Furtwänglers Sendung: Essays zum Ethos des deutschen Kapellmeisters 3515100954, 9783515100953

Wilhelm Furtwängler (1886–1954) hat als Dirigent weltweiten Ruhm erlangt und war als Chef der Berliner Philharmoniker de

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German Pages 179 [182] Year 2020

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
GERHARD SPLITT:
Kapellmeister nur „für das Volk“? Der Dirigent im NS-Staat
MICHAEL CUSTODIS: Kunst als politisches Vakuum
ANDREAS DOMANN: Musik als Immunitätsgarant. Zur Verquickung von Kunst und Moral
LORE KNAPP: „und übrigens, was hat Kunst mit Politik zu tun?“
Die Familie Mann und Furtwängler
JOHANNES HELLMANN: Paktieren mit Joseph Goebbels
MISHA ASTER: Der Kämpfer
FRÉDÉRIC DÖHL: Selbstbild und Rezeption des Komponisten
MICHAEL CUSTODIS: Glauben an den deutschen Geist. Im Briefwechsel mit Bertele Braunfels,
Ludwig Curtius und Hans Schnoor
GREGOR HERZFELD: Friedrich Herzfelds erste Monografie
ANDREAS DOMANN: Toscanini und Furtwängler aus der Sicht Adornos
TILL WALLRABENSTEIN: Strategien einer erzwungenen Apologie
in Sam Shirakawas The Devil’s Music Master
ALBRECHT RIETHMÜLLER: Vom jüngeren Umgang mit einer Musikerikone
Die Autoren der Beiträge
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Furtwänglers Sendung: Essays zum Ethos des deutschen Kapellmeisters
 3515100954, 9783515100953

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albr echt riethmüller / Gr egor herzfeld (Hg.)

Furtwänglers Sendung Essays zum Ethos des deutschen Kapellmeisters

Musikwissenschaft Franz Steiner Verlag

Komponisten – Dirigenten

omponisten Dirige

Komponisten – Dirigenten

albrecht riethmüller / gregor herzfeld (hg.)

Furtwänglers Sendung Essays zum Ethos des deutschen Kapellmeisters

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildungen: Oben: Furtwänglers Rückkehr zu den Berliner Philharmonikern am 23.05.1947 © akg-images / picture-alliance / dpa Unten: Furtwängler vor der Entnazifizierungskammer, Dezember 1946 © akg-images Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10095-3 (Print) ISBN 978-3-515-12816-2 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort ....................................................................................................................7 GERHARD SPLITT Kapellmeister nur „für das Volk“? Der Dirigent im NS-Staat ................................9 MICHAEL CUSTODIS Kunst als politisches Vakuum…………………………………………………….27 ANDREAS DOMANN Musik als Immunitätsgarant. Zur Verquickung von Kunst und Moral…………..39 LORE KNAPP „und übrigens, was hat Kunst mit Politik zu tun?“ Die Familie Mann und Furtwängler………………………………………………47 JOHANNES HELLMANN Paktieren mit Joseph Goebbels…………………………………………………...59 MISHA ASTER Der Kämpfer……………………………………………………………………...73 FRÉDÉRIC DÖHL Selbstbild und Rezeption des Komponisten………………………………………85 MICHAEL CUSTODIS Glauben an den deutschen Geist. Im Briefwechsel mit Bertele Braunfels, Ludwig Curtius und Hans Schnoor……………………………………………..107 GREGOR HERZFELD Friedrich Herzfelds erste Monografie…………………………………………...125 ANDREAS DOMANN Toscanini und Furtwängler aus der Sicht Adornos………………………………139

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Inhaltsverzeichnis

TILL WALLRABENSTEIN Strategien einer erzwungenen Apologie in Sam Shirakawas The Devil’s Music Master…………………………………..147 ALBRECHT RIETHMÜLLER Vom jüngeren Umgang mit einer Musikerikone………………………………...161

Die Autoren der Beiträge………………………………………………………..179

Vorwort Der populärste Spross der Familie ist derzeit die im deutschen Fernsehen als TatortKommissarin tätige Schauspielerin Maria Furtwängler. Doch nicht ihr gilt der Titel „Furtwänglers Sendung“, so nahe dieses auch zu liegen schiene, sondern ihrem älteren, entfernteren Verwandten Wilhelm Furtwängler (1886–1954), der als Dirigent weltweiten Ruhm erlangt hat und dessen Nimbus unter Musikern ungebrochen ist. Er gehörte zur geschichtlich ersten Generation von Orchesterleitern, deren Konzertund Operntätigkeit durch Rundfunksendungen verbreitet und deren musikalische Hinterlassenschaft auf Tonträgern festgehalten worden ist. Doch auf seine Radiopräsenz bezieht sich unser Titel ebenfalls nicht, sondern auf das spezielle Sendungsbewusstsein, das er mit Musik im Allgemeinen und seinem eigenen Wirken im Besonderen verband. Die hier versammelten Essays möchten einen Beitrag leisten zur Aufhellung der Mission, zu der Furtwängler sich aufmachte oder sich berufen fühlte. Sie bestehen aus einzelnen Momentaufnahmen und sind angestoßen durch das Diffuse mancher Bilder, die Zeitgenossen und Nachwelt von ihm gezeichnet haben. Bis heute sind die Spannungen nicht gewichen in der Betrachtung eines Musikers, der einerseits völlig unumstritten als Ausnahmedirigent wahrgenommen wird, andererseits jedoch als eine kontrovers diskutierte Person, die von den einen mit ebensolcher Zähigkeit hagiographisch für einen Leuchtturm aus Humanität gehalten wie von anderen als Hitlers Kapellmeister gebrandmarkt wird. Die Beiträge sind aus Lehrveranstaltungen und Gastvorträgen am Seminar für Musikwissenschaft der Freien Universität Berlin hervorgegangen, die am Beispiel Furtwängler dem Verhältnis von Ethik und Musik sowie von Musik und Politik galten. Das recht unterschiedliche Zugehen der einzelnen Autorinnen und Autoren auf den Gegenstand brachte es mit sich, dass wir lieber gelegentliche Wiederholungen einzelner Sachverhalte in Kauf genommen haben, als durch ihr Eliminieren den individuellen Argumentationsgang zu verkürzen. Zumal in heiklen Zusammenhängen erschien uns das wichtig. Herzlich gedankt sei allen Beteiligten für ihre Beiträge und deren Herstellung zum Druck, für die Offenheit in den anregenden Diskussionen und die Geduld im langen Prozess der Veröffentlichung. Gleicher Dank gilt Dr. Marie Louise Herzfeld-Schild und Martina Fuchs M.A. für ihre Hilfe bei den redaktionellen Arbeiten. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sei für eine Druckbeihilfe gedankt und ganz besonders dem Leiter des Franz Steiner Verlags Dr. Thomas Schaber für sein Engagement. Berlin und Wien, am 8. Mai 2020

Albrecht Riethmüller

Gregor Herzfeld

Kapellmeister nur „für das Volk“? Der Dirigent im NS-Staat von GERHARD SPLITT

Zwei Zitate sollen zu der problematischen Gemengelage hinführen, die der Fall Furtwängler bzw. die Geschichte des Dirigenten Wilhelm Furtwängler im NS-Staat darstellt. Das erste Zitat stammt aus der Feder von Furtwängler, niedergelegt im Frühjahr 1935 unter dem Titel England-Interview, und zwar im Zusammenhang mit einer Aufführung von Tristan und Isolde unter seiner Leitung in Covent Garden: „Daß ein Teil der Presse von ihrem übersättigten Standpunkt aus ihre Forderungen stellt, ist verständlich, – es ist aber nicht maßgebend. Meine Aufgabe ist größer; ich bin Kapellmeister nicht für die Literaten und Feinschmecker, nicht für eine Richtung, einen Staat, eine Regierung, wie sie auch sei, sondern für das Volk“.1

Das zweite Zitat stammt aus den Tagebüchern des „Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda“. Am 13. Januar 1944 diktierte Goebbels mit Blick auf die beiden prominentesten lebenden deutschen Musiker u.a. das folgende: „Ich bekomme Besuch von Furtwängler. [...] Ich stelle bei Furtwängler mit großer Freude fest, daß er, je schlechter es uns geht, sich umso enger an unser Regime anschließt, sehr im Gegensatz zu Richard Strauss, der sich früher in Devotionserklärungen nicht genug tun konnte2 und heute eine Sprache spricht, die geradezu volksgerichtsreif ist. Ich will zwar nichts gegen Strauss mit seinen 80 Jahren unternehmen; aber er erweist sich nur als der Charakter, als den ich ihn immer erkannt habe. Er enttäuscht mich in keiner Weise“.3

Es ist schwerlich zu übersehen, dass sich hier zwei unterschiedliche Auffassungen äußern: Auf der einen Seite Furtwängler, der künstlerische Autarkie gegenüber politischen Richtungen, Staat und Regierung proklamiert und sich nur dem „Volk“ verpflichtet sieht; dabei dürfen wir, in Umkehrung einer anderen Äußerung

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Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, hg. von E. Furtwängler und G. Birkner, Wiesbaden 1980, S. 110. Curt Riess, Furtwängler. Musik und Politik, Bern 1953, S. 161: „Er [sc. Strauss], der im Hause Max Reinhardts aus- und eingegangen war, [...] verspürte nun keinerlei Skrupel, sich an die großen Nazis heranzudrängen. Bei allen ihren Festlichkeiten war er dabei, er schmeichelte ihnen so, daß es peinlich war, ihm zuzuhören [...]“. Josef Goebbels, Die Tagebücher, hg. von E. Fröhlich, Teil 2 (Diktate 1941–1945), Bd. 11 (Januar–März 1944), bearbeitet von D. M. Schneider, München u. a. 1994, S. 82.

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Gerhard Splitt

Furtwänglers aus dem Jahr 1937, statt Volk ruhig Publikum sagen;4 auf der anderen Seite Goebbels, der glaubt feststellen zu können, dass sich Furtwängler trotz oder wegen der prekären militärischen Lage immer mehr in den Dienst der braunen Sache stellt. Dabei war dem Propaganda-Minister durchaus klar, dass Furtwängler, diese, so Goebbels, „Persönlichkeit aus einem Guß, [...] nie Nationalsozialist gewesen“ ist. „Hat auch nie ein[en] Hehl daraus gemacht“.5 Es liegt auf der Hand, dass Furtwänglers Auffassung, er diene – auch unter einem totalitären Regime – nicht der Politik, sondern nur „dem Volk“, ein hölzernes Eisen, eine Illusion war. „Denn innerhalb einer Diktatur gibt es keine Unabhängigkeit jenseits der Gegebenheiten“, so treffend Curt Riess in seinem Buch Furtwängler. Musik und Politik,6 das 1953, also noch zu Lebzeiten Furtwänglers, erschien. Im Zusammenhang mit Hindemith hat Claudia Maurer Zenck diesen Befund wie folgt pointiert: „Im Dritten Reich gab es keine unpolitische Kultur; auch die als unpolitisch bzw. das Regime nicht in Frage stellende maskierte Literatur war nicht unpolitisch, denn sie wurde für das Regime vereinnahmt“.7

Hinzu kommt, dass wohl schwerlich ausgeschlossen werden konnte, dass im braven deutschen Publikum üble Nazis saßen, die in Furtwänglers Konzerten und vornehmlich durch deutsche Musik Kräfte tankten, die möglicherweise ihr böses Tun beflügelten. So etwa der als „Polenschlächter“ in die Annalen des NS-Staats eingegangene Hans Frank, gut bekannt mit Richard Strauss, der als kultivierter Mann ein Verehrer der sogenannten klassischen Musik war, wie bekanntermaßen auch Hitler, Göring und Goebbels. Dieser notierte z.B. am 1. November 1935: „Abends mit Magda in der Philharmonie, IX. Symphonie unter Furtwängler. Unvergleichliche Wiedergabe. Man ist im Tiefsten erschüttert. Der Führer auch da. Ganz benommen sind wir alle am Ende. Großer, großer Beethoven“.8

Und am 11. Februar 1937, einen Tag nach dem triumphalen Konzert zugunsten der Winterhilfe, hielt Goebbels fest: „Abends mit dem Führer und Görings [in der] Philharmonie. Einziger Furtwängler. [...] Ganz großes Ereignis. Freischütz-Ouvertüre. 4. Symphonie von Brahms. Gequälte Musik, aber sie blüht direkt auf unter Furtwänglers Händen. Und dann die 7. von Beethoven. Welch ein Riese. Unheimlich dieses Allegro con brio [sc. der Schlußsatz]. Schauer von Hitze und Kälte gehen

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Wilhelm Furtwängler, Gespräche über Musik, Zürich; Freiburg i.Br. ³1950, S. 13: „[...] wir können hier statt Publikum ruhig ‚Volk‘ sagen“. Zitiert nach Fred Prieberg, Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986, S. 402. Riess, S. 227. Claudia Maurer Zenck, Zwischen Boykott und Anpassung an den Charakter der Zeit. Über die Schwierigkeiten eines deutschen Komponisten mit dem Dritten Reich, in: Hindemith-Jahrbuch 9, 1980, S. 116. Zitiert nach Fred Prieberg, Furtwängler, Wilhelm, in: ders., Handbuch Deutsche Musiker 193345, CD-ROM, Version 1.2-3/2005, S. 1800.

Kapellmeister nur „für das Volk“?

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den Rücken herunter. Es ist unbeschreiblich. Furtwängler wird gefeiert wie ein Gott. Der Führer und wir alle sind hingerissen“.9

Man sieht: Politik und menschenverachtende Brutalität auf der einen sowie Begeisterung für Musik auf der anderen Seite schlossen sich im NS-Staat keineswegs gegenseitig aus. Gleichwohl scheinen gewisse Überzeugungen, die für Furtwängler mit den Jahren den Charakter von Glaubenssätzen angenommen hatten, wider besseres Wissen Jahre und Jahrzehnte überdauert zu haben. Ein wenig erschwert wird eine ins Detail gehende Betrachtung und Beurteilung seiner politischen Ansichten und Überzeugungen dadurch, dass seine nach 1945 edierten Schriften ‚gereinigt‘ wurden. Chris Walton, elf Jahre Leiter der Musikabteilung der Zentralbibliothek Zürich, also derjenigen Bibliothek, die einen großen Teil von Furtwänglers schriftlichem Nachlass verwahrt, schrieb 2004: „There is [...] no reliable edition of Furtwängler’s writings on the market today, neither in German, nor in translation“.10 Das gilt bis heute. Angesichts von etlichen höchst fragwürdigen Äußerungen, die dann erstaunlicherweise doch publiziert wurden und von denen einige weiter unten zitiert seien, fragt man sich allerdings, was man zu streichen für nötig befunden hat, wenn die übrigen zur Veröffentlichung freigegeben wurden. Fraglos muss Furtwängler klar gewesen sein, dass er selbst und die von ihm aufgeführte Musik politisch instrumentalisiert werden konnte und wurde. Warum sonst hat er sich zu wiederholten Malen per Attest aus der Affäre gezogen, um nicht anlässlich von „Führers Geburtstag“ dirigieren zu müssen? Warum sonst war ihm daran gelegen, tunlichst nicht in besetzten Ländern aufzutreten? Oder warum sonst hat er sich geweigert, bei dem Propaganda- bzw. Durchhaltefilm Philharmoniker, der Anfang Dezember 1944 seine Uraufführung erlebte, als Selbstdarsteller aufzutreten? Im Unterschied übrigens zu Richard Strauss, der sein von Hitler und Goebbels geliebtes Festliches Präludium dirigierte11, dafür 10.000 RM von der Tobis Filmkunst GmbH verlangte und auch erhielt12. (In heutigem Geld wären das etwa 100.000 Euro.13) Gleich zu Beginn des „Dritten Reichs“, als Furtwängler die Zivilcourage hatte, sich angesichts der Auftrittsverbote von Otto Klemperer und Bruno Walter öffentlich zu Wort zu melden – Richard Strauss hatte sich bekanntermaßen von zwei Nazis überreden lassen, für Bruno Walter einzuspringen14 – hat Goebbels Wilhelm 9 10 11

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Zitiert nach Prieberg, Handbuch, S. 1810. Vgl. dazu den entsprechenden Tagebucheintrag von Hans Frank, in: Niklas Frank, Der Vater. Eine Abrechnung [1987], München 2001, S. 42f. Chris Walton, Furtwängler the Apolitical?, in: The Musical Times, 2004, S. 11. Riess, Furtwängler, S. 252: „Richard Strauß [...] ließ sich enorm dafür bezahlen, daß er auftrat, dirigierte aber dann keineswegs das ganze ‚Festliche Präludium’, sondern nur die ersten Takte. Den Rest des Musikstückes dirigierte ein Wiener Musiker in der Maske von Richard Strauß [...].“; vgl. Prieberg, Kraftprobe, S. 419. Vgl. Bundesarchiv (BDC), PA Strauss, Richard. Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main ³2005, S. 48. Vgl. Gerhard Splitt, Richard Strauss 1933–1945. Ästhetik und Musikpolitik zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, Pfaffenweiler 1987, S. 42–54.

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Gerhard Splitt

Furtwängler und der interessierten Öffentlichkeit u.a. in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 12. April 1933 folgendes mitgeteilt: „Es ist Ihr gutes Recht, sich als Künstler zu fühlen und die Dinge auch lediglich vom künstlerischen Standpunkt zu sehen. Das aber bedingt nicht, daß Sie der ganzen Entwicklung, die in Deutschland Platz gegriffen hat, unpolitisch gegenüberstehen“.15 Es folgte wenige Spalten später jener Satz, der klarstellte, dass man von Künstlern Gleichschaltung erwartete und wer im Zweifelsfall das Sagen hatte: „Künstler, die wirklich etwas können und deren außerhalb der Kunst liegendes Wirken nicht gegen die elementaren Normen von Staat, Politik und Gesellschaft verstoßen, werden wie immer in der Vergangenheit, so auch in Zukunft bei uns wärmste Förderung und Unterstützung finden.“16

Furtwänglers Aktion war zwar kein politisch motivierter Widerstand, aber ein mutiges Aufstehen, ein öffentliches Zeichen der Solidarität mit jüdischen Kollegen, das Furtwängler internationale Zustimmung einbrachte. In Lugano schrieb Thomas Mann in sein Tagebuch: „Gestern in der Frankf. Zeitung Furtwänglers höchst angepaßter, aber immerhin warnender Kulturbrief an Göbbels und die lange Antwort des Narren darauf“.17 Dieses Urteil dürfte der Tatsache geschuldet gewesen sein, dass Furtwängler Goebbels versichert hatte, dass, wenn „sich der Kampf gegen das Judentum in der Hauptsache gegen jene Künstler“ richte, „die – selber wurzellos und destruktiv – durch Kitsch und trockenes Virtuosentum und dergleichen zu wirken suchen“, so sei „das nur Ordnung“.18 Allerdings hatte der Dirigent hinzugefügt, dass jenen Ungeist auch „germanische Vertreter“ besitzen.19 Klar war jedenfalls, dass „Judentum“ im pauschal diffamierenden Sinne der Nazis für Furtwängler kein Kriterium für die Beurteilung künstlerischer Leistungen darstellte. Orthodoxen Nazis aus dem Dunstkreis des Möchtegern-Chefideologen Alfred Rosenberg war Furtwänglers Standpunkt, wie er Furtwänglers Brief an Goebbels zu entnehmen war, denn auch suspekt, weil zu lasch. Als Furtwängler bei einer Tournee der Berliner Philharmoniker am 26. April 1933 in Mannheim darauf bestand, dass „seine“ jüdischen Musiker an den ersten Pulten verblieben, legte drei Tage später das NS-Blatt Hakenkreuzbanner nach: Der „bekannte Briefwechsel zwischen Dr. Goebbels und Dr. Furtwängler“ habe „die laxe Einstellung Furtwänglers in der Judenfrage“ bereits hinlänglich bewiesen. Aber das jetzt noch an allen

15 Zitiert nach Berta Geissmar, Musik im Schatten der Politik [1951], hg. von Prieberg, Zürich 1985, S. 74. 16 Ebd., S. 76. 17 Thomas Mann, Tagebücher 1933–1934, hg. von P. de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1977, S. 47f. 18 Zitiert nach Geissmar, Musik im Schatten der Politik, S. 73. 19 Am Rande sei mit Blick auf Manns Bemerkung über den „höchst angepaßten [...] Kulturbrief“ darauf verwiesen, dass Mann drei Tage zuvor seinem Diarium bemerkenswerterweise folgendes anvertraut hatte: „Daß die übermütige und vergiftende Nietzsche-Vermauschelung Kerr’s ausgeschlossen ist, ist am Ende kein Unglück; auch die Entjudung der Justiz am Ende nicht.“, Thomas Mann, Tagebücher 1933–1934, S. 46.

Kapellmeister nur „für das Volk“?

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ersten Pulten der Streicher „ausnahmslos Juden“ säßen, das schlage „denn doch dem Faß den Boden aus“.20 Die Urteile über Wilhelm Furtwänglers Verhältnis zum Nationalsozialismus, wie sie sich seinem Verhalten und seinen schriftlich niedergelegten Gedanken entnehmen lassen, sind bis heute kontrovers. Peter Gülke hat 2002 in seinem Furtwängler-Artikel in Die Musik in Geschichte und Gegenwart dem Dirigenten „eine gefährlich breite Konsenszone mit nachmals nazistischen Ideologemen“ attestiert.21 Ganz ähnlich ließ sich zwei Jahre später der bereits zitierte Chris Walton vernehmen: Ähnlichkeiten zwischen der Ästhetik der Nazis und der Furtwänglers seien bis hin zur Wortwahl unbestreitbar.22 Fred K. Prieberg äußerte hingegen, Furtwängler habe insbesondere bei Eingaben an die braune Prominenz „rhetorisch taktisch“ formuliert; bei der bisweilen Nazi-ähnlichen Wortwahl und Diktion handele es sich um „taktische Formulierungen“.23 Und zwar deshalb, um zu retten, was an kleinen Freiheiten noch zu retten gewesen sei, und um nicht zuletzt aufgrund des herrschenden Rassenwahns in Bedrängnis geratenen Personen helfen zu können: In rund 90 Fällen, so Prieberg, sei Wilhelm Furtwängler tätig geworden, „gelegentlich sogar lebensrettend“, so etwa im Falle des Violin-Virtuosen Carl Flesch;24 und alle bis 1936 bei den Berliner Philharmonikern verbliebenen „nichtarisch belasteten“ Musikern habe er gegen den Widerstand von Goebbels bis zum Kriegsende im Orchester halten können, „ab 1939 auch bei den Wiener Philharmonikern“.25 In der Tat ist aus dem Bereich der musikalischen Prominenz, die im NS-Staat blieb, keine Persönlichkeit bekannt, die sich für Bedrängte und/oder in Not Geratene derart eingesetzt hat, wie Wilhelm Furtwängler. Und um erfolgreich etwas bewerkstelligen zu können, musste er allerdings die Nähe der Mächtigen suchen. Tagebuch-Einträge wie die folgenden von Goebbels bestätigen das auf ihre Weise. In der Pause einer Siegfried-Aufführung bei den Bayreuther Festspielen am 28. Juli 1937 hatten Dirigent und Minister eine „Besprechung“. Goebbels notierte: „Er will mehr ernste Musik im Rundfunk. Da hat er recht. Wird gemacht. Planmäßigere Sorgen für den Nachwuchs. Auch richtig. Geiger dürfen nicht im Arbeitsdienst schippen. Und Sänger nicht in der H.J. ihre Stimme ruinieren. Dann hat er noch ein paar Halbjuden. Die hat er ja immer. Aber sonst ist er ganz manierlich. Und ein so großer Künstler“.26

Und wenige Tage später, am 3. August 1937, hält Goebbels fest: „In der Philharmonie sind noch einige Halbjuden. Ich werde versuchen, sie wegzubringen. Leicht wird das nicht sein. Furtwängler sucht, sie mit aller Macht zu halten“.27

20 Zitiert nach Prieberg, Kraftprobe, S. 91. 21 Peter Gülke, Furtwängler, Wilhelm, in: 2Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil, Bd. 7, Kassel 2002, Sp. 293. 22 Vgl. Walton, Furtwängler the Apolitical?, S. 10. 23 Prieberg, Handbuch, S. 1745 und 1750. 24 Ders., Kraftprobe, S. 121–124. 25 Ders., Handbuch, S. 1741. 26 Zitiert nach ebd., S. 1815. 27 Ebd.

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Gerhard Splitt

Das ist eine wahrlich bemerkenswerte Wortwahl. Der mächtige Minister will „versuchen“, einige „Halbjuden“ aus der Philharmonie zu entfernen, und dabei befürchtet er Schwierigkeiten, weil Furtwängler dagegen ist. Hier stand offenbar Furtwänglers mittlerweile wieder respektierte Popularität gegen die Möglichkeiten der politischen Macht; und beide Seiten, so ist anzunehmen, dürften aus den Vorfällen gegen Ende des Jahres 1934 und den damit verbundenen Konsequenzen ihre Lektion gelernt haben. Gemeint ist der „Fall Hindemith“, aus dem sehr rasch der „Fall Furtwängler“ wurde. Zu dessen Vorgeschichte gehört, dass Hitler (vermutlich 1929) Hindemiths Oper Neues vom Tage gesehen und an der Badewannenszene Anstoß genommen hatte, in der die Darstellerin der Laura das Lob der Warmwasserversorgung anstimmte,28 wobei sie vermeintlich nackt zu sehen war. Seither war Paul Hindemith bei Hitler „unten durch“, desgleichen beim sauertöpfischen Reichsleiter Rosenberg und dessen Entourage. Dementsprechend konnte es Rosenberg nicht recht sein, dass die Symphonie „Mathis der Maler“ nach der Uraufführung durch Furtwängler am 12. März 1934 sehr rasch an Beliebtheit gewann.29 Außerdem bot sich Rosenberg hier die willkommene Gelegenheit, seinem Rivalen Goebbels die Grenzen aufzuzeigen; war doch in dem von Goebbels kontrollierten Angriff über die umjubelte Aufführung der Mathis-Sinfonie zu lesen gewesen: „Was das Werk wertvoll macht, ist die Fülle der Einfälle“.30 Rosenberg musste demnach ein gleichsam natürliches Interesse daran haben, die Uraufführung der Oper Mathis der Maler zu verhindern, die Furtwängler für den Mai 1935 geplant hatte, so das Werk denn bis dahin vollendet gewesen wäre. Dass die Genehmigung dieser Uraufführung eher unwahrscheinlich sein würde, war Furtwängler längst bekannt, da Göring den Dirigenten im Sommer 1934 hatte wissen lassen, diesbezüglich sei das Einverständnis des „Führers“ einzuholen.31 Im weiteren Verlauf des Jahres waren Rosenberg und seine Mannen nicht untätig geblieben. Im Oktober 1934 erschien in der Zeitschrift Die Musik, seit einigen Monaten Sprachrohr von Rosenbergs NS-Kulturgemeinde, ein erster Artikel, der die „Echtheit“ von Hindemiths jüngster Musik bezweifelte, was auch immer damit gemeint gewesen sein mochte.32 Nur einen Monat später erschien am selben publizistischen Ort ein namentlich nicht gekennzeichneter Artikel aus der Feder von Friedrich W. Herzog, dessen Titel den nachfolgenden Text in nuce präsentierte, nämlich: Paul Hindemith – kulturpolitisch nicht tragbar.33 Überdies hatte ein Leipziger Stadtrat, der sowohl Leiter des Kulturamts der NSDAP als auch des Ortsvereins der NS-Kulturgemeinde war, eine Aufführung der Mathis-Sinfonie im Rahmen der Gewandhaus-Konzerte untersagt. Furtwängler sprach Goebbels darauf an, der aber, vermutlich mit Rücksicht auf Hitlers Abneigung gegen Hindemith, nicht eingriff. Daraufhin trat Furtwängler mit seinem Artikel Der Fall Hindemith an die 28 Vgl. Geissmar, Musik im Schatten der Politik, S. 117, sowie Riess, Furtwängler, S. 176f. 29 Prieberg, Kraftprobe, S. 183: „Mehr als 40 Annahmen oder Aufführungen, davon acht allein in Holland, alarmierten zur Gegenreaktion“. 30 Zitiert nach Riess, Furtwängler, S. 178. 31 Vgl. Prieberg, Handbuch, S. 2426. 32 Vgl. ders., Kraftprobe, S. 185. 33 Die Musik, XXVII/2, S. 138–140.

Kapellmeister nur „für das Volk“?

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Öffentlichkeit und stellte seine Mitarbeit im jenem Programmausschuss, der seinen Namen trug, ein – bis auf weiteres, wie er glaubte, d.h. bis zur Klärung der Zuständigkeiten von Goebbels und Rosenberg. Es sollte anders kommen, weil Furtwängler die kulturpolitischen Machtverhältnisse offensichtlich nicht durchschaute. Richtig war zwar, dass Rosenbergs Kulturgemeinde nur einen mäßigen Einfluss auf das kulturelle Leben im NS-Staat hatte und Rosenberg auch in höheren Nazi-Kreisen nicht sonderlich beliebt war. Richtig war allerdings auch, dass in Zweifelsfällen nur einer das letzte Wort hatte: Hitler, der Hindemith nicht mochte und der selbstverständlich nicht gestatten würde, dass sein Reichsleiter und Beauftragter für die „Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ öffentlich kritisiert wurde, wenn auch nicht namentlich. Hinzu kam überdies, dass Furtwängler für den 30. November 1934 eine Audienz bei Hitler gewährt worden war, der in Furtwänglers Artikel, der am 25. November erschien, „den Versuch einer Pression auf seine eigene Entscheidung erblickte, die mir völlig ferngelegen hatte“, wie Furtwängler sich erinnerte.34 Das mag man ihm gerne glauben, riskant war die Publikation dennoch insofern, als sie einer Herausforderung gleichkam, auf die die Diktatur ihrem totalitaristischen Selbstverständnis nach reagieren musste. Einer, der das sofort begriffen hat, war Furtwänglers Antagonist Richard Strauss, von dem in diesem Zusammenhang noch zu reden sein wird. Furtwänglers umfangreicher Artikel Der Fall Hindemith erschien in der Deutschen Allgemeinen Zeitung und anderen Blättern, und zwar, wie bereits erwähnt, am 25. November 1934. Das war ein Sonntag. Zufall oder nicht, jedenfalls probte er vormittags öffentlich in der Philharmonie für das Konzert am nächsten Tag. Sowohl auf der Straße als auch im Saal bewirkte sein Artikel demonstrative Zustimmung. In der Tat hatte der Dirigent kein Blatt vor den Mund genommen: Von „gewissen Kreisen“ war die Rede, die den Kampf gegen Hindemith eröffnet hätten, „diesen ausgesprochen ‚deutschen Typus‘“, der sich „niemals politisch betätigt“ habe. Sodann: Wo komme man überhaupt hin, „wenn politisches Denunziantentum in weitestem Maße auf die Kunst angewendet werden sollte? [...] Es handelt sich hier, viel mehr noch als um den besonderen ‚Fall Hindemith‘, um eine allgemeine Frage von prinzipiellem Charakter“. Man könne es sich nicht leisten, so schloss Furtwängler, auf einen Mann wie Hindemith zu verzichten.35 Dass es sich über Hindemith hinaus „um eine allgemeine Frage von prinzipiellem Charakter“ handelte, das war allerdings auch Hitlers, Goebbels’ und Rosenbergs Meinung, freilich aus einer anderen Position heraus. Und entsprechend antworteten deren ‚Sprachrohre‘ denn auch, während Fred Hamel, alias Hans Lyck, am 2. Dezember 1934 in der Deutschen Zukunft frohlockte: „Wie ein frischer Windzug wirbeln diese Worte die letzten Unerquicklichkeiten davon. Eine erlösende Tat ist geschehen, gerade weil wir wissen, daß Furtwängler durchaus kein blinder Fortschrittler ist und sich Übertreibungen, die nach seiner Überzeugung auf dieser Seite geschehen sind, nicht minder charaktervoll entgegenstellte. Aber die Entscheidung um die

34 Zitiert nach Riess, Furtwängler, S. 182f. 35 Zitiert nach ebd., S. 179–182.

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Gerhard Splitt Zukunft der deutschen Musik ist nun gefallen – und zwar in bejahendem Sinne. Frohen Muts und voller Hoffnung gehen wir weiter in diese Zukunft hinaus“.36

Das war ein wenig voreilig, wie sich binnen drei Tagen zeigen sollte. Von Göring war Furtwängler tags zuvor, samstags, getadelt worden, dass er die Sache an die Öffentlichkeit gebracht und damit eine Pressekampagne ausgelöst habe. Furtwängler bot daraufhin seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern an, also als (politisch bedeutungsloser) „Staatsrat“, zu dem Göring ihn im Juli 1933 ernannt hatte, sowie als Vize-Präsident der Reichsmusikkammer, der er seit dem 15. November 1933 war. Doch Göring beruhigte seinen Staatsoperndirektor: Der Fall Hindemith sei jetzt zwar ein öffentliches Politikum und die Mathis-Oper könne vorerst nicht aufgeführt werden, aber ansonsten könne man sich am kommenden Montag in Ruhe weiter miteinander besprechen. Am Sonntagabend, dem 2. Dezember, hatte Furtwängler Wagners Tristan und Isolde in der Staatsoper zu dirigieren, Goebbels und Göring waren anwesend. Als Furtwängler erschien, raste das Publikum vor Begeisterung: „Ein endloser, durch nichts einzudämmender Beifallssturm brauste durch das Haus“, so Berta Geissmar, zu diesem Zeitpunkt noch Furtwänglers jüdische Sekretärin.37 Man wird davon ausgehen dürfen, dass diese stürmischen Ovationen Furtwänglers Position zusätzlich schwächten, denn sie hatten, wie er selbst sehr richtig erkannt hat, „ausgesprochen demonstrativen Charakter“38, nämlich einmal mehr für seine Zivilcourage und gegen eine bornierte Musikpolitik. Am Montag hatte sich Hitler höchstselbst eingeschaltet und den Dirigenten wissen lassen, er möge sich entschuldigen, dann dürfe er im Amt bleiben. Furtwängler schlug einen mehrwöchigen Urlaub vor, in dessen Verlauf er mehr oder weniger unauffällig als Reichsmusikkammer-Vizepräsident zurücktreten könne. Aber mittlerweile war Hitlers Geduld am Ende: Göring erklärte Furtwängler dienstags, am 4. Dezember um 18 Uhr, der „Führer“ erwarte innerhalb von zwei Stunden Furtwänglers Rücktrittsgesuch, ansonsten werde er entlassen. Dieser glaubte, seine musikpolitischen Positionen seien gemeint, und willigte ein. Daraufhin eröffnete ihm Göring, dass alle Stellungen gemeint seien, auch die musikalischen. Dazu Furtwängler: „[...] der Ministerpräsident [sc. Göring] sagte, wenn er, F., seinen Rücktritt selbst formuliere, würde jeglicher Kommentar in der Presse verboten werden, denn der Führer wünsche eine Trennung in Freundschaft und Frieden. Darauf erklärte F. seinen Rücktritt, und die Rücktrittsgesuche wurden durch den Generalintendanten [sc. Tietjen] dem Ministerpräsidenten um 8 Uhr überbracht“39.

Bei dieser Gelegenheit wäre Furtwängler gerne den „Staatsrat“ losgeworden, der aber, so klärte Göring ihn auf, sei keine Stellung, sondern ein Titel, der nur aberkannt werden könne40. Hitlers Zusage, dass „jeglicher Kommentar in der Presse verboten“ werde, wenn Furtwängler „seinen Rücktritt selbst formuliere“, wurde 36 37 38 39 40

Zitiert nach Prieberg, Kraftprobe, S. 190. Geissmar, S. 130, vgl. Riess, Furtwängler, S. 182. Furtwängler-Denkschrift vom Dezember 1934, zitiert nach Prieberg, Handbuch, S. 1784. Zitiert nach ebd., S. 1785. Vgl. Riess, Furtwängler, S. 184.

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nicht eingehalten. Die Deutsche Zeitung meldete am 5. Dezember 1934 unter der Überschrift Furtwängler zurückgetreten: „Staatsrat Dr. Wilhelm Furtwängler hat den Reichsminister Dr. Goebbels um Entlassung aus seinen Ämtern als Vizepräsident der Reichsmusikkammer und als Leiter des Berliner Philharmonischen Orchesters ersucht. Gleichzeitig bat er den preußischen Ministerpräsidenten, ihn von seinem Amt als Operndirektor der Berliner Staatsoper zu entbinden. Beide Reichsminister haben die an sie ergangenen Gesuche bewilligt41. Die vorstehende Meldung geht kurz vor Schluß des Blattes ein. Auch im kulturpolitischen Leben – und gerade da – muß eine strenge Scheidung der Fronten erfolgen. Furtwängler hat in der Auseinandersetzung um Paul Hindemith gezeigt, daß er auf der anderen Seite steht. Daraus sind nunmehr die Folgerungen gezogen. Wie notwendig dies Warnungssignal ist, zeigt unser heutiger Leitaufsatz“.42

Wenn die NS-Führung auch intern bekundete, kein Interesse daran zu haben, den Fall Furtwängler aufzubauschen, so hat sie sich jedenfalls die Gelegenheit zu demonstrieren, dass man nötigenfalls auch mit einem geschätzten Prominenten wie Furtwängler fertig werden würde, nicht entgehen lassen. Der vorstehend zitierte Artikel zeigt deutlich, dass Furtwängler eben nicht zurückgetreten war, sondern gezwungen wurde zurückzutreten, denn die „Folgerungen“ und das „Warnungssignal“ konnten ja nur von höchster brauner Stelle veranlasst worden sein. Rosenberg und Goebbels zogen einen Tag bzw. zwei Tage später nach. Rosenberg am 7. Dezember mit seinem Artikel Ästhetik oder Volkskampf?, der in der nord- wie auch in der süddeutschen Ausgabe des Völkischen Beobachters erschien, und Goebbels ging in seiner Rede auf der Jahrestagung der Reichskulturkammer am 6. Dezember 1934 auf Furtwängler ein. Der Presse wurde vorab bedeutet, dass dies ausdrücklich „ohne Namensnennung“ erfolgen werde, und des weiteren, dass die Diskussion über Furtwängler damit keineswegs als eröffnet zu betrachten sei.43 Dennoch fand sich Furtwänglers Name in Rosenbergs Artikel, und im teilweisen Nachdruck von Goebbels’ Kulturkammer-Rede in der Samstagsausgabe der norddeutschen Ausgabe des Völkischen Beobachters vom 8. Dezember wurde an einer Stelle durch Zeilenumbruch und Fettsatz hervorgehoben, dass Goebbels „offensichtlich das Thema Hindemith-Furtwängler“ behandelt habe. In Goebbels’ Rede wurden Furtwängler und sein Protegé selbstredend heftig kritisiert. Nach der Erinnerung von Berta Geissmar war die Rede von Goebbels am 6. Dezember „auf alle Sender“ übertragen worden. „Am Schluß verlas er [sc. Goebbels] ein Gratulationstelegramm, das Strauss aus Holland gesandt hatte. Es war so abgefaßt, daß es als eine Billigung der Goebbelsschen Maßnahmen im Falle Hindemith-Furtwängler erscheinen mußte.“44 In der Tat: Franz Strauss, der Sohn des 41 Das entsprach keineswegs den Tatsachen. Göring „bewilligte“ erst am 10. Dezember 1934, und das keineswegs zufällig. Darauf wird weiter unten zurückzukommen sein. 42 Zitiert nach Prieberg, Handbuch, S. 1786. Der erste Absatz dieses Artikels war die offizielle Meldung des Deutschen Nachrichtenbüros, sie erschien in zahlreichen deutschen Zeitungen. Vgl. NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 2, 1934, hg. von H. Bormann, bearbeitet von G. Toepser-Ziegert, München usw. 1985, S. 547. 43 Vgl. Prieberg, Handbuch, S. 1786. 44 Geissmar, Musik im Schatten der Politik, S. 134.

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Komponisten, hatte seinem Vater ein „Huldigungstelegramm“ vorgeschlagen und nach dessen Billigung folgendes an Goebbels gekabelt: „Zur großartigen Kulturrede sende herzlichen Glückwunsch und begeisterte Zustimmung. In treuer Verehrung, Heil Hitler, Richard Strauß“.45 Es war in jenen Tagen keineswegs das einzige Mal, dass Franz Strauss für seinen Vater Schicksal spielte. Am 13. Dezember 1934 wandte sich in Nizza ein durch Furtwänglers Rücktritt höchst alarmierter Stefan Zweig brieflich an Richard Strauss, er möge die Uraufführung der Schweigsamen Frau, zu der Zweig bekanntermaßen das Libretto geschrieben hatte, absagen, sonst werde das Werk seiner eigentlichen Sphäre entrückt und zum Politikum.46 Richard Strauss hat diesen Brief nie erhalten, weil der Brief von seinem Sohn abgefangen und von diesem an Zweigs Verleger Anton Kippenberg weitergeleitet wurde. (Das war nicht der einzige Brief von Zweig, den Strauss nicht erhalten hat. Zweig hat das aufgrund von Nachforschungsanträgen gewusst.47) Aber selbst wenn der Komponist jenen Brief erhalten hätte, hätte er die Uraufführung der Schweigsamen Frau auf keinen Fall abgesagt. Am 16. Dezember 1934 schrieb Franz Strauss an Kippenberg einen aufschlussreichen, gleichwohl weithin unbekannten Brief. Darin hieß es, dass die von Zweig angesprochenen Vorgänge um Furtwängler indirekt von Strauss („Papa“) ausgelöst worden seien, der schon seit langem Clemens Krauss in Berlin haben wolle, da es mit Furtwängler in der Reichsmusikkammer stets Schwierigkeiten gebe. Mit seinem Eintreten für Hindemith habe sich Furtwängler vor allem bei den Emigranten und im Ausland beliebt machen wollen, was ihm die „oberste Stelle“ zu Recht sehr übel vermerkt habe. Aus den jüngsten Vorgängen Schlüsse für die Uraufführung der Schweigsamen Frau zu ziehen, sei völlig verfehlt und nur dadurch zu erklären, dass Zweig durch die Emigrantenpresse einseitig informiert sei. Außerdem sei Vater Strauss derzeit in so gehobener Stimmung, dass man sie durch solche Alarmbriefe Zweigs nicht gestört wissen wolle, die dieser künftig unterlassen solle. Kippenberg möge Zweig entsprechend informieren und seinen Antwortbrief am besten an Frau Alice Strauss adressieren.48 Kippenberg antwortete Franz Strauss übrigens postwendend, dass er dessen Wunsch nicht entsprechen werde. Im Unterschied zur französischen Ausgabe des Briefwechsels Strauss-Zweig ist in der deutschen Ausgabe nicht ein Wort zu diesen Vorgängen zu finden. Der „Fall Furtwängler“ wurde natürlich auch in der ausländischen Presse diskutiert. In der Zeitschrift Die Musik. Amtliches Organ der NS-Kulturgemeinde erschien im Januar 1935 ein vom nachmaligen Mitherausgeber des berüchtigten Lexikons der Juden in der Musik, Herbert Gerigk, verfasster Artikel: Auslandspresse und deutsche Musikpolitik. Darin heißt es zum „Fall Furtwängler“:

45 Zitiert nach Splitt, Richard Strauss 1933–1935, S. 159. 46 Vgl. Richard Strauss – Stefan Zweig. Correspondance 1931–1936, édition française, hg. von B. Banoun, Paris 1994, S. 133. 47 Vgl. Splitt, Richard Strauss’ Brief vom 17. Juni 1935 an Stefan Zweig, in: Die Musikforschung, 58/4, 2005, S. 406f. 48 Die Originale der oben genannten Briefe von Zweig und Franz Strauss sowie Kippenbergs Antwortbrief befinden sich im Nachlass Kippenberg, Deutsches Literaturarchiv, Marbach.

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„Der ‚Telegraf‘ fragt: ‚Wer steht hinter der ganzen Angelegenheit? Die meisten denken Strauß.’ Der Berichterstatter folgert dies aus der Abneigung von Strauß gegen die Musik Hindemiths[,] und außerdem soll Strauß von Furtwänglers Brief in der ‚D.A.Z.‘ zur Verteidigung Hindemiths Gebrauch gemacht haben, um seinen Günstling Krauß zu lancieren. Der Berichterstatter folgert daraus weiter, daß der Spielplan der Staatsoper nach der Ankunft von Krauß einen merklich höheren Anteil von Strauß-Werken enthalten wird. Wir erfahren ferner, daß Furtwängler die Absicht haben soll, sich ganz dem kompositorischen Schaffen zu widmen, eine Nachricht, die bereits seit einiger Zeit in Berliner Musikkreisen umläuft.“49

Was auch immer von Strauss’ Machenschaften bekannt geworden sein mochte, der oben referierte Brief seines Sohnes und die Nachricht des Telegraf lassen bereits den Schluss zu, dass Strauss, zumindest was Furtwänglers Demission an der Staatsoper betraf, seine Hände mit im Spiel hatte. Und tatsächlich: Die definitive Zusage für die Staatsoper Berlin seitens Clemens Krauss’, der deswegen am 9. Dezember 1934 eigens von Wien nach Berlin gereist war, sie war der Grund, warum Göring bis zum 10. Dezember gewartet hatte, das Entlassungsgesuch Furtwänglers zu bewilligen; denn „wäre Krauss nicht freigekommen, dann hätte Wilhelm Furtwängler seine Funktion an der Staatsoper Berlin zunächst behalten“.50 Weil das aber nicht der Fall war, sondern Strauss seine Absicht durchgesetzt hatte, konnte dieser in Garmisch am 10. Dezember 1934 in einem Brief an Clemens Krauss wie folgt in Jubel ausbrechen: „Na also! [Es folgt ein Notenzitat aus der Frau ohne Schatten, dessen Text lautet: ‚Auf, geh nach oben, der Weg ist frei.‘] ‚Den Schiffer in seinem Kahn ergreift es mit wildem Weh‘ etc.51 Heil Hitler! Heil Goering! Heil Goebbels! Lieber Freund! Gratuliere von ganzem Herzen Ihnen und mir! [...] Nun kann ich auch der Berliner Première von schweigsame Frau ruhigen Herzens entgegensehen! Die kann man nämlich nicht ‚ohne Klavierprobe‘ herausbringen!“52

In der angeblichen Gesamtausgabe des Briefwechsels Strauss-Krauss53 ist dieser Brief aus Garmisch – Strauss’ Irrtum folgend – unter dem Datum vom 10. November 1934 abgedruckt. Man hätte nicht wissen müssen, dass Strauss am 10.

49 Herbert Gerigk, Auslandspresse und deutsche Musikpolitik, in: Die Musik, 27/4, S. 248f. 50 Prieberg in Geissmar, Musik im Schatten der Politik, S. 312, vgl. Prieberg, Kraftprobe, S. 192. 51 Der Herausgeber des Briefwechsels Strauss-Krauss kommentiert dieses Zitat mit „??“ (vgl. S. 166) und weiß auch zum Anlass von Strauss’ Jubel nichts zu sagen. – Strauss zitiert hier frei den Beginn der fünften Strophe aus Heines Loreley-Gedicht Ich weiß nicht, was soll es bedeuten: „Den Schiffer im kleinen Schiffe / Ergreift es mit wildem Weh; / Er schaut nicht die Felsenriffe, / Er schaut nur hinauf in die Höh. // Ich glaube, die Wellen verschlingen / Am Ende Schiffer und Kahn; / Und das hat mit ihrem Singen / Die Lore-Ley getan“, zitiert nach Heinrich Heine, Buch der Lieder, in: Sämtliche Schriften, hg. von K. Briegleb, Bd. 1, München ²1975, S. 107. 52 Richard Strauss – Clemens Krauss, Briefwechsel, Gesamtausgabe, hg. von Günter Brosche, Tutzing 1997, S. 165f. 53 Der Herausgeber selbst weist auf eine Lücke von „über 22 Monaten“ hin („Oktober 1937 bis August 1939“) und darauf, dass „darüber hinaus der eine oder andere Einzelbrief fehlt“ (ebd., S. 6).

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November 1934 in Magdeburg und nicht in Garmisch war,54 um herauszufinden, dass seine euphorischen Äußerungen unter dem November-Datum gar keinen Sinn machen, sehr wohl aber einen Monat später, am 10. Dezember. Dies nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass Strauss seinem Schreiben vom 12. Dezember 1934 an Krauss u.a. einen Zeitungsausschnitt beigelegt hat, dessen Publikationsort und -datum im Briefwechsel ebenfalls nicht eruiert wurde,55 der sich indessen relativ problemlos auf den 11. Dezember 1934 datieren und den Münchner Neuesten Nachrichten zuordnen lässt. Der bewusste Zeitungsausschnitt enthält u.a. folgende namentlich nicht gekennzeichnete kurze Artikel: Cl. Krauß nach Berlin berufen sowie Richard Strauß beglückwünscht Dr. Goebbels, der sich auf Strauss’ Huldigungstelegramm vom 6. Dezember 1934 an Goebbels bezieht. Im Anschluss daran findet sich eine Kritik von Oscar von Pander über eine Aufführung der Walküre in der Bayerischen Staatsoper. Dass Krauss definitiv Furtwänglers Nachfolger werden würde, konnte der Öffentlichkeit vor dem 10. Dezember schwerlich bekannt sein, und Oscar von Pander war Musikkritiker bei den Münchner Neuesten Nachrichten.56 Am 10. Dezember 1934 war Furtwängler, der unglückliche „Schiffer in seinem Kahn“, auf den sich der Herausgeber des Briefwechsels Strauss-Krauss keinen Reim machen konnte, vorübergehend ausgebootet. Und Furtwängler dürfte es auch gewesen sein, der die Ansicht vertreten hatte, man könne die Schweigsame Frau „ohne Klavierprobe“ herausbringen. Die erzwungenen Rücktritte sollten für Furtwängler nicht die letzte Demütigung sein. Am 12. Dezember 1934 meldete das Prager Tagblatt, dass man Furtwängler den Pass abgenommen habe, nachdem er von Bronislaw Hubermann eine Gratulationsdepesche erhalten habe.57 Hitler und Consorten konnten selbstverständlich kein Interesse daran haben, dass der Dirigent im Ausland gefeiert worden wäre und dort mühelos eine Stelle gefunden hätte. Prieberg hat ausgeführt, dass, so merkwürdig es anmute, der Einzug des Reisepasses „für den Ausgestoßenen so etwas wie Rettung“ bedeutet habe58: „Das Ausland war für Gastspiele gut; auf Dauer würde er in der Fremde zugrunde gehen müssen. Nachdem ihm der Pass weggenommen war, schwand auch die Versuchung. Er blieb in Deutschland“.59 Priebergs Einschätzung mag zwar sehr pointiert erscheinen, ist aber nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Jedenfalls lohnt es sich, der Frage nachzugehen, warum Furtwängler im NS-Staat blieb, der ihm einerseits noch im Mai 1944 auf Wunsch Hitlers einen bombensicheren Bunker in seinem Haus in Achleiten an der Krems bauen lassen wollte – Furtwängler lehnte dankend ab –, der ihn andererseits sechs Monate später auf Goebbels’ Anordnung

54 Vgl. Franz Trenner, Richard Strauss. Chronik zu Leben und Werk, hg. von F. Trenner, Wien 2003, S. 554. 55 Strauss; Krauss, Briefwechsel, S. 168. 56 Dank an Oliver Kopf, M.A., Kiel, der die Hypothese des Verf. auf Anhieb verifiziert hat. 57 Vgl. Prieberg, Handbuch, S. 1786f. 58 Ders., Kraftprobe, S. 196. 59 Ebd., S. 199.

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zum Volkssturm abkommandierte, wenn auch nur in das „Aufgebot 4“,60 und der ihm schließlich Anfang 1945, den sicheren Untergang vor Augen, nach dem Leben trachtete. Himmler verdächtigte Furtwängler der Mitwisserschaft an dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944.61 Warum also blieb Furtwängler in einem verbrecherischen Staat? Zunächst: Furtwängler war ein kunstreligiöser Nationalist bis hin zum nationalen Chauvinismus und von der Hegemonie der deutschen Musik absolut überzeugt, wie ebenfalls so verschiedene Charaktere wie Arnold Schönberg oder Richard Strauss und andere. Wenn Schönberg kurz nach dem Ersten Weltkrieg die „Überlegenheit der deutschen Nation auf dem Gebiete der Musik“ konstatierte,62 dann hätte diese Behauptung auch von Wilhelm Furtwängler stammen können. Dazu drei Beispiele. 1928 hält Furtwängler fest: „Wir müssen uns in Deutschland – und wir sind die einzigen, die in puncto Konzertmusik mitreden können, denn die ganze Sinfonik ist deutsch – darüber im klaren sein, wo das Zentrum der Musik liegt“.63

1929 behauptet Furtwängler: „Deutschland – diese Feststellung ist rein historisch-objektiv und hat mit Nationalismus irgendwelcher Art nichts zu tun – ist der eigentliche Schöpfer der reinen Instrumentalmusik großen Stils, eine wirkliche Sinfonie ist von Nicht-Deutschen überhaupt nie geschrieben worden (Halb-Sinfoniker, wie Berlioz, César Franck, Tschaikowsky, stehen in allem Wesentlichen gänzlich unter deutschem Einfluß.)“.64

Und 1930 heißt es: „Die einzigen wirklichen, absoluten musikalischen Formen sind im strengen Sinn geradezu ausschließlich deutsches Eigentum gewesen und geblieben“.65

Diese angeblich „historisch-objektiven“ Feststellungen trifft einer, der gegenüber Intellektuellen, Psychologen, Historikern, „geschichtlichem Wissen“66 und so auch gegenüber der Musikwissenschaft eine tiefe Abneigung hegte und möglicherweise aus diesem Grund oder auch aus diesem Grund nie um einen schiefen historischen Vergleich oder eine schräge geschichtliche Parallele verlegen war. Hier eine Kostprobe aus dem Jahr 1949:

60 Ebd., S. 422. 61 Vgl. Riess, Furtwängler, S. 269f., sowie Prieberg, Kraftprobe, S. 422ff. 62 Arnold Schönberg, Musik, in: Von neuer Musik. Beiträge zur Erkenntnis der neuzeitlichen Tonkunst, hg. von H. Grues, Köln 1925, S. 31. 63 Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, S. 57. 64 Ebd., S. 64. 65 Ders., Vermächtnis. Nachgelassene Schriften, Wiesbaden ³1956, S. 10. 66 Ders., Gespräche über Musik [1949], Zürich und Freiburg i. Br. ³1950, S. 92f.

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Gerhard Splitt „Wie die Deutschen die Konzentrationslager aufzogen, wie die Atombombe um ihrer selbst willen entwickelt wurde, so wurde die Atonalität um der Töne willen weiter entwickelt, um ihrer selbst willen“.67

Es ist schier unglaublich, was hier in einem Atemzug genannt und – dies betrifft die Konzentrationslager und die Atombombe – als Selbstzweck verharmlost wird, obwohl Furtwängler natürlich in erster Linie die Atonalität brandmarken will, wozu offenkundig jedes Mittel recht ist. Bemerkenswert auch die Tatsache, dass an solchem Nonsense auf Seiten des Verlegers oder der Lektoren offenbar niemand Anstoß genommen hat; dass offensichtlich kein Sensorium dafür vorhanden war, dass derlei hanebüchene Geschichtsklitterung den KZ-Opfern sowie denen von Hiroshima und Nagasaki nachgerade Hohn sprach. Nun wird man, um Furtwängler nicht voreilig zu beurteilen, fragen müssen, ob diese intellektuelle Entgleisung – vielleicht wäre Wahrnehmungsstörung das treffendere Wort – ein Einzelfall war; leider war das nicht der Fall. Aus dem Jahr 1939 stammt das folgende Zitat: „Warum Deutschland in diesem Krieg siegt? Warum sich das autoritäre System notwendig mit der Zeit durchsetzt? Es entspricht menschlichem Wesen, daß der Mensch schrankenlose oder auch nur zu große Freiheit nicht verträgt. In der Kunst zeigt sich das ebenso deutlich. Reger und Strauss, von den Atonalen zu schweigen, stellen den Zustand dieser Freiheit dar. Sie sind schon veraltet und erledigt. Was not tut, ist eine neue Erfüllung des Gesetzes“.68

Autoritäres System vs. „schrankenlose oder auch nur zu große Freiheit“, Krieg vs. Reger und Strauss. Nach dem bisher Ausgeführten dürfte sich ein ausführlicher Kommentar erübrigen. Zu beachten ist indessen die „neue Erfüllung des Gesetzes“. Das ist in Furtwänglers Vokabular ebenso ein positives Fahnenwort wie „deutsch“, „echt“, „Gemeinschaft“, „Gemeinschaftserlebnis“, „gesetzmäßig“, „organisch“, „Organismus“, „Schicksal“, „Volk“ oder „Volksgemeinschaft“. Diese Begriffe berühren die „gefährlich breite Konsenszone mit nachmals nazistischen Ideologemen“, von der Peter Gülke gesprochen hat, auch wenn es sich hier selbstverständlich nicht um genuin nazistisches Vokabular handelt, sondern von den VölkischNationalen zuvor vereinnahmtes. Die „neue Erfüllung des Gesetzes“, das klingt nicht nur biblisch bzw. priesterlich, es war auch so gemeint. Hier äußert sich einer, der 1927 unter dem Rubrum Die Berufsethik des Dirigenten folgendes festhält: „Nicht technisches Können, sondern seelische Haltung ist echte Berufsethik. (Arzt, Priester. Alles im Dienst des Magischen, der magischen Wirkung.) [...] Kunst, Fortsetzung des Schöpfungsaktes der Natur. [...] Aus ‚Gemeinschaft‘ und ‚Schöpfung‘ gemischt entsteht ‚Organismus‘. [...] Fortschritt ist Politik. Alles, was nicht fortschrittlich ist, ist reaktionär. Da die wirkliche Welt aber unpolitisch ist, ist sie auch reaktionär. Ja, die Natur ist reaktionär. Alle wirkliche ‚Vitalität‘ ist reaktionär“.69

67 Ders., Vermächtnis, S. 48. 68 Zitiert nach Prieberg, Kraftprobe, S. 361. 69 Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 31.

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Wenn auch der Syllogismus „Fortschritt ist Politik“ usw., zurückhaltend formuliert, nicht ganz gründlich durchdacht zu sein scheint, Sentenzen wie diese sagen Wesentliches über Furtwänglers Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstsein aus. Und letzteres war bei ihm, dem nachgesagt wurde, er sei „die Anspruchslosigkeit in Person“70 gewesen, wahrlich nicht unterentwickelt. In einer Aufzeichnung von 1927 spricht Furtwängler von „Menschen mythischer Größe wie Beethoven und Wagner“71. Und in welchem Verhältnis steht er, Furtwängler, zu diesen „Menschen mythischer Größe“? Mit Blick auf Beethoven wissen wir das aus einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1930, die mitten im Satz abbricht: „Ich sage und schreibe: der nicht selber Beeth[oven] ist, der hat nicht das Recht --“.72 Zu ergänzen wäre wohl: „der nicht selber Beeth[oven] ist, der hat nicht das Recht“, ihn zu dirigieren. Ob Furtwängler damit auch seine kompositorische Tätigkeit gemeint hat, muss offen bleiben, wäre aber ebenfalls denkbar. Denn er sah sich nicht etwa als Dirigent, der nebenher komponiert, sondern bemerkenswerterweise umgekehrt als Komponist, der vor lauter Dirigieren leider nicht genügend Muße hat, seiner wahren Bestimmung nachzukommen: „Und dann kam das Unglück mit dem Dirigieren“, wird er in einem Interview rückblickend erklären.73 Auch das eine merkwürdig realitätsferne Selbstwahrnehmung; denn wenn man Kompositionen aus seiner Feder hört, wird man mit einiger Berechtigung sagen dürfen, dass seine glänzende Karriere als Dirigent das Beste war, was ihm und dem Publikum passieren konnte. Die in jedem Konzert erhoffte „Liebesgemeinschaft“ zwischen Künstler und Publikum, von der Furtwängler 1954 in einem Aufsatz wiederholt spricht – beim ersten Mal in Anführungszeichen, danach bezeichnenderweise ohne74 – war wohl einer der Gründe, wenn nicht der Grund, in Nazi-Deutschland zu bleiben. Diese mehrfach beschworene Liebesgemeinschaft hätte er nie und nimmer erfahren, wenn er de facto und ausschließlich darauf bestanden hätte, sich dem deutschen Volk als Komponist zu präsentieren. Und selbstverständlich hätte er für viele seiner Mitmenschen als Helfer in der Not nicht so erfolgreich sein können, hätte er sein Leben als nicht sonderlich bedeutender Komponist gefristet. Denn darauf wäre es wohl hinausgelaufen. Dass Furtwänglers Schlusssatz vor der Berliner Spruchkammer: „Ich konnte Deutschland in seiner tiefsten Not nicht verlassen. […] Ich bereue nicht, für das deutsche Volk dies getan zu haben“, überhaupt zur Kenntnis genommen und dabei nicht als großspuriges Gerede eines kleinen Spinners abgetan wurde – das Protokoll vermerkt „(Lang anhaltender, lebhafter Beifall)“75 –, war natürlich seinen eminenten Fähigkeiten als Dirigent geschuldet. Jedenfalls sprach sich da das Sendungsbewusstsein eines Kunst-Hohepriesters aus, das sich in ungezählten Äußerungen mit 70 71 72 73 74 75

Riess, Furtwängler, S. 89. Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 33. Zitiert nach Prieberg, Kraftprobe, S. 42. Zitiert nach Riess, S. 80, vgl. S. 113. Furtwängler, Chaos und Gestalt, in: Vermächtnis, S. 138, 144, 153. Berliner Entnazifizierungs-Kommission für Künstler / Zweite Verhandlung über den Antrag / von / Dr. Wilhelm Furtwängler / Dienstag, den 17. Dezember 1946, S. 229, in: BA Koblenz, OMGUS 5/347-3/1; vgl. Riess, S. 292. Furtwängler wurde zweimal entnazifiziert, zuerst in Wien, danach in Berlin.

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der Deutungshoheit insbesondere über Werke von Beethoven,76 Brahms und Wagner verbindet. 1937 kann man bei Furtwängler lesen: „Wie sich dieses Verhältnis [sc. „zwischen Einzelnem und Gemeinschaft, von dem die Existenz des Künstlers so recht eigentlich abhängt,“] im besonderen Falle gestaltet, ist Sache des Schicksals, das man auf sich zu nehmen hat, so wie man das Schicksal seiner Geburt, seiner Nation, seiner Rasse auf sich zu nehmen hat. Danach aber – und nicht auf Grund von Wünschen, die auf bloßer Erkenntnis beruhen – entscheidet es sich, ob einer unter die Schöpfer gehört oder nicht“.77

Fraglos zählte er sich nicht zu den Nachschöpfern, sondern zu den genialen Schöpfern. Dementsprechend kann er, wenn er davon spricht, dass das Publikum ins Konzert „kommt und ‚zahlt‘“,78 das Wort zahlt in Anführungszeichen setzen. Denn in den von ihm dirigierten Konzerten oder Opern geht es nicht um so etwas wie KunstKommerz, sondern um Weihestunden, um eine aedificatio hominis, um die Liebe zu seiner Heimat und zu seinem „Volke“, eine Liebe, die er expressis verbis als „körperlich-seelisches Ding“ bezeichnet hat, und um das Ringen um die „Seele des deutschen Volkes“.79 Und das Publikum, das Volk, wie reagiert es auf Furtwänglers Kunst? „Und wir, die unten saßen, spürten: dies war ein Begnadeter, spürten, dies war ein Priester, der einen Gottesdienst zelebrierte, [...] der ein Stück Musik spielte, [...] als habe es dieses Stück Musik überhaupt noch nicht gegeben, als entstehe es erst jetzt durch ihn“.80

Selbst ein eher kühler Kopf wie Theodor W. Adorno sprach 1926 von dem „rätselhaften Ineinander von sachlicher Treue und improvisatorischer Kühnheit, das alle Aufführungen Furtwänglers primär“ bezeichne, und davon, dass dieser „die zerfallenden Werke nochmals“ komponiere.81 Dass diese Art von Gegenseitigkeit und Verbundenheit zwischen „Priester“ und „Gemeinde“ Fakt war, beweisen indessen nicht nur verbale Bekenntnisse wie die eben zitierten, sondern das, was man in der Folge auf die Anfang Dezember 1934 erzwungenen Rücktritte Furtwänglers treffend als „Abstimmung an der Konzertkasse“ genannt hat.82 Furtwänglers Stammpublikum nicht nur in Berlin, sondern auch in Hamburg, blieb weg und gab massenweise Abonnements zurück. Und weil diese Art von tiefer Verbundenheit von „Priester“ und „Gemeinde“, deutschem Künstler und deutschem Volk für Furtwängler tatsächlich bestand und lebensnotwendig war, wird er die ihm nach 1945 76 Furtwängler, Vermächtnis, S. 32: „Nur wer beides vermag, das Allgemein-Gesetzmäßige und den extremen Einzelfall, kann daran denken, ein Beethovensches Werk zutreffend wiederzugeben.“ 77 Ders., Gespräche über Musik, S. 89. 78 Ders., Vermächtnis, S. 150. 79 Ebd., S. 40. 80 Riess, S. 313. 81 Theodor Adorno, Drei Dirigenten. Rettung: Wilhelm Furtwängler, in: R. Tidemann; K. Schulz (Hg.), Musikalische Schriften VI (= Gesammelte Schriften, Bd. 19), Frankfurt am Main 1984, S. 454. 82 Prieberg, Kraftprobe, S. 201.

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angebotene österreichische Staatsbürgerschaft ablehnen; dies einmal mehr im Gegensatz zu Richard Strauss, der die österreichische Staatsbürgerschaft Ende Februar 1947 wunschgemäß erhielt83 und für den sich Furtwängler 1944 übrigens auch eingesetzt hat, als Strauss vorübergehend in Ungnade gefallen war und man seinen 80. Geburtstag staatlicherseits ignorieren wollte. – Einer, der es wissen muss, Vaclav Havel, hat das Leben in einer Diktatur als „Leben in der Lüge“ bezeichnet84. Wenn dem so ist, und Gewichtiges spricht dafür, dann hat Wilhelm Furtwängler das entweder nicht begriffen oder nicht wahrhaben wollen. Seine Sinndeutungen der Geschichte, so schon Prieberg, sind in der Tat naiv und unbeholfen,85 sein Glaube, dass er als Musiker nicht nur Staatsbürger, sondern Deutscher „in jenem ewigen Sinn“ sei, „von dem der Genius der großen Musik Zeugnis“ gebe,86 höchst fragwürdig: „[...] er hat bedrohten, insbes. jüdischen Musikern geholfen, wo und wie immer er konnte, und sich von den Herrschenden mit großer Publizität hofieren lassen; [...] er ist nie Mitglied der NSDAP gewesen und konnte über zeitgenössische Musik auf eine Weise reden, in der das Schmähwort ‚entartet‘ nur knapp vermieden erscheint; er hat vor Hitler den Hitlergruß und das Abspielen des Horst-Wessel-Liedes verweigert und sich in hochoffizielle Repräsentativ-Gremien wählen lassen, hat in besetzten Ländern nicht dirigieren wollen und Ausnahmen gemacht“.87

Das Faszinosum Furtwängler lässt sich von diesen Widersprüchen nicht trennen.

83 Vgl. Riess, S. 17; vgl. auch Der Strom der Töne trug mich fort. Die Welt um Richard Strauss in Briefen, in Zusammenarbeit mit F. und A. Strauss hg. von F. Grasberger, Tutzing 1967, S. 458f. 84 Zitiert nach Michael Kißener, Das Dritte Reich, Darmstadt 2005, S. 14. 85 Vgl. Prieberg, Kraftprobe, S. 435. 86 Zitiert nach Riess, S. 242. 87 Gülke, Wilhelm Furtwängler, Sp. 292.

Kunst als politisches Vakuum? von MICHAEL CUSTODIS

Bis heute wird bevorzugt am Beispiel Wilhelm Furtwänglers diskutiert, ob Musik und Politik voneinander zu trennende Bereiche seien, wobei sich bezeichnenderweise Befürworter und Kritiker einer strikten Trennung dieser Sphären unter Moderne-Apologeten wie unter Klassik-Liebhabern finden lassen. Wenn sich diese Debatte auch bevorzugt auf die Zeit des Nationalsozialismus und Furtwänglers Entnazifizierungsverfahren konzentriert, ist zu bedenken, dass die Unterordnung der Musik unter das Primat der Politik in der europäischen Musikgeschichte schon in der antiken Ethoslehre klar geregelt war.1 Bis zum Beginn des bürgerlichen Zeitalters war auch die Huldigung von Herrschern mit den Mitteln der Kunst weder strittig noch anstößig. Erst die um 1800 sich etablierende romantische Autonomieästhetik separierte Kunst und Politik streng in zwei voneinander getrennte Welten, so dass Leitfiguren des 19. Jahrhunderts wie Richard Wagner plötzlich hervortreten, wenn sie als Künstler auch politisch agierten, um die Unabhängigkeit ihrer Kunst zu sichern. Dass diesem Modell in der Praxis zahlreiche Widersprüche entgegenstanden und in der Rezeption historischer Musik zu Ahnherren deklarierte Komponisten wie Händel, Bach und Beethoven selbstverständlich nationalistisch vereinnahmt wurden, änderte nichts an der Vorliebe auch des Auslands für deutsche Sinfonik und Wagners Musikdramen. Denn zu dominant war die Vorstellung einer Vorherrschaft der deutschen Musik, die über alle politischen Verwerfungen und Ländergrenzen hinweg bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Takt blieb. Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung und den vom Ausgang des Ersten Weltkriegs ausgelösten Gesellschafts- und Herrschaftsumbrüchen veränderte sich in Deutschland auch das Verhältnis von Musik und Politik, neu angefacht durch die Abgrenzung der ersten Generation der Musikmoderne, sehr zum Missfallen von Komponisten wie Hans Pfitzner und nach dem Rosenkavalier auch von Richard Strauss, die aus ihrer konservativen bis reaktionären politischen Einstellung keinen Hehl machten. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verschob sich das Abhängigkeitsverhältnis von Musik und Politik ein weiteres Mal, die politische Indienstnahme der Kunst war nun wieder Staatsdoktrin und verstärkte das Bedürfnis 1

Albrecht Riethmüller, Zur Politik der unpolitischen Musik, in: Europäische Musikgeschichte, hg. von Sabine Ehrmann-Herfort, Ludwig Finscher und Giselher Schubert, Kassel 2002, S. 1079f.

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der verfolgten und ins Exil gezwungenen Künstler nach einem politischen Bekenntnis. Die in Deutschland verbliebenen Künstler beharrten nach 1945 darauf, ihre Kunst während der zurückliegenden Jahre ausschließlich innerhalb eines politischen Vakuums ausgeübt zu haben. Dass das Aufrechterhalten eines Vakuums erhebliche Energie erfordert, zeigte sich etwa in der Argumentation von Interpreten wie Wilhelm Kempff und Elly Ney, die ihre Konzerttätigkeit produktionsästhetisch über das von ihnen gepflegte Repertoire definierten, um von dem rezeptionsästhetischen Dilemma abzulenken, dass sie Beethoven, Schubert oder Brahms zur Erbauung der NS-Eliten oder zugunsten von Propaganda-Unternehmungen wie Robert Leys Kraft durch Freude-Programm gespielt hatten. Wie insbesondere das Beispiel von Wilhelm Furtwängler zeigt, erklärte man den Moment des Musizierens zu einem kollektiven freiheitlichen Refugium innerhalb einer Diktatur. Diese Haltung ist zwar als naiv oder ignorant kritisierbar, wie es Toscanini 1937 gegenüber Furtwängler in Salzburg tat, doch als ideologisches Postulat, um das es sich bei Furtwängler handelte, war es ihm logisch nicht zu widerlegen. Verortet man Wilhelm Furtwängler innerhalb dieser Themenfelder, werden in Umrissen die Konsequenzen für seine künstlerische Entwicklung sichtbar. Hieraus resultieren thesenhaft folgende Beobachtungen: 1.

2.

3.

