Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte 9783110774351, 9783110702798

Aesthetic experiences are basically inconceivable without specific objects. What consequences does this object-relatedne

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German Pages 224 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte: Ein Aufriss
Verknüpfte Geister, flüchtige Körper. Ästhetische Objekte und ihre rituellen Netzwerke im Norden von Laos
Pilze und Dekomposition in der künstlerischen Praxis. Zur Heterogenese agentieller Ästhetiken
Agency durch Abwesenheit. Überlegungen zu Tacet von Ari Benjamin Meyers
Bilder als Waffen? Gewaltbilder und ihr Affizierungspotenzial
Reale Objekte und ihre Agency. Duchamp mit Gell
Die Entzogenheit der Objekte. Eine Auseinandersetzung mit Graham Harmans spekulativem Realismus
Sprechpassionen: Neues und Altes von der Spur
Treehugging. Kontaktzonen von Kunst und Ökologie
Musikerfahrung und Kulturrelativismus: Heavy Metal in Madagaskar
Abbildungsnachweise
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Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte
 9783110774351, 9783110702798

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Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind (Hrsg.)

Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte

PHOENIX. MAINZER KUNSTWISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK

Herausgegeben von matthias müller, elisabeth Oy-marra und gregor wedekind band 7

Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind (Hrsg.)

Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte

Mit freundlicher Unterstützung des Research Center of Social and Cultural Studies Mainz (SoCuM)

ISBN 978-3-11-070279-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077435-1 ISSN 2747-9587 Library of Congress Control Number: 2021948225 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Marcel Duchamp, Réseaux de stoppages, 1914, Öl auf Leinwand, 147,7 × 197 cm, New York, The Museum of Modern Art, © Association Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Reihenlayout und Satz: Andreas Eberlein, aromaBerlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

Inhalt

VII Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte: Ein Aufriss



1 Guido Sprenger Verknüpfte Geister, flüchtige Körper. Ästhetische Objekte und ihre rituellen Netzwerke im Norden von Laos

25 Ilka Becker Pilze und Dekomposition in der künstlerischen Praxis. Zur Heterogenese agentieller Ästhetiken

53 Benjamin Wihstutz Agency durch Abwesenheit. Überlegungen zu Tacet von Ari Benjamin Meyers

73 Linda Hentschel Bilder als Waffen? Gewaltbilder und ihr Affizierungspotenzial

87 Gregor Wedekind Reale Objekte und ihre Agency. Duchamp mit Gell

113 Annika Schlitte Die Entzogenheit der Objekte. Eine Auseinandersetzung mit Graham Harmans spekulativem Realismus

133 Diedrich Diederichsen Sprechpassionen: Neues und Altes von der Spur

143 Petra Lange-Berndt Treehugging. Kontaktzonen von Kunst und Ökologie

167 Markus Verne Musikerfahrung und Kulturrelativismus: Heavy Metal in Madagaskar

197 Abbildungsnachweise

Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind

Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte: Ein Aufriss

In einer Kunstaustellung schlendert eine Besucherin durch die Räume, bleibt plötzlich vor einem bestimmten Gemälde stehen und betrachtet es gebannt über Minuten hinweg; ein im Radio angespieltes Lied animiert einen Hörer zum Tanzen; Kinobesuchern laufen während eines Filmes Tränen über die Wangen. In einem Laden werden Jugendliche mit Hilfe von urban pop zum Kauf bestimmter Produkte animiert; ein Park lädt Passanten dazu ein, sich in ihm aufzuhalten und sich zu entspannen; eine Theaterkennerin verlässt empört eine Aufführung, noch bevor diese zu Ende ist. Die Besucherin einer Musikkneipe wird durch ein Lied spontan an vergessen geglaubte Erlebnisse erinnert; der Blick in eine herbstliche Waldlandschaft bringt einen Betrachter dazu, über Vergänglichkeit nachzudenken; ein Trauernder findet Trost in der Lektüre eines Romans. Diese Situationen sollen, zum Einstieg in dieses Kapitel, die Bandbreite ästhetischer Erfahrung andeuten und so einen Ausgangspunkt für die Überlegungen zur „Handlungsmacht ästhetischer Objekte“ liefern, die wir im Folgenden anstellen möchten. Vor allem zwei Aspekte, die dabei anklingen, sind uns wichtig. Zum einen die Tatsache, dass ästhetische Erfahrungen – Erfahrungen also, in denen das Moment des Sinnlichen von besonderer Bedeutung ist – nicht nur sehr unmittelbar wirken, sondern dass sie dies auf eine spezifische Weise tun, die uns einerseits emotional anspricht, andererseits aber auch Konsequenzen hat – oder jedenfalls haben kann –, die über eine Wirkung auf der Gefühlsebene hinausgehen; denn ästhetische Erfahrungen vermitteln Einsichten, regen uns so zum Nachdenken an und führen nicht selten auch zu praktischen Handlungen. Zum zweiten, und grundsätzlicher noch, sollen die kurzen Szenen darauf verweisen, dass ästhetische Erfahrungen ohne spezifische Objekte grundsätzlich nicht zu denken sind – ohne irgendetwas also, das uns überhaupt erst dazu bringt, auf die genannten oder vergleichbare Weisen ästhetisch zu reagieren. Von dieser Objektbezogenheit ästhetischer Erfahrung nimmt dieses Buch seinen Ausgang, mit dem Ziel, die Folgen zu ergründen, die dieser Bezug für das Wesen ästhetischer Erfahrung hat – zu untersuchen also, inwieweit ästhetische Objekte die Art ihrer Erfahrung mitbestimmen, und damit auch die genannten sinnlichen, reflexiven und praktischen Folgen. Dass ästhetische Erfahrungen an Objekte gebunden und durch sie bestimmt sind, ist im Grunde evident. Dennoch scheint uns wichtig, diesem Moment gesonderte Beachtung zu schenken und es ins Zentrum eines Buches zu stellen, und zwar deshalb, weil die gesellschafts- und kulturtheoretischen Zugänge, die in den letzten Jahrzehnten im Kontext des cultural turn entstanden, sich über die verschiedenen Wissenschaftsbereiche hinweg zusehends von eben dieser Objektgebundenheit ästhetischer Erfahrung entfernt haben.

VIII  Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind

Stattdessen ging es ihnen zunehmend darum, aus sozialkonstruktivistischer, oft poststrukturalistischer oder postkolonialer Perspektive die Verwendungen und Verzweckungen des Ästhetischen nachzuverfolgen und zu dekonstruieren, die ihren Ausgangspunkt gerade nicht im Objekt, sondern in den sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen haben, in denen ästhetische Praxis steht. Dabei ging es im Wesentlichen darum, wie Menschen Räume – geographische, soziale, kulturelle, durchwegs als „politisch“ verstanden – mit Hilfe ästhetischer Objekte gestalten. Das ästhetische Objekt zurückzugewinnen, das bei dieser Betrachtung verloren ging, und ihm seinen gebührenden Platz wieder zuzuweisen, ohne dabei auf der anderen Seite das neu gewonnene Politische aus den Augen zu verlieren, ist daher, wie wir meinen, ein nicht nur legitimes, sondern notwendiges Anliegen, das wir einerseits empirisch verfolgen wollen, durch die Untersuchung konkreter ästhetischer Objekte aus Kunst, Populärkultur und Religion, zum anderen aber auch durch fachhistorische und theoretische Reflexionen, wie sie auch in diesem einleitenden Kapitel im Zentrum stehen. Grundsätzlich teilen wir unser Anliegen mit all denjenigen Ansätzen, die in den letzten Jahren unter Schlagworten wie Posthumanismus, neuer Materialismus, Akteur-Netzwerk-Theorie, Affekt-Theorie, objekt-orientierte und relationale Ontologie oder auch „neuer“ bzw. „spekulativer“ Realismus enorm an Bedeutung gewonnen haben. Was diese in sich durchaus heterogenen Ansätze verbindet, ist die grundlegende Skepsis, mit der sie sich denjenigen Zugängen gegenüber positionieren, die in ihren Analysen grundsätzlich und weitgehend ausschließlich beim Menschen und seiner Fähigkeit ansetzen, der Welt Sinn zu verleihen bzw. sie im historischen, politisch und ökonomisch motivierten Wechselspiel von Selbst- und Fremdzuschreibungen gesellschaftlich zu gestalten. Dieser im Gefolge Donna Haraways oft als „posthumanistisch“ oder grundsätzlicher als „relational“ klassifizierten Skepsis schließen wir uns an, wenn wir ästhetische Erfahrungen konsequent als Erfahrungen verstehen, die grundsätzlich an die spezifischen Objekte gebunden sind, die diese Erfahrungen auslösen und strukturieren. Wichtig ist uns dabei, wie oben ja bereits angeklungen ist, dass es sich dabei nicht nur um einen strukturellen Zusammenhang handelt, um ein prinzipielles Wechselspiel von Objekt und Erfahrung also, sondern, wesentlich anspruchsvoller, um eines, bei dem Objekt und Erfahrung auch in der Sache aufeinander bezogen und miteinander verbunden sind. Genauso wichtig ist uns auf der anderen Seite allerdings auch, die im konstruktivistischen Paradigma herausgearbeiteten menschlichen Fähigkeiten zur sinnhaften und gesellschaftlichen Gestaltung der Welt nicht in Zweifel zu ziehen und so den Verführungen naiver Realismen zu verfallen.1 Aufgrund dieser doppelten Verortung – einerseits dem Objekt gegenüber und andererseits gegenüber seiner Erfahrung – steht im Folgenden auch nicht die Frage im Zentrum, was ein ästhetisches Objekt „an sich“ ist und wie es sich als etwas vollkommen 1

Vgl. den Beitrag von Annika Schlitte in diesem Band zur Suche nach einer Realität jenseits unseres Zugangs zu ihr und den damit verbundenen Aporien am Beispiel des spekulativen Realismus Graham ­Harmans.

Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte: Ein Aufriss

IX

jenseits menschlicher Erfahrung fassen ließe. Vielmehr wollen wir das Ästhetische dialektisch bestimmen, als notwendiges Wechselspiel aus Objekt und Erfahrung, bei dem beides eng aufeinander bezogen ist, ohne dass aber das eine im jeweils anderen tatsächlich auch aufginge. Auf diese Weise bleiben wir kritisch sowohl gegenüber einer neuen Hypostasierung des Objekts, als auch gegenüber einer sozialkonstruktivistischen Praxis, die die ästhetische Erfahrung weitgehend unabhängig von den Objekten behandelt, an die diese Erfahrungen immer auch gebunden sind. Wie genau wir dieses notwendige Wechselspiel verstehen wollen, wie es sich gestaltet und welche Folgen dies für die Auseinandersetzung mit ästhetischer Erfahrung hat, möchten wir anhand zweier Schlüsselfragen klären: Was ist ein „ästhetisches Objekt“? Und inwiefern verfügen solche „ästhetischen Objekte“ über „Handlungsmacht“?

Schlüsselfrage 1: Was ist ein „ästhetisches Objekt“? Bevor wir die Frage nach dem „ästhetischen Objekt“ beantworten, möchten wir zunächst erläutern, weshalb wir überhaupt von „Objekten“ sprechen und was wir darunter verstehen. Denn grundsätzlich sind in diesem Zusammenhang ja auch andere Begriffe etabliert, vor allem die Rede von den „Dingen“ und die gerade im Kunstzusammenhang übliche Rede von „Werken“. Beide Begriffe, „Ding“ und „Werk“, sind jedoch auf Weisen konnotiert, die unseren Ansprüchen nicht entgegenkommen: Während der Dingbegriff an bestimmte ontologische Diskussionen in der neuzeitlichen Philosophie erinnert und zudem die Vorstellung einer fest umgrenzten, materiell verkörperten Entität transportiert, lenkt der Werkbegriff die Aufmerksamkeit zu sehr auf den Aspekt der Autorschaft. Aus der Kritik an den beiden alternativen Konzepte lässt sich allerdings gut begründen, weshalb gerade die Rede von „Objekten“ dabei helfen soll, die Frage nach dem Wechselspiel von ästhetischer Erfahrung und dem, worauf sie sich bezieht, auf eine Weise zu fassen, die dem Wesen dieser Beziehung angemessen ist. Deshalb wollen wir sie im Folgenden etwas ausführlicher entwickeln. In letzter Zeit ist im Zusammenhang mit einer Aufwertung des Materiellen häufig von „Dingen“ die Rede.2 Dabei erscheint der Begriff des Dings zunächst sehr weit und vage, schließlich benutzt man den Terminus im Alltag gerade dann, wenn man auf einen unbestimmten Gegenstand rekurriert; etwa, wenn man fragt: „Was ist denn das für ein Ding da vorne?“. Doch der alltägliche Ausdruck „Ding“, der so unterschiedliche Entitäten wie einen Hammer, einen Stein, eine Puppe, ein Smartphone oder ein Pissoir bezeichnen kann, erweist sich aus philosophischer Perspektive tatsächlich als vertrackt. Denn die Frage nach dem „Ding“ führt hier unmittelbar in Debatten über die Grundstruktur der 2 Vgl. z. B. Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, hg. von Hans Peter Hahn, Berlin 2015.

X  Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind

Wirklichkeit hinein – darüber also, aus welchen Grundbestandteilen unsere Welt eigentlich zusammengesetzt ist und wie wir diese Struktur im Denken nachvollziehen können. Dabei stand der Dingbegriff selbst zwar nicht von Anfang an explizit im Fokus solch ontologischer Reflexionen; tatsächlich gibt es für das deutsche Wort „Ding“ gar keine eindeutige Entsprechung im Altgriechischen.3 Dennoch orientierte sich die traditionelle Metaphysik mit ihrer Unterscheidung von Substanz und Akzidens implizit an der Vorstellung von Dingen als Trägern von Eigenschaften, weshalb Heidegger hier auch vom lange Zeit dominanten Paradigma einer „Dingontologie“ gesprochen hat.4 Prägend für die Neuzeit ist dann allerdings Descartes’ Substanzendualismus, bei dem sich das denkende Ich („res cogitans“) und die natürliche Welt der räumlich ausgedehnten Dinge („res extensa“) nun diametral gegenüberstehen. Das denkende Ich wird auf dem Weg des methodischen Zweifels zum Dreh- und Angelpunkt des Nachdenkens über die Wirklichkeit, Preis dafür ist ein Bruch zwischen Geist und Natur, Ich und Welt, Vernunft und Gefühl, der nicht nur mitten durch den Menschen hindurchgeht, sondern auch der technischen und wissenschaftlichen Beherrschung der Natur die theoretische Rechtfertigung liefert. Von nun an zerfällt die Wirklichkeit tatsächlich in zwei getrennte Bereiche und die Erkenntnistheorie muss sich mit dem Problem herumschlagen, wie dem denkenden Ich die Bezugnahme auf die Welt der natürlichen Dinge überhaupt möglich ist. Es ist Kant, der schließlich die für die moderne Philosophie so entscheidende ‚kopernikanische‘ Wende vollzieht, nach welcher sich die Erkenntnis nicht nach von ihr unabhängigen Gegenständen richtet, sondern die Gegenstände erst durch unser Erkenntnisvermögen konstituiert werden.5 Die Grundstruktur der Wirklichkeit muss also nicht in der Welt ‚da draußen‘ gesucht werden, sondern in den erfahrungsunabhängigen Formen unseres Erkenntnisvermögens, die für uns erst die Gegenstände bedingen. Für seine schlüssige Theorie zahlt Kant allerdings einen Preis: Die ‚naiv‘ realistische Vorstellung, dass wir die Dinge so erkennen, wie sie ‚wirklich‘ und d. h. unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen sind, ist nun nicht mehr haltbar. Sichere Erkenntnis kann sich nur noch auf „Erscheinungen“ beziehen – auf Gegenstände also, die von vornherein durch unser Erkenntnisvermögen geformt sind. Von den Dingen, wie sie „an sich“ sind, unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen, können wir dagegen grundsätzlich kein gehaltvolles theoretisches Wissen haben – wir wissen lediglich, dass es sie gibt, weil uns sonst nichts erscheinen würde. Es ist so gesehen kein Wunder, dass der Begriff des „Dings“ für aktuelle Ansätze attraktiv ist, die aus dieser erkenntnistheoretischen Beschränkung wieder herauszukommen versuchen, um sich erneut ontologischen Fragen zu widmen. Wenn allerdings 3 Dort kann „Ding“ entweder „pragma“ oder „chrema“ heißen, vgl. dazu Klaus Held, „Vom Ansichsein der Dinge“, in: Kraft der Dinge. Phänomenologische Skizzen, hg. von Iris Därmann, München 2014, S. 83–97. 4 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927], Tübingen 192006, S. 100. 5 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781/1787], nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998, B XVI.

Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte: Ein Aufriss

XI

­ artmut Böhme in seinem Versuch, die moderne Subjektzentrierung zugunsten einer H neuen Aufmerksamkeit für die Dinge zu überwinden, konstatiert, „dass die Philosophie sich niemals besonders um die Dinge gekümmert hat“,6 so gilt dies für die Phänomenologie und die Hermeneutik strenggenommen nicht.7 Denn zum einen muss der Phänomenologie zugute gehalten werden, dass sie das Ding nicht mehr nur als Ausgangspunkt einer erkenntnistheoretischen und/oder ontologischen Untersuchung benutzt, sondern sich tatsächlich für konkrete Dinge interessiert. Wenn hier von Dingen die Rede ist, geht es erst einmal gar nicht um mysteriöse Dinge „an sich“, die hinter den Erscheinungen stehen oder ein Synonym für Seiendes überhaupt darstellen, sondern ganz konkret um bestimmte Gegenstände, die in der Wahrnehmung räumlich gegeben (Husserl) oder für den praktischen Gebrauch verfügbar sind (Heidegger). Und zum anderen findet sich in dieser Tradition selbst ein Plädoyer für ein radikal neues Dingverständnis. So warf bereits der späte Heidegger der gesamten philosophischen Tradition vor, dass sie unfähig gewesen sei, das Ding als Ding zu denken und versuchte im Anschluss, das Ding neu als etwas zu konzipieren, das in unserem Bezug zu ihm – sei es als Erkenntnisobjekt oder als Gegenstand des praktischen Gebrauchs – nicht aufgeht.8 Insgesamt bleibt die Rede von den „Dingen“ gerade auch in den verschiedenen Versuchen, sie aus der modernen Verbannung in ein letztlich unzugängliches „Draußen“ zu befreien, häufig mit ontologischen Fragestellungen verbunden. Dasselbe gilt für das rezente Sprechen von der „Kraft der Dinge“,9 das auf ein mit Heidegger geteiltes Bestreben verweist, über die einseitige erkenntnistheoretische Fokussierung auf die Problematik des Zugangs – den erkenntnistheoretischen „Korrelationismus“10 – hinauszugelangen und die Dinge selbst wiederzugewinnen. Doch auch dort, wo es nicht um die philosophische Diskussion über „Dinge an sich“ geht, im Alltagsverständnis, zeigt der Begriff „Ding“ eine Einschränkung, die für unser Vorhaben nicht dienlich ist. Denn es verleitet dazu, an räumliche Objekte mittlerer Größe zu denken, die sich anschauen und anfassen lassen. Die Erfahrungen, um die es in diesem Band geht, sind jedoch nicht auf materielle, räumlich erscheinende Entitäten beschränkt. Außerdem ist das Problem, das uns in diesem Band beschäftigt, nicht in erster Linie ontologischer Natur. Deshalb wollen wir im Weiteren auch gar nicht erst von „Dingen“ sprechen, sondern wählen den offeneren Begriff des „Objekts“. Vielmehr gehen wir grundsätzlich von konkreten Situationen ästhetischer Erfahrung aus, in denen bestimmte Objekte einen Anspruch auf unsere Beachtung erheben und dabei ebendiese ästhetische Erfahrung selbst auch mitbestimmen. Es interessiert uns also nicht der ontologische Status von 6 Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 59. 7 Vgl. Iris Därmann und Rebekka Ladewig, „Vorwort“, in: Kraft der Dinge. Phänomenologische Skizzen, hg. von dies., München 2014, S. 7–10, S. 8. 8 Martin Heidegger, „Das Ding“, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 163–181. 9 Vgl. Därmann/Ladewig 2014 (wie Anm. 7). 10 Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Zürich und Berlin 2008.

XII  Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind

Dingen jenseits ihrer möglichen Erfahrung, sondern die Frage, wie sich der Beitrag von ästhetischen Objekten, die konkret erfahren werden, zu dieser ihrer Erfahrung angemessen beschreiben lässt; wir zielen, anders gesagt, nicht auf eine prinzipielle Überwindung des „Korrelationismus“ ab, sondern schließen an die skizzierten phänomenologischen Überlegungen an, die besonders dort, wo sie sich als realistisch verstehen,11 mit unserem Anliegen korrespondieren. Dass die Objekte mit uns in einer Beziehung stehen, bedeutet schließlich nicht auch gleich, dass sie ausschließlich in unserem Bewusstsein existieren bzw. lediglich von unserem Bewusstsein produziert und konstruiert werden. Angesichts unserer Fokussierung auf ästhetische Erfahrung könnte man – wenn wir uns schon nicht auf „Dinge“ beziehen – erwarten, dass wir über (Kunst-)Werke sprechen. Durch diese Begrifflichkeit würde jedoch zugleich ein bürgerlicher Kunstbegriff evoziert, der die Rolle der Autorschaft stark betont. Das „Werk“ ist ein Artefakt, es hat einen Urheber, und dieser ist bei aller Gebundenheit an Stile und kulturhistorische Kontexte für seine Gestaltung – und damit dessen Verständnis – erheblich. Demgegenüber sollte die Eigenmächtigkeit der ästhetischen Objekte hervorgehoben werden, wie dies zum Beispiel Horst Bredekamp tut, dessen Anliegen, die Einseitigkeit des „modernen Konstruktivismus“ durch eine Fokussierung des „Bildakts“ zu überwinden,12 wir grundsätzlich teilen. Unsere Untersuchungsperspektive ist darüber hinaus aber auch auf Objekte jenseits künstlerischer Artefakte gerichtet, denn ästhetische Erfahrungen sind ja auch durchaus jenseits der Kunst, z. B. in der Natur möglich. Wir zielen darauf ab, einen Problemzusammenhang zu erhellen, der am Objekt selbst ansetzt, damit über das historisch klar situierte Verständnis von Kunst hinausgeht, wie es die Rede von „Werken“ betont, und damit nicht-gemachte Gegebenheiten genauso einbeziehen kann wie ästhetische Formen, die den Beitrag des künstlerischen Subjekts kaum hervorheben bzw. sogar in Frage stellen. So wird beispielsweise in der Land Art das Verhältnis von Mensch und Natur in der Entstehung von Kunst neu verhandelt, etwa wenn Robert Smithson seine eigene Tätigkeit als „collaborating with entropy“13 bezeichnet; in anderen Fällen sind, was die Erzeugnisse selbst angeht, die diskursiven „Genres“ oft deutlich wichtiger als die einzelnen Künstler selbst, die sich – prototypisch im Bereich der populärkulturellen Produktion – oft eher darauf konzentrieren, standardisierte Formen gut zu bedienen anstatt, wie in der bürgerlichen Kunst, die Überschreitung des jeweils Bestehenden zum Prinzip zu erheben. Nicht von „Werken“ zu sprechen erlaubt uns damit zum einen, den thematischen Blick zu weiten und auf unterschiedlichste Formen und Gattungen ästhetischer Objekte zu blicken – was 11 Vgl. Günter Figal, „Gibt es wirklich etwas draußen? Skizze einer realistischen Phänomenologie“, in: ders., Freiräume. Phänomenologie und Hermeneutik, Tübingen 2017, S. 27–38. 12 Horst Bredekamp, Der Bildakt. Frankfurter Adorno Vorlesungen 2007, Berlin 2015, S. 10. Zuvor hatte der Bildwissenschaftler W. J. T. Mitchell bereits mit der Frage „What Do Pictures Want?“ das Begehren der Bilder zum Thema gemacht. W. J. T. Mitchell, „Was will das Bild?“ [1997], in: ders., Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008, S. 46–77. 13 Robert Smithson, The Collected Writings, hg. von Jack Flam, Berkeley und Los Angeles 1996, S. 256.

Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte: Ein Aufriss

XIII

mit unserem Anliegen korreliert, nicht zu einer Theorie der Kunst, sondern zu einem Verständnis des ästhetisch Gegebenen innerhalb ästhetischer Erfahrungen beizutragen. Zum anderen ermöglicht uns dies, dasjenige, was wir in den Blick zu nehmen uns vorgenommen haben, von einem potentiellen Urheber grundsätzlich zu entkoppeln und ihm als das, was es von sich aus ist, Geltung zu verschaffen. Anders als die Rede von „Dingen“ oder „Werken“ scheint uns der Begriff des „Objekts“ aus mindestens zwei Gründen für dieses Vorhaben als geeignet. Zum einen ermöglicht er einen Anschluss an den Sprachgebrauch einer Reihe von Autoren, die sich dem Ansatz einer „objekt-orientierten Ontologie“ verschrieben haben (OOO), wobei wir den Perspektivwechsel hin zum Objekt grundsätzlich übernehmen, den diese Ansätze vorschlagen, nicht aber auch ihre auf ontologische Fragen ausgerichtete Stoßrichtung. Zum zweiten, und dies ist der wichtigere Grund für unsere Begriffswahl, ist das „Objekt“ insofern relational, als es grundsätzlich an ein Subjekt gebunden bleibt, zu dem es in Opposition steht, und zwar ohne dass damit bereits auch eine Festlegung über das Wesen dieser Beziehung getroffen wäre, etwa im Sinne einer klaren Zuschreibung eines der beiden Pole als aktiv oder passiv. Man kann sich vor diesem Hintergrund zwar fragen, ob der Objektbegriff ursprünglich überhaupt geeignet ist, die von der „objekt-orientierten Ontologie“ geforderte Loslösung von allen subjektiven Zugängen begrifflich zu fassen; für unser auf ästhetische Erfahrung bezogenes Anliegen bietet er jedoch die Möglichkeit, genau diejenige immer schon bestehende dialektische Beziehung einer objektiven Gegebenheit zu ihrer subjektiven Erfahrung ins Zentrum zu rücken, die das Phänomen ästhetischer Erfahrung ja grundsätzlich bestimmt. Im Wortsinn bezeichnet „Objekt“, lateinisch obiectum, dasjenige, was einem entgegengeworfen wird und damit das, was entgegensteht; auch die deutsche Entsprechung hieß zunächst „Gegenwurf “ oder auch „Vorwurf “, bevor sich im 18. Jahrhundert die moderne Übersetzung „Gegenstand“ einbürgerte.14 Das Widerständige, Widerspenstige, Eigensinnige zeigt sich etymologisch also nach wie vor; im Englischen, wo die Bedeutung „Vorwurf “ oder „Widerspruch“ in „to object“ und „objection“ erhalten geblieben ist, deutlicher noch als im Deutschen. Die Rede von „Objekten“ kann damit grundsätzlich an die Rehabilitierung des Gegenständlichen in der Phänomenologie und Hermeneutik anknüpfen, wie sie Günter Figal seit einiger Zeit verfolgt. Demzufolge stehen Gegenstände zwar immer in einem Erscheinungszusammenhang; da sie aber selbst zu ihrer Erfahrung beitragen und diese strukturieren, können sie dennoch nicht allein aus diesem subjektiven Zugang erklärt werden. Figal spricht den Dingen dabei sogar eine gewisse Freiheit zu, „insofern sie unabhängig von uns und in dieser Unabhängigkeit zugänglich sind“.15 Die Mitwirkung

14 Theo Kobusch, Art. „Objekt“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Karlfried Gründer und Joachim Ritter, 13 Bde., Basel 1971–2007, Bd. 6, S. 1026–1052. 15 Günter Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006, S. 357.

XIV  Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind

von Objekten an ihrer Erfahrung ist in der Phänomenologie mehrfach bemerkt worden.16 Bernhard Waldenfels spricht von einem „Aufforderungscharakter“ der Dinge und bezieht sich auf den Gestaltpsychologen Kurt Lewin, von dem später James J. Gibson diesen Gedanken übernommen und ihn zur „Affordanz“ der Dinge modifiziert hat.17 Das Handeln kann nach Lewin auch von Objekten initiiert werden, die uns aktivieren: „Das Buch lockt zum Lesen, der Kuchen zum Essen, der See zum Schwimmen, der Spiegel zum Hineinsehen, die verworrene Situation evtl. zum Dreinschlagen.“18 Auf diese Weise werden Möglichkeiten eröffnet, die der Handelnde jedoch erst ergreifen muss. „[V]iele Dinge und Ereignisse, denen wir begegnen, zeigen uns gegenüber einen mehr oder weniger bestimmten Willen; sie fordern uns zu bestimmten Handlungen auf “,19 wobei die Stärke dieser Aufforderung „vom ‚Befehlscharakter‘ bis zu den schwachen Graden des ‚Nahelegens20 reicht. In all diesen unterschiedlichen Ansätzen werden Erfahrungen beschrieben, bei denen die Initiative nicht vom Subjekt ausgeht. Durch unsere Entscheidung für das Objekt wollen auch wir den objektiven Pol dieser Korrelation wieder ins Zentrum rücken, um die moderne Rollenverteilung dieser Beziehung – Subjekt aktiv, Objekt passiv – in Frage zu stellen. Allerdings halten wir klar an der Korrelation der Objekte und der sie erfahrenden Subjekte fest, eine Entscheidung, die letztlich mit der hier verhandelten Thematik des Ästhetischen und also mit der spezifischeren Frage nach dem ästhetischen Objekt zusammenhängt. Ob die Dinge in der Außenwelt unabhängig von ihrer Wahrnehmung existieren, ist eine philosophische Frage, zu der man sich verschieden positionieren kann; ob die Dinge unabhängig von ihrer Wahrnehmung „ästhetisch“ sind, ist dagegen kaum eine sinnvolle Frage,21 zumal, wenn man „Ästhetik“, wie wir dies im Gefolge Baumgartens 16 So spricht schon Maurice Merleau-Ponty davon, dass Dinge etwas sagen wollen; vgl. Maurice Merleau-­ Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung [1945], Berlin 1966, S. 12. 17 Vgl. Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst, Frankfurt am Main 2000, S. 375; James J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979. 18 Kurt Lewin, „Untersuchungen zur Handlungs- und Affekt-Psychologie“, in: Psychologische Forschungen, Bd. 7, 1926, S. 294–385, S. 351. 19 Ebd., S. 350. 20 Ebd. 21 Diesen Punkt macht bereits Mikel Dufrenne in seiner zweibändigen Phénoménologie de l‘expérience esthétique, in der er das ästhetische Objekt als wahrgenommenes vom Kunstwerk abgrenzt, das erst durch die Wahrnehmung als Kunstwerk zum ästhetischen Objekt wird. Während das Kunstwerk eine konstante Struktur hat, die auch ohne den Betrachter existiert, ist das ästhetische Objekt abhängig von der Wahrnehmung. Das ästhetische Objekt wird für Dufrenne also einerseits erst durch die Wahrnehmung vollendet, andererseits zeichnet sich diese Wahrnehmung aber gerade dadurch aus, dass sie das ästhetische Objekt zu seinem Recht kommen lässt. Die Betonung der gegenseitigen Abhängigkeit von ästhetischem Objekt und ästhetischer Wahrnehmung geht in eine sehr ähnliche Richtung wie die hier vorgeschlagene. Auf die Unterschiede unseres Vorschlags zu der komplexen phänomenologischen Ästhetik Dufrennes im Ganzen können wir hier nicht im Detail eingehen; es ist aber doch bemerkenswert, dass ihn die Ästhetik am Ende zu grundsätzlichen ontologischen Fragen führt. Zudem konzentriert er sich in seinem Buch auf eine Analyse des Kunstwerks, während wir diese Beschränkung hier nicht vornehmen. Vgl. Mikel Dufrenne, Phénoménologie de l’expérience esthétique, Paris 1953.

Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte: Ein Aufriss

XV

tun, wörtlich als „sinnliche Erkenntnis“ versteht. Trotzdem ergibt sich aus der notwendigen Bindung des Objekts an seine Erfahrung eben nicht auch gleich, dass die Wahrnehmung einem gewissermaßen nackten und beliebigen Ding die Eigenschaft, ästhetisch zu sein, einfach so überstülpen würde. Unsere Erfahrung geht vielmehr im Gegenteil dahin, dass das Objekt eine bestimmte – eben ästhetische – Einstellung von uns fordert oder sie uns zumindest nahelegt, wobei, wie wir gleich noch ausführen werden, die Fähigkeit, diese Einstellung hervorzurufen, jedem Objekt zumindest potentiell innewohnt. Gerade aufgrund dieses notwendigen, durch den Eigencharakter des Gegebenen fundamental charakterisierten Wechselspiels, auf das der weite und in Hinblick auf seine konkrete Ausprägung sehr wenig spezifische Begriff des Objekts schon seinem Wortsinn nach verweist, haben wir uns dazu entschieden, ihn ins Zentrum unserer Auseinandersetzung zu stellen. Das „ästhetische Objekt“ ist damit keine Bezeichnung für einen bestimmten ontologischen Status spezifischer „an sich“ ästhetischer Gegenstände. Vielmehr bezieht es sich auf einen Modus der Erfahrung, in dem der spezifischen Gestalt bestimmter Objekte eine entscheidende Rolle zugeschrieben wird. Dabei mag es Objekte geben, bei denen diese Erfahrung näher liegt als bei anderen; dennoch ist es zunächst die Art und Weise ihrer Erfahrung, die diesen Objekten ihren „ästhetischen“ Charakter verleiht. Ist er ihnen allerdings erst einmal zugestanden, entfalten die so konstituierten Objekte ihre entsprechende „ästhetische“ Wirkung, mit der Folge, dass der Beitrag des Objektes für seine Erfahrung als entscheidend erlebt wird. Im Nachhinein, in der Reflexion auf diese Erfahrung, mögen sich Eigenschaften des betreffenden Objektes benennen lassen, an der sich die ästhetische Erfahrung entzündet hat; man kann jedoch nicht im Vorhinein bestimmte Eigenschaften festschreiben, die notwendig zu einer ästhetischen Erfahrung führen würden – eben weil sich das Objekt erst durch seine Erfahrung überhaupt als „ästhetisch“ konstituiert. Aus demselben Grund ist das ästhetische Objekt auch prinzipiell offen, was seine formale Gestalt angeht: weder ist es von vornherein auf eine bestimmte, im bürgerlichen Sinne kunsthafte Form, noch ist es überhaupt an eine materiale Gestalt gebunden: auch Klänge oder Performanzen verfügen in diesem Sinn problemlos über eine „objektive“ Form. Um diesen aktiven Beitrag des ästhetischen Objektes hervorzuheben, den es, sofern ihm dies zugestanden wird, zu seiner Erfahrung leistet, und gleichzeitig zu unterstreichen, dass es dabei nicht nur um einen strukturellen Einfluss geht, bei dem das Objekt lediglich als eine Art Trigger agiert, sondern gerade auch um einen, der sich in der Sache artikuliert – um einen sinnförmigen Zusammenhang also – haben wir uns denn auch entschieden, von einer „Handlungsmacht ästhetischer Objekte“ zu sprechen.

XVI  Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind

Schlüsselfrage 2: Worin besteht die „Handlungsmacht“ ästhetischer Objekte? Mit einem klar an die Objekte angebundenen Handlungsbegriff verlassen wir scheinbar vertrautes, durch Max Webers soziologisches Denken wesentlich bestimmtes Terrain. Weber hat, mit enormen Folgen nicht nur innerhalb der Soziologie, sondern in den Sozial- und Geisteswissenschaften überhaupt, „Handeln“ gerade durch den Sinn bestimmt, der spezifischen Verhaltensweisen beigelegt ist und sie ursprünglich auslöst, um dann, ebenso folgenreich, zwischen verschiedenen Ursachen zu unterscheiden, die „sinnhaftes Handeln“ anleiten können;22 insbesondere die Unterscheidung von „zweckrational“ und „wertrational“ orientiertem Handeln war dabei weitreichend. Da Objekte nun offensichtlich nicht in der Lage sind, sinnhaft in diesem Sinn zu handeln – innerhalb der dem wissenschaftlichen Denken zugrunde liegenden westlich-aufgeklärten Ontologie jedenfalls nicht23 – wirft das Sprechen von einer „Handlungsmacht“ ästhetischer Objekte prinzipiell die Frage auf, ob dies nicht dazu zwingt, „Handeln“ von der Frage nach Sinnhaftigkeit zu entkoppeln und sich also von demjenigen Weberschen Handlungsverständnis zu lösen, wie es sich über die letzten einhundert Jahre in den Geistes- und Sozialwissenschaften vielfach etabliert hat. Diesen Schritt, Handlungsmacht konsequent von Sinnfragen zu entkoppeln, sind Bruno Latour bzw. die Akteur-Netzwerk-Theorie überhaupt gegangen. Ihr wesentliches Ziel war und ist dabei, einer nach ihrer Meinung unangemessen einseitigen Fokussierung auf den menschlichen Beitrag zur Konstruktion und Konstitution der Welt entgegenzuwirken, wie sie sich in der Soziologie und den Sozialwissenschaften allgemein seit Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert hat – auch wenn der zentrale Sparringspartner hier nicht Max Weber, sondern Émile Durkheim heißt.24 Entsprechend ist die Handlungsmacht – bzw. agency25 – hier eben auch nicht mehr auf einen „Sinnzusammenhang“ bezogen, da dies ja zwingend den Menschen ins Zentrum rücken würde. Vielmehr konstituiert sie sich hier im ausschließlich praktischen und grundsätzlich gleichberechtigten, „symmetrischen“ Wechselspiel von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren, wobei es dann eben die sich in diesem Zusammenspiel manifestierenden Netzwerke oder „Assemblagen“ sind, die in diesem Sinne „handeln“, die also für das Entstehen praktischer, sozialer, existentieller oder ökologischer Konstellationen verantwortlich zeichnen. Ihre Handlungsmacht zeigen Objekte hier also lediglich durch den kausalen Beitrag, den sie für das Hervorbringen spezifischer Konstellationen leisten – dadurch, dass ihr Vorhandensein empirische Konsequenzen hat. Die Frage nach einem Sinn, der bestimmten Handlungen beigelegt ist, 22 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [1921], Tübingen 2002, S. 1–30. 23 Amiria Henare, Martin Holbraad und Sari Wastell, „Introduction: Thinking Through Things“, in: Thinking Through Things. Theorizing Artefacts Ethnographically, hg. von dies., London und New York 2007, S. 1–31. 24 Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford u. a. 2007, z. B. S. 23– 25. 25 Ebd., S. 51–86.

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der sie grundsätzlich charakterisiert und sie auf ein bestimmtes Ziel hin ausrichtet, spielt dabei keine Rolle mehr. Ein Hammer zeigt seine „Handlungsmacht“ durch die schlichte Tatsache, dass der Nagel am Ende in der Wand steckt – auf eine Weise, wie es ohne ihn nicht möglich wäre.26 Es liegt durchaus auch in unserem Interesse, menschliche und nichtmenschliche Akteure als Elemente einer „symmetrischen“ Wechselbeziehung zu verstehen. Schließlich trifft sich dies mit unserem Anliegen, ästhetischen Objekten diejenige zentrale Rolle für unsere Erfahrung von ihnen zuzugestehen, von der wir meinen, dass sie ihnen tatsächlich auch zukommt. Diesen Beitrag ästhetischer Objekte zu ihrer eigenen Erfahrung jedoch ausschließlich aus ihren situativen Verwendungszusammenhängen herzuleiten scheint uns nun allerdings gerade nicht der Art und Weise zu entsprechen, wie sie uns erscheinen. Denn zwar muss ästhetischen Objekten ihre Handlungsmacht, wie oben beschrieben, von ihren menschlichen Rezipienten eingeräumt werden – was durch (sub)kulturelle Rahmungen genauso geschehen kann wie durch individuelle Vorlieben oder situative Erfahrungsbedingungen. Ist dies allerdings geschehen, übernehmen sie die Initiative,27 und zwar eben nicht nur kausal, in Hinblick darauf also, dass überhaupt etwas geschieht, sondern auch und gerade in Bezug auf ihren Gehalt, bezüglich desjenigen also, worum es in der ästhetischen Erfahrung der Sache nach geht. Der oben so genannte „Aufforderungscharakter“ ästhetischer Objekte ist also keineswegs rein prinzipieller Natur, sondern vielmehr dadurch fundamental charakterisiert, dass er sich gerade auch in der Sache artikuliert – wobei diesem sachlichen Gerichtet-Sein ästhetischer Objekte insofern etwas Mystisches zukommt, als es tatsächlich an das Objekt selbst gebunden ist. Denn weder geht das, was es sagen will, in dem auf, was diejenigen sich gedacht haben mögen, die das Objekt ursprünglich geschaffen haben, wie dies die Genieästhetik in ihren nach wie vor bestehenden Varianten impliziert, noch erschöpft es sich, der sozialkonstruktivistische Fauxpas, in dem, was Rezipienten aus ihm machen. Dennoch ist es genau dieser „Sinn“ in einem durchaus Weberschen Sinn, über den ästhetische Objekte nicht nur verfügen, sondern der sie tatsächlich ihrem Wesen nach auszeichnet. Und diesen Sinn prägen sie uns in unserer Erfahrung von ihnen auch auf – auch wenn er sich, ein Grundmotiv der Ästhetiktheorie seit Baumgarten, dem begrifflichen Zugriff durch seine sinnliche Struktur grundsätzlich entzieht. Deutlich zum Vorschein kommt die Erfahrung einer in der Sache gerichteten Sinnhaftigkeit ästhetischer Objekte dabei in der Metapher des „Sprechens“, in der Charakterisierung ästhetischer Erfahrung als ein „angesprochen Werden“ durch spezifische Objekte also. Denn auch wenn es dabei um ein „Sprechen“ geht, das nicht sprachlicher Natur ist und dessen eigentlicher Gehalt damit auch nicht kommunizierbar ist – weshalb Adorno

26 Ebd., S. 71 f.; vgl. auch Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham u. a. 2010. 27 Im „ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne“, schreibt Hannah Arendt, „ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe“; Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben [1958], München und Zürich 2007, S. 215.

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es mit dem Sprechen der Feen in den Märchen vergleicht28 – so ermöglicht die Analogie des „Sprechens“ doch, den inhaltlichen und in Hinblick auf diesen Inhalt ausgerichteten, also sinnhaften Beitrag zu betonen, den Bilder, Aufführungen, Klänge und ästhetische Objekte überhaupt zu ihrer jeweiligen Erfahrung selbst leisten.29 Es ist diese Erfahrung einer uns vor sich hertreibenden Sinnhaftigkeit des Objektes selbst, die wir durch die Behauptung einer „Handlungsmacht ästhetischer Objekte“ ansprechen und ins Zentrum unserer Untersuchungen stellen wollen. Unter anderem verfolgen wir dabei das Ziel, über die weniger weitreichende Behauptung einer „Wirkmacht“, „Wirkmächtigkeit“ oder auch „Wirkkraft“30 des Ästhetischen hinauszugelangen. Denn auch die Rede von den „Wirkungen“, die ästhetische Objekte zeitigen, kann – dem oben beschriebenen Handlungs-Modell der Akteur-Netzwerk-Theorie durchaus vergleichbar – dazu verleiten, das Verhältnis von ästhetischem Objekt und den Reaktionen, die es hervorruft, auf eine Kausalbeziehung zu reduzieren. Und dabei gerät dann eben genau derjenige innere Sinnzusammenhang zwischen ästhetischem Objekt und seiner ästhetischen Erfahrung aus dem Blick, von dem wir meinen, dass er ästhetische Erfahrung wesentlich konstituiert. Geht man nun diesen Schritt von der Wirkung ästhetischer Objekte hin zur Behauptung ihres Handelns, stellt sich unmittelbar die Frage, worin denn dieser sinnhaft gerichtete Aufforderungscharakter besteht, in dem die Handlungsmacht ästhetischer Objekte sich manifestiert, welchen „Sinn“ ästhetische Objekte also entfalten, wie dieser sich vermittelt und welche Folgen dies am Ende hat, für das erfahrende Subjekt, aber auch historisch oder sozial. Dies zu beantworten kann allerdings nur in Auseinandersetzung mit konkreten ästhetischen Objekten und ihren spezifischen, gesellschaftlich und historisch situierten Erfahrungen gelingen – eine notwendige Folge des oben Gesagten. Denn wenn ästhetische Erfahrungen in dem, was sie wesentlich ausmacht, an die spezifischen ästhetischen Objekte gebunden sind, die diese Erfahrungen hervorrufen, dann sind sie auch an den spezifischen Gehalt dieser Objekte gebunden, wie er sich in einer historischen Situation situativ artikuliert. Und wenn diese ästhetischen Objekte sich wiederum nicht durch eine spezifische Seinsart bestimmen lassen, sondern sich durch einen spezifischen Modus der Erfahrung konstituieren, der potentiell jedes Objekt umfasst, können diese Objekte in dem, was sie ästhetisch ausmacht, eben auch sehr unterschiedlich sein. Daher kann die Frage nach der „Handlungsmacht ästhetischer Objekte“ bestenfalls dort allgemein gestellt werden, wo es um die Form ästhetischer Erfahrung überhaupt geht. Denn auch wenn es sich immer um ästhetische Erfahrungen handelt, die insofern vergleichbar sind, als die Sinnhaftigkeit ihrer Objekte sich sinnlich artikuliert, so macht es eben doch einen Un-

28 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 191. 29 Vgl. auch Martin Holbraad, „Can the Thing Speak?“, in: Open Anthropology Cooperative Press, Working Papers Series, Nr. 7, 2011, S. 1–26 [http://openanthcoop.net/press/2011/01/12/can-the-thing-speak/]. 30 Z. B. Bredekamp 2015 (wie Anm. 12), S. 60.

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terschied, ob man vor einem Werk von Picasso weilt, einen Krimi liest, ein Rockkonzert besucht oder einen Baum umarmt – um von solchen ästhetischen Erfahrungen ganz zu schweigen, die sich in historisch-kulturellen Kontexten ereignen, die nicht oder jedenfalls nicht wesentlich „westlich“ geprägt sind. Und diese Unterschiedlichkeit gilt es eben auch in Rechnung zu stellen, wenn man versucht, das Ästhetische näher zu bestimmen – was bislang weder dort der Fall ist, wo es um erkenntnistheoretische Fragen geht, noch dort, wo nach den subjektiven, gesellschaftlichen oder historischen Bedingungen und Bedeutungen ästhetischer Erfahrung gefahndet wird. Indem wir einerseits emphatisch von einer „Handlungsmacht ästhetischer Objekte“ sprechen, die sich andererseits aber nur durch den Modus ihrer Erfahrung und also, was ihren Gehalt angeht, nicht im Vorhinein bestimmen lassen, versuchen wir, über diese faktische Gebundenheit bestehender Diskussionszusammenhänge an spezifische Objektgattungen und deren historisch situierte soziale Milieus hinauszugelangen. Dies wiederum erlaubt uns, das jedenfalls ist unsere Hoffnung, zu einem gleichzeitig differenzierteren und umfassenderen Verständnis davon beizutragen, wie ästhetische Objekte ihre Wirkungen entfalten und um welche Wirkungen es sich dabei handelt. Denn es ist zwar sicher nicht so, dass über diesen Problemzusammenhang nicht reflektiert worden wäre und wird. Die Frage ist allerdings, wie allgemein diese Überlegungen tatsächlich sind, eben weil sie beinahe ausschließlich auf einem Verständnis ästhetischer Praxis beruhen, das historisch und damit sozial und kulturell klar situiert ist.

Eine Entgrenzung des ästhetischen Objekts Diese klare historische Verortung gilt bereits für die Konzeption von Ästhetik als einer Form von Erkenntnis, wie sie sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hat, wesentlich in Auseinandersetzung mit ihrer Konzeptualisierung durch Baumgarten und Kant.31 Zwar wurde sie von beiden auf durchaus verschiedene Weise als „sinnliches“ Gegenmoment zur vernunfthaften, am Begriff orientierten und damit abstrakten Erkenntnis der abendländischen Philosophie konzipiert. Gerade dadurch blieb die so verstandene Ästhetik aber doch auch dialektisch an die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis gebunden: von grundsätzlich anderer Gestalt, laboriert sie doch am selben Problem. Damit teilt sie zutiefst das Anliegen der aufgeklärten Vernunft, Einsichten in das Wesen der Welt und des Menschen zu liefern und den Menschen so, in Kants berühmten Worten, aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien – ein Ziel, das geographisch, historisch, aber selbst in Hinblick auf die soziale Heterogenität der „abendländischen“ Bevölkerung durchaus spezifisch ist und dessen Allgemeingültigkeitsanspruch schon von daher zur Disposition gestellt werden muss. 31 Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ [1750/58], Hamburg 1983; Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [1790], hg. von Heiner Klemme, Hamburg 2001.

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Auch in der spezifischen Konzeption von Kunst, mit der sich die Frage nach der Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis bald darauf verband, findet sich diese klare Verortung – aufgrund der idealistischen Historisierung des Erkenntnisproblems nun zusehends explizit. Zentraler Ort der Auseinandersetzung mit Fragen der Ästhetik wird dabei das „autonome“ Kunstwerk, was nichts anderes bedeutet, als dass nun auch die Kunstwerke selbst, ganz dem Anspruch der Aufklärung entsprechend, mündig geworden sind. Anstatt in religiöse oder andere gesellschaftliche Kontexte eingebunden zu sein und dort einem über sie hinausgehenden Zweck zu dienen, sind sie nun ihr eigener Herr, als der sie eigenständig und kritisch über die Welt reflektieren, und im Verlauf eines langen 20. Jahrhunderts nicht zuletzt auch über sich selbst. Einer Ästhetik, die sich wesentlich an diesem historischen Durchbruch des Kunstwerks orientiert, ist der Mangel an Allgemeingültigkeit damit sogar Programm – auch wenn sie selbst diesen Mangel lange dadurch zu negieren vermochte, dass sie alternativen künstlerischen Ausdrucksweisen a priori keinen ästhetischen Wert zugestand. So hat sich trotz alternativer Ansätze in der Kunsttheorie des frühen 20. Jahrhunderts die starke Orientierung der Ästhetik am apolitisch aufgefassten Autonomiegedanken bis weit ins 20. Jahrhundert fortgesetzt und einen bürgerlichen Werkbegriff zelebriert. Zwar formierte sich gegen diese Überheblichkeit immer wieder auch Widerstand: so entstand, um den Bereich der Musikästhetik als Beispiel zu nehmen, die Musikethnologie in den Jahren um 1880 gerade in Ablehnung der zutiefst eurozentrischen Kunstkonzeption der etablierten Musikwissenschaft.32 Dass die Populärmusikstudien sich bis heute über dasselbe beschweren, auch wenn es hier nun wesentlich um soziale und nicht mehr geographisch bedingte Ausgrenzungen geht zeigt allerdings deutlich an, dass sich an diesem Exzeptionalismus, der das historisch Spezifische für das Allgemeingültige hält, bislang nicht viel geändert hat.33 Die Folge dieses Festhaltens an einer sehr spezifischen Form des Ästhetischen ist dann eben auch eine Konzeption von Ästhetik, die weitestgehend Frage- und Problemstellungen reflektiert, wie sie für die bürgerliche Kunst bzw. für Vorstellungen einer westlich-„aufgeklärten“ Gesellschaft typisch sind. Wenn beispielsweise Albrecht Wellmer in einem Aufsatz die Musik Helmut Lachenmanns als „eine Erfahrung von Freiheit“ beschreibt, die „wiederum Basis ist für ein neues Selbst- und Weltverständnis“34, so spiegelt sich hier eben, so treffend diese Beschreibung für die gelehrte Hörerfahrungen neuer Musik sein mag, doch auch gerade dasjenige zutiefst aufklärerische Verständnis von Subjektivität und Selbstbestimmung wider, wie es sich auch schon bei Kant findet, wo „die 32 Guido Adler, „Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft“, in: Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft, Bd. 1, 1885, S. 5–20. 33 Michael Fuhr, Populäre Musik und Ästhetik. Die historisch-philosophische Rekonstruktion einer Geringschätzung, Bielefeld 2007; Theodore Gracyk, Listening to Popular Music: Or, How I Learned to Stop Worrying and Love Led Zeppelin, Ann Arbor 2007. 34 Albrecht Wellmer, „Über Negativität, Autonomie und Welthaltigkeit der Musik; oder: Musik als existentielle Erfahrung“, in: Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 167, 2006, H. 1, S. 17–21, S. 21.

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Schöne[n] Dinge [an]zeigen, daß der Mensch in die Welt passe“.35 Schon deshalb, weil sie auf einer sehr spezifischen, eben bürgerlichen Idee von Freiheit und Individualität beruht, lässt sich diese Form der ästhetischen Erfahrung allerdings nicht über den Kontext hinaus verallgemeinern, in dem diese Ideen geteilt werden – wobei zu fragen ist, wie weit dieser Kontext denn überhaupt reicht, wenn, wie Bourdieu in seiner berühmten empirischen Studie über „die feinen Unterschiede“ in der französischen Gesellschaft zeigt, das für diese Art der Erfahrung nötige „distanzierte“ Kunstverständnis überhaupt nur von den „gehobenen Klassen“ geteilt wird.36 Wir behaupten nicht, dass diese und vergleichbare Überlegungen zur Ästhetik, nur weil sie weitenteils einem historisch sehr spezifischen Verständnis von Kunst und Erkenntnis entstammen, nicht auch allgemein von Bedeutung sein können. Wir meinen aber doch, dass neu nach ihrer Reichweite zu fragen ist, oder besser vielleicht: nach ihrer Begrenztheit. Und dabei muss es eben darum gehen, einerseits möglichst vorurteilsfrei danach zu fragen, was denn überhaupt alles zum ästhetischen Objekt wird – eine Debatte, die für die Bildende Kunst von Marcel Duchamp und John Dewey37 oder auch Andy Wahrhol und Arthur Danto38 durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch geführt wurde –, um dann andererseits verfolgen zu können, wie sich die spezifische Handlungsmacht dieser Objekte konstituiert und in welche Sinnwelten sie uns aufgrund ihrer „Handlungsmacht“ jeweils entführen. Da ästhetische Objekte sich über ihre Erfahrung bestimmen, kommen dabei grundsätzlich alle Arten von materiellen wie immateriellen Objekten in Frage, und entsprechend weit gefasst sind die hier versammelten Versuche, aus theoretischer, fachhistorischer oder empirischer Perspektive nach der Handlungsmacht ästhetischer Objekte zu fahnden. Zwei Fragenkomplexe stehen dabei im Zentrum, die dem Buch auch eine innere Struktur verleihen. Zum einen ist dies die Frage, wie sich die Handlungsmacht ästhetischer Objekte konstituiert. Das Spektrum, in dem diese Frage verhandelt wird, ist dabei weit: Guido Sprenger reflektiert über die Sozialisation von Geistern in und durch kleine Lehmfigürchen und die Rolle, die diese Dank dieser Transformation in der rituellen Heilpraxis im laotischen Hochland zu spielen in der Lage sind. Ilka Becker untersucht den Beitrag von Pilzen zur Konstitution von Kunstwerken, Benjamin Wihstutz fragt nach der Möglichkeit, ästhetische Handlungsmacht durch Abwesenheit zu konstruieren, wobei ihm „Theatralität“ als zentrales Konzept den Weg weist, und Linda Hentschel spürt der Handlungsmacht von Bildern extremer Gewalt nach, die sie nicht in den Bildern oder den sie Betrachtenden lokalisiert, auch nicht in deren Wechselspiel, sondern in vorgelagerten Prozessen visueller 35 Immanuel Kant, Reflexionen zur Logik, in: Kants gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Bd. XVI, S. 127, Refl. 1820a. 36 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [1979], Frankfurt am Main 1987, S. 57–114. 37 John Dewey, Kunst als Erfahrung [1934], Frankfurt am Main 1988. 38 Arthur Danto, Kunst nach dem Ende der Kunst [1992], München 1996.

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Affizierung. Und Gregor Wedekind schließlich zeigt, wie sich Duchamps Gesamtwerk im Rückgriff auf Alfred Gells Überlegungen zu Kunst und Handlungsmacht neu und besser als eines verstehen lässt, das sich durch einen Exzess zeitlich konnotierter Referentialitäten der Linearität verweigert und so einen Erfahrungskomplex zur Wirkung bringt, der sich reflexiven Zugriffen prinzipiell entzieht. Dem Fragenkomplex, der den zweiten Teil des Bandes durchzieht, geht es nicht darum, wie die Handlungsmacht sich zusammensetzt, sondern darum, wie sie wirkt – wo und wie ästhetische Objekte ihre Erfahrung also tatsächlich mitbestimmen. Annika Schlitte geht dieser Frage nach, indem sie sich dem „spekulativen Realismus“ Graham Harmans widmet und seine Position mit phänomenologischen Überlegungen zum Objekt und seiner Erkenntnis in Beziehung setzt. Diedrich Diederichsen greift die Frage nach dem Wesen der „Spur“ als ästhetischem Objekt auf und fragt anhand etlicher Beispiele aus Kunst und Populärkultur, inwieweit sie tatsächlich „artikuliert“ und also bestimmt oder doch einfach nur lesbar ist. Petra Lange-Berndt setzt sich am Beispiel des „Treehugging“ damit auseinander, welchen Beitrag die Bäume selbst für ihre Umarmungen leisten und was dies für die Kontaktzone von Kunst und Ökologie bedeutet. Und Markus Verne schließlich fragt in seinem Beitrag danach, welche Rolle der sehr spezifische Klang dafür spielt, dass man im Hochland von Madagaskar Heavy Metal hört, wie dieser Klang in das Leben Betroffener hineinwirkt und warum dies von weitreichender Bedeutung für den musikethnologischen Kulturrelativismus ist. Mit alledem schließen wir, wie eingangs bereits betont, an diejenigen sehr grundlegenden theoretischen Neujustierungen an, die mit Hilfe unterschiedlichster Terminologien seit einer Weile versuchen, die Enge sozialkonstruktivistischer Zugänge zu überschreiten, indem sie den Beitrag nichtmenschlicher Entitäten für technologische, gesellschaftliche oder auch ökologische Gestaltungen betonen. Wir beziehen uns allerdings auch auf Debatten, die innerhalb der hier repräsentierten Themenfelder über die Notwendigkeit geführt werden, das, was „Ästhetik“ ist oder sein kann, neu zu fassen. In der Philosophie wären hier beispielsweise die Herausforderungen der neuen Realismen zu nennen;39 in der bildenden Kunst wäre dies die zentral gewordene Frage nach dem Bildakt; in der Musik stellt sich die Frage nach einer klangbasierten Musikästhetik; in der Ethnologie schließlich geht es um die Erweiterung diskursiver Weltkonstruktion durch sinnliche Erfahrung und Erkenntnis.40 Auf diese Weise hoffen wir, sowohl innerhalb unserer Disziplinen als auch darüber hinaus einen Beitrag für das Verständnis ästhetischer Erfahrung und ihre Gebundenheit an ästhetische Objekte zu leisten, vielleicht sogar für das Verhältnis von Menschen zu den sie umgebenden Objekten überhaupt, seien diese nun materieller oder sonstiger Natur. 

39 Vgl. z. B. Der Neue Realismus, hg. von Markus Gabriel, Frankfurt am Main 2014, Graham Harman, Speculative Realism. An Introduction, Cambridge/MA 2018. 40 Vgl. z. B. Tim Ingold, The Perception of the Environment. Essays on Livelihood, Dwelling, and Skill, London und New York 2000; Sarah Pink, Doing Sensory Ethnography, Los Angeles u. a. 2009.

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XXIV  Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind

W. J. T. Mitchell, „Was will das Bild?“ [1997], in: ders., Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008, S. 46–77. Sarah Pink, Doing Sensory Ethnography, Los Angeles u. a. 2009. Robert Smithson, The Collected Writings, hg. von Jack Flam, Berkeley und Los Angeles 1996.

Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst, Frankfurt am Main 2000. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [1921], ­Tübingen 2002. Albrecht Wellmer, „Über Negativität, Autonomie und Welthaltigkeit der Musik; oder: Musik als existentielle Erfahrung“, in: Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 167, 2006, H. 1, S. 17–21.

Guido Sprenger

Verknüpfte Geister, flüchtige Körper Ästhetische Objekte und ihre rituellen Netzwerke im Norden von Laos

Einleitung Den Einstieg in diese Analyse ethnologischer Daten bildet ein Vergleich, der zunächst oberflächlich und ungerechtfertigt erscheinen mag, bis das entscheidende Moment dieses Bandes ins Spiel gebracht wird: die Wirkmacht der Objekte. Der Vergleich soll zunächst die Spanne des Begriffs der ästhetischen Objekte reflektieren, bevor der eigentliche Gegenstand der Analyse in den Vordergrund rückt – die anthropomorphen Ritualfiguren der Rmeet, einer Gesellschaft im Hochland von Laos, nur für den Anlass geschaffene Gebilde, die trotz ihrer Flüchtigkeit ein Netzwerk menschlicher und nicht-menschlicher, sichtbarer und unsichtbarer Akteure um sich versammeln. Der Vergleich betrifft zwei Arten von Lehmfiguren. Die erste zählt wohl unzweideutig in den Bereich ästhetischer Objekte. Mit den verschiedenen Versionen seiner Installation Field hat der britische Bildhauer Antony Gormley zwischen 1992 und 2003 fünf Ausstellungsorte gefüllt (Abb. 1). Dort stehen jeweils zehntausende einfacher, etwa halbmeterhoher Lehmfiguren dichtgedrängt auf dem Boden, die Vorderseite dem Publikum zugewandt. Die Gesichter sind dabei auf zwei Augenlöcher reduziert. Zur Intention erklärt Gormley auf seiner Website: [The figures were] made conscious by being given eyes… I wanted the art to look back at us, its makers (and later viewers), as if we were responsible – responsible for the world that it [Field] and we were in.1 Der Begriff des Bewusstseins, den Gormley hier impliziert, ist, konträr zu den meisten üblichen Verwendungen, ein anti-essenzieller und rein relationaler. Die Tatsache, dass die Figuren die Betrachterinnen und Betrachter ansehen, genügt, ihnen Bewusstsein zuzuschreiben. Auch ohne Bewegung und ähnliche konventionelle Markierungen von Belebtheit installiert Gormley die Figuren des Field als fortdauernden Kommunikationsakt. Durch die Erwiderung des Blicks besteht das Werk darauf, die Betrachterinnen und Betrachter aus ihrer passiven Haltung zu drängen und ihre Verknüpfung mit den Figuren anzuerkennen.

1 http://www.antonygormley.com/projects/item-view/id/245#p0 [24. Februar 2019].

2  Guido Sprenger

1 Antony Gormley, Asian Field, 2003, 210.000 handgroße Tonfiguren, angefertigt in Kollaboration mit 350 Bewohnern jeglichen Alters des Dorfes Xiangshan, im Nordosten von Guangzhou, Südchina, Installationsansicht ICA Singapore, Singapur, 2005.

Nicht unähnlich, und zugleich in vieler Hinsicht konträr, sind die Lehmfiguren, die in den Ritualen der Rmeet zum Einsatz kommen (Abb. 2). Sie dienen dazu, krankheitsverursachenden Geistern im Laufe von Heilritualen einen vorübergehenden Körper zu bieten, mit dessen Hilfe sie an einem Opfermahl teilnehmen können. Diese Art des Rituals gehört zu den gängigsten, die ich im Dorf Takheung, wo die meisten Daten in diesem Artikel erhoben wurden, beobachten konnte.2 Zur Herstellung der Figuren ist keine Expertise notwendig – Männer, Frauen und Halbwüchsige können sie aus dem vorhandenen Erdreich kneten. Die Figuren werden weder gebrannt noch anderweitig haltbar gemacht. Nach dem Ritual verfallen sie oder, was häufig der Fall ist, werden von Hunden und Schweinen zerstört, die sich an den Resten der rituellen Mahlzeit laben.

2 Der erste Forschungsaufenthalt, von dem viele der hier aufgeführten Ergebnisse stammen, umfasste insgesamt elf Monate in Takheung in der Provinz Luang Nam Tha, Laos, in den Jahren 2000 und 2001. Zwischen 2002 und 2018 habe ich zehn weitere Monate in verschiedenen Dörfern der Rmeet geforscht.

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2 Lehmfigur der Rmeet (Geist der schlecht Gestorbenen).

Auch die Figuren der Rmeet verfügen meist über nur einen einzigen Gesichtszug, doch handelt es sich nicht um Augen, sondern Münder. Während die Kommunikationsfähigkeit – ihre Soziabilität gewissermaßen – von Gormleys Figuren auf den Blicken beruht, die Mensch und Figur tauschen, so liegt sie bei den Figuren der Rmeet in ihrer Teilnahme an einem gemeinsamen Mahl. Das jeweilige Register der Sinne, über das die Teilnahme erfolgt, bestimmt also die Ausprägung der entsprechenden Organe. Doch abgesehen von diesen Ähnlichkeiten verbindet diese beiden Typen von Objekten wenig. Gormleys Arbeit ist als Ausdruck der individuellen Kreativität eines modernen Künstlers markiert und somit Teil eines spezifischen gesellschaftlichen Subsystems der Moderne. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die tausende der Figuren produziert haben, werden unter die spezifische Wirkmacht des ausführenden Künstlers subsumiert. Die Figuren der Rmeet hingegen sind rituelle Gebrauchsgegenstände, die keine nennenswerte soziale Differenzierung erfordern. Die Rituale selbst werden zwar von spezifischen, beinahe ausschließlich männlichen Heilern durchgeführt, aber diese stellen die Figuren selten selbst her.

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Die Figuren des Field sind, wenn auch nur temporär ausgestellt, doch gebrannt und so auf Haltbarkeit und Dauer angelegt. Die Figuren der Rmeet hingegen überleben ihr Ritual oft nur um wenige Minuten – tatsächlich liegt ein Teil ihrer Wirkmacht, wie noch zu zeigen sein wird, in ihrer Zerstörung. Es ist der Moment der Zerstörung, der jedem Akteur, der von ihrem Netzwerk umfasst wird, seinen normativ gültigen Platz zuweist. In dieser Hinsicht also scheint ein Vergleich der beiden Objekttypen abwegig. Beide sind jedoch ästhetisch, insofern sie durch ihre Sinnlichkeit auf die Betrachter wirken. Sie werden von komplexen, sinnproduzierenden Netzwerken von Menschen und Nicht-Menschen hervorgebracht und verbinden daher Bedeutung und Materialität.3 Zugleich aber wirken sie auf die Netzwerke selbst – zum einen schon vor dem Moment ihrer Erschaffung, indem sie bestimmte Bedingungen an ihre „Funktionalität“ stellen, also an ihren Platz im Netzwerk, und zum anderen danach, indem sie wiederum auf das Netzwerk wirken. In ihrer Wirkmacht stehen beide Objekte an der Schwelle zwischen Person und Objekt, und das stellt Anforderungen an ihre Form – die geöffneten Augen und hungrigen Münder verbinden sie miteinander. Genau aus diesem Grunde scharen sie ein Netzwerk anderer Akteure um sich. Im Falle des Field sind das Künstler, Helfer, Publikum, Ausstellungsmacher wie auch konkrete Orte, das Material Erde, die Brennöfen, bei den Rmeet hingegen Kranke, Heiler, Geister, Tiere, Reis und wiederum Erde. In dieser Hinsicht sind beide Arten Lehmfiguren Aktanten im Sinne Bruno Latours.4 Ihre Wirkmacht entfaltet sich in einem dynamischen Verhältnis zu anderen Wesenheiten, die sie unter den Bedingungen ihrer Materialität schaffen oder auf die sie andererseits wiederum Wirkung haben. Insbesondere für die Figuren der Rmeet argumentiere ich, dass ihre Ästhetik im rituellen Prozess liegt, der bestimmte ontologische Wahrheiten über Menschen, Nicht-Menschen und Welt auf sinnlich erfahrbare Weise verdichtet. Die Ästhetik dieser Wahrheiten wird also von allen Beteiligten des Netzwerks, in dessen Zentrum die Figuren stehen, generiert. Ihre Ästhetik lässt sich also nicht auf die Beziehung zwischen Objekt und Betrachter (oder Künstlerin, Objekt und Betrachter) reduzieren. Man könnte diese Formen gegenseitigen Bewirkens und Erschaffens auch im Sinne von Tim Ingold als „Leben“ bezeichnen.5 Ein solch generischer Begriff läuft jedoch Gefahr, nicht nur eine Analyse des jeweils Spezifischen zu behindern, sondern auch die produktiven Differenzen der Aktanten untereinander zu unterschlagen. Das gilt besonders dann, wenn man sich die Frage stellt, ob die Aktanten Personen sind oder nicht. Mit Person ist hier ein Wesen gemeint, das als vollständiges, agentives 3 Vgl. die Einleitung zu diesem Band. 4 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie [1991], Frankfurt am Main 2008. 5 Tim Ingold, Bringing Things to Life: Creative Entanglements in a World of Materials, Manchester 2010 (Realities Working Paper, 15) [www.manchester.ac.uk/realities] (20. Mai 2021); sowie Tim Ingold, „Art and anthro­ pology for a sustainable world“, in: Journal of the Royal Anthropological Institute, N. S. Bd. 25, 2019, Nr. 4, S. 659–687.

