚großen Karneval‘ ein Elefant auftreten: „Es würde [eben] ein sehr großes Theater erfordern“ (MA 19, S. 343; zu Eckermann am 20.12.1829). Zu einigen Aufführungen von „Faust II“ bis 1933  291

Hauptsache ist, daß es geschrieben steht; mag nun die Welt damit gebaren, so gut sie kann, und es benutzen, soweit sie es fähig ist“961. Mit guten Gründen entschloß sich der Autor deshalb, das Manuskript zu versiegeln. Logischerweise kann man das nur so deuten, daß er diesen Text durchaus nicht seiner Gegenwart zutraute, er also für die Umsetzung auf der Bühne lediglich in der Zukunft gewisse Chancen sah. Der dann doch von Eckermann und Riemer durch die vorzeitige Buchveröffentlichung gleich nach Goethes Tod eingeleitete Rezeptionsvorgang hat Goethes Zweifel weithin bestätigt. Er folgte eben seiner realistischen Einschätzung der ästhetischen Kompetenz des gesellschaftlichen Umfelds. Seine einzige Hoffnung ging, wie gesagt, dahin, ein Werk geschaffen zu haben, das „gewiß denjenigen erfreuen“ werde, „der sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung versteht“962. Mehr erwartete er nicht. Aber im Grunde war das natürlich sehr viel. Nicht umsonst vertrat er im Bereich der Kunst grundsätzlich die Überzeugung: „allein es ist schwer und erfordert einiges Studium, ehe man den Dingen beikommt und ehe man mit eigener Vernunft die Vernunft des Autors wieder herausfindet“963. In besonderer Weise gilt das für die anspielungsreiche Bewußtseinsdramaturgie und damit für die auf allerhöchsten Anspruch setzende kommunikative Struktur des zweiten Faustteils. Vor dem Hintergrund notwendiger Erkenntnisleistung seitens der Rezipienten vom Regisseur bis zum einzelnen Zuschauer erklären sich Schwierigkeiten und Hemmnisse der theatralischen Umsetzung gerade dieses komplexen Kernelements des Dramas. Immerhin fehlte es nicht an Versuchen, wenigstens Teile von „Faust II“ auf die Bühne zu bringen. Den Anfang machte der zur Weiterarbeit Goethes am „Hauptgeschäft“ ständig anspornende Johann Peter Eckermann. In bester Absicht verfiel er auf die allerdings wenig glückliche Idee, aus dem ersten Akt ein Drama in fünf Akten mit dem Titel „Faust am Hofe des Kaisers“ zu machen. Ihm schwebte eine Fausttrilogie vor, zusammengesetzt aus „Faust I“ und einer zweigeteilten Bearbeitung von „Faust II“. Zwar trug er damit der Dimension des Gesamttextes Rechnung, doch konnte sich dieses Bruchstück beim Weimarer Publikum 1834 und auch bei den angeschriebenen Theatern von Berlin, Dresden und Hamburg nicht durchsetzen. Die Ablehnung des Dresdner Hoftheaters lauete unzweideutig: „Ein verunglückter Versuch. An Handlung, Intrigen und Verwicklung ist gar nicht zu denken. Und welches Theater soll imstande sein, alle diese Rollen zu besetzen?“964 Zugleich ist daran zu ersehen, wie beschränkt die materiellen Möglichkeiten auch der größeren

961 962 963 964

MA 19, S. 343 (zu Eckermann am 20.12.1829). WA IV.49, S. 64 (an Sulpiz Boisserée am 8.9.1831). MA 19, S. 558 (zu Eckermann am 18.4.1827). Notiz aus den Akten des Hoftheaters (zit. n.: Kalde, S. 20).

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Theater zu jener Zeit waren. Enttäuscht durch diese Erfahrungen, nahm Eckermann Abstand von weiteren Versuchen, „Faust II“ für die Theater zu erschließen. Immerhin riskierte fünfzehn Jahre danach die Dresdner Bühne auf Initiative von Karl Gutzkow (1811–1878) eine Aufführung von dessen Bearbeitung des HelenaKomplexes unter dem Titel „Der Raub der Helena“. Ungeachtet seiner grundsätzlichen Ablehnung machte Gutzkow, wie er sagte, damit zu Goethes hundertstem Geburtstag 1849 den „Versuch, theatralisch Brauchbares aus dem zweiten Teil des ‚Faust‘ festzuhalten und wiederzugeben“. Seine Version beschränkte sich auf wenige Verse aus der ‚Classischen Walpurgisnacht‘ und den Helena-Akt, dargestellt als ein von Mephisto initiiertes Traumerlebnis Fausts. Nicht nur die Weglassung Euphorions, sondern auch die übermäßige Einsetzung von Bühnenmusik sollten die von ihm vertretene Konzeption „märchenhafter Voraussetzungen“965 stützen. Jedoch verfehlte seine Bearbeitung damit völlig Gestaltung und Wirkungsabsicht von Goethes Text. Sie kam einer Versündigung ohne Gnade und Rücksicht im Stil mancher Entgleisungen des heutigen ‚Regietheaters‘ gleich. – Nur noch schlimmer war in dieser Hinsicht die als eigentliche Uraufführung von „Faust II“ geltende Inszenierung des Stückes durch den mit Theodor Fontane befreundeten Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und Dramaturgen Anton Eduard Wollheim da Fonseca (1810–1884) am Hamburger Theater im März 1854. Julius Petersen hat darauf aufmerksam gemacht, daß Wollheim „mit brutalen Streichungen und unsinnigen Zusätzen“ den Text Goethes durch abwegige ‚Umdichtungen‘ radikal verfälschte, indem er gewaltsam „Motivverbindungen“ zwischen beiden Teilen der Faustdichtung herstellte, „die alle Grenzen des guten Geschmacks und der Pietät überschritten“966. Solch barbarischer Umgang mit dem Dramentext Goethes erlaubte es dem Bearbeiter ebenso, durch Weglassungen den gesamten „Faust-II“-Text von über siebentausend Versen auf kaum mehr als ein Viertel zusammenzustreichen967. Daß Wollheim dann auch noch sein Tun damit begründete, Goethe habe ein Werk geschaffen, „dessen Basis die christliche Lehre von der ewigen Liebe und göttlichen Gnade“ sei, „die auch dem Sünder vergiebt, wenn er bereut und durch gute Werke frühere Fehltritte wettmacht“ 968, 965 Ders.: a.a.O., S. 25 und 26. 966 Petersen, S. 23. Mit Recht bemängelt Petersen den schlimmen Sachverhalt: „Sein [Wollheims] Homunkulus kommt zustande, indem durch Wagner die Lebenselemente des von Gretchen ertränkten Kindes aus dem Wasser gefischt werden; er ist aber nichts anderes als Fausts verjüngte Existenz, während Helena als eine Wiedergeburt Gretchens in Euphorion dem Homunkulus lebendige Gestalt gibt“ (ebd.). 967 Kalde hat die Schwundstufe genau nachgewiesen: Aus 7499 Versen werden bei Wollheim 1896 Verse, 169 Verse davon stammen zu allem Übel auch noch vom Bearbeiter (vgl. hierzu: Kalde, S. 30). 968 Kalde, S. 32. Zu einigen Aufführungen von „Faust II“ bis 1933  293

zeugt zwar von bester Absicht, verfehlt jedoch Goethes Wirkungsabsicht gänzlich. Bezeichnenderweise wurde aber gerade die Wollheimsche Bearbeitung von mehreren Theatern übernommen969. Der weiteren Rezeption des Stückes war das allerdings keinesfalls förderlich. Erst im Verlauf der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts kam es zu neuen Versuchen. So unternahm es Otto Devrient im Rahmen seiner Bearbeitung für die Feierlichkeiten zur hundertjährigen Wiederkehr von Goethes Eintreffen in Weimar, unbedingt beide Teile der Faustdichtung vom „Vorspiel auf dem Theater“ bis zur „Bergschluchten“Szene zu berücksichtigen. Ihm schwebte dabei, wie bereits erwähnt, ein „Mysterium in zwei Tagewerken“ vor. Freilich war er um eine lineare Handlungsführung bemüht und ließ deswegen vom zweiten Faustteil alles weg, was seinem Gutdünken nach nicht zur engeren Handlung gehörte. Eine volle Hälfte des Textes fiel dieser Überlegung zum Opfer, unter anderem fast die gesamte Mummenschanz, weite Teile der ‚Classischen Walpurgisnacht‘, des Helena-Akts und der Schlußszene970. Immerhin hatte diese Bearbeitung den Vorzug, Goethes Text zwar empfindlich gekürzt, wenigstens aber nicht verfälscht zu haben. Zur Aufführung kam das Projekt erst im Mai 1876. Der Erfolg war so nachhaltig, daß einige Zeit hindurch jährliche Wiederholungen durchgeführt wurden. Von daher erklärt es sich auch, daß mehrere Regisseure den Bearbeitungsplan Devrients übernommen haben971. Freilich erwiesen sich die beiden „Tagewerke“ mit ihrer jeweils sechsstündigen Dauer als Hemmnis für eine breitere Rezeption. Zu sehr stand diesem Unternehmen „der Weihe- und Festspielgedanke“972 hindernd im Wege. Ähnliche Bestrebungen verfolgte, wie bereits erwähnt, der Dichter und Theaterintendant Franz von Dingelstedt (1814–1881) in seiner Eigenschaft als Direktor des Burgtheaters. Vor dem Wiener Schriftsteller- und Journalistenverein hielt er drei Vorträge mit dem schönen Ziel, die Auffassung zu verbreiten, nur der ganze „Faust“ sei geeignet, die Idee des Werkes wie auch Goethes Wirkungsabsicht zu vermitteln. Im Vorwort der Buchpublikation betonte er, „daß Faust ein dramatisches Gedicht 969 Breslau (1854), Frankfurt/M. (1858), Leipzig (1874), Riga (1877) und Königsberg (1880). 1874 kam es sogar zu einer Druckausgabe von Wollheims Bearbeitung. 970 Vgl. hierzu: Petersen, S. 35 ff. und Kalde, S. 39–48. 971 Kalde hat folgende Orte ermittelt: Köln, Berlin und Düsseldorf (1880), Leipzig (1883), Breslau (1884); vgl. hierzu: Kalde, Anhang, S. 27. Eine Druckausgabe von „Faust für die Aufführung als Mysterium in zwei Tagewerken“ erschien im Herbst 1877. Sie erlebte 1887 ihre dritte Auflage. 972 So Mahl, S. 52.

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ist, zwar eines in der breitesten und lockersten Form, allein immerhin kein todtgeborenes Buchdrama, sondern ein lebensfähiges Bühnenstück, welches das Theater sich anzueignen das Recht und die Macht hat, sogar im höheren Sinne die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit“973. Von dieser begrüßenswerten Erkenntnis leitete auch er seine Forderung ab, mit einer „Faust-Trilogie“ die Institution einer nationalen Faustaufführung zu etablieren. Allein sein hehrer Plan konnte nicht zur Verwirklichung kommen, weil er dem Riesenkomplex des zweiten Faustteils nur ein Drittel der Trilogie einräumte, so daß lediglich die Schrumpffassung einer Gesamtaufführung zustande gekommen wäre. Ohnehin starb Dingelstedt 1881 in der Erwartung, sein Vorhaben erst auszuführen, wenn „die falschen Fäuste [gemeint sind damit Devrient und andere Bearbeiter] verdienter Vergessenheit anheimgefallen“ seien974. Es blieb deshalb bei der erwähnten Inszenierung von „Faust I“ im Burgtheater 1877. Immerhin kommt Dingelstedt das Verdienst zu, mit seinem Vorhaben einen entscheidenden Akzent gesetzt zu haben für die nun einsetzende Bühnengeschichte von „Faust II“. Natürlich hatte diese Entwicklung auch damit zu tun, daß sich ab jenem Zeitpunkt in der Einschätzung des Publikums ein Wandel abzuzeichnen begann, der Goethe nicht mehr gegenüber Schiller benachteiligte975. Zeichen dieses Wandels waren der durchschlagende Erfolg des 1877 veröffentlichten hymnischen Goethe-Buchs in zwei Bänden nach den Vorlesungen von Herman Grimm, dem Sohn Wilhelm Grimms und Schwiegersohn Bettina von Arnims976, und ebenso die 1885 erfolgende Gründung der Goethe-Gesellschaft in Weimar. Damit war nunmehr auch einer ‚Gesamt-FaustTendenz‘ der Weg geebnet. In den Jahrzehnten zwischen den Gründerjahren des Zweiten Reiches und dem Ende der Weimarer Republik sind in Deutschland immerhin an die fünfzig Inszenierungen des zweiten Faustteils nachzuweisen. Durchweg lagen dabei bearbeitete, meist stark gekürzte, ausschnitthafte Textfassungen zugrunde. Besonderes Interesse verdienen darunter drei Aufführungen, die von Adolph L’Arronge977 1889, sodann die von Max Reinhardt 1911–1916 in Berlin und die von Gustav Lindemann und Louise Dumont 973 Dingelstedt, Franz von: Eine Faust-Trilogie. Dramaturgische Studie. Berlin 1876, S. IV (Vorrede). 974 Zit. n.: Kalde, S. 51, Anm. 1. 975 In erster Linie ging die zuvor deutlich spürbare Wirkung der Ablehnung Goethes durch die Mehrheit der Jungdeutschen weithin zurück. 976 Grimm, Herman: Goethe. Vorlesungen gehalten an der Königlichen Universität zu Berlin. Berlin 1877 (8. A., Stuttgart, Berlin 1903). 977 Adolph L’Arronge (d.i.: Adolf Aaronsohn; 1838–1908), Bühnenautor und Theaterdirektor, gründete 1883 das Deutsche Theater in Berlin. Zu einigen Aufführungen von „Faust II“ bis 1933  295

1932 in Düsseldorf und danach auch in Berlin. Aus sehr unterschiedlichen Gründen sind sie erwähnenswert. L’Arronge, der Gründer des Deutschen Theaters in Berlin, vertrat den in Theaterkreisen häufig anzutreffenden Standpunkt, man müsse aus dem eigentlich unaufführbaren „Faust II“ die für das Verständnis der Gesamthandlung notwendigen Teile herauslösen. In dieser Absicht verfaßte er eine Bearbeitung unter dem Titel „Faust’s Tod“ als Kombination von „Faust I“ mit einigen Ausschnitten aus den ersten vier Akten und dem Schlußakt von „Faust II“, um so, wie er argumentierte, „den dramatisch gewichtigsten Theil dauernd für die Bühne [zu] gewinnen“978. Er siedelte seine Arbeit ganz im Bereich des modischen Bühnenrealismus an. Kritiker sahen darin mit Recht Bildungsheuchelei und in seiner Bearbeitung reine Mißhandlung des Dramas. Dem stand freilich der durchschlagende Erfolg dieser Inszenierung beim Publikum entgegen. Sie hielt sich bis 1893, also immerhin über vier Spielzeiten, im Repertoire979. L’Arronge bahnte so wenigstens den Weg für weitere Inszenierungen beider Teile mit weniger Eingriffen in Goethes Text. Daran konnte dann Max Reinhardt, nun seinerseits Intendant des Deutschen Theaters, direkt anknüpfen. Nach dem großen Erfolg seiner Inszenierung des ersten Faustteils von 1909 ging er zwei Jahre später daran, „Faust II“ unter Ausnutzung aller technischen Möglichkeiten und mit einem homogenen Ensemble980 auf die Bühne zu bringen. Weit mehr noch als im ersten Teil erwies sich hier die Verwendung der Drehbühne als optimale Möglichkeit für die szenische Umsetzung. Obwohl Reinhardt durchaus Streichungen vornahm, dehnte sich die Aufführung auf elf Stunden aus. Durch weitere Kürzungen reduzierte er die Dauer schließlich auf acht Stunden. Seine stilisierende Regie gestaltete sich zu einem national und international anerkannten Triumph. Die beiden Gründer des Düsseldorfer Schauspielhauses, Gustav Lindemann (1872– 1960) und Louise Dumont (1862–1932), gingen, in bewußter Absetzung vom opulenten Ausstattungstheater Reinhardts, den Weg radikaler szenischer Vereinfachung Nach einer erfolgreichen Einstudierung des ersten Faustteils zu Weihnachten 1931 machten sie sich im Frühjahr 1932 an die Inszenierung von „Faust II“. Ihre Arbeit konzentrierte sich auf den geistigen Gehalt des Stückes, also auf das, was Louise Dumont, die Schauspielerin und dramaturgische Mitarbeiterin, „die innere 978 Zit. n.: Kalde, S. 125. 979 Vgl. hierzu auch: Mahl, S. 69–72. 980 Unter anderem spielten Friedrich Kaysler (Faust), Albert Bassermann (Mephistopheles), Alexander Moissi (Kaiser), Else Heims (Helena), Lucie Höflich (Gretchen), Gertrud Eysoldt (Knabe Lenker, Euphorion und Homunculus).

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Wahrheit“981 des Dramas nannte. Im Unterschied zu den bisherigen Bearbeitungen folgten sie und Lindemann dabei weithin getreu dem Goetheschen Text. Immerhin fast 4000 der 7499 Verse wurden übernommen, die Szenenfolge nicht angetastet. Als Lindemann aufgrund des Erfolgs seiner Regieleistung dazu eingeladen wurde, auch im Preußischen Staatstheater Berlin den „Faust II“ zu inszenieren, schrieb er dem dortigen Faust-Darsteller, Werner Krauß, daß dieses Stück „einzig und allein nach den Intentionen Goethes gespielt werden dürfe“982. Wichtig war es ihm dabei, den Symbolcharakter des Textes gewahrt zu sehen. Deswegen stellte er für seine Konzeption Begriffe wie „Revue des Geistes“, „Entstofflichung“, „Transparenz“ und „Objektivierung“ in den Vordergrund. Der Rezensent Kurt Pinthus faßte die dramaturgische Leistung Lindemanns mit den folgenden aufschlußreichen Sätzen zusammen: „Faust II“ wird präsentiert als „eine geistige Revue höchsten und größten Formats. In der Form einer Revue, und zugleich eine Revue der Formen aller theatralischer Formen: Da gibt es wirkliche revueartige Szenen, wie Mummenschanz und Klassische Walpurgisnacht; da gibt es Haupt- und Staatsaktion und heroisches Drama, scharfe Komödienszenen; da gibt es antik-klassisches Drama, große Oper und Oratorium; da gibt es schon Zeit- und Lehrstück. Diese geistige Revue größten und verschiedensten Stils soll getrost auch so gespielt werden. So ist sie spielbar – und so geht sie dem Zuschauer ein, der gar nicht begreift, daß fast ein Jahrhundert lang Faust II als unbegreifbar uns unaufführbar galt“983. Das ist im Grunde eine ebenso knappe wie zutreffende Skizzierung der sich voll und ganz an Goethes dramaturgische Vorgaben haltenden Regiearbeit Lindemanns wie überhaupt des aktivierenden Bewußtseinstheaters. Interessanterweise lag bei der Berliner Aufführung die kongeniale Bühnengestaltung in den Händen von Teo Otto, dem späteren Bühnenbildner Brechts. Als prägend erwies sich diese Inszenierung auch für Gustav Gründgens, der den Mephisto spielte. Er gewann dabei nicht wenige Anregungen für seinen eigenen Umgang mit dem Fauststück. Die Inszenierung Lindemanns hatte ihre Premiere am 21. Januar 1933, also wenige Tage vor der Übergabe des Amtes eines Reichskanzlers durch Hindenburg an Adolf Hitler. Der historische Einschnitt mit dem Beginn der offenen Diktatur beendete mit einem Schlag die Möglichkeiten für derartige „Revuen des Geistes“. In der weiteren Aufführungsgeschichte wurde auch das Faustdrama zum Ideologiestück deformiert.

981 Dumont, Louise: Regie (zit. n.: Kalde, S. 92). 982 Brief Lindemanns an Werner Krauß vom 14.12.1932 (zit. n.: Kalde, S. 93). 983 Rezension von Kurt Pinthus im ‚8-Uhr-Abendblatt‘ vom 23.1.1933. Zu einigen Aufführungen von „Faust II“ bis 1933  297

„Faust“ im Dritten Reich und im Exil Goethes Werk mit den Prinzipien der nationalsozialistischen Kulturpolitik in Einklang zu bringen war schlechterdings unmöglich. Zwar gab der nach dem Tode Hindenburgs selbsternannte ‚Führer und Reichskanzler‘ Adolf Hitler 1934 die wegweisende Direktive: „Der Liberalismus vergangener Epochen hat immer wieder versucht, die beiden Weimarer Dichterfürsten Friedrich von Schiller und Wolfgang von Goethe für sich in Anspruch zu nehmen. So wurde das Beste und Edelste ihres Schaffens verfälscht und der Nation ein Zerrbild ihres wirklichen Seins gezeigt“984. Im Rahmen der Nazi-Diktatur bedeutete das den klaren Auftrag, Goethe im Sinne der nationalsozialistischen Propaganda zu vereinnahmen. Ohne üble Verdrehungen konnte das jedoch nicht abgehen. Zu Recht nannte Thomas Mann diese Bemühungen den größten Betrug an der deutschen Kulturtradition. Mit bitterer Ironie notierte er schon im Frühjahr 1933 im Tagebuch, wie der Germanist Julius Petersen, sich ohne Scheu und Scham dem neuen Regime anbiedernd, Goethe und Schiller als „die ersten Nationalsozialisten“ bezeichnete985. Bei den Vereinnahmungsversuchen machte man sich die Vorbehalte Goethes gegenüber liberalen Regierungsformen wie auch seine Ablehnung der Judenemanzipation zunutze. Daraus entwickelten parteitreue Gefolgsleute ein völlig vereinseitigtes Bild des Dichters, das mit Geist und Tat des aufgeklärten Weltbürgers in keiner Weise zu vereinbaren war. Im Endeffekt führte das zu so absurden Ergebnissen wie der peinlichen Behauptung des Ökonomen Arthur Dix in einem 1934 veröffentlichten Artikel: „Goethe läßt am Ende seines gewaltigen Lebenswerkes Faust als Propheten der Bauern- und Siedlungspolitik erscheinen. Mehr noch: Goethe läßt durch den Verlust des physischen Augenlichtes Faust geistig um so heller sehend werden. Auch Adolf Hitler ist nach zeitweiligem Verlust der körperlichen Sehkraft mit um so stärkerer Sehschärfe begnadet worden. Und gerade im Moment der äußeren Erblindung läßt Goethe den geistig um so klarblickender gewordenen Faust das ewige Leitwort des Führerprinzips prägen: ‚Daß ich [falsch zitiert: ‚Daß sich …‘] das größte Werk vollende, genügt ein Geist für tausend Hände‘“986. Derlei ist an Primitivität nicht zu überbieten. Aber so zu verfahren hatte in der braunen Diktatur Methode: Faust wurde kurzerhand zum Blutund-Boden-Propagandisten umfunktioniert. So weit konnte das gehen, was wiederum Thomas Mann zutreffend „die Verfälschung der Gehirne“ genannt hat987. Ungescheut 984 Zit. n.: Wulf, Joseph: Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Gütersloh 1963, S. 340. 985 Mann, Thomas: Gesammelte Werke, Bd. XII: Reden und Aufsätze. 2. A. Frankfurt/M. 1974, S. 699 („Leiden an Deutschland“, 1933/34). 986 Zit. n.: Wulf, S. 385 (a.a.O., Anm. 984). 987 Mann, Thomas: Gesammelte Werke, Bd. 12, S. 689.

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konnte Kurt Engelbrecht, ein schriftstellernder ‚teutscher‘ Pfarrer, gleich 1933 die These verkünden: „Man denke sich nur einmal die Rolle des Faust durch einen Juden, die des Gretchen durch eine Jüdin besetzt! Unmöglich! Dem jüdischen Geist wird das Faustische immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben“988. Denkweisen dieser Art machten letzten Endes den Holocaust möglich. Selbstverständlich unterlagen auch die Neueinstudierungen von Dramen Goethes dem Einfluß und der Kontrolle des nationalsozialistischen Propaganda-Apparats989. Das führte zu so widersinnigen Deutungen wie etwa der, im „Egmont“-Drama sei „eine Auseinandersetzung der nordisch-puritanischen Welt mit der jesuitischen“ zu sehen990. Für die Faustdichtung bedeutete das die Einengung zum „willenhaft-organischen Bild der typisch germanischen Haltung, vor der Persönlichkeit und Gemeinschaft keine Gegensätze mehr sein dürfen“991. Dem vergleichbar vertrat der Stefan-GeorgeAnhänger Kurt Hildebrandt, voll im Zeitgeist, die aberwitzige These: „Der deutsche Faust ist eine mythische Gestalt. … Aus dem Ketzer Faust ist die großdeutsche Gestalt des deutschen Genius geworden“992. In einer derart fehlgeleiteten, geistfernen Gedankenwelt bewegten sich ebenso die Gestaltungsabsichten nicht weniger derjenigen, die sich vornahmen, das Faustdrama für die Bühne einzurichten. Beispielhaft herausgegriffen sei lediglich die schon einmal beiläufig erwähnte Inszenierung durch Karl Wüstenhagen 1940 in Hamburg993. Faust wurde da zum ‚Landeroberer‘ umfunktioniert, zum „Inbegriff der vorwärtsdrängenden Unruhe, Ungeduld, Leidenschaft und des nach den Sternen greifenden Übermaßes“. Propagiert wurde sein angebliches „Wissen um die menschliche Gemeinschaftsharmonie“ nach den Vorstellungen vom germanischen Übermenschen des Dritten Reiches994. Ungeniert wurde dadurch die Problematik des Dramas auf den propagandistisch verwertbaren Teil verkürzt, der herausgestellte ‚faustische Mensch‘ zum faschistischen Welteroberer umgelogen. 988 Zit. n.: Mahl, S. 124. 989 Außer dem Reichspropagandaministerium unter Joseph Goebbels mit der Reichstheaterkammer unter Otto Laubinger und dem sog. ‚Reichsdramaturgen‘ Rainer Schlösser gab es die Dienststelle unter der Leitung Alfred Rosenbergs mit der vielsagenden Zuschreibung eines ‚Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP‘. 990 Zit. n.: Drewniak, Boguslaw: Das Theater im NS-Staat. Szenarium deutscher Zeitgeschichte 1933–1945. Düsseldorf 1983, S. 170. 991 So der Germanist und Theaterwissenschaftler Heinz Kindermann (zit. n.: Wulf, S. 388; a.a.O., Anm. 984). 992 Hildebrandt, Kurt: Goethe. Seine Weltweisheit im Gesamtwerk. Leipzig 1941, S. 561. 993 S. hierzu auch Anm. 923. 994 Zit. n.: Mahl, S. 126. Faust wurde von Mathias Wieman gespielt, Mephisto von Robert Meyn. „Faust“ im Dritten Reich und im Exil  299

Selbst die ‚legendäre‘ „Faust“-Aufführung 1941/42 im Staatlichen Schauspielhaus Berlin995 unter der Regie von Gustav Gründgens (1899–1963) geriet mit ihrem Kerngedanken einer „Passion des Geistes“ in die gefährliche Nähe des titanischübermenschlichen Geistesringens nach den Regeln der Parteikonformität vom faustischen Symbol des ‚deutschen Menschen der Tat‘. Jedenfalls nahmen ‚Kulturverantwortliche‘ wie Hermann Göring, Joseph Goebbels und Rainer Schlösser keinerlei Anstoß. Vielmehr applaudierten sie demonstrativ. Gründgens stellte seine Arbeit unter den Anspruch unbedingter „Konzentration auf das Wort“996. Doch hinderte ihn das nicht, die mit Paul Hartmann besetzte Rolle Fausts zu vordergründig als ‚Mann der Tat‘ und Mephisto, seine Lieblingsrolle997, komödiantisch überzogen anzulegen. Die wesentlichen Faustmonologe wurden einfach herunterdeklamiert, anstatt sie, wie nötig, von innen kommend an das Publikum weiterzuvermitteln. Ohnedies wurden sie übertönt von der übertriebenen ‚pseudo-mephistophelischen‘ Mimik und Diktion des Hauptdarstellers Gründgens, der keine Distanz zu seiner Figur finden konnte. Dadurch verlor die überzogene Inszenierung viel von der eigentlich proklamierten geistigen Intensität. Das hoch gelobte ‚magische Fausttheater‘ war eben zu sehr auf Gründgens-Mephisto als den elegant-geistreichen Kavalier zugeschnitten. Die „Classische Walpurgisnacht“ wurde bezeichnenderweise einfach gestrichen. Vermutlich, weil der Widerpart Fausts sich dort nicht am richtigen Platze fühlen konnte. Generell gilt eben, was die Theaterwissenschaftlerin Jutta Wardetzky stimmig resümierte: „Die offizielle Funktion im staatlichen Kultursystem des Hitlerfaschismus zwang zum Rollenspiel. Die Akteure hielten sich an die Spielregeln der Staats- und Parteikonformität. Wenn dabei eigene, andersgeartete Werte und konzeptionelle Ideen – die im wesentlichen traditionell waren – zu realisieren versucht wurden, so geschah es unter den Bedingungen dieser Spielregeln“. Man nahm das dann eben, wie sie richtig folgerte, als „öffentlichen Ausweis, daß auch diese Werte Bestandteil der vom Hitlerfaschismus verkündeten Kultur seien“998.