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Als Künstler stand Furtwängler selbst zwischen den Welten des produzierenden kompositorischen Genies und dem sich ihm unterordnenden, nachschaffenden Interpreten. Zwar verdankte er seiner dirigentischen Begabung einen rasanten Aufstieg zu Ruhm und Wohlstand. Seine eigentliche Berufung sah er allerdings im Komponieren, als letzter einsamer Vertreter der klassischen deutschen Sinfonik in der Tradition von Beethoven und Brahms, im Widerstand zur Atonalität des zwölf Jahre älteren Arnold Schönberg.2 Als Komponist war er Zeit Lebens von Selbstzweifeln getrieben, abzulesen an seiner übersteigerten Empfindlichkeit gegenüber jeglicher Kritik bei gleichzeitiger Resignation über das öffentliche Unverständnis seiner Kompositionen. Denn nicht allein sekundär interpretierend über Dirigate, sondern primär über seine eigenen Werke wollte er mit seinem Publikum kommunizieren, was ihm nie in dem Maße gelang, wie er als Beethoven-Interpret historische Maßstäbe setzte. Die in der Furtwängler-Literatur perpetuierte Feststellung, er habe an die Trennung der Bereiche „Politik“ und „Musik“ fest geglaubt, kommt bis in die jüngste Zeit nicht über die Schilderung seiner Auseinandersetzungen mit Hermann Göring, Joseph Goebbels und anderen NS-Protagonisten hinaus, ohne aber sein Verständnis von deutscher Musik sowie von Politik quellenkritisch zu hinterfragen. Denn tatsächlich fühlte sich Furtwängler als Dirigent in einer permanenten Verteidigungshaltung der Musik gegen Einflüsse der Politik,3 Siehe hierzu auch den Beitrag von Frédéric Döhl in diesem Band. Siehe Klaus Kanzogs Bemerkung, dass Furtwängler in seiner Selbstwahrnehmung als „überpolitischer Künstler“ einer Illusion erlag, „derer er jedoch bedurfte, um daraus intentional die

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zwischen 1933 und 1945 gegen die nationalsozialistische Deutungshoheit über Kunst und Kultur. Vor 1933 und auch nach 1945 sah er seine eigentliche Berufung als Komponist aber in der Verteidigung der deutschen klassischen Tradition gegen die „Unnatürlichkeit“ der Atonalität, gegen die er sich publizistisch zeitlebens positionierte mit Schriften, die – im Werturteil von Carl Dahlhaus – kaum mittelmäßige Qualität hatten.4

1. Furtwänglers Weg zum klassischen deutschen Musiker Zur Genese von Furtwänglers Verständnis von deutscher Kultur ist zunächst in Erinnerung zu bringen, dass er als 1886 geborenes Kind des Professors für klassische Archäologie Adolf Furtwängler und der Malerin Adelheid Wendt im nationalen Überschwang des Wilhelminischen Kaiserreichs sozialisiert wurde.5 Im Kontrast zur Strenge des deutschen Schulsystems erlebte er seine Jugend als Gegenwart der klassischen Antike, nachdem ihn sein Vater vom humanistischen Gymnasium in München genommen hatte und von seinem Schüler Ludwig Curtius unterrichten ließ6. Insbesondere auf Exkursionen nach Griechenland und Italien lernte der junge Furtwängler die deutsch-nationale Sehnsucht nach einer Renaissance der klassischen Antike kennen, als Präsenz einer aristokratischen Vergangenheit, die den dekadenten modernen Künsten und ihrem demokratisch-kommunistischen Gesellschaftsbild überlegen sei,7 woraufhin Michelangelo neben Furtwänglers Leitbilder Goethe und Beethoven trat.8

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Energien für die Entfaltung der Gegenkräfte zu gewinnen.“ Klaus Kanzog, Offene Wunden. Wilhelm Furtwängler und Thomas Mann, Würzburg 2014, S. 39f. Carl Dahlhaus, Rezension von Karla Höcker (Hg.), Wilhelm Furtwängler: Dokumente, Berichte und Bilder, Aufzeichnungen, Berlin 1968. In: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften 9, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2006, S. 166: „Aus dem, was Furtwängler schrieb, ist allerdings kaum zu erkennen, wer er war. Mittelmäßiges, das auch von einem weit geringeren Musiker stammen könnte, überwiegt. Und so sind die Aufzeichnungen, die Karla Höcker als Nachlese zu früheren Veröffentlichungen zusammenstellte, nicht als Texte um ihrer selbst willen, sondern als Dokumente über den, der sie schrieb, von Interesse (kaum anders als die Fotografien, mit denen der Band reich ausgestattet ist).“ Ludwig Curtius, Deutsche und antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1958, S. 129f. Curt Riess, Furtwängler. Musik und Politik, Bern 1953, S. 23. Richard Faber, Humanistische und faschistische Welt. Über Ludwig Curtius (1974–1954), in: Hephaistos. Kritische Zeitschrift zu Theorie und Praxis der Archäologie und angrenzender Gebiete, 13 (1995), S. 147. Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004, S. 105. Während beispielsweise Adolf Furtwängler im Jahr 1901 mit Tempel-Ausgrabungen auf der griechischen Insel Ägina beschäftigt war, bevorzugte sein Sohn die Einsamkeit der Berge, um Beethoven-Quartette aus der Partitur zu lesen. Siehe Bertele Braunfels, Ein Brief an eine alte Freundin (1957), in: 2. Wilhelm Furtwängler-Tage, 26.–29. November 1998 in Jena und Weimar, Jena 1998, S. 28 sowie Wilhelm Furtwängler, Briefe, hg. von Frank Thiess, Wiesbaden 4 1980, Anhang des Herausgebers, S. 282. An dieser Stelle sei Susanne Bruse stellvertretend für die Erbengemeinschaft von Walter und Bertele Braunfels herzlich für Ihre Unterstützung gedankt.

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Curtius absolvierte in den folgenden Jahrzehnten eine Karriere als hoch geachteter Gelehrter, gekrönt von seiner Berufung 1927 zum Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom, nachdem er zuvor von 1918 bis 1920 Ordinarius in Freiburg und anschließend in Heidelberg gewesen war. Curtius war davon überzeugt, dass Deutschland auf dem Weg zu einer neuen Klassik erst den gegenwärtigen Zustand eines archaischen Zeitalters hinter sich lassen müsse,9 wie er sie in der faschistischen Elitenherrschaft des von ihm bewunderten Benito Mussolinis verwirklicht glaubte,10 Aus bislang ungeklärten Gründen wurde Curtius zum 31. Dezember 1937 seines Amtes als Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom enthoben und vorzeitig pensioniert,11 ohne dass dies an seiner politischen Einstellung etwas geändert hätte. Während seiner zunächst privaten und ab 1899 an der konservativen Münchner Akademie der Tonkunst absolvierten Ausbildung bei Anton Beer-Walbrunn, Joseph Rheinberger und Max von Schillings intensivierte sich Furtwänglers Fixierung auf deutsches Repertoire (Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Mendelssohn und Brahms, anfangs kaum Wagner). Bedenkenswert ist dabei, dass 9

Ludwig Curtius, Die antike Kunst und der moderne Humanismus. Vortrag gehalten auf der 20. Jahresversammlung des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums am 3. 12. 1926 in Berlin, Berlin 1927, zitiert nach Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik, Berlin 2004, S. 251f. und 261. 10 Siehe ebd., S. 266, dass Curtius 1925 „den Philosophen und eigentlichen Theoretiker des Faschismus, Giovanni Gentile, [bat,] ihn in der Philosophie des Faschismus zu unterrichten. Curtius wurde 1919 Mitglied der DNVP und war bis zu seiner Übersiedlung nach Rom im Jahr 1927 zweiter Vorsitzender der Ortsgruppe Freiburg. Siehe zu Curtius Öffnung zum völkischen Rassismus um 1914 Sylvia Diebner, Ludwig Curtius als Schriftsteller, in: Kritische Berichte, 37 (2009), Heft 1, S. 129. Siehe auch Faber, Humanistische und faschistische Welt, S. 138 und 154–156. 11 Hierzu findet sich in Furtwänglers Korrespondenz nur ein kurzer Hinweis: „Eines möchte ich auch noch sagen: Als ich hörte, dass Du Dein Amt verloren hattest – ich hörte es verspätet – konnte ich dem nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Kannte ich doch Dich und wusste, dass Deine Angleichung an den hitlerschen Nationalsozialismus immer nur eine sehr äußerliche gewesen sein konnte und kannte ich doch vor allem diesen selbst, den auch nur halbwegs ernst zu nehmen, ich mir selbst längst abgewöhnt hatte. Ich war wirklich seit langem auf das, was nun eingetreten ist, vorbereitet – wenn auch niemand wissen konnte, dass es so werden würde.“ Brief von Furtwängler an Ludwig Curtius vom 6. April 1946, in: Staatsbibliothek Berlin, Sig. 55 Nachlass 13 [= Nachlass Furtwängler], Korrespondenz mit Ludwig Curtius, Mappe 1945– 46. An dieser Stelle sei Jean-Christophe Gero herzlich für seine Unterstützung der Recherchen gedankt. Keine klaren Fakten zur Entlassung nennt Klaus Junker, Das Archäologische Institut des Deutschen Reiches zwischen Forschung und Politik. Die Jahre 1929 bis 1945, Mainz 1997, S. 40. In seiner Autobiografie machte Curtius selbst ebenfalls nur ungenaue und inzwischen widerlegte Angaben zu seiner politischen Vergangenheit, siehe Curtius, Deutsche und antike Welt, S. 526. Auch Herman-Walther Frey, bis Anfang 1945 zuständiger Ministerialrat im Reichserziehungsministerium, scheint von Curtius mit seiner Entlassung in Verbindung gebracht worden sein, so dass er ihn nach Kriegsende in Rom nicht empfangen wollte. Siehe ein Schreiben des deutschen Generalkonsuls Clemens von Brentano vom 8. Mai 1951, zitiert in: Oliver Bordin, Herman-Walther Freys wissenschaftspolitische Bedeutung – eine Skizze, in: Herman-Walther Frey: Ministerialrat, Wissenschaftler, Netzwerker. NS-Hochschulpolitik und die Folgen, hg. von Michael Custodis, Münster 2014, S. 125.

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er dominante Figuren des deutschen Musiklebens wie Wagner, Bruckner, Brahms, Mahler, Strauss und Pfitzner als Kunst der Gegenwart erlebte. Die prägendsten ästhetischen Einflüsse erhielt er allerdings im Haus des Bildhauers Adolf von Hildebrand, der 1898 den damals Dreizehnjährigen kennenlernen wollte, über den man bereits so viel hörte. Bald war Furtwängler fester Bestandteil dieses Zentrums im Münchner Kulturleben und Hildebrands Vorliebe für die italienische Renaissance und seine Überzeugung, Kunstwerke (nach Goethe) als Gestalt12 und organische Naturgebilde zu sehen, verschoben Furtwänglers eigene Kunstauffassung von einer romantischen Prägung hin zur Klassizität mit Beethoven im Zentrum.13 Diese Atmosphäre intensivierte sich noch, als er mit der jüngsten der fünf Töchter des Hauses, der gleichaltrigen Bertele, rasch eine innige Beziehung begann, woraufhin sich die beiden im Winter 1901/02 verlobten. Aus dieser Zeit ist eine Fülle an Briefen überliefert, die neben jugendlicher Liebeslyrik tiefe Einblicke in das Musikdenken des jungen Paares geben, in dessen Zentrum ebenfalls Beethoven stand.14 Bertele von Hildebrand hatte eine profunde musikalische Ausbildung in den Fächern Gesang, Geige, Klavier, Theorie und Kontrapunkt erhalten und einige Zeit auch bei Max Reger Kompositionsunterricht genommen,15 so dass in ihrer Beziehung zu Furtwängler das gemeinsame Musikempfinden in der gegenseitigen Vertrautheit zu einem einzigen Gefühlskomplex verschmolz. Bereits 1874 hatte Adolf von Hildebrand das ehemalige Florentiner Kloster San Francesco di Paola in unmittelbarer Nähe der Wirkungsstätten Galileis erworben und die Familie verbrachte über Jahrzehnte mehrere Monate im Jahr in Italien. Im Frühjahr 1902 reiste der Frischverlobte Furtwängler zu Hildebrands nach Florenz und erlebte dort eine sehr intensive Gemeinschaft mit Bertele, der er bevorzugt die späten Quartette Beethovens aus der Partitur vorspielte. Die überwiegende Verlobungszeit verbrachten die beiden aber getrennt voneinander und Furtwänglers Briefe berichten von einer tiefen inneren Einsamkeit, auch wenn er unter Menschen war, und einer gesteigerten Empfindsamkeit, die Kritik kaum zuließ, über die Curtius später schrieb: „Jede auch nur aus der Ferne Beethoven kritisierende Äußerung war für meinen Freund eine Art Gotteslästerung. […] und es gibt auch heute

12 Siehe zur Problematik der Gestalt-Kategorie bei Curtius Faber, Humanistische und faschistische Welt, S. 139. Siehe zu Hildebrand als dem „bedeutendsten Repräsentanten jenes wiederbelebten Klassizismus in Deutschland“ Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 109. 13 Brief von Wilhelm Furtwängler an Bertel von Hildebrand, München 26. Juni 1901, in: Wilhelm Furtwängler, Briefe, hg. von Frank Thiess, Wiesbaden 41980, S. 31. Siehe auch Walter Riezler, Wilhelm Furtwänglers geistige Welt. Gedanken zum Problem des Komponisten, in: Wilhelm Furtwängler im Urteil seiner Zeit, hg. von Martin Hürlimann, Zürich 1955, S. 67. 14 Braunfels, Ein Brief an eine alte Freundin (1957), S. 32: „[…] Beethoven spielte eine Riesenrolle in unserer geistigen Beziehung. Du mußt aber ja nicht denken, daß in unserer Liebe zu Beethoven etwas Romantisches war. Beethoven war für uns der Höhepunkt der Klassik.“ Siehe ergänzend einen Brief von Bertele Braunfels an Wilhelm Furtwängler vom 6. Februar 1922, in: Nachlass Furtwängler, Bertele Braunfels an WF, Mappe IV an WF 1922–1954, von WF. 15 Braunfels, Ein Brief an eine alte Freundin (1957), S. 23.

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zwischen uns ein paar künstlerische ‚Blümchen Rührmichnichtan‘“.16 Eine entsprechende Schilderung seiner musikhistorischen Selbstverortung gab Furtwängler seiner Bertele am 31. Juli 1903: „Ich glaube, dass ich ganz richtig verstehe, was Dein Vater damit meint, wenn er den Wagner construktiv nennt. Nur hat der Wagner gerade in den Meistersingern Sachen gemacht, wie sie nach Beethoven nicht mehr gemacht worden sind, auch musikalisch ausgezeichnete. Von meiner Musik ist er allerdings am weitesten entfernt, denn er sucht die Stimmung und ich suche die Empfindung in der Musik. Ich habe jetzt auch den Parsifal kennen gelernt, seine letzte Oper (wir haben den Klavierauszug hier), da ist die Stimmungssucherei am ärgsten, und das ganze unangenehm einseitig.“17

Als mit Beginn seiner Musikerkarriere Furtwänglers Freiheitsbedürfnis immer drängender wurde – 1906 ging er als zweiter Repetitor nach Berlin und im Folgejahr über Breslau als Chorleiter zunächst nach Zürich und dann zurück nach München – und Bertele von Hildebrand ein entsprechend unstetes Leben nicht teilen wollte, ließ sie ihm seinen Freiraum und löste 1907 die Verlobung.18 Nachdem sie im Kreis um ihren Vater zwei Jahre zuvor den Komponisten Walter Braunfels kennengelernt hatte, heiratete sie ihn 1909. Auch wenn der Kontakt sich nun lockerte, schrieb sie sich weiterhin mit Furtwängler in vertraulichem Ton. In den folgenden Jahren absolvierte Furtwängler eine rasante Dirigentenkarriere, die 1910 mit einer Berufung zum dritten Kapellmeister in Straßburg durch Hans Pfitzner begonnen hatte und ihn über Lübeck nach Mannheim führte,19 bis ihm im Alter von 34 Jahren 1922 die Leitung der Berliner Philharmoniker angetragen wurde. Gleichwohl hielt ihn dies nicht davon ab, bis 1928 u.a. auch als Gewandhauskapellmeister in Leipzig zu fungieren und 1931 erstmals die Gesamtleitung der Bayreuther Wagner-Festspiele zu übernehmen. Die wachsende berufliche Anspannung dieser Jahre – die ohne den Weitblick seiner treuen Sekretärin Berta Geissmar kaum zu überstehen gewesen wären – verstärkte seine Charakterzüge von einsamer Verletzlichkeit und leidenschaftlicher Erregbarkeit, von denen Bertele Braunfels im Rückblick berichtete: „In seinem Wesen wirkte er ernst und doch heiter, wenn auch nicht freudig; sehr verschlossen und einsam und voller geistiger Eindrücke, die man ihm anfühlte. Er […] 16 Curtius, Deutsche und antike Welt, S. 132. Siehe zu Furtwänglers Leiden als junger Kapellmeister unter seiner Popularität Berta Geissmar, Musik im Schatten der Politik, Zürich und Freiburg i. Br. 1945, S. 23f. Siehe auch Bertele Braunfels’ Brief vom 27. September 1922, in: Nachlass Furtwängler, Bertele Braunfels an WF, Mappe IV an WF 1922–1954, von WF. 17 Brief an Bertel von Hildebrand vom 31. Juli 1903, in: Furtwängler, Briefe, S. 39. 18 Siehe zu den Gründen auch Bertele Braunfels’ Brief von Wilhelm Furtwängler vom 23. Dezember 1922, in: Nachlass Furtwängler, Bertele Braunfels an WF, Mappe IV an WF 1922– 1954, von WF. 19 Bei Berta Geissmar findet sich der Hinweis, dass Furtwängler sich in dieser Zeit häufig in Heidelberger Universitätskreisen bewegte und dort – neben Curtius – die Philosophen Heinrich Rickert (Windelband-Schüler und Heidegger-Lehrer) und Karl Jaspers (Windelband-Schüler, Lehrer und Freund Hannah Ahrendts), den Soziologen Max Weber sowie den Germanisten, George-Intimus und Goethe-Spezialisten Friedrich Gundolf traf. Geissmar, Musik im Schatten der Politik, S. 27f. Über einen eventuell über Hannah Ahrendt vermittelten Kontakt Furtwänglers zu Martin Heidegger ist bislang nichts bekannt.

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war von jung auf sehr trotzig, voller Sforzatos in seiner Auseinandersetzung mit Menschen, die anderer Meinung waren. Dann konnte er alles abbrechen und enormes Ärgernis nehmen.“20 Im Unterschied zu Richard Strauss und Hans Pfitzner hielt bei Furtwängler die Karriere als Komponist nicht Schritt mit seinen Erfolgen als Dirigent, schon die Uraufführung seiner ersten Sinfonie 1905 in Breslau war ein Fiasko gewesen, ohne dass es seine verzweifelte Überzeugung in das eigene kompositorische Wollen gemindert hätte, wie seine damalige Verlobte Bertele aus einem seiner Briefe zitiert: „Aber es klatschte fast niemand, alle um mich herum zischten. Und es ist das einem ein ganz ekelhaftes Gefühl, sich mit dem, was man mit so viel Mühe gemacht hat, so einfach von vornherein verspottet zu sehen. Und überhaupt ist das Zischen so etwas Boshaftes, Widerwärtiges. Doch bin ich damit ganz fertig.“21 Fortan vergrub Furtwängler die persönliche Bedeutung seiner eigenen Werke noch stärker in seinem Innersten. Selbst auf lobend gemeinte Bemerkungen seiner engsten Vertrauten reagierte er – wie die Briefe von Bertele Braunfels und Ludwig Curtius erzählen – äußerst gereizt im Habitus des international umjubelten Stardirigenten, wenn er sich auch nur im Ansatz als Komponist missverstanden fühlte.

2. Furtwängler und die deutsche Musik nach 1933 Als erfolgsverwöhnter Künstler konnte sich Furtwängler in seinen Spitzenämtern in Wien, Bayreuth und Berlin eine gewisse Kompromisslosigkeit bei Verhandlungen erlauben, die regelmäßig an ihre Grenzen stieß, wenn etwa die Existenz solch großer Verwaltungseinheiten wie Orchester und Opernhäuser in Frage stand. Entsprechend häufig hatte er in den Finanz- und Regierungskrisen nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches die Sphäre der Politik als fragil erlebt, wenn beispielsweise 1927 das Berliner Philharmonische Orchester vor dem Bankrott zu retten war und Furtwänglers Beharren, der Politik keinen Einfluss auf die künstlerische Arbeit zu gewähren, von allen Seiten respektiert wurde.22 Zeitgleich negierte er als Komponist den historischen Umbruch der radikalen Moderne, die insbesondere durch die antisemitischen Anfeindungen gegen Arnold Schönberg politisiert wurde. Auch wenn Furtwänglers klassizistisches Credo bei Musikkritikern und dem Konzertpublikum epigonal wirkte, wenn er es als Komponist präsentierte, wurde diese Haltung von eben diesem Publikum international gefeiert, solange er sie als Dirigent am historischen Material exerzierte. Bezeichnenderweise folgte Furtwängler seinen immensen Verpflichtungen als Interpret und komponierte beinah ausschließlich, wenn er im Nachgang des „Falls Hindemith“ oder während der Zwangspausen seiner Entnazifizierungsverfahren von der Politik am Dirigieren gehindert wurde. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten stand das Verhältnis von Musik und Politik über Nacht zur Disposition und die Konkurrenten Joseph Goebbels 20 Braunfels, Ein Brief an eine alte Freundin (1957), S. 36. 21 Ebd. 22 Fred K. Prieberg, Kraftprobe: Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986, S. 48f.

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und Hermann Göring zögerten nicht, sofort um die Vereinnahmung des berühmten Dirigenten zu buhlen. Zwar blieb Furtwängler konfliktscheu, vereinbaren ließ sich die neue Zeit mit seiner Weltsicht aber leicht, da die Vorherrschaft der deutschen Musik nicht in Frage stand, die Musikmoderne zurückgedrängt wurde und die Politik ihn hofierte, um sich an seinen Aufführungen zu erfreuen und sich mit seinem Namen zu schmücken. Daher ging er davon aus, die Auswirkungen einer auf totale Gleichschaltung ausgerichteten Politik auf seinen Orchesteralltag kontrollieren zu können hinsichtlich des Repertoires, der Weiterbeschäftigung jüdischer Musiker sowie der Auftrittsverpflichtungen und Auslandstourneen des Orchesters.23 Nachdem Goebbels auf Anweisung Hitlers am 28. Oktober 1933 die Finanznöte der Berliner Philharmoniker mit ihrer Beförderung zum Reichsorchester gerade erst gelöst hatte,24 hielt Furtwängler es für vorteilhaft, zum 1. November 1933 die Vizepräsidentschaft in Goebbels Reichsmusikkammer zu übernehmen. Ferner ließ er sich von Alfred Rosenbergs Nordischer Gesellschaft einspannen25 und war im September auch für die Reichserziehungsminister Bernhard Rust unterstellte Preußische Akademie der Künste vorgesehen, um dort anstelle der unliebsam gewordenen Mitglieder das neue Deutschland im Sinne der nationalsozialistischen Leitkultur zu verkörpern.26 Wie bei der nach New York ausgewanderten, abtrünnigen Wagner-Enkelin Friedelind Wagner und Berta Geissmar schon 1944 nachzulesen war,27 ging von seiner Berufung in Hermann Görings Preußischen Staatsrat die langfristigste Belastung seines Namens aus, da dieses Amt politischer und nicht künstlerischer Natur war. Als Ausdruck eines pompösen Geltungswahns und des Ehrgeizes, als Preußischer Ministerpräsident zum zweiten Mann in Hitlers Imperium aufzusteigen, hatte Göring zum 8. Juli 1933 per Gesetz einen 68 Personen umfassenden Staatsrat ins Leben gerufen.28 Dabei berief er sich auf eine seit der frühen Neuzeit in europäischen Staaten praktizierte Tradition, einem Herrscher ein Beratungsgremium mit Angehörigen der Dynastie, des Hochadels sowie mit Spitzenbeamten zur Seite zu stellen.29 Als Dienstherr der Berliner Staatsoper hatte der prunksüchtige Göring im 23 Geissmar, Musik im Schatten der Politik, S. 122. 24 Ebd., S. 138. Vgl. für den Gesamtkontext Misha Aster, „Das Reichsorchester“. Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus, München 2007. 25 Prieberg, Kraftprobe, S. 218 und S. 237 sowie einer Abbildung von Furtwängler als Teilnehmer der Nordischen Musiktagen 1935 in Lübeck in: Nordische Wiedergeburt. Beiträge zum Nordischen Gedanken, hg. im Auftrag der Nordischen Gesellschaft von Walter Zimmermann, Berlin und Dresden 1935, vor S. 33. 26 Protokoll zur Sitzung der Musiksektion am 2. Oktober 1933, in: Akte Sig. I 1290, pag. 53, Archiv der Preußischen Akademie der Künste, in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin. 27 Friedelind Wagner, Nacht über Bayreuth [Heritage of Fire 1944], Köln 1994, S. 172f. 28 Siehe das von Riess zitierte Gesetz des Preußischen Staatsministeriums vom 8. Juli 1933 mit der Zusammenfassung der Rechte und Pflichten des Staatsrates, Riess, Furtwängler, S. 157. 29 Dirk Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001, S. 86f. Siehe zu dieser traditionsorientierten Gestaltung des Staatsrats auch Hermann Göring, Aufbau einer Nation, Berlin 21934, S. 97. Der erste Preußische Staatsrat ging auf Freiherr vom Stein und Karl August von Hardenberg zurück, der im Jahr 1808 nach der katastrophalen Niederlage

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Juni 1933 Furtwängler dort zum Ersten Kapellmeister befördert und berief ihn zeitgleich zum Staatsrat,30 der dieser Ernennung nicht widersprach; im Januar 1934 folgte darauf Furtwänglers Beförderung zum Direktor der Staatsoper. Göring ließ sein repräsentatives Schein-Gremium mit einer Feierstunde und einem Festakt auf dem Platz vor der Neuen Aula der Universität am 15. September 1933 erstmals zusammentreten, wobei Furtwängler nach eigenen Angaben an keiner weiteren Sitzung mehr teilnahm.31 Als Görings Runde am 5. März 1936 zum letzten Mal zusammenkam – in den zurückliegenden Jahren war die Rolle Preußens als eigenständigem Staat im Dritten Reich obsolet geworden – waren über Furtwängler viele Ereignisse hinweggegangen, die mit seinem widersprüchlichen Verständnis von „Politik“ und „Musik“ zusammenhingen. Wendepunkt war der Winter 1934/35, als er im Konflikt mit den Machtsphären von Goebbels und Rosenberg nach seinem öffentlichen Einspruch gegen das Aufführungsverbot von Paul Hindemiths Oper Mathis, der Maler und seinem Dirigat der gleichnamigen Sinfonie die meisten seiner Ämter niederlegte. Lediglich die Rückgabe seines Titels eines Preußischen Staatsrats wurde ihm verweigert, da dieser eine Ehrung und keine Amtsbezeichnung sei. Im April 1935 stimmte Furtwängler einem Kompromiss zu,32 Adolf Hitler als Führer der Reichskunstpolitik anzuerkennen, womit er glaubte, die politische Verantwortlichkeit für sein künstlerisches Tun delegieren zu können, so dass er – nun als unabhängiger Dirigent ohne feste Anstellung – wieder Engagements übernahm. „Furtwängler war auf seinem Gebiet“, so Wolf Lepenies, „ein unbedingter Verfechter – und Nutznießer – des Führerprinzips. Auch darum ließ sich mit der Führung des Reiches stets ein modus vivendi finden.“ „Furtwänglers Irrtum, den er mit vielen Deutschen teilte, war der Glaube, man könne unter den Bedingungen politischer Unfreiheit unpolitisch und ein freier Künstler sein.“33 Ein solches Vakuum wie während seiner Zwangspause im Winter 1934 hatte Furtwängler seit Beginn seiner Dirigentenkarriere nicht erlebt und er nutzte wie erwähnt seine öffentliche Absenz, sich auf seine Rolle als Komponist zu besinnen und eine Violinsonate in d-Moll sowie ein Klavierkonzert in h-Moll zu schreiben,

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gegen Napoleon zwei Jahre zuvor gegründet worden war und in der Weimarer Republik als Vertretungsorgan der preußischen Provinzen fungiert hatte. Siehe zu Görings Prunksucht auch Werner Maser, Hermann Göring. Hitlers janusköpfiger Paladin, Berlin 2000, S. 204 und 208. Siehe in der Mappe „Verteidigung II“ WF Verteidigungsschriften im Nachlass Furtwängler eine undatierte, ausformulierte Auflistung repräsentativer Positionen: 1. Vizepräsident der Reichsmusikkammer, 2. Preußischer Staatsrat, 3. Mitglied der Deutschen Akademie in München, 4. Mitwirkender an nationalsozialistischen Propagandakonzerten, 5. Hauptbevollmächtigter des Musiklebens in Wien sowie 6. bis 8. seinen Beweggründen, in den Jahren 1933, vor Kriegsausbruch 1939 und 1943 Deutschland nicht verlassen zu haben. Als Punkt 9 erläuterte Furtwängler ferner, warum er den nationalsozialistischen Missbrauch geduldet habe sowie als Punkt 10, dass er mit der tendenziösen Biografie Friedrich Herzfelds von 1941 nichts zu tun gehabt habe. Siehe hierzu insbesondere den Beitrag von Gregor Herzfeld in diesem Band. Riess, Furtwängler, S. 172–179. Wolf Lepenies, Eine (fast) alltägliche deutsche Geschichte, Vorwort zu: Aster, „Das Reichsorchester“, S. 15 und 22f.

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die er 1937 uraufführte. Ein Brief an Bertele Braunfels, dem er die Violinsonate beilegte, lässt wieder das Misstrauen spüren, die eigene Musik könnte falsch verstanden werden, da sie „vor allem in grossen Zusammenhängen begriffen und gespielt werden muss, dass man sich also schon etwas näher damit beschäftigen muss, um sie richtig aufzufassen.“34 Bei Furtwänglers Biograf Curt Riess liest man von der zunächst zurückhaltenden Reaktion des Publikums auf diese Musik, deren Formstrenge schließlich aber als engagiertes Bekenntnis Furtwänglers für Ordnung und Klarheit und gegen Hitler verstanden worden sei.35 Die Realität war vermutlich komplizierter, da das NS-Regime und insbesondere Hitler die von Furtwängler vertretene klassizistische, antimodernistische Strenge schätzte und dieser weiterhin die Überlegenheit der deutschen Musik auch publizistisch untermauerte. Schon 1931 war von ihm über Johannes Brahms zu lesen gewesen, der Komponist gehöre „zu jenem Riesengeschlecht germanischer Musiker, das mit Bach und Händel begann, sich mit Beethoven fortsetzte, und bei dem eine kolossale Körperkraft sich mit größter Zartheit und Sensibilität paart. Sein Charakter, sein Wuchs sind durchaus nordisch.“36 Auch sein Text Die Frage nach dem Deutschen in der Kunst, entstanden für die 1937 erschienene Festschrift seines Freunds und Lehrers Curtius, ist ein Bekenntnis zur Größe und Einzigartigkeit der deutschen Musik, die er gegen ihre historische Geringschätzung durch das von Minderwertigkeitsgefühlen zerfressene deutsche Volk in Schutz nimmt. Seine Selbstspiegelung in der Vereinsamung deutsch-nordischer Künstler – „von Bach bis zu Beethoven und Schubert“ – ist offensichtlich, wenn er schreibt: „Diese Musiker lebten und schufen fast alle nur für ihre unmittelbarste Umgebung, nur für einen kleinen verstehenden Kreis ohne jede Rücksicht auf ‚Wirkung‘. Und als ihre Werke – in der letzten Zeit von Haydns und Beethovens Leben – anfingen, bekannter zu werden, drangen sie doch nicht entfernt so in das Bewußtsein der Nation, wie z.B. die gleichzeitige Dichtung Goethe und Schillers.“37

Während der folgenden Jahre hielten der NS-Staat und Furtwängler sich mit einem Katz- und Mausspiel in Bewegung. Mal hintertrieb Hermann Göring die Berufung 34 Brief von Wilhelm Furtwängler an Bertele Braunfels vom 13. Dezember 1938, in: Nachlass Furtwängler, Mappe WF an Bertele Braunfels. 35 Riess, Furtwängler, S. 217f. 36 Wilhelm Furtwängler, Ton und Wort. Aufsätze und Vorträge 1918 bis 1954, Wiesbaden 1954. Darin: Johannes Brahms (1931), S. 48. 37 Wilhelm Furtwängler, Die Frage nach dem Deutschen in der Kunst, in: Vermächtnis. Nachgelassene Schriften [hg. von Elisabeth Furtwängler], Wiesbaden 1956, S. 89. [gekürzt, Erstveröffentlichung in: Eine zeitgemäße Betrachtung. Corolla. Ludwig Curtius – zum 60. Geburtstag dargebracht, Stuttgart 1937 unter dem Titel Eine zeitgemäße Betrachtung.] Siehe auch S. 93: „Für den deutsch-nordischen Künstler ist der Drang, sich mit der klaren, glückhaft-lockeren Kunst des Südens auseinanderzusetzen, in vielen Fällen geradezu ein innerer Zwang. Davon zeugen nicht nur ein Dürer, ein Goethe, sondern auch tausend und abertausend Kleinere. Diesen merkwürdigen, in solcher Weise eben nur uns eigenen Zwang als solchen nicht wahrhaben zu wollen, das deutsche Kunstwollen allein aus sich selbst und seiner rein-nordischen Erbschaft heraus erklären zu wollen, ist daher nicht nur einseitig, sondern ist Konstruktion, Unwirklichkeit – ist unhistorisch.“

Kunst als politisches Vakuum?

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Furtwänglers 1936 zum Nachfolger Arturo Toscaninis als Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker als Revanche dafür, dass Furtwängler eine erneute vertragliche Bindung an die Berliner Staatsoper ausgeschlagen hatte, mal wich der Dirigent offiziellen Verpflichtungen aus, bei Parteitagen oder den Feierlichkeiten zum Führergeburtstag aufzutreten, zuletzt im Jahr 1944, als er sich von Staatsrat Ferdinand Sauerbruch eine Entzündung der bei Dirigenten besonders empfindlichen Halswirbelsäule attestieren ließ38. Gleichfalls weigerte er sich, in Goebbels Propagandastreifen über die Berliner Philharmoniker zu erscheinen, da er die politische Missdeutung der Orchestergeschichte nicht mittragen wollte. Dieses Missverhältnis der untrennbaren, von Furtwängler stets antagonistisch imaginierten Sphären „Politik“ und „Musik“ machten ihn, wie Friedelind Wagner schrieb, zu einem sehr unglücklichen Menschen, „er war im Ausland als Nazi diskreditiert, und in Deutschland wurde er ständig schikaniert und bespitzelt, weil er kein Nazi war.“39 Getragen von seiner Vision einer Wiederkehr der deutschen Klassik als Gesellschaftsform, wie sie im Umfeld seines Vaters und von Curtius seit der Jahrhundertwende propagiert worden war, kam eine Emigration für ihn nicht in Frage,40 da er das klassische deutsche Repertoire nicht ohne das deutsche Publikum denken konnte, zu eng waren für ihn die historischen Kulturerzeugnisse mit der Volksgemeinschaft in einem alternativen, widerständigen Deutschtum verbunden. Zugleich passten sich sein Kompositionsstil und die von ihm für unpolitisch erachtete Heroen-Ästhetik seiner Beethoven-Interpretationen ideal der vorherrschenden Nazi-Ästhetik ein, so dass ihn die braunen Machthaber noch lange umwarben.41 Das Taktieren der Kontrahenten wäre erst im letzten Kriegswinter beinah durchbrochen worden, als die von SS-Chef Heinrich Himmler instruierte Gestapo Furtwängler fast verhaftet hätte. Da er bereits aber im Vorjahr seinen Hauptwohnsitz nach Luzern verlegt hatte, konnte er sich dank einer rechtzeitigen Warnung im Februar 1945 in die sichere Schweiz absetzen, wo als Preußischer Staatsrat wiederum als Repräsentant der NS-Kunstpolitik wahrgenommen wurde. Solange Furtwängler sich seiner Exklusivität und Unverzichtbarkeit für das Dritte Reich hatte sicher sein können, fühlte er sich der stetigen Auseinandersetzung mit den braunen Machthabern gewachsen, weder Clemens Krauß an der 38 Riess, Furtwängler, S. 257. 39 Ebd., S. 226 sowie Wagner, Nacht über Bayreuth, S. 276f. 40 In einem undatierten Manuskript, das sich als Durchschlag in den Mappen mit Verteidigungsmaterial erhalten hat, arbeitete er sich am Vorwurf ab, trotz zahlreicher Gelegenheiten in Deutschland geblieben und nicht ausgewandert zu sein. In drei Unterpunkten argumentierte er, 1. Deutschland in der Stunde der größten Gefahr nicht im Stich gelassen zu haben, 2. innerhalb Deutschlands mehr bewirkt zu haben als ihm von außen her möglich gewesen wäre und 3. seine Aufgabe darin gefunden zu haben, die deutsche Musik, „d.i. jene deutsche Musik, die der ganzen Welt gehört, gegen den nationalsozialistischen Anspruch zu verteidigen. Ich war mir dabei bewusst, für sehr viele der in Deutschland Verbliebenen ein Zentrum des Widerstandes gebildet zu haben, für sie der Repräsentant des alten Europa gewesen zu sein. Ich brachte es nicht übers Herz, diese Menschen zu verlassen.“ Staatsbibliothek Berlin, Sig. 55 Nachlass 13 [= Nachlass Furtwängler], Mappe „Verteidigung II“ WF Verteidigungsschriften. 41 Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik, Kapitel V.1 Die Funktionalisierung der Antike für den NS-Staat, S. 295–333.

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Berliner Staatsoper noch Hermann Abendroth auf Konzertreisen mit den Berliner Philharmonikern durch besetzte Kriegsgebiete hatten als Altersgenossen ernstlich seinem Ruhm etwas entgegenzusetzen.42 Gefährlich wurde es erst, als mit Herbert von Karajan ein zwanzig Jahre jüngerer Konkurrent erschien, der (wie er selbst Jahrzehnte zuvor) als Ausnahmetalent auf sich aufmerksam machte, im Unterschied zu ihm aber eine klare Machtstrategie verfolgte, bei der Musik und Politik zusammenfielen, was ihn für die nationalsozialistische Propaganda zu einer echten Alternative machte.43 Es ist bei zahlreichen Autoren überliefert und immer wieder nacherzählt worden, wie bissig Furtwängler sich nach Edwin von der Nülls Eloge auf das „Wunder Karajan“44 gegen den Kritiker und den Konkurrenten zur Wehr setzte, was Furtwängler nach dem Ende des Dritten Reiches noch lange nachhängen sollte. Karajans Karriere dagegen blieb trotz des kollektiven Wissens über seine NS-Vergangenheit lange unbeschadet, da sich sein Verhalten im Dritten Reich eindeutig politisch rubrizieren und damit moralisch abwickeln ließ45.

42 Siehe Oliver Bordin, „Der Taktstock als Waffe“. Zum Kriegseinsatz deutscher Dirigenten, in: Die Reichsmusikkammer. Kunst im Bann der Nazi-Diktatur, hg. von Albrecht Riethmüller und Michael Custodis, Köln u.a. 2015. 43 Fred K. Prieberg, Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986, S. 309. 44 Siehe den entsprechenden Artikel, der am 22. Oktober 1938 in der Berliner Zeitung am Mittag erschien. 45 Martin Elste, Artikel Herbert von Karajan, in: MGG2, Personenteil 9, Kassel u.a. 2003, Sp. 1480–1484 und Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, CD-R Kiel 2004, S. 3545–3577.

Musik als Immunitätsgarant Zur Verquickung von Kunst und Moral von ANDREAS DOMANN

Während des Dritten Reichs machte Furtwängler in Deutschland eine beispiellose Karriere als einer der anerkanntesten Künstler, deren Wirken eng mit nationalsozialistischer Propaganda und Kulturindustrie verschmolz. Er ging in dieser Zeit nicht, wie viele seiner Kollegen, ins Ausland. Jedoch nur deshalb – wie es noch im Herbst 2007 von einer prominenten Stimme des öffentlichen Musiklebens zu vernehmen war –, um in Deutschland die „großen Ideale“ verteidigen zu können. Erschreckend sei daher auch nicht sein Verhalten, sondern nur das der anderen gewesen, die ihn missbraucht hätten.1 Wilhelm Furtwänglers Biographie wird hier mit dem Verweis auf seinen Dienst an der Kunst gerechtfertigt. Diese Verknüpfung von Musik und Moral gehört seit der platonischen Ethoslehre zu den bestimmenden Konstanten des Denkens und Urteilens über Musik. Wie sehr diese zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, lässt sich sinnfällig als an einem Fall wie demjenigen Furtwänglers demonstrieren, bei dem trotz der offensichtlichen Unabhängigkeit von künstlerischer Kompetenz und moralischem Handeln an deren Identifikation hartnäckig festgehalten wird. Hier zeigt sich die ungebrochene Tradition einer Rezeptionsweise des Wirkens von Furtwängler, die darum bemüht ist, seine moralische Integrität auf einer Ebene mit seinen Leistungen als Musiker zu sehen. Ein Zeugnis dieser Tradition ist etwa ein 1986 erschienener Sammelband mit Aufsätzen über Furtwängler: Ein Maß, das heute fehlt, so der Titel dieses Bandes, in dessen Einleitung Furtwängler als ein „Bollwerk gegen die intellektuell-materialistische Hybris der neuen Zeit“ gefeiert wird.2 Doch muss dies bei einer Person sonderbar anmuten, die zu jenem Parteitag, auf dem die Nürnberger Gesetze beschlossen wurden, musizierte und zu propagandistischen Zwecken während des Krieges in von Deutschland besetzten Ländern

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Claus Spahn, Ich bin eine deutsche Seele, Interview mit Ingo Metzmacher, in: Die Zeit, 27. September 2007, S. 73. In dem Interview sinnierte der damalige Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters über das Wesen des Deutschen. Der Anlass war ein Konzert zum Tag der Deutschen Einheit, in dem Hans Pfitzners Kantate Von deutscher Seele aufgeführt wurde. Gottfried Kraus, Einleitung, in: ders. (Hg.), Ein Maß, das heute fehlt. Wilhelm Furtwängler im Echo der Nachwelt, Salzburg 1986, S. 5. Einen nüchterneren Zugang zu diesem Thema vermittelt dagegen der von der Zentralbibliothek Zürich herausgegebene Band Wilhelm Furtwängler in Diskussion. Sieben Beiträge, Winterthur 1996.

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auftrat,3 bei einer Person, die von den Nationalsozialisten ein Gehalt entgegennahm, das sich auf dem vergleichbaren Niveau heutiger Spitzenverdiener aus der Popbranche bewegte,4 Die Wahrnehmung Furtwänglers nicht nur als musikalische, sondern auch als ethische Autorität erschwert eine nüchternere Beurteilung seines persönlichen Verhaltens.5 Ihm wird, obgleich er ein – vorsichtig ausgedrückt – ambivalentes Verhältnis zu den NS-Machthabern hatte, in der Selbstdeutung und Selbstrechtfertigung seines Wirkens bedingungsloser Glaube geschenkt. Gibt es also – so wäre zu fragen – gute Gründe für die Annahme, dass Furtwänglers Status als herausragender Dirigent zu seiner Wahrnehmung als unanfechtbare ethische Autorität führte? Es liegt der Verdacht nahe, dass Musik – pointiert formuliert – über ihre soziokulturellen Wirkungsmechanismen moralische Suggestivkraft haben kann und dass dies keine reine Mutmaßung ist, sondern sich mit Indizien belegen lässt, die im Folgenden angedeutet werden sollen.

* „Warum Deutschland in diesem Krieg siegt? Warum sich das autoritäre System notwendig mit der Zeit durchsetzt? Es entspricht dem menschlichen Wesen, dass der Mensch schrankenlose oder auch nur zu große Freiheit nicht verträgt. In der Kunst zeigt sich das ebenso deutlich. Reger und Strauss, von den Atonalen zu schweigen, stellen den Zustand dieser Freiheit dar. Sie sind schon veraltet und erledigt. Was not tut, ist eine neue Erfüllung des Gesetzes“.6

Diese Warnung vor zu großer Freiheit notierte Furtwängler in seinen Taschenkalender, allerdings wurde sie in die Brockhausausgabe seiner Aufzeichnungen nicht aufgenommen. Diese Passage illustriert eine Gesinnung, die es nahelegt, von einem Autoritätszusammenhang auszugehen. Denn was den Kürzungen der Brockhausausgabe hingegen nicht zum Opfer fiel, bleibt gleichwohl eindrucksvoll genug: Die Sprache seiner Aufzeichnungen lässt eine ausgesprochen antiliberale, antidemokratische und autoritäre Haltung erkennen,7 die sich zu sehr großen Teilen nahtlos in

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Michael Kater, Die missbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich, München und Wien 1998, S. 382–385. Ebd. Gern wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, er habe jüdische Musiker in Schutz genommen, sei für Hindemith eingetreten und habe vor allem aber die Ideale der deutschen Kunst verteidigt. Zur Bewertung siehe ebd., S. 374–378. Zitiert nach Fred Prieberg, Kraftprobe. Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986. Prieberg zitiert hier aus jenen Aufzeichnungen Furtwänglers, die nicht in die Brockhausausgabe aufgenommen wurden, er aber im Wilhelm-Furtwängler-Archiv Zürich einsehen konnte. – Vgl. Chris Walton, „Doppelagent“ oder „kläglicher Mensch“? Ein Rückblick auf die FurtwänglerRezeption des vergangenen Jahrzehnts, in: Wilhelm Furtwängler in Diskussion, S. 10–11. Siehe hierzu Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, hg. von E. Furtwängler und G. Birkner, Wiesbaden 1980. Man beachte seine Verwendung von Begriffen wie „Echtheit“, „Einfachheit“, „gesund“ (Beispiel: „Wenn man soweit kam, Tschaikowsky abzulehnen, so war das ein Akt der Aufrichtigkeit, des Willens zur Gesundung.“ [1928], S. 41), „Individualismus“, „Intellekt/Intellektueller“ (Beispiel: intellektuelle „Halbbildung“ sei anmaßend und ohne Gefühl

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den Jargon der Nationalsozialisten fügt, mit denen er den Widerwillen gegen eine liberal verfasste Gesellschaft teilte.8 Ebenso zeichnet sich die Furtwänglerrezeption durch ihre Autoritätsgläubigkeit aus. Detlef Oesterreich hat Autoritätsmechanismen analysiert, die sich – etwas schablonenhaft – auf unseren Zusammenhang übertragen lassen.9 Er unterscheidet die autoritäre Aggression von der autoritären Reaktion; doch nur letztere ist für die Beschreibung der Furtwänglerrezeption relevant: Die autoritär reagierende Persönlichkeit zeichnet sich in Situationen der Unsicherheit nicht durch den Versuch rationaler Bewältigung, sondern durch Flucht in die Sicherheit von Autoritäten aus, die Schutz und Orientierung gewähren.10 Zudem ist sie an den Schutz und Sicherheit Bietenden emotional gebunden: Sie identifiziert sich mit ihm. Im Zuge des Identifikationsprozesses werden Werte, Normen und Weltbilder der Schutz gewährenden Instanzen angeeignet.11 Ebendiese Identifikation mit einer wertesetzenden Instanz ist für den Zusammenhang zwischen Furtwängler und seinem Publikum das Entscheidende: Ein Infragestellen der schützenden Denkmuster, die von der Autorität legitimiert sind, wird zu einem Angriff auf das Individuum selbst, das heißt auf die autoritär reagierende Persönlichkeit: Die Bindung an Werte und Normen führt dazu, dass ein Infragestellen dieser Werte und Normen immer auch einen Angriff auf die Schutz gebende Autorität und damit auf die Sicherheit des Individuums selbst bedeutet.12 Wird also Furtwängler als eine moralische Autorität und Identifikationsfigur akzeptiert, so würde eine Abwertung der von ihr sanktionierten Normen zwangsläufig das Individuum – in unserem Falle den Furtwänglerapologeten – dazu nötigen, eigene Wertvorstellungen zu hinterfragen. Oder anders formuliert: Da sich die autoritär reagierende Persönlichkeit gerade nicht durch die Fähigkeit zu rationalen Problemlösungsversuchen, sondern durch das Festhalten an Normen auszeichnet, würde ein Infragestellen der moralischen Integrität Furtwänglers zu einem erheblichen Verlust an eigener Sicherheit führen, was unbedingt vermieden werden soll. So geht es also nicht vornehmlich um die Rechtfertigung Furtwänglers als Individuum, sondern um die Wahrung der die eigene Sicherheit garantierenden Werte und Normen, und hierfür darf die Instanz, die diese verbürgt, nicht infrage gestellt werden. Eine plötzlich eintretende Verunsicherung aufgrund eines gesellschaftlichen und politischen Wandels, der mit sich ändernden Normen und Wertvorstellungen einhergeht, kann als Ursache für eine verstärkte Autoritätsorientierung und Werte [1936], S. 125), Gegensatz „Intellekt“/„Instinkt und Gefühl“, „Natürlichkeit“, „organisch“, „Volk/Individuum“. 8 Vgl. Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin; New York 1998. – Im Besonderen sei auf die ressentimentgeladene Verwendung des Begriffs des Intellektuellen als eines Schimpfwortes verwiesen. Siehe auch hierzu: Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Frankfurt am Main u. a. 1982. 9 Das Folgende bezieht sich auf: Detlef Oesterreich, Flucht in die Sicherheit. Zur Theorie des Autoritarismus und der autoritären Reaktion, Opladen 1996. 10 Ebd., S. 108, 120. 11 Ebd., S. 120. 12 Ebd., S. 121.

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angenommen werden,13 wie dies nach 1945 der Fall war. So erscheint das Klammern an einen „guten“ Furtwängler als einen Garanten für die bleibenden „guten“ Werte in einer unsicheren Zeit nur umso plausibler. Denn die autoritäre Persönlichkeit, sofern sie ein Produkt totalitärer Gesellschaften ist, hat – wie es Oesterreich beschreibt – beim Übergang in eine freie Gesellschaft häufig Schwierigkeiten, ihre Erfahrungen mit den Sozial- und Organisationsstrukturen der totalitären Gesellschaft abzustreifen,14 Freilich erklärt dies noch nicht die Furtwänglerrezeption späterer Generationen.

* Mit dem Versuch, die Beziehung Furtwänglers zu seinem Publikum – freilich idealtypisch – als Autoritätszusammenhang zu beschreiben, ist zwar auf einer rein strukturellen Ebene ein mögliches Modell gewonnen worden, mit dessen Hilfe sich die Wirkung Furtwänglers verstehen lässt. Aber die eigentlich inhaltliche Kernfrage ist damit noch nicht berührt, nämlich inwiefern die Musik dasjenige Mittel ist, das dem Dirigenten nicht nur eine musikalische, sondern darüber hinaus vor allem auch eine moralische Autorität verleiht. Welches Verständnis von Musik liegt hier zugrunde, wenn sie das Vermögen besitzt, eine Person als moralische Autorität zu legitimieren? Bisweilen wird Musikverstehen – eher unbewusst – vom impliziten Bezug auf moralische Kategorien bestimmt, mit denen Eigentümlichkeiten der Furtwänglerrezeption nachvollziehbar werden. Die folgende Skizzierung dieses Zusammenhangs sucht dies über einen dreifachen Erklärungsansatz zu beschreiben: Erstens die Deutung der Musik als Teil der Sphäre des Inneren, zweitens sprachliche Analogien zwischen Musik und Moral und drittens die Wertschätzung der Musik als Bildungsgut. Es ist kaum zu übersehen, dass diese drei Teilaspekte je eine eigene Geschichte haben und zu den bestimmenden, soziokulturell verankerten Konstanten des Denkens über Musik gehören. Für unsere Zwecke mag es indes genügen, sie nur kurz anzudeuten: Beginnen wir mir Furtwänglers Verortung der Musik im Reich des Inneren: „[Die deutsche Musik] schöpfte aus der stillen Geborgenheit, in der sie groß wurde, ihre Kraft. Die Atmosphäre liebevoll-enger weltferner Ruhe und Sammlung, der sie entsprang, gab ihr die Freiheit von allem Zwang des Sich-Rechtfertigen-Müssens, des Wirken-, des EffektmachenMüssens, gab ihr die Möglichkeit, schlicht, einfach, wahrhaftig zu bleiben und so sich klar und unverfälscht auszusprechen. Nur die innere Unabhängigkeit, d. h. die Tatsache, dass sie nicht ausgesetzt war einer von außen kommenden besserwisserisch-unfruchtbaren Kritik, gab ihr die Fähigkeit, in sich selbst hineinzuhorchen und das zu werden, was sie wurde: der reinste Spiegel deutschen Wesens“.15 13 Ebd., S. 142. 14 Ebd., S. 138. 15 Wilhelm Furtwängler, Die Frage nach dem Deutschen in der Kunst [1937], in: ders., Vermächtnis. Nachgelassene Schriften, Wiesbaden 1956, S. 91–92. Bemerkenswert erscheinen begriffliche Parallelen von Furtwänglers Sprache zum Titel einer zur selben Zeit entstanden

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Die Sphären des Inneren und des Äußeren stehen sich hier unvermittelbar gegenüber. Das Innere als das Reine, Wahrhaftige und Unberührte; das Äußere als das Falsche und Oberflächliche. Wofür diese Sphären allerdings genauer stehen, bleibt doppeldeutig: Zum einen ist es – der Kontext, aus dem dieses Zitat entnommen wurde, legt dies nahe – die Gegenüberstellung von „innen“ und „außen“ im nationalen Sinne: Zur Zeit ihrer Entwicklung war die deutsche Musik ganz bei sich selbst und der Gefahr fremder Einflüsse nicht ausgesetzt. Zum anderen aber klingt hier zugleich deutlich eine moralisierende Bewertung des Inneren und des Äußeren an, die sich nicht in der Bedeutung des Nationalen erschöpft: „Groß sein heißt aufrichtig sein. Das Innere und Äußere in Übereinstimmung bringen, ist die Tat des großen, des aufrichtigen Künstlers. [...] Es ist das vor allem schwer in einer Zeit, die vornehmlich Fassaden baut, in der die Fassade für das Wesen genommen wird“.16

Es ist der Bereich des Inneren als der des Wahrhaftigen, der Einkehr und Sammlung, der dem puren, äußerlichen Wirkenwollen und dem bloßen Effektmachen, den „Fassaden“ entgegengesetzt wird. Letzteres ist der Bereich des Virtuosen, der nur seiner „Eitelkeit“ anstelle der Wahrhaftigkeit verpflichtet sei.17 Wie sehr diese beiden Konnotationen des „Inneren“ – im Sinne einer Nation und im Sinne von Innerlichkeit – ineinander übergehen, zeigt Furtwänglers Charakterisierung des Deutschen als des „nach innen gewandten Menschen“, für den die Wirklichkeit die „andere“ Welt ist, „ewig getrennt von der heilig gehaltenen Innenwelt“.18 Indem Musik an der Sphäre des Inneren teilhat, wird ihr ein höherer, moralisch konnotierter Wert zugeschrieben. Nur die sich in einem autonomen und hermetischen, von allem Äußeren freigehaltenen Bezirk entfaltende Kunst, wird dann als die einzig gute und wahre Kunst verstanden. Dies sind Reinheitsgebote um der Wahrheit Willen. Verkörpert und symbolisiert nun jemand diese Sphäre des Inneren wie Furtwängler, so wird ihm zwangsläufig ein hoher moralischer Kredit gewährt, ohne dass vorher seine Bonität geprüft würde. Dieses Denken über Kunst spiegelt sich in Furtwänglers Bewertung seines eigenen Verhaltens gegenüber der politischen Wirklichkeit wider: In seiner oft wiederkehrenden, der Legitimation des eigenen Handelns dienenden Unterscheidung zwischen einem „wahren“, gewissermaßen „inneren“ Deutschland, für das er sich im Dritten Reich habe einsetzen wollen, und einem „von Nazis beherrschten Deutschland“, das er verabscheut habe, zeigt sich ebendiese Gegenüberstellung der Sphären des Inneren und des Äußeren in dem zur Musik analogen Sinne.19

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Publikation: Erhard Krieger, Das innere Reich deutscher Musik. Lehre deutscher Musikkultur, Köln 1937. Ders., Vermächtnis, S. 22 [1940]. Ders., Die „notengetreue“ Darstellung der klassischen Musik. Eine Schicksalsfrage [1930], in: ders., Aufzeichnungen, S. 81–82. Ders., Vermächtnis, 36–37 [1945]. Ders., Aufzeichnungen, S. 255–256 [1945], S. 263 [1945].

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Kommen wir zu den sprachlichen Analogien zwischen Musik und Moral: Furtwängler sprach von der Notwendigkeit einer „neuen Erfüllung des Gesetzes“, um den Zustand der Freiheit, wie er von Reger, Strauss und den Atonalen repräsentiert werde, zu überwinden. Schließlich würde der Mensch zu große Freiheit nicht vertragen.20 Wenn auch die Forderung nach der „Erfüllung des Gesetzes“ zunächst auf den Bereich der Musik bezogen ist, so bleibt die Wortwahl allerdings eindeutig ethisch-theologisch: Die Erfüllung des Gesetzes meint nicht nur Christus als den Telos des alttestamentarischen Heilshandelns Gottes, sondern zielt auch auf die alttestamentarischen Gesetzestexte einschließlich des Dekalogs: die Erfüllung der ethischen Gebote. Weil das „du sollst“ der Ethik bei Furtwängler zugleich auch das „du sollst“ in der Kunst ist, zeigt sich hier die sprachliche Analogie zwischen Ethik und Ästhetik. Diese zunächst rein sprachlich-begrifflichen Analogien werden nun Ausdruck auch eines analogisierenden Denkens über die Sache selbst. Denn die sprachliche Fassung eines Gedankens ist nicht lediglich das Produkt des zuvor Gedachten, sondern vor allem ist umgekehrt das Denken selbst das Produkt der Sprache, in der es sich entfaltet, so dass die Sprache also unser eigenes Denken determiniert.21 Aus derselben begrifflichen Grundlage in Ästhetik und Ethik folgt, dass das die Musik beschreibende Vokabular zugleich auch ethisch konnotiert ist und im Benennen eines musikalischen oder ästhetischen Sachverhaltes eine moralische Bedeutung mitschwingt, die das Denken über Musik mitbestimmen kann. Es ist insofern kaum verwunderlich, dass die Sprache nicht nur der sinnfälligste Ausdruck, sondern vor allem auch eine Ursache dieser umstandslosen Identifikation der Musik mit Moral ist: Man denke nur an Begriffe wie „authentisch“, „rein“ oder „wahrhaftig“. Furtwängler selbst spricht häufig über „Wahrhaftigkeit“ in der Kunst, und zwar in einer Weise, in der Ethik und Ästhetik deckungsgleich sind: „Modernes Dirigententum: Aus Schauspieler-, Virtuosen-, vor allem aber den Sklaven-Instinkten des Publikums entstanden. Der Autorität eines Toscanini etwa wäre die wahrhaft natürliche Autorität der Sache entgegenzustellen! Nur Kraft der Seele kann sich Wahrhaftigkeit erlauben. Und was man auch sage: Wahrhaftigkeit ist das erste und schönste Zeichen adligen Menschentums“.22

Schließlich ist auf die Wertschätzung der Musik als Bildungsgut zu verweisen: Musik ist auch ein Mittel sozialer Distinktion. Dieses Phänomen der Musikrezeption kann die beiden zuvor genannten Aspekte der moralischen Aufwertung bzw. Überhöhung von Musik oder eines Musikers noch verstärken. Die Musik, die hier zur Diskussion steht, ist der Kanon der klassisch-romantischen Tradition und als Bildungsgut zugleich ein identitätsstiftendes Merkmal jener gesellschaftlichen Schichten, die gern „Bürgertum“ genannt werden. Die moralische Aufladung der Musik verschränkt sich hier mit ihrer Funktion der sozialen Abgrenzung. Pierre Bourdieu 20 Zitiert nach Prieberg, Kraftprobe, S. 361. 21 Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772], in: E. Heintel (Hg.), Herders Sprachphilosophie, Hamburg 2005. 22 Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 136 [1936], siehe auch S. 155 [1938], S. 340 [1954].

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verwendete hierfür den Begriff des Habitus: Bestimmte Verhaltensmuster, kulturelle Vorlieben etc. prägen den Lebensstil einer sozialen Gruppe, durch den sie sich von einer anderen distanziert.23 Kulturelle Praktiken bekommen als Teil des Habitus somit eine identitätsstiftende Funktion. Wird die Annahme hinzugenommen, dass sich das Selbstverständnis einer sozialen Gruppe über eine materielle oder kulturelle Überlegenheit gegenüber anderen definiert – wovon in dem hier diskutierten Kontext ausgegangen werden kann –, muss ebenso deren favorisierte Musik als Identitätsmerkmal diesem höheren Anspruch genügen. Die im moralischen Sinne bessere Musik legitimiert sie dann zum Mittel der sozialen Distinktion; und sie ist die von Furtwängler beschriebene: Sie darf nicht den bloß äußeren Sinnesfreuden dienen, sondern muss von geistiger Tiefe, deutschem Wesen u. ä. zeugen. Während die ersten beiden Aspekte – die Vorstellung von Musik als der Sphäre des Inneren zugehörig und deren Beschreibung mit einem der Ethik analogen Vokabular – sich in Furtwänglers Denken über Musik selbst nachweisen lassen, ist jener letzte Sachverhalt, der die Wertung von Musik durch eine bestimmte Publikumsschicht beschreibt, jedoch vor allem auch ein Phänomen der Rezeption. Freilich ändert dies nichts an der Tatsache, dass dieses Furtwängler ebenso als Autorität erscheinen lässt. Obgleich Furtwängler keinen Zweifel an dem herausgehobenen kulturellen Stellenwert der klassisch-romantischen Musik lässt, vermeidet er es, sie als einen Bildungsinhalt in dem hier beschriebenen Sinne zu bezeichnen. Er stand der Auffassung der Musik als Bildungsgut durchaus ablehnend gegenüber; der Begriff der Bildung hat im Kontext von Kunst bei ihm durchweg eine negative Konnotation, in der er sehr seiner Verwendung des Begriffes des Intellektuellen ähnelt.24

* So plausibel die Andeutungen, mit denen versucht wurde, die Verquickung von Musik und Moral am Beispiel Furtwängler darzustellen, auch erscheinen mögen, sind sie doch mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Denn während die moralische Überhöhung der Musik sich bei Furtwängler anhand seiner Aufzeichnungen – gewissermaßen empirisch – nachweisen lässt, gelten die dargestellten Mechanismen aufseiten des Rezipienten nur idealtypisch und können freilich nicht pauschal unterstellt werden, obgleich die angeführten Indizien sie über den Bereich reiner Mutmaßungen erheben: Das kulturelle und soziale Prestige des Dirigenten, die impliziten sprachlichen Analogien im Bereich Ethik und Ästhetik und der Verweis auf den ethisch positiv bewerteten Bereich des Inneren bestimmen die Wahrnehmung einer Musikerpersönlichkeit, zumal einer, die sich durch technische Meisterschaft auszeichnet, in einem erheblichen Maße. Die Gleichsetzung von Musik und Ethik scheint viel zu sehr ins Unbewusste zu gelangen, als dass deren Identifikation überhaupt wahrgenommen würde. Denn die Ableitung der moralischen Integrität einer 23 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main 1987, S. 277–354. 24 Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 101–102 [1933], S. 171 [1939], S. 204 [1940], S. 207 [1940], S. 214 [1940].

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Person aus ihren Fertigkeiten als Künstler provoziert oftmals nicht den Einspruch, der sich – recht betrachtet – sofort geltend machen sollte. So wird aus einer musikalischen Autorität zugleich auch eine ethische, die die Musik als Ausdruck der Sphäre des Inneren und als ein Mittel der sozialen und kulturellen Distinktion legitimiert. Das vom Pathos des kulturellen Überlegenheitsgefühls getragene Sendungsbewusstsein Furtwänglers findet in diesem ideologischen Musikverständnis fruchtbaren Boden.

„und übrigens, was hat Kunst mit Politik zu tun?“ Die Familie Mann und Furtwängler von LORE KNAPP

Wilhelm Furtwängler hätte im Jahr 1936 die Möglichkeit gehabt, Dirigent der New Yorker Philharmoniker zu werden. Im Gegensatz zu den Schriftstellern Thomas, Erika und Klaus Mann hätte er in der Emigration von der Weltsprache Musik profitieren können, während für die Familie Mann im kalifornischen Exil zunächst Leserschaft, Themen und Erfolg in Frage gestellt waren. Die Geschwister Klaus und Erika schrieben dort zum Teil auf Englisch, so dass sich mit der Sprache die Grundsubstanz ihres Wirkens änderte. Furtwängler bot stattdessen dem Kampf der Nazis die deutsche Musik als Basis und Hintergrund. Denn mit seinen Beethovenund Wagner-Dirigaten schürte er den Nationalstolz, auf den sich das Hegemoniebestreben der Deutschen gründete. Von Deutschland aus sowie auf zahlreichen Konzertreisen repräsentierte er die deutsche Musik „in Feindesland“,1 wie er sich Goebbels gegenüber ausdrückte, als seine Entscheidung, im nationalsozialistischen Deutschland weiterzudirigieren, längst gefallen war. Er wurde, so Erika Mann, „Hitler’s pet maestro and musical propagandist abroad“.2 Die Denkfigur der Hegemonie der deutschen Musik beschreibt Albrecht Riethmüller als ein Stück deutscher Ideologie.3 Ähnliche Einsichten in die Mentalität der Deutschen und das negative Potential ihres Musikkultes haben den Roman Doktor Faustus geprägt, den Thomas Mann zwischen 1943 und 1947 im Exil verfasste. Seiner Zeit vorauseilend erhellt der Roman verborgene Zusammenhänge zwischen deutscher Musik und deutscher Geschichte. Diese haben auch das Verhältnis des Schriftstellers zu Furtwängler geprägt. Thomas Mann erwähnte den Dirigenten in seinem Tagebuch zum ersten Mal am 21. März 1933, als dieser am „Tag von Potsdam“, nämlich anlässlich der Einberufung des neuen Reichstages die Meistersinger leitete. Die Variante „Furchtwängler“ erschien drei Wochen später im Tagebuch, und zwar in Reaktion auf dessen an Goebbels gerichteten Brief vom 12. April 1933. „Gestern in der Frankf. 1 2 3

Wilhelm Furtwänglers Brief an Goebbels vom 26. April 1944. Erika Mann, Leserbrief im New York Herald Tribune am 31. Mai 1947, zitiert nach Hans Rudolf Vaget, Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt am Main, 2006, S. 476. Albrecht Riethmüller, Musik, die „deutscheste Kunst“, in: J. Braun, V. Karbusicky und H. Hoffmann (Hg.), Verfemte Musik. Komponisten in den Diktaturen unseres Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1995, S. 91–103.

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Zeitung Furchtwänglers höchst angepasster, aber immerhin warnender Kultur-Brief an Göbbels und die lange Antwort des Narren darauf“.4 Als Furtwängler nach den Verwicklungen um den „Fall Hindemith“ im Frühjahr 1935 wieder öffentlich auftrat, notierte Mann ähnlich wertend: „Unterwerfung Furtwänglers, der zu Gnaden aufgenommen wird. Auch vom Publikum?“5 – ein gutgläubiger Zweifel, den die treuen Zuhörer noch allzu oft aus dem Weg räumen sollten. Bereits in den Vorjahren war Thomas Mann sich seiner Ideologie der deutschen Musik mit Hilfe der Schriften Nietzsches allmählich bewusst geworden, und hatte mit der kritischen Rede Leiden und Größe Richard Wagners einen entscheidenden politischen Schritt getan, dessen Konsequenzen er nicht kalkuliert hatte. Denn die Rede veranlasste u. a. Richard Strauss und Hans Pfitzner dazu, einen Protest der Richard-Wagner-Stadt München zu unterzeichnen, von dem sich Mann 1933 ins Exil gezwungen fühlte. Den Protest hat er zwar provoziert, aber die Entscheidung zur Emigration ist ihm daraufhin abgenommen worden, so dass er diese Münchener Ereignisse in einem offenen Brief an Walter von Molo noch nach Kriegsende als traumatische Erfahrung beschreibt. Seine Kinder Erika und Klaus traten in der Emigration wesentlich entschiedener auf als er selbst, was an der öffentlichen Wahrnehmung nicht viel änderte, da der Name Mann durch ihn geprägt war und mit ihm verbunden wurde. Als Furtwängler 1936 in Bayreuth den Lohengrin dirigierte, wurde die Aufführung im europäischen Ausland sowie in Nord- und Südamerika im Rundfunk übertragen. Thomas Mann hörte in der Schweiz zu und schrieb in sein Tagebuch: „Die Vorstellung, dass dieser idiotische Schurke von Hitler da süß-heldische Romantik ‚genießt’, während sozialistische Arbeiter gefoltert werden – über die Maßen ekelhaft. Man hätte nicht zuhören sollen, dem Schwindel nicht sein Ohr leihen, da man im Grunde doch alle, die dabei mittun, verachtet.“6 Trotzdem lauschte Thomas Mann viereinhalb Stunden den Wagnerschen Klängen unter Furtwänglers Leitung7. „Ich kann nicht musikalische Meisterwerke boykottieren, weil ich den Komponisten, der sie hervorgebracht hat, verabscheue“, hatte Bruno Walter gesagt.8 Obwohl Erika Mann dem Stardirigenten und Vertrauten ihres Vaters persönlich besonders zugetan war, fühlte sie sich von dieser Äußerung, noch dazu publiziert im neuen amerikanischen Magazin ihres Bruders Klaus, provoziert. Warum, fragte Erika Mann, unterstützten die USA, die gegen Deutschland Krieg führten, nazifreundliche Künstler wie Richard Strauss und nicht die

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Thomas Mann, Tagebücher 1933–34, hg. von P. de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1977, 13. April 1933, S. 47f. Ders., Tagebücher 1935–36, hg. von P. de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1978, 2. März 1935, S. 47. Ders., Tagebücher 1935–36, 19. Juli 1936. S. 333. Vaget, Seelenzauber, S. 271f. Februarausgabe 1942 der von Klaus Mann herausgegebenen Zeitschrift Decision, zitiert nach Erika Manns Leserbrief für die New York Times am 15. Februar 1942, abgedruckt in: Vaget, Seelenzauber, S. 473f.

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berühmten, von den Nazis vertriebenen, denen sie überdies Asyl gewährt hätten?9 Sie schrieb einen Leserbrief, den die New York Times am 9. Februar 1942 druckte, und beendete diesen mit der Frage: „So, why listen to Hitler’s man?“10 Die Empörung war groß und einige Leser meinten, sie könne – wie die Nazis – Person und Werk nicht trennen. Gegen diesen Vorwurf durfte sie sich am 14. März 1942 in 15 Minuten beim Radiosender CBS verteidigen: „I said: (1) Some people would like to ban Beethoven, because he was a German; I should most certainly not. (2) Some people might even wish to ban Arturo Toscanini; because, regardless of his anti-fascist convictions, he’s an Italian; I should most certainly not. (3) Some people would like to ban Richard Strauss, because he is a Nazi. Mr. Taylor would not. I wouldn’t either, because I wouldn’t ban any cultural effort in a democracy. (4) Some people would like to ban the records of those concert-artists who are Nazis in Nazi-Germany“.11

Dieser vierte Punkt betrifft nicht nur Strauss, sondern auch die Wirkung von Furtwänglers Hörfunkübertragungen im Ausland, zu denen Erika Mann abschließend Stellung nahm: „To have the choice between the recorded music of living active Nazis and the equally fine recorded music of living decent democrats, and then deliberately to choose the Nazis, that’s what doesn’t seem right to me“.12 Ihr Vater notierte dazu in seinem Tagebuch, er gebe Bruno Walter recht, der sich über Erikas Engagement erregt zeigte.13 Doch sie blieb ihrer Forderung treu. Nach dem Krieg kritisierte sie die deutsche Reaktion auf Furtwänglers Auftritt, bei dem er am 25. Mai 1947 die Berliner Philharmoniker leitete, indem sie feststellte: „Neither Toscanini, nor Bruno Walter, neither Hubermann nor Adolf Busch, men of whose world renowned art ‚Führer‘ Hitler deprived his musical nation, seems to be wanted“.14 Furtwängler dagegen sei 15 Minuten lang beklatscht worden. Wieder war Erika die treibende Kraft in der politischen Stellungnahme, wobei sich ihre Aufzählung mindestens durch Otto Klemperer und Erich Kleiber verlängern ließe. Diesmal übernahm Thomas Mann die Meinung seiner Tochter, die über einen Leserbrief in der europäischen Ausgabe des New York Herald Tribune am 13. Juni 1947 öffentlich geworden war. Er schrieb am 4. Juli brieflich: „Hätte man stattdessen Adolf Busch eingeladen und ihm 15 Minuten lang applaudiert, so würde ich nach Deutschland kommen“.15 Erikas Appell, der Applaus für Furtwängler sei politisch, nicht musikalisch zu verstehen, er sei Ausdruck des Widerwillens gegen die Entnazifizierungspolitik, richtete sich weniger an Furtwängler als an sein Publikum – allerdings vor dem Hintergrund seiner Entnazifizierung. Wie hatte Klaus Mann festgestellt? „Aber diesen Staatsräten und 9 10 11 12 13

Irmela von der Lühe, Erika Mann. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1993, S. 196. Zitiert nach Vaget, Seelenzauber, S. 474. Zitiert nach von der Lühe, Erika Mann, S. 197. Ebd. T. Mann, Tagebücher 1940–43, hg. von P. de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1982, 19. Februar 1942, S. 395. 14 Zitiert nach Vaget, Seelenzauber, S. 476. 15 An Arnold Bauer, 4. Juli 1947, in: Arnold Bauer, Thomas Mann, Berlin 1960, S. 86f.