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Mitglied einer Gemeinschaft in Erscheinung treten kann. Die Kriterien dafür variieren in verschiedenen kulturellen Kontexten, aber Kommunikationsfähigkeit gehört in der Regel dazu. Darüber hinaus werden oft Qualitäten wie Intentionalität, Verantwortlichkeit, Verbindlichkeit, Entscheidungsfähigkeit, Körperlichkeit und ähnliches erwartet.6 Nicht jede Person erfüllt die normativen Erwartungen bezüglich jedes einzelnen dieser Kriterien, aber dafür kann sie kritisiert werden; bei Nicht-Personen ist das nicht der Fall. Wichtig sind darüber hinaus die kosmologischen oder ontologischen Bedingungen des Personenstatus, zum Beispiel das Vorhandensein eines Äquivalents von Seele, Geist und ähnlichem. Bei den Rmeet muss eine Person kein lebender Mensch sein. Insbesondere gibt es abgestufte oder potenzielle Personen, die nicht Mitglieder eines menschlichen Kollektivs sind oder nicht alle Kriterien des vollen Personenstatus erfüllen. Personenhaftigkeit ist vielmehr ein Horizont, in den Kommunikation und Interaktion hineinwirken können, schrittweise, nicht-teleologisch und oft unvollständig.7 Die offene Frage, ob ein Wesen nicht nur Wirkmacht hat, sondern eine Person ist, kennzeichnet die Phänomene, die man unter die breite, schwer definierbare Kategorie „Animismus“ fasst. Ende des 19. Jahrhunderts als früheste Stufe in der Evolution der Religion definiert,8 erlebt der Begriff seit den späten 1990ern eine Renaissance.9 Als Terminus für Beziehungstypen, kulturelle Muster und Identifikationen, die Personenhaftigkeit nicht nur auf den Homo Sapiens und Leben nicht nur auf Wesen aus Zellen beschränken, stellt dieser Neue Animismus ontologische Grundannahmen der naturalistischen Moderne und des cartesianischen Denkens in Frage. Dabei wirkt er weit über die Ethnologie hinaus in andere Felder, wie Kunstgeschichte10 oder Design11. Betrachtet man Naturalismus als Ontologie der Moderne, die nicht nur Natur und Kultur als ontologische Bereiche trennt, sondern auch Subjekt und Objekt, menschliche Person und nicht-menschliche Nicht-Person, dann erscheint der Animismus als Gegenkonzept.12 Insofern solche Gegenkonzepte stets „romantisch“ waren, droht auch dem Animismus die Romantisierung.13 Dann mag er als Aufhebung der Differenzierung, als 6 Grace Gladys Harris, „Concepts of Individual, Self and Person in Description an Analysis“, in: American Anthropologist, Bd. 91, 1989, Nr. 3, S. 599–614. 7 Guido Sprenger, „Graded Personhood: Human and non-human actors in the Southeast Asian uplands“, in: Animism in Southeast Asia, hg. von Guido Sprenger und Kaj Århem, London 2016, S. 73–90; Guido Sprenger, „Communicated into being: Systems theory and the shifting of ontological status“, in: Anthropological Theory, Bd. 17, 2017, H. 1, S. 108–132. 8 Edward Burnett Tylor, Religion in Primitive Culture: Part II of „Primitive Culture“ [1871], New York u. a. 1958. 9 Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur [2005], Berlin 2011; The Handbook of Contemporary Animism, hg. von Graham Harvey, Durham 2013. 10 Animismus: Revisionen der Moderne, hg. von Irene Albers und Armin Franke, Zürich 2012. 11 Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus, hg. von Judith Dörrenbächer und Kerstin Plüm, Bielefeld 2016. 12 Vgl. Descola 2011 (wie Anm. 9); Eduardo Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysiken: Elemente einer post-strukturalen Anthropologie [2015], Leipzig 2019. 13 Guido Sprenger, „Can animism save the world?“ in: Toward an anthropology of life in the anthropocene, hg. von Ernst Halbmayer und Eveline Dürr, Sociologus, Bd. 71, 2021, Nr. 1, S. 73–92.

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Verschmelzung mit den Nicht-Menschen oder als Personifizierung der Natur erscheinen. Jedoch hat schon Latour darauf aufmerksam gemacht, dass jene Gesellschaften, die sich der Produktion solcher naturkultürlicher Hybride bewusst sind, diese nur unter Vorsichtsmaßnahmen zulassen.14 Auch die Beobachtung von Gesellschaften in Südostasien, die animistische Identifikationen und Kommunikationen in ihrer alltäglichen Praxis vornehmen, legen das nahe: Die Teilhabe von Menschen an Nicht-Menschen ist stets von Gefahren und Sonderzuständen umgeben, und ein wesentlicher Aspekt des rituellen Lebens besteht daraus, das rechte Maß von Partizipation und Differenzierung zu treffen.15 Insofern sie ständig zwischen Menschen und Nicht-Menschen differenzieren, ähneln sich Animismus und moderner Naturalismus. Doch der Animismus gibt diesem Problem nicht die Form gegenseitig exklusiver, wenn auch interagierender ontologischer Domänen wie Natur und Kultur. Vielmehr sind seine Gegenstände dynamisch und mehrdeutig – mitunter ist es gerade der Prozess ihrer Deutung und der Interaktion, der ihren jeweiligen ontologischen Status konstituiert. Das betrifft Personen und Nicht-Personen, Menschen und Nicht-Menschen, Sichtbare und Unsichtbare, Subjekte und Objekte. Diese vermeintlich gegenseitig exklusiven Begriffe verbinden sich in vielen Wesenheiten zu einer Art Teilidentität: In mancher Hinsicht kontinuierlich und identisch, in anderer dann wiederum diskontinuierlich und different, suggerieren diese Wesenheiten das Bild einer Faltung oder einer Möbius­schleife – verbunden in einer Hinsicht, getrennt und einander gegenüber gestellt in anderer. Mit ihrem Horizont an Personenhaftigkeit bilden diese Teilidentitäten sich nur in heterogenen Zusammenstellungen, die ohne strukturierende Differenzprozesse nicht sein können und daher notwendigerweise unabgeschlossen sind. Auch das Problem der Grenze stellt sich unablässig: Es gibt sie, die Hülle, die ein Wesen vom anderen trennt, aber sie ist nicht gegeben, sondern erfordert stetes Handeln. Das trifft insbesondere auf die menschliche Person zu. Jede Wesenheit bildet somit eine Versammlung anderer Wesenheiten, die durch Differenz und Partizipation – im Sinne Lucien Lévy-Bruhls16 – zusammengehalten werden. Wie diese Versammlung im Falle der Figuren der Rmeet zustande kommt und wie weit sie reicht, ist Gegenstand der folgenden Analyse. Dazu ist es nötig, zunächst die Vorstellungen zu erläutern, die Krankheiten, Geister und das Konzept der Person verbinden.

14 Latour 2008 (wie Anm. 4), S. 58. 15 Benjamin Baumann, „Das animistische Kollektiv. Lévy-Bruhl, soziale Ontologien und die Gegenseitigkeit von Menschen und Nicht-Menschen in Thailand“, in: Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft, Bd. 4, 2018, H. 2, S. 129–166; Guido Sprenger, „Dimensions of animism in Southeast Asia“, in: Animism in Southeast Asia, hg. von Guido Sprenger und Kaj Århem, London 2016, S. 31–51. 16 Lucien Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven [1927], Darmstadt 1956.

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Instabile Personen Als Rmeet identifizieren sich etwa 21.000 Menschen in Laos, einem südostasiatischen Land mit hoher kultureller Diversität. Die Rmeet sprechen eine Mon-Khmer-Sprache und haben historisch keine Gemeinwesen über der Ebene von Dörfern gebildet. Sie gelten als Bewohner des Gebirges, wo sie Trockenreis im Brandrodungsfeldbau anbauen. Anders als die das Tiefland und den Nationalstaat dominierenden Lao sind sie keine Buddhisten, sondern richten ihre Rituale an Wesenheiten, die für gewöhnlich als Geister (phi) bezeichnet werden. Die Kosmologie der Rmeet kann daher animistisch genannt werden. Geister sind in dieser Welt relationale Wesen, die in Beziehung zu bestimmten Personen, Objekten und Ereignissen als Personen konstituiert werden. Sie sind in der Regel unsichtbar, aber ihre Gegenwart, ihr Handeln und ihr Charakter lassen sich ablesen von den Effekten, die sie zeitigen, und von den Spuren, die sie hinterlassen. Die Reaktionen der lebenden Menschen auf diese Spuren, in der Regel in Form von Ritualen, rufen wiederum lesbare Erwiderungen der Geister hervor, die ihnen Schritt für Schritt eine deutlichere Kontur und gewissere Präsenz verleihen. Ein ritueller Heiler muss demnach zunächst entscheiden, ob eine Krankheit der Kommunikationsakt eines Geistes ist oder nicht. Dazu genügen Divinationstechniken wie zum Beispiel die Untersuchung des Dotters eines rohen Eis, das er am Körper des oder der Kranken entlanggeführt hat. Hat er den verantwortlichen Geist identifiziert, muss er die Bedingungen aushandeln, unter denen dieser den Körper des Kranken verlässt und ihm einen unsichtbaren Aspekt der Person namens klpu zurückgibt. Dazu sind mitunter ausführliche Sitzungen notwendig, in denen der Heiler unmittelbar mit den Geistern kommuniziert. Er ruft sie, indem er rohen Reis auf einen Fächer legt und ins Publikum schleudert, darauf tritt schlagartig seine Trance ein. Im Zuge dieser Interaktion wird der Geist gegenwärtiger und personenförmiger. Bevor daher etwas über den rituellen Verkehr mit den Geistern und die Rolle der Lehmfiguren gesagt werden kann, sind einige Erläuterungen zum Konzept der Person bei den Rmeet am Platze. Das in der europäischen Moderne dominante Konzept der Person ist das Individuum – ein lebendes Exemplar der Gattung Homo Sapiens, gebunden an seinen Körper und gekennzeichnet durch Einzigartigkeit, Geschlossenheit und Selbstbestimmung.17 Die Konzepte der Person, die in zahlreichen Gesellschaften Südostasiens vorherrschen, unterscheiden sich von diesem Modell erheblich. Hier setzt sich die Person aus verschiedenen Komponenten oder besser Aspekten zusammen, die jeweils auf Beziehungen sozialer oder kosmologischer Art verweisen.18 Diese Aspekte sind nur vorüberge-

17 Louis Dumont, Individualismus: zur Ideologie der Moderne [1983], Frankfurt am Main und New York 1991. 18 Marilyn Strathern, The gender of the gift: problems with women and problems with society in Melanesia, Berkeley 1988; Dies., „Persons and partible persons“, in: Schools and Styles in Anthropological Theory, hg. von Matei Candea, London und New York 2018, S. 236–246.

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hend aneinander gebunden. Sie kommen bei der Geburt eines Menschen zusammen und zerfallen zu seinem Lebensende wieder. Im Falle der Rmeet sind es vor allem drei Aspekte, deren Beziehungen zueinander eine gesunde, agentive menschliche Person ausmachen: der Körper (to), eine Lebenskraft namens pääm sowie klpu, was sich recht ungenau mit dem durch die christliche Tradition vorbelasteten Begriff Seele übersetzen lässt. Pääm wird mit dem Atem assoziiert, kennzeichnet aber alles Leben, inklusive der Pflanzen, die ihr pääm durch Wachstum unter Beweis stellen. Ob Maschinen und Uhren pääm besitzen, ist umstritten. Das Wort bezeichnet auch Charaktereigenschaften und Stimmungen. Der für das Ritual wichtigste Begriff ist hingegen klpu. Klpu ist jener Aspekt der Person, der dem Unsichtbaren und den Geistern zugewandt ist, und seine Beziehung zum Körper ist am flüchtigsten. Im Traum sieht man die Welt aus den Augen des klpu, das sich auf Wanderschaft begibt. Nach dem Tod verwandelt klpu sich in den Totengeist (phi ii yoom), der ebenso „klpu des Toten“ (klpu ii yoom) genannt werden kann. Träumt man von einem Verstorbenen, so ist man diesem Aspekt seiner Person begegnet. Die Beziehung zwischen Körper und klpu ist stets instabil und gefährdet. Verschiedene weitere Beziehungen stabilisieren sie jedoch. Die wichtigste darunter ist die zum Hausgeist. Im Rmeet gibt es kein Wort für Kernfamilie; das Wort für Haus (nya) bezeichnet zugleich die Gruppe seiner Bewohner, in der Regel ein Paar mit Kindern und oft den Eltern des Ehemannes. Der Hausgeist ist eine Verlängerung dieser patrilinearen Gemeinschaft. Er ist selbst ein relationales Wesen, das sich aus den Geistern der verstorbenen Eltern des ältesten männlichen Bewohners des Hauses zusammensetzt sowie den Eltern des Ehemannes dieses Paars – die Linie von Ehepaaren reicht in der Regel drei bis vier Generationen zurück. Der Hausgeist ist somit explizit eine einzige Person und zugleich mehrere Ahnenpaare. Wird der Hausgeist mit Respekt behandelt und werden die verschiedenen rituellen Regeln im Haus beachtet, so sorgt er für eine Stabilisierung der Beziehung zwischen den Körpern und den klpu der Hausbewohner. Das zeigt sich insbesondere in dem Widerstand, den er gefährlichen Geistern bietet. Zusätzlich ist die Herkunftsfamilie der Ehefrau von entscheidender Bedeutung. Das Heiratssystem der Rmeet sieht feste Beziehungen zwischen frauengebenden und frauennehmenden Abstammungslinien vor. Frauen heiraten normativ Männer aus patrilinearen Gruppen, in die schon andere Frauen ihrer eigenen Linie eingeheiratet haben (für die Männer also unmittelbare Frauengeber) oder solche aus weiteren Linien, aus denen ihre eigene Linie Gattinnen empfangen hat (Frauengeber der Frauengeber). Die Linien sind also durch einen Fluss von Frauen verbunden, der jedoch nicht umgekehrt werden darf. Die frauengebenden Linien, bzw. die „Häuser“, aus denen sie bestehen, sind dabei ihren Frauennehmern in ritueller Hinsicht überlegen. Sie sind nicht nur die Quelle der Ehefrauen, sondern auch des Lebens und der Fruchtbarkeit der Felder. Ein Ehepaar tauscht ab der Hochzeit Gaben mit den Eltern und Brüdern der Ehefrau. Diese Gaben bringen die Vorfahren der Ehefrau dazu, klpu vom Friedhof zu senden, damit das neue Paar Kinder

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bekommt. Es handelt sich nicht um Wiedergeburt, sondern eine nicht weiter erklärbare Form der Neuentstehung von klpu. Die Bindung an die Frauengeber bleibt jedoch bestehen. Behandelt man sie respektlos, so zieht das klpu in deren Haus. Die Entfernung des klpu vom Körper äußert sich in Krankheiten. Hält dieser Zustand an, führt er zum Tod. In den meisten Fällen sind es unerwünschte Beziehungen zu gefährlichen Geistern, die die Beziehungen zwischen Körper und klpu beeinträchtigen. Während Hausgeister sowie der Dorfgeist in der Regel wohlwollend und schützend sind, unterliegen die Geister außerhalb des Dorfes nicht den Regeln menschlicher Zivilität. Zu ihnen zählen die zahlreichen Geister der Landschaft, die in Bäumen, Reisfeldern, Felsen, Flüssen oder Weggabelungen hausen. Dazu treten Geister des Himmels sowie die Geister derjenigen, die durch Unfälle oder Gewalt einen schlechten Tod gestorben sind und daher nicht in die Gemeinschaft der Toten auf dem Friedhof aufgenommen werden. Auch von den regulär Verstorbenen, die in ihrem „Dorf “, dem Friedhof, ein Leben nach dem Tode führen, kann Gefahr ausgehen, wenn man sie, wie den Hausgeist, nicht mit der angemessenen Vorsicht behandelt – in diesem Falle sind es aber die Familien ihrer Nachfahren, denen besondere Gefahr droht. Der Tod stellt eine Zerlegung der Aspekte des Toten dar. Pääm verschwindet. Der Körper wird auf dem Friedhof gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Hauses und der Abstammungslinie begraben. Die Trauernden ermahnen das klpu ein ums andere Mal, sich auf dem Friedhof eine neue Familie zu suchen und nicht zurückzukehren. Dennoch existiert der Tote in zwei getrennten Aspekten weiter – als relationales Bündel mehrerer Geister in Gestalt des Hausgeistes und als allein in seinem „Haus des Toten“ fortexistierender Geist auf dem Friedhof, der eines Tages ebenfalls sterben wird. Diese Doppelexistenz wird aber nicht als Aufspaltung in zwei Substanzen gesehen, sondern eher wie eine Doppelrolle, eine parallele Existenz mehrerer Beziehungskontexte – als das, was weiter oben Teilidentität oder Faltung genannt wurde. Menschliche Personen bestehen demnach aus fragilen Beziehungen zwischen heterogenen Aspekten, die wiederum von zusätzlichen Beziehungen stabilisiert werden. Diese Beziehungen stellen Identität und Differenz gleichermaßen zur Verfügung – was in einer Hinsicht als Verkoppelung des Verschiedenen erscheint, sind in anderer Hinsicht zwei Aspekte desselben Wesens. Diese Zweideutigkeit zeichnet jene Netzwerke aus, die in Ritualen aktiviert wird, wenn klpu und Körper auseinanderzufallen drohen.

Körper für die Geister Die oben beschriebene Kommunikation, die Geister schrittweise konkreter werden lässt, hat eine sinnliche Komponente, die für die ästhetischen Objekte von entscheidender Bedeutung ist. Fragt man Rmeet nach dem Unterschied zwischen Menschen und Geistern, betonen sie nicht deren Körperlosigkeit, sondern die Tatsache, dass sie unsichtbar sind.

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Sichtbarkeit ist jedoch ein Kriterium sozialer Beziehungen. Auf die Frage, warum man mir gegenüber einen Verwandten als tot bezeichnet hatte, obwohl er einige Zeit später nach Jahrzehnte dauernder Abwesenheit ins Dorf zurückkehrte, sagte man mir: „Wir haben ihn nicht gesehen.“ Sichtbarkeit und sinnliche Wahrnehmung sind fundamentale Codes sozialer Beziehungen, und Geister sind nicht ontologisch unsichtbar, sondern vor allem sozial weit entfernt. Tatsächlich können sie durchaus sichtbar werden – in Träumen, in den Visionen der rituellen Heiler und nicht zuletzt an abgelegenen Stellen im Wald. Diese Kontexte sind jedoch stets mit Gefahren markiert: Tote erscheinen im Traum, um Nahrung und Opfergaben zu fordern; wer darauf nicht reagiert, riskiert Krankheiten. Die Trancereisen des Heilers sind gefahrvoll, und eine Begegnung mit sichtbaren Geistern verheißt ähnliches Unglück. Geister zu sehen bedeutet, mit den Augen des den Geistern zugewandten Aspektes der Person, des klpu zu sehen, und das rückt den Menschen näher an die Sozialität der Geister und damit an den Tod heran. Die Kontrolle der Sichtbarmachung der Geister und ihre Zugänglichkeit für die Sinne sind demnach zentrale Ziele der Rituale, in denen sie in Figuren verkörpert werden. Das Ritual sozialisiert die Geister in gewisser Hinsicht und formt die von den Geistern angerichteten Schäden in soziale Beziehungen um. Solche Transformationen nehmen oft die Gestalt des Austauschs an. Krankheiten, die von Geistern ausgelöst werden, stellen einen Tausch dar, der durch einen gespiegelten Tausch rückgängig gemacht werden kann.19 Das klpu entfernt sich vom Körper, zugleich dringt der Geist in den Körper ein und konsumiert ihn. Kheak, „beißen“, ist die Vokabel, die dafür gebraucht wird, gleich mit dem „Reißen“ eines Beutetiers. Schon mit der Verwendung dieses Begriffs markiert man die extrasoziale, raubtierhafte Wirkmacht des Geistes. Dieser erzwungenen Umkehrung der Verhältnisse muss der Heiler folgen. Er muss dem Geist Ersatz anbieten, eine Beziehung zu einem anderen lebenden Wesen, das an Stelle des Menschen zur Beute wird. Zu diesem Zweck dienen die domestizierten Tiere, in erster Linie Hühner, Schweine und Rinder. Tiere kann man verkaufen und rituell verschenken, aber ihre wichtigste Funktion ist das Opfer. Schlachtungen zu nicht-rituellen Zwecken sind selten und umso seltener, je größer und wertvoller die Tiere sind. Die bedeutendsten Opfertiere sind Büffel und Zebukühe; von ihnen sagen einige Rmeet, dass sie über klpu verfügten. Schlachtet man sie für einen Geist, so wird das klpu des Tieres effektiv gegen das des Menschen getauscht. An zweiter Stelle kommen Schweine. Schweine verfügen nach Auffassung der meisten Rmeet nicht über klpu, deswegen wird ihrem Opfer ein Objekt aus Holz und Bambus beigegeben, das „klpu des Schweins“. Schließlich folgt als gängigstes Opfertier das Huhn. Die Opfertiere sind demnach über eine Kette

19 Vgl. Jos D. M. Platenkamp, „The Healing Gift“, in: For the Sake of our Future. Sacrificing in Eastern Indonesia, hg. von Signe Howell, Leiden 1996, S. 318–336.

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von Analogien miteinander verkoppelt und können an die Stelle eines menschlichen klpu treten, ohne mit diesem identisch zu sein. Ein Rmeet-Dorf ist daher nicht einfach eine Gemeinschaft von Menschen, die zum Überleben Tiere halten und an Geister glauben. Die Ausweitung des Begriffes der Wirkmacht jenseits der intentionalen Handlungen der Menschen legt vielmehr nahe, dass Dörfer Kollektive von Menschen, Tieren, Pflanzen und Geistern sind, aber insofern menschliche, weil die Menschen die Beziehungen zwischen den anderen Wesen zu strukturieren versuchen. Sie ernähren die Tiere, die sie wiederum den Geistern zur Nahrung anbieten. Die Geister ihrerseits verstärken oder lösen die Beziehung zwischen Körpern und klpu. Die Geister selbst sind äquivalent zu klpu, dem sie zugewandt sind. Die Tiere hingegen beziehen sich auf den Körper – das Wort to bedeutet sowohl „Tier“ wie „Körper“. Der Mensch, der aus Körper und klpu besteht, muss die Beziehungen zu Tieren in Beziehungen zu Geistern umwandeln, indem er die Tiere tötet und somit den Geistern zugänglich macht. Doch in dieser Abfolge fehlt ein kommunikativer Schritt: Die Geister verfügen über die Fähigkeit, klpu zu konsumieren oder aus dem Körper zu vertreiben, aber sie können Körper nicht direkt konsumieren. Daher benötigen sie einen Ort und eine Gestalt, mit Hilfe derer sie an dem von den Menschen gesteuerten Tausch von Tierkörpern gegen Menschenseelen teilhaben können. Zu diesem Zweck formen die Rmeet Lehmfiguren (Abb. 3). Das jeweilige Aussehen der Figuren verweist auf den Typ des Geistes – oder besser: Der jeweilige Geist erfordert eine spezifische Figur, ohne die er nicht präsent wird. Eine einzelne liegende Gestalt mit Armen, Beinen und rundem Kopf lädt die Geister der schlecht Gestorbenen ein, in ihr Aufenthalt zu nehmen; diese Geister werden „schmutziges Ding“ oder „Aschenmensch“ genannt, letzteres, weil die Figuren auch aus Asche hergestellt werden können. Die Geister der Felder und der Erde treten wie eine hierarchisch organisierte Gruppe auf: Fünf Figuren mit runden Köpfen sitzen in einer Reihe, die mittlere auf einem Pferd und mit einer Kopfbedeckung versehen, die sie als Anführer kennzeichnet; vor der Reihe liegt eine längliche Gestalt, der meist als Elefant bezeichnet wird, ein Symbol des Königtums. Obwohl diese Figuren eine Gruppe bilden, repräsentieren sie – dem Hausgeist nicht unähnlich – nur einen Geist. Diese Relationalität ist noch ausgeprägter bei den Himmelsund Blitzgeistern, sitzende Figuren, die durch ihren spitzen Kopf gekennzeichnet sind. Drei dieser Figuren repräsentieren einen Blitzgeist, während sieben einen Himmelsgeist verkörpern. Die Sieben können jedoch auch durch eine große Figur ersetzt werden. Auch hier begegnet das Prinzip, dass das Unterschiedene auch identisch sein kann. Ein einfaches Heilritual, bei dem diese Figuren eingesetzt werden, läuft wie folgt ab (Abb. 4). Ein ritueller Heiler diagnostiziert den oder die eindringenden Geister, entweder mit einer Divinationsmethode oder mit Hilfe einer Trance, in der ihn seine Hilfsgeister vor einem schädlichen Kontakt mit gefährlichen Geistern schützen. Einige Heiler geben an, in diesem Zustand die Geister in jener Gestalt zu sehen, die mit den Figuren nach-

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3 Feldgeister.

geahmt wird, und sie so identifizieren zu können – zum Beispiel als Spitzköpfe, wenn es sich um Himmelsgeister handelt. Anschließend stellt ein naher Verwandter – Männer, Frauen, auch Halbwüchsige kommen in Frage – die passenden Figuren her und setzt sie auf ein aus Bambusstreifen geflochtenes Tablett. Diese Person platziert kleine Gaben vor den Figuren, insbesondere Genussmittel wie Tabak oder fermentierte Teeblätter zum Kauen. Zusammen mit dem Opfertier, oft ein Huhn, bringt er das Tablett zu dem Kranken. Mit einer Feder des Tiers wischt er dem Kranken über den Körper in Richtung auf die Figuren und fordert die Geister auf, in diese hineinzugehen. Das wiederholt er mit anderen Familienmitgliedern, zumal der Hausgeist für ihre Integrität ebenfalls zuständig ist. Anschließend begibt er sich rasch, meist mit einer Begleitung, an den Dorfrand, wo ein Feuer entfacht, das Huhn geschlachtet und eine Suppe zubereitet wird. Zuvor hat der Verwandte Blut auf die Figuren geträufelt, anschließend lädt er sie ein, als Erste zu speisen (Abb. 5). Diese einfache Abfolge kann ausgearbeitet werden, wenn der Heiler in Trance gegangen ist, mehrere Geister als Verursacher bestimmt wurden und insbesondere, wenn Schweine oder Rinder zur Schlachtung kommen – dann ist in jedem Fall der Hausgeist

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4 Himmelsgeister bei einem Heilritual.

der erste Adressat des Opfers. In allen Fällen aber werden die Lehmfiguren aus dem Dorf entfernt. Man platziert sie zwischen der Sphäre menschlicher Sozialität im Dorf und dem unkontrollierbaren kosmischen Bereich, der als „Wald“ bezeichnet wird. Der Vorgang entspricht einer Transformation der Geister in die Figur des Gastes. Wird jemand durch den Einfluss von Geistern krank, so lässt sich das als Kommunikation deuten, als Ausdruck von Hunger oder als Ausgleich für mangelnden Respekt. Doch geht diese Kommunikation, wie auch Träume, böse Vorzeichen und das Sichtbarwerden an unguten Orten, von den Geistern selber aus. Sie bestimmen, wann und in welcher Form sie sich den Menschen mitteilen, und diese Formen bergen daher Gefahren. Im Ritual gilt es nun, eine soziale Mikroumwelt von agentiven Objekten und Lebewesen aufzubauen, die die unkontrollierte Beziehung, die die Geister ihren Opfern aufgenötigt haben, in eine kontrollierbare Form zu überführen. Zu dieser Umwelt gehören jene Beziehungen, die die Beziehung zwischen Körper und klpu stabilisieren, darunter die anderen Familienmitglieder, der Heiler mit seinen Hilfsgeistern und der Hausgeist. Aber auch die Tiere zählen dazu und der durch die Ordnung des Dorfes markierte physische Raum. Was jedoch das Ritual wirkungsvoll macht, ist die

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5 Speisung der Geisterfiguren am Dorfrand.

Einbindung der Geister in körperlicher Gestalt durch die Lehmfiguren. Hier erhalten sie, so die naheliegende Deutung, eine sichtbare Form, die zugleich nicht von Gefahr gekennzeichnet ist, da diesmal die Initiative zur Kommunikation von den Menschen ausgeht. Mit dem Versprechen einer Mahlzeit, die es mit dem Verzehr eines Menschen aufnehmen kann, werden die Geister in ihre behelfsmäßigen Körper transferiert. Nun sind sie Gäste. Das Ritual zielt nicht darauf ab, sie in Schrecken zu versetzen oder gar zu zerstören. Vielmehr geht es darum, sie den Kommunikationsformen der Menschen zu unterwerfen. Das spiegelt sich bereits im Ablauf des Mahls wider. Zunächst erhalten die Geister frisches Blut, wobei Blut auch in anderen Kontexten das Medium der Kommunikation mit Geistern ist – selbst das klpu der Menschen speist man mit Hühneroder Schweineblut, das den Adressaten auf die Knie geschmiert wird. Das erinnert auch an das Blut, das fließt, wenn ein Raubtier seine Beute reißt. Doch darauf folgt im nächsten Schritt gegartes Essen, also zivilisatorisch transformierte Speise, stets begleitet von Reis, dem grundlegendsten aller Nahrungsmittel. Wenn der Verwandte des Kranken den Geist nun zum Essen auffordert, verwendet er das Wort soom, das das reguläre Essen unter Menschen bezeichnet, im Unterschied zum kheak, das

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6 Blitzgeister von zwei verschiedenen Ritualen.

Beißen eines Raubtiers. Der Verwandte gibt Reis, Suppe und Fleisch auf die Figuren, dann essen er und seine Begleiter selbst. Ist auf diese Weise Gemeinschaftlichkeit entstanden und das Mahl beendet, fordert der Verwandte den Geist auf heimzukehren: „Wir gehen in unser Dorf zurück, du kehrst in dein Dorf zurück. “ Damit überlassen sie die Figuren sich selbst. An den Pfaden, die aus dem Dorf hinaus führen – besonders an jenem Richtung Friedhof – finden sich stets die Überreste solcher Rituale, insbesondere die Bambustabletts, auf denen die Figuren gesessen haben. Das Ritual hat zahlreiche Varianten – Feldgeister werden zum Beispiel oft auf dem Feld beopfert, auch bei jeder Ernte – aber das kommunikative Grundmuster bleibt. Die wichtigste Alternative dazu bilden Opfer für die Toten (Abb. 6).

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Die Toten des Hauses Die rituelle Sprache, zu deren Begriffen die Lehmfiguren gehören, beschränkt sich nicht auf die überwiegend schädlichen Geister der Umwelt. Auch die Beziehung zu den Totengeistern wird mit ihrer Hilfe gepflegt. In Anbetracht der scharfen Unterscheidung von Dorf und Wald und dem kommunikativ gesteuerten Sozialisierungsprozess, die sich in den oben geschilderten Ritualen zeigen, mag es überraschen, dass auch die viel vertrauteren und in der Sozialstruktur verankerten Geister der regulär gestorbenen Vorfahren in diese Artikulationen einbezogen werden. Aber dies findet eben auch mit entsprechenden Variationen im Ritual statt. Dazu gehört bereits das Aussehen der Figuren: Sie sind weitaus detaillierter gestaltet, wenn auch durchaus nicht individuell. Jedoch ist der sinnliche Kontakt zu den lebenden Menschen nicht nur auf den zum Fleischkonsum geöffneten Mund beschränkt – diese Figuren haben Augen, Nasen, Ohren und Hüte. Die größere Vertrautheit mit ihnen und ihr weit weniger anonymer und kategorialer Charakter zeigen sich in diesen Details. Totengeister sind – anders als die Geister der schlecht Gestorbenen – an bestimmte Häuser und Abstammungsgruppen gebunden. Während die gefährlichen Geister der Umwelt und des schlechten Todes ihre Opfer recht wahllos unter jenen suchen, die in ihre räumliche Nähe kommen, sind die regulären Totengeister Teil von Familien, und allein diese sind für die Beziehungen zu ihnen zuständig. Die Vermutung liegt nahe, dass die höhere Differenzierung in der sozialen Beziehung sich in der größeren Genauigkeit ihrer Darstellung widerspiegelt – je komplexer und dauerhafter die Beziehungen, desto präsenter die Züge von Personenhaftigkeit. Auch die Tabletts oder Körbe, in die man die Figuren setzt, sind ausführlicher gestaltet. Es gibt zwei Kontexte, in denen die Toten die Gestalt von Lehmfiguren annehmen. Der erste ist ein Ritual, das den Zyklus der Totenrituale beendet. Das Begräbnis erfolgt zwar am Tag nach dem Tod, aber der Geist des Toten bleibt 60 Tage – ein Zyklus im Kalender der Rmeet – im Haus und empfängt zu jeder Mahlzeit Essen, das in einen Korb mit einer Kerze gelegt wird. Am 60. Tag findet ein weiteres Opferritual statt, nach dem der Tote, nun in Gestalt einer Lehmfigur, ein letztes Mal Nahrung erhält. Die Bewohner des Hauses, zu dem er gehörte, speisen ihn, ähnlich wie das mit den Figuren für die gefährlichen Geister geschieht, aber diesmal nicht am Dorfrand, sondern im Haus selbst. Der zweite Anlass sind Omen, die die Toten vom Friedhof schicken, um ihrem Wunsch nach Nahrung Ausdruck zu verleihen (Abb. 7). Die Omen erscheinen im Wesentlichen in zweierlei Form. Die erste umfasst recht unverblümte Todesdrohungen, deren Metaphorik allgemein anerkannt ist: Wird ein Wandelnder Ast (eine Gespenstheuschrecke) gesichtet, so erinnert das an die langen Bambusstangen, an denen Särge auf den Friedhof getragen werden; ein Wespennest im Haus gleicht einem Totenschädel. Die zweite Form betrifft Umkehrungen der kosmologischen Ordnung und der Trennung der kosmologischen Bereiche, auch das formuliert durch einen Code von Tieren. Eine Ratte verfängt sich in

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7 UñLad stellt eine Ahnenfigur für ein Omenritual her.

einer Vogelfalle oder ein Vogel in einer Rattenfalle; wilde Tiere wie Schlangen und Vögel dringen in Häuser ein; Schweine oder Hunde, die sonst eine Vielzahl von Nachkommen zugleich werfen, gebären nur ein Junges. Dies sind nur die konventionellsten Fälle einer kontingenten und stets erweiterungsfähigen Kategorie von Todesboten und Ordnungsstörungen, zu denen auch Träume gehören.20 In all diesen Fällen ist es angebracht, den Vorfahren ein Schwein, einen Büffel oder eine Kuh zu schlachten. Bei diesen Anlässen wird in jedem Fall der Hausgeist als erster gespeist. Der Ehemann des Hauses und seine Brüder schmieren das Blut des Tieres auf eine Stelle an der Innenwand, wo der Hausgeist residiert, sowie auf andere, repräsentative Teile des Hauses, wie Türrahmen und Treppen. Auch die gekochte Speise bieten sie zuerst dem Hausgeist an.

20 Methodisch gesehen sind es übrigens gerade die Störungen der Ordnung, die die Regeln dieser Ordnung am explizitesten nachvollziehbar machen. Die Konturen der Ordnung treten erst im Moment ihrer Negation, gewissermaßen als Gegenbild, hervor.

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8 Der Ahne als Omenfigur (chro).

Danach erst erhält die Lehmfigur, die hier mit dem Wort für Omen (chro) bezeichnet wird, etwas zum Essen (Abb. 8). Hier wird die Differenzierung der Aspekte der Ahnengeister deutlich. Der Hausgeist als schützendes Konglomerat der Vorfahrenpaare wird rituell von den Toten auf dem Friedhof geschieden, die jeweils allein in ihren Gräbern, den sogenannten „Häusern der Toten“, existieren, und von denen einer in der Gestalt der Lehmfigur repräsentiert wird. In manchen Fällen wird die Differenzierung noch weiter getrieben, wenn dem Hausgeist ein Schwein und der Lehmfigur separat ein Huhn geschlachtet wird. Was also im Leben einen einzigen Menschen bildete, differenziert sich nach dem Tod durch seine Wirkmacht. Während der Ahne als Hausgeist die klpu-Körper-Beziehung stabilisiert, gefährdet der „Omen“ genannte Effekt des Toten auf dem Friedhof diese wieder. Hier ist die Identität der Totengeister ihrer getrennten Wirkmacht untergeordnet – wo die Wirkungen auseinandergehen, ist auch die Identität gespalten. Diese Art von Zweideutigkeit definiert die Geister als solche.21

21 Baumann 2018 (wie Anm. 15).

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Indem die Speisung nun im Haus stattfindet und nicht in jenem zweideutigen Raum zwischen Dorf und Wald, in dem die Figuren für die Himmels- oder Erdgeister ihr Mahl erhalten, wird die Zugehörigkeit der Toten zum Haus anerkannt. Allerdings bringen der Hausvater und seine Verwandten die Figur am Ende des Rituals ebenfalls aus dem Haus, jedoch nicht so weit zum Dorfrand wie im Falle der Geister der Umwelt. Auch ist die Zahl derer, die die Figur begleiten, größer. Der mit Speisen überhäufte Tote nimmt noch an einer letzten Runde Reisschnaps mit seinen lebenden Verwandten teil, dann wird auch er allein gelassen.

Zerstörung und Vollendung Das Ritual, so könnte man meinen, ist abgeschlossen, wenn die menschlichen Akteure die Szene verlassen und die Lehmfiguren zurückbleiben. Doch die Idee der Wirkmacht der ästhetischen Objekte legt die Frage nahe, was danach geschieht. In der Tat kommt der Prozess erst dann zum Abschluss, wenn auch die Brücke zur Welt der Geister, das Medium ihrer Sozialisierung, verschwindet. Wie bereits erwähnt werden die Figuren nicht gebrannt; sie sind ephemer und nicht auf Dauer gefertigt. Der Geruch der gekochten Nahrung und möglicherweise auch die erlernte Gewohnheit locken Hunde und Schweine an, die nicht nur den dörflichen Lebensraum mit den Menschen teilen, sondern auch ihre Nahrungskonkurrenten sind. Ob es sich nun um ein kleines Opfermahl für Erd- oder Himmelsgeister handelt oder um ein großes Heil- oder Omenritual am späten Abend, die Tiere lauern in der Nähe des Geschehens – die Ritualisten halten sie mitunter mit Stockschlägen in Schach. Kaum sind diese jedoch vom Schauplatz verschwunden, stürzen sich die Tiere unter Grollen und Gegrunze auf die Speisereste, die den Figuren anhaften, wobei in der Regel die aggressiveren Hunde über die Schweine triumphieren. Danach bleibt wenig von den Figuren übrig als die Bambuskörbe und Tabletts; den Rest beseitigt der nächste Regen. Die Zerstörung der Figuren ist nicht in jedem Fall Notwendigkeit. Doch eine Reihe von Indizien lässt darauf schließen, dass es sich nicht nur um Zufall und Kontingenz handelt. In einer Variante des Rituals, das ich im Dorf Hangdeun beobachtete, ist die metaphorische Zerstörung der Lehmfigur für die Toten ein integraler Bestandteil der rituellen Handlungen der Menschen. Die Ritualdurchführenden setzten die Figur auf einem Rinnsal ab, dass am Rand des Dorfes entlangfloss, und feuerten dann aus kurzer Distanz einen Schuss mit einer Flinte darauf ab. Die Flinte war nur mit Schießpulver geladen, nicht mit Schrot, so dass der Akt nicht zur Zerstörung der Figur führte; aber als beherzte Abschlussgeste war er aussagekräftig genug: Der Tote hat nun seinen vorübergehenden Lehmkörper zu verlassen und sich zurück auf den Friedhof zu begeben (Abb. 9).

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9 Symbolische Zerstörung der Ahnenfigur.

Ähnlich intentionale Akte der Zerstörung fanden in Takheung nicht statt, aber die Konzepte, die sich auf Hunde beziehen, legen ihre agentive Rolle durchaus nahe. Wie bereits erwähnt, zählen Rinder, Schweine und Hühner zu den wichtigsten Opfern. Nur geringe Mengen gehen dabei an die Geister, der Rest des Fleisches bietet den Lebenden ein Festmahl. Bei Hunden verhält sich das anders. Auch Hunde werden als Opfer verwendet, in den 1930ern zum Beispiel als Opfer für den Geist des Dorftores22 und gegenwärtig als Teil der umfassenden Sequenz von Opfern beim Totenritual. In der Vergangenheit, so erzählen Rmeet heute, waren Hunde vor allem Opfer für die gefährlichen Erdgeister sowie jene der schlecht Gestorbenen, die „schmutzigen Dinge“ (genee mpüd). Die Essbarkeit von Hunden ist hingegen umstritten. In den 1930ern mieden Erwachsene Hundefleisch, obwohl Kinder es aßen.23 Während meiner initialen Forschung im Jahre 2000 war die Frage, ob man Hunde essen sollte, Anlass für klare Meinungsäußerungen. Während des Kriegs in Laos, der parallel zu dem in Vietnam verlief, hatten die 22 Karl Gustav Izikowitz, Lamet: hill peasants in French Indochina [1951], New York 1979, S. 204. 23 Ebd.

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revolutionären Kräfte erhebliche Unterstützung durch die nordvietnamesische Armee erfahren. Die Vietnamesen essen Hunde, und einige Rmeet haben diese Gewohnheit übernommen, während andere die Tiere übelschmeckend finden. Das letztere ähnelt der Abneigung gegen Hundefleisch, die Tambiah in den 1960ern bei den Lao-sprechenden Thai des thailändischen Nordostens beobachtete.24 Daher fragten die Rmeet mich während meiner Forschung immer wieder, ob ich Hundefleisch äße. (Ich fand es fett und muffig im Geschmack, weswegen ich mich nicht darum riss.) Die Assoziation von Hunden mit Unreinheit und die Tatsache, dass Kinder schon seit je her ihr Fleisch essen können, stellt sie an den Rand der durch Essen und Gegessen-werden konstituierten Sozialität. Kinder sind noch keine vollumfänglichen Personen und werden von den Rmeet selbst gern als „schmutzig“ (mpüd) bezeichnet. Sie essen auch andere Dinge, die Erwachsene unappetitlich finden. Hunde erfüllen eine ähnliche Rolle: Auch sie sind unrein und somit zur Entsorgung von Unreinheit prädestiniert. Wenn sie also die Lehmfiguren zerstören, indem sie sich auf die zurückgelassenen Essensreste stürzen, handeln sie also passgenau zu den kosmologischen Assoziationen, die sie wecken. Die Lehmfiguren ziehen somit ein Netzwerk von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren um sich zusammen, das die Kategorien der Dorfgemeinschaft definiert: die lebenden Menschen, die die dauerhaften Mitglieder dieses Kollektivs ausmachen, auch wenn sie eines Tages ihre Körper hinter sich lassen, und die Geister, die nur vorübergehend in sie integriert werden, solange sie Körper aus Lehm haben; die essbaren Tiere, die primär zum Zweck gezüchtet werden, ihre Körper zu zerstören und die Geister damit zu speisen, und die nicht in erster Linie essbaren Tiere, die Hunde, die wiederum die temporären Körper der Geister zerstören. Dazu kommt immer wieder der Reis, der auf den Feldern wächst, die die Menschen dem Wald und seinen Geistern abgetrotzt haben, und der selbst eine Seele hat. Wenn der Heiler den rohen Reis schleudert, ruft er die Geister, mit dem gegarten Reis, den sie mit dem Fleisch der Opfertiere erhalten, werden sie verabschiedet. So flüchtig die Lehmfiguren also sind, sie bilden einen rituellen Fokus, der einige der zentralen Beziehungen der Gesellschaft der Rmeet sowie die Schnittstelle zwischen Menschen und Nichtmenschen verkörpert. Durch ihre vergängliche Materialität gestalten sie die Beziehungen zwischen Menschen und Geistern, die von derselben Vergänglichkeit geprägt sein sollte – niemand legt Wert darauf, mit den Geistern allzu engen Kontakt zu pflegen.

24 Stanley J. Tambiah, „Animals are good to think and good to prohibit“, in: ders., Culture, Thought and Social Action, Cambridge 1985, S. 169–211.

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Schluss Die Assemblage von Menschen, Tieren, Pflanzen und Geistern, die die Lehmfiguren der Rmeet um sich versammeln, ist Teil eines Kollektivs, das mit Baumann ein „animistisches“ genannt werden kann.25 Dieses Kollektiv ist im Wesentlichen das Dorf, erfasst als ein Gemeinwesen von Menschen und Nicht-Menschen. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen sind zugleich für diese konstitutiv – die Elemente treten nicht als schon fertig geformte und ontologisch abgeschlossene dem Kollektiv bei, sondern bilden sich erst und bleiben als Aspekte der Beziehungen, die das Kollektiv ausmachen. Das gilt im Übrigen auch für Gegenstände, die von außerhalb des Dorfes hineingebracht werden, zum Beispiel über den Markt, wie Geld und Wertgegenstände,26 über den Staat oder aus dem Wald.27 Diese als extern markierten Gegenstände werden rituell eingegliedert und verarbeitet; zugleich verweisen sie darauf, dass das Dorfkollektiv stets an weitere Formen von Kollektivität anknüpft, da es selbst ebenso relational konstituiert ist wie die Elemente, die es umfasst. Besonders deutlich ist diese gegenseitige Herstellung von Elementen in Bezug auf Personen, seien sie nun menschlicher oder nicht-menschlicher Art. Gerade die letzteren zeigen sich oft in Form von Ereignissen, die den Alltag akzentuieren – in Unglück und Krankheit, die Prinzipien der Sorge und Pflege aufrufen. Die Objekte, die als Reaktion darauf zustande kommen, als Knotenpunkte von Dramen um kranke Menschen und hungrige Geister, die der Versorgung bedürfen, sind in der Art, wie sie Beziehungen affizieren, zwar nicht schön, aber im Sinne dieses Buches durchaus ästhetisch. Personen markieren sich einerseits durch Intention und Kommunikation, andererseits aber vor allem durch etwas, das man „Seelenäquivalent“ nennen könnte. Das Begriffspaar klpu und phi ist durch ihre Eigenschaft als Seelenäquivalent verkoppelt; das macht sie zwar nicht identisch, wohl aber austauschbar. Gerade darin liegt die Gefahr für das menschliche Leben. Das Seelenäquivalent hingegen muss durch den Eintritt in die Sinneswelt ergänzt werden, um als Person erkennbar zu sein. Seien es nun flüchtige Erscheinungen wie Omen, Krankheiten und Träume bei Geistern oder dauerhaftere Manifestationen wie menschliche Körper, eine Person wirkt erst dann kommunikativ und intentional als Person, wenn sie über Sehen, seltener das Hören, Fühlen und Riechen, zugänglich wird. Das macht sie im Gegenzug auch ansprechbar, und an diesem Punkt treten die Lehmfiguren als agentive Mittler ins Bild. Sie sind teilidentisch mit dem Geist – 25 Baumann 2018 (wie Anm. 15). 26 Guido Sprenger, „From kettledrums to coins: Social transformation and the flow of valuables in Northern Laos“, in: Social Dynamics in the Highlands of Southeast Asia: Reconsidering. Political Systems of Highland Burma by E. R. Leach, hg. von François Robinne und Mandy Sadan, Leiden 2007, S. 161–186; Guido Sprenger „Where the dead go to the market: market and ritual as social systems in upland Southeast Asia“, in: The Magic of Modernity: Dynamics of Religion in Southeast Asia, hg. von Volker Gottowik, Amsterdam 2014, S. 75–90. 27 Sprenger 2016 a (wie Anm. 15).

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es gibt kein separates Wort für sie, sprachlich werden sie als Geister bezeichnet. Aber die Identität von Geist und Figur ist nur eine kontextuelle und temporäre. Dabei wäre es irreführend, den Geist als ätherisch-unsichtbare Essenz zu denken; dieses Wesen setzt sich aus seinen sinnlichen Erscheinungsformen, seinen Kommunikationsakten und Wirkungen zusammen. Es ist allein in diesen Phänomenen präsent und unterscheidet sich zugleich von ihnen. Von den meisten Aktanten in diesen rituellen Netzwerken, insbesondere von den Menschen, lässt sich ähnliches sagen. Sie sind durch Teilhabe und Differenz konstituiert. Die Lehmfiguren werden in diesen Netzwerken nach Prinzipien generiert, die denen für Menschen sehr ähnlich sind – als Verbindungen von Körpern und Seelenäquivalenten – aber wie im Zeitraffer. Daraufhin wirken sie selbst in das Netzwerk, indem sie die Geister von den Körpern der Kranken abspalten, mit ihnen identisch werden und sie in ihrer Zerstörung wieder differenzieren. Im selben Zug differenziert sich auch die Sozialität der Menschen, das Kollektiv des Dorfes, von der der Geister. Kurz waren die Geister mit ihren Körpern Gäste, dann sind sie wieder Teil des Waldes. Die Verdichtung dieses allgemeinen Vorgangs, die Ermöglichung seiner Erkenntnis durch den sinnlichen Ablauf des Rituals macht die Ästhetik aus, von der die Lehmfiguren wesentliche Aspekte auf sich vereinen. Dieser Prozess ist geprägt durch Serien von Analogien und Teilidentitäten, in denen die Entscheidung, ob die Wesenheiten eins sind oder viele, verknüpft oder getrennt, nur kontextuell gefällt werden kann – eine Kosmologie, die eine erhebliche Herausforderung nicht nur für den Individualismus der Moderne, sondern auch eine Logik der Widerspruchsfreiheit darstellt. Dabei ist die Moderne dem Prinzip solcher Teilidentitäten und relationalen Personen durchaus nicht völlig verschlossen – das zeigt Kunst wie das zu Anfang erwähnte Field von Antony Gormley. Seine Lehmfiguren sollen als antwortende Gegenüber erfahren werden, als mit Augen versehene Erde, die den Blick des Betrachters erwidert. Doch zugleich neigt die Moderne dazu, das Wirkungsfeld solcher Varianten sorgsam zu begrenzen. Field ist gekennzeichnet als Produkt der Kreativität eines Einzelnen, der im Subsystem Kunst wie in einer Synthese aus Labor und Spiel die Transformationen des Denk- und Machbaren durchprobiert. Die Grenzen des Kunstsystems schützen die soziokosmischen Beziehungen, die die Gesellschaft ausmachen, vor solchen Experimenten. Die Lehmfiguren der Rmeet hingegen sind rituelle Konventionen und soziokosmische Notwendigkeiten, die tatsächliche Beziehungen auf alltäglicher Basis beeinflussen. Die Wirkmacht der Objekte ist dabei ein zentraler Operator, der sich in einen Horizont potenzieller Personenhaftigkeit hineinbewegt und dabei die ontologischen Grenzen zwischen Menschen und Nichtmenschen durchschlägt.

24  Guido Sprenger

Literatur Irene Albers und Armin Franke (Hg.), Animismus: Revisionen der Moderne, Zürich 2012. Benjamin Baumann, „Das animistische Kollektiv. Lévy-Bruhl, soziale Ontologien und die Gegenseitigkeit von Menschen und Nicht-Menschen in Thailand“, in: Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft, Bd. 4, 2018, H. 2, S. 129–166. Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur [2005], Berlin 2011. Louis Dumont, Individualismus: zur Ideologie der Moderne [1983], Frankfurt am Main und New York 1991. Judith Dörrenbächer und Kerstin Plüm (Hg.), Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus, Bielefeld 2016. Grace Gladys Harris, „Concepts of Individual, Self and Person in Description an Analysis“, in: American Anthropologist, Bd. 91, 1989, Nr. 3, S. 599–614 Graham Harvey (Hg.), The Handbook of Contemporary Animism, Durham 2013. Tim Ingold, Bringing Things to Life: Creative Entanglements in a World of Materials, Manchester 2010 (Realities Working Paper, 15) www.manchester. ac.uk/realities (20. Mai 2021). Tim Ingold, „Art and anthropology for a sustainable world“, in: Journal of the Royal Anthropological Institute, (N. S.) Bd. 25, 2019, Nr. 4, S. 659–687. Karl Gustav Izikowitz, Lamet: hill peasants in French Indochina [1951], New York 1979. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie [1991], ­Frankfurt am Main 2008. Lucien Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven [1927], Darmstadt 1956. Jos D. M. Platenkamp, „The Healing Gift“, in: For the Sake of our Future. Sacrificing in Eastern Indonesia, hg. von Signe Howell, Leiden 1996, S. 318–336. Guido Sprenger, Die Männer, die den Geldbaum fällten: Konzepte von Austausch und Gesellschaft bei den Rmeet von Takheung, Laos, Berlin 2006.

Guido Sprenger, „From kettledrums to coins: Social transformation and the flow of valuables in Northern Laos“, in: Social Dynamics in the Highlands of Southeast Asia: Reconsidering. Political Systems of Highland Burma by E. R. Leach, hg. von François Robinne und Mandy Sadan, Leiden 2007, S. 161–186. Guido Sprenger „Where the dead go to the market: market and ritual as social systems in upland Southeast Asia“, in: The Magic of Modernity: Dynamics of Religion in Southeast Asia, hg. von Volker Gottowik, Amsterdam 2014, S. 75–90. Guido Sprenger, „Dimensions of animism in Southeast Asia“, in: Animism in Southeast Asia, hg. von Guido Sprenger und Kaj Århem, London 2016 a, S. 31–51. Guido Sprenger, „Graded Personhood: Human and non-human actors in the Southeast Asian uplands“, in: Animism in Southeast Asia, hg. von Guido Sprenger und Kaj Århem, London 2016 b, S. 73–90. Guido Sprenger, „Communicated into being: Systems theory and the shifting of ontological status“, in: Anthropological Theory 17, 2017, H. 1, S. 108–132. Guido Sprenger, „Can animism save the world?“ in: Toward an anthropology of life in the anthro­pocene, hg. von Ernst Halbmayer und Eveline Dürr, ­Sociologus, Bd. 71, 2021, Nr. 1, S. 73–92. Strathern, Marilyn, The gender of the gift: problems with women and problems with society in Melanesia, Berkeley 1988. Strathern, Marilyn, „Persons and partible persons“, in: Schools and Styles in Anthropological Theory, hg. von Matei Candea, London und New York 2018, S. 236–246. Stanley J. Tambiah, „Animals are good to think and good to prohibit“, in: ders., Culture, Thought and Social Action, Cambridge 1985, S. 169–211. Edward Burnett Tylor, Religion in Primitive Culture: Part II of „Primitive Culture“ [1871], New York u. a. 1958. Eduardo Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysiken: Elemente einer post-strukturalen Anthropologie [2015], Leipzig 2019.

Ilka Becker

Pilze und Dekomposition in der künstlerischen Praxis Zur Heterogenese agentieller Ästhetiken

Mykoästhetische Agency Die künstlerische Arbeit mit lebenden Pflanzen, Flechten, Moosen oder Pilzen, die mit den ontologischen und ökologischen, den neomaterialistischen und posthumanistischen Fragestellungen der letzten zwei Dekaden einhergegangen ist,1 adressiert zunächst einen Grenzfall der ästhetischen Objekthaftigkeit. Lebende Kunst-Gewächse fügen sich kunstwissenschaftlichen Kategorien des Objekts, des Materials oder Prozesses nicht auf eindeutige Weise, auch wenn ihnen je nach Kontext entsprechende Eigenschaften zukommen mögen. Nur selten nehmen sie als isolierte Objekte an ästhetischen Prozessen teil. Meist nimmt man sie eingebunden in heteronome Bildformen oder installative, bioästhetische Assemblagen wahr, die den ambivalenten Status des Lebendigen nutzen, um Subjekt-Objekt-Verhältnisse in der Kunst und/oder in weiter gefassten Lebenszusammenhängen zu befragen.2 Neben der Objekthaftigkeit wird auch die Aufteilungs- und Trennungsarbeit der westlichen philosophischen Ästhetik selbst und damit die Grenzziehung zwischen unterschiedlichen Auffassungen des (post)ästhetischen Regimes der Kunst verhandelt.3 Das Publikum wird dabei nicht nur durch die visuelle Attraktivität organischer Erscheinungen angesprochen. Neben der Erweiterung auf haptische und olfaktorische Erfahrungsmodi kommt auch die Suggestion einer artenübergreifenden Kommunikation der Sehnsucht nach veränderten enthierarchisierten Naturverhältnissen entgegen. Mit der Aufwertung 1 Hierfür stehen exemplarisch Ausstellungen und Programme wie fungutopia/fungifiction (Köln 2011), ­dOCUMENTA 13 (Kassel 2012), Garden of biological disobedience (Graz 2012), The Mycological Twist (Berlin/ London, seit 2014), Dump! Multispecies Making and Unmaking (Aarhus 2015), Broken Nature (2019), Inventing Nature – Pflanzen in der Kunst (Karlsruhe 2020), Floraphilia (Köln 2018 und 2020) u. a. 2 Diese Frage öffnet ein ganzes Feld der Theoriebildung, die seit geraumer Zeit die binären Oppositionen von Subjekt und Objekt wie auch den Anthropozentrismus in Frage stellt: zunächst in der feministischen Wissenschaftsphilosophie bei Donna Haraway oder der Actor Network Theory nach Bruno Latour oder Michel Callon. In jüngerer Zeit hat beispielsweise im Feld der interdisziplinären Science and Technology Studies Karen Barad Haraways feministische Perspektive der materiell-semiotischen Praktiken unter dem Begriff des agentiellen Realismus weiterverfolgt. 3 Der Begriff des „ästhetischen Regimes“ der Kunst bezieht sich auf Jacques Rancière, „Die ästhetische Revolution und ihre Folgen. Erzählungen von Autonomie und Heteronomie“, in: ‚Ästhetisierung‘. Der Streit um das Ästhetische in Politik, Religion und Erkenntnis, hg. von Ilka Brombach, Dirk Setton und Cornelia Temesvári, Zürich 2010, S. 23–40, S. 24. Zum Begriff des Postästhetischen vgl. Claire Bishop, Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London 2012.

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biotischer Mikroformen scheint schließlich auch die vitalistische Hoffnung einherzugehen, den zerstörerischen Auswirkungen des „Kapitalozäns“4 entgegenzuwirken, indem man das Lebendige vermehrt, um dem Leben gleichsam zum Überleben zu verhelfen. Ästhetische Theorien der 1960er Jahre haben künstlerische Praktiken, die organische Prozesse mit einem erweiterten oder gar sich auflösenden Werkbegriff zu verbinden begannen, kaum berücksichtigt. So lassen sich etwa 1965 in Max Benses Aesthetica klare anthropozentrische Abgrenzungen finden: Von einem ästhetischen Gegenstand kann man nach seiner Auffassung nur dann sprechen, wenn er als das Ergebnis menschlichen Schaffens vom organischen Werden deutlich zu unterscheiden ist.5 Zudem liegt dieser Auffassung des „Menschlichen“ bekanntermaßen die unsichtbare Norm eines weißen, männlichen und westlich geprägten Subjekts zugrunde. Schon hier wird deutlich, dass im Fall der „lebenden Artefakte“ in der Gegenwartskunst – um das Paradoxon begrifflich zu verdichten – die Objektfrage mit der davon ausgehenden Bestimmung ästhetischer Handlungsmacht bzw. agency spezifisch zu entwickeln ist.6 Abhängig vom historischen und kunstspezifischen Kontext lassen sich unterschiedliche Konzepte herausarbeiten: Biotisch-diskursive Agency kann zugeschrieben, delegiert, verteilt, oder begrenzt werden. In manchen Fällen wird ihr die Funktion zugewiesen, die Idee künstlerischer Autorschaft in Frage zu stellen. Mal wird sie als fixierte Eigenschaft und mal als relational hervorgebracht im Sinne eines agencements, eines relationalen Handlungsgefüges, gedacht.7 Eine Differenzierung ist schon deswegen wichtig, um den Begriff der „Agency“ nicht zu einem beliebig einsetzbaren Theorie-Passepartout auszuhöhlen, das Ungleichheiten ausblendet, sondern als kritische Situierung zu verstehen, die ihr eigenes Involviertsein in künstlerische und wissenschaftliche Diskurse und Praktiken thematisiert. Die diesem Text zugrundliegende Auffassung von Agency geht daher grundsätzlich davon aus, dass Handlungsmächte, -potentiale, -vermögen oder -initiativen ständigen organischen, sozialen, kulturellen und politischen (Ver)Teilungs- und Wertschöpfungsprozessen unterliegen und dass es sich bei den oben genannten Modellen um verschiedene Modi der (Ver)Teilung handelt, die zudem je eigene Formen und Relationen von Macht hervorbringen (hierarchisch, produktiv, modular etc.). In diesem Sinne definieren und (de)stabilisieren auch die Relationen die Relata (Subjekt/Objekt, Werk/Prozess, 4 „Kapitalozän“ versteht Jason Moore als Gegenbegriff zu „Anthropozän“, weil letzterer den kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen der Gegenwart nicht gerecht werde. Vgl. ders., Kapitalismus im Lebensnetz [2015], Berlin 2020, S. 267. 5 Vgl. Max Bense, Aesthetica. Einführung in die neue Ästhetik, Baden-Baden 1965, S. 24. 6 Ich verwende hier zunächst den Begriff der agency, da er im Unterschied zum Begriff der Handlungsmacht nicht suggeriert, über einen Machtbegriff zu verfügen, ohne diesen zuvor auch bestimmt zu haben. 7 Zum Begiff des agencements und des Handlungsgefüges; vgl. Ilka Becker, „Agencement und Amusement. Duchamp, Slapstick und retroaktive Geschichten der Moderne“, in: Unmenge – Wie verteilt sich Handlungsmacht?, hg. von dies., Michael Cuntz und Astrid Kusser, München 2008, S. 95–123; dies.: „Akte, Agencies und Un/Gefügigkeiten in fotografischen Dispositiven“, in: Fotografisches Handeln: Das fotografische Dispositiv, Bd. 1, hg. von dies. u. a., Marburg 2016, S. 9–37.

Pilze und Dekomposition in der künstlerischen Praxis

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Form/Material etc.) und nicht umgekehrt. Außerdem möchte dieser Text einen Beitrag zur Weiterentwicklung eines materiell-diskursiven Ästhetikbegriffs leisten, indem er die Heterogenese ästhetischer Praktiken untersucht und Ästhetik als aisthesis versteht, als sinnliches Gefüge aufgrund miteinander verschränkter Wahrnehmungsmodalitäten und Affizierungen. Der Begriff der Verschränkung scheint für die Analyse dieser Verhältnisse insofern passend, als Karen Barad darunter „keine Verflechtungen separater Entitäten“, sondern „irreduzible Beziehungen“ versteht.8 Der Modellorganismus für meine Überlegungen zur biotisch-diskursiven Agency sind Pilze. Sie gelten schon seit der Antike als ungewisse, schwer klassifizierbare und randständige Wissensobjekte und scheinen die Idee eines nichtmenschlichen, rhizomatisch-verzweigten Handlungsgefüges geradezu zu verkörpern. Nach Pia Lindmann erfordert beispielsweise ein Verständnis der hybriden Schimmelpilze (die im Folgenden eine zentrale Rolle spielen werden) mit ihrem fast tierartigen Quasi-Bewusstsein, strenge wissenschaftliche Kategorien aufzugeben.9 Aufgrund dieser Eigenschaften, der unterirdischen, vernetzten Lebensweise ihrer Myzelien sowie ihrer ökologischen, d. h. zersetzenden, kompostierenden und entgiftenden Potentiale, sind Pilze in den letzten Jahren vielfach zum Gegenstand künstlerischer Praxis und Theoriebildung geworden – sowohl Kunst als auch Theater haben sich verstärkt mit mykoästhetischer Agency auseinandergesetzt.10 Ich schlage daher vor, diese Praxis als verschränkende Aktivität und deren ästhetisches Paradigma als agentielle Ästhetik zu untersuchen. Darin werden u. a. dekompositorische Verfahren des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt, um das künstlerische Feld als ökologisch-ästhetischen Möglichkeits- und Erkenntisraum zu verhandeln. Das Interesse an Pilz-Mensch-Netzwerken hat sich auch in Anna Tsings anthropologischem Essay The Mushroom at the End of the World niedergeschlagen.11 Ihr dienen die Matsutake-Pilze als Wegweiser für das kollaborative (Über)Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Den Handlungsraum dieser Kollaborationen bezeichnet sie als „artenübergreifendes Gefüge“ (multispecies assemblage),12 wobei dieser Begriff nicht nur auf einen heterogenen und polyphonen Landschaftsbegriff hinweist, sondern auch auf die Bedeutung, die sie den Pilzen im Rahmen ökologischer Kollaborationen zuschreibt. 8 Karen Barad, „Quantenverschränkungen und hantologische Erbschaftsbeziehungen: Dis/Kontinuitäten, RaumZeit-Einfaltungen und kommende Gerechtigkeit“, in: dies., Verschränkungen, Berlin 2015, S. 71–113, S. 109. 9 Vgl. Pia Lindmann, „Learning from Mold“, in: Networks, hg. von Lars Bang Larsen, London und Cambridge/ MA 2014, S. 60–64, S. 60. 10 Beispiele hierfür sind etwa Fungutopia, Köln 2012; Mykorrhiza: An Apparatus, Berlin 2014; The Mycological Twist, London u. a. seit 2014; Mycorial Theatre, São Paolo 2016; Mushrooms on the Ruins, Madrid 2017; Mush­ rooms: The Art, Design, and Future of Fungi, London 2019. 11 Anna Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus [engl. 2015], Berlin 2019. 12 Ebd., S. 242. Der Begriff multispecies bzw. „Multispezies“ weist auf eine nicht-anthropozentrische Auffassung von Ökologie hin; ebd., S. 218.