995 Günther Rühle bezeichnete erst jüngst die Aufführung durch Gründgens reichlich übertrieben als „ein Glanzstück im Hitlerstaat“ (Rühle, S. 32–39). 996 Gründgens/Melchinger, S. 121. 997 Gründgens spielte die Rolle des Mephisto allein von 1932 bis 1943 in über 600 Aufführungen. Danach erfolgte mit der Düsseldorfer und der Hamburger Inszenierung eine theatralische Apotheose. 998 Wardetzky, Jutta: Theaterpolitik im faschistischen Deutschland. Studien und Dokumente. Berlin 1983, S. 119. Sie schätzte diese Tendenz richtig als „ohnmächtige Humanität“ (ebd.) ein.

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Kurze Zeit vor dieser Berliner Aufführung, bald nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, fand im Frühjahr 1940 in Zürich eine völlig anders geartete Inszenierung von „Faust II“ durch Leopold Lindtberg (1902–1984999) statt. In der größten Stadt der neutralen Schweiz hatte sich mit dem dortigen Schauspielhaus ein deutschsprachiger Theaterbetrieb herausentwickelt, der dem Einfluß der Hitlerdiktatur entzogen war und ungehindert an die Traditionen des Theaters der Weimarer Republik anknüpfen konnte. Deshalb war es dort möglich, den Text Goethes frei von ideologischen Zwängen auf die Bühne zu bringen. Jedoch herrschte zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz verbreitete Angst vor einem eventuellen Einmarsch deutscher Truppen1000. Ungeachtet der beschränkten Bühnenmöglichkeiten setzte Lindtberg sein Prinzip unbedingter Werktreue nach Kräften um. Weit mehr als gewöhnlich mußte das ganze Ensemble mitarbeiten. Eine der Schauspielerinnen, die Emigrantin Mathilde Danegger, erinnerte sich: „Jeder ging seiner Arbeit nach; denn alle hatten mehrere Aufgaben übernommen. Nicht nur, daß wir mehrere Rollen spielten, das war bei diesem Riesenwerk selbstverständlich. Wir halfen auch bei der Dekoration; … wir halfen auch beim Umbau, weil die Schweizer Techniker fast alle als Soldaten an der Grenze standen. Und kein Mensch sprach von Gefahr, in der wir doch schwebten. … Wir haben in dieser schrecklichen Situation einfach gearbeitet. Wir haben den ‚Faust II‘ gemacht“1001. Um das Stück überhaupt spielen zu können, sah sich Lindtberg gezwungen, den Text um mehr als die Hälfte zu kürzen. Dennoch überzeugten die vorgeführten Kernlinien der Handlung aufgrund der konsequent durchgehaltenen Verbindung von Geist und Theatralik des Dramas1002. Besonders eindrucksvoll gestaltete Lindtberg das Schlußbild. Der Regisseur beschrieb seine Lösung eingehend wie folgt: Das Bild begann in tiefer Dunkelheit mit dem Chor: ‚Waldung, sie schwankt heran‘ und seinem Echo. (Gustav Mahlers VIII. Symphonie, in deren zweitem Satz die Schlußszene durchkomponiert ist, gab uns in rhythmischer Hinsicht wertvolle Anregung) … Mit 999 Leopold Lindtberg (d.i. Leopold Lemberger) hatte in Düsseldorf mit einer Einstudierung beider Faustteile begonnen, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen und er fliehen mußte. Ein gleiches Schicksal widerfuhr ihm in Wien durch den sogenannten ‚Anschluß‘ Österreichs an das Deutsche Reich. Er machte schließlich 1938 in Zürich („Faust I“) und 1940 („Faust II“) den dritten, endlich geglückten Versuch. 1000 Man befürchtete eine Umgehung der Maginotlinie über den Schweizer Hoheitsraum. Deshalb wurden vom Schweizer Verteidigungsministerium die Reservisten einberufen. 1001 Zit. n.: Mittenzwei, Werner: Das Zürcher Schauspielhaus 1933–1945 oder Die letzte Chance. Deutsches Theater im Exil. Berlin 1979, S. 109. 1002 Unter der Regie von Leopold Lindtberg spielte Wolfgang Langhoff den Faust, Ernst Ginsberg den Mephisto und Maria Becker die Helena. Das Bühnenbild schuf Teo Otto. „Faust“ im Dritten Reich und im Exil  301

dem Fortschreiten der Szene wurde die Bühne, die zunächst noch durch drei hintereinander hängende Schleiervorhänge geteilt war, stufenweise erhellt. Nach und nach wurden dann die Schleiervorhänge … nach oben weggezogen, bis schließlich nach dem Erscheinen Fausts inmitten der ihn geleitenden Engel das ganze Himmelsbild enthüllt war. Die Chöre der Engel und der seligen Knaben wurden durchweg melodramatisch gesprochen, von zarter Orchestermusik unterstützt. … Während der beiden Sätze Gretchens und der Antwort der Mater gloriosa schwieg aber aller Klang. Und dann stimmten die Engel leise summend dieselbe Melodie an, mit der sie den ‚Prolog im Himmel‘ hatten aufklingen lassen, eine rührend-schöne schlichte Weise, die unser Komponist Paul Burkhard bei einem spanischen Musiker des 16. Jahrhunderts ausgegraben hatte. Unter diesen Klängen ertönten und verhallten die letzten Sätze des Doctor Marianus und des Chorus mysticus, während das Himmelsbild langsam wieder ins Dunkel zurücktauchte1003.

Für Derartiges gab es auf den deutschen Bühnen jener Jahre keinen Platz. Im Zürcher Theater hingegen gehörte das zum kontinuierlichen Niveau des Repertoires. Der Rezensent der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘ hielt emphatisch fest: „Langhoffs Faust ist ganz Seele. Ginsbergs Mephisto ganz Geist, glühend, sprühend, witzig, herrisch, zwingend. … Als Paul Burkhards sinngemäße Musik verklungen [war], sanken Langhoff und Ginsberg vor Teo Ottos lodernden Prospekten in die wogende Menge des Beifalls“1004. Immerhin verwundert es nach dieser pathetisch aufgeladenen Reaktion nicht, daß die Aufführung, allen äußeren Widrigkeiten zum Trotz, 25mal wiederholt werden konnte. Im Endstadium des Dritten Reiches verfügte Joseph Goebbels, der sogenannte ‚Reichsbevollmächtigte für den totalen Kriegseinsatz‘, ab September 1944 die Schließung aller Bühnen des Reiches. Die Mehrzahl der Theatergebäude war zu diesem Zeitpunkt ohnehin bereits durch Bomben zerstört. In den Wochen und Tagen kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren nur noch wenige Schauspieler, beispielsweise Heinrich George und Gustav Gründgens, sowie eine Reihe anderer Künstler als – wie es hieß – ‚Gottbegnadete‘1005 vom Wehrdienst freigestellt (Uk-Liste). Vor diesem Hintergrund wurde in Künstlerkreisen erzählt, Gründgens, Paul Hartmann und andere der ‚Begnadeten‘ hätten sich im zerstörten Staatstheater am Gendarmen1003 Zit. n.: Mittenzwei, s. Anm. 1001, S. 111. 1004 Rezension vom 20.5.1940; zit. n.: Mittenzwei, a.a.O., S. 112 1005 Goebbels hatte 1944 in Absprache mit Hitler auf der sogenannten ‚GottbegnadetenListe‘ rund tausend Künstler aller Sparten zusammengefaßt, die unbedingt am Leben erhalten werden sollten (vgl. hierzu: Wardetzky, s. Anm. 998, S. 272–276).

302  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

markt getroffen, um „für sich selber, im Trainingsanzug, ohne Dekoration und Publikum“, Goethes „Faust“ zu spielen1006. Den daran Beteiligten wäre dann vermutlich die Tatsache bewußt geworden, daß es künftig galt, wieder an eine auch von ihnen verratene Tradition deutscher Kultur anzuknüpfen und auf dieser Grundlage einen Neuanfang zu gestalten. Sollte sich das wirklich so abgespielt haben, hätten sie immerhin damit Goethes „Faust“, belehrt von der katastrophalen Wirklichkeit, besser verstanden als zuvor.

Wegweisende „Faust“-Inszenierungen in den ersten Jahrzehnten nach 1945 Vier bewußt herausgegriffene, sehr gegensätzliche Aufführungen zeigen die Spannweite des gestalterischen Umgangs mit der Faustdichtung im Nachkriegsdeutschland. Das ist zum einen der mit bescheidensten Mitteln und nur fünf Schauspielern ab 1949 im kleinen Torturmtheater von Sommerhausen aufgeführte Faust-Zyklus des Malers und Bühnenfanatikers Malipiero. Daneben steht die opulent ausgestattete, vielgelobte Hamburger Inszenierung 1957/58 von Gründgens. Von gleich anregender Bedeutung waren auch zwei weitere Inszenierungen: die bereits erwähnte „Urfaust“-Aufführung von Brecht und Monk 1952/53 und die umstrittene theatralische Gestaltung des zweiten Faustteils durch Ernst Schröder und Hans Mayer 1966. Luigi Malipiero (1901–1975) verfolgte den wagemutigen Plan einer Gesamtinszenierung zu Goethes zweihundertstem Geburtstag, 1949, unter der Maßgabe „Goethes Faust, beide Teile an einem Abend“. Natürlich konnte das nur in einer radikal zusammengestrichenen Fassung geschehen. Obwohl bei diesem tollkühnen Experiment der erste Teil allein auf die Gretchentragödie reduziert wurde (ohne Mephisto, ohne Hexenküche und Walpurgisnacht!) und der zweite Teil sich auf die künstliche Wertschöpfung durch die Einführung des Papiergelds, den Gang zu den Müttern, die Helenageschichte und auf Kernszenen des vierten und fünften Akts (Schlacht, Landgewinnung und Erlösung) konzentrierte, – oder gerade deshalb – kam als Minimalfassung eine intensiv wirkende Bearbeitung zustande, zu der ein Kritiker lobend festhielt: „hier steht der oft zu einem bürgerlichen Trauerspiel verzerrte ‚Faust‘ in seiner ganzen dramatischen Schicksalhaftigkeit auf der Bühne“1007. Nicht zuletzt war dieser Erfolg den beiden Hauptdarstellern, Ulrich Matschoß als Faust und Peter Grosser als immerhin im zweiten Teil präsenter Mephisto, sowie der stringenten 1006 Mittenzwei (s. Anm. 1001), S. 20. 1007 So Robert von Berg; zit. n.: Mahl, S. 137. Wegweisende „Faust“-Inszenierungen in den ersten Jahrzehnten nach 1945  303

Textfassung und nicht zuletzt der auf den komprimierten Wortlaut zugespitzten szenischen Umsetzung durch Malipiero zu verdanken. Längere Zeit hindurch fanden die jährlich wiederholten Sommerhausener Fausttage großen Zuspruch. Anders Gustav Gründgens. Statt subjektiver Auseinandersetzung mit dem Text Goethes suchte er strenge Objektivität der Wiedergabe. Er hatte bereits reichliche Erfahrungen mit der Mephisto-Rolle und ebenso als Regisseur gesammelt, als er 1949 in Düsseldorf erneut „Faust I“ inszenierte. Bis dahin war er dem illusionistischen Theater verfallen gewesen. Was er jetzt anstrebte, war spielerische Vereinfachung und unmittelbare Vergegenwärtigung, also die Abkehr vom ‚gotisch-mittelalterlichen‘ Faust und die Wendung hin zu „symbolischer Realität“ einer „ins Gespenstische übertragenen Wirklichkeit“ (Siegfried Melchinger1008). Bei der Lektüre des bisher von ihm ausgesparten „Vorspiels auf dem Theater“ kam Gründgens auf die Idee, seine Inszenierung ganz auf eine spielerische Lösung umzulenken. Er hielt dazu fest: „Nun konnten die Szenen unverblümt auf dem Podest gespielt werden, das wir ja anfangs zur Welt, auf der wir unser Spiel spielten, erklärt hatten. … Der Verpflichtung enthoben, historisch echt zu sein, wurde plötzlich der Blick frei für von mir bis dahin nicht richtig erkannte Großartigkeiten“1009. Diese Erkenntnis wurde dann zur Triebfeder der Hamburger Inszenierung beider Teile in der Spielzeit 1957/58. Zweifellos bedeutete der einschneidende konzeptionelle Schritt einen qualitativen Sprung in der Aufführungsgeschichte der Faustdichtung. Die ungeheure Wirkung dieser Regietat bezeugt das hinreichend. Gründgens folgte dabei zu einem Teil durchaus den dramaturgischen Vorgaben Goethes. Leider blieb es dennoch bei der absoluten Dominanz der Mephistopheles-Figur. Als ein mit der Teufelsmaske eitel kokettierender Dandy drückte er durch seine ausgepichten Herrenallüren den von Will Quadflieg gespielten Faust wirkungsmäßig weit über Gebühr an den Rand. Eine andere bezeichnende Entgleisung der Regie war gleich zu Anfang die Erscheinung der drei Erzengel in knallbunten Flügelkleidern. So sollte ‚Komödiantisches‘ direkt augenfällig gemacht werden. Das Laboratorium Wagners, bei Goethe „im Sinne des Mittelalters“ beschrieben mit „weitläufigen unbehülflichen Apparaten, zu phantastischen Zwecken“1010, wurde zum Atomium der Brüsseler Weltausstellung ausgeweitet. Ähnlich vordergründig wurde die Aktualisierungsabsicht allenthalben umge1008 Gründgens/Melchinger, S.  25 und 26. Günther Rühle lobte an der Inszenierung: „Sie war radikal dem neuen Augenblick genähert. Die Welt lebte in der Atomfurcht“, mußte jedoch zugleich einräumen: „Von den Erfindungen der Berliner Inszenierung ist viel in diese Version eingegangen“ (Rühle, S. 36). 1009 Gründgens/Melchinger, S. 126. 1010 WA I.15.1, S. 101.

304  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

setzt. Nur ein Beispiel: „In die Heilige Messe hinein kracht im Hintergrund offensichtlich die gewaltige Explosion einer Bombe, und in einer kollektiven Aufstehbewegung streifen die Kirchgänger ihre frommen Gewänder ab. Eine Rockmusik erdröhnt, und die große Menschenmenge, von wechselnden Farben illuminiert, strebt zur Walpurgisnacht. Das Treiben dort wird zweimal unterbrochen, zunächst durch eine Sirene und eine gewaltige Atombombenexplosion, die filmisch eingeblendet wird, wobei auch ein Astronaut in voller Montur auftaucht, dann endet die kurze Walpurgisnacht durch die Erscheinung Gretchens“1011. Genau derlei sollte mit Goethes Bewußtseinsdramaturgie nicht geschehen. Gründgens führte hier dem Publikum vor, was es unter den gegenwärtigen Umständen zu denken habe. Dadurch wurde ein im Ansatz richtiger Zugang gewaltsam übertreibend zugeschüttet. Goethes Text braucht aber den freien geistigen Austausch mit den Zuschauern. Bedauerlicherweise geriet so die Gründgenssche ‚Musterinszenierung‘ mit ihrer holzhammerhaft überzogenen Aktualisierungstendenz zum komödiantischen Spektakel und damit zum Verrat an der eigentlich gewollten „Konzentration auf das Wort“1012 im Sinne Goethes. Tatsächlich hat das Verfahren des eingefleischten Theatralikers, wie gesagt wurde, wirklich Theatergeschichte gemacht. Nur zeigte sich dabei auch, was man mit „Faust“ auf keinen Fall machen darf, nämlich eine Relativierung der FaustFigur und geistiges Vorkauen der Handlung. Daß dann auch noch Film, Hörfunk und Schallplatte mit dieser Inszenierung für längere Zeit in die Breite wirkten, hat die Problematik der Umakzentuierung durch Gründgens nur noch verschlimmert. Ein Gewinn des großen Einflusses der Aufführung war immerhin die Tatsache, daß nunmehr andere Regisseure sich dem Drama ebenfalls ohne historische Zwänge mit den Fragestellungen unserer Zeit nähern konnten. Damit war eine Bresche geschlagen für eine vielfältige und fruchtbare Weiterarbeit am „Faust“-Stück auf den Bühnen. Zeitlich dazwischen lag die bereits erwähnte Einstudierung des „Urfaust“ durch Bertolt Brecht und Egon Monk 1952/53 am Berliner Ensemble. Die das dramatische Fragment mit neuer Energie belebenden Regienotate Brechts und die darauf basierende theatralische Umsetzung standen allerdings in striktem Gegensatz zur offiziell von der Partei vertretenen Faust-Ideologie vom „freien Volk auf freiem Grund“ nach den Vorstellungen eines ‚faustischen‘ Machthabers. Dennoch übte die subversive Brechtsche Wiederbelebung bei den nachfolgenden „Faust“-Inszenierungen in der DDR zunehmend eine spürbare Wirkung aus. 1011 Zit. n.: Mahl, S. 143. Selbst der von der Inszenierung spürbar besonders eingenommene Rühle mußte „die Disproportion von naiver Schaustellung und zeitnaher Ängstigung“ kritisch anmerken (Rühle, S. 36). 1012 Gründgens/Melchinger, S. 121. Wegweisende „Faust“-Inszenierungen in den ersten Jahrzehnten nach 1945  305

Ähnliches kann für den Westen Deutschlands gesagt werden von der provozierenden Inszenierung des zweiten Faustteils 1966 am Westberliner Schillertheater durch Ernst Schröder (1915–1994). Wesentlich beteiligt war dabei als dramaturgischer Berater der Germanist Hans Mayer (1907–2001). Der sprach bezeichnenderweise von einer „‚blutigen‘ Premiere“ am 2. Mai 19661013. Hatte er doch durch seine Vorschläge Schluß gemacht mit der Einheit des „Faust“-Dramas und eine vom ersten Teil weithin unabhängige Version von „Faust II“ durchgesetzt. Dabei konnte er sich auf die von Eckermann aufgezeichnete Aussage Goethes zu den beiden WalpurgisnachtSzenen stützen, in der dieser den Unterschied beider Teile folgendermaßen betonte: „Die alte Walpurgisnacht [in ‚Faust I‘] ist monarchisch, indem der Teufel dort überall als entschiedenes Oberhaupt respektiert wird; die klassische aber [in ‚Faust II‘] ist durchaus republikanisch, indem Alles in der Breite nebeneinander steht“1014. Mayer vertrat die These, man müsse den zweiten Teil als eigenständiges Werk betrachten. Zwar ergaben sich daraus zwangsläufig Probleme mit den Vorspielen, mit der Gretchen-Figur und vor allem mit der „Bergschluchten“-Szene. Indes war ein für die weitere Rezeption belebender Akzent gesetzt. Im „Rückblick des Dramaturgen“ versuchte Mayer sich mit dem Argument aus der Affäre zu ziehen: „Das Grundprinzip der Dramaturgie strebte … nicht unsinnigerweise danach, so zu tun, als sei der Erste Teil gar nicht vorhanden. Vielmehr wurde er als Bildungsreminiszenz in die Anlage der Inszenierung hineingenommen. Darum brauchte keine Exposition auf der Bühne geliefert zu werden: die hatten zahllose Deutschlehrer dem Theaterbesucher schon mit auf den Weg gegeben. … Damit war die Inszenierung von Anfang an dialektisch konzipiert als Spielen mit dem Einverständnis des Zuschauers“1015. Da er, Ernst Schröder und die übrigen Mitwirkenden1016 aber keineswegs eine Umin1013 Mayer, Hans: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. II. Frankfurt/M. 1984, S. 311. 1014 MA 19, S. 416 (zu Eckermann am 21.2.1831). Vier Tage zuvor hatte Goethe ebenso generell betont: „Der erste Teil ist fast ganz subjektiv; es ist alles aus einem befangeneren, leidenschaftlicheren Individuum hervorgegangen, welches Halbdunkel den Menschen auch so wohl tun mag. Im zweiten Teile aber ist fast gar nichts Subjektives, es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt“ (MA 19, S. 410 f.). 1015 Mayer, Hans: Rückblick des Dramaturgen. In: Theater 1966. Chronik und Bilanz des Bühnenjahres, Theater heute: Jahresheft 1966. Velber bei Hannover 1967, S.  44  f.; Zitat: S. 44. 1016 Neben Hans Mayers Mitwirkung als dramaturgischer Berater hatte sich Schröder auch die Mitarbeit des Bildhauers Bernhard Heiliger (Bühnenbild) und des Malers Alexander Camaro (Kostüme) gesichert. Den Faust spielte Wilhelm Borchert, den Mephisto Erich Schellow im Wechsel mit Ernst Schröder, die Helena Lieselotte Rau.

306  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

terpretation Goethes im Sinne hatten, einigten sie sich für den in ihrer Sicht unspielbaren Schluß darauf, nach der Grablegung Fausts und dem Grabraub seines „Unsterblichen“ auf der „leeren Bühne mit Arbeitslicht“ alle Mitwirkenden aufzustellen und den Text „mit starken Streichungen“ durch die Stimmen Bernhard Minettis mit dem gesamten Ensemble und, vom Tonband, der 1960 gestorbenen Hermine Körner klanglich zu vermitteln. Dergestalt reduziert und komprimiert versuchten sie, dem Publikum zu bedeuten: „so hat Goethe den Faust zu Ende gedichtet, wir aber wollen euch keine Himmelsvision vorgaukeln“. Mayer bekräftigte diesen überzeugenden Entschluß mit dem Zusatz: „An einem aber möchte ich überhaupt nicht zweifeln: daran nämlich, daß ‚Faust II‘ darstellbar ist und dem Zuschauer weit mehr zu bieten vermag als Weiheverse und unverständliches Geschehen zwischen unverständlichen Figuren“1017. Der Erfolg von über 150 Aufführungen sowie die Wahl zur ‚Aufführung des Jahres‘ bestätigen zweifellos diese Annahme. Die Herausgeber von ‚Theater heute‘ begründeten ihre Entscheidung ausführlich mit der Art, wie hier „das Verhältnis Faustens zu Mephisto definiert wird: als – so Schröders Ausdruck – ‚Magische Bruderschaft‘. … Faust wird, entschiedener und deutlicher als bisher, kritisiert. Er ist kein letzlich hehrer Sucher mehr, sondern ein verwegener, das Kriminelle und Hochstaplerische nicht scheuender, ein frevelnder Experimentator. … Die Brüchigkeit, Fragwürdigkeit, schmerzhafte Widersprüchlichkeit der Welt, die er durchschreitet und mitbestimmt, wurde schonungslos vorgezeigt. … ‚Faust II‘ als Warnbild, als in sich reiches Schreckbild der menschlichen Möglichkeiten“1018. Das sind schlüssige und weithin überzeugende Begründungen. Sicher aber hatte auch der Kritiker Rolf Michaelis recht mit dem Einwand, der Grundfehler dieser Inszenierung bestehe darin, daß die Verantwortlichen „versucht hätten, jeden Zusammenhang des zweiten Faust mit dem ersten zu tilgen. Dadurch habe sich ihre Darbietung zur Revue aufgelöst. Es fehle, wegen des mangelnden Bezuges zum Teufelspakt im ersten Teil, die Definition des Verhältnisses Faust– Mephisto“1019. So richtig das ist und so zwiespältig ebenso die Lösung des Stückschlusses zu beurteilen ist, bleibt doch eine innovative, in sich stimmige theatralische Lösung, die sogar von den Juroren gewürdigt wurde als „der wichtigste Schritt auf dem Wege, das größte Theater-Gedicht unserer Sprache für die lebendige Bühne zu gewinnen“1020. Daß darin keine lobhudelnde Übertreibung zu sehen ist, belegt die höchst lesenswerte Begründung vom gleichen Rolf Michaelis für seinen stärksten Eindruck vom Theaterjahr 1966. Er schildert da einläßlich und mit hoher Subtilität 1017 1018 1019 1020

Theater 1966 (s. Anm. 1015), S. 45. Ebd., S. 42. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Wegweisende „Faust“-Inszenierungen in den ersten Jahrzehnten nach 1945  307

jene fünf Minuten aus der dreihundert Minuten dauernden Aufführung, in denen Philemon (Robert Müller) und Baucis (Elsa Wagner) zusammen mit dem Wanderer (Bernhard Minetti) eine kurze Szene so gestalteten, daß sie sich ihm unauslöschlich eingeprägt hat1021. Allein schon danach und allen geäußerten Bedenken zum Trotz kann man Wirkung und Relevanz dieser Inszenierung von „Faust II“ auf das Publikum nicht hoch genug veranschlagen1022. Schröder und Mayer haben eine Bresche geschlagen für den freieren Umgang mit Goethes Text. Sie haben sich dabei besonders die kommunikativen dramaturgischen Möglichkeiten zunutze gemacht.