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PGs [Parteigenossen] kann es nicht schnell genug gehen. Das drängelt sich, und will gleich wieder agieren, dirigieren, inszenieren, publizieren, als ob nichts gewesen wäre“.16 Zwei Jahre nach dem Krieg leitete Wilhelm Furtwängler wieder die Berliner Philharmoniker und wurde 1952 deren Chefdirigent auf Lebenszeit. Wie als Empörung über den Applaus, wenn auch bereits am 8. März formuliert, klingen die Worte von Erikas Vater: „und was man feierte, war im vollsten Sinne des Wortes seine Unschuld, das heißt: sein Glaube und Unglaube, seine Unwissenheit, sein völliges Nichtverstehen-Wollen dessen, was in Deutschland ‚die Macht ergriffen‘ hatte, seine verblendete Meinung, man könnte unter dieser Macht in Deutschland Kultur treiben, die kindliche Überschätzung seiner eigenen Macht, gegen den blutigen Banausen-Bolschewismus, der da Allmacht geworden war, ‚für das deutsche Volk etwas zu tun‘. […] Bald brannten die Synagogen. Aber Furtwängler, auf nichts als die Reinerhaltung des Konzertlebens bedacht, glaubt, es sei etwas getan, wenn er die jüdischen Mitglieder seines Orchesters so lange schützt und deckt...“.17

Furtwängler hat tatsächlich an eine besondere Bedeutung der deutschen Musik für Deutschland geglaubt und seine Aufgabe darin gesehen, diese Bedeutung herauszustellen. Er hat daran geglaubt, während er seine musikalische Begabung entwickelte, er hat daran geglaubt, während er mit Goebbels für die Musik seines Landes eintrat und er musste seinen Glauben nicht ändern, als er Mann gegenüber argumentierte, 15 Minuten Applaus seien für Berlin und Beethoven nichts Außergewöhnliches. So nutzte er seine Autorität um allen Ernstes zu verbreiten: „Deutschland […] ist der eigentliche Schöpfer der reinen Instrumentalmusik großen Stils, eine wirkliche Sinfonie ist von Nicht-Deutschen überhaupt nie geschrieben worden. (Halbsinfoniker, wie Berlioz, César Franck, Tschaikowsky, stehen in allem Wesentlichen gänzlich unter deutschem Einfluss)“.18

Russische, tschechische und skandinavische Komponisten übergeht er, ganz zu schweigen von der Vereinnahmung der Komponisten in der Habsburgermonarchie und in diesem Sinne wendet er sich nach dem Krieg, 1947, in einem seiner bittenden Rechtfertigungsbriefe an Mann: „Indessen sollten Sie und ihre Tochter Erika ganz vergessen haben, was die Musik für die Deutschen bedeutet, immer bedeutet hat?“19 Gerade Thomas Mann wusste das nur zu gut. Wagner stellte zeitlebens den wichtigsten musikalischen Einfluss auf sein Werk dar, und ein ganzes Kapitel im Roman Doktor Faustus ist Beethoven gewidmet. Bei der Uraufführung der Oper Palestrina 1918 hatte er sich mit dem Komponisten Pfitzner verbündet gezeigt, dessen Werk ihm daraufhin in den Betrachtungen als Beispiel für die Überlegenheit der

16 Klaus Mann, Auf verlorenem Posten. Aufsätze, Reden, Kritiken 1942–1949, hg. von U. Naumann u. a., Hamburg 1994, S. 327. 17 T. Mann, Tagebücher 1946–48, hg. von I. Jens, Frankfurt am Main 1989, S. 887. 18 Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–54, hg. von E. Furtwängler und G. Birkner, Zürich u. a. 1996, S. 64. 19 Ders., am 4. Juli 1947, abgedruckt in: Wilhelm Furtwängler. Briefe, hg. von F. Thiess, Wiesbaden 1965, S. 167.

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musikzentrierten deutschen Kultur diente.20 Damals sah er Deutschland als Verwirklichung seiner Musik21 und sich selbst ähnlich wie Pfitzner und Strauss als Erbe Wagners. Doch ab 1925, gerade in dem Jahr, in dem Hitler seine Verbindungen nach Bayreuth knüpfte, begann er, die politische Instrumentalisierung und deutschtümelnde Vereinnahmung Wagners öffentlich zu kritisieren.22 Während der Konzeption des Doktor Faustus, 1943, formulierte er: „Wir wollen vertrauen, dass der deutsche Universalismus in seinen alten Ehrenstand zurückfinden, dass er sich des frevelhaften Gedankens der Welteroberung für immer entschlagen und wieder als Welt-Sympathie, Welt-Offenheit und geistige Bereicherung der Welt bewähren wird“.23

Dies besiegelte die Wende in seiner Haltung zur deutschen Musik und führte bis hin zu der oben zitierten Stellungnahme gegen Furtwängler vom 8. März 1947. Diese beginnt mit einem rhetorischen Trick. Mann schreibt, Furtwänglers Verteidigungsschrift habe denselben „vom Vorwurf des Mangels an Mut und gutem Willen völlig entlastet“ und die Bezichtigung, er sei ein Nazi gewesen, habe sich als falsch erwiesen.24 Argumente für das Verhalten des Dirigenten werden nur scheinbar anerkennend genannt, um die folgende Kritik zu verstärken. Auch der Satz: „Ich kenne diese Entstellungen und Verleumdungen nicht, habe jedenfalls niemals teil daran gehabt und nehme an, dass sie unter dem Eindruck seines Memorandums verstummen werden“, führt auf die falsche Fährte, zumal sich der verständnisvolle Tonfall bis zu den scheinbar bewundernden Worten, Furtwängler habe „immer am Rande des KZ“ „gelitten und gerungen“ derartig steigert, dass die Ironie darin unverkennbar wird. Ähnlich zynisch ist Manns Kommentar: „Ich muss gestehen, es ist mir eine Wohltat, zu wissen, dass dieser hervorragende Musiker nun bald in allen vier Zonen Deutschlands seine Interpretationskunst wieder frei wird üben können“. Die Stellungnahme entstand allerdings nur auf eine Bitte des Aufbau-Chefredakteurs Manfred George. Daher könnte die Ironie auch „Ausdruck eines verborgenen Zwiespalts“25 sein, der dadurch unterstrichen wird, dass der Text Fragment geblieben und nicht gedruckt worden ist. Hans Rudolf Vaget führt Parallelen und Berührungspunkte in den Lebensläufen Furtwänglers und Manns im Hinblick auf ihre gutbürgerliche Herkunft, ihren Münchener Wohnort, den Bezug zur Familie Pringsheim und Manns zunächst national geprägte Weltanschauung aus26. Dass Mann einen zweiten langen Brief Furtwänglers, der eben diese Gemeinsamkeiten herauszustellen suchte, in seinem Tagebuch am 8. Juli 1947 mit dem einzigen Wort 20 T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Oldenburg 1960, Bd. 12, S. 407ff. 21 Ders., Klärungen (1920), Frankfurt am Main 2002 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [in Folgenden: GkFA], Bd. 15.1), S. 294. 22 Ders., Kosmopolitismus (1925), in: GkFA, Bd. 15.1, S. 1022. 23 Ders., Schicksal und Aufgabe, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 12, S. 929. 24 Ders., Tagebücher 1946–48, S. 886f. 25 Vaget, Seelenzauber, S. 294. 26 Ebd., S. 296.

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„töricht“ abhakte, wertet Vaget als „eine ebenso lakonische wie nervöse Geste der Abwehr“.27 Allerdings war Thomas Mann dem Dirigenten auch in früheren Jahren aus dem Weg gegangen. Nachdem er Furtwängler bei zufälligen Zusammentreffen am 21. und 22. Mai 1936 in der Schweiz „ausweichend“ begegnet war, bedauerte er neun Tage später, begeistert von Rheingold, sich „mit Furtwängler neulich nicht weiter über Wagner unterhalten zu haben“.28 Beide verband tatsächlich ihre Leidenschaft für Beethoven und Wagner. Furtwängler schrieb, während er vergeblich auf eine zweite Antwort von Thomas Mann wartete, an den befreundeten Bühnenbildner Emil Preetorius: „In der „Grundeinstellung zu den hier in Frage kommenden Dingen“ seien er selbst und Mann doch „kaum voneinander verschieden“.29 Von Manns Wissen um die ähnliche mentalitätsgeschichtliche Prägung zeugt auch sein Roman Doktor Faustus. Der deutsche Kulturimperialismus und der patriotische Stolz auf Wagners weltweiten Erfolg werden zwar nicht direkt als Begründung politischer Expansionsbestrebungen herangezogen. Trotzdem findet die These der Faustus-Konzeption, die deutsche Musik habe über das kulturelle auch das politische Hegemoniestreben Deutschlands inspiriert,30 ihre Begründung. Im Roman geht es nicht nur um die deutsche Musik etwa im Vergleich mit der „blödsinnig schönen“ französischen, sondern indirekt auch um „die deutscheste der Künste“, nämlich um eine nationalsozialistisch vereinnahmte Musik im, wie Riethmüller pointiert formuliert hat, „deutschesten aller deutschen Staaten“.31 In den Ästhetiken des 19. Jahrhunderts ist die Musik im wertenden Vergleich mit den anderen Künsten immer weiter aufgestiegen, bis sie bei Schopenhauer die Spitze der Künste bildete. Die Formulierung von der „deutschesten der Künste“ wurde bereits 1846 von dem Historiker Johann Gustav Droysen geprägt. Mann, der den Ausdruck in der Entstehung des Doktor Faustus aufgegriffen hat, kannte sie womöglich auch aus Hitlers Kulturpropaganda.32 Thomas Mann hat den Weg literarischer Chiffrierungen gewählt, um mit der nationalsozialistischen Musikpolitik und ihren geistesgeschichtlichen Wurzeln abzurechnen. Teilweise geleitet von Nietzsche, der mit der Musik, „in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, Beethoven zu Wagner“ eine dionysische Macht aus dem Grunde des deutschen Geistes heraufsteigen sah,33 kehrte er im Doktor Faustus dämonische Züge der deutschen Musik hervor und verband sie mit der deutschen Hölle. Auch im Jahr 1947 war es Mann wichtiger, seinen NietzscheEssay als eine politische Stellungnahme gegen Furtwängler zu beenden. So direkt, radikal und entschieden und wie seine Kinder zeigte er sich nicht. Erika und Klaus waren von Wagner und der deutschen Musik so unabhängig, dass sie sowohl vor 27 28 29 30 31 32

Ebd. T. Mann, Tagebücher 1935–36, 21. Mai 1936; 22. Mai 1936; 31. Mai 1936, S. 305; 309. Furtwängler, Briefe, 26. Juli 1947, S. 171. Vaget, Seelenzauber, S. 234. Riethmüller, Musik, die „deutscheste Kunst, S. 97. Vgl. dazu Tim Lörke, Die Verteidigung der Kultur. Mythos und Musik als Medien der Gegenmoderne; Thomas Mann – Ferruccio Busoni – Hans Pfitzner – Hanns Eisler, Würzburg 2009, S. 43–49; 211–271. 33 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Stuttgart 2002, S. 122.

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als auch nach 1945 konsequent gegen Furtwängler argumentieren konnten. Die essayistische Beschäftigung mit Nietzsche, dem Kritiker der deutschen Musik und der romantischen Genieästhetik, ist wie der Doktor Faustus eine Form der literarischen Verarbeitung dessen, was Erika und Klaus offensiv kritisierten. Serenus Zeitblom, der Erzähler des Romans, erlebt, während er Leben und Schaffen des Komponisten Leverkühn im Rückblick beschreibt, die letzten beiden Jahre des zweiten Weltkriegs in Deutschland. Durch diese beiden Zeitebenen wird dem Leser eine Antizipation der Geschichte durch die Musik vorgeführt. So äußert sich Zeitblom: „Bei einem Volk von der Art des unsrigen ist das Seelische immer das Primäre und eigentlich Motivierende; die politische Aktion ist zweiter Ordnung, Reflex, Ausdruck, Instrument“.34 Für das Seelische und die Innerlichkeit steht in den ideologisch gefärbten Ansichten des deutschen Bürgertums seit dem 19. Jahrhundert die Musik.35 So ging Thomas Mann davon aus, dass Faust als Repräsentant der deutschen Seele musikalisch sein müsste.36 Es bleibt dem Leser überlassen, die Roman-Bemerkung: „Die Russen […] haben Tiefe, aber keine Form, die im Westen Form, aber keine Tiefe. Beides zusammen haben nur wir Deutsche“,37 auf die Musik zu beziehen. Die Kritik an der russischen Formlosigkeit hatte ihre Blüte in der Kritik am „Mächtigen Häuflein“, während die Tiefe, wie Nietzsche parodiert hat, mit großer Geste und geringer inhaltlicher Aussage auf die deutsche Musik und ihre Innerlichkeit bezogen wurde, der Leverkühns teufelspaktbedingte Gefühlskälte auffällig widerspricht. Der Teufel, eine innere Stimme Leverkühns, verheißt dämonisch: „Du wirst führen, du wirst der Zukunft den Marsch schlagen […] und dich der Barbarei erdreisten“.38 Das Wort führen ist zur Zeit des „Führers“ politisch belastet, die Formulierung „den Marsch schlagen“, geht in eine militärisch-kriegerische Richtung, so dass die Gedanken des deutenden Lesers so gelenkt werden, dass der Ausdruck Barbarei wie ein teuflischer Euphemismus der nationalsozialistischen Grausamkeiten klingt. Dieser Satz ist der entscheidende Beleg für die Interpretation, dass Leverkühn die deutsche Führungsposition der deutschen Hochkultur Musik retten möchte.39 Wie Arnold Schönberg in der Realität, der sich zum Ziel setzte, mit der Zwölftontechnik die Vorherrschaft der deutschen Musik zu retten, entwickelt Leverkühn die Kompositionstechnik einer kompletten Durchorganisation der Töne, die über die alte deutsche Tugend der Ordnung mit dem Nationalen verknüpft ist. Dabei lässt

34 T. Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Frankfurt am Main 2007 (= GkFA , Bd. 10.1), S. 447. 35 Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, Frankfurt am Main 2006, S. 347f. 36 T. Mann, Deutschland und die Deutschen, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 11, S. 1131. 37 Ders., Doktor Faustus, S. 182. 38 Ebd., S. 355. 39 Vgl. Vaget, Seelenzauber, S. 234.

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die Rede von der vollkommenen Organisation und der Entfernung alles Unthematischen40 sogar an die Judenverfolgung denken. Allerdings gelingt es einem polnisch-deutsch-jüdischen Kulturagenten (der als lächerlich geschildert und fragwürdigerweise seinerseits mit dem Bösen verbunden wird) nicht, Leverkühn dazu zu überreden, die Rolle eines musikalischen Führers à la Furtwängler zu übernehmen, was bedeutet hätte, Städte wie Venedig, Brüssel, Kopenhagen und Paris mit der Musik zu erobern. Die einzigen Worte, die seinen (deutschen) Führungswillen belegen, sind dem Teufel in den Mund gelegt, denn das Nationalistische, Hegemoniale ist Leverkühns teuflische Seite. Leverkühns ganzes Werk – man denke etwa an die letzten beiden Kompositionen, die sich einerseits auf Faust beziehungsweise Dürer und andererseits beide auf Berlioz beziehen – ist sowohl von Nationalismus und als auch von Universalismus geprägt. Es zeugt von seiner „Abneigung gegen das Deutschtum, das er als Komponist verkörpert“ und verleiht ihm Züge des späten Nietzsche.41 Leverkühns Bestreben, Beethovens neunter Sinfonie etwas entgegenzusetzen und den Nationalismus in der Musik zu überwinden, entspricht – der Logik des Romans folgend – dem Wunsch nach einer politischen Überwindung des Nationalsozialismus. Seine Kompositionen stehen für die vielversprechende Bewegung der Demokratisierung und Europäisierung der 20er Jahre.42 Die Aufführung seiner Werke wird mit eindeutig autobiographischem Hintergrund als ein „Widerspiel zur nationalistisch-wagnerisch-romantischen Reaktion, wie sie namentlich in München zu Hause war“, bezeichnet.43 Furtwängler hat 1933 schriftlich die Anweisung fixiert: „Es handelt sich darum, die deutsche Musik als die ‚europäische‘ zu erfassen“.44 Die gute Seite Leverkühns wählt eher den Weg eines „europäischen Deutschland“ als den eines „deutschen Europa“.45 So verklingt sein letztes Werk im Gegensatz zum ursprünglichen Romankonzept hoffnungsvoller als die parallel erzählte zeitgeschichtliche Entwicklung. Außerdem entspringt die Zwölftontechnik gerade nicht seiner teuflischen Ader. Denn die Zwölftontechnik entspringt gerade nicht (oder eben doch nicht) seiner teuflischen Ader. Stattdessen begründet die Atonalität eine Gegenbewegung zur Banalität des Bösen, das sich, wie Zeitblom andeutet, viel eher in den trivialen Harmonien spiegelt.46 Kurz nach Kriegsbeginn hat Furtwängler seine strikte Trennung zwischen Musik und Politik ausnahmsweise aufgehoben. „Warum Deutschland in diesem Krieg siegt? Warum sich das autoritäre System notwendig mit der Zeit durchsetzt? Es entspricht menschlichem Wesen, dass der Mensch schrankenlose oder auch allzu große Freiheit nicht verträgt. In der Kunst zeigt sich das ebenso deutlich. Reger und

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T. Mann, Doktor Faustus, S. 278 ff. Ebd., S. 240. Ebd., S. 563. Ebd. Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, S. 95. T. Mann, Doktor Faustus, S. 251. Ebd., S. 282.

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Strauss, von den Atonalen zu schweigen, stellen den Zustand dieser Freiheit dar. Sie sind schon veraltet und erledigt. Was not tut, ist eine neue Erfüllung des Gesetzes“.47

Dass er damit gewissermaßen eine Vorlage für den Doktor Faustus lieferte, ahnte er wohl genauso wenig wie Thomas Mann, dem diese Äußerung nicht bekannt war. Denn sie enthält den Gedanken des Romans, dass die Entwicklung der Musik die der politischen Geschichte antizipiere. Grundsätzlich anders als im Doktor Faustus wird dabei die Rolle der Neuen Musik interpretiert. Während Furtwängler ein autoritäres politisches System, verwirklicht durch Hitlers Diktatur, für notwendig hält, um die Freiheit zu begrenzen, die auch der Musik schade, zeigt Mann, wie sich die Musik über die Zwölftontechnik selbst neue Regeln sucht. In der politischen Entwicklung erkennt er dagegen ihre unaufhaltsame „Katastrophendynamik“.48 Wie wenig einsichtig Furtwängler auch nach dem Krieg war, geht aus einem Brief an Bruno Walter hervor, wo er seine Situation mit der der Juden vergleicht und allen Ernstes fragt: „aber ist es nicht noch viel furchtbarer, von seinem eigenen Volk in so entsetzlicher Weise unterdrückt, terrorisiert und schließlich – mit mehr oder weniger Recht – an den Pranger gestellt zu werden, wie es mit uns zurückgebliebenen Deutschen geschah?“49 Klaus Mann, der an der Heimatlosigkeit im Exil besonders gelitten hat, ist nach dem Krieg verzweifelt: „Eine Kultur die von solchen“ – und er nennt „Furtwängler, Clemens Krauss und Karajan“ neben anderen – „wiederaufgebaut würde, bliebe besser verschüttet. Denn Kultur und Kunst haben in der Tat mit Politik zu tun“.50 „Furtwänglers Funktion im Dritten Reich war eminent politisch – wie er selbst am besten wissen dürfte. Man macht nicht dreizehn Jahre lang die wirkungsvollste Kulturpropaganda für ein imperialistisches Regime, ohne sich über den Charakter des eigenen Amtes klar zu werden“.51 Musik hat mit Politik zu tun, weil sie – unabhängig von ihrer unterhaltenden und aufbauenden Funktion, die während des Krieges umso wichtiger wurde und unabhängig auch vom Glauben an die gute Wirkung von Musik zu jeder Zeit – Teil des politischen Systems und seiner Ideologie ist. Leverkühn, der im Roman die Kompositionskrise der Spätromantik erlebt und wie Schönberg den Weg zur Zwölftontechnik finden wird, komponiert sein erstes Werk zur Übung im Stil von Richard Strauss. Es erklingt „unter Ansermets Stabe“.52 Dass dieser das Stück ernster nimmt als Leverkühn selbst, ist ein Seitenhieb auf den Schweizer Dirigenten, der auch in Wirklichkeit atonale Musik mit Skepsis betrachtete. Leverkühn macht sich derweil über die kecke und konziliante Art von Strauss lustig. Er reist zwar nach Graz, um der österreichischen Premiere der Oper Salome beizuwohnen, hält deren revolutionäre Züge jedoch für überbewertet. Auf der Reise steckt Leverkühn sich bei der Prostituierten Esmeralda an der 47 Furtwängler im September 1939, in: Fred Prieberg, Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich. Wiesbaden 1986. S. 361. 48 T. Mann, Doktor Faustus, S. 438. Vgl. Vaget, Seelenzauber, S. 300. 49 Furtwängler am 22. Januar 1949, in: Briefe, S. 191f. 50 K. Mann, Auf verlorenem Posten, S. 327f. 51 Ebd., S. 326. 52 T. Mann, Doktor Faustus, S. 261.

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Syphilis an. Nun kannte Mann Oskar Panizzas Theaterstück Das Liebeskonzil von 1894. Darin wird dem Teufel von einem himmlischen Liebeskonzil aufgetragen, eine Geschlechtskrankheit zu erfinden, was der Teufel gern tut. Als Überträgerin wählt er ausgerechnet Salome. So chiffriert die Oper erstaunliche Zusammenhänge. Denn wie zur Rache an Strauss und an der deutschen Musikpolitik hat Thomas Mann den Verweis auf die Grazer Salome-Premiere mit Adrians Ansteckung an dem Bösen verbunden. Denn über die verschiedenen Bedeutungen der Salome werden der Teufel, beziehungsweise die teuflische Syphilis im Roman und Richard Strauss als Repräsentant des nationalsozialistischen Deutschlands, etwa in seiner Rolle als Präsident der Reichsmusikkammer, analogisiert. Übrigens ging Thomas Mann davon aus, dass auch Adolf Hitler, 17jährig, bei der Premiere zugegen gewesen sei.53 Die Begegnung mit der Prostituierten erwähnt Leverkühn in einem Brief, in dem er außerdem berichtet: „nur ein Gewandhaus-Konzert bis dato gehört mit Schumanns Dritter als pièce de résistance“.54 Nicht zufällig ist das Leipziger Gewandhaus der Ort, an dem 1929 Bruno Walter den Chefdirigenten Wilhelm Furtwängler abgelöst hat. Leverkühn spricht von der „Standeserhöhung“, die Musik und Musiker der Romantik verdanken würden, als wollte er gerade in dieser Situation von der Erhöhung profitieren und sich mit Schumanns dritter Sinfonie der Syphilis widersetzen. Durch diese Verknüpfung im Brief deutet Thomas Mann die romantische Genieästhetik als Voraussetzung der kompositorischen und zeitgeschichtlichen Entwicklungen im Roman an. Über den Inhalt des Teufelsgesprächs und dessen Ort Palestrina im italienischen Gebirge spielt der Roman auf den Komponisten Pfitzner an.55 Denn vom Teufelspakt verspricht Leverkühn sich übersinnliche Inspiration. Diese bildet den Inhalt von Pfitzners Oper Palestrina, die Mann noch 1918 gerade wegen ihres reaktionären, wagnerschen Stils überschwänglich gelobt hatte. Pfitzner vertrat auch in der zeitgenössischen Diskussion die Position, dass ein Künstler nicht einem mühsamen Schaffensprozess unterliege (einem solchen unterlag Thomas Mann), sondern von göttlicher Inspiration geleitet sei. Furtwängler verglich seine Stellung im Nationalsozialismus in ihrem Grad an Geschütztheit und Zwang zur Rücksichtnahme, wie Thomas Mann bemerkt hat, sogar mit der eines katholischen Kirchenfürsten.56 In seinem Sendungsbewusstsein hielt er seine göttliche Begabung für die Voraussetzung seines Wirkens und betonte die schöpferische Komponente der Aufführung, indem er sagte: „Wer nicht in sich ein Stück Beethoven, Wagner usw. hat, wer nicht in irgendeiner Weise ‚kongenial‘ ist, wird sie nie wirklich interpretieren können“.57 Die konkurrenzlose Stellung des „Orchesterführers“58 während des Kriegs und sogar darüber hinaus, die auch

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Vgl. Vaget, Seelenzauber, S. 223ff. T. Mann, Doktor Faustus, S. 209. Vgl. Vaget: Seelenzauber, S. 228ff. T. Mann, Tagebücher 1946–48, S. 887. Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, S. 145. T. Mann, Tagebücher 1946–48, S. 887.

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durch die Emigration seiner Kollegen bedingt war, schien diesen Glauben zu bestätigen. Furtwänglers ästhetische Überzeugung wurzelte wie die Pfitzners in der romantischen Genieästhetik. Leverkühn wünscht sich im Roman die „Entromantisierung der Musik“, ihre Erlösung aus „einer feierlichen Isolierung“ und aus ihrer Rolle als „Religionsersatz“.59 Damit sind schlagwortartig Ausprägungen des deutschen Musikkultes, seiner Trennung vom politischen System und seiner gleichzeitigen Verbindung mit dem Absoluten, Göttlichen genannt, wie er von Furtwängler vertreten wurde. Da dessen Selbstverständnis ihn nahezu über der nationalsozialistischen Führung schweben ließ, sorgte Klaus Mann für klärende Worte: „selbst wenn Kunst und Politik in der Tat nichts miteinander zu tun hätten – wie steht es um den Künstler? Er ist doch wohl nicht ein Bündel schöpferischer Energien, nicht ausschließlich das Werkzeug göttlicher Inspiration; unter anderem ist er auch Mensch und Bürger. […] Und wenn ein begabter oder gar genialer Künstler mit politischen Gangstern gemeinsame Sache macht – das sollte ihm einfach durchgehen? Dürfen kulturelle Führer und Repräsentanten sich ungestraft dem Todfeind der Kultur verbünden?“60

Im März 1954, acht Monate bevor Furtwängler starb, äußerte sich Thomas Mann über Pablo Casals. Der Cellist sei zum Symbol eines Künstlertums geworden, „das unverführbar auf sich hält, zum Symbol unerschütterlicher Einheit von Kunst und Moralität“61. Viele Jahre nach der Erfahrung des Auseinanderklaffens von Kunst und Moral in Furtwänglers Wirken schwebt Thomas Mann diese Einheit weiter als Ideal vor.

59 Ders., Doktor Faustus, S. 468f. 60 K. Mann, Auf verlorenem Posten, S. 324f. 61 T. Mann, Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 10, S. 826.

Paktieren mit Joseph Goebbels von JOHANNES HELLMANN

„[Es] steht heute jeder Deutsche, der eine Stellung innehat, vor der Frage, ob er dieselbe behalten und durchführen will oder nicht. Im Bejahungs-Fall muß er mit der herrschenden Partei irgendwie praktisch paktieren. Oder aber, er will ausscheiden, dann ist es etwas anderes“.1 Dies schrieb Wilhelm Furtwängler an seinen ehemaligen Lehrer und Freund Ludwig Curtius im September 1934, zu einem Zeitpunkt also, als sich der Dirigent noch nicht entschieden hatte, ob er „ausscheiden“ wollte und Deutschland, sein Land, verlassen würde, wie dem Brief weiterhin zu entnehmen ist: „In kurzem wird es sich zeigen, ob ich in Deutschland werde bleiben können. Immerhin bin ich mir bewusst, was ich tue, und dass die Möglichkeit eines Abschieds von Deutschland für immer besteht – auch für mich“.2 Furtwängler war sich also (schon) im zweiten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft der Lage der Dinge voll bewusst – einschließlich der möglichen Optionen, die sich für ihn persönlich daraus ergaben. Es ist allgemein bekannt und unbestritten, dass sich Furtwängler für die erste Option entschieden hat: Erst kurz vor Kriegsende, im Februar 1945, hat er sich endgültig in die Schweiz abgesetzt. Umstritten ist dagegen bis heute die Frage, inwieweit er „irgendwie praktisch paktierte“. Bei der Bewertung seines Wirkens in Deutschland zwischen 1933 und 1945 reicht das Spektrum von der Darstellung eines Widerständlers gegen das Regime3 über die Meinung, es sei eine Kraftprobe eines Politisch-Naiven mit den Machthabern gewesen,4 bis hin zu der Schlussfolgerung: „Alle anderen Mitläufer wollten nur mitlaufen mit den übrigen Volksgenossen und ungestört musizieren. Allein Wilhelm Furtwängler strebte als Mitläufer danach, im Nationalsozialismus mit Beethoven, Wagner und Brahms die innere Führung zu übernehmen“.5 Während Curt Riess sich in seiner Darstellung vor allem auf Furtwänglers nach 1945 getätigte Aussagen als „Quellen“ stützt, die allein dazu dienen sollten, sich zu rehabilitieren, weist Prieberg eine nie dagewesene Fülle an Quellen bzw. Archivmaterial auf – freilich oft mit einseitiger, apologetischer

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Wilhelm Furtwängler, Briefe, Wiesbaden 1946. S. 77. Ebd. Curt Riess, Furtwängler. Musik und Politik, Bern 1953. Fred Prieberg, Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986. Eberhard Straub, Die Furtwänglers, München 2007, S. 238.

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Ausdeutung der Zusammenhänge. Eberhard Straubs gegensätzliche Urteile wiederum sind oft polemisch zugespitzt. Es ist daher angebracht, Furtwänglers „Paktieren“ im Dritten Reich weiterhin kritisch zu untersuchen. Die Grundlage eines Paktes bzw. Vertrages ist es schließlich, dass an diesem mindestens zwei Seiten beteiligt sind, die diesen zur Steigerung des jeweiligen eigenen Nutzens eingehen. Er beruht dabei auf dem Prinzip des Gebens und Nehmens, sprich: ohne Leistung keine Gegenleistung. So etwas wie ein Hauptvertragspartner von Wilhelm Furtwängler zwischen 1933 und 1945 war der Propagandaminister Joseph Goebbels. Dabei soll nicht übergangen werden, dass sich Furtwängler in den Anfangsjahren der nationalsozialistischen Herrschaft für zahlreiche in Not befindliche Künstler einsetzte. Blickt man jedoch den Tatsachen gerade in den Jahren 1942 bis 1944 ins Auge, so lässt sich das Bild des selbstlosen Altruisten oder gar des Widerständlers nicht aufrechterhalten. Zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft versuchte Furtwängler zweimal mit öffentlichen Protesten idealistisch gegen die nationalsozialistische Politik vorzugehen. Das erste Mal trat er im April 1933, also bevor er die eingangs zitierten Zeilen an Ludwig Curtius schrieb, in einem Brief an Joseph Goebbels dafür ein, dass Juden (sofern sie „wirkliche Künstler“ seien) weiter in Deutschland auftreten sollten.6 Die Antwort samt Furtwänglers Brief ließ Goebbels in allen Zeitungen abdrucken; in ihr ließ er keinen Zweifel daran, dass nicht die Trennung zwischen guter und schlechter Kunst allein entscheidend sei, wie es Furtwängler gefordert hatte, sondern dass gemäß der NS-Rassenideologie jüdische Musiker nicht zum Musikleben gehörten. Propagandistisch ausgedrückt liest sich das vermeintlich positiv: „Künstler, die wirklich etwas können, und deren außerhalb der Kunst liegendes Wirken nicht gegen die elementaren Normen von Staat, Politik und Gesellschaft verstößt, werden wie immer in der Vergangenheit so auch in der Zukunft bei uns wärmste Förderung und Unterstützung finden“.7 Damit war Furtwängler mit seinem Protest auf dem Gebiet der Rassenideologie gescheitert. Das zweite Mal setzte sich Furtwängler für den Komponisten Paul Hindemith und seine Oper „Mathis der Maler“, die er gerne aufführen wollte, ebenfalls mit einer offenen Stellungnahme ein.8 Hindemith galt den Ideologen als „Bannerträger des Verfalls“, und sowohl seine Opernstoffe als auch seine Musiksprache war unter ihnen stark umstritten. Dieses Mal ging Furtwängler mit seiner Kritik an der herrschenden Kulturpolitik den Machthabern zu weit und sie erwirkten, dass er seine Ämter, das des Vizepräsidenten der Reichsmusikkammer (RMK) und das des Leiters des Berliner Philharmonischen Orchesters sowie seine Dirigierverpflichtungen an der Berliner Staatsoper am 4. Dezember 1934 niederlegte. Nun hatte Furtwängler auch auf dem Gebiet der Kunstideologie den Kürzeren gezogen und dabei noch seine Ämter verloren. Dies wäre ein Zeitpunkt gewesen, an dem die Wahl hätte leicht fallen können, sich endgültig gegen ein Paktieren zu entscheiden, doch stattdessen kämpfte er für 6 7 8

Furtwängler, Sehr geehrter Herr Reichsminister!, in: Vossische Zeitung vom 11. April 1933 Joseph Goebbels, Sehr geehrter Herr Generalmusikdirektor!, in: Berliner Lokalanzeiger vom 11. April 1933. Furtwängler, Der Fall Hindemith, in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 25. November 1934.

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seine Rückkehr. Auch wenn er immer behauptete, er hätte sein Orchester nicht im Stich lassen können, lag der Grund eher darin, dass er nicht ohne sein Orchester und sein ihn verehrendes deutsches Publikum auskommen wollte. Darum hat er „sich genaugenommen im Februar [1935] durch seinen jämmerlichen Kniefall vor Hitler und dem Regime gedemütigt“.9 Es folgte darauf eine schnelle Rehabilitierung Furtwänglers durch die Machthaber. Denn diese bemerkten nun ebenfalls, dass Sie nur schwer auf ihn verzichten konnten: Die Zahl der erstklassigen Dirigenten war durch die eigens erwirkten „Säuberungen des Musiklebens“ sehr geschrumpft. Hinzu kam, dass die öffentliche Meinung auf der Seite Furtwänglers zu sein schien. Die Abonnentenzahlen der Philharmonischen Konzerte brachen infolge des Rücktritts dramatisch ein. Das brachte die Berliner Philharmoniker, die zu dieser Zeit schon als „Reichsorchester“ dem Propagandaministerium unterstanden, auch in finanzielle Not. Diese gegenseitige Abhängigkeit war der Ausgangspunkt für das gemeinsame Paktieren. Schon am 1. März 1935 konnte Goebbels verkünden lassen, Furtwängler „bedauere die Folgen und Folgerungen politischer Art, die an seinen Artikel geknüpft worden seien, um so mehr, als ihm völlig ferngelegen habe, durch diesen Artikel in die Leitung der Reichskunstpolitik einzugreifen, die auch nach seiner Auffassung selbstverständlich allein vom Führer und Reichskanzler und dem von ihm bestimmten Fachminister bestimmt würde“.10 Die Machthaber teilten Furtwängler und auch der Öffentlichkeit eindeutig mit, dass sie die Konditionen der Rehabilitierung und der Zukunft festlegen. Entsprechend propagandistisch ausgeschlachtet wurde auch die erste Konzertserie nach der Rehabilitierung. Nachdem die ersten beiden Konzerte mit überschwänglichsten Ovationen für Furtwängler einhergingen, ließ es sich die Regierungsspitze mit Adolf Hitler, Ministerpräsident Hermann Göring und Propagandaminister Goebbels nicht nehmen, dem dritten Konzert in der ersten Reihe sitzend zu lauschen und sich mit Furtwängler gemeinsam feiern zu lassen.11 Zu Furtwänglers Entlastung wird oft vorgebracht, er habe nach seinem Rücktritt von sämtlichen Posten im Dezember 1934 während des Nazi-Regimes keine feste Position mehr übernommen. Vernachlässigt wird dabei jedoch, dass er auch ohne „offizielle“ Ämter fester Bestandteil und somit wichtiges Aushängeschild des durch die Machthaber gelenkten deutschen Musiklebens war. Diese versuchten dabei, seinen propagandistischen Wert für ihre Innen- und Außendarstellung zu nutzen, und er bediente sich ihres politischen Einflusses zur Verfolgung seiner Ziele. Diese waren keineswegs allein, wie Furtwängler nach dem Krieg glauben machen wollte, dem deutschen Musikleben in der Krise beizustehen, sondern zunehmend persönlicher Natur. Aufgrund seiner Erfahrungen äußerte er sich nach 1935 nicht mehr in öffentlichen Stellungnahmen. Dagegen pflegte er einen ergiebigen Kontakt zu Goebbels, schrieb ihm Briefe sowie Denkschriften und traf sich mit ihm regelmäßig zu persönlichen Aussprachen. Recht gut dokumentiert hat Goebbels diese 9 Misha Aster, Das Reichsorchester, München 2007, S. 78. 10 Eine Erklärung Dr. Furtwänglers, in: Völkischer Beobachter vom 1. März 1935. Zitiert nach: Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945 (CD-ROM), 2004, S. 1791. 11 Ebd., S. 1795.

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Beziehung in seinen Tagebüchern. Auch wenn diese sicher nicht frei von propagandistischer Absicht sind, so zeigen sie dennoch aufschlussreich, dass Furtwängler ihm gegenüber auch rein persönliche Anliegen vorbrachte, wenn es etwa darum ging, Konkurrenten auszuschalten. Häufig suchte Furtwängler in dem Propagandaminister einen Partner für seinen Kampf gegen den aufstrebenden Star Herbert von Karajan. So notiert Goebbels im Dezember 1942: „Ein neuer Konflikt bahnt sich zwischen Furtwängler und Karajan an. Furtwängler ist in der Behandlung Karajans außerordentlich kurzsichtig und kleinlich, obwohl er das gar nicht nötig hätte. Bei Furtwängler handelt es sich um eine sehr eigenwillige und starrköpfige Persönlichkeit. Er nimmt gern die Machtmittel des Nationalsozialistischen Staates für sich selbst in Anspruch, wenn sie ihm dienen können. Ich bin aber nicht in der Lage, zuzulassen, dass ein so großes Nachwuchstalent wie Karajan durch die etwas rigorosen Methoden Furtwänglers mundtot gemacht wird“.12

Aufschlussreich in diesem Ausschnitt ist nicht zuletzt Goebbels’ Vorwurf an Furtwängler, das Regime für seine persönlichen Ziele zu nutzen. In dem angesprochenen Konflikt ging es darum, dass Furtwängler verhindern wollte, dass Karajan und die Staatskapelle Berlin mit ihrer Konzertreihe auch nach Wiedererrichtung der zerstörten Staatsoper unter den Linden weiterhin in der Philharmonie auftraten. Diese sah Furtwängler vielmehr für seine Philharmoniker und sich selbst reserviert, und es passte ihm nicht, das Podium in diesem Haus mit Karajan zu teilen. Interessant dabei ist, dass es sich Furtwängler dagegen nicht nehmen ließ, in jenen Tagen am 12. Dezember 1942 anlässlich der feierlichen Wiedereröffnung in der Staatsoper eine Aufführung von Wagners Meistersingern zu leiten.13 Furtwänglers leistete dem Musikleben also Beistand, indem er bestimmte, wer wo dirigieren darf beziehungsweise wer wie neben ihm (nicht) bestehen durfte. Er wollte sich auch das Recht vorbehalten, selbst zu entscheiden, wann und wo er als Dirigent in Erscheinung trat. Ungern nur sah er es (im Gegensatz zu anderen Dirigenten wie etwa Hans Knappertsbusch), wenn er allzu offensichtlich propagandistisch vom NS-Regime ausgenutzt wurde. Nachdem er am 19. April 1942, dem Vorabend von Hitlers Geburtstag, ein Konzert dirigiert hatte, was Goebbels natürlich weidlich für seine Zwecke ausnutzte, versuchte Furtwängler, sich in den kommenden Jahren davor zu drücken. Als Absagegrund mussten stets ernsthafte Krankheiten herhalten. Ebenso verhielt es sich mit Konzertreisen der Berliner Philharmoniker in besetzte Gebiete. Furtwängler versuchte diese tunlichst zu vermeiden; womöglich um seinen schon angekratzten Ruf im Ausland nicht zu verschlechtern, denn immer wieder gab es bei Konzerten etwa in den neutralen Staaten wie Schweden und der Schweiz Proteste gegen ihn, worüber er sich Goebbels gegenüber häufig beschwerte.14 Eine Ausnahme machte Furtwängler für eine sogenannte 12 Goebbels, Die Tagebücher, hg. von E. Fröhlich, München 1993–2000, Teil 2, Bd. 6, S. 457f. (17. Dezember 1942). 13 Rene Trémine, Wilhelm Furtwängler. Concert Listing 1906–1954, Bezons 1997, S. 54. 14 Vgl. Goebbels, Tagebücher, II.11, S. 82 (13. Januar 1944).

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Nordland-Tournee mit den Wiener Philharmonikern im Mai 1943, die neben Schweden auch in das besetzte Dänemark führte. Kaum von dieser Reise zurückgekehrt, schickte er, wohl in der Hoffnung auf eine Gegenleistung für seine Tournee, einen Brief an Goebbels, in dem er noch einmal ausführlich zu seinem Problem mit Karajan Stellung nimmt.15 Prompt bekam Furtwängler einen Termin bei Goebbels. Dieser berichtet darüber: „Ich habe eine ausführliche Aussprache mit Wilhelm Furtwängler. Er ist sehr krank gewesen [Der Termin von Hitlers Geburtstag lag kurz vor der Tournee...] und macht auch jetzt noch einen ziemlich leidenden Eindruck. Trotzdem kann er es nicht lassen, sich mit dem jungen Dirigenten Karajan an allen Ecken und Enden zu reiben. Ich werde versuchen, zwischen beiden eine Einigung herbeizuführen. Unter allen Umständen möchte ich Karajan neben Furtwängler oder hinter Furtwängler in Berlin halten. Allerdings kann natürlich Karajan mit Furtwängler als Persönlichkeit überhaupt nicht verglichen werden. Furtwängler teilt mir mit, daß er erneut heiraten will. Er hat eine Reihe von Familiensorgen. Ich werde ihm bei ihrer Überwindung behilflich sein“.16

Wieder einmal versuchte Furtwängler also, für seine persönlichen Vorteile zu kämpfen. Goebbels scheint fast Mitleid mit ihm zu haben. Bemerkenswert ist aber vor allem, dass Furtwängler den Minister selbst für seine familiären Sorgen um Hilfe bittet. Der Hintergrund: Furtwängler musste, bevor er wieder heiraten konnte, noch die Scheidung von seiner ersten Frau Zitla inklusive der damit verbundenen Unterhaltsregelungen über die Bühne bringen, die sich nicht ganz einfach gestalteten, weil Zitla in der Schweiz lebte.17 Es stellt sich natürlich die Frage, warum sich Goebbels so gönnerhaft zeigt. Die Erklärung gibt er selbst in einem Tagebucheintrag eine gute Woche später: „Furtwängler ist einer der stärksten Aktivposten in unserer ganzen Kulturpolitik“.18 Und Ende Juni weiß Goebbels zu berichten: „Furtwängler heiratet in den nächsten Tagen. Der Führer will ihm ein Haus zum Geschenk machen. Furtwängler steht bei ihm außerordentlich hoch im Kurs; er hält ihn für den ersten Musiker der Nation“.19 Eine gängige Strategie der Apologeten Furtwänglers ist es zu erklären, er habe sich nur zum Schein mit den Machthabern eingelassen, um auf diese Weise besser von innen gegen das Regime ankämpfen zu können. Übersehen wird dabei jedoch, dass die Machthaber in Berechnung handelten: Wenn Furtwängler es ihnen nicht wert gewesen wäre und er es nicht in angemessener Form zurückgezahlt hätte, wäre er sicherlich nicht in dieser Weise hofiert worden.

15 Peter Muck, 100 Jahre Berliner Philharmoniker, Tutzing 1982, Bd. 2, S. 172f. Vgl. auch Prieberg, Handbuch, S. 1852. 16 Goebbels, Tagebücher, II.8, S. 386f. (29. Mai 1943). 17 Prieberg, Kraftprobe, S. 391. 18 Goebbels, Tagebücher, II.8, S. 448f. (09. Juni 1943). 19 Ebd., II.2, S. 536 (25. Juni 1943).

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*** Aus einem Tagebucheintrag von Goebbels aus dem Januar 1944 wird deutlich, wie unterschiedlich die Meinung des Ministers über Furtwängler und Richard Strauss ausfiel: „Ich bekomme Besuch von Furtwängler. Furtwängler berichtet mir über seine Erfahrungen mit Schweden. Die schwedische Presse hat sich ihm gegenüber geradezu ordinär benommen. Aber Furtwängler ist ihr die Antwort nicht schuldig geblieben. Ich stelle bei Furtwängler mit großer Freude fest, dass er, je schlechter es uns geht, sich umso enger an unser Regime anschließt, sehr im Gegensatz zu Richard Strauss, der sich früher in Devotionserklärungen nicht genug tun konnte und heute eine Sprache spricht, die geradezu volksgerichtsreif ist. Ich will zwar nichts gegen Strauss mit seinen 80 Jahren unternehmen, aber er erweist sich nur als der Charakter, als den ich ihn immer erkannt habe. Er enttäuscht mich in keiner Weise“.20

Während Goebbels mit Furtwänglers Wandlung sehr zufrieden ist – er scheint sich immer kooperativer verhalten zu haben –, ist Richard Strauss Anfang 1944 in Ungnade gefallen. Dieser hatte in eigener Selbstüberschätzung zu verhindern versucht, dass das Reichsleistungsgesetz und die damit einhergehende „Verordnung zur Wohnraumversorgung der luftkriegsbetroffenen Bevölkerung“ auch auf sein Anwesen in Garmisch-Partenkirchen angewandt wurde. Er weigerte sich nämlich, der Anweisung des dortigen Gauleiters Paul Giesler zu folgen und Ausgebombte in seiner Villa in Garmisch-Partenkirchen aufzunehmen. Auch Strauss besaß ausgezeichnete Kontakte in höchste politische Kreise, etwa zu Reichswirtschaftsminister Funk, zu dem Generalgouverneur der Region Krakau Hans Frank (dem „Polenschlächter“) und auch zu Reichsleiter Baldur von Schirach in Wien, und versuchte nun, diese in seinem Sinne einzusetzen. So konnte ihm der Leiter der Musikabteilung des Propagandaministeriums Heinz Drewes noch Ende Dezember 1943 mitteilen, „dass auf Ihr Haus nur zurückgegriffen werden soll, wenn es unumgänglich notwendig wäre. [...] ich glaube aber, dass vorläufig die Angelegenheit zurückgestellt worden ist“.21 Doch wendet sich das Blatt dann doch gegen Strauss, denn dieser trieb es wohl zu heftig mit seiner Forderung nach Privilegien in Zeiten des „totalen Kriegs“. Was Goebbels in seinem Tagebuch mit „volksgerichtsreifer Sprache“ meinte, wird aus einem Schreiben Martin Bormanns vom 4. Januar 1944 deutlich: „Dr. Richard Strauss hat es verstanden sich allen Anforderungen, die man wegen der Unterbringung von Bombengeschädigten und Evakuierten an ihn stellte, zu entziehen. Auf den Hinweis, heute müsse Jeder Opfer bringen, der Soldat an der Front setze sogar ständig sein Leben ein, antwortete er, das gehe ihn nichts an, für ihn brauche kein Soldat zu kämpfen. Er lehnte sogar die höflich vorgebrachte Bitte des Kreisleiters, wenigstens zwei Räume des Nebenhauses zwei alleinstehenden Ingenieuren eines Rüstungsbetriebes zur Verfügung zu stellen, rundweg ab. Die ganze Angelegenheit wird in der Garmischer Bevölkerung lebhaft besprochen und der

20 Ders., Die Tagebücher, II.11, S. 82 (13. Januar 1944). 21 Heinz Drewes an Richard Strauss vom 23. Dezember 1943. Bundesarchiv (im Folgenden: BArch), RKK, Namensakte Strauss o. S. Zitiert nach: Prieberg, Handbuch, S. 7008.

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gebührenden Kritik unterzogen. Der Führer, dem die Sache vorgetragen wurde, entschied, das gesamte zum Anwesen des Dr. Richard Strauss gehörende Nebenhaus sei sofort zur Unterbringung Bombengeschädigter und Evakuierter zu beschlagnahmen. Ausserdem wünscht der Führer, dass führende Persönlichkeiten der Partei, die bisher mit Dr. Richard Strauss persönlichen Verkehr unterhalten haben, diesen alsbald einstellen“.22

Damit war ein Urteil gefällt, wenn auch ein vermeintlich harmloses im Vergleich zu den üblichen Methoden der NS-Machthaber. Diese Begebenheit hätte wahrscheinlich keine weiteren Kreise gezogen, wenn nicht im Juni des Jahres 1944 der 80. Geburtstag von Richard Strauss angestanden hätte. Sämtliche Kulturzentren planten zu diesem Zeitpunkt schon Feierlichkeiten zu Ehren des bekanntesten, noch lebenden deutschen Komponisten. Verständlich, dass diese nun nicht wussten, wie sie mit dieser Anordnung umgehen sollten. Es gab aber auch Kreise, zu denen etwa Baldur von Schirach gehörte, die trotzdem gerne die geplanten Feierlichkeiten durchführen und an ihnen teilhaben wollten. Damit hatte Goebbels als Propagandaminister ein kulturpolitisches Problem und brachte dieses in einer Unterredung mit Hitler zur Sprache, wie aus folgender Tagebuchnotiz hervorgeht: „Wir reden dann noch über einige Kulturfragen. Das Urteil des Führers über Richard Strauß ist gefällt. Er will zwar nach meinem Vorschlag nicht, dass die Werke von Richard Strauß eine Beeinträchtigung erfahren, aber der Kontakt führender Nationalsozialisten mit seiner Person muß unterbunden werden. Der Führer lässt sich dabei sehr kritisch über die Handlungsweise Schirachs aus, der auch in diesem Punkte wieder ganz unnationalsozialistische Kulturpolitik und Haltung bewiesen hat. Lobend erwähnt der Führer demgegenüber Furtwängler. Dieser hat sich großartig gemacht, und der Führer gibt mir den Auftrag, ihm das ausdrücklich zu bestätigen und hinzuzufügen, dass wir ihm das in Zukunft niemals vergessen werden“.23

Wieder einmal kommt Furtwängler, nun sogar im Vergleich zu einem politischen Funktionsträger, ausgesprochen gut weg. Doch auch der Ärger über Strauss schien mit der Dauer zu verrauchen. Anfang März notierte Goebbels über eine Unterredung mit Hitler: „Wir besprechen dann noch Fragen der Kulturpolitik von minderer Bedeutung. Der Führer will nicht, dass Richard Strauss Unbill angetan wird. Er hat sich nur sehr über ihn geärgert, dass er sich in der Frage der Aufnahme von Evakuierten so schofel benommen hat. Trotzdem sollen seine Werke ungehindert aufgeführt werden. Große Hochachtung bringt der Führer Furtwängler entgegen. Er hat sich in nationalen Fragen tadellos benommen; das werden wir ihm nach dem Kriege nicht vergessen. Der Führer hat auch angeordnet, dass ihm ein Bunker gebaut wird. Es wäre für ihn, so sagt er, eine schreckliche Vorstellung, dass Furtwängler einem Bombenangriff zum Opfer fallen könnte“.24

22 Vertraulich! Bekanntgabe 16/44 der Leiter der Parteikanzlei M. Bormann an die Reichsleiter, Gauleiter und Verbändeführer, 24. Januar 1944; zitiert nach Prieberg, Handbuch, S. 7011. 23 Goebbels, Tagebücher, II.11, S. 169 (25. Januar 1944). 24 Ebd., S. 407 (4. März 1944).

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Diese Lobeshymnen über Furtwängler kommen nicht ohne Grund. Hat dieser doch am 12. Februar 1944 für geladene Gäste des Propagandaministeriums ein Konzert mit den Berliner Philharmonikern dirigiert25, über das Goebbels voller Zufriedenheit in seinem Tagebuch notiert: „Nachmittags findet im Berliner Dom eine Wiederholung des letzten Furtwängler-Konzerts statt, die ich besuche. Der Dom ist von Berliner Bombengeschädigten überfüllt und bietet ein festliches Bild. Leider ist die Akustik nicht besonders gut; Furtwängler reißt die Philharmoniker zu unvergleichlichen Leistungen empor. Es wird ein Concerto grosso von Händel, die Es-DurSinfonie von Mozart und die fünfte Beethovensche gegeben. Furtwängler ist, seit ich ihn das letzte Mal hörte, noch mehr gereift. Insbesondere seine Wiedergabe der Fünften von Beethoven ist von einer unvergleichlichen Meisterschaft. Das Publikum ist aufs tiefste ergriffen“.26

Nicht zuletzt spiegelt sich in diesem Ausschnitt Goebbels große Wertschätzung für Furtwängler als Dirigenten bzw. die Wirkung wider, die dieser beim Publikum erzeugt. Furtwängler als Dirigent, der mit seiner Musik die Menschen „aufs tiefste ergriffen“ macht. Eine Formulierung, die Goebbels wiederholt für Furtwänglers Konzerte benutzt.27 Was kann sich ein Propagandaminister besseres wünschen, als ein durch Musik selig gemachtes (man könnte auch sagen manipuliertes) Volk. Dies war auch genau die Absicht, die Goebbels mit diesem Konzert hatte, wenn er im Vorhinein schreibt, dass er sich davon eine „gewisse psychologische Wirkung“ verspreche.28 Ein weiteres propagandistisch wertvolles Konzert der Berliner Philharmoniker vor geladenen Gästen leitete Furtwängler im März 1944 anlässlich des fünfjährigen Bestehens des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“ auf der Prager Burg. Veranstaltet wurde dieses Konzert durch den dortigen Reichsprotektor, Reichsminister Frick.29 Goebbels war begeistert und empfing Furtwängler Ende März: „Ich habe mittags eine längere Unterredung mit Furtwängler. Furtwängler zeigt sich dabei wieder von der besten Seite. Er ist ein aufrechter Patriot und warmherziger Anhänger und Verfechter unserer Politik und Kriegführung. Man braucht ihm heute nur einen Wunsch zur Kenntnis zu bringen, und er erfüllt ihn gleich. Leider ist er etwas kränklich, und ich muss ihn deshalb bitten, seine Tätigkeit etwas einzuschränken. Es ist mir lieber, er tritt nur bei den wichtigsten Gelegenheiten auf und bleibt uns dabei noch viele Jahre erhalten, als dass er sich überarbeitet und dann eines Tages einen Zusammenbruch erleidet“.30

In diesen Tagen ließ sich Furtwängler dann auch ein Attest ausstellen, dass er in nächster Zeit nicht dirigieren könne.31 Die Krankheit kam zur rechten Zeit, denn es stand wieder einmal das Geburtstagskonzert für Hitler an. Es ist anzunehmen, dass

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Muck, 100 Jahre Berliner Philharmoniker, Tutzing 1982, Bd. 3, S. 309. Goebbels, Tagebücher, II.11, S. 291 (13. Februar 1944). Vgl. ebd., II.4, S. 135 (20. April 1942). Ebd., II.11, S. 279 (11. Februar 1944). Prieberg, Handbuch, S.1856. Goebbels, Tagebücher, II.11. S. 541 (24. März 1944). Prieberg, Handbuch, S. 1857.

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Furtwängler Goebbels in der Unterredung schon dafür abgesagt hat, was dieser dem Tagebucheintrag zufolge jedoch zu verschmerzen schien. Furtwängler zog sich nach Achleiten im Kremstal nahe Linz zurück, wo er seit November 1943 mit seiner zweiten Frau und deren Kindern aus erster Ehe eine Etage des dortigen Schlosses bewohnte und sich nun fern vom bombenbedrohten Berlin von seiner „Krankheit“ erholte. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, sich in den Fall Strauss einzumischen. Vielmehr schien er, gerade weil er fortgegangen war, das Bedürfnis verspürt zu haben, Goebbels mit einem kulturpolitischen Rat beiseite zu stehen und verfasste am 26. April 1944 einen Brief an den Propagandaminister: „Sehr geehrter Herr Minister, gestatten Sie, dass ich einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehme. Ich habe Kenntnis erhalten von den Einzelheiten des Falles R i c h a r d S t r a u s s. F ü r [Gesperrt im Original!] Richard Straus mich einzusetzen, habe ich persönlich gewiss den allerwenigsten Grund. Abgesehen von den Erfahrungen, die ich selber im Laufe der Jahre mit ihm gemacht habe, kenne ich zu genau seinen [rück-]sichtslos-egozentrischen Charakter. Die Rechtfertigungsvers[uche,] die mir über diesen Fall zugänglich gemacht wurden, kann ich ebenfalls nicht allzu viel Gewicht beimessen – wenn ich auch andererseits gelegentliche gereizte Äußerungen eines nervösen Künstlers nicht allzuschwer nehmen möchte“.32

Ohne seine Quelle zu nennen, scheint also Furtwängler über den Fall Strauss informiert worden zu sein, um sich dann persönlich von Strauss zu distanzieren. Wie dem weiteren Briefverlauf zu entnehmen ist, geht es Furtwängler nicht um die Person Strauss, sondern um dessen Ruf als Komponist: „Aber auf eine andere Seite der Angelegenheit möchte ich, sehr verehrter Minister, Ihre Aufmerksamkeit lenken. Richard Strauss ist für jeden ernsthaften Musiker nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen musikalischen Welt (also auch in Frankreich, England, Amerika, Japan usw.) heute der grösste lebende Komponist. Er ist dies so unbedingt und ohne jeden Zweifel, (weit mehr als Strawinsky) dass darüber kaum ein Wort verloren zu werden braucht. Ich selber stehe seiner Kunst unterschiedlich und zum Teil sehr distanziert gegenüber, was mich aber nicht hindert, diese allgemeine Wertung rückhaltlos anzuerkennen“.33

Abgesehen davon, dass sich Furtwängler zum Ende dieses Abschnittes ein zweites Mal persönlich von Strauss distanziert, ist die Aufzählung der „musikalischen Welt“ bemerkenswert. Das „bolschewistische“ Russland, ja der gesamte slawische Raum fehlt. Damit kommt Furtwängler zu seiner Hauptsorge: „Wenn es nun bekannt wird, dass tatsächlich infolge [Seite 2:] von Differenzen – welcher Art immer – Strauss in seinem Heimatland Deutschland, das sich mit Recht das Land der Musik nennt, boykottiert wird, wenn Strauss-Opern von Theatern abgesetzt werden und zu seinem 80. Geburtstag in Deutschland keine Feiern stattfinden und er bei dieser Gelegenheit offiziell nicht begrüßt werden darf, so wird er dadurch in den Augen der ganzen Welt zu einer Art „Märtyrer“ gemacht. Ich möchte glauben, dass dies nicht im Interesse der Regierung sein kann. Zumal

32 BArch, R 55/20574 (Künstler mit den Anfangsbuchstaben Q–Z), Bl. 275–276. 33 Ebd.

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Johannes Hellmann in Feindesland wird man das Ganze sicher aufbauschen und vielleicht sogar in wenig angenehmer Weise ins Lächerliche ziehen“.34

Ideologisch ganz im Reinen war Furtwängler mit den Nationalsozialisten in der Ansicht, dass bezogen auf die Künste nichts typischer deutsch sei als die Musik. Eine Ansicht, die er auch 1937 in einem Aufsatz mit dem Titel Die Frage nach dem Deutschen in der Kunst35 vertrat. Dass die Musik aus seiner Sicht ein berechtigtes Weltmachtstreben aufweist, führte er dabei ebenfalls aus: „Man kann sagen, nichts spezifisch Deutsches ist jemals so schnell übernational, jemals so schnell gesamteuropäisch geworden, wie diese Klassische Musik. Wie sehr sie zugleich ureigenes Gewächs ist, sieht man daraus, dass sogar ihre Formen, sowohl die ‚Fuge‘ wie die ‚Sonate‘ – die herrschenden Formen absoluter Musik überhaupt – von Deutschen erfunden (soweit sich lebendige Formen ‚erfinden‘ lassen) zur Entfaltung und zur höchsten Blüte gebracht wurden (was nicht im Widerspruch dazu steht, dass gewisse Anfänge und Ansätze, z. B. die der Fuge auch in den Niederlanden, zu finden waren)“.36

Es erübrigt sich zu erwähnen, dass dieser Annahme ein ideologisch verengtes (Musik-)Geschichtsbewusstsein zugrunde liegt. Als gäbe es keinen Weltkrieg mit Bombardements und Massenmord, als sei der Ruf der vermeintlichen Kulturnation nicht schon ruiniert, beschreibt Furtwängler seine Sorge, Strauss könnte im Ausland als jemand gelten, der für seine guten Überzeugungen Verfolgung auf sich nimmt. Was Furtwängler daran beunruhigte, war, dass es nicht zuletzt auch ihn in ein schlechteres Licht hätte rücken können. Wie er ein drittes Mal betont, geht es ihm in dieser Angelegenheit nicht um Strauss, sondern um die allgemeine Kulturpolitik. So weist der Schluss noch einmal eine schön formulierte Treuebekundung auf. „Wie schon gesagt, ich möchte in diesem Fall nicht für Strauss’ Sache eintreten. Wäre es aus kultur-propagandistischen Gründen nicht möglich, die ganze Differenz – mag sie sachlich noch so berechtigt sein – nur persönlich, nicht aber sozusagen „offiziell“ zur Kenntnis zu nehmen? Sollte ich mit diesen Äusserungen Erwägungen angestellt haben, die Sie, sehr verehrter Herr Minister, schon gemacht und über die Sie resp. der Führer schon einen Entschluss gefasst haben, so bitte ich, diese Zeilen als ungeschrieben zu betrachten. Sie entsprangen lediglich meiner Sorge, einen vielleicht überflüssigen Anlass zur Herabsetzung unserer Kulturpolitik vermeiden zu helfen. Mit den besten Empfehlungen und Heil Hitler! verbleibe ich Ihr ganz ergebener Wilhelm Furtwängler“.37

Überraschenderweise wird dieses Schreiben in der Literatur allgemein als Hilfestellung für Richard Strauss gewertet. Interessant ist jedoch, dass erstmals Oliver 34 Ebd. 35 Furtwängler, Die Frage nach dem Deutschen in der Kunst, in: Vermächtnis. Nachgelassene Schriften, Wiesbaden 1956, S. 88–96. Wie Chris Walton bemerkt hat, ist dieser Abdruck eine vom NS-Vokabular gesäuberte Ausgabe des ursprünglichen Textes von 1937. Vgl. Chris Walton, Furtwängler the Apolitical?, in: The Musical Times 145, 2004, S. 12. 36 Furtwängler, Die Frage nach dem Deutschen in der Kunst, S. 94. 37 BArch, R 55/20574, Bl. 275–276.

Paktieren mit Joseph Goebbels

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Rathkolb im Jahr 1991 das Schriftstück nachgewiesen hat.38 Alle anderen vorher speisten ihr Wissen aus Curt Riess’ Publikation aus dem Jahr 1954, die das Ziel hatte, Furtwängler möglichst im Widerstand gegen den Nationalsozialismus anzusiedeln. Der Versuch liest sich dort folgendermaßen: „Selbst für den großen Richard Strauss musste er sich einsetzen, wenn es sich bei der Gelegenheit auch nicht um Tod und Leben handelte. [...] Selbst seine engsten Freunde, wie Clemens Krauss und Baldur von Schirach, der ja selbst der Partei angehörte, waren ratlos. Keiner traute sich etwas zu unternehmen. Furtwängler, der Freund von ‚Verbrechern‘, zauderte nicht. Er schrieb einen Brief an Joseph Goebbels. Darin hieß es, daß ‚wir‘ uns in der gesamten Welt lächerlich machten, wenn ‚wir‘ gegen Richard Strauss, den man unbedingt als den größten Komponisten der Gegenwart betrachten müsse, mit solchen Mitteln aufträten, und daß dann ‚unsere‘ Kulturpolitik nirgends mehr ernst genommen werden könne. Furtwängler verbrachte schwere Stunden, bevor er diesen Brief formulierte, denn mit dem Gebrauch der Worte ‚wir‘ und ‚unsere‘ identifizierte er sich ja mit der Hitlerschen Kulturpolitik. Das, was ihm heikel war, sollte innerhalb Hitlers Welt nun ‚wichtig‘ und ‚praktisch‘ sein. ‚Ich erinnere mich noch genau meiner damaligen Empfindungen‘ sagte er später darüber. ‚Aber schließlich habe ich mir das Wort ‚unsere’ um des guten Zweckes wegen abgerungen!‘39

Neben der ungenauen Erinnerung Furtwänglers – das Schreiben weist kein „wir“ auf – werden die Distanzierungen von Strauss natürlich nicht genannt, wahrscheinlich um die Theorie der Hilfestellung nicht zu gefährden. So wie sich der Brief dagegen tatsächlich liest verfolgt Furtwängler damit zwei Ziele. Er setzt sich zwar für Richard Strauss ein, zugleich aber noch mehr von diesem ab, um persönlich von dieser Angelegenheit zu profitieren. Furtwängler signalisiert Goebbels somit, dass während Strauss sich mit seinem „rücksichtslos-egozentrischen“ Charakter nur um sich kümmere, er Sorge für die Kulturpolitik und ihre Wirkung nach außen trage. Ein berechtigter persönlicher Beweggrund Furtwänglers dafür war, dass seine Auftritte im Ausland, namentlich der Schweiz und Schweden, wiederholt auf Widerstand gestoßen waren. Dass dieser Widerstand aber auch durch eine einwandfreie Kulturpolitik der Kriegstreiber und Massenmörder im Frühjahr 1944 nicht mehr zu besänftigen war, schien Furtwängler nicht bedacht zu haben. Es ist umso erstaunlicher, wie eng er zu dieser Zeit mit dem Minister zusammenrückte. Man könnte natürlich einwenden, der Druck der Machthaber sei immer größer geworden, doch hätte Furtwängler genauso gut auch von einer seiner Reisen in neutrale Länder nicht zurückkehren können, wenn er denn gewollt hätte und wie er es dann erst im Februar 1945 tat. Sein Durchhaltewillen im Einklang mit den Nationalsozialisten war im Frühjahr 1944 jedoch größer. Furtwängler hatte zu diesem Zeitpunkt noch ein gewichtiges persönliches Anliegen, das erst kriegsbedingt besondere Bedeutung gewonnen hatte, da das Konzertleben endgültig zu erliegen drohte. Dies betraf die Verwendung von Rundfunkaufnahmen. An den Leiter der Musikabteilung des Propagandaministeriums, Heinz

38 Oliver Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien 1991, S. 191. 39 Riess, Musik und Politik, Bern 1955, S. 296f.

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Johannes Hellmann

Drewes, schickt Furtwängler am selben Tag eine Abschrift seines Briefes an Goebbels: „Beifolgend die Abschrift eines Briefes an den Herrn Minister, den Fr. v. Rechenberg nach Berlin mitnehmen wird; ich möchte glauben, dass Sie meiner Anschauung beipflichten. Über persönliche, die nächste Spielzeit betreffende Fragen (Rundfunk usw.) möchte ich gern Gelegenheit haben, mich mit Ihnen auszusprechen. Kommen Sie in nächster Zeit wieder einmal in die Gegend? Ich muss jedenfalls bestimmt bis Anfang Juni hier Kur machen. Mit den besten Grüßen und Heil Hitler! Ihr ergebener Wilhelm Furtwängler“.40

Die Selbstverständlichkeit, mit der der Dirigent in Zeiten des „totalen Kriegs“ eine nötige „Kur machen“ muss, und dass sie ihm auch bewilligt wird, spricht für sich. Wie Unterlagen im Bundesarchiv, aber auch Goebbels’ Tagebucheintrag vom 4. Mai 1944 nachweisen, hat der Brief dem Minister vorgelegen: „Furtwängler hat sich in einem freundlichen Brief für meine Fürsorge bei seiner Krankheit bedankt. Bei dieser Gelegenheit legt er ein gutes Wort für Richard Strauß ein, der demnächst seinen 80. Geburtstag feiert und den wir nicht schlecht behandeln sollen. Es besteht dazu auch keine Absicht. Allerdings möchte ich mit Richard Strauss persönlich nichts zu tun haben. Er ist zwar ein guter Musikant, aber ein schlechter Charakter“.41

Von einem Dank für Fürsorge steht im Brief nichts. Es ist aber wohl davon auszugehen, dass Goebbels dies im übertragenen Sinne gemeint hat nach dem Motto: „Ich habe dir frei gegeben bei Hitlers Geburtstag, und du gibst mir als Gegenleistung nun einen Rat“. Verständlich ist, dass Goebbels die Notwendigkeit des Rates herunterspielt, da schon seit Januar feststand, dass Feierlichkeiten, abgesehen von der Teilnahme hoher Funktionäre, nichts im Wege stehen sollte. Welche nachhaltigen Wirkungen der Brief für Furtwängler hatte, ist der Chronologie zu entnehmen, die aus Unterlagen hervorgeht, die im Bestand des Bundesarchivs aufbewahrt werden. Der Minister beauftragt am 4. Mai 1944 seinen Abteilungsleiter, eine „Führerinformation“ zu diesem Thema sowie eine Antwort an Furtwängler zu entwerfen.42 Drewes kommt zuerst der Bitte Furtwänglers nach, ihn zu besuchen, und ist schon am 5. Mai in Achleiten. In dem Aktenvermerk hierzu gibt Drewes noch einmal die „Märtyrer“-Argumentation wieder und bringt die Frage nach dem möglichen Verhalten des Strauss-Freundes Baldur von Schirach zur Sprache. Daneben werden aber vor allem Rundfunkaufnahmen thematisiert. Drewes berichtet von Furtwänglers großen Sorgen wegen beabsichtigter Aufnahmen zu Archivzwecken, bei denen „ein reproduzierender Künstler in seiner Interpretation festgelegt werde“ sowie dadurch „das wesentliche des Musiklebens, nämlich die Wiedergabe des Interpreten abgewürgt bzw. nach einer einmaligen Aufnahme überflüssig“ würde.43 Drewes will diese Fragen seinem Minister vortragen

40 41 42 43

BArch, R 55/20574, Bl. 279. Goebbels, Tagebücher, II.12, S. 238 (5. Mai 1944). BArch, R 55/20574, Bl. 291. Ebd., Bl. 293

Paktieren mit Joseph Goebbels

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und ein Treffen arrangieren, um in größerem Kreise solche „urheberrechtlichen Fragen“ zu klären.44 Weiter vermerkt er: „4. Hatte Furtwängler den Wunsch, die Wiener Philharmoniker im Rundfunk genauso einzusetzen, wie die Berliner Philharmoniker, d. h. die großen Konzerte der beiden Orchester unter seiner Leitung, aber mit verschiedenen Werken, sollten gleichmäßig aufgenommen werden, wohin gehend er dringend bat, von weiteren Aufnahmen, insbesondere unter Böhm, abzusehen, da Böhm zwar als Operndirektor das Orchester dirigiert, aber als Konzert-Dirigent ja kaum herangezogen wird. Es könne leicht der Eindruck erweckt werden, als sei Böhm und nicht er der ständige Dirigent der Philharmoniker“.45

Einmal mehr sorgte sich Furtwängler also darum, dass seine Omnipräsenz, nun auf dem Gebiet des Rundfunks, leiden könnte. Des Weiteren nutzt er aber auch wieder die Macht des Ministeriums für ein weiteres persönliches Anliegen, wie dem Vermerk zu entnehmen ist: „6. Furtwängler protestiert gegen die Herausgabe seiner Biographie von H. Hauptmann (Hamburger Nachrichten) bevor er das Manuskript nicht gebilligt hat. Es ist Vorsorge zu treffen, dass das Buch nicht erscheint und dem Verlag der Wunsch Furtwänglers mitgeteilt wird“.46

Nach seiner Rückkehr nach Berlin macht Heinz am 9. Mai 1944 dem Minister eine schriftliche Mitteilung über seinen Besuch bei Furtwängler. Er hätte ihm im Hinblick auf Strauss „die Genesis dieses Falles ausführlich dargelegt und darauf hingewiesen, dass die vorliegende Entscheidung sich nur auf die Teilnahme offizieller Persönlichkeiten bei evtl. Geburtstagsfeierlichkeiten bezieht, wogegen das Werk als solches unangetastet bleibt und auch Künstler in leitenden Stellungen freigestellt ist, an etwaigen Feiern teilzunehmen. Leiter M hatte den Eindruck, dass diese Darlegung Furtwängler sehr beruhigte und dass er nunmehr den Herrn Minister mit einer weiteren Antwort nicht bemühen möchte“.47

Drewes fügte dem Schreiben einen Entwurf einer Führerinformation bei und wies darauf hin, dass er zu weiteren Fragen, also Furtwängler und den Rundfunk betreffend, „dem Minister gern persönlich Vortrag halten“ würde.48 Dies scheint zeitnah geschehen zu sein, denn schon am 10. Mai 1944 kann Drewes folgenden Vermerk verfassen: „Furtwängler telefonisch von der Zustimmung des Ministers der oben [Vermerk vom 5. Mai] angeschnittenen Fragen in Kenntnis gesetzt. Die Urheberrechtskommission soll in der Woche vor Pfingsten in St. Florian zusammentreten“.49 Die Endversion der angesprochenen „Führerinformation“, datiert auf den 16. Mai 1944, zitierte übrigens ausführlich Furtwänglers Brief, wenn auch unter

44 45 46 47 48 49

Ebd., Bl. 292. Ebd. Ebd. Ebd. BArch, R 55/20574, Bl. 316f. Ebd., Bl. 332.