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Eine solche Anthropologie, die den menschlichen Exzeptionalismus des westlichen Kapitalismus aufheben möchte, lässt sich wiederum auf Bestrebungen in der zeitgenössischen Kunst beziehen, Autorschaft auf nichtmenschliche Akteure zu erweitern und auf diesem Wege neue Sozialitäten im Feld der Kunst zu eröffnen. In historischer Perspektive stellt sich die Frage, welche Ansätze in der Kunst des 20. Jahrhunderts sich aus der Perspektive dieser aktuellen Debatten und insbesondere im Hinblick auf den Prozess der Dekomposition als materieller wie auch metaphorischer Zersetzung neu befragen lassen: Auf welche Weise sind sie an der Heterogenese „mykoästhetischer Agencies“ beteiligt gewesen – d. h. an der Herausbildung eines heterogenen, aktuell sichtbar werdenden Pilzphänomens, in dem sich verschiedene ästhetische Praktiken verschränken?13

Dekomposition als Produktionsmodus Verfahren der Dekomposition werden in der Kunstgeschichtsschreibung in erster Linie mit den historischen und Neo-Avantgarden assoziiert, wobei den von den Dada-Künstler_innen praktizierten Montagetechniken und Zufallsverfahren hier eine zentrale Rolle eingeräumt wird. Etymologisch leitet sich der Begriff der Dekomposition von lat. componere (Zusammenstellen) ab, bedeutet also, etwas Zusammengefügtes wieder auseinanderzunehmen, und zwar so, dass man es nicht wieder als nahtloses Ganzes rekomponieren kann. Versteht man die Dekomposition als ein alternatives Produktionsverfahren, so betrifft sie neben dem Kunstbegriff selbst, der durch den dadaistischen Anspruch einer Anti- oder Nicht-Kunst herausgefordert wird, weitere Kategorien, deren Erweiterung und Auflösung zum Gegenstand künstlerischer Praxis seit dem frühen 20. Jahrhundert geworden sind. Zum einen ist hier die Kategorie des Werks zu nennen, insofern dekompositorische Verfahren keine Werke im Sinne eines „überlieferten, integralen Kunstbegriffs“14 hervorbringen, sondern vielmehr Konfigurationen und Prozesse der ästhetischen Entdifferenzierung vorantreiben.15 Dieser Aspekt spiegelt sich auch in der bereits erwähnten Fokusverschiebung vom Werk auf Produktionsprozesse wider. Zweitens erfährt die Kategorie der Autorschaft eine funktionale Verschiebung, wenn destruktive oder zersetzende Aktivitäten zu mehr oder weniger kontingenten Ergebnissen führen und die Eigenwirksamkeit materieller Prozesse im Sinne einer material agency 13 Das Konzept einer „Heterogenese“ ohne Ursprungsanspruch begreift Félix Guattari als möglichen Widerstandsherd gegenüber dem kapitalistischen Signifikanten im „Bereich des Perzepts und des ästhetischen Affekts“; ders., „Das neue ästhetische Paradigma“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Bd. 8, 2013, H. 1, S. 24. 14 Vgl. Jean-François Lyotard, „Die Malerei als Libido-Dispositiv“, in: ders., Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 45–94, S. 51. 15 Zum Begriff der Entdifferenzierung vgl. Dietmar Rübel, Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München 2012, S. 242, hier mit Bezug auf Anton Ehrenzweig.

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in den Vordergrund tritt. Anteile der Autorschaft werden demnach Faktoren wie Zufall oder Material überlassen, wohingegen jeweils näher zu bestimmende, exklusiv subjektbezogene Autorfunktionen erhalten bleiben. Hier ist danach zu fragen, inwiefern historisch geprägte, geschlechtliche Zuschreibungen an Kreativität und Autorschaft affirmiert beziehungsweise ab- oder aufgelöst werden. Drittens erfährt die Funktion des Rahmens eine signifikante Verschiebung. Diese lässt sich als Zerfall oder als ein Heraustreten aus dem Rahmen beschreiben, sowohl im konkreten materiellen Sinne, insofern die tradierte Rahmung des Bildes mit den Avantgardebewegungen zunehmend aufgegeben wurde, wie auch im Sinne einer Verschiebung der Rahmungsfunktion auf die soziale Rahmung, wie sich am Beispiel von Aufführungen, Aktionen und Performances seit der Dada-Bewegung und insbesondere in den Neo-Avantgarden der 1960er Jahre nachvollziehen lässt. Darüber hinaus ergeben sich weitere Konsequenzen. Folgt man etwa Jacques ­Rancières Überlegungen zu den historisch bedingten Regimes der Repräsentation und des Ästhetischen in der Kunst, so lässt sich feststellen, dass das Regime der Repräsentation eine klare Trennung von Subjekt und Objekt der Betrachtung bewirkt hat. Die „Aufteilung des Sinnlichen“, so Rancières Formulierung, verändert sich jedoch im ästhetischen Regime hin zu einer topologischen Ordnung. Darin gibt es keine feststehenden Positionen von Subjekt und Objekt, Innen und Außen, sondern Vertauschungen, Durchlässigkeiten und Multitemporalitäten. Auch die Identität des Objekts wird in diesem Zuge infrage gestellt. Ihm ist seine heuristische Annäherung an ein Ende ebenso eingeschrieben wie der modernen Kunst im Allgemeinen die damit assoziierte Logik der Selbstauflösung. Dies zeigt sich insbesondere am romantischen Motiv der Ruine – jenem Motiv, das Anna Tsing in The Mushroom at the End of the World aufgreift, auf die ruinierten Lebensräume der Gegenwart überträgt und als Signatur einer neuen polyphonen, verflochtenen und prekären Landschaftsauffassung versteht. Es steht nun für eine nicht-teleologische Lesart, die sich von der Zivilisationskritik als romantischem Gegenmodell zur Fortschrittserzählung der Moderne abgrenzt und für postkoloniale Lesarten und Übersetzungsprozesse öffnet.16 Abschließend wäre zum Begriff der Dekomposition noch hinzuzufügen, dass mit den hier aufgezählten Funktionsverschiebungen Aspekte einer dynamischen, sich wandelnden Auffassung von Agency einhergehen, die über die oben bereits aufgelisteten Varianten hinausführen. Neben der verteilten Autorschaft, die partiell auf Materialien und 16 Vgl. Tsing 2019 (wie Anm. 11), S. 20, S. 36, S. 42. Tsings Begriff der Prekarität bleibt trotz ihrer Analyse sozialer und ökologischer Geflechte zwischen Matsutake-Pilzen, ihren Symbionten, bestimmten Landschaftsformen, den Landarbeiter_innen und global agierenden Händler_innen recht unbestimmt und bezeichnet im Allgemeinen die Tatsache, dass es sich hierbei um ephemer und veränderliche Gefüge (assemblages) handelt, die die beteiligten Akteure ständig umformen; Vgl. ebd., S. 36. Dass sie trotz ihrer Abwendung von der Zivilisationskritik an der einen oder anderen Stelle am marxistischen Begriff der Entfremdung festhält, um ihn auf nicht-menschliche Entitäten zu übertragen, bleibt dabei ein Widerspruch in ihrer Argumentation. Vgl. hierzu insbesondere ebd., S. 389, Fußnote 6.

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organische Akteure übergehen kann, lassen sich aktive und passive Formen der Agency im Sinne von agency und patiency differenzieren. So ist der Begriff des Zerfalls eher passiv konnotiert und bezeichnet die einem Material oder Geschehen inhärente Dynamik der Entdifferenzierung. Der Begriff der Zersetzung hingegen impliziert eine Aktivität von Akteuren, die auf etwas einwirken, die auch als kritische Funktion der Kunst bzw. ein „kritisches Vermögen“17 der daran beteiligten Elemente verstanden werden kann (abgeleitet von κρίνειν krínein „[unter-]scheiden“, „trennen“) bis hin zur Selbstzersetzung des Kunstwerks. Im Hinblick auf die topologische Ordnung des Ästhetischen sind zwei Aspekte relevant: Erstens die Tatsache, dass Verfahren der Dekomposition nicht nur die Auflösung von Materialien, sondern auch von Relationen selbst betreffen. Hier zeigt sich eine besondere Affinität zur Thematik der Pilze, insofern die dynamische Geflechtstruktur des Myzels sowie die ephemeren Formbildungen von Lamellen und Schwämmen ebenfalls topologischen Modellen und mehr noch – als „aktiv-produzierendes Prinzip“18 – einem Raummodell des Lebendigen selbst entsprechen. Zweitens bringen Akteur_innen oder Agentien der Dekomposition veränderliche biotisch-diskursive Grenzregime zum Vorschein, die sie zugleich der Zersetzung unterziehen: zwischen Innen und Außen, Leben und Tod, Subjekt und Objekt, ästhetischem und postästhetischem Regime sowie zwischen künstlerischem Feld und Nicht-Kunst. Aufgrund dieser immanenten Verschränkung auf der Mikroebene lässt hier sowohl von Infraaktivität als auch von Infrapower ausgehen, von dezentralen, sich dynamisch verhaltenden Kräfte- und Machtverhältnissen.

Zur Theorie des „Kompostierens“ der westlichen Moderne Folgt man einer zentralen Überlegung Bruno Latours, so hat die Moderne in Form von Repräsentationen, Kategorisierungen und Systematiken unter anderem die Trennung der Bereiche Natur und Kultur, Subjekt und Objekt sowie Mensch und Nicht-Mensch voran­ getrieben. Es liegt in der Logik dieser Ordnungen, dass sie immer etwas produzieren, das ihnen entgeht und sie zu zersetzen droht. Latour deutet dies als Effekt der modernen Reinigungsarbeit, die unablässig Hybride und Monster hervorbringt und vermehrt, die die künstlichen Trennungen der symbolischen und realen Hygiene unterlaufen. Als Begleiterscheinung der Moderne weisen sie auf die Existenz von hybriden Netzwerken und Kollektiven hin, in denen z. B. Subjekt-Objekt-Rollen und entsprechende Handlungsfähigkeiten nicht von vorneherein festgelegt sind, sondern situativ und vorübergehend 17 Vgl. Ilka Becker, „Dead or Alive? Agency des Lebendigen und ‚kritisches Vermögen‘ in Mark Dions ‚Neukom Vivarium‘“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 57, 2012, H. 1, Schwerpunktthema Akteur-Netzwerk-Theorie, hg. von Thomas Hensel und Jens Schröter, S. 103–125. 18 Vgl. Karin Leonhard, „Schwamm“, in: Lexikon der Raumphilosophie, hg. von Stephan Günzel, Darmstadt 2012, S. 360–361, S. 360.

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hervorgebracht werden. Für Latour ist eine solche Zersetzungsarbeit – die Krise als auflösende Bewegung – demnach in der Logik der Moderne unweigerlich angelegt. Diese These entspricht der gängigen kunsthistorischen Lesart einer konstitutiven Selbstauflösungstendenz der Moderne als einer Episteme der Krise. Dennoch produziert die pauschale Übertragung des Reinigungstopos auf die Kunst den problematischen Kurzschluss, dass „antimoderne“ Tendenzen immer nur sekundär als Symptom oder „Ausscheidung“ der modernen Reinigungsarbeit erscheinen. Zudem blendet sie die Tatsache aus, dass die Dichotomisierung von rein/unrein der westlichen Moderne angehört und das Konzept des Homo purus durchaus keine ungebrochene, universelle Geltungsmacht für sich beanspruchen kann. Mit einer der Latourschen vergleichbaren Argumentationsfigur widmet sich Roger Fayet dem modernen Reinigungstopos, um daraus Schlüsse für die postmoderne Kunst zu ziehen.19 Er weist insbesondere auf die materielle Ebene der Arbeit der Moderne hin und bezieht sich dabei u. a. auf Mary Douglas’ kanonischen Text Reinheit und Gefährdung.20 Darin wird Reinigung als eine Anstrengung verstanden, eine „neue, positive Ordnung“21 zu etablieren. Alles, was als störender Schmutz und Unrat identifiziert und aus einer Ordnung ausgesondert wird, ist dabei einem Prozess der Zerfalls und des Verrottens anheimgegeben. Jede Ordnung, die unwerte Dinge ausscheidet, führt folglich auch zu einer Reduktion und Verarmung ihres Reichtums und ihrer Fruchtbarkeit. Douglas verweist in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit kompostierender Rituale, die das Ausgeschiedene in die Ordnung zurückführen, um ihre Fruchtbarkeit zu verbessern: so wie etwa das auf dem Komposthaufen verrottende Unkraut, das beim Gärtnern dem Boden wieder beigemengt wird.22 Fayet überträgt dieses Modell auf puristische Formen der modernen Kunst und argumentiert, dass diese die ihre Entmischungen und Autonomiebestrebungen bedrohenden Praktiken und Materialien verworfen habe, anstatt sie zu reintegrieren.23 Während ihre trennende, differenzierende Ordnung auf den Fluchtpunkt der Sterilität ausgerichtet gewesen sei, habe der Schmutz ihr beständig im Modus der Entdifferenzierung entgegengearbeitet. Fayet überträgt diese These nun auf die künstlerische Praxis und entwickelt daraus ein historisches Argument. So zeichne sich die postmoderne Kunst dadurch aus, durch die moderne Ästhetik als unwert ausgeschiedene Elemente zu „kompostieren“ und in den Bereich der künstlerischen Wertschöpfung zurückzuholen. Diesen Prozess versteht er als „Nachbereitung“24 der Moderne, die auf ihre historischen Versäumnisse reagiere. 19 Vgl. Roger Fayet, Reinigungen. Vom Abfall der Moderne zum Kompost der Nachmoderne, Wien 2003. 20 Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu [engl. 1966], Frankfurt am Main 1988. 21 Fayet 2003 (wie Anm. 19), S. 18. 22 Vgl. Douglas 1988 (wie Anm. 20), S. 212. 23 Vgl. Fayet 2003 (wie Anm. 19), S. 158 f. 24 Ebd., S. 175.

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Im Folgenden wird anhand einiger Fallbeispiele zu sehen sein, wie produktiv die Meta­phorik des Kompostierens für eine Heterogenese dekompositorischer Mykoästhetiken ist und inwiefern sich mit neueren Agency-Ansätzen eine differenziertere, (handlungs)machtkritische Sichtweise entwickeln lässt, die über das Konzept des Schmutzes hinausgeht.

Delegierte Agency: Surrealistische Assemblagen Die Surrealist_innen pflegten eine besondere Beziehung zu Materialien, die zuvor aus dem künstlerischen Materialkanon ausgeschieden worden waren. Und so war Wolfgang Paalen wohl auch der erste Künstler, der reale Pilze verwendete. 1938 war er gemeinsam mit Marcel Duchamp für die Gesamtgestaltung der Pariser Exposition Internationale du Surréalisme in der Galerie Beaux-Arts und insbesondere für „Wasser und Buschwerk“25 verantwortlich und verwandelte einen der Ausstellungsräume in eine düstere, begehbare Sumpflandschaft mit trockenem Laub, feuchtem Moos und Unrat.26 Zur Eröffnung, die am späten Abend stattfand, erhielten die Besucher_innen Taschenlampen, um sich mit Hilfe der spärlichen Lichtkegel ihren Weg durch das Gelände zu bahnen, während der Geruch von geröstetem Kaffee in der Luft lag. Um die Objekte und Bilder visuell erfassen zu können, mussten sie nahe an diese herantreten.27 Während die schützende Distanz der visuellen Wahrnehmung aufgehoben war, wurde die multisensorische Wahrnehmung programmatisch aufgewertet. Die Erfahrung der Dislokation im Ausstellungsraum ging in ihrer historisch spezifischen Struktur auch mit einem veränderten, performativen Verhältnis zwischen Raum, Publikum und Objekten einher. Im Unterschied zum illusionistischen Landschaftsbild, in dem Perspektive und Horizont den Raum organisieren und zwischen Kunstwerk und Betrachter vermitteln, wurde hier die immersive Verschmelzung blockiert.28 Ebensowenig ließ sich Paalens unheimlicher Raum der Ideologie des Heimeligen zurechnen, die die Surrealist_innen sowohl mit der nationalistischen Propaganda Frankreichs als auch

25 Andreas Neufert, „Die Maler haben noch nicht die alte Sphinx zum Sprechen gebracht“, in: Wolfgang ­Paalen. Zwischen Surrealismus und Abstraktion, Ausst.-Kat. Wien, Museum Moderner Kunst – Stiftung Ludwig, Klagenfurt 1993, S. 43–80, S. 71. 26 Vgl. Andreas Neufert, Wolfgang Paalen. Im Inneren des Wals, Wien und New York 1999, S. 107 sowie S. 138, Anm. 65. 27 Vgl. Elena Filipovici, „Abwesende Kunstobjekte. Mannequins und die ‚Exposition Internationale du Surréalisme‘ von 1938“, in: Puppen Körper Automaten. Phantasmen der Moderne, hg. von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora, Ausst.-Kat. Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Köln 1999, S. 200–218, S. 203. 28 Vgl. T. J. Demos, „Duchamp’s Labyrinth: ‚The Papers of Surrealism‘, 1924“, in: October, Bd. 97, Sommer 2001, S. 91–119, S. 113.

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mit dem Nationalsozialismus assoziierten.29 Die Hysterie-Performance, die die Schauspielerin Hélène Vanel am Eröffnungsabend aufführte, diente vielmehr als Gegenprogramm. Sie sprang schreiend und zuckend zwischen Bett, Laub und Tümpel herum und spritzte schließlich mit dramatischen Bewegungen Schlamm auf die Besucher.30 Trotz dieser emanzipatorischen und transgressiven Geste blieb Varels Aufführung mit ihr als weiblich-allegorischer Figur der Geschlechterkodierung der westlichen Ikonografie verhaftet. Sie stellte die Verbindung zu antimodernen Elementen her, zu Schlamm und Natur, Dunkelheit, zu Taktilität und Geruch. Diese künstlerisch gestaltete „Umwelt“ bot den geeigneten Nährboden für den Einsatz der Pilze. Die Eingangspassage der Ausstellung trug den Titel Les plus belles rues de Paris. Die Surrealisten hatten dort geliehene Schaufensterpuppen für die Dauer der Ausstellung aufgestellt, zu verstörenden, unbelebt-belebten „êtres-objets“ ausstaffiert und jeweils mit realen oder erfundenen Straßennamen versehen. Die Assoziation zu Kaufhauskonsum und Sexarbeit war dabei vor dem Hintergrund der surrealistischen Vorstellung einer Erotik „hysterischer Weiblichkeit“ durchaus programmatisch. Paalen unterlief mit seinem Mannequin, dem er den Titel La housse – die Hülle – verlieh, diese Gedankenkette (Abb. 1). Anstatt die zwischen illusionistischer Lebendigkeit und erstarrter Unbelebtheit verharrenden Puppe erotisch aufzuladen, verhüllte er sie mit einem verrottenden Kleid aus Champignons, Efeuranken und Moos, während über ihrem Haupt eine ausgestopfte Fledermaus schwebte. Darüber prangte ein Straßenschild mit der Aufschrift „Rue Faible“ – Straße der Schwäche –, die sich gemäß den surrealistischen Wortspielen mit klangverwandten Begriffen auch als „Rue Fable“ – Märchenstraße – lesen lässt. Wie T. J. Demos bemerkt, ist zu diesem Zeitpunkt die reale Straße als Ort einer widerständigen surrealistischen Politik der „homelessness“31 dem bürgerlichen Galerienraum mit seiner „nostalgischen Repräsentation“32 der Mannequin-Straße gewichen. Demnach fungieren die Pilze auch weniger als politische Asphaltsprenger denn als invasive, die körperlichen Grenzen zersetzende Kraft der Porosität, in der sich im Sinne von P ­ aalens programmatischer Aufhebung kategorialer Unterscheidungen Innen und Außen verschränken. Als Übersetzer zwischen Todes- und Lebensprinzip, Organischem und Anorganischem bleiben ihre Figurationen selbst unlesbar. Das Konzept der Porosität als wechselseitiger Durchdringung hatten Walter Benjamin und Asja Lācis 1925 in ihrer Beschreibung Neapels eingeführt: Innen- und Außenräume gehen ineinander über, das 29 Vgl. ebd., S. 95 f. 30 Eine Beschreibung der Performance findet sich in Georges Hugnet, „L’exposition international“, in: Pleins et déliés. Souvernirs et temoignages 1926–1972, Paris 1972, S. 342 f., sowie in Salvador Dali und André Parinaud, Comment on devient Dalí. Les aveux inavouables de Salvador Dalí, Paris 1973. Vgl. auch Don LaCoss, „Hysterical Freedom. Surrealist Dance and Hélène Vanel’s Faulty Functions“, in: Women & Performance, Bd. 15, 2005, H. 2, S. 37–61. 31 Demos 2001 (wie Anm. 28), S. 114. 32 Ebd., S. 98.

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poröse Lavagestein verwächst mit den heterogenen Architekturen der Stadt mit all ihren geschichtlichen Prägungen.33 Bei Paalen dient Porosität jedoch weniger einer Beschreibung kollektiver, urbaner Dynamiken, als einer Poetik des Relationalen: „[...] kein Ding kann bestimmt werden außer in seinem Verhältnis zu einem anderen Ding“, so schreibt er später, 1948, als er die surrealistische Gruppe schon verlassen hat. Porosität wird am Beispiel von La housse als räumliche Logik der Durchdringung erfahrbar. Zugleich konkretisiert sie sich in den Pilzen, insofern diese sich als ein System aus Öffnungen beschreiben lässt, die vergleichbar mit der Morphologie des Schwamms eine labyrinthische und endlos verästelte Struktur aufweisen. Aus Paalens bildlicher Zersetzung der verdinglichten „Warenleiche“ in Form des pilzbewachsenen Mannequins lässt sich der Schluss ziehen, dass es ihm durchaus nicht um die Wiederinkraftsetzung einer „natürlichen“ Ordnung ging, die außerhalb der Geschichte steht. Vielmehr setzte er zu diesem Zeitpunkt auf die von Walter Benjamin beschriebene „Präsenzerfahrung“ der allegorischen Kunst der Moderne. Geschichte wird in dieser Auffassung nicht als organische Entwicklung gedacht, sondern im bruchstückhaften, verstörenden Bild die ideologische Illusion ihrer Totalität kritisch zersetzt.34 In der Allegorie wird etwas erst dann zu einem Objekt des Wissens, indem es zerfällt.35 Doch auch hier bleibt die Geschlechtersemantik ein blinder Fleck des künstlerischen Programms, in dem es gemäß der Assoziationskette von Weiblichkeit / Körperlichkeit / Natur die Motive des Vegetabilischen, Passiven, Materiellen und Unabschließbaren der Pilz-Frau zuweist. Die Projektion des Zerfalls auf tradierte Weiblichkeitsmythen legt dabei den Schluss nahe, dass die Position des schöpferischen Künstlersubjekts in dieser Konstellation nicht wirklich aufgegeben wird. Vielmehr wird mit den artefaktischen, toten Körper überwuchernden Organismen das Verlebendigungsmotiv des Pygmalionmythos, das im 19. Jahrhundert programmatisch als Künstlermetapher thematisiert wurde und in dem sich das Phantasma des lebendigen Kunstwerks verdichtete, weitergetragen.36 33 Walter Benjamin und Asja Lacis, „Neapel“, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, hg. von ­Tillmann Rexroth, Frankfurt am Main 1991, S. 307–316. Historische und geologische Zeitlichkeit bilden hier ein untrennbares Amalgam. Benjamin und Lācis verdeutlichen damit die räumliche und zeitliche Struktur, die in der Moderne für die Arbeit der Grenze zwischen Separierung und wechselseitiger Durchdringung charakteristisch ist und mit Zeichen des Zerfalls und der Dekomposition einhergeht. Vgl. auch Stefan Bub, „Porosität und Gassenschlinge. Siegfried Kracauers und Walter Benjamins mediterrane Stadtbilder“, in: KulturPoetik, 2010, H. 1, S. 48–61. 34 Walter Benjamin verstand die „kritische Zersetzung“ als eine Funktion der Allegorie. Vgl. ders., „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: ders., Gesammelte Schriften I, Bd. 1, Frankfurt am Main 1974, S. 203–409, S. 357. 35 Vgl. Gregor L. Ulmer, „The Object of Post-Criticism“, in: The Anti-Aesthetic, hg. von Hal Foster, Port Townsend/WA 1983, S. 83–110, S. 97. 36 Auch Verena Kuni geht davon aus, dass bzgl. der surrealistischen Mannequins der männliche Künstler Regisseur bleibt, vgl. dies., „Pygmalion, entkleidet von Galathea, selbst? Junggesellengeburten, mechanische Bräute und das Märchen vom Schöpfertum des Künstlers im Surrealismus“, in: Puppen Körper Automaten. Phantasmen der Moderne, hg. von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora, Ausst.-Kat. Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Köln 1999, S. 176–196, S. 196.

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1 Man Ray, Wolfgang Paalens La Housse in der Exposition Internationale du Surréalisme, Galerie Beaux-Arts, Paris 1938, Silbergelatine-Anzug, 1938–1966, 18,4 × 13,6 cm, National Gallery of Australia.

Materielle Agency und Dekomposition des Bildes Im Unterschied zu Wolfgang Paalen, der André Bretons an der Psychoanalyse Freuds orientierter Idee des gelenkten Zufalls nahestand, griff Georges Bataille auf die Vorstellung eines rohen, formlosen und nicht-menschlichen Realismus zurück. Seine programmatischen Begriffe des „niederen Materialismus“ (bas materialisme) und des „Formlosen“ (informe) richteten sich dabei gegen die hierarchische Ordnung des Visuellen.37 Diese Konzepte nahmen wiederum die Kunsthistoriker_innen Yve-Alain Bois und Rosalind Krauss in den 1990er Jahren zum Ausgangspunkt, um negative Fixierungen auf den Formalismus der modernen Kunstkritik (inbesondere Clement Greenbergs) zu hinterfragen.38

37 Vgl. Georges Bataille, „Informe“, in: Documents, Bd. 1, 1929, Nr. 7, S. 382; ders., „Le bas materialisme et la gnose“, in: Documents, Bd. 2, 1930, Nr. 1, S. 1–8. 38 Vgl. Texte zur Kunst, Nr. 24, 1996, S. 6, und Yve-Alain Bois und Rosalind Krauss, Formless. A User’s Guide, New York 1997. Krauss und Bois ist in Folge vorgeworfen worden, den Antiformalismus der Kategorie des Formlosen selbst zu formalisieren, insofern Materialität als ästhetische Kategorie hier keine nähere Berücksichtigung finde; vgl. Rübel 2012 (wie Anm. 15), S. 15 f. Man könnte dem hinzufügen, dass die Begrenzung auf eine reine Begriffsarbeit die westlich-patriarchalische Hegemonie der Schrift gegenüber der Praxis aufrechterhält.

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2 Robert Rauschenberg, Dirt Painting (for John Cage), ca. 1953, Schmutz und Schimmel in Holzkiste, 39,4 × 40,6 × 6,4 cm, Robert Rauschenberg Foundation.

Wie Yve-Alain Bois hervorhebt, sollen das Formlose und die skatologische Dimension des base materialism die Unterscheidung von Form und Materie zusammenbrechen lassen, die wiederum dem Konzept des Tafelbildes zugrunde liegt. Als ein Beispiel für diesen Ansatz verweist er auf Robert Rauschenbergs Dirt Painting (for John Cage) von 1953 (Abb. 2). Es besteht aus einer rechteckigen Holzkiste, gefüllt mit erdigem Schmutz, auf dem sich Schimmelkulturen ausgebreitet haben. Anstatt die Oberfläche des Bildes mit Firnis zu versiegeln und auf diese Weise der musealen Konservierung zuzuarbeiten, bleibt sie hier porös und verändert sich mit den durch die Schimmelpilze bedingten Prozessen von Wachstum und Zerfall, um im Sinne einer autopoietischen Ästhetik kontingente und amorphe, bläulich-gelbliche Flecken auszubilden. Gleichzeitig wirkt sie opak und faktisch, jeglichen Hinweis auf eine illusionistische Auffassung der Bildfläche und eine metaphysische Tiefe negierend.39 So verweist die durch die Pilze aktivierte Bildfläche als Bildgrund nur noch auf ihre eigene Opazität und den operationalen Prozess ihrer Entstehung.40 Laut Rauschenberg sollte Dirt Painting ursprünglich vertikal an der Wand montiert werden, was jedoch wegen der Instabilität des Materials schon bald nicht mehr möglich war. Yve-Alain Bois deutet die Materialverwendung in Rauschenbergs Frühwerk als Ausdruck eines skatologischen Programms, mit dem er der Idee des bildlichen Repräsentation

39 Zur Bildfläche bei Rauschenberg vgl. Rosalind Krauss, „Permanente Bestandsaufnahme“, in: Robert ­Rauschenberg. Retrospektive, Ausst.-Kat. Köln, Museum Ludwig, Ostfildern-Ruit 1998, S. 206–223, S. 207. 40 Vgl. Leo Steinberg, „Other Criteria. The Flatbed Picture Plane“, in: ders.: Other Criteria. Confrontations with Twentieth-Century Art, New York 1972, S. 55–92.

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ohne ironische Distanzierung entgegenarbeite: „The mud in Rauschenberg’s Dirt ­Painting [...] is no depicted mud.“41 Wenn also der Schlamm nur auf seine Materialität verweist und auf diese Weise Unterscheidung von Repräsentation und Präsenz, von Artefakt und Realie, Bild und Leben kollabieren lässt, ließe sich diese Arbeit durchaus mit dem Begriff des „Realsymbols“42 fassen. Und insofern es sich bei dem Schimmel als zentralem Akteur des Malaktes um einen wuchernden Organismus handelt, ließe sich dieser zunächst als Protagonist eines autopoietischen, sich selbst erschaffenden Bildes verstehen, das nichts als sich selbst präsentiert. Eine solche Lesart würde das Bild jedoch auf den Mythos der Autopoiesis eines in sich geschlossenen Systems verkürzen, den Donna Haraway zu Recht mit dem sich selbst erschaffenden, männlichen Subjekt assoziiert.43 Rauschenbergs zersetzende, an John Cage gerichtete Zufallsoperation behält jedoch die Funktion des Rahmens und der vertikalen Bildfläche bei und verweist auf diese Weise auf dessen institutionelle Verankerung im System der Kunst. Die Zurschaustellung des Autopoietischen und der damit einhergehenden Aufgabe jeglicher Repräsentation sowie aller kompositorischen, internen Beziehung ist erst durch die Rahmung der Holzkiste möglich, die eine Verdoppelung in Objekt und Zeichen hervorbringt. Nur so lässt sich das instabile Bildgefüge, das durch den Überschuss an Materialität entsteht, als Differenz sichtbar machen. Zugleich soll – auf Cage verweisend – im Hinblick auf die auktoriale Funktion jegliche Expressivität des Künstlersubjekts vermieden werden. Rauschenbergs Methode der Dekomposition und Aktivierung der Bildfläche ist folglich auch als „Antimuseum“44 gedeutet worden, in dem den Materialien eine aktive Rolle zugewiesen wird. Diese Aktivierung steht nicht nur für eine veränderte Materialauffassung in der Kunst der Nachkriegszeit. Sie geht auch mit einer veränderten Auffassung von Subjekt-Objekt-Beziehungen im Produktionsprozess einher. So sagte Rauschenberg „von sich, er ‚kooperiere‘ (collaborates) mit seinen Materialien und lasse sie so, wie er sie vorfinde, eine Rolle spielen in seinen Werken.“45 Insofern ließe sich der Schimmel in Dirt Painting im Sinne einer verteilten Agency als kooperierendes, wachsendes und daher prozessuales Material verstehen, dem die Gestaltung der Zufallsstruktur auf der Bildfläche obliegt sowie die Aufgabe zukommt, die semantische Tiefe des illusionistischen Tafelbildes durch die materielle Andersheit eines Bildobjektes zu ersetzen.46 41 Yve-Alain Bois, „The Use Value of ‘Formless’“, in: Formless. A User’s Guide, hg. von Yve-Alain Bois und ­Rosalind Krauss, New York 1997, S. 13–40, S. 31. 42 Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 120. 43 Vgl. Donna Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt am Main und New York 2016, S. 70. 44 Krauss 1988 (wie Anm. 39), S. 207. 45 Charles F. Stuckey, „Rauschenbergs Alles-Überall-Ära“, in: Robert Rauschenberg. Retrospektive, Ausst.-Kat. Köln, Museum Ludwig, Ostfildern-Ruit 1998, S. 30–41, S. 36. 46 Dass aber Rauschenberg durchaus auch an den organischen Wachstumsprozessen selbst interessiert war, zeigt sich an dem nicht mehr existierenden, aber fotografisch festgehaltenen Growing Painting (ebenfalls

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Ende der 1960er Jahre untersuchte Gordon Matta-Clark auf noch dezidiertere Weise organische Wachstums- und Zerfallsprozesse. Als Ausgangsmaterial verwendete er hierfür Agar, das er mit Lebensmitteln und anderen organischen Substanzen vermischte, wie etwa Milch, Honig, Hefe, Eiern oder Fleisch, und zuweilen in alchemistischer Manier mit Quecksilber versah. Diese Mischung ließ er in flachen Blechbehältnissen zu dünnen Platten aushärten, von denen er manche an die Außenwand seiner Unterkunft montierte, wo sie in der Luft herumschwirrende Samen und Sporen auffingen und Schimmel ausbildeten.47 Diese Experimente entstanden im Kontext von Matta-Clarks damaligem Interesse für die Zusammenhänge zwischen Materialität, Nahrungszubereitung, Architektur und sozialen Prozessen, sind von Pamela Lee aber auch als Ausdruck seiner Auseinandersetzung mit Robert Smithson und dessen Entropiebegriff gedeutet worden.48 Dass es ­Matta-Clark bei dieser Werkgruppe aber ebenso um eine Redefinition des architektonischen und institutionellen Raumes ging, zeigt sich in der Art und Weise der Präsentation der Agar-Arbeiten. Agar wird in der Forschung als Medium für Bakterien- und Pilzkulturen verwendet und besitzt eine gelatineartige Konsistenz. Hier diente es als Nährboden für die Mikroorganismen, die es zersetzen, schrumpfen ließen und verformten. Auf der Oberfläche bildete sich eine Haut – „skinlike fabrics of dormant life“49, so Matta-Clark. Die organische Dekomposition war somit die Voraussetzung für die Aktivierung des schlummernden Lebens, genauer gesagt der Ausbildung neuer, nicht vorhersehbarer Formbildungsprozesse, die der Künstler durch die Vermischung belebter und unbelebter Materialien angestoßen hatte. In ihnen sah er sowohl strukturelle Baumaterialien als auch eine lebende Umwelt.50 Man könnte diese Umwelt als ökologisches Gefüge der biologischen, sozialen und „ethisch-ästhetischen“51 Formen verstehen. 1970 installierte Matta-Clark Agar-Platten in der Ausstellung Museum in der Bykert Gallery in New York zu einem räumlichen Gebilde, das entfernt an Marcel Duchamps Raum­installation für die First Papers of Surrealism denken lässt.52 Hierfür befestigte er einige der amorphen, gewellten Agar-Platten, die sich unentscheidbar zwischen Objekthaftigkeit und Bildfläche bewegten, zwischen im Raum verspannten Pflanzenranken (Abb. 3).

1953), einem Dirt Painting, auf dem zufällig Samen gekeimt waren (allerdings verfolgte er diese Richtung nicht weiter). 47 Vgl. Tina Kukielski, „In the Spirit of the Vegetable. The Early Works of Gordon Matta-Clark (1969–71)“, in: Gordon Matta-Clark. You are the measure, hg. von Elisabeth Sussman, Ausst.-Kat. New York, Whitney Museum of American Art, New Haven und London 2007, S. 35–45, S. 36. 48 Vgl. Pamela Lee, Object to Be Destroyed. The Work of Gordon Matta-Clark, Cambridge/MA und London 2000, S. 43. Sie setzt sich damit von der alchemistischen Lesart der frühen Arbeiten Matta-Clarks ab. 49 Zit. nach Joan Simons, „[Interview mit Gordon Matta-Clark]“, in: Gordon Matta-Clark. A Retrospective, hg. von Mary Jane Jacob, Ausst.-Kat. Chicago, Museum of Contemporary Art, 1985, S. 26. 50 Vgl. die Aussagen Matta-Clarks in Cindy Nemser, „The Alchemist and the Phenomenologist“, in: Art in America, März 1971, S. 100–103. 51 Félix Guattari, Die drei Ökologien, Wien 2012, S. 32. 52 Zu den Bezügen Matta-Clarks zu Duchamp vgl. Nemser 1971 (wie Anm. 50).

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3 Gordon Matta-Clark, Museum, 1970, Bykert Gallery, New York, Ausstellungsansicht.

Außerdem wurden einige der Agar-Kulturen in Blechcontainern sowie in Gläsern oder direkt auf dem Boden platziert. Auf diese Weise wurden den Besucher_innen die unterschiedlichen Wachstumsstadien der dekompositorisch aktiven Organismen sowie der zunehmende Verschimmelungsprozess während der Ausstellung veranschaulicht. Für die Beobachtung der Mikroorganismen stellte Matta-Clark in einer Raumecke ein Mikroskop bereit, unter dem eine Agar-Probe inspiziert werden konnte.53 Als Beleuchtung wurden mit Waltran gefüllte Lampen auf den Boden gestellt.54 Im Avalanche Magazine wurden die Bestandteile von Museum zum Teil mit ihren biologischen Bezeichnungen wie folgt aufgelistet: agar, water, dextrose, triptone, glycerol, sperm oil, NaCl, sugar, Pet milk, V-8, cranberry juice, corn oil, yeast, chocolate Yoohoo, and chicken broth; the hardware, gold leaf, local vines, galvanized pans, screw hooks, thumb tacks, and black magic plastic sheet; known strains, Mucors-Racemosus, Rhizopus-Apophysis, Aspergillus Niger, Penicillium Notatum, and Streptomyces Griseur.55 Dienten die Ranken der räumlichen Verspannung der einzelnen Elemente, so waren Hefe, Traubiger Kopfschimmel, Rhizopus-Schimmel, Schwarzschimmel, Pinselschimmel (Penicillium) und Streptomyceten (Bakterien) lebendige Akteure der Dekomposition

53 Vgl. Kukielski 2007 (wie Anm. 47), S. 37. 54 Vgl. „Agar, Museum, Incendiary wafers, 1969–71“, in: Gordon Matta-Clark, Ausst.-Kat. Valencia, IVAM ­Centre Julio González, 1993, S. 69–75, S. 70. 55 Avalanche Magazine, Nr. 1, Frühjahr 1970, S. 4–5, S. 4.

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und Transformation dieses Museums, das sich der Konservierung soweit entgegensetzte, dass am Ende lediglich eine der Agar-Arbeiten überlebte – Land of Milk and Honey, 1969, 54 × 147,5 × 16,5 cm, das sich heute in der Gemälde-Abteilung des Stedelijk Museums in Amsterdam befindet. Es wirkt wie ein verrottender rechteckiger Bildgrund, der durch seine Verwerfungen zu einer hügeligen Landschaft geworden ist, in der das materielle Objekt und die im Titel anklingende symbolische Repräsentation einer Landschaft in eins fallen.56

Schimmelpilze als künstlerische Mitarbeiter Systematischer als Rauschenberg und Matta-Clark hat sich Dieter Roth der Methode organischer und ästhetischer Dekomposition gewidmet, zunächst in seinen Schimmelbildern und -haufen, die er um 1963 begann. Roth dienten verrottende Nahrungsmittel wie Käse, Wurst, Sauermilch oder Süßigkeiten als Medium für das Pilzwachstum. Er war der Auffassung, dass Kunstwerke ein Leben besitzen, dass sie altern und sterben sollten. Dabei war er durchaus nicht nur an den materiellen Prozessen und Lebenszyklen interessiert, sondern hielt ebenso an der ästhetischen Kategorie des Schönen fest, die er allerdings als Abwandlung der surrealistischen écriture automatique als „automatische Schönheit“57 dachte (Abb. 4). Indem er die selbsttätigen Prozesse der Schimmelkulturen, die auf seinen Bildern und Objekten unerwartete Farben und ornamentale Formen ausbildeten, rahmte und ausstellte, knüpfte Roth an ästhetische Paradigmen der Moderne an: die Verwendung biologischer Metaphern, um den kreativen Akt als Verlebendigung des Kunstwerks erhöhen zu können, sowie die Methode, autopoietische Formbildungen in die künstlerische Arbeit zu integrieren.58 Implizit blieb er in seinen frühen Schimmelarbeiten auch einer Genealogie der Geschlechterdifferenz verhaftet, die mit dem Phantasma des Lebendigen tradierte Vorstellungen des Weiblichen aufruft, d. h. einer weiblich kodierten Natur und Materie, die von

56 Die Arbeit mit den dekompositorischen Aktivitäten und Lebenszyklen der Pilze hat Matta-Clark an anderer Stelle weiter vorangetrieben. Im Winter 1971 setzte er im Keller der Produzent_innengalerie 112 Greene Street einen Kirschbaum in ein zuvor von ihm ausgehobenes Loch im Fußboden. Nachdem der Baum jedoch abgestorben war, legte er neben einem Altglasstapel eine Pilzkultur an und betitelte die Installation Winter Garden: Mushroom and Waistbottle Recycloning Cellar. 57 Dieter Roth, in: ders., Gesammelte Interviews, hg. von Barbara Wien, London 2002, S. 14. 58 Vgl. hierzu Anja Zimmermann, „Biologische Metaphern. Zu einem Denkstil der Moderne zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Biologie“, in: Biologische Metaphern: Zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Wissenschaft in Neuzeit und Moderne, hg. von dies., Berlin 2014, S. 9–32; Dirk Dobke, „Kunst als Verfallsprozess – Das ‚Schimmelmuseum‘ von Dieter Roth“, in: Schimmel. Gefahr für Mensch und Kulturgut durch Mikroorganismen, hg. von Angelika Rauch, Silvia Miklin-Knief und Anne Harmssen, Stuttgart 2004, S. 114–120, S. 116; Friedrich Weltzien, „Vorwort. Die ästhetische Kraft des ‚von selbst‘“, in: „von selbst“. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, hg. von dems., Berlin 2006, S. 9–13.

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4 Dieter Roth, Schimmelbild, 1968, Mixed Media auf Holz in Kiste, 51,5 × 47 cm.

einem männlichen, pygmalionhaften Schöpfer aktiviert und geformt wird.59 Zugleich gab er mit der Hervorhebung selbsttätiger Prozesse der materiellen Entdifferenzierung durchaus nicht jegliche Idee von Gegenständlichkeit auf. Dies zeigt sich vor allem da­ rin, dass er in seinen Schimmelbildern und -objekten materielle Konstellationen sah, die ironisch als Inseln, Landschaften oder Sonnenuntergänge betitelt wurden. Hier klingen wiederum Referenzen an die von den Surrealisten aufgegriffene Tradition von Leonardos Malereitraktat an, der darin die Methode beschreibt, in die vorgefundenen macchie auf verwitterten Mauern gestalthafte Formen zu imaginieren.60 Auch wenn Roth den Schimmelorganismen die Agency der formalen Binnengestaltung der Bilder und Objekte zuweist und damit den intentionalen Werkbegriff zugunsten einer prozessualen, offenen Werkauffassung verabschiedet, so geschieht dies hier immer nur unter der Regie des nach wie vor funktionalen Künstlersubjekts, das den Zerfall beobachtet, rahmt und ausstellt. Dabei steht neben dem Interesse für das nicht-menschliche Leben der beteiligten Organismen immer auch die metaphorische Übertragung der

59 Vgl. Zimmermann 2014 (wie Anm. 58), S. 31. 60 Vgl. Ilka Becker, „Meteoriten, Meteorologie. Die virtuelle Ausdehnung der atmosphärischen Dinge bei Dalí und Duchamp“, in: Carte Blanche. Mediale Formate in der Kunst der Moderne, hg. von Silke Wagner, Berlin 2007, S. 187–200, S. 190.

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5 Dieter Roth, Schimmelmuseum, 1992–2004, HamburgHarvestehude.

Zerfallsprozesse auf menschliche Subjektivität und insbesondere auf die eigene Person im Mittelpunkt, wenn Dieter Roth beispielsweise die eigene Haut als „Haut der Welt“61 bezeichnet. Im Hinblick auf diese Mystifizierung künstlerischer Subjektivität bleibt er mit seinen dekompositorischen Methoden der Tradition des ästhetischen Regimes mit seiner selbstreflexiven Erfahrungsform verpflichtet. Dieses Programm treibt Dieter Roth in der Spätphase seiner künstlerischen Praxis noch einmal auf die Spitze, indem er mit dem Schimmelmuseum (1992–2004) (Abb. 5) ein ganzes Haus zum Selbstportrait erklärt. Er richtet es ab 1992 in einer leerstehenden Remise auf dem Privatgrundstück des Hamburger Sammlers Buse ein. Dabei greift er auf die ikonographisch tradierte Stellvertreterfunktion des Hauses für den Körper und das Selbst zurück, die sich beispielsweise in Edgar Allen Poes Erzählung Der Untergang des Hauses Usher finden lässt. Dessen Fassade wird – in Analogie zum dahinsiechenden Körper der weiblichen Hauptfigur Lady Magdalen – von einem feinmaschigen Geflecht kleiner Pilze zersetzt. Die metaphorische Analogie weist ihnen eine fast subjekthafte, aggressive Macht über den ohnmächtigen und unheimlichen Haus-Körper zu, dessen Zerfall sie nach außen hin sichtbar machen. Widersetzte sich Roth zu Beginn seiner Laufbahn noch der Konservierung seiner Schimmelbilder, so erweiterte er deren Zerfallslogik nun ins Monumentale, um sie als dekompositorisches Museum zu institutionalisieren. Der Zerfallsprozess der Werke griffen im Laufe der Jahre soweit auf die langsam sich selbst verzehrende Architektur über, dass das Gebäude 2004 abgerissen wurde. Im Mittelpunkt des Museums standen zwei 61 Dieter Roth, „32 tieferliegende wolken für hansjörg mayer“ (Wolke 19), in: ders., 80 wolken. 1965 bis 1967, hg. von Max Bense und Elisabeth Walter, Stuttgart und Reykjavík 1967, o. S.

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größere Installationen, der Selbstturm und der Löwenturm, mit Löwen und Selbstportraits aus Zuckermasse und Schokolade. Außerdem füllte Roth Obst in Holzrahmen, um es der Verwesungsarbeit – so der Titel – zu überlassen. Vor einige der alten Wände im oberen Stockwerk hatte er Rahmen und Verglasungen gesetzt, um die Zersetzung des Hauses mit ihren kontingenten Farb- und Formbildungen als Werkprozess sichtbar zu machen und die dadurch definierten Ausschnitte im Sinne des Museums als Exponate zu markieren. In einem Interview sagte Roth 1981: „Ich finde das die echte Museumsidee: zu beobachten, wie etwas zerfällt und auch den Krieg der Lebewesen – die Trauer, die da ausstrahlt von so ein [sic!] Bild, das kriegt niemand hin, auch der Francis Bacon nicht mit Ölmalerei, diese unheimlichen [sic!] Trauer.“62 Folglich ist das Schimmelmuseum auch weniger als institutionskritisches Statement denn als Aktionsraum einer Trauerarbeit zu verstehen, an der neben dem Künstler, der Architektur und den Lebensmitteln auch die Schimmelpilze sowie die Fliegen und Maden teilhaben, die Roth als „Mitarbeiter“63 bezeichnet hat. Für das Schimmelmuseum ließe sich feststellen, dass hier im Vergleich zu Rauschenberg, der die Kollaboration in einen allgemeinen Materialbegriff integriert, die Protagonisten des Zersetzungsprozesses verstärkt als Akteure eigenen Rechts ins Spiel kommen. Im Produktionsprozess werden sie Teil eines als Umwelt konstruierten Künstlerselbst.

Agentielle Ästhetiken Organismen wie die zersetzenden Pilze als Akteure der künstlerischen Produktion aufzurufen, stößt, wie man sieht, immer an die Grenze der Handlungsinitiative der Künstler_innen, die Prozesse anstoßen, sie ästhetisch und gesellschaftlich rahmen und beobachten. Dieter Roth hat hierfür mit dem Schimmelmuseum Anstöße geliefert, auch wenn die Idee nicht-menschlicher „Mitarbeiter_innen“ immer noch an einen auktorialen, dem Künstler-Schöpfer entspringenden Imaginationsraum gebunden bleibt. Wenn dieser – analog zum sich selbst verzehrenden Museum – als porös, partiell und unabgeschlossen präsentiert wird, zugleich als Oikos, d. h. Haus- oder Lebensgemeinschaft, öffnet sich jedoch ein Möglichkeitsraum für ästhetische Praktiken, die diese Form als einen kollektiven, heteronomen Prozess mit dynamischen, sich wechselseitig bedingenden Agencies weiterentwickeln. Die solchermaßen aufgerufenen Agencies vermögen sich dabei aber auch soweit zu verselbständigen, dass sie im künstlerischen Diskurs selbst einen quasi-subjektiven Charakter annehmen, der durch die multiplen Pilzorganismen buchstäblich verkörpert und erfahrbar gemacht wird. 62 Dieter Roth im Interview mit Kees Broos [1981], in: Dieter Roth. Gesammelte Interviews, hg. von Barbara Wien, London 2002, S. 240–248, S. 248. 63 Vgl. Roth-Zeit: Eine Dieter Roth Retrospektive, hg. von Theodora Vischer und Bernadette Walter, Ausst.-Kat. Basel, Schaulager, Baden 2003, S. 95; Dirk Dobke, Melancholischer Nippes. Dieter Roth – frühe Objekte und Materialbilder (1960–75), Köln 2002, S. 82.

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Dass sie sich nach wie vor im exklusiven Rahmen von Kunstausstellungen, Performance- und Theaterereignissen entfalten, macht dabei einen bedeutenden Anteil der oft innerhalb der Kunstdiskurse vernachlässigten Machtbeziehungen und Exklusionsmechanismen dieser Agencies aus.64 Beispielhaft lässt sich hierfür Pierre Huyghes Installation Untilled von heranziehen, die 2012 während der dOCUMENTA 13 zu sehen war. Huyghe zeigte dort „living entities and inanimate things, made and not made“ in der von Gebüsch und Bäumen und dadurch inselartig in den Park eingelassenen Biokompostieranlage der Karlsaue. Dort hatte er mit einem liegenden weiblichen Akt eine klassische Skulptur aufgestellt, deren Kopf aus einem Bienenkorb mit lebenden Bienen bestand. Außerdem gehörten zur Arbeit u. a. ein Hund namens Human, dessen linker Vorderlauf pinkfarben markiert war, sowie halluzinogene Pilze, die auf dem Kompost wuchsen. Laut David Joselit widersetzte sich Untilled „seinem eigenen reibungslosen Ablauf und inszenierte ein Theater des Bedeutungszerfalls; deren Zersetzung zu Kompost.“ Als Beleg für seine These der nachästhetischen Kondition dieses Kunstwerks führte Joselit an, es ermangele Untilled an einer „soliden Umgrenzung“, innerhalb der „ein Ambiente auszumachen wäre“. Auch signalisiere bereits der Titel einen „Mangel an kompositorischer Beständigkeit, indem er auf die Abwesenheit von Kultivierung – ‚Untilled‘ (unbebaut/ unbestellt/unkultiviert)“ verweise.65 Dem ist entgegenzuhalten, dass Huyghe mit dem liegenden Akt nicht nur die Weiblichkeitsmythen der Selbstzersetzung und Verlebendigung des Kunstwerks aufgreift, die oben herausgearbeitet wurde. Joselit ignoriert auch die klare ästhetische und institutionelle Rahmung – nicht nur durch das Großevent der dOCUMENTA 13, sondern auch mittels der negativen Aussparung in der Parklandschaft durch die versteckte Kompostieranlage, die geradezu eine ökologische Idylle im Sinne eines dystopisch kodierten Hortus conclusus formiert. Zudem besteht Untilled durchaus nicht aus Materie, der es „überlassen wird, sich selbst als Bild zu repräsentieren“, wie Joselit schreibt, sondern wird erst durch die kunsthistorische Referenz des weiblichen Akts als solche lesbar. Daher kann nicht die Rede davon sein, dass hier emergente Agencies wie von selbst aus dem Kompost keimen. Wenn Joselit an anderer Stelle von der „power of connectivity“66 spricht, die aus künstlerischen Handlungen der Umformatierung von Bilder (hier: des weiblichen Akts) herrührt, so unterschlägt er hier die konstitutive Funktion relativ stabiler und keineswegs durchkompostierter Semantiken und institutioneller Wertschöpfungsmechanismen. Wenn die Agencies künstlerischer Praxis nur als Effekt des Netzwerkes beschrieben werden, geraten die Spezifika kritischer Praxis, politischer Agenden und institutioneller Bedingungen aus den Augen. Daher erscheint es sinnvoll, hier nicht mit dem Begriff einer 64 Vgl. Christoph Brunner und Ines Kleesattel, „Earthly Relational Aesthetics. Eine post-koloniale Differenzierung mit Glissant“, in: Polyphone Ästhetik. Eine kritische Situierung, hg. von Sofia Bempeza u. a., Wien u. a. 2019, S. 125–146, S. 128. 65 David Joselit, „Gegen Repräsentation“, in: Texte zur Kunst, Nr. 95, 2014, S. 93–103. 66 Ders., After Art, Princeton/NJ 2013, S. 84.

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ästhetischen Agency zu arbeiten, der entweder das Netzwerk als Ganzes oder wiederum isolierte Objekte aufruft. Vielmehr zielt meine Argumentation darauf ab, dass sich gegenwärtig im künstlerischen Feld agentielle Ästhetiken herausbilden. Ihre Erscheinungen lassen sich als Gefüge materiell-diskursiver, sinnlich-sinnhafter, sozial, ökonomisch und institutionell bedingter Praktiken und diese konstituierender Agencies beschreiben (eine Perspektive, die T. J. Demos als „intrasektionale“ Ökologie bezeichnet)67. Die in diesem Text thematisierten Mykoästhetiken als deren Spezialfall verhandeln dabei mit ihren dekompositorischen Methoden insbesondere die Grenzfälle des Wissens, der Kategorienbildung sowie der damit zusammenhängenden Vorstellungen des Lebendigen im Kontext eines zunehmend als ökologisches System verstandenen künstlerischen Feldes. Disziplinäre und institutionelle Rahmungen werden hier mit Sicherheit hinterfragt und mobilisiert, aber keineswegs ihrer die Relata der Relationen (mit)definierenden Macht qua Kompostierung beraubt. Die sich hier konturierende Konstellation verdankt sich zudem mit Blick auf die oben analysierten Fallbeispiele keinem klaren Bruch, sondern einer Überlagerung und Verschränkung sich verändernder Formen der Wahrnehmung, der sinnlichen Erfahrung und des Affiziertwerdens in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts.68 Sie berücksichtigt sowohl die Dynamiken der Vermischung der materiell-sinnlichen Erfahrungsbereiche und der Auflösung der Grenzen zur Welt als auch deren Bedingtheit durch Denkregime und Institutionen der Kunst.69 In Bezug auf die Dekomposition als kompostierende Praxis der Pilze lassen sich hier sowohl konkret-materielle als auch metaphorische Aspekte in der Kunst festmachen, die sich auf unterschiedliche Weise überlagern. Zeger Reyers hat beispielsweise mithilfe verschiedener Pilzarten eine Reihe von prozessualen Objekten und Installationen produziert, die ihre technisch-kulturellen Ausgangsobjekte – wie Bücher oder Plattenspieler – mit ihrem Myzel durchdringen und langsam zersetzen. Dabei entwickeln sie kontingente, die überwucherten Objekte konstrastierende Formen, deren Bioästhetik an Edward ­Steichens Wolkenformationen oder barocke Ornamente erinnern. Gemeinsam mit Lee Renaldo (dem Mitbegründer der Band Sonic Youth), ist die 2012 Hommage De/Composition für John Cage entstanden, in denen die kontingenten Wachstumsmuster von Rosenseitlingen eine sich kontinuierlich verändernde Zufallspartitur formieren (Abb. 6). Pilze und Notationsverfahren treffen hier im Sinne im Modus einer produktiven Kontaminierung aufeinander. Andere Künstler_innen nutzen organische Zersetzungsprozesse für die ästhetische Dekomposition technischer Bildinformationen und heben auf diese Weise die Materialität von Reproduktionsmedien hervor. Bill Morrison fügt mit 2002 mit Decasia eine 67 T. J. Demos, „Ecology-as-Intrasectionality“, in: Bully Pulpit, Panorama: Journal of the Association of Historians of American Art, Bd. 5, 2019, Jg. 5, Nr. 1, (21. Mai 2021). 68 Vgl. Jacques Rancière, Aisthesis. Vierzehn Szenen, Wien 2013, S. 11 f. 69 Die Kunst wäre für Jacques Rancière ein Beispiel für ein solches Denkregime, vgl. ders., Das ästhetische Unbewußte [2001], Berlin 2006, S. 10.

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6 Zeger Reyers/Lee Ranaldo, De/Composition für John Cage, 2012, Papier, Rosenseitlinge, Holzkiste, Ausst. MEMBRA DISJECTA FOR JOHN CAGE: Wanting to Say Something about John, 25.05. – 20.08.2012, DOX Centre for Contemporary Art, Prag.

67-­minütige Filmcollage aus sich im Zustand der Zersetzung befindendem, historischem Found Footage zusammen, das er aus Archiven zusammengetragen hat. Hier tritt die Vergänglichkeit des Zelluloid-Materials und der darauf eingetragenen Bilder und Geschichten zutage, die aufgrund der chemischen Instabilität des Nitrats und der Aktivitäten von Pilzen und Bakterien sukzessive in den Zustand der Entdifferenzierung versetzt werden. Diany Lelonek wiederum setzt in ihrem Projekt Zoe-therapy (2015–2016) gezielt Buchillustrationen in Petrischalen und Glasbehältnissen Schimmelpilzen und Bakterien aus und benutzt sie auf diese Weise als eine Art „biologische Waffe“70 gegen die westliche Philosophiegeschichte. Diese zielt insbesondere auf die anthropozentrische und hierarchisierende Trennung von Natur und Kultur. Der Angriff auf die Geistesgeschichte äußert sich unter anderem in Schimmelpilz-Kulturen, die die Abbildung einer historischen Aktsaalszene von Johann Zoffany kolonisieren. Das Gemälde zeigt u. a. die Begutachtung von Tizians Venus von Urbino durch Mitglieder der Akademie (Abb. 7).71 Damit steht es 70 Marcin Krasny, http://dianalelonek.com/portfolio/zoe-therapy/ [18. August 2020]. 71 Bei dem überwuchterten Blatt handelt es sich um eine Abbildung von Johann Zoffanys Gemälde La ­Tribuna degli Uffizi (1772–77), Öl auf Leinwand, 123,5 × 155 cm, Windsor Castle, Royal Collection.

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7 Diana Lelonek, aus der Serie Zoe-therapy, 2015–2016, Papier, Schimmelpilze, Bakterien, Glas, 56 × 70 cm.

nicht nur für die westliche Kunstgeschichtstradition, sondern auch exemplarisch für die darin eingeschriebenen Geschlechter-, Herrschafts- und Blickverhältnisse. In der laborartigen Versuchsanordnung ihrer Installation nutzt Lelonek die parasitären Eigenschaften der Mikroorganismen, um den Mythos des westlichen Exzeptionalis­ mus physisch, bildlich und metaphorisch zu zersetzen. Ist der Diskurs des Parasitären Teil der „Wissenskonstitution in der Moderne“72, die damit einen Angriff auf den Kollektivkörper verbindet, so nutzt Lelonek das Potential des vermeintlich störenden und unproduktiven Parasiten (lat. parasitus = Tischgenosse) als einem „Agent[en] der Zwischenräume“73 und der Krise für eine neue ethische und ästhetische Situierung der künstlerischen Praxis. Der parasitischen Aktivität der Schimmelpilze wird die Aufgabe übertragen, das Anliegen, die Repräsentationslogiken und Denksysteme der Moderne in die Krise zu bringen, mit einer mykoästhetischen Praxis zu verschränken, die die materielle und die diskursive Dimension künstlerischer Prozesse als Gefüge sichtbar macht. Sie parasitieren am gedeckten Tisch der Kunstgeschichte, indem sie sich die beschworene Lebendigkeit des Kunstwerks einverleiben. Die ästhetisch-dekompositorische und materiell-kompostierende Aktivität der Pilze unterwandert die Grenze zwischen Belebtem und Unbelebtem, die noch im 19. und 72 Heiko Stullich, „Parasiten, eine Begriffsgeschichte“, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte, E-Journal, Bd. 2, 2013, H. 1, S. 21–29, S. 29. 73 Ebd., S. 23.

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8 Jae Rhim Lee, Infinity Mushroom Burial Suit, 2011, Baumwolle, Pilzmycel.

20. Jahrhundert sowohl für den Begriff des Organismus als auch für dessen Veranschaulichung im Kunstwerk maßgeblich ist.74 Hier lassen sich zwei Narrative unterscheiden, die das kollektive, menschliche und nichtmenschliche Leben (und damit die Verschränkung von Biologie und Biomacht, organischem und sozialem Körper) betreffen und mit Félix Guattari ästhetisch-ethisch inspiriert sind.75 Diese betreffen zum einen den menschlichen Körper und seine Kompostierung nach dem Tode, den Jae Rhim Lee mit ihrem Mush­ room Burial Suit mykoästhetisch umwandelt, zum anderen den Erdboden als Lebensgemeinschaft aus Organismen und unbelebten Materialien, den Claire Pentecost in ihrem Projekt soil-erg 2012 auf der dOCUMENTA 13 zu einer ökologischen Währung macht. Für ihr transdisziplinäres Projekt Infinity Mushroom hat die Künstlerin und Designerin Jae Rhim Lee gemeinsam mit Mykologen die kompostierenden Eigenschaften von Pilzen erforscht und einen biologisch abbaubaren, mit Pilzen und Bakterien versetzten Beerdigungsanzug aus Baumwolle entwickelt. Er vermag den Körper rasch zu kompostieren und zudem darin angesammelte Umweltgifte chemisch umzuwandeln und unschädlich zu machen (Abb. 8). Fast scheint Lee auf diese Weise Donna Haraways Vorstellung entgegenzukommen, dass ein kollaborativer und materiell-semiotischer Prozess des Kompostierens idealerweise „die Toten aktiv einbezieht“76. In dieser veränderten Wahrnehmung

74 Vgl. Claudia Blümle und Armin Schäfer, „Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung“, in: Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, hg. von Claudia Blümle u. a., Zürich 2007, S. 9–25, S. 17. 75 Vgl. Guattari 2012 (wie Anm. 51), S. 26. 76 Haraway 2016 (wie Anm. 43), S. 18.

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9 Claire Pentecost, Soil-erg (Fungus trapping nematode), 2012, Zeichnung.

des Todes werden die organischen Zersetzungrozesse nicht mehr als abjekte Gefährdung der Integrität des Subjekts aufgefasst. Im Sinne einer affektiven und wechselseitigen „Zuwendung“ der beteiligten Akteure und Agentien geraten sie zum Modellfall einer ökologischen Beerdigungspraxis.77 Auch Claire Pentecost verschiebt in Notes From the Underground, ihrem Textbeitrag zur dOCUMENTA 13, 2012 den Fokus auf die unterirdische Zone der Rhizosphäre, in der Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen miteinander kommunizieren (Abb. 9).78 Dabei greift sie die von dem Mykologen Paul Stamets verbreitete Metapher des unsichtbaren Myzelgeflechts (Pilzstränge oder Hyphen) als Gehirn oder Internet der Erde auf, wobei sie zugleich auf die Begrenztheit und den Animismus dieses Vergleichs hinweist.79 ­Soil-erg, ihr künstlerischer Beitrag zur Ausstellung, nimmt dabei Saatgut und Erde als Ausgangspunkt für eine Installation. Sie besteht neben einer Reihe von Zeichnungen aus Erdpressungen in Goldbarren-Form, die eine alternative Währung für ein neues ästhetisch-ethisches Wertesystem bilden und den Petro-Dollar ablösen sollen: eine „Ökonomie, die die Koordination unzähliger ökonomischer Systeme unterschiedlichster Wertbereiche

77 Unter dem Prozess der „Abjektion“ versteht Julia Kristeva die Verwerfung dessen, was die Subjektwerdung und die symbolische Ordnung gefährdet, indem es die Grenzen nach außen überschreitet und als Reaktion den Affekt des Ekels hervorruft; vgl. Julia Kristeva, Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 1982. 78 Vgl. Claire Pentecost, Notizen aus dem Untergrund, Ostfildern 2012, S. 37. 79 Vgl. ebd., S. 54, sowie Paul Stamets, Mycelium Running. How Mushrooms Can Help Save the World, New York 2005.

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bedeutet, die die Prinzipien von Endlichkeit und Regeneration anerkennen.“80 Imaginiert soil-erg somit eine Ökonomie des Teilens anstatt der Aufteilung von Agency? Aktuelle Praktiken haben sich von der dekompositorischen Ästhetik der 1960er-Jahre und der Metapher des Kompostierens als der Moderne eingeschriebener Selbstauflösung des Kunstwerks weitgehend verabschiedet. Kompostierende Pilze mit ihren unterirdischen Myzelien kommen hier weniger als Materialien neben anderen in einem Werkprozess zum Einsatz. Heute wird Ihnen die Rolle zugewiesen, als Partizipierende der künstlerischen Arbeit die agentielle Logik der Rematerialisierungen und Wertschöpfungsprozesse der Kunst und zuweilen sogar „das Agentielle“ selbst ästhetisch zu verkörpern. Daran scheinen sich große, wenn nicht gar planetarische Hoffnungen zu knüpfen, deren Vitalismus zuweilen den Verdacht von ökologischen Erlösungsphantasien aufkommen lässt (und stellte nicht schon der Esoteriker John M. Allegro die These aus, dass es sich beim Christentum ursprünglich um einen Pilzkult handelte?)81. Als Ausblick ist jedoch zu erwarten, dass die interessanteren mykoästhetischen Fiktionen und Möglichkeitsszenarien neue Perspektiven auf die Ungleichheiten und Widersprüche gegenwärtiger Lebenszusammenhänge eröffnen können. 80 Pentecost 2012 (wie Anm. 78), S. 39. 81 John M. Allegro, The Scared Mushroom and the Cross, London 1970.

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Benjamin Wihstutz

Agency durch Abwesenheit Überlegungen zu Tacet von Ari Benjamin Meyers

Was bleibt von der Musik, wenn sie nicht da ist? Diese Frage stellt die Ausstellung Tacet des US-amerikanischen Komponisten und Bildenden Künstlers Ari Benjamin Meyers, die vom 18. Januar bis 3. Februar 2019 im Kasseler Kunstverein zu sehen war (Abb. 1). Tacet, lateinisch für er/sie/es schweigt steht in der Musik als Spielanweisung für das Pausieren eines Instruments. Taucht in einer Partitur das Wort anstelle einer Pause auf, ist die Instrumentalistin oder der Instrumentalist dazu angehalten, den gesamten Abschnitt auszusetzen und zu schweigen. In der Ausstellung Tacet gibt es entsprechend wenig zu hören. Stattdessen versammelt sie Objekte der Musik: An einer Wand hängen mehrere hundert handgeschriebene Notenblätter, auf dem Boden stehen in einer rasterartigen Bodenskulptur angeordnete Instrumentenständer, in einigen Vitrinen sind Objekte zu sehen, die angeblich mit der Biografie einer jungen Violinistin zu tun haben, an der gegenüberliegenden Wand hängen schwarze, mit Daten bedruckte T-Shirts, die nach dem Merchandising einer Band-Tour aussehen und mit dem Band-Logo The Art bedruckt sind, und in einem zweiten Raum stehen sich zwei Notenständer gegenüber, die auf zwei Solisten zu warten scheinen (Abb. 2). Inmitten dieser Szenerie sitzt einsam ein Mann an einem eichenen Schreibtisch, der sich den Besucher*innen als Archivar von Ari Benjamin Meyers vorstellt und ab und an aufsteht, um ihnen einige Zusatzinformationen zu den Objekten im Raum zu geben oder kleinere Tätigkeiten durchzuführen, etwa ein weiteres Notenblatt an die Wand zu hängen oder die Folie einer Partitur auf einem Overhead-Projektor auszutauschen (Abb. 3). Ich werde an späterer Stelle genauer auf die Rolle des Archivars und auf einige dieser einzelnen Arbeiten eingehen. Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet das Gesamtkonzept der Ausstellung. Zum einen, weil die Ausstellung selbst eine eigenständige künstlerische Arbeit darstellt und auch als solche angekündigt wurde. Tacet ist also sowohl der Name einer Einzelausstellung von Ari Benjamin Meyers als auch ein eigenes Werk des Künstlers.1 Zum anderen, weil mir Tacet einige grundlegende Fragen hinsichtlich der Handlungsmacht ästhetischer Objekte aufzuwerfen scheint, die sowohl für die Kunst und 1 Das ist in der Gegenwartskunst kein Einzelfall. Es gibt einige berühmte Künstler*innen, die inzwischen selbst ihre Arbeiten kuratieren bzw. für eine selbst designte Ausstellung auch Werkstatus beanspruchen. Dies betrifft insbesondere situative und performative Ausstellungs-Settings seit den 1990er Jahren wie etwa bei Philippe Parreno, Rikrit Tirivanija oder auch bei neueren Arbeiten von Performancekünstlerinnen wie Marina Abramovic, aber auch ältere Ansätze der Institutional Critique und der Installationskunst wie bei Daniel Buren oder Marcel Broodthaers.