Inszenierungen zwischen 1975 und 2000. Eine Auswahl: Grüber I, Peymann, Grüber II, Schleef, Marthaler, Stein Unter der beträchtlichen Zahl von „Faust“-Aufführungen seit Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts können nicht wenige bemerkenswerte Inszenierungen registriert werden. Wenn hier lediglich sechs herausgegriffen werden, geschieht das allein um der Erfassung neuer Impulse für die theatralische „Faust“-Rezeption willen. Daß dabei – neben viel Regiepragmatismus vielerorts – eine ganze Reihe beachtlicher Leistungen wie etwa die von Hans Hollmann und Dieter Dorn oder Fritz Bennewitz und Wolfgang Engel unberücksichtigt bleibt, soll deren künstlerische Leistung keineswegs schmälern. An den Anfang sei die strenge theatralische Ausgestaltung von „Faust“-Variationen in der Kirche des Pariser ‚Hôpital de la Salpêtrière‘ gestellt, die Klaus Michael Grüber (1941–2008) 1975 in Szene setzte. Zum Komplex dieser psychiatrischen Klinik gehört die im Stil des 17. Jahrhunderts gebaute ‚Chapelle Saint-Louis‘, in deren Innenraum Grüber sechs Spielflächen ansiedelte, die das Publikum im Zuge einer theatralischen Wanderung auf sich wirken lassen sollte. Man muß wissen, daß sich der Regisseur gerade für diesen Rahmen entschied, weil dort ein Raum zur Verfügung stand, dessen besondere Form ihn inspirierte. Um das achteckige Zentrum sind vier rechteckige Seitenschiffe und vier achteckige Kapellen gruppiert, so daß unschwer 1021 S. hierzu: Theater 1966, S. 30 und 32. Vgl. außerdem: Buck, Elmar: Probenotizen zum Berliner ‚Faust II‘. In: Theater 1966, S. 70 und 72. 1022 S.  hierzu auch: Jacobi, Johannes: Faust  II  – doch ein Theaterstück. Ernst Schröders spektakuläre Goethe-Interpretation im Berliner Schiller-Theater. In: Die Zeit, Nr. 20/1966, 13.5.1966, S.  20  f.; Michaelis, Rolf: Der halbe Faust. In: Theater heute. 6/1966, S. 8, 11 und 12; Schröder, Ernst: Magisch-didaktisches Theater. Zur Konzeption der Faust II-Inszenierung. Ebd., S. 10.

308  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

die Grüber vorschwebende Er-Wanderung des Fauststoffes durch die Besucher möglich war. Außerdem zog ihn die Tatsache an, daß dieses Gebäude nicht nur Klinik für Geisteskranke und Epileptiker, sondern auch Frauengefängnis, Erziehungsanstalt und Asyl für Bettler gewesen war, ja sogar zeitweise als Pulverarsenal gedient hatte. Erstmals wählte er – wie dann noch mehrfach – eine geeignete Örtlichkeit außerhalb des Theaters, weil er an dieser Stelle dem „Wahnsinn der Gesellschaft“ unmittelbar begegnen zu können glaubte1023. Gegenüber einer Journalistin betonte er: „Die Aufführung hat den Titel ‚Faust Salpêtrière‘, weil sie ganz der Topographie, der Atmosphäre, der Vergangenheit und der Bedeutung des Ortes zugeordnet ist“1024. Gespielt wurde eine auf etwa ein Zehntel zusammengestrichene „Faust“-Paraphrase auf der Grundlage der noch zu Lebzeiten Goethes verfertigten Prosaübersetzung des romantischen Schriftstellers Gérard de Nerval, stellenweise modernisiert von dem 1941 verstorbenen französischen Germanisten Henri Lichtenberger. Grüber verstand seine bewußt karg gehaltene Unternehmung als unmittelbar von allen Beteiligten, Darstellern wie Zuschauern, auszuführende Faust-Recherche. Der erste Teil wurde im Zentralraum, dem Mittelpunkt der Kirche, vorgeführt. Für den zweiten Teil wählte der Regisseur die mobile Lösung, bei der das Publikum von Faust und Mephisto zu den jeweiligen Schauplätzen geführt wurde, die auf fünf der Seitenschiffe und Kapellen verteilt waren. Grüber vertrat die Auffassung, es komme nicht darauf an, einer Theateraufführung beizuwohnen; vielmehr müsse allen, Schauspielern wie Zuschauern, klar werden: „Du bist Faust. Du bist auf deiner Reise in den Tod! Dazu bedarf es keiner ‚Erleuchtung‘“1025. Deswegen entschied er sich dafür, Faust und die vier verschiedenen Mephisto-Interpreten in lange, graue Mäntel zu hüllen und mit tief sitzenden grauen Hüten und ebenso mit kleinen Reisekoffern auszustatten. Zur Unterscheidung trug der jeweilige ‚Mephisto‘ rote Handschuhe und ein rotes Glühlämpchen. Daraus entwickelte sich eine ungewöhnliche Perspektive. Anonyme Alltagspersonen agierten, um Grübers Faust-Vision oder, wie richtig bemerkt wurde, den „Wachtraum von einer Geschichte“ (Peter Iden1026) zu zeigen. Der Regisseur hat seinen Deutungsansatz einfach begründet: 1023 Dermutz, Klaus: Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen (s. Anm. 320), S. 9. 1024 Grüber erklärte gegenüber Colette Godard, der Theaterkritikerin von ‚Le Monde‘: „Le spectacle s’appelle ‚Faust Salpêtrière‘ parce qu’il est entièrement intégré à la topographie du lieu, à son atmosphère, à son passé, à sa signification“ (Le Monde, 15.5.1975). 1025 So zu Caroline Alexandre für die Zeitschrift ‚L’Express‘: „Tu es Faust. Tu es le voyageur de la mort! Cela ne demande aucune enluminure“ (L’Express, 19.5.1975). 1026 Iden, Peter: Vietnam, Theater und Grübers ‚Faust‘. In: Theater 1975. Bilanz und Chronik der Saison 74/75. Velber bei Hannover 1976, S. 84 f.; Zitat: S. 85. Inszenierungen zwischen 1975 und 2000  309

„Niemand von uns ist dem Teufel begegnet, jeder kann Fausts innere Reise vollenden und die sehr einfachen Gegenstände benutzen, die nötig sind, die ein Verhalten nach sich ziehen, die nicht unschuldig sind. … So ist die Reise ein Mantel, ein Koffer. Nach zwei Monaten haben wir gesehen, daß der Koffer Fausts Seele umschließt. Der Koffer erfindet für uns“1027. Das konnte Geltung gewinnen, sofern das Publikum dazu bereit war, diesen Bewußtseinsimpuls der ganz im Sinne Goethes angelegten Grüberschen Kunstübung aufzunehmen und zu verarbeiten. Auf das Essentielle reduzierte Symbolik bestimmte gleichfalls die räumliche Bildgestaltung. Über den Köpfen der Akteure hing ein länglicher Sandsack herab, in den Mephisto im Augenblick des Paktes stach, so daß ab diesem Zeitpunkt ein feiner Sandstrahl auf den Boden zu rinnen begann. Unübersehbares Zeichen für die Relativität von Zeit und Raum. Durch das Wie, die Art seiner gleichnishaften Präsentation hat Grüber es verstanden, das Publikum auf das in der Faustdichtung thematisierte Was zu stoßen. Rolf Michaelis faßte seine „Verstörung“ und „Verzauberung“ durch diese Inszenierung mit den Worten zusammen: „in der Konzentration auf wenige, große Augenblicke eines ‚armen Theaters‘ liegt für mich die provozierende Energie dieser ‚Faust‘-Variation“1028. Darin kommt die Erkenntnis zum Ausdruck, daß in den traumartigen Bildfolgen Grübers zu Goethes „Faust“ und in der häufig eintretenden Stille weit mehr an quälender Aktualität unserer gefährdeten Humanität steckte als in den von Gründgens suggestiv assoziierten Realitätsausschnitten mit Atombombe und Astronauten. Grüber hat sich zu einer eigenwilligen Auseinandersetzung mit Goethes Text und deshalb zu einer Art „Requiem“ (Roland H. Wiegenstein1029) entschlossen. Doch war das nur sein erster Geniestreich mit „Faust“. Ein zweiter folgte sieben Jahre später. Im Gegensatz zu Ernst Schröders programmatischer Berliner Inszenierung eines isolierten „Faust II“ zeigte Claus Peymann (geb. 1937) bewußt beide Teile der Faustdichtung als ein unbedingt zusammengehöriges Stück. An zwei Abenden, am 26. und 27. Februar 1977, fand im Württembergischen Staatstheater in Stuttgart die Premiere statt. Dauer: zweimal viereinhalb Stunden. Die Wirkung übertraf alle Erwartungen. Man sprach von einem „Vergnügen an Einfällen … gegen die Heiligungen der Bürgerlichkeit“1030. An die hunderttausend Besucher sahen im Verlauf von drei Spielzeiten diese Inszenierung, die dann auch zum Theatertreffen in Berlin, 1027 So Grüber in einem Interview; zit. n.: Theater heute. 7/1975, S. 16. 1028 Michaelis, Rolf: Die Seele im Reisekoffer. In: Theater heute. 7/1975, S. 14–18; Zitate: S. 14 und 18. 1029 Wiegenstein, Roland H.: Über Theater. Zürich 1987, S. 206. 1030 Rühle (Theater heute. 4/1977, S. 38).

310  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

zu den Wiener Festwochen und zum Theater der Nationen in Hamburg eingeladen wurde. Es gab entschiedene Zustimmung („Inbegriff des Theaters“, „Theatergeschichte“), aber ebenso schroffe Ablehnung („Der Faust aufs Auge“, „KlassikerKehraus“). Thomas Bernhard brachte das Ganze auf den saloppen Nenner „Von Heinrich Faust bis Henry Ford“1031. Faust wurde nämlich in dem furios inszenierten Gewimmel gerade auch als Krieger, Wirtschaftsboß und Kolonisator entlarvend gezeigt. Was Peymann im Verein mit Achim Freyer (Bühnenbild) und Hermann Beil (Dramaturgie) in fünf Monate dauernder Probezeit erarbeitet hatte, erwies sich als wirkliche Neuentdeckung von Goethes Text als einem Vehikel der Spielfreude, ohne die „Olympierlast des Geistigen“ (Günther Rühle1032). Es war indes weit mehr als bloßes „Faschingstreiben bei Dr. Faust“ (Rolf Michaelis1033), nämlich eine spielerisch vorgeführte theatralische Diskussion mit dem Autor Goethe. Fausts Streben wurde dabei verstanden als fortgesetztes Ausbrechen aus den Zwängen durchschnittlichen Lebens. Hermann Beil bezeichnete die Inszenierung als den Versuch einer „Erkundung des bürgerlichen Zeitalters“ in Gestalt „eines großen Theatervorgangs“1034. In der Tat handelte es sich um „den Abschied von Faust als einer deutschen Denkfigur“1035, also um die längst fällige Ablösung von unerträglichen, falschen ideologischen Zwängen. In voller Ausschöpfung der dramaturgischen Strukturen der Faust-Tragödie entfaltete sich vor dem Publikum eine weithin der dramatischen Vorlage folgende, denkbar breite Bildsequenz, die das Leben Fausts insgeheim als Gang durch eine verfehlte Geschichte der Menschheit vorführte. Laut Beil erfährt die Gattungsbezeichnung ‚Tragödie‘ gezielt „eine ironische Aufhebung durch die Theatermittel“1036. Am Ende aber trug dann doch der Text Goethes den Sieg davon. Ein Rezensent hat das richtig beobachtet: „Der Abend stürzt fast aus dem Übermut in die Demut. Aus dem Theaterwissen ins Gewissen. Nach Mephistos Scheitern öffnet sich der Vorhang noch einmal und vier Schauspieler lesen vor dem Ensemble einen Teil der Schlußchöre, zitierend aus dem Buch, als sagten sie: Das ist nicht von uns zu spielen, wir fügen es an. Es war ein Abgesang des Ensembles … und die als Helena prächtige, gleißende Kirsten Dene hatte das letzte Wort. Es klang so, als zitiere sie ein Rätsel, jenseits der 1031 Zit. n.: Doku, S. 11. 1032 Rühle, Günther: Faust oder der leichte Traum. In: Theater heute. 4/1977, S. 18–26. 1033 Michaelis, Rolf: Faschingstreiben bei Dr. Faust … oder das Mysterienspiel als Volkstheater. In: Die Zeit, Nr. 11/1977, 4.3.1977, S. 42. 1034 Doku, S. 5. 1035 So Rühle (Theater heute. 4/1977, S. 38). 1036 Doku, S. 6. Beil begründet den fatalen Gang Fausts durch die ‚Große Welt‘ ausführlich beim Durchgang durch die Szenenfolge des zweiten Faustteils (Doku, S. 6–10). Inszenierungen zwischen 1975 und 2000  311

feinen und derben Späße: ‚Das ewig Weibliche zieht uns hinan‘“1037. Mit einem Schlag bekam so Goethes Dichtung ihr poetisches Gewicht bestätigt. Gleichzeitig gewann dadurch die beim Doppelabend vorausgegangene und für das Publikum überraschend vergnügliche Inszenierung ihre volle Berechtigung. Letzten Endes hat Peymann damit den schwierigen Spagat geschafft, dem Theater in reichem Maße zu geben, was des Theaters ist, ohne sich an Goethe zu versündigen. Mit Recht stellte Günther Rühle den „leichten Traum“ Peymanns gleichberechtigt neben den „schweren Traum“ Grübers1038. Peymann und seine Mitstreiter1039 haben die gesamte Palette von Goethes Dramaturgie ausgespielt und damit dem Gerede von der Unspielbarkeit des angeblichen Lesedramas „Faust II“ ein Ende bereitet. Die Umsetzung der enormen Lebensbuntheit des Stückes stellt ihre besondere Leistung innerhalb der Aufführungsgeschichte dar. Klaus Michael Grüber ließ es sich nicht nehmen, seiner alptraumartigen ersten Konfrontation mit der Faustdichtung im zweiten Anlauf eine noch schärfere Zuspitzung zu geben. Zum einhundertfünfzigsten Todestag Goethes gestaltete er am 22. März 1982, genau zum Zeitpunkt von dessen Ableben, eine düstere, minimalistisch ausgeführte Variante seines Pariser „Faust“-Experiments. Vor dem Publikum der Westberliner Freien Volksbühne entfaltete sich kein Traum mehr, sondern eine Folge direkter, schmerzlicher Erinnerungen, der dürre „Abglanz eines ganzen Menschenlebens“ (Peter von Becker1040). Daraus entstand vor dem geschrumpften Hintergrund des ersten Faustteils ein extrem reduziertes Inbild der Faustdichtung. Zu sehen waren bei dieser umakzentuierenden „Faust“-Recherche nur noch punktuelle Rückblicke, Bilder des Bewußtseins eines einsamen, verbrauchten, gealterten Faust, gleichsam dessen existentieller Rest am Ende einer Lebenswanderung. Dieser gebrochene Faust war alleinige Mittelpunktfigur, Mephisto lediglich noch sein Schatten, Gretchen bloße Erinnerung. Den angemessenen Rahmen dazu lieferte „das dunkel-kärgliche

1037 Rühle: Theater heute. 4/1977, S. 26. 1038 Rühle, a.a.O., S. 16. 1039 Neben Achim Freyer, Hermann Beil und Hansgeorg Koch (Musik) waren das Martin Lüttge (Faust), Branko Samarovski (Mephisto), Therese Affolter (Gretchen), Kirsten Dene (Helena) sowie Peter Brombacher, Lore Brunner, Traugott Buhre, Marcus Fritsche, Urs Hefti, Gerhard Just, Ignaz Kirchner, Hans Mahnke, Anneliese Römer, Karin Schlemmer, Martin Schwab und Gert Voss, um wenigstens sie zu nennen. 1040 Becker, Peter von: ‚Was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen‘. Nach Grübers ‚Faust‘. In: Theater heute. 5/1982, S. 1–7; Zitat: S. 5.

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Bühnenbild“1041 von Gilles Aillaud: ein dunkelroter Samtvorhang und eine eigenartige große Glaskugel suggerierten von vornherein schwer lastende Zerbrechlichkeit. Zu Beginn las der Intendant der Volksbühne, Kurt Hübner, aus einem Reclamheft die „Zueignung“. Damit war das Publikum eigentlich auf „schwankende Gestalten“ vorbereitet. Grüber machte davon rigorosen Gebrauch. Seiner Konzeption „reduktiver Regie“1042 nach war nur noch Platz für Fausts Erinnerungen vor seinem Abgang, keinesfalls mehr für die beiden anderen Vorspiele, den Erdgeist und den Osterspaziergang, für Auerbachs Keller, Hexenküche, Walpurgisnacht, Frau Marthe Schwerdtlein, Valentin und dergleichen, erst recht nicht für den zweiten Faustteil. Die Gretchenhandlung blieb rudimentäre Andeutung. Wagner durfte lediglich kurz auftreten, um die Pointe anzubringen: „Ihr last gewiß ein griechisch Trauerspiel“. So erklärt sich der kritische Einwand gegen diese Inszenierung: „Grüber hat … ein anderes Stück gespielt und neu im ‚Faust‘ entdeckt“1043, also eine Art „Urfaust“-Umarbeitung post festum. Schlimmer noch, ein anderer Kritiker vermißte Licht, Text und Schauspiel, kurz: alles, was das Theater ausmacht. Dabei spürte Grüber extrem theatralisch und intensiv der quälenden Einsamkeit eines Wissenschaftlers nach, der weithin am Leben vorbeigelebt hat. Visualisiert wird das durch die im kargen Raum entfaltete, fast erloschene, aber doch irgendwie fortlebende Körperlichkeit der von Bernhard Minetti interpretierten Titelfigur. So erhielt der erste Faustteil einen völlig neuen Akzent. Der in einen langen Mantel gehüllte Faust geht am Ende, an seinem Wanderstab und nur mit einem Rucksack ausgestattet, wortlos, aber gefaßt aus seinem Leben hinaus ins Dunkel1044. Mit Minetti hatte Grüber schon 1973 in Bremen „Das letzte Band“ von Samuel Beckett inszeniert. Diese produktive Zusammenarbeit brachte ihn wohl dazu, gerade ihm diese gänzlich anders geartete, außergewöhnliche Rolle Fausts anzuvertrauen. Gewiß in voller Absicht war ebenso im Programmheft Goethes „Marienbader Elegie“ von 1824 abgedruckt, jene Verse später Liebe zur jungen Ulrike von Levetzow, als leiser Wink einer biographischen Anspielung in Grübers Interpretation: „Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren“1045. Diese resignative „Faust“-Version hatte trotzdem auch eine Spur von jener wissenden entelechischen Hochstufe, die es Goethe 1041 So nach Böhm (Böhm, Guido: Grüber – Marthaler – Stein – Drei Regisseure inszenieren Goethes Faust. München, Ravensburg 2003, S. 23 und 34). 1042 Ders., a.a.O., S. 24. 1043 Ders., ebd., S. 6. 1044 Günther Rühle schrieb hierzu mit Recht: „Aufbruch zum letzten Weg. Es war ein Abschied, leise, elegisch, ein Endspiel mit Faust. Es wirkte später wie die Einleitung seiner Auflösung“ (Rühle, S. 38). 1045 WA I.3.1, S. 26 (V. 133 der „Elegie“, des Mittelstücks der „Trilogie der Leidenschaft“). Inszenierungen zwischen 1975 und 2000  313

ermöglichte, im zweiten Faustteil den tragischen Schluß aufzuheben. In beiden Fällen schwingt eine kosmische Dimension mit. Grüber brachte sie auch klanglich auf die Bühne – mit einigen Takten aus der letzten Klaviersonate (‚il testamento‘) von Beethoven (op. 111 in c-Moll). Was da im Berliner Theater und gleichzeitig im Fernsehen (ZDF und ORF1046) vorgeführt wurde, war keine Gretchentragödie, sondern ein in langsamer Konzentration entwickeltes Faust-Requiem. Dem Großteil des verstörten Publikums mißfiel der so extrem zerschnittene „Faust I“. Die zahlreichen Unzufriedenen im Saal und vor dem Fernsehgerät hatten etwas anderes erwartet als ein Monodrama mit nur drei weiteren Mitwirkenden1047. Demgegenüber lobte Rolf Michaelis die szenische Organisation eines intensiven „Theaters der Verweigerung“. Überzeugend begriff er diese ganz nach innen gerichtete theatralische Wiedergabe als „unserem Nachdenken offene“ Herausforderung1048. Zweifellos sah er damit die tieferen Absichten des Autors erfüllt. In der Tat hielt sich Grüber an die Maßgaben der Bewußtseinsdramaturgie Goethes. Er konnte sich auf dessen „Maxime“ berufen: „Die größte Achtung, die ein Autor für sein Publikum haben kann, ist, daß er niemals bringt, was man erwartet, sondern was er selbst auf der jedesmaligen Stufe eigner und fremder Bildung für recht und nützlich hält“. Am Ende gilt freilich für dieses kühne Denkexperiment jene andere „Maxime“ Goethes, die da lautet: „Tief und ernstlich denkende Menschen haben gegen das Publikum einen bösen Stand“1049. In vollem Gegensatz zur Grüberschen Innensicht des Fausttextes stand der konkrete Wirklichkeitsbezug der Inszenierung Einar Schleefs (1944–20011050) in Frankfurt am Main 1990. Nur bedingt hatte sein Zugriff mit Goethes „Faust“ zu tun, obwohl sich der Regisseur mit seiner Spiel-Collage weithin auf den Originaltext berufen konnte. Jedoch führten eigenwillige dekonstruierende Zusätze, Umstellungen, Wiederholungen, mehr noch Weglassungen, ja sogar akustisch verfremdende Wortzer1046 Die Fernsehfassung wurde von dem französischen Regisseur Bernard Sobel gestaltet. 1047 Außer dem zentralen Faust (Bernhard Minetti) spielte ein gewollt unauffälliger, aber intensiv präsenter Mephisto (Peter Fitz), der, zu allem bereit, die Introspektion Fausts wie ein anderes Ich begleitete; schließlich noch die beiden einzigen erinnerten Figuren, Gretchen und Wagner: Gretchen (gespielt von der 17jährigen Laienschauspielerin Nina Dittbrenner) sowie der nur einmal kurz auftretende Wagner (Gerd Davids). 1048 Michaelis, Rolf: Theater für das dritte Auge. In: Die Zeit, Nr. 14/1982, 2.4.1982. 1049 MuR: 77 und 498; ebenso: HA 12, S. 503 f. (Nr. 984 und Nr. 989). 1050 Schleef war ein Multitalent: Schriftsteller, Maler, Bühnenbildner, Regisseur, der, wie Heiner Müller sagte, „den Chor zum Protagonisten machte, weil er die Geburt des Protagonisten aus der Unterwerfung der Frau nicht akzeptiert[e]“ (Vorwort zum Katalog der Ausstellung ‚Republikflucht Waffenstillstand Heimkehr‘, Berlin 1992).

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legungen dazu, daß für das Publikum Goethes Text bestenfalls assoziativ wiederzuerkennen war. Eigentlich war die Inszenierung darauf aus, eine sehr ernst und traurig angelegte „Faust“-Parodie vorzuführen. Zudem fanden die Aufführungen, wie schon die seiner „Götz“-Inszenierung im Jahr davor, nicht im Theater, sondern im riesigen Bockenheimer Depot statt. Des weiteren mutete Schleef dem Publikum ein choreographisch streng geordnetes Aufgebot von zweiunddreißig Schauspielern zu, darunter ein bei Goethe nicht vorgesehener Satan, dargestellt von Richy Müller, vier Hexen, zwölf Gretchen, elf Faustdarsteller, allesamt bloß Heinrich genannt1051, aber wenigstens nur ein Mephisto, letzterer gespielt von Martin Wuttke. Die merkwürdig verkleinerte „Faust“-Variante löste im Saal wütende Proteste und auch türenknallende Abwanderungen aus. Die Neigung Schleefs zu pathetisch-chorischem Sprechen war nicht dazu angetan, die Welle der Ablehnung abzumildern. Im Gegenteil, die theatralischen Exerzitien des chorischen Frontaltheaters trugen wesentlich zum vorherrschenden Unmut bei. Die gesamte Aufführung wirkte auch von der dunklen atmosphärischen Gestaltung des Raumes und den gewollt scheußlichen Kostümen her für manche bestürzend, für nicht wenige einfach unverständlich. Gewisse drastische, zunächst albern erscheinende Plattheiten wie die symmetrisch gruppierten, auf sechs Eimern hingekauerten und kollektiv pinkelnden Gretchenpaare führten dazu, daß Rolf Michaelis in der ‚Zeit‘ seine teilweise anerkennende Besprechung mit der abwertenden Überschrift „Faust im Eimer“ versah1052. In Wahrheit war Schleef jedoch ehrlich darum bemüht, die Bühnen-‚Wirklichkeit‘ zum produktiv-anregenden Bestandteil der Betrachterwirklichkeit zu machen. In die alles andere als komische, stückzertrümmernde Klassiker-Paraphrase war vom Regisseur zur Zeit der deutschen Wiedervereinigungs-Euphorie im Jahr nach dem Mauerfall ein offenkundiger Gegenwartsbezug in Gestalt eines höhnischen Abgesangs auf die verschwundene DDR listig bis hinterlistig eingebaut1053. „Faust“ 1051 Rühle hielt dazu fest: „es war ein ‚Faust‘ ohne Faust, aber mit vielen Fausten“ (Rühle, S. 39). 1052 Michaelis, Rolf: Faust im Eimer. In: Die Zeit, Nr. 28/1990, 6.7.1990. Hinsichtlich der Schlußgestaltung spricht einiges für die These Böhms, der das Schließen des Vorhangs durch Mephisto wie folgt interpretiert: „die Aufführung diskutiert nicht mehr den Inhalt des Dramas ‚Faust‘, sie reflektiert vielmehr dessen theatrale Eigenschaften“ (Böhm, s. Anm. 1041, S. 35). 1053 Birgit Wiens weitet diese Kritik auf die in der Tat mitschwingende „De-Konstruktion eines deutschen Mythos“ aus (Wiens, Birgit: „Mein lieber Sohn … / Du mußt sterben“. Einar Schleefs Frankfurter Faust als De-Konstruktion eines deutschen Mythos. In: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hrsg.): Im Auftrieb. Grenzüberschreitungen mit Goethes ‚Faust‘ in Inszenierungen der neunziger Jahre (= Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste, Bd. 36). Tübingen 2002, S. 63–88). Inszenierungen zwischen 1975 und 2000  315

als inszeniertes Anti-Requiem für die sich selbst überlebt habende ‚Arbeiter- und Bauern-Erziehungsanstalt‘. Dieser konzeptionelle Wurf blieb weithin unbeachtet, obgleich der Regisseur eindeutige Rezeptionswegweiser eingefügt hatte. Anfang und Ende standen im Zeichen des Scheiterns, etwa in dem chorisch vorgetragenen Faust-Eingangsmonolog („Habe nun, ach! … / Da steh ich nun, ich armer Tor / Und bin so klug als wie zuvor!“, V. 354–359). Mehr noch: Nicht bloß sangen die Gretchen in der „Kerker“-Szene, im Kreis marschierend, das „Lied der Moorsoldaten“. Mit ebenso entlarvender Absicht ertönte in der weit nach vorne verlagerten „Grablegungs“Szene der Gesang der Lemuren, vom gesamten Ensemble nach Choralklängen aus Bachs ‚Matthäus-Passion‘ vorgetragen: „Wer hat das Haus so schlecht gebaut, / Mit Schaufeln und mit Spaten? / … Wer hat den Saal so schlecht versorgt? / Wo blieben Tisch und Stühle? / Es war auf kurze Zeit geborgt; / Der Gläubiger sind so viele“ (V. 11604 f. und 11608–11611). Schleef war nachweislich ein gründlicher „Faust“Leser und ein ebenso gründlich geschädigter DDR-Kenner. Das faustische Scheitern wurde ihm zum Bild für das Scheitern der DDR. Unübersehbar, unüberhörbar führte er diesen Zusammenhang in exzessiver, doch in sich konsequenter Bildfolge vor. Seine szenisch verfremdete Klage über den Verrat der DDR an der Utopie einer Volksdemokratie wollten die ‚Wessis‘ aus der Geburtsstadt Goethes indes nicht sehen. Sie merkten nicht, wie hier einer assoziativ Zorn und Empörung über eine unmenschliche Diktatur zur Kunstproduktion ausarbeitete, indem er sie in der Kombination mit „Faust“ zur indirekt ansetzenden, satirisch-exotischen Trauerfeier umgestaltete. Daß er damit nur Ratlosigkeit auslöste, kann man nicht ihm ankreiden. Sein durchdachter theatralischer Knalleffekt hatte vielmehr das Zeug zum ‚Stück der deutschdeutschen Wiedervereinigungs-Szenerie‘. Leider spielte das Publikum nicht mit. So geriet der mögliche Triumph zum Desaster. Schleefs zweiter Versuch einer „Faust“Aufführung 1993 im Berliner Schillertheater wurde leider der Öffentlichkeit schmählich vorenthalten. Wegen der definitiven Schließung des Hauses konnte die fertig geprobte Inszenierung nicht mehr aufgeführt werden. Schleef sah sich gezwungen, in einem 1997 veröffentlichten Essay mit dem Titel „Droge Faust Parsifal“ die Frankfurter Dramaturgie wie überhaupt seine Theaterarbeit ausführlich zu begründen und theatergeschichtlich einzuordnen. Er hat seine Außenseiterposition, wie er selbst sagte, „weder angestrebt noch beabsichtigt“, sie wurde ihm „stets neu zugewiesen“1054. Seit er nicht mehr lebt, fehlt der herausfordernde Gestus seines mit ungewöhn­lichen Mitteln arbeitenden wirklichkeitskritischen Zeigetheaters. Nur drei Jahre später, am 4. November 1993, kam eine dem Geiste nach grundverschiedene, in der Form einer Extremcollage jedoch vergleichbare Inszenierung auf die Bühne des von der Gründgens-Last in Sachen „Faust“ über etliche Jahrzehnte 1054 Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. 2. A. Frankfurt/M. 1998, S. 100.