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Auslassung von Stellen, die anscheinend Hitler gegenüber so nicht stehen bleiben konnten.50 Damit gelangte also Furtwänglers Meinung über Strauss und sein Treuebekenntnis zur Kulturpolitik auch zu Hitler, der Furtwängler nicht zuletzt als den „Wiedererwecker Beethovens“ verehrte51. Auf Drängen Baldur von Schirachs erlaubte Goebbels diesem schließlich auch nach der Billigung Hitlers in einem Schreiben vom 23. Mai 1944, gewisse Feierlichkeiten in Wien abzuhalten.52 Inwiefern für diesen Meinungsumschwung der Machthaber Furtwänglers Brief entscheidend war, ist nicht erwiesen. Eindeutig ist dagegen, dass Furtwängler mit seinem Brief Vieles erreicht hat. Er konnte sein vermeintliches Eintreten für Strauss vor allem für seine persönlichen, den Rundfunk betreffenden Wünsche nutzen, für die er vorerst zumindest auch mündliche Zusagen erhielt. Dabei hatten diese Wünsche, auch wenn er dies nicht explizit äußerte, überwiegend finanzielle Gründe. Denn er hatte die Sorge, für die Sendung einer Archivaufnahme weniger Honorar zu bekommen als für die Direktübertragung eines Konzertes. Die Verhandlungen mit Goebbels hierüber zogen sich allerdings dann doch noch länger hin. Nachdem Furtwängler Anfang Dezember 1944 Goebbels noch eine Denkschrift hatte zukommen lassen, trafen sich beide etwa noch Mitte des Monats zu einer Aussprache über dieses Thema.53 Es ging Furtwängler im Jahr 1944 also nicht mehr darum, anderen zu helfen. Vielmehr war er damit beschäftigt, auch im „totalen Krieg“ weiterhin seine eigenen Vorstellungen und Vorteile durchzusetzen, und dies war ihm nur deswegen möglich, weil er die besondere Wertschätzung von Goebbels und Hitler besaß. Im Rahmen seines Spruchkammerverfahrens im Jahre 1946 behauptete Furtwängler: „Ich wusste, dass Deutschland sich in einer furchtbaren Krise befand. Es war meine Aufgabe, der deutschen Musik, für die ich mich verantwortlich fühlte, soweit es in meinen Kräften lag, über diese Krise hinwegzuhelfen.“54 Was er nicht eingestehen wollte, das war, wie der Fall Strauss zeigt, dass er durch sein Paktieren mit dem Regime nicht nur Retter in der Not, sondern auch selbst ein Protagonist der Krise war, zum Zwecke seiner persönlichen Vorteile.

50 51 52 53 54

Ebd., Bl. 336–341. Goebbels, Tagebücher, II.12, S. 204 (27. April 1944). BArch, R 55/20574, Bl. 350. Goebbels, Tagebücher, II.14, S. 400 (12. Dezember 1944). Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet, S. 196.

Der Kämpfer von MISHA ASTER

London im Dezember 1947. Der Geiger Szymon Goldberg spielte das Violinkonzert von Brahms mit dem New London Orchestra im Cambridge Theatre, Soho. Hinter der Bühne nach dem Konzert große Feierlichkeit. Viele Bewunderer umschwärmten den 39-jährigen Goldberg. Durch Sendungen der BBC, die regelmäßige Zusammenarbeit mit namhaften Kollegen wie Artur Schnabel, Lili Kraus und Gerald Moore sowie einigen hoch gelobten Mozart- und Schubert-Aufnahmen für EMI wurde Goldberg als einer der prominentesten Geigenvirtuosen jener Zeit angesehen. Eher klein und vom Benehmen her ziemlich bescheiden, bedankte er sich lächelnd in rustikalem, erheblich slawisch-gefärbten Englisch bei seinen Fans. Als sich aus der Ferne ein älterer, schlanker Herr nähert, ändert sich die Stimmung gänzlich. Die Anhänger wichen aus dem Weg; Goldbergs Auftreten wurde angespannter, artiger. Der neue Gast ergriff seine Hand und begrüßte den Solisten auf Deutsch: „Gratulation, Herr Goldberg; ein schöner Brahms.“ „Doktor…“, antwortete der Geiger hochachtungsvoll, „Danke.“ Ein kräftiges Händeschütteln; „Danke für Ihr Kommen.“ „Lange haben wir uns nicht gesehen“, sprach der ehrwürdige Doktor, „wir haben Sie sehr vermisst.“ Ihre Blicke begegneten sich, die Augen voller alter Geheimnisse. Offensichtlich gerührt, drückte Goldberg ein „Danke, Herr Doktor“ heraus. Aus vollem Herzen meinte der Besucher, „Wir haben ja beide sehr gelitten…“. Der Mund des Geigers blieb offen stehen. Fassungslos schüttelte er leicht den Kopf. Blass zog Goldberg seine noch fest ergriffene rechte Hand zurück: „Entschuldigung Doktor Furtwängler, ich muss gehen…“. Szymon Goldberg wurde 1909 in Wloclawek in Polen geboren. Von 1915 bis 1917 studierte er bei Czaplinski in Warschau, 1918 ging er dann zu dem als Lehrer begehrten Carl Flesch nach Berlin. Mit fünfzehn Jahren gab Goldberg sein Debüt mit den Berliner Philharmonikern – an jenem Abend spielte er Violinkonzerte von Bach, Paganini und Joachim. Auf Empfehlung von Flesch ging Goldberg von Berlin erst nach Dresden, wo er ein paar Spielzeiten Konzertmeister der dortigen Philharmoniker war. Dann, noch nicht zwanzig, wurde er 1929 von Furtwängler zum Konzertmeister der Berliner Philharmoniker berufen.1 Damals war es üblich, die 1

„Szymon Goldberg, der schon im Alter von zehn Jahren mein Schüler wurde, ergriff vorerst die Konzertmeisterlaufbahn und wirkte in dieser Eigenschaft in geradezu unerreichter Weise fünf Jahre lang unter Furtwängler“. Carl Flesch, Erinnerung eines Geigers. 1870–1944, Freiburg i. Br. 1960, S. 173.

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ersten Streicherpulte des Philharmonischen Orchesters durch namhafte Solisten mit Sonderverträgen zu besetzen. Goldbergs Anstellung setzte diese Tradition fort. Unter den drei Konzertmeistern der Philharmoniker im Jahr 1930 (die beiden anderen waren Siegfried Borries und Erich Röhn) hob Furtwängler Goldberg besonders hervor: „Er kann wohl gegenwärtig als der beste Konzertmeister in Europa überhaupt angesprochen werden“.2 Neben seinen Orchestertätigkeiten stieg Goldberg nach dem Tod seines Kollegen Josef Wolfsthal in das berühmte Streichertrio mit Paul Hindemith und Emmanuel Feuermann ein, konzertierte mit diesem Ensemble in ganz Deutschland sowie unter anderem in Holland, Belgien und England. Außerdem bildete er ein Quartett mit seinen Kollegen aus der Philharmonie Gilbert Back, Reinhard Wolf und Nicolai Graudan. Am 6. Februar 1933 spielte Goldberg mit den Berliner Philharmonikern unter Furtwänglers Leitung das Violinkonzert von Beethoven. Eine Woche davor wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Noch war nicht zu spüren, was die neue Politik für das Musikleben in Deutschland bedeuten würde. Allerdings war Goldbergs Religionszugehörigkeit in Musikerkreisen allgemein bekannt. Es gab Gerüchte, dass die Berliner Philharmoniker voller jüdischer Musiker waren. Derart giftiges Geflüster verstärkte sich, als das Orchester wegen erheblicher finanzieller Schwierigkeiten dutzende Mitglieder, darunter „Frontkämpfer und Parteigenossen“, entließ.3 Allerdings entsprach ein ganz anderes Bild der Realität: 1933 zählten zu den mehr als 100 Musikern des Orchesters vier Juden – neben Goldberg als Konzertmeister Gilbert Back (1. Violine) sowie die beiden ersten Solocellisten Nikolai Graudan und Joseph Schuster. Neben diesen gab es im Orchester noch zwei Mitglieder von teilweise jüdischer Abstammung („Halbjuden“ oder „Mischlinge“, wie die abstoßende offizielle Bezeichnung lautete): den dänischen Solocellisten Hans Bottermund, dessen Großmutter Jüdin war, und Bruno Stenzel, dessen jüdische Mutter aus Ungarn stammte.4 Der verbreiteten Legende nach, soll Furtwängler die jüdischen Mitglieder seines Orchesters leidenschaftlich gegen nazistische Angriffe verteidigt – sogar gerettet – haben. Wie seine zweite Frau Elisabeth beschrieb, war Furtwängler seiner Auffassung nach nicht nur ein Künstler, sondern auch ein engagierter Mensch: „[Er] hat immer an der Front gestanden. […] Er war immer ein Kämpfer“.5 Tatsächlich gelang es dem Dirigenten nach der NS-Machtergreifung nicht nur 2 3

4 5

Nachlass W. Furtwängler, W. Furtwängler an Dr. Goebbels, Paris, 1. Mai 1933, in: Fred Prieberg, Handbuch deutsche Musiker 1933–1945, Kiel 2004, S. 2408 Bundesarchiv (im Folgenden: BArch) R55/1148 Neander an die Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung, 10. November 1934: „Es ist für einen Deutschen deprimierend, daß ein Kriegsopfer auf die Straße gesetzt wird, und daß andererseits Ausländer und Juden im Orchester verbleiben […] Ich bin der festen Überzeugung dass diese mir ungerecht dünkende Handlungsweise gegen den Willen unseres Führers ist, denn ich kann nicht glauben, daß er einen alten Frontkämpfer so behandeln lassen würde“. BArch (BDC) RK O0024 BPhO, von Benda, Stegmann an das RMVP, Hinkel, 21. August 1935. Elisabeth Furtwängler, Über Wilhelm Furtwängler, Wiesbaden 1979, S.134.

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Goldberg und die anderen bedrohten Kollegen, sondern auch seine Sekretärin Berta Geissmar, die ebenfalls Jüdin war, im Dienst zu halten. Um der antisemitischen Welle, die Deutschland 1933 eroberte, zu widerstehen, brauchte es aber nicht nur Mut, sondern auch das Gesetz: Das Berliner Philharmonische Orchester war zwar berühmt und finanzierte sich teilweise durch öffentliche Gelder, war aber bis 1934 keine öffentliche Einrichtung, sondern eine private GmbH, in der die Orchestermusiker auch Gesellschafter waren. Als solches fiel das Orchester nicht unter die frühen Nazi-Gesetze hinsichtlich der Beschäftigung von Juden in Behörden, Hochschulen oder Staatstheatern. Alle betroffenen Philharmoniker wurden also zunächst vor den Konsequenzen dieses rechtlichen Zustands bewahrt. Die ersten Schwierigkeiten infolge der Machtergreifung Hitlers begegneten Goldberg bei einer Orchestertournee nach Westdeutschland, wo die Philharmoniker ein gemeinsames Konzert mit Furtwänglers früherem Orchester in Mannheim spielen sollten. Furtwänglers Sekretärin Geissmar schilderte die Erfahrung folgendermaßen: „[Es] schrieb der Mannheimer Vorsitzende, er könnte sich nicht damit einverstanden erklären, daß der Jude Simon Goldberg, der Berliner Konzertmeister, am ersten Pult der vereinigten Orchester sitzen würde. Goldberg war im Alter von neunzehn Jahren von Furtwängler engagiert worden; er wurde allgemein als einer der besten seines Faches betrachtet. Die Mannheimer verlangten, daß ihr eigener Konzertmeister die Stelle Goldbergs einnehmen sollte. Furtwängler antwortete, wenn die Sitzordnung nicht so bliebe, wie er es aus künstlerischen Gründen bestimmt hatte, oder wenn seine Musiker ihnen nicht paßten, müßte das Konzert unterbleiben. […] Der Mannheimer Konzertmeister war bei weitem der minder gute Spieler, aber er war Parteigenosse und hatte sofort unter dem neuen Regime das Hakenkreuz angesteckt. Nun glaubte er seinen Augenblick gekommen“.6

In dem Mannheimer Streit hatte Furtwänglers Standhaftigkeit letztlich Erfolg. Goldberg saß bei der Mannheimer Aufführung auf seinem Platz als Konzertmeister. Aber damit war die Sache noch nicht erledigt. Sofort nach der Kontroverse schrieb Furtwängler einen scharfen Brief an den Vorstand des Mannheimer Orchesters. Er stellte darin seine Position klar heraus: „Was im Übrigen die Frage der Mitwirkung der Juden im Berliner Philharmonischen Orchester betrifft, so ist das etwas, das nicht Sie, sondern die Reichsregierung angeht, der das Philharmonische Orchester untersteht. Dieselbe weiß sehr gut – was Sie anscheinend vergessen haben – daß deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, und daß bei einem Orchester, das die Höhe deutscher Orchester-Kunst nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt zu repräsentieren hat, in erster Linie das Leistungsprinzip maßgebend sein und bleiben muß“.7

Für Furtwängler ging es bei diesem Thema um weitaus mehr als das Problem der Voreingenommenheit. Vielmehr wurden hier letztendlich die Grenzen politischer Einflussnahme auf seinen künstlerischen Bereich berührt. Grundsätzlich kämpfte 6 7

Berta Geissmar, Taktstock & Schaftstiefel. Erinnerungen an Wilhelm Furtwängler und Sir Thomas Beecham, Köln 1996, S. 119. BArch R55/1138 Furtwängler an den Vorstand des Nationalorchesters Mannheim, 29. Mai 1933.

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er nicht gegen die Politik des Antisemitismus per se sondern für den Erhalt der künstlerischen Freiheit – oder zumindest seiner eigenen. In einem Brief vom Mai 1933 schreibt Furtwängler fast entschuldigend an die Regierung: „Wie ich Ihnen schon persönlich sagte, sind die drei [sic] Juden im Orchester seinerzeit nach langwierigem Probespielen, da sich trotz intensivsten Suchens keine annähernd so guten arischen Vertreter fanden, auf Grund ihrer Leistungen engagiert worden“.8 Angesichts von Furtwänglers Behauptung, sein Urteil beruhe allein auf qualitativen und nicht auf rassistischen Gründen, ist es durchaus denkbar, dass er von dem vierten Mitglied jüdischer Herkunft gar nichts wusste; man könnte aber auch annehmen, dass es dem Dirigenten gefiel, die wahre Identität einer seiner bewährten Musiker zu verheimlichen, einfach zu „vergessen“. Es wurde auch gesagt, dass Gilbert Back trotz seiner jüdischen Wurzeln getauft wurde; ob Furtwängler davon wusste, lässt sich nicht nachweisen.9 Immerhin griff Furtwängler kurz nach der Auseinandersetzung in Mannheim die Frage um die jüdischen Musiker des Orchesters direkt mit Joseph Goebbels, de facto Kulturminister Deutschlands und Gönner der Philharmoniker, auf. Nach dem Krieg dankte der Orchestervorstand der Philharmoniker, Höber, Furtwängler für seinen Einsatz: „Die ersten praktischen Erfolge dieser von uns [Furtwängler bzw. Orchestervorstand] durchgesetzten Maßnahme zeigten sich darin, daß trotz stürmischen Verlangens der Nationalsozialisten unsere jüdischen Mitglieder von uns nicht entlassen wurden. Dr. F. erzwang und zwar mit der Drohung, die Leitung des Orchesters niederzulegen, den Verbleib dieser Mitglieder“.10

Höbers Offenbarung, dass Furtwängler Goebbels aus Mut und Wut von der Richtigkeit seiner Position überzeugen konnte, ist etwas einseitig. Zudem ist es ziemlich naiv, zu meinen, dass Goebbels seine ideologischen Grundsätze aufgeben würde, nur aus Angst vor Furtwänglers Rücktritt. Tatsächlich hatte Furtwängler Goebbels im Sommer 1933 überredet, die jüdischen Musiker seines Orchesters zu akzeptieren, aber das war Teil eines Pakts.11 In gewisser Weise war der Dirigent als „Frontkämpfer“ nicht weniger ein Fürsprecher des sogenannten „Führerprinzips“ als seine Ansprechpartner. Von seiner Abmachung mit Goebbels berichtete Furtwängler den Mitgliedern des Philharmonischen Orchesters: „Meine Herren! Der Führer und die Reichsregierung haben mir die Versicherung abgegeben, daß das Berliner Philharmonische Orchester unter allen Umständen erhalten wird. Herr Reichsminister Dr. Goebbels hat an diese Zusicherung die Bedingung geknüpft, daß mir die absolute Führung des Orchesters in künstlerischer und personeller Hinsicht übertragen ist. Auf Grund dessen erwarte ich, daß jede Beunruhigung innerhalb des Orchesters in Zukunft unterbleibt. Ohne mich und mein Einverständnis können keinerlei Beschlüsse gefasst werden. Meine 128

NL W. Furtwängler; W. Furtwängler an Dr. Goebbels, Paris, 1. Mai 1933, in: Prieberg, Handbuch, S. 2408 9 Lincoln Mayorga Brief an den Autor, 2. Juni 2007. 10 BArch (BDC) WOO02 Fur, Lorenz Höber an Intendant Hartmann 20.4.1946. 11 BArch R55/1147 Friedrich Schröder, Tatsachenbericht, Februar 1934.

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jährige Verbundenheit mit Ihnen, meine verehrten Herren, muß Ihnen die Gewähr bieten, daß alle von mir unternommenen Schritte nur im Interesse des Orchesters sind“.12

In diesem Brief beschwor Furtwängler das Orchester, seiner Leitung nicht nur in künstlerischen, sondern auch in persönlichen und politischen Fragen zu vertrauen. Damit verknüpfte Furtwängler die „Juden-Frage“ mit seiner „absoluten Führung“. Goebbels wusste, solange er Furtwänglers „absolute Führung“ garantieren könne, dürfte er auch mit seiner propagandistischen Mitwirkung rechnen. Anders gesagt, wenn Goebbels Furtwängler an Bord halten und seinen Einfluss auf das Orchester im Sinne seiner propagandistischen Ziele festigen könne, würde der Minister die Verfolgung der jüdischen Mitglieder des Orchesters bremsen. Am 1. November 1933 wurde das Berliner Philharmonische Orchester mit Hitlers persönlicher Billigung zum offiziellen „Reichsorchester“ erklärt.13 Am 15. Januar 1934 verkauften die 85 sogenannten „aktiven“ Mitglieder des Orchesters ihre Anteile an der Berliner Philharmonische Orchester GmbH an das Deutsche Reich.14 Damit kaufte sich das Orchester in den Goebbels-Furtwängler-Pakt ein. Zunächst war die neue Bewirtschaftung – zumindest künstlerisch – von der alten, kaum zu unterscheiden. Zwischen Februar 1933 und April 1934 trat Goldberg noch sieben Mal als Solist in Erscheinung und der Solocellist Schuster führte die Konzerte von Dvořák und Saint-Saëns mit dem Orchester auf. Nicolai Graudan spielte noch im November 1934 Schumanns Cellokonzert in der Philharmonie und trat im selben Herbst bei zwei philharmonischen Konzerten unter Furtwängler auf.15 Es schien, als habe Furtwängler gewonnen. Nun erkannte Goldberg nach und nach das zynische Spiel: „[Die Behörden] drohten ständig damit, mir meinen Reisepass weg zu nehmen. Nun brauchten die Nazis die Juden im Orchester, um Propaganda zu machen“.16 In der Tat half Furtwängler durch seine kämpferische Haltung unbeabsichtigt seinen Gegnern: Feinde waren notwendig um die antisemitische Wut aufzuheizen. Solange bekannte Juden noch beachtliche Stellen besetzten, nützte das dem Regime: Die offizielle Reaktion auf Furtwänglers Haltung verzerrte die Angelegenheit so, dass antisemitische Vorurteile verstärkt statt gedämpft wurden. Nicht nur Goldberg, sondern auch Berta Geissmar wurde als üble Strippenzieherin hinter Furtwänglers dezidierten künstlerischen Zielen verleumdet. Die dauerhafte Anwesenheit Goldbergs, Schusters, Graudans und Backs galt als weiteres Beispiel dafür, wie die Juden die gut gemeinten Absichten der „wahren“ Deutschen unterminierten.17 12 13 14 15 16 17

BArch R55/1147, W. Furtwängler, Abschrift, 1. August 1933. BArch R55/1147 Schröder, Tatsachenbericht. BArch R55/1147 RMVP an RMF, 17. Mai 1934. Peter Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, Band 3. Tully Potter, Soul of Discretion, in: The Strad, July 1999, S. 742. Zentralbibliothek Zürich BF 47, Fachgruppe Kleinkunstbühnen Meldung, 17. August 1933: „Es gilt als offenes Geheimnis, dass die treibende Kraft dieser Bevorzugungen jüdischer Künstler die jüdische Sekretärin Furtwänglers ist, die in Gemeinschaft mit ihrer Mutter bei dem starken vorhandenem persönlichen Kontakt die Dispositionen Furtwänglers ausschließlich beeinflussen soll.“

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Über die Erfahrung seiner ehemaligen jüdischen Kollegen äußerte Orchestervorstand Lorenz Höber 1946: „Wenn diesen der Aufenthalt in Deutschland auf die Dauer unerträglich wurde, so ist doch kein einziges Mitglied zwangsweise aus dem Orchester ausgeschieden. Sie gingen später freiwillig und waren keinerlei Druckmittel oder Benachteiligung ausgesetzt. Sie gingen ins Ausland und fanden dort auf Empfehlung von Dr. F. bald hervorragende Künstlerstellungen. Das letzte jüdische Mitglied ging erst 1936 oder gar erst 1937“.18

Einige von Höbers Feststellungen sind fraglich. Trotz Furtwänglers vielleicht gut gemeinten Absichten, verließen Goldberg und Schuster Deutschland gleich nach der Spielzeit 1933/34. Graudan ging Ende 1934. Das letzte jüdische Mitglied des Orchesters, Gilbert Back, wanderte Mitte 1935 aus. Goldberg ging zunächst nach England, Schuster nach New York. Höber hatte Recht damit, dass es keinen Hinweis gab, dass ein direkter politischer Befehl Anlass für die Auswanderungen war; vielmehr war die Entscheidung auszuwandern wohl eine Reaktion auf die zunehmende Gehässigkeit im deutschen Musikleben und in der deutschen Gesellschaft überhaupt. Goldberg trat ab Sommer 1934 nie wieder in Deutschland auf. Seine Abreise wurde öffentlich als ein „plötzlicher Ausfall“19 bezeichnet. In der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 25. November 1934 schrieb Furtwängler über Goldberg, dass er „erst vor einigen Monaten, in der Absicht, sich ganz der SolistenKarriere zu widmen, das Orchester verlassen hat“.20 Dieses Bekenntnis wurde von Goldberg selber dementiert, als er sich später beklagte, dass er vom Propagandaministerium dazu gezwungen wurde, einen Eid zu leisten, mit dem er seinen Entschluss ,,das Orchester zu verlassen, für freiwillig“ erklärte.21 Für diese bittere Äußerung fehlt heute ein Zeugnis. Immerhin reiste Goldberg offenbar ziemlich hastig ab: die Bücher des Orchesters weisen noch 1935 ein Guthaben von ihm aus.22 Auch Joseph Schusters Weggang schien ziemlich spontan. Schuster, 1903 als russischer Staatsbürger in Konstantinopel geboren, war seit 1923 in Berlin zuhause; erst in der Hochschule als Meisterschüler von Hugo Becker, dann ab 1929, als Nachfolger von Gregor Piatigorsky, als 1. Solocellist des Berliner Philharmonischen Orchesters. Von dieser angesehenen Stellung ging er plötzlich nach der Spielzeit 1933/34 in ein risikoreiches Exil. Sein Sohn beschreibt die Situation rückblickend: „Mein Vater ist mit dem Schiff nach Amerika gekommen. Er konnte überhaupt kein Englisch […] Als er in Amerika landete, durfte er erst mit dem Orchester des reisenden Ballets Russes spielen. Die Stelle bekam er weil seine Schwester als Geigerin im Orchester eine Stelle inne hatte, und das wegen ihres Mannes, der im Don Cossack Chor sang […] Zusammen reisten sie wie ein Zirkus, durch alle 18 BArch (BDC) WOO02 Fur, Lorenz Höber an Intendant Hartmann 20. April 1946. 19 BArch R55/1147 Abschrift BPhO, von Schmidtseck an General-Intendant Meissner, Städtische Bühne Frankfurt, 23. Oktober 1934. 20 Geissmar, Taktstock & Schaftstiefel, S.173. 21 Berliner Landesarchiv CRep118-01, Goldberg Entschädigungsprozess, 1961. 22 BArch R55/245 Deutsche Revisions-und-Treuhand-Aktiengesellschaft (DRuTA), Nachprüfung 14. Oktober 1935, S. 13.

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Kleinstädte Amerikas“.23 Als die New Yorker Philharmoniker 1936 einen Solocellisten suchten, hatte Schuster schließlich Glück: Von 1936 bis 1947 spielte er in dem Orchester. Unter anderem wirkte er als Solist an jenem berühmten Abend 1943, an dem der junge Leonard Bernstein mit Strauss’ Don Quixote für den erkrankten Bruno Walter einsprang. 1947 zog Schuster nach Kalifornien. Dass Furtwängler seine Hand dabei im Spiel hatte, für Schuster die Stelle in New York zu gewinnen bzw. Goldbergs Karriere im Ausland voranzubringen, ist jedenfalls pure Spekulation von Höber. Im Dezember 1934 stand die Verlängerung von Nicolai Graudans Vertrag an. Im Gegensatz zu den Sektionsspielern schlossen die Konzertmeister und Solocellisten des Berliner Philharmonischen Orchesters individuelle Privat-Dienstverträge mit dem Orchester, die ihnen höhere Gehälter für weniger Dienste boten. Aus Lettland stammend, kam Graudan 1926 über Sankt Petersburg, Riga und Düsseldorf nach Berlin. Die Ereignisse um Graudans Vertragsverlängerung 1934 verdeutlichen die Strategie, „unerwünschte“ Personen mithilfe subtilerer Mittel als antisemitischer Propaganda oder politischen Anweisungen aus dem Orchester zu entfernen: Nach den Forderungen des Maestros wurde Graudans Vertrag 1934 nicht beendet, sondern verlängert.24 Das Propagandaministerium verweigerte Graudan jedoch eine Gehaltserhöhung, die ihn seinen Kollegen gleichgestellt hätte und verlangte stattdessen eine Vermehrung seiner Dienste.25 Diese Behandlung eines Musikers von Weltrang war eine unverschämte berufliche Entwürdigung. Graudan begann, sich für andere Orchesterstellen zu bewerben. Im Sommer 1935 bat er um Auflösung seines Vertrags.26 Zwei Tage später verbot ihm die Reichsmusikkammer, weiterhin in Deutschland aufzutreten.27 Nicht dank Furtwängler, sondern durch Dimitri Mitropoulos ist Graudan endgültig über London beim Minneapolis Symphony Orchestra gelandet. Wie Schuster, siedelte auch er in den Nachkriegsjahren in die mitteleuropäische Emigrantengemeinschaft in Süd-Kalifornien über. Auf dem Reichsparteitag im September 1935 brachten die Nationalsozialisten mit großer Fanfare die berüchtigten Nürnberger Rassengesetze ein. Zu diesem Anlass spielten auch die Berliner Philharmoniker. Einige Tage davor verlangte Staatskommissar Hans Hinkel von der Leitung der Philharmoniker eine Erläuterung zu den übrigen jüdischen Mitgliedern des Orchesters. Die jüdischen Mitglieder seien zwar Furtwängler-bedingt unantastbar, man dürfe sich jedoch bürokratisch informieren. Die Antwort: „Der einzige Volljude, der in unserem Orchester ist, ist Gilbert Back. Er ist seit dem 1. Oktober 1925 im Orchester […] Back ist ein talentierter Geiger. Politisch ist er, auch in der Systemzeit, nie hervorgetreten, gehörte auch keiner politischen Partei an. Sein Vater hat die erste deutsche

23 24 25 26 27

John Schuster Brief an den Autor, 3. Juni 2008. BArch R55/197 RMVP Rüdiger, Vermerk, 18. Januar 1935. Ebd. BArch R55/197 BPhO an das RMVP, 17. August 1935. BArch (BDC) RK RO009 Präsident der Reichsmusikkammer Raabe an Graudan, 19. August 1935: „[...] verlieren Sie mit sofortiger Wirkung das Recht zur weiteren Berufsausübung auf jedem zur Zuständigkeit der Reichsmusikkammer gehörenden Gebiete“.

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Misha Aster Schule in Sofia gegründet, sein Bruder stand während des Weltkriegs als Offizier im österreichischen Heer und ist mit der goldenen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet worden. Sein Vetter stand als Dolmetscher in deutschen Diensten und hat während des Weltkrieges den bekannten Zug durch die Wüste nach Persien mitgemacht […]“.28

Obwohl versucht wurde, Back nach der Verschärfung der antisemitischen Politik ab Herbst 1935, in einem noblen, patriotischen Licht zu zeigen, war in diesem Klima die Religionszugehörigkeit seiner Vorväter wesentlich wichtiger als seine Verdienste. Jedoch bat Back weder um eine Auflösung seines Vertrags wie Graudan, noch ging er wie Goldberg bzw. Schuster aus Zorn oder Angst ins Exil; trotz allem schien er, nicht weggehen zu wollen. Schließlich wurde er vom Orchester selbst für die bemerkenswert hohe Summe von ungefähr 16 000 RM praktisch aus seinem Vertrag gekauft.29 Über Palästina (1935), die Türkei (1936 bis 1941), und Russland (1941 bis 1942), konnte Back schon während des Krieges über Asien nach Amerika gelangen. Dort fand er 1943 beim Los Angeles Philharmonic Orchestra eine Stelle. Von Furtwängler und seinen Befürwortern wurde argumentiert, dass er vor allem auf der Basis zweier Einsätze gegen die politischen Behörden ein Widerstandskämpfer war. Im ersten Fall ging es um die „Sondergenehmigung“, die er mit Goebbels für die jüdischen Mitglieder seines Philharmonischen Orchesters ausgehandelt hatte. Wie bereits beschrieben, zeitigte das nur kurzfristig Wirkung. Zum anderen wird der „Fall Hindemith“ erwähnt. Beide Male zeigte Furtwängler den Willen, aber auch die Grenzen seiner kämpferischen Haltung. Beide Male wurde auch Szymon Goldberg impliziert. Goldberg war ein enger Freund Paul Hindemiths. Obwohl bereits vor 1933 als einer der führenden Komponisten Deutschlands bekannt, war Hindemiths Musik für den Nazi-Musikgeschmack manchmal zu provozierend. Doch die Antipathie des NS-Regimes gegen den Komponisten hatte auch eine wesentliche persönliche Dimension. Bereits durch seine frühe Kollaboration als Bratscher des Amar Quartetts – dessen jüdischer Primarius Licco Amar, Goldbergs Vorvorgänger als Konzertmeister der Berliner Philharmoniker war – war Hindemith suspekt. Als er darüber hinaus gefeierte Konzertauftritte mit Goldberg und Feuermann unternahm, hatten die Ideologen ihm noch mehr vorzuwerfen.30 Die Mischung aus Ästhetischem und Persönlichem machte Hindemith zu einem Dorn im Auge der NS-Kulturverwalter. Als Furtwängler die Absicht erklärte, in der Berliner Staatsoper Hindemiths neuestes Stück Mathis der Maler, das von der „Position der Kunst und

28 BArch (BDC) RK O0024 BPhO, von Benda, Stegmann an das RMVP, Hinkel, 21. August 1935. 29 BArch (BDC) RK WO002 Entnazifizierungsprozess W. Furtwänglers, Zeugenaussage von Bendas, S. 57: „Als ich im Sommer 1935 zum Philharmonischen Orchester kam, war noch ein jüdischer Geiger im Orchester. Ich hatte nur noch die Abwicklung seines Ausscheidens durchzuführen. Er bekam 16.000 oder 18.000 RM Abfindung und davon einen großen Teil in Devisen.“ 30 „Den Nazis galt das natürlich als Bestätigung der Unzuverlässigkeit Hindemiths“, Prof. Dr. Giselher Schubert Brief an Autor, 3. Juni 2008.

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ihrem Schöpfer in Zeiten politischer Krisen“31 handelt, aufzuführen, konnte die Behörde die Dreistigkeit nicht mehr ertragen. Die Zulassung für die Aufführung der Oper wurde von der Reichsmusikkammer, die Goebbels eingerichtet hatte, verweigert. Daraufhin legte Furtwängler alle seine Ämter nieder – sowohl als Operndirektor der Staatsoper als auch als erster Dirigent der Berliner Philharmoniker.32 Immerhin blieb Furtwängler danach in Deutschland. In der Folge des MathisDebakels ging Hindemith dagegen, zunächst in die Schweiz, dann in die Türkei. Dort wurde er von der Atatürk-Regierung beauftragt, das türkische Musikleben aufzubauen. Zu diesem Zweck holte Hindemith zwei alte Bekannte nach Ankara, die das „neue“ Deutschland für „unerwünscht“ erklärt hatte: Licco Amar und Gilbert Back. Unter Hindemiths Leitung gründete Back die Kammermusik-Abteilung des Türkischen Rundfunks. Als Hindemith schließlich nach Amerika ging, traf er dort auf einen weiteren alten Freund – Szymon Goldberg. In der Emigration lebte Goldberg erst in England, dann in Italien und Belgien und schließlich in Amerika. Am 9. Februar 1938 gab er sein Debüt in der Carnegie Hall. Im selben Jahr erhielt Goldberg eine Professorenstelle am Curtis Institute of Music in Philadelphia. Dort begegnete er Hindemith, als der Komponist und ehemalige Triopartner 1940 nach Amerika kam. Das Glück im Unglück, Deutschland rechtzeitig verlassen zu haben, das die vier Ex-Philharmoniker teilten, war damit leider nicht vollkommen. Als Solist und Kammermusiker konzertierte Goldberg in vielen Ländern West Europas und Amerikas, auch nach dem Ausbruch des Krieges. Auf einer Konzertreise 1942 nach Indonesien, wurden Goldberg und seine Pianistin Lili Kraus, zusammen mit ihren Familien von der japanischen Armee festgenommen, und zwar nicht als Juden, sondern als verdächtige amerikanische Spione. Goldberg wurde 1942 bis 1945 in Indonesien in nicht weniger als vierzehn verschiedenen KZs interniert. Von seiner Frau getrennt, konnte er nur selten Geige spielen, stattdessen verrichtete er für über 30 Monate hauptsächlich schwere Zwangsarbeit. Es ist tragisch-ironisch, dass einer, der, um dem Nazi-Terror zu entkommen, aus Europa flüchtete, am anderen Ende der Welt jene grausame Verhaftung unter Deutschlands asiatischem Alliierten erleiden musste. Angeblich wurde während seiner Internierung entdeckt, dass Goldberg Geiger war, und der japanische Kommandant befahl ihm ein Mozart Duo für Violine und Bratsche aufzuführen. Als Goldberg meinte, er könne nicht „weil der übliche Duo-Partner“, mit Rücksicht auf Hindemith, „nicht da ist“, antwortete der, der ihn gefangen hielt „Ah, den kriegen wir bloß, wenn wir in New York einmarschieren“.33 Goldberg wurde erst im Sommer 1945 aus der Gefangenschaft befreit. Physisch und emotional gebrochen musste er mit der Geige wieder ganz von vorne beginnen. Erst nach und nach gewann er seine alte Beherrschung des Instruments wieder. Er 31 Elisabeth Schmierer, Lexikon der Oper, Bd. 2, Laaber 2002, S.144. 32 BArch (BDC) RK WO002 W. Furtwängler Bericht, Blatt 1516: „Als schließlich der Kernpunkt alles lebendigen Musizierens, die Freiheit der Kunstausübung, in Bezug auf die zukünftige Generation von den Nationalsozialisten angetastet wurde, als mir aus politischen Gründen verboten wurde, Hindemith aufzuführen, legte ich meine sämtlichen Ämter nieder“. 33 T. Potter, Soul of Discretion, S. 742.

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spielte einige kleine Unterhaltungskonzerte für britische und amerikanische Soldaten im Pazifik, brauchte aber noch eineinhalb Jahre, bevor er es wagte, wieder in der Öffentlichkeit aufzutreten. Einige Zeit später, kam er nach England, um das Konzert zu geben, bei dem er erneut auf Furtwängler stieß: London im Dezember 1947: „Wir haben ja beide sehr gelitten…“, sagte der Maestro bei diesem Zusammentreffen. Der Spruch ließ Goldberg fassungslos zurück. Reines Ungeschick oder Geschmacklosigkeit? Nein, Furtwängler war bewusst, was Goldberg aufgegeben und durchlebt hatte. Der Dirigent glaubte jedoch an eine Äquivalenz zwischen seinen Problemen in Deutschland 1933 bis 1945 und denen von einem, der ins Exil gezwungen wurde und dann fast drei Jahre lang im KZ war. 1947 erklärte Furtwängler seine Haltung: „Ich wußte, daß eine einzige Aufführung eines wahrhaft großen deutschen Musikwerkes aus sich heraus eine stärkere und wesenhaftere Verneinung des Geistes von Buchenwald und Auschwitz war, als alle Worte je sein können“.34 Eine provokante These, besonders mit Rücksicht auf Goldbergs Erfahrungen im KZ. Solche Logik konnte der Geiger nicht begreifen. Er hätte vielmehr der Meinung seines Landmanns Bronislaw Hubermann zugestimmt: „[Die] Frage einer mehr oder minder berufenen Interpretation eines Violinkonzertes ist nur einer der mannigfachen Aspekte – und, weiß Gott, nicht der wichtigste! –, unter denen sich das eigentliche Problem verbirgt. In Wahrheit geht es nicht um Violinkonzerte, auch nicht um Juden, es handelt sich um die elementarsten Voraussetzungen unserer europäischen Kultur: Die Freiheit der Persönlichkeit und ihre vorbehaltlose, von Kasten- und Rassenfesseln befreite Selbstverantwortlichkeit!“35

Hubermann sah die gefährliche Falle, über die Details der Kunst zu streiten, während Toleranz und individuelle Verantwortlichkeit durch Angst und autoritäres Denken zerstört wurden. Nach 1934 ist Goldberg nie wieder in Deutschland aufgetreten; auch lange Zeit nach dem Krieg wurde gesagt, dass er, wenn er mit der Bahn durch Deutschland fahren musste, die Fenstergardinen im Zugabteil zuzog.36 Angeblich war der Geiger von der Rücksichtslosigkeit seiner deutschen Kollegen, einschließlich Furtwängler, schwer enttäuscht. Zweifellos glaubte der Dirigent ernsthaft an die erhabene Kraft der Musik, daran, dass „die eigentliche Aufgabe der Kunst […] sei, die Menschheit über die Zersplitterung zu erheben“.37 Jedenfalls meinte er, dass Künstler und Nazis absolut inkompatibel waren.38 Doch er unterschätzte das Ausmaß des Bruchs, den Hitler herbeigeführt hatte, erheblich. Auf den Vorwurf, dass er eine unpolitische Haltung gegenüber dem NS-Regime hätte, reagierte Furtwängler so:

34 35 36 37 38

Privatarchiv Peter Muck, Furtwängler Bericht 25. März 1947, S. 12. Hubermann Brief, in: Geissmar, Taktstock, S. 130f. Katz Ohki Brief an Autor, 11. Juni 2007. Privatarchiv Peter Muck, Furtwängler Bericht 25. März 1947, S.13. Über den Schauspieler und Regisseur Gustav Gründgens, schrieb er „Und Gründgens, der ein Künstler ist, und damit ein geborener Anti-Nazi!?“ W. Furtwängler an Boleslav Barlog, Clarens 31. Dezember 1945, in: F. Thiess (Hg.), Wilhelm Furtwängler: Briefe, Wiesbaden 1965, S. 125.

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„Als Künstler ist man verpflichtet, seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen und dafür einzustehen. Nichts aber hat das mit seiner Kunst zu tun, diese ist um etwas Höheren willen da, gibt von Höherem Zeugnis. Wenn die Anderen wie zum Beispiel Hitler die Kunst zum Demonstrationsobjekt, zum bloßen Mittel politischer Propaganda herabwürdigen – mögen sie es tun, so lange sie die Macht dazu haben. Der Künstler darf ihnen auf diese Ebene nicht folgen. […] Es ist – gerade in unserer Zeit – recht eigentlich die politische Funktion der Kunst, überpolitisch zu sein“.39

Mag sein, dass Künstler eine überpolitische Verpflichtung haben, doch für Goldberg, Schuster, Graudan, Back, Hubermann, auch für Hindemith und die Sekretärin Berta Geissmar, war diese Einstellung Luxus. Furtwänglers Verständnis von Politik war begrenzt auf das, was die Macht ihm persönlich antat. Er kämpfte um die Bewahrung seiner Vorstellungen von künstlerischer Freiheit und seine Behauptung des wahren Deutschtums. In dieser Hinsicht hat er sich für seine Prinzipien ehrenvoll eingesetzt. Für die Verfolgten aber, auch die aus dem privilegierten Philharmoniker-Kreis, war die Politik eine Frage, die weitaus wesentlicher war, als eine pervertierte Propagandaprogrammatik. Durch die Hitlerpolitik erfolgte eine Lenkung und Steuerung des Lebens in allen praktischen, faktischen und materiellen Hinsichten – bis ins Exil und die Gefangenschaft hinein. Furtwänglers Lage war ernst, sein Leid tief und wahrhaftig; was er jedoch geleistet und erlitten hat, war nicht mit den Erfahrungen seiner jüdischen Kollegen zu vergleichen.

* Immerhin kämpfte Furtwängler noch bis in die frühen 1950er Jahre: „[Er] fühlte sich verpflichtet,“ schrieb Elisabeth Furtwängler in ihren Erinnerungen, „nachdem seine Heimat durch den Nazismus so geschändet war, für das wahre Deutsche, an dem er nie zweifelte, zu werben“.40 Nach der Begegnung mit Goldberg 1947 hat keiner der vier Ex-Philharmoniker den „Doktor“ je wiedergesehen. Allerdings blieb Gilbert Back in regelmäßigem Briefkontakt. Dadurch erfuhr Furtwängler, dass sich die vier Alt-Philharmoniker fünfzehn Jahre nach ihrer Emigration in Süd-Kalifornien wieder getroffen haben. „Wenn Sie schreiben,“ antwortete Furtwängler, „daß Sie Mozarts Streichquintette mit Goldberg, Graudan und Schuster spielen, bekomme ich ordentlich Heimweh nach Euch. Wie sonderbar ist doch das Leben, das uns alle so in die Welt zerstreut hat“.41 Für Furtwängler war diese Erkenntnis „sonderbar“, für die Streicherkollegen vielleicht auch, aber mit Rücksicht auf alles, was inzwischen geschehen war, bleibt es fragwürdig, ob sie „Heimweh“ nach den alten Zeiten hatten. Es war nicht das Leben, sondern es waren die Menschen und die Politik, die die alten Kollegen „in die Welt zerstreut“ hatten; und obwohl die vier Musiker über sehr unterschiedliche Wege wieder an einen gemeinsamen Ort gelangt waren, einer – Furtwängler – war stehen geblieben. 39 Privatarchiv Peter Muck, Furtwängler Bericht, S.13–14 40 E. Furtwängler, Über Wilhelm Furtwängler, S. 140. 41 Ebd.

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Furtwängler ist 1954 in Ebersteinberg bei Baden-Baden gestorben. Von den ehemaligen jüdischen Philharmoniker Kollegen war Schuster der Einzige, der wieder nach Berlin kam, und zwar fast 30 Jahre nach seiner Emigration; 1963 spielte er mit den Berliner Philharmonikern das Dvořák-Konzert. Sechs Jahre danach starb der Cellist in seiner Wahl-Heimat Kalifornien. 1967 verstarb Gilbert Back in Santa Monica, Graudan wiederum, der weiterhin in Amerika lebte, 1968 während einer Tournee durch Russland. Interessanterweise empfand Goldberg nicht denselben Zorn gegenüber den von ihm angeführten Missetätern: Deutschland konnte er nie verzeihen, aber nach einer bemerkenswerten Karriere als internationaler Solist, Dirigent, Kammermusiker und Professor in Amerika und den Niederlanden zog Goldberg wieder nach Asien und lebte von 1987 bis zu seinem Tod im Jahr 1993 in Tateyama, Japan. Über Furtwängler äußerte Goldberg immerhin, „Als Musiker war er absolut unvergleichbar. Es hat keiner jemals seine Klasse erreicht […], aber wenn ich erzählen würde, was ich alles über ihn weiß… da würden Sie staunen…“.42 – staunen wie der Geiger selbst es 1947 in London tat.

42 T. Potter, Soul of Discretion, S. 743.

Selbstbild und Rezeption des Komponisten von FRÉDÉRIC DÖHL

Nahe dem Nollendorfplatz im Norden des Berliner Stadtteils Schöneberg befindet sich nicht unweit des stark frequentierten und gleichnamigen U-Bahnhofs ein neuzeitliches, vielstöckiges Gebäude, das in weithin sichtbarem Orange gehalten ist und derzeit den Menschen primär auffällt, weil es die geräumige Filiale einer bekannten Supermarktkette beherbergt.1 Fast verlegen, etwas rechts vom Eingangsbereich des Lebensmittelgeschäfts gelegen, kann der aufmerksame Betrachter wie der zufällig Aufblickende eine transparent gehaltene Gedenktafel entdecken. Auf Ihr wird an das vormals an diesem Platz befindliche Geburtshaus von Wilhelm Furtwängler erinnert, der hier auch später für Jahre seine private Heimstatt gefunden hat, korrespondierend zu seinem künstlerischen Zuhause mit der einige Kilometer entfernt gelegenen alten, im Krieg zerstörten Berliner Philharmonie. Auf jener, angesichts der bis heute andauernden Prominenz des Geehrten doch vergleichsweise unauffällig gehaltenen Erinnerungstafel steht u.a. zu lesen: „Komponist und Chefdirigent der Berliner Philharmoniker von 1922–1954“. Dem Kenner der Musikgeschichte wird sofort auffallen, dass die zweite der beiden Angaben zumindest formal unrichtig ist, hatte Furtwängler doch für viele der ihm hier zugeschriebenen Jahre jene Position gar nicht inne.2 Gewiss, gefühlt ist jene Phase der Geschichte des weltberühmten Klangkörpers die „Ära Furtwängler“. Und diese Epoche reicht von seinem Dienstantritt in der Nachfolge von Arthur Nikisch 1922 bis zu seinem Tod am 30. November 1954. Im Folgenden wollen wir uns jedoch der ersten Angabe widmen, über den beim Blick auf jene Tafel wohl der musikhistorische Laie viel eher noch stolpern dürfte: „Wilhelm Furtwängler, Komponist“? Wer nicht einmal zufällig Gast eines Konzertes war, auf dessen Programm eines der selten gegebenen Werke des Berliners stand oder wer nicht ebenso beiläufig einmal einen Tonträger mit einem dieser Stücke gehört oder eine Bemerkung in einem Text gelesen hat, der wird mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit nicht wissen, dass Furtwängler auch Komponist war, geschweige denn, dass er sich zuvorderst als solchen betrachtete. Diese Seite seines Wirkens scheint im musikalischen Allgemeinwissen wenig mehr als eine persönliche Fußnote seines Werdegangs zu 1 2

Zu Furtwänglers Zeiten trug es die Anschrift Maaßenstraße Nr. 1, heute Nollendorfplatz 8–9. Vgl. Herbert Haffner, Furtwängler, Berlin 2003, S. 205. Den Berliner Philharmonikern stand er formell zwischen 1922 bis 1934 und 1948 bis 1954 vor, vgl. Joachim Matzner, Furtwängler. Analyse, Dokument, Protokoll, Zürich 1986, S. 161.

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sein. Zwar hat der Komponist Furtwängler in der jüngeren Vergangenheit einen gewissen Aufmerksamkeitszuwachs erfahren, was sich nicht nur an Gedenktafeltexten wie dem eingangs zitierten zeigt, sondern insbesondere daran, dass mittlerweile alle seine wesentlichen Werke in verschiedenen Interpretationen auf Tonträger vorliegen. Dieser Trend wird insbesondere im deutschsprachigen Raum von der zuletzt stetig anwachsenden Furtwängler-Literatur durchaus reflektiert. Einige Spezialstudien sind erschienen.3 Von einer Renaissance des Komponisten Furtwängler kann man allerdings allein schon deswegen nicht sprechen, weil dieser nie eine Blütezeit erlebt hat. Wenig überraschend ist daher festzustellen, dass Furtwängler entgegen der vorgenannten Entwicklung in aktuelleren, thematisch nicht auf ihn konzentrierten Publikationen, welche die Kunstmusikgeschichte seiner Wirkungszeit behandeln, nach wie vor als Komponist unbeachtet bleibt.4 Das gilt auch für seine Hauptphase als Komponist, die 1930er und 1940er Jahre, in Anbetracht derer der Fokus des allgemeinen Interesses völlig zurecht auf seinen Leistungen als Dirigent und vor allem der politisch-moralischen Diskussion seines Handelns respektive Nichthandelns im nationalsozialistischen Dritten Reich verharrt.5 Man könnte es dabei belassen, wenn das Gedenkschild am Berliner Nollendorfplatz nicht exakt Furtwänglers Selbstbild widerspiegeln würde. Es handelt sich bei Furtwängler bis heute um einen der meistbewunderten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, der sich in völliger Umkehrung seiner historischen Wirkung selbst zuvorderst als Komponist

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Vgl. etwa Chris Walton, Werkverzeichnis Wilhelm Furtwängler, in: ders. (Hg.), Wilhelm Furtwängler in Diskussion, Winterthur 1996, S. 85–114; Roman Brotbeck, Alles sehr allmählich: Anmerkungen zum Komponisten Wilhelm Furtwängler, in: Walton (Hg.), Furtwängler in Diskussion, S. 41–55; Günter Birkner, Furtwänglers Selbstverständnis als Komponist, in: S. Krahnert (Hg.), Furtwängler Studien I, Berlin 1998, S. 36–45; Bruno d’Heudières, Wilhelm Furtwängler als Komponist – das Ethos eines Künstlers, in: Krahnert (Hg.), Furtwängler Studien, S. 71–95; Oliver Blümel, Die zweite und dritte Symphonie Wilhelm Furtwänglers, Berlin 2004; Brotbeck, Der dirigierende Komponist. Anmerkungen zu Furtwänglers kompositorischem Werk, in: Stiftung Lucerne Festival (Hg.), Zwischen Skylla und Charybdis. Wilhelm Furtwängler im Brennpunkt, Luzern 2004, S. 75–82. Vgl. etwa Hermann Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts, Laaber 1984 (Ausnahme S. 226: Erwähnung der Symphonie Nr. 2 e-Moll); Jean-Noël von der Weid, Die Musik des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2001; N. Cook; A. Pople (Hg.), The Cambridge History of Twentieth-Century Music, Cambridge 2004; A. Werner-Jensen (Hg.), Reclams Kammermusikführer, Stuttgart 2005; Constantin Floros, Neue Ohren für Neue Musik. Streifzüge durch die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Mainz 2006; A. Riethmüller (Hg.), Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1925–1945, Laaber 2006; Alex Ross, The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören, München 2009; Richard Taruskin, Music in the Early Twentieth Century, Oxford 2010. Vgl. etwa R. Brinkmann; C. Wolff (Hg.), Driven into Paradise. The Musical Migration from Nazi Germany to the United States, Berkeley 1999; Michael Kater, Die missbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich, München 2000; C. Applegate; P. Potter (Hg.), Music and German National Identity, Chicago 2002; J. Huener, F. Nicosia (Hg.), The Arts in Nazi Germany. Continuity, Conformity, Change, New York 2006; A. Riethmüller (Hg.), Deutsche Leitkultur Musik? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust, Stuttgart 2006; Karen Painter, Symphonic Aspirations. German Music and Politics, 1900–1945, Cambridge 2007; Toby Thacker, Music after Hitler, 1945–1955, Farnham 2007.

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definierte und es dabei obendrein für nötig erachtete, unermüdlich eine beispiellose Laufbahn als Orchesterleiter zu marginalisieren: „Ich bin seit 35 Jahren als Kapellmeister, nicht als Komponist bekannt. In solchen Fällen pflegt die ,Welt‘ im vorhinein Kompositionen nicht ,ernst‘ zu nehmen, sie als ,Kapellmeister-Musik‘ – meistens mit Recht – abzulehnen. In meinem Fall möchte ich anführen, daß ich als Komponist begann, längst bevor ich dirigierte, und daß ich mich zeitlebens vielleicht als einen dirigierenden Komponisten, niemals aber als einen komponierenden Kapellmeister betrachtet habe“.6 „Meine Dirigenten-,Karriere‘, von der Du sprichst, ist ernsthafter Erwähnung nicht wert, wohl aber wäre des Erwähnens wert, daß ich manchmal menschliche, warmherzige, natürliche und echte Aufführungen mache, die man sonst nur noch in seltenen Ausnahmen hört. In Wirklichkeit war das Dirigieren das Dach unter das ich mich im Leben geflüchtet habe, weil ich im Begriff war, als Komponist zu Grunde zu gehen“.7 „Es ist verständlich, daß die Öffentlichkeit einem Mann, den sie bisher nur als Dirigenten kennenlernte, den Komponisten nicht glaubt. [...] Daher sei in meinem besonderen Falle mitgeteilt, daß ich allerdings sehr viel früher und sehr viel ausschließlicher Komponist war als Dirigent. Daß ich erst relativ sehr spät – und zunächst durchaus unter dem Gesichtspunkt des Broterwerbs – an Dirigieren dachte. Daß ich auch weiterhin das Komponieren – wenn auch in die übrigbleibenden Sommermonate gedrängt – stets als Hauptsache betrachtet habe“.8 „Wenn ich dirigiert habe, so habe ich es mein Leben lang als ,Komponist‘ getan. [...] Auch wenn ich mich bemühte, irgendeinen Tatbestand aufzuzeigen und zu formulieren, tat ich das als Komponist, als produktiver Musiker“.9

Angesichts einer solch unzweideutigen Selbstdarstellung drängt sich die Frage auf, wie auf ein derartiges Œuvre musikhistoriographisch zu reagieren ist, da die Emphase, die ihr Schöpfer hierauf verwendet, so diametral seiner öffentlichen Wahrnehmung als Künstler widerspricht. Dies gilt umso mehr, als viele auch der angesehensten Chronisten und Kommentatoren der jüngeren Kunstmusikgeschichte Furtwänglers Urteilsvermögen in Sachen musikalischer Interpretation von Kompositionen Dritter, allen voran den Symphonien Ludwig van Beethovens, unbedingte Autorität und Kompetenz zuerkennen.10 Schließlich gilt es bei diesem Unterfangen auch zu bestimmen, was das zumindest zaghaft neu erwachte Interesse an Furtwänglers Werken ausgelöst haben mag und was es tragen könnte, wenn es in diesem Fall doch nicht um die Wiederentdeckung eines einst lebendigen und heute vergessenen kompositorischen Schaffens geht.

6

Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, hg. von E. Furtwängler; G. Birkner, Wiesbaden 1980, S. 326. 7 Zitiert nach Birkner, Furtwänglers Selbstverständnis, S. 36. 8 Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 291f. 9 Ebd., S. 343f. 10 Vgl. etwa Taruskin, Resisting the Ninth, in: 19th-Century Music 12/3, 1989, S. 241–256; ders., Text and Act. Essays on Music and Performance, New York 1995, S. 235–262.

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1. Politische Musik Der Gegenstand Furtwängler polarisiert wie nur wenige der jüngeren Kunstmusikgeschichte. Die Gründe hierfür sind schnell benannt: Einerseits die überwältigende, über Tonträger bis in die Gegenwart anhaltende Wirkung seiner Arbeit als Dirigent, andererseits der Streit um die Bewertung seines Handelns respektive Nichthandelns im Dritten Reich. Während Ersteres allgemein anerkannt ist, stellt sich Letzteres als heillos umstritten dar. Das überrascht nicht. Kaum irgendwo vermag eine Kompromittierung, geschweige denn eine Mittäterschaft, vergleichbar schwer zu wiegen wie in jener Ära der Industrialisierung des Mordes. Deswegen wird hier so hart um Urteile gerungen und werden diese immer wieder in Frage gestellt. Es gibt kaum Literatur zu Furtwängler, die sich nicht gezwungen sieht, sich hiermit zu beschäftigen und dabei für oder gegen ihn Partei zu ergreifen. Dabei wird je nachdem entschieden, welche biographischen Anknüpfungspunkte man akzentuiert. Teilnahmslos aber bleibt selten jemand. Auch eine Beschäftigung mit dem „Komponisten Furtwängler“ kommt, selbst wenn sie wollte, nicht umhin, sich hiermit auseinanderzusetzen. Ein Rückzug auf die Noten der Partituren bleibt ihr verwehrt und das keineswegs nur aus politischmoralischen Motiven, sondern schon aufgrund der Chronologie der Ereignisse und ihrer zeitgeschichtlichen Einbettung. Nach dem 1909 komponierten und im November 1910 in Breslau uraufgeführten Te Deum hat Furtwängler kein fertiges Werk mehr vorgelegt.11 Das änderte sich erst, als der sogenannte „Fall Hindemith“ Furtwängler Ende 1934 vorübergehend aus dem öffentlichen Musikleben zwang,12 ein Schritt, der auch international Aufmerksamkeit erregte,13 Erst ab 11 Vgl. Walton, Werkverzeichnis, S. 85ff; Brotbeck, Anmerkungen zum Komponisten Furtwängler, S. 42; Birkner, Furtwänglers Selbstverständnis, S. 37; d’Heudières, Furtwängler als Komponist, S. 72; Brotbeck, Der dirigierende Komponist, S. 75. 12 Mit dem Artikel Der Fall Hindemith, der am 25. November 1934 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Berlin erschien (vgl. Furtwängler, Der Fall Hindemith, in: ders., Ton und Wort. Aufsätze und Vorträge, Wiesbaden 1954, S. 91–96), verwandte sich Furtwängler für die Musik Hindemiths. Diese war in den Monaten zuvor nach der erfolgreichen Uraufführung der Symphonie Mathis der Maler am 12. März 1934 unter Furtwängler in Berlin mit den Philharmonikern in Kulturadministration und Presse unter Beschuss geraten. Die Kampagne gipfelte im Verbot der Aufführung der gleichnamigen Oper an der Berliner Staatsoper ein halbes Jahr später. Eine Diskussion von Furtwänglers Motiven, sich daraufhin öffentlich einzumischen, und mehr noch der vom ihm dafür gewählten Argumente sowie seines Agierens im weiteren Verlauf der Affäre kann hier nicht geleistet werden. Furtwänglers Text erschließt sich insoweit mittels Lektüre jedoch ohne weiteres und unzweideutig selbst als zweifelhaft vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Ideologie, Sprache und Kulturpolitik. Vgl. für Positionen zu der Angelegenheit Fred Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982, S. 66; Gudrun Breimann, Mathis der Maler und der „Fall Hindemith“. Studien zu Hindemiths Opernlibretto im Kontext der kulturgeschichtlichen und politischen Bedingungen der 30er Jahre, Frankfurt am Main 1996, S. 42; Richard Evans, Playing for the Devil. Furtwängler and the Nazis, in: ders., Rereading German History. From Unification to Reunification 1800–1996, New York 1997, S. 189; Kater, Die missbrauchte Muse, S. 346; Haffner, Furtwängler, S. 190ff. 13 Vgl. David Josephson, The Exile of European Music. Documentation of Upheaval and Immigration in the New York Times, in: Brinkmann; Wolff (Hg.): Driven into Paradise, S. 122.

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diesem Zeitpunkt nach einer Pause von immerhin gut einem Vierteljahrhundert beschäftigte sich Furtwängler wieder mit dem Komponieren, jedenfalls in einer Ernsthaftigkeit und Konsequenz, die veröffentlichungsfähige Werke entstehen ließ. Zwischen dieser Entwicklung und dem Beginn von Deutschlands dunkelster Epoche besteht also eine unmittelbare Kausalität: Es war eine Konfrontation mit nationalsozialistischer Kulturpolitik, die Furtwängler eine Auszeit vom Dirigieren auferlegte, welche wiederum den Beginn seiner wichtigsten Schaffensphase als Komponist markiert. Furtwängler war zu diesem Zeitpunkt bereits fast 50 Jahre alt und sollte, was er natürlich nicht absehen konnte, noch zwanzig produktive Jahre vor sich haben. Die ersten beiden der nun entstehenden späten Schöpfungen waren die Violinsonate Nr. 1 d-Moll und das Klavierquintett C-Dur, die beide 1935 fertiggestellt wurden und zum Teil mehr als 20 Jahre andauernde Arbeiten zum Abschluss führten. Es folgten hiernach noch das Symphonische Konzert für Klavier und Orchester h-Moll (1937), die Violinsonate Nr. 2 D-Dur (1939) sowie die drei Symphonien in h-Moll (1941), e-Moll (1945, 2. Fassung 1952) und cis-Moll (1954). Weitere Werke jener Jahre wie ein Streichquintett, ein Streichquartett und eine Cellosonate blieben unvollendet.14 Diesen ungewöhnlichen Werdegang des Komponisten Furtwängler verstehen zu können, bedeutet daher zwingend, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie es zu der Lücke von gut einem Vierteljahrhundert zwischen den kompositionsreichen Jugendjahren und dem Spätwerk kam und vor allem, was ihn auf dem Höhepunkt seines Ruhmes als Dirigent dazu bewegte, wieder mit solcher Konsequenz und Nachhaltigkeit zu komponieren zu beginnen. Wird die Lücke zwischen 1909 und 1935 gemeinhin, auch von ihm selbst, sehr naheliegend damit zu erklären versucht, dass einerseits aufgrund seiner Karriere als Dirigent weder Zeit noch Muse zur Komposition blieben, andererseits die Vorstellung einer vollständigen Kompositionspause auch unzutreffend sei, da er doch durchgehend immer wieder an Werken weitergearbeitet habe,15 so bleibt die Motivation zum Spätwerk ein wenig im Dunkeln. Die Zwangspause in Folge der Niederlegung aller Ämter am 4. Dezember 193416 füllte Furtwängler mit der Vollendung eigener Werke.17 Doch er kehrte wenig später ins öffentliche Musikleben zurück und befand sich ab 1935 mitnichten im Ruhestand.18 Die naheliegende Erklärung, dass ihm seit 1909 lediglich die Zeit gefehlt habe, während er als Dirigent Karriere machte und dabei u.a. Positionen in Straßburg (1909–1911), Lübeck (1911–1915), Mannheim (1915–1920), Wien (1919–1924), Leipzig (1922–1928) und Berlin (ab 1920, Berliner Philharmoniker ab 1922) inne hatte,19 vermag die Existenz des Spätwerks also alleine nicht zu erklären. Hierauf wird zurückzukommen sein. Nehmen wir zunächst schlicht zur Kenntnis, dass das, was heute von den Werken Furtwänglers gepflegt wird, im 14 Vgl. Walton, Werkverzeichnis, S. 85ff.; d’Heudières, Furtwängler als Komponist, S. 72. 15 Vgl. Birkner, Furtwänglers Selbstverständnis, S. 38; d’Heudières, Furtwängler als Komponist, S. 72. 16 Vgl. Haffner, Furtwängler, S. 192. 17 Violinsonate Nr. 1 d-Moll und Klavierquintett C-Dur. 18 Vgl. Kater, Die missbrauchte Muse, S. 379ff.; Haffner, Furtwängler, S. 206ff. 19 Vgl. Hans-Hubert Schönzeler, Furtwängler, London 1990, S. 174f.

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Dritten Reich oder zumindest im Rahmen einer Schaffensphase entstand, die in eben jenen dunklen Jahren ihren Ausgang nahm und bis zu Furtwänglers Tod knapp eine Dekade nach Kriegsende nicht wieder abgerissen ist. Das Thema Furtwängler im Dritten Reich steht demgemäß zwingend vorne auf der Agenda des am Komponisten Furtwängler Interessierten, falls er nicht bei den Jugendwerken verweilen will, was dem Gegenstand allerdings gewiss unrecht tun würde. Sich mit Literatur zu Furtwängler beschäftigen zu müssen, ist durchaus mühselig. Denn sie besteht weithin aus zwei Lagern, einerseits den Anklägern, die in Furtwängler – zurecht – den hervorragendsten Exponenten der Kulturpolitik des Dritten Reiches sehen,20 „Hitler’s showcase conductor“21, andererseits den Verteidigern, die nicht müde werden zu erklären, er hätte dem „von ihm niemals unterstützten Nazi-Regime“22 oppositionell, wenigstens jedoch gleichgültig gegenüber gestanden und wäre „sicher kein Nationalsozialist, auch nicht ein opportunistischer Sympathisant“23 gewesen.24 Hier ist nicht der Ort für einen abstrakten Diskurs um politische und gesellschaftliche Verantwortung, auch wenn man schlicht zur Kenntnis nehmen muss, dass die Nationalsozialisten mit der Zeit nahezu jeden und alles der Opposition verdächtigten, Furtwängler sich bis zu seiner Flucht in die Schweiz Anfang 1945 dieser Ehre jedoch nicht ausgesetzt sah. Vielmehr hielt etwa Goebbels noch Anfang 1944 wiederholt unzweideutige Urteile Hitlers und seiner selbst in Sachen Furtwängler fest: „Wir [Goebbels und Hitler] reden dann noch über Kulturfragen. Das Urteil über Richard Strauß ist gefällt. Er will zwar nach meinem Vorschlag nicht, daß die Werke von Richard Strauß eine Beeinträchtigung erfahren, aber der Kontakt führender Nationalsozialisten mit seiner Person muß unterbunden werden. Der Führer läßt sich dabei sehr kritisch über die Handlungsweise Schirachs aus, der auch in diesem Punkte wieder ganz unnationalsozialistisch Kulturpolitik und Haltung bewiesen hat. Lobend erwähnt der Führer demgegenüber Furtwängler. Dieser hat sich großartig gemacht, und der Führer gibt mir dem Auftrag, ihm das ausdrücklich zu bestätigen und hinzuzufügen, daß wir ihm das in Zukunft niemals vergessen“.25 „Große Hochachtung bringt der Führer Furtwängler entgegen. Er hat sich in nationalen Fragen tadellos verhalten; das werden wir ihm nach dem Krieg nicht vergessen“.26 „Ich bespreche mit dem Führer Theater-, Konzert- und Filmfragen, wofür er sich sehr lebhaft interessiert. Insbesondere erkundigt er sich nach der Haltung der einzelnen bekannten Künstler den Belastungen des Krieges gegenüber. Hier steht Furtwängler an der Spitze und Jannings im letzten Glied“.27 „Furtwängler zeigt sich dabei wieder von der besten Seite. Er ist ein aufrechter Patriot und warmherziger

20 Vgl. Evans, Playing for the Devil, S. 192; Kater, Die missbrauchte Muse, S. 374ff. 21 Richard Taruskin, In Search of the “Good” Hindemith Legacy, in: ders., The Danger of Music and Other Anti-Utopian Essays, Berkeley 2009, S. 62. 22 Birkner, Furtwänglers Selbstverständnis, S. 40. 23 Matzner, Furtwängler, S. 27. 24 Vgl. auch Fred Prieberg, Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986; Sam Shirakawa, The Devil’s Music Master. The Controversial Life and Career of Wilhelm Furtwängler, Oxford 1992. 25 Joseph Goebbels, 25. Januar 1944, Die Tagebücher 1924–1945, hg. von E. Fröhlich Teil 2, Bd. 11, 1994, S. 541. 26 Ders., 4. März 1944, in: ebd., S. 407. 27 Ders., 14. März 1944, in: ebd., S. 472.

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Anhänger und Verfechter unserer Politik und Kriegsführung. Man braucht ihm heute nur einen Wunsch zur Kenntnis bringen, und er erfüllt ihn gleich“.28

Doch selbst wenn man gewillt wäre, den Verteidigern von Furtwänglers Handeln im Dritten Reich zu folgen, so käme man nicht um zwei Feststellungen herum: Erstens unterstützt auch der innerlich Abgewandte einen Prozess, wenn er nach außen aktiv bleibt. Der entsprechende Verweis auf Furtwänglers – mutmaßlich oppositionell gesonnene – innere Haltung vermag ihn also nicht schon zu exkulpieren. Und zweitens ist in Anschauung und Vokabular eine beeindruckende Deckungsgleichheit zwischen dem auch öffentlich kundgegebenen Denken dieses Künstlers und dem der seinerzeitigen Machthaber zu beobachten, ohne dass zu erkennen wäre, dass Furtwängler hieraus Konsequenzen gezogen hätte, um diesen Eindruck von Nähe zu verhindern.29 Die Anknüpfung an die Ära des Dritten Reiches bei der Erschließung des Komponisten Furtwängler ist also nicht nur auf äußere Anlässe beschränkt. Vielmehr tritt eine inhaltliche Dimension hinzu. Sie ist insofern entscheidend, als wir mit ihr unmittelbar in das Zentrum des ästhetischen Denkens des Komponisten Furtwängler vorstoßen. Seine eigenen Äußerungen sind dabei auch nach 1945 von einer solchen Klarheit, dass notwendig Erstaunen darüber aufkommen muss, wie sich in der Rezeption überhaupt derart erbittert gegenüberstehende Fronten herausbilden konnten. So erklärte Furtwängler 1947 in dem Aufsatz Über tonale und atonale Musik: „Auch hier ist, wie man sieht, der Reichtum, die Freiheit, das Chaotisch-Ahnungsvolle atonaler Gestaltung erkauft mit einem Mangel biologisch-vitaler Art; denn das ist es, was wir hier Mangel an Orientierung nannten. Wir können uns der Einsicht nicht verschließen, daß eine Musik dadurch, daß sie auf die Spannungen und Entspannungen gliedernde Kraft verzichtet oder von Spannungen überhaupt absieht und an der Ortsbestimmtheit, die mit der Tonalität gegeben ist, nicht teilhat – sie mag sonst Eigenschaften haben, welche sie wolle –, unweigerlich biologisch gesehen in Nachteil gerät, d. i. als biologisch minderwertig angesprochen werden muß. Sie stellt nicht im selben Sinne einen Ablauf von Kräften dar. Dieser biologischen Minderwertigkeit mag eine intellektuelle Hochwertigkeit gegenüberstehen; das ändert an der Tatsache an sich nichts“.30

Wie kann ein hochintellektueller und -gebildeter Mensch – und diese Eigenschaften wird Furtwängler wohl niemand ernstlich absprechen wollen – sich zu einem solchen Vokabular hinreißen lassen, nach dem, was in den Jahren vorher unter der 28 Ders., 24. März 1944, in: ebd., S. 541; vgl. auch Evans, Playing for the Devil, S. 192. 29 Vgl. Brotbeck, Anmerkungen zum Komponisten Furtwängler, S. 53f. Vgl. weitergehend Evans, Playing for the Devil; Reinhold Brinkmann, The Distorted Sublime. Music and National Socialist Ideology – A sketch, in: M. Kater und A. Riethmüller (Hg.), Music and Nazism. Art under Tyranny, 1933–1945, Laaber 2003; Albrecht Riethmüller, Zur Politik der unpolitischen Musik, in: S. Ehrmann-Herfort; L. Finscher; G. Schubert (Hg.), Europäische Musikgeschichte, Kassel 2002, S. 1079–1113; ders., Musik, die „deutscheste“ Kunst, in: J. Braun; V. Karbusicky; H. Hoffmann; P. Lang (Hg.), Verfemte Musik. Komponisten in den Diktaturen unseres Jahrhunderts, Frankfurt am Main 21997, S. 91–103; Giselher Schubert, The Aesthetic Premises of a Nazi Conception of Music, in: Kater und Riethmüller (Hg.), Music and Nazism. 30 Furtwängler, Über tonale und atonale Musik, in: Matzner, Furtwängler, S. 47.

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Prämisse „biologischer Minderwertigkeit“ verbrochen wurde? Und wie kann ihm das passieren, der um den Holocaust ernsthaft getrauert haben will?31 Da vermögen ihn auch keine noch so abstrusen Versuche wie jener Joachim Matzners zu retten: „Und daß er selbst 1947, nach dem Untergang des Dritten Reiches, unbekümmert solche Vokabeln benutzte, spricht nicht gerade für anpasserische Geschicklichkeit, sondern wohl eher für Redlichkeit: ein echter Nazi-Gefolgsmann pflegte sich nach 1945 anders zu geben“.32 Man kommt nicht umhin, in einer solchen „Analyse“ das Wort „Redlichkeit“ durch „Gesinnung“ zu ersetzen, so sehr man auch die künstlerische Lebensleistung dieses Mannes bewundern mag. Diesen Zwiespalt muss man aushalten oder vom Gegenstand lassen. Stattdessen wird dieses erschütternde Vokabular von der Rezeption Furtwänglers bis in die Gegenwart willfährig aufgegriffen, gerade wenn es um sein kompositorisches Schaffen geht: „Der Komponist Furtwängler hatte ja bei allerhöchster Intelligenz auch die Fähigkeit, die Dinge sich wie ein Naturgebilde entwickeln zu lassen [...]. Das steht ja nun in den Partituren fest. Man muß es nur lesen können, und man muß den Sinn dafür entwickeln, daß darin der wahre, der gesunde Weg des geistigen Menschen der Zukunft liegt.“33

Gewiss, Furtwängler mag niemanden das Leben gekostet und niemandem hiernach getrachtet, manchem sogar in schwieriger Lage geholfen haben.34 Er mag auch mangels Parteibuchs formal kein Nationalsozialist gewesen sein.35 Aber er hat vorsätzlich, jedenfalls grob fahrlässig wider besseren Wissens deren Herrschaft an vorderster kultureller Front unterstützt: „Am Ende waren Wortführer für die freie Welt genötigt, ihn darauf hinzuweisen, daß er sich einer Tyrannei angepasst habe, deren lang anhaltenden Erfolg er durch genau die Art kulturpolitischer Aufgaben, die nach Goebbels’ Überzeugung von der Musik zu erfüllen waren, mit gewährleistet hatte“.36 Dabei hatte Furtwängler bereits im September 1934 recht weitgehend zu analysieren vermocht, in welche Kompromittierung, wenn nicht Mittäterschaft, es ihn führen sollte, würde er nicht die Opposition vertreten und durchhalten, die er wenig später (Dezember 1934) in der Hindemith-Affäre einnehmen und ebenso rasch wieder (Februar 1935) aufgeben sollte: „Es steht heute jeder Deutsche, der eine Stellung innehat, vor der Frage, ob er dieselbe behalten und durchführen will oder nicht. Im Bejahungs-Fall muß er mit der herrschenden Partei irgendwie 31 Vgl. David Monod, Verklärte Nacht. Denazifying Musicians under American Control, in: Kater und Riethmüller (Hg.), Music and Nazism. S. 305. 32 Matzner, Furtwängler, S. 27. 33 George Albrecht, Wilhelm Furtwängler aus der Sicht eines Dirigenten am Ende dieses Jahrhunderts. Interview, in: Krahnert (Hg.), Furtwängler-Studien, S. 105. 34 Vgl. Kater, Die missbrauchte Muse, S. 374f. 35 Die Frage der Parteimitgliedschaft ist allerdings ein ambivalent gehandhabter Umstand. Man vergleiche hierzu als illustratives Exempel etwa die ähnlich umfangreiche Literatur zu Furtwänglers ebenso berühmtem Nachfolger am Pult der Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan. Während bei Furtwängler das Fehlen einer Parteinummer zu seinen Gunsten angeführt wird, zieht das für Karajan mitnichten nach sich, dass auch nur überwiegend die Existenz seiner Mitgliedskarten nun zu seinen Lasten angerechnet würde. 36 Kater, Die missbrauchte Muse, S. 387.