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1 Ausstellungsansicht: Tacet von Ari Benjamin Meyers, Kasseler Kunstverein, Kassel 2019. An den Wänden: Ari Benjamin Meyers: Vexations 2, 2013, Bleistift auf Papier, 840 Notenblätter (jedes 31.5 × 24 cm), Installation variabel.

Musik der Gegenwart von Relevanz sind als auch darüber hinaus das Verhältnis von Objekten, Agency und ästhetischer Wahrnehmung insgesamt betreffen. Denn das Ausstellen von Objekten, die von der Musik übrig bleiben, verweist explizit darauf, dass Musik selbst mit Handlungen verknüpft ist: dem Musizieren und Komponieren einerseits, dem Umgang mit Gegenständen, die um das Musizieren herum eine zentrale Rolle einnehmen, andererseits – neben den Instrumenten mithin die Noten- und Instrumentenständer, Noten­blätter, die Merchandising-Artikel und Kostüme einer Band und weitere Objekte, die helfen, Musik zum Leben zu erwecken, ohne selbst Instrumente zu sein. Die Abwesenheit von Musik in der Ausstellung gab gewissermaßen den Blick frei auf Objekte, die in Anlehnung an Alfred Gell als secondary agents des Musizierens bezeichnet werden könnten2 2 Alfred Gell unterscheidet zwischen primären und sekundären Akteuren: Ersteren (etwa Menschen oder Tieren) ordnet er intentionale Handlungen zu, letzteren (Objekte oder Artefakte) hingegen eine Mittlerfunktion, durch die intentionale Handlungen primärer Akteure ebenfalls wirken können: „[…] primary agents, that is, intentional beings who are categorically distinguished from ‚mere‘ things or artefacts, and ‘secondary’ agents, which are artefacts, dolls, cars, works of art, etc. through which primary agents distribute their agency in the causal milieu, and thus render their agency effective.“ Vgl. Alfred Gell, Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford 1998, S. 20.

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2 Ausstellungsansicht: Tacet von Ari Benjamin Meyers, Kasseler Kunstverein, Kassel 2019. Vorne und rechts: Elemente aus Ari Benjamin Meyers: Who‘s Afraid of Sol La Ti? (Invention 1), 2016, 49 Musikmodule (Digitaldruck auf Papier), 15 Metascores (Foliendruck, projiziert), 1 Thema (Blindprägung, Papier), 52 Instrumentenständer (weiß lackierte Kiefer/Fichte) 2016, hinten: Auswahl von T-Shirts and ein Poster von The Art (Zürich), 2016.

oder im Sinne Bruno Latours im Kollektiv3 mit menschlichen Akteuren in der Lage sind, Musik hervorzubringen. Durch ihre Exponierung in der Ausstellung werden jene secondary agents einer ästhetischen Wahrnehmung zugänglich gemacht, und selbst ohne das Erklingen von Musik erscheinen sie als ästhetische Objekte, die Handlungen evozieren können und dies auch in der Ausstellung tun. Ich möchte also im Folgenden einige Überlegungen zur Agency von ästhetischen Objekten in der Kunst und Musik der Gegenwart anstellen, wobei es mir insbesondere auf die künstlerische Strategie oder den Effekt einer Agency durch Abwesenheit ankommen wird. Ob die Agency dabei den Objekten selbst zugeordnet werden kann oder vielmehr die Objekte Agency auf Seiten der Betrachtenden auslösen, wird noch zu diskutieren sein. Mein Beitrag teilt sich in drei Abschnitte: Zunächst werde ich auf das bei Tacet zentrale Motiv der Abwesenheit eingehen, indem ich es auf zwei prominente Vorgänger der Kunst- und Musikgeschichte beziehe, nämlich auf John Cage und Michael Asher. Dabei wird sich zeigen, dass das In-Szene-Setzen 3 Vgl. Bruno Latour, „Ein Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Wesen“ in: ders.: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main 2000, S. 211–264.

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3 Ausstellungsansicht: Tacet von Ari Benjamin Meyers, Kasseler Kunstverein, Kassel 2019. Jörn Schafaff als Archivar, An den Wänden: Ari Benjamin Meyers: Vexations 2, 2013, Bleistift auf Papier, 840 Notenblätter (jedes 31.5 × 24 cm), Installation variabel.

von Abwesenheit als künstlerische Strategie etwas mit Agency zu tun hat, indem das abwesende Objekt, in diesem Fall die Musik, die Aufmerksamkeit auf das Situative und Performative umlenkt und damit zugleich Handlungen evoziert. Zweitens werde ich ausgehend von Michael Asher und Michael Fried auf den Begriff der Objekthaftigkeit eingehen und diese auf den Status von ästhetischen Objekten beziehen. Dabei schlage ich mit Bezug auf Fried vor, die Begriffe des ästhetischen Objekts und der Situation von dem des Werks abzuheben und der Situation eine theatrale Dimension zuzuschreiben. Im dritten Teil des Aufsatzes komme ich schließlich über die Objekthaftigkeit auf die theatrale Dimension von Tacet zurück, indem ich auf die Referenzialität einiger Arbeiten in der Ausstellung und auf die Rolle des Archivars eingehe. Dabei wird deutlich werden, dass die Ausstellung durch die Beteiligung des Archivars nicht allein zu einer Performance wird, sondern vielmehr ein theatrales Spiel auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen der Repräsentation und der Referenzialität evoziert, das aus den ausgestellten Objekten letztlich Requisiten macht. Dieses theatrale Spiel und die daraus entstehende Fiktionalisierung von Handlungen unterscheidet die Arbeit von Meyers deutlich von seinen Vorgängern Cage und Asher und fügt ihr neben der situativen und performativen Dimension der Objekte mit jenem theatralen Spiel der Fiktionalisierung einen dritten Aspekt hinzu.

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4 John Cage, Partitur von 4’33‘‘ (EP 6777). Handschriftliche Fassung von 1986 (Original von 1952 verschollen), Edition Peters.

I Der Name der Ausstellung Tacet erinnert nicht zufällig an eine der berühmtesten Arbeiten der Neuen Musik, an das 1952 uraufgeführte Stück 4’33’’ von John Cage, dessen einzige Spielanweisung dreimal tacet lautet (Abb. 4). Der amerikanische Komponist John Cage, der zur damaligen Zeit am Black Mountain College u. a. mit dem Maler Robert Rauschenberg und dem Choreografen Merce Cunningham zusammenarbeitete, hatte den Pianisten David Tudor damit beauftragt, sein Stück in drei Sätzen auf dem Klavier zu interpretieren, wobei Tudor den Anfang jedes Satzes mit dem Schließen und das Ende mit dem Öffnen des Klavierdeckels signalisierte. Die Länge der Sätze hatte Cage zuvor ausgelost, sodass sie 30 Sekunden, 2 Min. 23 Sek. und 1 Min. 40 Sek. bildeten; zusammen eben jene vier Minuten und 33 Sekunden, für die sich Cage dann als Titel der Komposition entschied. Das Konzert bestand also zunächst aus der Abwesenheit von Musik, und wie wir wissen, hat diese Abwesenheit im Publikum 1952 in Woodstock, New York, eine gewisse Unruhe und Nervosität ausgelöst, zumal die Stille zuvor nicht angekündigt worden war.4 Die auch heute noch häufig reproduzierte Annahme, es würde sich hier lediglich um einen Scherz 4 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 216; sowie Hans-Friedrich Bormann, Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik, München 2005, S. 188–209.

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auf Kosten des Publikums handeln, wird Cages Werk insofern nicht gerecht, als es ihm vordergründig gar nicht um das Schweigen oder um die Stille ging, als vielmehr um ein Reframing von Musik – nämlich genauer darum, die Geräusche des Saals selbst zur Musik zu erklären und die Zuhörerenden dazu zu bringen, ihre Aufmerksamkeit genau auf diese anderen Geräusche zu lenken. In einem viel zitierten Interview mit John Kobler von 1968 sagt Cage entsprechend: They (the audience) missed the point. There’s no thing as silence. What they thought was silence (in 4’33’’), because they didn’t know how to listen, was full of accidental sounds. You could hear the wind stirring outside during the first movement. During the second, raindrops began pattering the roof, and during the third the people themselves made all kinds of interesting sounds as they talked or walked out.5 Die Abwesenheit des erwarteten ästhetischen Objekts, in diesem Fall der Musik eines durch den Pianisten David Tudor ‚gespielten‘ Stückes, zielte darauf, die Geräusche im Saal neu als Musik zu rahmen und sie damit zu einem ästhetischen Objekt zu machen. Dass das anwesende Publikum dies offenbar nicht verstand, sondern die Aufführung für einen Scherz hielt, wies dabei umso deutlicher auf die Agency des entzogenen Objekts hin. So führte die nicht wahrgenommene Musik spätestens im dritten Satz zu Handlungen und Reaktionen des Publikums, welche das Spielen eines Klavierstückes sicherlich kaum verursacht hätte. Paradoxerweise ist es somit die vermeintliche Abwesenheit des ästhetischen Objekts – ‚der spielt ja gar nicht‘ – welche die Agency der Komposition, die ja in Wirklichkeit dargeboten wurde und Geräusche in Musik transformierte, umso deutlicher betonte. Die Zuhörer*innen fingen an, anders zu hören, sie begannen zu reden und schließlich enttäuscht oder gar wütend den Saal zu verlassen und somit dem Konzert durch ihre dabei erzeugten Geräusche umso mehr zu seinem Gelingen beizutragen. Hans-Friedrich Bormann weist entsprechend daraufhin, dass das Gelingen und Misslingen der Performance hier paradoxerweise in Eins fallen, sodass Cage die Aufführung trotz des Missverständnisses im Publikum im Nachhinein als Erfolg verbuchen konnte und die Aufführung zu einer Art Mythos der Performance Art avancierte. So schreibt Calvin Tomkins in den 1970er Jahren über Cages Sicht auf 4’33’’: From Cage’s point of view, however, both Performances [Woodstock und New York] were miraculously successful. In the Woodstock hall, which was wide open to the woods at the back, attentive listeners could hear during the first movement the sound of wind in the trees; during the second, there was a patter of raindrops on the roof;

5 Abgedruckt in: Conversions with Cage, hg. von Richard Kostelanetz, London und New York 1987, S. 69.

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during the third, the audience took over and added its own perplexed mutterings to the other ‚sound not intended‘ by the composer.6 Was sich an den beiden widersprüchlichen Aussagen über das Publikum („they missed the point“ vs. „miraculously successful“) erkennen lässt, ist, wie sehr performative Arbeiten wie 4’33’’ von der mythisierenden Erzählung einzelner Anwesender und insbesondere der Künstler*innen selbst geprägt sind.7 Es ist durchaus möglich, dass keiner im Publikum außer Cage und dem Pianisten und vielleicht einiger Eingeweihter das Konzert überhaupt als Neue Musik wahrgenommen haben, sprich womöglich keiner der Anwesenden sich mit Cages Komposition ästhetisch auseinandergesetzt hat. Denn wenn ich die Aufführung von 4’33’’ lediglich als Veräppelung des Publikums wahrnehme, verärgert oder auch lediglich belustigt den Saal verlasse und auch im Nachhinein keinen Gedanken mehr daran verschwende, was das eigentlich war – mit Goffman würde man sagen „What is it that’s going on here?“8 –, dann hat es aus zumindest aus rezeptionsästhetischer Perspektive wenig Sinn, hier von einem ästhetischen Objekt zu sprechen. Agency kann man der Komposition allerdings in jedem Fall unterstellen, da ihre Aufführung offenbar die Menschen direkt affiziert und zu sicht- und hörbaren Reaktionen und Handlungen geführt hat. Diese Agency geht auch nicht allein auf den Künstler oder den Interpreten zurück, sondern auf die Komposition 4’33’’ selbst, die etwas mit dem Publikum gemacht hat.9 Dabei stehen Ästhetik und Agency in einem spannungsgeladenen Widerspruch: Denn die Komposition zielt auf eine ästhetische Wahrnehmung von Geräuschen, führte jedoch in der Uraufführung zu ganz anderen, an-ästhetischen Reaktionen, die sich wiederum durch die Erzählung von Cage und Co. ex-post ästhetisieren lassen. Diese Neurahmung als ästhetisches Objekt ermöglicht damit erst eine weiterführende Reflexion über ästhetische Fragen, beispielsweise „Wann wird ein Geräusch zur Musik? “. Ästhetische Reflexivität ist hier also ganz und gar nicht dasselbe wie die Handlungsmacht des Ästhetischen, vielmehr scheint die Wirkung des Objektes im Fall von 4’33’’ eher zwischen einem Evozieren von Handlungen und ästhetischer Reflexion zu oszillieren, aber gerade nicht beides zeitgleich zuzulassen.

6 Calvin Tomkins in: The Bride and the Bachelors. Five Masters of the Avantgarde, 1976, zit. nach Bormann 2005 (wie Anm. 4), S. 201. 7 Bormann schreibt entsprechend: „Schon mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass sich das allgemeine Wissen über 4’33’’ nicht aus der Analyse von Partituren speist, sondern aus Erzählungen von der Uraufführung […].“ Ebd., S. 198. 8 Erving Goffman, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, Boston 1974, S. 8. 9 Fischer-Lichte weist daraufhin, dass diese Handlungen bzw. Laute des Publikums dennoch nicht vollständig plan- oder vorhersehbar war; vgl. Fischer-Lichte 2004 (wie Anm. 4), S. 216.

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5 Michael Asher, Claire Copley Gallery, Inc., Los Angeles, California, U.S.A. September 21–October 12, 1974, Blick durch die Galerie in Richtung Büro und Lagerräume.

II Die Konturen des Kunstwerks zu thematisieren10 oder die Rahmung von Kunst selbst zum Thema zu machen und damit die Aufmerksamkeit auf die ästhetisch gerahmte Situation zu lenken, ist eine künstlerische Strategie, die seit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts immer wieder die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst infrage gestellt und verschoben hat, andererseits aber auch die Frage nach der Performativität und Agency von institutionellen Kontexten der Kunst aufgeworfen hat. Eine der prominentesten künstlerischen Arbeiten dieser Strategie, die der sogenannten Institutional Critique11 zugeordnet wird, ist Michael Ashers Umgestaltung der Claire Copley Gallery in Los Angeles im Oktober 1974 (Abb. 5). Asher entfernte eine Wand, die das Büro der Galeristin vom Ausstellungsraum trennte, verputzte das Mauerwerk und beseitigte alle Spuren, die auf eine Raumveränderung hinwiesen. Zum Zeitpunkt der Ausstellungseröffnung gab es für die Besucherer*innen entsprechend wenig zu sehen: man betrat einen leeren, weißen Raum, an dessen hinterem Ende sich das Lager und der Schreibtisch der Galeristin befanden, die weiterhin ihrer Arbeit wie gewohnt nachging. Mit der Sichtbarmachung von

10 Vgl. hierzu den gleichnamigen Sammelband: Konturen des Kunstwerks. Zur Frage von Relevanz und Kontingenz, hg. von Frédéric Döhl, Daniel Martin Feige, Thomas Hilgers und Fiona McGovern, Paderborn 2013. 11 Zur Institutional Critique siehe Johannes Meinhardt, Art. „Institutionskritik“, in: DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, hg. von Hubertus Butin, Köln 2002, S. 126–130.

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Copleys Arbeitsplatz verwies die fehlende Wand jedoch auf Praktiken und Tätigkeiten, die man als Galeriebesucherin normalerweise nicht zu Gesicht bekommt: Der Verkauf von Werken, das Abschließen von Verträgen, das Kuratieren und Organisieren von zukünftigen Ausstellungen. Ähnlich wie bei Cage ging es also auch bei Asher um eine Geste der Reduktion, um den Entzug eines vom Publikum erwarteten exponierten Werks – anstelle eines Objekts wurde die Abwesenheit eines Objekts präsentiert. Diese wurde in zweierlei Hinsicht offenbar: erstens verwiesen die leeren Wände der Galerie auf das vermeintliche Nichtausstellen von Kunst, auf die Abwesenheit von Werken im herkömmlichen Sinn; zweitens betraf die Geste der Reduktion nicht allein die Abwesenheit von Bildern oder Skulpturen, sondern ebenso die fehlende Wand, welche Büro und Ausstellungsraum trennte. Die doppelte Leerstelle lenkte somit, ähnlich wie Cages 4’33’’, die Aufmerksamkeit auf die Situation selbst, in diesem Fall weniger auf Geräusche, als vielmehr auf das Publikum in der leeren Galerie sowie auf die Handlungen der Galeristin und damit auf den institutionellen Kontext der Kunst. Darüber hinaus führte das Fehlen von Werken und Wand ebenso wie bei Cage zu Handlungen der Galeriebesucher*innen, welche die Situation neu rahmten. Die einzige Rezension der Arbeit von 1974, welche die Kunstkritikerin Sandy Ballatore für das Journal Artweek schrieb, zeugt von diesen Handlungen und zeigt zugleich, wie der hier zu beobachtende Shift vom Werk zur Situation die ästhetische Wahrnehmung der Kritikerin reflexiv wendet: Entering the gallery, viewer’s attention is immediately drawn to the office at the back that was left as is. […] All that stuff on the walls is gone, along with every bit of privacy. […] There are no visual entertainments to cast intent gazes upon, no security in the altered proportions of the room, which seems so long and narrow. Are we in the right gallery? No. Yes. Should we walk around a little and then saunter to out the door, or should we say the hell with it and stomp on up La Cienega shaking our heads. Oh, of course, the show isn’t up yet. Oh, it is! People peeking through the front windows also become part of the work—the subjects of returned stares from within. With little else to look at, a window peeker is pretty entertaining.12 Die Beschreibung spiegelt Ashers eigene Aussage wider, es gehe in seiner Kunst nicht um Environments, sondern um Situationen13 Während der Begriff des Environments von Allan Kaprow und anderen Künstler*innen der Fluxus-Bewegung seit den späten 1950er Jahren für Räume verwendet wurde, die den Betrachter mit einer Fülle an Objekten und Requisiten von Happenings konfrontierten, importierte die Minimal Art den Begriff der Situa12 Sandy Ballatore, „Michael Asher: Less is Enough“, ursprünglich in: Artweek, Bd. 5, 1974, Nr. 34, wieder veröffentlicht in: Michael Asher, hg. von Jennifer King, Cambridge/MA 2016, S. 7–10, S. 8. 13 Ebd., S. 7.

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tion in den 1960er Jahren aus dem Theater, um den Betrachter und seine Wahrnehmung einzubeziehen.14 „Das Objekt, nicht der Betrachter, muß der Mittelpunkt der Situation bleiben“ schreibt der Kunstkritiker Michael Fried, den Künstler Robert Morris rezitierend, „aber die Situation gehört dem Betrachter – es ist seine Situation.“15 Frieds berühmte Kritik der Minimal Art in seinem Aufsatz Art and Objecthood kreist um den von Robert Morris und Tony Smith thematisierten Situationsbegriff, da dieser nach Ansicht des Verfassers nicht nur das Ende der Werkästhetik, vielmehr gleich das Ende der Kunst einläutet. Das Gegenüber von Kunstwerk und Betrachter wird mit den Skulpturen der Minimal Art aufgehoben, indem das Objekt eine Art Bühne errichtet, auf der sich Betrachter und Objekt gleichberechtigt begegnen. Genau diese Bühnenhaftigkeit sowie die räumlich und zeitlich verfasste Wahrnehmung derselben ist es, die Fried dazu veranlasst, die Minimal Art als Theater zu verurteilen. „Das Eintreten der Literalisten für eine neue Objekthaftigkeit“, so Fried, „bedeutet nichts anderes als ein Plädoyer für eine neue Art des Theaters, und Theater ist heute die Negation von Kunst.“16 Deutet man Ashers Arbeit in dieser Hinsicht als Situation, so wird anhand der Beschreibung in Ballatores Kritik deutlich, dass Asher die von Fried konstatierte Theatralität der Minimal Art sogar noch überbietet. Denn die ‚Objekthaftigkeit‘, die Asher ins Spiel bringt, ist paradoxerweise auch hier die eines zunächst abwesenden Objekts. Das Ausstellen dieser Abwesenheit betont nun eine Theatralität, die sowohl auf der raum- und zeitbasierten Erfahrung der Situation beruht, als auch intersubjektive Begegnungen von Zuschauern und Akteuren initiiert, wobei diese Rollen jederzeit wechseln können. So ist es möglich, den von Ballatore erwähnten „window peeker“ entweder als Zuschauer oder als Akteur der ‚Performance‘ wahrzunehmen. Auch die Galeristin kann als Performerin oder als einzige Zuschauerin einer szenischen Darbietung betrachtet werden. In jedem Fall zeugt Ballatores Beschreibung von der Bühnenhaftigkeit der künstlerisch hergestellten Situation – einer Bühnenhaftigkeit des ästhetischen Objekts, die letztlich keinen Beteiligten im anonymen Dunkel des Zuschauersaals belässt. Objekthaftigkeit, mit Fried verstanden, ist damit in der Kunst insofern mit Agency verknüpft, als sie mich buchstäblich bewegt, um die Skulpturen herumgehen lässt, Raum und Zeit als Teil der ästhetischen Situation wahrnehmen lässt. Der eigentliche Skandal besteht für Fried darin, dass der Begriff des Werks in diesem Kontext keinen Sinn mehr ergibt – er wird ausgetauscht vom minimalistischen Objekt, das seine Umgebung ästhetisiert und den Ausstellungsraum in eine Bühne verwandelt. Der Besucher wird in dieser Situation zum Akteur, das Objekt wird zum Mitspieler – umso gesteigerter in einer Situ14 Zu den Anfängen der Happenings siehe Judith Rodenbeck, Radical Prototypes. Allan Kaprow and the Invention of Happenings, Cambridge/MA 2014; sowie Philipp Ursprung, Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art, München 2003. 15 Michael Fried, „Kunst und Objekthaftigkeit“ [1967], in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden und Basel, 1996, S. 334–374, S. 344. 16 Ebd., S. 342.

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ation, in der das eigentliche Kunstwerk gar keine ausgestellte Skulptur mehr ist, sondern wie bei Asher eine Skulptur des Abwesenden. „Verstecken, Zeigen, das ist Theatralität“ 17 schreibt Jean-François Lyotard in seinem Aufsatz „Der Zahn, die Hand“, was auf besonders einprägsame Weise jenes ästhetische Spiel aus An- und Abwesenheit auf den Punkt bringt.18 Wie die Kritikerin Nancy Marmer in einer Rezension von 1977 anlässlich einer ähnlichen Arbeit Ashers in der Morgan Thomas Gallery anmerkt, geht es bei Ashers Arbeiten nicht um die Handlungsmacht eines Regisseurs. Vielmehr lehnt sich der Künstler nach dem Bereitstellen der Bühne zurück und schaut, was passiert: Once the players are in place and the scene is set, the artist steps back; as dispassionate, nail-paring observer, he permits the situation, with all its uncertainties and variables, to work itself out as it will . . . He provides few props, no scripts, no schedule of activities, no themes, no conclusions, no documentation, and, once they are installed, no guidance for the participants.19 Die Theatralität von Ashers Kunst manifestiert sich folglich, deutlicher noch als bei Cage, als etwas, das die Theaterwissenschaftlerin Elizabeth Burns 1972 einen „mode of perception“20 nannte. Ob Verhaltensweisen als theatral beobachtet und bewertet werden, hänge, so Burns, weniger vom aktiven Handeln selbst als vielmehr von einem „particular viewpoint“ ab. Die Galeriebesucher*innen werden von Ballatore qua theatralem Wahrnehmungsmodus in Performer*innen transformiert, das unschlüssige Herumstehen und Betrachten des Raumes wird zur Szene. Die Handlungsmacht der Situation ist somit sowohl bei Cage als auch bei Asher auf eine Strategie des Entzugs und der Abwesenheit zurückzuführen. Erst die Abwesenheit des erwarteten Objekts führt dazu, dass die Situation selbst als ästhetisches Objekt wahrgenommen wird und somit neue Handlungen einerseits initiiert und andererseits in künstlerisches Material transformiert werden. Kunst hat dann nichts mehr mit dem Erschaffen eines Artefakts zu tun, sondern wird zum Setzen des Rahmens selbst, zu einem Reframing, dass Objekte und Handlungen in Kunst verwandelt – die Geräusche werden zu Musik, die Handlungen der Galeristin und der Galeriebesucher*innen werden zur Aufführung – und somit ästhetisiert. 17 Jean-François Lyotard, „Der Zahn, die Hand“ in: ders.: Essays zu einer Affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 11–24, S. 11. 18 Zur Theatralität in der Bildenden Kunst im Ausgang von Fried und Cavell siehe auch aus philosophischer Sicht: Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main 2003, S. 40–78; zum Motiv der Abwesenheit in der Ästhetik aus theater- und tanzwissenschaftlicher Sicht vgl. wiederum Heiner Goebbels, Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater, Berlin 2012 und Gerald Siegmund, Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld 2006. 19 Zitiert nach Kirsi Peltomäkki, Situation Aesthetics, Cambridge/MA 2014, S. 77. 20 Elizabeth Burns, Theatricality. A Study of Convention in the Theatre and in Social Life, London 1972, S. 20.

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Diese Art der Ästhetisierung hat also nur marginal mit einer von Rüdiger Bubner oder Andreas Reckwitz konstatierten „Ästhetisierung der Lebenswelt“ zu tun.21 Sie ist auch – ganz anders als Alfred Gells Begriff von Kunst – nicht an soziale Handlungen oder voraussehbare soziale Wirkungen geknüpft wie etwa Gells Beispiel der Bugbemalung eines Kampfkanus.22 Vielmehr löst sie die sozialen Handlungen als ästhetisierte von ihrer Intentionalität, rahmt sie also nicht mehr im Bedeutungsspektrum des Sozialen, sondern transformiert sie, indem sie reflexiv gewendet werden. Das Ästhetische ist aus dieser Perspektive also weder zu verwechseln mit dem Sinnlichen noch mit der Kunst23 – es stellt sich als transformatives Moment der Wahrnehmung ein, welche es ermöglicht, die Dinge reflexiv als ästhetische Objekte zu betrachten. Mit Bezug auf die hier versammelten Beispiele veranschaulicht: sobald ich die Geräusche und das Schwatzen der Zuhörer*innen bei John Cages 4’33’’ ästhetisch als Musik rahme, sobald ich die Szenerie in der Claire Copley Gallery als Aufführung anschaue und sobald ich die Notenblätter von Meyers nicht mehr als Notenblätter, sondern als Skulptur oder Installation betrachte, werden die Objekte und die Situation ästhetisch transformiert und damit einer Reflexion über die Bedingungen und Möglichkeiten der Wahrnehmung sowie der Kunst zugänglich. „Ästhetisierung heißt Unbestimmtmachen“24 schreibt Christoph Menke in seinem Buch Kraft, was nichts anderes heißt, als dass die Handlungen, sobald ästhetisiert, gerade nicht mehr als intentionale und soziale Handlungen gelesen werden. Dieses Unbestimmtmachen ist jedoch immer nur die eine Seite der Medaille – denn die genannten Beispiele zeigen eben auch, dass es eine ästhetische Sphäre niemals in Reinform geben kann – eine Ausstellung oder ein Konzert bleiben immer zugleich sozial gerahmte Situationen und jene soziale Situation ist dafür verantwortlich, dass die künstlerischen Arbeiten in einer Weise wirken können und soziale Handlungen wie das Diskutieren im Publikum oder das Verlassen des Saals evozieren. Damit bekommt die Situation unverhofft doch wieder

21 Vgl. Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989, S. 143–154; sowie Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. 22 Alfred Gell nennt in einem Aufsatz die Kanubemalung der Trobriander (Trobriand ist eine Inselgruppe östlich von Papua-Neuguinea) als Beispiel für die Agency, die von ästhetischen Objekten ausgehen kann; vgl. Alfred Gell, „The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology“, in: Anthropology, Art and Aesthetics, hg. von Jeremy Coote und Anthony Shelton, Oxford 1992, S. 40–63, S. 44 f. Allerdings wird der Begriff des Ästhetischen hier nicht weiter ausdifferenziert, sondern wie häufig in den Sozial­ wissenschaften auf jede Art künstlerisch-gestalterische Praxis und deren Artefakte bezogen. Ein solch weiter Ästhetikbegriff wie bei Gell hat sicher den Vorteil, sich von einer eurozentrischen Sichtweise der philosophischen Ästhetik zu distanzieren, verkennt jedoch zugleich die Möglichkeit, dass sich Objekte der Kunst und der Gestaltung sowohl ästhetisch als auch anästhetisch betrachten lassen. Ob ein Objekt ästhetisch ist oder nicht, hängt also nach der hier von mir vertretenden Position nicht allein von dessen Produktion, sondern auch von dessen Rezeption ab. 23 Zum Verhältnis zwischen Kunst, Ästhetik und dem Sinnlichen vgl. Daniel Martin Feige, „Zum Verhältnis von Kunsttheorie und Ästhetik. Sinnlichkeit als konstitutive Dimension von Kunst?“ in: Zeitschrift für ­Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 56, 2011, Nr. 1, S. 123–142. 24 Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt am Main 2008, S. 87.

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eine gewisse Ähnlichkeit mit der Bugbemalung des Kampfkanus bei Gell25, nur dass die Zuhörer*innen bei Cage eben nicht vor Noise-Musik fliehen, was vielleicht der passendere Vergleich mit dem Kampfkanu wäre, sondern aufgrund eines kalkulierten Missverständnisses durch die vermeintliche Abwesenheit von Musik selbst zum Verlassen des Raumes veranlasst werden. Der entscheidende Unterschied zur Agency des Kanus besteht also in der Reflexivität der Situation. Cage kann die Reaktionen im Nachhinein ästhetisieren und zur Kunst zu erklären und damit die Frage aufwerfen, ab wann Geräusche zur Musik werden. Gell hätte hingegen niemals behauptet, das Fliehen der Feinde vor dem Kanu würde selbst zum künstlerischen Material und damit die Grenze zwischen dem Ästhetischen und Nichtästhetischen verschieben. Der Reiz ästhetischer Reflexivität, wie er in den Beispielen der Kunst und Musik der Gegenwart auftritt, liegt also darin, dass hier gerade nicht die Kunst als Mittel zum Zweck auftritt, sondern die Arbeiten es bewusst auf eine nie ganz kalkulierbare Kollision zwischen dem Sozialen und dem Ästhetischen anlegen und diese Kollision wiederum reflektieren lassen.

III Der Theaterwissenschaftler Matthias Warstat schlägt in seinem Buch Soziale Theatralität vor, den Begriff Theatralität im Gegensatz zur Performativität an einen Modus des Als-ob zu knüpfen.26 Anders als Goffmans irreführender deutscher Titel seines Erstwerks „Wir alle spielen Theater“ andeutet, gilt es nach Warstat, generell zwischen dem Als sozialer Rollen und einem theatralen Als-ob zu unterscheiden. Dabei geht es nicht allein um die Repräsentation von Rollen auf einer wie auch immer gearteten Bühne, sondern um das Zusammenspiel von Präsenz und Repräsentation bzw. um die fiktionale Verknüpfung eines Hier mit einem Anderswo. Wenn Lyotard schreibt, dass das Zusammenspiel von Verstecken und Zeigen Theatralität sei, dann ist damit zugleich ein semiologisches Spiel der Referenzialität angedeutet, das aus dem Entzug von Präsenz viele neue Ebenen der Repräsentation gewinnen kann. Ich möchte zum Schluss meiner Überlegungen auf Tacet zurückkommen und Meyers Spiel auf verschiedenen Ebenen der Repräsentation und der Referenzialität etwas genauer betrachten, gerade auch, weil mir in dieser Art der Theatralität noch einmal eine ganze andere Dimension von Agency durch Abwesenheit aufzutreten scheint und somit die Kunst Meyers von den Strategien der Vorgänger Cage und Asher unterschieden werden kann. Alle in Tacet ausgestellten Gegenstände verweisen entweder auf vergangene oder auf potenzielle und zukünftige Handlungen. Die 840 fast identischen Notenblätter an der Wand wurden alle von Meyers geschrieben und aus dem Gedächtnis kopiert. Meyers 25 Gell 1992 (wie Anm. 22), S. 44. 26 Matthias Warstat, Soziale Theatralität, Paderborn 2018.

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nimmt dabei Bezug auf ein Stück von Eric Satie, dass die Spielanweisung beinhaltet, das Stück 840mal hintereinander aufzuführen. Auch die Kostüme der Band mit dem Namen The Art, die der Archivar ab und an auf einem Kleiderständer in den Saal rollt, wurden tatsächlich von einer Band in Zürich getragen und auch die Notenständer stehen wirklich für ein Konzert bereit. Jede einzelne dieser Arbeiten ist hochkomplex und kann hier von mir nur beispielhaft und unvollständig wiedergegeben werden. Exemplarisch möchte ich auf eine Arbeit der Ausstellung eingehen, die implizit auf vergangene Handlungen verweist. Es handelt sich um die Bodenskulptur, die der Archivar dem Besucher als Aufreihung von Instrumentenständern erläutert (Abb.2). Auch die weiteren Informationen über die Arbeit gehen auf Erläuterungen des Archivars in der Ausstellung zurück. So weckt bereits der Titel der Arbeit Who’s Afraid of Sol La Ti? verschiedene Assoziationen: Erstens erinnert er an Barnett Newmans berühmte Bildserie Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue von 1967, von der ein Bild der Serie bei der documenta in Kassel 1968 tatsächlich im Friedericianum, also im selben Gebäude wie die Ausstellung tacet präsentiert wurde. Zudem muss erwähnt werden, dass die Wirkungsmacht von Newmans Serie selbst zum Mythos geworden ist, seitdem das Bild 1986 im Amsterdamer Stedelijk Museum von einem Vandalisten mit einem Messer attackiert wurde und die anschließende astronomisch teure Restauration eine heftige Debatte über den Wert, die Zerstörung und Restaurierung moderner Kunst auslöste.27 Die Arbeit führt andererseits die Noten Sol La und Ti im Titel und verweist mit Sol, insbesondere wenn man mit der Geschichte von Bodenskulpturen vertraut ist, zugleich auf den Amerikanischen Konzeptkünstler Sol Lewitt, der im selben Raum wie Barnett Newman auf der documenta 4 in Kassel eine seiner großen Bodenskulpturen installierte (Abb. 6). Meyers Arbeit selbst wurde wiederum bereits in einer früheren Ausstellung im Hamburger Bahnhof 2016 in Berlin ausgestellt, war dort allerdings mit ganz unterschiedlichen Flöten der Blockflötistin Susanne Fröhlich bestückt, die selbst in der Ausstellung auftrat und auf den Flöten musizierte, wobei sie jeden Tag eine neu erstellte Komposition spielte, die noch in der Ausstellung von ihr vernichtet wurde (Abb. 7). Allein diese Vielschichtigkeit an Referenzen auf vergangene Handlungen und Ereignisse dieser Arbeit zeigt: Die von der Abwesenheit der Musik geprägten Objekte in Tacet können sowohl als Zeugen der Kunstgeschichte als auch einer vergangenen Ausstellung und vergangener Konzertsituation betrachtet werden. Selbst diese vergangenen Situationen zeichnen sich dabei noch durch Abwesenheit aus, sind doch die Kompositionen für Blockflöte bereits vernichtet, Barnett Newman und Sol Lewitt bereits tot und der Vandalismus von Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue längst behoben. Immer wenn der Archivar von diesen vergangenen Ausstellungen und Situationen berichtet, belässt er es nicht bei einem Bericht, sondern deutet unter anderem gestisch 27 Zum Vandelismus-Debatte um das Gemälde siehe Dario Gamboni, The Destruction of Art. Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution, London 1997, S. 208–211.

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6 Ausstellungsansicht: documenta 4 (1968), Museum Fridericianum. Kenneth Noland, Date Line, 1967; Sol leWitt, 47 Three-Part Variations on Three Different Kind of Cubes, 1968; Barnett Newman, Who’s afraid of Red, Yellow and Blue II, 1967; Profile of Light, 1967; Morris Louis, *Alpha-Sigma, 1961.

und mit Bewegungen im Raum die Größe der abwesenden Werke und Räume an. Was dabei entsteht, ist eine imaginative Bühne, auf der man sich als Besucher die vergangenen Handlungen und Ausstellungen vor Augen führen kann. Anders verhält es sich mit Arbeiten, die potenzielle Handlungen evozieren wie die zwei sich gegenüberstehenden Notenständer der Arbeit duett, bei der in sehr einfacher Form ein Gesangsstück von einem Besucher mit einem Partner in der Ausstellung gesungen werden kann. Der Archivar bietet sich hier nach einer kurzen Erklärung als Gesangspartner an und nicht wenige Besucher nehmen das Angebot an und singen tatsächlich in der Ausstellung das von Meyers komponierte Duett (Abb. 8). Überhaupt hat der Archivar in der Ausstellung eine Vermittlerrolle inne – zum einen klärt er die Besucher*innen mit Hintergrundinformationen auf, zum anderen wird er selbst zum Performer, indem er das Duett mit Besucher*innen singt oder dreimal am Tag zu festen Uhrzeiten ein weiteres kurzes Gesangsstück von Meyers namens Anthem interpretiert. Gerade die Tatsache, dass es sich ganz offensichtlich nicht um einen ausgebildeten Sänger handelt, betont dabei die Vermittlerrolle selbst noch in der performativen Ausübung des Gesangs. Hier singt kein Profi, sondern einer wie ich. Bleibt man einige Zeit in der Ausstellung und beobachtet den Archivar etwas länger, wird allerdings auch schnell klar, dass es sich hier auch nicht um einen echten Archivar handelt, sondern tatsächlich um eine fiktive Figur. Dies ist etwa an der merkwürdigen Angewohnheit zu erkennen, dass sich der Archivar, der Jörn Schafaff heißt und im „wirklichen Leben“ Kunstwissenschaftler und Kurator ist, jedes Mal wenn er von seinem Schreib-

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7 Ari Benjamin Meyers, Who’s Afraid of Sol La Ti? (Invention 1), 49 Musikmodule (Digitaldruck auf Papier), 15 Meta­scores (Foliendruck, projiziert), 1 Thema (Blindprägung, Papier), 52 Instrumentenständer (weiß lackierte Kiefer/Fichte), 2016, Die Flötistin Susanne Fröhlich spielt eines der Module. Ausstellungsansicht: Scores, Hamburger Bahnhof, Berlin 2016.

tischstuhl aufsteht, um einem Besucher etwas zu erklären, weiße Handschuhe anzieht, als würde er irgendwelche vom historischen Zerfall bedrohten Dokumente ordnen müssen. Auch sind im Script kurze gezielte Irritationen eingebaut, etwa wenn der Archivar anhand der ausgestellten Kostüme der Rockband plötzlich seine eigene Biografie mit der von Ari Benjamin Meyers vermischt, indem er behauptet, er habe bereits mit vier Jahren Mozart und Schubert auf der Violine gespielt (Abb. 9). Die Handlungen in der Ausstellung bekommen in Momenten wie diesen somit eine zweite theatrale Ebene, die direkt von den ausgestellten Gegenständen ausgeht und diese in Requisiten verwandelt. Die Kostüme der Band in der Arbeit The Art verweisen auf eine andere Zeit und einen anderen Raum, die Instrumentenständer auf eine vergangene Aktion und die weißen Handschuhe gehören zum Kostüm einer Rolle. Bleibt man mehrere Stunden in der Aufführung, wird zudem deutlich, dass sich die Aktionen und Erzählungen des Archivars nach einer Weile zu wiederholen beginnen, er wieder zu den weißen

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8 Ausstellungsansicht: Tacet von Ari Benjamin Meyers, Kasseler Kunstverein, Kassel 2019. Rechts: Ari Benjamin Meyers, Duett, 2014, 2 Scores auf Papier, 2 Notenständer, pdf-Datei, Instruktionen. Wände: Atlas of melodies, 2015, Handgeschriebene Scores auf gefundenem Papier.

Handschuhen greift, wieder dieselbe kurze Szene aufführt, die zunächst als solche nicht erkennbar ist, sondern von vielen als eine bloße Erklärung einer Art Museumswärters aufgefasst wird. Der Archivar wird somit als theatrale Figur selbst zu einem ästhetischen Objekt genau wie die Ausstellung als Gesamtkonzept mit dem Archivar als Vermittler zum ästhetischen Objekt avanciert. Einige Besucher fühlen sich jedoch auch berufen, dem Archivar selbst Geschichten zu erzählen oder ihm etwas zu zeigen, was ihn in ein kontingentes intersubjektives Spiel verwickelt, über das er selbst keine Kontrolle mehr hat. So erzählte mir Jörn Schafaff später am Abend nach meinem Ausstellungsbesuch, dass es an einigen Tagen in der Ausstellung zu skurrilen Situationen mit Besucher*innen kam, die ihn wiederum als Zuschauer adressierten. Ich zitiere Schafaff aus dem Gespräch: Der Mann war Mitte 50, hatte einen Drei-, oder eher Fünftagebart und sah leicht verwegen aus. Er kam direkt zu mir an den Schreibtisch und sagte ‚Sie sind hier also der Performer.‘ Dann ging er weiter durch die Ausstellung. Als ich ihm dann anhand der T-Shirts The Art näherbringen wollte, unterbrach er mich und sagte, er wolle jetzt

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9 Ausstellungsansicht: Tacet von Ari Benjamin Meyers, Kasseler Kunstverein, Kassel 2019, Jörn Schafaff als Archivar. Rechts: Ari Benjamin Meyers, Auswahl von T-Shirts and ein Poster von The Art (Zürich), 2016.

auch etwas zur Ausstellung beitragen. Die T-Shirts mit dem Bandlogo ‚The Art‘ würden ihn da an etwas erinnern. Dann zückte er sein Smartphone und öffnete seine Musikapp. Im nächsten Moment dröhnte Slayer durch den Saal, Speed Metal, der Song: Sex. Murder. Art. Später, als ich bereits wieder an meinem Tisch saß, kam er erneut vorbei und meinte, er wolle mir noch etwas zeigen. Er spiele nämlich auch selbst Gitarre, allerdings nur so für sich. Wieder nahm er sein Smartphone aus der Tasche und hielt das Display vor mich hin. Zu sehen war ein Video, in dem er in seinem Hobbykeller ein Gitarrensolo von Metallica synchron mitspielte, so eine Minute etwa, dann brach er das Video ab. Da sich kein anderer Besucher zur gleichen Zeit in der Ausstellung aufhielt, konnte sich Schafaff der Situation nicht entziehen und musste sich das Video des Besuchers auf dem Smartphone anschauen. Vielleicht erhoffte sich der Mann ein Lob oder Statement vom Performer dieser Ausstellung als Experten, der doch eben noch über das Konzert einer Rockband namens The ART gesprochen hatte. Die Kunstfigur des Archivars war zu einem realen Ansprechpartner für einen Hobbymusiker geworden. Vielleicht ging es dem Besucher aber auch ganz einfach darum, die vermeintliche Abwesenheit eines ästhetischen Objekts mit seiner Handlungsmacht und der Hilfe seines Smartphones zu beheben.

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Literatur Sandy Ballatore, „Michael Asher: Less is Enough“, ursprünglich in: Artweek, Bd. 5, 1974, Nr. 34, wieder veröffentlicht in: Michael Asher, hg. von Jennifer King, Cambridge/MA 2016, S. 7–10. Hans-Friedrich Bormann, Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik, München 2005. Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989. Elizabeth Burns, Theatricality. A Study of Convention in the Theatre and in Social Life, London 1972. Frédéric Döhl, Daniel Martin Feige, Thomas Hilgers und Fiona McGovern (Hg.), Konturen des Kunstwerks. Zur Frage von Relevanz und Kontingenz, ­Paderborn 2013. Daniel Martin Feige, „Zum Verhältnis von Kunst­ theo­rie und Ästhetik. Sinnlichkeit als konstitutive Dimension von Kunst?“ in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 56, 2011, Nr. 1, S. 123–142. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. Michael Fried, „Kunst und Objekthaftigkeit“ [1967], in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden und Basel 1996, S. 334–374. Dario Gamboni, The Destruction of Art. Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution, ­London 1997. Alfred Gell, Art and Agency. An Anthropological ­Theory, Oxford 1998. Alfred Gell, „The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology“, in: Anthropology, Art and Aesthetics, hg. von Jeremy Coote und Anthony Shelton, Oxford 1992, S. 40–63.

Heiner Goebbels, Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater, Berlin 2012. Erving Goffman, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, Boston 1974. Richard Kostelanetz (Hg.), Conversions with Cage, London und New York 1987. Bruno Latour, „Ein Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Wesen“ in: ders.: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main 2000. Jean-François Lyotard, „Der Zahn, die Hand“ in: ders.: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 11–24. Johannes Meinhardt, Art. „Institutionskritik“, in: ­DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, hg. von Hubertus Butin, Köln 2002. Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt am Main 2008. Kirsi Peltomäkki, Situation Aesthetics, Cambridge/ MA 2014. Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, ­Frankfurt am Main 2003. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. Judith Rodenbeck, Radical Prototypes. Allan Kaprow and the Invention of Happenings, Cambridge/MA 2014. Gerald Siegmund, Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld 2006. Philipp Ursprung, Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art, München 2003. Matthias Warstat, Soziale Theatralität, Paderborn 2018.

Linda Hentschel

Bilder als Waffen? Gewaltbilder und ihr Affizierungspotenzial

Die folgenden Überlegungen sind im Rahmen meiner Recherchen zum Verhältnis von Schauen und Strafen entstanden.1 Sie sind ein Anschreiben gegen das Schauen als eine Bestrafungstechnik und ein Plädoyer für ein Feld der visuellen Zweifel. Eine zentrale Frage ist hierbei, inwiefern im Akt des Sehens (von Gewaltbildern) die grundsätzliche Gefährdetheit des Lebens, unser aller Leben, anerkannt oder aber, so meine These, zumeist verdrängt wird.2 Mit Jacques Rancière könnte man sagen, das Folgende ist eine Arbeit an der Anordnung der Wahrnehmung.3 Zu dieser Wahrnehmungsarbeit gehört meines Erachtens, klassische Subjekt-­ObjektVerhältnisse im Regime des Visuellen zu hinterfragen. Ich folge hierin dem Thema dieser Publikation und werde versuchen, Betrachter-Bild-Positionierungen aus einer starren Dichotomie zu lösen: Auf dem Feld des Sehens sollten Betrachter_innen von ihrem dominanten Subjektstatus und Bilder von ihrem reinen Objektstatus erlöst werden. Visuelles Handeln ist weitaus komplexer als diese binäre Ordnung es vorgibt. Wir können nur schauen, weil wir immer schon angeblickte Wesen sind. Wir können nur handeln, weil wir schon behandelt wurden.4 Wenn Wahrnehmung solchermaßen organisiert ist, könnten wir versuchen, uns nach einer de-organisierten, organlosen Visualität umzuschauen.5

1 Linda Hentschel, Schauen und Strafen. Nach 9/11, Bd. 1, Berlin 2020; Dies., Schauen und Strafen. Gegen Lynchen, Bd. 2, Berlin 2021. 2 Mit dem Begriff der „Gefährdetheit des Lebens“ beziehe ich mich auf Judith Butler Gedanken in Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt am Main 2005. Butler geht es in ihrem Buch um eine Politik der Produktion von Ungleichheitsverhältnissen, die manche Leben einer Gefährdung aussetzen, während sie andere mit Privilegien ausstattet. Dieser Kampf um Hegemonien und Widerstandsformen ist zentraler Ausgangspunkt von Butlers Ethik einer Gewaltlosigkeit. Michel Foucault hat die Verschaltung von Körper, Wissen und Macht als Biopolitik bezeichnet. Siehe hierzu ausführlich Hentschel 2020 (wie Anm. 1), insbesondere S. 63–116 sowie S. 117–160. 3 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006. 4 Siehe u. a. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. 5 Dies ist eine Anspielung auf den „organlosen Körper“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Buch Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992. Deleuze und Guattari lenken mit ihrer Formulierung des „Organlosen“ die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen von Organisationsprozessen und den Ausschlüssen, die damit produziert werden. „Organlos“ in diesem Sinne ist das, was der Organisation vorausgeht, sie antreibt und gleichzeitig aus ihr verworfen wird.

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1. Schauzweifel Ich möchte das, was ich unter de-organisierter Visualität, Affizierung und Schauzweifel6 verstehe, an einem kurzen Eingangszitat von Susan Sontag verdeutlichen: In ihrem einflussreichen Essay über Das Leiden anderer betrachten erwähnt Susan Sontag eine Passage aus dem IV. Buch von Platons Staat. Es ist eine Erzählung von Sokrates. Sokrates hatte einen Bericht gehört, so schreibt Sontag, demzufolge Leontios, […], einmal aus dem Piräeus an der nördlichen Mauer draußen heraufkam und merkte, dass beim Scharfrichter Leichen lägen, er zugleich Lust bekam, sie zu sehen, zugleich aber auch Abscheu fühlte und sich wegwendete und so eine zeitlang kämpfte und sich verhüllte, dann aber von der Begierde überwunden mit weitgeöffneten Augen zu den Leichnamen hinlief und sagte: da habt ihr es nun, ihr Unseligen, sättigt euch an dem schönen Anblick!“7 In Platons Politeia wird das Begehren zu sehen als unselig bezeichnet. Aber könnte dieser Blick nicht auch als Beginn eines produktiven Nachdenkens über Ambivalenzen der visuellen Wahrnehmung und ihres De- sowie Rezentrierungspotenzials für die Subjektkonstituierung angesehen werden? Für Susan Sontag ist diese kurze Passage, die uns in das 4. Jahrhundert vor Christus versetzt, einer der frühen philosophischen Momente, über Ambivalenzkonflikte und Zweifel im Betrachten von extremer Gewalt nachzudenken. Es ist jene Dynamik der abstoßenden Anziehung, die der Autorin als Ausgangspunkt ihrer Ethik des Visuellen dient und die auch in diesem Text eine wichtige Rolle spielen soll. Denn Leontios‘ Kampf ist weniger ein Kampf gegen das Schauen, sondern ein Ringen zwischen dem Begehren nach Kontrolle und der Hingabe auf dem Feld des Sehens. Es geht Susan Sontag und auch mir nicht einfach um eine Aufforderung zum Ansehen von Gräuelbildern, wie sie u. a. von Klaus Theweleit formuliert wurde: Es gibt diese Gewaltbilder, also sollten wir auch hinschauen!8 Es geht vielmehr um die Überprüfung der Argumente, es – nicht – tun zu wollen. Es geht aber auch nicht um eine Unterwerfung 6 Zum Begriff des Schauzweifels siehe ausführlich die Einleitung in Hentschel 2021 (wie Anm. 1), S. 7–15. 7 Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München und Wien 2003, S. 112 f. Michel de Montaigne setzt sich in seinen Essays in den 1580er Jahren mit dem Begriff der Tugend bei Sokrates auseinander und beschreibt einen inneren Konflikt: „Wenn die Tugend nicht anders, als durch den Streit mit widerwärtigen Begierden hervorschimmern kann: wollen wir dann sagen, sie könne des Beistandes des Lasters nicht entbehren, und habe demselben ihre Ehre und Ansehen zu verdanken?“ Tugend, so Montaigne, sei nicht die Abwesenheit von Laster, sondern der reflektierende Umgang damit. Michel de Montaigne, „Von der Grausamkeit“, in: ders., Essais Frankfurt am Main 2016, S. 142–164, S. 145. 8 Klaus Theweleit, „Folter und Frühstücksbrötchen“, in: die tageszeitung, 10. Juni 2004, S. 6 (= Theweleit 2004 b); ders., „Wir müssen diese Bilder zeigen.“ Interview mit Klaus Theweleit, in: Süddeutsche Zeitung, 13. Mai 2004, S. 15 (= Theweleit 2004 a).

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unter ein Schauverbot, für das Horst Bredekamp in bestimmten Fällen von Gewaltdarstellungen plädiert hat. Seine Argumente und die von Theweleit werden wir im Folgenden kennenlernen. Beide Positionen nehme ich zum Anlass, das Oder zu hinterfragen: Schauen oder Nicht-Schauen? Denn es gibt Bilder, die in den visuellen Kulturen westlich sozialisierter Subjekte keinen bereits definierten Ort markieren, die nicht in einem intellektuellen Akt einfach angenommen oder abgelehnt werden können, wo weder Hin– noch Wegschauen eine stabile Position versprechen. Wie bei Leontios kann das Betrachten dieser Bilder vielmehr von affektiven Widerstimmigkeiten geleitet sein, die ein Subjekt auf der Ebene des Visuellen treffen: Das Oder versagt und wird zu einem Obwohl. An die Stelle einer Entscheidung tritt ein Zweifel, ein Trotzalledem.9 An die Stelle eines wahrnehmenden Subjekts und des wahrgenommenen Bildes tritt der Akt der Wahrnehmung selbst. Meine These ist: Die visuelle Affizierung geht der Handlungsmacht der Betrachter_innen oder der Handlungsmacht der Bilder voraus. Betrachter_innen und Bilder sind im Feld des Sichtbaren korrelational.

2. Schauverbote und Schaugebote Als 2004/05 islamistische Terroristen der Al Quaida und dann wieder 2014 Kämpfer des IS vor laufender Kamera westliche Geiseln enthaupteten und diese Bilder ins Netz stellten, ging die Mediendebatte um „Bilder als Waffen“ in eine neue Runde: Betrachten oder Nicht-Betrachten? Zeigen oder Nicht-Zeigen? Zwischen Schaugeboten und Schauverboten entrollte sich eine Diskussion um visuelle Verantwortung und Ethik: So titelte die tageszeitung: „Wenn das Foto zur Mordwaffe wird, verbietet sich dessen Abdruck.“ (Abb. 1). Entspricht das Betrachten und Zeigen dieser Folter- und Tötungsaufnahmen zwangsläufig einer Komplizenschaft mit den Mördern? Ist eine selbst auferlegte Schau- und Zeigeverweigerung, für die sich verantwortungsvolle Betrachter_innen entscheiden sollten, eine visuelle Widerstandstechnik? Wann entspricht das Schauverbot einer visuellen Fahrlässigkeit und, wie der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit schrieb, einer visuellen Unverantwortlichkeit? Zunächst seien hier zwei Plädoyers für das Betrachten von Gewaltbildern aufgeführt.

9 Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main 1985. Barthes beschreibt hierin seine Theorie der Fotografie als eine Fähigkeit, der/die Betrachter_in zu treffen und mithin zu Betroffenen zu machen. Diese Momente nennt er das fotografische „punctum“, siehe S. 53 f. Die Wortwahl erinnert an Georges Didi Huberman, Bilder trotz allem, München 2007.

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1 die tageszeitung, Bilder als Waffen, Titelseite 2004.

Klaus Theweleit: Das Lachen der Folterer Die Aufregung um Anschauen oder Nicht-Schauen anlässlich von Folter– und Exekutionsdarstellungen konnte Klaus Theweleit nicht nachvollziehen: Die Bilder existieren, also sollen sie auch kursieren. Und hat man nicht sowieso schon immer gewusst oder hätte es wissen können, dass Folter nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist? Folter braucht Zeugen, so Theweleit in einem historischen Rückblick auf die Geschichte der Folter, denn Peiniger haben ein Interesse, ihr siegreiches Gelächter zur Schau zu stellen. „Die Bilder sind ein Nebenprodukt“ dieses Triumphes.10 Für Theweleit war allenfalls die Geste der westlichen Erschütterung verdächtig. Die Tatsache, dass Folter- und Exekutionsdarstellungen nun als barbarische Bildakte definiert wurden, drehte er um und sagte: Die Gewalt der anderen wird gebraucht und vielleicht geradezu begehrt, um sich selbst zivilisiert zu fühlen. Pervers, schurkisch sind immer die anderen. Theweleit zufolge wäre die westliche Empörung dann eine mediale Regierungstechnik und Bilderpolitik, der es weniger um ein Betrauern der Opfer ginge als um die Illusion der eigenen Sicherheit, Handlungsmacht und Immunisierung:

10 Theweleit 2004 b (wie Anm. 8), S. 6; Theweleit 2004 a (wie Anm. 8), S. 15. Zur philosophischen Reflexion um Gewalt, die nur als Bild existieren kann, insofern Gewalt sich immer auf etwas bezieht und deshalb nie an sich, sondern immer entäußert ist, siehe Jean–Luc Nancy, Am Grund der Bilder, Zürich und Berlin 2006, insb. das Kapitel „Bild und Gewalt“, S. 31–50.

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Wir können diese Bilder verdrängen, aber dann geben wir uns jener Illusion hin, die die harmlosen Ausgaben der Tagesschau verbreiten: dass wir in einer halbwegs zivilisierten Welt leben. Aber eine Öffentlichkeit, die immer noch so tut, als hätte sie nicht gewusst, welche Verwüstungen der Krieg anrichtet, ist scheinheilig.11

Susan Sontag: Visuelle Heimsuchung Für Susan Sontag war Wegsehen ebenfalls nie eine Lösung.12 Sie ging aber noch einen Schritt weiter als Theweleit. Ihr Ziel war ein kritischer Umgang mit dem eigenen Voyeurismus im Kontext kolonialer und rassistischer Herrschaftsstrukturen. Bereits in ihren Aufsätzen Über Fotografie Ende der 1970er–Jahre wie auch in ihrem letzten Buch über das Betrachten des Leidens anderer warnte sie vor einer visuellen Abstumpfung.13 Fotografien, so ihre nachdenkliche Beobachtung, klären nicht nur auf, erweitern nicht nur das visuelle Wissen (hierin ähnlich wie Theweleit), sie können auch in dem Maße lähmen, wie man sich an den Anblick von Gräuel gewöhnt. Gerade weil Fotografien aber nie einfach nur abbilden, sondern ihr Darstellen immer ein aktives Zu–sehen–geben ist und somit bestimmte Sichtbarkeitsverhältnisse produziert, sollten wir uns von ihnen „heimsuchen“ lassen. Einem westlichen Publikum, das aus weitgehend privilegierten, gesicherten Lebensumständen heraus das Leiden anderer medial betrachtet und dabei dessen Unfassbarkeit beklagt, hielt Sontag entgegen: Wer sich ständig davon überraschen lässt, dass es Verderbtheit gibt, wer immer wieder mit erstaunter Enttäuschung (oder gar Unglauben) reagiert, wenn ihm vor Augen geführt wird, welche Grausamkeiten Menschen einander antun können, der ist moralisch oder psychologisch nicht erwachsen geworden. Von einem gewissen Alter an hat niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld oder Oberflächlichkeit, auf soviel Unwissenheit oder Vergesslichkeit.14

11 Theweleit 2004 a (wie Anm. 8), S. 15. Auch Susan Sontag betont das „Aufklärungspotenzial“ von Gräuelfotografien: „Die Bilder sagen: Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergesst das nicht.“ Sontag 2003 (wie Anm. 7), S. 134. 12 Zur Rezeption von Susan Sontags Auseinandersetzung mit Gewaltbildern siehe Hentschel 2020 (wie Anm. 1), S. 123–138. Hier wird auch das Nachdenken von Judith Butler über Susan Sontags Ethik des Betrachtens reflektiert. Zur Sontag-Rezeption und der Rolle des Zu-sehen-Gebens von „Fotografien-wider-Willen“ insbesondere für Geschichts- und Kulturwissenschaften siehe Cornelia Brink, „Fotografien sehen und zeigen. Überlegungen aufgrund von Susan Sontags ‚Das Leiden anderer betrachten‘“, in: Leidenschaft der Vernunft. Die öffentliche Intellektuelle Susan Sontag, hg. von Jan Engelmann. Richard Faber und Christine Holste, Würzburg 2010, S. 107–122. Ich danke Gregor Wedekind für diesen Hinweis. 13 Susan Sontag, Über Fotografie [1977], Frankfurt am Main 2003; dies., „Regarding the Torture of Others“, in: New York Times Magazine, 23. Mai 2004. 14 Sontag 2003 (wie Anm. 7), S. 133.

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2 Susan Sontag, The Photographs are us, New York Times, 21. Mai 2004.

Wohl aber, so schreibt Susan Sontag weiter, gibt es eine ethische Verpflichtung auf „Heimsuchung“.15 (Abb. 2). Mit dem Begriff der „Heimsuchung“ ist ein klares Plädoyer für die Handlungsmacht von Bildern auf dem Feld des Visuellen formuliert. „For Sontag, this is the ethical force of the photograph, to mirror and to call to a halt the final narcissism of our habits of visual consumption.“16 Vergleichbar ist dieses Wahrnehmungsmoment mit dem punctum bei Roland Barthes, dem Realen bei Jacques Lacan oder dem Affekt bei Gilles Deleuze. Deleuze beschrieb in seinen Kinobüchern das Affektbild als eine Unterbrechung des Bewegungsbildes.17 Der Affekt ist nach Deleuze ein Bruch im sensomotorischen Ablauf, ein Schnitt im Übergang von der Perzeption zur Rezeption und einer daraus resultierenden Unterbrechung zur Aktion; er erscheint in der Kluft zwischen einer verwirrenden Wahrnehmung und einer verzögerten Aktion. In dieser Kluft kann die Distanz der Wahrnehmung nicht durch ein kognitives Auslesen von dargestellten Objekten und einer Identifizierung von und mit Objekten aufrechterhalten werden. Die Wahrnehmung wird zum Distanzverlust: Ein Teil einer äußeren Bewegung dringt, gefühlt ungefiltert, so Deleuze, in den Körper des Auges ein. Diese De-Organisiertheit der Affektion entspricht, so Deleuze weiter, einer Koinzidenz von Subjekt und Objekt. Es ist gleichsam der Moment

15 Ebd. 16 Judith Butler, „Photography, War, Outrage“, in: Publications of the Modern Language Association of America, Bd. 120, Mai 2005, H. 3, S. 822–827, S. 826. 17 Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main 1996, S. 96.

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vor ihrer Division und Ausgangspunkt der Division, der in der Folge die (Selbst-)Wahrnehmung leiten wird. Im Schauen sind wir, wie Leontios, zugleich Angeblickte. Das ist die Immanenz des Sehens, so Deleuze.

Horst Bredekamp: Bilder, die töten Nun kann man sich fragen: Welche Argumente sprechen dann für ein Schauverbot, für das sich u. a. der Kunsthistoriker Horst Bredekamp einsetzte? Ihm erschienen Theweleits Argumente – Bilder existieren, also sollten sie auch kursieren – „unbedacht und leichtfertig“.18 Bredekamp betonte die Performativität der Bilder, da sie nicht den Akt des Tötens und Sterbens zeigten, sondern Teil des Tötens und des Sterbens seien. Es werde getötet, um ein Bild davon zu machen. Deshalb sei der Tötungsakt ein Bildakt und der Bildakt ein Tötungsakt und der Akt des Anschauens ein symbolischer Akt des Mittötens.19 Unter Bildakt versteht Horst Bredekamp „eine Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln […], die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht.“20 Das Problem, das aus dieser Perspektive entstehen könnte, ist, dass Bredekamp visuelle Handlungsmacht im Bild („Kraft des Bildes“) verortet, und nicht in der Kluft zwischen dem Sehen und dem Un/Sichtbaren, der Wahrnehmung und dem Wahrgenommenen, dem Affekt und seinen Subjekt/Objekt-Divisionen. In den Folterfotografien und Enthauptungsvideos sei im Unterschied zu künstlerischen Enthauptungsdarstellungen „ein Mensch tatsächlich getötet worden, um dieses Bild zu produzieren [...]. Daher wird der Zweck des Enthauptens, ein Bild zu werden, das die Augen der Rezipienten erreicht, zum Bildakt, zur Körperpolitik.“21 (Abb. 3). Der Bildakt sei „Fakten schaffend“ und deshalb ebenso integraler Bestandteil von Kriegshandlungen wie der Waffengebrauch.22

18 Horst Bredekamp, „Wir sind befremdete Komplizen“, in: Süddeutsche Zeitung, 28. Mai 2004, S. 17. 19 Unter Bildakt versteht Horst Bredekamp allgemein: „Reziprok zum Sprechakt liegt die Problemstellung des Bildakts darin, welche Kraft das Bild dazu befähigt, bei Betrachtung oder Berührung aus der Latenz in die Außenwirkung des Fühlens, Denkens und Handelns zu springen.“ Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 52. 20 Ebd. 21 Bredekamp 2004 (wie Anm. 18). Caravaggios gemalte Enthauptungsszene wurde 2019 von der Österreichischen Post für eine Sondermarke verwendet, siehe: https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/ Briefmarken/2019/Michelangelo_Merisi%2C_genannt_Caravaggio [11. Sept. 2020]. 22 Bredekamp 2010 (wie Anm. 19), S. 14: „Unter den Bedingungen des asymmetrischen Krieges haben sich Bilder jedoch zu Primärwaffen entwickelt. Über die Massenmedien und das Internet eingesetzt, dienen sie dazu, Konflikte über die Augen zu entgrenzen und mentale Prozesse in Gang zu setzen, die auf unmittelbarere Weise als zuvor den Waffengang selbst zu steuern oder gar zu ersetzen vermögen.“

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3 Caravaggio, David mit dem Haupt des Goliath, 1600/01, Öl auf Holz, 91,2 × 116,2 cm, Wien, Kunst­his­to­risches Museum.

Bredekamp rief zum Boykott der Bilder auf, denn Hinschauen bedeute Komplizenschaft: Da der Zweck dieses Verbrechens im Betrachten seines Bildes liegt, bedeutet sein willentliches Ansehen Komplizenschaft. [...] Wenn das Töten eines Menschen den Zweck hat, seinen Tod zum Bild werden zu lassen, dann ist das Betrachten dieses Bildes unabdingbarer Akt der Beteiligung.23 Betrachten gleicht demnach einer Geste der Unmenschlichkeit und des Mittötens. Eine solche Argumentation, die eine Identifikation der Bildbetrachtenden mit dem Mörder nahelegt, kann ein Blickverbot zur politischen Gegenwaffe und Widerstandsgeste erheben.24 Bredekamp setzt damit aber auch voraus, dass der/die Betrachter_in ein rationales (und kein affiziertes) Wahrnehmungssubjekt ist und, frei nach Sigmund Freud, „Herr“ im eigenen Wahrnehmungshaus sei. Wie aber sieht es dann mit der Mittäterschaft beim Betrachten der Fotografie des vom Schuss getroffenen, stürzenden Milizionärs von Robert Capa (1936) oder der Erschießung

23 Bredekamp 2004 (wie Anm. 18). Cornelia Brink bezieht sich ebenfalls auf diese Textstelle, lässt sie aber unkommentiert; siehe Brink 2010 (wie Anm. 12), S. 116. 24 Ähnlich argumentiert auch Herta Wolf, „Die Tränen der Fotografie“, in: Folter. Politik und Technik des Schmerzes, hg. von Karin Harrasser, Thomas Macho und Burkhardt Wolf, München 2007, S. 140.