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hin gelähmten Hamburger Schauspielhauses. Der Schweizer Komponist, Musiker und Regisseur Christoph Marthaler (geb. 1951) machte dieser historischen Bürde schlagartig ein Ende mit einer tieftraurig-ironischen Radikaldekonstruktion von nicht einmal achthundert bunt durcheinander gemischten Versen aus Goethes „Faust“ mit zahlreichen eingeflochtenen, mehr oder weniger witzigen Zusätzen und viel Musik vom Volkslied bis zum Schlager, von Mozart und Beethoven über Schubert, Weber und Wagner zu Satie1055. Seine dreistündige Text-Musik-Performance versah er mit der enigmatischen Überschrift „Goethes Faust √1+2“. Kurioserweise gestaltete sich sein skurril-melancholischer Wurzel-Faust zum Publikumserfolg, obwohl auch er fünf Mephistos und vier Gretchen aufbot, dazu noch ein landstreicherartiges ‚Duo‘ in Gestalt von Faust ( Josef Bierbichler) und den teils einzeln, teils geschlossen auftretenden Mitgliedern des Mephisto-Quintetts. Vermutlich war die günstige Resonanz in erster Linie der vergnüglichen textuellen Unterfütterung und der eingängigen Musik zu verdanken. Dabei etwa vermittelte Hoffnung zu assoziieren führt allerdings in die Irre1056. Eher unterstrichen die Klänge karikierend das Verlorengegangene. Mit Goethes „Faust“ war es bei Marthaler nicht weit her. Allein die deformierte Titelfigur war wenigstens halbwegs strukturiert. Alle übrigen Mitwirkenden bildeten bloß noch ein Sprechkollektiv mit verteilten Rollen und körperlosen Phantasien. Man konnte sie nicht mehr als dramatische Figuren ausmachen. Es waren psychisch Angeschlagene, eben Marthalers ‚Wurzelfiguren‘, verloren im klaustrophobisch verschlossenen Zuchtlabor eines tristen Betonraums mit unzugänglichem Aufzug und einer nicht nach außen führenden Drehtür. Anna Viebrock hatte zu diesem „absurden Raumschiff mit sinnlos tätigen Menschen“1057 das angemessene Bühnenbild zu Marthalers Regiearbeit beigesteuert. Der vorgeführte offenkundig völlig heruntergekommene Faust ist mit seinem Erlebten geschlagen. Melancholische Erinnerungsarbeit hindert ihn an weiterem 1055 Als Volkslied ertönte: „Wir sitzen so fröhlich beisammen …“, sodann, immer wieder eingestreut, aus der gängigen Folge: Mozarts „Ave verum corpus“, kombiniert mit de Sade, Beethovens „Mondscheinsonate“, Schuberts „An die Musik“, Webers Jägerchor aus dem „Freischütz“ und Wagners Matrosenchor aus dem „Fliegenden Holländer“ sowie das „Lied an den Abendstern“, dazu noch Saties „Vexations“ und Schlager. 1056 Gegen Böhm, s. Anm. 1041, S. 56 („Mit der Musik holt Marthaler die Hoffnung in seine Alptraum-Welt“). Wenig überzeugend sind ebenso Böhms Thesen zur angeblichen Traumdeutung Marthalers (a.a.O., S. 42–52), vor allem die unterstellte „Parallele zur Dada-Bewegung“ (a.a.O., S. 52). 1057 So die Formulierung Rühles (Rühle, S. 39). Vgl. hierzu Dermutz: Gespräch mit Anna Viebrock: Die Kunst der Einkerkerung. In: Dermutz, Klaus: Christoph Marthaler. Die einsamen Menschen sind die besonderen Menschen. 2. A. Salzburg, Wien 2001, S. 53–66. Inszenierungen zwischen 1975 und 2000  317

Tun, lähmt ihn1058. Er ist alles andere als „strebend bemüht“. Die bescheidenen ‚Handlungen‘ vollziehen sich nur noch mühselig, mit größter Langsamkeit. Ähnlich wie bei Grüber haben wir es mit der Versuchsanordnung eines Endzeitspiels zu tun. Ähnlich wie bei Schleef ist die Geschichte vom nicht mehr strebenden, energielosen Faust nur noch Folie für den Gesamtbefund einer lethargischen, schuldbeladenen Menschenwelt. Wie bei den beiden Vorläufern bleibt allein ein mehr oder weniger erkennbarer Kern des Faustgeschehens übrig: Bilder und Worte enttäuschter Sehnsucht und schmerzlicher Erinnerung. Alle sind mit Faust in dieses Geschehen verstrickt, fügen sich zu einer apathischen, „im Leiden verbundenen Gemeinschaft“1059. Für die Eingesperrten gibt es keinen Ausweg. Auch hier dreht das Ganze sich im Kreis. Wie am Anfang Faust nur allmählich in seinen Monolog hineinfindet, verliert er am Ende seine Sprechfähigkeit schnell und gründlich: „… Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch du bist o ön! / Es kann die ur von mei-eetage / I i äoe ue“1060. Für das neurotische „Endzeit-Happening“1061 gibt es danach bloß die mephistophelische Konsequenz: „Und auf Vernichtung läuft’s hinaus“ (V. 11550). Der Schlußsatz der „Faust“-Variante Marthalers kann deshalb nur noch verkürzt lauten: „Das Ewigweibliche / Zieht“. Unter diesen Worten werfen die Gretchenfiguren ihre „Faust“-Ausgaben in den Treppenschacht. Dieser für die Inszenierung insgesamt bezeichnende Einfall gerät zum scheelen Trick1062. Im Grunde bleibt von dem szenischen Musikabend um einen Anti-Faust bestenfalls eine subjektive Tragödie und deren vielfaches Vorkommen im Weltgeschehen übrig, „ein Echo von Tumulten und von Schatten“, wie es in dem Faust-Fragment des von Marthaler geschätzten portugiesischen Dichters Fernando Pessoa heißt1063. Mit Goethe hatte die eigentümlich 1058 Deshalb stellte Rolf Michaelis seine Besprechung der Aufführung mit Recht unter das Motto: „Wiederkäuer Faust“ (in: Die Zeit, Nr. 46/1993, 12.11.1993). Vgl. hierzu: Dermutz, Klaus: Weltentrauer und Daseinskomik des Halbgebirgsmenschen Christoph Marthaler. In: Dermutz (s. Anm. 1057), S. 9–52, vor allem: S. 36–41. 1059 Böhm, s. Anm. 1041, S. 39. 1060 Nur dieses Gestammel bleibt von den Versen: „Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn“ (V. 11579–11584). 1061 So die Formulierung von Matthias Wegner (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.11.1993). 1062 Gleiches gilt für die vielen Brillen, die als symbolische Seh- und Verständnis-Hilfen der sogenannte Mephisto dem sogenannten Faust laufend verpaßt, ebenso für dessen als Zigarrenanzünder dienendes rot glimmendes Rattenschwänzchen. 1063 Pessoa, Fernando: Faust. Eine subjektive Tragödie. Fragmente. Übersetzung von Georg Rudolf Lind. Zürich 1990, S. 195. Marthaler hat diesen Text 1992 im Theater Basel

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humoristische Wurzelzieherei lediglich am Rande zu tun. Zerstörung, „Leere und Langsamkeit“1064 stehen im Gegensatz zur faustischen Dynamik. Zu viele andersgerichtete, diffus bleibende und die Konzentration störende Imaginationsräume wurden aufgerissen. Den von einem Theaterwissenschaftler gerühmten sezierenden „Traum über ‚Faust‘“1065 herauszufinden wird „Faust“-Liebhabern schwerlich gelingen. Klassikermüll gehört eben nun einmal zu den Requisiten der in sich konsequenten künstlerischen Konzeption Marthalers. Unter dem Eindruck der bisher betrachteten Inszenierungen im Geiste eines mehr oder weniger gelungenen ‚Regietheaters‘ und eines demgemäß ausgeprägt subjektiven, sehr freien, gelegentlich stark überzogenen, fahrig formlosen Umgangs mit der Vorlage der Goetheschen Faustdichtung muß der Ansatz von Peter Stein (geb. 1937) manch einem vorkommen wie aus der Zeit gefallen. Völlig zutreffend wählte Hajo Kurzenberger für seinen Artikel über Steins „Faust“-Projekt die Überschrift „Gegen den Strom“1066. In der Tat hatte sich der eigenwillige Regisseur von Goethes „Torquato Tasso“ 1969 in Bremen mittlerweile zu einem Theatraliker entwickelt, der nicht mehr nach einer betont eigenen Konzeption oder nach ideologiekritischen Ansätzen suchte, sondern den dichterischen Text zur theatralischen Grundlage für seine Arbeit machte. Seine wachsende Skepsis gegenüber dem ‚Regietheater‘ brachte ihn dazu, als reproduzierender Künstler immer mehr und mit Sorgfalt der dramaturgischen Logik und den Wirkungsabsichten der Autoren nachzuspüren. Statt subjektiver, von außen kommender Gewalttätigkeit gegenüber dem Primärtext und werkzerstörerischer Besserwisserei suchte er, zum Textpuristen geworden, die theatralische Erkundung von Form und Gehalt des „Faust“-Dramas ohne die üblichen Streichungen. Geraume Zeit schon beschäftigte ihn der Gedanke einer noch nie realisierten ungekürzten Aufführung beider Teile der Faustdichtung, also sämtlicher 12.111 Verse. Diesem Manko wollte er abhelfen. Strikt vertrat er die überzeugende Auffassung: „Meisterwerke kann man nur erkennen, indem man sie komplett zur Kenntnis nimmt“1067.

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szenisch vorgestellt als einen „in sich geschlossenen Kosmos“ (Dermutz, s. Anm. 1057, S. 36). Diesen Gestus übernahm er in Gänze für seinen Wurzel-Faust. So Dermutz im Blick auf Marthalers ‚Endspiel-Projekt‘ (Dermutz, s. Anm. 1057, S. 41). Sucher, Bernd: a. e. u. u.! Philosphophie, Juristerei. Christoph Marthaler inszeniert ‚Goethes Faust Wurzel 1+2‘ in Hamburg. In: Süddeutsche Zeitung vom 6.11.1993. Kurzenberger, Hajo: „Gegen den Strom“. Ein Nachtrag zu Steins Faust auf der EXPO 2000. In: Bayerdörfer, s. Anm. 1053, S. 203–210. Formulierung Steins in der Fernsehaufzeichnung von Markus Stein: „FAUST – Der Marathon. Das Faust-Ensemble probiert FAUST“ (ZDF, Theaterkanal, 2000). Inszenierungen zwischen 1975 und 2000  319

Im Falle der Faustdichtung hat dieser Schritt allerdings außergewöhnliche Bedingungen im Gefolge. Günstige Voraussetzungen dafür sah Stein, nach zwei Jahrzehnten erfolgreicher Arbeit an der von ihm gegründeten Berliner Schaubühne, als gegeben. Zu seiner Enttäuschung wollte jedoch die Mehrheit des Ensembles bei der Abstimmung 1992 eine mindestens anderhalbjährige Probenzeit nicht auf sich nehmen. Diese Ablehnung verstand Stein als einen „Rausschmiß“1068. Er beendete deshalb abrupt seine internationale Maßstäbe setzende Tätigkeit am Lehniner Platz, verfolgte jedoch beharrlich den Wunschtraum vom ganzen „Faust“ weiter. Gewissermaßen zur praktischen Erprobung las er in seiner Eigenschaft als Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele dort im Sommer 1993 an fünf Abenden im Alleingang die Wortmasse des „Faust II“, immerhin siebeneinhalbtausend Verse. Aber erst die besondere Möglichkeit der Weltausstellung (EXPO 2000) in Hannover erlaubte es ihm, den über Jahre hin gehegten Wunsch einer theatralischen Präsentation des „Faust“-Dramas ohne Streichungen zu verwirklichen. Nicht nur mußte er dafür ein eigens gegründetes Berufstheater mit über dreißig Schauspielern und achtzig Mitarbeitern aus dem Boden stampfen, die damit verbundene Organisation garantieren und die dafür nötigen Sponsoren auftreiben, sondern auch für die größeren Rollen Interpreten finden, die sich für gut zwei Jahre festlegten. Allein Bruno Ganz hatte sich von Anfang an dazu bereit erklärt, die Titelrolle zu übernehmen. Schließlich gelang es Stein, durch die Einbindung in die EXPO 2000 und die Mitwirkung des Fernsehens (ZDF) sowie durch Absprachen mit den Städten Berlin, Wien und einer Reihe von Sponsoren die unerläßliche materielle Grundlage für die Gesamtaufführung zu schaffen. Vor der theatralischen Leistung standen also die organisatorischen, vornehmlich ökonomisch ausgerichteten Mühen. Einen kleinen Eindruck von dieser Sisyphusarbeit vermittelt die Musterung des aufwendig gestalteten Programmbuchs1069. Zu allem Übel fiel dann auch noch der Hauptdarsteller Bruno Ganz wegen eines Probenunfalls für die Aufführungen in Hannover aus, so daß der damit überforderte Interpret des jungen Faust in den Szenen der ‚Gretchentragödie‘, Christian Nickel, für die vollständige Rolle einspringen mußte. Erst bei den Aufführungen in Berlin (in der Arena in Treptow) und Wien (im Meidlinger Kabelwerk) mit Ganz war dann Steins Regieleistung angemessen zu sehen. Das Ereignis wurde allein schon wegen der Gesamtdauer

1068 Äußerung Steins im Gespräch mit Peter von Becker (Theater 1993. Jahrbuch der Zeitschrift Theater heute. Stuttgart 1994, S. 28: P.S. zu P. S.). 1069 Peter Stein inszeniert FAUST von Johann Wolfgang Goethe. Das Programmbuch Faust I und II. Hrsg. v. Roswitha Schieb unter Mitarbeit von Anna Haas. Köln 2000.

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von gut zwanzig Stunden (die nötigen Pausen mitgerechnet) zum ‚Faust-Marathon‘ erklärt. Für das Fernsehen wurde eine fünfzehnstündige Filmfassung hergestellt1070. Was aber erbrachte dieses theatralische Großereignis? Worin bestand die besondere Leistung Steins? Um diese Fragen zu beantworten, muß man etwas weiter ausholen. Das Publikum bekam nämlich nicht bloß eine geistesgeschichtlich und bühnenpraktisch gründlich vorbereitete Aufführung präsentiert1071, bei der erstmals keinerlei Streichungen am Gesamttext vorgenommen wurden, sondern auch eine auf genauer dramaturgischer Reflexion beruhende, theatralisch opulente Regieleistung, die den von Dingelstedt und Wagner gehegten Traum von einem FaustFestspiel überzeugend für die Gegenwart in die Tat umsetzte. Gewiß, Stein wollte „kein Weihe- oder Festspiel zu weltanschaulichen Zwecken“ im Sinne Rudolf Steiners, aber ebensowenig eine Fortführung der „unseligen Tradition der ‚Fassungen‘“1072. Er lehnte Strichfassungen ebenso ab wie die verbreiteten konzeptioneller Eigenmächtigkeit entspringenden Neufassungen oder Umarbeitungen. Demgegenüber versuchte er eine möglichst genaue Umsetzung der Goetheschen Dramaturgie und wandte sich darum strikt gegen ichbezogene, die poetische Dimension zwangsläufig verkleinernde Eingriffe. Seine Regie setzte auf Genauigkeit und visuelle Symbolkraft. GoethePhilologen stellte das natürlich weithin zufrieden, ein guter Teil der Theaterkritiker hingegen monierte das als anachronistisch-sklavische Werktreue. Dabei inszenierte Stein einfach den „Faust“-Text, allerdings nicht in der Reduktionsmanier der zeitgemäß-postmodernen Bearbeitungsfanatiker, sondern, Goethe beim Wort nehmend, als ein Drama des 18. und 19. Jahrhunderts, das überraschend und auf schlagende Weise unsere heutigen Probleme behandelt. Stein verwies dabei auf die im Faust-Komplex behandelten „Themen und zentrale[n] Probleme des sogenannten modernen Menschen wie Zukunftsverfangenheit und Zukunftslosigkeit, Überhandnehmen des Virtuellen in Ökonomie und Alltagsleben, Schaffung künstlicher Intelligenz, den fatalen Drang zum Eingriff in die Natur und ihre Umgestaltung, die verheerende Folgen des Drangs der Übereilung, der Beschleunigung der Erlebnisabläufe, usw.“1073 Wohl wissend um die Schwierigkeiten, ein Stück mit so hohen Ansprüchen und einer reinen Spieldauer von rund 1070 Die Fernsehadaption von Peter Schönhofer („Faust I“) und Thomas Grimm („Faust II“) wurde vom 16. bis 18.2.2001 von ZDF und 3Sat ausgestahlt. Bald danach wurde eine abrufbare ‚Online-stream-Version‘ erstellt. 1071 Früh schon stellte Peter Iden als Kennzeichen der Regiearbeit Steins die „intensive geistesgeschichtliche und praktische Vorbereitung“ der Aufführungen heraus (Iden, Peter: Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970–1979. Frankfurt/M. 1982, S. 16). 1072 Stein, S. 9 („Zur Entstehungsgeschichte unserer Aufführung“). 1073 Stein, S. 8 f. Inszenierungen zwischen 1975 und 2000  321

fünfzehn Stunden dem Publikum schmackhaft zu machen, gestaltete er seine lebensvolle Inszenierung bewußt zu einem kulinarisch-theatralischen Schau-Spiel, ganz ohne rein subjektiv ansetzende regieästhetische Umdeutungen, aber auch entschiedenermaßen kein bloßes Texttheater, sondern eine davon ausgelöste Fülle existentieller Erfahrungen und szenisch ins Bild gesetzter Erlebnisse voll brennender Fragen an das Publikum. Zweifellos setzte diese „Faust“-Inszenierung, abgesehen von einigen weniger gelungenen Szenen („Auerbachs Keller“ mit gedrillten Korpsstudenten, plumpe „Walpurgisnacht“, „Offene Gegend“: Philemon und Baucis in einer Bretterbude), völlig neue theatralische Maßstäbe in der Aufführungsgeschichte der Faustdichtung. Im Sinne der offenen Bauweise und der vielschichtigen Dramaturgie Goethes kam Stein zu dem einleuchtenden Schluß: „Das Stück besitzt eine dramatische Struktur, die erst im 20. Jahrhundert ausgearbeitet und akzeptiert wurde. Denn seine Makrostruktur ist zyklisch angelegt, die Handlung in wiederkehrenden Kreisen angeordnet, die sich spiralenförmig übereinanderschieben. Die Binnenstruktur benutzt das Formprinzip der Reihung einzelner ‚Nummern‘ (in der Art einer Revue, kabarettartig). Diese ‚Nummern‘ haben die Tendenz, in kleinere und kleinste ‚UnterNummern‘ zu zerfallen – alles Formprinzipien des 20. Jahrhunderts – wie auch die grundsätzlich musikalischen Bauformen vieler Teile“1074. Wie von selbst relativiert sich von dieser Gesamtkonzeption her der erste Faustteil zur zwar grundlegenden, jedoch provinziell und quasi mittelalterlich begrenzt bleibenden Episode1075 vor der großen Weltfahrt durch Zeiten und Räume. Auf dieser einleuchtenden Grundlage konnte Stein behaupten: „‚Faust II‘ ist als Theaterstück geschrieben. Es benutzt das Theater als Metapher, es zitiert Theater (auf dem Theater auf dem Theater), es demonstriert die Kenntnis unterschiedlicher Theaterformen und -räume und macht ständig Anspielungen auf Aufführungspraktiken“1076. Erstmals hat hier ein Regisseur die ungemein weit gespannte dramaturgische Fülle der Faustdichtung voll erfaßt und szenisch konsequent angewandt, um so die „schwierigen Texte in den Kopf der Zuschauer zu übertragen“1077. Das war wirklich Theater als Bewußtseinstheater. Einigen Kritikern kam die Übersetzung des Textes in eine Art theatralischer Bühnenanalyse zu emotionsarm, zu wenig darstellerisch interpretiert vor1078. Sie 1074 Stein, S. 8. 1075 Deswegen war es nur konsequent, daß die Szenen gotisches Zimmer, Osterspaziergang und Kerker in ‚realistisch‘ angedeuteten Kulissen wie aus dem Fundus gespielt wurden. 1076 Stein, S. 8. 1077 Äußerung Steins (ZDF-Werkstattgespräch; s. Anm. 1067). 1078 Peter Kümmel monierte: „nur die wenigsten Sätze klingen erkannt, verstanden, gefühlt“ („Augenblick, beeil dich“, in: Die Zeit, Nr. 30/2000, 27.7.2000). Helmut

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unterschätzten dabei nicht nur die Leistung der gerade unter diesem Gesichtspunkt gründlich geprobten Inszenierung (einschließlich Atemtechnik und Körpertraining), sondern auch, weit schlimmer noch, die zwingend vermittelte Intensität von Goethes Wort- und Versgestaltung. Ohnehin ließ es sich der Regisseur angelegen sein, den überbordenden Symbolgehalt im vielfältigen Geschehen szenisch-direkt zu visualisieren. Gerade hierbei war er in seinem Element. Man mag darüber streiten, ob die Idee glücklich war, die Titelrolle auf einen jungen und einen alten Faust zu verteilen (Christian Nickel und Bruno Ganz1079), einleuchtend war auf alle Fälle die Zweiteilung der Mephistofigur in einen eleganten, intelligenten Zyniker und einen mehr grob-vulgären Teufel (Robert Hunger-Bühler und Johann Adam Oest), weil so die widersprüchlichen Dimensionen dieser spannungsvollen Gestalt ausgeprägt personifiziert erscheinen konnten. Noch nie zuvor wurde die Abfolge der zeitlich und räumlich aufgefächerten Handlung so einleuchtend in schlüssiger ‚Nummern‘-Folge präsentiert wie beim Steinschen „Faust“. Einfache Gerüste vor schwarzen Tuchwänden erlaubten einen raschen Wechsel der vielen Schauplätze1080. Gleich zu Beginn des zweiten Faustteils erschien Faust nach dem Heilschlaf in der „anmutigen Gegend“ geradezu romantisch in Weiß gehüllt und auf einem Berg mit Wasserfall hingestreckt, im Schein der aufgehenden Sonne. Der Naturrahmen läßt ihn gesunden. Das Lichtsymbol des Farbprismas begleitet ihn durch das gesamte künftige Geschehen als „farbiger Abglanz“ (V. 4727) des Lebens. Ein weiterer inszenatorischer Geniestreich gelang Stein mit der schwer zu vermittelnden allegorischen „Mummenschanz“. Er ließ sie in einer Spielgasse mitten zwischen dem Publikum revueartig unterhaltsam und zugleich belehrend ablaufen. Nicht genug damit. Die marode Situation des Kaiserhofs in der Finanzkrise weckte höchst aktuelle Assoziationen. Papiergeld als Ersatz fehlenden Münzgelds wurde symbolisch als immer noch vorkommendes Phänomen einer Staatskrise herausgestellt. In gleicher Weise wurde die „Klassische Walpurgisnacht“ mit ihren allein schon 1483 Versen zur plastischen Evokation von Traumbildern Fausts, Mephistos und des Humunculus. Was Goethe selbst als „in’s Grenzenlose ausgelaufen[e]“1081 Szenerie beschrieb, wurde atmosphärisch dicht zum instruktivheiteren Durchgang durch die antike Mythologie. Sinnlich unmittelbar wahrnehmSchödel kritisierte sogar, die Schauspieler seien zu bloßen „Sprechkulturmaschinen“ degradiert („Glotzt nicht“, in: Süddeutsche Zeitung vom 2.11.2000). 1079 Vor allem das Auftreten beider innerhalb der Gretchentragödie wirkte befremdend, zumal sie dann noch zusammen in der „Walpurgisnacht“ auftauchen. 1080 Bühnenbild: „Faust  I“: Ferdinand Wögerbauer, „Faust  II“: Stefan Mayer; Kostüme: Moidele Bickel. 1081 WA IV.47, S. 171 (an Eckermann am 9.8.1830). Inszenierungen zwischen 1975 und 2000  323

bar konnten die Zuschauer dem Disput der Naturphilosophen Thales und Anaxagoras über Neptunismus und Vulkanismus folgen und dabei über die evolutionäre oder revolutionäre Entstehung der Erde nachdenken oder beim erotischen Meerfest mit dem Muschelwagen der Galatee, an dem Homunculus in seiner Glaskugel zerschellt, die Allmacht des Eros mitempfinden. Diese durchaus vergnügliche Vorbereitung für die Evokation der griechischen Antike folgte getreulich den Visionen des Goetheschen Textes und erleichterte den Zuschauern durch ihre augenfällige Direktheit die Begegnung mit dieser heute fremd gewordenen Welt. Die Berichterstatterin von ‚Theater heute‘ erinnerte dabei mit Recht an Steins Antikenprojekt mit Übungen für Schauspieler aus dem Jahr 1973. Sie führte dazu erklärend aus, der Regisseur habe es geschafft, „als sei die Schaubühne ungestorben, noch einmal den Körper in Tücher zu wickeln, die Antike zu beschwören, ihr tragisches Maß bei Goethe nachzuempfinden, das Palasttor aufzubauen, die Priesterin von damals erscheinen zu lassen, Christine Österlein jetzt in der Rolle des phorkiadischen Scheusals, und erneut den Mänadentanz zu entfesseln, Corinna Kirchhoff als elegische Helena, ihr das Bett zu machen und den Partner zu assoziieren, der samt seiner Männer in den Burghof hinunterschreitet, das sind die Glücksmomente, die ‚Faust II‘ dem Hersteller gewährt“1082. Diese Sätze beschreiben zutreffend die theatralische Manifestation der im Zentrum stehenden Helena-‚Nummer‘. Gleichfalls stimmig verdeutlichte Stein die Zivilisationskritik im vierten und fünften Akt unter Hinweis auf die durchweg praktizierte rücksichtslose Gewaltanwendung bei Bürgerkrieg, Kolonisierung, Fortschrittsgläubigkeit, Herrschaftssucht und Gewinnstreben. Er zeigte Faust als einen gerade auch in negativer Hinsicht typischen Weltbürger. Alles in allem waren Visualisierung und Theatralisierung des Dramentextes, gestützt durch Gestik, Musik, Gesang, Choreographie, Bühnenbilder, Beleuchtung und Kostüme, so aufeinander abgestimmt, daß sie direkt das Bewußtsein der Besucher ansprechen konnten. Fragt man sich, wie der Regisseur das erreicht hat, braucht man nur über seine Regiemaxime nachzudenken, die er wie folgt formuliert hat: „Es muß nicht nur danach gefragt werden, wie ein Satz am nächsten hängt, sondern auch nach den Lücken zwischen zwei Versen, die beim Lesen nicht auffallen, aber auf der Bühne mit spannungsvollem Leben gefüllt werden können“1083. Davon lebte die Steinsche Regiearbeit. Zum guten Schluß erlaubte er sich dann doch eine eigene Interpretation. Sie ergab sich folgerichtig aus seiner Auffassung der tragischen Faustfigur. Zwar bewegte sich die Auferstehungsvision von Fausts „Unsterblichem“, wie geboten, spiralförmig nach oben. Jedoch verzichtete er darauf, den Marienkult mit Rosen und 1082 Wirsing, Sibylle: Ritter, Tod und Teufel. Peter Steins ‚Faust‘-Maschine, ein Traum um Perfektion und Machbarkeit. In: Theater heute. 10/2000, S. 18–23; Zitat: S. 23. 1083 Stein, S. 173.