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praktisch paktieren“.37 Man kann Furtwänglers kulturelles Handeln und Denken – oder wie Yehudi Menuhin formulierte: „his Germany, his Beethoven, his Brahms“38 – nicht ohne jene andere, dunkle Seite haben. Denn sie ist vitaler Bestandteil seines Deutschlands und seines Musikdenkens, gerade auch als Komponist. Und diese Position ohne Rücksicht auf die Umstände der Zeit durchgehalten zu haben, wiegt gewiss ungleich schwerer als das Offensichtliche wie etwa die Photographien mit Nazikontext.39 Man vermag einfach nicht guten Gewissens Goebbels Kommentar zu dem zu widersprechen, was Thomas Mann die „Unterwerfung Furtwänglers, der zu Gnaden aufgenommen wird“40 nannte und was die Ereignisse meint, die 1935 zur schrittweisen Rückkehr Furtwänglers ins öffentliche Musikleben führten41: „Diese Künstler sind das merkwürdigste Völkchen auf der Welt. Politisch ohne Schimmer“.42 Wird oft zu Gunsten Furtwänglers ins Feld geführt, sein Denken sei vor, während und nach dem Dritten Reich dasselbe gewesen und hätte daher mit diesem nichts zu tun, mag das vielleicht sogar angehen, entbindet einen jedoch nicht davon, darauf Acht zu geben, vor welchem gesellschaftlichen Kontext sich jeweils das eigene Handeln abspielt. Äußerungen wie jene Roman Brotbecks zeigen daher, wie selbst kritisch und differenziert vorgehende Betrachter sich angesichts des Genies dieses Künstlers dazu bereit finden, am Ende diese elementaren sozialen Spielregeln für Furtwängler nicht gelten zu lassen, und nach Wegen suchen, der Sache einen für ihn günstigen Dreh zu geben: „Furtwängler wurde oft dafür kritisiert, dass er nach dem Krieg zu keiner eigentlichen Revision seiner Stellung im Dritten Reich und zu keiner fundamentalen Kritik des Nationalsozialismus 37 Wilhelm Furtwängler, zitiert nach ebd., S. 378. Der Einwurf der Apologeten, Furtwängler habe hiernach ja gar keine öffentliche Stellung mehr bekleidet, ist formal richtig, wenn man den Begriff als „Anstellung“ interpretiert. Er geht aber am Gegenstand vorbei. Furtwängler war sich der Folgen im Klaren, würde er nach der Hindemith-Affäre über eine Entschuldigungsgeste zurück ins öffentliche Musikleben gelassen und nicht emigrieren, was ihm unbestritten möglich gewesen wäre. Das zeigt nicht nur jenes Zitat vom September 1934, sondern auch, dass Furtwänglers Rückkehr eine klare Positionierung von Goebbels vorausging, die jene Situation präzise wiedergibt, der sich Furtwängler gegenüber sah: „Sie können Deutschland verlassen, wann sie wollen, aber sie müssen sich über eines klar sein: solange wir Deutschland regieren [...] werden sie niemals und unter gar keinen Umständen in ihre Heimat zurückkehren können. [...] Wir haben nicht die Absicht, Ihnen in Ihre künstlerischen Angelegenheiten hineinzureden. Wir müssen aber auf dem Gebiet, wo wir zuständig sind, die unbedingte Einordnung auch des größten Künstlers verlangen“, zitiert nach Haffner, Furtwängler, S. 205. 38 Yehudi Menuhin, Vorwort, in: Schönzeler, Furtwängler, S. vi. 39 Vgl. Furtwängler und Hitler bei Saskia Jaszoltowski, Politisierung der Musik, in: A. Riethmüller (Hg.), Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, S. 33; Werkkonzert vor Hitlerportrait und unter Propagandabanner vom 21. Dezember 1939 bei Haffner, Furtwängler, S. 331; Konzert vor Hitler, Göhring und Goebbels, ebd., S. 213; mit Hitler und Winifred Wagner 1937, ebd., S. 240. 40 Thomas Mann, Tagebücher, hg. von P. De Mendelssohn und I. Jens, Frankfurt am Main 1977, Bd. 3, S. 47. 41 Vgl. hierzu bei gegensätzlicher Interpretation Kater, Die missbrauchte Muse, S. 379ff.; Haffner, Furtwängler, S. 206ff. 42 Goebbels, 2. März 1935, Tagebücher 1924–1945, hg. von R. Reuth, Bd. 3, 1992, S. 857 bzw. ders., in: Tagebücher, hg. Von Fröhlich, Teil 1, Bd. 3, 2005, S. 192.

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Frédéric Döhl fähig war. Ich halte mindestens diese Haltung für Konsequenz. Wer 1935 so zu komponieren beginnt und dabei die Schnittmengen mit der deutschen Musikideologie unbeachtet lässt; wer während der ganzen Regierungszeit des Führers nie an seiner Führerfunktion irre wird, von dem halte ich mindestens für konsequent, dass er nach 1945 nicht in den modischen Ton der Selbstbezichtigung verfällt oder billige Entschuldigungen abgibt wie andere berühmte Dirigenten, sondern seiner alten unpolitischen Haltung treu bleibt und weder an seinen konservativen musikalischen Ideen, noch an seinem Dirigier- oder Kompositionsstil etwas wesentliches verändert. Wäre ich also Furtwänglers Anwalt, so würde ich gerade wegen dieser Konsequenz für Freispruch plädieren“.43

Brotbecks „Konsequenz“ entspricht dabei frappierend Matzners „Redlichkeit“, was seiner Analyse nicht gut zu Gesicht steht. Bewertungen wie „unbelehrbar“ und „ignorant“ wären dann doch die adäquateren Begriffe. Von dem Wunsch getrieben, die Person vor dem Urteil zu schützen, eine Stütze des Nationalsozialismus gewesen zu sein, wird verkannt, dass eine „unpolitische Haltung“ – als Annahme im Übrigen selbst schon höchst problematisch und umstritten – jedenfalls keine unpolitische Wirkung des Handelns bedingt, geschweige denn impliziert. Das gilt mit dem Komponisten Furtwängler, wie Brotbeck zutreffend bemerkt, explizit auch für den hier betrachteten Gegenstand und dabei ebenso für dessen eigene Werkästhetik wie seine Äußerungen über das zeitgenössische Komponieren, auf die noch zu sprechen zu kommen sein wird. Mit solchen Verteidigungsreden, die juristisch gesehen schlicht unhaltbar sind,44 wird lediglich der Spielball aufgenommen, den Furtwängler selbst geformt hat, sofern er in seinen Äußerungen zur Hindemith-Affäre die Kunst als außerhalb der gesellschaftspolitischen Situation stehend definierte und sich die Einmischung der Politik nur in diese, seine Sphäre verbat.45 Furtwänglers reifes kompositorisches Schaffen ab 1935 erscheint ebenso wenig als Ausdruck innerer Emigration, wie es gewiss kein unmittelbares Produkt von Propaganda und nationalsozialistischer Kulturpolitik war. Sich mit Schutzbehauptungen wie „Seine Musik ist vollkommen rein von Politik“46 auf die Noten zurückziehen zu wollen, ist jedoch unmöglich, denn es handelt sich hierbei um eminent politische Musik: Durch politische Ereignisse begann diese Phase und im 43 Brotbeck, Anmerkungen zum Komponisten Furtwängler, S. 54. 44 Wer die Situation begreift, aber unter Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt und damit pflichtwidrig auf das Ausbleiben des Erfolges des eigenen Handelns vertraut („Es wird schon gut gehen“), der handelt fahrlässig schuldhaft. Wem der Erfolgseintritt gleichgültig ist und diesen billigend in Kauf nimmt, dem ist sogar Vorsatz zum Vorwurf zu machen. Und dass Furtwängler spätestens mit der Hindemith-Affäre wusste, was Sache ist, haben wir bereits gesehen. Wenn Furtwängler vor diesem Hintergrund 1936 selbst die Messlatte setzt, in dem er schreibt „Das Leben ist heute mehr wie jemals eine Frage des Mutes geworden“ (zitiert nach Jean-Jacques Rapin, Wilhelm Furtwängler und die Bedeutung seiner Aufzeichnungen 1924– 1954, in: Krahnert (Hg.), Furtwängler-Studien, S. 112), so ist er – wie so viele andere auch – an eben jenem Maßstab gescheitert. Man kann geflissentlich darüber streiten, ob man von den klügsten Köpfen eines Landes, die in der Lage sind, den Gang der Dinge zu überblicken und zu begreifen, mehr erwarten darf als von den meisten seiner Durchschnittsbürger. Freisprechen tut es jedenfalls niemanden. 45 Vgl. Kater, Die missbrauchte Muse, S. 374ff. 46 Albrecht, Wilhelm Furtwängler, S. 104.

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politischen Kontext stand jene Musik, aufgrund des Nachkriegsstatus ihres Schöpfers auch bis zu Furtwänglers Tod. Sie erweist sich dabei einerseits als politisch gemeint, nämlich als klares, oppositionell gesinntes Bekenntnis gegen die herrschenden nachromantischen Strömungen der Kunstmusik ihrer Entstehungszeit. Andererseits wirkte sie politisch, vermochte sie doch gerade hierdurch „in gar manchem Punkt auch jenem hohen Ideal deutscher Musik [zu] entsprechen, das Goebbels anlässlich der ,Ausstellung für entartete Musik‘ 1938 in Düsseldorf verkündete“,47 wodurch sie die herrschende Musikideologie des Dritten Reiches mitzutragen half.

2. Kompositorische Ästhetik Die für den Komponisten Furtwängler maßgebliche Kategorie klang bereits an: Tonalität. Der Begriff hat über die Zeit viele Bedeutungen erhalten, seitdem er von François-Joseph Fétis Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt wurde.48 Furtwängler, in dessen Worten man am treffendsten ein kompositorisches Glaubensbekenntnis sehen dürfte, verstand hierunter zweierlei: „Tonalität wird in der Musik nach zwei Seiten hin Wirklichkeit. Einmal im engeren Sinne als unmittelbare Beziehung einzelner Töne oder Harmonien zueinander. Sie gibt dann dieser Beziehung Charakter, Wert, Eigentümlichkeit, gibt der einzelnen Fortschreitung gleichsam die ,Lokalfarbe‘. Wird sie in diesem Sinne als ,schöner Klang‘ begriffen, ist sie Mittel des Musikers, ist sie Materie, und verfällt damit dem Gesetz der Abnutzung aller Materie. Ihre Ablehnung durch die Jugend nun schon zweier Generationen besteht zu Recht. Daneben aber hat Tonalität, wie sie in der ,Kadenz‘ in Erscheinung tritt, noch eine andere Funktion: Sie macht es der Musik möglich, eine ,Form‘ zu bilden, ist das strukturbildende Element, das dem Musikstück zur ,Gestalt‘ verhilft, ihm ermöglicht, Anfang, Durchgang und Ende aus sich selbst heraus zu entwickeln. Hier nun, in ihrer Funktion als Träger organisch-gewachsener Form, nützt sich die Tonalität, wie die Erfahrung immer wieder von neuem zeigt, keineswegs ab. Sie kann sich nämlich gar nicht abnutzen, eben weil sie lebendiger Träger einer organischen Funktion ist. Denn wir sind selber Organismen, die Gesetze organischen Lebens sind unsere eigenen Gesetze. Wir sind an sie gebunden. Von hier aus, von dieser doppelten Funktion der Tonalität, erklären sich die Widersprüche, warum sie das eine Mal überaltert und tot, das andere Mal neu und frisch wie der junge Tag erscheint, warum fast dieselbe Wendung, die bei einem Epigonen wie Gestorbenes, Halbverwestes anekelt, zur selben Zeit bei einem Meister den Himmel auf Erden herabzubringen vermag“.49

47 Brotbeck, Anmerkungen zum Komponisten Furtwängler, S. 53. 48 François-Joseph Fétis, Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, Paris 1844. Vgl. auch Carl Dahlhaus, Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel 1968, S. 9ff.; Michael Beiche, Tonalität, in: H. Eggebrecht (Hg.), Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, HMT-Sonderband 1, Stuttgart 1995, S. 412ff. 49 Furtwängler, Bemerkungen eines Komponisten zur Uraufführung seiner Zweiten Symphonie, in: ders., Ton und Wort, S. 206f.

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Furtwängler sah sich dabei natürlich nicht auf der Seite der Epigonen, sondern trotz aller geäußerten Selbstzweifel auf der anderen. Dennoch war er sich bewusst, dass ihn das ausdrückliche Anknüpfen an das, was er unter Tonalität verstand, eben jenem Vorwurf aussetzen würde. Daher suchte er diesen Ansatz offensiv umzudeuten: Gerade in dem Akt des Festhaltens, nicht in der Aufgabe des Tonalen, müsste man eine besondere Leistung sehen. „Mut, sehr viel Mut – und zwar um so mehr, je exponierter einer heute steht – gehört aber dazu, heute konsequent tonal zu sein, und um eines lebendigen und modernen Inhaltes willen den Vorwurf, die ,Sprache‘ des 19. Jahrhunderts zu sprechen, bewußt auf sich zu nehmen“.50 Überhaupt sind für den Komponisten Furtwängler Äußerungen auffällig, mit denen er sich und seiner Vorstellung vom zeitgenössischen Komponieren explizit Mut zuspricht: Es „gehört heute schon längst kein Mut mehr dazu, die unsinnigsten – man nennt sie wohl auch die ,kühnsten‘ Zusammenklänge aufeinander zu türmen, wohl aber Mut, sehr viel Mut, auch nur einen reinen Akkord, eine einfach gewachsene Phrase niederzuschreiben“.51 Furtwänglers Umdeutungsbemühungen setzen nun an dem Begriff des Neuen an: „Es steht ganz außer Zweifel, daß jede wirkliche Schöpfung ein Vorstoßen in Neuland – auch für den Schöpfer selbst – sein muß. Ist sie das nicht, so wird sie Wiederholung und Routine, wird Epigonen-Werk. Nur ist die eigentliche Frage, was unter Neuem zu verstehen ist [...]“.52 Den Aspekt des Neuen füllt Furtwängler durch jene bereits zitierte Unterscheidung zwischen etwas, das er stets „Materie der Musik“53 nennt und was musikalisch Konkretes wie Harmonik, Rhythmik usw. meint, und dem Anderen. Ersteres könne zugegebenermaßen abnutzen, Letzteres wäre zeitlos. Jener Gegenpol bleibt dabei jedoch weithin unscharf und wird mit Attributen wie „Weiter-Entwicklung des Geistes“54 oder „Träger organisch-gewachsener Form“55 versehen und scheint in die Dimension des Glaubens oder besser des Daran-glauben-Wollens abzudriften: „Das Prinzip der Tonalität, das jeden einzelnen Ton in das System menschlichen Gesamtempfindens einbezieht und den hörenden Menschen uneingeschränkt zum Mittelpunkt des ganzen Geschehens macht, entspricht dem anthropomorphen ptolemäisch-christlichen Weltbild“.56 Wenn Furtwängler selbst das Ganze dann doch einmal zu ungreifbar wird und er auch nicht auf die bei ihm gängige weltliche Alternative abstellen will, die Tonalität zum „Naturgesetz“57 zu erklären, sondern auf die Fasslichkeit des musikalischen Materials zurückgreifen möchte,58 erklärt er diese schlicht zum Stand des Neuen: 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Ders., Aufzeichnungen, S. 142. Ders., Bemerkungen eines Komponisten, S. 205. Ders., Aufzeichnungen, S. 292. Ebd., S. 293. Ebd., S. 292. Ders., Bemerkungen eines Komponisten, S. 207. Zitiert nach d’Heudières, Furtwängler als Komponist, S. 89. W. Furtwängler, Über tonale und atonale Musik, S. 41. Vgl. zu diesem Begriff weitergehend Eckhard Roch, Zwischen Geist und Materie. Grundlagen des musikalischen Materialbegriffes in Philosophie und Rhetorik, in: Archiv für Musikwissenschaft 59/2, 2002, S. 136–164.

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„Auf die Verwendung der Kräfte, die sie [die Tonalität] dem Musiker, der mit ihnen wirklich umzugehen weiß, an die Hand gibt, zu verzichten und etwa Zustände vor Entdeckung der tonalen Gesetze oder den Abbau dieser Gesetze und Kräfte herbeizuwünschen, scheint mir kaum anders, als wenn man heute, im Besitze von Radio und Automobil, sich wieder in die Zeiten der Postkutsche zu versetzen wünschte“.59

Solche Versuche bleiben jedoch die Ausnahme, wohl weil sie zuviel Angriffsfläche für Einwände bieten. Gemeinhin bewegen sich Furtwänglers Erläuterungen der Tonalität daher in den gezeigten abstrakten Bahnen: „Tonalität ist nichts anders als die architektonische Gliederung der Zeit“.60 Die Musik „hat einen Punkt gefunden, von dem sie ausgehen kann, einen Weg, den sie durchmessen kann, ein Ende, das sie erreichen kann“.61 Furtwänglers Vorstellung von Tonalität bzw. jener Aspekt hieraus, auf den er als Komponist selbst abzustellen gedachte, ist dabei der des formgebenden Momentes: „Die Musik kann ,Gestalt‘ gewinnen“.62 Der Begriff der Tonalität ist daher eng mit jenem der Kadenz verwoben. Dieser meint bei Furtwängler entsprechend keine konkrete harmonische Wendung, sondern er steht für einen „großen übergeordneten Zusammenhang“.63 Brotbeck zieht deswegen eine Parallele zu dem von Heinrich Schenker entwickelten Modell der Urlinie, gerade vor dem Hintergrund, dass die beiden zu Beginn der 1920er Jahre gemeinsam Werke Klassischer Musik analysierten.64 Wie Furtwänglers Kadenz ist auch Schenkers Urlinie in den Noten eines Werks nie konkret nachweisbar. Vielmehr wird von beiden eine große dramaturgische Bewegung zu abstrahieren gesucht, die es dem Werk „ermöglicht, Anfang, Durchgang und Ende aus sich selbst heraus zu entwickeln“.65 Furtwänglers Auffassung leitet daher über zu der zweiten für ihn maßgeblichen Kategorie, dem Begriffspaar Spannung – Entspannung. Jenes hängt mit den anderen Aspekten eng zusammen. Der Entwicklungsprozess, den ein Werk durchläuft, soll sich wie von selbst aus einem organischen „Werden und Wachsen“66 ergeben. Zugleich ist er „in voller Kraft nur durch die Tonalität gegeben“,67 wobei Furtwängler mit diesem Begriff an dieser Stelle eben eine dramaturgisch sinnvolle „Gliederung der Zeit“68 meint: „Alles zeitlich abrollende organische Leben – die Musik ist ja Zeitkunst – unterliegt dem Wechsel zwischen Spannung und Entspannung“.69 Eine gewisse Nähe zu der Symphonik Bruckners drängt sich angesichts eines solchen ästhetischen Programms natürlich auf, zumal Furtwängler seine Stücke korrespondierend mit groß angelegten Steigerungs- und Abschwungphasen versieht. 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69

Zitiert nach Matzner, Furtwängler, S. 36. Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 342. Ders., Über tonale und atonale Musik, S. 41. Ebd. Ebd. Vgl. Brotbeck, Anmerkungen zum Komponisten Furtwängler, S. 44f. Furtwängler, Bemerkungen eines Komponisten, S. 207. Zitiert nach Birkner, Furtwänglers Selbstverständnis, S. 41. Furtwängler, Über tonale und atonale Musik, S. 46. Ders., Aufzeichnungen, S. 342. Ders., Über tonale und atonale Musik, S. 46.

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Furtwänglers Verständnis von Tonalität, Kadenz und Spannung – Entspannung leitet über zu dem nächsten für ihn wichtigen Begriff, dem des „Musikalisch-Organischen“70: „Ein musikalisches Werk [ist] ein Organismus, der sich seiner eigenen Natur gemäß in einem lebendigen und organischen Prozess entwickelt“.71 Die Tonalität übernimmt dabei jene Rolle, „Träger einer organischen Funktion“72 zu sein. Furtwängler geht es also ganz darum, auch als Komponist das umzusetzen, was ihm „als Dirigent den Ruf eines genialen Entwicklers, ja sogar eines Improvisators“73 einbrachte: „Die Musik entwickelt sich aus sich selbst heraus“.74 Die letzte zentrale Kategorie für Furtwängler ist schließlich jene, die dem Hörer dieser Werke am unmittelbarsten gewahr wird: das Monumentale.75 „Das Monumentale ist menschlich. Es ist auch dem Zeitalter der Massen nicht fremd. Aber der modernen Musik – der sogenannten neuen Musik – scheint es unbekannt“.76 Damit meint Furtwängler jedoch nicht Komplexität als solche, war ihm doch „Natürlichkeit“77 oberstes Gebot. Ganz im Gegenteil forderte er: „Allgemeingültigkeit der Aussage. Dazu gehört vor allem eines: Wille und Kraft zur Monumentalität, oder besser gesagt, zur Einfachheit“.78 Monumentalität und Einfachheit sind für Furtwängler folglich eins – eine Ansicht, die sich nicht unbedingt auf den ersten Blick aufdrängt. Entgegen seiner Beteuerungen scheint Furtwängler den eigenen Vorgaben auch nicht ganz getraut zu haben: „Die Gefahr beim monumentalen Kunstwerk ist die Ermüdung. Es hängt das mit der Vereinfachung zusammen, die leicht als allzu einfach empfunden wird und dann nicht mehr in ihrem eigentlichen Sinne als Aufgabe begriffen wird, sowohl vom Hörer wie vom Interpreten. Hier hilft nur Vorstellung und Durcharbeitung der organischen Zusammenhänge, die sofort den ,Sinn‘ dieser scheinbaren Vereinfachungen aufdecken“.79

Entsprechend komplex sind Furtwänglers Werke angelegt und gestaltet und sicherlich vor dem Vorwurf der Einfachheit gefeit. Die Harmonik verfügt über die ganze Vielseitigkeit und Mehrdeutigkeit der spätromantischen Palette. Die symphonischen Stücke sind auf dem Stand des straussschen Orchesters instrumentiert und weisen vor allem einen Hang zur Nutzung der mittleren und tiefen Register auf, was zu einem gemeinhin dunkel gehaltenen Charakter beiträgt.80 Die motivische Arbeit ist ausgeprägt. Die klassischen Schemata wie die Sonatenhauptsatzform, denen Furtwängler verpflichtet bleibt, werden von groß angelegten Spannungs- und 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Zitiert nach Birkner, Furtwänglers Selbstverständnis, S. 42. Zitiert nach d’Heudières, Furtwängler als Komponist, S. 73. Furtwängler, Bemerkungen eines Komponisten, S. 207. Brotbeck, Anmerkungen zum Komponisten Furtwängler, S. 47. d’Heudières, Furtwängler als Komponist, S. 73. Vgl. zu dieser ästhetischen Kategorie ausführlich Alexander Rehding, Music and Monumentality. Commemoration and Wonderment in Nineteenth Century Germany, Oxford 2009. Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 289. Ebd., S. 290. Ebd. Ebd., S. 275. Vgl. d’Heudières, Furtwängler als Komponist, S. 81f.

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Entspannungsbögen überlagert, welche die Wirkung der Werke maßgeblich bestimmen. Einzig in einem Aspekt der Kompositionsästhetik dieses Künstlers scheint der Begriff Einfachheit eine gewisse Berechtigung zu haben und das betrifft bisweilen die thematische Arbeit, da Furtwängler dazu neigt, Themen unverändert zu belassen.81 Allerdings verfügen diese Melodien nicht über die prägnante Einfachheit, mit der etwa Furtwänglers großes Idol Beethoven die Themen vieler seiner symphonischen Stücke zu versehen wusste.82 Ungeachtet dieses Teilaspekts aber bricht sich Furtwänglers Postulat des Einfachen nachhaltig an dem dann tatsächlich kompositorisch Umgesetzten. Der Widerspruch ist nicht weniger groß als der zwischen Furtwänglers Selbstbild als Komponist und dem des Rests der Welt, der in ihm einen Dirigenten sieht. Kehrt man zurück zum Begriff des Neuen und gleicht diesen mit den Partituren ab, so wird man Elemente, die man als „neu“ im Sinne Furtwänglers, das heißt als „Vorstoßen in Neuland“83 auffassen könnte, nicht finden, es „erklingt kein Ton, den wir nicht schon anderswo gehört hätten“.84 Sicherlich gleichen diese Werke nicht eins zu eins anderen Stücken. Sie sind Individuen. Als solche sollte man sie betrachten und sich nicht lediglich auf das schwache, da entindividualisierende Urteil „epigonal“ zurückziehen, welches lediglich geringen historiographischen Mehrwert verspricht und doch allzu leicht bei der Hand ist. Aber liegt ungeachtet dessen nicht der Verdacht nahe, dass all die Argumente Furtwänglers nur Rechtfertigungsversuche sind, vor der Außenwelt und vor sich selbst zu begründen, warum er in der musikalischen Sprache des 19. Jahrhunderts verwurzelt bleiben wollte? Heutzutage, zu einer Zeit also, in der die Kämpfe um den musikalischen Fortschritt abgeflaut zu sein scheinen und eine solche Haltung akzeptabler geworden ist, das heißt ein Rechtfertigungsdruck nicht mehr in gleicher Weise existent ist wie ihn sich ein Komponist aus Furtwänglers Generation vielleicht noch ausgesetzt sah, können wir diese Einschätzung mit mehr Gelassenheit aussprechen als es Furtwängler vielleicht selbst möglich war oder zumindest den Mut erfordert hätte, den er so oft beschwor. Wenn Furtwängler erklärt „Meine Musik wendet sich – darin aller lebendigen Musik der Vergangenheit ähnlich – an ein wirkliches Publikum“,85 dann kommt darin vielmehr die Hoffnung zum Ausdruck, doch als Komponist verstanden werden zu können, wenn jene Grenzen im Kopf fallen („das Publikum [...] zu seinem eigenen Urteil gelange“86), und er nicht von vornherein einerseits als Komponist von „Kapellmeistermusik“, andererseits als Epigone und Konservativer abgestempelt würde. Die Verzweiflung muss jedenfalls groß und das Selbstvertrauen als Komponist gering gewesen sein. Das wird u.a. daran sichtbar, dass Furtwängler sich ständig bemüßigt fühlte, auf Widerspruch nicht mehr gestattende höchste Instanzen wie religiöse, soziale und Naturgesetze abzustellen, um die eigene ästhetische Haltung zu rechtfertigen. Letztlich dürfte dies auch der Grund sein, 81 82 83 84 85 86

Vgl. Brotbeck, Anmerkungen zum Komponisten Furtwängler, S. 44ff. Das Gegenteil vertritt Brotbeck, Der dirigierende Komponist, S. 76. Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 292. Brotbeck, Anmerkungen zum Komponisten Furtwängler, S. 44. Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 293. Ebd.

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warum Furtwängler nur sehr ungern als Dirigent seiner eigenen Werke in Erscheinung trat.87 Dennoch bleibt eben dies ein erstaunlicher Umstand. Angesichts des Nachdrucks, den Furtwängler in seinen Selbstreklamationen als Komponist an den Tag legte, musste er wissen, dass er damit geradezu zwangsläufig Vergleiche mit seiner strahlenden Dirigentenlaufbahn provozieren würde. Wenn er aber von seinen Kompositionen derart überzeugt war, warum warb er nicht durch Aufführungen für sie? Und wenn er es nicht war, warum setzte er sich selbst dennoch unter solch außerordentlichen Leistungsdruck, jedenfalls der Öffentlichkeit gegenüber, der unvermeidlich damit einhergehen musste, wenn er zugunsten des Komponisten Furtwängler den Dirigenten marginalisierte?88 Liest man die Äußerungen Furtwänglers über sein Komponieren, ist unübersehbar, dass man auch hier auf vergleichbar viele Eigentümlichkeiten, Inkonsequenzen und Diskrepanzen trifft, wie es generell für diesen Gegenstand festzustellen ist. Da erklärt er sich einmal zugunsten von Einfachheit und Klarheit: „Goethe sagt: Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke. Ich sage: Klassiker ist, wer etwas klar und deutlich, Romantiker, wer es unklar, mit viel zu vielen Worten ausdrückt. Ich liebe die Klassiker“89. Und auf der anderen Seite komponiert er äußerst lange und vielschichtige Werke, die gewiss auch „ein wirkliches Publikum“90, auf das es ihm doch zuvorderst ankam, kaum als einfach rezipieren dürfte.91 Auch der Komponist Furtwängler erweist sich mit seinem Werk wie in dessen theoretischer Grundierung mithin als in höchstem Maße widersprüchlich.92 „Musik wendet sich an Menschen, an ein ,Publikum‘, nicht an 87 Vgl. d’Heudières, Furtwängler als Komponist, S. 94. 88 Nehmen wir etwa Leonard Bernstein als Gegenbeispiel für einen Dirigenten aus der ersten Riege des 20. Jahrhunderts, der zugleich durchgehend, umfangreich und erfolgreich als Komponist tätig war. Selbstredend hat dieser sich in ungleich stärkerem Maße für die eigenen Werke eingesetzt und sie immer wieder öffentlich dargeboten. Und es lässt sich ersichtlich nicht behaupten, dass die Erinnerung an den Dirigenten Bernstein jene an einen Orchesterleiter und Instrumentalsolisten wäre, der permanent nur den Komponisten Bernstein dargeboten und beworben hätte. Vielmehr wird der Dirigent Bernstein zuvorderst mit der Interpretation von Werken Dritter wie jenen Gustav Mahlers oder Johannes Brahms’ verbunden. Ein Gleichgewicht lässt sich also durchaus herstellen, selbst wenn man in beiden Professionen auf diesem außerordentlichen Niveau tätig zu sein in der Lage ist. Gewiss wäre es von den faktischen Gegebenheiten her auch Furtwängler möglich gewesen, zumindest ein solches Unterfangen zu versuchen, spätestens ab der Zeit des Dritten Reiches, in der ihm aus verschiedensten Gründen (eigenes herausragendes Können, Wegfall der erstrangigen Konkurrenz durch Vertreibung und Emigration, Einbindung in das öffentliche Kulturleben an vorderster repräsentativster Stelle usw.) eine Ausnahmestellung im hiesigen Musikleben erwuchs. Es muss also eine Motivation gegeben haben, sich so wenig für die eigene Sache einzusetzen. 89 Zitiert nach Birkner, Furtwänglers Selbstverständnis, S. 40. 90 Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 293. 91 Oder wie es Brotbeck formuliert: „Sonst wäre seine Musik leichter fassbar, und sie würde sich dem Hörer sonst nicht in solchem Masse entziehen“. Brotbeck, Anmerkungen zum Komponisten Furtwängler, S. 44. 92 Brotbeck hat dieses hier anhand der Äußerungen Furtwänglers aufgearbeitete Phänomen in anderer Weise mittels Analyse der Violinsonate Nr. 1 d-Moll durchgeführt und hierbei trefflich fünf Paradoxa ausgemacht. Ebd., S. 44ff.

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eine Gruppe sogenannter Kenner oder Fachleute“, beschied Furtwängler einst.93 Aber hat er dieses Motto einzulösen vermocht oder überhaupt ernstlich einzulösen versucht? Hier möchte man angesichts der Partituren dann doch Zweifel anmelden. Aber wenn dem so ist, hat er auf diese Weise dann hier nicht ebenso die selbst gesetzte Messlatte verfehlt und ist als Komponist damit an der gleichen Inkonsequenz, vielleicht auch schlicht Mutlosigkeit gescheitert, wie sie sein Handeln respektive Nichthandeln im Dritten Reich schon politisch-moralisch scheitern ließ? Jedenfalls sah er die Gefahr der Ermüdung des Hörers bei monumentalen Kunstwerken und ihre Folgen für die Rezeption dieser Stücke ebenso klarsichtig voraus wie die Gefahr einer Kompromittierung durch exponierte Mitwirkung am öffentlichen Kulturleben im Dritten Reich.94 Konsequenzen zog er aus beiden Erkenntnissen nicht, was die Widersprüchlichkeit nur noch mehr hervorhebt.

3. Die Rezeption des Komponisten Die Diskussion über die Werke Furtwänglers wird regelmäßig insular geführt, das heißt nur vor dem Hintergrund der Person und ihres sonstigen Wirkens. Eine Aufarbeitung vor dem Hintergrund der jeweiligen Gattungsgeschichte erfolgt nicht, abgesehen von naheliegenden Verweisen auf sein Idol Beethoven und andere Komponisten monumentaler Symphonik, allen voran Bruckner und Mahler. Wer jedoch diesen Versuch unternehmen will, bemerkt recht schnell, dass dieser Ansatz historiographisch tatsächlich nicht allzu weit trägt, da dieses Œuvre zwar in der Vergangenheit gründet, allerdings keine nennenswerte Wirkung in seiner Gegenwart oder danach entfalten konnte. Wer etwa die monumentale Konzeption der symphonischen Partituren betrachtet, der wird unwillkürlich an jene stets genannten Vorgänger denken wollen (und sich dabei wundern, dass Berlioz ungenannt bleibt). Aber über diese Oberflächlichkeit hinaus sind Symphonien Beethovens oder Mahlers doch signifikant anders in Struktur und vor allem Wirkung angelegt. Augenfälliger wird die Eigenheit Furtwänglers noch im Bereich der Kammermusik. Nehmen wir etwa die Gattung des Quintetts für Klavier und Streicher,95 in der Furtwängler sein Opus in C-Dur komponiert hat. Die Gattungsgeschichte ist hier musikhistoriographisch recht bescheiden ausgeprägt, was vor allem zwei Gründe hat: Einerseits wird seit mehr als 200 Jahren das Streichquartett als die Königsbesetzung angesehen, ein Umstand, den man schon deshalb zur Kenntnis nehmen muss, weil er doch für viele Komponisten bei ihren Werkkonzeptionen eine Rolle gespielt hat. Er zeigt sich noch an so lapidaren Fakten wie dem quantitativ überproportionalen Anteil der Streichquartette an der Kammermusikliteratur erster Ordnung. Andererseits ist auch – oder vielleicht sogar gerade – die Klassische 93 Furtwängler, Bemerkungen eines Komponisten, S. 207. 94 Vgl. ders., Aufzeichnungen, S. 275; Kater, Die missbrauchte Muse, S. 378. 95 Spätestens seit Schumann ist die klassische Besetzung jene mit Streichquartett. Wenige Komponisten wie Onslow, Schubert oder Vaughan Williams haben anstelle der zweiten Violine einen Kontrabass gewählt, eine Besetzung, die für die frühe Gattungstradition des späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhunderts noch bestimmt war.

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Musik ein Gebiet, auf dem mit strengen Hierarchien des Größten und Bedeutendsten gearbeitet wird. Markennamen zählen hier besonders viel und das nicht erst durch das Aufkommen dessen, was Adorno so wirkungsmächtig mit dem Begriff „Kulturindustrie“ zu diffamieren suchte.96 Und das Format des Quintetts für Klavier und Streicher wurde eben nur von wenigen Komponisten erster Prominenz bedient, weshalb man getrost behaupten und mit Blick auf den Tonträgermarkt auch unmittelbar belegt finden kann, dass sich das Kernrepertoire auf fünf Stücke beschränkt, nämlich auf eben jene der bekanntesten Vertreter: Franz Schuberts Klavierquintett A-Dur op. 114 D. 667 („Forellenquintett“, 1819), Robert Schumanns Klavierquintett Es-Dur op. 44 (1842), Johannes Brahms’ Klavierquintett f-Moll op. 34 (1864), Antonín Dvořáks Klavierquintett Nr. 2 A-Dur op. 81 (1887) und für das 20. Jahrhundert schließlich Dmitrij Schostakowitschs Klavierquintett g-Moll op. 57 (1940). Alle anderen Werke stehen dagegen merklich hinten an, nicht was die Qualität, aber was die Aufmerksamkeit anbelangt. Das gilt selbst für solch großartige Schöpfungen wie jenen César Francks oder Gabriel Faurés und angesichts des Umstands, dass diese Gattung eigentlich historiographisch besonders interessant wäre, da nahezu die gesamte zweite Reihe der Komponisten zwischen Schubert und Schostakowitsch Werke für diese Besetzung hinterlassen hat und man hier Gattungsgeschichte einmal relativ befreit von den Zwängen der „Markennamenpolitik“ musikgeschichtlicher Literatur verfolgen kann. Angesichts einer faktisch in der allgemeinen Wahrnehmung derart überschaubaren Gattungsgeschichte, die sich auf wenige Stücke beschränkt, drängt es sich zwar vordergründig auf, einen Komponisten wie Furtwängler mit seinem Klavierquintett ausschließlich unter anderen Prämissen zu betrachten. Dennoch lohnt die Einordnung in die erweiterte Gattungsgeschichte, da sie manche Spezifika Furtwänglers unmittelbar sichtbar werden lässt. Das gilt z.B. für das ihm so wichtige Moment des Monumentalen. Es existieren durchaus lang angelegte Klavierquintette. Zu den umfangreichsten Werken gehören mit gut 45 Minuten Spieldauer jenes von Arnold Bax in g-Moll (1915), mit ca. 50 Minuten Spielzeit das von Wilhelm Berger in f-Moll op. 95 (1904) und mit gut 55 Minuten Aufführungsdauer jenes in h-Moll op. 51 (1908) von Florent Schmitt. Furtwänglers Opus dauert dagegen gut 80 Minuten und übertrifft damit noch die längsten Pendants des Genres um eine halbe Stunde. Augenfälliger als durch diese Gegenüberstellung kann man die Realisierung des Monumentalen kaum zum Ausdruck bringen. Im Vergleich wird jedoch ebenso rasch deutlich, dass Furtwängler die von ihm befürchtete Ermüdungswirkung nicht verhindern konnte. Man kann zur Begründung dieser Dimensionen auch nicht darauf verweisen, dass Furtwängler an seinem Quintett zwischen 1912 und 1935 und damit über 23 Jahre hinweg gearbeitet habe. Nikolai Medtner feilte an seinem Opus in C-Dur zwischen 1903 und 1948, das heißt über einen Zeitraum von 45 Jahren und betrachtete es ebenfalls als Hauptwerk. Am Ende stand ein mitreißendes Stück von keiner halben Stunde Länge. Betrachtet man all dies, so kommt einem unwillkürlich der Titel von Paul

96 Vgl. zum Begriff Theodor Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: R. Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1981, S. 141–191.

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Hindemiths Nachruf auf Furtwängler in den Sinn, „Ein Mass, das uns heute fehlt“97, im Blick auf Kompositionen wie die des Klavierquintetts jedoch durchaus ironisch verstanden. Ungeachtet dessen muss jedoch konstatiert werden, dass Furtwänglers Quintett gattungsgeschichtlich weithin isoliert dasteht und kaum Anknüpfungspunkte bietet. Das gilt auch für die von ihm so betonte deutsche oder besser deutschsprachige Traditionslinie.98 In der Tat verspricht also der personenbezogene Zugang zu jenen Werken in diesem Fall historiographisch mehr Erkenntniswert als der gattungsgeschichtliche. Als besonders fruchtbar erweist sich dabei der Ansatz Brotbecks, der die enge Verzahnung von Dirigent und Komponist aufzunehmen sucht, die Furtwängler selbst oft hervorgehoben hat. In seiner Analyse arbeitet er dabei fünf verschiedene, „Paradoxa“ genannte Momente heraus, die ihm charakteristisch erscheinen und zu der Beobachtung führen, dass „gewisse Momente, die beim Komponisten als Defizite in Erscheinung treten, sowohl zu den spezifischen Qualitäten des Dirigenten gehören als auch dessen historische Grenzen anzeigen“.99 Angesicht des unstrittigen Umstandes, dass Furtwängler ein bedeutender, origineller und einflussreicher Dirigent war, als Komponist all dies jedoch nicht verkörperte, ist der historiographische Mehrwert ungleich höher, wenn man den Komponisten Furtwängler nutzt, um dem Dirigenten Furtwängler näher zu kommen, und nicht umgekehrt. Und die auf diese Weise zu gewinnenden Erkenntnisse sind tatsächlich weiterführend. Brotbeck vermag anhand der Violinsonate Nr. 1 d-Moll herauszuarbeiten, was sich in den anderen Stücken bestätigen lässt, nämlich wie noch in den ausführlichen Tempobeschreibungen der Art von „Sehr allmählich das Tempo steigern“, „Kaum merklich überleiten“ oder „Immer dasselbe fieberhaft vorwärtsdrängende Tempo (ohne eigentlich schneller zu werden)“ Interpretationscharakteristika des Dirigenten durchscheinen, die der Komponist andernorts mit „organischem Werden und Wachsen“ bezeichnet hat.100 Nicht umsonst waren das Tempo rubato oder die Preisgabe großformaler Tempodispositionen zugunsten momentaner Spannung Hauptkritik- bzw. Bewunderungspunkte am Dirigierstil Furtwänglers, je nach Position des Betrachters. Auch Charakteristika wie Pathos, Emphase und Streben nach Monumentalität finden sich hier wie dort. Was jedoch dem Dirigenten zur Individualität verhilft, scheint dem Komponisten zu schaden, da er hier nicht mit einer dramaturgisch wirkungsvoll gestalteten Vorlage arbeiten und diese um seinen Interpretationsansatz ergänzen kann, sondern auf diesen vollständig verwiesen bleibt. Das jedoch erweist sich als Zuviel des Guten. Ob Furtwängler dies ahnte, als er von der Angst vor Ermüdung sprach?101 Im Vergleich wird jedenfalls durch die 97 Paul Hindemith, Ein Mass, das uns heute fehlt, in: G. Kraus und O. Müller (Hg.), Ein Maß, das heute fehlt. Wilhelm Furtwängler im Echo der Nachwelt, Salzburg 1986, S. 12. 98 Neben Schubert, Schumann, Brahms und Berger gibt es im deutsprachigen Raum eine reiche Tradition mit zahlreichen Werken, etwa von Bruch, Franck, Gernsheim, Goetz, Herzogenberg, Huber, Hummel, Louis Ferdinand, Kiel, Klughardt, Korngold, Lachner, Pfitzner, Raff, Reger, Reinecke, Rheinberger, Scharwenka, Schmidt, Thieriot, Thuille und Zilcher. 99 Brotbeck, Anmerkungen zum Komponisten Furtwängler, S. 41. 100 Vgl. ebd., S. 48f. Vgl. auch Brotbeck, Der dirigierende Komponist, S. 77–79. 101 Vgl. Anm. 79.

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Auseinandersetzung mit dem Komponisten Furtwängler deutlicher, wo die spezifischen Qualitäten des Dirigenten lagen.

4. Fazit Kehren wir zum Schluss zu jener Gedenktafelinschrift am Berliner Nollendorfplatz zurück. Ist Furtwängler Komponist gewesen? Sicherlich, denn jeder Mensch, der Musik erschafft, ist per Definition ein Komponist. Der Terminus klärt nicht zuvorderst eine Niveau- oder Bedeutungsfrage, sondern stellt sich als eine schlichte Tätigkeitsbeschreibung dar. Jene Zuschreibung gibt also einen objektiven Befund präzise wieder. Erweist sich Furtwängler dabei als ein kompositorischer Amateur, vielleicht sogar Dilettant? Wer sich mit seinen Werken beschäftigt, wird unverzüglich konstatieren: Nein. Furtwängler beherrschte das Handwerk, sowohl für kammermusikalische Besetzungen wie das große symphonische Orchester. Anders wäre es auch kaum vorstellbar, dass ein Künstler von dieser Bildung, diesem musikalischen Urteilsvermögen und dieser Stellung im Musikleben bei allen Selbstzweifeln dann doch Publikationen und öffentliche Aufführungen von Stücken unter seinem Namen und unter seiner persönlichen Mitwirkung betrieben hätte. Wer will schon vorsätzlich den eigenen Ruf der Lächerlichkeit Preis geben? Und dass bei den Aktivitäten eines bekannten Namens in anderem Metier von der Öffentlichkeit besonders genau hingeschaut wird, nicht selten mit dem voyeuristischen Interesse, einen Erfolgreichen straucheln zu sehen, ist kein Geheimnis und gewiss kein Phänomen, welches auf die unmittelbare Gegenwart beschränkt wäre. Die Gesamtausgabe und die zahlreichen Tonträgereinspielungen jüngerer Vergangenheit erlauben inzwischen, sich insoweit ein eigenes Bild von diesem Oeuvre zu verschaffen. Dass dem Komponisten Furtwängler letzthin vergleichsweise viel Aufmerksamkeit zu Teil geworden ist, erweist sich bei näherer Betrachtung dennoch zuvorderst als Begleiterscheinung eines wiedererstarkten Interesses an dem Dirigenten Furtwängler wie an den Verstrickungen dieser Hauptfigur des deutschen Musiklebens im Dritten Reich. Befördert wird dieser Trend weiter durch die zahlreichen Selbstzeugnisse Furtwänglers, mit denen er seine Identität als Komponist immer wieder stark gemacht hat, ohne sich jedoch selbst in der Praxis mit besonderem Engagement der Förderung der eigenen Sache verschrieben zu haben. Und schließlich profitiert er wie viele andere Komponisten jener Ära, die der Spätromantik verpflichtet blieben, sich ausdrücklich gegen die Moderne ihrer Zeit positionierten und sich aufgrund dessen über Jahrzehnte auf dem Kampfplatz um die Neue Musik auf Kategorien wie konservativ, rückständig und epigonal herabgestuft sahen, von einem Aufbrechen dieses Kastensystems und einer damit einhergehenden Liberalisierung der Musikgeschichtsschreibung, -kritik und -veranstaltungsplanung in der jüngeren Vergangenheit. Will man jedoch den Gang der Geschichte nicht stillschweigend nachträglich umschreiben, so sollte man auf die Feinheiten achten. Sie können unbedacht gehandhabt große Wirkung erzielen, so wie auf jener Gedenktafel am Berliner Nollendorfplatz. Ist man gewillt, dieses zu tun, wird man um die Erkenntnis nicht

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umhinkönnen, dass die Formulierung „Komponist und Chefdirigent der Berliner Philharmoniker 1922–1954“ in ihrem Arrangement und der hierin zum Ausdruck kommenden Schwerpunktsetzung den Gegenstand in seiner historischen Bedeutung und Wirkung verzerrend wiedergibt, handelt es sich bei Wilhelm Furtwängler doch um „the most prestigious German conductor and unsuccessful composer“.102 Der Mensch Furtwängler war und ist ein Politikum, das polarisiert. Der Dirigent Furtwängler war ein Genie und Phänomen. Der Komponist Furtwängler war all dies nie. Und dass er im Rückblick hierzu erhoben werden kann oder seine Werke für künftige Generationen diese Bedeutung zu erreichen vermögen, ist nicht ersichtlich. Der Fall Furtwängler hat spannendere Facetten als jene Partituren und die Musikgeschichte zahllose aufregendere. Und erst vor dem Hintergrund jenes exponierten Wirkens als Dirigent und Person der kulturpolitischen Zeitgeschichte und für dessen Nachvollzug wecken sein Denken und Handeln als Komponist nachhaltig Neugierde und offenbaren musikhistoriographisch Signifikantes – was nicht heißt, dass diese Musik keine Liebhaber verdient. Nur: Das tun andere, nicht mit einem vergleichbar großen Namen Gesegnete auch.

102 Albrecht Riethmüller, Stefan Zweig and the Fall of the Reich Music Chamber President, Richard Strauss, in: Kater und Riethmüller, Music and Nazism, S. 270.

Glauben an den deutschen Geist. Im Briefwechsel mit Bertele Braunfels, Ludwig Curtius und Hans Schnoor von MICHAEL CUSTODIS

1. Bald nach Kriegsende wiederholte sich für Furtwängler die Erfahrung der vergangenen Jahre, als die Politik sich erneut in die Interna des Musiklebens einmischte und über ihn und andere politisch belastete Kollegen ein Berufsverbot verhängte, das in seinem Fall mehrere Entnazifizierungsverfahren nach sich zog. Für ihn war dabei nicht unerheblich, dass diese Sperre von einer Schwarzen Liste der amerikanischen Militärbehörden ausging. Wie er seinem Freund und ehemaligen Lehrer Ludwig Curtius schrieb, witterte er hinter dieser Maßnahme eine Revanche deutscher Emigranten in den USA. Aufgrund seines Amtes als Hauptbevollmächtigter des dortigen Musiklebens begann die Kette dreier Verfahren in Wien und wurde, als das entlastende Urteil der dortigen Spruchkammer von den alliierten Militärbehörden nicht akzeptiert wurde, nach Berlin verlegt als dem Zentrum seiner Tätigkeiten während der zurückliegenden Jahrzehnte. So, wie Curtius in den 1920er Jahren den Durchgang eines archaischen Zeitalters diagnostiziert hatte, bis in Deutschland wieder eine klassische Staatsform erreicht sei, die des deutschen Geistes würdig wäre, nahm auch Furtwängler die Zukunft Deutschlands als Ansporn seiner beharrlich wiederholten Rechtfertigung, politisch untadelig gehandelt zu haben, als er Curtius am 28. Januar 1946 aus der Schweiz schrieb: „Nach Wien fahre ich, um mich zu ‚rechtfertigenʻ vor einer Kommission, die auf Veranlassung der österreichischen Regierung endlich meinen ‚Fallʻ behandelt, wobei ich zum ersten Male erfahren habe, was man mir eigentlich vorwirft. Die ganze Behandlung meiner Angelegenheit von Seiten der Amerikaner – denn der Widerstand ist nur dort – gehört in das Kapitel ‚Bekämpfung der deutschen Konkurrenzʻ. Die Emigranten drüben nehmen mir übel, daß ich es vorzog Deutscher zu bleiben. Dabei sehe ich jetzt mehr und mehr, wie richtig ich trotz allem instinktiv gehandelt habe. Aber, was ich getan habe, würde ich, wenn ich es auch nochmal zu tun hätte, in der Hauptsache ebenso tun. Im Übrigen ist aber das nicht mehr interessant. Wichtig ist die Zukunft. Dein Glaube an den deutschen Geist, dein Wille zu dem Wiederaufbau betrifft auch mich gleicherweise. Aber wir müssen uns da klar sein, daß der Glaube allein nicht ausreicht, solange die Aussicht für Deutschland, glücklich halbwegs existieren zu können, nicht erloschen ist. […] Daß dir der Übergang leicht wurde, und du mit deinen Freunden schöne und gute Erfahrungen gemacht

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Michael Custodis hast, spricht wohl für dich wie für sich. Ich kann das von mir nicht unbedingt sagen. Gerade in diesem Land habe ich sogar zum Teil sehr traurige Erfahrungen machen müssen, und ich erlebe es, wie schwer einem überhaupt auch Größe zu bewahren ist gegenüber einer Situation wie ich sie hier durchgemacht habe. […] Und trotzdem habe ich wiederum liebe Menschen und Freunde gefunden, die mir geholfen haben in den schlimmsten Zeiten. Nur die der gleichen Richtung, die Kollegen usw. ihr Ausbleiben, ihr Versagen, ihre Feigheit war eine Entscheidung, die nicht mehr zu lösen ist. Die Solidarität der deutschen Kultur must erst wieder gefunden werden.“1

Während der beiden Verfahren in Berlin wurde deutlich, wie zerstritten die russische und amerikanische Seite über Furtwängler war, da Johannes R. Becher im Namen der russischen Militärbehörde ihn als Intendanten für die nun sowjetisch kontrollierte Staatsoper Unter den Linden gewinnen wollte und die Amerikaner wiederum an Furtwängler ein Exempel der Entnazifizierungspolitik statuieren wollten.2 Von jeher hatte Furtwängler eine Bewertung von Künstlern durch Politik und Militär zurückgewiesen, so dass er sich auch jetzt angesichts des amerikanisch-russischen Dissenses im Recht fühlte und sein Publikum treu hinter sich wähnte. Denn die Praxis der Entnazifizierung musste nicht nur in der breiten Bevölkerung bald als gescheitert angesehen werden, sondern sie wurde sogar innerhalb der Avantgarde, die bis vor kurzem als entartet verfolgt und diffamiert worden war, nicht akzeptiert. Auch hier, wie Heinrich Strobel im wiedergegründeten AvantgardeSprachrohr Melos klarstellte, wurde eine erneute politische Dominanz der Musik strikt abgelehnt.3 In einem Brief vom 6. April 1946 erläuterte Furtwängler Curtius seine Überzeugung, am allerbesten als Komponist der in Deutschland verbliebenen intellektuellen Elite eine Stimme geben zu können: „Ich will komponieren und eigentlich nichts als komponieren. Und ich kann damit am besten auf meine Weise helfen, Deutschland wieder ‚aufzubauenʻ, besser als wenn ich am einzelnen 1

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Nachlass Furtwängler, Korrespondenz mit Ludwig Curtius, Mappe 1945–1946, Brief an Curtius aus Clarens vom 28. Januar 1946. Noch Fred K. Prieberg erhob gegen Furtwänglers Kritiker den Vorwurf eines rachsüchtigen Revanchismus, was seinem Furtwängler-Buch eine scharfe Rezension von Carl Dahlhaus einbrachte. Fred K. Prieberg, Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986, S. 25 sowie Carl Dahlhaus Rezension, in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften 9, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2006, S. 504, S. 505: „Mit dem Material, über das Prieberg verfügt, wäre vorurteilslose Geschichtsschreibung möglich gewesen. Aber er weiß als erfahrener Publizist, daß es wirkungsvoller ist, eine Tendenz zu verfolgen.“ Nachlass Furtwängler, Korrespondenz mit Ludwig Curtius, Mappe 1945–1946, Brief von Wilhelm Furtwängler an Ludwig Curtius vom 10. Mai 1946: „Tatsache ist, dass speziell die Russen, in deren Gebiet ja auch meine Potsdamer Wohnung liegt, mir wohlgesinnt sind und in letzter Zeit die Amerikaner auf Grund der Erhebungen, die eine deutsche Kommission gemacht hat – wie es übrigens auch angesichts der Tatsachen ja nicht anders sein konnte – ihren Standpunkt geändert haben. Zweifellos wird über kurz oder lang über meine Rehabilitierung eine Veröffentlichung durch die Welt gehen; wenn nötig werde ich selber noch etwas hinzu fügen, da ich sehr lange und sehr konsequent verleumdet wurde und das schliesslich klarstellen muss.“ Siehe beispielsweise die redaktionelle Kolumne Mehr Respekt, in: Melos 15, 1948, Heft 1, Januar, S. 18 und Notizen über die beendeten Entnazifizierungsverfahren gegen Walter Gieseking bzw. Wilhelm Furtwängler in Melos 14, 1947, Heft 4, Februar, S. 124 bzw. Heft 7/8, Mai/Juni, S. 215.

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Orte unter unzulänglichen Verhältnissen mitzuhelfen suche. Abgesehen davon, dass es ein wahres deutsches Musikleben ebenso wenig gibt wie ein deutsches [unlesbares Wort] Leben. Das alles gilt nur im Inneren, innerhalb der Menschen selber. Von unseren Freunden sind die meisten darüber weggekommen, wenn auch bei vielen noch nicht bekannt ist, Pinder soll in Berlin sein, jedoch konnte ich ihn dort nicht ausfindig machen. Ich sah nur Sauerbruch und einige andere, alle in heftigem Kampfe um die Lebensnotwendigkeiten aufgehend. […] Mit Bertel G. [= Geissmar] bin ich wieder im Briefwechsel. Sie ist treu, aber ihre andere Seite ist durch ihren Brief doch auch sehr offenbar geworden. Flach und jüdisch oberflächlich sehr ichbefangen, daß viel Warmherzigkeit und natürliche Klugheit dadurch wieder unwirksam gemacht wird. […] Schon in der letzten Zeit unseres Zusammen Arbeitens, besonders nach der Trennung, hatte sie keinen richtigen Blick mehr für mich und meine Sachen. So stellt das Buch in gewissem Sinne eine große Fälschung dar. Je mehr ich heute – ich werde ja dazu gezwungen – über mein Verhalten während der Nazi-Zeit nachdenke, umso mehr erstaune ich über die Folgerichtigkeit und Klarheit dieses Verhaltens. Ich müsste heute fast alles, was ich damals tat, nochmals unterschreiben. Diese ganze Zeit ist eh schon so fern und verhaßt. Wieviel der besten Zeit müßte man verlieren im Kampf mit einem Gegner, den man überhaupt selbst nicht als solchen anerkennen konnte, abgesehen davon, dass er die brutale Macht in Händen hielt.“4

2. In dieser für Furtwängler ungewissen Zeit gingen sehr regelmäßig Briefe von seinem Schweizer Wohnort Clarens nach Rom und geben einen Eindruck davon, was ihn und Curtius bewegte. So bestätigte dieser am 18. Mai 1946 zunächst die öffentliche Aufmerksamkeit, die Furtwänglers Fall auch im Ausland erregte, um dann das Thema auf die Musik zu lenken und von einer „herrlichen Aufführung“ von Bachs Matthäus-Passion in Rom unter Klemperer zu berichten: „ganz schlicht, ganz sachlich, im Tempo energicher als die Kittelsche, doch sehr akademische Wiedergabe, die ich in Platten besitze. Ich gehöre ja immer noch dem ‚Werkʻ, als der Kritik der Aufführung und war so erschüttert wie jedesmal in meinen Studentenjahren in München. Mich bedrückte auch die Haltung des römischen Publikums, für das diese Musik doch die am Schwersten verständliche ist. Aber es war hingerissen. In ein paar anderen Konzerte gab Klemperer sehr schön die Mozartsymphonie KV 550 und Brahms I. und II. Leider sprach ich ihn nur kurz am Telephon.“5

Dieses Lob für den Dirigentenkollegen Otto Klemperer, der seit seiner Emigration 1933 von den USA aus die Erinnerung an ein anderes, antifaschistisches Deutschland lebendig gehalten hatte, wurde von Furtwängler als Affront gegen sich und die

4 5

Nachlass Furtwängler, Korrespondenz mit Ludwig Curtius, Mappe 1945–1946, Brief von Wilhelm Furtwängler an Ludwig Curtius vom 6. April 1946. Nachlass Furtwängler, Korrespondenz mit Ludwig Curtius, Mappe 1945–1946, Brief von Ludwig Curtius an Wilhelm Furtwängler vom 18. Mai 1946. Curtius bezog sich auf Bruno Kittel, den ehrgeizigen Leiter des nach ihm benannten Berliner Philharmonischen Chores, der wie Furtwängler unter den Nazis weiter musiziert hatte, ohne dass seine Biografie bislang kritisch hinterfragt worden wäre. Siehe zu den Eckdaten seiner politischen Vita, die mit seinem Eintritt in die NSDAP zum 1. Mai 1933 auf Linie zu den NS-Machthabern ging, Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, S. 3678–3682.

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deutsche Musik aufgefasst. Entsprechend protestierte er und reklamierte die Deutungshoheit über die deutsche Musik für sich: „Lieber Freund, Das amerikanische Dirigierverbot für mich ist noch nicht aufgehoben, ist im Gegenteil wie ich heute erfahre im letzten Moment wieder erneuert worden. Man sagt zwar offiziell es dauere nur noch einige Wochen, ich bin aber neuerdings sehr skeptisch und richte mich innerlich darauf ein, dass es noch lange Monate, vielleicht noch jahrelang dauern kann. Es gehört das zu dem Kampf gegen den deutschen Geist, den die Deutschen selber am wenigsten zu merken scheinen. Wenn Du Bach in der Darstellung von Kl. der ‚akademischenʻ Kittel’schen vorziehst, so gehört das eigentlich auch dazu. Nicht als ob Kittel und Kl. zu vergleichen wären, aber anders als wenn man einen amerikanischen Businessman, etwa Mr. Ford, Goethe’sche Gedichte vortragen liesse. In solchem Falle meine ich immer, dass es nicht mehr der Mühe wert ist für mich, überhaupt noch Musik zu machen. Verstehe mich recht, ich meine das ganz und garnicht persönlich. Deinem Pianist sage, dass ich seinen Brief mit Interesse gelesen hätte und mich, wenn die Gelegenheit da ist, daran erinnern werde. Er meint, es müsse ja doch jeder die Möglichkeit haben, sein Können unter Beweis zu stellen. Leider haben das bei grosser deutscher Musik diejenigen, die einst diese Musik aus ihren Reihen heraus geschaffen haben heute nicht mehr. Auch ich glaube, dass ein sehr nach Innen gerichtetes, vom Ausland unabhängiges geistiges Deutschland heraus kommen wird. Es ist der einzige Trost, dass noch dieses möglich ist. Die Gefahr des zu einseitigen und grossen Nach-Innen-gerichtet-seins, die im Deutschen ohnedies liegt, wird freilich auf diese Weise noch grösser. Trotzdem ist es besser, denn es ist jedenfalls ein Aus-sich-selbst-leben, wo man nicht nur gibt, sondern auch wieder etwas zurück bekommt, anders als wenn man sich an eine kalte, barbarische und anmassende Aussenwelt verschwendet. Ich lasse ihr gerne ihren Stolz und ihre Macht, ich sehe nur nicht ein wieso sie in lächerlicher Selbstüberhebung sich anmassen dürfen, uns über unsere eigensten Dinge, über Bach, Brahms, usw. zu belehren.“6

In seinem Antwortbrief wies Curtius am 1. Juni 1946 die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück und erinnerte seinen Briefpartner an seine altbekannte Überempfindlichkeit. Am 12. Juni 1946 nahm Furtwängler den Gesprächsfaden wieder auf, ohne mit Curtius noch über musikalische Dinge korrespondieren zu wollen. Entgegen diesem ersten Impuls formulierte er nach einigen Tagen Bedenkzeit seine Überzeugungen und fasste auch seine aktuelle Lage zusammen, von der Schweiz aus den Ausgang seines Entnazifizierungsverfahrens abwarten zu müssen, die er explizit als Exil verstand. Dieser Brief ist in seiner Deutlichkeit außergewöhnlich aussagekräftig, was die Länge des zitierten Ausschnitts erklärt: „Es ist mir niemals im Traum eingefallen, Dir einen Vorwurf daraus zu machen, dass Du über irgend etwas anders urteilst oder denkst als ich. Ich bemühte mich nur mein eigenes Urteil zu begründen und das sollte schliesslich auch für Dich von Interesse sein. Ich kenne Klemperers Bach-Aufführungen aus Berlin. Er dürfte sich kaum geändert haben und ich bin überzeugt, dass wenn Du mehr Vergleichsmöglichkeiten hättest, Du ebenfalls meiner Meinung wärest, womit ich nicht sagen will, dass die Aufführung der Passion in Rom nicht vielleicht eine sehr gute Aufführung gewesen ist. Was ich gegen die Klemperer’sche ‚motorischeʻ Bach-Auffassung mit den schnellen Tempi, usw. einzuwenden habe, darüber etwas zu sagen würde hier 6

Nachlass Furtwängler, Korrespondenz mit Ludwig Curtius, Mappe 1945–1946, Brief von Wilhelm Furtwängler an Ludwig Curtius vom 23. Mai 1946.

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viel zu weit führen, denn es ist kompliziert auszudrücken, wenn es auch im Grunde sehr einfach ist. Mit irgend welcher Theorie oder ‚Weltanschauungʻ haben meine Einwände garnichts zu tun, wohl aber die ‚motorischeʻ Bach-Auffassung. Wenn man überhaupt theoretisch dazu etwas zu bemerken hätte, so nur dies, dass jener Bach, wie er heute in Amerika und bei Leuten à la Klemperer gepflegt wird, nicht Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut ist, nicht ein lebendiger Mensch, der uns alle zutiefst angeht, sondern eine Sache, die sich in grauer Vorzeit begeben hat, von der wir in unserer unendlichen Klugheit heute ‚viel mehr wissen, als Bach selber wusste.ʻ Es ist der ganze Gegensatz zwischen unfruchtbarer, rechthaberischer, besserwisserischer Kulturverwaltung- und Betreuung und denjenigen, die selber in dieser Kultur mitverantwortlich darin stehen, denen sie noch ein Teil ihres eigenen Wesens ist. Wenn Buschor sagt, heute sei das Zeitalter der Kunstbetrachtung angebrochen und der lebendige produktive Künstler habe in unseren Tagen nichts mehr zu sagen – denn so etwa ist seine Meinung – so trifft das den Nagel auf den Kopf. Ob Buscor oder Preetorius, ob Pinder oder soundso viele Andere, in Einem sind sie sich alle einig: Einen für das heutige Menschentum wirklich verantwortlichen produktiven Künstler darf es nicht mehr geben. Ich persönlich habe zu dieser Haltung, die bei den Betreffenden in allen Unterhaltungen schliesslich immer wieder durchbrach, nur eines zu bemerken: Sie bildet sich ein, sehr überschauend und weise zu sein, ist aber in Wirklichkeit diktiert vom Egoismus dessen, der sich seiner Schwäche bewusst, alles auf sein eigenes Niveau hernieder zwingen will. Niemals wird ein Produktiver die Möglichkeit des Schöpferischen in der Welt in Frage stellen oder auch nur in Frage stellen wollen. Das tun nur solche, die es vor sich selbst tun zu müssen glauben. So anfechtbar dieser Grund ist, so völlig unüberwindlich aber ist er, und wenn ich noch etwas ganz Persönliches dazu sagen muss: Ich, mit allem was ich bin und durch meine Tage hindurch tue von morgens bis abends, werde von Menschen dieser Art von Grund aus negiert. Es ist gleichsam eine Unerlaubtheit und Inkonsequenz der Natur, dass Menschen mit solchen Ambitionen und Empfindungen wie ich existieren und sie werden zumindest nicht ganz ernst genommen. Was dich betrifft, so gehörst Du nicht eigentlich zu denen Allen, Du hast nicht die Kunsthistorie so sehr in ein System gebracht, dass für den lebendigen Menschen und die lebendige Kunst nichts mehr übrig bleibt, weil Du überhaupt – Gott sei Dank – gegen jedes System bist. Wie Du mir gegenüber als Künstler stehst, darüber freilich möchte ich lieber nicht sprechen und wenn es in Zukunft so sein soll, dass jede Äusserung über eine musikalische Frage Dich verletzen kann, so werden wir eben versuchen, diese Fragen in Zukunft nicht mehr zu berühren. […] 13.6. Noch etwas: Du scheinst es nicht für sehr wichtig zu halten, ob ein Künstler ‚verstandenʻ wird oder nicht, seine Grösse und Schaffenskraft wird dadurch nicht beeinträchtigt. Das ist nicht wahr. Die Grösse bleibt dieselbe, nicht aber die Schaffenskraft und das nicht wegen des mehr oder minderen ‚Erfolgesʻ den er hat – aber immer neben allem Anderen auch sehr viel Sache des Zufalls ist – sondern weil das Bild, was die Anderen von ihm haben, resp. in ihrer Ahnungslosigkeit, Unzulänglichkeit oder ihrem Hass von ihm prägen, irgendwie auf ihn zurückwirkt. Es ist dies ein Naturgesetz, und es wäre Vermessenheit es leugnen zu wollen. Was ich Euch gegenüber einzuwenden habe, ist, dass Ihr mich nicht sein lässt [sic] wie ich bin. Darin, in diesem entscheidenden Punkt, trete ich Euch ganz anders gegenüber. – […] Heute habe ich die traurige Nachricht bekommen, dass mein Exil in wenigen Tagen ein Ende hat. Ich kann Dir erst wieder schreiben, wenn ich wieder in der Schweiz bin, d.i. nicht vor Juli. Nimm es mir nicht übel, dass ich heute so offen geschrieben habe, aber wenn man nicht offen sein kann, hat Schreiben überhaupt keinen Sinn. Lebe wohl. Viele herzliche Grüsse Dein W Furtwängler“7

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Ebd., Brief von Wilhelm Furtwängler an Ludwig Curtius vom 12. Juni 1946.