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4 Eddie Adams, General Nguyen Ngoc Loan erschießt einen Vietkong-Gefangenen, Saigon 1968.

eines vermeintlichen Vietkong auf einem Foto von Eddie Adams (1968) aus? (Abb. 4). Hat mein Ansehen auch sie mitgetötet? Lynche ich, wenn ich eine Lynchfotografie anschaue? Auch Susan Sontag sprach von „Komplizenschaft beim Zuschauen“ solcher Bilder, forderte aber kein Schauverbot, sondern vielmehr ein wiederholtes Betrachten, um der eigenen – als anstößig wahrgenommenen – Verwicklung auf die Spur zu kommen.25 Sich der Heimsuchung zu öffnen bedeutet, von der eigenen Todesangst affiziert zu werden. So schrieb Georges Bataille beim Anblick einer Fotografie der Chinesischen Folter: Dieses Bild hat in meinem Leben eine ausschlaggebende Rolle gespielt: Dokument eines zugleich ekstatischen (?) und unerträglichen Schmerzes, ist es mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. […] Diese Gewalt – und ich kann mir noch heute keine irrsin25 Sontag 2003 (wie Anm. 7), S. 72: „Was indessen den Betrachter, was diese spezielle Betrachterin angeht [damit meint Susan Sontag sich selbst, L. H.] – nun, auch nach all den Jahren, seit dieses Bild gemacht wurde, kann man die Gesichter darauf lange ansehen und vermag doch das Rätselhafte – und Anstößige – solcher Komplizenschaft beim Zuschauen nicht zu ergründen.“ Susan Sontag bezog sich hier auf die Fotografie von Eddie Adams. Der Chef der südvietnamesischen Polizei Nguyen Ngoc Loan hatte im Februar 1968 den jungen gefesselten Mann an die Stelle einer Straße in Saigon gezerrt, an der internationale Journalisten standen, und ihm dort vor aller Augen in den Kopf geschossen. Diesen Augenblick hielt Eddie Adams fest. Der südafrikanische Fotojournalist Kevin Carter erhielt 1994 den Pulitzer–Preis für eine Fotografie, die während der Hungerkatastrophe im Sudan ein niederkauerndes Kleinkind zeigt, hinter dem ein Geier lauert. Der Freitod Carters wenige Monate später wurde immer wieder mit den psychischen Folgen dieser Aufnahmesituation in Verbindung gebracht.

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nigere, grauenhaftere Gewalt vorstellen – erschütterte mich dermaßen, daß [sic] ich eine Ekstase erlebte. […] Was ich plötzlich sah und was mich mit Angst erfüllte – was mich jedoch zugleich von dieser Angst erlöste –, war die Identität dieser vollkommenen Gegensätze: der göttlichen Ekstase und des äußersten Grauens.26 Bataille dachte die Faszination für Bilder äußersten Leids zusammen mit einer Überwindungsphantasie der Angst vor der eigenen Verletzbarkeit. Der An/Blick des versehrten Anderen erlöst von der Angst, obwohl er Angst auslöst. Knecht und Geisel dieses Obwohl zu sein, könnte Ausgangspunkt einer visuellen Ethik sein, die, will sie die Gewalt, die sie betrachtet, in der Betrachtung nicht reproduzieren, selbst nie friedlich, oft aber idiosynkratisch und widerstimmig sein kann. Horst Bredekamp ist zuzustimmen, wenn er betont, dass die Aufnahmen aus Abu Ghraib keineswegs die Folterungen nur darstellen, sondern integraler Teil der Folterpraxis waren. Hier ist tatsächlich ein Mensch gefoltert worden, um ein Bild zu produzieren. Die Bilder wurden dann gezeigt, betrachtet und getauscht, um die Gefolterten einer zusätzlichen visuellen Erniedrigung auszusetzen. Und dennoch sollte Vorsicht geboten sein, schrieb wiederum Sontag, so zu tun, „als ob diese Bilder selbst das Entsetzliche wären und nicht das, was sie zeigen.“27 Moralisches Entsetzen angesichts (des Betrachtens) von Gewalt ist nicht automatisch Zeichen einer fundamentalen Menschlichkeit. Zunächst setzt dieses Entsetzen lediglich voraus, dass im Betrachten immer jene Gewalt wiederholt würde, die zur Entstehung der Fotografien geführt hatte. Anschauen wäre dann ein mit dem Mörder geteilter Tötungsakt, das Bild ein sekundärer Killer. Nur so lässt sich der Aufruf zum Wegschauen als ein Durchbruch zur Gewaltlosigkeit begründen. Aber leider werden die binären Paarbildungen Betrachten = Gewalt und Nicht– Betrachten = Gewaltlosigkeit der ontologisch von uns allen geteilten, politisch jedoch asymmetrisch verteilten Gefährdetheit des Lebens mit ihren ambivalenten Sichtbarkeitsverhältnissen nicht gerecht. Gewaltloser zu werden ist keine gewaltfreie Wahrnehmungsangelegenheit, ganz im Gegenteil: Die visuelle Affizierung ist jener Moment, in dem der/ die Betrachter_in als Objekt des Blicks des anderen im Feld des Bildes auftaucht und zugleich genichtet wird. Die Handlungsmacht liegt dann weder im Bild noch bei dem/der Betrachter_in, sondern in deren affektivem Aufeinandertreffen.

Nicht Identifikation, sondern Affizierung Dennoch sollte es höchst problematisch bleiben, an einem medialisierten Tötungsspektakel teilzunehmen. Sicherlich sind Snuff–Movies nach der modernen, bürgerlichen 26 Georges Bataille, Die Tränen des Eros, München 1981, S. 246 f. 27 Susan Sontag, „Endloser Krieg, endloser Strom von Fotos“, in: Süddeutsche Zeitung, 24. Mai 2004, S. 13.

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Privatisierung des Todes die radikalste Art, die Grenzen des visuellen Feldes herauszufordern. Was will man mehr zu sehen geben, als das gewaltsam herbeigeführte Sterben eines Menschen? Gewiss sind diese Aufnahmen Mittel des Strafens. Doch muss eine medienethische und kritische Reflexion über den Willen zur maximalen Sichtbarkeit nicht zwangsläufig zu einer moralisch begründeten Blickverweigerung führen. Vielleicht gibt es noch andere Komplizenschaften als die mit dem Täter. Oder anders formuliert: Mich interessiert nicht so sehr die Identifizierung mit dem Täter (Bredekamp) oder eben nicht (Theweleit), sondern die Affizierung durch die visuell vermittelte Tat. Und diese Affizierung liegt gerade nicht in meinem Willen, sondern ist Voraussetzungsbedingung für die „Organisation“ von Willen, Wissen, Wahrnehmung und Identifizierung. Hierin liegt die Handlungsmacht der Affizierung. Macht haben weder die Betrachter_innen noch die Bilder, sondern es ist jenes Verhältnis beider zueinander, von dem Deleuze als Perzeptionsriss und Sontag als Heimsuchung sprach. Horst Bredekamp stellte mit seinem Bildakt-Argument heraus, dass Betrachten immer auch Handeln bedeute. Zu diesem Handeln gehört jedoch auch die politische Asymmetrie, dass nur die „eigenen“ Verletzten und Getöteten in der Unsichtbarkeit verweilen, während die Opfer der gegnerischen Seite postkolonialistisch penibel ausgeleuchtet werden. Während die Aufnahmen der aus den Türmen des World Trade Centers stürzenden Menschen nicht bzw. erst Jahre später gezeigt wurden, feierte man die Festnahme Saddam Husseins auf den Leuchttafeln in Washingtons Straßen.28 (Abb. 5 und 6). Wer nun das Anschauen dieser Gräuelbilder ablehnt, weil Bilder „töten“, macht paradoxerweise die Blickverweigerung zu einer bildmagischen, den Tod abwehrenden Geste. Ist Schweigen die „effektivste Gegenwaffe“?29 Damit sind aber die Bilder keineswegs aus den kritisierten Gewaltbeziehungen herausgelöst, sondern ihnen wird vielleicht sogar – klassisch ikonoklastisch – eine absolutere Macht zugestanden, als die Bildproduzenten es je getan haben. Denn glaubt ein Fetischist nicht mehr an den Fetisch, nur weil er ihn verflucht? Meine Überlegung ist deshalb, in einer Debatte um die Handlungsmacht von Bildern nicht bei einer identifikatorischen Komplizenschaft mit Tätern zu verweilen, sondern auch den Versuch einer phantasmatischen (gleichwohl unmöglich willentlichen) Affizierungsverweigerung auf dem Feld des Sehens in Betracht ziehen. Denn der Vorwurf der Komplizenschaft riskiert zwei Dinge zu überspringen: Einerseits verdeckt dieser Vorwurf die eigenen Ambivalenzkonflikte und Zweifel des Hin-Weg-Schauens (Leontios) und dient dem Betrachter_innen-Subjekt als Rezentrierungsanker des moralisch Guten. 28 In diesen Sichtbarkeitsverhältnissen erkennt Sontag eine visuelle Herrschaftstechnik: „Je weiter entfernt oder exotischer ein Schauplatz, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Toten und Sterbenden unverhüllt und von vorne zu sehen bekommen. [...] [Diese Fotografien] bekräftigen, dass solche Dinge in dieser Weltgegend eben geschehen. Die Allgegenwart dieser Fotos und dieser Schrecken nährt wie von selbst die Überzeugung, solche Tragödien seien in den rückständigen – das heißt armen – Teilen der Welt eben unvermeidlich.“ Sontag 2003 (wie Anm. 7), S. 85. 29 Bredekamp 2004 (wie Anm. 18), S. 17.

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5 Richard Drew, „Falling man“, New York, 11. September 2001.

Zum anderen, und das scheint noch gravierender, formuliert sich mit dem Vorwurf der Komplizenschaft eine Verweigerung, den Täter „trotzalledem“ als politisches Subjekt und „Mensch“ anzuerkennen. So möchte ich abschließend noch einmal auf Susan Sontag zurückkommen. Niemand, der nur die Debatte [um das Enthauptungsvideo von Daniel Pearl Anfang 2002, L. H.] verfolgte, wäre auf den Gedanken gekommen, dass das Video auch andere Aufnahmen enthielt, eine Montage stereotyper Anschuldigungen (z. B. Bilder von Ariel Scharon und George W. Bush im Weißen Haus, von palästinensischen Kindern, die bei israelischen Angriffen getötet wurden), dass es eine politische Botschaft transportieren sollte und mit allerlei finsteren Drohungen und einer Liste konkreter Forderungen endete – lauter Aspekte also, die darauf hindeuten, dass es sinnvoll sein könnte, sich auf dieses Video (sofern man es denn erträgt) einzulassen, um nachher desto besser für eine Auseinandersetzung mit der spezifischen Bösartigkeit und Unversöhnlichkeit jener Kräfte, die Pearl ermordet haben, gerüstet zu sein. Leichter ist es allerdings, sich den Feind einfach als Wilden vorzustellen, der mordet und den Kopf seines Opfers dann hochhält, damit alle ihn sehen.30 30 Sontag 2003 (wie Anm. 7), S. 83.

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6 Straßenkreuzung in Washington, 14. Dezember 2003.

Denn dort, wo von „gutem Geschmack“ auf dem Feld des Visuellen die Rede sei, schreibt Susan Sontag weiter, werde nicht selten von Angst und Trauer abgelenkt.31 Dem schließe ich mich an: Nicht allein die Identifizierung mit Akteuren macht Bilder zu Waffen. Schauzweifel und die Affizierung auf dem Feld des Sehens entscheiden über deren ästhetische – und auch politische – Handlungsmacht.

31 Susan Sontag verknüpft sehr scharf das Argument des „guten Geschmacks“ mit einer Unfähigkeit zu trauern: „Dieses neue Beharren auf ‚guten Geschmack‘ in einer Kultur, die ansonsten überreich ist an kommerziellen Tendenzen, die auf eine Absenkung der Maßstäbe zielen, mag auf den ersten Blick verwundern. Es wird jedoch verständlich, wenn man sich vor Augen führt, wie auf diese Weise ein ganzes Knäuel nicht benennbarer Besorgnisse und Ängste in Bezug auf die öffentliche Ordnung und die öffentliche Moral im Unklaren belassen wird, und wenn man bedenkt, wie wenig wir imstande sind, auf herkömmliche Weise zu trauern oder neue Formen des Trauerns zu finden.“ Ebd., S. 82.

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Literatur Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main 1985. Georges Bataille, Die Tränen des Eros, München 1981. Horst Bredekamp, „Wir sind befremdete Komplizen“, in: Süddeutsche Zeitung, 28. Mai 2004, S. 17. Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2010. Cornelia Brink, „Fotografien sehen und zeigen. Überlegungen aufgrund von Susan Sontags ‚Das Leiden anderer betrachten‘“, in: Leidenschaft der Vernunft. Die öffentliche Intellektuelle Susan Sontag, hg. von Jan Engelmann, Richard Faber und Christine Holste, Würzburg 2010, S. 107–122. Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt am Main 2005. Judith Butler, „Photography, War, Outrage“, in: PMLA, Publications of the Modern Language Association of America, Bd. 120, Mai 2005, H. 3, S. 822–827. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992. Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main 1996. Linda Hentschel, Schauen und Strafen. Nach 9/11, Bd. 1, Berlin 2020. Linda Hentschel, Schauen und Strafen. Gegen Lynchen, Bd. 2, Berlin 2021. Georges Didi Huberman, Bilder trotz allem, München 2007.

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. Michel de Montaigne, „Von der Grausamkeit“, in: ders., Essais, Frankfurt am Main 2016, S. 142– 164. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006. Jean-Luc Nancy, Am Grund der Bilder, Zürich und Berlin 2006. Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, ­München und Wien 2003. Susan Sontag, Über Fotografie [1977], Frankfurt am Main 2003. Susan Sontag, „Regarding the Torture of Others“, in: New York Times Magazine, 23. Mai 2004. Susan Sontag, „Endloser Krieg, endloser Strom von Fotos“, in: Süddeutsche Zeitung, 24. Mai 2004, S. 13. Klaus Theweleit, „Wir müssen diese Bilder zeigen.“ Interview mit Klaus Theweleit, in: Süddeutsche Zeitung, 13. Mai 2004 a, S. 15. Klaus Theweleit, „Folter und Frühstücksbrötchen“, in: die tageszeitung, 10. Juni 2004 b, S. 6. Herta Wolf, „Die Tränen der Fotografie“, in: Folter. Politik und Technik des Schmerzes, hg. von Karin Harrasser, Thomas Macho und Burkhardt Wolf, München 2007.

Gregor Wedekind

Reale Objekte und ihre Agency Duchamp mit Gell

Die Konjunktur welche für den Begriff der Agency – eine mögliche Übersetzung ins Deutsche lautet „Handlungsmacht“ – in vielen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskursen seit Jahren zu verzeichnen ist, erlebte derjenige, der sie mit angestoßen hat, nicht mehr. Der britische Sozialanthropologe Alfred Gell verfasste sein 1998 posthum erschienenes Buch Art and Agency auf dem Krankenbett in Form eines fragmentarischen Vermächtnisses.1 Er entwickelte darin am Objekt der Kunst bzw. mit Blick auf Kunstobjekte eine Kunsttheorie, die sich als eine anthropologische Theorie der Kunst deklariert. Sein Anliegen war es, der gängigen westlichen Praxis entgegenzutreten, existierende Kunsttheorien auf anthropologische bzw. ethnologische Kunst, d. h. Artefakte nicht-westlicher Kulturen auszudehnen. Doch nicht nur solchen Überstülpungen erteilte er eine Absage. Noch grundsätzlicher wandte er sich auch gegen eine forscherische Erhellung nicht-westlicher ästhetischer Systeme, da diese wiederum auch nur kulturelle, nicht aber soziale Aspekte beleuchten würden. In einem älteren Text von 1992 The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology hat Gell diese grundsätzliche Frontstellung gegen eine analytische Rekonstruktion von Ästhetiken in gegebenen kulturellen Kontexten bereits mit einem Vergleich zur Theologie erläutert: Das Studium der Ästhetik sei für die Domäne der Kunst, was das Studium der Theologie für die Domäne der Religion sei, d. h. Ästhetik sei Zweig eines moralischen Diskurses, der auf der Akzeptanz vorausliegender Glaubensartikel beruhe.2 Gells eigene Forschungen verstehen sich dagegen als Sozialwissenschaft. Wie echte Religionswissenschaft einen gleichsam methodologischen Atheismus zur Grundlage habe, so die anthropologische Sozialwissenschaft einen ästhetischen Atheismus, ein methodologisches Kunstbanausentum („methodological philistinism“).3 Sie solle daher nicht auf einzelne Werke fokussieren, sondern auf den sozialen Kontext der Kunstproduktion, -zirkulation und -rezeption. D. h. als das spezifische, generelle Thema der Anthropologie bezeichnet Gell soziale Beziehungen, Beziehungen zwischen Beteiligten in sozialen Systemen verschiedenster Art. Dementsprechend beschäftigt sich die Kunstanthropologie nicht mit den ästhetischen Prinzipien dieser oder jener Kultur, sondern mit der M ­ obilisierung

1 Alfred Gell, Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford: Clarendon Press, 1998. 2 Alfred Gell, „The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology“, in: Anthropology, Art and Aesthetic, hg. von Jeremy Coote und Anthony Shelton, Oxford: Clarendon Press, 1992, S. 40–63, hier S. 41. 3 Ebd., S. 42.

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ästhetischer Prinzipien im Zuge sozialer Interaktion. Von hier aus kommen dann auch die Kunstwerke ins Spiel. In mancherlei Kontexten werden nämlich Personen oder soziale Akteure durch Kunstobjekte substituiert. Diese vermitteln damit soziale Agency. Im anthropologischen Verständnis agieren art objects wie Personen, sie sind soziale Agenten, Handlungsträger sozialer Prozesse. Wenn es also das Ziel der anthropologischen Theorie ist, das Verhalten von Personen in sozialen Kontexten zu verstehen, so ist es das Ziel einer anthropologischen Theorie der Kunst, die Produktion und Zirkulation von Kunstwerken als eine Funktion dieses relationalen sozialen Kontextes zu erläutern. Dies bedeutet auch, dass die erkenntnistheoretische Panik, die manche befällt, wenn sie von handelnden Objekten oder ihrer Handlungsmacht hören, wo doch Handlung als intentional gerichtete Aktivität nur Subjekten zukommen kann, von Gell nicht herausgefordert wird. Kunstobjekte sind ihm zufolge keine selbstgenügsamen bzw. unabhängigen Agenten, sondern sekundäre Agenten in Verbindung mit einigen speziellen menschlichen Partnern. Mit seiner Fokussierung auf Sozialbeziehungen etabliert Gells Agency-Begriff eine Perspektive auf ästhetische Objekte, die nicht länger den normativen Ansprüchen einer spezifischen Ästhetik verpflichtet ist, sondern diese von gesellschaftlichen Praktiken her verstehen will. Gleichwohl ist in unserem Zusammenhang zu fragen, ob sich diese Beziehungen nicht erst dann adäquat erfassen lassen, wenn man konzediert, dass die den Objekten eigene Kraft an ein materielles Substrat gebunden ist und damit den Objekten selbst ein strukturierendes Vermögen auf die Ausgestaltung sozialer Praxis zugestanden werden muss. Eine Pointe von Gells Theoriebildung ist es, Handlungen wie sie mit Götzendienst, Fetischismus oder Hexerei verbunden sind, mit denen der westlichen Kunst zusammenzuziehen, um die Gemeinsamkeiten zu illustrieren, wie ästhetische Objekte soziale Beziehungen vermitteln und ins Werk setzen. Sein Beispiel für westliche Kunst ist die Marcel Duchamps. Dieser Konnex von Handlungsmacht und westlicher Avantgardekunst ist schon allein deshalb bemerkenswert, da Duchamps Kunstschaffen in besonderem Maße für die Auflösung des klassischen Werkbegriffs steht. Gells anthropologische Kunsttheorie ist in der Kunstgeschichte nur vereinzelt, seine Auseinandersetzung mit Duchamp in der spezialisierten Duchampforschung so weit ich sehe gar nicht rezipiert worden. Es ist interessant, auszuloten, inwieweit die Überlegungen Gells zu Duchamp etwas für die Reflexion der Begriffe von Handlungsmacht und ästhetischem Objekt beitragen und auch die Forschung zu Duchamp bereichern können. Dass Gell nicht in Unkenntnis dieser Forschung geschrieben hat, geht aus seinem Text hervor, in dem er sich ausdrücklich auf eine Publikation Craig Adcocks zum Großen Glas bezieht.4 Und noch ein weiterer Duchamptitel findet darin Erwähnung, nämlich John 4 Siehe Gell 1998 (wie Anm. 1), S. 243. Dort wird als Erscheinungsjahr von Adcocks Publikation 1984 angegeben, im Literaturverzeichnis wird sie dann mit dem Titel „The Large Glass“ und dem Erscheinungsjahr 1983 aufgeführt. Tatsächlich handelt es sich dabei wohl um Adcocks Doktorarbeit an der Cornell Univer-

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1 Marcel Duchamp, La Mariée mise à nu par ses célibataires, même, 1915–1923, Ölfarbe, Lack, Bleifolie, Bleidraht, Mennige, Spiegelfolie und Staub auf Glas, 277,5 × 175,8 cm, Philaldelphia, Museum of Art.

Goldings 1973 erschienenes Buch Marcel Duchamp. The Bride Stripped Bare by her Bachelors, Even.5 D. h. Gell kannte einschlägige Literatur zu Duchamps Hauptwerk, dem großformatigen Gemälde auf Glas La Mariée mise à nu par ses célibataires, même (Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar), umgangssprachlich das Große Glas geheißen, eine „moderne Allegorie der Liebe, dargestellt in einer mecanomorphen Zeichensprache“, an dem Duchamp zwischen 1912 und 1923 arbeitete, um es dann als „definitiv unvollendet“ für fertig zu erklären und zurückzulassen (Abb. 1). 1926 erstmals im Brooklyn Museum in New York ausgestellt, zerbrach es beim Rücktransport zu seiner damaligen Besitzerin sity von 1981, die dann zwei Jahre später publiziert wurde: Craig E. Adcock, Marcel Duchamp’s Notes from the Large Glass. An N-Dimensional Analysis, Ann Arbor: UMI Research Press, 1983 (Studies in the Fine Arts. The Avant-garde, 40). 5 Gell 1998 (wie Anm. 1), S. 250: John Golding, Marcel Duchamp: The Bride Stripped Bare by her Bachelors, Even, London: Allan Lane, bzw. New York: Viking Press, 1973 (Art in Context).

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Katherine S. Dreier. Duchamp reparierte es 1936 sorgfältig, wobei er die Zersplitterungen des Transportschadens beibehielt bzw. integrierte. Nach dem Tod Dreiers 1952 sorgte Duchamp als ihr Nachlassverwalter dafür, dass es in die Sammlung des Philadelphia Museum of Art gelangte. Was also hat Gell der Duchampforschung zu bieten bzw. was lässt sich aus seiner Annäherung an Duchamps Werk über die Handlungsmacht ästhetischer Objekte lernen? Gells Duchamp-Besprechung im neunten, zusammenfassenden Kapitel seines Buches – „Conclusion: The Extended Mind“ – werden durch generelle Überlegungen zum Œuvre eines Künstlers eingeleitet, die es zunächst nachzuvollziehen gilt. Das Gesamtwerk eines Künstlers interessiert Gell als Form eines „distributed object“.6 Jeder bekannte Künstler ist durch eine Anzahl von Werken repräsentiert, die über verschiedene Sammlungen verstreut sind und die zum Zwecke einer Retrospektive oder in Form der Publikation eines catalogue raisonné auch wieder zusammengestellt werden können. Die Agency eines Künstlers artikuliert sich über seine Kunstwerke. Dieser Formel zufolge sind der Künstler und sein Menschsein der primäre Agent, während sein Werk sekundärer Agent ist. Bei der über Objekte verteilten Persönlichkeit sind es ebendiese, welche die Agency eines Künstlers artikulieren, bzw. tatsächlich für diesen einstehen. Durch die Streuung des Œuvres ist der Künstler an vielen Orten gleichzeitig präsent. Die Streuung ist dabei nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche, die sich aus der Chronologie der Werkentstehung ergibt. Ein fertiges Gesamtwerk ergibt nach Gell demnach einen unabhängigen Raum-Zeit-Klumpen, zu dem individuell jedes einzelne Werk einen Zugang darstellt, stellt doch jedes einzelne Werk – und dazu zählen durchaus auch oder gerade die unfertigen bzw. vorbereitende Skizzen und Studien – indexikalisch für alle Werke und den historisch-biographischen Kontext ihrer Produktion ein.7 Einschieben lässt sich hier, dass für Duchamps Schaffen gerade vorbereitende Studien in hohem Maße charakteristisch sind. Oftmals bestehen diese beispielsweise nur aus einzelnen Notizen oder winzigen oder auch sehr großen Skizzen, die teilweise wie technische Zeichnungen aussehen. Auch die Unterscheidung zwischen vorbereitenden und fertigen Werken wird bei ihm aufgelöst. So hat er beispielsweise durchaus als Vorbereitung auf das Große Glas das Bild einer Schokoladenmühle gemalt, dem zwei Studien folgten und ein weiteres Gemälde, das dann die direkte Vorlage für die in das Große Glas integrierte Schokoladenmühle wurde. Die beiden Schokoladenmühlen Nr. 1 und Nr. 2 stellte er als 6 Gell 1998 (wie Anm. 1), S. 232. Gell schließt sich in seiner Terminologie an verschiedene Ansätze der Kognitionswissenschaften an, worauf mich Annika Schlitte aufmerksam gemacht hat. So entwickelt Edwin Hutchins in seinem Buch Cognition in the Wild, Cambridge/MA: MIT Press, 1995 den Ansatz einer „distributed cognition“. „Extended mind“ wiederum bezeichnet einen Ansatz, der von Andy Clark und David Chalmers, „The extended mind“, in: Analysis, Bd. 58, 1998, H. 1, S. 7–19 formuliert wurde. Beide Ansätze möchten das hergebrachte Computermodell des Geistes und das Netzwerkmodell zugunsten einer Vorstellung überwinden, welche die Verbindung zwischen Kontext, Körper und Kognition stärker betont (vgl. auch die Ansätze einer „embedded“, „embodied“, „situated cognition“). 7 Gell 1998 (wie Anm. 1), S. 232.

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fertige Werke aus, so schon 1915 lange vor Fertigstellung seines Großen Glases in einer New Yorker Galerie, aber auch 1963, in der Retrospektive seines Werkes im Pasadena Art Museum, an deren Gestaltung er maßgeblich mitwirkte.8 Arbeiten eines Künstlers besitzen demnach temporale Beziehungen zueinander, die zudem in zwei Richtungen weisen (nach vorne und zurück). Dabei unterscheidet Gell zwischen zwei schwachen und zwei starken Verhältnissen: In die Zukunft blickend („prospective orientation“), besteht zwischen einer Vorskizze und einem fertigen Werk eine starke Beziehung, während zwischen einem (fertigen) Vorläufer-Werk und weiteren, nachfolgenden Werken dergleichen Serie (eine Serie, die nicht als solche von vorneherein geplant war), eine schwache Beziehung besteht. In die Vergangenheit blickend („retrospective orientation“), besteht die starke Beziehung zwischen einem Original und seiner später folgenden Kopie, während die schwache Beziehung zwischen dem Original und nachfolgenden Werken besteht, die Elemente dieses Originals aufgreifen, modifizieren oder weiterentwickeln. Gell veranschaulicht mit einer Grafik (Abb. 2), die sich an Husserls Zeitdiagramm orientiert,9 dass das Œuvre eines Künstlers (auf der Makro-Ebene) als großes, unteilbares Werk verstanden werden kann, welches aus vielen physischen Indices (Arbeiten) besteht, dabei jedoch zu einer einzigen temporalen Entität kommt. Das Œuvre eines Künstlers ist ein Objekt, das aus Zeit gemacht ist – im Sinne der durée Henri Bergsons.10 Die Beziehungen von Werk zu Werk (von Index zu Index) externalisieren (oder objektivieren) Gell zufolge dabei dieselbe Art von Beziehung wie die zwischen den mentalen Zuständen im kognitiven Prozess, den wir Bewusstsein nennen. Das künstlerische Gesamtwerk eines Künstlers ist künstlerisches Bewusstsein (Persönlichkeit im kognitiven, temporalen Sinn), in seiner Gesamtheit festgehalten, öffentlich gemacht und damit zugänglich. Bei den prospektiven und retrospektiven Verhältnissen greift Gell auf Begrifflichkeiten Husserls zurück: Er nennt in die Zukunft gerichtete Verhältnisse Protentionen („protentions,“), in die Vergangenheit gerichtete Retentionen („retentions“). In Bezug auf Ereignisse in der Zeitstruktur ist hierbei wichtig, dass diesen nie als solches die Eigenschaft zukommt, vergangen, gegenwärtig oder zukünftig zu sein. Nicht sie verändern sich, was sich verändert ist vielmehr unsere Beziehung zu ihnen, da wir temporal gesehen stets aus einer neuen, anderen Perspektive auf jedes kommende oder vergangene Ereignis blicken. Ob Protention oder Retention ist also eine Frage des Standpunktes. Jedes gegenwärtige Jetzt ist dem Gesetz der Modifikation unterworfen. Er verändert sich zu einer 8 Zur Schokoladenmühle vgl. Gregor Wedekind, „Studie zu einer ’Schokoladenmühle’“, in: Marcel Duchamp. 100 Fragen. 100 Antworten, hg. von Susanne M. I. Kaufmann, Kat. Ausst. Stuttgart, Staatsgalerie, München, London und New York: Prestel, 2018, S. 82–93. 9 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917), hg. von Rudolf Boehm, Dordrecht: Kluwer, 1966 (Gesammelte Werke, Bd. 10), S. 331. 10 Vgl. Gell 1998 (wie Anm. 1), S. 242 wo er die Bedeutung Bergsons für Husserls Modell des Zeit-Bewußtseins anführt.

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2 Alfred Gell, Fig. 9.4/1, The artist’s œuvre as a distributed object, in: Alfred Gell, Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford: Clarendon Press, 1998, S. 235.

Reten­tion einer Retention und dies kontinuierlich. Und Protentionen sind Fortsetzungen eines Gegenwärtigen im Licht eines zeitlichen Ganzen, dem das Gegenwärtige zuzugehören scheint. Gell schlägt nun vor, dieses Husserlsche Bewusstseinsmodell analog zu künstlerischen Arbeiten zu setzen. Letztere sind zwar eher physische Objekte denn Begebenheiten, doch sind sie gleichwohl auch Indices von Geschehnissen, jenen nämlich, die die Bedingung dafür waren, dass sie physikalisch zur Welt kamen. Das bedeutet, dass wir das Gesamtwerk eines Künstlers nicht als temporales Objekt sehen können, außer unter der Bedingung, dass wir ein einzelnes Objekt (als korrespondierend zum Jetzt) auswählen und so einen Blickpunkt gewinnen, von dem aus alle anderen Werke des Œuvres sich als Vergangenheit oder Zukunft zeigen. Es gibt keinen absoluten Sinn, in dessen Licht jedes gegebene Werk gesehen werden könnte, es sei denn als eine Rekapitulation eines vorangegangenen Werks oder Wegbereiter eines kommenden. Das Ensemble der Werke eines Künstlers, in der Zeit gedehnt, konstituiert ein dynamisches, instabiles Gebilde, nicht aber eine bloße Aneinanderreihung datierbarer Artefakte. Gell räumt ein, dass dieses Modell vielleicht nicht für alle Künstler bzw. deren Gesamtschaffen gleichermaßen

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zutrifft. Am besten lasse es sich auf Künstler anwenden, deren Œuvre ein hohes Maß an bewusster Selbstreferenz und Entwicklungskohärenz aufweise.11 Mit diesen Ideen im Rücken gelangt Gell zu Duchamp. Er nimmt ihn als besonders einleuchtendes Beispiel für einen Künstler wahr, dessen Œuvre sich gewinnbringend als ein Netzwerk von Retentionen und Protentionen lesen lässt, die sich fächerförmig von einzelnen Werken ausbreiten. Gell referiert die Verbindung von Duchamps Arbeiten mit der Idee der vierten Dimension, wie dieser sie in den Schriften des großen französischen Mathematikers Henri Poincaré kennengelernt hatte, und die von Gell im Einklang mit den Erkenntnissen der Duchampforschung als essentiell für das Verständnis von Duchamps Kunst angesehen wird. Dabei war die vierte Dimension für Duchamp ein höchst reales Raumkontinuum, das hinter der gewöhnlichen Welt liegt, in der wir leben bzw. diese vollständig umfasst, sich dabei aber jeder Darstellbarkeit entzieht. Die Mehr-Dimensionalität von Objekten erklärt Gell mit Duchamp kurz anhand ihrer Schatten: Ein zwei-dimensionales Objekt wirft einen ein-dimensionalen Schatten, ein drei-dimensionales einen zwei-dimensionalen. So müsste ein vier-dimensionales Objekt einen drei-dimensionalen Schatten werfen.12 Es ist ein Objekt, das sich denken lässt, aufgrund unserer menschlichen Limitierung auf drei Dimensionen jedoch nicht darstellen lässt. Duchamps Kunst, so Gell, besteht aus einer Reihe von humorvollen Versuchen, Schatten von vier-dimensionalen Entitäten zu produzieren oder zumindest Verfahren vorzuschlagen, wie man diese Schatten von vierdimensionalen Objekten erhalten kann, indem man sie von dreidimensionalen gleichsam hochrechnet. Das Werk Nu descendant un escalier (Akt eine Treppe herabsteigend) von 1912 liest Gell als eine satirische Absage an den angestrebten Realismus der Kubisten – Duchamps damalige Peer-Group – welcher durch seine parallel-multiplen Perspektiven auf seine Motive an eine Repräsentation des Absoluten der Dinge heranreichen wollte, was aber, wie Duchamps Gemälde nun zeigt, nur zerhackte Teilbilder, die aneinandergeklebt sind oder sich über die Leinwand verteilen, ergibt (Abb. 3). So sei Duchamp von der für die Darstellung der vierten Dimension unzureichenden Malerei zum Großen Glas gelangt, an dem er gut zehn Jahre arbeitete und in dem sich eine Vielzahl seiner einzelnen Arbeiten nochmals in einem neuen Werk vereinen. Dieser Aspekt ist besonders wichtig für Gell: Sei es doch buchstäblich so, dass Duchamps Œuvre aus einem einzigen verteilten Objekt bestehe, für das jedes von Duchamps separaten Werken eine Vorbereitung oder eine Weiterentwicklung anderer seiner Werke sei und alle lassen sich auf direkten oder indirekten Pfaden zu allen anderen zurückverfolgen. 11 Gell 1998 (wie Anm. 1), S. 242. 12 Seine dementsprechenden, zwischen 1911 und 1915 angestellten Überlegungen hat Duchamp auf einem kleinen Zettel festgehalten, der sich in der sog. Weißen Schachtel von 1934 findet. Siehe Marcel Duchamp. Duchamp du signe suivi de Notes. Écrits, hg. von Michel Sanouillet und Paul Matisse, Paris: Flammarion, 2008, S. 127 bzw. Marcel Duchamp, Die Schriften. Zu Lebzeiten veröffentlichte Texte, hg. von Serge Stauffer, korrigierter und ergänzter Reprint von 1982, Zürich: Regenbogenverlag, 2018, S. 151.

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3 Marcel Duchamp, Nu descendant un escalier, 1912, Öl auf Leinwand, 146 × 89 cm, Philadelphia, Museum of Art, The Louise and Walter Arensberg Collection.

Um seine Idee von Duchamps Œuvre als einem temporalen Objekt weiter zu erklären, zieht Gell als Beispiel eine Arbeit heran, die ebenfalls im Großen Glas aufgegangen ist: Die Réseaux de stoppages (Kunststopf-Faden-Netze) von 1914 (Abb. 4), welches gleichsam eine Vorstudie für einen Teil des Großen Glases darstellt – nämlich die sogenannten Kapillarröhren, welche das Liebesbenzin vom Friedhof der Uniformen und Livreen mit den neun männischen Gussformen zu den konischen Sieben transportieren sollen – sowie zugleich individuell ein fertiges Werk. Die Transformation von zweidimensionaler Darstellung (auf einer Leinwand) in der Art einer Karte hin zu der dreidimensionalen, perspektivischen Projektion innerhalb des Großen Glases (also von 2-D zu 3-D) ist in der Duchamp’schen Logik ein Verweis auf die Transition von der drei-dimensionalen zur vier-dimensionalen Welt, nach der er sucht. In Gells (Husserlschen) Terminologie sind die Réseaux de stoppages also eine Protention zu einem Teil des Großen Glases und eine Retention von vorangegangenen Arbeiten wie den 3 Stoppages étalon (3 Kunststopf-Normal­ maße) von 1913/14. Zusätzlich ist auf den Malgrund der Réseaux de stoppages zu verweisen: Duchamp hat keine neue, sondern eine bereits benutzte Leinwand verwendet und

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4 Marcel Duchamp, Réseaux de stoppages, 1914, Öl auf Leinwand, 147,7 × 197 cm, New York, The Museum of Modern Art.

erzeugte so ein Palimpsest. Unter dem Netzwerk liegt zunächst eine undeutliche Skizze des Layouts vom Großen Glas, darunter wiederum eine Version von Duchamps Gemälde Jeune homme et jeune fille dans le printemps (Junger Mann und junges Mädchen im Frühling) von 1911 (Abb. 5).13 Mit dieser Werkstruktur verdoppelt sich das Prinzip des namensgebenden Netzwerks der Arbeit. Gell zufolge zeigt sie zunächst das Netzwerk der Kunststopffäden, ist aber zugleich selbst ein Netzwerk aus Stoppages im wörtlichen Sinne: aus Anhaltungen („stops“, bzw. „perchings“ – Setzungen). In der übereinander geschichteten Struktur der Arbeit wird Duchamps künstlerisch-kognitiver Prozess in Form eines Index’ seiner Agency sichtbar. Die Réseaux des stoppages sehen aus wie eine Karte (ähnlich des Linien-Netzes 13 Vgl. Gell 1998 (wie Anm. 1), S. 246 f. Zu den 3 Stoppages étalon siehe Herbert Molderings, Kunst als Experiment: Marcel Duchamps ‚3 Kunststopf-Normalmaße‘, München und Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2006 (Passerelles, 8) sowie Herbert Molderings, „Ästhetik des Möglichen II. Marcel Duchamps 3 Kunststopf Normalmaße von 1913–14“, in: Ders., Über Marcel Duchamp und die Ästhetik des Möglichen, Köln: Walther König, 2019, S. 57–79.

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5 Marcel Duchamp, Jeune homme et jeune fille dans le printemps, 1911, Öl auf Leinwand, 66 × 51 cm, Jerusalem, The Israel Museum, Collection Arturo Schwarz.

einer Eisenbahn), weil sie Teil einer Karte von Zeit sind (die Palimpsest-Struktur des Werkes), die aber nur eine vier-dimensionale Karte sein kann. Gell sieht damit eine Analogie zwischen den transparenten Schichtungen der Réseaux des stoppages und Bergsons Konzept der durée, das sich aus Retentionen, Retentionen von Retentionen konstituiert. Die Réseaux des stoppages sind eine Protention zum Großen Glas, welches wiederum zunächst eine Retention zu der abstrakten Skizze im Netzwerk ist, dann jedoch auch eine Retention von dieser Retention bis hin zum Gemälde von 1911 – Gell verweist in diesem Zusammenhang auf die bereits von Golding vorgetragene Lesart des Großen Glases als transformierte Version bzw. ferne Erinnerung an Jeune homme et jeune fille dans le printemps. Duchamp erlaube uns so, seine dahinsinkende Vergangenheit als eine umwandelbare Komponente der Gegenwart zu sehen, zurückbehalten als etwas Ersetztes, durch den Vollzug des eigenen Lebens bereits Abgelöstes.14

14 Gell 1998 (wie Anm. 1), S. 250.

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6 Marcel Duchamp, Tu m’, 1918, Öl auf Leinwand, 69,8 × 313 cm, New Haven, Yale University Art Gallery, Stiftung Katherine S. Dreier.

Gell versteht das einzelne Werk eines Künstlers als Moment (oder Platz), an dem Agency stoppt und Gestalt annimmt. Duchamp selbst hat in einer seiner Notizen das Große Glas auch als „Verzögerung in Glas“ bezeichnet („retard en verre“),15 was diese Idee des Anhaltens verstärkt: Das Glas, ähnlich wie eine photographische Platte, hält die Schatten der vierten Dimension auf und fängt ihre sichtbaren Spuren auf. Dieses Prinzip sieht Gell in der späteren, 1918 entstandenen Arbeit Tu m’ noch einmal expliziter formuliert, wenn Duchamp die trompe l’œil-Schatten seiner Readymades wie die Roue de bicyclette (Fahrrad-Rad) oder der Porte-chapeaux (Huthaken) ins Gemälde hineinnimmt (Abb. 6).16 Tatsächlich realisiert Tu m’ wie Herbert Molderings gezeigt hat, ein im Zuge der Ausarbeitung des Großen Glases gemachtes Projekt eines Bildes aus Schlagschatten, das auch in das Große Glas eingehen sollte und das Duchamp nicht ausführte, auf das er aber nun, als er von Katherine Dreier den Auftrag erhielt, ein Bild für ihr Bibliothekszimmer zu malen, zurückgriff. Auch hier ist der Schlagschatten von Duchamp als eine dimensionstheore­ tische Metapher verstanden.17 Gell kommt zu dem Schluss, dass uns jedes Werk Duchamps einlade, eine bestimmte Perspektive auf alle Werke Duchamps einzunehmen, oftmals gestützt durch explizite Zitate oder Referenzen auf vergangene und zukünftige Werke, genauso wie durch die Andeutung von Retentionen und Protentionen in einer mehr elliptischen Weise. Die Summe dieses unendlich transformierbaren Netzwerks interner Referenzen, das all diese zeitlichen Haltestangen zum Œuvre vereinigt – welches wir tatsächlich nur hintereinander rezipieren können, sei die nicht darstellbare, aber konzeptualisierbare und mitnichten mystische vierte Dimension.18 15 So die Notiz in der weißen Schachtel von 1934. Siehe Sanouillet/Matisse 2008 (wie Anm. 12), S. 63 bzw. ­Stauffer 1982/2018 (wie Anm. 12), S. 36. Vgl. dazu auch Duchamps diesbezügliche Erklärung im Gespräch mit Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln: Galerie Der Spiegel, 1972 (Spiegelschrift, 10), S. 53. 16 Gell 1998 (wie Anm. 1), S. 250. 17 Herbert Molderings, „Die Linearperspektive und das ‚Ungefähre des ‚stets Möglichen‘‘. Zu Duchamps letztem Gemälde Tu m’“, in: Ders., Über Marcel Duchamp und die Ästhetik des Möglichen, Köln: Walther König, 2019, S. 115–187. 18 Gell 1998 (wie Anm. 1), S. 250.

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Duchamps Subjektivität, seine innere durée, ist Gell zufolge konkret realisiert bzw. instanziiert als eine Reihe von Momenten oder Verzögerungen oder Anhaltungen in den objektiven Spuren seiner Agency, d. h. in seinen Kunstwerken und in den Texten, die er begleitend zu ihnen formulierte. In einer öffentlichen, zugänglichen Form habe man hier das Kontinuum der Abfolge von protentionalen und retentionalen Modifikationen vor Augen, die den rein subjektiven Prozess von Kognition oder Bewusstsein erläutern. Als ein verteiltes Objekt ist uns Duchamps Bewusstsein, der permanente Wandel seines Seins als ein Agent, nicht nur zugänglich gemacht, sondern hat ebendiese Form (des Werks) angenommen. Duchamp habe sich einfach in dieses Objekt – das Œuvre als verteiltes Objekt – verwandelt und rattere damit nun um die Welt, in unzähligen Formen, als abgelöste Persönlichkeitsteile oder Idole oder Verkleidungen oder in Ehren gehaltene Wertgegenstände.19 Das, was Gell also anbietet, ist eine Theorie darüber, was ein Gesamtwerk ist. Eine, die nicht nur für Duchamp Geltung beanspruchen kann, sondern auch für die Analyse des Œuvres anderer Künstler von Belang sein mag. Interessant scheint mir an dieser Theorie zu sein, dass beispielsweise der persönliche Bezug der Werke zum Autor nicht verneint oder ausgeblendet wird, sie aber in keiner Weise irgendeiner Form von Biographismus Vorschub leistet. Aus der Biographie werden keine Erklärungen der Werke abgeleitet, sondern die Biographie wird als Material sichtbar, das dem Künstler als Rohstoff seiner Künstlerwerdung dient, im Zuge dessen er materiale Objekte zu Substituten der intellektuellen Persona des Künstlers werden lässt, die dann Werke geheißen werden. Heranzuziehen ist in diesem Zusammenhang die berühmte Aufnahme der National Broadcasting Company, die 1956 unter dem Titel A Conversation with Marcel Duchamp and James Johnson Sweeney mehrfach im amerikanischen Fernsehen gesendet wurde. In ihr sieht man den Künstler zusammen mit dem damaligen Direktor des Solomon R. Guggenheim Museums New York in den Räumen des Philadelphia Museums of Art. Nach einem kurzen Austausch vor dem Großen Glas wenden die beiden sich den an den Wänden hängenden Arbeiten Duchamps zu. Bevor sie sich schließlich auf zwei einander gegenüberstehenden Stühlen zum weiteren Gespräch niederlassen, stellt Sweeney Duchamp die ganz generelle Frage, ob es nicht eine große Genugtuung für ihn sei, so viele Versionen und so eine große Anzahl seiner Werke in einer Sammlung zu haben, wie sie sich hier im Philadelphia Museum befinde.

19 Ebd.

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It must be a great satisfaction to you to have so many versions and so much of your work in one collection such as you find here in the Philadelphia Museum? Oh, wonderful it is! You know, it is just I always felt that showing one painting in one place and another place it’s just like amputating one finger each time or a leg. Here I feel at home, my house, and I never had such, really, a feeling of a complete satisfaction.20 Die Sammlung, um die es hier geht, ist die von Louise und Walter Arensberg, dem mit Duchamp befreundeten Sammlerehepaar, welches zwischen 1915 und 1952 über vierzig Hauptwerke Duchamps zusammengetragen hatte. Mit einem 1950 geschlossenen Vertrag zwischen den Arensbergs und dem Museum, ging diese nach deren beider Tod 1954 in das Eigentum des Philadelphia Museum of Art über. Duchamp selbst hatte früh den strategischen Plan gefasst, als Künstler nicht vom Verkauf seiner Werke leben zu wollen und sich nicht vom Kunstmarkt abhängig zu machen, vielmehr wesentliche Teile seines Werks in ein oder zwei Sammlungen zu konzentrieren und seine Sammler als seine Mäzene einzusetzen. Im Falle von Katherine S. Dreier, die zunächst vergeblich versucht hatte, ihr Landhaus in ein umfangreiches Museum für moderne Kunst umzuwandeln und die dann bis zu ihrem Tod 1952 versuchte, ihre Sammlung zusammen mit der der Société Anonyme und der der Yale University zu einem neuen Museum zu vereinen, war dieser Plan am Ende gescheitert.21 Im Falle von Walter und Louise Arensberg ging Duchamps Kalkül jedoch hundertprozentig auf. Bereits zu Lebzeiten, also zu Zeiten, wo er selbst noch (mit) bestimmender Akteur sein konnte, waren damit signifikante Teile seines Œuvres in die Obhut einer öffentlichen Sammlung gelangt, die eines sehr bedeutenden amerikanischen Kunstmuseums zumal. Mit den Werken hatte auch der Künstler selbst eine Obhut gefunden, apostrophierte er das Museum in Philadelphia, einer Stadt, mit der weder die Arensbergs noch Duchamp jemals zuvor irgendeine nähere Verbindung hatten, nun als sein Zuhause, sein Heim, welches ihm das Gefühl tiefster Zufriedenheit verschaffte. In den mehr als zehn Jahren, die ihm noch blieben, verhielt er sich dort dann in gewisser Weise wie ein Hausherr. So konzipierte er sein letztes Werk, Étant donnés: 1° La chute d’eau, 2° Le gaz d’éclairage, an dem er zwischen 1946 und 1966 im Verborgenen gearbeitet hatte, im Hinblick auf einen kleinen Nebenraum des Museums im 2. Stock, der für die Instal20 https://www.youtube.com/watch?v=Wuf_GHmjxLM [12. Mai 2021]. Meine Transkription. Die zitierte Passage fehlt in der Transkription des Fernsehgesprächs wie sie unter dem Titel „Entretien Marcel Duchamp – James Johnson Sweeney“ in: Sanouillet/Matisse 2008 (wie Anm. 15), S. 170–178 abgedruckt ist. Dagegen ist sie in der deutschen Übersetzung des Fernsehinterviews enthalten: Marcel Duchamp. Interviews und Statements, hg. von Serge Stauffer, Stuttgart: Cantz, 1992, S. 53–61, hier S. 54. 21 Siehe dazu die „Introduction“, in: The Société Anonyme and the Dreier Bequest at Yale University. A Catalogue Raisonné, hg. von Robert L. Herbert, Eleanor S. Apter und Elise K. Kenney, New Haven und London: Yale University Press, 1984, S. 1–33.

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lation der Arbeit, die seinem Willen gemäß nach seinem Tod 1968 auf der Basis eines von ihm erstellten, umfangreichen „Manual of Instructions“ erfolgte, umgebaut werden musste und in dem sie seit 1969 dauerhaft gezeigt wird.22 Und auch der definitive Standort des Großen Glases wurde durch Umbaumaßnahmen präzise nach seinen Wünschen eingerichtet, wurde doch dafür extra eine Außenwand des Museums geöffnet und eine gläserne Tür eingesetzt: einerseits um das Fensterbild des Großen Glases seinerseits vor einem Fenster platzieren zu können und um andererseits mit der Platzierung dieser Fenstertür eine Verbindung zu der im Innenhof des Museums aufgestellten Skulptur Yara der Bildhauerin Maria Martins in Form einer Blickachse herzustellen.23 Mit Martins unterhielt Duchamp in den vierziger Jahren eine intensive Liebesbeziehung, die sie als Frau des brasilianischen Botschafters in Washington und Mutter von drei Kindern nach ihrer Rückkehr nach Rio de Janeiro aber nicht dauerhaft aufrechterhalten wollte. Duchamp blieb ihr gleichwohl zeitlebens verbunden, die Puppenfigur von Étant donné formte er nach ihrem Körper ab.24 Das Heim, das Duchamp so für seine Werke einrichtete, war damit eines, dessen Existenz nicht mehr von seiner Lebenszeit abhing, sondern der idealen Unendlichkeit der kulturellen Zeit der Institution Museum anheimgegeben war. Das Werk wird unabhängig von seinem Schöpfer. Im Gespräch mit Swenney nimmt Duchamp jedoch eine Überblendung zwischen beiden vor, insofern er schon das Ausstellen einzelner seiner Werke an verschiedenen Orten mit einer Amputation einzelner Gliedmaßen von einem intakten, ganzen Körper, dem des Künstlers, vergleicht. Offenbar sind Werke so etwas wie organische Auswüchse des Künstlers und offenbar ist der Körper des Künstlers der Körper des Œuvres, bzw. sind Künstler und Œuvre eins. Die Konzentration vieler und besonders wichtiger Werke seines Schaffens an einem Ort, die ihm das „feeling of complete satisfaction“ verschaffte, sind damit, wiewohl nicht ganz vollständig, gleichwohl der Körper des Künstlers – als seine Entäußerung sind sie seine Stellvertretung. Duchamps Äußerungen legen nahe, dass er einen vergleichbaren Begriff von der Agency seiner Werke hatte wie ihn Gell für ihn entwirft. Gell kann insofern dabei helfen, die Aussagen Duchamps über seine Werke als Körper des Künstlers ins rechte Licht zu rücken. Denn diese Metapher geht in keiner Weise auf einen Essentialismus hinaus, sind doch auch Gedanken Teil des Werks und ist hier nicht ein holistisch abgeschlossenes organisches System gemeint, sondern eine unabgeschlossene, ständige Überschreibung: Eine eigene Sinneinheit, die die Bindung an den Künstler nicht kappt, jedoch nicht ein22 Zu Étant donnés vgl. zuletzt den grundlegenden Beitrag von Herbert Molderings, „Gegeben sei: 1. der Wasserfall 2. das Leuchtgas. Marcel Duchamp und die ’Nackte Wahrheit’“, in: Ders., Die nackte Wahrheit. Zum Spätwerk von Marcel Duchamp, München: Hanser, 2012, S. 26–129. 23 Zur Aufstellung der Yara und dem inzwischen erfolgten Abbau wegen Vandalismusschäden siehe M ­ ichael R. Taylor, „‚Don’t Forget I Come From the Tropics‘. Reconsidering the Surrealist Sculpture of Maria ­Martins“, in: Journal of Surrealism and the Americas, Bd. 8, 2014, Nr. 1, S. 74–89. 24 Vgl. Francis M. Naumann, „Marcel and Maria“, in: Art in America, Bd. 89, 2001, Nr. 4, S. 99–110, 157.

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fach in dessen Intentionalität aufgeht, sondern in seiner Unverfügbarkeit offen ist. Die einzelnen von Duchamp produzierten Kunstobjekte lassen sich deswegen nicht vereinnahmen, nicht weil sie einen abgeschlossenen eigenen Körper darstellen, sondern weil sie gleichsam körperhaft Duchamp gehören. Aus Sicht der Duchampforschung lässt sich Gells Ausführungen nicht widersprechen. Vielmehr lassen sich viele weitere Einzelheiten von Duchamps künstlerisch-imagina­ tivem, para-wissenschaftlichem, pataphysischem Projekt beibringen, die sie eindrucksvoll bestätigen bzw. die durch Gells Perspektive zusätzliche Erhellung erfahren. So erscheint es vor dem Hintergrund seiner Ausführungen als besonders signifikant, dass Duchamp selbst eine Art Werkkatalog angefertigt hat, bei dem die wechselseitigen Abhängigkeiten der einzelnen Werke und den zahllosen Notizen und Zeichnungsfetzen sichtbar wird. Ein Werkkatalog, der sich aus der Aufbereitung seiner schriftlichen und zeichnerischen Notizen entwickelte, die er in Schachteln zusammenstellte. Ausgangspunkt war auch hier wiederum das Große Glas. Schon 1914, also noch vor dessen Fertigstellung, plante er zunächst die Notizen zum Großen Glas dem Betrachter in Form einer Art Katalog zugänglich zu machen, den er vorhatte direkt an dem Werk anzubringen.25 Im Sinne eines zu konsultierenden Führers, der die einzelnen Elemente der Arbeit Schritt für Schritt nachvollziehbar machen sollten. Er dachte dabei an ein rundes Buch, so dass es von jeder Seite aus nach dem Zufallsprinzip geöffnet werden könne. Dann aber entschloss er sich, die ephemere und spontane Qualität seiner Notizen zu bewahren, indem er Fotografien von sechzehn Notizen, die in den zwei Jahren davor entstanden waren, anfertigte und sie in fünf separaten Sets druckte, die er dann in fünf Pappschachteln, die ursprünglich Glasnegative beinhaltet hatten, zusammenstellte: die Box von 1914.26 Zwanzig Jahre später, in einem Brief vom 20. Februar 1934 an die Arensbergs, berichtet er von einem neuen Plan – einer Faksimileedition seiner Notizen für das Große Glas: I would like to compile all my notes written in 1912, 13, 14 and 15 on the subject and have them reproduced in facsimilie (using callotypes which really give a very good idea of the originals, particularly for handwritten notes).27 Diesmal war Duchamp zum einen auf die Vollständigkeit aller Notizen aus, zum andern sollten nun auch „the main paintings and drawings used for the composition of the ’Bride…’“28 in Form von Reproduktionen Berücksichtigung finden. Duchamp kalkulierte mit 135 Notizen und einem Dutzend Fotos, die in einer Kartonschachtel zusammengestellt 25 Vgl. Francis M. Naumann, Marcel Duchamp. The Art of Making Art in the Age of Mechanical Reproduction, New York: Abrams, 1999, S. 56. 26 Ebd. 27 Marcel Duchamp an Lou und Walter Arensberg, 20. Februar 1934, zit. nach Naumann 1999 (wie Anm. 25), S. 111. 28 Ebd.

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werden sollten, von der es eine 500er Auflage der Normalversion und 20 der Deluxe-Version geben sollte. Letztlich reproduzierte er statt 135 nur 93 Manuskriptnotizen und -zeichnungen und die Auflage betrug dann nur 300 statt 500, die 20 Exemplare der Deluxe-Edition entstanden dagegen wie geplant. Neben seinen Notizen waren von seinen Werken schwarz-weiße Collotype-Reproduktionen von Gemälden und anderen seiner Arbeiten mit Bezug zum Großen Glas wie die Kaffeemühle, die Passage von der Jungfrau zur Braut, Die Braut, die zweite Version der Schokoladenreibe, den Schlitten (in einer Fotografie von Man Ray 1924), To be Looked at, Okkulte Augenzeugen und die Staubzucht enthalten. Alle in Schwarz-Weiß. Von dem Bild der Neuf Moules Mâlic (Neun männische Gußformen) fertigte er eine Farbreproduktion an. In grünes Velourspapier gebunden steht auf dem Deckel dieser somit grünen Schachtel, wie ihr Name forthin dann auch lauten sollte, in spiegelverkehrter Perforation der Titel des Grand Verre: La mariée mise à nu par ses célibataires, même. Kaum hatte Duchamp diese fertiggestellt, entwickelte er im Jahr darauf ein noch umfangreiches Projekt, das er in einem Brief an Dreier vom 5. März ankündigte: „I want to make, sometime, an album of approximately all the things I produced.“29 Damit war aus der didaktischen Handreichung zur Betrachtung des Großen Glases – die ursprüngliche Intention für die Box von 1914 – , war aus der Idee einer dokumentarisch umfassenden Begleitpublikation zum Großen Glas – die Intention für die Grüne Schachtel von 1934 – nun eine weitere Manifestation erwachsen, zunächst als ein Album apostrophiert, d. h. als ein flaches, zweidimensionales Gebilde, wiederum als die Zusammenstellung von Reproduktionen, diesmal aber das Gesamtwerk betreffend und dazu für die meisten aufgenommenen Arbeiten in Farbe. Nicht in Form von Farbfotografie, die schon existierte, aber mit unbefriedigenden Möglichkeiten der Farbwiedergabe, sondern auf der Grundlage von schwarz-weiß Fotos, die dann in dem handwerklich sehr aufwendigen und technisch sehr anspruchsvollen Pochoirverfahren mittels Schablonen und aufgestupfter Farbe koloriert wurden. Die mehrmonatige Amerikareise Duchamps 1936 hatte den Zweck, einerseits das Große Glas zu reparieren und andererseits die Foto-Aufnahmen seiner Werke für das geplante Album in den Sammlungen von Dreier und den Arensbergs zu überwachen. Auf den Fotos machte Duchamp sich akribische Notizen über die Größe, die Titel und die Farben der abgebildeten Werke. Auf dem Rückweg nach New York macht er in Cleveland halt, wohin die Arensbergs gerade das Bild Akt eine Treppe herabsteigend ausgeliehen hatten und macht sich auch hier Notizen auf ein Foto.30 In einem Brief, den er für Katherine Dreier auf dem Schiff zurück nach Europa verfasst, schreibt er: „this trip has really been a wonderful vacation in my past life – […]. It was very objective: vacation in past time instead of a new area.“31

29 Marcel Duchamp an Katherine S. Dreier, 5. März 1935, zit. nach Naumann 1999 (wie Anm. 25), S. 124. 30 Naumann 1999 (wie Anm. 25), S. 129. 31 Marcel Duchamp an Katherine S. Dreier, 4. September 1936, zit. nach Naumann 1999 (wie Anm. 25), S. 132.

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7 Marcel Duchamp präsentiert die Boîte-en-valise, Fotografie von Allan Grant publiziert im Time Magazine, August 1942.

Einer Besprechung des Großen Glases durch Friedrich Kiesler, 1937 in der New Yorker Zeitschrift Architectural Record erschienen, deren Sonderdruck Kiesler mit einer Teilreproduktion des Großen Glases auf Celluloid ausgestattet hatte, verdankte Duchamp möglicherweise einen Impuls, die Besonderheit des Großen Glases, das als ein Fensterbild ja das Hindurchsehen verlangt, in seinem Album nicht nur im Hinblick auf eine Reproduktion auf transparentem Material, sondern auch über dessen räumliche Anordnung nachzudenken.32 Diese Entscheidung wurde dann definitiv dadurch bestärkt, als es darum ging, das nicht mehr existierende Objekt des Urinoirs – Fountain – von 1917 zu integrieren, von dem Duchamp nun, 1938, nach Fotografien ein kleines, 8,5 cm hohes Modell aus Pappmaché als Vorlage für einen Keramiker anfertigte. Die so entstandene Porzellanschlüssel gab dann wiederum das Original für eine Gussform ab. Durch die Installation in einem faltbaren Raummodell wurden aus manchen der zweidimensionalen fotografischen Reproduktionen zuletzt dreidimensionale Miniatur-Repliken und aus dem Œuvrekatalog als einem Album, Buch, Katalog ein dreidimensionales Objekt (Abb. 7). Im September 1940 32 Vgl. Naumann 1999 (wie Anm. 25), S. 141.

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bereitete er den Subskriptionsprospekt der ersten Deluxe-Exemplare seiner Boîte-en-valise vor, die nun den offiziellen Autorvermerk „de ou par Marcel Duchamp or Rrose Selavy“ trägt und für den 1. Januar 1941 ankündigt wurde. Damit war sie in der Welt, wobei sich ihre höchst komplexe Erscheinungsgeschichte über die die nächsten zwei Jahrzehnte und noch darüber hinaus hinzog.33 Duchamp wollte sich als Künstler nie wiederholen, aber er reproduziert sich selbst. Durch die Art und Weise, wie er diese Reproduktionen in aufwendigster Handarbeit herstellte (teilweise auch von Vertrauten herstellen ließ), durch die Art und Weise, wie er sie präsentierte, sind diese zweidimensionalen und dreidimensionalen Faksimile in den Schachteln und der Schachtel im Koffer Produkte des künstlerischen Schaffens Duchamps – „a distinct personal expression“34 – , verleiht er ihnen ostentativ den Status als Kunst. Sie haben diesen Status deswegen, weil sie auf die Bewusstseinsarbeit des Künstlers zurückverweisen, wofür sie einstehen und erst in dieser Bindung realisiert sich ihr Kunstcharakter. Die Bedeutung der Reproduktion ist daher nicht darin zu sehen, dass Duchamp es in erster Linie auf Institutionskritik abgesehen hätte oder eine Dekonstruktion des Werkbegriffs. Zunächst einmal bedeutet die Hinwendung zum Multiple die Bejahung technischer Möglichkeiten, die der Künstler sich zu Diensten macht und benutzt. Die Möglichkeit dieser Bejahung liegt in seinem ästhetischen Konzept begründet, die das Kunstwerk als Medium geistiger Arbeit versteht und dadurch dem Künstler die multiplen Freiheiten verschafft und es ihm erlauben, der herkömmlichen Bilderproduktion, jene Tradition retinaler Malerei, die Duchamp als stumpfsinnige „copies from copyistes“35, als Fetische einer trivialen Massenkultur verachtete und mit der eigenen Kunstproduktion eine Absage erteilt und überwindet. D. h. Duchamps Boîte-en-valise liegt ein Blickwechsel zugrunde, der die in der bürgerlichen Welt überall angebotenen Originale als bloße Kopien, dagegen die tatsächlichen handgemachten Kopien paradoxerweise als authentische künstlerische Produktion erweist. Wie die dauerhafte Ausstellung seiner Werke im Philadelphia Museum of Art organisiert Duchamp die Zusammenstellung seiner Werke in seinem Miniaturmuseum, wobei letzteres den entscheidenden Vorteil der Mobilität aufweist. Man kann einzelne Duchamps in Philadelphia aufsuchen, mit der Boîte-en-valise wird man von Duchamps Werken, wird man von Duchamps Werk aufgesucht. 33 Siehe dazu Marcel Duchamp. Die grosse Schachtel de ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy, Inventar einer Edition von Ecke Bonk, München: Schirmer/Mosel, 1989. 34 Die entsprechende Frage von James Johnson Sweeney an Marcel Duchamp im Philadelphia-Interview von 1956 (vgl. Anm. 20), ob er auch seinen „Koffer“ als einen eindeutigen persönlichen Ausdruck betrachten würde, beantworte der Künstler mit „Absolutely“. Die zitierte Passage fehlt in der Transkription des Fernsehgesprächs bei Sanouillet/Matisse 2008 (wie Anm. 12), S. 170–178, hier S. 177. Vgl. dagegen die deutsche Übersetzung des Fernsehinterviews bei Stauffer 1992 (wie Anm. 20), S. 53–61, hier S. 60. 35 Brief von Marcel Duchamp an Jean Crotti und Suzanne Duchamp, 17. August 1952, zit. nach Francis M. Naumann, „Affectueusement, Marcel. Ten Letters from Marcel Duchamp to Suzanne Duchamp and Jean Crotti“, in: Archives of American Art Journal, Bd. 22, 1982, Nr. 4, S. 2–19, hier S. 17.

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Der Künstler wird damit reflexiv als ein Handlungsreisender seines Werks ausgewiesen. Mit der Boîte-en-valise pointiert Duchamp die Abhängigkeit der künstlerischen Produktion vom Marktplatz der Rezeption und entwirft mit ihr ein Instrument, dass diese Abhängigkeit, indem sie sie sichtbar macht, so weit wie möglich in ihre Schranken weist. Die Boîte-en-valise ist eine Flaschenpost in die Zukunft. Als eine Allegorie des Selbst, wie sie David Joselit geheißen hat,36 proklamiert sie Selbstbestimmung über den Tod hinaus. Für die Zeit nach seinem Tod hat er das Gepäck zur Verfügung gestellt, das andere in jene Rolle einsetzt, die normalerweise die Künstler selbst versuchen einzunehmen, nämlich „excellent traveling salesmen“37 in eigener Sache zu sein, was mit dem Tod endet, aber mit dem selbstverfassten Œuvrekatalog in Form einer Kofferretrospektive der Nachwelt die Grundlage bietet, um sie in die kulturelle Ewigkeit zu prolongieren. Mit der Boîte stellt Duchamp das Große Glas als sein Hauptwerk in den Mittelpunkt des Œuvres, um im selben Zug dessen Stellung zu relativieren, erscheint es doch im Ensemble der anderen Werke nur als eine Markierung in einem komplexen Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten. Wir haben es hier mit der Aufwertung des Gesamtwerks zum privilegierten Kontext des Einzelwerks zu tun.38 Denn auch das Große Glas, das originale, war, wie Duchamp gegenüber Richard Hamilton 1961 bemerkte, ein Akt der Reproduktion: „It was more recopying, copying some sketches that I’d done on glass already, so there was no creativeness there, no invention any more, it was just a translation of a thing already done, to my mind at least, onto glass...“39 Die Boîte-en-valise ordnet und weist als Anordnung Zentrierungen und Hierarchisierungen auf. Auch führt sie die Ordnung der Chronologie mit sich, die in Form des jeweiligen Entstehungsjahrs akribisch auf kleinen Cartellini festgehalten ist. Sie stiftet aktiv Bezüge zwischen den Werken, macht etwa – was zuletzt Molderings herausgearbeitet hat – die Verbindung von Tu m’ zum Großen Glas anschaulich, wie sie zugleich eine Aufforderung an den Betrachter bzw. Benutzer darstellt, selbst aktiv zu werden.40 Anders als die frei flottierende Unordnung der Loseblattsammlung der Grünen Schachtel sind die in der Boîte-en-valise enthaltenen Werkreproduktionen in einzelne schwarze 36 David Joselit, Infinite regress: Marcel Duchamp 1910–1941, Cambridge/MA: MIT Press, 1998, S. 192: „The Boîte-en-valise is therefore no simple retrospective-in-a-box but rather an allegory of the self caught in the compulsive repetition of reproduction.“ 37 Brief von Marcel Duchamp an Jean Crotti und Suzanne Duchamp, 17. August 1952: „Artists who during their life time have known how to make their shoddy goods appreciated are excellent traveling salesmen, but nothing guarantees the immortality of their work.“ Zit. nach Naumann 1982 (wie Anm. 35), S. 17. 38 Das Gesamtwerk als Horizont künstlerischer Produktion in Moderne und Gegenwart ist Gegenstand eines Forschungsprojektes, das Barbara Wittmann an der UDK Berlin verfolgt. Ich danke ihr für die Einladung zu der Tagung „Nachlass zu Lebzeiten“, auf der ich im Januar 2020 meine Überlegungen zu Duchamp zur Diskussion stellen konnte. 39 Marcel Duchamp im Gespräch mit Richard Hamilton, 27. September 1961, zit. nach Jennifer Gough-Cooper und Jacques Caumont: Ephemerides on and about Marcel Duchamp and Rrose Sélavy, 1887–1968, Kat. Ausst. Venedig, Palazzo Grassi, London: Thames and Hudson1993, auch bei Joselit 1998 (wie Anm. 36), S. 240. 40 Molderings 2019 (wie Anm. 17), S. 148.