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seligen Knaben szenisch auszubreiten. Er beließ es bei rein verbal-offenem „Anschaun ew’ger Liebe“1084, wie es jeglicher Glaubensrichtung zugeordnet werden kann. Damit fügte er den unzähligen Interpretationen gerade des Schlusses eine sehr zu beherzigende hinzu. Der Konzeption Goethes folgend, übernahm er dessen Vorschlag, die „Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen“1085. Der Aufstieg des „Unsterblichen“ ins Licht hebt die Finsternis um den toten Faust nicht auf. Wichtiges Nebenresultat des gewaltigen Unternehmens war sicher, daß sich mit dieser Inszenierung die Thesen von der Unspielbarkeit des zweiten Faustteils und der Unvereinbarkeit beider Teile endgültig erledigen müßten. Der Regielebenstraum Steins ist auch in dieser Hinsicht wirklich aufgegangen. Er hat, wie der Politologe und GoetheLiebhaber Ekkehart Krippendorff richtig feststellte, die ganze Faustdichtung als „lebendigstes Theater … klar und übersichtlich, transparent und nachvollziehbar auf der Bühne zum Leben erweckt“1086. Das Steinsche „Faust“-Marathon scheint für geraume Zeit in der Aufführungsgeschichte ein erratischer Block zu bleiben. Zwar fanden beispielsweise allein in der Spielzeit 2004/2005 im deutschsprachigen Raum beinahe fünfhundert „Faust“Aufführungen mit rund 150.000 Besuchern statt1087, allerdings fast durchweg beschränkt auf „Faust I“. Vor dem zweiten Faustteil schrecken eben auch weiterhin die meisten Regisseure und Dramaturgen zurück. Sie halten es nach wie vor mit der Regisseurin Andrea Breth, die, auf Goethe angesprochen, spontan äußerte: „Den zweiten Teil von ‚Faust‘ halte ich sowieso für ein Lesedrama. Das kann man meines Erachtens nur ‚mit Fußnoten‘ inszenieren, sonst versteht es kein Mensch“1088. Diese Auffassung zu widerlegen sollten sich dafür geeignete Regisseure unbedingt vornehmen.

„Faust“-Inszenierungen seit 2000 Inszenatorisch Aufsehenerregendes ist seit der Regieleistung Steins bestenfalls ansatzweise zu vermerken. Am meisten von sich reden machten zunächst, und das ist vielsagend, zwei auf dem Brocken und im Theaterhaus Jena aufgeführte Rockopern „Faust“. So läuft es eben im bundesdeutschen Alltag. Immerhin seien sechs Inszenie1084 1085 1086 1087 1088

WA I.6, S. 266 („Höheres und Höchstes“, V. 43). Zit. n.: HA 3, S. 427 (Schema zu „Faust“, um 1800); ebenso: Schöne 1, S. 577. Krippendorff, Ekkehart: Die Moderne auf dem Prüfstand. In: Freitag, 3.11.2000. Statistik des Deutschen Bühnenvereins. Breth, Andrea: Frei für den Moment. Regietheater und Lebenskunst. Gespräche mit Irene Bazinger. Berlin 2009, S. 133. „Faust“-Inszenierungen seit 2000  325

rungen herausgegriffen. Lediglich aus gegebenem Anlaß ist kurz einzugehen auf den im Jahr nach der Premiere von Steins Produktion in Weimar aufgeführten „Faust“. In diesem Zusammenhang wurde nämlich die völlig absurde Frage aufgeworfen: „Gibt es einen ‚Faust‘ nach Peter Stein?“1089 Denn natürlich kann und soll nach Stein weiterhin Goethes „Faust“ gespielt und interpretiert werden. Was jedoch über die Bretter des Nationaltheaters in Weimar ging, war in der Regie von Julia von Sell und Karsten Wiegand eine das Publikum einnehmende, ansonsten jedoch durch und durch mittelmäßige Aufführung mit einer, gelinde gesagt, sehr freien Textbehandlung und der konzeptionellen Tendenz zu teilweise krampfhaften Aktualisierungsbemühungen, vor allem durch Musikeinlagen mit eingestreuter Gewalt- und Sexsymbolik wie dann auch mit der Heimatschnulze ‚Das ist des Thürings Land‘. Der Dichtung Goethes zwang das zu viel ihr Fremdes auf. Gewiß war dabei die entlarvende Absicht herauszuhören, jedoch wurde der poetische Kosmos des Dramas durch zu viele ‚originelle Regieideen‘ zerstört1090. Nur verwundern kann, daß ein eingefleischter Germanist wie Gerhard Kaiser angesichts eines solchen Qualitätsunterschieds im Vergleich mit Steins Regietat zu der Feststellung kommen konnte: „die viel kleiner dimensionierte Weimarer Inszenierung [kann] daneben glänzend [!] bestehen, weil sie einen ebenso legitimen Wunsch erfüllt: Sie ist bei allem sensuellen und emotionalen Appell intellektuelles und konzeptionelles Theater, das sich in der einen Frage – der Faustfrage an uns – zusammenfaßt: Wohin kommt der Mensch, wenn er die Welt zum Material seines Ich macht?“1091 Kaiser ließ dabei lediglich außer acht, daß es entschieden darauf ankommt, welches Geschmacksniveau mit dem „sensuellen und emotionalen Appell“ verbunden ist. Die Gleichsetzung der Weimarer mit der Steinschen Aufführung kommt der des Räuberromans „Rinaldo Rinaldini“ von Goethes Schwager Christian August Vulpius mit den „Wanderjahren“ gleich. Sie ist eher noch schlimmer. Nach dem Steinschen „Faust-Marathon“ sind zunächst zwei Inszenierungen des Jahres 2004 zu erwähnen: die von Jan Bosse (geb. 1969) am Hamburger Schauspielhaus und die von Michael Thalheimer (geb. 1965) am Deutschen Theater Berlin. 1089 Kaiser, Gerhard: Gibt es einen ‚Faust‘ nach Peter Stein? ‚Faust‘ in Weimar: dramatische Zuspitzung nach Steins leuchtender theatralischer Bilderflut – Ein Diskussionsbeitrag. In: GJ 118/2001, S. 315–321. 1090 Nur nebenbei: 2008 wurde in Weimar schon wieder „Faust“ aufgeführt. Diesmal nur „Faust I“ unter der Regie von Tilmann Köhler, wiederum eine Strichfassung (oder eher eine Text-Montage) mit der bedenkenswerten Idee eines Rollentauschs zwischen Faust und Mephisto. 1091 Kaiser, Gerhard, a.a.O. (s. Anm. 1089), S. 321.

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Beide Regisseure beschränkten sich auf den ersten „Faust“-Teil (Thalheimer legte 2005 den empfindlich gekürzten zweiten Teil nach). Grundlegende Regieidee Bosses war der (gelungene) Versuch, das Stück mit neuem Theaterleben zu erfüllen. In dieser Absicht ließ er sich vom Bühnenbildner Stéphane Laimé ein Oval mitten zwischen den Zuschauerrängen bauen. So wurden die Besucher zu hautnah am Geschehen Beteiligten1092. Edgar Selge als ganz zeitgenössischer Faust erhob sich unvermittelt zwischen den Zuschauern und begann Goethes Text langsam, aber sicher als „Faust-Spieler“ herbeizuzitieren. Ihm folgten, jeweils gleichfalls aus dem Publikum heraus, Wagner, der Schüler, der vielstimmig verteilte Erdgeist und der österliche Chor sowie später Gretchen. Dadurch stellte Bosse eine ungewohnte, zum Mitdenken zwingende Nähe zwischen den Besuchern und dem vorgeführten dramatischen Geschehen her. Er machte die Tragödie so zu einem unausweichlichen Erlebnis aller Beteiligten: Wir leben in einer Welt ohne Erlösung. Gelegentlich eingestreute karikierende Elemente (etwa in Auerbachs Keller) wurden gekonnt abgefangen, so daß weithin der Rezensentin der ‚Zeit‘ zugestimmt werden kann, die – vor allem den Hauptakteur Selge lobend – zum Ergebnis kommt, aus diesem „Faust“ spreche „angesichts des Wahnsinns und Sterbens die nackte Verzweiflung der Existenz“1093. Goethe hat es freilich mit dem zweiten Faustteil anders gewollt. Fast zeitgleich setzte Thalheimer in Berlin durch scharfe Eingriffe in den Text ein ganz anderes Stück in die Welt. Seine unterkühlte Schrumpffassung reduzierte die Handlung auf den Kern der Tragödie eines egomanen Skeptikers und verlagerte sie dazu leider noch mit ständigem Rockgetöse überdeutlich in unsere Tage. Mit Goethe hatte diese Welt als Hölle wenig oder nichts gemein. Daran änderte auch das sechsmal wiederholte Religionsgespräch nichts. Es war, wie der Kritiker der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘, Gerhard Stadelmaier, zutreffend konstatierte: „Kein dramatisches Weltgedicht. Man sieht nur einen dramatischen Weltzustand“1094. Der von der Art der Regiekonzeption her wenig einleuchtende Zusatz einer Inszenierung des zweiten Teils der Dichtung in der folgenden Spielzeit schnitt zu allem Übel das Ende des Stückes völlig ab, so daß der skelettierte Text zum ausgenüchterten, „puren Gedankenkonstrukt“ des Regisseurs geriet – ein Vorwurf, den Thalheimer in einem Gespräch dem Text Goethes anzukreiden versuchte. Statt sich zu ärgern, zog es das Publikum mehrheitlich vor zu applaudieren.

1092 Faust: Edgar Selge, Mephistopheles: Joachim Meyerhoff, Gretchen: Maja Schöne. 1093 Thadden, Elisabeth von: Faust-Spieler. In: Die Zeit, Nr. 45/2004, 28.10.2004. 1094 Stadelmaier, Gerhard: Verdammter Faust. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2004. Die Besetzung: Ingo Hülsmann (Faust), Sven Lehmann (Mephisto), Regine Zimmermann (Gretchen), dazu in Teil 2 Nina Hoss (Helena). „Faust“-Inszenierungen seit 2000  327

Demgegenüber ging eine wenigstens halbwegs mit der Steinschen Gesamtinszenierung vergleichbare kreative Energie 2011 von der originellen „Faust-I+II“-Inszenierung von Nicolas Stemann (geb. 1968) aus, diesmal am Hamburger Thalia Theater. Durch die Kooperation mit den Salzburger Festspielen hatte sein formales Experiment von vornherein eine solide Organisations- und Besucherbasis. Das zahlreich strömende Publikum reagierte enthusiastisch. Das geschah für den ersten Faustteil weithin zu Recht. Hier lebte die Inszenierung von der einleuchtenden Idee, daß drei Schauspieler genügen, um den weithin monologisierend montierten Text den Besuchern prüfend und gleichsam entdeckend vorzustellen: Sebastian Rudolph hauptsächlich als Faust, Philipp Hochmair hauptsächlich als Mephisto und Patrycia Ziolkowska hauptsächlich als Gretchen übernahmen in dreistimmigem Vortrag alle übrigen Rollen und tauschten dabei gelegentlich auch ‚ihre‘ Rollen aus. So entstand das komplexe Bild Fausts als einer „multiplen Persönlichkeit“1095. Durchaus mit ironischem Abstand ging dieses postdramatische Spiel als offener Prozeß unterhaltsam über die Bühne. Freilich gerieten, wie kritisiert wurde1096, „Verkörperungsverbot“ und „Darstellungslust“ fortwährend in Konflikt miteinander. Ergänzend nutzte Stemann Video-Projektionseffekte, um das weithin karge Bühnenbild illustrierend auszuweiten. – Weit weniger glücklich gestaltete sich der zweite Faustteil. Ohnehin erforderten die nahezu zweihundert Rollen außer dem auf sechs Schauspieler vergrößerten Kern der Darsteller zusätzlich Sänger, Tänzer, Techniker und das ‚Helmi Puppentheater Berlin‘, um das Masken- und Figurenspiel plausibel vermitteln zu können. Das geriet zu einem stellenweise entschieden zu lauten Spektakel. Euphorion raste mit einem Bobbycar herum, Homunculus spielte E-Gitarre, bis zum Schluß ein Pop-Chor die Aufführung ausklingen ließ. Sinnigerweise wurde das Publikum laufend über den Fortgang informiert, indem eine Strichliste über die Zahl der bewältigten Verse geführt wurde. Mit gutem Grund monierte deshalb Peter Kümmel „viel theaterindustriellen Betrieb“1097, der freilich gut über die Rampe ging. Kein Wunder, daß die flotte, in kulturpessimistischer Hinsicht stimmige Inszenierung den 3sat-Preis des Berliner Theatertreffens 2012 bekam sowie eine Einladung nach Dresden, der eine ganze Reihe weiterer Aufführungen folgte, nicht zuletzt auch die ehrenvolle Präsentation bei den Festpielen in Avignon 2013. Ebenfalls vom Rollenwechsel und grundierender Ironie lebte der eigenwillige theatralische Zusammenschnitt des tschechischen Regisseurs Dušan David Pařízek (geb. 1971), der mit dem Titel „Faust 1–3“ im Schauspielhaus Zürich am 8. März 2013 1095 So Reinhard Kriechbaum in ‚nachtkritik.de. Das unabhängige Theaterportal‘. 1096 Kümmel, Peter: Nichts geht mehr? Alles geht. In: Die Zeit, Nr. 32/2011, 4.8.2011. 1097 Ders., a.a.O.

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unter dem Motto „Ein Faust, zwei Schauspieler, drei Teile“ aufgeführt wurde. Den von Goethe denkbar weit entfernten dritten Teil bildete das ‚Sekundärdrama‘ „FaustIn and out“ über Frauen in Kerkern von Elfriede Jelinek (oben „Faust“, unten Jelinek). Die im Ansatz vergnüglich servierte, intellektuelle Spielerei zwischen den Schauspielern Edgar Selge und Frank Seppeler („zwei Faust-Figuren, die gleichzeitig auch Mephistos sind“; Barbara Villiger Heilig1098) bot zwar nur einen Zusammenschnitt von „Faust I“ mit einigen wenigen Zitaten aus „Faust II“, entschädigte aber durch eine geistig lebendige, aktuell orientierte Gesamtkonzeption des „Faust“Textes, allerdings zu Lasten Goethes. Beide Schauspieler warfen einander, zur Freude des lachenden Publikums, als kabarettistische Conferenciers in frontaler Schauspielerei Faust-Zitate, einschließlich der Schillerschen „Axt im Haus“, wie Bälle zu. Gekonnt machten sie sich einen Jux damit. Gretchen sang dazu „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer“ als Rockerin am Mikrophon. Was bei alledem herauskam, zeigte die Schlußszene. Michael Skasa hat den Ablauf in der ‚Zeit‘ so geschildert: „Das Ende – eine wunderschöne Szene: Gretchen ist tot. Selge-Faust kniet hinter ihr, richtet sie vor seinem Schoß auf als Marionetten-Pietà, übernimmt ihre Texte und bewegt dazu Arme und und Kopf der Leiche; Fausts Text spricht Seppeler: Arme Schweine wir alle? Wohl doch nicht, denn im Schlußsatz blafft uns eine Frau an: ‚Ziehen Sie bitte den Mann von alldem jetzt ab. Sie können doch subtrahieren, hoffe ich‘. Parbleu, alles lacht – aber worüber: Der Satz ist wieder Kabarett, ganz ohne Sinn“1099. Mit Goethe hatte die unangebrachte Witzelei nichts mehr zu tun. Der hat solches freilich vorhergesehen. Ließ er doch seinen Direktor im „Vorspiel auf dem Theater“ ironisch sagen „Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! / Solch ein Ragout, es muß euch glücken“ (V. 99 f.). Von der Reaktion des Publikums her ist das „Stück in Stücken“ wirklich geglückt. Man fragt sich nur: Muß derartiges ausgerechnet mit „Faust“ gemacht werden? Goethes Warnung vor solchem Stückwerk gilt noch mehr für Elfriede Jelineks dritten Teil. Ihre ungleichgewichtig geratene ‚Textfläche‘ setzt sich aus verfremdeten, von drei lesenden Frauen vorgetragenen Zitaten aus dem „Urfaust“ sowie aus Quellenmaterial zur österreichischen Fritzl-Affäre1100 zusammen. Insgesamt betrachtet geriet der Abend dadurch zu einer wahren ‚Faustumgehung‘. Nicht ohne Grund bezeichnete die Nobelpreisträgerin den Text als Teil

1098 Villiger Heilig, Barbara: Die Axt im Haus ersetzt die Zimmerfrau. Faust 1–3 am Schauspielhaus Zürich. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 39, 19.3.2012. 1099 Skasa, Michael: Faust und Elfriede. Allerhand Goethe, etwas Jelinek – „Faust“-Fragmente im Zürcher Schauspielhaus. In: Die Zeit, Nr. 12/2012, 15.3.2012. 1100 Der Inzest-Täter Josef Fritzl mißbrauchte seine fast 24 Jahre lang in einer Kellerwohnung einkerkerte Tochter und zeugte mit ihr sieben Kinder. „Faust“-Inszenierungen seit 2000  329

ihrer „Sekundärdramen, … die kläffend neben den Klassikern herlaufen sollen“1101. Für die Besucher war es eine vergnügliche Mogelpackung, allerdings allzu frei nach Goethe, letzten Endes auf Kosten des kulturellen Auftrags eines Theaters. Einer gewissen Vollständigkeit wegen sei auch die Frankfurter Doppelinszenierung im Rahmen der ‚Goethe-Festwoche 2012‘ erwähnt: „Faust I“, inszeniert von Stefan Pucher (geb. 1965), und „Faust II“, inszeniert von Günter Krämer (geb. 1940)1102. An manchen Tagen wurden beide Teile als Doppelvorstellung (drei plus zweieinhalb Stunden) aufgeführt. Das war allerdings das einzig Gelungene an den gestalterisch voneinander unabhängigen Aufführungen. Das von der ortsansässigen Deutschen Bank großzügig mit einer halben Million unterstützte Unternehmen ging nämlich gründlich daneben. Pucher ließ in einer expressionistisch aufgemachten Stummfilmkulisse unter den Klängen einer nimmermüden Rockband den seines Sinnes gänzlich entleerten, übel zurechtgestrichenen Text des ersten Faustteils ablaufen. Sein Interesse am Drama Goethes beschränkte sich auf ein Erdgeist-Video mit dem Faust-Darsteller, auf die zur Heroinspritze umfunktionierte Phiole, den per Video übertragenen Osterspaziergang im Frankfurter Bahnhofsviertel, die kläglichen Reste der Walpurgisnacht (ebenfalls als Video aus dem heutigen Frankfurt), Gretchen im Minirock als „Glitzerschlange“1103, den Vortrag des Songs „When summer is coming“ als Duett des sich keinesfalls „strebend bemühenden“ Un-Fausts mit Gretchen und schließlich ein klägliches Ende ohne Gericht und Rettung. Mit gutem Grund sprach der Rezensent der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ von der „vollgedröhnten Leere“ einer „ranzigen Inszenierung“1104. – Keineswegs besser fiel der zweite Teil aus. War dort die alles entstellende Aktualisierung zu bemängeln, so hier die bemühte Gegenwartsverweigerung (abgesehen von einer total überflüssigen Anspielung auf das OccupyCamp, die kurz davor weggeräumte Zeltstadt vor der Europäischen Zentralbank). Gestrichen wurde allerdings hier noch weit mehr als bei Pucher. Krämer konzentrierte sich auf den dritten und fünften Akt, ließ also Kaiserpfalz, Mummenschanz, Homunculus, klassische Walpurgisnacht, Gang zu den Müttern, Krieg und Himmelfahrt einfach weg. Dafür entschädigte er das Publikum mit einer nackten Helena (die nebenbei auch als Sorge und Baucis auftrat) und einem Faust im weißen und schwar1101 Elfriede Jelinek in ihrer „Anmerkung zum Sekundardrama“. 1102 Besetzungen: „Faust  I“: Faust: Marc Oliver Schulze, Mephisto: Alexander Scheer, Gretchen: Henrike Johanna Jörissen; „Faust II“: Faust: Wolfgang Michael, Mephisto: Constance Becker, Helena: Valery Tscheplanowa. 1103 So Gerhard Stadelmaier in der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ vom 16.9.2012 unter dem gut gewählten Titel: „Allein, dem Weltspiel fehlt die Welt“. 1104 Ebd., ibid.

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zen Frack und im Pelzmantel. Statt Helenas Gewand blieb ihm in der Geburtsstadt Goethes bloß deren Unterwäsche in Händen. Am Ende lag Faust nackt im Schnee, tot. Das Ganze war, trotz eines großen Chors nebst Trommler, so leer wie die Kulisse des kahlen Bühnenraums. Nach alledem konnte man nur mit dem Rezensenten der ‚Zeit‘ sagen: „Hier wird niemand gerettet“.1105 Mit Goethes Drama hatten beide Inszenierungen, jeweils auf andere Weise, bloß am Rande zu tun. Es war nichts als ein teurer (Stichwort: Sponsoring) theatralischer Jammer. Dem Publikum blieb als Trost allein das Motto dieser „Faust“-Schändung: „Hilf, Teufel, mir die Zeit der Angst verkürzen“. Geklatscht wurde trotzdem, komischerweise mehr bei Krämer als bei Pucher. Verdient haben es – im Gegensatz zum redlich bemühten Ensemble – beide nicht. Die Inszenierungen in Weimar, Berlin, zweimal Hamburg, Zürich und Frankfurt stülpten über die Faustdichtung entschieden zu viele subjektive Obsessionen und eigenwillig verändernde, fragwürdig ‚aktualisierende‘ oder de-konstruierende Konzepte. Sie kümmerten sich nicht genug um das, was eigentlich Grundlage der Regiearbeit sein sollte: gründliche Textanalyse und deren überlegte szenische Umsetzung. Dem Drama Goethes konnten die gewaltsamen Eingriffe nichts anhaben, wohl aber der Wirkung in der Öffentlichkeit, weil das Unfertig-‚Lebendige‘ und die falsche Originalitätsbesessenheit das Poetisch-Spirituelle abwürgen. Hier gilt eben der Vers aus der „Zueignung“: „Verklungen, ach, der erste Widerklang“ (V. 20). Den krampfhaft versuchten ‚kreativen‘ Aufschwüngen der besserwisserischen Sekundärkünstler mit ihren gezielten Fragmentierungen und Brüchen wohnt eine abwegige Tendenz zur radikalen Dekonstruktion inne, so daß einem, traurig zu sagen, den Texten folgende, konventionell-mittelmäßige, aber bescheiden bleibende Aufführungen mittlerweile lieber sind als jene unangebrachten Aktualisierungen eines falsch verstandenen ‚sinnlichem Theaters‘, aktuell aufgemischt für diejenigen, die ohnedies kaum ein Theater betreten oder dort wenigstens nicht zum Nachdenken angeregt werden wollen. Überdeutlich wurde die zu beobachtende Fehlentwicklung erneut am Beispiel der Münchner Inszenierung von Martin Kušej1106. Sie dürfte wohl den absoluten Tiefpunkt in der neueren Rezeptionsgeschichte darstellen. Was da zum Ende der Thea1105 Schmidt, Thomas E.: Hier wird niemand gerettet. In: Die Zeit, Nr. 39/2012, 28.9.2012. 1106 Unter der Regie Kušejs spielten Werner Wölbern (Faust), Bibiana Beglau (Mephisto) und Andrea Wenzl (Gretchen). Dazu lieferte der Bühnenbildner Aleksandar Denič eine auf zwei Etagen verteilte, von einem Kran gekrönte, vorwiegend düstere Gitterkonstruktion für die vielen Bildlokalitäten. „Faust“-Inszenierungen seit 2000  331

tersaison 2013/14 unter der Ankündigung einer „dramaturgischen Reise“ durch „Goethes ‚Faust‘“ mit „fetzenbuntem Radau“ („Schüsse, Explosionen, Stroboskoplicht“)1107 in München über die Bretter des Residenztheaters ging, entpuppte sich als sinnwidrig-geschmacklos zusammenmontiertes Gemisch aus FaustZitaten, unterlegt mit selbstgefertigten Zusätzen von Albert Ostermaier und der Dramaturgin Angela Obst („… auf der Suche nach dem nächsten Kick, dem nächsten Fick“1108). Eben diese letzten Endes unverschämt-anmaßende Umarbeitung wurde vom Regisseur szenisch in eine grell-düster überhitzte Knall- und Flammen-Bildfolge umgesetzt, die leider mit dem Drama Goethes bloß einen Teil der Personenliste gemeinsam hatte. Plumpe Aktualisierungsversuche, schleimig aufgemachte Sexualimpressionen, viel Bühnenschwärze, harte Schnitte und die durchgängig dröhnende Lärmkulisse sorgten dafür, daß der Kušej offenbar nicht geheure Text im Parkett ohnehin nur schwer zu verstehen war. Statt Goethes Dramenkonzept machte der gerne provozierende Theatermacher eben – „so plakativ wie kontraproduktiv“1109 – lieber das „ewig Leere“ Mephistos zu seiner Arbeitsmaxime. Mit seinem Höllenspektakel hat er – trotz der faszinierenden Mephisto-Darstellerin Bibiana Beglau – dem Publikum einen bösen Streich gespielt. Der beim Osterspaziergang von einer Kugel niedergestreckte Herr namens Faust hat mit dem gleichnamigen Protagonisten der klassischen Tragödie reinweg nichts zu tun. Aus dem Erkenntnis suchenden Gestalter menschlicher Möglichkeiten, der an dieser hohen Zielsetzung zwar scheitert, aber immerhin der Rettung für würdig erachtet wird, ist nach Maßgabe Kušejs ein leerer Herumtreiber im Schläger-, Drogen- und Nuttenmilieu geworden. Sein ‚Faust‘ „tanzt, boxt, mordet sich durchs Leben“1110. Dabei schrumpft das Gesellschaftsbild des Regisseurs zum Abschaum-Konzentrat aus Managern, Terroristen, Waffenhändlern und Zuhältern. Gretchen stirbt verblutend mit dem Abtreibungsmesser in der Hand, Faust und Mephisto schicken als Terroristen ein ahnungsloses Kind mit einem Sprenggürtel in ein Haus. Was bei Goethe Sinnsuche des Menschen ist, erscheint hier verzerrt zur hohlen Orgie aus Blut, Gewalt und Sex. Billiger geht es wirklich nicht mehr. Unerfindlich bleibt darum dem einigermaßen mit Goethes Dramenkonstruk1107 So Michael Skasa in seiner Besprechung Hier darf ich’s sein  – und treiben. Ein fetzenbunter Radau: Martin Kušej tobt sich am Münchner Residenztheater an Goethes ‚Faust‘ aus. In: Die Zeit, Nr. 25/2014, 12.6.2014. Das Residenzthetheater warnte das Publikum freundlicherweise bereits in der Ankündigung der Premiere mit dem Hinweis auf die Lärm- und Lichtblitz-Schreckkulisse. 1108 Zitat aus dem Textbuch zur Aufführung. 1109 So die zutreffende Folgerung von Christine Dössel in ihrer Besprechung für die Süddeutsche Zeitung (7.6.2014). 1110 So Richard Mayr in seiner Rezension für die Augsburger Allgemeine (7.6.2014).