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Der Streit der beiden alten Vertrauten war nach diesem Schreiben keineswegs beigelegt und Anfang August 1946 kam Furtwängler in zwei Briefen auf das Schicksal Deutschlands nochmals zu sprechen. Auch wenn in der Literatur Furtwänglers Engagement für jüdische Musiker und seine Einstellung zum Antisemitismus immer wieder debattiert wurde, ohne sich auf ein eindeutiges Bild einigen zu können, sind die antisemitischen Klischees unüberhörbar, wenn er am 6. August 1946 nochmals auf das Beispiel Klemperers zurückkam und Klage über den Untergang eines verständigen Publikums führte, das – als Ironie der Geschichte – nur noch außerhalb Deutschlands zu finden sei: „Lieber Freund, Beiliegenden Brief hatte ich zuerst Hemmungen abzuschicken in der Befürchtung, vielleicht mit meiner Offenheit zu weit gegangen zu sein. Ich dachte daran, wie ich Dich noch vor kurzem mit der Bemerkung über Klemperer gekränkt habe ohne es zu ahnen. Aber schliesslich: Rücksichtslose Offenheit ist das erste Gebot wahrhafter Freundschaft. Sie wird und muss eben zeigen, ob sie das ertragen kann. Heute befinden sich ja alle Deutschen an einem Kreuzweg; und in diesem Zusammenhang will ich noch einmal von anderer Seite her auf die zwischen uns herrschende Verschiedenheit der Anschauung eingehen. Gerade in den letzten 12 Jahren Hitler-Deutschland habe ich für mein Teil – wenn auch stumm, ohne viel dagegen tun zu können – auf Schritt und Tritt Zeichen des deutschen Niedergangs wahrzunehmen geglaubt. Nicht nur die stumpfsinnig-bornierte, auf intellektuellen Kurzschluss basierende Deutschtümelei der Himmler und Hitler, noch mehr das krampfhafte Uebertreiben dieser Bestrebung war mir zutiefst verdächtig. Dazu kam, dass die Beispiele, die man aus der Geschichte heranzog, meist falsch gewählt waren, usw. Wenn nicht im einzelnen doch zuweilen kluge und echte Menschen kluge und wahrhaftige Dinge dazu zu sagen gehabt hätten, lohnte es sich kaum auf das Ganze näher einzugehen. Das Auffallende nun war, dass zur gleichen Zeit mit diesem stumpfsinnig-brutalen Zur-Schau-Tragen des Deutschtums durch die offizielle Staatsführung, Partei, usw. ein beispielloser menschlicher, politischer, geistiger Defaitismus einherzog. Zu derselben Zeit, als die Gesandtschaften in Bern, Stockholm – wo ich sie kennen gelernt habe – offiziell in Politik Adolf Hitlers gemacht haben, haben die einzelnen Kulturattachés dieser Gesandtschaften, die schliesslich Deutsche waren wie ihre Chefs, nicht nur die Stellungnahme der Regierung durch kraftlose, zu nichts verpflichtende Skepsis begleitet, sondern selber jedes Bewusstsein dessen was deutsch ist und warum die Deutschen ein politisch-geistig notwendiges Glied der europäischen Völkerfamilie darstellen, vermissen lassen. Ich beschränke mich hier absichtlich auf mein eigenes Feld die Musik. Die Generation der Deutschen, die heute 30–40 Jahre alt ist, weiss von der grösseren Bedeutung der deutschen Musik so gut wie nichts. Sie nehmen an ihr kein anderes Interesse als an italienischen Opern oder französischer Malerei. Ja man kann sagen, dass etwa die französischen Impressionisten bedeutend besser über die Grösse deutscher Musik Bescheid wussten, als 99% der heutigen „kulturbewussten“ Deutschen. Ich würde diese Scheusslichkeit – denn das ist es in meinen Augen – nicht mit solcher Bestimmtheit sagen, wenn ich nicht die entsprechenden Erfahrungen wieder und immer wieder gemacht hätte: Um wieder bei der Musik zu bleiben, wenn ich mich heute über Johannes Brahms unterhalten wollte – und es gäbe darüber sehr viel zu sagen, von dem die superklugen, geistigen Deutschen offenbar keine Ahnung haben – so muss ich mich an jüdische Emigranten wenden, die im ganzen gesehen – so grotesk das klingt – immer noch diejenigen sind, die am meisten von deutscher Kultur wissen und ihrer am dankbarsten verpflichtet bleiben. Und in diesem Zusammenhang kann ich freilich nicht umhin, in tiefer Traurigkeit an Deinen Rilke, Thomas Mann, Ulyssus, usw. zu denken. Du schriebst mir anfangs einmal: Gleich was geschieht, der deutsche Geist wird nicht untergehen. Ich kann nur sagen, wenn das der deutsche Geist ist und wenn das der Geist des wirklichen deutschen Volkes ist, so wird dies

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Volk untergehen. Es wird ja schliesslich auch alles getan um diesen Untergang herbeizuführen und man weiss manchmal nicht wer frivoler ist: diejenigen, die eine Konzeption befürworten, die diesen Untergang vorsätzlich herbeiführen muss oder diejenigen, die geflissentlich über die klare Sprache der Tatsachen hinwegsehen und vom deutschen Geist reden. Als ob dieser etwa vom deutschen Menschen, vom deutschen Schicksal, von der deutschen Wärme, Liebe, Gerechtigkeit und Kraft unabhängig wäre, dass man ihn als eine Art Homunkulus in einem Glas züchten könnte. Verstehe mich recht: ich sage nichts gegen die kulturellen Leistungen der von Dir benannten Männer; ich bestreite keinen Moment, dass Rilke schöne Gedichte gemacht hat, wenn man diese Gedichte aber als massgebend für den deutschen Geist von heute betrachtet, so fröstelt es mich. Ich kann dann nur schweigen und in aller Deutlichkeit sagen: Wir wollen lieber nicht mehr von Deutschland sprechen. Ich hatte gerade in letzter Zeit viel Veranlassung, über Deutschland nachzudenken. Ich tue damit nichts anderes als was die Menschen in Deutschland selber auch allmählich anfangen zu tun und vielleicht habe ich Unrecht, diese Ueberlegungen, die eigentlich Monologe sind eines einsamen und von Mitfühlenden und Mitstrebenden im Moment durchaus Abgetrennten, gerade an Dich zu richten. Vielleicht denkst Du auf Deine Weise und für Dich dasselbe; wie es auch sei, so werde ich diese Epistel, die nun ohnedies lang genug geworden ist, abzuschicken. [sic] Du brauchst mir nicht zu antworten, wenn Du es nicht willst. Wie immer mit vielen herzlichen Grüssen Dein [WF]“8

Vier Tage später, am 10. August 1946, reagierte Furtwängler erneut und arbeitete, als Kern des Briefes, den Unterschied zwischen Curtius und sich an einer Gegenüberstellung der Generationen von Thomas Mann und Johannes Brahms heraus: „Noch etwas, was anzudeuten ich mir nicht versagen kann. Wir sind beide Deutsche und Deutschland steht heute wie noch nie bisher eine europäische Nation im Kampfe um die Erhaltung seiner selbst. Du sprichst vom deutschen Geist, der „nicht untergehen“ könne. Ich spreche vom deutschen Menschen; für Dich verkörpert sich Deutschland in Jünger, Thomas Mann, Rilke – für mich wenn man so will in Brahms und Bruckner. Die Unterschiede sind auch hier so gross, dass es besser ist, wir sprechen nicht mehr darüber. Ich könnte es nicht, ohne dabei sehr bitter zu werden. Leb wohl. Mit herzlichen Grüssen Dein WF9“

Zu diesem Brief hat sich eine Antwort erhalten und der zuvor angegriffene Curtius verteidigte sich mit deutlichen Worten: „Lieber Dette, Deinen schönen Brief vom 10. August würde ich am liebsten unbeantwortet lassen. Denn aus so grossem Misverstehen herauszuführen, das scheint mir ein beinahe hoffnungsloses Unternehmen. Aber er lässt mir keine Ruhe, und so muss ich doch mich dem widrigen Geschäft unterziehen, mich zu verteidigen. […] Freilich tut sich da ein wesentlicher Unterschied zwischen uns auf. Du empfindest diese ganze moderne Welt als Dir feindlich. Auch mir ist Vieles an ihr fremd, und ihrem teuflischen Teil, wenn ich zu ohnmächtig bin, den Kampf mit ihm aufzunehmen, weiche ich aus. Aber ich mache mir das tiefsinnige Wort L. von Rankes ‚Alle Epochen sind bei Gottʻ immer wieder zu eigen. Deshalb suche ich auch immer wieder das goldene Schnürchen, mit dem unsere entsetzliche Gegenwart mit dem Himmel zusammenhängt, und stehe auf der Seite jeder fruchtbaren 8 9

Ebd., Brief von Wilhelm Furtwängler an Ludwig Curtius vom 6. August 1946. Ebd., Brief von Wilhelm Furtwängler an Ludwig Curtius vom 10. August 1946.

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Michael Custodis Begabung, die ich entdecken kann. Ich stehe also, trotzdem Du es nicht wahr haben willst, auch auf Deiner Seite. Kommt also nun wieder Brahms aufs Tapet, mit dem der unglückliche Hader zu meinem hellen Erstaunen damals vor mehr als zwanzig Jahren in dem Wein-Restaurant in der Königsgräzer Strasse in Berlin angefangen hat. Ich erinnere mich dessen genau. Auch hier unterlaufen Dir Gedächtnisfehler. Denn viel früher als Du, von 1893 ab bin ich leidenschaftlicher Verehrer dieses grossen Musikers gewesen, lange Jahre hindurch, und erst das Soldatenerlebnis des Weltkriegs hat mich von ihm entfernt. Nicht ganz, denn immer noch hänge ich an vielen seiner wunderbaren Lieder und an vielen herrlichen Sätzen seiner Symphonien und seiner Kammermusik. Aber fremd ist mir an ihm eine Seite seines musikalischen Wesens geworden, die seiner ganzen Epoche angehörte, ja die ich selbst persönlich eine Zeit lang geteilt habe. Ich will sie vorläufig, nachher komme ich wieder darauf zurück, ‚das romantische Ichtumʻ nennen. Und dieses ist freilich für Dich die höchst empfindliche Stelle. Du weisst auch sehr genau, dass Bruckner für mich der grosse Wegweiser der Zukunftsmusik ist, des neuen objektiven religiösen, von der sich sicher weiss, dass sie einmal kommen wird, denn eben Rilkes späte Gedichte und die Duineser Elegien eilen ihr schon voraus. – Also auch Bruckner scheidet aus unserem Streite aus. Bleibt eigentlich, wenn Du die von Dir vorgenommenen Entstellungen korrigierst, jene Seite des Johannes Brahms und Richard Wagner. In diesem freilich bin ich gänzlich unbelehrbar. Das also ist’s was uns so unversöhnlich scheidet? Mir ist bei so viel Gemeinsamem Deine Forderung, Dein Freund müsse jede Deiner künstlerischen, menschlichen Anschauungen teilen, um Dein Freund bleiben zu dürfen, so dass er sich schliesslich mit Dir decke wie zwei kongruente Dreiecke, immer eigentlich inhuman vorgekommen. Ich habe viele Freunde. Von keinem verlange ich, dass er in Allem mit mir übereinstimme. Täte er es, es würde mich langweilen. Es sind einige darunter, die mein eigentliches inneres Wesen gar nicht kennen, andere, die die Zentralideen meines Denkens gar nicht verstehen würden, wenn ich darüber spräche. Ich spreche aber gar nicht darüber. Mir reicht es aus, dass wir uns in einer gewissen Richtung einer Gemeinsamkeit bewusst sind, und dass wir durch diese den Ernst und den Genuss des Lebens teilen. Ich verlange sehr wenig von Ihnen, und gerade jetzt erlebe ich es, dass sie mir unendlich mehr leisten, als ich verlange. Ich war immer bereit für Dich Alles zu leisten, was ich vermochte. Aber Du verlangst die Unterordnung der ganzen Individualität. […] Aber dieser Konflikt ist viel weniger ein theoretischer als ein eminent praktisch-persönlicher. Das war ja von jeher so. Du warst in der Frage Brahms so reizbar, weil Du Dich selbst mit ihm angegriffen fühltest. Du verteidigst Brahms, aber eigentlich verteidigst Du Dich. Ich habe das immer gesehen. Deshalb trifft Dein Selbstvergleich mit Marées nicht zu. Dessen Vorbilder waren die Antike, Tizian und Raffael [Name kaum zu entziffern; Anm. d. Verf.]. Von ihnen war er durch Jahrhunderte getrennt. Du kommst unmittelbar von R. Wagner und J. Brahms her, die Dir vorausgehen und teilst diese Tendenz mit der ganzen, modernen Musik. Nur suchst Du, eben von der Meisterschaft Brahms‘ her einen klassischen Weg, den die anderen aufgegeben haben. Du hast wenige, die versuchten, Dich auf diesem Weg mit ernsterer Teilnahme und grösserer Sympathie zu begleiten, als W. Riesler und ich. […] Wehmütige Konstatierung. – Ich wollte Dir in Deiner Einsamkeit zu Hilfe kommen, in der Verkennung und Verfolgung durch Deine Feinde beistehen. Ich bin der Meinung, in dieser entsetzlichen Gegenwart sollten Alle diejenigen, die noch zum alten Deutschland, zum alten Europa gehören, sich fester zusammenschliessen. Meine Absicht war grundehrlich, ganz naiv. – Was habe ich von Dir als Antwort erhalten? Lauter Ablehnung, lauter Ressentiments. So mag ich nicht weitermachen.

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Ich will Dir meine Liebe und Freundschaft nicht aufdrängen. Leb wohl. Dein L. Curtius“10

3. Wie repräsentativ diese Gedankengänge des Briefwechsels für Furtwänglers Überzeugungen waren, zeigt sich im Abgleich mit den in seinem Nachlass erhaltenen Stellungnahmen für seine Entnazifizierungsverfahren. Nachdem bereits im Februar 1945 von aufgebrachten Züricher Bürgern und Journalisten einige Schweizer Konzerte Furtwänglers verhindert worden waren, folgte am 20. Februar 1946 das offizielle Auftrittsverbot der Amerikaner.11 Nachdem das bereits erwähnte Entnazifizierungsverfahren in Wien geplatzt war, als die Alliierten die Stellungnahme der Kommission vom 9. März 1946 nicht akzeptiert hatten und die Verlegung des Verfahrens nach Berlin anordneten, begann dort ein zähes Ringen, nachdem Furtwängler unter großer öffentlicher Anteilnahme am 11. und 17. Dezember 1946 vor der Kommission für Kunstschaffende ausgesagt hatte. Der Schweizer Mäzen Werner Reinhart hatte ihm mehrfach mit Privatkrediten aus finanziellen Engpässen geholfen und Furtwängler konnte ihm am 24. September 1946 mitteilen, er habe gerade „einen grossen Vertrag mit der englisch-amerikanischen Grammophongesellschaft His Masters Voice abgeschlossen, der imstande ist mein Leben mit meiner Familie bei bescheidenen Ansprüchen für die nächsten 5 Jahre sicher zu stellen.“12 Dennoch war allen Beteiligten in Berlin bewusst, dass vom Ausgang des Verfahrens mehr als nur die Zukunft des Dirigenten abhing, sondern stellvertretend der Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit insgesamt verhandelt werden sollte. Als der erste Spruch der Kommission, Furtwängler von allen Vorwürfen freizusprechen, von den Alliierten zurückgewiesen worden war, wurde der zweite Vorschlag für Kategorie IV der Mitläufer von den Alliierten Ende April 1947 schließlich bestätigt. Zählt man die vier Anklagepunkte des Verfahrens zusammen, wog neben dem generellen Vorwurf, dem NS-Regime gedient, sich antisemitisch geäußert sowie an offiziellen Parteiveranstaltungen mitgewirkt zu haben, das vielfach zitierte Amt des „musizierenden Staatsrats“13 schwer.14 Allerdings konnte Furtwängler der Kommission glaubhaft machten, dass dieser Titel nur nominell und nicht abzulegen 10 Ebd., Mappe Curtius Briefe an WF 1920–1953, Brief von Ludwig Curtius an Wilhelm Furtwängler vom 20. August 1946. Siehe zu Curtius politischer Einstellung zur damaligen Zeit auch Faber, Humanistische und faschistische Welt, S. 161–165. 11 Klaus Kanzog, Offene Wunden. Wilhelm Furtwängler und Thomas Mann, Würzburg 2014, S. 11 und 13. 12 Brief von Wilhelm Furtwängler an Werner Reinhart vom 24. September 1946, in: Musikkollegium Winterthur: Briefwechsel Reinhart, Datensatz online unter: http://www.musik.uzh.ch/static/mizdb/index.php?act=browsedocu&did=6246e3468&nid=107 (Abruf am 13. November 2015). 13 Eine entsprechend kritische Berichterstattung lieferte etwa die Zeitung Der Sozialdemokrat am 14. März 1947, siehe Kanzog, Offene Wunden, S. 31. 14 Sam H. Shirakawa, The Devil’s Music Master. The Controversial Life and Career of Wilhelm Furtwängler, New York und Oxford 1992, S. 311f.

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gewesen sei. Da er auch mit zahlreichen Zeugenaussagen seinen Einsatz für jüdische Musiker belegen konnte, war auch Furtwänglers Charakterisierung als Antisemit vor der Spruchkammer nicht aufrechtzuerhalten, obgleich innerhalb der Kommission kontrovers diskutiert wurde, ob die Motivation zu diesem Verhalten den Musikern als verfolgten Juden oder nicht vielmehr ihren Talenten als Ausnahmekünstlern gegolten habe, so dass primär die gleichbleibende Qualität der Orchester das Ziel der Bemühungen Furtwänglers gewesen wäre.15 Da die beiden anderen Anklagepunkte – die generelle Bereitschaft, sich vom NS-Regime vereinnahmen zu lassen sowie die Mitwirkung an Parteiveranstaltungen – den eigentlichen Kern von Furtwänglers Selbstverständnis als widerständigem deutschen Musiker betrafen, nehmen seine hierzu vorbereiteten Rechtfertigungen den breitesten Raum in seinen Verteidigungsunterlagen ein. Da bei einem Entnazifizierungsverfahren gegenüber einer Kommission, die üblicherweise aus NichtFachleuten bestand, nicht nur das eigene Handeln zu rechtfertigen war, sondern auch Zusammenhänge erklärt werden mussten, die unter Musikern als selbstverständlich hätten vorausgesetzt werden können, bieten diese Materialen als öffentlich vorgetragene Argumentation ein aufschlussreiches Gegenstück zu Furtwänglers privaten Aussagen gegenüber Curtius. In einer vermutlich auf das Jahresende 1946 einzugrenzenden Verteidigungsschrift findet sich eine seltene historische Herleitung seiner unveränderten „Grundeinstellung, dass es irgendetwas geben müsse, das über den politischen Gegensätzen des Tages stünde, nämlich die Kunst und dass wir Künstler die Pflicht hätten, diese Kunst vor den politischen Leidenschaften wie ein Heiligtum zu schützen“. Gespickt mit erstaunlichen Beispielen rechtfertigte sich Furtwängler, auch unter den neuen politischen Bedingungen der führende Widerständler gegen die Vereinnahmung der Musik durch die Politik zu sein: „Es ist gerade die politische Bedeutung der Kunst, dass sie unpolitisch, resp. überpolitisch bleiben muss, soll sie das bleiben was sie ist. Niemals, so lange die Weltgeschichte zu verfolgen ist, hat man an Kunst und Künstler politische Forderungen und Masstäbe gestellt. Dschingis Khan hat sie aus der Masse der eroberten Völker herausgesucht und gehegt und gepflegt. Noch Lenin hat bekanntlich das Opernhaus des Zaren mit allem Drum und Dran en bloc übernommen. Erst Adolf Hitler blieb es vorenthalten, die Künstler unter politischen Gesichtspunkten zu sehen und zu werten und damit ein Grossteil der besten Künstler Deutschlands in die Fremde zu treiben. Er ist der Vater jener Politisierung, die heute zum Verhängnis der Kunst und der Völker weiter und weiter getrieben wird. Wenn heute Deutschland Männer, die mit dem Hitlerregime nichts zu tun hatten als dass sie protestiert haben wo sie konnten und ihren künstlerischen Beruf recht und schlecht nachgingen, die versucht haben die Lebensinteressen ihrer Kunst gegen die von allen Seiten eindringende nationalsozialistische Sturmflut zu verteidigen, – wenn Deutschland solche Männer heute austreibt und verurteilt, so handelt es in den Traditionen Hitlers. Es ist die Schule Hitlers, es ist eine Politik der Rache und des Aufbaues.“16

In einem weiteren Manuskript, das sich undatiert in seinen Verteidigungsschriften erhalten hat, ging Furtwängler an verschiedenen Positionen nochmals dem Vorwurf nach, trotz entsprechender Gelegenheiten nicht ins Ausland gegangen zu sein, und 15 Siehe Kanzog, Offene Wunden, S. 59. 16 Nachlass Furtwängler, Mappe „Verteidigung II“ WF Verteidigungsschriften.

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wiederholte dabei seine bekannten Argumente, das deutsche Volk gegen die NSHerrscher nicht im Stich gelassen zu haben. Bezeichnenderweise gab er als Fehler zu, nach seinem Treuegelöbnis im Frühjahr 1935, mit dem er Hitler als oberste Kulturinstanz anerkannt und den Streit im Fall Hindemith beigelegt hatte, von der Fehleinschätzung ausgegangen zu sein, „in Zukunft als unpolitischer, freier Künstler tätig sein zu können.“ Auch in diesem Fall verglich er die aktuelle Situation während seines Entnazifizierungsverfahrens mit der zurückliegenden Zeit bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches: „Die Beziehungen zwischen Deutschland und einem deutschen Musiker sind tieferer Art. Die deutsche Musik sagt aus von einem anderen Deutschland als dem, das heute die und morgen jene Politik macht. Sie spricht von jedem ewigen Deutschland, das auch heute, im Augenblick des tiefsten Zusammenbruchs, nicht tot ist. Dies Deutschland gegen die Anmassung der Nazis, in sich und ihrem Reich das ganze Deutschland darzustellen, zu verteidigen war meine Aufgabe. […] Dass die Möglichkeit, sich als Künstler die Unabhängigkeit zu bewahren gerade für den Musiker besonders gross ist, liegt auf der Hand. Musik, besonders die in erster Linie von mir vertretene absolute Musik, lässt sich weltanschaulich, politisch nicht festlegen und deuten. Der Musiker war nicht wie etwa der Schriftsteller und Dichter immer in Gefahr in Ausübung seiner Kunst politisch missdeutet zu werden. Dass der Nationalsozialismus dies durch Missbrauch der Musik zu Propagandazwecken auszugleichen versuchte, wie er es nachher gerade mit mir getan hat, konnte ich damals noch nicht wissen.“17

4. Es war nicht zuletzt dieses Argument Furtwänglers, im Gegensatz zu den von ihm verachteten Emigranten Deutschland die Treue gehalten zu haben, dass Thomas Mann dazu bewog, gegen den Dirigenten Position zu beziehen. In seinem Schlusswort vor der Entnazifizierungskommission hatte Furtwängler den Literaturnobelpreisträger am 17. Dezember 1946 direkt angegriffen, um dessen Postulat, würdige Kunst sei im NS-Staat nicht möglich gewesen, zu kontern: „Meint Thomas Mann wirklich, dass man in Hitler-Deutschland nicht Beethoven musizieren konnte? Wen konnte Beethoven mit seiner Botschaft der Freiheit mehr ansprechen, als gerade die Deutschen, die unter dem Terror Hitler leben mussten? Ich konnte Deutschland in seiner tiefsten Not nicht verlassen! In diesem Moment hinauszugehen wäre mir wie schimpfliche Flucht erschienen. Schliesslich bin ich Deutscher, gleichviel wie man das von aussen betrachtet. Ich bereue nicht, für das Deutsche Volk dies getan zu haben.“18

Bei einer Deutung der vergangenen und zukünftigen deutschen Kultur sah Furtwängler bezeichnenderweise nicht unter Musikern seinen Hauptrivalen. Eine Erklärung findet sich vielmehr in der zitierten, expliziten Bezugnahme auf Thomas Mann. Nachdem Furtwängler nach Abschluss seines Verfahrens am 25. Mai 1947 unter frenetischem Jubel vor die Berliner Zuhörerschaft zurückgekehrt war – das Programm entsprach exakt jener Werkauswahl, mit der er am 25. April 1935 nach 17 Undatiertes Manuskript, ebd. 18 Kanzog, Offene Wunden, S. 38.

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dem Hindemith-Skandal vor der braunen Herrschaftselite an das Pult der Berliner Philharmoniker getreten war (Egmont-Ouvertüre op. 84, Sinfonie Nr. 6 op. 68 Pastorale und Sinfonie Nr. 5 op. 67) –, nahm Erika Mann Anstoß an dieser trotzigen Publikumsgeste. Thomas Mann hatte eine ihm von Alma Mahler-Werfel weitergereichte Verteidigungsschrift Furtwänglers gelesen. In ihrem Briefwechsel meinte Furtwängler debattieren zu können, was für Mann keine Frage der Worte, sondern der Taten war. Nach der öffentlichen Kontroverse vom August 1945, als Mann eine Rückkehr nach Deutschland ablehnte, hatte er am 15. Januar 1946 gegenüber Ewald Vetter, einem Freund von Käthe Kollwitz, seine Vorwürfe gegen die deutsche Kulturelite formuliert: „Das Versagen der deutschen Intellektuellen im Jahre 1933 und den folgenden war entsetzlich, und allzu sehr fehlt es mit heute an Zeichen der Scham und Reue über die unvergessbare Schande. Soviel ich sehe und höre sind Unschulds- und Gekränktheitspathos jetzt ebenso verbreitet, wie damals die hirnlose Kapitulation vor Mächten, denen doch die letzte Niedertracht, Krieg, Tod und Verderben an der Stirn geschrieben stand. Ich, als deutschbürtiger Mensch und Geist, fühlte tief und schmerzlich meine Teilhaberschaft an der deutschen Schuld, an der Verantwortung für alles, was Deutschland als Nation in seinem Wahn und Rausch der Welt angetan hat. Aber nichts von Verantwortungsgefühl ist in Deutschland zu spüren. Man trägt die Nase hoch, zuckt die Achsel, besonders über uns Emigranten, macht sich lustig über die ‚ahnungslosen Amerikaner‘ und ist entrüstet, dass die Welt nicht wenige Monate nach Abschluss dieses Krieges Deutschland schon wieder auf Händen trägt.“19

In den von Furtwängler erhaltenen Briefen aus dem Jahr 1947 rechtfertigte er sich gegenüber dem Literaten mit den bekannten Argumenten, zum Wohle Deutschlands gehandelt zu haben und nun am Aufbau einer neuen Welt mitarbeiten zu wollen. Mann repräsentierte als harscher Kritiker Deutschlands das alternative Bild eines Künstlers, der politisch gehandelt hatte, ohne seine Kunst zu kompromittieren, und er fiktionalisierte diese Thematik in der Figur des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn in seinem 1947 veröffentlichten Dr. Faustus-Roman. Da er Furtwängler für nicht einsichtsfähig hielt, lehnte Mann im selben Jahr eine weitere öffentliche oder private Auseinandersetzung mit ihm ab.20

19 Zitiert nach ebd., S. 34. Eine Abschrift des Briefes fand Kanzog in den Akten von Furtwänglers Entnazifizierungskommission. 20 Ebd., S. 36 und 54ff. Siehe hierzu auf einen Brief Manns an Manfred George (den Gründer und Chefredakteur des New Yorker Magazins Aufbau vom 11. März 1947: „Aus Furtwänglers Schriftsatz, wie aus so vielen anderen Dokumenten geht mir wieder hervor, welch ein Abgrund zwischen unserem Erlebnis und dem der in Deutschland Zurückgebliebenen klafft. Eine Verständigung ist über diesen Abgrund hinweg völlig unmöglich […].“ Zitiert nach ebd., S. 55.

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5. So, wie man sich schon damals weder im Entnazifizierungsverfahren noch in öffentlichen Debatten auf moralische und juristische Maßstäbe für Furtwänglers Handeln und Zögern im Dritten Reich hatte einigen können, sind diese Fragen bis heute strittig. Verkompliziert wird diese Situation, da Furtwänglers Worte zwar kritisch diskutiert wurden, ihre Aussagekraft aber überlagert wurde von seiner überwältigenden non-verbalen Wirkung als Dirigent. Ein wesentlicher Schlüssel zu seinem Selbstverständnis auch in der Nachkriegszeit blieb sein Minderwertigkeitskomplex, jetzt umso weniger als Komponist respektiert zu werden, während er sich als Dirigent rehabilitiert fühlte. Nur ein kleiner Kreis bewunderte seine Kompositionen. In seinem direkten Umfeld umfasste er eine Handvoll Vertrauter aus Jugendtagen, mit denen er sich weiterhin über ihr vorgebliches Missverständnis seiner Musik heftig stritt. Insbesondere Bertele Braunsfels machte aus ihrer bewundernden, aber auch sachlich-kritischen Meinung keinen Hehl, der Furtwängler im Gegenzug die alte „grausame Hildebrandsche Offenheit“ vorwarf, mit der sie seine Stücke zur Kapellmeistermusik degradiere.21 Die Gekränktheit saß tief bei Furtwängler, der sich zum Einzelkämpfer gegen die wiedererstarkte Musikmoderne stilisierte, die mit Unterstützung des öffentlichen Rundfunks inzwischen den Diskurs bestimmte, so dass sein Beharren auf tonaler Funktionsharmonik altbacken und reaktionär wirkte.22 In gereiztem Tonfall griff er am 1. November 1952 mit Bertele auch ihren Mann Walter Braunfels an, zu dem er stets nur einen distanziert-kollegialen Kontakt gepflegt hatte: Liebe Bertele, Ob ich Dir für Deinen Brief danken soll? Ja wohl, ich danke Dir für Deine Offenheit, die auch eine offene Antwort erfordert. Aeusserlich gibt er sich freundlich – christlich; und doch, welche Härte, welche Verhärtung. Ich beneide Dich um die Sicherheit Deines Urteils. Aber zugleich – verzeih, dass ich es ausspreche – welche bodenlose Anmassung! Du hast also ausser dem Anfang in dem ganzen Stück nichts gehört – nicht die Reprise und die Koda des 1. Satzes, den Aufbau des zweiten, das Trio des dritten, den Anfang und die Reprise des letzten --- Das erinnert mich an die Art Deines Mannes, wie er früher lebendige und ursprüngliche Werke, wie die Brahms Symphonien, obwohl er jedes Thema genau kannte einfach ‚ablehnteʻ. (Wie er es jetzt damit hält, weiss ich nicht.) Es gibt auch nicht zu denken, dass da einer ist, der das Natürliche und Gesetzmässige will, der sich allein der ganzen Meute der Intellektualisten und Subjektivisten entgegensetzt? Allein schon das wohl – ich sage es noch einmal – zum 21 Siehe ihren Brief vom 11. Januar 1952 als Reaktion auf diese Vorwürfe, in: Nachlass Furtwängler, Bertele Braunfels an WF Mappe IV an WF 1922–1954. 22 Curt Riess schildert, ganz auf Furtwänglers Linie, dessen Komponieren als zeitlose Qualität in der Linie von Beethoven und Brahms, das sich keiner Mode unterordnen wollte. Siehe Curt Riess, Furtwängler. Musik und Politik, Bern 1953, S. 282. Noch 1951 hatte Furtwängler die von der Atonalität ausgehende Gefahr für überwunden geglaubt. Wilhelm Furtwängler, Vermächtnis. Nachgelassene Schriften [hg. von Elisabeth Furtwängler], Wiesbaden 1956, S. 51 1951: „Wir haben den Punkt bereits passiert, wo wir an die Atonalität geglaubt haben. Die Illusionen sind vorbei und damit der Nullpunkt des tiefsten Sichverlierens an die Idee des Neuen überschritten. Es ist der Weg frei für das wahrhaft „Neue“. Eine Zeitlang war die Gefahr, daß das Neue das Lebendige ersticke. Ich bekenne mich zur Zukunft, d.h.: Ich glaube an das Gemüt, an die Architektur, an die Bindung innerhalb der Freiheit (Tonalität).“

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Michael Custodis Gesetzmässigen, zum Natürlichen – das Einzige, das in der heutigen total verfahrenen Situation den ganzen Menschen angeht – verdient es nicht eine andere Einstellung? Allerdings weiss ich: Es gibt ‚persönliche‘ Gründe, über die wir nicht Herr sind und die nicht zu überwinden sind. Und es wäre auch sonderbar, wenn Du, so lange neben einer so eigenwilligen Persönlichkeit wie Dein Mann lebend, nicht davon beeinflusst wärest. Du schreibst im Sinne nach: Einer, der so viel dirigiert wie ich, kann gar kein Komponist sein. Das ist die Meinung meiner freundlichen Musiker-Kollegen. Dann braucht man sich allerdings nicht mehr mit dem Werk zu befassen. Solltest auch Du es nicht wissen, dass ich nur deshalb so lange geschwiegen habe, weil ich wusste – ich kenne die Maschinerie des heutigen ‚Musiklebens‘, dass man mir nicht zuhört? Heute bin ich in einem Alter, wo mir das gleichgültig zu werden beginnt, so wie einst Marées. Wie recht ich aber damit habe, sehe ich an Eurer Reaktion. Nun Schluss mit dieser Korrespondenz. Angesichts der Verhärtung des Herzens gibt es keinen Fruchtbaren Gedankenaustausch. Leb wohl, viele Grüsse Dein [WF]“23

Für eine andere Gruppe von Verehrern, die Furtwängler auch als Komponist die Treue hielten, steht mit Hans Schnoor ein Musikkritiker, der besonders schamlos seinen bereits während der NS-Zeit publizistisch ausgelebten Antisemitismus auch in der Bundesrepublik öffentlich pflegte. So viel man über seine Ausfälle, insbesondere gegen Arnold Schönberg und die moderne Musik seit Längerem weiß,24 so unbekannt war bislang seine Verbindung zu Furtwängler, ohne dass zu klären war, seit wann man sich kannte und wie viel Furtwängler über Schnoors Vergangenheit wusste. Ausgangspunkt der ab 1949 überlieferten Korrespondenz waren Schnoors Ambitionen, unter dem Arbeitstitel Epoche eine auf Furtwängler zugeschnittene und von diesem herauszugebende Kulturzeitschrift ins Leben zu rufen, „die eine Elite von Menschen aller Kulturländer zu Verfassern haben müsste und auch eine Elite von Lesern anzusprechen hätte – ganz unpolemisch, souverän überparteilich; ein „Furtwängler-Forum“ von dem nicht nur die Fachleute – die es so wenig gibt –, sondern Philosophen, Ärzte, Theologen, Juristen etwas von der grossen Humanitas zu verkünden hätten, die in Ihren Beethoven-Interpretationen lebt.“25

Da Schnoor auch beabsichtigte, Furtwänglers Rolle als führender Komponist der Gegenwart herauszustellen, beteiligte sich dieser gerne, für das erste Heft Albert Schweitzer und Ernest Ansermet als potenzielle Autoren zu gewinnen.26 Wie aus Schnoor Brief vom 14. August 1950 hervorgeht, wurde die Zeitschrift aus unbekannten Gründen auf unbestimmte Zeit vertagt, so dass weniger dieses misslungene Unternehmen als vielmehr die Korrespondenz darüber verrät, wie nah sich die beiden in ihrer Kulturskepsis standen. Die Zeitschrift hätte auch einen Besprechungsteil enthalten sollen, so dass Schnoor sich bei Furtwängler nach möglichen Rezensenten erkundigte. Ganz im alten Stil der SS-Zeitschrift Der Stürmer, die 23 Brief Wilhelm Furtwänglers an Bertele Braunfels vom 1. November 1952, in: Nachlass Furtwängler, Mappe Korrespondenz von WF an Bertele Braunfels. In späteren Briefen fanden beide bald wieder zu versöhnlichen Tönen zurück. 24 Monika Boll, Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik, Münster 2004, S. 213–221. 25 Nachlass Furtwängler, Brief von Hans Schnoor an Wilhelm Furtwängler vom 29. Juni 1949. 26 Ebd., Brief von Wilhelm Furtwängler an Hans Schnoor vom 21. November 1949. Siehe auch Schnoors Briefe vom 20. August und 20. September 1949, ebd.

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Namen jüdischer Autoren und Künstler mit Artikeln zu versehen,27 hatte er dabei ganz bestimmte Bücher im Sinn: „Ich würde Sie lieber fragen, durch wen wir solche Bücher wie den Adorno oder Einsteins Mozart besprechen lassen sollten. Letzteren halte ich für eine giftgeschwollene Emigranten-Bibel. […] Haben Sie zum Adorno, den Sie seinerzeit an sich nahmen, von sich aus etwas zu sagen?“28 Furtwängler war diese eindeutige politische Offenheit keineswegs zuwider und die Besorgnis um die wirkmächtige Musikpublizistik des Frankfurter Soziologen durchzog in regelmäßigen Abständen ihren Briefwechsel.29 So echauffierte sich Schnoor am 27. April 1954: „Lieber verehrter Herr Dr. Furtwängler, ich könnte Ihnen noch manches erzählen – Wiesengrund-Adorno erobert systematisch die akademische Jugend, unter Duldung der Magnifizenzen!!! Usw… –, es ist ganz grauenhaft besorgniserregend, aber heute möchte ich Sie nicht mehr Ihrer Zeit berauben.“ Furtwängler bestätigte diese Diagnose und antwortete am 7. Juni 1954, verbunden mit der Bitte, Schnoors jüngste Vorträge lesen zu dürfen: „Was Sie über Wiesengrund-Adorno schreiben, klingt allerdings sehr besorgniserregend, besonders deshalb, weil dieser Mann tatsächlich nicht von der Hand zu weisende intellektuelle Qualitäten besitzt.“30 Keine vierzehn Tage später hakte Furtwängler in dieser Sache nach: „Wenn Sie mir gelegentlich über Adorno etwas mitteilen, so würde mich das sehr interessieren. Es ist der Mann, der denkt und – Schönberg hat damit angefangen – glaubt, dass die Musik nicht gehört werden müsse. Damit ist jedenfalls die Musik als Gemeinschaftserlebnis nicht mehr da.“31 Den Schlusspunkt in dieser Angelegenheit setzte Schnoor am 19. November 1954, vierzehn Tage vor Furtwänglers Tod am 30. November, als er noch einmal seinen Hass auf exilierte Musiker formulierte, wie sie Furtwängler in seiner Korrespondenz mit Curtius sehr ähnlich benannt hatte: „Ich leide unter dem Gedanken, daß Leute wie Adorno, dem sich neuerdings noch erheblich frechere und dummere Genossen gesellen, die öffentliche Meinung mehr und mehr beherrschen. Ich beobachte das täglich und sozusagen berufspflichtig; ich weiss genau abzuschätzen, wie systematisch diese Welle vorwärts drängt, hauptsächlich von den zurückströmenden Emigranten. Die besseren Auswanderer bleiben ja drüben. Die Pestträger kommen zurück und finden bis in die höchsten akademischen Kreise hinein – Magnifizenzen etc., Gehör.“32

Bis zu einer Anstellung im Juni 1954 als Musikkritiker bei der Mainzer Allgemeinen Zeitung, dem Wiesbadener und dem Darmstädter Tageblatt sowie dem 27 Dies machte ihm Fred K. Prieberg in einem Beitrag, der am 17. Juli 1956 im Südwestfunk gesendet wurde, öffentlich zum Vorwurf und gewann den von Schnoor daraufhin angestrengten Gerichtsprozess zwei Jahre später. Siehe hierzu Michael Custodis und Friedrich Geiger, Netzwerke der Entnazifizierung. Kontinuitäten im deutschen Musikleben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel, Münster 2013, S. 173–178. 28 Brief von Hans Schnoor an Wilhelm Furtwängler vom 28. Februar 1950, in: Nachlass Furtwängler, Mappe Schnoor an WF. 29 Siehe Schnoors Brief vom 3. November 1953, nach dem großen Erfolg seines Weber-Buches in „Erwiderung des Pamphlets des Wiesengrund-Adorno“ ein Wagner-Buch zu schreiben, ebd. 30 Brief von Wilhelm Furtwängler an Hans Schnoor vom 7. Juni 1954, ebd. 31 Brief von Wilhelm Furtwängler an Hans Schnoor vom 19. Juni 1954, ebd. 32 Brief von Hans Schnoor an Wilhelm Furtwängler vom 19. November 1954, ebd.

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Hamburger Fremdenblatt war Schnoors berufliche Situation prekär gewesen. Über Wasser gehalten hatte er sich bis dahin mit populären Büchern u.a. über Carl Maria von Weber,33 was ihm dank der Vermittlung von Karl Vötterle beim BärenreiterVerlag neben Hans Joachim Moser die Teilherausgeberschaft einer geplanten Weber-Gesamtausgabe einbringen sollte, ohne dass sich diese Unternehmung aber materialisiert hätte.34 So gut er konnte war ihm Furtwängler behilflich, etwa durch die Zusage, zu einem seiner Bücher einen Beitrag beizusteuern.35 Den größten Gefallen tat Schnoor aber dem von ihm hoch verehrten Musiker, als er Furtwängler in seiner 1953 beim Bertelsmann-Verlag erschienenen Geschichte der Musik ein Denkmal zu setzen beabsichtigte. Am 13. August 1953 hatte Schnoor das Buch bei Furtwängler angekündigt und seine Taktik geoffenbart, sich diesmal weniger politisch angreifbar zu machen, indem „ich sogar dem Schönberg unter der Devise „Die gespante Ganzheit“ gerecht zu werden versuche, so wird man mir vielleicht doch nicht am Zeuge flicken können. Für die Zeitschrift des „Leserings Bertelsmann“ ist ein Bild vorgesehen, das Sie im Gespräch mit mir zeigt. Es ist eines Ihrer besten Portraits, was ich leider umgekehrt von mir nicht behaupten kann. Dennoch freue ich mich der grossen Ehre, mit Ihnen zusammen in einem Lichtbild zu erscheinen, das den besonderen Reiz einer zwanglosen Zufälligkeit hat.“36

Der besondere Gefallen Schnoors bestand darin, Furtwängler nicht nur als dirigentisches Jahrhundertgenie, sondern als führenden Komponisten der Gegenwart herauszustellen. So heißt es im Abschnitt Sinfonische Verantwortung und Mut zur neuen Oper innerhalb des Kapitels Hüter des sinfonischen Erbes: „Furtwänglers Ruf in die Gegenwart erreicht den heutigen Menschen mit vielfacher Vehemenz, nachdem er sich als Komponist von Kammer- und großer Konzertmusik in die vorderste Reihe der Schaffenden gestellt hat. Sein Hauptwerk ist bisher die Zweite Sinfonie in e-moll: der beschwörende und innige Appell eines Künstlers an den Menschen von heute, gegenüber allem Gesinnungszwang standhaft zu bleiben und der Wirklichkeit einer Musik von morgen voll Optimismus entgegenzuleben. Furtwänglers Sinfonik, technisch souverän gemeistert, ist ein leidenschaftlicher Ausdruck dieses Optimismus. Ihre subjektiven Spannungen und Ausbrüche entspringen keinem Pessimismus, keinem tragischen Ringen mit der Welt, sondern dem musikantischen Ingenium des wahrheitsbesessenen Menschen. Der romantische Aktivismus

33 Brief von Hans Schnoor an Wilhelm Furtwängler vom 25. Juni 1954, ebd. 34 Briefe Hans Schnoors an Wilhelm Furtwängler vom 6. Dezember 1953 und 8. Januar 1954, ebd. Wie zahlreiche andere Publikationsvorhaben dieser Jahre scheint eine solche Weber-Gesamtausgabe nicht über das Planungsstadium hinausgekommen zu sein. Wie die zu den Schlagworten „Dresden“, „Richard Engländer“ und „Carl Maria von Weber“ Artikel in der MGGErstausgabe zeigen, wurde Schnoor als Wissenschaftler und Weber-Experte respektiert, so dass auch die 1954 erschienene Ausgabe des New Grove einen ausschließlich auf dieses Thema fokussierten Personeneintrag zu Schnoor enthält, der eine Tätigkeit als Custode der Dresdner Weber-Archive nennt. 35 Brief von Wilhelm Furtwängler an Hans Schnoor vom 10. November 1951, ebd. Siehe auch Furtwänglers Brief vom 22. April 1954 mit der Zustimmung, einen Brahms-Vortrag von Schnoor zitieren zu lassen: „Selbstverständlich bin ich einverstanden, wenn Sie etwas davon in Ihrem Buch bringen.“ 36 Brief von Hans Schnoor an Wilhelm Furtwängler vom 13. August 1953, ebd.

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Furtwänglers gewinnt freilich die Bedeutung eines Manifests, wenn man bedenkt, von wieviel Seiten das Erbe der abendländischen Musik bedroht ist.“37

Der Geehrte zeigte sich mit dieser Darstellung hoch zufrieden, beglückwünschte den Autor zum großen Erfolg des Buches und war sich mit ihm einig in der vehementen Ablehnung der neuen Musik: „Auch ich glaube, dass die 12-Tönerei eigentlich schon erledigt ist. Sie ist vor allem in sich selbst so unfruchtbar, dass auf die Dauer eigentlich nur Misserfolge herauskommen müssen. All das ändert aber nichts daran, dass die Gesamtsituation nach wie vor äusserst kritisch ist und dass es sich darum handelt, die tieferen Gründe der Dauer der musikalischen Krise zu erkennen. Freilich wird sie durch diese Erkenntnis als solche auch nicht beendet; aber der erste Schritt zu jeder Heilung ist eben doch die richtige Diagnose.“38

6. Auch wenn Furtwängler sich von Schnoors Stilisierung zum Retter der bedrohten abendländischen Musik geschmeichelt fühlte, war diese Behauptung bereits zum Zeitpunkt ihrer Formulierung überholt und sollte auch von der Zukunft nicht mehr eingeholt werden. Zur Einleitung der zitierten Passage über Furtwänglers guten Ruf als Komponisten hatte Schnoor auf dessen Textband Gespräche über Musik und den dort formulierten „psycho-biologischen Standpunkt“ hingewiesen, „der zugleich die kosmischen Gegebenheiten und die Naturgesetzlichkeit seelischer Vorgänge im Menschen als ewiggültigen Maßstab zur Geltung bringt.“39 Schnoor war allerdings nicht der erste gewesen, der auf Furtwänglers Bändchen und die dort geäußerten Gedanken reagierte, womit sich ein Kreis schließt zu einem exponierten Vorkämpfer der inkriminierten Musikmoderne. So hatte Heinrich Strobel in seiner Zeitschrift Melos 1949 Furtwänglers zentrale Thesen herausgegriffen und mit Gegenthesen und Richtigstellungen kritisch kommentiert. Zum besseren Verständnis dieser Vorgehensweise hier zunächst der Kern von Furtwänglers siebter These: „Wir können uns der Einsicht nicht verschließen, daß die Musik, die auf eine die Spannungen und Entspannungen gliedernde Kadenz verzichtet und so an der Ortsbestimmtheit, die mit der Tonalität gegeben ist, nicht teilhat – sie mag sonst Eigenschaften haben, welche sie wolle –, als biologisch minderwertig angesprochen werden muß.“40 Strobel, der mit Furtwängler seit den frühen 1930er Jahren in Kontakt gestanden hatte und selbst mit komplizierten politischen Kompromissen seine jüdische Ehefrau vor der Deportation hatte bewahren können, ließ in seiner Erwiderung keinen Zweifel an der Nähe dieser Wortwahl zur NS-Terminologie:

37 Hans Schnoor, Geschichte der Musik, Gütersloh 1953, S. 713f. 38 Brief von Wilhelm Furtwängler an Hans Schnoor vom 22. April 1954, Nachlass Furtwängler, Mappe Schnoor an WF. 39 Schnoor, Geschichte der Musik, S. 713. 40 Zitiert nach Wilhelm Furtwängler und Heinrich Strobel, Gegen und für die neue Musik, in: Melos 16, 1949, Heft 1, S. 43f.

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Michael Custodis „Wir können nicht leugnen, in unserer nicht mehr kleinen Hörpraxis viele erweitert ‚tonaleʻ Werke gehört zu haben, bei denen uns ein Gefühl der Verlorenheit befiel, aber nicht ein Gefühl der Verlorenheit an die Macht eines elementaren Seins, sondern an die Sterilität von tausendmal abgegriffenen Kadenzschritten und Melodiefloskeln, ein Gefühl der Verlorenheit an einen Klangbrei, aus dem aber auch nicht ein einziges Licht rhythmischer ‚Vitalitätʻ aufblitzte – und wenn wir Hindemith oder Schönberg, Bartók oder Strawinsky, Honegger oder Alban Berg hörten, dann wurden wir unmittelbar in unserem ‚Lebensgefühlʻ angesprochen, intellektuell und vital, geistig und sensitiv – möge die Musik dieser Komponisten nun ‚biologischʻ ebenso ‚minderwertigʻ sein, wie sie es bisher ‚rassischʻ war.“41

Wie es scheint, musste Wilhelm Furtwängler eine Vielzahl offensichtlicher Widersprüche in seinen Dichotomien ignorieren und viel Energie aufbringen, um seine romantische Fiktion von Kunst als politischem Vakuum aufrecht erhalten zu können. Vielleicht ist die Antwort auf Furtwänglers Handeln und Zögern im Prozess der eigenen Selbsterkenntnis so bedauerlich banal und wenig schmeichelhaft wie von Thomas Mann formuliert, und auch Carl Dahlhaus kam zu dem Schluss: „Wilhelm Furtwängler hat den Vorwurf, der nach 1945 gegen ihn erhoben wurde: die Anklage, daß er gerade dadurch, daß er strikt unpolitisch war, zu einem politischen Verhängnis geworden sei, niemals verstanden.“42

41 Furtwängler und Strobel, Gegen und für die neue Musik, S. 43f. Siehe hierzu auch Carl Dahlhaus, Rezension von Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, hg. von Elisabeth Furtwängler und G. Birkner, Wiesbaden 1980, in: Dahlhaus, Gesammelte Schriften 9, S. 432: „Gerade als Traditionalist und Konservativer aber war Furtwängler strikter Anti-Historiker, weil er begriffen hatte, daß hinter der These, der Neuen Musik müsse die Gegenwart gehören, dasselbe historische Denken steht wie hinter der Forderung, ältere Musik aus ihrer eigenen Zeit heraus und mit deren Mitteln zu interpretieren. Was er dem Historismus – als einer Theorie, die einerseits die Avantgarde und andererseits der historischen Stiltreue diente – entgegensetzte, war die Idee einer musikalischen ‚Natürlichkeit‘, die unabhängig von Zeitstilen immer dieselbe bleibt und über den geschichtlichen Abstand hinweg ein unmittelbares Verständnis von Musik – einer durch ‚Natürlichkeit‘ klassischen Musik – möglich macht.“ 42 Ebd., S. 431.

Friedrich Herzfelds Monografie von GREGOR HERZFELD

Der erste ausführliche Biograf Wilhelm Furtwänglers war Friedrich Herzfeld (1897–1967),1 ein Musikpublizist, der uns heute vor allem durch seine nach dem Krieg erschienenen Bücher Musica Nova. Die Tonwelt unseres Jahrhunderts (1954), das Ullstein Musiklexikon (zuerst 1965 und dann in zahlreichen Auflagen), Sammlungen von Anekdoten „großer Meister“ (etwa Harfenton und Paukenschlag, 1960) sowie seine musikpädagogischen Schriften (z. B. Kleine Musikgeschichte für die Jugend, 1959) bekannt ist. Das Buch Wilhelm Furtwängler. Weg und Wesen hingegen, das Herzfeld nicht zuletzt durch seinen huldvollen Tonfall als einen glühenden Verehrer des Dirigenten offenbart, erschien 1941 in Leipzig (2. Auflage 1942, 3. Auflage München 1950) und ist daher überaus prekär. Es erfüllt mehrere Funktionen zugleich: Erstens diente es dem nationalsozialistischen System, in dem es entstand, denn die Darstellung von Furtwänglers Lebensweg und „Wesen“ ist umrankt, wenn nicht gar motiviert von der propagandistischen These, Furtwängler sei der „deutscheste Dirigent“.2 Damit diente es zweitens dem Portraitierten, denn Furtwängler war durchaus nicht jederzeit der Kronprinz unter Deutschlands Musikern im Dritten Reich gewesen und konnte publizistische Unterstützung in der Auseinandersetzung mit der NS-Spitze, aber auch mit den konkurrierenden Dirigenten, allen voran Herbert von Karajan, gebrauchen. Und drittens konnte es der existenziellen Bedrohung des Verfassers selbst entgegenwirken, denn über Herzfelds Karriere im Dritten Reich hing ein Damoklesschwert, begründet durch einen „Makel“, der kaum wettzumachen war; er war – in der rassistischen Terminologie der Nazis – ein „Vierteljude“.

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Vorläufer dieser ersten Monografie in Buchlänge waren die Studien von Richard Specht, Wilhelm Furtwängler: Eine Studie über den Dirigenten, Leipzig 1922 mit einer Länge von 53 Seiten, und das 33-seitige Kapitel Wilhelm Furtwängler aus dem Buch Berlin und die Musik von Oswald Schrenk, Berlin 1940, das der Autor auch separat herausbrachte. Friedrich Herzfeld, Wilhelm Furtwängler. Weg und Wesen, Leipzig 1941, S. 93.

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1. Der Weg zum deutschesten Dirigenten Die Frage, ob es Herzfeld zumindest theoretisch offengestanden hätte, eine unverfängliche, mehr oder weniger neutrale Biografie Furtwänglers zu verfassen, ist schwer zu beurteilen; zumal eine solche Einschätzung, sofort moralische Fragen aufwirft. Ein Schriftsteller war vielleicht – wenn seine grundsätzliche Linientreue nicht angezweifelt wurde und kein dringender Karrierewunsch bestand – nicht gezwungen, die propagandistische Werbetrommel des NS-Staates zu rühren. Praktisch schien Herzfeld aus Gründen, die später näher noch untersucht werden, für sich diese Möglichkeit nicht zu sehen, so dass im vorliegenden Fall keine Chance ungenutzt blieb, Person und Wirken Furtwänglers den kulturellen, politischen und rassistischen NS-Ideologien anzunähern. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen. Der von Richard Walther Darré verbreiteten,3 aber letztlich aus Rassismus und Nationalismus des 19. Jahrhunderts stammenden Idee des Blut und Boden erweist Herzfeld gleich zu Beginn seiner Darstellung, in dem Kapitel „Das Blut“, Reverenz: „Reineres Bauernblut als das der Furtwänglers läßt sich nicht denken“4, denn sie „waren im Vaterstamm wie in den Mutterstämmen urechtes und allerreinstes Alemannentum“5, während die preußische Mutter, eine geborene Wendt, „Träger der alten gefestigten Kultur bester deutscher Geistesbildung“6 war. So verbanden sich „die beiden Blutströme […], damit das Wunder unseres Meisterdirigenten Wirklichkeit werden konnte“.7 Die implizit „arische“, einerseits „bäuerlich-völkische“ und andererseits bildungsbürgerliche Abstammung Furtwänglers wird hier zum wichtigen Bestandteil erhoben und zur notwendigen Bedingung seines Deutschtums gemacht. Davon ausgehend kann Herzfeld direkte Linien zu Furtwänglers „Volkstümlichkeit“8 wie auch „Naturverbundenheit“9 ziehen. Furtwänglers „Weg in die Welt“10 interpretiert Herzfeld durchaus als der Politik analogen Eroberungsfeldzug, was sich im verwendeten Vokabular widerspiegelt. So werden etwa Erfolge in Furtwänglers Laufbahn immer wieder als „Siege“11 bezeichnet. Freund und Feind werden in dieser Operation klar definiert. Feindlich gesinnt seien Vertreter politischer Tendenzen, die sich im Zuge der Beendigung des 3 4 5 6 7 8

Richard Walther Darré, Neuadel aus Blut und Boden, München 1930. Herzfeld, Furtwängler, S. 10. Ebd., S. 16. Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Die Nähe zum (vornehmlich deutschen) Volk unterstreicht Herzfeld anhand der vor dem Ersten Weltkrieg von Furtwängler geleiteten Lübecker volkstümlichen Konzerte (ebd. S. 43f.) oder anhand des engen Kontakts zu seinem Publikum, seiner „Gemeinde“, der ihn zum „volkstümlichsten Künstler großer Art unserer Zeit“ (S. 71) mache. 9 „[…] und jener klingende Zauber, den wir etwa bei seinen Schumann- oder Schubertdeutungen so beglückend empfinden, wurzelt ohne Frage in diesem [ländlichen] Leben“, ebd., S. 21. Herzfeld verweist weiter auf die Interpretation von Beethovens Pastoraler und des „reinigenden“ Hornthemas im Finale von Brahms’ erster Sinfonie. 10 So der Titel des sechsten Kapitels. 11 Vgl. Herzfeld, Furtwängler, S. 59.

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Ersten Weltkriegs formierten und republikanisch, international oder sozialistisch, jedenfalls nach Herzfeld „undeutsch“ agierten. In diesem Klima habe Furtwängler seine Treue zum „deutschen Geist“ bewiesen. Anlässlich einer Aufführung der neueinstudierten Meistersinger in Mannheim am 29.9.1918 – also knapp fünf Wochen vor Kriegsende – heißt es: „Dieses deutscheste Werk stand in krassem Gegensatz zu dem undeutschen Treiben jener Tage […]. Gegen den Strom in den Sumpf erwachten bald Gegenkräfte, und sie bekundeten sich wohl in nichts so überwältigend wie in dem Zug zur großen deutschen Musik, den in jener Zeit das nach Reinheit des eigenen Wesens dürstende Volk antrat und von dem der gerade jetzt beginnende Aufstieg Wilhelm Furtwänglers getragen wurde…Keine der laut angepriesenen und mit zäher Hartnäckigkeit verteidigten Irrlehren der nächsten Jahre haben Wilhelm Furtwängler erschüttern können“.12

Furtwänglers Durchsetzung in der Bewerbung um den Posten des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker 1922 gegen Felix von Weingartner, der aus der vorhergehenden Generation stammte und als Österreicher im heutigen Kroatien geboren wurde, versteht Herzfeld als „Überwindung“ des Älteren durch den „Lebendigeren und Deutscheren“, als „ein Sieg über eine Persönlichkeit und über eine Zeit“13, den der Künstler also – spinnt man den Gedanken weiter – ein gutes Jahrzehnt vor den politischen Machthabern errungen hat. In Furtwänglers internationalem Engagement sieht er im Anschluss daran eine Mission, die danach trachte, den „deutschen Geist“ in die Welt, die allem „Deutschen“ grundsätzlich feindselig gegenüber stehe, zu bringen: „Man muss sich erinnern, wie grenzenlos verhetzt gegen Deutschland und deutsches Wesen nicht nur die Feindländer [wohl die Alliierten], sondern auch die Neutralen nach dem Weltkriege waren. Wo aber Wilhelm Furtwängler mit seinem Orchester erschien, glätteten sich alle Stürme, und wenn am Beginn des Konzerts kühle Zurückhaltung geherrscht hatte, so zeugte der Beifall am Schluß doch stets für die völlige Bezwingung durch das Wunder der deutschen Musik und dieses deutschen Musikers. Deutschland gab sein Allerbestes, wenn es Wilhelm Furtwängler und die Berliner Philharmoniker in fremde Länder sandte. Niemand hat so wie sie für die Annerkennung wahrer deutscher Art gewirkt“.14

Wo der Erfolg nicht derart überwältigend war, d. h. wo auch kritische Stimmen gehört wurden, wird dies als Anzeichen einer „Verschwörung“ gegen den Dirigenten und somit auch gegen Deutschland gewertet; beispielsweise in den USA, wo Furtwängler die Konkurrenz Willem Mengelbergs und Arturo Toscaninis zu spüren bekam. In diesen Fällen zieht Herzfeld die Idee einer „jüdischen Weltpresse“, die Toscanini bevorzugte und durch Reklame unterstützte,15 zur Erklärung verhaltener Reaktionen heran.

12 13 14 15

Ebd., S. 58. Ebd., S. 64. Ebd., S. 72. Ebd., S. 78.

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Hieran knüpft sich der für den Urheber mit jüdischem Familienhintergrund besonders heikle Zug der Darstellung: ihr ausgesprochener Antisemitismus. Denn nicht nur die so genannte „Weltpresse“, sondern auch kritische Journalisten in Deutschland seien Teil eines verschworenen, den „Deutschen Geist“ verhetzenden Judentums. Die „Treue zur Heimat“, die Furtwängler dadurch bewiesen hätte, dass er sich nicht in die USA verpflichten ließ, sei ihm durch ihre „üble Hetze“ gedankt worden: „Paul Zschorlich[16] meinte in der ‚Deutschen Zeitung‘, daß Bruno Walter oder Otto Klemperer von diesen jüdischen Blättern sicher nicht so bloßgestellt worden wären. Bei diesen unerfreulichen Auseinandersetzungen enthüllte sich die niedrigste Seite in dem umfangreichen Kapitel ‚Wilhelm Furtwängler und das Judentum‘. Hinter einer anscheinend großzügigen Förderung stand in Wahrheit tiefer Haß und das eiserne Bemühen, die eigenen Rassegenossen an seinen Platz zu schieben“.17

Herzfeld bezeichnet diese „Angriffe von Adolf Weißmann und der ihm gleichgesinnten Berliner jüdischen Journalisten“ auch als „Dolchstoß in den Rücken“18, womit er die Terminologie der geschichtsfälschenden und für völkische und antisemitische Zwecke weidlich ausgenutzten Verschwörungstheorie aufgreift, der so genannten Dolchstoßlegende, welche u. a. die Oberste Heeresleitung nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg ersonnen hatte. Den Kulminationspunkt des Furtwänglerschen Weges zum „deutschesten Dirigenten“ bildet freilich das Kapitel „Das neue Deutschland“. Hier wird die durchaus von Umwegen gekennzeichnete Integration des Musikers in das Dritte Reich als heroische Gegenwart, als Telos eines unaufhaltsamen und notwendigen Prozesses beschrieben, denn „daß das zu den eigenen Quellen zurückgekehrte neue Deutschland seinen deutschesten Dirigenten besonders an sich fesselte, lag auf der Hand“.19 Ämter und Ehrungen, die er erhielt, würden bekunden, „daß die Kunst nicht mehr Liebhaberei weniger, sondern ein Glied des staatlichen Lebens sein sollte“.20 Diese „neue“ Verbindung von Kunst und Staat macht Herzfeld an keiner Stelle so deutlich, wie in der knappen Schilderung des „Falls Hindemith“ und seiner „Überwindung“.21 Die Kontroverse um den Komponisten von 1934, seine Denunziation als „entarteter Musiker“ (von der hier übrigens gar nicht die Rede ist) und Furtwänglers Einsatz für ihn, subsumiert Herzfeld in die Reihe von „geistigen Auseinandersetzungen“, die jene „Jahre des Umschwungs“ mit sich brächten, um „wie der Betreuer des kulturellen Lebens, Reichsminister Dr. Goebbels, gesagt hat […] ein neues Verhältnis zu den Fragen der Kunst zu gewinnen“. Furtwänglers angeblich „rein musikalische Stellungnahme“ sei ihm allerdings von niemandem verargt worden, denn 16 Zschorlich war laut Joan Evans (Die Rezeption der Musik Igor Strawinskys in Hitlerdeutschland, in: Archiv für Musikwissenschaft 55, 1998, S. 93) schon vor der Machtergreifung „ein unerbittlicher Verfechter im Kampf um die ‚Reinheit‘ deutscher Musik“. 17 Herzfeld, Furtwängler, S. 80. 18 Ebd., S. 82. 19 Ebd., S. 93. 20 Ebd., S. 94. 21 Dies wird auf den Seiten 95f. behandelt.

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es kämen „hier noch höhere Gesichtpunkte in Frage, denen sich alle beugen mussten“. Eine Pause und der vorübergehende Verzicht auf seine Ämter hätten ihm geholfen, sein „Gleichgewicht“ wiederzufinden, das sich dann eindrücklich bei einem Beethoven-Konzert im April 1935 quasi geläutert präsentierte: „In der ersten Reihe saß fast die ganze Reichsregierung: der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler, neben ihm Ministerpräsident Hermann Göring, Reichsminister Dr. Goebbels und viele andere“.22

Und dabei sei es zum endgültigen Schulterschluss zwischen Kunst und Reich gekommen: „Während die Menge am Schluß auf die Stühle sprang und mit Taschentüchern winkte, […] trat der Führer auf Wilhelm Furtwängler zu und reichte ihm die Hand. Mag dieser Handschlag zunächst Dank für das unvergleichliche Erlebnis dieses Abends gewesen sein, so lag darin doch auch das Gleichnis für die nun unzerreißliche Bindung zwischen dem neuen Deutschland und seinem ersten Dirigenten“.23

2. Wesen – Der deutsche Mystiker Doch was macht Herzfeld zufolge Furtwängler zum deutschesten Dirigenten außer Blut und Boden? Worin liegt sein „deutsches Wesen“ begründet? Darüber gibt der gleich umfangreiche zweite Teil Auskunft, der sich mit dem Dirigieren, dem kulturellen Umfeld und sogar mit Kompositionen Furtwänglers befasst. Das Wesen Furtwänglers wird darin als ein Konglomerat von Attributen beschrieben, deren „Deutschtum“ in ideologischen Äußerungen des Dritten Reichs immer wieder postuliert wurde. Im Wesentlichen handelt es sich um die Vereinnahmung und Verbindung zweier Gedankenstränge: einer (wenn auch stark vereinfachten) romantischen Musikästhetik und der Idee einer explizit „deutschen“ Mystik. Jene wort- und metaphernreiche Schwärmerei über Musik, die einen Großteil der Musikpublizistik des 19. Jahrhunderts prägt, wird dabei ganz in den Dienst der deutschnationalen Propaganda gestellt. So unterstreicht Herzfeld immer wieder, dass Furtwänglers Kunst bis dato unerreichte Tiefe, Geistigkeit, Gedankenreichtum und Innigkeit24 verkörpere. Diese, man möchte fast sagen, philosophischen Eigenschaften führten letztlich dazu, einem romantischen, transzendenten Reich des Unendlichen zuzustreben, in welchem sich ein lang ersehnter ästhetisch-philosophischer Traum 22 Ebd., S. 96. Herzfeld versäumt es nicht, dies gegen den „internationalen“, antifaschistischen Liebling der „jüdischen Weltpresse“, Toscanini, auszuspielen: „Wilhelm Furtwängler hatte jene Demut vor der Größe geschichtlicher Wandlungen aufgebracht, die dem Italiener Arturo Toscanini versagt blieb“. 23 Ebd. 24 Zu den Begriffen „Tiefe“ und „Innigkeit“ als bevorzugte Kriterien der deutschen Musikkritik für deutsche Musik von Herder bis Joachim Kaiser siehe: Friedrich Geiger, „Innigkeit“ und „Tiefe“ als komplementäre Kriterien der Bewertung von Musik, in: Archiv für Musikwissenschaft 60, 2003, S. 265–278.

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erfüllte; laut Herzfeld ein spezifisch deutscher Traum, nämlich den einer pseudogotischen, „deutschen Mystik“.25 Hierzu zählt er NS-propagandistische Topoi, wie den „Bamberger Reiter“ als Sinnbild des arischen Menschen und deutscher Kunst zugleich, den schon von G.W.F. Hegel als ersten deutschen Philosophen bezeichneten Jakob Böhme und den seit J.N. Forkels Biografie von 1802 immer wieder deutschnationalisierten J.S. Bach: „Dies Reich des Unendlichen ist das gleiche, das die deutsche Mystik seit je ersehnt hat. Das Unsagbare hinter dem Gesagten lebt auch über den ewigen Gestalten des Bamberger Reiters, es spricht aus Dürers ‚Ritter, Tod und Teufel‘ und wölbt sich als Dom über Bachs Passionen. Es ist zugleich jenes Reich, nach dem der Görlitzer Schumacher Jakob Böhme stets greifen wollte. Von ihm führt eine gerade Linie zu Wilhelm Furtwängler. Dem westlichen Geistmenschen [bezogen auf Dirigenten meint Herzfeld hier etwa Hans von Bülow] und dem östlichen Sinnenmenschen [für den Arthur Nikisch hier als Dirigent steht] gegenüber ist er der deutsche Mystiker. Dieses Reich…ist das des ewigen Deutschtums. An seinem Herzen befindet sich der Platz Wilhelm Furtwänglers“.26

Furtwänglers mystische Tiefe konnte leicht als ultima ratio in zahlreichen Fragen, die der Biograf zu beantworten hatte, fungieren, etwa wenn der Dirigent den „Verlockungen“ amerikanischer Angebote widerstand und die Virtuosität und technische Brillanz der dortigen Orchester nicht gegen die „geistige Gestaltungskraft seiner Berliner Philharmoniker“ eintauschte, oder wenn er – nach dem Bruch des Hitler-Stalin-Pakts ein Fauxpas – Werke von Tschaikowsky zwar aufführt, aus diesen „Effektstücken“ aber ein tiefes, geistiges Drama macht, das auch „uns betreffen und erschüttern kann“.27 Ein zweiter Komplex des Herzfeld-Furtwänglerschen Wesens zeigt sich am Verhältnis zur „modernen Musik“. Die Musik der Nachkriegsjahre ist für Herzfeld eine „fragwürdige Kunst“ und „als etwas Fremdes so bald wieder abzustoßen“.28 Die Musik sei durch die Wirren der letzten Jahrzehnte in eine Krise geraten, ein Chaos sei entstanden und habe meist „nicht voll lebensfähige Werke“ hervorgebracht.29 „Bedeutende Tonwerke“ nach 1920, „die eine immer tätige Schaffenskraft unseres Volkes beweisen“,30 würden dagegen von bekennenden Nationalsozialisten oder aktiven Mitläufern wie Paul Graener, Max Trapp, Karl Höller oder Kurt Hessenberg stammen. Für Herzfeld ist Furtwänglers Position klar, trotz Hindemith-Affäre: „Er hat sich dem atonalen Geschrei stets verschlossen. Sein Grundsatz hieß:

25 Vgl. auch Heinrich Besselers Verortung des grüblerischen, zum Religiösen neigenden Ernsts der „deutschen“ Musik des 15./16. Jahrhunderts in der spätmittelalterlichen Mystik, in seiner zwischen 1931 und 1934 erschienenen Musik des Mittelalters und der Renaissance, Leipzig 1931–1934, S. 261. 26 Herzfeld, Furtwängler, S. 172. 27 Ebd., S. 135. 28 Ebd., S. 119. 29 Ebd., S. 143f. Die Ausdrucksweise erinnert an die biologistische Terminologie vieler NaziLehren. Vergleiche auch Furtwänglers Rede davon, dass atonale Musik biologisch minderwertig sei, in: ders., Gespräche über Musik, 1948, S. 131. 30 Herzfeld, Furtwängler, S. 120.

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Atonalität ist Schwindel“.31 Denn anstatt sich für die zeitgenössische Musik einzusetzen, sei er dem wahren Auftrag eines jeden Dirigenten nachgekommen, nämlich „den großen Besitz der Vergangenheit zu bewahren und lebendig zu erhalten.“ Die Rolle des Dirigenten habe sich nach dem Ersten Weltkrieg gewandelt. Während er davor als „Kämpfer“ für die Durchsetzung der Meister aufgetreten sei, müsse er nun – da die Meister anerkannt seien – ein Priester sein und „keiner ist in so reinem und hohem Maße Priester wie Wilhelm Furtwängler“,32 der aus dem Musizieren Beten mache, aus Bruckners Sinfonien Feiern. In diesem rückwärtsgewandten, priesterlichen, offenbarungsartigen Musizierstil scheint sich der Kreis zum pseudogotischen Mystiker Furtwängler zu schließen. Der latent archaische Magismus, der in diesen Bestimmungen steckt, wird deutlich, wenn Herzfeld Furtwänglers Dirigiertechnik schließlich mit einem religiösen Tanz vergleicht, der „als Grundkraft am Beginn jeder Kultur“ stünde und „sich in Wilhelm Furtwängler so reinwirkend erhalten habe“, dass „das magische Wunder seiner Kunst“ ermöglicht wurde.33

3. Zur Situation Furtwänglers Ein weiteres Anliegen Herzfelds war es, mit seinem Text seinem großen Idol behilflich zu sein. Dies erwähnt er sogar in seinem Nachwort der stark überarbeiteten Ausgabe von 1950, wenn er quasi zu seiner Entschuldigung einräumt „die beständige Sorge, Wilhelm Furtwängler nicht noch mehr zu gefährden, verursachte eine bedauerliche Trübung der Darstellung“.34 Furtwänglers Verhältnis zum NS-Staat war komplex und bisweilen paradox. Auf der einen Seite war er ein wichtiger Bestandteil, ein musikalisch-kulturelles Aushängeschild des Regimes, und als solches natürlich immer in seinen Diensten, wenn er auftrat. Auf der anderen Seite wurde er von verschiedenen Seiten kritisch beäugt, stellte sich zwischen Fronten und nutzte seine Position für sich bzw. seine Mission der Beförderung „großer, deutscher Musik“ aus. Als relativ unbequemer Stardirigent war er daher auch latent gefährdet, indem Politiker sowie Konkurrenten an seinem Stuhl rüttelten. Zunächst geriet er in die Mühle der Kontrahenten Joseph Goebbels und Hermann Göring. Der Ministerpräsident von Preußen und spätere Chef der Luftwaffe hatte Furtwängler von der Machtübernahme an unter seine Fittiche genommen, machte ihn zum Preußischen Staatsrat und (nach Max von Schillings Tod) zum musikalischen Leiter der Staatsoper Unter den Linden. „Göring was literally cementing

31 Ebd., S. 145. 32 Ebd., S. 121. 33 Der bei aller Geistigkeit und Betonung des Denkerischen doch überwiegend antirationalistische, mystisch-magische Ansatz findet sich auch bei nationalsozialistisch gesinnten Musikwissenschaftlern, etwa in Heinrich Besselers Ockeghem-Interpretation, in: Musik des Mittelalters und der Renaissance, S. 237ff. Er diente wohl dazu, vom Vorwurf des Intellektualismus (man denke an Ockeghems Prolationsmesse) zu befreien und einen volksnahen, kultischen Aspekt der Musik hervorzuheben. 34 Herzfeld, Furtwängler, München 31950, S. 233.

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Furtwängler’s feet in the bedrock of his personal empire“.35 Dies provozierte eine überaus ambivalente Haltung Goebbels’ dem Dirigenten gegenüber, da dieser in Göring seinen stärksten Konkurrenten um die Gunst Hitlers sah. Einerseits erkannte er das propagandistische Potenzial, das der international geachtete Musiker ihm zur Verfügung stellte, selbst dann, wenn Furtwängler sich für jüdische Musiker einsetzte.36 Andererseits betrachtete er Furtwänglers Erfolge, die zum Teil auch die Erfolge Görings waren, und kulturpolitischen Agitationen, die ihm so viel Kopfzerbrechen einbrachten und Verhandlungsgeschick abverlangten, mit Argwohn. Nichtsdestotrotz bemühte sich Goebbels immer wieder aufs Neue darum, Furtwängler für seine Zwecke einzuspannen (mit unregelmäßigem Erfolg). Einen echten Feind in der Führungsriege der Nazis hatte Furtwängler dagegen in Polizei- und Schutzstaffelchef Heinrich Himmler, mit dem er wegen einer Verhaftung aneinander geraten war. Himmler ließ eine Akte anlegen und sammelte Material gegen ihn; seine Bittstellungen bei Hitler, Furtwängler unschädlich zu machen, waren allerdings aufgrund der Bewunderung durch den Führer stets erfolglos geblieben. Außerdem agierten zeitweise Ideologen und Kulturwächter wie Alfred Rosenberg und Hans Hinkel gegen ihn. Eine weitere „Bedrohung“, derentwegen Furtwängler publizistische Rückendeckung gut gebrauchen konnte, wurde ausgelöst durch seinen einstmaligen Fürsprecher Göring. Generalintendant Heinz Tietjen, einer der großen Neider Furtwänglers, holte den jungen Herbert von Karajan 1938 aus Aachen nach Berlin, wo er mit den Philharmonikern und in der Staatsoper debütierte. Göring, des furtwänglerschen Eigensinns bereits überdrüssig, lancierte eine massive Werbekampagne für „Das Wunder Karajan“,37 nicht zuletzt um Furtwänglers Neid zu erregen und ihn fester an sich zu binden. In diesem Kontext und als gezielte Gegenkampagne ist Herzfelds Rede vom „Wunder Furtwängler“ zu begreifen. Der Aufstieg Karajans, unterstützt von Göring, Tietjen und Rudolf Vedder, Direktor der Abteilung für Konzertangelegenheiten der Reichsmusikkammer und an Furtwängler und den Philharmonikern gescheiterter Musikagent während der Weimarer Republik, hielt bis 1942 an und wurde erst durch Hitlers und Goebbels unvermindertes Festhalten an Furtwängler sowie durch Karajans zweite Ehe mit der „Vierteljüdin“ Anita Gütermann leicht gebremst. Bis dahin konnte sich der Ältere kaum in Sicherheit wiegen, zumal die „Affäre“ um den Film Philharmoniker das Misstrauen der Potentaten gegen ihn weiter schürten. Dieser Propaganda-Film geht offensichtlich auf die Initiative Goebbels’ und eine Drehbuchidee Herzfelds aus dem Jahr 1941 zurück. Neben einer Dreiecks35 Sam Shirakawa, The devil's music master. The controversial life and career of Wilhelm Furtwängler, New York und Oxford 1992, S. 169. 36 So konnte der öffentliche Briefwechsel Goebbels – Furtwängler über die Frage der Qualität und Unverzichtbarkeit jüdischer Musiker in Nazi-Deutschland (März und April 1933) als Zeichen der angeblichen Toleranz genutzt werden, vgl. ebd., S. 151f. Dass Furtwängler der erste Dirigent im deutschen Reich war, notierte Goebbels mehrfach in seinem Tagebuch (14. und 22. Dezember 1940). Dazu insgesamt der Beitrag von Johannes Hellmann in diesem Band, 37 So titelte Edwin von der Nüll in der Berliner Zeitung nach Karajans Wiedergabe des Fidelio (21. Oktober 1938).