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Mappen je nach Medium, Material oder Zeit der Entstehung klar und übersichtlich geordnet. Diese Ordnung löst sich freilich mit dem Herausnehmen der Reproduktionen aus ihren Mappen schnell auf bzw. lassen sie sich so oder so zueinander ordnen, finden sich – und gehen einander wieder verloren. Auch die Chronologie erweist sich damit als eine relative Angelegenheit. Durchkreuzt vom Raum verschwindet sie nicht, doch kann sie überstimmt werden, durch Bezüge, die dem Zufall oder der willentlichen Willkür eines Betrachters anheimgegeben sind. Doch auch diese sind nichts anderes als jene Retentionen und Protentionen, die als Ensemble die Totalität des Werkes konstituieren. Damit haben wir in Form einer Reproduktion, also einer technischen Abstraktion, genau jenen Raum-Zeit-Klumpen physisch konkret vor uns, den Gell so erhellend als das Gesamtwerk eines Künstlers beschrieben hat. Der strategische Kalkül dieses Œuvrekatalogs in Form eines kleinen portablen Museums, welcher die Wurzel aus der Konzeption seines Werkes zieht, ist, soweit wir das aus der Momentaufnahme des Heute sagen können, aufgegangen. Duchamps Rezeption ist in den letzten vierzig Jahren geradezu explodiert und er gilt in weiten Kreisen als der wichtigste, d. h. einflussreichste Künstler des 20. Jahrhunderts.41 Diesen Rezeptionserfolg hat Duchamp selbst instrumentiert und damit antizipiert. Insofern könnte man sagen, dass Duchamp das Meisternarrativ auf eine neue Ebene gehoben hat, einen Metamythos ausbildet. Das Paradox dieses Duchampschen Metamythos besteht darin, dass er sich in Form einer radikalen Selbstobjektivierung und Selbstrelativierung realisiert, als Verschwinden des Autors im Werk. Damit ist auf die grundsätzliche Frage zurückzukommen, welchen Beitrag Gells Überlegungen zum Verständnis der von Duchamp geschaffenen ästhetischen Gegenstände leisten können und, davon abgeleitet, welchen Beitrag sie zum Verständnis ästhetischer Objekte und ihrer Handlungsmacht allgemein leisten. Duchamps künstlerische Verfahrensweise steht in prononcierter Weise für eine Abkehr von Kunst im Sinne einer Produktion herkömmlicher Kunstwerke, da sie dezidiert gegen Ideen verstoßen, die dem Kunstwerk der abendländischen Kultur in ihrer bürgerlichen Tradition zugewachsen sind und zugrunde liegen, wie etwa die Idee der Autorschaft. So hat er beispielsweise mit den 3 Stoppages étalon ein Werk geschaffen, dessen Formen und Materialien sichtlich nicht die Erwartungen an den Charakter ästhetischer Objekte im Sinne der Tradition des bürgerlichen Kunstwerks erfüllen, sei es der Gattung der Malerei oder der der Skulptur, 41 Molderings hat darauf hingewiesen, dass man Duchamps Bedeutung für die Gegenwart „weniger auf dem Feld der künstlerischen Techniken als auf dem der Ästhetik“ suchen sollte: „[…] Ästhetik im weitesten Sinne des Wortes verstanden als Geisteshaltung, die bestimmt, wie wir uns selbst und unsere Welt wahrnehmen. Wenn Duchamp heute als der Künstler des 20. Jahrhunderts gilt, dann deshalb, weil seine für einen langen Zeitraum solitären ästhetischen Überzeugungen in den vergangenen drei Jahrzehnten zunehmend mit der ironischen und unmetaphysischen Richtung des zeitgenössischen ästhetischen Denkens konvergieren.“ Herbert Molderings, „Relativismus und historischer Sinn. Duchamp und die Postmoderne“, in: Ders., Die nackte Wahrheit. Zum Spätwerk von Marcel Duchamp, München: Hanser, 2012, S. 7–25, hier S. 8 f.

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8 Marcel Duchamp, 3 Stoppages étalon, 1913–1914, Fäden auf Leinwand auf Glas, 125,4 × 18,3 cm, Holzlineale, Messlatten in Holzkiste, New York, The Museum of Modern Art.

sondern dessen Aussehen sich zum einen der Kollaboration mit dem Zufall verdankt und zum andern eher dem nüchternen, technisch-glatten, ausdruckslosen Objektstatus wissenschaftlicher Gerätschaften ähnelt (Abb. 8). Gells Hinweise auf die Rolle einzelner Werke im Netzwerk des Œuvres als distributed object gelten aber auch, ja sogar in besonderem Maße für Duchamps im Blick auf den aktuellen Kunstbegriff vielleicht folgenreichste Neuerung: seine Readymades, jene „ihrer Funktion entfremdete, oft mit rätselhaften Titeln versehene alltägliche Gebrauchsgegenstände, die seit der Mitte der dreißiger Jahre in Ausstellungen und Publikationen als Kunstgegenstände betrachtet wurden.“42 Duchamp selbst betonte verschiedentlich, dass seine Readymades Objekte seien, deren Wahl nicht von einem ästhetischen Geschmacksurteil gelenkt seien:

42 Herbert Molderings: „Ästhetik des Möglichen I. Zur Erfindungsgeschichte der Readymades“, in: Ders., Über Marcel Duchamp und die Ästhetik des Möglichen, Köln: Walther König, 2019, S., S. 15–55, hier S. 16 (zuerst als Herbert Molderings: „Zur Erfindungsgeschichte der Readymades Marcel Duchamps“, in: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, hg. von Gert Mattenklott, Hamburg: Meiner, 2004 (Sonderheft der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft), S. 103–135.

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Meine Ready-mades haben nichts zu tun mit dem objet trouvé, weil das sogenannte ‚gefundene Objekt‘ vollständig vom persönlichen Geschmack gelenkt wird. Der persönliche Geschmack entscheidet, ob dies ein schönes Objekt und einmalig ist. Daß die meisten meiner Ready-mades Massenprodukte waren und dupliziert werden konnten, ist ein weiterer wichtiger Unterschied. In manchen Fällen wurden sie dupliziert, um dadurch den Kult der Einmaligkeit, der großgeschriebenen Kunst, zu vermeiden. Ich erachte den Geschmack – den schlechten oder guten – als den größten Feind der Kunst. Im Falle der Ready-mades versuche ich, mich vom persönlichen Geschmack freizuhalten und mir dieses Problems voll bewusst zu sein.43 Wenn der Künstler damit ausdrücklich seine Objektwahl als „nie von einer ästhetischen Lust diktiert“44 bestimmt ausgab, dann konnte dies so verstanden werden, als sei es Duchamps hauptsächliches und einziges Ziel gewesen, nicht- oder antiästhetische Gegenstände in den Kunstkontext hineinzubringen, „um sie in Kunstausstellungen auf Sockel zu heben und damit gegen den Elitismus einer vom alltäglichen Leben entfremdeten Kunst zu protestieren“.45 Herbert Molderings wird seit langen Jahren nicht müde, zu zeigen, dass diese weit verbreitete Ansicht mit den historischen Tatsachen in keiner Weise übereinstimmt. Vielmehr dienten diese Gegenstände Duchamp als bizarre, alle gewohnten Ansichten auf den Kopf stellende Versuchsobjekte in seinem Atelier, anhand derer er für sich die Erfahrung des „ästhetischen Echos“ zu provozieren suchte (Abb. 9). 46 Dabei dachte er, wie er im Gespräch mit Pierre Cabanne ausführte, an „das Ungewöhnliche, das Rare, an das, was ich als höhere Aesthetik bezeichnen möchte“.47 Die Readymades sind somit als Gestelle zur Kondensation seiner imaginären Welten konzipiert und sollten Duchamp helfen, die verborgene Seite des Sichtbaren in der Kunst zurückzugewinnen. Molderings hat deshalb darauf insistiert, dass die phänomenale Erscheinung des jeweiligen Objekts, seine besondere Form, sein Material und die spezifische Art seiner Darbietung nicht bedeutungslos sind. Auch die Auswahl der jeweiligen Gegenstände durch Duchamp war, anders als immer wieder unterstellt, kein willkürlicher, vom Zufall diktierter Akt, sondern ist seiner Suche nach Veranschaulichung unanschaulicher mathematisch-räumlicher, metaphysischer Sachverhalte eingeschrieben. D. h. man hat es erstens mit Gegenständen zu tun, deren Formen und Materialien herkömmlichen ästhetischen Maßstäben 43 Marcel Duchamp im Gespräch mit Katharine Kuh, 29. März 1961, zit. nach: Stauffer 1992 (wie Anm. 20), S. 117–121, hier S. 120. 44 Marcel Duchamp, „Hinsichtlich der ’Readymades’“, in: Stauffer 1982/2018 (wie Anm. 12), S. 242. 45 Molderings 2019 (wie Anm. 17), S. 19. 46 Vgl. ebd., S. 17. Vom „esthetic echo“ sprach Duchamp auf dem Symposium The Western Round Table on ­Modern Art, der 1949 in San Francisco stattfand. Seine Statements dort sind abgedruckt als „Appendix A“ in: West Coast Duchamp, hg. von Bonnie Clearwater, Miami Beach/FL: Grassfield Press 1991, S. 106–114. Vgl. auch den Auszug bei Stauffer 1992 (wie Anm. 20), S. 39 f. 47 Zit. nach Cabanne 1972 (wie Anm. 15), S. 104. Der Hinweis auf diese Stelle findet sich bei Molderings 2019 (wie Anm. 17), S. 47.

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9 Duchamps Atelier 33 West 67th, New York 1917–1918, kolorierter Buchdruck, in: La Boîte-en-valise, 1935–1941.

der westlichen Kunsttradition nicht entsprechen. Zweitens ist der Grund und das Ziel für diese Nicht-Entsprechung nicht die bloße Provokation, die Geste des „épater-le-bourgeois“. Und drittens geht es dem Künstler auch nicht darum, nicht-ästhetische Gegenstände in einem Akt sinnlicher Projektion durch den Künstler „schön-zu-sehen“, zu ästhetisieren und damit dem zunächst vor den Kopf gestoßenen, dann erstaunten und schließlich bereitwillig folgenden Publikum in einer pädagogischen Lektion die Ausweitung des Kunstbegriffs zu erschließen. Wenn es Duchamp vielmehr um eine „höhere Aesthetik“ ging, dann war diese für ihn zu erreichen nur möglich, indem er einen experimentellen Kunstbegriff konzipierte, der das Kunstwerk als Index seines künstlerischen Bewusstseins fasste, womit die Passage nicht-ästhetischer Objekte zu ästhetischen Objekten, die mit Handlungsmacht ausgestattet waren, möglich wurde. Dazu gestand er einigen banalen Gegenständen – Allerweltsobjekten – einen ästhetischen Charakter zu, indem er sie im Rahmen seiner künstlerischen Praxis in Gebrauch nahm, sie insofern als ästhetische Objekte bestimmte, womit sie nicht länger Alltagsobjekte waren. Handlungsmacht haben diese vormals nicht-ästhetischen ästhetischen Objekte in der Rückwirkung auf ihren Autor (der er zugleich nicht ist, da sie als industriell gefertigte Produkte nicht Duchamp als persönlichen Schöpfer zum Ausgangspunkt haben), insofern sie ihm zu Abschussrampen seiner geistigen Exerzitien wurden, die er in ihrer Erlebnisstruktur „mit der Psychologie eines verliebten Menschen oder eines Gläubigen, der sein forderndes Ich aufgibt und sich

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bereitwillig einem geheimnisvollen Zwang unterwirft“ verglich.48 Handlungsmacht aber auch im Hinblick auf die Strukturierung der Beziehungen des Künstlers zu seinem sozialen Umfeld und ganz generell zur Welt, insofern sie als radikal entäußertes Bewusstsein eines Duchamp-Ichs ihrerseits weniger sinnliche, denn vielmehr ästhetische Erfahrungen vorstrukturieren, die als hermetische Verweisobjekte selbstbezügliche Schleifen generieren, deren geistige Herausforderungen ein besonders großes Faszinationspotential darstellen, das von der Auseinandersetzung mit den Duchamp’schen ästhetischen Objekten zuverlässig bei nicht wenigen Künstlern, aber auch bei Akteuren des Kunstmarktes sowie Wissenschaftlern zu einer oftmals geradezu obsessiven und lebenslangen Auseinandersetzung mit seinem Denken, seinen Gesten und seinem Leben führt. Dass Duchamp seine höchst elitäre Bestimmung des Künstlertums und der Kunst gleichwohl (auch) anhand von Objekten manifestierte, denen man ihre Bestimmung als Agenten höherer Ästhetik auf den ersten Blick nicht ansieht, begabt sie zugleich mit einem populären Potential, das man in seiner Aktivierung als reduktionistische Perspektive beklagen kann, das aber ein ludisches Moment exponiert, welches seinerseits wiederum gerade dazu beiträgt, die alles umwerfende, einreißende und damit überlegene Kraft dieser sehr besonderen, sehr spezifischen Gegenstände freizusetzen. Durch die Multiplikation der Verbreitung erhalten sie eine gesteigerte Wirksamkeit. Ein solcher „Buzz“-Faktor49 ist insbesondere der Boîte-en-valise zu eigen, aber in gewissem Sinne auch der obsessiven Beschäftigung mit Duchamps Werk in Form einer emergenten wissenschaftlichen Verhaltensweise, was ebenfalls dessen Wirksamkeit potenziert. 48 Duchamp 1949 zit. nach Clearwater 1991 (wie Anm. 46), vgl. Molderings 2019 (wie Anm. 17), S. 17. 49 So veranschlagt David Joselit für die zeitgenössische Kunst eine Ablösung der Aura durch den Buzz. Vgl. Davis Joselit, Nach Kunst, Berlin: August Verlag, 2016, S. 33 f.

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Annika Schlitte

Die Entzogenheit der Objekte Eine Auseinandersetzung mit Graham Harmans spekulativem Realismus

Spekulativer Realismus und Korrelationismuskritik „[P]hilosophy must break loose from the textual and linguistic ghetto that it has been constructing for itself, and return to the drama of the things themselves.“1 Mit diesem Motto ist die Zielrichtung von Graham Harmans Philosophie kurz und prägnant umrissen. Harmans Object-Oriented Ontology lässt sich als eine Spielart des Spekulativen Realismus einordnen und passt gut zu einer seit einiger Zeit zu beobachtenden Renaissance des Realen, die sich auf theoretischer Ebene gegen die Dominanz des poststrukturalistischen Denkens in den Sozial- und Kulturwissenschaften wendet und vielfach auch gegen einen Anthropozentrismus, der angesichts der ökologischen Krise in politischer Perspektive fragwürdig erscheint. Das Nicht-Menschliche – Tiere, Pflanzen, Dinge – erfreut sich dabei in Strömungen wie dem Posthumanismus großer Aufmerksamkeit, wobei die akademische Philosophie in Deutschland gegenüber solchen aktuellen Entwicklungen traditionell erst einmal eher skeptisch bleibt. Von dieser allgemeinen Tendenz einer plakativen ‚Dezentrierung‘ des Menschen einmal abgesehen lässt sich aber auch hierzulande in der Philosophie ein erstarkendes Interesse an realistischen Positionen beobachten, prominent vertreten durch Markus Gabriel und den sogenannten Neuen Realismus.2 „[P]hilosophy must [...] return to the drama of the things themselves“ – bei diesem Motto könnte man sich gleichwohl an einen ähnlichen, älteren Schlachtruf erinnert fühlen, nämlich das „Zu den Sachen selbst“, mit dem einst Husserls Phänomenologie einsetzte. Umso interessanter ist es zu beobachten, dass die Auseinandersetzungen um den Neuen und auch den Spekulativen Realismus meistens mit der Phänomenologie als Hauptgegnerin, aber auch -gesprächspartnerin geführt werden.3 Für den Versuch, das zentrale Anliegen des Spekulativen Realismus besser zu verstehen, bietet sich daher die Phänomenologie in besonderer Weise als Kontrastfolie an. Der Spekulative Realismus geht auf einen Workshop mit diesem Titel am Goldsmiths College, University of London zurück, der am 27. April 2007 stattfand und an dem Quentin Meillassoux, Ray Brassier, Iain Hamiltan Grant und Graham Harman teilnahmen, die

1 Graham Harman, Tool-Being: Heidegger and the Metaphysics of Objects, Peru/IL 2002, S. 16. 2 Der Neue Realismus, hg. von Markus Gabriel, Berlin 2014. 3 Vgl. Eine Diskussion mit Markus Gabriel. Phänomenologische Positionen zum Neuen Realismus, hg. von Peter Gaitsch, Sandra Lehmann und Philipp Schmidt, Wien 2017.

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fortan als ‚Bewegung‘ oder Gruppe wahrgenommen wurden.4 Als Label setzte sich der Begriff schnell durch, auch wenn die ‚Bewegung‘ sich bald wieder in vier verschiedene Richtungen aufspaltete (also genauso viele wie sie Mitglieder hatte) und sich von dieser Bezeichnung distanzierte.5 In diesem Spektrum vertritt Graham Harman eine objekt-orientierte Ontologie, die der Phänomenologie gegenüber deutlich aufgeschlossener ist als die anderen Ansätze, weshalb sie sich für eine Abgrenzung von der Phänomenologie als Ausgangspunkt besonders eignet. Einige Grundzüge von Harmans Objektontologie vor dem Hintergrund der Aufnahme phänomenologischer Gedanken vorzustellen und kritisch zu beleuchten, ist das Ziel des folgenden Textes. Dass dabei ein besonderes Augenmerk auf der Rolle der Kunst in diesem Konzept liegen wird, ist nicht nur dem Thema des vorliegenden Bandes geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass Harmans Überlegungen gerade im Bereich der Kunst in letzter Zeit sehr viel Anklang finden.6 Graham Harman ist jedoch nicht nur einer der Hauptvertreter des Spekulativen Realismus, sondern setzt sich gleichzeitig auch unermüdlich für die Kanonisierung und Verbreitung dieser philosophischen Strömung ein, z. B. durch die Produktion von Einführungsliteratur, in der sich dann einführende Passagen finden, in denen er überlegt, ob er von sich und seiner Theorie besser in der ersten oder in der dritten Person sprechen sollte.7 Von ihm sollten wir also eine Klärung der verwendeten Begriffe erwarten können. Was den Begriff des Spekulativen angeht, ist Harman allerdings auffällig unscharf. „Spekulativ“ heißt für ihn hier in Bezug auf die vier Ansätze nur: „all reach conclusions that seem counterintuitive or even downright strange“.8 Dies passt zum Gestus einer Guerilla Metaphysics,9 die sich gegen das philosophische Establishment wendet und immer wieder ihre „weirdness“ betont, verpasst aber die Chance einer positiven Anknüpfung an klassisches spekulatives Denken, das sich ja nicht darüber definiert, dass es besonders merkwürdig ist, sondern in der klassischen deutschen Philosophie etwa für ein Erkennen des Absoluten steht.10 Der philosophische Begriff des Realismus, der ebenfalls eine lange Tradition hat und sehr Verschiedenes bedeuten kann, ist laut Harman ganz klar und einfach definiert. Rea4 Vgl. zur Entstehungsgeschichte die Einleitung in Graham Harman, Speculative Realism. An Introduction, Cambridge/MA 2018, S. 1–6. 5 Harman nennt die Richtungen in seiner Einführung „Prometheanismus“ (Brassier), „Vitalistischer Idealismus“ (Grant), „Spekulativer Materialismus“ (Meillassoux) und „Objektorientierte Ontologie“ (Harman); vgl. ebd. 6 Vgl. den zur documenta 13 verfassten Text Der dritte Tisch, Berlin 2012. 7 Vgl. Harman 2018 (wie Anm. 4), S. 1. 8 Ebd., S. 5. 9 So ein weiterer Buchtitel von Graham Harman, Guerilla Metaphysics, Peru/IL 2005. 10 In begrenzender Absicht heißt es bei Kant zu dieser Erkenntnisform in der Kritik der reinen Vernunft (A 634 f./B 662 f.): „Eine theoretische Erkenntniß ist speculativ, wenn sie auf einen Gegenstand oder solche Begriffe von einem Gegenstande geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann.“ Immanuel Kant, ­Kritik der reinen Vernunft [1781/87], nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. von Jens Timmer­ mann, Hamburg 1998.

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lismus heißt: Es gibt eine Welt unabhängig vom Bewusstsein. Auf der anderen Seite steht der Idealismus, den er wie folgt definiert: Realität ist nicht unabhängig vom Bewusstsein.11 Wenn der spekulative Realismus nun meint, dass der Realismus in der heutigen Kontinentalphilosophie zu kurz kommt, so liegt das an der Dominanz einer Richtung, die Quentin Meillassoux mit dem Begriff des „Korrelationismus“ belegt hat. Da er zentral ist, um das Verhältnis von Phänomenologie und spekulativem Realismus zu verstehen, ist es an dieser Stelle notwendig, kurz auf diesen Begriff etwas näher einzugehen. Als „Korrelationismus“ bezeichnet Meillassoux die seit Kant in der Philosophie vorherrschende Vorstellung, dass Subjekt und Welt bzw. Denken und Sein nur in ihrer Beziehung (= Korrelation) zueinander zu verstehen sind. In der Philosophie nach Kant habe sich mehrheitlich die Ansicht durchgesetzt, dass „wir Zugang nur zu einer Korrelation von Denken und Sein haben, und nie gesondert zu einem der beiden Begriffe“.12 Gemeint ist hier, dass bei Kant durch die Eingrenzung der Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung Aussagen über Dinge, wie sie an sich sind, jeder gesicherten Grundlage entbehren. Gehaltvolle Erkenntnis gibt es nur im Bereich möglicher Erfahrung, der durch ein Zusammenspiel von subjektiven Erkenntnisbedingungen und sinnlich Gegebenem bestimmt wird. Dabei unterscheidet Meillassoux eine starke und eine schwache Form des Korrelationismus. Eine schwache, die ein Ding an sich zumindest noch zu denken imstande ist, wenn es auch keine Erkenntnis von ihm gibt (und die er als Position Kant zuschreibt), und eine starke, die das Ding an sich gänzlich ablehnt. Auch die Phänomenologie geht davon aus, dass Denken und Sein bzw. Bewusstsein und Gegenständlichkeit nicht voneinander unabhängige Größen sind, sondern stets aufeinander bezogen, und lässt sich daher unschwer dem Korrelationismus zuordnen.13 Für Meillassoux erwachsen aus dieser philosophischen Position einige Beschränkungen, welche die moderne Philosophie in eine Sackgasse führen. Der Korrelationismus kann laut Meillassoux das „Große Außen“ nicht denken, das heißt, ein Außerhalb des Bewusstseins, das nicht relativ zu diesem wäre. Dass dies eine Limitierung solcher Ansätze darstellt, will Meillassoux am Problem des Umgangs mit sogenannten „anzestralen“ Aussagen zeigen, d. h. wissenschaftlichen Aussagen, die Ereignisse vor dem geschichtlichen Auftreten des Menschen bzw. vor der Entstehung des Lebens betreffen. Meillassoux meint, dass der Korrelationismus mit Aussagen über diese Vorzeit des Menschen ein Problem habe, weil er durch sie dazu gezwungen wäre, ein Sein vor dem Bewusstsein zu denken, was in sich widersprüchlich wäre, wenn das Sein doch erst durch das Bewusstsein gestiftet würde. Meillassoux schlägt darum vor, den Korrelationismus in diesem Sinne hinter sich 11 Harman 2018 a (wie Anm. 4), S. 3. 12 Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Zürich und Berlin 2008, S. 18. 13 Husserl spricht vom „universalen Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenständen und Gegebenheitsweisen“; Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie [1936], hg. von Walter Biemel, Den Haag 1976 [Hua VI], S. 169.

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zu lassen und ein neues Denken des Absoluten anzugehen, das gleichzeitig nicht in eine vormoderne Metaphysik zurückfällt. Dabei traut er den Naturwissenschaften zu, eine Erkenntnis der Dinge an sich zu liefern.14 Wir werden auf das Problem später zurückkommen, die Stoßrichtung sollte deutlich geworden sein. Innerhalb der zeitgenössischen Kontinentalphilosophie kann die Phänomenologie wohl als die Richtung gelten, die mit der derart als korrelationistisch bezeichneten und heftig kritisierten Position am häufigsten in Verbindung gebracht wird, weswegen sie auch als eine Hauptgegnerin des Spekulativen Realismus erscheint. Doch nicht alle spekulativen Realisten lehnen die Phänomenologie ab, es gibt durchaus auch positive Anknüpfungen – so wie bei Graham Harman, wie im Folgenden zu zeigen ist.

Graham Harmans Object-Oriented Ontology Harman verortet seine Philosophie, die er Object-Oriented Ontology oder OOO nennt, auf der Seite der Realisten im oben beschriebenen Sinne: „OOO holds that the external world exists independently of human awareness“15. Dabei tritt er vehement für die Autonomie der Objekte ein, für die Vorstellung, dass es in jedem Ding etwas gibt, was sich der Beziehung zu anderen letztlich immer entzieht. Dass nicht alles an den Dingen vollständig in die menschliche Erkenntnis einzuholen ist, ist ein alter Gedanke, den Harman z. B. auch in Kants Ding an sich oder Heideggers Begriff des Seins am Werk sieht. Was seine Vorstellung aber von den genannten Positionen unterscheidet, ist laut Harman der Punkt, dass hier nicht die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis das Problem ist, sondern dass die Objekte auch untereinander nie vollständig miteinander interagieren können, d. h. einander auch gegenseitig permanent entzogen sind: „Against the assumptions of common sense, objects cannot make direct contact with each other, but require a third term or mediator for such contact to occur.“16 Was meint Harman nun aber mit „Objekten“? Offensichtlich vieles, wie die verschiedentlich von ihm zusammengestellten Listen zeigen. Objekte, das sind „ [n]eben Diamanten, Seilen und Neutronen [...] auch Armeen, Ungeheuer, quadratische Kreise und reale wie fiktionale Völkerbünde“17. Doch nicht nur diese Zusammenstellung ist irritierend, überraschend ist auch, dass Harman den Begriff des Objekts dem des Dings vorzieht,

14 Auf Meillassoux’ eigenen Vorschlag, die Kontingenz der Korrelation als das Absolute anzunehmen, kann ich hier nicht weiter eingehen. Vgl. zu einem Überblick über die neuen Realismen auch Inga Römer, „Die Überwindung des ‚Korrelationismus‘? Über den ‚spekulativen‘ und den ‚neuen‘ Realismus“, in: Information Philosophie, Bd. 3, 2018, S. 26–34. 15 Graham Harman, Object-Oriented Ontology. A New Theory of Everything, London 2018, S. 10. 16 Harman 2018 (wie Anm. 15), S. 12. 17 Graham Harman, Vierfaches Objekt, Berlin 2015, S. 11.

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wo es ihm doch auch darum geht, aus Korrelationen wie der Subjekt-Objekt-Relation herauszukommen. Nach Harman gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten, jemandem zu erklären, was ein bestimmtes Objekt ist: „you can tell them what it is made of, or tell them what it does“18. Zwei Missverständnisse macht Harman nun daraufhin aus, welche die Objekte verfehlen: Unterlaufen (Undermining) und Übergehen (Overmining). Mit „Undermining“ beschreibt er Reduktionismen aller Art, die darauf abzielen, Objekte auf ihre kleinsten Bestandteile zurückzuführen. Dem liege die Prämisse zugrunde: „Nur was elementar ist, kann real sein.“19 Harman nennt hier die frühen Naturphilosophen ebenso wie Parmenides’ Monis­ mus, zeitgenössische Philosophien der Differenz und naturwissenschaftliche Physikalismen. Sie alle versuchen, den Objekten eine Basis zu geben, die elementarer sein soll als diese selbst. Beim Übergehen („Overmining“) werden Objekte gleichsam von oben verfehlt, indem man meint, dass ihre Beziehungen zu und Wirkungen auf anderen Entitäten wesentlicher seien als die Objekte selbst. Hier meint Harman den Korrelationismus, der Objekte immer nur in Bezug auf das wahrnehmende Bewusstsein betrachtet, und den Relationismus, der generell den Beziehungen den Primat gegenüber den Relata einräumt. Harman versteht unter „Objekt“ daher alles, was weder auf seine Wirkungen noch auf seine Komponenten reduzierbar ist. Sein Ziel ist damit eine Theorie individueller Objekte, wie es sie in der Philosophiegeschichte mehrfach gegeben hat. Objekte werden als autonom in zwei Richtungen definiert: „als etwas, das über seine Teile hinaus entsteht, während es sich allen Relationen zu anderen Entitäten teilweise entzieht.“20 Er zielt auf nichts weniger als „eine neue Metaphysik, die Aussagen über alle Objekte zu treffen vermag, sowie über die perzeptuellen und kausalen Relationen, in die sie verstrickt werden“21. Harman wendet sich dabei wie viele andere gegen die zentrale Stellung, die dem Menschen in der nachkantischen Philosophie zukommt: Ich lehne die nachkantische Fixierung auf eine einzige relationale Kluft zwischen Menschen und Objekten ab und behaupte stattdessen, dass Interaktionen zwischen Baumwolle und Feuer auf derselben Grundlage beruhen wie der menschliche Umgang mit Baumwolle und Feuer.22

18 Harman 2018 (wie Anm.15), S. 43. 19 Harman 2015 (wie Anm.17), S. 14. 20 Ebd., S. 27. 21 Ebd., S. 12. 22 Ebd.

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Die Rehabilitierung der Objekte unter Rückgriff auf die Phänomenologie Husserls … Harmans Verhältnis zur Phänomenologie ist ambivalent. Einerseits verdankt er ihr einen großen Teil seiner Theoriearchitektur und schließt in vielen Punkten an Heidegger an, andererseits ist die Phänomenologie auch für ihn das Paradebeispiel für eine „Philosophie des Zugangs“ („Philosophy of Access“), da sie sich immer nur mit unserem Zugang zur Welt befasst und nie mit der Welt in ihrem eigenen Recht.23 Harman fokussiert sich hier auf Husserl und Heidegger, wenn er konstatiert: „offensichtlich scheinen beide Denker aus allem eine Frage der Zugänglichkeit für menschliche Wesen zu machen; eine äußere Welt jenseits von Menschen spielt in ihrem Denken kaum eine Rolle.“24 Heidegger in die Nähe einer idealistischen Position zu bringen, scheint für den späten Heidegger allerdings sehr gewagt, wenn man an dessen Selbstkritik in Bezug auf Sein und Zeit denkt.25 Vielfach versucht die Phänomenologie, eine Zwischenstellung in Bezug auf diese Frage einzunehmen bzw. argumentiert, dass Idealismus vs. Realismus eine falsche Alternative sei, was eine eindeutige Zuordnung der genannten Autoren ohnehin erschwert. Darüber hinaus gibt es auch innerhalb der Phänomenologie Positionen, die sich explizit als realistisch verstehen. Nicht nur vernachlässigt Harman den großen Zweig der realistisch ausgerichteten Phänomenologie der Göttinger und Münchener Schule, es gibt auch in der aktuellen Phänomenologie realistische Positionen.26 Einen „gewissen unleugbaren realistischen Anklang“27 gesteht er der Phänomenologie aber dann doch zu und bezieht sich auf sie, um sein eigenes Theoriemodell zu entwickeln. Was er aus der Husserl-Lektüre gewinnt, ist der Begriff dessen, was er „sinnliches Objekt“ nennt. „Sinnliches Objekt“ ist Harmans Bezeichnung für den intendierten Gegenstand bei Husserl, obwohl bei Husserl ja nicht nur sinnlich erfahrbare Gegenstände intendiert werden können, sondern z. B. auch fiktive Gegenstände. Der sinnlich wahrnehmbare Gegenstand zeigt sich uns immer nur in bestimmten Abschattungen, von denen wir absehen, wenn wir das Ding als dasselbe über seine Veränderungen hinweg betrachten. Wenn wir um ein Ding herumgehen, z. B. um einen Wäscheständer in unserer Wohnung, ist es kein Problem, ihn immer als denselben Wäscheständer zu identifizieren, auch wenn wir eine sich ständig verändernde Ansicht von ihm haben. Es ist auch kein Problem, dass wir die Rückseite der Gegenstände nicht sehen,

23 Vgl. Harman 2018 (wie Anm. 4), S. 4. 24 Harman 2015 (wie Anm.17), S. 29. 25 Zu dem Vorschlag, Heideggers Philosophie als einen phänomenologischen Realismus zu verstehen, vgl. Tobias Keiling, Seinsgeschichte und phänomenologischer Realismus. Eine Interpretation und Kritik der Spätphilosophie Heideggers, Tübingen 2015. 26 Vgl. Jocelyn Benoist, „Realismus ohne Metaphysik“, in: Gabriel 2014 (wie Anm. 2), S. 133–153. 27 Harman 2015 (wie Anm. 17), S. 29.

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während wir vor ihnen stehen. Wahrnehmung ist immer perspektivisch und so kommt es, dass ein so profaner Gegenstand wie der Wäscheständer uns nie vollständig präsent ist. Für Harman ist es in diesem Kontext dann Husserls Verdienst, dass er eine Spannung innerhalb der sinnlichen Sphäre bemerkt hat, die sonst unerkannt geblieben sei, nämlich diejenige zwischen dem sinnlichen Ding und seinen sinnlichen Qualitäten: Das sinnliche Ding ist mehr als seine Abschattungen, weil es ein einheitliches Ding bleibt, auch wenn wir ihm immer nur in perspektivischen Varianten begegnen. Wir können aber, und hier greift Harman wiederum auf Husserl zurück, nicht nur die sinnlichen Qualitäten eines Gegenstandes betrachten, sondern seine „realen Qualitäten“. Hier bezieht sich Harman auf Husserls Überlegungen zum Verfahren der eidetischen Variation, das uns laut Husserl zum Wesen eines Gegenstandes führen soll. In der Anschauung können wir nämlich mithilfe der Phantasie versuchsweise von allen zufälligen Eigenschaften absehen und so zu den Eigenschaften kommen, die für die Art von Gegenstand, die wir vor uns haben, notwendig sind. Wir können in der Phantasie alles Mögliche an einem anschaulich gegebenen Gegenstand abwandeln, bis das als Wesen übrigbleibt, was sich in allen derartigen Variationen als invariant erweist. Was bei Husserl zur Unterscheidung verschiedener Typen von Gegenständen dienen soll, wird bei Harman auf einzelne Objekte angewendet. Jedes Objekt braucht nach ­Harman beides – sein Wesen (eidos) und die verschiedenen Erscheinungsformen. „Es wäre kein sinnliches Objekt, wenn es nicht irgendwie erscheinen würde, aber es wäre auch nicht dieses sinnliche Objekt, wenn es nicht die spezifischen eidetischen Eigenschaften hätte, die es zu diesem machen.“28 Diese wesensmäßigen Qualitäten nennt Harman „reale Qualitäten“. Wir haben es bei Husserl aber laut Harman nie mit dem „realen Objekt“ zu tun, sondern nur insofern es im Bewusstsein ist – also mit dem „sinnlichen Objekt“: Aus diesem Grund „bleibt Husserl ein Idealist. Seine Objekte sind zu nichts anderem imstande, als im Bewusstsein zu erscheinen“29. Schlimmer noch, laut Harman haben die Objekte bei Husserl offenbar einen so engen Bezug auf das empirische individuelle Bewusstsein eines Betrachters, dass er meint sagen zu können: „Ihre Existenz ist schon gefährdet, wenn ich meine Aufmerksamkeit verändere, einschlafe oder sterbe, und dies gilt umso mehr, wenn alle rationalen Wesen im Universum ausgelöscht würden.“30 Hier wird allerdings ein radikaler Idealismus, der die Realität der Außenwelt leugnet, mit einem transzendentalen Idealismus ineinsgesetzt, der dies nicht tut, sondern lediglich darauf hinweist, dass unsere Erkenntnis der Außenwelt von Bedingungen bestimmt wird, die nicht in der Außenwelt liegen, sondern in uns. Der intendierte Gegenstand erscheint im Bewusstsein, aber als etwas Reales, Bewusstseinstranszendentes (insofern es sich nicht um einen fiktiven Gegenstand handelt). 28 Ebd., S. 40. 29 Ebd., S. 44. 30 Ebd., S. 31.

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Zahavi kritisiert daher die Unterscheidung von realem und intentionalem (sinnlichem) Objekt bei Harman als eine, die Husserl nicht gerecht wird; das intentionale Objekt ist schließlich das reale Objekt.31

… und Heideggers Während Husserl das Objekt „nur“ als intendiertes denkt, wird Heidegger laut Harman den „realen Objekten“ eher gerecht – in der Zeuganalyse erscheint ihre Autonomie als Zuhandenheit, die, anders als Heidegger selbst denkt, nicht vom Subjekt gestiftet wird. Wo Harman auf Husserl rekurriert, um das einzuführen, was er „sinnliches Objekt“ nennt, ist Heidegger für ihn der Philosoph des sich jeglichem Zugriff entziehenden „realen Objekts“. „Wenn Husserl ein Philosoph der Präsenz ist, dann ist Heidegger ein Denker der Abwesenheit.“32 Dies will er an der Zeuganalyse aus Sein und Zeit zeigen, der er 2002 sein Buch Tool-Being gewidmet hat. Seine Interpretation lässt sich in sechs Thesen zusammenfassen: These 1: Heideggers Zeuganalyse enthält gewissermaßen den ganzen Heidegger – eigent­lich ist alles, was Heidegger schreibt, nur eine Variation dieses einen Gedankens. Heideggers Ziel war es, die abendländische Metaphysik zu attackieren, weil sie Sein als Vorhandenheit denkt, und das erste, was er in seinem Werk beschreibt, das sich einer Reduktion auf Vorhandenheit entzieht, ist das Zeug. Heidegger wendet sich in der Analyse der Umweltlichkeit in den §§ 15 und 16 von Sein und Zeit gegen die Vorstellung, unser Weltzugang sei ein wesentlich theoretischer, der Dinge als vorhandene Gegenstände betrachtet. Der nächstliegende Umgang mit der Welt sei laut Heidegger nicht der des Erkennens, sondern „das hantierende, gebrauchende Besorgen“33, und das, womit man umgeht, nicht zuerst ein Gegenstand der theoretischen Erkenntnis, sondern das Zeug, dessen Seinsart die Zuhandenheit ist. Charakteristisch dafür ist die Einbindung in das Um-zu. „Zeug ist wesenhaft ‚etwas, um zu..‘ “34. Ein Zeug steht nie für sich alleine („Ein Zeug ‚ist‘ strenggenommen nie“35), sondern gehört zu einem Verweisungszusammenhang, der das Zeugganze bildet. Das Schreibzeug – um ein Beispiel Heideggers zu nehmen – 31 Vgl. Dan Zahavi, „The end of what? Phenomenology vs. speculative realism“, in: International Journal of Philosophical Studies, Bd. 24, 2016 Nr. 3, S. 289–309, S. 298. 32 Harman 2015 (wie Anm. 17) , S. 46. Später schreibt er, Husserl habe es für absurd gehalten, dass etwas existiert, was nicht grundsätzlich das Objekt eines mentalen Akts sein könnte. Dies habe Heidegger widerlegt, indem er gezeigt habe, dass wir die meiste Zeit unbewusst mit den Dingen umgehen – das widerspricht der zuvor beschriebenen Annahme aber gar nicht, insofern es in der Formulierung nur um die Möglichkeit der Bezugnahme geht; vgl. Harman 2018 (wie Anm. 15), S. 152. 33 Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927], Tübingen 192006, S. 67. 34 Ebd., S. 68. 35 Ebd.

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dient dazu zu schreiben, es ist für diesen Zweck verwendbar und steht in einem Kontext mit anderen Utensilien im gleichen Feld: Feder, Tinte Papier, Schreibtischunterlage etc. – um bei diesem inzwischen etwas antiquierten Beispiel zu bleiben. Als Zuhandenes ist das Zeug nicht thematisch. Wir verstehen es, indem wir es gebrauchen – nicht in einer theoretischen Reflexion. Die Vorhandenheit im Sinne einer theoretischen Betrachtung kann daher nicht das Ganze der Dinge sein, ihre primäre Begegnungsweise ist die der Seinsweise der Zuhandenheit. These 2: Das Spezifische des Zuhandenseins ist das Sich-Zurückziehen. Für Harman ist nun der folgende Satz bei Heidegger ganz zentral: „Das Eigentümliche des zunächst Zuhandenen ist es, in seiner Zuhandenheit sich gleichsam zurückzuziehen, um gerade eigentlich zuhanden zu sein.“36 Harman stimmt Heidegger zu: „the reality of things is always withdrawn or veiled rather than directly accessible, and therefore any attempt to grasp that reality by direct and literal language will inevitably misfire.“37 Zuhandenheit bedeutet, dass sich etwas entzieht – und diesen Entzugscharakter will Harman zu einem wesentlichen Moment aller Dinge machen. Der gewöhnliche Modus der Dinge besteht „nicht darin, als Phänomene zu erscheinen, sondern darin, sich in einen unbemerkten unterirdischen Bereich zurückzuziehen.“38 Das Zeugding kommt erst ins Bewusstsein, wird erst dann thematisch, sobald der Gebrauchszusammenhang zerbricht, wenn das zu verwendende Werkzeug „auffällig“, „aufdringlich“ oder „aufsässig“ wird. Diese Modi haben nach Heidegger „die Funktion, am Zuhandenen den Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein zu bringen“.39 Als Zuhandenes ist das Zeug unauffällig und unaufdringlich, solange es funktioniert, aber: „Damit Erkennen als betrachtendes Bestimmen des Vorhandenen möglich sei, bedarf es vorgängig einer Defizienz des besorgenden Zu-tun-habens mit der Welt.“40 Nach Harman unterliegen alle Objekte permanent diesem Wechselspiel von Entzogenheit und Präsenz, von Ver- und Entbergung, und dies mache letztlich die Grundeinsicht von Heideggers Denken aus. These 3: Was Heidegger hier über das Zeug sagt, gilt keinesfalls nur für einen bestimmten Typ von Objekten, sondern für alle, sodass das WerkzeugSein den eigentlichen Kern auch von Heideggers Fundamentalontologie ausmachen soll: „The meaning of being is tool-being.“41

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Ebd., S. 69. Harman 2018 (wie Anm. 15), S. 38. Harman 2015 (wie Anm. 17), S. 50. Heidegger 2006 (wie Anm. 33), S. 74. Ebd., S. 61. Harman 2002 (wie Anm. 1), S. 16.

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Zuhandenes und Vorhandenes sind nicht zwei verschiedene Typen von Dingen, sondern zwei Gesichter desselben Dinges – dies betont Harman in Bezug auf Heidegger zu Recht, der ja Zuhandenheit und Vorhandenheit auch nicht als Klassen von Dingen einführt, sondern als Seinsmodi – dies zeigt ja schon die Möglichkeit des Umschlags von dem zuhandenen Werkzeug zum vorhandenen Gegenstand, z. B. im Falle des nicht-funktionierenden Schreibgeräts. Letztendlich, so die Behauptung Harmans, ließen sich alle Unterscheidungen Heideggers auf die Spannung zwischen Zuhandenheit und Vorhandenheit, Werkzeug und defektem Werkzeug zurückführen.42 These 4: Man versteht Heidegger falsch, wenn man die Zeuganalyse pragmatistisch interpretiert. Nach Harman verfehlen Denken und Handeln das reale Sein der Dinge. Ein verbreitetes Missverständnis liegt nach Harman auch dann vor, wenn man Heidegger – wie es in der analytischen Philosophie seit Hubert Dreyfus seit einiger Zeit üblich ist – in die Nähe des Pragmatismus rückt. Es gehe in der Zeuganalyse nicht darum, Handeln und Denken gegeneinander auszuspielen, sondern um die Erkenntnis, dass weder ein theoretischer noch ein praktischer Zugang das reale Objekt je einholen kann. „Schließlich verzerrt die Verwendung eines Dings seine Realität nicht weniger als das Erstellen von Theorien darüber.“43 Heidegger legt dieses Verständnis aber nahe, weil es in Sein und Zeit so erscheint, als sei es der menschliche Gebrauch, der den Entzugscharakter der Objekte bewirkt. Zuhandenheit ist aber nicht unsere Instrumentalisierung von etwas, sondern eine Aktivität, die von den Objekten ausgeht.44 Nicht erst durch den menschlichen Gebrauch, sondern von sich aus sind Dinge Zeug. These 5: Die herausgehobene Stellung des Daseins ist zu kritisieren. Anders als ­Heidegger denkt, braucht er den Menschen an dieser Stelle der Argumentation nicht. Für Harman ist Heideggers Ansatz beim Dasein also nicht zwingend. Auch ohne den Menschen wären Objekte nicht auf Vorhandenheit zu reduzieren, sie entziehen sich einander ebenso wie dem menschlichen Zugriff. Ganz schlicht formuliert meint Harman also, dass es etwas an den Dingen gibt, was radikal und prinzipiell unzugänglich ist, und das nennt er das „reale Objekt“. Letztendlich geht es Harman um eine Rehabilitierung der Dinge an sich, und das sagt er auch ganz offen. An Heidegger kritisiert er die Privilegierung des menschlichen Zugangs zur Welt, die bereits bei Kant begonnen habe. Nach Kant scheitert unsere Erkenntnis daran, über die Grenzen des sinnlich Erfahrbaren hinauszu42 Ebd., S. 46. 43 Harman 2015 (wie Anm. 17), S. 55. 44 Vgl. Harman 2002 (wie Anm. 1), S. 37.

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gehen, dennoch geht er davon aus, dass ein Ding nicht gänzlich in der Erscheinung aufgeht. Harman bestreitet nun, dass dies an der Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis liegt, sondern behauptet, dass das Wechselspiel zwischen einer zugänglichen sinnlichen Seite und der unzugänglichen Realität des Objekts allen Objekten unabhängig von der Möglichkeit des menschlichen Zugangs zu ihnen zukommt. So wie die menschliche Erkenntnis das reale Ding nie erreicht, so gibt es auch in den Relationen zwischen Dingen etwas, das verborgen bleibt, nämlich das reale Objekt. Auch wenn Baumwolle Feuer fängt, tritt nicht alles an der Baumwolle mit dem Feuer in Relation, sondern bei der Baumwolle spielen hier nur die brennbaren Eigenschaften eine Rolle. Reale Objekte können nur über sinnliche Objekte miteinander interagieren, aber nie direkt, weshalb Harman auch von einer indirekten Verursachung ausgeht. These 6: Der Gedanke des Gevierts ist die logische Fortführung der Zeuganalyse. In den 1930er-Jahren vollzieht sich eine Wendung in Heideggers Denken, die sich auch am Ding-Begriff festmachen lässt, der Dinge nun nicht mehr im Sinne des Vorhandenen versteht, aber auch nicht mehr als Zeug, sondern als zunehmend eigenständig und eigenwüchsig. Diesen neuen Ding-Begriff gewinnt Heidegger am Beispiel des Kunstwerks, das nämlich im Gegensatz zum Zeug nicht auf den Gebrauch reduzierbar, sondern eigenständig ist. Dinge ruhen auf dem Unverfügbaren, von selbst Wachsenden auf, das Heidegger nun „Erde“ nennt. Graham Harman setzt sich mit den Veränderungen in Heideggers Ding-Begriff nicht eingehender auseinander, zumal er ja schon die Differenzierung von Objekt und Gegenstand abgelehnt hatte, die für Heidegger wichtig ist. Stattdessen widmet er einer Denkfigur einige Aufmerksamkeit, die bei Heidegger-Leser*innen in der Tat für einige Verwirrung gesorgt hat, nämlich dem Geviert. Das Geviert (Quadrat) bezeichnet eine vierfache Struktur, die aus Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen besteht, und die an mehreren Stellen in Heideggers Spätwerk vorkommt.45 In Tool-Being plädiert Harman dafür, das Geviert als Kombination zweier Differenzen zu verstehen, die für Heideggers Denken insgesamt wichtig sind: Erstens die Differenz von Verborgenheit und Unverborgenheit (die wir kennengelernt haben als die Entzogenheit des Zeugs und die Aufsässigkeit des defekten Zeugs) und zweitens die Differenz von etwas Bestimmtem und Etwas überhaupt bzw., wie er später schreibt, Einem und Vielem. Das Geviert ist demnach nicht so zu verstehen, dass es vier Bereiche des Seienden bezeichnet, sondern dass es vier Kräfte beschreibt, deren Zusammenspiel in allem Seienden stattfindet.46 Jedes Objekt kann sich zeigen und sich entziehen, und jedes Objekt ist zugleich überhaupt etwas und etwas Bestimmtes.

45 Vgl. z. B. Martin Heidegger, „Bauen Wohnen Denken“ [1951], in: Gesamtausgabe I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976, Bd. 7: Vorträge und Aufsätze, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000, S. 145–164, S. 151 f. 46 Vgl. Harman 2002 (wie Anm. 1), S. 204.

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Das vierfache Objekt und das Problem der Erkenntnis Für Harman ist nun offenbar diese Geviertstruktur so überzeugend, dass er selbst in Vierfaches Objekt ein „neues Geviert“ vorschlägt, das sich aus seinen bisher im Anschluss an Husserl und Heidegger entwickelten Überlegungen ergeben soll. Außer der Tatsache, dass es sich um eine vierfache Struktur handelt, gibt es aber kaum Gemeinsamkeiten mit Heideggers Geviert.47 Es handelt sich um das Spannungsfeld zwischen dem realen Objekt (RO) und dem sinnlichen Objekt (SO) sowie den realen Qualitäten (RQ) und den sinnlichen Qualitäten (SQ). Aus diesem Quadrat ergibt sich eine Reihe möglicher Relationen, die Harman gesondert untersucht, auf die ich aber nur kurz eingehen werde, um den Blick zum Schluss noch auf seine Philosophie der Kunst richten zu können. Wie oben bereits dargestellt, unterscheidet Harman das sinnliche Objekt (SO), das mit anderen in Beziehung treten und damit auch von uns wahrgenommen werden kann, vom realen Objekt (RO), das unserer Wahrnehmung und auch jeglicher direkten Relation zu anderen Objekten entzogen ist. Nur über sinnliche Objekte können reale Objekte miteinander interagieren, weshalb Harman hier eine Theorie indirekter Verursachung entwickelt. Schließlich gibt es neben den sinnlichen Qualitäten (SQ) noch reale Qualitäten (RQ), die das Wesen der realen Objekte bestimmen, aber laut Harman nicht wahrnehmbar sind.48 Für die Ästhetik ist das Verhältnis des realen Objekts zu den sinnlichen Qualitäten relevant (RO/ SQ). Dieses Verhältnis ist nach Harman keineswegs eine feste Verbindung, da die sinnlichen Qualitäten „nur existieren, wenn man ihnen begegnet“.49 Das reale Objekt und seine sinnlichen Qualitäten müssen erst miteinander „verschmolzen“ werden und das ist eine Leistung, die insbesondere Kunstwerken zukommt, deren Wirkung er so beschreibt: „Statt der direkten Art von Kontakt, die wir mit sinnlichen Objekten haben, erfolgt eine Anspielung auf das schweigende Objekt in der Tiefe, das mit seiner Schar von sinnlichen Qualitäten vage verschmolzen wird.“50 Dan Zahavi bemerkt bei Harman als Resultat einen radikalen Skeptizismus, der davon ausgeht, dass uns die Dinge an sich für immer verborgen bleiben, da selbst die Naturwissenschaften für Harman eine korrelationistisch verzerrte Sicht auf die Dinge präsentieren.51 Wissen besteht für Harman in der buchstäblichen Aufzählung von Eigenschaften. Den Begriff der Wahrheit sieht er kritisch52 und begründet das damit, dass wir keinen 47 Vgl. Keiling 2015 (wie Anm. 25), S. 446, Anm. 81. 48 Husserls Abschattungen betreffen das Verhältnis von sinnlichem Objekt und sinnlichen Qualitäten (SO/ SQ), die Überlegungen zur eidetischen Variation das Verhältnis von sinnlichem Objekt und realen Qualitäten (SO/RQ), die anders als bei Husserl nicht der Anschauung zugänglich sein sollen. Das Verhältnis eines realen Objekts zu seinen realen Eigenschaften (RO/RQ) bildet seine Essenz, die aber nicht eingesehen werden kann, da beide sich jeder Relation und damit auch der Wahrnehmung entziehen. 49 Harman 2015 (wie Anm. 17), S. 129. 50 Ebd. 51 Vgl. Zahavi 2016 (wie Anm. 31), S. 296. 52 Vgl. Harman 2018 (wie Anm. 15), S. 192.

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direkten Zugang zu den Dingen haben – „there is no direct knowledge of anything“53. Er geht also nicht davon aus, dass die Naturwissenschaften die Objekte so erkennen können, wie sie an sich sind – denn die Naturwissenschaften machen sich ja eines Reduktionismus im Sinne des Undermining schuldig, weil sie versuchen, die Objekte auf etwas anderes zurückzuführen. Hier treffen sich Harmans Überlegungen mit der Wissenschaftskritik der Phänomenologie, allerdings lässt er keine anderen Formen von Wissen zu als reduktionistische. Es ist auffällig, dass die Möglichkeit geisteswissenschaftlicher Erkenntnis hier kaum vorkommt, allenfalls historisches Faktenwissen. Durch den Einbezug der Perspektive des Erkenntnissubjekts verfallen diese Wissenschaften eben in das andere Extrem, das Overmining, das Objekte auf ihre Beziehungen zu anderen Entitäten reduziert. Da jedoch Undermining und Overmining unsere einzigen Erkenntnisformen sind, verfehlen wir die Objekte permanent. Philosophie liefert deswegen auch keine Erkenntnis der Objekte, weil Erkenntnis immer bedeutet, etwas buchstäblich auf seine Eigenschaften zu reduzieren. Nach Zahavi passt dieser radikale Skeptizismus dann allerdings nicht recht zu dem Vorwurf, den Harman der Phänomenologie macht, nämlich, dass sie die menschliche Erkenntnis auf den Bereich der Erscheinungen verengt. Es stellt sich also die Frage, was mit diesem Ansatz eigentlich gewonnen wird. Aus Harmans Sicht entsteht so ein neuer Freiraum für die Kunst und die Philosophie, die beide nicht mehr an Wissen und Erkenntnis gebunden sind. Reale Objekte sind nur indirekt zugänglich, deshalb braucht es eine Form der Anspielung auf sie, die sich nicht in der Form des Wissens vollzieht: „What we need is a way for things to be accessible without being directly accessible in the manner of knowledge.“54 Da wir das Objekt ohnehin nie einholen können, gewinnen künstlerische Annäherungen ein ganz anderes Gewicht. Wir können auf das reale Objekt immer nur anspielen, uns ihm in metaphorischer Sprache nähern. Das Objekt sendet seinerseits eine Art Reiz, eine Verlockung aus („allure“), die Harman mit der Kunst in Beziehung setzt: „Allure means alluding to the existence of an object without replacing it with a literal description of its qualities. And this is precisely the type of communication of which artists already make use.“55 Die Ästhetik bietet so einen (wenngleich indirekten) Zugang zu den Dingen an sich und wird damit für Harman zur neuen ersten Philosophie. Dabei ist allerdings zu beachten, dass seine Begriffe von Ästhetik, Kunst und Schönheit nicht sehr klar begrenzt sind. Mit Ästhetik meint Harman „the study of the surprisingly loose relationship between objects and their own qualities“, als Kunst fasst er „the construction of entities or situations 53 Ebd., S. 52. Es fehlt jedoch eine Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern Wissenschaft dann überhaupt noch ein sinnvolles Unterfangen ist. Harman sieht dieses Problem selbst, denn er fragt: „In what sense does Einstein’s theory of gravity ‚more closely‘ resemble the truth than Newton’s, if – as OOO holds – every theory is separated from every reality by an unbridgeable chasm?” S. 169. Beantworten kann er die Frage freilich nicht. 54 Harman 2018 (wie Anm. 4), S. 118. 55 Ebd.

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reliably equipped to produce beauty, meaning an explicit tension between hidden real objects and their palpable sensual qualities“.56 Bei seinen bisherigen Überlegungen war die Unterscheidung zwischen dem immer entzogenen realen Objekt und seinen sinnlichen Qualitäten (RO/SQ) ja schon zur Sprache gekommen, es bleibt dann allerdings zu fragen, ob diese Spannung nicht alle Objekte betreffen müsste, womit dann aber alle Objekte schön wären (was offensichtlich nicht der Fall ist).

Kunst und Objekte Harman hat mehrfach auf die grundlegende Rolle der Ästhetik für die Philosophie hingewiesen und seine Theorie der Kunst kürzlich in einer Monographie zum Thema gemacht, in der er seine verstreuten Bemerkungen zusammenführt und auf den kunsthistorischen Diskurs um den Modernismus zuspitzt.57 Um die Funktionsweise der Kunst näher zu bestimmen, wendet sich Harman der Theorie der Metapher bei Ortega y Gasset zu. Die Gegenüberstellung von metaphorischer und wörtlicher Bedeutung soll den Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst kennzeichnen, wobei zu fragen bleibt, ob der Darstellungsaspekt dabei nicht überbetont wird. Als Beispiel wählt er in Art and Object bewusst kein literarisches Beispiel, sondern eine Art Kalenderspruch, der in dem Satz kulminiert: „A candle is like a teacher.“58 Verstünde man diesen Satz wörtlich, so Harman, könnten beide Begriffe (Kerze und Lehrer) gegen eine Liste ihrer Qualitäten ausgetauscht werden, was in diesem Fall aber zu absurden Ergebnissen führen würde. Stattdessen geht es bei der metaphorischen Bedeutung des Satzes – in der Sprache von Harman – um den mysteriösen realen Lehrer (RO), dem die sinnlichen Qualitäten (SQ) der Kerze zugeschrieben werden. Dies ist aber nur durch den Leser möglich, der diese Verbindung von realem Objekt und sinnlichen Qualitäten vollzieht. Darin besteht das theatrale Moment aller Kunst, das Harman gegen die Kritik Michael Frieds verteidigen möchte.59 In der Metapher werden einem Objekt neue sinnliche Qualitäten zugeschrieben, die von einem anderen Objekt gelöst wurden. Nach Harman tritt der Rezipient gewissermaßen als Schauspieler ein, um die frei flottierenden Qualitäten auszuführen, die mit 56 Harman, Art and Objects, Cambridge/MA 2020, S. XII. Später heißt es: „By aesthetics, OOO means the general theory of how objects differ from their own qualities.“ Ebd., S. 24. Und: „For OOO, the meaning of beauty is not some vague appeal to an ill-defined aestheticism, but is explicitly defined as the disappearance of a real object behind its sensual qualities.“ Ebd. 57 Vgl. das Kapitel „Aesthetics is the Root of All Philosophy“, in: Harman 2018 (wie Anm. 15), S. 59–102; Harman 2012 (wie Anm. 6); Harman 2020 (wie Anm. 56). 58 Ebd., S. 25. 59 Harman verfolgt hier insgesamt die Strategie einer partiellen Übernahme formalistischer Positionen, wie sie Clement Greenberg und Michael Fried prominent vertreten haben. Während er jedoch Frieds Kritik am Theatralen zurückweist, stimmt er der Kritik am Literalismus explizit zu.

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dem entzogenen realen Objekt nicht direkt verbunden werden können. Deswegen ist alle Kunst theatral. Der Rezipient springt für das metaphorische Objekt ein und verbindet sich mit den sinnlichen Qualitäten – damit ist aber nun keine neue Korrelation entstanden, sondern ein neues zusammengesetztes Objekt. Harman meint, dass Kunstwerke Zusammensetzungen aus einem unabhängigen Objekt und einem menschlichen Wesen sind: „the artwork is actually a compound made up of myself along with the independent object outside me that common sense thinks of as the artwork“.60 Er betont immer wieder, dass wir es hier nicht mit einer Form der Erkenntnis zu tun haben. „The minimal negative condition for something to count as an artwork is that it cannot primarily be a form of knowledge, whether of the undermining or the overmining sort.“61 Was ein solcher Lehrer mit Kerzeneigenschaften ist, können wir nicht wissen, wir können nur auf ihn anspielen. Harman zieht aus dieser Betrachtung der Metapher Schlüsse für Kunstwerke insgesamt, die er als autonome Objekte beschreibt. Ein Kunstwerk kann nicht durch die Beschreibung seiner physischen Eigenschaften (undermining), aber auch nicht durch seinen soziopolitischen Kontext beschrieben werden (overmining): „An artwork, of no matter what genre, is unparaphrasable.“62 In der Kunstphilosophie knüpft Harman damit an die klassische Autonomieästhetik und ihre Bedeutung für den Modernismus an und wendet sich von postmodernen Positionen ab.63 Grundsätzlich stört Harman natürlich die Subjektbezogenheit der Ästhetik bei Kant, allerdings erhält auch bei ihm der Betrachter in besagtem theatralen Setting eine zentrale Rolle. Harman führt aus, dass für das ästhetische Objekt der Betrachter geradezu unabdingbar ist, weil er mit dem physischen Ding erst gemeinsam das ästhetische Objekt bildet. Abgesehen davon, dass Harman hier an die phänomenologische Ästhetik, z. B. bei Roman Ingarden und Michel Dufrenne anknüpfen könnte, die sich beide mit dem ästhetischen Objekt befasst haben, ist doch überraschend, dass das menschliche Subjekt nun ausgerechnet in dem Bereich wieder ins Spiel kommt, dem zugestanden wird, die durch die theoretischen und praktischen Reduktionismen verursachten Probleme zu umgehen und einen Blick auf die realen Objekte zu eröffnen. In der Ästhetik entsteht eine Kluft zwischen einem realen Objekt und sinnlichen Qualitäten, die ihm zugesprochen werden. Nach Harmans Vorstellung tritt der Rezipient an die Stelle des realen Objekts und über60 Harman 2020 (wie Anm. 56), S. 45. 61 Ebd., S. 30. 62 Ebd. 63 Allerdings vollzieht seine Anknüpfung an Kant theoretisch doch einige Windungen. Für Harman ist Autonomie zwar der zentrale Begriff der kantischen Ästhetik, er kritisiert aber, dass Kant eine strikte Trennung von Mensch und Welt zur Bedingung der Autonomie des Kunstwerks mache. Autonomie solle bei Kant insbesondere die Autonomie der Menschen von der Welt bedeuten. Nun ist Harman nicht der einzige, der Kant eine dualistische Trennung zwischen Welt und Mensch vorgeworfen hat, aber speziell für die dritte Kritik muss man doch feststellen, dass Kant gerade im Bereich des Schönen eine Möglichkeit aufscheinen sah, Natur und Freiheit miteinander zu versöhnen. Hier spielt ja nicht zufällig das Naturschöne eine systematisch so wichtige Rolle.

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nimmt dessen Qualitäten oder stellt jedenfalls die Verbindung zu diesen her. Ohne Betrachter keine Kunst, so Harman: „beholders are needed for art just as carbon is required to form and organic chemical“.64 Wenn aber Betrachter und Objekt in einem solch engen Verhältnis stehen, stellt sich die Frage, inwiefern Harman hier nicht selbst korrelationistisch und anthropozentrisch wird, wenn es um Ästhetik geht. Wenn Harman schreibt, „[a]s soon as we are bored the artwork is no longer an artwork“65, ist schwer zu sehen, inwiefern hier eigentlich die Dinge an sich unabhängig vom Menschen zur Sprache kommen sollen.

Probleme und Perspektiven Ich breche meine Darstellung hier ab und füge einige kritische Überlegungen zu Harmans objektorientiertem Ansatz an. Dieser formuliert als erstes der Grundprinzipien der Objektorientierten Ontologie, dass alle Objekte mit gleicher Aufmerksamkeit bedacht werden müssten, seien sie menschlich oder nicht menschlich, natürlich, kulturell, real oder fiktional. Damit ordnet er sich ein in die Reihe von posthumanistischen Ansätzen, die sich gegen den Anthropozentrismus der modernen Philosophie wenden. Damit verbunden ist bei Harman die mehrfach erhobene Forderung, der menschliche Zugang zu den Dingen dürfe nicht gegenüber den Relationen zwischen den Dingen untereinander privilegiert werden. Bisweilen klingt das so, als handele es sich hier um eine Frage der Gerechtigkeit. Doch es ist ja nicht so, dass z. B. Kant den Blick von den Gegenständen hin zu den Erkenntnisbedingungen lenkt, weil der Mensch wichtiger wäre als alles andere, sondern weil wir als Menschen mit einem menschlichen Erkenntnisvermögen ausgestattet sind und nur mit diesem operieren.66 Dass Kant in der Moralphilosophie auch einen moralischen Anthropozentrismus vertritt, sollte nicht direkt mit diesem erkenntnistheoretischen Anthropozentrismus vermengt werden. Wir können die Welt demnach nur aus der menschlichen Perspektive sehen, was aber nicht automatisch heißt, dass Menschen besser oder wichtiger sind als andere Wesen. Alle interessanten Eigenschaften des Menschen, so Harman, machten ihn nicht automatisch „worthy of filling up fifty per cent of ontology“.67 Auch hier klingt es so, als handele es sich um Wert- und Verteilungsfragen und nicht um den erkenntnistheoretischen Gedanken der logischen Priorität der Erkenntnisbedingungen. Auch geht es in der transzendentalen Perspektive ja gar nicht um die konkreten Menschen, sondern um das transzendentale Bewusstsein.

64 Harman 2020 (wie Anm. 56), S. 174. 65 Harman 2018 (wie Anm. 15), S. 183. 66 Analog dazu wählt Heidegger in Sein und Zeit den Ausgangspunkt beim Dasein, weil das Dasein das Seiende ist, das wir je selbst sind. Diesen Punkt wird er freilich revidieren und sich dann für Harmans Position als Kronzeuge auch besser eignen. 67 Harman 2018 (wie Anm. 15), S. 56.