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tion Vertrauten, wie der Rezensent der ‚Zeit‘ in dieser ebenso peinlichen wie unmöglichen ‚Anti-Faust-Montage‘ eine „pfiffige Strichfassung“1111 ausmachen konnte. Das verständliche Ziel, uns den reichlich angejahrten Faust näherzubringen, wurde mit dieser Inszenierung schon im Ansatz gründlich verfehlt. Mit ‚Fausten‘ solcher Art möge uns der bisweilen schlimme Volten schlagende Theatergeist künftig möglichst verschonen. Zum Schluß ist wenigstens noch kurz einzugehen auf den „magischen GoetheKontinent“ des Berliner Ensembles (so die hauseigene Werbung) in Gestalt der Inszenierung von „Faust I und II“ durch Robert Wilson (geb. 1941). Zu seiner Konzeption gehörte die Zusammenarbeit mit Herbert Grönemeyer (geb. 1956), also eine Art Musical-Fassung der Faust-Dichtung. „Faust“ als Possenspiel, als Fabel, die man (fast) Kindern vorführen könnte. Der international tätige Theatermacher, Raumchoreograph und Lichtdesigner hat sich ganz allmählich – über Giacomo Manzoni (1989 in Mailand), Gertrude Stein (1992 in Berlin) und Charles Gounod (2008 in Paris) – an den Goetheschen „Faust“ herangetastet. Jetzt zeigte er bei der Premiere am 23. April 2015 beide Teile in einem stark verkürzten Durchgang von etwa vier Stunden. Heraus kam eine bunte, die Zuschauer überwältigende Bild- und Klangrevue szenischer ‚Nummern‘ einer von Mephisto gelenkten Faust-Show mit einer Überfülle optischer und klanglicher Effekte. Vorbereitend wurde der Prolog im Himmel breit ausgespielt. Wie stets überführte Wilson den Dramentext in ein vom ‚totalen Theater‘, aber auch von Stummfilm und Rummelplatz inspiriertes Bildund Lichttheater, das aus Goethes Tragödie einen satirisch zugespitzten, teilweise auch trivialisierend-kitschigen Bilderbogen mit allermeist bloß kurz angerissenen Szenen machte (ziemlich unerträglich: die vom Gretchen-Trio gesungene ‚Arie‘ „Meine Ruh ist hin …“; wie überhaupt die ganze Gretchentragödie verniedlicht erscheint). Durchaus Anregend-Stimmiges und Goethes Botschaft zu uns hin Weiterdenkendes leistet das Wilson-Konzept an nicht wenigen Stellen der Inszenierung wie etwa die ihre Träger hinterfragenden Lichtspots von Händen und Köpfen oder die Projektion eines jagenden Gepards, der in Zeitlupe drohend über einer unbeeindruckt von links nach rechts weitermarschierenden Menschenmeute lastet, später auch die symbolische Bildsequenz einer fliehenden Büffelherde und des gleichgültig weitermachenden Menschenalltags darunter. Goethes „Faust“ wurde voll und ganz für das 21. Jahrhundert zurechtgestutzt, der Text ohne Zögern auch auf ziemlich willkürlich ausgewählte Einzelmomente zusammengestrichen (Textfassung, besser: radikale Textstraffung: Jutta Ferbers), das fragmentierte Sprachmaterial in teils gelungene, teils eher schnulzige Songs und dröhnende, manchmal auch wieder fast 1111 Michael Skasa in seiner Rezension (s. Anm. 1107). „Faust“-Inszenierungen seit 2000  333

romantische Übergangsklänge transponiert. Schlüsselsätze ertönten einprägsam wiederholt (zum Beispiel von den vier Fausts des ersten Teils: „Habe nun ach, habe nun ach, habe nun ach, habe nun ach …“). Die Personen haben ihre individuelle Substanz weithin verloren. Diesen bedenklichen Sachverhalt präsentierten Regisseur und Komponist für das begeistert mitgehende Publikum theatralisch voll überzeugend mit teils wunderschönen Zauberbildern. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Von Goethes Faust-Kosmos bleiben unter Wilsons heiter-erfrischendem Diktat lediglich stilisierte Chiffren übrig. Auch bei ihm stoßen wir, wie neuerdings oft, auf Mehrfachbesetzungen, hier auf fünf Faust- (vier: Teil I, einer Teil II) und drei Gretchen- und Lieschen-Figuren. Ohnehin begegnen uns nur maskenhaft stilisierte, letzten Endes austauschbare Gestalten. Es ist, als lebten sie alle in Erwartung des Schreckens und des Chaotisch-Mephistophelischen. Putzmunter zeigt sich allein, souverän gespielt von Christopher Nell, der alles beherrschende, kahlköpfige Mephistopheles (als Phorkias in Teil II sogar mit langen Spinnenfingern). Elegant in schwarzem oder rotem Gewand agierend, androgyn-lasziv daherkommend, bildet er in ständiger Bewegung das aktivierende, nebenbei auch kommentierende Energiezentrum des Ganzen. Teilweise wird daraus in dieser musikalisierten Pop-Fassung teilweise ein fast spielerischer „Faust“ in der Puppenspiel- und Panoptikum-Tradition. Jedenfalls ist eine durch und durch ironisierte ‚Tragödie‘ zu sehen, bei der am Schluß der entschieden zu leicht geratene Faust weder zu Tode kommt, noch etwa gerettet wird, sondern in bester Eintracht auf einer Bank mit Mephisto zusammensitzt. Er bekommt eines der beiden Teufelshörner aufgeklebt, und beide lassen im Vereion den vielsagenden, ganz von Goethe wegführenden Dialog verlauten: „Faust: Wohin soll es nun gehen? Mephisto: Wohin es dir gefällt. Faust: Wohin es dir gefällt“. Aus Goethes allesentscheidendem Schlußgleichnis wird hier in willkürlicher Umänderung ein absurd kollektiv zelebrierter Finalsong. Trotzdem kann man mit dem Kritiker der ‚Zeit‘ anerkennend sagen: „Immer wieder blühen Wunder aus dem Schema (dem von Wilson und auch dem von Grönemeyer)“1112. Der Schluß verbindet Schauspieler und Zuschauer zu einer selten derart überglücklichen Einheit. Das soll Wilson erst einmal einer nachmachen. Trotz dieser Feststellung bleibt es dabei: Wir heißen Euch hoffen – auf einen wirklich vom Text Goethes getragenen „Faust“ für heute und morgen.

1112 Kümmel, Peter: Die Spieluhr des Teufels. In: Die Zeit, Nr. 17/2015, 23.4.2015.

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„Faust“ auf einigen ausländischen Bühnen Ein Blick über die Aufführungsgeschichte außerhalb des deutschen Sprachraums soll, wenistens in knappen Andeutungen, den Überblick vervollständigen. Die „Faust“Tradition hat, wie schon angedeutet, besonders in Frankreich eine lange Geschichte. Zahlreiche Übersetzungen, insbesondere die beiden noch zu Lebzeiten Goethes entstandenen von Gérard de Nerval und Albert Stapfer, haben viel zur dortigen Verbreitung beigetragen, wie dann ebenso die ausführlichen Besprechungen in der damals vielgelesenen Zeitschrift ‚Le Globe‘. Nimmt man noch die Illustrationen von Eugène Delacroix zur Übersetzung Stapfers sowie die „Faust“-Oper von Charles Gounod und „Fausts Verdammnis“ von Hector Berlioz hinzu, kann im westlichen Nachbarland von einer überraschend breiten Rezeption in den Anfängen gesprochen werden1113. Ähnlich wie Nietzsche als Philosoph, Wagner als Komponist, übte Goethe vor allem mit dem „Faust“ selbst nach drei deutsch-französischen Kriegen eine große Faszination auf das französische Geistesleben aus. Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, daß mitten im Zweiten Weltkrieg Paul Valéry und André Gide sich zum Hauptwerk Goethes bekannt haben1114. Leider ist nach den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit das Interesse an der Kultur des Nachbarlandes in Frankreich wie auch umgekehrt in Deutschland im Zuge der Globalisierung gegenüber früher stark zurückgegangen. Immerhin gibt es nach wie vor punktuelles Interesse, gerade auch an „Faust“. Der Choreograph Maurice Béjart inszenierte 1975 in Brüssel auf der Basis seiner Konzeption des Totaltheaters als Neudefinition des klassischen Tanzes ein Ballett mit dem Titel „Notre Faust“. Ausgehend von Goethes Konfiguration mit Faust und Mephisto, musikalisch getragen von der Musik der Bachschen h-Moll-Messe und argentinischem Tango, erarbeitete er Variationen über das Thema von Ich und anderem Ich („Le même et un

1113 Nerval übersetzte 1827 Teile der Faustdichtung, 1840 legte er eine Gesamtübertragung von „Faust I“ und „Faust II“ vor. Schon 1828 erschien die Übersetzung Stapfers mit den Illustrationen von Delacroix. Berlioz’ dramatische Legende „La damnation de Faust“ wurde 1846, Gounods Oper „Faust“ (deutscher Titel: „Margarethe“) 1859 uraufgeführt. Vgl. hierzu: Marquart, Lea: Goethes Faust in Frankreich. Studien zur dramatischen Rezeption im 19. Jahrhundert. Heidelberg 2009; ebenso: Sebastian, Birte Carolin: Von Weimar nach Paris. Die Goethe-Rezeption in der Zeitschrift ‚Le Globe‘. Köln, Weimar, Wien 2006; ferner: Breitenbucher, Jacques Robert: Goethes Faust in Frankreich von 1900 bis 1925. Madison 1926. 1114 Paul Valéry schrieb 1942 das fragmentarische Theaterstück „Mon Faust“; André Gide verfaßte im gleichen Jahr ein Vorwort zu einer französischen Ausgabe der Dramen Goethes. Schon 1932 hatte er den Essay „Leben mit Goethe“ vorgelegt. „Faust“ auf einigen ausländischen Bühnen  335

autre“). Diese Choreographie wurde dann auch in Paris und weltweit aufgeführt sowie ebenso von anderen Tanzgruppen übernommen. Die große Wirkung dieser Inszenierung in der französischen Öffentlichkeit bereitete in gewisser Weise den Boden für das theatralische Experiment Klaus Michael Grübers mit seinem „Faust Salpêtrière“ (1977). Ausschließlich auf Goethes Drama konzentriert war dann die Aufführung beider Faustteile 1982 durch die ‚Comédie de Saint-Etienne‘ in der Regie und Textbearbeitung des Elsässers Daniel Benoin („Faust et le second Faust“1115). Er legte seine originelle Inszenierung als eine Art „Welt-Traum“ an, „den Faust in seiner Kammer träumt“. Deswegen versah der Rezensent seinen Bericht mit der Zuschreibung „‚Faust‘ ein Kopfdrama“1116. Während der gesamten Aufführung blieb Fausts Studierzimmer auf der Vorbühne sichtbar, nur getrennt vom weiteren Geschehen durch eine durchsichtige Plexiglaswand. Für Frankreich war diese Inszenierung die Erstaufführung von „Faust II“. Bereits im Jahr zuvor gab es eine von Antoine Vitez viel zu grell und vordergründig inszenierte Aufführung des ersten Faustteils in der Übersetzung von Gérard de Nerval am Pariser Théâtre National im Palais Chaillot. Vitez hatte das Stück schon 1972 im Pariser Vorort Ivry aufgeführt. Aber nicht diese eher bloß punktuell wirkenden Aufführungen, sondern die 1999 veröffentlichte Neuübersetzung von „Faust I“ und „Faust II“ durch Jean Malaplate in der von Bernard Lortholary betreuten Klassikreihe bei Flammarion sorgte für eine gewisse Resonanz in der literarisch interessierten Öffentlichkeit1117. Die Kritik stimmte darin überein, daß mit dieser Übersetzung endlich eine dem Original weithin gemäße Qualitätsstufe gefunden worden sei. Bisher hat aber die Fassung Malaplates den Weg auf die Bühne noch nicht gefunden. Das hat nicht zuletzt zu tun mit der grundverschiedenen Organisation des weithin nicht subventionierten Theaterbetriebs in Frankreich. Für ein dramaturgisch und organisatorisch so komplex angelegtes Unternehmen wie die Inszenierung beider Faustteile ist da kein Platz. Um dem punktuell abzuhelfen, wurde 2013 die Stemannsche Aufführung des Hamburger Thalia Theaters zum Theaterfestspiel nach Avignon eingeladen. Die Gastspieler wurden vom begeisterten Publikum mit stehenden Ovationen für ihre Leistung belohnt. Vielleicht war das ein gutes Vorzeichen für die weitere Beschäftigung mit „Faust“.

1115 Zur Aufführung in Saint-Etienne erschien unter diesem Titel eine Dokumentation: Faust et le second Faust (Éditions Solin). Paris 1982. 1116 Becker, Peter von: Ein französischer ‚Faust‘. In: Theater heute. 5/1982, S. 3. 1117 Eine weitere Textquelle in französischer Übersetzung sei erwähnt: Faust. Urfaust, Faust I, Faust II. Édition établie par Jean Lacoste et Jacques Le Rider. Paris 2009.

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Den Engländern war die Faustfigur schon lange vor Goethe vertraut durch das 1589 erstmals aufgeführte Theaterstück des elisabethanischen Dramatikers Christopher Marlowe (1564–1593) nach dem kurz zuvor, 1587, in der Geburtsstadt Goethes erschienenen Volksbuch „Historia von D. Johann Fausten / dem weitbeschreyten Zauberer vunnd Schwartzkünstler“. Der Zeitgenosse Shakespeares machte daraus das Drama „The Tragicall History of Doctor Faustus“. Er zeigt darin das tragische, im Höllensturz endende Scheitern unbegrenzter Selbstbestimmung sowohl im Bereich der Erkenntnis als auch in dem des Machthungers und der sinnlichen Befriedigung. Am Ende wird Faust von Teufeln zerrissen. Dieses krasse Stück der Warnung vor auftrumpfender Selbstüberhebung und Gotteslästerung wurde, seines kirchenfrommen Erfolges wegen, von den englischen Wanderbühnen wie auch von den Puppenspielern übernommen und so über lange Zeit hin zu einem wahren Volksschauspiel auf öffentlichen Plätzen. Bis in Goethes Jugendzeit hinein gastierten die Wandergruppen auch auf dem europäischen Kontinent. Er lernte bekanntlich den Fauststoff als „bedeutende Puppenspielfabel“ kennen. Sein „Faust“ kam in England nur mit Schwierigkeiten zur Wirkung. Die Bearbeitung Marlowes stand dem lange im Wege. Dennoch gilt das Wort Boyles: „es war der ‚Faust‘ Goethes, nicht der Marlowes, der zu den zahlreichen weiteren Behandlungen des Stoffes … angeregt hat“1118. Gleiches läßt sich sagen hinsichtlich der Aufführungspraxis. Schon 1825 existierten etliche englische Versionen von „Faust I“ in Form freier Bearbeitungen. Lord Gower1119 schickte Goethe seine in zweiter Auflage vorliegende Übersetzung („Faust: A Drama, by Goethe“) im Mai 1825 zu1120. Gelegentlich wird sogar in der von George Soane ebenfalls 1825 erstellten Fassung nach Goethe mit dem Titel „The Devil and Dr. Faustus“, die im ‚Theatre Drury Lane‘ als „romantisch-musikalisches Drama“ aufgeführt wurde, die eigentliche Uraufführung von Goethes Drama gesehen. Eugène 1118 Boyle: Bd.  1, S.  9. Vgl. hierzu: Bluhm, H. S.: The Reception of Goethe’s Faust in England after the Middle of the nineteenth century. In: The Journal of English and German Philology. Vol. 34, 2–1935, S. 201–212. 1119 Unter dem Namen Lord Francis Leveson-Gower veröffentlichte Francis Egerton, 1st Earl of Ellesmere, die Hervorbringungen seiner literarischen Interessen. 1120 Goethe hielt allerdings nicht viel von der Gowerschen Übertragung. Er schrieb dazu am 1.7.1825 an seine Schwiegertochter Ottilie: „Lord Gowers Übersetzung ist eigentlich eine völlige Umbildung, vom Original blieb fast gar nichts übrig, deshalb er auch soviel auslassen mußte, worüber er nach seiner Weise nicht Herr werden konnte“ (WA IV.39, S. 210). Besser sagte ihm eine vorherige Version zu, bei der es sich vielleicht um diejenige von George Soane handeln könnte. Sein Urteil lautet: „Die frühere Übersetzung, von der wir nur den Anfang haben, ist weit mehr zu billigen, der Mann hält sich bey gutem Verständniß, sehr wacker an den Text und quält sich nicht mit Rythmus und Reimen“ (ebd., S. 210 f.). „Faust“ auf einigen ausländischen Bühnen  337

Delacroix wohnte dort einer Aufführung bei und soll zutreffend gesagt haben: „Es ist der Faust von Goethe, aber arrangiert, das Wesentliche ist erhalten“1121. Vieles spricht dafür, daß der Maler und Zeichner durch die Londoner Aufführung die Anregung zu seinen Faust-Illustrationen bekommen hat. Danach trat in der englischen Bühnenrezeption eine längere Pause ein. Nicht einmal die vorzügliche Kommentierung von Eudo C. Mason1122 regte die Theaterverantwortlichen zu neuen Initiativen an. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde „Faust I“ in England überhaupt nicht gespielt, ganz zu schweigen von „Faust II“, von dem es über anderthalb Jahrhunderte keinerlei Nachweis für eine Aufführung auf einem englischen Theater gibt. Das änderte sich erst, als die Citizens’ Company im November 1985 in Glasgow beide Teile des „Faust“ in einer allerdings auf dreieinhalb Stunden gekürzten, zwangsläufig sprunghaft verfahrenden Fassung aufführte. Regie und Bearbeitung lagen in den Händen des Dramaturgen Robert David MacDonald. Er machte aus Goethes Stück einen „Aktions- und Komödien-‚Faust‘“1123. Um einen flüssigen Ablauf zu erreichen, entschied er sich für eine offene Einheitsbühne, so daß für die Szenenfülle nur geringfügige Bühnenveränderungen erforderlich waren. Der Erfolg dieser Inszenierung war so schlagend, daß daraus das Projekt entstand, ebenso eine Inszenierung in London vorzubereiten. Sie wurde dann auch im April 1988 im ‚Lyric Hammersmith Theatre‘ in der King Street realisiert. Der mutige Entschluß fiel den Organisatoren nicht leicht, weil die britischen Theater, ähnlich wie die französischen, nicht subventioniert sind. Sie verpflichteten den australischen Regisseur David Freeman, der bisher hauptsächlich als unkonventioneller Opernregisseur in Erscheinung getreten war und insofern für eine gewisse Zeitnähe des heiklen Unternehmens sorgen sollte. Ebenso entschieden sie sich für den schon in Glasgow bewährten David MacDonald und dessen Neuübersetzung des Gesamttexts mit „frischem Zugriff aus der Gegenwart“1124. Zur Verfügung stand lediglich ein Ensemble aus zwölf Schauspielern. In der Presse bemühte man sich bereits im Vorfeld 1121 Zit. n.: Hensel, Georg: Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan oder Frau zeigt uns, wo’s langgeht. Erstmals in diesem Jahrhundert. Goethes ‚Faust‘, erster und zweiter Teil, in London. In: ders.: Glücks-Pfennige. Lustvolles Nachdenken über Theater, Literatur und Leben. Frankfurt/M. 1991, S. 67–80; Zitat: S. 74. Hensel schildert die Fassung von George Soane genauer (a.a.O., S. 75). 1122 Mason, Eudo C.: Goethe’s Faust: Its Genesis and Purport. Berkeley, Los Angeles 1967. 1123 McGowan, Moray: Goethe a Go-Go. Am Glasgower Citizens’ Theatre: ‚Faust I und II‘ erstmals auf Englisch. In: Theater heute. 1/1986, S. 61. 1124 MacDonald, Robert David: Faust: Part One and Two. Birmingham 1988. So Hensel über MacDonalds kluge, teilweise humorvolle und darum erfolgreiche Übersetzung (Hensel: a.a.O; s. Anm. 1121, S. 70).

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darum, die Aufmerksamkeit des Publikums zu wecken. Außerdem sorgte man für eine außergewöhnliche Vorbereitung der Besucher durch Seminare und Ausstellungen zum Thema Faust, Probenbesuche sowie Studioaufführungen von der Puppenspielfassung und gleichfalls von Marlowes „History“. Die Gesamtspieldauer wurde auf neun Stunden ausgedehnt, verteilt auf zwei Abende, samstags als Gesamtaufführung mit einer vom Theater organisierten Essenspause. Die sorgfältige Planung und Vorbereitung zahlte sich aus. Der Erfolg war groß. Kritiker hielten zwar Einzelheiten für verfehlt, lobten aber das Ganze über alle Maßen, sogar von einem Jahrhundert­ ereignis ging die Rede. Nicht unbeteiligt war daran die Starbesetzung mit Simon Callow als Faust, der diese Rolle auch schon bei einer Hörspielproduktion der BBC interpretiert hatte, Peter Lindford als jugendlich-elegantem Spötter in der MephistoRolle und Caroline Bliss, der James-Bond-Beauty, als Helena. Die überaus positive Aufnahme erklärt sich weithin durch die fast durchgängig spürbare ‚britische‘ Ironie, die theatralisch entfesselte Phantasie und das Tempo der Darstellung. Fließend gingen die Bilder ineinander über. Das erlaubte die klar strukturierte Bühneneinrichtung von David Rogers, der das runde Spielpodium mit einer darüber gelegenen Bühne überwölbte, wo Faust und Mephisto über allen anderen agieren konnten. Unten, wo die übrigen Mitspieler die vielen anderen Rollen übernehmen und ebenso chorisch in Aktion treten mußten, konnten beide ebenfalls mitmischen. Lediglich die Chöre in „Faust II“ gingen etwas schwerfällig über die Rampe, abgesehen von der psychologisch emanzipativ-nüchtern angelegten Schlußgestaltung, in der das „Ewig-Weibliche“ modern daherkam: „Woman in all of us / shows us our way“1125. Wenig später kam es zu einer weiteren Gesamtinszenierung von „Faust“, diesmal in Mailand durch Giorgio Strehler (1921–1997). Lange schon arbeitete dieser leidenschaftliche Theatermann, der sich besonders mit Shakespeare, Goldoni, Tschechow, Pirandello und Brecht international einen Namen gemacht hat, auf dieses Ziel hin1126. Er wollte endlich Goethes theatralisches Weltgedicht den Italienern präsentieren, die den Fauststoff eigentlich nur von der Opernbühne her kannten1127. Seine „FaustSuche“ erklärte er mit dem Hinweis: „Wenn ein Regisseur an einem bestimmten Punkt seines Lebens den ‚Faust‘ inszenieren, den ‚Faust‘ maximal machen will, dann ist das natürlich die Summe seines Lebens mit dem Theater“. Im Frühjahr 1989 kam eine erste Szenenfolge aus dem ersten Faustteil unter dem Titel „Faust-Fragmente, 1125 Ebd., S. 79 f. 1126 Vgl. hierzu: Buck, Theo: Theater als Kunst für alle. In memoriam Giorgio Strehler. In: Juni. Magazin für Literatur & Politik. Nr. 27. Mönchengladbach 1998, S. 11–113. 1127 Außer der Oper von Charles Gounod war auch die 1916 uraufgeführte Oper „Doktor Faust“ von Ferruccio Busoni den Italienern bekannt. „Faust“ auf einigen ausländischen Bühnen  339

erster Teil“ („Faust, frammenti parte prima“) zur Aufführung1128. Der Auftakt war gedacht als „erstes Knochengerüst“, als szenisch realisierte „dialektische, kritische Lesart“ des Dramas mit dem Ziel einer Annäherung durch respektvollen Umgang mit dem Dramendialog. Strehler ließ sich dabei von der ihm eigenen „didaktischen Lust“1129 leiten. Lange Zeit verbrachte er mit dem Buch des israelischen FaustKenners Hiram Peri1130, ehe er an die Übersetzung und an die Regiearbeit ging. Er war sich daüber im klaren, daß nur so die nötige „heterogene und gleichzeitig alles in sich vereinende Bühneninterpretation ‚wiedererfunden‘ oder, anders gesagt, neu konstruiert werden“ könne. Es reizte ihn, dieser „bis an die Grenze des Möglichen“ gehenden Dramaturgie, in der „Stile und Methoden sich überschneiden“, intensiv nachzuspüren1131. Bei seinem Großexperiment übernahm er nicht nur die Regie und zudem die Titelrolle, sondern verfaßte auch eigens eine Neuübersetzung, die, wie er sagte, „für das Sprechen auf der Bühne geschaffen“ und darum „jenseits allzu wörtlicher Texttreue“1132 gehalten war. Einführungsveranstaltungen wie in England und öffentliche Proben sorgten für die nötige Vorbereitung des Publikums. Die auf zwei Abende verteilten Szenenfolgen lösten großen Widerhall bei den Besuchern aus. Deshalb wurde diese Fragment-Fassung auch in Rom gezeigt. Fast ohne Kulissen, dafür mit konzentrierender Lichtregie, machte Strehler das Wort, den Dialog, die Geste, aber auch die Illusionszauberei1133 und die Musik1134 zum Mittelpunkt seiner Inszenierung. Nach diesem Erfolg ging es Stück für Stück bis 1992 weiter mit der Verwirklichung des zweiten „Faust“-Teils. Um die Dauer beschränken zu können, verzichtete Streh-

1128 Gespielt wurden die Szenen: „Prolog im Himmel“, „Nacht“, „Vor dem Tor“, „Studierzimmer II“, „Hexenküche“, „Straße“, „Garten“, „Wald und Höhle“, „Marthens Garten“, „Dom“, „Trüber Tag, Feld“, „Nacht. Offen Feld“, „Kerker“. Strehler folgte hier also weithin der Fragment-Fassung. 1129 So Urs Jenny, der an einer öffentlichen Probe in Mailand teilnahm ( Jenny, Urs: „Ein Ruf, dem ich nicht widerstehen konnte“. In: Der Spiegel, Nr. 13/1989, 27.3.1989). 1130 Peri, Hiram: L’idée fondamentale du ‚Faust‘. Jerusalem 1962. 1131 Dvorák, Cordelia: Passione Teatrale. Giorgio Strehler und das Theater. Berlin 1994, S. 154. 1132 Strehler; zit. n.: Dvorák, a.a.O., S. 155. 1133 Beispielsweise hatte Strehler die Idee, Faust und Mephisto in einem Fesselballon zur „Hexenküchen“-Szene aufbrechen zu lassen. Dort geraten sie in ein von Rock-Klängen bestimmtes Ambiente hinein. Den fliegenden Ariel und die barbusigen Sirenen in der „Klassischen Walpurgisnacht“ hat dann auch Peter Stein übernommen. 1134 Die Musikanten wurden immer wieder unmittelbar in das theatralische Spiel einbezogen (vgl. hierzu: Mahl, S. 257).