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Liebesgeschichte steht darin das Geschick der Berliner Philharmoniker kurz vor 1933 und die angebliche „Rettung“ des Orchesters durch die Nationalsozialisten im Mittelpunkt. Ausführliche Darstellungen des Orchesters bei Proben und Konzerten sowie intensive Portraits seiner prominenten Dirigenten bei der Arbeit nehmen daher breiten Raum ein. Goebbels und Herzfeld scheinen den Streifen – gewissermaßen als filmisches Pendant zur Biografie – um die Person Furtwänglers konzipiert zu haben. Dieser jedoch weigerte sich bis zuletzt standhaft, darin mitzuwirken, was bei Goebbels und Hitler große Verstimmung hervorrief. Das Ergebnis, das unter der Regie Paul Verhoevens, mit Will Quadflieg und Irene von Meyendorff in den Hauptrollen entstand und 1944 auf die Leinwand kam, enttäuschte nicht zuletzt wegen des ganz offensichtlichen Fehlens Furtwänglers, das auch durch die Präsenz Karl Böhms, Hans Knappertsbuschs, Eugen Jochums und Richard Strauss’, letzterer mit seinem Festlichen Präludium (1913) in einer monumentalen NS-Apotheose am Ende des Films, nicht wett gemacht werden konnte. Furtwängler in den Jahren um 1941 als arischen, deutschesten, tiefsinnigsten und klangmagischsten Dirigenten des Dritten Reichs darzustellen, konnte also auch in dessen Sinne sein, wenn auch vielleicht nur aus taktischen Gründen. Herzfelds Buch verfolgte diese Taktik und es ist davon auszugehen, dass der Dirigent dies abgesegnet hat, da er in vergleichbaren, späteren Fällen Protest gegen das Erscheinen von Biografien einlegte, „bevor er das Manuskript nicht gebilligt hat“.38 Solchem Einspruch wurde auch stattgegeben, etwa wenn Heinz Drewes als Leiter der Musikabteilung im Propagandaministerium anordnete: „Es ist Vorsorge zu treffen, dass das Buch nicht erscheint und dem Verlag der Wunsch Furtwänglers mitgeteilt wird“.39

4. Zur Situation Herzfelds 1942, ein knappes Jahr nach Erscheinen der Furtwängler-Biografie, wurde Herzfeld vom Amt Rosenberg als „Vierteljude entlarvt“, was aus einem Brief Wolfgang Sachses an die Reichsschriftumkammer mit der Bitte, das Reichssippenamt möge sich darum kümmern, hervorgeht.40 Von diesem Zeitpunkt an begann Herzfelds 38 So geschehen im Fall der geplanten Biografie von H. Hauptmann, siehe: Bundesarchiv, R 55/20574, Bl. 292, zitiert nach Johannes Hellmanns Beitrag zu diesem Band. 39 Ebd. 40 Erhalten in der Akte Friedrich Herzfeld der Reichsschriftumkammer, heute im Bundesarchiv (RKK 2100, Box 0143, File 08), zitiert auch bei Prieberg, Handbuch deutsche Musiker 19331945, (CD-ROM, Kiel 2004) S. 2903. Offensichtlich sind das Sippenamt und Herzfeld den schriftlichen Nachweis der arischen bzw. nicht-arischen Abstammung trotz drängelnder Schreiben der RSK bis zuletzt schuldig geblieben, gleichwohl dokumentiert die Namensakte durch ein Schreiben der RKK an die RSK vom 24. März 1943 eine telefonische Auskunft des Sippenamts, wonach Herzfelds Großvater, Ludwig, vormals Levi, als Sohn der jüdischen Eheleute Jakob und Liebchen Herzfeld am 12. September1819 in Guhrau geboren und am 14. Februar 1838 evangelisch getauft wurde, Herzfeld somit als „Mischling II. Grades“ anzusehen ist. Nach Erhalt der Abstammungsbescheide, so das Schreiben weiter, solle geklärt werden, ob Herzfeld „von seiner vierteljüdischen Herkunft Kenntnis hatte“. Noch am 3. März 1944 werden

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Karrierestern zu sinken. Die Jahre davor waren demnach gekennzeichnet von einer Strategie zur Verheimlichung der jüdischen Abstammung nach dem Grundsatz „Angriff ist die beste Verteidigung“. Herzfeld gehörte zu denjenigen im Kulturbetrieb Tätigen, die ganz schnell auf die Machtergreifung und den neuen politischen Kurs reagierten. Einen guten Monat nach Erlass des Ermächtigungsgesetzes, am 1. Mai 1933, trat er in die NSDAP ein41 und begann unmittelbar mit der Verbreitung nationalistischer Ideologie in seinem Wirkungsbereich. Dieser schloss musikalische Fachzeitschriften wie Die Musik und die Allgemeine Musikzeitung ebenso wie bildungsbürgerliche Feuilletons wie Westermanns oder Velhagen & Clasings Monatshefte ein. Die lange Liste seiner linientreuen Publikationen umfasst auch politische Musikthemen wie Volkslied, Gemeinschaftsmusik und Gesellschaftstanz. Darin klingen immer wieder nationalistische, chauvinistische und rassistische Töne an, was ein Beispiel aus dem 1936 veröffentlichten Essay über den „Gesellschaftstanz auf neuen Wegen“ beleuchten mag. Der „Einzug der amerikanischen Tänze“ in Europa nach 1900 wird von folgendem Kommentar begleitet: „Lasterhöhlen mit heruntergekommenen Negern spielten eine widerliche Rolle dabei. Abgründe menschlich-tierischer Verworfenheit sprachen mit. Die Triebfeder für die Verbreitung dieser Tänze war meist schmutzige Geschäftsgier und ekle Geldhamsterei […]. Nun aber […] hat der Rundfunk dem sogenannten Niggerjazz die Tür gewiesen“.42

Die Orientierung solcher Texte, ob nun aus Überzeugung oder Anbiederung verfasst, ermöglichten es dem Autor, von 1939 bis 1942 Hauptschriftleiter der Allgemeinen Musikzeitung und noch bis 1943 in freier Mitarbeit Pressechef, in einer Akte heißt es sogar Propagandaleiter,43 des Berliner Philharmonischen Orchesters zu sein, ein Posten, der ihn in die unmittelbare Nähe seines Idols Wilhelm Furtwängler brachte. Seine zugrunde liegende karrieristische Einstellung zeigt Herzfeld 1940 offenmütig in einem Beitrag für die „Deutsche Musikkultur“ über den „Freien Schriftsteller“, wo es heißt: „Die Neuregelung [gemeint ist das Kritikverbot Goebbels’ von 1936], die die Kritik in die Kunstbetrachtung überführt hat, zeichnet völlig neue Aufgaben vor…Keineswegs hat [sie] uns das Wasser überhaupt abgegraben, wie bisweilen wohl noch behauptet wird […]. [Sie] hat uns also die Berufsmöglichkeit nicht unterbunden. Sie zwingt uns nur eine neue Haltung anzunehmen und neue Formen zu finden. Das ist gewiß schwer und bisweilen mühselig. Aber kein Vernünftiger wird bedauern, zu besonderen Anstrengungen aufgerufen worden zu sein“.44

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die Nachprüfungen beim Sippenamt als laufend bezeichnet, ein Berufsverbot für Herzfeld noch aufgeschoben. Kopie des Mitgliedsnachweises (NSDAP-Zentral- und Gaukartei) in der Akte Herzfeld. Herzfeld, Gesellschaftstanz auf neuen Wegen, in: Westermanns Monatshefte 80, Februar 1936, S. 506f. Es ist erstaunlich und erschreckend, dass neuere Publikationen mit verändertem Vokabular, aber in der Argumentation vergleichbar verfahren, um Pop- und Rockmusik zu diskreditieren. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats der Berliner Philharmoniker vom 30. Oktober 1942, zitiert nach Prieberg, Handbuch, S. 2903. Herzfeld, Der Freie Schriftsteller, in: Deutsche Musikkultur 5, 1940, S. 74, zitiert nach Prieberg, Handbuch, S. 2902.

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Hier schwingt die Hoffnung mit, das Synchronisieren der eigenen Meinung mit der staatlichen Ideologie in angemessener Form gewürdigt und belohnt zu bekommen. Die „Entlarvung“ seines „Vierteljudentums“ musste diese Hoffnung enttäuschen; sie bereitete der eingeschlagenen Karriere ein allmähliches Ende. Bereits im Herbst 1941 kamen in der RKK Bedenken über „Nutzen und Notwendigkeit des Werbefachmanns Dr. Herzfeld“45 für das Philharmonische Orchester auf. Im August 1942 erklärte Reichsrat von Borries ohne weitere Begründung in einer Aktennotiz, er halte die Weiterbeschäftigung Herzfelds nicht für möglich; einen Monat später jedoch ordnet er der Personalstelle an, dass Herzfeld neben seiner Propagandatätigkeit außerdem für die Abteilung M das musikalische Schrifttum und die Tagespresse überprüfen solle. Dem ging einerseits voraus, dass es der Intendant der Philharmoniker, von Westermann, abgelehnt hatte, die Programmhefte an Herzfelds Statt zu übernehmen, andererseits wird aus einer Mitschrift einer Sitzung des Orchesteraufsichtsrats deutlich, dass Furtwängler sich beim Minister für Herzfeld und seinen Verbleib eingesetzt hat. Er konnte sich also trotz offizieller Bestätigung seines jüdischen Familienhintergrunds bis 1943 auf diesem Posten halten, dann wurde er zum Militärdienst in einer Schreibstube der Wehrmacht eingezogen. Zeitgleich erwähnt Herbert Gerigk in seinem Vorwort zur zweiten Auflage des Lexikons der Juden in der Musik, dass Herzfeld als „Mischling zweiten Grades“ für die Parteiarbeit entfalle. 1944 schließlich widmete sich Gerigk der Verbreitung dieses Wissens in Pressekreisen, um der massiven Werbung, die für den Philharmoniker-Film gemacht wurde, entgegenzuwirken. Die Tatsache, bis 1942 übersehen zu haben, dass Herzfeld kein „rein-arischer“ Parteigenosse war, und ihn sogar mit Ämtern und Aufgaben versehen zu haben, erklären die Verantwortlichen mit gelungenen Täuschungsmanövern Herzfelds46 und mit der Protektion Furtwänglers. Mit seinem Furtwängler-Buch und anderen nazi-konformen Schriften wollte Herzfeld jedenfalls der drohenden Entdeckung seiner jüdischen Abstammung entgegenwirken, indem er von einem Verdacht mit vorauseilendem Gehorsam ablenkte. So gelang es ihm, sich „über Wasser zu halten“47 – allerdings um den Preis, die eigene familiäre Herkunft zu leugnen und u. a. das Judentum in Schrift und Wort zu denunzieren.

5. „Nach der Katastrophe“ Nach einer zweiten Auflage von 1942 erschien 1950 die dritte, und somit erste Nachkriegsfassung, des herzfeldschen Buchs. Die Streichungen und Änderungen sind darin ebenso aufschlussreich, wie das, was an Chauvinismen stehen bleiben konnte. Die deutsch-nationale Emphase blieb dem Buch insgesamt erhalten, wobei nur direkte Abwertungen anderer Nationen oder Kulturen gestrichen wurden. Das 45 Alle Nachweise bei Prieberg, Handbuch, oder im Konvolut R 55 der Abteilung Deutsches Reich im Bundesarchiv. 46 Er habe die erforderlichen Fragebögen der verschiedenen Kammern einfach nicht ausgefüllt, siehe Gerigk, zitiert nach Prieberg, Handbuch, S. 2904. 47 So Herzfeld in einem Gespräch mit Prieberg 1963, zitiert nach Prieberg, Handbuch, S. 2904.

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anfängliche „Blut“-Kapitel heißt nun schlicht und zum Jahrzehnt der 1950er Jahre passend „Die Heimat der Furtwänglers“. Natürlich findet sich keine antisemitische Äußerung, keine Heroisierung des NS-Staates und kein Verweis auf Furtwänglers vormals als besonders innig bezeichnete Verbindung zum Nationalsozialismus mehr darin (etwa der Hinweis auf den Handschlag mit Hitler). Stattdessen fügt Herzfeld Passagen ein, die von dem Verdacht, bei Furtwängler handele es sich um einen Nazidirigenten, ablenken sollen. So wird der Fall Hindemith, der zuvor eher beschämt erwähnt wurde, nun ausführlich und durch den kompletten Abdruck von Furtwänglers Beitrag zur „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ von 1934 dokumentiert. Dass dieser Schuss gewissermaßen nach hinten losgeht, da Furtwängler darin Hindemith als „altdeutschen Meister“, „blutsmäßig rein germanisch“, „ausgesprochen deutschen Typus“ und die Werke der 10er und 20er Jahre als „Jugendsünden“ bezeichnet, mag dem Autor vielleicht entgangen sein. Zur Unterstützung der These, Furtwängler habe Kunst und Politik im Dritten Reich getrennt (wohingegen in der vorigen Auflage beide Bereiche in dem Dirigenten gerade eine höhere Synthese eingegangen seien), druckt Herzfeld einen Brief des jüdisch-polnischen Geigers Bronislav Hubermann an Furtwängler ab, in welchem der Dirigent als „Retter des [deutschen] Konzertwesens vor der drohenden Vernichtung durch die Rassenreiniger“ angesprochen wird, als jemand, der ungeachtet der politischen Lage auf Qualität setzt. Dies steht in gewisser Weise quer zu der kritischen Reflexion auf Musik und Staat, mit der Herzfeld Furtwänglers musikalisches Engagement in der Diktatur bedenkt. Hier nun lautet die Quintessenz: In Zeiten des totalen Krieges kann es keine freie, sondern immer nur politisierte Kunst geben. Furtwänglers romantisches Ideal einer freien Kunst sei daher zumindest unzeitgemäß. Gleichzeitig dürfe nicht ein Standpunkt, der sich „erst im Rahmen jener Wandlungen durchsetzte, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte“, auf Furtwänglers Aktivitäten davor projiziert werden; es wird also suggeriert, dass eine Politisierung der Kunst erst mit dem Ausruf des „totalen Kriegs“ stattgefunden habe, dass Furtwänglers angebliche Trennung beider Sphären also bis dahin legitim und möglich gewesen sei. Folgerichtig innerhalb seiner Prämissen macht Herzfeld in seinem dieser Auflage eigens hinzugefügten Kapitel „Nach der Katastrophe“ (das unbestimmt lässt, was unter vielen Möglichkeiten das Katastrophale genau war, und durch die Wortwahl suggeriert, eine höhere Schicksals- oder gar Naturmacht, nicht aber die Aktivitäten der Individuen habe das Elend der vergangenen zwölf Jahre herbeigeführt)48 Furtwängler zu einer Art musikalischen Friedensbotschafter, der international auftritt und für Versöhnung sorgt, nun also implizit politisch wirkt. So wird das „Leid des Kriegs“ in England „im gemeinsamen Erleben der klassischen Musik“ überwunden, in Frankreich bildet sich dadurch „das Bewusstsein einer neu entstehenden europäischen Gemeinsamkeit“.49 Gerade dieses neue Kapitel, aber auch die anderen editorischen Maßnahmen zeigen, dass es Herzfeld auch nach dem Krieg, in neuer politischer Situation nicht um eine sachgemäße Aufarbeitung des Weges und Wirkens Furtwänglers ging, sondern dass die Darstellung Propaganda unter veränderten 48 Vgl. auch Albrecht Riethmüllers Beitrag in diesem Band, S. 178f. *** 49 Herzfeld, Furtwängler (1950), S. 119.

Friedrich Herzfelds erste Monografie

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politischen Vorzeichen bleibt. Wichtige Stationen wie etwa der Entnazifizierungsprozess, in dem Herzfeld selbst als Zeuge geladen war, aber offenbar nicht aufgerufen wurde, erwähnt er mit keinem Wort. Es ging ihm ausschließlich darum, Furtwängler und als Autor auch sich selbst im Lichte der jeweils aktuellen politischen Ideologie möglichst vorteilhaft zu präsentieren. Darin dürfte Herzfelds Einstellung und Tätigkeit auf publizistischem Terrain sicherlich keine Ausnahme bilden, sondern eher die Regel.

Toscanini und Furtwängler aus der Sicht Adornos von ANDREAS DOMANN

In Die Meisterschaft des Maestro setzt sich Theodor W. Adorno in knapper und zugespitzter Form mit den Charakteristika der musikalischen Interpretationsweise Arturo Toscaninis auseinander. Der Aufsatz war ein Vortrag für den Norddeutschen Rundfunk und erschien erstmals 1958 in der Zeitschrift Merkur1. Dessen eigentliche Pointe ist die Deutung des toscaninischen Musizierstils als Ausdruck bestimmter kulturindustrieller und politischer Mechanismen. Damit zielt Adornos Kritik nicht lediglich auf musikalische Sachverhalte, sondern richtet sich gesellschaftskritisch auf ein kulturelles Phänomen, für das Toscanini gewissermaßen idealtypisch stehen soll. Es lässt sich zeigen, dass Toscanini in Adornos Darstellung so zum Negativabbild jenes Musikers wird, zu dem sich Furtwängler, der in dem Aufsatz am Rande erwähnt wird, in seinen Aufzeichnungen und Aufsätzen stilisiert. Nach einem kurzen Blick auf den Inhalt des Aufsatzes sollen die in ihm enthaltenen Wertungen herausgestellt und im Kontext von Adornos gesellschaftskritischen Blickwinkel, der sich auf eigentümliche Weise mit einem nationalistischen, kulturellen Sendungsbewusstsein verbindet, erörtert werden. Schließlich soll dieses von Adorno vermittelte Toscaninibild mit Furtwängler konfrontiert werden.

* Adorno präsentiert Toscanini zunächst als eine respektable und anerkennenswerte Persönlichkeit, und zwar sowohl im Hinblick auf sein musikalisches Wirken wie auch in Bezug auf seine menschliche Integrität. Er würdigt ausdrücklich die musikalische Präzision seines Dirigierstils, die ihresgleichen suche, die „Planmäßigkeit“ und „Klarheit“ seines Vortrags – „trotz dessen Elan und Brio“ – dem „alles Verschwommene“ fehle.2 Diese Weise des Musizierens ließe „die ganze Sache [i. e. die Musik], mit all ihrer Verzweigtheit, ihrem Reichtum an Formen“, also jenes, „was in der Musik eigentlich sich zuträgt“, hervortreten:3

1 2 3

Merkur 12, 1958, S. 924–937. Theodor Adorno, Die Meisterschaft des Maestro, in: R. Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt am Main 1997, S. 52. Ebd., S. 54.

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„Damit ist auf den historischen Stellenwert seiner Leistung verwiesen. Sie fällt zusammen mit einer kritischen Selbstbesinnung der Musik, welche empfindlich ward gegen Verzerrungen der Werke durch die spätromantische Darstellungsweise“.4

Ebenso würdigt Adorno Toscaninis moralisches Verhalten, seine „Intransigenz dem Faschismus gegenüber“. Er habe „unverführbar und mit bewundernswerter Zivilcourage die Partei rationaler Humanität“ ergriffen.5 „Stets fiel Toscaninis absonderliche Programmpolitik auf: seine Abneigung gegen avancierte zeitgenössische Musik ebenso wie sein mangelnder Sinn für kompositorisches Niveau. Unbefangen stellte er Werke drittrangiger italienischer Kameraden vor. [...] Nun ist der Geschmack von Interpreten, in den der Gedanke an die Wirkung leicht eingeht, oft unsicher, und man mag sich darauf berufen, der emphatische Unterschied des Niveaus, der hohen und der niederen Musik, sei spezifisch deutsch und den romanischen Ländern fremd. Dort gebe es ja auch kein Wort für Kitsch. [...] Aber nachdem einmal Toscanini sich zum Ritter der großen Musik aufwarf, hatte er stillschweigend einen Kontrakt unterzeichnet, ihre Differenz von den Waren anzuerkennen: sonst schlüge sein Bemühen um authentische Darstellungsweise selber in tierischen Ernst um“.6

Vor dem Hintergrund der zunächst bekundeten Anerkennung seiner musikalischen Leistungen und des Lobes seiner Person erscheint Adornos unvermittelte Kritik an Toscanini umso wirkungsvoller. Der Kontext, in dem dieses Zitat steht, lässt keinen Zweifel daran, welche mit der „großen Musik“ allen voran gemeint ist, die den „drittrangigen“ Produkten romanischer Provenienz gegenübergestellt wird: Die Musik Beethovens, der alleinige Maßstab, an dem Adorno Toscaninis Leistungen misst. Die Stoßrichtung des Zitats ist eindeutig: Toscanini besitzt kein Urteilsvermögen für musikalische Qualität. Um den Grund hierfür zu erkennen, bedarf es wohl keiner aufwändigen Exegese, er ist kaum zwischen den Zeilen verborgen: Toscanini ist Italiener, i. e. kein Deutscher. Toscaninis Interpretationen seien rein mechanisch, sie nivellierten jede musikalische Differenzierung. Das eingangs ausgesprochene Lob der unsentimentalen, Werkstrukturen klar darstellenden Herangehensweise Toscaninis wird jetzt gerade in sein Gegenteil verkehrt. Alles erscheine „klar und distinkt“, quasi „keimfrei verpackt“, an die Stelle des interpretierten Werkes trete „sein Abguss in einer Kunststoffmasse“.7 Die Musik besitze keine „Tiefendimension“,8 die Geschlossenheit der Oberfläche sei wichtiger als das „Atmen der Musik“.9 Fast beiläufig erwähnt Adorno in diesem Zusammenhang Furtwängler, dem er „höchste Eindringlichkeit“ dort bescheinigt, wo sich Toscanini nur der Gesetzmäßigkeit verpflichtet fühle.10 Ebenso unscheinbar, in dem Aufsatz wie ein unbedeutender Nebengedanke wirkend, ist die Illustration der – im Sinne Adornos – gehaltlosen, glatten 4 5 6 7 8 9 10

Ebd., S. 53. Ebd., S. 52. Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Ebd., S. 63. Ebd., S. 64. Ebd., S. 59.

Toscanini und Furtwängler aus der Sicht Adornos

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Oberflächlichkeit der toscaninischen Musizierweise: „Schlecht undurchbrochen schnurrt ein Stück wie das Scherzo aus Mendelssohns Sommernachtstraum-Musik ab“.11 Mit solchem „Abschnurren“ der Musik paare sich eine „bestimmte Art von unerwartetem Subjektivismus“. Dieser sei das Ergebnis des Bemühens, den „kulinarischen Bedürfnissen der Schlagerhörer“ entgegenzukommen. Als „Theaterkapellmeister“ putsche er das Orchester auf und übertrage „applausfreudige Verdi’sche Stretten etwas wahllos auf die Symphonik“. Sein „drastischer Mangel an Geschmack“ werde an der „primitiven Klangfreude“ deutlich, sich an den „sogenannten schönen Stellen zu weiden“, unabhängig vom jeweiligen Formzusammenhang.12 Womit schließlich der letzte Kritikpunkt angesprochen ist: Toscanini besitze keinen Sinn für Form.13 Er betone Oberstimmenmelodien zulasten des kontrapunktischen Satzes,14 er sei unfähig zu einer sinnvollen musikalischen Gliederung,15 es ergebe sich nur eine „Leerform der Totale“ aus „isolierten Reizen“.16 Die zur Illustration seiner Kritik angeführten Beispiele stammen nahezu ausschließlich von Beethoven. Adorno selbst bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt: „Für einen Dirigenten von Toscaninis Anspruch wäre Beethoven überhaupt das Kriterium, und ihm genügt er nicht“.17 Weshalb Beethoven „überhaupt das Kriterium“ ist, erläutert Adorno nicht. Doch scheint eine Beethoveninterpretation, die seinen Vorstellungen genügt, für ihn der Maßstab zur Beurteilung eines Musikers zu sein. Bemerkenswerterweise zeigen die Ausführungen Adornos eine auffallende Nähe zu einem Aufsatz, den Furtwängler bereits 1930 über Toscanini zwar verfasst, nicht aber veröffentlicht hat.18 Er schrieb den Aufsatz aus Anlass der Deutschlandtournee Toscaninis mit den New Yorker Philharmonikern im Frühjahr 1930. Furtwänglers Schmähungen Toscaninis liegen auf einer Ebene mit denjenigen Adornos. Die Wertschätzung, die Furtwängler der italienischen Musik entgegenbringt, veranschaulicht seine Bemerkung über ein Stück von Donizetti: Dieses sei „auch für italienische Verhältnisse“ ein „ungewöhnlich dürftiges Werk“.19 Ebenso gleicht die Auffassung Adornos, Toscaninis Interpretationen seien rein mechanisch und würden jede musikalische Differenzierung nivellieren, exakt derjenigen Furtwänglers: „Dem Tutti an sich war freilich die Qualität großer elastisch-rhythmischer Prägung zuzusprechen [Bezug: Haydnsinfonie Nr. 101], das, was mit Präzision an sich nichts zu tun hat, was 11 12 13 14 15 16 17 18

Ebd., S. 58. Ebd. Ebd., S. 58–60. Ebd., S. 60. Ebd., S. 58. Ebd., S. 60. Ebd., S. 62–63. Wilhelm Furtwängler, Toscanini in Deutschland. Ein Beitrag zur wahren Situation des deutschen Musizierens im Jahr 1930 [1930], in: E. Furtwängler; G. Birkner (Hg.), Wilhelm Furtwängler. Aufzeichnungen 1924–1954, Wiesbaden 1980, S. 69–80. 19 Ebd., S. 73.

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aber der Durchschnittshörer Präzision, Genauigkeit nennt. Es ist ein gewisser militärisch-exakter Geist des Musizierens, der übrigens nicht Toscaninis Eigentum ist, sondern in Amerika heute gang und gäbe. [...] Das Ganze wirkt steif und seelenlos.“20

Für Adorno wie für Furtwängler scheint die Interpretation der Musik Beethovens der Maßstab für die Beurteilung eines Musikers zu sein, und beiden Autoren zufolge scheitert Toscanini an dieser Disziplin. Nach Furtwängler werde er dem „Organischen“ – einer der zentralen Begriffe für Furtwängler – in der Musik Beethovens nicht gerecht21. Der Grund hierfür ist denkbar einfach und derselbe wie später bei Adorno: Toscanini ist nicht nur „Opernkapellmeister“, sondern vor allem auch Italiener. Daher könne er die deutsche Musik nicht verstehen:22 „Aber wir erinnern uns in diesem Moment, dass er bis ins höhere Alter niemals etwas anderes als italienischer Opernkapellmeister gewesen ist, der stets in den Formen italienischer Opernmusik denkt, dem das Tutti einerseits, die rein homophone Arie andererseits, Grundbegriffe der Musik bleiben. Wir erinnern uns dabei auch, dass die italienische Musik – bei aller Schätzung, die wir ihr entgegenbringen – seit Scarlatti nur einen Komponisten absoluter musikalischer Form hervorgebracht hat, und dass das Unverständnis gegenüber Wesen und Sinn der Sonate – die allen ihren Hauptvertretern eine deutsche Schöpfung ist – geradezu ihr Charakteristikum bildet. Wie soll man vom italienischen Operndirigenten verlangen, dass er sich selbst verleugnet. Und da haben wir auch den Sinn seiner Eroica-Darstellung. Entweder Tutti oder Arie – in diese zwei Elemente wird die ganze, unendlich reiche Skala der Musik Beethovens aufgelöst. Ein wahrlich reichlich primitives Verfahren“.23

Selbst bis hinein in die Ambivalenz der Beurteilung Toscaninis durch die Kontrastierung seiner persönlichen Integrität mit seinem künstlerischen Unvermögen gleicht der spätere Aufsatz Adornos dem früheren Furtwänglers: „Seine Größe liegt im Charakter. Damit ist ihm subjektiv in den Augen der Welt, wie man sieht, geholfen, leider aber nicht der Kunst“.24

* Dass die Beurteilung der musikalischen Leistung Toscaninis keine bloße Frage des Geschmacks, kein rein technisches Problem der Interpretation oder des Dirigierstils sei, sondern zugleich kulturkritische Relevanz besitze, daran lässt Adorno keinen Zweifel. Hier ist auf die eingangs geäußerte Behauptung zurückzukommen, dass Toscaninis Weise des Musizierens nach Adorno der Ausdruck bestimmter kulturindustrieller und politischer Mechanismen sei und den Werken selbst nicht gerecht 20 Ebd., S. 71–72. 21 Ebd., S. 77. 22 Auch zur Abwertung von Toscaninis Debussy-Interpretation rekurriert Furtwängler auf den Aspekt der nationalen Herkunft: Da Toscanini ebenso wie Debussy ein Romane sei, müsse er doch ein besonderes Verständnis für dessen Musik besitzen. Doch werde er wegen seiner „primitiv-ungeistigen“ Art auch Debussy nicht gerecht. Siehe ebd., S. 73. 23 Ebd., S. 77–78. 24 Ebd., S. 80.

Toscanini und Furtwängler aus der Sicht Adornos

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werde.25 Mit dem Begriff der „Sachlichkeit“, der Adorno zur Kennzeichnung des Musizierstils Toscaninis dient, ist das entscheidende Stichwort seiner Kritik genannt: „Die Gefahr des Musizierens sind nicht mehr Espressivo und Rubato, sondern das bloße Funktionieren nach dem Modell von Organisation und Verwaltung; Prozeduren, die, bei aller Versachlichung, der Sache nicht ihr Recht widerfahren lassen, sondern sie zentralisierend an die Kandare nehmen und schließlich brechen“.26

Damit ist jene zentrale Denkfigur auf den Begriff gebracht, mit der Adorno einen musikalischen Sachverhalt als Analogie zu einem bestimmten gesellschaftlich-politischen Verhalten interpretiert. Das „bloße Funktionieren“, i. e. das mechanische „Abschnurren“ wird zum Gleichnis politischer und gesellschaftlicher „Organisation und Verwaltung“; der Musik nicht „ihr Recht widerfahren“ zu lassen und sie „zentralisierend an die Kandare“ zu nehmen wird gewissermaßen zum Abbild gesellschaftlicher Zwangsverhältnisse. Das perfekte, rein mechanische Funktionieren des Orchesters sei „die Vereidigung auf den Apparat als Selbstzweck“; die Musik werde zu einem „Fertigfabrikat“ bloßer Reproduktion; die „Vorherrschaft von Mitteln über den Zweck“ sei Fetischismus.27 Damit sei Toscaninis Interpretationsweise der Kulturindustrie ähnlich28. Vollends wird Adornos Kritik an Toscaninis musikalischem Wirken aus folgender Äußerung deutlich, mit der er es als Analogie zu politischen und kulturindustriellen Verhaltensformen auffasst: „Auf die suggestionskräftige Wiederherstellung eines bloß vorsubjektiven Standpunktes durch ein gewaltsames Subjekt, sprechen die Hörer an. Ihnen ist der Maestro beides, Ersatz für Führerpersönlichkeit und Religion, und Ausdruck des Sieges von Technik und Verwaltung über die Musik; bei ihm fühlen sie sich, als nun auch musikalisch Verwaltete, sicher und geborgen“.29

* Zu diesem Bild, wie es Adorno von Toscanini zeichnet, markiert Furtwänglers Selbstdarstellung gewissermaßen das genaue Gegenteil. Adorno stimmt hierin mit ihm durchaus überein, nennt er Toscanini doch selbst einen „Gegenpapst zu Furtwängler“.30 Diese Umkehrung der Charakteristika betrifft nun sowohl die Weise des Musizierens wie auch das Spannungsverhältnis zwischen dem äußeren politischen Auftreten und der inneren moralischen Integrität beider Personen. 25 Zum Begriff der Kulturindustrie bei Adorno vgl. das entsprechende Kapitel aus Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung [1944], Frankfurt am Main 1997 (= Gesammelte Schriften Bd. 3, hg. von R. Tiedemann). 26 Adorno, Meisterschaft, S. 55. 27 Ebd., S. 57. 28 Ebd., S. 60. 29 Ebd., S. 66. 30 Ebd., S. 52.

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Wird Adornos Beschreibung Toscaninis von Begriffen wie „leere Technik“ und „Mechanik“ und dem Vorwurf mangelnden musikalischen Verstands dominiert, so attestiert er Furtwängler ein unvergleichliches Vermögen, sowohl alle Feinheiten und Nuancen als auch die musikalische Struktur sinnvoll und dem Charakter des Werkes entsprechend wiederzugeben.31 Furtwängler selbst spricht in diesem Zusammenhang oft von der Vorstellung des Organischen, der Toscanini nicht gerecht werde.32 Der bloße „Opernkapellmeister“ und „Verwalter“ auf der einen, der „ganze Mensch“33 auf der anderen Seite. Furtwänglers und Adornos Charakterisierungen sind wiederum vollkommen deckungsgleich. Der gleiche Gegensatz zeigt sich auch im Bezug auf das politische und gesellschaftliche Wirken beider Dirigenten. Furtwängler hielt sich – seiner persönlichen Nähe zum Naziregime zum Trotz – für moralisch unanfechtbar: Schließlich sei er ja Musiker gewesen.34 An seinem unablässigen Bedürfnis nach Selbstrechtfertigung und seiner oft wiederkehrenden Unterscheidung zwischen einem von ihm geliebten „wahren“ und einem von ihm verabscheuten, „von Nazis beherrschten Deutschland“ zeigt sich dies deutlich.35 Hieran findet sich bei Adorno keinerlei Kritik. Bei Toscanini nun der umgekehrte Fall: Er machte keine äußerlichen Konzessionen, aber es war – Adorno zufolge – dessen innere Haltung anfechtbar, die sich eben an seinem Dirigierstil zeigt. Denn als Diener der Kulturindustrie – einem Regimentskapellmeister gleich – stehe er für Regression und gesellschaftliche Zwangsverhältnisse.36 Wie die von Adorno noch eingangs gelobte moralische Unanfechtbarkeit, die humanitäre Gesinnung Toscaninis, nun mit dem Verweis auf dessen musikalische Leistungen ins genaue Gegenteil verkehrt wird, illustriert folgende Stelle: „Wo immer aber Musik wahrhaft transzendiert; wo sie als der Menschheit Stimme spricht, verstummt Toscaninis Interpretation. Kaum wohl ist in Beethovens Symphonien der Ton der Humanität zwingender als im Trio des Allegrettos der Siebenten Symphonie; bei Toscanini aber geht es weiter wie am Fließband: als wagte Musik nicht mehr, die Augen aufzuschlagen; und wenn sie es wirklich nicht mehr darf, so waltet Toscanini allzu bereitwillig seines Amtes als Exekutor der geschichtlichen Tendenz“.37

Und am Ende seines Aufsatzes resümiert Adorno: „Bei größter subjektiver Integrität, größtem handwerklichen Vermögen bereitet Toscaninis handwerklich beschränkte Anstrengung Unheil. Sie verwandelt Musik in eine durchs bloße Am-Schnürchen-Gehen imponierende Macht, leer im Inneren. Indem er den objektiven Geist 31 Ebd., S. 59. – Siehe auch ders., Wilhelm Furtwängler [1968], in: Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 19, Frankfurt am Main 1997, S. 468–469. 32 Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 142 [1937], S. 262–263 [1945]. – Ders., Toscanini, S. 77: „Alles das, was den eigentlichen Inhalt der Beethoven’schen Musik ausmacht, nämlich was organisch ist, wie es von einem zum andern kommt usw., existiert für Toscanini nicht“. 33 Ders., Geleitwort zu: Walter Riezler, Beethoven, Zürich 1944, S. 10. 34 Michael Kater, Die missbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich, München 2000, S. 374–387. 35 Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 255–256 [1945], S. 263 [1945]. 36 Adorno, Meisterschaft, S. 65. – Der Vergleich aus der Sphäre des Militärs findet sich auch bei Furtwängler, Toscanini, S. 72. 37 Adorno, Meisterschaft, S. 65.

Toscanini und Furtwängler aus der Sicht Adornos

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der Epoche höchst angemessen verkörpert, und nicht mehr, zeigt er sich dem verschworen, wogegen er, seinem Bewusstsein nach, so tapfer und kompromisslos stand“.38

* Furtwänglers kulturelles Sendungsbewusstsein mit all seinen Implikationen findet in Adornos Toscanini-Aufsatz gewissermaßen eine vermeintlich philosophisch-gesellschaftskritische Rechtfertigung. Auch wenn Adorno die Gemeinsamkeiten mit Furtwängler nicht hervortreten lässt und er ihn auch nur beiläufig erwähnt, sind – wie dargestellt – die Parallelen zwischen beiden verräterisch. Vor diesem Hintergrund liest sich der Text von Adorno wie eine Verteidigung des Denkens Furtwänglers mit den intellektuellen Mitteln der Frankfurter Schule. Das von der Überzeugung eines natürlichen Superioritäts- und Hegemonieanspruchs der deutschen Kultur getragene Sendungsbewusstsein Furtwänglers gleicht demjenigen Adornos, nur dass Letzterer seinen musikalischen Verdikten durch seine philosophische Autorität dort Legitimation verleihen kann, wo sich Ersterer auf die Wirkung und Suggestivkraft seiner Persönlichkeit als anerkannter Künstler verlassen muss. Adorno diskreditiert mit vordergründig rein sachlichen, auf die musikalische Interpretation bezogenen Betrachtungen die zunächst zugebilligte moralische Integrität einer Person, die kaum bestritten werden kann, als rein äußerlich: Es mag sein, dass Toscanini sich äußerlich korrekt verhalten habe, an seinem Musizieren aber zeige sich doch die wahre autoritäre Gesinnung. Das ist die exakte Umkehrung der Selbstdarstellung Furtwänglers: Es mag sein, dass Furtwängler sich äußerlich missverständlich verhalten habe, an seinem Musizieren aber zeige sich doch die wahre humanitäre Gesinnung. Nicht der Dirigent, der mit seinen Auftritten nationalsozialistische Propaganda unterstützt hat, wird zum Sinnbild gesellschaftlicher Zwangsverhältnisse, sondern der, dessen Nationalität und Geschmack nicht Adornos Billigung erfahren.

38 Ebd., S. 66.

Strategien einer erzwungenen Apologie in Sam Shirakawas The Devil’s Music Master von TILL WALLRABENSTEIN

Im Jahr 2001 erschien István Szabós Film Taking Sides. Basierend auf dem gleichnamigen Drama (1996) des britischen Drehbuchautors Ronald Harwood, der sein Drama selbst zum Filmdrehbuch ausarbeitete, handelt der Film vom Entnazifizierungsverfahren, das die amerikanische Besatzungsmacht 1946 in Berlin gegen den Dirigenten Wilhelm Furtwängler führte. Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass Taking Sides scharf mit der Person Furtwänglers abrechnet und eine schallende Kritik seiner Verwicklung mit dem NS-Regime darstellt. Damit wurde der Film zum Kulminationspunkt einer bereits seit langem geführten kulturhistorischen und musikwissenschaftlichen Debatte über die moralische und politische Integrität Furtwänglers während des Nationalsozialismus. Auffällig emotional war die Debatte schon seit langem, das Novum war daher lediglich, dass das Thema seinen Weg nun bis in die Populärkultur gefunden hatte und somit abermals neue Brisanz erhielt. Exemplarisch führt der Film vor, was für die gesamte Kontroverse um den Casus Furtwängler prägend ist: eine Mentalität des entschiedenen ‚Sidetaking‘. Während auf der einen Seite die Apologeten versammelt stehen, die den Künstler Wilhelm Furtwängler auch als öffentliche Person entlasten und ihn somit im Ganzen als bewundernswert und integer memorieren möchten, finden sich auf der anderen Seite Kulturhistoriker, denen es um eine kritische Beurteilung seiner Rolle während des Nationalsozialismus geht. Streitpunkt sind also nicht ästhetische, sondern ethisch-moralische Fragen und der politische Kontext seines Wirkens. Im Allgemeinen ist das Thema Musik im Nationalsozialismus von der deutschen Musikwissenschaft erst sehr spät aufgegriffen worden – ein Schweigen, das für die deutsche Nachkriegsmentalität durchaus symptomatisch war und vielleicht die außergewöhnliche Emotionalität der Furtwängler-Debatte trotz des inzwischen beträchtlichen zeitlichen Abstands zu erklären vermag.1 Nach einem seinerzeit ungewürdigten Frühversuch des Historikers Joseph Wulf (Musik im Dritten Reich, 1

Pamela M. Potter setzt sich in ihrer Monographie Die deutscheste der Künste – Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs, Stuttgart 2000, mit den nationalsozialistischen Verstrickungen der deutschen Musikwissenschaft auseinander. Eine systematische Aufarbeitung auch der deutschen Nachkriegs-Musikwissenschaft steht jedoch am Anfang.

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1963) kam es erst seit Erscheinen von Fred K. Priebergs Musik im NS-Staat (1982) zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema, in der auch der ‚Fall Furtwängler‘ wiederbelebt wurde.2 Bis dahin hatten apologetische Publikationen und Meinungen über den Dirigenten vorgeherrscht, allen voran die frühe Biographie des zurückgekehrten Emigranten Curt Riess (Furtwängler: Musik und Politik, 1953). Nachdem Prieberg in Musik im NS-Staat überaus kritisch auf die braunen Verstrickungen des deutschen Musikbetriebs hingewiesen hatte, mag man sich gewundert haben, als er 1986 abermals eine entschiedene Apologie Furtwänglers folgen ließ (Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich). Knapp war ihm jedoch Berndt Wessling mit Furtwängler: Eine kritische Biographie (1985) zuvorgekommen, einer Polemik, die jeglichen Apologien diametral entgegensteht. Während Kraftprobe erst 1991 in englischer Übersetzung erschien (Trial of Strength), fühlte sich in der Zwischenzeit Sam H. Shirakawa, ein freier New Yorker Musikkritiker und Dokumentarfilmer,3 berufen, auch für amerikanische Leserschaften eine Furtwängler-Apologie zu verfassen. Seine Biographie The Devil’s Music Master – The Controversial Life and Career of Wilhelm Furtwängler erschien 1992 – die Übersetzung von Kraftprobe kam ihm also noch um ein Jahr zuvor – im selben Verlag, nämlich der Oxford University Press. Shirakawas Grundannahme ist, dass Furtwängler in der amerikanischen Öffentlichkeit niemals gebührende Würdigung zugekommen sei. Schuld daran seien die hysterischen SchmutzKampagnen, die während und nach dem Krieg zumeist von jüdischen Interessengruppen und Emigranten gegen ihn geführt worden seien, um ein Engagement in Amerika zu verhindern. Mit dem Ziel, den Nachwirkungen dieser Verzerrungen und falschen Verleumdungen entgegenzuwirken, macht sich Shirakawa auf, Furtwängler nun endlich als das zu präsentieren, was er gewesen sei, nämlich ein Held des deutschen Widerstandes von tragischem Ausmaß: „This book is about a man who becomes a tragic figure in the classical sense of the word [...] and [...] a leading figure in the resistance inside Germany“.4 Bereits Prieberg hatte Furtwänglers angebliche politische Naivität sowie seine stets bekundete Überzeugung, die Sphären der Kunst und der Politik seien separat, als taktische Schutzbehauptung verstanden, die es ihm ermöglicht habe, als in Wahrheit hochpolitischer „Doppelagent“ vorzugehen.5 Er sei jedoch im Nachspiel des Krieges insbesondere von der Gruppe der Emigranten zum 2

3 4 5

Einen guten Überblick über die bisherige Furtwängler-Debatte findet man in Chris Waltons Artikel „Doppelagent“ oder „kläglicher Mensch? Ein Rückblick auf die Furtwängler-Rezeption des vergangenen Jahrzehnts, in: Walton (Hg.), Wilhelm Furtwängler in Diskussion, Winterthur 1996, S. 10. Dem ist auch nach 15 Jahren wenig hinzuzufügen. An neueren Beiträgen sei neben dem Film Taking Sides auch Oliver Beckers dokumentarfilmische Reaktion, Sehnsucht nach Deutschland. Der Dirigent Wilhelm Furtwängler (2003), zu erwähnen, letztere besprochen in Albrecht Riethmüller, Nach wie vor Wunschbild: Beethoven als Chauvinist, in: C. Bartsch (Hg.), Der „männliche“ und der „weibliche“ Beethoven, Bonn 2003, S. 97–117. Außer The Devil’s Music Master und vereinzelten Buchrezensionen scheint Shirakawa nicht weiterhin wissenschaftlich publiziert zu haben. Sam H. Shirakawa, The Devil's Music Master. The Controversial Life and Career of Wilhelm Furtwängler, New York 1992, S. xi. Fred Prieberg, Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986, S. 100.

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„Sündenbock“ stilisiert worden6. Prieberg unterzieht das Kollektiv der Emigranten einer Psychoanalyse und attestiert ihnen einen irrationalen Hass-Komplex, ohne den das Leben im Exil nicht möglich gewesen sei.7 Als ob diese schlüpfrige Strategie nicht schon gefährlich genug wäre, grenzt Kraftprobe spätestens dann an Geschichtsrevisionismus, wenn Prieberg ausgerechnet den hassenden Emigranten faschistoides Denken unterstellt8 oder den Holocaust mit anderen Genoziden auf eine Stufe zu stellen scheint9, gar die Konzentrationslager der Nazis mit den Internierungslagern für Emigranten vergleicht.10 Auch wenn sich Shirakawa in Bezug auf diese Positionen Priebergs vorsichtiger zeigt, so zeichnet er doch im Großen das gleiche Bild: Furtwängler ist nicht nur unschuldig verleumdet worden, vielmehr war er „the unsung hero of the German resistance“.11 Dieser Beitrag konzentriert sich auf The Devil’s Music Master und widmet sich den Strategien, die Shirakawa im Einzelnen verwendet, um die Apologie Furtwänglers vorwärts zu treiben. Es lassen sich drei rhetorische oder stilistische Konstanten erkennen, die den besonderen Charakter der Biographie ausmachen. Erstens wird Furtwängler in der Bildsprache der griechischen Tragödie, mehr noch des griechischen Epos, als tragischer Held dargestellt. Zweitens weist die Biographie ein auffällig emphatisches Erzählverhalten auf und kommt somit einer Fiktion nahe. Immer wieder erhält man als Leser Einblicke in die Gedanken anderer, meistens Furtwänglers, ohne dass Nachweise für diese Gedanken – etwa Tagebucheinträge – angegeben wären. Schließlich finden sich wiederholt semantische Deutungen der Musik Furtwänglers, seiner Kompositionen oder Aufführungen, ganz als ob sich daraus objektiv irgendwelche Botschaften entschlüsseln ließen. In Anbetracht dieser Strategien wird der Eindruck erweckt, dass für Shirakawa ohnehin feststeht, zu welchem Ergebnis seine Untersuchungen über Furtwänglers Rolle im Nationalsozialismus letztlich führen werden. Es scheint, als sei die oberste Priorität nicht objektives Zusammentragen von Fakten, sondern vielmehr der mühselige Versuch, die amerikanische Leserschaft von einem deutschen Helden namens Furtwängler zu überzeugen. Dieser Verdacht erhärtet sich, da sich neben den formalen und rhetorischen Extravaganzen auch inhaltlich-sachliche Widersprüche bis hin zu auffälligen Fehlakzentuierungen und verzerrenden Darstellungen historischer Sachverhalte finden. In dieser Hinsicht interessiert etwa die Beurteilung der Entnazifizierungsprozesse. Es besteht der Verdacht, dass für Shirakawa nicht sein kann, was nicht sein darf, und dass er in dem Versuch, jeglichen Schaden von Furtwänglers Ruf abzuwenden, für eine wissenschaftliche Biographie nur allzu parteiisch ist.

6 7

Ebd., S. 9. Carl Dahlhaus wehrt diese Argumentationsstrategie als ein „taktisches Manöver“ ab, das für die „Betroffenen kränkend“ ist (Dahlhaus, Kraftprobe für einen Unpolitischen. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, in: Die Zeit 46, 1986, S. 114). 8 Vgl. Prieberg, Kraftprobe, S. 236. 9 Vgl. ebd., S. 291. 10 Vgl. ebd., S. 11. Vgl. auch Walton, Doppelagent, S. 12. 11 Shirakawa, The Devil’s Master, S. 440.

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I. Das Verhältnis von Kunst und Politik Die offizielle Formel aller Apologien Furtwänglers geht auf seinen eigenen Wortlaut zurück. So insistierte Furtwängler in seiner Schlussverteidigung vor dem Entnazifizierungstribunal am 17. Dezember 1946, dass er in Deutschland geblieben sei, weil er als Deutscher nicht habe anders können, als seinem Land in dunkler Stunde beizustehen, indem er das Wahre und Gute Deutschlands verkörpert und hochhält.12 Durch solch simple Trennung von Substanz und Akzidenz wird eine Abgrenzung zwischen Furtwängler (als Repräsentant Deutschlands) und dem NS-Regime erzeugt. Diese abstrakte Trennung eines ‚ wahren Deutschlands‘ – das sich unterscheidet vom ‚unwahren‘, aber allzu realen Nazideutschland – kann jedoch nicht objektiviert werden und gibt zunächst keine Antwort auf die viel dringendere Frage nach der politischen Verwicklung. Die vorrangige Frage sollte also sein, ob Furtwängler eine politische Person war oder nicht, und worin seine politische Strahlkraft bestand. Furtwänglers eigenen Worten zufolge gehören Kunst und Politik separaten Sphären an. Es müsste also zur Beurteilung seiner Rolle zwischen dem Künstler und der Privatperson Furtwängler unterschieden werden. Ohne hier auf die Implikationen und Widersprüchlichkeiten dieser Position weiter einzugehen, gilt es nun zu eruieren, auf welche Art The Devil’s Music Master das Verhältnis von Kunst und Politik sowie Furtwänglers Position in dieser Hinsicht bestimmt. In Priebergs Kraftprobe fand sich noch die eingangs erwähnte These von der Schutzbehauptung einer in Wahrheit undercover agierenden politischen Person. Shirakawa hingegen scheint eine direkte Beantwortung der Frage zu vermeiden, verstrickt sich dadurch jedoch in Widersprüche. Anfänglich wird Furtwängler als jemand gekennzeichnet, der sich geradezu stolz zeigt, uninformiert zu sein, um auf diese Weise jegliche Politik von sich fern zu halten und allein in der „höheren“ Sphäre der Musik leben zu können. Shirakawa versteht diese Attitüde jedoch weniger als Naivität sondern mehr als absichtliche Ignoranz.13 Er stellt fest, dass Musik durchaus instrumentalisiert und der Künstler korrumpiert werden könne, die pauschale Trennung von Politik und Kunst also unmöglich sei,14 und dass Furtwängler dies graduell selbst bemerkt habe.15 Die Grade dieser Kenntnis scheinen jedoch zu variieren. Shirakawa erkennt erste Anzeichen von Einsicht in einem Brief aus dem Jahre 1937 an Maria Daelen, eine Liebschaft Furtwänglers, und folgert: „he now became aware that his destiny as a musician was indeed political“.16 Bereits eine Konzertreise nach Palästina im Jahr 1936 sei Furtwänglers Art gewesen, das Gegenteil seiner sonstigen Bekundungen mitzuteilen; „his way of expressing his conviction that music and politics are inextricably connected“.17 In anderen Passagen wird Furtwängler jedoch als „non-political

12 13 14 15 16 17

Vgl. ebd., S. 331f. Vgl. ebd., S. 149. Vgl. ebd., S. 189. Vgl. ebd., S. 197. Ebd., S. 222. Ebd., S. 215.

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individual“ verstanden,18 und selbst seine Naivität wird als Topos erneut bedient: „the extent of his naivete in such worldly matters as politics and totalitarianism bordered on the cretinous“.19 Nur will die Vorstellung eines politischen Naivlings nicht recht ins Bild passen mit einem versteckten Helden des Widerstands, der es zum Erreichen seiner ehrenwerten Ziele gut verstanden habe, sich in die Propagandabedürfnisse des Regimes einzudenken: „Furtwängler usually approached the Nazis on racial matters from a public relations angle. [...] Furtwängler played devil’s advocate“.20 So zeichnet Shirakawa auf der einen Seite einen naiven Ignoranten, auf der anderen einen wissenden und geheimen Akteur des inneren Widerstands. Wenn sich auch derartige Widersprüchlichkeiten in der Beurteilung der vermeintlichen Naivität Furtwänglers finden, siedelt ihn doch die Gesamtdarstellung durch The Devil’s Music Master eher auf der Seite der Wissenden an. Selbst im konkreten Bezug zum Holocaust verschweigt Shirakawa nicht, dass die Furtwänglers laut Elisabeth Furtwängler von den Massendeportationen nach Osteuropa wussten, angeblich nicht jedoch von den Gaskammern.21 Obwohl Shirakawa nicht expliziert, dass er Furtwänglers Naivität keinen Glauben schenkt, wird dies aus dem Kontext deutlich. Letztlich ist es gut dokumentierte Tatsache, dass Furtwängler zumindest in Fragen der NS-Kulturpolitik informiert und involviert war. Offene Widersprüchlichkeiten bilden sich jedoch heraus, sobald es um das furtwänglersche Prinzip der Trennung von Kunst und Politik geht. Einerseits führt Shirakawa vor, wie Furtwängler – sofern möglich – fest nach diesem Ideal gehandelt habe. So habe er versucht in keine offiziellen Veranstaltungen involviert zu werden22 und sei nicht müde geworden, sein Ideal auch nach außen kundzutun und zu verteidigen.23 In direktem Widerspruch zu diesem Ideal stehen bei Shirakawa jedoch allzu politische Interpretationen der künstlerischen Aktivität Furtwänglers, sofern sie denn seiner Apologie dienlich sind. Wiederholt besteht Shirakawa darauf, dass ein Zusammenhang zwischen Musik und Politik trotz dessen gegenteiligen Beteuerungen auch für Furtwängler bestehe.24 Letztlich bleibt Shirakawa eine eindeutige Klärung schuldig, welchen Standpunkt er Furtwängler in dieser Frage zuschreiben möchte.

II. Die Politisierung der Musik In The Devil’s Music Master wird gar nicht erst versucht zu entschuldigen, dass Furtwängler entgegen häufiger Ratschläge in Deutschland verblieb. Vielmehr wird hierin nichts Kompromittierendes gesehen, sondern die mutige Entscheidung eines 18 Ebd., S. 294. 19 Ebd., S. 241. Shirakawa trifft diese Aussage mit dem Eingeständnis, dass Furtwängler für berufliche und karrierebedingende Politik, Intrigen und Ränkeleien hingegen überaus empfänglich gewesen sei. 20 Ebd., S. 153. 21 Vgl. ebd., S. 286. 22 Vgl. ebd., S. 176. 23 Vgl. ebd., S. 162f., 202f. 24 Vgl. ebd., S. 284, 432.

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vereinzelten Widerstandskämpfers: „Furtwängler never joined the Nazi-Party and openly acted against the regime until its fall“.25 „He became a leading figure in the resistance inside Germany despite later efforts to prove otherwise“.26 Shirakawa schreibt Furtwängler also eine aktive Rolle im innerdeutschen Widerstand zu. Anstatt wie viele andere Künstler und Intellektuelle den Weg in die ‚innere Emigration‘ zu wählen, habe er seine öffentliche Präsenz aus Überzeugung nicht aufgeben wollen: „He could have withdrawn into an ‚inner emigration‘. [...] That would have been one kind of resistance. But Furtwängler had grown up with the conviction that belief must give rise to action. [...] In acting on that belief, he found himself the unofficial leader of the ‚inner emigration‘ anyway“.27

Die Frage ist jedoch, worin genau Furtwänglers offener Widerstand gegen die Nazis bestanden habe. Die Antwort Shirakawas ist verblüffend in Anbetracht des ehernen Ideals des Dirigenten, Kunst und Politik voneinander getrennt zu halten: „He was not about to join a resistance movement, but music making itself now became a symbol of his own kind of opposition to Hitler and totalitarianism, and Furtwängler saw that this was his destiny“.28

Shirakawa erklärt also Furtwänglers Konzerte zu politischen Demonstrationen: „The very act of performing music – especially the German masters – expressed his opposition to the regime“.29 Dass sich insbesondere die deutschen Meister zum Protest eigneten, muss sich also für Furtwängler gut getroffen haben, denn auch die Nazis, allen voran Hitler, hatten bekanntlich ihr Faible für Beethoven, Wagner und Bruckner. Dies wird dem Dirigenten hoffentlich die Tarnung seiner Protestveranstaltungen erleichtert haben. Shirakawa ist auf diesem Auge nicht blind und bestätigt, dass „this form of insurgency dwelt beyond the Gestapo’s terrain; there was no concrete means of identifying it and so it could not be easily terminated“.30 Hier tut Shirakawa geradezu so, als ob Furtwänglers Dirigat den Nazis nie Propagandageschenk sondern bloßer Dorn im Auge gewesen wäre. Man fragt sich bald, wie es Shirakawa nur gelingen konnte aufzudecken, was schon der Gestapo nicht gelungen war. Letztendlich zeigt er selbst auf, dass er sich mit seiner Interpretation im Bereich purer Spekulation befindet. Als einziges Indiz, dass Furtwänglers Konzerte subversive Veranstaltungen gewesen sein sollen, dienen ihm vereinzelte Aussagen von Intellektuellen und Widerstandskämpfern, die sich persönlich durch Furtwänglers Musik bestätigt gesehen haben.31 Anhänger des Widerstands sollen sich regelmäßig in Furtwänglers Konzerten versammelt haben, und sogar das 25 26 27 28 29 30 31

Ebd., S. x. Ebd., S. xi. Ebd., S. 269. Ebd., S. 271. Ebd., S. 275. Ebd., S. 271. Vgl. ebd., S. 435.

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Hitler-Attentat des 20. Juli sei zwischen 1943 und 1944 während der Konzertpausen geplant worden.32 Shirakawa gesteht jedoch ein, dass Furtwängler zugleich immer für „alle Deutschen“,33 auch für solche, die genau über Auschwitz Bescheid wussten, und sogar für Hitler persönlich musizieren musste. So lässt sich die Widerstandskraft seiner Konzerte abschließend weder quantifizieren noch nachweisen. Durch die allseits bekannten Konzert-Zusammenschnitte der Wochenschau aus Goebbels’ Propagandafabrik ist einem jedoch das Bild eines nur allzu homogenen Publikums ins Gedächtnis gebrannt, das einem so gar nicht rebellisch vorkommen möchte. Es bräuchte vermutlich den gleichen Willen zur freien Interpretation, um sich von Shirakawas Gegendarstellung zweifellos überzeugen zu lassen. Shirakawa interpretiert jedoch nicht nur Furtwänglers Reisen und Konzerte als politische Symbole, sondern erkennt schließlich auch in seinen Aufnahmen und sogar Kompositionen verschlüsselte politische Botschaften. So widmet er ein ganzes Kapitel – „The Live Recordings I: The War Recordings“ – der Interpretation jener Aufnahmen der Deutschen Grammophon, die zwischen 1942 und 1944 entstanden. Auch diese stellen im Verständnis Shirakawas ein politisches „statement of the most unusual sort“ dar.34 Im Schlusschor von Beethovens Neunter, aufgenommen am 24. März 1942, hört er Schillers Ode mit solcher Wucht vorgetragen, dass sie zum Dies Irae und zu dunkler Vorahnung transformiere.35 Im November 1943 hingegen klingt aus dem Finalsatz der Siebten Symphonie Beethovens jenes ‚wahre Deutschtum‘, „‘the true German spirit,’ a spirit that in this performance transcends national and ethnic lines“.36 Gezielte Spekulation und interpretative Freizügigkeit finden sich schließlich auch in den Deutungen der Kompositionen Furtwänglers. Als dieser in der Folge des Hindemith-Skandals seine Ämter verlor, habe er eine neue Form des Widerstandes für sich entdeckt, das Komponieren: „Furtwängler took the time to embark on a series of compositions that reflected his opposition to totalitarianism. [...] They were the Sonata for Violin and Piano in D Minor and the Symphonie Concertante [sic] for Piano and Orchestra in B Minor“.37 Shirakawa weigert sich weiterhin beharrlich, Furtwänglers Credo – Trennung von Musik und Politik – ernst zu nehmen und führt es nun endgültig ad absurdum. Abgesehen vom direkten Widerspruch zu Furtwänglers eigenen Aussagen, sind Shirakawas Interpretationen auch historisch unpräzise. So stellt Chris Walton anhand der Kompositions-Skizzen fest, dass Furtwängler an den Kompositionen, etwa am Symphonischen Konzert für Klavier und Orchester, bereits fast 20 Jahre gearbeitet hatte und es 1937 lediglich fertig stellte.38 32 33 34 35 36 37 38

Vgl. ebd., S. 436. Ebd., S. 436. Ebd., S. 432. Vgl. ebd., S. 483. Ebd., S. 438. Ebd., S. 205. Vgl. Walton, Doppelagent, S. 19. Walton deutet weiterhin die Möglichkeit einer alternativen Erklärung an, warum Furtwängler sich erst nach so langer Zeit wieder mit seinen Kompositionen an die Öffentlichkeit begab. Nicht die Möglichkeit politischer Agitation, sondern schlicht die Erwartung besserer Pressereaktionen könnten den kritikempfindlichen Furtwängler veranlasst haben. Zuletzt waren seine Kompositionen schlimm verrissen worden – etwa nach der

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So hätte Furtwängler seinen Anti-Nazi-Protest bereits nach dem Ersten Weltkrieg zu komponieren begonnen.

III. Historische Fehlakzentuierungen In Anbetracht tatsächlichen Widerstandes, der auch für Musiker und Künstler oft mit Internierung und Tod endete, mutet als unverhältnismäßig und respektlos an, Furtwänglers Konzerte zu Oppositionssitzungen, seine Musik als subversiv, und seine gesamte Person zum offenen Widerstandskämpfer zu stilisieren. Endgültig findet man sich im Bereich der Übertreibung und blühenden Phantasie wieder, wenn Shirakawa behauptet, dass „nobody else in the Third Reich at this point [gemeint ist das Jahr 1943] was taking any kind of stand against the Nazis except Furtwängler“.39 Es scheint, als sei das Maß der Beurteilung einzelner Lebensstationen Furtwänglers und die Gewichtung historischer Zusammenhänge ausschließlich dem Zweck der Apologie unterstellt. Diesen Eindruck gewinnt man insbesondere bei Shirakawas Einordnung und Bewertung von Emigration und Entnazifizierungsverfahren. Sein Ziel, Furtwänglers Verbleiben in Deutschland aufzuwerten, strebt Shirakawa daher durch latente Abwertung der Emigration an. So findet sich die – abermals unbelegte – Mutmaßung, dass Furtwänglers Verwegenheit so manchen Emigranten in Verlegenheit gebracht habe: „While many prominent German artists abroad were astonished by Furtwängler’s gall in standing up to the Nazis, they were embarrassed by it too“.40 Obwohl sich Shirakawa von einer allgemeinen Psychologie der Emigration fernhält, lässt er sich vereinzelt auf derartige Pauschalisierungen ein. Worin aber die Möglichkeit überhaupt erst bestehen kann, dass emigrierte Künstler Hochachtung vor Furtwängler haben, sich in Anbetracht seiner Leistungen ihrer Emigration angeblich gar schämen sollen, führt Shirakawa exemplarisch an Thomas Mann und Bruno Walter vor. Thomas Mann, gegen den er einen besonderen Gram zu hegen scheint, habe seine Botschaften nur aus „sicherer Distanz“ angebracht und sei aufgrund seines eigenen Antisemitismus als „anti-Nazi

Uraufführung der Symphonie D-Dur (1903) oder des Te Deum (1910). Nachdem nun keine freie Presse mehr bestand und Furtwängler zudem Verbindungen zum Propagandaminister Goebbels genoss, konnte er sich vielleicht guter Kritiken sicherer sein und daher wieder an die Öffentlichkeit trauen. 39 Shirakawa, The Devil’s Master, S. 288. 40 Ebd., S. 298.

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crusader“ ohnehin unglaubwürdig.41 Bruno Walter hingegen habe schließlich von der Emigration vor allem profitiert.42 Bezüglich des Entnazifizierungsverfahrens gegen Furtwängler lässt Shirakawa keinen Zweifel an seiner Meinung. Das Ganze sei ein ebenso sinnloses wie ungerechtes Spektakel, eine Zirkusveranstaltung, Schwindel und Heuchelei gewesen: „cant“43, „bogus operation“44, „circus“45, „kangaroo court“46. Wirklich problematisch wird es jedoch erst, da Shirakawa sich auf historische Erklärungen dieser Prozesse im Allgemeinen einlässt. Anfänglich sieht er die Logik der Entnazifizierung darin, nicht das deutsche Volk zu bestrafen, sondern eine Ideologie durch Verurteilung ihrer schlimmsten Vertreter auszutreiben, ein „process of exorcism“.47 Keine zwei Seiten später hingegen identifiziert Shirakawa die Wurzel des Entnazifizierungsgrundsatzes im Konzept der Kollektivschuld. Dieses prä-mittelalterliche Prinzip habe schon oft zu Blutvergießen geführt, etwa bei Verfolgungen von Juden als Christusmörder oder während der britischen Kolonialkriege.48 Jeglichen Gefühls für Relation entbehrend wird hier also die angebliche Siegerjustiz – „the conquerors’ moral machismo“ – mit mittelalterlichen Pogromen und Genoziden auf eine Stufe gestellt.49 In diesem Kontext offenbart Shirakawa auch ein eigentümliches Mitgefühl und Verständnis für das vermeintliche Unrechtsbewusstsein der Deutschen in dieser Situation: „This philosophical stance taken by the allies deeply embittered Germans who already were enduring the hell of annihilation“.50 Der Schilderung nach klingt es, als seien es geradezu die Deutschen gewesen, die – der Ausrottung nahe – soeben erst aus den Vernichtungslagern befreit worden wären oder einen totalen Vernichtungskrieg der Alliierten überlebt hätten, um zu allem Überfluss nun auch noch Opfer anti-moderner Willkürjustiz zu werden. Das deutsche Kriegs- bzw. Nachkriegsschicksal als „the hell of annihilation“ zu bezeichnen ist krasse Geschichtsklitterung. In vermutlich unbeabsichtigter und dabei ungewollt 41 Ebd., S. 136. Siehe auch ebd., S. 265. Chris Walton weist in seiner Rezension von The Devil’s Music Master darauf hin, dass das Buch voller Fehler sei. Einer dieser Fehler sei die Fehldatierung von Wagners 50. Todestag in das Jahr 1932 (Walton, Book Review: The Devil's Music Master: The Controversial Life and Career of Wilhelm Furtwängler by Sam H. Shirakawa, in: Music & Letters 74/4, 1993, S. 619). In diesem Zusammenhang ist jedoch gravierender, dass Shirakawa zugleich auch Thomas Manns bedeutenden Wagner-Vortrag (Leiden und Größe Richard Wagners) – in dessen Folge ein wütender Protest gegen Mann ausbrach, der seine Emigration mit veranlasste – um ein ganzes Jahr rückdatiert mit der Bemerkung: „Thomas Mann, of course, has had difficulties with the Nazis even before the takeover“ (Shirakawa, S. 135). In Anbetracht der wiederholten Aussage, Mann habe seine Wortmeldungen aus „sicherer Ferne“ verlauten lassen, und einer generellen Abwertung Thomas Manns im Vergleich zu Furtwängler fällt diese eklatante Fehldarstellung der Vita Manns besonders schwer ins Gewicht. 42 Vgl. ebd., S. 306. 43 Ebd., S. 299. 44 Ebd., S. 301. 45 Ebd., S. 311. 46 Ebd., S. 334. 47 Ebd., S. 298. 48 Vgl. ebd., S. 300. 49 Ebd., S. 302. 50 Ebd., S. 300.

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zutreffender Weise zeugt das Bild, das Shirakawa von der deutschen Nachkriegsgesellschaft zeichnet, von wenig Reue und Einsicht: „most of them felt the denazification process was stupid and insulting“.51 Da aber diese Charakterisierungen abermals unbelegte Spekulation sind, bleibt auch in diesem Punkt wenig objektive Erkenntnis.52

IV. Empathie und Mythos Die perspektivische Schilderung bestimmter Passagen stellt ein allgemeines Manko in The Devil’s Music Master dar. Man fragt sich, ob es einfach Shirakawas persönlicher Schreibstil oder ein rhetorischer Kniff zur Lenkung der Sympathien ist, dass man so oft Einblick in die scheinbaren Gedanken Furtwänglers geschenkt bekommt. In regelmäßigen Abständen erfahren wir, wie Furtwängler über bestimmte Sachverhalte angeblich denkt und fühlt. Harmlosere Ausschmückungen sind etwa die Schilderung, wie Furtwängler nach einer Besprechung mit Hitler im Zug verreist: „He sank into the armchair relieved that he had at least won half the argument“.53 An anderer Stelle werden wir bereits Zeuge, wie Furtwängler während eines Waldspazierganges in Bayern früh im Jahr 1935 offenbar die Parzen in den Kopf schossen, um ihm Wichtiges zu flüstern: „During his walks in the woods, the prospect of having to leave Germany haunted him. His destiny was to be a composer, and he realized that the Fates had brought him to this low ebb to remind him of his real mission. And looking about him in the woods, he now understood [...] that he was [...] a German“.54

Dass die Schilderung derartiger Gedankengänge oder Gefühle die Fiktion Shirakawas sind, entlarvt er schließlich selbst: Es ist die Rede von der zunehmenden Gewalt in den Straßen, von der Gefahr und der verschlechterten Situation in Deutschland, nachdem Hindenburg am 2. August 1934 gestorben war, Hitler auch die Präsidentschaft übernommen und somit seine Führerschaft weiter konsolidiert hatte. „If he was aware at all, Furtwängler felt it would somehow soon blow over“.55 51 Ebd., S. 309. 52 Diese Passagen, in denen sich deutlich Empathie für die deutsche Nachkriegsgesellschaft erkennen lässt, sollten mit der Darstellung einer anderen Begebenheit ins Verhältnis gesetzt werden. Shirakawa schildert, wie es am 8. November 1947 anlässlich des ersten Furtwängler-Konzertes nach dem Krieg in Wien zu Protesten von etwa 150 Überlebenden der Konzentrationslager kam. Die Demonstranten versuchten mit Gewalt, Furtwängler den Eingang zu verwehren. Nicht einmal die Polizei habe es jedoch über sich gebracht dieser Gruppe – in der vielen die Behandlung in den Lagern noch anzusehen gewesen sei – mit Gewalt entgegenzutreten. Shirakawa bezeichnet die Demonstranten als „pack“– ein abschätziges Wort, dessen Nuancen in Übersetzung von „Meute/Bande“ bis hin zum deutschen Wort „Pack“ reichen können (ebd., S. 347). Man vermisst doch sehr das gleiche Verständnis und Mitgefühl, das Shirakawa für die vor Gericht stehenden Täter so bereitwillig aufbringt. 53 Ebd., S. 194. 54 Ebd., S. 190. 55 Ebd., S. 179.