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An dieser Stelle ist noch einmal auf die grundsätzliche Korrelationismuskritik zurückzukommen, die besagte, die moderne Philosophie und insbesondere die Phänomenologie sei nicht fähig, die realen Objekte zu denken. Darauf könnte die Phänomenologie antworten, dass sie per definitionem über das spricht, was erscheint und sich darauf verpflichtet, bei der Erfahrung ihren Ausgang zu nehmen. Was der Erfahrung nicht zugänglich ist, was nicht in irgendeiner Weise erscheint, kann man nicht phänomenologisch beschreiben. Dass die Phänomenologie mit einem prinzipiell dem Zugriff entzogenen Objekt nicht umgehen kann, ist daher von vornherein klar. Husserl schreibt lapidar: „Das Universum wahren Seins als etwas außerhalb des Universums möglichen Bewußtseins, möglicher Erkenntnis, möglicher Evidenz, fassen zu wollen, beides bloß äußerlich durch ein starres Gesetz aufeinander bezogen, ist ein Nonsens.“68 Da Sinn nur innerhalb des transzendentalen Bewusstseins einen Platz haben kann, ist ein Außerhalb dann eben „Unsinn“ – wir können nichts Sinnvolles über es sagen, was aber noch nicht heißt, dass kein Außen existiert. Hier tritt Harman nicht in eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem umstrittenen Punkt bei Husserl ein. Auch dort, wo er positiv an Kant anknüpfen will, indem er von der Existenz von Dingen an sich ausgeht, fällt auf, dass Harman sich mit der Diskussion der kantischen Philosophie nicht lange aufhält. So ist die Interpretation der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich in der Kant-Rezeption ja keineswegs Konsens, sondern es stehen sich eine Zwei-Welten- und eine Zwei-Aspekte-Theorie gegenüber.69 Nach letzterer handelt es sich bei Dingen an sich und Erscheinungen nicht um zwei Klassen von Objekten, sondern es ist ein und dasselbe Objekt, auf unterschiedliche Weise betrachtet. Die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich wäre dann nicht als Unterscheidung auf der Gegenstandsebene zu verstehen, sondern auf der Ebene der Erkenntnisweise: Die Erkenntnis des Dinges an sich selbst wäre eine unbedingte Erkenntnis, welche den Gegenstand so erkennen würde, wie er frei von allen Bedingungen ist, während die Erkenntnis der Erscheinung den Gegenstand unter den Bedingungen menschlicher Erkenntnis betrachtet. So formuliert wird eine Erkenntnis der Dinge an sich problematisch: Wie soll ich etwas unabhängig von den Bedingungen meines Erkenntnisvermögens erkennen? Mit diesen Erkenntnisbedingungen müssen, wie Alexander Schnell betont hat, auch die anzestralen Aussagen übereinstimmen, von denen Meillassoux spricht – selbst wenn die Aussagen eine Zeit vor dem Menschen betreffen. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis sind schließlich selbst nichts, was empirisch in der Welt zeitgleich mit einer bestimmten Spezies vorkommt, sondern gehen der Erkenntnis logisch voraus. Mit der Abhängigkeit der Welt vom Bewusstsein ist eben nicht das empirische Bewusstsein

68 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge [1931], hg. und eingeleitet von Stephan Strasser, Den Haag 1963 [Hua I], S. 32 f. 69 Vgl. Gerald Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn 1974.

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gemeint.70 Wie bereits mehrfach bemerkt worden ist, greift Harmans Phänomenologiekritik zu kurz, die sich im Übrigen nicht mit aktuellen Forschungsdebatten auseinandersetzt, ebenso wenig wie seine Kant-Kritik. Die Aufspaltung in reale und sinnliche Objekte führt zu einer Verdopplung der Welt, deren Vorteile gegenüber dem phänomenologischen Ansatz noch aufgezeigt werden müssten. Dass immer etwas an den Dingen verborgen bleibt, dass die Welt nicht vollständig in unserem Wissen aufgeht, wer wollte das bestreiten? Aber dass wir deswegen die Dinge grundsätzlich immer verfehlen müssen, muss doch deswegen auch noch nicht gleich angenommen werden. Schließlich ist der Wissensbegriff, den Harman anlegt, so eng gefasst, dass für Philosophie und Kunst nur vage Anspielungen auf die Dinge übrigbleiben, aber z. B. der Bereich des geisteswissenschaftlichen Verstehens kaum angemessen berücksichtigt wird. Obgleich die Kritik an der Phänomenologie nicht trifft, steht hinter Harmans Projekt trotzdem ein legitimes Anliegen, nämlich das einer Aufwertung der Objekte, das aber auch mit der philosophischen Tradition und nicht gegen sie entwickelt werden könnte. So gibt es in der Phänomenologie selbst durchaus Bestrebungen, die zu enge Fokussierung auf das Bewusstsein zu überwinden.71 Anstatt so zu tun, als könne man aus unserer Erkenntnisweise kurz aussteigen und das Verhältnis von Bewusstsein und Objekten einmal von außen betrachten, kann man ausgehend von einem phänomenologischen Ansatz an den Grenzphänomenen der Phänomenologie arbeiten und dabei auch spekulative Elemente integrieren. So ließe sich ein Projekt fortführen, das Husserl und Fink bereits in den 1930er-Jahren begonnen, aber nicht zu einem Abschluss gebracht haben.72 In einer solchen offenen philosophischen Auseinandersetzung kann Harmans Hinweis auf den Entzugscharakter und die Rätselhaftigkeit aller Dinge durchaus ein Ansporn sein, unsere Haltung gegenüber ästhetischen und anderen Objekten wieder einmal neu zu durch­ denken. 70 Vgl. Alexander Schnell, Was ist Phänomenologie, Frankfurt am Main 2019, S. 137–162. 71 In der Phänomenologie zeigt sich das zeitgenössisch z. B. in der erhöhten Aufmerksamkeit für die Gegenständlichkeit bei Günter Figal. Auch Figal sieht die moderne Philosophie als ein „Entgegenständlichungsunternehmen“, das die Kluft zwischen dem Subjekt und dem, was ihm entgegensteht, tendenziell leugnet. Zwar steht der Gegenstand immer jemandem oder etwas entgegen, ist also immer in einem Bezug, aber er geht darin nicht auf. Das Gegenständliche kann nicht vollständig aus dem Subjektbezug erklärt werden; es ist zugänglich, aber es bleibt dabei auf Abstand. Auch für Figal besteht dann eine Möglichkeit, es in seiner Gegenständlichkeit zur Geltung zu bringen, darin, es künstlerisch darzustellen; vgl. Günter Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006, S. 126. 72 Vgl. zur Frage nach der Möglichkeit einer phänomenologischen Metaphysik Phänomenologische Metaphysik, hg. von Tobias Keiling, Tübingen 2020.

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Literatur Jocelyn Benoist, „Realismus ohne Metaphysik“, in: Der Neue Realismus, hg. von Markus Gabriel, Berlin 2014, S. 133–153. Günter Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006. Markus Gabriel (Hg.), Der Neue Realismus, Berlin 2014. Peter Gaitsch, Sandra Lehmann, Philipp Schmidt (Hg.), Eine Diskussion mit Markus Gabriel. Phäno­ menologische Positionen zum Neuen Realismus, Wien 2017. Graham Harman, Tool-Being: Heidegger and the Metaphysics of Objects, Peru/IL 2002. Graham Harman, Guerilla Metaphysics, Peru/IL 2005. Graham Harman, Der dritte Tisch, Berlin 2012. Graham Harman, Vierfaches Objekt, Berlin 2015. Graham Harman, Speculative Realism. An Introduc­ tion, Cambridge/MA 2018. Graham Harman, Object-Oriented Ontology. A New Theory of Everything, London 2018. Graham Harman, Art and Objects, Cambridge/MA 2020. Martin Heidegger, „Bauen Wohnen Denken“ [1951], in: Gesamtausgabe I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976, Bd. 7: Vorträge und Aufsätze, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, ­Frankfurt am Main 2000. Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927], Tübingen 192006.

Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge [1931], hg. und eingeleitet von Stephan Strasser, Den Haag 1963. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie [1936], hg. von Walter Biemel, Den Haag 1976. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781/87], nach der ersten und zweiten Original­ausgabe hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998. Tobias Keiling, Seinsgeschichte und phänomenologischer Realismus. Eine Interpretation und Kritik der Spätphilosophie Heideggers, Tübingen 2015. Tobias Keiling (Hg.), Phänomenologische Metaphysik, Tübingen 2020. Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Zürich und Berlin 2008. Gerald Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn 1974. Inga Römer, „Die Überwindung des ‚Korrelationismus‘? Über den ‚spekulativen‘ und den ‚neuen‘ Realismus“, in: Information Philosophie, Bd. 3, 2018. Alexander Schnell, Was ist Phänomenologie, Frankfurt am Main 2019. Dan Zahavi, „The end of what? Phenomenology vs. speculative realism“, in: International Journal of Philosophical Studies, Bd. 24, 2016 Nr. 3, S. 289– 309.

Diedrich Diederichsen

Sprechpassionen: Neues und Altes von der Spur

Ein sehr altes und auch nur zum Teil ästhetisches Objekt ist die Spur. Es ist im Zeitalter der technischen, insbesondere der Aufzeichnungsmedien zurückgekehrt. Es ist darüber hinaus ein mit anthropologischen, zeichentheoretischen und anderen Diskursen ziemlich überfrachtetes Objekt. Doch stellt sich meiner Ansicht nach im Dialog mit den aktuellen posthumanistischen, anti-anthropozentrischen und neo-materialistischen Diskursen eine alte Frage neu, rund um das neue deutsche Wort „Handlungsmacht“, das immer als Übersetzung von „Agency“ auftritt: Nämlich, ist die Spur artikuliert oder ist sie nur lesbar? Spricht irgendwer oder irgendwas per Spur oder ist die Spur genau das – wenn man so will – pessimistische, wenigstens skeptische Ding, das uns gerade sagt, dass es keine ästhetische Handlungsmacht der Objekte gibt, sondern nur ihre Lektüren, ein Umstand, der sie zu der Passivität zu verurteilen scheint, die ihnen traditionell zugeschrieben wird? Anders als die Spur im Großen und Ganzen, die vielleicht zunächst im Zusammenhang mit erkenntnistheoretischen Programmen, etwa dem ominösen Archifossil der spekulativen Realisten1 oder religiös-theologischen oder juridischen Diskursen aufgerufen wird, ist ein Untergebiet der Spur, der Index, längst in ästhetische Diskurse und Programme eingelassen. Vielleicht kann man sich auf meinen Vorschlag einer im Folgenden hilfreichen Minimaldefinition einlassen, dass Indices solche Spuren sind, deren Verursacher, Verursacherinnen oder Verursachung sich immer noch im selben Gebäude, im selben Bild oder zumindest im selben Gesichtsfeld aufhält. Ein für mich zentraler Befund für die Ästhetik des 20. Jahrhunderts, insbesondere für die zweite Hälfte, ist der Umstand, dass Kunstwerke, die sich der Aufzeichnungstechnologien Fotografie und Phonographie bedienen, immer mit indexikalen Anteilen arbeiten müssen. Diese sind zunächst nur schwer in die geläufigen ästhetischen Handlungsformen zu integrieren, eher taugen sie, das macht sie bei Avantgardisten denn gleich auch beliebt, dazu, das Ästhetische an sich zu unterwandern. Da sie eben gerade dadurch auffallen, dass sie nicht von der Künstlerin intendiert oder geplant sein können (dann würde sie nicht mehr als indexikal, sondern symbolisch oder ikonisch verstanden werden, als Mittel der Verständigung im weitesten Sinne), verweisen sie auf ein Außen der 1 Quentin Meillasoux, Nach der Endlichkeit, Zürich und Berlin 2008, S. 45: „Wir sollten, vom Archifossilen bewegt, die Spur des Denkens verfolgen und den ‚Geheimgang‘ entdecken, den dieses genommen hat, um zu erreichen, was die moderne Philosophie uns seit zwei Jahrhunderten als das schlechthin Unmögliche lehrt: aus sich selbst heraustreten, sich des Ansich bemächtigen, erkennen, was ist, – ob wir selbst sind oder nicht.“

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(künstlerischen) Absicht, gerne auch auf Produktionsbedingungen, insbesondere auf deren Armut (etwa in den zahlreichen Fassungen einer Camp- oder Trash-Ästhetik oder in der Aufwertung von Dilettantismus). Indexikale Elemente werden in der Fotografie zunächst benutzt, um ihre Eignung für objektive Zeugenschaft zu betonen und damit für die Genres des Dokumentarischen – Fotografie handelte buchstäblich jahrzehntelang davon, wie „die andere Seite lebt“.2 Das geht nur, wenn der gewissermaßen technisch-indexikale Charakter der Fotografie als ihre hieb- und stichfeste Verbindung zur Wirklichkeit auf der physikalischen Ebene eingesetzt werden kann, gerade auch um ihre politische Wahrheit zu untermauern. Später dient dieser indexikale Charakter zu existenzialistischen und phänomenologischen Reflexionen über die Sterblichkeit der Abgebildeten und die Vergänglichkeit des Moments – dies wird dann von Roland Barthes auch immerhin erst um 1980 in seiner Camera Lucida3 systematisiert. All dies bleibt aber in den ersten fünfzig Jahren des 20. Jahrhunderts und in den meisten Fällen auch weit darüber hinaus, in der Regel unreflektiert und in der Tatsache beschlossen, dass die Fotografie sich zur Reportage und zur Dokumentation eigne, nicht zur Kunst. Wenn sie Kunst werden will, muss sie durch verfremdende Lichtexperimente, bizarre Kamerapositionen oder auffällig künstliche Kompositionen dafür Sorge tragen, dass ihre ikonische und sogar symbolische Seite überwiegt. Es gibt natürlich jede Menge abweichende Praktiken von Eli Lotars Schlachthoffotografien und ihrer Rezeption durch Georges Bataille4 bis zum Cinema of Attraction, wie es Tom Gunning nennt,5 also all jenen am Schauwert von Fehlern, Slapstick etc. interessierten Formen aus der Frühzeit des Kinos. Aber generell und im Mainstream von Kunst und Kulturindustrie gilt: Kunst ist ikonisch, Doku ist indexikal, bzw. umgekehrt: alles was indexikal ist, ist Doku und was ikonisch, Kunst. Das ändert sich in jener Phase, in der Pop-Musik, Fernsehen und Experimentalfilm ihre große Stunde bekommen, im Verlauf der 1950er und 60er Jahre. Indexikalität erscheint nun als ein Vorzug, als erkannter Ort der medienspezifischen Attraktivität eines (technisch aufgezeichneten) Kunstwerkes, wenn auch meist nur intuitiv. Trotzdem gilt auch, schon zwanzig Jahre bevor Roland Barthes dies schreiben wird: man kann ein Punctum – also indexikale Attraktivität – nicht absichtlich herstellen. Schlechte Karten für Kunst.

2 Jacob Riis, „How The Other Half Lives – Studies in the Tenements of New York“, in: Scribner’s Magazine, Dezember 1889, gilt als der kanonische fotojournalistische Urtext dieses Zusammenhangs. Zu dessen Rezeptionsgeschichte vgl. auch Sara Blair, How the Other Half Looks – The Lower East Side and the Afterlives of Images, Princeton und Oxford 2018. 3 Roland Barthes, Die helle Kammer – Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989. 4 Georges Bataille u. a., Art. „Schlachthof “, in: Kritisches Wörterbuch, hg. von Rainer Maria Kiesow und Henning Schmidgen, Berlin 2005, S. 33 f. 5 Tom Gunning, „The Cinema of Attractions: Early Film, its Spectator and the Avantgarde“, in: Early Cinema: Space, Frame, Narrative, hg. von Thomas Elsaesser, London 1990, S. 56–62.

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Es gibt dann aber eben doch eine Reihe von Techniken, die sich in unterschiedlichen Performanceformaten, in der Pop-Musik, in Warhol-Filmen und schließlich auch in späteren kulturindustriellen Genres wie Pornographie oder Castingshows beobachten lassen, bei denen indexikale Effekte mehr oder weniger planvoll hergestellt werden, oft auch im Rekurs auf noch ältere Tricks von Bühne und Varieté. Diese Tricks bestehen z. B. darin, dass man etwas anderes tut als das, was einen Indexeffekt hervorbringen soll, etwa Rhythmusgitarre bei Velvet Underground spielen oder einfach nur semi-passiv sich beim Warten, Abhängen und Posieren von Fassbinder, Warhol oder Jack Smith oder einem Live-Publikum beobachten zu lassen, sich mithin nur bereitzuhalten, dass einen ein Blick trifft, wenn man nicht aktuell mit ihm rechnet – in der Hoffnung, dass so ein Punctummoment entsteht. Eine andere Möglichkeit ist es, Schauspieler oder andere Akteure zu überraschen, zu erschrecken oder auch regelrecht zu terrorisieren – wie es von Hitchcock bis Fassbinder den einschlägig Verdächtigen immer wieder nachgesagt wird – oder anderweitig zu erregen und auf diese Weise Index-Effekte zu erzielen. Später und jenseits von Underground-Musik und -Film führt man diese willkürlichen Realitätseffekte mit erklärenden, psychologisierenden und narrativen Momenten eng, so dass der Effekt zwar an Kraft verliert, aber sich leichter regeln und steuern lässt. Wir sehen, dass, um mit Index-Effekten zu arbeiten, also mit Momenten innerhalb oder neben oder am Rande ästhetischer Objekte, welche unmittelbar von der Realität verursacht sind, auf die sie verweisen, Künstlerinnen sich wahrscheinlich am besten para-künstlerisch zu nennenden Praktiken bedienen. Solche Praktiken stützen sich oft stark auf Psychologie, die Logik von Hierarchien und Unterwerfung etc., bedienen sich aber auch gerne euphemistisch der Rhetorik und Theorie von Partizipationskunst, bilden schließlich auch zur Sprache von Therapie und Esoterik Schnittmengen und Übergänge aus. Dazu gibt es eine auch schon länger zu beobachtende Rückwirkung der mit indexikalen Aufzeichnungen arbeitenden Künste auf die Live-Künste. Diese besteht oft in einer Steigerung der Liveness anzeigenden Mittel, also in einer etwas verkürzten medienkonkurrenten Interpretation der Indexeffekte – die ja zum einen nur entstehen, wenn ein Ereignis schon vorbei ist und auch gerade daraus ihre Kraft beziehen. Die zum anderen aber umso stärker wirken, je weniger sie beabsichtigt zu sein scheinen, weswegen auch hier wieder gerne eine andere Beschäftigung als absorbierend vorgetäuscht wird. In Theater und Performance werden aber tendenziell Mittel der Bezeugung und Bekräftigung einer Verursachung eingesetzt – in den immer wieder aufflammenden kulturkonservativen Anti-Regietheaterressentiments ist dann immer sprichwörtlich von Blut und Schreien die Rede –, einer Verursachung, die eh nie infrage gestellt oder erst zu entdecken und zu erspüren war: als wollte man einen Voyeur ins Striplokal schleppen. Die Spur – und über sie kommunizieren wir ja wesentlich mit Objekten oder nichtmenschlichen Subjekten – ist nun aber noch eine Steigerung des Index: Sie handelt nicht nur von etwas, das vorbei ist oder nicht mehr im Gesichtsfeld, sondern auch von etwas, dessen Verursachung überhaupt nicht klar ist: sie muss ermittelt werden. Anders als fo-

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tografische Indexeffekte, die uns in Verbindung mit dem narrativen Anteil des Fotos zu rühren vermögen, verursacht etwa durch den Körper einer abgebildeten Person, die aber schon lange tot ist oder bis zur Unkenntlichkeit gealtert, wissen wir bei der Spur nur, dass sie verursacht ist, aber nicht von wem. Dies macht sie für Theologen und spekulative Realistinnen so interessant. Was sich unserem Sehen und anderen Erkenntnissinnen entzieht, ist keineswegs nicht immer schon weg gewesen, es muss da gewesen sein, um verursacht haben zu können – und könnte folglich nach messianischer Logik auch eines Tages zurückkommen. Anders als das Gefahr anzeigende, aber außerhalb unseres Blickfeldes ertönende Geräusch, kompensieren wir die Unsichtbarkeit nicht durch einen anderen Sinn, ein anderes Sinnesorgan und legen so den Grundstein für Medienarchitekturen und können in Echtzeit die Flucht ergreifen oder uns auch einfach nur umschauen. Nein, für die Spur und ihre Lektüre unterbrechen wir das Handlungskontinuum und analysieren oder dechiffrieren sie unter bestimmten Rahmenbedingungen und Versuchsanordnungen. Die Spur selbst hat ein eigenartiges Verhältnis zu diesem Kontinuum der Echtzeit. Zum einen ist sie aus der Zeit gefallen, ja das Unzeitgemäße ist einer ihrer wesentlichen Bestimmungsgründe. Das uns Interessierende, mit dem sie in Verbindung steht, ist mindestens vorbei. Dennoch bildet sie aber, zumindest in einer ganzen Reihe von auch etymologisch relevanten Fällen nicht nur einen Zeitpunkt ab, sondern sie stellt eine Art von Ordnung unter den abgeschlossenen und vergangenen Vorgängen her, die ihrerseits kontinuierlich ist. Wir nennen eine Spur ja auch eine aus zwei parallelen Vertiefungen oder Erhöhungen bestehende Gleiskonstruktion. Wir heben etwas in die Spur, eine Spielzeuglokomotive. Eine Spur zeigt auch eine Routine an, eine stabilisierende Kontinuität, von der wir sprechen, wenn wir erwähnen, dass jemand oder etwas völlig aus der Spur geraten ist. Mir geht es nicht darum, mit Etymologie Bedeutungsschichten freizulegen, sondern das Thema der Kontinuität und der Diskontinuität, das normalerweise vor allem im Verhältnis der Spur zu ihrem Bezugspunkt und ihrem Verursacher aufgespannt wird, auch im Inneren der Spur selbst zu lokalisieren. Eine Spur bezieht sich nicht auf ein punktuelles Ereignis: hier ist der Wolf, der Treck, der Mörder vorbeigekommen, hier ist vor 66 Millionen Jahren ein Meteor eingeschlagen, hier steckt ein Splitter von einer neuen Handgranate im Unterkiefer des Opfers, hier hatte Willem de Kooning offensichtlich schon Alzheimer. Vielmehr wird an all diesen Beispielen ersichtlich: eine Spur bezieht sich auf eine Bewegung. Dass wir uns bei der Lektüre die Zeit nehmen, diese Bewegung so zu behandeln als sei sie angehalten (und nicht einfach nur vorbei), dass wir nach Belieben in unterschiedliche Stadien der Bewegung einsteigen, hat nicht nur mit den Prozeduren von wissenschaftlicher, hermeneutischer, kriminalistischer Wissensproduktion zu tun, sondern auch mit der Bewegtheit der Bilder im Film, die in nahezu allen narrativen Genres in einer ewigen Dialektik mit Anhalten, Stoppen, Unterbrechen, Rückblenden und Rekonstruktionen verbunden sind – eine Dialektik, die sich in der aktuellen Serienkultur noch einmal massiv verschärft hat.

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Ganze Genres und Subgenres widmen sich der extensiven Analyse von Spuren oder besser der Erzählung von einem Leben, das der extensiven Analysen von Spuren gewidmet ist. Lang sind die Zeiten vorbei, als die Lebensform der Entzifferung auf den indivi­ dual-anarchistischen Privatdetektiv und den staatstragenden Kommissar beschränkt blieb und sich allein des Whodunit-Narrativ bedienten: Heute, wo „Tatort“-Kommissarinnen Vergangenheiten im Hausbesetzermilieu oder schwere Drogen- und Alkoholprobleme zugeschrieben werden, sind alle Detektivinnen und Kommissare in die Plots, die sie ermitteln, selbst verwickelt und niemand schaut mehr auf eine Spur von außen. Hinzu kommen hochindividualisierte und sozial diverse Forensikerinnen, Profiler, vor allem aber ein zu diversen Dramenformen aufgeblasener Justizapparat. Das Courtroom-Drama als eine besonders von der Dehnung, Verlängerung und Rekonstruktion geprägte Erzählform ist als Modul oder Hauptsache zu einer universell einsetzbaren Heterochronie gewachsen, an der ein Publikum es besonders genießt, wie die stets überfordernde Echtzeitaktion, von jeder Bedrohlichkeit entkleidet, rekonstruierbar wird und so das beruhigende Gefühl erzeugt, dass bei angehaltener Zeit sich jeder Überwältigungsakt des Actionkinos unter die Lupe der Verlangsamung und Rekonstruktion legen lässt. Dass sie nicht einfach als Datum ausgewertet werden kann, sondern als ehemalige Bewegung gelesen werden muss, macht die Spur und ihre Erzählung zu einem Genussmittel, aber im Gegensatz zu den üblichen Vorstellungen von Aktivierung oder Illusionsentertainment verlangsamt sie, indem sie das, was längst zum Stillstand gekommen ist, wieder in Bewegung setzt. Ihr im Verhältnis zu den Bewegungen der Echtzeit posthumes Leben ist eine Art Trost für die klassischen Akzelerationsopfer – die Überforderten des Selbstoptimierungskapitalismus. Dieser Trost arbeitet scheinbar mit einer Version der Entzeitlichung, wie man sie ästhetischen Erfahrungen zuschreibt, die allerdings in einem ganz entscheidenden Punkt dieser unterlegen ist oder hinter sie zurückfällt: Verlangsamung ist nicht ohne Zeit, im Gegenteil. Sie ist die reine Langeweile. In den Gattungen, die mit Spurentzifferungsnarrativen arbeiten, wird eine offene Reflexion auf ein Ereignis, eine Echtzeits- und Lebendigkeitszumutung erlebt, aber unter einer Anleitung und in gewissen mehr oder weniger eng gesetzten Rahmen. Die Idee der ästhetischen Erfahrung als eine aus der Echtzeit herausführende, nicht auf die zur Wahrnehmung und Auffassung des Kunstwerkes notwendige Zeit beschränkte Erfahrung erscheint gewissermaßen in einer abgeschwächten, domestizierten und tendenziell entmündigten Version: Nicht das Subjekt erfährt sich in seiner Subjektivität, indem es sich anhand der ästhetischen Erfahrung radikal aus der Zeitlichkeit und alltäglicher Zweckgebundenheit herausbewegt, sondern dem Subjekt wird eine mehr oder weniger standardisierte Uchronie oder Achronie angeboten oder erzählt. Der Ausstieg aus der zur gleichen Zeit steigenden Nachfrage nach Immersion, Action, Echtheitseffekten zur Suspension alltäglicher Ursächlichkeit hin zur Ursachennarration, zur gebrochenen, zerlegten Ursachenerzählung ist so etwas wie eine gecoachte Erfahrung, die entfernt der

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ästhetischen nachgebildet wurde und zusammen mit den Echtheits- und Immersionsästhetiken zwei auseinandergebrochene Hälften bildet. Die Spur ist in diesen erzählerischen Verarbeitungen natürlich nicht artikuliert; sie wird von Dechiffrierungserzählungen an die Hand genommen. Sie ist, um es auch in der Sprache der spekulativen Realisten zu sagen, extrem korrelationistisch insofern sie nicht erst durch Deutung als diese Erzählung entsteht und diese Deutung nicht sehr stark auf bestehenden Traditionen und gemeinsam entfalteten, sozial vermittelten Verfahren basiert. Vielmehr wird die Spur, wie wir sehen werden, erst als Zeugin eines einst bewegten Geschehens konstruiert, wenn Menschen eine Idee dieser Bewegung vorab oder auch in der Lektürezeit entwickeln. In der Serie The Wire von David Simon und anderen gibt es eine berühmte Szene, in der zwei Polizeibeamte anhand von Einschusslöchern, nachgestellten Flugbahnen und Lageskizzen einen Mordfall rekonstruieren, ohne dabei ein anderes Wort auszusprechen als „Fuck“, sich dabei aber so gestenreich verständigen, dass es dem Publikum leicht fällt, nachzuvollziehen, was die beiden bei dieser Tatortbegehung entdecken und rekonstruieren. Zugleich demonstrieren sie, dass die Spur und Spuren, die hier gefunden, auf die verwiesen und die mit unterschiedlichen nichtwortsprachlichen Mitteln dargestellt und kommentiert werden, nichts sind ohne diese interpretierende Performance vor den staunenden Augen der Zuschauer und eines Hauswartes, der den beiden Beamten die Tatortwohnung aufgeschlossen hat. In diesem Beispiel entsteht eine Spur nur durch die kommunikative Komposition von verschiedenen Symptomen, aus verschiedenen Medien, wenn man so will sogar aus verschiedenen Ontologien: ein Kollege, der sich für einen abgelegenen und längst vergessenen Fall interessiert und performative Verkörperungen von Täter und Opfer sowie Fotografien als indexikale Bezeugungen nicht des Lebens, sondern der Lage eines toten Körpers. Die Artikulation gehört wie die Reflexion ganz auf die Seite der Rezipienten der Spur. Wie müsste man mit einer Spur umgehen, um an ihr tatsächlich eine eigene (gegebene) Artikuliertheit zu bemerken? Zunächst müsste es darum gehen, auf jede Heuristik zu verzichten. Man kann nicht an einem bestimmten Wissen und seiner Ermittlung interessiert sein, sondern müsste einen Wirklichkeitsausschnitt, den man als artikulierte Spur zur Kenntnis zu nehmen sich vorgenommen hat, unabhängig von einem spezifischen Interesse anschauen. Das verliefe sogar durchaus noch parallel mit einer Ästhetisierung der Spurenlektüre. Es kann aber nicht nur darum gehen, ein spezifisches Interesse und damit verbunden, eine spezifische Perspektive zu vermeiden. Artikuliertheit hieße ja auch, dass eine andere ganz wesentliche Praxis des Spurenlesens unterbunden sein müsste, das Ergänzen. Die grundsätzliche Annahme, dass Spuren und mit ihnen die Artikulation von Objekten immer unvollständig sind, also ihr Paradigma immer das Fragment und die Ruine sind, mithin Genres romantischer Expression, liegt daran, dass traditionell Objekte eben immer nur dann sprechen, wenn sie romantisiert sind, in Märchen und anderen literarischen und

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künstlerischen Produktionen des 19. oder späten 18. Jahrhunderts auftauchen. Wir müssen uns zumindest im Sinne meiner Frage aber die Spur als artikulierte auch als eine vollständige Äußerung vorstellen. Bisher haben wir aber nicht nur gesehen, wie die Lektüre der Spur wie eine reflexive ästhetische Erfahrung und deren Operationen abläuft, wenn auch eine behinderte oder geleitete oder an der Hand geführte Version davon; wir hätten auch sehen können, dass die Leserinnen der Spur in allen bisher vorgestellten Versionen sich die zum Zustandekommen der Spur notwendigen Vorgänge ihrerseits so plan- und absichtsvoll im Register eines sich verhaltenden und operierenden Subjekts imaginiert haben. Die Lektüre der Spur produziert einen Autor der Spur, einen Schreiber. Die bloße Abwesenheit dieses Schreibers und dieser Ursache hat nicht geholfen und seine Interpretinnen nicht daran gehindert, dieser abwesenden Ursache dann gleich wieder theologische Dimension zuzuschreiben und einen Gott, also wieder ein Subjekt als abwesende Ursache einzusetzen, statt einfach nur unheimliche oder allgemeiner magische und obskurantistische Zustände und Ursachenverkettungen. Wenn man nun aber – ästhetisch gesprochen – von Schön auf Erhaben schaltet, mithin bei der vorausgesetzten Produktion, nicht unbedingt bei der Rezeption, kein Subjekt setzt, sondern Natur oder eine natur-artige, a-subjektive Ursache? Wenn man nicht mehr dem Täter auf der Spur ist, sondern irgendetwas zwischen Urknall und allmähliche Verfertigung des Erdöls beim alltäglichen tektonischen Hin- und Herschieben? Die Artikuliertheit der Spur würde immer da relevant und auffällig werden, wo die gott- und subjektsucherischen Relevanzkriterien für die Details und Dauer der Spur nicht mehr greifen, keine Daten und keine Aufschlüsselungen über zusätzliche Fakten mehr möglich sind, sondern Spuren nur noch Eindruck machen, beeindrucken (Druck machen, drucken ist ja eine zentrale Tätigkeit von Spurenproduzenten). Einen solchen Umgang mit der Spur und mit Spuren, der sich auch der geologischen Langeweile und anderen Elementen der Dauer und der Überschüssigkeit stellt, kennen wir eher in der Kunst als dort, wo aus welchen wissenschaftlichen, kriminalistischen, detektivischen Gründen auch immer Spuren gelesen werden. In der Kunst, gerade in den von spekulativen Realistinnen und objektorientierten Ontologen geliebten Genres wie Soundart, Drones, Tarkowski-oiden Videoarbeiten, Satelliten- oder Überwachsungskamerafilmen, erlebt man gegenwärtig einen Boom der großen Dauer, der tektonischen Tempi und des zunehmenden Ausstiegs aus unidirektional konstruierten künstlerischen Genres. Aggressive Aktivierung des Publikums, Verschwinden intentionaler Expressiver zugunsten von Moderatorinnen, Spielleitern und Therapeutinnen (spätestens seit der Ära Schlingensief) auf der einen Seite, Passivierung, Geologie, Trance, Immersion auf der anderen – Genres, in denen nicht mehr Person A einem Kreis von ihresgleichen etwas berichtet, sondern in dem mehrere Personen gemeinsam etwas erleben; etwas, das mit größeren Abständen (in Raum und Zeit) zu tun hat, die so etwas wie Entzifferung gar nicht mehr zulassen, sondern nur noch ein Gefühl für diese Distanzen.

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Wenn man Spuren so im Modus einer Erhabenheits- oder Naturästhetik gegenübertritt, weder im Modus des Romanlesens noch einer anderen Exegese, dann ergibt sich vielleicht aber auch noch eine andere als nur eine kunstanaloge Rezeption von Spuren, eine Rezeption ihrer Entferntheit und Zufälligkeit, nicht dessen, worauf sie verweisen könnten. Zumal ja die Rezeption von Indexikalität, also vereinfacht gesagt, von unwillkürlichen Spuren von etwas, das mit der Spur zusammen anwesend ist, wie dargelegt eine zentrale und gut funktionierende Praktik zeitgenössischer Kunst geworden ist. Aber dass auch Kunst versucht, etwas zum Sprechen zu bringen, das größer ist als ein Subjekt oder etwas prinzipiell anderes, ist im Grunde seit Turner und Debussy schon eingeführt und vielleicht ist dieses größer als dann doch zu nahe auch an Pantheismus und Gottsucherei überhaupt. Schließlich sind auch die abwesenden, desinteressierten und übellaunigen Gottheiten eben dies: Gottheiten. Was aber, wenn die Metapher für die Ursache der Spur oder besser für den Zusammenhang von Ursache und Spur weder Natur und Wirkung noch Urheber und Absicht oder unwillkürliche Wirkung sei, sondern einfach Rohstoff? Man verstehe die Spur, die irgendwann und irgendwo angehaltene, mehr oder weniger geordnete Bewegung als ein Dispositiv eines Handelns oder Agierens von verschiedenen Beteiligten, darunter solchen, denen traditionell Objektstatus zukommt und solchen, denen Subjektstatus zukäme. Man käme so durchaus in die Nähe von Latour’schen Akteur-Netzwerk-Modellen, nur ohne die Verpflichtung auf entweder Wissenschaft oder Kunst, also auf institutionelle und informelle, aber tradierte Rezeptionsstile und -orte, sondern zu dem, was der Rohstoff, wenn man so will, verlangt. Es ist schwer, hier mit Sätzen weiter zu kommen, die natürlich mit Subjekt, Prädikat und Objekt operieren; es soll ja auch gar nicht um ein schlecht metaphysisches Beschwören von gleichzeitig Verursachungsverhältnissen und der Suspension jeder Verursachungslogik gehen. Aber wenn man die Spur als vollständig und artikuliert denken will und nicht nur als fragmentarischen Ausdruck des größeren Ganzen, muss man sie sich als ein dem Rohstoff ähnliches Material denken, das sich wie dieser mobilisieren oder entschärfen oder applizieren lassen kann – und um genau die Legitimität und Pragmatik dieses entschärfenden oder mobilisierenden Handelns müsste es gehen. Bleibt ein letzter Gedanke: Was ist die vollständige Spur politisch? Oder: Gibt es die Spur politisch, historisch, philosophisch in einem relevanten Sinne als Aussage über politische Potenziale? Die unvollständige Spur ist ja deswegen unvollständig, weil das, was sie bevor sie Spur wurde und verlassen wurde vom Verursacher, sich zu einem Teil mitsamt dem Verursacher ins Wirkliche verflüchtigt hat. Das Wirkliche kann man nicht mit Extrazeit und prozessualen Verfahren lesen, das ist das bereits am Beginn dieser Überlegungen angeführte Echtzeitproblem. Die vollständige Spur ist etwas, das begonnen wurde und nicht wirklich wurde oder eben nur als Spur. Dies wäre mit Hegel gesprochen das Unvernünftige, das Fehlerhafte – das zu einem bestimmten Zeitpunkt zumindest unvernünftig oder fehlerhaft war, aber dies ja nicht für alle Zeiten bleiben muss.

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Dieses Unvernünftige von Hegel ist aber zugleich die gescheiterte Revolution und das Außereuropäische. Für Édouard Glissant steht die Spur für die Revolte, für das nicht zur offiziellen europäischen Geschichtsschreibung zugelassene Schicksal verschleppter Afrikaner und Afrikanerinnen, und generell für ein Anderes, das sich aber nicht ontologisch außerhalb des Geschichtsfähigen abspielt, sondern ebendort, aber in einem subversiven Verhältnis zu den Kategorien des Historischen.6 Insbesondere entdeckt er diese Spur in den kreolischen Sprachen der Karibik. Diese Spur ist artikuliert, sie verweist direkt, zwar nicht vollständig, aber unzweideutig auf eine Geschichte ihrer Sprecher außerhalb der Sprache, mit der sich die Kreolsprache gemischt hat. Wie ein Index koexistieren sie mit einem heterologischen Medium, der Kolonialsprache, und artikulieren doch etwas eindeutig von ihr Abgegrenztes. Es ist klar, dass anders als bei den erkenntnistheoretischen Ambitionen neuer Materialistinnen und spekulativer Realisten es hier nicht darum geht, eine Erkenntnistheorie und dazu oder dabei Kosmologie zu korrigieren, sondern einen Begriff von Geschichte; es geht nicht um Spuren vom Typus Fossil, sondern vom Typus Schrift, Kulturobjekt, Dokument. Von einer Spur spricht auch Greil Marcus im Titel seiner alternativen Geschichte revolutionärer Bewegungen von Wiedertäufern bis zu Punkrockerinnen mit dem Titel Lipstick Traces.7 Die Spuren von Lippenstift finden sich in dem Doowop-Song, auf den sich Marcus‘ Titel bezieht, auf einer Zigarette – „Lipstick Traces on a Cigarette“. Sie eröffnen ein Panorama von Anzeichen, Spuren, Indices, die auf eine Parallelgeschichte von revolutionären Erhebungen verweist, deren Verbindendes nicht in der Kontinuität liegt, sondern im Akt des plötzlichen Auftauchens und, so möchte ich ergänzen, in der viralen Verbreitung. Spuren sind hier sehr weit gefasst: so ist die Namensähnlichkeit von Sex-Pistols-Sänger Johnny Rotten, der bürgerlich John Lydon heißt, und einem millenaristischen Revolutionär im spätmittelalterlichen Münster, Johann von Leyden, ein Indiz, das auf die abgebrochene, unterbrochen oder unterirdische Kontinuität oder Nichtkontinuität von zwei Aufständen verweist. Nicht weil es ein so artikuliertes und probates Mittel ist, von etwas zu erzählen oder auf etwas zu verweisen, ist die Spur für Marcus ein notwendiges Tool der alternativen oder Anti-Geschichtsschreibung, sondern weil die gescheiterten Aufstände keine andere Chance hatten, zu Späteren, Anderen, Nachgeborenen zu sprechen als durch dieses Medium. Das hat – und mit diesem Problem möchte ich enden – natürlich den Nachteil, dass solches Spurenlesen den Aufständen und den Gegengeschichten ein solches Schicksal des Scheiterns und des Verbleibs im historischen Untergrund des Hegelianisch Unvernünftigen gewissermaßen als unabdingbare Eigenschaft zuschreibt. Das ist ein Teil jener Romantik, die bei der Begeisterung für Spuren immer mitschwingt. Aber was wäre die Alternative? Das Datum? 6 Édouard Glissant, Kultur und Identität – Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg 2005, S. 51 ff. 7 Greil Marcus, Lipstick Traces: A Secret History of the Twentieth Century, Cambridge/MA 1989.

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Literatur Roland Barthes, Die helle Kammer – Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989. Georges Bataille u. a., Art. „Schlachthof “, in: Kritisches Wörterbuch, hg. von Rainer Maria Kiesow und Henning Schmidgen, Berlin 2005, S. 33 f. Sara Blair, How the Other Half Looks – The Lower East Side and the Afterlives of Images, Princeton und Oxford 2018. Édouard Glissant, Kultur und Identität – Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg 2005.

Greil Marcus, Lipstick Traces: A Secret History of the Twentieth Century, Cambridge/MA 1989. Tom Gunning, „The Cinema of Attractions: Early Film, its Spectator and the Avantgarde“, in: Early Cinema: Space, Frame, Narrative, hg. von Thomas Elsaesser, London 1990, S. 56–62. Quentin Meillasoux, Nach der Endlichkeit, Zürich und Berlin 2008. Jacob Riis, „How The Other Half Lives – Studies in the Tenements of New York“, in: Scribner’s Magazine, Dezember 1889.

Petra Lange-Berndt

Treehugging Kontaktzonen von Kunst und Ökologie

Water my roots the natural thing Natural spring to the sea Sulfur springs make my body float Like a ship made of logs from a tree Redwoods talk to me Say it plainly The human name Doesn’t mean shit to a tree Jefferson Airplane, Eskimo Blue Day, Album Volunteers, 19691

Wie kaum ein zweites Gelände galt der Hambacher Forst um 2018 als Symbol des Widerstands; hier protestierte die Anti-Kohlekraft-Bewegung gegen Umweltzerstörung durch die fossile Energieindustrie. Seit 2004 kam es an diesem Ort immer wieder zu Demon­stra­ tionen sowie der Errichtung von Protestcamps oder Barrikaden. Vom Tagebau betroffene Bewohner, Umweltverbände und Bürgerinitiativen forderten in einem gemeinsamen Appell den vorläufigen Rodungsstopp des Waldes, daraufhin räumten mehrere Hundertschaften der Polizei das Gebiet, doch die Auseinandersetzungen gehen weiter.2 In diesem Zusammenhang sind Baumbesetzungen zu verzeichnen; im Wald befanden sich etwa vierzig bis sechzig Baumhäuser in mindestens drei autonomen „Dörfern“ (Abb. 1).3 Entsprechender Aktivismus besitzt zahlreiche, bis in die 1970er Jahre zurückreichende Vorläufer. Ende der 1990er Jahre verbrachte etwa Julia Butterfly Hill, „a dirty, grungy, hairy, tree-hugging, leftist, extremist, radical environmentalist“, 738 Tage auf einem sechshundert Jahre alten kalifornischen Redwood-Baum.4 In einer Gegenwart, die von vielen als anhaltende Krise erlebt wird, sowie in Zeiten der zunehmenden Ökonomisierung und Normie1 Ich danke Diedrich Diederichsen für den Hinweis auf diesen Song. 2 Siehe die entsprechenden Wikipedia-Einträge „Räumung des Hambacher Forsts 2018“, https://de.wikipedia.org/wiki/Räumung_des_Hambacher_Forsts_2018 [15. September 2019]; „Hambacher Forst“, https:// de.wikipedia.org/wiki/Hambacher_Forst#Widerstandsbewegung [15. September 2019]. 3 Siehe Bernd Müllender, „Der Wald bleibt, der Wald geht. Die einen wohnen in Baumhäusern. Die anderen kommen in Hundertschaften. Tag eins der Räumung eines Symbols“, in: tageszeitung, 13. September 2018, https://taz.de/Raeumung-im-Hambacher-Forst/!5533563/ [15. Sept. 2019]; https://de.wikipedia.org/wiki/ Hambacher_Forst#cite_ref-118 [15. September 2019]. 4 Zudem ist diese Aktivistin gläubige Christin, siehe Julia Hill, Legacy of Luna: The Story of a Tree, a Woman, and the Struggle to Save the Redwoods, New York 2000, S. 70.

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1 Baumhäuser im Hambacher Forst, Februar 2018.

rung institutioneller Strukturen, erhält die Suche nach alternativen Lebensstilen erneute Anziehungskraft. Spätestens seit der Occupy-Bewegung von 2011 könnte behauptet werden, dass ein neues Zeitalter der Besetzung eingeläutet wurde – mit temporären Zeltlagern oder eben Baumhäusern erhält öffentliches Aufbegehren eine veränderte räumliche Dimension. Bäume bewegen uns schon lange zum Engagement in und mit der Welt. Aus dieser Perspektive möchte ich künstlerische Interaktionen mit diesen Pflanzen und mit ihnen verbundenen Architekturen, Gegenkulturen und Weltentwürfe fokussieren. Dabei steht die Handlungsmacht von Bäumen und die Verstrickungen dieser Vegetation innerhalb des vom Menschen initiierten Kapitalozäns im Mittelpunkt.5 Zunächst definiere ich das „Ding“ Baum, dann steht mit dem Künstler Giuseppe Penone aus der ökologisch motivierten Perspektive der Zeit um 1968 eine erste Annäherung zwischen Mensch und Pflanze im Mittelpunkt. Im Anschluss und unter Bezugnahme auf eine Performance von Gordon Matta-Clark sowie hiermit verbundenen Countercultures diskutiere ich die Geschichte des Baumhauses seit der Französischen Revolution und daran anschließend die indische Protestbewegung Chipko. Aus der Warte der Dematerialisierung und des Ökofeminismus wird die Konstellation von Subjekt und Ding, wie sie sich etwa bei Penone findet, revidiert und abschließend ein Blick auf die molekulare Ebene einer Interaktion von Mensch und Baum in der Gegenwartskunst geworfen. Wie also provozieren Bäume

5 Siehe Donna Haraway, „Tentacular Thinking: Anthropocene, Capitalocene, Chthulucene“, in: e-flux journal, Nr. 75, September 2016, S. 1–17; Owain Jones und Paul Cloke, „Non-Human Agencies: Trees in Place and Time“, in: Material Agency: Towards a Non-Anthropocentric Approach, hg. von Carl Knappett und Lambros Malafouris, New York 2008, S. 79–96. Ich danke Ilka Becker für diesen Hinweis.

Treehugging

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uns zum Handeln? Wie haben Schaffende eine Annäherung an diese Pflanzen thematisiert? Wollen Bäume überhaupt umarmt werden? Und was passiert, wenn Künstler*innen diese Annäherung intensivieren?

Bäume als Grenzgänger*innen Ein Baum ist eine verholzte Pflanze, die aus einer Wurzel, einem daraus emporsteigenden, hochgewachsenen Stamm und einer belaubten Krone mitsamt Blüten und Früchten besteht. Ist ausreichend Licht, Wärme und Wasser vorhanden, wachsen diese Samenpflanzen in Ringen und nehmen kontinuierlich an Umfang zu.6 Sie können wesentlich älter werden als Menschen und überdauern mehrere hundert Jahre, an bestimmten Standorten sogar mehrere tausende Jahre wie die 9550 Jahre zählende Fichte Old Tjikko im schwedischen Nationalpark Fulufjället.7 Holz ist einer der Grundstoffe menschlicher Kulturtätigkeit; die Skulptur der Moderne mit ihren Primitivismen tilgte jedoch die Assoziation an den Ursprung des Materials, den Baum, weitgehend.8 Mit der Popularisierung ökologischer Zusammenhänge seit den 1960er Jahren haben sich Künstler*innen intensiv mit genau diesen Pflanzen auseinandergesetzt. Etwa Giuseppe Penone umarmte 1968 einen Baum und Der Baum wird sich an die Berührung erinnern (Abb. 2). Denn nach diesem zärtlich anmutenden Akt markierte der Künstler die ehemalige Kontaktzone mit Nägeln und Eisendraht, so dass die Pflanze in ihrem Wuchs beeinflusst wurde und Narben ausbildete. Für Er wird weiter wachsen, außer an diesem Punkt, errichtet im selben Jahr, ließ Penone seinen rechten Unterarm in Stahl gießen und verband diese Plastik mit dem Stamm eines noch jungen Baumes (Abb. 3).9 Zeitgleich schrieb der Künstler: Ich spüre den Atem des Waldes, höre das langsame und unaufhaltsame Wachsen des Holzes, schmiege meinen Atem an den der Pflanze, spüre das Gleiten des Baumes um meine auf den Stamm gestützte Hand. [...] Die Hand versinkt in dem Baumstamm, der wegen der Geschwindigkeit des Wachstums und der Plastizität der Materie das ideale flüssige Element ist, um gestaltet zu werden.10 6 Für eine Kulturgeschichte des Baumes aus bürgerlicher Perspektive siehe Alexander Demandt, Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte, Köln, Weimar und Wien 2002. 7 Hda/dpa, „Schwedische Fichte stellt Alters-Weltrekord auf “, in: Spiegel Online, 17. April 2008, https://www. spiegel.de/wissenschaft/natur/9550-jahre-alt-schwedische-fichte-stellt-alters-weltrekord-auf-a-547973. html [15. September 2019]. 8 Wolfgang Kemp, Art. „Holz“, in: Lexikon des künstlerischen Materials, hg. von Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt, München 2010, S. 145–154, S. 151. 9 Dieses Projekt wurde an verschiedenen Orten ausgeführt, siehe Giuseppe Penone. Scultura, hg. von Gianfranco Maraniello, Ausst.-Kat. Trient und Rovereto, Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto, 2016, S. 174 ff. 10 Giuseppe Penone [1968] zit. nach ebd., Die Augen umkehren. Schriften 1968–2004, Berlin 2006, S. 10.

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2 Giuseppe Penone, Der Baum wird sich an die Berührung erinnern, 1968, Fotografie, Privatsammlung.

Bäume sind innerhalb dieser künstlerischen Praxis trotz ihrer Flexibilität weder fügsamer Werkstoff noch philosophischer Urstoff. Es geht nicht um die Definition von Pflanzen als vermeintlich geschichtslosen, zur Ausbeutung bestimmte Ressourcen, sondern um die spezifischen und komplexen Beziehungsweisen, innerhalb derer wir und Bäume miteinander verstrickt sind. Lebendige Pflanzen sind bei diesem Projekt nicht das andere oder binäre Doppel des Subjekts, des Selbst, der Verkörperung oder des Bewusstseins.11 Denn Menschen wie Bäume sind Teil derselben Umwelt. Doch hängt unser Leben von dem der Bäume ab: Gehölz stellt die Bedingungen für unsere Existenz dar. Blätter können an Sommertagen mehrere hundert Liter Wasser verdunsten, Kohlenstoffdioxid verbrauchen, sowie durch Photosynthese Sauerstoff und Traubenzucker herstellen. Wälder mäßigen das Klima, schaffen fruchtbaren Boden und bewahren Landstriche vor Erosion durch Regen und Wind. Bäume sammeln Grundwasser, speisen Quellen und mildern Überschwemmungen, sie schützen vor Sturm und Lawinen. Wegen ihres hohen Alters sind diese Pflanzen Archive, denn mit Hilfe der geowissenschaftlichen Datierungsmethode der Dendrochronologie ist es möglich, das vergangene Klima einer Region zu rekonstruieren. Erscheint Metall in diesem Kontrast als ewiges Material und wirkt es, als hätte Penone sein Gegenüber fest im 11 Siehe Elizabeth Grosz, „The Thing“ [2001], in: The Object Reader, hg. von Fiona Candlin und Raiford Guins, London und New York 2009, S. 124–138, S. 124.

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3 Giuseppe Penone, Er wird weiter wachsen, außer an diesem Punkt, 1968, Künstlerbuch Rovesciare gli occhi, Turin 1977.

Griff, so wird über die Jahre innerhalb von fotografischen Dokumentationen deutlich, wie sich der Baum verformt und der Umklammerung langsam entkommt. Die künstlerische Intervention wird zur Verletzung, die Deformationen nach sich zieht, eine vermessene Geste, die mit dem Eigenleben des Baumes nicht Schritt halten kann. Auch wenn Penone sich in seine Umwelt hineinfühlen möchte, so macht diese Installation deutlich, wie problematisch eine Vermenschlichung von Bäumen ist. Mensch und Fauna leben im selben Terrain, doch besitzen sie beispielsweise je eigene Temporalitäten. Ich beziehe mich im Folgenden auf eine weitere Variante der Arbeit, die in Bronze und mit einem sogenannten Götterbaum aus der Familie der Bittereschengewächse ausgeführt wurde (Abb. 4). Einmal eta­ bliert, ist dieses Gewächs ungewöhnlich widerstandsfähig und nur mit großem Aufwand wieder zu entfernen, es handelt sich um eine invasive Art, zu finden auf der Liste „100 of the World’s Worst Invasive Alien Species“ und mittlerweile als „tree from hell“ berüchtigt:12 12 „Penn State Scientists, Tree of Heaven Really Isn’t“, in: Penn State Live: The University’s Official News Source [14. Juni 1999], https://web.archive.org/web/20120222065129/http://live.psu.edu/story/32607 [15. September 2019].

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4 Giuseppe Penone, Er wird weiter wachsen, außer an diesem Punkt, 1968–1978, Fotografie, Privatsammlung.

Ailanthus altissima bedroht denkmalgeschützte Architekturen genauso wie die umliegende Vegetation. Bäume bewegen uns zum ökologisch motivierten Handeln, aber schon dieses Beispiel macht deutlich, dass eine Annäherung mit Vorsicht zu genießen ist. In China besitzt der Götterbaum eine lange Geschichte und innerhalb einer Tradition werden junge Triebe mit verzogenen Kindern oder ungehörigen Schüler*innen verglichen; es geht hierbei um Hölzer, die sich nicht für die Werkzeuge der von Herrschern in Auftrag gegebenen Schreinerarbeiten eignen.13 Die meisten Bäume, auch der Götterbaum, besitzen darüber hinaus beide Geschlechter – war es Penone klar, dass er sich einem hermaphroditischen Sprössling nähert?14 Solch menschliche Terminologie ist äußerst unvollkommen, das zeigt sich auch in Hinsicht auf einen weiteren zentralen Aspekt. Das Exemplar von Er wird weiter wachsen, außer an diesem Punkt wirkt lebendig, doch bestehen Bäume ebenfalls aus abgestorbenen Teilen. Neben Astabwurf oder vertrocknetem Laub findet sich bei zahlreichen Arten als Zentrum des Stammes sogenanntes Kernholz, eine nicht mehr aktive, meist dunkle innere Zone.15 Bäume besitzen einen Stoffwechsel, gleichzeitig sind Teile

13 Shiu Ying Hu, „Ailanthus“, in: Arnoldia, Bd. 39, März 1979, H. 2, S. 29–50, S. 41. 14 Art. „Monözie“, in: Lexikon der Forstbotanik, hg. von Peter Schütt, Hans Joachim Schuck und Bernd Stimm, Landsberg/Lech 1992, S. 297. 15 Alex L. Shigo, Die neue Baumbiologie [1986], Braunschweig 1990, S. 284 ff.

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von ­ihnen nicht-lebendig oder untot. Schon aus diesem Grund sind sie sehr komplexe Dinge, wobei dieser Begriff hier an seine Grenzen kommt. Denn diese Pflanzen sind Grenzgänger zwischen Ding und Lebensform. In der Folge werde ich daher weniger „Artefakte“ oder „Werke“, als vielmehr Prozesse, (Inter)aktionen und Ökosysteme behandeln: Obwohl Bäume vertraut erscheinen, entgleiten sie bei näherer Betrachtung, auch das führt Penone mit seinem Projekt vor, dem Zugriff des Menschen.

Baumhäuser und Robinsonaden Trotzdem haben Menschen immer wieder versucht, Bäumen nahe zu kommen.16 Und für den erwähnten Aktivismus und seine Architekturen ist das Baumhaus sowie die Zeit um 1970, die zweite Welle des ökologischen Aktivismus, ein wichtiger Bezugspunkt.17 Obwohl es kein Zurück zu einer paradiesischen Natur geben kann, so wurde genau das innerhalb der Industrienationen versucht. In Westeuropa und Nordamerika etablierten sich zahlreiche Landkommunen; diese Woodstock Nation experimentierte mit kollektiven Haushalten als Form des Widerstandes zu den Machtmechanismen eines als total empfundenen globalen Empires mit seiner Ökonomie endloser Expansion und rücksichtsloser Biopolitik. Entsprechende Subkulturen wollten ein naturverbundenes Leben führen, doch handelte es sich beispielsweise bei den zahlreichen in Auseinandersetzung mit Buckminster Fullers Konzept der geodätischen Kuppeln errichteten Behausungen der Domes um Experimente, die ohne die neueste Ingenieurskunst nicht denkbar gewesen wären.18 Lloyd Kahns zentrale Publikation Shelter aus dem Jahr 1973 benennt neben Kuppeln, Zelten oder Jurten Baumhäuser als geeignete Architekturen für die Etablierung einer Gegenkultur. Der Hippie Hugh Brown berichtet in diesem Zusammenhang von seiner Erfahrung am Strand in der Nähe von Trujillo (Honduras): „I did a good lot of thinking in my tree, thinking about just about everything that had touched my life, getting many perspectives and relationships I had failed to see before. Much time was spent without rationality and verbality, just letting memory’s images flow [...].“19 Solche entrückten Schlupf16 Bäume verweisen in vielen Kulturen und Religionen auf zahlreiche Ursprungsmythen. Sie erzählen von einem Lebens- oder Weltenbaum, Hainen als Sitz von Göttern und anderen übernatürlichen Wesen. Doch möchte ich auf diesen Aspekt dieser Pflanzen als Symbole für religiöse oder politische Ordnungen im Folgenden nicht eingehen. 17 Siehe Alastair Gordon, Spaced Out. Radical Environments of the Psychedelic Sixties, New York 2008; siehe auch das Cover von Ästhetik und Kommunikation, Bd. 34: Neue Lebensformen. Wunsch und Praxis, Berlin 1978. 18 Siehe Felicity D. Scott, Architecture or Techno-Utopia: Politics after Modernism, Cambridge/MA und London 2007, S. 150 ff.; Gordon 2008 (wie Anm. 17), S. 170 ff.; Greg Castillo, „Counterculture Terroir: California’s Hippie Enterprise Zone“, in: Hippie Modernism: The Struggle for Utopia, hg. von Andrew Blauvelt, Ausst.-Kat. Minneapolis, Walker Art Center, 2015, S. 87–101. 19 Lloyd Kahn, Shelter [1973], Bolinas/CA 2013, S. 94–95, S. 95; siehe auch Alicia Bay Laurel, Living on the Earth [1970], New York 2000, S. 17.

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5 Anonym, Der 1. Mainzer Freiheitsbaum, 1793. Kolorierter Kupferstich aus Johann Jakob Ihlée, Tagebuch von der Einnahme Frankfurts durch die Neufranken bis zur Wiedereroberung von der kombinierten Armee. Denkmal deutscher Treue, o. O. 1793.

winkel über dem Erdboden verhießen Intimität sowie ein Leben wie in einer präarchitektonisch, prähistorisch wie präsozial verstandenen Urhütte.20 Und sie eigneten sich für diese Zwecke auch, weil Bäume schon seit längerer Zeit mit Revolution, einer Rhetorik der Freiheit und Protest verbunden waren. Nach der Französischen Revolution spielten diese Pflanzen innerhalb von Europa eine wichtige Rolle für das sich entwickelnde Bürgertum. ­A lleine im Mai 1792 wurden in Frankreich um die 60.000 Freiheitsbäume in Dörfern und Gemeinden gepflanzt. Es galt, die ganze Republik in einen einzigen großen Garten zu verwandeln; so wurden etwa die Bäume der königlichen Orangerien aus der „Knechtschaft der Kästen“ befreit (Abb. 5).21 Neben Erholung oder pädagogischen Ansätzen ging es bei diesem Versuch einer Versöhnung gesellschaftlichen und kulturellen Lebens mit der Natur um eine agrikulturelle Revolution.22 Innerhalb dieser Utopie sollte die Gesell20 Joseph Rykwert, On Adam’s House in Paradise. The Idea of the Primitive Hut in Architectural History, New York 1972. 21 Hans-Christian Harten und Elke Harten, Die Versöhnung mit der Natur. Gärten, Freiheitsbäume, republikanische Wälder, heilige Berge und Tugendparks in der Französischen Revolution, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 23 ff., S. 64, S. 110 ff. 22 Ebd., S. 41.

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schaft wieder in eine übergreifende natürliche Ordnung überführt werden, sogenannte Freiheitsbäume verkörperten Harmonie, soziale Eintracht und demonstrierten politische Freiheit.23 Diese Pflanzen stellten auch den Ausgangspunkt eines gezielten Aufforstungsprogrammes dar, damals waren Bezüge zwischen Landschaftszerstörung und regionalen Klimaveränderungen bereits bekannt. Die exzessiven Abholzungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kompensierten Gemeinden nun vor allem mit der Pflanzung junger Pappeln, Ulmen sowie vereinzelter Akazien oder Platanen.24 Schon vor der Etablierung evolutionärer Theorien garantierte die Pflege von Bäumen einen nachhaltigen Umgang mit der Natur. Bürger sollten sich einzelnen Baumarten mit besonderer Liebe widmen und eine regionale Partnerschaft für sie übernehmen; der Angriff auf einen Freiheitsbaum stellte einen Anschlag auf die Revolution sowie die Republik selbst dar.25 Bäume avancierten in diesem Zusammenhang zu Kultgegenständen und die Kategorie Natur erfuhr wie im Falle des Konzeptes des heiligen Bergs eine Sakralisierung.26 Mit der Romantik sowie unter Bezug auf die Schriften des Philosophen und Naturforschers Jean-Jacques Rousseau entstanden dann ab dem 18. Jahrhundert eine Vielzahl von Baumhäusern, also Architekturen, die abgestorbenes Bauholz mit der Aktivität lebender Pflanzen kombinierten.27 Und wie auch in den back to nature-Phantasien der Hippiebewegung finden sich bereits hier problematische Machtkonstellationen. Eine zentrale Publikation für diese Dendromanie war bezeichnenderweise der Roman Die Schweizer Familie Robinson des Dichters und Philosophen Johann Rudolf Wyss aus dem Jahr 1813.28 Das Buch berichtet davon, wie das Schiff, mit dem die Familie reiste, auf einem Riff zerschellt. Die Rettungsboote reichen nicht für alle Passagiere aus und so bleiben die Robinsons auf einer kleinen Insel bei Neuguinea zurück. Aus Sicherheitsgründen bauten sie ihr Haus in einem Baum; diese Narration bezieht sich auch auf die realen Wohnungen der Koiari.29 Mit dem Baumhaus etablierte sich in Europa das problematische Konzept des „edlen Wilden“, das Idealbild eines von der Zivilisation unverdorbenen „Naturmenschen“, welcher in paradiesischer Unschuld lebt. Aus dieser kolonialen Perspektive werden den Koiari Geschichte wie Kultur abgesprochen und ihre Unterdrückung gerechtfertigt.30 Ein entsprechendes Projekt, das all diese Aspekte verharmloste, stellte der Vergnügungspark Robinson dar, der in dem französischen Dorf Plessis etwa 27 Kilometer außerhalb von Paris entstand. Auf einem Baum befand sich ein Restaurant, das Essen wurde mit Flaschenzügen in Körben zu den

23 Ebd., S. 113 f. 24 Harten/Harten 1989 (wie Anm. 21), S. 23 ff., S. 114. 25 Ebd., S. 23. 26 Ebd., S. 127 ff. 27 Siehe Paula Henderson und Adam Mornement, Die Welt der Baumhäuser, 2. Aufl., München 2006. 28 Ebd., S. 35; Johann Rudolf Wyss, Die Schweizer Familie Robinson, Zürich 1813. 29 Henderson/Mornement 2006 (wie Anm. 27), S. 6, für vergleichbare Bauten der Korowai in Irian Jaya, Indonesien, siehe S. 56 ff. 30 Siehe Ter Ellingson, The Myth of the Noble Savage, Berkeley, Los Angeles und London 2001.

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6 Parc Robinson – Le vrai arbre, Plessis, um 1900, Postkarte, Privatbesitz.

Gästen befördert (Abb. 6).31 Die Nester der Woodstock Nation sowie der auf ihr beruhende Aktivismus haben all diese Geschichten im Gepäck, die Interaktion mit Bäumen ist nicht frei von den entsprechenden Traditionen, auch wenn Robinson nun eher ein antibürgerlicher, ungewaschener Aussteiger und nicht vorrangig prototypischer Kolonisator sein wollte.

31 Henderson/Mornement 2006 (wie Anm. 27), S. 35 f.

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Energiefelder und Überlebensübungen Am 1. Mai 1971 startete der Künstler Gordon Matta-Clark einen weiteren Versuch, Bäumen nahe zu sein. In Skizzenbüchern und Zeichnungen beschäftigte er sich ausführlich mit Behausungen aus Bäumen, Architekturen, die an die extravaganten Zierbauten der Gärten der Aufklärungszeit, sogenannte Rustic Furniture oder J. R. R. Tolkiens Elbenreich Lothlórien aus dem von 1954 bis 1956 veröffentlichtem Roman The Lord of the Rings erinnern.32 In Zeiten der Dematerialisierung, elektronischer Musik, Television und anderen immateriellen Sendezeichen stellte Matta-Clark Bäume in diesen Filzstiftzeichnungen als Energiefelder dar, radarartige, instabile Gebilde, die noch im Werden sind und sich in alle Richtungen ausbreiten sowie multiple Anschlüsse anbieten. Die Performance Tree Dance (Tree House) von 1971, die im Rahmen der Ausstellung Twenty Six by Twenty Six auf dem Gelände der renommierten amerikanischen Elitehochschule Vassar College an der Ostküste stattfand, sollte dem im Katalog reproduzierten Telegramm zufolge als „Überlebensübung“ fungieren, oder zumindest ein bezahlter Urlaub sein – der Künstler plante, ein Baumhaus zu bauen und dort drei Tage zu verbringen.33 Doch dieses Vorhaben wurde nicht umgesetzt, stattdessen fand am 1. Mai eine Performance mit der Tanztruppe der Universität statt (Abb. 7).34 Die Gruppe hangelte sich akrobatisch an Strickleitern, Seilen und anderen Materialien entlang und verweilte in netzartigen Kokons oder Hängematten aus Fallschirmstoff. Bei diesem Tanz, der an die Symbolik der Erneuerung, die mit dem traditionellen Mai- und Freiheitsbaum verbunden war, erinnerte,35 handelte es sich auch um ein Fruchtbarkeitsritual. Am Ende verstreute die Gruppe Pflanzensamen, so dass für das folgende Jahr mit einem explosiven Frühling gerechnet werden konnte.36 Zeittypisch präsentierte Matta-Clark einen alternativen Lebensraum für diese temporäre Gemeinschaft. Innerhalb der subkulturellen Gemengelage der USA und unter Einfluss von bewusstseinserweiternden Drogen wurde die Vorstellung von Raum elastisch und akrobatisch; ein Leben ohne Möbel auf dem Baum verhieß eine Befreiung von den Zurichtungsmaßnahmen der Zivilisation sowie einer konsumorientierten Gesellschaft.37 Auf diesem häufig LSD-durchdrungenen Trip in die Wildnis, in dieser Freak Diaspora, galt es, 32 Reorganizing Structure by Drawing Through It. Zeichnung bei Gordon Matta-Clark, Werkverzeichnis/Catalogue Raisonné, hg. von Sabine Breitwieser, Ausst.-Kat. Wien, Generali Foundation, 1997, S. 88 ff., S. 97 ff. 33 Twenty Six by Twenty Six, Ausst.-Kat. Poughkeepsie, Vassar College Art Gallery, 1971, o. P. 34 Siehe Sabine Bartelsheim, Pflanzenkunstwerke. Lebende Pflanzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 2001, S. 125. Es entstand auch ein Super-8-Film, Gordon Matta-Clark, Tree Dance, Farbe, ohne Ton, 9 Minuten, 36 Sekunden, siehe Gordon Matta-Clark, Ausst.-Kat. Valencia, IVAM Centre Julio Gonzàlez, 1992. 35 Siehe Harten/Harten 1989 (wie Anm. 21), S. 110. 36 Siehe Mary Jane Jacob, „Catalogue of Works“, in: Gordon Matta-Clark: A Retrospective, hg. von Mary Jane Jacob, Ausst.-Kat. Chicago, Museum of Contemporary Art, 1985, S. 17–142, S. 34. 37 Dietmar Rübel, Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München 2012, S. 155 f.; Formlose Möbel, hg. von Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt, Ausst.-Kat. Wien, Museum für angewandte Kunst/ Gegenwartskunst (MAK), 2008.