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ler auf nicht wenige Bilder und Szenen1135. Wie „Faust I“ wurde auch „Faust II“ auf zwei Abende verteilt. Strehler entschied sich für eine Zäsur vor der „Arkadien“-Szene im dritten Akt. Er legte Wert auf eine symbolische Akzentuierung. Im Gegensatz zum nüchtern gehaltenen ersten Teil wurde hier die Szenerie üppiger ausgestattet, allerdings fern jeder Tendenz zu naturalistischer Ausschmückung. Es gelang ihm, Goethes Dramenkomplex in klar strukturierte, symbolisch grundierte szenische Bildsequenzen umzusetzen, ohne – was vielfach in anderen Inszenierungen zu beobachten ist – dem Text subjektivistisch ein ‚einheitliches Konzept‘ aufzunötigen. Manche Kritiker monierten die zu starke Ausrichtung auf Faust. Dabei war die Regie erkennbar darauf ausgerichtet, Mephisto (Franco Graciosi), Gretchen (Giulia Lazzarini) und Helena (Andrea Jonasson) ebenfalls gebührend herauszustellen, wie überhaupt Reflexionen und Emotionen des Dramas durchgängig aufeinander abgestimmt präsentiert wurden. Nicht umsonst war es Strehler, der eine für Italien völlig neue Konzeption des Ensemble- und Repertoiretheaters durchgesetzt hat. Aufgrund seiner Theaterleidenschaft probte er stets tagelang, im Falle der „Faust“-Inszenierung monatelang ungefähr jeweils sieben Stunden täglich, und am liebsten in Anwesenheit von Zuschauern. Kein Wunder, daß das Publikum auf die derart vorbereitete Inszenierung begeistert reagierte. Eine zweibändige, reich bebilderte Dokumentation1136 erlaubt es heutigen Interessenten, Strehlers Leistung wenigstens lesend und betrachtend nachzuvollziehen. Weitere Gesamtaufführungen beider Teile in Prag (1982), Maribor (1990) und Porto Alegre (1995) machten das Theaterpublikum in Tschechien, Slowenien und Brasilien erstmals auf Goethes Gestaltung aufmerksam. Der Erfolg dieser Inszenierungen zeigte, daß es durchaus Möglichkeiten gibt, dieses schwierige, das Publikum herausfordernde Werk auch außerhalb der Sprachgrenze zu produktiver Wirkung zu bringen. In dieser Hinsicht bleibt aber fast noch alles zu tun.

Auswertung der Aufführungsgeschichte Vornehmliches Ziel der Arbeit eines Regisseurs sollte es sein, die vom Autor im Dramentext bereitgestellten theatralischen Vorschläge, besonders aber die drama1135 Gestrichen wurden die Szenen: „Hell erleuchtete Säle“, „Rittersaal“, „Hochgewölbtes, enges gotisches Zimmer“, „Laboratorium“, Teile von „Am oberen Peneios“, „Felsbuchten des Ägäischen Meers“ und „Des Gegenkaisers Zelt. Thron“. Der dritte und der fünfte Akt blieben unangetastet. 1136 Strehler, Giorgio / Goethe, Johann Wolfgang: Faust. 2 Bde. Mailand 1989. Auswertung der Aufführungsgeschichte  341

turgischen Vorgaben und Wirkungsstrukturen nach Kräften szenisch umzusetzen und so an das jeweilige Publikum weiterzugeben. Wort, Handlung, Bauform, Personenkonstellation, Räume, Zeitlichkeit, Perspektivität, Rhythmus, Bühnenanweisungen und Strategien der Bewußtseinsansprache des Theaterbesuchers, all diese Gestaltungselemente müssen dabei berücksichtigt werden. Derartige interpretatorische Sorgfalt ist nicht jedermanns Sache, zumal auch noch die außergewöhnliche Länge des Stückes und die große Zahl der Örtlichkeiten und Personen hemmend ins Spiel kommen. Überdies ist die Mehrzahl der Regisseure auf die Praxis des traditionellen Kulissentheaters der Guckkastenbühne fixiert. Damit ist jedoch dem zweiten Faustteil theatralisch angemessen kaum beizukommen. Goethe hat eben diesen Rahmen bewußt radikal gesprengt. Mit Bedacht hat er in langer Arbeit einen nur mit großen Mühen wiederzugebenden theatralischen Universalkosmos geschaffen. Im „Schema zur gesamten Dichtung“ aus der Zeit vor dem September 1800 hat der Autor, wie schon erwähnt, die ihm vorschwebenden hohen Ansprüche beschrieben. Sowohl „Thaten Genuß nach aussen“ wie dann „Genuss mit Bewußtseyn Schönheit“ und „Schöpfungs Genuß von innen“ sollten gleichermaßen zur Darstellung kommen1137. Derlei war nur möglich auf der Grundlage einer zeitlich und räumlich unbegrenzten, unbedingt auf das Publikum bezogenen, offenen Dramenhandlung und -gestaltung. Was in den Worten des Astrologen magischer Wirkung zugeschrieben wird, hat Goethe zum verwirrend vielfältigen Spiel eines dramatischen und dramaturgisch vermittelten Bewußtseinsstroms geformt. Nicht umsonst heißt es zu Anfang: „Beginne gleich das Drama seinen Lauf, / Der Herr befielt’s, ihr Wände thut euch auf ! / Nichts hindert mehr, hier ist Magie zur Hand. / … Ein tief Theater scheint sich aufzustellen, / Geheimnisvoll ein Schein uns zu erhellen“1138. Goethe hatte wahrlich theatralische „Magie“ zur Hand. Was er im Faust-Drama zur szenischen Vorführung bringt, ist alles andere als ein Lesedrama, wie viele immer noch glauben, und erst recht kein Metadrama, sondern hochdramatischer Ablauf eines ausholend organisierten Bewußtseinsprozesses um die Faust-Figur herum. Wohlgemerkt: um die Faust-Figur herum. Die Tiefe der theatralisierten Erinnerung ist keineswegs nur direkter Bewußtseinsstrom der Titelgestalt. Sie geht vielmehr zurück auf die vom Autor über sechs Jahrzehnte hin in subjektiver Auswahl mit Sorgfalt eingearbeiteten und zusammengeordneten Handlungselemente einer ungemein komplexen Dramenkonstruktion über Zeiten und Räume hin. Deswegen konnte Goethe seine Arbeit, das muß an dieser Stelle in Erinnerung gerufen werden, zusammenfassend mit den bereits erwähnten Worten kommentieren: „es erscheint hier eine höhere,

1137 WA I.14, S. 287. Vgl. hierzu auch Anm. 596. 1138 WA I.15.1, S. 79 f. (V. 6391–6393 und 6396–6397).

342  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt, und wer sich nicht etwas umgethan und Einiges erlebt hat, wird nichts damit anzufangen wissen“1139. Zweifellos stellt das „Faust“-Drama die denkbar größte Herausforderung für das Theater dar. Dies um so mehr, als die Gestaltung, wie Schiller hervorhob, wegen der „symbolischen Bedeutsamkeit des Stoffes“1140 ständig zur Ausweitung auf allgemeine Lebensstrukturen drängte. Goethe fand allmählich die dafür angemessene Lösung in Gestalt der andeutend-stellvertretenden Darstellung. Dabei mußte er für die große Weltreise Fausts kaleidoskopartig die Objektivationen von Staat, Wirtschaft, Natur und Kunst ebenso berücksichtigen wie die der Schöpfung, der Geschichte, des Mythos und des transzendierenden „Bergschluchten“-Geschehens. Wie schon betont, handelt es sich dabei keineswegs um eine direkte Reproduktion von Wirklichkeit, sondern um symbolisch-analytische Reflexe der großen Lebensparabel Fausts. Sie sollen im textuellen Ablauf auf das Bewußtsein der Theaterbesucher einwirken. Noch 1980 vertrat ein verdienstvoller Deuter des zweiten Faustteils ernsthaft die Auffassung: „Daß theatralische und musikalische Züge thematisch wie formell eine wichtige Rolle spielen, kann nicht bedeuten, daß das Werk etwa als Bühnentext konzipiert wurde; auch die expliziten szenischen und schauspielerischen ‚Anweisungen‘ im Text gehören in den literarischen und dichterischen Vorstellungsbereich und sind keineswegs Direktiven für eine Aufführung“1141. Viele meinten und meinen das gleichfalls, wie uns die Rezeptionsgeschichte der Faustdichtung schlagend lehrt. Nur liegt damit, wie nicht selten, die Mehrheit eben falsch. Tatsächlich ist die Faustdichtung ein waschechtes Bühnenstück. Nicht ohne Grund machte sich Goethe Gedanken über die szenische Lösung seiner dramaturgischen Einfälle. Eigens angefertigte Zeichnungen zu bestimmten Szenen, wie etwa der Erscheinung des Erdgeists, belegen das ebenso wie das von ihm bekundete Interesse für Projektionen mit der Laterna magica oder Überlegungen zur Beschaffung eines dressierten Elephanten für die „Mummenschanz“-Szene oder zur Besetzung des Homunculus mit einem Bauchredner. Im gleichen Zusammenhang räumte er freilich ein, eine Inszenierung sei „fast unmöglich“: „Es würde ein sehr großes Theater erfordern“ und ferner „einen Regisseur, wie es deren nicht leicht gibt“1142. Offenkundig zielte die hintersinnige Aussage darauf, durch entsprechende Regietaten hinreichend widerlegt zu werden. Ziel muß es dabei immer sein, das Bewußtsein der Zuschauer anzusprechen, es zur Mitarbeit und Auseinandersetzung zu bewegen. 1139 MA 19, S. 411 (zu Eckermann am 17.2.1831). 1140 SNA 29, S. 87. 1141 Lange, Victor: „Faust“. Der Tragödie zweiter Teil. In: Hinderer, S.  281–312; Zitat: S. 288. 1142 MA 19, S. 342 f. (zu Eckermann am 20.12.1829). Auswertung der Aufführungsgeschichte  343

Mittlerweile haben mehrere Inszenierungen überzeugend nachgewiesen, daß Goethes extreme Anforderungen an die Bühne sehr wohl realisierbar sind. Die „Faust“Dichtung vereinigt in sich, wie gesagt, Theatertradition und -avantgarde. Schon Eckermann hatte eine klare Vorstellung davon. Nur fehlten ihm die nötigen Mittel. Richard Wagner fand ebenso klaren geistigen Zugang zu dieser ersten Verwirklichung des Gesamtkunstwerks. Aber es drängte ihn naturgemäß zunächst einmal zur Präsentation des eigenen „Rings“ auf dem Grünen Hügel in Bayreuth. Allmählich kristallisierten sich dann seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – hauptsächlich auf der Grundlage von Otto Devrients und Franz Dingelstedts Vorschlägen – weiterführende Inszenierungsansätze heraus. Jedoch erst Max Reinhardt und Gustav Gründgens vermochten es, ein breites Publikum für den weithin kompletten Dramentext zu begeistern. Die von ihnen geschlagene Bresche konnten dann Regisseure wie Klaus Michael Grüber, Claus Peymann und Giorgio Strehler mit ihren Inszenierungen ausweiten. Vor allem jedoch war es Peter Stein, der – nach anfänglichen, von ihm selbst eingeräumten Verständnisschwierigkeiten mit dem Text – erkannte, in welchem Maße Goethe im „Faust“ theatralisches Neuland betreten hat. Er merkte dazu an: „Er [Goethe] bezog sich auf ein Theater, das es damals nicht gab, aber heute selbstverständlich ist. Mit Karnevalsumzügen, Renaissancesälen und -gassen, Naturtheater und Kasperletheater stellte sich Goethe verschiedene Szenarien vor, die in dieser Verbindung die Theaterdramaturgie des 20. Jahrhunderts vorwegnehmen“. Über den dabei einzuschlagenden Weg war Stein sich im klaren. Er ging von einem „modernen Spielen in polyvalenten Räumen“ unter Einschluß von „Elektroakustik“ und „Videomonitoren“ aus1143. Hauptsächlich aber war es ihm um Überzeugung, Begeisterung und Klarheit zu tun. Bewußt entschloß er sich deswegen auch dazu, 2008 das Moskauer ‚Theater der Nationen‘ mit Goethes Text in Form einer „Faust-Fantasie“ im schauspielerischen Alleingang mit einem Pianisten als „Konzert für Stimme und Klavier“ zu eröffnen1144. Das russische Publikum nahm seine entgegenkommende Geste im deutschen Originalklang und mit russischen Untertiteln mit großem Beifall auf. Steins Beispiel zeigt: Es bedarf lediglich eines intelligenten Vollbluttheatralikers, der auch dazu bereit ist, sich den Tiefen und Schwierigkeiten dieser komplexen Figurationen menschlicher Grenzüberschreitung zu stellen, um den produktiven Funken zum Publikum überspringen zu lassen. Dann spielen Umfang und Problematik der dichterischen Grundlage keine Rolle mehr. Sie fallen lediglich noch organisatorisch hemmend ins Gewicht. Gewiß wird Steins ungekürzte Wiedergabe der zweiteiligen Tragödie nicht gerade viele Nachahmer finden. In aller Regel werden 1143 Zit. n.: Mahl, S. 26 und Stein, Gespräch, S. 28 (Anm. 1068). 1144 Stein trat zusammen mit dem Pianisten Giovanni Vitaletti auf. Die Musik stammte von Arturo Annecchino, der schon die Musik zum ‚Faust-Marathon‘ komponierte.

344  Vom „Urfaust“ zu „Faust II“

überlegte und begründete, auf zwei bis drei Abende verteilte, möglichst originalgetreue Strichfassungen zustande kommen. Hoffentlich wird dabei bedacht, daß Goethe den Ausgang des tragisch angelegten Dramas nicht in einer christlichen oder ideologischen Heilsvision sehen wollte. Ihm ging es mit seinen „sehr ernsten Scherzen“1145 um eine Humanlösung untragischer Zukünftigkeit in Gestalt diesseitiger Vollendung eines ironisch angelegten Möglichkeitsspiels mit existentiell entscheidendem Gewicht. Dafür entwickelte er die mit der Bewußtseinsdramaturgie in der Faustdichtung erschlossenen theatralischen Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Thomas Mann hat die dadurch zum Ausdruck kommende Darstellungsfülle zutreffend und einfühlsam beschrieben als „dieses ungeheure und dabei durchaus übersehbare, durchaus durchdringbare Zeitgewächs, halb Ausstattungs-Revue, halb Weltgedicht“, das „Liebe verdient … weit mehr noch als Ehrfurcht“1146. Dazu nehme man ergänzend die Aussage des Theaterwissenschaftlers Siegfried Melchinger, der zusammenfassend festhielt: „Goethe … stellt sie1147 alle in den Schatten: Traumweltorgien, allegorische Abstraktionen, Perspektivismus der Jahrhunderte …, der kühnste Griff ins Musée imaginaire, das freieste Spiel mit den Formen. … Welche Dimensionen, welche Reiche, welche Phantasmagorien sind hier erschlossen! ‚Faust II‘ – ein Prototyp des modernen Theaters“1148. Beide Äußerungen übertreiben keineswegs. Vielmehr bestätigen sie den besonderen Rang gerade dieser dramatischen Dichtung. Damit sollte endgültig das Gerede vom „Lesedrama ‚Faust‘“ aufhören. Der Überblick über die Aufführungsgeschichte belegt hinreichend, daß Goethe eben auch ein genuiner Dramatiker war. Daß er dabei in zunehmendem Maße auf die Aktivierung des Adressatenbewußtseins abzielte, macht ihn zu einem ausgesprochen modernen Autor. Die im zweiten Faustteil von ihm erreichte Stufe offener Dramaturgie reicht direkt ins Zentrum des heutigen Theaters hinein. Mögen deshalb Regisseure vom Range Max Reinhardts bis hin zu Peter Stein möglichst bald möglichst viele Nachfolger finden. Vielleicht ist es ein gutes Omen dafür, daß seit 2006 der vom Bühnenverein in zehn Bühnensparten verliehene ‚Deutsche Theaterpreis‘ ausgerechnet und mit guten Gründen die Bezeichnung ‚DER FAUST‘ zugeschrieben bekommen hat. 1145 WA IV.49, S. 283 (an Wilhelm von Humboldt am 17.3.1832). 1146 Mann, Thomas: Phantasie über Goethe In: ders. Gesammelte. Werke. Bd.  9. Frankfurt/M. 1960, S. 750. 1147 Gemeint sind hier die von ihm zuvor angesprochenen ‚Surrealisten und Abstrakten‘ als die beispielhaften künstlerischen Experimentatoren mit neuen Ausdrucksformen im 20. Jahrhundert. 1148 Melchinger, Siegfried: Gründgens inszeniert Faust. In: Hensel, Georg: Spielplan, II. Berlin 1966, S. 442. Auswertung der Aufführungsgeschichte  345

B I B LIO GRAPH I E Zitierte Goethe-Ausgaben Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 145 Bde. Weimar 1887–1919 (Sigle: WA). Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe). Hrsg. v. Hendrik Birus u. a. Frankfurt/M. 1967 ff. (Sigle: FA). Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. v. Erich Trunz. Hamburg 1948–1964 (Sigle: HA). Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. 40 Bde. Hrsg. v. Eduard von der Hellen u. a. Stuttgart, Berlin 1902–1912 (Sigle: JA). Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. München 1985 ff. (Sigle: MA). Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft. Hrsg. v. Dorothea Kuhn und Wolf von Engelhardt. Weimar 1947 ff. (Sigle: GN). Goethe. Maximen und Reflexionen. Hrsg. von Max Hecker (= Schriften der GoetheGesellschaft, Bd. 21). Weimar 1907 (Sigle: MuR). Goethe Faust: Urfaust – Faust, ein Fragment – Faust, eine Tragödie. Paralleldruck der drei Fassungen. Hrsg. v. Werner Keller (= it 625). 2 Bde. Frankfurt/M. 1985 (Sigle: Keller I, II). Goethe Faust. Texte und Kommentare. Hrsg. v. Albrecht Schöne (= it 3000). Frankfurt/M. 2003 (Siglen: Texte: Schöne 1; Kommentare: Schöne 2).

Siglierte Literaturangaben Goethe-Handbuch. Hrsg. v. Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke, Regine Otto, Peter Schmid. 5 Bde. Stuttgart, Weimar 1996 ff. (Sigle: GH). Goethe-Jahrbuch. Hrsg. im Auftrag des Vorstands der Goethe-Gesellschaft. Weimar 1880 ff. (Sigle: GJ). Goethe-Wörterbuch (bisher 6 Bände). Stuttgart 1978 ff. (Sigle: GW). Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. v. Heinz Schlaffer (= Münchner Ausgabe, Bd. 19). München 1986 (Sigle: MA 19). Bibliographie  347

Schillers Werke. Nationalausgabe. 43 Bde. Weimar 1943 ff. (Sigle: SNA). Biedermann, Flodoard Frhr. von (Hrsg.): Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. 2 Bde. Leipzig 1909 (Sigle: Biedermann). Bode, Wilhelm (Hrsg.): Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. 2 Bde., neu verlegt Berlin 1999 (Sigle: Bode). Boyle, Nicholas: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. 2 Bde. München 1995 ff. (Sigle: Boyle). Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk (= ft 5671). 2 Bde. Frankfurt/M. 1988 (Sigle: Conrady). Creizenach, Wilhelm: Die Bühnengeschichte des Goethe’schen Faust. Frankfurt/M. 1881 (Sigle: Creizenach). Fehr, Wolfgang: Der junge Goethe. Drama und Dramaturgie. Paderborn 1994 (Sigle: Fehr). Goethe u. a.: „Torquato Tasso“: Regiebuch der Bremer Inszenierung (= es 459). Hrsg. v. Volker Canaris. Frankfurt/M. 1970 (Sigle: R). Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie Erster und Zweiter Teil. Die Stuttgarter Inszenierung. Hrsg. v. Hermann Beil, Achim Freyer, Bernd Mahl, Claus Peymann, Vera Sturm. Stuttgart, Zürich 1979 (Sigle: Doku). Gräf, Hans Gerhard (Hrsg.): Goethe über seine Dichtungen. Zweiter Teil: Die dramatischen Dichtungen. Frankfurt/M. 1903 (Sigle: Gräf ). Gründgens Faust. Siegfried Melchinger: Faust für uns. – Bilder der Hamburger Aufführung von Rosemarie Clausen. – Gustav Gründgens: Meine Begegnung mit Faust (= st 838). Frankfurt/M. 1981 (Sigle: Gründgens/Melchinger). Hartmann, Tina: Goethes Musiktheater. Singspiele, Opern, Festspiele, ‚Faust‘. Tübingen 2004 (Sigle: Hartmann). Hinderer, Walter (Hrsg.): Goethes Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart 1980 (Sigle: Hinderer). Kalde, Wilfried: Die dramaturgischen Bearbeitungen des Faust II im Bereich des deutschsprachigen Theaters von 1834 bis zur Gegenwart. Diss. München 1966 (Sigle: Kalde). Keller, Werner (Hrsg.): Aufsätze zu Goethes ‚Faust II‘. Darmstadt 1991 (Sigle: Keller III). Ders.: ‚Wie es auch sei, das Leben …‘. Beiträge zu Goethes Dichten und Denken (= Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 69). Göttingen 2009 (Sigle: Keller IV). Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1960 (Sigle: Klotz). Mahl, Bernd: Brechts und Monks ‚Urfaust‘-Inszenierung mit dem Berliner Ensemble 1952/53. Stuttgart, Zürich 1986 (Sigle: Mahl I).

348  Bibliographie

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Bibliographie  349

P E RS ON E N R E G I STE R Abusch, Alexander 177 Adorno, Theodor W. 94A, 95, 254 Äschylos 75 Affolter, Therese 312A Aillaud, Gilles 108A, 204 Alexander I., Zar von Rußland 154 Alexandre, Caroline 309A Allers, Hans-Hellmut 274A Ampère, Jean-Jacques 276 Anaxagoras 270, 324 Anglet, Andreas 209A Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar 57, 70A, 83A, 112A Annecchino, Arturo 344A Arendt, Hannah 273 Ariost(d. i. Ludovico Ariosto) 71A, 110 Aristoteles 19, 209 Arndt, Ernst Moritz 157A Arnim, Bettina von 295 Aslan, Raoul 291A Bach, Johann Sebastian 316, 335 Balser, Ewald 290 Bassermann, Albert 296A Baumann, Gerhart 51A Beaumarchais, Pierre-Auguste Caron de 56, 58 f., 59 A. Bechstein, Ludwig 278, 278A Becker, Constance 330A Becker, Maria 301A Becker, Peter von 312, 336A Beckett, Samuel 51, 204 Beckmann, Max 249A Beethoven, Ludwig van 136 f., 136A, 137A, 314, 317 Beglau, Bibiana 331A, 332 Beil, Hermann 311, 311A, 312A Béjart, Maurice 335 Benn, Gottfried 89 f.

350  Personenregister

Bennewitz, Fritz 308 Benoin, Daniel 336 Berg, Robert von 303A Berger, Wilhelmine 277A Berlichingen, Götz von 23 Berlioz, Hector 276, 335 Bernadotte, Jean-Baptiste, Kronprinz v. Schweden 154 Bernhard, Thomas 311 Bertuch, Friedrich Justin 60A Bethmann, Friederike 110A, 112 Beuys, Joseph 107 Bickel, Moidele 323A Biedermann, Flodoard Frhr von 141A, 107A, 132A,134A Bierbichler, Josef 317 Birch-Pfeiffer, Charlotte 100 Bismarck, Otto von 279 Bliss, Caroline 339 Bloch, Ernst 41A, 175 Blomberg, Benjamin von 240A Bode, Wilhelm 70A, 71A, 74A, 125A, 171A Böhm, Guido 287A, 313A, 314A, 317A, 318A Böttiger, Karl August 197 Boie, Heinrich Christian 36A, 171 Boisserée, Sulpiz 13A, 198A, 209A, 212A, 257A, 292A Bondy, Luc 63A Borchardt, Rudolf 219A, 223, 223A, 224A, 226A, 228A, 229 Borchert, Ernst Wilhelm 306A Borchmeyer, Dieter 11, 279A Bosse, Jan 326 f. Boyle, Nicholas 101, 134A, 178, 337 Brandt, Susanna Margaretha 171, 236A, 238

Brecht, Bertolt 51, 54, 57, 97, 109, 172, 173 f., 176 f., 178 f., 180, 256, 287, 288, 303, 305, 339 Breitenbucher, Jacques Robert 335A Bremer, Dieter 213A, 214A Breth, Andrea 63A, 64, 325 Breuer, Dieter 245A Brieger, Theodor 41A Brock, Paul 283A Brucker, Felicitas 178 Brühl, Karl Friedrich Moritz Paul, Graf von 106, 148A, 149A, 153A, 161, 162, 208A, 273, 274, 275A Buck, Elmar 308A Buck, Theo 17, 17A, 143A, 208A, 339A Büchner, Georg 29, 29A Bühler, Manfred 229A Bürger, Gottfried August 36 Buhre, Traugott 107A, 312A Burdach, Konrad 230A Burkhard, Paul 302 Busoni, Ferruccio 339A Byron, George (gen. Lord Byron) 244 Callow, Simon 339 Camaro, Alexander 306A Canaris, Volker 119A, 122 Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar 65A, 69, 69A, 72A, 79A, 82, 111A, 112, 130A, 134A, 135A, 141A, 155, 158, 180A, 181A, 203 Carlyle, Thomas 197 Carstens, Asmus Jacob 275A Carus, Carl Gustav 275A Caspar, Horst 119A, 179 Castorf, Frank 25A, 63A, 125A Celan, Paul 205, 235 Clever, Edith 119A Conrady, Karl Otto 196, 215 Constantin, Prinz von Sachsen-Weimar 72 Corneille, Pierre 19, 96, 110 Cornelius, Peter von 275, 276 Cotta, Johann Friedrich 191, 191A, 193A, 194, 202A, 215

Cramer, Salomo 259 Creizenach, Wilhelm 284, 291A Cumberland, Richard 70A Dahnke, Hans Dietrich 102 Dalberg, Carl Theodor von 77 Dalberg, Wolfgang Heribert von 35 Danegger, Mathilde 301 Deinhardstein, Johann Ludwig 278A Dehio, Georg 248 Delacroix, Eugène 275A, 276, 276A, 335, 338 Dene, Kirsten 107A, 123A, 311, 312A Denič, Aleksandar 216A Dermutz, Klaus 108A, 309A, 317A, 318A, 319A Derschau, Christoph Friedrich von 70A Deutsch, Ernst 179 Devrient, Eduard 62A Devrient, Otto 283, 283A, 284 f., 284A, 294, 295, 344 Deycks, Ferdinand 258A Diderot, Denis 45A, 235, 236A Dietze, Walter 247, 247A Dingelstedt, Franz von 278A, 279, 283, 284 f., 321, 344 Dix, Arthur 298 Döblin, Alfred 288A, 289A Dössel, Christine 332A Dorn, Dieter 107, 107A, 308 Dresen, Adolf 178 Drewniak, Boguslaw 299A Dudek, Sibylle 67A Düntzer, Heinrich 259, 285A Dürer, Albrecht 23 Dürrenmatt, Friedrich 180 Dukas, Paul 205 Dumont, Louise 295 f. Duncker, Karl Friedrich Wilhelm 159 Dvorák, Cordelia 340A Ebert, Carl 217A Eberth, Klaus 107A Eberwein, Carl 147 f.