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Shirakawa ist sich selbst nicht sicher, aber für den Fall, dass Furtwängler die Probleme überhaupt bemerkt und reflektiert haben sollte, wird er wohl auf diese Weise darüber gedacht haben.56 Derartig telepathische Erzählmomente fielen nicht weiter ins Gewicht, wenn man nicht schon längst den Verdacht hegte, dass sie Teil einer Gesamtrhetorik sind, die insgeheim von Anbeginn die Apologie Furtwänglers erzwingen will. Hinter diesen Kurzfiktionen deutet sich zudem ein allgemeines und schwerwiegenderes Problem der Biographie Shirakawas an. Zu oft erzählt er frei und ohne Nachweis von Quellen. Weite Abschnitte scheinen dabei auf der Biographie von Curt Riess zu basieren – etwa die Schilderung der Waldspaziergänge früh im Jahr 1935, zu deren Beginn Shirakawa allgemein vermerkt, dass sich bei Riess ein detaillierter Bericht über diese Lebensphase Furtwänglers finde.57 Andere Anekdoten bleiben gänzlich ohne Beleg, etwa wie Furtwängler vor Wut die Holzverkleidung von der Heizung seines Garderobenraums gerissen habe, als er am 25. April 1935 ein Winterhilfskonzert mit den Berliner Philharmonikern geben wollte und sich unerwartet der Führer im Publikum einfand,58 oder wie er sich nach seinem Engagement bei den Wiener Philharmonikern im Jahr 1939 weigerte, mit dem Proben zu beginnen, solange an der Wand ein Hakenkreuz prangte,59 Man kann mutmaßen, dass sich Shirakawa solche Anekdoten und unzählige andere unbelegte Informationen in seinen vielen privaten Gesprächen erschloss. So hat er z. B. Interviews und Gespräche mit Yehudi Menuhin, Friedelind Wagner, Elisabeth Furtwängler, Sergiu Celibidache, Claudio Abbado und vielen anderen geführt. In jedem Fall wären sorgfältigere Belege und Quellenangaben der Vertrauenswürdigkeit seiner Biographie zuträglich gewesen. Wenn man Shirakawas Tendenz zur Ausschmückung und Wiedergabe nicht belegter Gedanken als einen literarischen Schreibstil auffasst, so entspricht dem schließlich auch sein Hang, Furtwängler zum Protagonisten eines Heldenepos zu stilisieren. Er kündigt bereits im Vorwort an, dass Furtwänglers Lebensschicksal von mythologischer Größe sei und den Vergleich mit den Epen und Dramen der Griechen nicht scheuen müsse. Die Versicherung, Furtwängler sei eine tragische Figur „in the classical sense of the word“,60 „in the plangent and fearsome sense 56 Bisweilen scheint auch die Gedankenwelt anderer Charaktere in der Erzählung Shirakawas durch. Auf geschmacklose Weise wird etwa Furtwänglers Sekretärin Berta Geissmar während der Schilderung eines Konflikts mit Goebbels – offenbar im hypothetischen Wortlaut des Propagandaministers – als „schweinische jüdische Sekretärin“ bezeichnet. Es geht um ein persönliches Treffen zwischen Furtwängler und Mussolini, welches sie im Rahmen einer kurzen Italientour der Berliner Philharmoniker im Mai 1934 organisiert hatte: „Goebbels was livid, for a swiney Jewish secretary whose skills he made no secret of envying had managed to garner a diplomatic relations victory with neither help nor approval of his Ministry“ (ebd., S. 176). Derart unvorsichtige Formulierungen bleiben leider kein Einzelfall, so werden an anderer Stelle die Opfer der Menschenversuche des KZ-Arztes Mengele „his human guinea pigs“ genannt (ebd., S. 433). Den Beginn der Judenverfolgung und Überprüfung von jedermanns Stammbaum auf der Suche nach „jüdischem Blut“ umschreibt Shirakawa als „deadly Trivial Pursuit of the time“ und spielt hiermit auf ein populäres Brettspiel der 80er und 90er Jahre an (ebd., S. 151). 57 Vgl. ebd., S. 190. 58 Vgl. ebd., S. 196. 59 Vgl. ebd., S. 251. 60 Ebd., S. xi.

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with which the Greeks used that word“61 oder „in the Aristotelian sense of that word“,62 zieht sich wie ein Leitfaden durch den Text, offenbar um der Erzählung Gewicht zu geben. Die Tragik Furtwänglers bestehe also darin, dass er seinem Ideal – „wahres Deutschtum“ („Germanness“) – treu blieb63 und sich auf musikalische Mission begab,64 jedoch hierin nie Anerkennung fand. Sie besteht nicht etwa darin, dass Furtwängler möglicherweise mangels besseren Wissens Fehler begangen haben mag, oder durch äußere Umstände und eigene Fehlentscheidungen zunehmend verwickelt wurde. Im Gegenteil, die Tragik des Wilhelm Furtwängler sei „that tragic paradox of being right in what many still believe was the wrong way“.65 Furtwängler war unfehlbar und es sind nur die Menschen, die dies einfach nicht begreifen wollen. Shirakawa bemüht die Metapher des göttlichen Prometheus, der den Menschen das Licht der Kultur bringen wollte, für seine Hybris66 jedoch letztendlich bestraft wurde. Ein Kapitel des Buches trägt daher den Titel „Prometheus Agonistes“,67 Prometheus, der Kämpfer. Als Furtwängler jedoch in der Folge des Hindemith-Skandals vorübergehend das öffentliche Podium entzogen wurde, besann er sich laut Shirakawa aufs Komponieren, und wird in dessen Metaphorik nun zum Orpheus: „If he had harbored Promethean longings, Furtwängler was now bereft of his torch. [...] If he identified himself with Orpheus, however, there was still one instrument the Nazis could not take away from him“.68 Gemeint ist das Komponieren. Shirakawa kleidet seine Biographie also in den Schmuck mythologischer Allegorien. Wo der Motivreichtum der griechischen Götterwelt nicht ausreicht, findet er auch andere Quellen für literarische Allusionen. In einer langen Fußnote zieht Shirakawa noch Herman Hesses Steppenwolf heran, um Furtwänglers Entrückung in das metaphysische Kabinett der Unsterblichen der deutschen Kultur – wie Beethoven und Mozart – zu umschreiben.69 Um wiederum das komplexe Spannungsverhältnis der Antipoden Furtwängler und Karajan zu verdeutlichen, muss zuletzt sogar Stephen King herhalten, obwohl auch dies der mythologischen Metapher nicht ermangelt: „If Furtwängler believed in a world in which all things have their time and place, and he did, Karajan alternately embodied Aeschylus’ Eumenides, pursuing him relentlessly, and Stephen King’s obsessively adoring Anne Wilkes, hobbling him to new heights of inspiration“.70

61 62 63 64 65 66

67 68 69 70

Ebd., S. 156. Ebd., S. 267. Vgl. ebd., S. 156. Vgl. ebd., S. 267. Ebd., S. 367. Den ansonsten fehlerfreien Furtwängler befindet Shirakawa einzig der Hybris schuldig. Seiner Sache sicher, habe er zu großen Stolz ausgebildet: „However altruistic or untainted by greed or self-gain, his confidence in the rightness of his actions constituted that unforgivable offence to the gods of antiquity: Hubris – overweening pride“ (ebd., S. 267, siehe auch S. 336). Ebd., S. 158. Ebd., S. 189–190. Vgl. ebd., S. 267–268. Ebd., S. 487.

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Nimmt man Shirakawas Bemühungen in The Devil’s Music Master zusammen, verbleibt der Eindruck einer tour de force, die mit allen dafür erforderlichen Mitteln die vollkommene Apologie des Wilhelm Furtwängler herbeizuführen versucht. Furtwänglers Ansichten über das Verhältnis von Kunst und Musik werden beliebig uminterpretiert, bis zuletzt sogar seine Musik – Konzerte, Plattenaufnahmen, Kompositionen – als politische Statements des Widerstands verstanden werden sollen. Historische Abläufe treten ins verzerrende Licht einer subjektiven Perspektive, während sich die Biographie Furtwänglers stilistisch und formal einer Fiktion annähert. Anstatt sachlich einen Künstler mit seinen Errungenschaften aber auch Fehlern zu zeichnen, unternimmt Shirakawa in seiner Furtwängler-Biographie den Versuch, ein deutsches Heldenepos zu schreiben. Der Aufgabe, seinem verkannten Helden, jenem „unsung hero of the German resistance“ nun endlich den gebührenden Lobgesang zukommen zu lassen, nimmt Shirakawa sich sodann mit derartigem Pathos an, dass sehr schnell durchscheint, wie sehr er – offenbar vom prometheischen und orpheischen Glanz des Furtwängler geblendet – für eine wissenschaftliche Biographie doch allzu parteiisch und voreingenommen vorgeht. Im Grunde gilt für Shirakawa, was Carl Dahlhaus bereits für Priebergs Kraftprobe geltend machte,71 nämlich dass die überwältigende Recherchentiefe und Neuerschließung von Quellen und Archivmaterial von größerem Nutzen gewesen wären, wenn man die Fakten hätte sprechen lassen, anstatt den Ergebnissen durch offensichtlich längst gefestigte Überzeugungen vorzugreifen. Indem es den Bogen der Interpretation überspannt, verliert The Devil’s Music Master am Ende die Glaubwürdigkeit und verpasst damit eine große Chance.

71 Vgl. Dahlhaus, Kraftprobe, S. 114.

Vom jüngeren Umgang mit einer Musikerikone von ALBRECHT RIETHMÜLLER

Einem Historiker sollte es inzwischen nicht schwerfallen, drei im Dritten Reich exponierte, kreativ höchst begabte Persönlichkeiten in einer Reihe zu sehen: den Architekten Albert Speer, die Filmemacherin Leni Riefenstahl und den Dirigenten Wilhelm Furtwängler. Die Aussicht darauf, mit der Erbauung der Hauptstadt Germania die Krönung einer einmaligen Exzellenzkarriere zu erreichen, zerstob mit dem Ende des Deutschen Reiches, und der vormalige Minister saß stattdessen gut 20 Jahre in Haft; nach dem, was inzwischen bekannt ist, wäre er im Nürnberg wohl zum Tode verurteilt worden. Die Schauspielerin und Regisseurin erlitt ebenfalls einen herben Karriereknick, sofern Bühnen und Filmstudios von Rang ihr keine Plattform mehr boten, und die Öffentlichkeit hat sie erst mehr als ein halbes Jahrhundert später, als sie 100 war, ein wenig zurückgeklatscht. Ganz anders verhielt es sich im Falle des Dirigenten: Noch vor seinem Entnazifizierungsverfahren versuchten die Sowjets, ihn als Orchesterleiter nach Moskau zu locken, und die heimische Fangemeinde konnte es kaum erwarten, ihren Pultstar wieder auf dem Podium zu sehen. Der Sonderfall hat zunächst einmal mit dem Medium Musik und hier speziell dem Nimbus der klassischen Musik zu tun, nicht mit einer einzelnen Person. Es zahlte sich am Ende des Zweiten Weltkriegs aus, dass man Musik durchweg (wie den Sport) als unpolitisch angesehen hat. Unter ihren Rock konnten die Musiker nun schlüpfen. Es wurde ihnen und zumal auch den prominenten, recht eigentlich kein Haar gekrümmt. Mehr noch, die Bemühungen um Entnazifizierung und Reeducation konnten als bloße Belästigung und Beleidigung empfunden werden, sofern sie sich auf Subjekte richtete, die doch per se einerseits unpolitisch, andererseits kulturtragend waren, und dieses erst recht in den Fällen, in denen man sie als genial vergötterte. Weil sie Musiker waren, hielt man sie für ethisch gut, für moralische Leuchttürme. Davon profitierte das Flaggschiff des deutschen Musiklebens Furtwängler nicht wenig. Bei ihm allerdings intensivierte sich die Angelegenheit durch einen bis heute ungebrochenen Personenkult, in dem die Anhänger, ob nun bloße Hörer, musisch gestimmte Kulturwissenschaftler oder Musikkritiker, Musiker und die internationale Kollegenschaft meist widerspruchslos übereinstimmen. Der Kult gilt zwar der eminenten Künstlerfigur, aber er duldet es selbst 65 Jahre nach dem Tod des Dirigenten nicht, dass ein Schatten auf die Lichtgestalt fällt. Was 1945 als Apologie seinen Anfang nahm, ist nun vollends in Hagiographie aufgegangen.

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Grundsätzliches hat sich im Lauf der vielen Jahrzehnte nicht geändert. Die Ambivalenz, dass der gefeierte Maestro zugleich auch, wie man anfangs noch plakativ reden hörte, des Teufels Kapellmeister gewesen sei, wurde diskursiv entweder nicht geduldet oder blieb ein Kavaliersdelikt. Der mit Furtwängler bekannte Dirigent Jascha Horenstein beendet eine als schwarz-weiß Videoclip erhaltene Stellungnahme, in der er den elitär denkenden Furtwängler einen „great musician“, zugleich aber einen „weak man“ nennt.1

1. Strategien des Modellierens Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die 22 CDs umfassende Box mit einem fast zweihundertseitigen zweisprachigen und reich bebilderten Booklet, die 2018 im Namen der Berliner Philharmoniker herauskam und die mit dem Orchester unter Furtwängler die Rundfunkmitschnitte der Konzerte während des Zweiten Weltkriegs in klanglich restaurierter, modernisierter Fassung enthält.2 Auf DVD-Hüllen, Covers von Langspielplatten und CD-Beigaben sind superlativische Versprechen und vollmundige Anpreisungen sehr wohl üblich, aber die hier suggerierte Lesart, dass dieses Orchester und dieser Dirigent nie auf einer solchen Höhe ihres Könnens waren wie in jenen Kriegsjahren, verwundert doch bei einer Edition, die nicht reißerisch, sondern besonders seriös und penibel in Erscheinung treten möchte. Sofern Furtwängler Rundfunkmitschnitten mit Misstrauen begegnete, Schallplattenproduktionen bevorzugte und der Veröffentlichung womöglich gar nicht in allen Fällen zugestimmt hätte, führt die Edition den Dirigenten eher vor, als dass sie ihm dient. Für die nachfolgenden Generationen von Musikern des Orchesters wiederum ist es kein Kompliment zu erfahren, dass sie allenfalls Nutznießer vergangener Größe, selbst aber nicht mehr auf derselben Höhe sind. Hier scheint die nostalgische Beschwörung der Kriegszeit über die üblichen Werbeversprechen des kulturindustriellen Kommerzes hinauszugehen. Die Edition hat international Beachtung gefunden. Der verdiente New Yorker Musikschriftsteller und Konzertproduzent Joseph Horowitz hat in einem Blog die beiden Musikgiganten Furtwängler und Schostakowitsch zu Kriegszeiten nebeneinander gestellt, um die These zu stützen, dass die Zeitumstände Einfluss auf das jeweilige Hic et nunc einer musikalischen Aufführung genommen haben.3 Dass ein Musiker seine Interpretation eines Werkes während seiner Laufbahn entwickelt, verändert, verbessert ist eine Selbstverständlichkeit, wobei eine Vielzahl an künstlerischen und persönlichen Motiven beteiligt sein kann. Auch äußere Einflüsse sind stets zu gewärtigen: Jedes Reiseorchester kennt das Problem, wenn es sich instantan womöglich unerwartet einer ungünstigen Raumakustik anpassen muss, geschweige 1 2 3

Jascha Horenstein on Wilhelm Furtwängler, auf youtube eingestellt von Misha Horenstein im Dezember 2011. Berliner Philharmoniker, Wilhelm Furtwängler. The Radio Recordings 1939–1945, Copyright 2018 Berlin Phil Media. Furtwängler and Shostakovich, Bearing Witness in Wartime (blog), auch unter dem Titel Furtwängler in Wartime (ebenfalls blog) 25. Februar 2020.

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denn, wenn die Aufführenden speziellen Regularien der Veranstalter ausgesetzt sind. Wenn es beispielsweise bei den Bregenzer Opernaufführungen auf der Seebühne zu regnen beginnt, dann hat das Publikum ein Anrecht darauf, den Ticketpreis erstattet zu bekommen, wenn der Abbruch der Vorstellung vor dem 2. Akt geschieht. Es liegt auf der Hand, dass Alles darangesetzt wird, den 2. Akt zu erreichen, falls es schon im 1. zu regnen beginnt; dem schon pudelnassen Publikum wird eine extrem verkürzte Pause gewährt, damit der 2. Akt rasch beginnen kann, ehe die Aufführung wenige Minuten später beendet wird. Derlei bleibt schwerlich ohne Einfluss auf die Performance. Im Falle von Furtwängler sieht man nun, dass Horowitz geneigt ist, die orchestralen Darbietungen mit dem Leben in Berlin während der Kriegsjahre, den Bombardierungen der Stadt, den seinerzeitigen Mentalitäten ihrer Bevölkerung, ja sogar der Verfassung vom Volk und Nation zu verbinden. Aber es steht zu fürchten, dass das wenn auch nicht ausschließlich, so doch hauptsächlich als Projektion dessen zu gelten hat, was spätere Generationen über die Zeit in Berlin und Deutschland wissen, um die fraglichen Furtwängler-Aufführungen zu entschlüsseln. Wenn Furtwängler etwa im langsamen Satz der großen schubertschen C-Dur-Sinfonie eine Generalpause nun noch länger ausdehnt als sonst, dann lässt sich vielleicht sagen, dass das die Spannung erhöht und die Emotion intensiviert, es auf einen kriegsbedingten Umstand zu reflektieren, wäre als platte Form einer ästhetischen Widerspiegelung methodisch bedenklich. Außerdem müsste sich doch eine Entwicklungslinie vom siegesgewohnten Kriegsbeginn zum Zusammenbruch am Ende wenigstens andeutungsweise nachzeichnen lassen, was aber offenbar niemand zu behaupten wagt. Musik erscheint weder als Werk noch in der Aufführung von sich aus so deutlich, dass wir, ohne etwas in sie hineinlegen zu wollen, vernehmen könnten, wann Furtwängler nun noch an den Endsieg geglaubt hat und ab wann womöglich nicht mehr. Das lässt sich übrigens selbst aus den Schriftquellen nicht zweifelsfrei erschließen, wäre für die These der Musico-Semantiker jedoch von Belang.

* Exkurs: Der Verfasser hält an dieser Stelle eine persönliche Anmerkung für angebracht, obwohl sie notwendigerweise subjektiv bleibt. Kurz nach Furtwänglers Tod hat er als Kind die ersten Aufnahmen des Dirigenten gehört und zu schätzen gelernt, wobei seine Vorlieben bis heute konstant geblieben sind. Am meisten beeindrucken ihn die Interpretationen der Musik von Schubert, daneben Mozart und Wagner wegen der perfekten Balance zwischen der Subtilität im Melodischen bzw. Harmonischen – dem Legato, auf das der Dirigent so großen Wert legte –, dem Raffinement des Rhythmischen und der Farbenpracht des Klanglichen. Bei Beethoven bevorzugt er die lyrischeren Sätze und bewundert die Dramaturgie der spannungsvollen Steigerungen, nicht hingegen die bei Furtwängler schroff und forciert ausfallenden Partien. Mit Furtwänglers Art, Bruckner zu dirigieren, ist er nie warm geworden (trotz aller Sympathie für den Standpunkt des Dirigenten gegenüber den so genannten Urfassungen); insbesondere in der 5., 8. und 9. Sinfonie – vor, während, oder nach dem zweiten Weltkrieg – ist ihm die Auffassung des Monumentalen zu schroff und

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aufgeregt in Richtung einer Ecclesia militans. Auch deshalb tut er sich einigermaßen schwer damit, das Hineinlesen von Kriegsumständen in die jeweiligen Aufnahmen von Orchesterwerken zu goutieren. Warum ist man darin so eifrig, während nicht darauf verwiesen wird, wie entspannt, gutgelaunt und schalkhaft selbst in den Jahren 1943 und 1944 von Furtwängler mit den Wiener und Berliner Philharmonikern ebenfalls noch musiziert worden ist, ob nun bei Gelegenheit der Sinfonia domestica von Strauss, dem Finale der 2. Sinfonie von Brahms oder der Ouvertüre Leonore III. Die in Erläuterungen zu Furtwängler seit Jahrhundertbeginn beobachtbare Tendenz, die in Krieg entstandenen Aufnahmen mit irgendetwas an Gewalt und Kampfhandlungen zusammenzubringen, dürfte auf die um 1990 aufgekommene und seither Musikkritiker und Musikologen nachhaltig beschäftigende These von Beethoven als Gewalttäter zurückgehen. Die Rhetorik von Kämpfen und Kampf gehörte schon vor Kriegsausbruch zum Grundbestand des Dritten Reichs. Sie lag, wie sich unten noch zeigen wird, auch im Horizont Furtwänglers.

* Immerhin bedient Horowitz nicht das sonst so oft gebrauchte Klischee, dass Furtwängler kein Mitglied der Nazipartei war; denn wer auf Hitlers „Gottbegnadetenliste“ stand oder wie auch Sauerbruch und Gründgens zum Promi-Zirkel der Staatsräte als Aushängeschilder der Nazis gehörte, der hatte das so wenig nötig, wie es Angehörigen der Wehrmacht sogar verboten war, in der Partei zu sein bzw., wenn der Eintritt schon zuvor erfolgt war, musste die Mitgliedschaft ruhen. Aber an der durch und durch entpolitisierten Sicht des Kriegsaufnahmen-Booklets nimmt er keinen Anstoß. Er ist sich angesichts von Furtwängler eines Zwiespalts durchaus bewusst – „a performing artist as controversial as legendary“, aber am entscheidenden Punkt drückt er ihn von der aktiven Rolle des Künstlers in jene Passivität, die man geschichtlich erleiden muss, ohne eine eigene Rolle zu spielen. Die furtwänglersche Emphase vom Publikum als mit dem Dirigenten verbundener, sozusagen verschworener Gemeinschaft erscheint ihm zwar als Problem, sofern die „strategies of shared expression“ keineswegs gegen alles gefeit, sondern „susceptible to evil intent“ seien. Damit ist die Last vom Akteur genommen, sofern es sich eben um ein Problem „inherent to culture itself“ handle. Auf der einen Seite wünscht man sich also, dass der Maestro in seinen Interpretationen die Zeitumstände reflektiert, auf der anderen Seite macht man ihn anfällig für üble Absichten, die aber nicht die seinen sind, sondern von der Geschichte aufgezwungen werden. Das Versetzen in die Passivität dient erkennbar der Entlastung. Am Ende zeigt sich ein gewisses Paradox. Einerseits sollen Furtwänglers während des Krieges entstandene Rundfunkaufnahmen etwas von ihrer Entstehungszeit spiegeln, andererseits soll Furtwängler nicht in das politische Zeitgeschehen hineingezogen werden. Aus dem Essay, den der nicht zuletzt wegen seiner Attacken gegen die Klinghoffer-Oper von John Adams journalistisch weithin bekannt gewordene Musikologe Richard Taruskin aus Berkeley für das Booklet beigesteuert hat, greift Horowitz zwei Zitate heraus, die ungeprüft auf – um es vorsichtig auszudrücken – meinungsstarken Quellen beruhen. Das eine geht auf ein Statement von Arnold

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Schönberg zurück, das damit beginnt „I am sure he was never a nazi“4 – ein Satz, der als Standard bei allen Bewunderern begegnet, ob bei Zeitzeugen oder in der Literatur, und ein Statement, das Horowitz „credibly attested“ findet. Nachdem Schönberg versichert, dass er den Dirigenten für nicht antisemitischer halte als jeden anderen Nichtjuden, kommt er zu dem Schluss: „And he is certainly a better musician than all these Toscaninis, Ormandys, Kussevitskis, and the whole rest.“5 Auch wenn die hier Genannten aus Europa stammten, wirkten sie doch anders als der Deutsche Furtwängler in den Vereinigten Staaten und scherten sich wenig um das Werk des in die USA emigrierten Schönberg, was sie aber ab 1933 mit Furtwängler teilten; Leopold Stokowski, der als einziger Dirigent zu Lebzeiten des Komponisten alle schönbergschen Werke mit Orchester aufführte und die erste Schallplatteneinspielung von Schönbergs Streichquartetten förderte, gehört wohl zum „ganzen Rest“; und gerade ihm galt noch auf Jahrzehnte hinaus die arrogante Verachtung jener Musik-Chauvinisten, die wie Schönberg oder auch Adorno an die Suprematie des Deutschen glaubten und nie müde wurden, den für Modernität und Avantgarde von den 1930er Jahren an immer verschlosseneren Furtwängler auf den Sockel zu heben. Im Booklet bleibt der auf dem kulturellen Antiamerikanismus fußende Hintergrund der schönbergschen Aussagen unkommentiert. Auf einem Zitat von Furtwängler selbst wiederum beruht das andere Statement, das Horowitz aus dem Booklet herausgreift; Taruskin führt dort aus: Furtwänglers „definition of Deutschtum (Germanness) was elastic enough to encompass his Jewish countrymen“.6 In einer Stellungnahme zum 100. Todestag von Mendelssohn habe Furtwängler 1947, zufälligerweise („coincidentally“) im Jahr seiner Entnazifizierung, darauf hingewiesen, dass Mendelssohn, Joachim, Schenker und Mahler sowohl Juden als auch Deutsche gewesen seien und fügte dann „heartbreakingly“ hinzu, sie zeugten davon, dass wir Deutsche „have every reason to see ourselves as a great and noble people“.7 Hier scheint mehr als 70 Jahre danach in Vergessenheit geraten zu sein, welche Funktion solche Äußerungen damals hatten. Um aus dem Schatten der Nazizeit heraustreten zu können und sich selbst zu nobilitieren, war es nicht nur vorteilhaft, sondern geradezu nötig, sich auf jüdische Bekanntschaften zu berufen. Die deutschen Theater beeilten sich, Nathan den Weisen wieder auf die Bühne zu bringen, die Opernhäuser kehrten zu Hoffmanns Erzählungen zurück, und Furtwängler, als er wieder öffentlich auftreten durfte, konzertierte in Berlin mit Yehudi Menuhin, wobei die nicht enden wollenden Ovationen in allererster Linie der Rückkehr ans Dirigentenpult als Akt nationaler Rehabilitierung galten. Auch Orchesterlieder von Mahler hat Furtwängler mit dem jungen Dietrich Fischer-Dieskau bald für den internationalen Markt auf Schallplatte eingespielt. Der Schulterschluss kann nicht verdecken, dass der Maestro zwischen Frühjahr 1933 und dem Ende des Dritten Reichs weder im In- noch im Ausland ein Werk eines jüdischen Komponisten zur Aufführung gebracht hat. Nicht zu übersehen ist es, dass das 4 5 6 7

Bei Taruskin im Booklet, S. 146. Ebd. Ebd., S. 142. Ebd.

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furtwänglersche Argument von 1947 eine rein deutsche Angelegenheit ist, sofern es sich samt und sonders um deutsche Juden handelt. Die in den Zirkeln der klassischen Musik besonders gepflegte Vormachtstellung des Deutschen erscheint in nationalistischer Grundhaltung, und der im Musikleben fest angelegte Panzer war noch nicht abgelegt. In den auf den 22 CDs als Rundfunkaufnahmen enthaltenen Konzerten aus einer Zeit, als ein Großteil Europas deutsch besetzt war, stand nur einmal ein ausländischer Komponist auf dem Programm (Händel galt damals ebenso als deutsch wie traditionell alle Österreicher), und zwar der regimefreundliche, im Deutschen Reich verlegte Sibelius mit En Saga und seinem Violinkonzert. Und in der bemerkenswert frauenlosen Riege der solistischen Instrumentalisten befinden sich gerade einmal zwei Ausländer – beide bei Schumanns Cellokonzert –, nämlich Tibor de Machula, seit 1936 ungarischer Solocellist der Berliner Philharmoniker, sowie der französische Nazi-Kollaborateur Pierre Fournier. Der Musikkritiker des New Yorker Alex Ross zeigt sich denn auch deutlich ernüchterter in seiner vorzüglichen Besprechung der Philharmoniker-Box mit den Kriegsaufnahmen.8 Er setzt nicht nur ein Fragezeichen hinter die Auffassung, dass es sich hier durchweg um den Gipfel des furtwänglerschen Dirigierens handle, sondern blickt auch kritischer auf die Programmpolitik, sofern die beiden zeitgenössischen Orchesterwerke der Rundfunkaufnahmen keinen vorteilhaften Eindruck hinterließen, nämlich die 2. Sinfonie von Ernst Pepping und das Hymnische Konzert für Orgel, Sopran, Tenor und Orchester von Hans Schubert. Jenes sei handwerklich gut gemachte Mediokrität, dieses in seiner faulen Monumentalität („ersatz monumentality“) ein musikalisches Äquivalent zu einem von Brekers nackten arischen Helden. Ross weist auch deutlich auf die Spannbreite der Auffassungsmöglichkeiten hin, sofern Apologeten geneigt seien, aus den Kriegsaufnahmen einen gequälten Trotz („anguished defiance“) herauszuhören, man aber ebenso am Beispiel der Coriolan-Ouvertüre die Bereitschaft zum tödlichen Kampf („willingness to fight to the death“) vernehmen könne. Ohne dass die skeptische Grundhaltung näher ausgeführt ist, wird deutlich, dass Ross den Projektionen misstraut, die den Tönen bzw. der Musik unablässig zugemutet werden, indem sie als Widerspiegelungen oder Einschreibungen behauptet werden. Am Ende gelangt er zu jener Kategorie, die hinsichtlich der Musik für das Dritte Reich wie keine andere strapaziert worden ist: Die Musik als Fluchtpunkt wie als Anker der Humanität. Dort verbinden die Musico-Semantiker sich mit den Anhängern einer ethischen Auffassung von Musik. Ross macht im Rückblick auf eine historische Verwerfung aufmerksam, die er als Widersprüchlichkeit stehen lässt: „The ultimate contradiction is that this music from an inhuman time has a desperate humanity—an emotional recklessness and nakedness. No one registered such a contradiction at the time.“ Auf verstörende Weise, so sein Schluss, führten die Kriegsaufnahmen uns vor Augen, „that humanity is a neutral condition, capable of encompassing beauty and horror in the same instant“.

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The Disquieting Power of Wilhelm Furtwängler, Hitler’s Court Conductor, 2. Mai 2019.

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Es blieb nicht aus, dass die Deutsche Grammophon im Folgejahr 2019 der Philharmoniker-Box mit einer eigenen CD-Edition Konkurrenz machte.9 Sie umfasst nun 34 CDs aus der gesamten Spanne der Aufnahmejahre, also auch der Zeit der späten Weimarer Republik sowie den Jahren nach 1945 samt einer Bonus-DVD mit dem von Furtwängler wenige Monate vor seinem Tod bei den Salzburger Festspielen 1954 dirigierten Don Giovanni. Auch in dieser Sammlung ist der Anteil an LiveAufnahmen erheblich. Das Booklet des international tätigen Unternehmens ist sehr viel unaufwendiger als das der Philharmoniker, dafür aber kritischer. Das erstaunt durchaus in einer kommerziellen Branche, die für die Lobpreisung ihrer Produkte notorisch bekannt ist. Es sind nur zwei kurze Texte vorhanden, und der eine aus der Feder des Musikproduzenten Rob Cowan bedient tatsächlich das zu erwartende Klischee, wenn er verlauten lässt: „Critics are forever positing this or that modern maestro as a possible succcessor to Furtwängler. Dream on is what I say.“ Der andere jedoch, der von dem bekannten Londoner Journalisten Norman Lebrecht stammt, geht mit seinem Gegenstand, der Person Furtwängler, in einer Weise ins Gericht, die im Rahmen einer solchen merkantilen Veröffentlichung so auffällig wie bemerkenswert ist. Im Ton burschikos, bricht er über die Ikone den Stab: „There is nothing morally admirable about Furtwängler the man. The music is another story“. Am interessantesten jedoch ist ein Detail in der deutschen Übersetzung des Beitrags von Lebrecht. Aus „his friend, the slave-master Albert Speer“ wird „seines Freundes und Lieblingsarchitekten Hitlers Albert Speer“. Offenbar hält man es noch immer für nötig, dem deutschen Publikum nicht alles zumuten zu können. Es ist nicht zu übersehen, dass in dem Aufnahmepaket von Deutscher Grammophon und Decca auch nach dem Holocaust der Anteil von Werken ausländischer Musiker bescheiden ist. Und den Namen eines jüdischen Komponisten sucht man wenigstens hier auch nach 1945 vergebens.

2. Wilhelm auf Bühne und Leinwand Das zweiaktige Theaterstück Taking Sides von Ronald Harwood wurde 1995 sowohl im englischen Chichester als auch im polnischen Krakau auf die Bühne gebracht und danach auch auf zahlreichen deutschsprachigen Bühnen gegeben. In Art eines Kammerspiels hat es den Prozess der Entnazifizierung Furtwänglers zum Gegenstand und konzentriert sich in diesem Moment seines Lebens auf die Rolle des Dirigenten im Dritten Reich, ohne biografisch weiter auszugreifen. Erschloss das Theaterstück dem Thema – 50 Jahre post festum, also auch nach einigem Generationenwechsel – neue Publikumsschichten als die bisherige sich vor allem an Musiker und Musikliebhaber richtende Literatur, so verbreitete der Theater- und Filmautor István Szabó den Erfolg des Bühnenstücks in weiteren Rezipientenkreisen durch seine in Berlin gedrehte und 2001 in die Kinos gekommene Verfilmung in einer gleichnamigen britisch-schwedisch-deutschen Produktion, deren deutscher 9

Wilhelm Furtwängler. Complete Recordings on Deutsche Grammophon and Decca, Deutsche Grammophon 2019.

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Synchronfassung der Untertitel „Der Fall Furtwängler“ beigegeben ist. Wie groß die Aufmerksamkeit war, die auf das Stück fiel, zeigt nicht zuletzt, dass schon 1999 eine pädagogisch aufbereitete und auch so abgezweckte englische Ausgabe des Bühnenstücks in einem deutschen Schulbuchverlag erschienen ist.10 Im Mittelpunkt von Taking Sides steht eine Konstellation aus vier Personen. Neben Wilhelm Furtwängler handelt es sich dabei um drei fiktive Personen: den amerikanischen Major Steve Arnold, dem die Vernehmung des Dirigenten obliegt, den Leutnant David Wills als rechte Hand des Majors und die Sekretärin Emmi Straube, die als Deutsche bei den amerikanischen Besatzungstruppen arbeitet. Kern der Handlung ist das Aufeinanderprallen des Majors und des Dirigenten (in Szabós Film verkörpert durch Harvey Keitel und Stellan Skarsgård), wobei kaum zu übersehen ist, dass der Vorname Ronald des in Südafrika geborenen und als Teenager nach England gekommenen Autors Harwood zu seiner Figur des Majors Arnold in umgekehrter anagrammatischer Verbindung steht wie die, die wir darin erkennen können, dass Arnold Schönberg seinen Sohn auf den Namen Ronald taufen ließ. Der in seiner Haltung unnachgiebige Major gerät allerdings mehr und mehr zum allein Agierenden. Zwar versteht es sich von selbst, dass der zu Entnazifizierende ihm verständnislos und verstockt gegenüber tritt, aber sein Untergebener David, der als jüdisches Kind vor seiner Emigration durch ein Furtwängler-Konzert ein unvergessliches Musikerlebnis hatte, schmilzt vor der Größe des Musikers in Devotion ergeben dahin; die ebenfalls junge Emmi wiederum tut sich mit den wechselnden Wirklichkeiten und einem angemessenen Verhältnis zur Autorität der Älteren schwer, sich zurechtzufinden; ihr Vater, ein staatstreuer Obrist, wechselte, ohne seine im nationalsozialistischen Sinne erzogene Familie etwas davon wissen zu lassen, kurz vor dem Ende des Dritten Reichs in das Lager des Widerstandes gegen Hitler und wurde daraufhin von den Nazis ermordet; sie ist geneigt, ebenfalls für den Dirigenten Partei zu ergreifen. (Erst in Szabós Film bahnt sich zusätzlich eine Romanze zwischen ihr und David an.) Mit Wilhelm, David und Emmi im Verbund ist die alte Welt in der Vielfalt ihrer Schicksale und zugleich ihrer Einsinnigkeit beieinander, während Arnold wie ein fremder, ahnungs- und verständnisloser Eindringling einer anderen erscheint. Anders als eine Generation zuvor in Anthony Burgess’ Noveletta A Clockwork Orange ist es in Taking Sides nicht der moralische Impuls der Musik bzw. die auf den ethischen Prüfstand gestellte Musik, der nachgespürt wird, sondern abseits der musikalisch-künstlerischen Umstände die Ethik des Verhaltens eines Musikers. Arnolds Aufgabe ist es, Furtwänglers Schuld in seiner Verstrickung mit den Nazis festzustellen. Vor dem Kriege in der Versicherungsbranche tätig, gilt er als hartnäckig im Verfolg seiner Aufgaben, dazuhin ist er unvoreingenommen, sofern er weder mit Musik, Künstlertum oder Kulturgütern noch auch mit Deutschland bisher etwas zu schaffen hatte. Erst recht für Szabós‘ Film, aber schon für das Kammerspiel liegt Stanley Kramers großangelegter Gerichtsfilm Judgment at Nuremberg von 1961 als Vorbild nahe, der den fiktiven Prozess gegen prominente Juristen und Rechtsgelehrte des Dritten Reichs behandelt und dessen zentrale Figur Richter 10 Bei Moritz Diesterweg in Frankfurt a.M., hg. und annotiert von Albert-Reiner Glaap.

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Haywood (Spencer Tracy) im Kontrast zu den Angeklagten kein Paradejurist ist, sondern ein Richter aus der Provinz.11 Major Arnold ist gefeit gegen den Bonus, den die Anderen dafür geben, dass jemand als ein Musiker, auch noch ein berühmter und als genial verehrter angesehen wird. Auch Boni wegen Kultiviertheit, Bildung, Intellektualität oder gesellschaftlicher Stellung hält er nicht bereit. Er gestattet nicht, den Ausnahmedirigenten durch eines dieser Schlupflöcher entwischen zu lassen. Während David und Emmi sich kratzfüßig in der Anrede Dr. Furtwängler ergehen, wendet der Major sich direkt an sein Gegenüber als Wilhelm – ungewohnt und höchst befremdlich für den Angesprochenen sowie hochnotpeinlich für die Mitarbeiter. Darin liegt nicht nur eine Geste des Siegers gegenüber dem Unterlegenen, sondern auch und vor allem das Signal, dass weder der Zauber der Musik noch eine Taktstockmagie, weder eine künstlerische noch eine soziale Attitüde eine Sonderstellung und Sonderbehandlung erwirken werden. Mit Vorbedacht interessiert Arnold sich bloß für den gewöhnlichen Menschen Furtwängler:12 „Arnold: Wilhelm, I’m trying to understand you, I really am, believe me. You see, when you talk about cultural life, I’m lost. Because I am, to put it at its best, totally uncultured. So when I look at you, I don’t see the great artist, the greatest conductor alive, I see a man, an ordinary guy, like a million other ordinary guys. And I ask myself, what keeps him in a situation which he says he did everything in his power to resist, except get the hell out of it? What keeps him here, I ask myself? Not being a cultured guy, I don’t buy all this stuff about music preserving liberty, justice and humanity. I look for ordinary reasons, reasons I can understand, reasons my buddies can understand.“

Für den Furtwängler treuen Musikliebhaber David steckt in dem Willen zur Gleichbehandlung ein Mangel an Ehrfurcht, der ihn gegen seinen Vorgesetzten mehr und mehr erzürnen lässt. Mithin ist es evident, dass Harwood die arische und die sich schon im Krieg bildende jüdische Furtwängler-Lobby in sein Entnazifizierungsszenario mit eingebaut hat. Zu den vielen von dem Dramatiker angeschnittenen Themen gehören beispielsweise die Ausblendung der Realität durch Rückzug in die als apolitisch behauptete Sphäre der Musik, dass man schöne Musik und damit vergessen macht, was in der Welt gespielt wird und wovon man sich abzukapseln trachtet. Ein anderes Moment ist Furtwängler als autoritärer Charakter, wie er mit obrigkeitsstaatlichen und erst recht diktatorischen Strukturen vorzüglich harmoniert. Wenn die musikalische Autorität des Dr. phil. h.c. der Universität Heidelberg Furtwängler nach einer Sinfonie von Beethoven vom Podium herunter die Hand der staatlichen Autorität des von derselben Universität zum Dr. phil. promovierten Goebbels drückt, dann haben Furtwängler gewogene Musikliebhaber keine Mühe damit, das Zusammentreffen der beiden absolut autoritären Persönlichkeiten als getrennte Welten zu verstehen, als habe der Dirigent zwar mit den Taktstock scheinbar herrschaftsstabilisierend 11 Dem Major Arnold aus Taking Sides kommt in dem mit Stars üppig besetzten Gerichtsfilm der Chefankläger Colonel Lawson (Richard Widmark) am nächsten; der Hauptangeklagte Richter Jannings (Burt Lancaster) wird von Rechtsanwalt Rolfes (Maximilian Schell) verteidigt. 12 Akt 2, Szene 2 Cooperation and Taking Sides, Faber and Faber-Ausgabe, London 2008, S. 155.

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dirigiert, in Wirklichkeit aber die andere Hand sozusagen im Hosensack zur Faust des Widerstandes geballt. Man muss nur daran glauben, dass die Realität sich so leicht in Teile zerlegen lässt. Allein schon der Gedanke, eine Musikerikone wie Furtwängler überhaupt zur Rechenschaft ziehen zu wollen, erscheint vielen Musikliebhabern bloße Anmaßung und, wenn sie politisch nicht erziehbar sind, womöglich als dreiste Siegerjustiz. Die Lektionen, die Harwood erteilt, sind bitter. Sie stoßen auf heftige Abwehr nicht nur wegen einer verspürten Demontage eines Idols, sondern auch der Destruktion von lebenslang eingebildeten Überzeugungen wie der, dass ein musizierender auch ein guter Mensch sei. Zur Debatte steht nicht etwa der romantische Glaube, dass Musik einen idealen Raum oberhalb der Wirklichkeit bilde, sondern dass von Taten in der Musik nicht auf Taten in der Realität geschlossen werden kann. (Warum konnte es ein Gesangbuch der Waffen-SS geben, wenn das Sprichwort wahr wäre, dass böse Menschen keine Lieder singen.) Die verbreitete Identifizierung von Musik bzw. Musizieren und ethischem Verhalten erscheint bedroht, wenn Major Arnold Furtwängler nach seinen Beziehungen zu der Naziprominenz fragt und auch damit ein Kapitel aufschlägt, in dem der Musiker um Antworten verlegen bleibt:13 „Furtwängler: During an enforced hour-long interval, because of a power failure at a concert in the Blüthner Hall, here, in Berlin, Albert Speer, the Minister of Armaments, said to me, casually, ‚You look very tired, Maestro, you should go abroad for a while.‘ I understood exactly what he meant. Arnold: (affecting innocence) Is that the same Albert Speer who’s now sitting beside your other friend, Baldur, in the dock at Nürnberg, also charged with crimes against humanity? No response. You sure knew a lot of people in high places. Furtwängler: It would be truer to say that a lot of people in high places knew me. Arnold: Don’t get smart with me, because your friends seem to be just a bunch of criminal shitheads. But I know and you know that you were real close to all of them, to Adolf and Hermann and Josef and Baldur and now Albert. Make a call, a Jew is saved. Write a nasty letter, Albert says leave town.“

Die bedenkliche Nähe des Dirigenten zu Hitler, Göring, Goebbels, von Schirach und Speer, den Führern des Dritten Reichs, also sein Umgang mit Schwerstverbrechern, passt nicht gut zu dem schönen Schein aus Wohlanständigkeit und Güte, in den man die Sphäre der Musik so gerne stellt. Selbst Klaus Kanzog in seiner eigentlich nüchternen germanozentrischen Untersuchung des spannungsvollen Verhältnisses von Thomas Mann und Furtwängler, durch die er im Spagat sowohl der Furtwängler- als auch Mann-Gesellschaft zu Gefallen sein wollte, klagte mit professoralem Gestus: Sowohl Harwoods Stück als auch Szabós Film „entfernten sich fahrlässig von den Fakten und schürten wiederum Emotionen“.14 Beharrlich zitiert Kanzog den Titel des Dramas wie des Films als Talking Sides. Ob Kanzog, von Hause aus Literaturwissenschaftler, auch Schiller im Wallenstein oder Shakespeare in den 13 Akt 1 (Cooperation and Taking Sides, S. 122f.). 14 Offene Wunden: Wilhelm Furtwängler und Thomas Mann (Thomas-Mann-Schriftenreihe „Fundstücke“ 6), Würzburg 2014, S. 9.

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Königsdramen ebenfalls fahrlässigen Umgang mit Fakten vorgeworfen hätte? Weder das Theaterstück noch der Film beanspruchen, Dokumentationen zu sein, es sind Interpretationen. Es bleibt das alte Spiel, eine Lesart, die einem nicht behagt, als Manipulation anzusehen und sich selbst als gewissenhaft und quellentreu zu vermeinen. Davon ist auch Kanzog überzeugt, obwohl er einräumt, dass er seit 1942 in Furtwänglers „Bann geraten“ und nach dem Krieg von Thomas Mann fasziniert gewesen sei und damit vielfach „emotionale Bindungen an Gegenstand und Protagonisten das Erkenntnisinteresse“ geleitet hätten, ohne dass er dadurch den „dokumentarischen Anspruch“ seiner Publikation gefährdet sieht.15 Doch das heißt eben noch lange nicht, dass seine Sicht auf Furtwängler unvoreingenommen wäre. Unter dem Titel Die Wahrheit über Wilhelm Furtwängler wurde 2012 ein weiteres Theaterstück vorgestellt, das Kanzog damit treffend ironisiert, dass auch es „nur die halbe Wahrheit“ bietet.16 Der Autor Klaus Lang, Musikredakteur einer Rundfunkanstalt in Berlin, ließ es zwar im Druck mit Erläuterungen veröffentlichen17, ohne dass es, wie es scheint, jemals auf einer Bühne zu sehen gewesen wäre. Der Dramentext besteht ausschließlich aus dem Protokoll der Verhandlung bzw. Zeugeneinvernahmen im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens vom 17. Dezember 1946 in Berlin, das für den Bühnenzweck mit Strichen versehen ist.18 Jeder, der mit derlei Verfahren, sofern sie wie hier in deutscher Hand lagen, vertraut ist, weiß, dass die unbelasteten, vorzugsweise aus Kreisen des Widerstands oder der verfolgten stammenden Verhandlungsleiter in der Regel wohlwollend waren, Belastungszeugen selten blieben und Entlastungszeugen sozusagen die Basis bildeten – und dieses umso mehr, je prominenter ein Künstler war. Kulturschaffende hatten keine Mühe damit, Phalangen von Zeugnissen und Zeugen aufzubieten, die die weißwäscherischen Strategien durch Persilscheine effektiv unterstützen konnten. Es wäre fast unglaublich erschienen, wenn jemand gegen den berühmten Dirigenten ausgesagt hätte. Man konnte darauf vertrauen, dass insgesamt so vorteilhaft über ihn geurteilt würde, wie auch der Leutnant David Wills es (bei Harwood) getan hat. Gewiss ist jenes Protokoll ein Dokument und eine Quelle, aber das heißt noch lange nicht, dass es, wenn es in Teilen verlesen wird, schon ein Theaterstück bildet, und erst recht nicht, dass es „die Wahrheit“ enthält. Es uns als solche andrehen zu 15 16 17 18

Zitate ebd., S. 10 und S. 8. Ebd., S. 9. Wilhelm Furtwängler und seine Entnazifizierung, Aachen 2012. Flankiert wurde die Ausgabe durch eine zweistündige Radiosendung, die der Rundfunk Berlin Brandenburg (rbb) am 17. Mai 2012 von 14.04 bis 16.00 Uhr ausgestrahlt hat und die sich als erstmalige Teilveröffentlichung jenes Protokolls mittels zweier Sprecher verstand. Von einem Bühnenstück ist dabei noch nicht die Rede; die Überschrift lautet: „Furtwängler. Protokoll der Hauptverhandlung im Entnazifizierungsverfahren vom 17.12.1946. Ein Projekt von Klaus Lang, Bearbeitung: Ulrich Gerhardt“ (Gerhardt firmierte auch als Regisseur). Auf die Bitte um Überlassung des Sendetextes schickte der rbb damals per Post Kopien von 64 Seiten des Protokoll-Typoskripts, die handschriftlich nummeriert waren und gelegentliche Einzeichnungen zur Kürzung aufwiesen. In einem wenige Zeilen umfassenden Statement wird erklärt, dass dem „gnadenlosen Verhör“ des fiktiven amerikanischen Majors nun die „unvoreingenommene Sicht“ auf Furtwänglers Verhalten entgegengestellt wird. Den Schauspielern, also den Sprechern, habe „das Protokoll im Studio im Typoskript“ vorgelegen.

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wollen, ist Ausdruck einer Naivität, die man selbst unter scheinbar unpolitischen Musikliebhabern im 21. Jahrhundert so wenig noch anzutreffen glaubte wie auf dem rückseitigen Einband des Buches von Lang eine dezidierte Kriegserklärung zu lesen.19 Indem Harwood am Ende des Jahrhunderts die Perspektive von Furtwängler als Musikerikone zu Furtwänglers Verhalten als Rad im Getriebe des Nazi-Staates verschob, änderte er diskursiv die Kontextualisierung des Gegenstandes. In der Folgezeit sind weitere unterschiedliche historische Kontextualisierungen hinzugekommen. Der Publizist und habilitierte Historiker Eberhard Straub nahm die Geschichte der Familie Furtwängler mit Kulminationspunkt Wilhelm zum Anlass, in einem für ein breiteres Publikum etwas burschikos geschriebenen Buch an ihr den Bankrott des deutschen Bildungsbürgertums im Dritten Reich zu exemplifizieren,20 und neuerdings hat Roger Allen den Versuch unternommen, in einer Monographie Furtwängler zeitgeschichtlich einzuordnen; es ist ihm darum zu tun, welche zeitbedingten Axiologien in den vorurteilsgeladenen Überzeugungen der Epoche leitend waren und entsprechend Konsequenzen im Bewusstsein der Zeitgenossen hatten21. Vor allem wird dabei die Musikauffassung nicht mehr allein und isoliert betrachtet, sondern mit kulturhistorischen Positionen und weltanschaulichen Überzeugungen in Verbindung gebracht, beispielsweise Furtwänglers „close empathy with the concept of the organic state as a racially defined entity and the place of musical art within the developing historical continuum.“22 Das Zusammenspiel von nationalistischer Gesinnung und dem Dünkel, durch die deutsche Musik allen Anderen überlegen zu sein, wird hier an seinen Wurzeln berührt. Möglich ist dieses nur durch eine Analyse der Zeit bis 1945 und nicht, wie es im Lager der Furtwängler-Anhänger häufig geschieht, durch Beschränkung auf Zeugnisse ab 1945, die der Rechtfertigung des eigenen Tuns und der Distanzierung von der Nazizeit dienten, ja, um sich nicht weiter zu kompromittieren, geradezu dienen mussten. Zu welch kruden Annahmen die Verspannung von herrenmenschlichem Deutschtum und Überlegenheit der deutschen Musik gerade um und nach 1945 zur Zeit der Entnazifizierungsversuche selbst bei prominentesten Historikern seinerzeit geführt hat, zeigt Friedrich Meinecke in seinem Die deutsche Katastrophe betitelten Buch.23 Die Niederlage im Krieg, der Untergang des Reichs und die Entdeckung des Holocaust waren so schmerzhaft, dass sie nur durch die allgemein verbreitete Chiffre Katastrophe pariert werden konnte, als sei das Alles wie ein Tsunami oder Erdbeben, eben wie eine Naturkatastrophe ohne eigenes Zutun über das Land hereingebrochen. In einer bemerkenswerten Volte vermeinte Meinecke in der überlegenen deutschen Musik sogar ein Mittel zur Entnazifizierung zu erblicken, was ein heutiger Zeithistoriker wie Michael H. Kater nicht unkommentiert lassen kann: 19 „Der Kampf gegen das Theaterstück ‚Taking Sides‘ von Ronald Harwood (1995) und den gleichnamigen Film von István Szabó (2001) ist hiermit eröffnet.“ 20 Die Furtwänglers. Geschichte einer deutschen Familie, München 2007. 21 Wilhelm Furtwängler. Art and the Politics of the Unpolitical, Woodbridge, Suffolk und Rochester, New York 2018. 22 Ebd., S. 119. 23 Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946.

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„Yes, ‚great German music‘ was able to help denazify, claimed Meinecke, not realizing the hubris inherent in that statement.“24 Wir können annehmen, dass der auftrumpfende Gestus Meineckes bei jenen kulturbewussten Deutschen Beifall und Widerhall gefunden hat, die sich wie das Volk im Ganzen in der Rolle von Opfern des Nationalsozialismus verstanden haben.

3. Kampf um das ewige Deutschland Der Propagandaminister und Chef der Reichskulturkammer Joseph Goebbels hatte Furtwängler 1934 zum Rücktritt vom Posten des Vizepräsidenten der nachgeordneten Reichsmusikkammer gezwungen, und damit Macht und Einfluss des Dirigenten empfindlich eingeschränkt. Die rasch darauf erfolgte Ergebenheitsadresse, dass nicht der Dirigent, sondern der Staat bzw. der Minister den Ton in der Kulturpolitik angebe, gestattete Furtwänglers Tätigkeit wieder mehr Freiraum. Doch erst im Sommer 1936, nachdem sich die Offerte der Übernahme der Leitung des New York Philharmonic zerschlagen hatte und Hitler Furtwängler ab September einen halbjährigen Dirigier-Urlaub zum Komponieren in Aussicht gestellt hatte, äußert Goebbels sich voller Zufriedenheit über die Linientreue des Musikers. Während der Bayreuther Festspiele, bei denen der Dirigent sich nicht weniger zu Hause fühlte als der Führer, der ihn als einzigartigen Musiker bewunderte, diktierte Goebbels unter dem 27. Juli in sein Tagebuch: „Gestern: morgens lange Besprechung mit Furtwängler im Garten von Wahnfried. Er trägt mir all seine Sorgen vor, vernünftig und klug. Er hat viel gelernt und ist ganz bei uns. Ich helfe ihm, wo ich kann. Besonders beim philharm. Orchester.“25 Und unter dem 11. Dezember steht eingetragen: „Mit Furtwängler lange parlavert. Er steht jetzt ganz bei uns. Sieht die großen Leistungen ein. Hat noch kleine Wünsche, vor allem bezgl. Kritik und Hindemith. Sonst ist er in der Reihe. Will Konzert für W.H.W. [Winterhilfswerk] dirigieren. Ich unterhalte mich gern mit ihm.“26 Die Tatsache, dass Goebbels ein notorischer Lügenredner war und auch in seine Tagebücher nachweislich wiederholt falsche Behauptungen einrückte, darf nicht dazu verleiten, alles, was er festhielt, zu verwerfen. In die Vorliebe des promovierten Germanisten für den Expressionismus in der Kunst (die er nicht ausleben konnte, weil Hitler sie ablehnte und Goebbels in

24 Culture in Nazi Germany, New Haven und London 2019, S. 314, bezogen auf Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 70f. 25 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hg. von Elke Fröhlich, I,2 München 1987, S. 648. Vgl. zuvor im Eintrag vom 22. Juli: „(Gestern] Nachm. ‚Lohengrin‘. Noch hinreißender als das erste Mal. Ich bin ganz beglückt. Nach der Vorstellung mit den Künstlern im Festspielrestaurant. Furtwängler erzählt mir von R. Strauß. Ebenfalls Martha Fuchs. Keiner liebt ihn. Er ist zu charakterlos. Furtwängler hat sich sehr geändert. Er ist jetzt ein richtig netter Mensch. Nachher noch beim Führer mit den Mitfords. Er spricht über Juden- und Bolschewistengefahr. Er wird sie in Deutschland niederhalten“ (ebd., S. 646). 26 Ebd., S. 753. Vgl. unter dem 20. Oktober: „Furtwängler hat einige Sorgen: Hindemith, Philharmonie etc. Aber nicht so schlimm. Und er ist ganz besonders liebenswürdig und fügsam“ (ebd., S. 701).

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allen solchen Fällen vor dem Führer kuschte) setzten manche Intellektuelle zu Beginn des Regimes ihre Hoffnung, und auch Furtwängler stand, von seiner Künstlerstatur hergesehen, dem Expressionistischen nicht fern. Zudem teilten die Beiden eine spezielle Begeisterung für die Musik Bruckners. Bis weit hinein ins Jahr 1944 war die Beziehung zwischen dem mächtigen Minister und dem machtvollen (und im Reich bestverdienenden) Musiker von gegenseitiger Achtung getragen.27 An der Loyalität Furtwänglers brauchte der Minister (anders als an der von Richard Strauss) nicht zu zweifeln. Doch nicht in solchen einzelnen Übereinstimmungen, sondern auf einer allgemeineren Ebene ist der gemeinsame Nenner zwischen dem Regime und Furtwängler auszumachen, auf den Goebbels mit der Wendung „ganz bei uns“ mehrfach hinweist. Es liegt nahe anzunehmen, dass es das uns inzwischen vertraute Gefühl der Überlegenheit der deutschen Musik und ineins damit die Vorstellung vom Deutschen in der Musik sind, die ein Regime sich zunutze machen konnte, das nichts anderes als den obersten Wert der Welt darin sah, dass etwas deutsch ist. GoebbelsSprüche wie „Richard Wagners Musik eroberte die Welt, weil sie bewusst deutsch war und nichts anderes sein wollte“ infiltrierten selbst seriöse Musikzeitschriften, die sie in auffälliger Hervorhebung in Form von Anzeigen mitteilten, als wären es Bibelworte.28 Musik als Tonkunst oder, wie man heute zu sagen pflegt, Kunstmusik war den kunstbeflissenen Nazi-Führern angelegen, weil sie das als Nordisches begriffene Deutsche in besonderer Weise verkörpere. Im November 1936, inmitten der englischen Verfassungskrise, die binnen weniger Wochen zur Abdankung von König Edward VIII. führen sollte, besuchten Hitler und Goebbels in der Berliner Philharmonie ein Gastkonzert des London Philharmonic unter Leitung von Thomas Beecham. Beide waren mit der Darbietung, mit Dirigent und Orchester „sehr unzufrieden“, und Goebbels notiert dazu: „Wie hoch steht doch die musikalische Kultur in Deutschland! Und was haben wir an dem Berliner Philharmonikern und Furtwängler. Ich wiegele die Presse noch etwas ab. Nicht verreißen! Beim Führer noch lange parlavert. Musikalität gehört zu einer primitiven Rasse. Beim Deutschen bringt das nordische Element noch die konstruktive Begabung dazu. Daher sind wir die musikalischste Nation der Welt.“29 So unauflöslich wir das Gedankengespinst von der deutschen Musik und dem Deutschen in der Musik bzw. von der Einzigartigkeit des Deutschen überhaupt auch erscheinen mag, es wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts von immer mehr Landsleuten geteilt, bei Figuren wie Cosima oder Winifred Wagner geriet es geradezu zur raison d’être, und dies umso mehr, als man das Gemeinte fühlen oder sich religiös davon anmuten lassen musste, da es rational nicht zugänglich war. In der Nazizeit hat dann, wie es scheint, in allen möglichen Lagern geradezu ein Überbietungswettbewerb stattgefunden in der Frage, was das Deutsche in Kunst und Musik sei und wer es noch deutscher, noch reiner zum Ausdruck bringe oder verkörpere. Vertreter der kirchenmusikalischen Erneuerungs27 Vgl. zum Paktieren der Beiden in den 1940er Jahren im vorliegenden Band den Beitrag von Johannes Hellmann. 28 Siehe Die Musik 28, 1935/36, S. 721. 29 Die Tagebücher von Joseph Goebbels I,2, S. 726 (Eintrag vom 14. November 1936).

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bewegung etwa strebten, durchaus in der vermeinten Absetzung vom Staat, danach, eine noch deutschere Musik in der Kirche zu veranstalten als die deutschen Musiker vor den Kirchentoren; Thomas Mann wiederum, der in Deutschland verliebten, aber exilierten Landsleuten einerseits gelegentlich Emigrantenpatriotismus ankreidete, hat sich andererseits selbst im Doktor Faustus an der Musik als der, wie er sie nannte, „deutschesten Kunst“ abgearbeitet, indem er einen „deutschen Tonsetzer“ zum Protagonisten seines zeitbezogenen Romans wählte. In einer Situation, in der die Machthaber das Thema Deutsch als höchsten Wert schlechthin handelten, wäre es insbesondere für die, die von den Machthabern distanzierter stehen wollten, doch vernünftiger gewesen, etwas weniger deutsch sein zu wollen, als danach zu trachten, den Superlativ noch übertrumpfen zu können. Und Furtwängler? Der Musiker, der im Gegensatz zu dem, wie er wahrgenommen wurde, unbeirrt daran festhielt, zuallererst ein Komponist und nur in zweiter Linie ein Performer zu sein, hat wenigstens bis zum Abschluss seines Entnazifizierungsverfahrens an seiner deutschen Sendung keinen Zweifel gelassen und wurde nicht müde, den Mythos wie einen Gral zu hüten. Zu der 1936 zum ersten Mal erschienenen BeethovenMonographie des Kunsthistorikers Walter Riezler steuerte er ein Geleitwort bei, dessen Kernaussage über Beethoven lautet: „Durch niemanden wird Gewalt und Größe deutschen Empfindens und Wesens eindringlicher zum Ausdruck gebracht.“30 Binnen weniger Jahre hat ein Großteil Europas Gewalt und Größe deutschen Wesens tatsächlich eindringlich erfahren, aber nicht durch Beethoven im Konzertsaal, sondern durch Okkupation und Genozid. Auf einem Blatt zu einem Konzert der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, welches das Berliner Philharmonische Orchester unter seinen Dirigenten für die Wehrmacht 1940 im Auftrag von deren Oberkommando gab, stehen über der auffällig groß faksimilierten eigenhändigen Unterschrift Wilhelm Furtwängler ähnliche Merksätze vom „Leben und Sein des deutschen Menschen“, das „die großen deutschen Meister der Musik“ in ihren Werken ausgesprochen hätten; und dieses sei es, was jene Meister nun verbinde „mit denjenigen, die bei der Errichtung des neuen Deutschland die schwerste Aufgabe und den entscheidendsten Anteil haben: den Trägern unserer unvergleichlichen Wehrmacht.“31 Das Dritte Reich und seine vielen Formationen boten reiche Gelegenheit, sich in Parolen zur nationalen Identität zu ergehen. Ein letztes Beispiel aus dem Jahr 1943 sei noch herausgegriffen. Es stammt aus einer Radiosendung mit dem Titel „Glaube an Deutschland“, in der als Interviews ausgegebene Statements prominenter Wissenschaftler, Künstler, Techniker und Wirtschaftsleute des Reichs – allesamt Männer – zusammengestellt sind, darunter Max Planck, Gustav von Bergmann, Arno Breker sowie die Staatsräte Gustav Gründgens und – zum Beschluss – Wilhelm Furtwängler mit der Einlassung:32 30 Beethoven, 6. Auflage, Zürich 1944, S. 9. 31 Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München, Signatur: MA 250. 32 O-Ton Furtwängler in: „Glaube an Deutschland. Berichte aus dem schaffenden Alltag“, Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG 70835/850), Aufnahme vom 6. Februar 1943 (Kopie Deutsches Rundfunkarchiv (DRA 2955883 002). Der Audio-Ausschnitt ist auch enthalten in

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„Es gibt kein Volk und kein Land, das sich der mächtigen Sprache der deutschen Musik entziehen oder verschließen kann. Ich habe das, wo ich auch hin kam, immer wieder erfahren. Diese deutsche Musik aber ist nicht nur ein Teil von uns, sondern sie sagt von uns Deutschen aus, wie wir wirklich sind, in unserem eigentlichsten besten Wesen. Sie sagt aus von dem ewigen Deutschland, zu dem wir alle gehören und für das wir einstehen, leben und sterben, leiden und kämpfen.“

Den mit feierlicher Stimme vorgetragenen Worten folgt der jubilierende Schluss der Egmont-Ouvertüre, ehe ein Sprecher die Entschlossenheit des deutschen Volkes bekräftigt, den „sittlichen“ Kampf zur Verteidigung der Kultur gegen jene „Kräfte der Unterwelt“ zu führen, und zwar „unerbittlich bis zum Endsieg“. Die einzelnen Statements der Sendung wurden zudem, nun jeweils mit biographischen Angaben eingeleitet, für eine gleichnamige Sendereihe aufgeteilt, wobei Furtwängler hierbei nun den Auftakt bildete; in den dem O-Ton vorangehenden Bemerkungen werden die Verdienste, Ämter und internationale Ehrungen des Dirigenten eindrucksvoll aufgelistet, um dann seine Wandlung vom „Kulturträger“ zum jetzigen „Kulturkämpfer“ zu preisen, als „Herold und Verteidiger“ der deutschen Musikkultur „im Kampf gegen die drohende Unkultur des bolschewistischen Ostens.“33 Furtwängler wird wenig später notieren, dass er ein Vertreter jenes „anderen Deutschlands“ sei, das zur Zeit des Nationalsozialismus „stumm gemacht“, dessen „Stimme mundtot gemacht“ wurde.34 Wie aber stimmen damit Furtwänglers beredte, lautstarke Merksätze zusammen, die den Sprüchen von Goebbels so angeähnelt erscheinen? Wie soll der Leser oder die Leserin hier einen gravierenden Unterschied zwischen den Vertretern des alternativen und wahrhaftigen von den Vertretern des offiziellen, unwahren Deutschlands erkennen? Erkennbar an vielen der Aussagen Furtwänglers ist es hingegen, dass er nicht eigentlich auf die deutsche Musik abzielt, sofern sie nur ein Sprachrohr jenes Allgemeineren ist, auf das es ihm am meisten ankommt: die deutsche Nation. Aussagen über sie sind jedoch letzten Endes keine künstlerischen bzw. musikalischen mehr, sondern politische. Und vielleicht kommen angesichts der Parolen die Propaganda des Politikers und die Propaganda des Künstlers einander näher, als man es gerne hätte. Nicht zuletzt die fließenden Übergänge, die mangelnden Trennschärfen sind es, die einen abwägenden Kommentator wie Reinhold Brinkmann zu der Auffassung brachten, dass man zwar für Situationen, ja für bestimmte Äußerungen und Aktionen Furtwänglers Verständnis aufbringen könne, „aber als Ergebnis kommt dann unter dem Strich heraus, was politisch real war, und da könnte man pathetisch werden und sagen:

dem Dokumentarfilm von Oliver Becker, Sehnsucht nach Deutschland. Der Dirigent Wilhelm Furtwängler, Neue Mira/zdf/arte 2003. 33 Aufnahme vom 18. Februar 1943 (RGG Eu 2004, 1.–3.). Dem O-Ton Furtwänglers folgt in diesem Fall die wiederholt vorgetragene Exposition des ersten Satzes der c-Moll-Sinfonie von Beethoven. 34 Ohne nähere Quellenbeschreibung postum veröffentlicht als Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1921–1954, hg. von Elisabeth Furtwängler und Günter Birkner (1980), Mainz 2009, S.252, dort datiert auf 1945.

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Das ist Schuld.“35 Sofern der Nationalsozialismus sich als ein Religionsersatz verstand und Musik in Deutschland in der Tradition der Kunstreligion ebenfalls als Religionsersatz diente, wurde es nach dem Dritten Reich extrem wichtig, Beides voneinander zu trennen, um weiter an der als überlegen verstandenen Musik und ihrem heimischen Hohepriester festhalten zu können. In dem Zusammenhang gehandelte Wörter wie Humanität und Ethos der Musik waren kontaminiert, so sehr die nach wie vor chauvinistische Klientel sich auch an sie klammerte. Wer im Dritten Reich tätig gewesen war, musste im Mai 1945 umdenken, sich zwar nicht neu erfinden, aber die Geschichte irgendwie klittern. Während Furtwängler glauben machen wollte, dass das richtige Deutschland – mithin auch er selbst – in jener Zeit mundtot gemacht worden sei, hatte sein Rivale Richard Strauss 1946 die abstruse Vision, dass „das politische Deutschland zerstört werden musste, nachdem es seine Weltmission: die Erschaffung und Vollendung der deutschen Musik erfüllt hatte.“36 Das Pathos des Untergangs war in jenen Jahren auch Furtwängler nicht fremd, doch war er mit großem Einsatz dabei, seine Karriere nun international fortzusetzen. Dafür war es opportun, in dem von deutscher Okkupation befreiten Europa gewisse Akzente – und eben auch bisher ganz wesentliche – zu verschieben, vor allem im Blick auf das Ausland. 1951 führte er in Salzburg – nun für ihn, der wenig zuvor im Großdeutschen Reich noch Leiter der Wiener Philharmoniker, ja des gesamten Musiklebens in Wien war, wenigstens offiziell ebenfalls Ausland geworden – im Vergleich von Verdi, Wagner und dem zwischen Deutschland und Italien stehenden Mozart aus: „Ich glaube, dass im Musikleben der Zukunft die nationalen Eigenheiten der einzelnen europäischen Nationen eine geringere Rolle spielen werden als im letzten Menschenalter, dafür aber Europa als Ganzes, als Kultursphäre sich seiner Mission erst noch ganz bewusst zu werden hat.“37 In einer kurzen O-Ton-Einführung zu einer Aufnahme der 9. Sinfonie von Beethoven aus Furtwänglers letztem Jahr äußert er neben klugen musikalischen Gedanken die Überzeugung, dass Beethoven niemals ein populäres Werk zu schreiben beabsichtig hätte, sich aber als ausgeprägtes Individuum immer an die „große Gemeinschaft“ gewandt habe, und schließt mit den Worten: „Eine Musik von europäischem Format wird nur so lange existieren, als Europa existieren wird.“38 Dieses Statement über den europäisierten Beethoven klingt sehr viel verhaltener als zuvor der Enthusiasmus über die durch Beethoven ausgedrückte Größe und Gewalt deutschen Empfindens und Wesens oder die Beschwörung des ewigen Deutschlands. Sollte aus der deutschen eine europäische Sendung geworden sein?

35 2003 in einem seiner Statements in dem Dokumentarfilm von Oliver Becker Sehnsucht nach Deutschland. 36 Richard Strauss, Briefwechsel mit Willi Schuh, Zürich 1969, S. 89f. (Brief vom 20. Mai 1946). 37 In der Edition Wilhelm Furtwängler. Complete Recordings on Deutsche Grammophon and Decca (2019), CD 34, Take 11 (vom August 1951). 38 An der Aufnahme von 1954 waren das Philharmonia Orchestra London und der Luzerner Festival Chor beteiligt, die Solisten waren u.a. Elisabeth Schwarzkopf und Else Calveti.

Die Autoren der Beiträge MISHA ASTER, Betätigungen in der Opernproduktion und Schallplattenindustrie sowie als Buchautor, derzeit Vizepräsident des Vancouver Symphony Orchestra für Artistic Planning and Production MICHAEL CUSTODIS, Professor für Musik der Gegenwart und Systematische Musikwissenschaft an der Universität Münster sowie Mitglied der Agder Vitenskapsakademi Kristiansand (Norwegen) ANDREAS DOMANN, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln und Schriftleiter des Archivs für Musikwissenschaft FRÉDÉRIC DÖHL, Strategiereferent für Digital Humanities bei der Generaldirektion der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig und Privatdozent für Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin JOHANNES HELLMANN, nach Studium der Musikwissenschaft Vorsitzender des Philharmonischen Chors Berlin GREGOR HERZFELD, Universitätsassistent für Historische Musikwissenschaft an der Universität Wien und Privatdozent für Musikwissenschaft an der Universität Basel LORE KNAPP, Akademische Rätin für Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld und Mitglied im Jungen Kolleg der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste ALBRECHT RIETHMÜLLER, emeritierter Professor für Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz GERHARD SPLITT war Professor für Musikwissenschaft an der Universität ErlangenNürnberg TILL WALLRABENSTEIN, als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes Studium u.a. der Musikwissenschaft, inzwischen Onkologe am St. Claraspital in Basel

Peter Moormann

Gustavo Dudamel Repertoire – Interpretation – Rezeption 2019. 544 Seiten mit 23 Tabellen, 48 Farb- und 15 s/w-Fotos, 8 Farb- und 62 s/w-Schaubildern 978-3-515-10862-1 kArtOnIert

Der aus Venezuela stammende Gustavo Dudamel (*1981) zählt heute zu den wichtigsten Vertretern einer jungen Dirigentengeneration. Als Chefdirigent des Simón Bolívar Symphony Orchestra und der Los Angeles Philharmonic sowie als gefragter Gastdirigent der Berliner Philharmoniker und Wiener Philharmoniker prägt er seit fast zwei Jahrzehnten die Welt der klassischen Musik entscheidend mit. Peter Moormann nimmt mit dieser interdisziplinär angelegten Studie sowohl Dudamels Biographie in den Blick als auch sein Repertoire, seine Aufnahmen und die Vermarktung, die Kommunikation via Social Media, die Rezeption durch Hörer und Musiker sowie den Interpretationsstil. Im Mittelpunkt steht dabei die übergreifende Frage, welche ästhetischen Erfahrungsangebote Dudamel mit seinen live wie medial repräsentierten audiovisuellen Aufführungen liefert und inwiefern er dabei zu einer Aktualisierung von klassischer Musik und deren Rezeption beiträgt.

Aus dem InhAlt Einleitung | Biographie | Repertoire | Produktion | Kommunikation | Rezeption | Interpretation | Schlussbetrachtung | Quellenverzeichnis | Anhang | Register der AutOr Peter Moormann ist seit 2013 Juniorprofessor für Medienästhetik mit dem Schwerpunkt Musik an der Universität zu Köln. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Musikwissenschaft der Freien Universität Berlin in den SFB „Kulturen des Performativen“ und „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Musik im Film, Fernsehen und Computerspiel, Aufführungs- und Interpretationsanalyse sowie Dirigenten.

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Wilhelm Furtwängler (1886–1954) hat als Dirigent weltweiten Ruhm erlangt und war als Chef der Berliner Philharmoniker der führende Musiker im Deutschen Reich. Sein Nimbus in der Musikwelt ist ungebrochen. Er gehörte zur geschichtlich ersten Generation von Orchesterleitern, deren Konzert- und Operntätigkeit durch Rundfunksendungen große Verbreitung gefunden hat und deren musikalische Hinterlassenschaft auf Tonträgern festgehalten ist. Furtwänglers Sendung bezieht sich auf das spezielle Sendungsbewusstsein, das er mit Musik im Allgemeinen und seinem eigenen Wirken im Besonderen

verband. In den Momentaufnahmen der einzelnen Essays tragen die Autorinnen und Autoren zur Aufhellung der Mission bei, zu der Furtwängler sich aufmachte oder berufen fühlte. Bis heute sind die Spannungen nicht gewichen in der Betrachtung eines Musikers, der einerseits unumstritten als Ausnahmedirigent wahrgenommen wird, andererseits als eine kontrovers diskutierte Person, die von den einen mit ebensolcher Zähigkeit hagiographisch für einen Leuchtturm der Humanität gehalten wie von anderen als Hitlers Kapellmeister gebrandmarkt wurde.

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