Personenregister  351

Eckermann, Johann Peter 12A, 15, 16A, 38, 55, 65A, 67A, 89A, 90, 100, 111A, 142A, 155A, 170A, 198A, 199A, 210A, 212A, 213A, 214A, 229A, 241A, 251A, 256A, 257, 264A, 269A, 270A, 273A, 278, 283, 289, 291A, 292, 306A, 343A Egloffstein, Henriette von 243, 243A Einem, Herbert von 78A Ekman, Gösta 290A Emmerich, Klaus 60 Empedokles 213 Emrich, Wilhelm 200, 239 Engel, Wolfgang 63A, 308 Engelbrecht, Kurt 299 Engels, Friedrich 31A Enk, Michael 259 Erasmus von Rotterdam 23 Euripides 13, 71, 75 Eysoldt, Gertrud 296A Fähnrich, Hermann 244A Falk, Johannes Daniel 210A Fehr, Wolfgang 67A, 92A, 125A, 176A Ferbers, Jutta 333 Feuerbach, Anselm 104 Fichte, Johann Gottlieb 157A Fitz, Peter 314A Fontane, Theodor 293 Franck, Sebastian 23 Frank, Walter 288A Franz II., Kaiser 154 Freeman, David 338 Freyer, Achim 60, 311, 312 Freyer, Ilona 107A Friedrich II., König von Preußen 35, 166 Friedrich Wilhelm III, König von Preußen 154 Gaier, Ulrich 169 Ganz, Bruno 119A, 122, 320. 323 Gelzer, Thomas 252A George, Heinrich 179, 179A, 180, 302 Gide, André 335, 335A Ginsberg, Ernst 301A, 302

352  Personenregister

Gluck, Christoph Willibald 70A, 100 Godart, Colette 309A Goebbels, Joseph 299A, 300, 302, 302A Göchhausen, Luise von 57, 170, 260A Göring, Hermann 300 Göres, Jörn 243A Göschen, Georg Joachim 37, 77, 80, 81, 82A, 112, 131, 145 Goethe, Cornelia (verh. Schlosser) 32 Goethe, Katharina Elisabeth, geb. Textor 19A Goethe, Ottilie von, geb. von Pogwisch 204, 337A Goeze, Johann Melchior 62, 62A Goldoni, Carlo 339 Gotter, Friedrich Wilhelm 171 Gottsched, Johann Christoph 20, 44, 96 Gounod, Charles 276, 333, 335, 339A Gover, Francis Leveson, Lord 337, 337A Graciosi, Franco 341 Graff, Johann Jakob 105A Graham, Ilse 48A Grashof, Christian 119A Gries, Johann Diederich 152A Grimm, Herman 295, 295A Grimm, Thomas 321A Grönemeyer, Herbert 333 f. Grosser, Peter 303 Grüber, Klaus Michael 108, 308–310, 312–314, 318, 336, 344 Gründgens, Gustav 119A, 300, 302, 303, 305, 310, 344 Gryphius, Andreas 21 Gündel, Marie 283A Guercino, Giovanni Francesco Barbieri 78A Gundolf, Friedrich 117A Gutzkow, Karl 293 Haas, Julia 22A Habermas, Jürgen 91, 256 Hackert, Fritz 70A, 102 Hafis 160, 215, 215A, 218A, 219, 221, 232

Hamann, Johann Georg 36, 81 Hammer-Purgstall, Joseph Frhr von 215 Handke, Peter 121 Hartmann, Paul 179, 300, 302 Hartmann, Tina 144A, 153, 165A, 166A, 168A, 224A, 245A Hartung, Günter 136A Haußmann, Leander 60 Hebbel, Friedrich 279 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 90, 197 Heiliger, Bernhard 306A Heims, Else 296A Heine, Heinrich 259 f. Heintze, Regine 178 Heinz, Wolfgang 178 Helfenstein, Graf Ludwig von 41 Henckmann, Gisela 203A, 248A Henkel, Arthur 102 Hensel, Georg 107A, 276A, 338A Herder, Caroline 14A, 78A, 79A, 113,115A, 183 Herder, Johann Gottfried 23, 33., 33A, 34, 45, 76, 77, 78A, 79, 79A, 80, 81, 82, 113, 170, 210 f., 213 Herklots, Karl Alexander 160 Hermand, Jost 41A Hermann, Karl-Ernst 123A, 124 Hildebrand, Kurt 299 Himburg, Christian Friedrich 34, 37, 145A Hindenburg, Paul von 193 Hinderer, Walter 14A, 117A Hirth, Aloys 189A Hitler, Adolf 298, 301, 302A Hochmair, Philipp 119A, 328 Höflich, Lucie 296A Hölderlin, Friedrich 124 Hölscher-Lohmeyer, Dorothea 203A, 220A, 222A, 228A, 230A, 248A Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 137 Hofmannsthal, Hugo von 119A, 122, 131A Holbach, Paul Henri Thiry de (d. i. Paul Heinrich Dietrich) 207A

Hollmann, Hans 308 Holtzmann, Thomas 107A, 119A Holzmeister, Clemens 290 Homer 24 Horn, Camilla 290A Hoss, Nina 327A Huber, Ludwig Ferdinand 133 Hübner, Kurt 313 Hülsmann, Ingo 327A Hugo, Victor 55 Humboldt, Wilhelm von 75, 113, 194A, 202A, 204, 206A, 212A, 248A Hunger-Bühler, Robert 323 Huppert, Isabelle 126 Hutten, Ulrich von 23 Hutton, Henry William 273 Huyssen, Andreas 27, 30A, 34A, 51A Iden, Peter 119A, 309, 321A Iffland, August Wilhelm 38, 100, 105, 112, 137A, 141, 154, 155A, 156A, 158A, 159 f. Iken, Carl Jakob Ludwig 198, 243A Immermann, Karl 278A Jacobi, Friedrich Heinrich 113A Jacobi, Johannes 308A Jacobs, Angelika 117A Jaeger, Michael 267A, 272A Jahn, Friedrich Ludwig 157A Jannings, Emil 290A Jauß, Hans Robert 102 Jean Paul (d. i. Johann Paul Friedrich Richter) 14 Jelinek, Elfriede 180, 329, 330A Jenny, Urs 340A Jessner, Leopold 287 f., 289, 290 Jhering, Herbert 17, 286, 289, 289A Jörissen, Henrike Johanna 330A Jonasson, Andrea 341 Joseph, Erzherzog von Österreich 105 Kafka, Franz 93 f., 109, 205 Kaiser, Erwin 288A Kaiser, Gerhard 326 Kaiser, Joachim 121 Personenregister  353

Kainz, Josef 119A Kalde, Wilfried 292A, 293, 294A, 295A, 296A, 297A Kant Immanuel 93, 207 Karasek, Hellmuth 119A Karl V., deutscher Kaiser, König von Spanien 23 Karl von Braunschweig, Erzherzog 277 Karl Friedrich, Erbprinz von SachsenWeimar 148, 155, 193 Karsunke, Yaak 119A, 120, 121 Kauffmann, Angelika 75, 81, 131 Kayser, Philipp Christoph 135A Kayser, Wolfgang 24, 26, 30A, 58A, 139A Kaysler, Friedrich 296A Keller, Werner 54A, 57A, 74A, 171, 181A, 183, 229A, 232, 282A Kersting, Friedrich Georg 275A Kilian, Eugen 285A Kimmig, Stephan 60, 63A Kindermann, Heinz 299A Kinski, Klaus 119A Kirchhoff, Corinna 324 Kirchner, Alfred 60 Kirchner, Ignaz 312A Kirms, Franz 154, 158A Klingemann, Ernst August Friedrich 277, 277A, 283 Klinger, Friedrich Maximilian 13, 55 Klöpfer, Eugen 288 Klopstock, Friedrich Gottlieb 21, 21A Klotz, Volker 47, 96A, 98A, 173A Knebel, Carl Ludwig von 72, 81, 81A, 99A, 113, 118, 157A, 161, 161A, 162, 171, 172, 197A, 264A Koch, Heinrich Gottfried 34, 36 Köhler, Tilman 326A Koeppen, Wolfgang 124A Körner, Christian Gottfried 103 Körner, Hermine 307 Körner, Theodor 157A Kommerell, Max 242A Korff, Hermann August 220A

354  Personenregister

Kortner, Fritz 60 Kotzebue, August von 63A, 100 Krämer, Günter 330 f. Kraft, Herbert 117A Kraft, Werner 226, 228A Krauß, Werner 291A, 297 Kriechbaum, Reinhard 328A Kriegenburg, Andreas 63A, 178 Krippendorff, Ekkehart 325 Krüger, Georg Wilhelm 103, 103A Kümmel, Peter 322A, 328, 334 Kušej, Martin 331–333 Kurzenberger, Hajo 319A Kuzmany, Elfriede 180 Laimé, Stéphane 317 La Mettrie, Julien Offray de 269A Lampe, Jutta 119A Lang, Alexander 63A Lange, Victor 192A, 193A, 197A, 343A Langhoff, Wolfgang 301A, 302 Langkavel, Martha 276A La Roche, Carl von 278 La Roche, Sophie von 62A L’Arronge, Adolphe 295 f. Lasinio, Carlo 248, 248A Laube, Heinrich 278A Laubinger, Otto 299A Lavater, Johann Kaspar 76, 77A, 205 Lazzarini, Giulia 341 Lehmann, Sven 327A Leibniz, Gottfried Wilhelm 209 Leisewitz, Johann Anton 13, 55 Lenz, Jakob Michael Reinhold 13, 24, 55, 56A, 291A Lessing, Gotthold Ephraim 20, 21 f., 35, 45, 63, 77, 82A, 213 Levetzow, Ulrike von 113, 313 Lichtenberger, Henri 309 Liedtke, Alexandra 60 Lillo, George 45, 45A Lindemann, Gustav 295, 296 f. Lindfort, Peter 339 Lindtberg, Leopold 301 f., 301A

Löwenfeld, Raphael 285 Lohenstein, Daniel Caspar von 21 Lortholary, Bernard 336 Louise Auguste, Herzogin von SachsenWeimar 70, 144 Louvier, Ferdinand August 253A Ludwig XVIII., König von Frankreich 154 Lübbe, Enrico 178 Lüttge, Martin 312A Lukács, Georg 267 Lukian von Samosata 262 Lukrez (d. i. Titus Lucretius Caro) 213 Lumley, Benjamin 259 Luther, Martin 23, 31, 42 MacDonald, Robert David 338 f. Mahl, Bernd 175A, 177A, 179A, 278A, 280A, 291A, 294A, 296A, 299A, 303A, 305A, 340A, 344A Mahler, Gustav 301 Mahnke, Hans 107A, 312A Malaplate, Jean 336 Malipiero, Luigi 303 Mann, Thomas 118, 281, 282, 298, 345 Manzoni, Guacomo 333 Maria Pawlowna, Schwester von Zar Alexander (spätere Großherzogin von Sachen-Weimar) 155,194 Marlowe, Christopher 128, 201A, 289, 337, 339 Marquart, Lea 335A Marr, Heinrich 277A Mason, Eudo C. 338 Marthaler, Christoph 317–319 Martini, Fritz 48A Marx, Karl 93, 240, 262 Matschoß, Ulrich 303 Matt, Peter von 102, 210 Mattenklott, Gert 245A, 261 Matussek, Peter 85, 101A, 184A Maximilian I., deutscher Kaiser 23, 32, 41, 44 Mayer, Hans 187 f., 235, 303, 306. 307, 308

Mayer, Stefan 323A Mayr, Richard 332A Mc Govan, Moray 338A Mehring, Franz 39 Melanchthon, Philipp 23 Melchinger, Siegfried 102, 123A, 304, 345 Menzel, Wolfgang 258 Merck, Johann Heinrich 34, 69, 171, 172, 172A Meteren, Emanuel van 64, 64A Meyer, Johann Heinrich 148 A, 154, 169A, 185A, 203 Meyerhoff, Joachim 327A Meyn, Robert 299A Mézières, Alfred 55 Michael, Wolfgang 330A Michaelis, Rolf 307, 308A, 310, 311, 314, 315, 318A Miller, Norbert 78A Minder, Robert 106 Minetti, Bernhard 307, 308, 313 Minks, Wilfried 63A Mirmehdi, Mohsen 250 Mittenzwei, Werner 301A, 302, 303A Möser, Justus 23 Moissi, Alexander 296A Molière (d. i. Jean Baptiste Poquelin) 19 Monk, Egon 172, 175, 177, 179, 303, 305 Moritz, Karl Philipp 79 f., 113 Mozart, Wolfgang Amadeus 317, 317A Mülder-Bach, Inka 211A Müller, Friedrich von 243 Müller, Gerda 288 Müller, Heiner 11, 51, 101 101A, 236, 314A Müller, Hermann 285, 285A Müller, Robert 308 Müller-Harang, Ulrike 15A Müntzer, Thomas 23 Murnau, Friedrich Wilhelm 289 f. Muschg, Adolf 207A, 212A, 227, 228A, 257, 267, 270A, 272A Naecke, Gustav Heinrich 275 Personenregister  355

Nägele, Rainer 24A, 28A Nagel, Ivan 119A Napoleon Bonaparte 154 f., 155A, 157, 161, 166, 174, 197 Nauwerck, Ludwig Gottlieb Carl 275 Nell, Christopher 334 Nerval, Gérard de 277, 309, 335, 336 Nestroy, Johann 101 Neuenfels, Hans 124A Neuhaus, Volker 31A, 35A, 36A Nickel, Christian 320, 323 Nicolai, Georg Friedrich 172A Nietzsche, Friedrich 214, 335 Nolte, Stefan 178 Nüsse, Barbara 123A Obst, Angela 332 Oest, Johann Adam 323 Österlein, Christine 324 Oliva, Franz 136A Origines 213, 252A Osiander, Christian Friedrich 194, 194A Ostermaier, Albert 332 Otto, Teo 297, 301, 301A Pallenberg, Max 291, 291A Paracelsus 23, 269 Pařizek, Dučan David 328–330 Paudler, Maria 288A Peri, Hiram 340 Pessoa, Fernando 318, 318A Petersen, Julius 275, 276A, 278, 279A, 293, 293A, 294A, 298 Petrarca, Francesco 221A Petras, Armin 178 Peymann, Claus 104, 107, 119, 123, 123A, 124, 178, 310–312, 344 Pikulik, Lothar 63A Pinthus, Kurt 297 Pirandello, Luigi 339 Piscator, Erwin 291 Pistorius, Geog Tobias 23 Platon 213, 214 Plotin 214, 214A Pucher, Stefan 330 f.

356  Personenregister

Pufendorf, Samuel Frhr von 22 Pyritz, Hans 229A, 230A Quadflieg, Will 119A, 179, 304 Racine, Jean 12, 19, 96, 110, 114 Radziwill, Anton Heinrich, Fürst von 274, 274A Raffael (d. i. Raffaelo Santi) 78, 78A, 238 Rang, Florens Christian 233 Rasch, Wolfdietrich 102 Raschig, Susanne 108A Rau, Lieselotte 306A Rehm, Werner 119A, 121A Reichardt, Johann Friedrich 181A Reimer, Jörg 109A Reinhard, Carl Friedrich Graf von 203 Reinhardt, Hartmut 78A Reinhardt, Max 63A, 179, 286 f., 289, 290 f., 295 f., 344, 345 Retzsch, Moritz 275, 276 Richardson, Samuel 45, 45A Riemer, Friedrich Wilhelm 160A, 169A, 194, 206A, 257, 273, 292 Rilla, Paul 95, 177 Ringelhardt, Friedrich Sebald 101 Robinson, Henry Crabb 24A Rochlitz, Johann Friedrich 38A, 136A Römer, Anneliese 312A Rösch, Ewald 220A, 231A Rohmer, Éric 289 Rogers, David 339 Rosenberg, Alfred 299A Rosenkranz, Karl 259, 267 Rousseau, Jean-Jacques 144, 210, 210A Rudolph, Sebastian 328 Rühle, Günter 108A, 119A, 300A, 304A, 310A, 311, 312, 313A, 314A, 317A Rupprecht, Lilja 60 Ryan, Lawrence 117 Sachs, Hans 21, 23, 172 Sade, Donatien Alphonse François de 317A Sagert, Horst 179 Salzmann, Johann Daniel 24, 48

Samarovski, Branko 107A, 119A, 123A, 312A Samel, Udo 119A Satie, Erik 317, 317A Sauder, Gerhard 150A, 156A, 173 Scheer, Alexander 330A Scheibe, Siegfried 187A Schelling, Friedrich Wilhelm 184, 219A, 221A Schellow, Erich 119A, 306A Schenda, Rudolf 22A Scherer, Wilhelm 104A Schiller, Charlotte 162, 189A, 190A Schiller, Friedrich 13, 15, 37, 46, 55, 60, 77, 87A, 95, 96 f., 99–101, 99A, 103, 105 f., 132 f., 137A, 138A, 140–142, 141A, 172, 185 f., 188 f., 189A, 190A, 191 f., 193 f., 195, 196, 198A, 229, 237, 263, 264, 295, 298 Schinkel, Karl Friedrich 106 Schlaffer, Hannelore 232 Schlaffer, Heinz 22A, 241 Schleef, Einar 25, 179, 180, 314–316, 314A, 317 Schlegel, August Wilhelm 75, 182, 184, 275 Schlegel, Friedrich 113 Schlegel, Johann Elias 20, 21 Schlemmer, Karin 312A Schlösser, Rainer 299A, 300 Schlosser, Cornelia, geb. Goethe (s. Goethe) 32 Schlosser, Johann Friedrich Heinrich 158A Schmidt, Erich 57, 170 Schmidt, Heinrich 142A Schmidt, Jochen 252A Schmidt, Thomas E. 331A Schneider, Wilhelm 229A, 233A Schnorr von Carolsfeld, Ludwig Ferdinand 275A Schödel, Helmut 323A

Schönborn, Gottlob Friedrich Ernst von 59A Schöne, Albrecht 57A, 191A, 192A, 194A, 199, 200, 201A, 212A, 237A, 240A, 244A, 247, 247A, 249A, 252A, 268, 270A, 271A, 274A, 325A Schöne, Maja 327A Schönemann, Lili 65A Schönhofer, Peter 321A Schrader, Friedrich Otto 218A Schröder, Ernst 303, 306 f., 306A, 308, 308A Schröder, Friedrich Ludwig 34, 59, 62, 100 Schröder Jürgen 37 Schröter, Corona 72, 145, 145A Schroth, Christoph 178 Schubarth, Karl Ernst 201, 212A, 248A, 258A Schubert, Franz 317, 317A Schubert, Götz 119A Schütz, Eduard 277A Schütz-Höffert, Sophie 277A Schulte-Sasse, Jochen 44A Schulz, Georg-Michael 61A Schulze, Marc Oliver 330A Schwab, Martin 107A, 123A, 312A Schweitzer, Anton 60, 60A Schwerte, Hans (d. i. Schneider, Hans Ernst) 280A Schwieder, Gabriele 229A Scott, Walter 54 Sebastian, Birte Carolin 335A Seckendorff, Siegmund von 145 Seidel, Philipp 76A Seidler, Johann Wilhelm 72 Selge, Edgar 107A, 108, 108A, 327, 329 Sell, Julia von 178, 326 Seppeler, Frank 329 Serassi, Pier Antonio 111, 111A Seume, Johann Gottfried 41 Seydelmann, Carl 278A Seyler, Abel 14A, 60 Personenregister  357

Shakespeare, William 13, 16A, 19, 24, 32, 33, 35, 45, 55, 66, 77, 125, 129, 173, 227, 337, 339 Siegrist, Christoph 163 Simmel, Georg 225, 233 Simonischek, Peter 119A Skasa, Michael 180A, 329, 332A, 333A Soane, George 276, 337 Sobel, Bernard 314A Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 91, 91A Sophokles 75, 77 Spinoza, Baruch de 213 Spranger, Eduard 118, 214, 232 Stadelmaier, Gerhard 327, 330A Staël, Germaine de 54, 104, 113, 114A, 132A, 197 Staiger, Emil 24, 61, 117A, 142, 164, 223A, 225, 227A, 228A Stapfer, Philipp Albert 54, 200A, 276, 335 Stawinsky, Karl 278A Stein, Charlotte von 20A, 65A, 71,71A, 72A, 75, 76A, 77, 78 82A, 129A Stein, Gertrude 333 Stein, Gisela 107A Stein, Peter 11, 119, 119A, 120, 121, 122 f., 123A, 319–325, 326, 328, 340A, 344 f., 346 Steiner, Rudolf 321 Stemann, Nicolas 240A, 328,336 Stendhal (d. i. Marie-Henri Beyle) 55A Stieglitz, Christian Ludwig 275 Stolberg, Auguste Gräfin zu 20A Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 207, 207A Strada, Famianus 64, 64A Strauß, Botho 119A, 121, 123 Strehler, Giorgio 339–341, 344 Sucher, Bernd 319A Sulzer, Johann Georg 149A Tasso, Torquato 110, 112A Thadden, Elisabeth von 327A Thales von Milet 270, 271, 324 Thalheimer, Michael 326 f.

358  Personenregister

Thimig, Helene 179 Tieck, Ludwig 11, 60, 278 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 75 Trunz, Erich 171, 219, 223, 239A, 270A, 271A Tschechow, Anton Pawlowitsch 339 Tscheplanowa, Valery 330A Ueding, Gert 225A, 233 Ulbricht, Walter 177, 290 Ulrich, Caroline 96 Valéry, Paul 335 Vaucanson, Jacques de 269A Verazi, Mattia 70A Vergil (d. i. Publius Vergilius Maro) 71A, 110 Viebrock, Anna 317 Vischer, Friedrich Theodor 260 f., 260A Vitaletti, Giovanni 344A Vitez, Antoine 336 Völker, Klaus 170A Vohs, Friederike Margarete 105A Voltaire (d. i. François-Marie Arouet) 14, 96, 110, 126 Voss, Gert 107A, 312A Vulpius, Christian August 326 Wagner, Cosima 280A, 281 Wagner, Elsa 308 Wagner, Heinrich Leopold 13, 55 Wagner, Richard 136, 140 f., 279 f., 279A, 281–283, 285, 317, 321, 335, 344 Walser, Franziska 108, 108A Walzel, Oskar 280 Wardetzky, Jutta 300A, 302A Weber, Bernhard Anselm 155A, 159, 161 Weber, Hans-Dieter 63A Weber, Karl Maria von 317, 317A Wedekind, Frank 180 Wegener, Paul 179 Wegner, Matthias 318A Weichert, Richard 179 Weiße, Christian Felix 20 Weisse, Christian Hermann 259A Wendt, Ernst 63A

Wenzl, Andrea 331A Werner, Oskar 119A Wessely, Paula 291 Wiegand, Karsten 326 Wiegenstein, Roland H. 310 Wieland, Christoph Martin 36, 76, 76A, 77, 92, 145A, 197, 262 Wieler, Jossi 95A Wiemann, Mathias 299A Wiens, Birgit 315A Wiese, Benno von 24 Wildgruber, Ulrich 108A, 119A Wilhelm II., Kaiser von Deutschland 106 Wilkinson, Elisabeth M. 117A Wille, Franz 108A Willemer, Marianne von 212A Wilson, Robert 333 f. Winkler, Angela 108A Wirsing, Sibylle 324A Witkowski, Georg 284, 285, 285A Wögerbauer, Ferdinand 323A

Wölbern, Werner 331A Wolff, Christian 92A Wolff, Pius Alexander 273 Wolff-Malcomi, Amalie 147, 148 Wollheim da Fonseca, Anton Eduard 293 f. Wüstenhagen, Karl 280A, 299 Wulf, Joseph 298A Wuttke, Martin 25, 108A, 315 Zehm, Edith 169A, 183A Zelter, Carl Friedrich 37A, 76A, 92A, 113, 137A, 147A, 148, 161A, 162, 165A, 203A, 204A, 207A, 210, 273, 277 Zezschwitz, Eberhard von 196A Zimmermann, Bernd Alois 279 f. Zimmermann, Hans Dieter 91A Zimmermann, Regine 327A Zimmermann, Rolf Christian 39A, 213A, 214A, 256A Ziolkowska, Patrycia 328

Personenregister  359

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Theo Buck

Hans JoacHim scHädlicH LEBEN ZWISCHEN WIRKLICHKEIT UND FIKTION

Hans Joachim Schädlich, 1935 im Vogtland geboren, arbeitete nach seiner Promotion in Germanistik als Sprachwissenschaftler für die Akademie der Wissenschaften in Ostberlin. Dort verfasste er seit dem Ende der 1960er Jahre seine ersten literarischen Arbeiten. Doch diese regimekritischen Werke wur­ den in der DDR nicht veröffentlicht, vielmehr ließ ihn das Ministerium für Staatssicherheit bespitzeln. 1976 wurde Schädlich für die Regierenden zum Staatsfeind, nachdem er gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. 1977 reiste er mit seiner Familie aus der DDR in den Westen aus. Sein erster Erzählband »Versuchte Nähe« war kurz zuvor in der Bundesrepublik erschienen und hatte große Beachtung gefunden. In der Folge avancierte Schädlich mit seiner Prosa zu einem der bedeutendsten Autoren in der zeit­ genössischen deutschen Literatur. Der Germanist Theo Buck legt hier die erste Biografie und Werkanalyse des international renommierten und mit zahlreichen Literaturpreisen und Ehrungen ausgezeichneten Schriftstellers Hans Joachim Schädlich vor. 2015. 279 S. 14 S/W-ABB. GB. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-412-22449-3

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