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7 Gordon Matta-Clark, Tree Dance (Tree House), 1971, Performance, Vassar College, Poughkeepsie, New York.

ein bäuerliches Leben in selbst gewählter Armut zu leben. Für diese im alltäglichen Leben unendlich gedachte Performance verließ etwa die Studentin Roberta Price das Vassar College, nachdem sie unter dem Einfluss psychedelischer Substanzen mit einem Felsen in Colorado kommuniziert hatte.38 Entsprechende Kollektive verstanden sich im Verbund mit einer Biosphäre aus Dingen, Energie, Menschen, Magie, Evolution und erweitertem Bewusstsein, mit einem Lebensraum, der neben Menschen auch Nicht-Menschliches einschließt. Dieser chemisch entgrenzte Blick der Industrienationen blendete jedoch die existentiellen Nöte derer aus, die zeitgleich auf sehr viel existentiellere Art und Weise von Bäumen abhängig waren. So findet sich, wie es der Historiker Ramachandra Guha analysiert hat, ab 1970 im Himalayagebirge, genauer der indischen Region Uttarakhand, eine bäuerliche Protestbewegung namens Chipko, die schon damals weltweite Sichtbarkeit erlange.39 Die dortige Agrarwirtschaft war eng mit der Arbeit von Frauen verbunden;40 38 Gordon 2008 (wie Anm. 17), S. 134 f. 39 Ramachandra Guha, The Unquiet Woods. Ecological Change and Peasant Resistance in the Himalaya [1989], erweiterte Ausgabe, Berkeley, Los Angeles und London 2000; siehe auch Thomas Weber, Hugging the Trees: The Story of the Chipko Movement [1988], London 1989. 40 Guha 2000 (wie Anm. 39), S. 169, S. 173 f., S. 175.

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8 Bhawan Singh / The India Today Group, Mitglieder der Chipko-Bewegung in Indien, 19. Februar 1982, Fotografie.

1947, nach der Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien, entflammte eine Diskussion um die Forstnutzung und es kam in der Tradition des Forest Movements von 1921 zu Protesten gegen die Strukturen der Kolonialzeit.41 Die Rodung des Waldes führte im Zusammenhang mit schweren Regenfällen zu Erdrutschen, trotzdem wollten Firmen weiter abholzen. Aktivisten umarmten beispielsweise Eschen; 1973 hatte dies zur Folge, dass Bauern durch Äxte getötet wurden.42 Die tatsächliche Umarmung fand damals nur selten statt, avancierte jedoch schnell zum Aushängeschild der Chipko-Bewegung (Abb. 8).43 Insgesamt konnten die Protestierenden Erfolge verzeichnen; so zeigten etwa die Kommunistische Partei sowie Student*innen aus Gopeshwar Solidarität.44 Es kam zu umfangreichen Aktionen, bei denen gemeinsam gefastet und die Anwesenden die Bhagavad Gita, eine der zentralen Schriften des Hinduismus, lasen; dem Mythos zufolge wurden alle Veden im Wald verfasst.45 Im 15. Gesang erscheint Ashvattha, der heilige Feigenbaum, Bodhi- oder Buddha41 Ebd., S. 110 ff., S. 153 ff. 42 Ebd., S. 157. 43 Ebd., S. 173. 44 Ebd., S. 158. 45 Ebd., S. 162, S. 166, S. 170.

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9 Anonym, Doppelseite aus dem illuminierten Manuskript des Jnaneshvari, Kopie eines Kommentars der Bhagavad Gita aus dem 13. Jahrhundert, Maharashtra, Nagpur, Indien, 1763. Deckende Aquarellfarbe und Tinte auf Papier, Virginia Museum of Fine Arts.

baum. Er hat seine Wurzeln im Himmel, während die Äste sich zur Erde strecken. Dieser Baum der Schöpfung wird ohne Anfang und Ende gedacht, er befindet sich in ständiger Transformation. Wer zu seinen Füßen meditiert, soll Erleuchtung erlangen (Abb. 9).46

Gehirnwäsche in Massachusetts Dieser spirituell fundierte politische Aktivismus der Chipko-Bewegung hat seine Spuren innerhalb der westlichen Countercultures mit ihren ökologisch motivierten Anliegen und alternativen Lebensformen hinterlassen;47 ein Echo findet sich in den Aktionen 46 David L. Haberman, People Trees: Worship of Trees in Northern India, Oxford 2013, S. 67 ff. Ich danke Inga Dreesen und Olivia Jagiella für Hilfe bei der Recherche. 47 Siehe für die 1970er Jahre Lynn White, „The Historical Roots of Our Ecologic Crisis“; Theodore Roszak, „The Sacramental Vision of Nature“, in: Notes for the Future: An Alternative History of the Past Decade, hg. von Robin Clarke, London 1975, S. 99–106, S. 107–111; Matteo Guarnaccia, „The Hippie Trail“, in: On the Paths

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von ­Giuseppe Penone und Gordon Matta-Clark. Die Interaktion mit Bäumen innerhalb dieser Kunstprojekte sieht harmlos aus und der englische Begriff treehuggers bezeichnet dementsprechend auch „gutmütige Spinner“. Doch was passierte eigentlich während einer solchen Vereinigung etwa in den USA? Der Hippie Stephen Diamond berichtete fast zeitgleich zu Matta-Clarks Performance vom Leben in einer Landkommune in Chestnut Hill, Montague, Massachusetts. Er warf einen synthetischen Meskalintrip ein, woraufhin ihn die Bäumen riefen: Ich fühlte mich wirklich reichlich weggetreten, aber meine Neugier überwand jegliches Zögern, das mich vielleicht abgehalten hätte. Ich ging weiter, näherte mich dem ersten Baum links und hörte noch immer den lauten Singsang von den Wipfeln der Ahorn-Bäume. Plötzlich war ich wie geblendet von etwas, das wie ein Blitz von ‚Vibrations‘-Energie schien. Es kam aus dem Stamm des ersten Baumes, vor dem ich jetzt stand. Ein Blitz sprang aus ihm hervor, ein gezackter Lichtstrahl, der mir direkt in die Brust schlug. Ein elektrischer Blitz wie in einem Cartoon. Die Schwingungen tanzten wie aus einem phantastischen Hochspannungskabel, der Baum und ich führten eine Unterhaltung, aber keine Wörter oder Bilder tauchten darin auf. [...] Überwältigt musste ich feststellen, dass ich weinte, konnte die Tränen in Strömen meine Wangen hinunterfließen fühlen, mein Körper zitterte. Aber ich konnte mich nicht wegwenden von dem Baum, der mich gefangen hielt in seinem Bannstrahl. Der Gesang in meinen Ohren wurde jetzt lauter und lauter: ‚Du wirst nie an den Bäumen vorbeikommen.‘48 Unter Bezugnahme auf diesen Selbsttest können auch die erwähnten künstlerischen Annäherungen an Bäume in Zeiten der Dematerialisierung eingehender problematisiert werden. In allen beschriebenen Interaktion treffen die Schaffenden keine autonomen oder freien Entscheidungen, sondern sind in Beziehungsweisen eingebunden, innerhalb derer unvorhersehbare oder unbeabsichtigte Effekte auftreten können.49 Und dieses Ökosystem des Verbundes von Pflanze und Mensch ist keineswegs harmonisch. Die Begegnung Diamonds mit dem Ahornbaum ist sogar schmerzhaft, unangenehm, vielleicht eine Gehirnwäsche. Auch bei Penone und Matta-Clark sind Bäume nicht passiv, sondern stellen uns Fragen, Fragen nach unseren Bedürfnissen und Wünschen, Fragen vor allem nach dem Handeln: Mit der Philosophin Elizabeth Grosz gesprochen sind vermeintlich klar definierte Dinge wie „Bäume“ unser Modus, eine Welt in ihrer wimmelnden und unendlichen Vielfalt so zu reduzieren, dass wir mit ihr umgehen können – dieser Mechanismus ist bei Diamond durch die Einnahme von Drogen außer Kraft gesetzt. Wir stabilisieren

of Enlightenment. The Myth of India in Western Culture 1808–2017, hg. von Elio Schenini, Ausst.-Kat. Lugano, Museo d’arte della Svizzera italiana, 2017, S. 444–461. 48 Stephen Diamond, Was die Bäume sagen. Leben in einer Landkommune [1971], Frankfurt a. M. 1972, S. 116 ff. 49 Siehe Jane Bennett, Vibrant Matter: A Political Ecology of Things, Durham, London 2010, S. 103.

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10 Ernst Haeckel, Stammbaum des Menschen, Lithographie, Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen, Leipzig 1874, Tafel XV.

Massen, große und kleine Partikel, aus Vibrationen, Wellen oder Intensitäten, so dass wir auf sie und in ihnen reagieren können.50 Bäume sind daher gleichzeitig unsere Provokation zum Handeln und das Ergebnis unseres Handelns.51 Denn aus dieser Perspektive heraus bringen wir innerhalb unserer Wahrnehmung aktiv das hervor, was wir als Dinge identifizieren; dadurch machen wir die Welt für unsere Aktionen zugänglich, machen uns

50 Ebd., S. 126 f. 51 Grosz 2009 (wie Anm. 11), S. 125.

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aber auch anfällig für ihre Reaktionen.52 Doch sollte diese Relationalität historisiert werden. Beispielsweise das Mitglied der Landkommune wird im Anschluss an die Interaktion mit der Pflanze zum Sender, zum Propheten und berichtet seinen Mitstreiter*innen von dem Erlebten. Wie auch diverse Aktivist*innen – etwa Julia Butterfly – ist Diamond darüber hinaus davon überzeugt, dass es sich bei Bäumen um unsere Urahnen handelt, also dass eine verwandtschaftliche, familiäre Beziehung zwischen Menschen und diesen Pflanzen bestünde.53 Auch aufgrund des Einsatzes von Stammbäumen für den Nachweis von auf Blutsverwandtschaft beruhenden Genealogien sowie der Vereinnahmung der deutschen Eiche etwa durch den Naturforscher und Künstler Ernst Haeckel für eine biologistisch argumentierende Rassenkunde schrieben Gilles Deleuze und Félix Guattari 1977 bekanntermaßen: „Wir sind des Baumes müde. Wir dürfen nicht mehr an Bäume glauben, an große und kleine Wurzeln, wir haben genug darunter gelitten.“ (Abb. 10) Sie propagierten stattdessen einen Fokus auf die Rhizome der Wurzeln im Untergrund: „Nur unterirdische Sprößlinge und Luftwurzeln, Wildwuchs und das Rhizom sind schön, politisch und verlieben sich.“54

Humus statt Homo Die Annäherung an Bäume wird innerhalb künstlerischer Praktiken bis in die Gegenwart reflektiert. Abschließend möchte ich aus diesem weiten Feld diejenigen Ansätze fokussieren, welche die Relation zwischen Mensch und Pflanze intensivieren, gleichzeitig jedoch eine Kritik formulieren und in diesem Zuge – und aus der historischen Warte der Dematerialisierung – von einer dinglichen Makro- auf eine Mikroebene wechseln. Obwohl das Treehugging von Penone oder Matta-Clark in einer Zeit der Dekolonialisierung stattfindet, markiert es ein durchaus problematisches Moment der äußerst sichtbaren Landinbesitznahme und droht zu einer erneuten Robinsonade zu werden. Um 1970 ging es Künstler*innen zudem in der Tradition der Frontier darum, die Romantik des Außenseitertums neu zu beleben. Mehr noch: Viele waren daran interessiert, sich nicht nur als naturnahe Außenseiter und Dropouts, sondern spezifisch auch als Stammesgemeinschaft zu inszenieren.55 Wie es der Ethnologe Claude Lévi-Strauss beschrieben hatte, glaubten diese Protagonist*innen daran, dass vermeintlich primitive Völker die Tendenz dazu besäßen, sich existierende Ressourcen anzueignen und neu zu organisieren.56 Diese Outlaw Nation, die schnell zur Mediensensation avancierte, markiert ebenfalls die permanente Selbstdarstellung in einer wachsenden globalen Medienwelt: Baumhäuser wurden bald 52 53 54 55 56

Ebd., S. 127 f. Diamond 1972 (wie Anm. 48), S. 117. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Rhizom [1976], Berlin 1977, S. 26. Gordon 2008 (wie Anm. 17), S. 78 ff. Siehe Claude Lévi-Strauss, The Savage Mind [1962], Chicago 1966.

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11 Ana Mendieta, Ohne Titel, aus der Serie Tree of Life, 1977, Performance Old Man’s Creek, Iowa.

auch als Wellness-Oasen genutzt.57 Zentral für eine entsprechende kritische Revision des Umgangs mit unserer Erde war und ist vielmehr eine (öko-)feministische Kritik. Wie in Ana Mendietas Tree of Life von 1976 wird der weibliche Körper in diesem Zusammenhang oft mit Erde in Verbindung gebracht und die Annäherung an die Pflanze intensiviert. Die Künstlerin nahm ein Schlammbad und betrieb Mimikry mit einem Baum (Abb. 11). Diese Aktion steht im Zusammenhang mit der Serie der seit 1972 ausgeführten Siluetas, Arbeiten, die häufig aus schematisierten Körperumrissen bestanden. Für vergleichbare temporäre Aktionen, dokumentiert durch Fotografien, Dias, Film oder Video, fanden Naturstoffe wie Erde, Sand, Steine, Wasser, Eis, aber auch rotes Pigment Einsatz. Identität entsteht in diesen Arbeiten, hier Penone und Matta-Clark vergleichbar, erst durch körperbezogene wie performative Rituale und Techniken. Diese Ersatzkörper, ihre Spuren 57 Siehe Henderson/Mornement 2006 (wie Anm. 27), S. 74 ff.

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12 Petr Štembera, Aufpfropfen, 1975, Performance Tschechoslowakei.

und magischen Doppelgänger, sind jedoch darüber hinaus Opfergaben, werden bestraft, begraben oder kehren zur vitalen Natur zurück; sie verweisen unter anderem auf Märtyrer des Katholizismus, die disziplinierten Körper der Sklaven ehemaliger spanischer Kolonien, die synkretistische, afroamerikanische Hauptreligion in Kuba, Santería, sowie die gegenwärtigen Machtkonstellationen zwischen dem Inselstaat und den USA.58 Der Performancekünstler Petr Štembera bot in einem differenten Kontext seinen Körper ebenfalls als Opfergabe dar. Wohnhaft in der Tschechoslowakei versuchte er 1975, sich den Ableger eines Baumes aufzupfropfen (Abb. 12). Nach dem Prager Frühling, der Besetzung des Landes unter anderem durch sowjetische Truppen sowie zunehmende Isolation, pflanzte er sich einen Zweig in den aufgeschnittenen Arm und fixierte das Implantat mit 58 Petra Lange-Berndt, Art. „Ana Mendieta“, in: Allgemeines Künstler-Lexikon, hg. von Andreas Beyer, Bénédicte Savoy und Wolf Tegethoff, Bd. 89, Berlin und Boston 2016, S. 85–87.

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Bast, bei der Prozedur fanden auch die giftigen Pfropfsubstanzen der Gärtner Einsatz.59 Bei dieser verzweifelten Symbiose handelt es sich um eine Allianz differenter Arten. Statt einer romantisierenden Vorstellung vom Leben in natürlicher Harmonie mit wechselseitigem Nutzen nachzuhängen, wie sie sich trotz kritischer Töne noch bei Penone und Matta-Clark finden, überschreitet Štembera eine kulturell gefestigte Grenze und begibt sich auf ungesichertes, ja gefährliches Terrain, denn die Wunde könnte sich infizieren. Eine klare Trennung zwischen Subjekt und Pflanze löst sich auf: Während traditionell künstlerische Werte wie Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in den 1970er Jahren bereits zu den Anforderungsprofilen von Managern in einer postfordistischen Arbeitswelt zählten,60 steht diese Aktion für unsere Verstricktheit mit der Welt. Natur ist ein dynamischer Stoffwechselprozess, der Organismen und ihre Umwelten verändert – in dem komplexen Netzwerk eines Ökosystems existiert nur anhaltender Wandel und diese Prozesse sind nicht immer angenehm für Menschen. Aufpfropfen steht auch für „den Albtraum der Aufklärung, demzufolge Geschichte letztendlich von Natur überwältigt werden könnte.“61 Es ist diese Frage einer möglichen Auflösung des Menschen in Natur, die für die Gegenwartskunst entscheidend ist. In diesem Kontext sind Bäume und Baumhäuser längst kein Heilmittel mehr gegen Industrialisierung und das moderne Leben. Der Künstler Alexis Rockman beispielsweise verweigert in dem Materialbild The Ecotourist aus der Serie Dioramas von 1997, in dem ein Selbstportrait des Künstlers von Maden, Aaskäfern und Fliegen zerlegt wird, eine harmonische wie distanzierte Kommunion mit der Natur – der Mensch wird zu Erde, einem Material, aus dem wiederum zahlreiche Pflanzen und Bäume emporsprießen.62 Auch Ana Mendieta und Petr Štembera suggerierten in diesem Sinne, dass ihre Körper sterben und zur vitalen Natur zurückkehren könnten. Aus dieser von dem Philosoph Timothy Morton beschriebenen melancholischen Sicht einer „dark ecology“ sind wir Teil einer sterbenden Welt.63 Diese Dynamik kann jedoch durchaus voller Lust vor sich gehen und muss nicht im Tod des Menschen gipfeln, wie es die Künstlerinnen und Aktivistinnen Beth Stephens und Annie Sprinkle jüngst vorführten. Um

59 Siehe Kristine Stiles, „Unverfälschte Freude: Internationale Kunstaktionen“, in: Out of Actions. Between Performance and the Object 1949–1979, hg. von Paul Schimmel, Ausst.-Kat. Los Angeles, The Museum of Contemporary Art, 1998, S. 227–329, S. 304 f. 60 Beatrice von Bismarck und Alexander Koch, „Beyond Education. Kunst, Ausbildung, Arbeit und Ökonomie. Einführung“, in: Beyond Education. Kunst, Ausbildung, Arbeit und Ökonomie, hg. von Beatrice von Bismarck, Frankfurt am Main 2005, S. 9–17. 61 Andreas Huyssen, „Authentic Ruins: Products of Modernity“, in: Ruins of Modernity, hg. von Julia Hell und Andreas Schönle, Durham und London 2009, S. 17–28, S. 22. 62 Siehe Alexis Rockman: Dioramas, hg. von Alexis Rockman und Alexandra Irvine, Ausst.-Kat. Houston. Contemporary Arts Museum, 1997; Donna Haraway, „Teddy Bear Patriarchy: Taxidermy in the Garden of Eden, New York City, 1908–1936“, in: Social Text, Nr. 11, Winter 1984–1985, S. 20–64, S. 20. 63 Timothy Morton, Ecology without Nature: Rethinking Environmental Aesthetics, Cambridge/MA und London 2007, S. 181 ff.

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eine sensible Beziehung zu unserem Planeten einzugehen, initiierte das Paar vor einigen Jahren ein auf sieben Jahre angelegtes Projekt öffentlicher Hochzeitsrituale, in denen sie sich mit Mineralien, Steinen oder Luft vermählten, Bäume sind bislang abwesend.64 Es ist jedoch zentral für diese Strategie, dass Menschen über erotische Bezüge als Teil des Planeten und seines Ökosystems begriffen werden. So proklamieren Stephens und Sprinkle in ihrer ökosexuellen Hochzeitsrede: „We are everywhere. We are polymorphous and pollen-amorous. [...]. I promise to love, honor and cherish you Earth, until death brings us closer together forever.“65 Oder wie es die Philosophin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway jüngst in ihrer Kritik am Konzept eines Anthropozäns formuliert hat: „[...]. Menschen befinden sich nicht in einem separaten Komposthaufen. Wir sind Humus, not Homo, nicht Anthropos; wir sind Kompost und nicht posthuman.“66 64 Siehe http://sexecology.org [9. März 2019]. 65 Beth Stephens und Annie Sprinkle, „Ecosex Manifesto“, https://theecosexuals.ucsc.edu/ecosexualmanifesto/ [15. Oktober 2017]. 66 Haraway 2016 (wie Anm. 5), S. 11.

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Film Gordon Matta-Clark, Tree Dance, Farbe, ohne Ton, 9 Minuten, 36 Sekunden.

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Markus Verne

Musikerfahrung und Kulturrelativismus: Heavy Metal in Madagaskar

Epiphanie Nur durch Zufall hatte ich bei meinem ersten Aufenthalt in Madagaskar erfahren, dass hier auch Heavy Metal gespielt und gehört wird.1 Mit dem Ziel, eine Feldforschung zum Thema populäre Musik vorzubereiten, war ich in die Hauptstadt Antananarivo gereist und hatte mich bereits mehrere Wochen in Kultureinrichtungen und Kneipen, in Schul-Aulen, Hotel-Sälen und auf Open Air-Geländen herumgetrieben, um mir einen ersten Überblick über die Musikszene im madagassischen Hochland zu verschaffen. Dennoch entdeckte ich erst am Ende meines Aufenthaltes – und nur aufgrund glücklicher Umstände – dass Antananarivo (oder Tana, wie die Stadt von ihren Bewohner*innen meist genannt wird) über eine durchaus ansehnliche Heavy Metal-Szene verfügt. Damit hatte ich nicht gerechnet: Weder hatte ich davon gelesen, noch hatte mir bis zu diesem Zeitpunkt irgendjemand davon erzählt, und wie ich durch Nachfragen erfuhr, war die Existenz von Tanas Metal-Community selbst unter madagassischen Musikern und Musikbegeisterten keineswegs allseits bekannt. So beschloss ich, ethnographisch über Heavy Metal in Madagaskar zu forschen. Es dauerte fast zwei Jahre, bis ich wieder nach Madagaskar kam und vor Ort damit beginnen konnte, mir langsam und möglichst systematisch einen Überblick über Geschichte, Charakter und Bedeutung von Heavy Metal in Antananarivo zu verschaffen. Mein Erstaunen darüber, dass es im madagassischen Hochland tatsächlich eine große, musikalisch durchaus heterogene und vor allem schon seit Jahrzehnten bestehende Metal-Community gab war nach wie vor groß, und es war wohl in erster Linie dieses Erstaunen, das dazu führte, dass ich die Metalfans und Musiker, denen ich zu dieser Zeit begegnete, immer wieder auch danach fragte, wie es wohl kam, dass man sich ausgerechnet hier, auf einer Insel in der südwestlichen Ecke des Indischen Ozeans, für diese doch recht spezielle Musik zu begeistern begann. Die Meisten, die ich derart befragte, versuchten denn auch, zur Antwort ein paar Hypothesen zu formulieren, wenngleich nie ohne vorsichtiges Schulterzucken und vor allem wohl, um nicht unhöflich zu sein. Dass die Existenz von

1

Die Forschung, die dieser Publikation zugrunde liegt, wurde durch Mittel der Europäischen Union (Marie Curie International Outgoing Fellowship within the 7th European Community Framework Programme) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft/DFG ermöglicht. Beiden Institutionen möchte ich an dieser Stelle für ihre großzügige Unterstützung danken.

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Heavy Metal in Madagaskar für madagassische Metalfans nicht überraschender ist als für Metalfans sonst irgendwo auf der Welt, verstand ich erst später – auch wenn dies im Nachhinein evident zu sein scheint. Ganz anders sah die Sache aus, wenn ich die madagassischen Metalheads danach fragte, wie es gekommen war, dass sie persönlich sich für diese Musik zu begeistern begannen. Hier war ausnahmslos jeder und jede nicht nur in der Lage, sondern auch sehr gern bereit dazu, mir detailliert davon zu erzählen, wie es zu dieser Faszination gekommen war. Die Geschichten, die ich in diesem Zusammenhang hörte, waren in Hinblick auf ihre generelle Stoßrichtung allerdings überraschend stereotyp; es schien, als gäbe es letztlich nur zwei verschiedene Arten, in Madagaskar zum Metalfan zu werden. Und diese zwei Arten – der Grund, weshalb ich all das überhaupt erzähle – spiegeln in erstaunlicher Weise genau denjenigen theoretischen Konflikt wider, der dem vorliegenden Buch und damit auch diesem Beitrag als Ausgangspunkt dient: den Konflikt nämlich zwischen sozialkonstruktivistischen und objektzentrierten Zugängen zu Momenten ästhetischer Erfahrung. Dabei muss die sozialkonstruktivistische Position allerdings recht breit gefasst werden, wenn man, wie ich das im Folgenden tun möchte, das hier zugrundeliegende Problem in Hinblick auf die Geschichte der Musikethnologie im Ganzen in den Blick nimmt: als Position, die ästhetische Erfahrung nicht vom Objekt, sondern ausschließlich von den sozialen bzw. kulturellen Kontexten aus denkt, in die es eingebettet liegt.2 Diejenigen unter den madagassischen Metalfans, die sich der Entstehung ihrer Leidenschaft aus Sicht ihrer Lebensumstände näherten, waren dabei, aufs Ganze gesehen, eindeutig in der Minderheit. Ihrer eigenen Einschätzung zufolge waren sie einfach deswegen zu Metalfans geworden, weil sie mit dieser Musik aufgewachsen waren. Heavy Metal blickt, wenn man ihn nicht zu eng definiert, inzwischen auf eine mehr als 50-jährige Geschichte zurück.3 Und weil seine Geschichte auch die Geschichte seiner Medialisierung ist,4 was erlaubte, diese Musik vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an um die Welt zu transportieren,5 ist seine madagassische Geschichte grundsätzlich nur unwesentlich kürzer.6 Und so konnten selbst diejenigen Metalmusiker und -fans, die ihre Sozialisierung in den 1970er und 1980er Jahren erfuhren, die Musik bereits aus den Plattenschränken ihrer Eltern, Onkel und Tanten oder anderer naher Familienmitglieder kennen – auch wenn 2 Markus Verne, „Die Grenzen des Kontextualismus: Madagassischer Heavy Metal, ‚satanische‘ Ästhetik und die ethnologische Erforschung populärer Musik“, in: Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 137, 2012, H. 2, S. 187–206. 3 Ian Christe, Sound of the Beast. The Complete Headbanging History of Heavy Metal, New York 2004. 4 Deena Weinstein, Heavy Metal. The Music and its Culture [1991], Boulder u. a. 2000, S. 145–197. 5 Jeremy Wallach, Harris M. Berger und Paul D. Greene, „Affective Overdrive, Scene Dynamics, and Identity in the Global Metal Scene“, in: dies., Metal Rules the Globe: Heavy Metal Music around the World, Durham 2011, S. 3–33, S. 5. 6 Markus Verne, Art. „Heavy Metal in Madagascar (Metaly Gasy)“, in: Bloomsbury Encyclopedia of Popular Music of the World, Volume 12. Genres: Sub-Saharan Africa, hg. von David Horn u. a., New York und London 2019, S. 190–194.

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es sich hier nur um eine kleine Minderheit handelte, nicht zuletzt wegen des schwierigen und häufig aufwändigen Zugangs zu dieser Musik, die man sich oft von in Frankreich lebenden Familienmitgliedern schicken oder mitbringen lassen musste. Es war nun gerade diese musikalische Sozialisation, der die Befragten die Verantwortung für ihre Metal-Vorliebe gaben – auch wenn es sich dabei, genau betrachtet, gar nicht wirklich um eine erschöpfende Erklärung handelt. Denn weder war Heavy Metal die einzige Musik, mit der sie aufgewachsen waren, noch bedeutet mit einer Musikrichtung aufzuwachsen ja zwingend, dass man sie selbst irgendwann gerne mag. So dass die eigentliche Frage, weshalb sie sich für Metal und nicht für eine andere der Musikrichtungen zu begeistern begannen, die sie aus ihrer Kindheit und Jugend kannten, hier genau besehen offenbleibt. Obwohl sie die Frage eigentlich gar nicht beantworten, handelt es sich bei diesen kontextualistischen Selbstanalysen im Kern doch um diejenige musikästhetische Position, die einen Großteil der musikethnologischen Auseinandersetzung mit Musik bis heute weitgehend bestimmt, wenngleich in der Regel implizit und lange nicht mehr in der Eindeutigkeit, wie dies zu ihren Anfängen üblich war. Denn zum einen liegt diese Position dem antiuniversalistischen Grundprinzip der Musikethnologie zugrunde, das ja ebenfalls besagt, dass musikalische Orientierungen grundsätzlich und fundamental an den historisch gewordenen, d. h. kulturell bestimmten Zusammenhang gebunden sind, dem sie entstammen; ein Axiom, das in Alan Merriams Formel von Musikethnologie als „the study of music in culture“7 dereinst programmatisch auf den Punkt gebracht wurde und das seine Geltung bei aller Kritik und Differenzierung bis heute keineswegs verloren hat.8 Und zum zweiten dienen Aspekte wie klassentypische Sozialisation oder die Existenz spezifischer Lebensstile der Populärmusikforschung seit ihren Anfängen als Basis, um bestimmte musikalische Vorlieben zu erklären; Zugänge, die die Konstruktion von Identitäten durch Musik ins Zentrum stellen und die die Musikethnologie spätestens Ende der 1990er Jahre stark zu beeinflussen begannen,9 als diese sich zusehends von traditionellen Musiken ab- und stattdessen global zirkulierenden Musikstilen zuzuwenden begann. Bei diesen Ansätzen geben zwar eher die gesellschaftlichen als kulturelle Verhältnisse den Ausschlag, weshalb sich „Sozialisation“ hier auch weniger auf die musikalische Sozialisation selbst bezieht als vielmehr auf spezifische gesellschaftliche Verortungen, von denen man meint, dass sie durch ihren Charakter bereits spezifische musikalische Präferenzen prägen. Dennoch liegt eben auch dieser Lesart ein Verständnis musikalischen Geschmacks zugrunde, das dessen Ursprung immer schon in den Verhältnissen sucht, in 7 Alan P. Merriam, „Ethnomusicology: Discussion and Definition of the Field“, in: Ethnomusicology, Bd. 4, 1960, S. 107–114, S.109; Alan P. Merriam, The Anthropology of Music, Chicago 1964, S. 6. 8 Vgl. z. B. Aaron Fox, Real Country: Music and Language in Working-Class Culture, Durham u. a. 2004, S. 30–37; oder für Afrika, Ryan Thomas Skinner, Bamako Sounds. The Afropolitan Ethics of Malian Music, ­M inneapolis und London 2015, S. 7–8, 193–194. 9 Timothy Rice, „Disciplining Ethnomusicology: A Call for a New Approach“, in: Ethnomusicology, Bd. 54, 2010, H. 2, S. 318–25.

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denen er sich ausprägt – im Fall des Heavy Metal zum Beispiel in Arbeitermilieus, wie sie, so jedenfalls die Behauptung, nur die Industrialisierung hervorzubringen vermag.10 Diese Behauptung trifft für Madagaskar schon aus empirischen Gründen nicht zu, weil es hier gar keine richtige Arbeiterklasse gibt.11 Und auch der Versuch, „Arbeiterklasse“ global in „aufstrebende Mittelklasse“ zu übersetzen, hilft an dieser Stelle nicht weiter, weil madagassische Rock- und Metalfans im Großen und Ganzen eher einer fast etablierten gehobenen Mittelschicht angehören.12 Dies zeigt schon an dieser Stelle an, was ich im Laufe des Textes ausführen werde: dass es schlechterdings zu kurz greift, über Musik zu sprechen, ohne dabei nach dem Beitrag der Musik selbst und ihrer ästhetischen Erfahrung zu fragen. Die zweite Gruppe der madagassischen Metalfans, die mir von der Genese ihrer musikalischen Leidenschaft berichteten, war deutlich größer als die erste und beantwortete meine Frage mit Varianten einer Geschichte, die in ihrer epiphanischen Gestalt an Konversionsberichte von Pfingstkirchlern erinnert. Alles habe seinen Anfang genommen, so oder so ähnlich beginnen diese Geschichten, als man zu Besuch bei einem Freund, 10 Im Bereich der „global metal studies“ wird dieses einseitige Verständnis von Musikgeschmack und Produktionsverhältnis ganz explizit als „Weinstein-Hypothese“ diskutiert, in Referenz auf die Chicagoer Soziologin Deena Weinstein. Schon in ihrem soziologischen Meilenstein der Metal-Forschung von 1991 versteht sie Heavy Metal lediglich als „das Master-Emblem der Heavy Metal Subkultur“, als Ausdruck also nur eines spezifischen Lebensstils, der seinerseits auf dem „blue collar ethos“ der Arbeiterklasse basiert und damit letztlich einen Reflex auf ökonomische Umstände darstellt; Weinstein 1991/2000 (wie Anm. 4), S. 99, 113–117; für eine frühe Kritik dieses Reduktionismus siehe Robert Walser, Running With the Devil. Power, Gender, and Madness in Heavy Metal Music, Middletown 1993, S. 23. Entsprechend erklärt sie mittlerweile die globale Verbreitung des Heavy Metal durch nichts als die globale Verbreitung des Kapitalismus und interpretiert ihn als musikalische Form, die zwingend an die Existenz (post-)industrieller Lebensverhältnisse gebunden ist; Deena Weinstein, „The Globalization of Metal“, in: Metal Rules the Globe: Heavy Metal Music around the World, hg. von Jeremy Wallach, Harris M. Berger and Paul D. Greene, Durham 2011, S. 34–59, S. 54. Zwar wird diese These generell eher kritisch betrachtet; Wallach/Berger/Green 2011 (wie Anm. 5), S. 16, dabei geht es aber nur um die Rolle des Kapitalismus und nicht – wie schon die anderen Beiträge des Bandes deutlich zeigen – um den grundsätzlichen Zugang, der die weltweit verbreitete Begeisterung für Heavy Metal im Grunde ausschließlich aus den jeweiligen gesellschaftlichen Umständen zu erklären versucht und nicht zumindest auch aus der musikalischen Erfahrung selbst. 11 Grundsätzlich ist das madagassische zentrale Hochland nach einem kurzen, am Ende aber doch erfolglosen Industrialisierungs-Intermezzo gegen Mitte des 19. Jh. – Gwynn Campbell, An Economic History of Imperial Madagascar, 1750-1895. The Rise and Fall of an Island Empire, Cambridge u. a. 2005, S. 92–102 – wesentlich wieder durch Landwirtschaft und also eine bäuerliche Produktionsweise geprägt, so dass spezifische Frustrationserfahrungen, selbst wenn die (Post-)Industrialisierung solche mit sich bringen sollte, hier schlicht keine Rolle für die Existenz von Heavy Metal spielen können. 12 Dieser Vorschlag stammt von Jeremy Wallach und Esther Clinton, „The Horror and the Allure: Metal, Power, Gothic Literature, and Multisubjectivity“, in: Connecting Metal to Culture. Unity in Disparity, hg. von Mika Elovaara und Bryan Bardine, Bristol und Chicago 2017, S. 99–118, S. 108 f. Klassenspezifischen Kategorisierungen haben in Madagaskar ohnehin immer eine sehr eigene Prägung, weil die ihr zugrundeliegenden ökonomischen Verhältnisse den sozialen Stand hier nur teilweise bestimmen und mit sozialen Ordnungen wechselwirken, die ihren Ursprung anderenorts haben; Markus Verne, „‚A Highland Thing‘. Heavy Metal and the Construction of Cultural Difference in Madagascar“, in: Journal of World Popular Music, Bd. 4, 2017, H. 1, S. 58–77; David Graeber, Lost People: Magic and the Legacy of Slavery in Madagascar, Bloomington, 2007.

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Nachbarn oder Cousin war – bzw. bei einer Freundin oder Nachbarin, denn in Madagaskar wie auch andernorts ist Heavy Metal, ganz gegen das Klischee, keineswegs reine Männersache. Dieser Freund oder die Freundin habe einem ganz aufgeregt von einer Platte oder Kassette erzählt,13 die er oder sie gerade entdeckt habe. Man habe die Musik dann auch gleich abgespielt und sei schon beim ersten Klang aus allen Wolken gefallen. Denn nie zuvor habe man jemals etwas auch nur Vergleichbares gehört: dieser Sound und seine Wucht, diese Virtuosität, diese Geschwindigkeit, diese Tiefe, diese Energie... Noch in diesem Moment sei man selbst zum Metalfan geworden und daran habe sich seither auch nichts mehr geändert. Nicht nur habe diese Erfahrung, wie sich an diese Erzählung anschließende Geschichten dann illustrieren, das eigene musikalische Tun radikal modifiziert und sich in einem komplett veränderten Musikkonsum, oft aber auch im Erlernen eines Instruments, intensivem Üben oder auch der Gründung einer eigenen Band geäußert. Das ganze Leben habe sie verändert: man habe neue Freunde gefunden, bewege sich seither in anderen sozialen Kreisen, kleide sich anders, trage lange Haare und habe überhaupt eine neue Haltung gegenüber der Welt, der Gesellschaft und dem eigenen Leben entwickelt – eine Haltung, die in ihrem Kern als freier und selbstverantwortlicher beschrieben wird, was in etlichen Fällen sogar das Infragestellen christlicher Grundpositionen mit einschließt; ein großer Schritt im durch und durch christlichen madagassischen Hochland.14 Auch wenn manche dieser Geschichten ihren Anfang nicht bei einem Freund oder einer Nachbarin, sondern bei einem Konzert oder in einem Plattenladen bzw. an einem Stand mit raubkopierten Kassetten nahmen, und auch wenn sich die Epiphanie, wie in manchen der Fälle, zunächst weniger der Musik selbst als vielmehr dem prinzipiell offenbar nicht minder faszinierenden mystisch-dunklen Artwork typischer Metal-Cover verdankte: die Pointe dieser Konversionserzählungen ist immer dieselbe. Und sie besteht darin – und das ist das in theoretischer Hinsicht so weitreichende Moment – dass es die Musik selbst bzw. ihre ästhetische Erfahrung war, die dafür sorgte, dass man Heavy Metal einst zu hören begann und bis auf den heutigen Tag hört; dass es der verzerrte, treibende, so unendlich kraftvolle und seine Hörer vollständig einhüllende Klang war, der denen, die ihn hörten, eine bis zu diesem Moment vollkommen unbekannte Welt eröffnete und sie davon überzeugte, das eigene Leben diesem Klang gemäß neu auszurichten. In theoretischer Hinsicht sind diese musikalischen Epiphanien insofern enorm weitreichend, als sie ein Gegenmodell zu den oben angeführten etablierten Positionen zum Thema implizieren – denn immerhin behauptet hier doch ein Großteil der mada13 Die digitale Revolution war, als ich von 2009 bis 2010 meine erste und längste Feldforschung zum Thema durchführte, gerade erst dabei, die klassischen Medien zu ersetzen. Daher fehlen in diesen zurückblickenden Beschreibungen CDs, mp3-Dateien und das Internet noch vollständig. Heute wäre dies sicher anders; im Kern wären die Geschichten aber wohl nach wie vor dieselben. 14 Eva Keller, The Road to Clarity. Seventh-Day Adventism in Madagascar, New York und Houndmills 2005, S. 37–44.

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gassischen Metal-Community von sich selbst, dass es nicht der besondere soziale oder kulturelle Zusammenhang war, dem sich ihre Leidenschaft für Metal verdankt, sondern tatsächlich und ausschließlich der Klang der Musik selbst; ein Klang, der ja tatsächlich nicht nur in einem fundamentalen Kontrast zu all denjenigen Klängen steht, aus denen die musikalische Landschaft Madagaskars sich ansonsten zusammensetzt, sondern den sie, wie sie sagen, gerade aus dem Grund so schätzen, weil er so eklatant über bereits bekannte Klanglandschaften hinausweist. Sollten die madagassischen Metalfans und -musiker mit ihren Selbsteinschätzungen daher Recht haben – und meines Erachtens gibt es, wie im Verlauf des Textes noch klar werden wird, keinen wirklichen Grund, an ihren Ausführungen grundsätzlich zu zweifeln, auch wenn sie, wie die Einleitung in dieses Buch es zeigt, nur eine Seite des komplizierten Wechselgeflechts beschreiben, aus denen ästhetische Erfahrung besteht15 – so kann man sich für spezifische Musiken auch dann begeistern, wenn und vielleicht sogar weil diese nicht in einem klanglichen Zusammenhang zu dem stehen, womit man bereits vertraut ist. Was dann eben wiederum heißt, dass die Musik selbst die Art und Weise, in der sie gehört und erfahren wird, wenn nicht bestimmen, so doch immerhin markant mitbestimmen kann – dass sie also über eine Handlungsmacht verfügt, die ihrem klanglichen Wesen gemäß ist, und zwar durchaus auch über kulturelle Grenzen hinweg. Heavy Metal ist insofern ein besonders gutes Beispiel, um diesen Zusammenhang nachzuverfolgen, als er, wie wir schon wissen, zwar längst zu einem globalen Phänomen geworden ist, dabei aber mehrheitlich nicht an die lokalen musikalischen Umstände angepasst wurde. „Metal ist Metal“ heißt es in Madagaskar jedenfalls, wo die Bezeichnung „metal gasy“ zwar existiert, in der Regel aber nicht den im eigenen Land produzierten Heavy Metal meint, sondern dazu dient, selbstkritisch und abfällig auf dessen im Vergleich zum internationalen Standard vermeintlich niedriges Niveau hinzuweisen.16 Bevor ich im Folgenden versuchen möchte, in fünf kleinen ethnographischen Sequenzen aus empirischer Sicht die Handlungsmacht des madagassischen Metal in seiner Tragweite zu umreißen und vor allem plausibel zu machen, möchte ich nun aber zunächst in einem kleinen fachhistorischen Exkurs die Position herleiten, zu der diese Handlungsmacht, wie ich am Schluss argumentieren werde, in Beziehung gebracht werden muss, um der Komplexität musikalischer Erfahrung gerecht werden zu können. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Art und Weise, wie die weltumspannende Erforschung von Musik mit der von Kultur und Gesellschaft ab Ende des 20. Jahrhunderts in ein Verhältnis gebracht wurde; von dem Moment an also, als vergleichende Musikwissenschaft und kulturrelativistische Ethnologie zueinander fanden.

15 In vorliegendem Band, S. I–XXIV. 16 Markus Verne, „Heavy Conditions. Power Metal in Madagascar“, in: Heavy Metal Generations, hg. von Andy Brown und Kevin Fellesz, Oxford 2012, S. 37–47. (eBook)

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Relativismus Die Einsicht, dass das Klangliche an der Musik die Art und Weise beeinflusst, wie sie erfahren und reflektiert wird, mutet zunächst nicht revolutionär an. Im Gegenteil scheint dies evident: wie sonst ließe Musik sich nutzen, um uns in Läden zum Kaufen oder in Hotellobbys zum Entspannen zu animieren?17 Und spätestens dann, wenn eine bestimmte Musik uns unerträglich zu sein scheint, tritt die Handlungsmacht des Klanglichen ja auch erkennbar in Erscheinung: nicht nur in Versuchen, sich solchen Musiken zu entziehen, sondern auch in ihren – oft sehr klar konturierten – Ablehnungen.18 Trotzdem steht die These, dass diese Handlungsmacht auch in Kontexten wirkt oder jedenfalls wirken kann, in denen Musik auf uneingeweihte Ohren trifft, und zwar nicht auf eine irgendwie willkürliche Weise, sondern – bei aller Unschärfe – durchaus im Sinn dieser Musik, in einem theoretischen Widerspruch zum zentralen Credo der Musikethnologie und stellt so die im Kern kulturrelativistische Idee zur Disposition, die besagt, dass Musik gerade keine „universale Sprache“ darstellt, sondern immer in einem spezifischen kulturellen Kontext steht und deshalb prinzipiell auch in diesem Kontext verstanden werden muss. Die Absicht, die die Musikethnologie mit diesem Credo verfolgte, war und ist es bis heute, dem immer doch auch wertenden Vergleich unterschiedlicher Musiken über Kulturen und Räume hinweg einen Riegel vorzuschieben und ihn als das zu entlarven, was er tatsächlich auch darstellt: ein Messen verschiedenster Musiken mit einem Maßstab, der nur zu einer dieser Musiken tatsächlich auch passt, der andere Musiken daher notwendig abqualifiziert, und also letztlich als ein der Sache nicht angemessener Eurozentrismus. Mit diesem methodischen Anti-Universalismus trat in den 1880er Jahren bereits die „Vergleichende Musikwissenschaft“ an, die konventionelle Musikwissenschaft von ihrem etablierten Sockel zu stoßen, um der Absolutheit ihres an westlicher Kunstmusik orientierten Musikverständnisses die Vielheit empirisch vorhandener Musiken und musikalischer Praktiken entgegenzustellen.19 Und spätestens, als in die USA emigrierte Vertreter dieses musikwissenschaftlichen Nebenstrangs sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Handvoll amerikanischer Musikethnologen avant la lettre zusammenschlossen, die bereits durch die Boas’sche, kulturrelativistische und feldforschungsbasierte Ethnologie geprägt waren, wurde dieses Anliegen dann zur alles bestimmenden Haltung.20 Zwar verbanden sich hier zwei verschiedene Traditionen mit dem Ziel, eine gemeinsame Disziplin 17 Tia DeNora, Music and Everyday Life, Cambridge 2000. 18 Vgl. z. B. Anna Nekola, „‚More Than Just a Music‘. Conservative Christian Anti-Rock Discourse and the U. S. Culture Wars“, in: Popular Music, Bd. 32, 2013, S. 407–426; Julio Mendívil, Ein musikalisches Stück Heimat: Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager, Bielefeld 2008. 19 Guido Adler, „Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft“, in: Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft, Bd. 1, 1885, S. 5–20; Bruno Nettl, Encounters in Ethnomusicology. A Memoir, Warren 2002, S. 19–32. 20 Kerstin Klenke u. a., „‚Totgesagte leben länger‘ – Überlegungen zur Relevanz der Musikethnologie“, in: Die Musikforschung, Bd. 56, 2003, H.3, S. 261–271, S. 262 f.; Nettl 2002 (wie Anm. 19), S. 75–92, 117.

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zu gestalten, ein Ziel, das sich 1955 in der Gründung der US-amerikanischen Society for Ethnomusicology manifestierte. Allerdings führte diese Verbindung einer musikwissenschaftlich ausgerichteten und einer ethnologisch orientierten Traditionslinie nicht auch gleich dazu, dass sich die Inhalte in ein neues, homogenes Forschungsfeld gefügt hätten. Vielmehr etablierten sich in der Auseinandersetzung mit dem geteilten Gegenstand – das Verhältnis von Musik und Kultur bzw. Gesellschaft – recht schnell zwei verschiedene Richtungen, die dem Feld eine „Doppelnatur“ aufprägten.21 Die eine dieser Richtungen, eher musikwissenschaftlich ausgerichtet und eng mit dem Namen Mantle Hood verbunden, entwickelte dabei ab den späten 1950er Jahren eine Perspektive, die Musik wie die Künste überhaupt als „camera obscura“ verstand; eine Metapher, die sich durch Hoods gesamtes Lebenswerk zieht und Musik als eine Art Brennpunkt konzipiert, der „die gesamte Identität“ einer Gesellschaft „in lebendigen Farben“ bündelt und also erforschbar macht.22 Der ethnologische Gegenentwurf fand, nur wenige Jahre später, seinen prägenden Ausdruck dann in Alan Merriams oben bereits genannter Charakterisierung von Musikethnologie als „the study of music in culture“23, eine Formel, die ihr bei aller Ambivalenz und zum Teil durchaus substantiellen Kritik24 im Grunde bis heute zumindest dabei hilft, das Feld zu beschreiben.25 Im Kern zäumte Merriam das musikethnologische Pferd von hinten auf: Musikalische Praxen und Vorstellungen, so sein zentrales Anliegen, sollten im kulturellen Kontext verortet und von dort aus verstanden werden, weil musikalische Klänge, so seine Begründung, menschliche Verhaltensweisen darstellten, die grundsätzlich kulturell bestimmt

21 Merriam 1964 (wie Anm. 8), S. 3, 5; Bruno Nettl, „The Dual Nature of Ethnomusicology in North America: The Contributions of Charles Seeger and George Hertzog“, in: Comparative Musicology and Anthropology of Music. Essays in the History of Ethnomusicology, hg. von Bruno Nettl und Philip V. Bohlman, Chicago und London 1991, S. 266–276. 22 Ki Mantle Hood, „Ethnomusicology’s Bronze Age in Y2K“, in: Ethnomusicology, Bd. 44, 2000, H. 3, S. 365– 375, S. 365: „[T]he arts are a kind of camera obscura of society. Like that optical wonder, they reduce the whole of its identity – sanctions and values, sacred and secular beliefs and customs – to a faithful reflection in miniature, in living colors.“; vgl. auch Hood 1958, zit. in Alan P. Merriam, „Purposes of Ethnomusicology, an Anthropological View“, in: Ethnomusicology, Bd. 7, 1963, H. 3, S. 206–213, S. 210; Ki Mantle Hood, The Ethnomusicologist, New York 1971, S. XVIII. 23 Merriam 1960 (wie Anm. 7), S. 109; Merriam 1964 (wie Anm. 7), S. 6. 24 Vgl. z. B. Antony Seeger, Why Suyá Sing. A Musical Anthropology of an Amazonian People [1987], Urbana und Chicago 2004, S. XIIV–XIV; Steven Feld, Sound and Sentiment. Birds, Weeping, Poetics, and Song in Kaluli Expression [1982], Philadelphia 2012, S. XIII–XXXIIX. 25 Timothy Rice, Ethnomusicology. A Very Short Introduction, Oxford u. a. 2014, S.3–4, 9; Bruno Nettl, The Study of Ethnomusicology. Thirty-Three Discussions, Urbana u. a. 2015, S. 16. Hood dagegen wird heute vor allem wg. seiner ethnomusikwissenschaftlichen Methode der doppelten musikalischen Sozialisation (bi-musicality) erinnert – neben der organisatorischen Errungenschaft, an der University of California Los Angeles (UCLA) das bis heute größte Ethnomusicology-Department gegründet zu haben; Ki Mantle Hood, „Training and Research Methods in Ethnomusicology“, in: Ethnomusicology Newsletter, Bd. 11, 1957, S. 2–8; Ki Mantle Hood, Institute of Ethnomusicology, Publication of the Institute of Ethnomusicology, University of California Los Angeles, California 1961.

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seien.26 Es war dieser Gegensatz zwischen einem stärker musikwissenschaftlichen Zugang, der sich Kultur durch Musik zu erschließen versuchte, und einem eher ethnologischen Zugang, dessen Anliegen war, ein Verständnis spezifischer Musiken vor dem Hintergrund ihrer sozialen und kulturellen Zusammenhänge zu entwickeln, der das Fach von nun an bestimmte.27 So trägt zum Beispiel John Blacking diese Unterscheidung in seinem vielgelesenen Meilenstein How Musical is Man? von 1973 weiter, wenn er sich einmal mit Music in Society and Culture, einmal mit Society and Culture in Music beschäftigt und derart jedem der beiden Zugänge ein gesondertes Kapitel widmet, anstatt sie zu verbinden.28 Und wie der von Henry Stobart 2008 herausgegebene Sammelband The New (Ethno) Musicologies deutlich zeigt,29 bestimmt der Gegensatz von musikwissenschaftlichen bzw. ethnologischen Zugängen zu musikethnologisch-ethnomusikologischen Fragestellungen das Forschungsfeld auch heute noch – bis zu dem Punkt, an dem eine Ethnologin, die sich mit Musik befasst, dezidiert nicht als „ethnomusicologist“ angesprochen werden will.30 So gegensätzlich die Zugänge zum geteilten Thema auch waren, vereinte beide Positionen aber doch von Anfang an dasselbe grundlegende Anliegen: nämlich eine radikale Kritik des ästhetischen Universalismus vorzunehmen, in dem sich diejenige zugleich eurozentrische und elitistische Haltung ausdrückt, der gemäß musikalisches Schaffen in der westlichen Kunstmusik seinen Höhepunkt fand, und ihr eine Lesart musikalischer Praxis weltweit entgegenzustellen, die den Maßstab für die Bewertung von Musik nicht in der Ausgestaltung der Musik an sich, sondern in den sozialen Prozessen und kulturellen Orientierungen derer sahen, die diese Musiken spielten, hörten und – öfter als nicht – auch tanzten. Und auch nachdem das Feld sich gut ein weiteres halbes Jahrhundert nach seiner „doppelten“ Konstitution erneut und grundlegend neu justiert hat, bestimmt dieses in seinem Kern relativistische Anliegen, das nach kulturbasierten Zugängen verlangt, den musikethnologischen bzw. ethnomusikologischen Zugang im Grundsatz noch immer. Denn zwar suchen auch Ethnomusikolog*innen und Musikethnolog*innen inzwischen, beeinflusst durch Globalisierungs- und Translokalitätsdebatten, längst nicht mehr nur nach den „traditionellen“ Musiken spezifischer Orte, sondern beschäftigen sich vor allem mit der weltweiten oder jedenfalls überregionalen Verbreitung musikalischer Gattungen; eine Wende, die mit einer weiträumigen Hinwendung auch zu populären Musikformen 26 Merriam 1964 (wie Anm. 8), S. 7: „Music is a product of man and has structure, but its structure cannot have an existence of its own divorced from the behavior which produces it. In order to understand why a music structure exists as it does, we must also understand how and why the behavior that produces it is as it is, and how and why the concepts which underlie that behavior are ordered in such a way as to produce the particularly desired form of organized sound“; vgl. auch Merriam 1960 (wie Anm. 8), S. 6–7. 27 Dabei bewegte sich auch Merriam bereits kurze Zeit später mit der neuen Formel „music as culture“ in Richtung einer Melange; vgl. dazu Nettl 2015 (wie Anm. 25), S. 231–247. 28 John Blacking, How Musical is Man? [1973], Seattle und London 2000. 29 The New (Ethno)musicologies, hg. von Henry Stobart, Lanham/MD u. a. 2008. 30 Michelle Bigenho, „Why I’m Not an Ethnomusicologist: A View from Anthropology“, in: The New (Ethno) musicologies, hg. von Henry Stobart, Lanham/MD u. a. 2008, S. 28–39.

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einherging. Und sie tun dies auch nicht mehr in demjenigen „kulturessentialistischen“ Rahmen, in dem der Kulturrelativismus zu seiner Blüte kam, sondern in einem kulturtheoretischen Argumentationszusammenhang, der seinen Ausgang von der Tatsache nimmt, dass Kultur und Identität Konstruktionen sind, die von den sozialen und politischen Konstellationen abhängen, in denen sie vorgenommen werden, nicht zuletzt nationalstaatliche Rahmungen31 oder kosmopolitane Orientierungen32. Dennoch interessiert man sich auch in diesem neuen Paradigma vor allem wieder für die spezifischen „Aneignungen“33 oder „Übersetzungen“34 der überlokalen Musikformen in die jeweils lokalen Kontexte und also doch auch wieder für die Arten und Weisen, in der weltweit zirkulierende Musiken an ganz bestimmten Orten der Welt ihre besonderen Ausprägungen und Bedeutungen erhalten. Dieser relativierende Blick, der das zentrale Moment globaler Musik gerade nicht in der Musik selbst, sondern grundsätzlich in den kulturspezifischen Konstruktionen dieser Musik erkennt, ist dabei gerade auch in einer vernetzten Welt von Bedeutung, in der die Versuchung ja groß ist, bereits bestehendes Wissen um globale Phänomene zu verabsolutieren und also unangemessen zu universalisieren. Das Problem ist aber eben, dass dieser lokalisierende Blick, gerade weil er sich so dezidiert der Gegenseite verschrieben hat, die Handlungsmacht strukturell negiert, die dem Klang von Musik zumindest potentiell eben auch innewohnt, und in seinem sowohl epistemologisch als auch ethisch getriebenen Anliegen den möglichen Beitrag übersieht, den Musiken, ob sie nun global zirkulieren oder nicht, zu ihrer ästhetischen Erfahrung selbst leisten. Dieser Blick, auf der einen Seite so klar bestimmt, übersieht also auf der anderen all dasjenige – oder tendiert jedenfalls dazu, all dasjenige zu übersehen – was Musiken aufgrund ihres ästhetischen Wesens nicht nur an Klängen, sondern auch an spezifischen Haltungen und Praktiken, Sehnsüchten oder Phantasien in ihnen bislang unvertraute Kontexte hineinzutragen vermögen. Was die Frage nach dem Wesen lokaler Aneignungen und damit letztlich die Frage nach Kultur angeht wohnt diesem – an sich ja sehr wohlmeinenden – Negieren des musikalischen Klangs paradoxerweise dann doch auch wieder die Tendenz zu einem nicht nur epistemologisch, sondern auch ethisch und politisch fragwürdigen othering inne, zu einer überpauschalen „Veranderung“ von Menschen anderer Weltgegenden also; eine Kritik, die auf Saids postkoloniale Reflexion des Orientalismus zurückverweist35 und die Kofi Agawu in seinem Buch Representing African Music in Bezug auf die Auseinanderset31 Kelly Askew, Performing the Nation. Swahili Music and Cultural Politics in Tanzania, Chicago u. a. 2002. 32 Steven Feld, Jazz Cosmopolitanism in Accra. Five musical years in Ghana, Durham u. a. 2012; Skinner 2015 (wie Anm. 9). 33 Georgina Born und David Desmondhalgh, „Introduction: On Difference, Representation and Appropriation in Music“, in: dies.: Western music and its others: Difference, Representation and Appropriation in Music, Berkeley u. a. 2000, S. 1–58, S. 21–31. 34 Isabelle Marc, „Travelling Songs: On Popular Music Transfer and Translation“, in: IASPM@Journal, Bd. 5, 2015, H. 2, S. 3–21. 35 Edward Said, Orientalism [1978], London u. a. 2003.

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zung mit „afrikanischer Musik“ bereits 2003 überzeugend herausgearbeitet hat.36 Und in musikästhetischer Hinsicht führt der konsequent postkoloniale Blick, für den Musik grundsätzlich immer nur das ist, was die Menschen anderer Weltgegenden vor Ort aus ihr machen, am Ende eben dazu, dass dem musikalischen Klang spätestens dort eine grundsätzliche Handlungsmacht aberkannt wird, wo er nicht auf bereits bestehende Muster rekurriert, von denen aus ihm eine lokalspezifische Bedeutung zugeschrieben werden kann. Für die Epiphanien der madagassischen Metalheads heißt dies, dass Musikethnologie und Ethnomusikologie im Grunde nicht über das theoretische Rüstzeug verfügen, um das, was die Metalheads selbst als ein Zentrum ihrer Musikerfahrung beschreiben, in der Form tatsächlich auch ernst zu nehmen, wie sie es beschreiben. Lieber wird man hier danach fragen, vor welchem sozialen und kulturellen bzw. sozial- und zeithistorischen Hintergrund man sich im madagassischen Hochland für Heavy Metal begeisterte, um die betreffende Begeisterung dann in Bezug auf diese Hintergründe zu erklären. Die Möglichkeit, dass die Musik selbst etwas in sich trägt, das das Wesen ihrer Erfahrung bestimmt oder jedenfalls signifikant mitbestimmt, weil ihr Sound in dem Moment, in dem man sich ihm hingibt, eine bestimmte Form ästhetischer Erfahrung induziert, wird dabei vielleicht nicht explizit ausgeschlossen, aber doch auch nicht in Rechnung gestellt. Mit der Folge dann eben, dass Musik und ihre Erfahrung implizit zu einem bloßen Reflex der lokalspezifischen Umstände verkommen.

Musik, Erfahrung, Existenz Für madagassische Metalfans und -musiker steht die Handlungsmacht der Musik, von der sie einst gepackt wurden und der sie seither die Treue halten, vollkommen außer Frage. Denn nicht nur erleben sie diese Handlungsmacht permanent, sondern sie sind im Grunde auch ständig auf der Suche nach ihr: wenn sie die Kopfhörer ihrer Smartphones in die Ohren stecken; wenn sie sich treffen, um gemeinsam Musikvideos oder Konzertmitschnitte anzusehen; wenn sie im Proberaum ihre Instrumente einstöpseln; oder wenn sie sich bei Konzerten vor die Bühne stellen, um die Wucht der Musik am ganzen Leib zu erfahren bzw. körperlich auszudrücken. Vor allem im letzten Fall wird die Handlungsmacht der Musik offenkundig, wenn beispielsweise der treibende Groove der Musik sich in rhythmisches „Headbangen“ übersetzt, charakterstarke Gitarrenpassagen das Mitspielen auf „Luftgitarren“ erzwingen oder wenn musikalische Höhepunkte — der erlösende Eingang in den Refrain, die Steigerung der Spannung durch einen spontanen Tonartwechsel – Zuhörern die Fäuste nach oben reißen, Zeige- und kleinen Finger zum Teufelsgruß gespreizt. Allerdings übersteigt die Handlungsmacht von Heavy Metal die

36 Kofi Agawu, Representing African Music. Postcolonial Notes, Queries, Positions, New York und London 2003.

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Gestaltung derartiger Momente ästhetischer Erfahrung in Madagaskar beträchtlich.37 Nicht nur wirkt das musikalische Erlebnis über den konkreten Moment deutlich hinaus; es tut dies auch in einer sehr umfassenden Weise, die oft signifikante Teile des Lebens miteinschließt, und ist insofern, was von den Betroffenen so auch artikuliert wird, in seiner Bedeutung durchaus „existentiell“.38 Von besonderer Relevanz für die hier zentrale Frage nach der Handlungsmacht von Metal-Musik ist dabei, dass sich ein klarer Zusammenhang zwischen einerseits der ästhetischen Gestalt der Musik selbst und anderseits der Art und Weise zeigt, wie diese Musik mit konkreten Bereichen des Lebens in eine Beziehung tritt; ein Zusammenhang, der die Handlungsmacht musikalischen Klangs zwar nicht wirklich „beweist“, der aber, wenn man ihn ethnographisch verfolgt, doch nahelegt, dass die Art und Weise, auf die Musik erklingt, einen Beitrag dafür leistet, wie sie erfahren, reflektiert und zu Dimensionen des Lebens in ein Verhältnis gebracht wird. Was den madagassischen Heavy Metal angeht, treten dabei vor allem fünf ästhetische Themen ins Zentrum, die in der konkreten ästhetischen Erfahrung zwar ineinander spielen, mit denen ich mich nun aber doch aus analytischen Gründen in fünf ethnographischen Blitzlichtern getrennt voneinander beschäftigen möchte: die Kraft oder treffender power der Musik, ihre namensgebende Härte, die Momente der Aggression und des Fantastischen bzw. Epischen, sowie schließlich die enorme musikalische Virtuosität, die diese Musik ihrem eigenen Anspruch nach und oft auch tatsächlich auszeichnet. Ziel des Ganzen ist dabei, in der gebotenen Kürze das Zusammenspiel von Musik, ästhetischer Erfahrung und Praxis aus Sicht des musikalischen Klangs zu skizzieren.

Power Die Kraft, die Heavy Metal denen verleiht, die ihn hören und spielen, ist wohl das präsenteste Thema, wenn es in Madagaskar um die Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Heavy Metal geht, üblicherweise und besser charakterisiert durch das englische Wort power, weil hier, wie auch beim französischen force oder puissance, die Tatsache stärker mitschwingt, dass man selbst von dieser Kraft auch erfasst wird. Musikalisch ist diese power des Heavy Metal fundamental an die verzerrten Gitarrensounds gebunden, die 37 Wenn ich im Folgenden von Metal in Madagaskar spreche, heißt dies nicht, dass alles, was ich beschreibe, nur dort auf die beschriebene Weise gilt. Zwar meine ich durchaus, dass Metal sich in Madagaskar auf spezifische Weise ausprägt; dennoch gibt es zahllose Aspekte, in denen lokale und überlokale Aspekte sich gleichen, wenn nicht in der Sache, so doch oft im Anspruch. Wenn ich im Folgenden von madagassischem Metal spreche, tue ich dies, um mich nicht zu dieser lokal-globalen Problemstellung verhalten zu müssen, die hier nicht im Zentrum der Überlegungen steht – und um meine empirischen Forschungsergebnisse, die sich ja nun auf den madagassischen Metal beziehen, über Gebühr zu verallgemeinern. 38 Albrecht Wellmer, „Über Negativität, Autonomie und Welthaltigkeit der Musik. Oder: Musik als existenzielle Erfahrung“, in: Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 167, 2006, H. 1, S. 16–21. Michael Jackson, The Work of Art. Rethinking the Elementary Forms of Religious Life, New York 2016, S. 1–5.

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ihn definieren und seine Entstehung eng an die Entwicklung technischer Infrastrukturen binden; denn es sind vor allem die dominanten Ober- und Untertöne, die dem verzerrten Klang der Gitarren die nötige Dichte und so die erstrebte power verleihen.39 Dennoch ist über die Jahre und Jahrzehnte ein ganzes Arsenal an musikalischen wie klangtechnischen Strategien entstanden, die wesentlich zum Ziel haben, die Musik mit immer mehr power anzureichern und von denen die double bass-Technik der Schlagzeuger und die oft sehr schnellen Riffs der Rhythmusgitarristen nur zwei besonders offenkundige darstellen. Diese power wird nun beim Hören dieser Musik nicht nur deutlich wahr- und aufgenommen, sie wird sehr explizit auch ins „echte“ Leben transferiert. Geschichten davon, wie die Musik durch ihre enorme Energie dabei geholfen hat, diejenige Energie selbst aufzubringen, derer es bedarf, um Momente besonderer Herausforderung zu bewältigen,40 gehören auch in Madagaskar zu denen, die man sich häufig erzählt und die man immer dann zu hören bekommt, wenn man konkrete Personen nach den Gründen ihrer Leidenschaft für Heavy Metal fragt. Die Probleme selbst sind dabei keineswegs typisch für Madagaskar: es geht um das Überwinden von Schicksalsschlägen und persönlichen Krisen, um das Verzweifeln an Anforderungen, die die Gesellschaft an einen stellt oder um die Anstrengung, die es für manche bereits bedeutet, ein Leben leben zu sollen. In ihren konkreten Ausprägungen stehen diese Probleme aber doch auch in einem Zusammenhang mit den spezifischen Bedingungen, unter denen das Leben im madagassischen Hochland steht. Der Umgang mit Armut oder jedenfalls materiellem Mangel ist dabei ein wichtiges Thema, selbst dort noch, wo dieser Mangel sich im gemeinhin üblichen Rahmen bewegt und also noch keine existenzbedrohenden Züge annimmt. Auch die Erfahrung von Ausgrenzung und Stigmatisierung gehört dazu, die sich in Madagaskar aus der sozialen wie regionalen Herkunft speisen kann und sich am Aussehen aufhängt, weil man im madagassischen Hochland, trotz anderslautender Beteuerungen,41 die Differenz von Adeligen, Freien und Sklaven noch genauso wenig überwunden hat wie die zwischen vermeintlich „asiatischer“ bzw. „afrikanischer“ Herkunft.42 Auch die Allgegenwart eines durch und durch korrupten Staates, dem die Schuld am Nichtfunktionieren der öffentlichen Einrichtungen zugeschrieben wird, beschneidet das Leben überall dort, wo man seine Interessen nicht mit Hilfe von Geld oder Beziehungen durchzusetzen vermag. All diese und zahllose andere 39 Walser 1993 (wie Anm. 11), S. 41–45; Harris Berger und Cornelia Fales, „‚Heaviness‘ in the Perception of Heavy Metal Guitar Timbres: the Match of Perceptual and Acoustic Features over Time“, in: Wired for Sound. Engineering and Technologies in Sonic Cultures, hg. von Paul D. Green und Thomas Porcello, Middletown 2005, S. 181–197. 40 Vgl. z. B. Rosemary Hill, „Emo Saved My Life: Challenging the Mainstream Discourse of Mental Illness around My Chemical Romance“, in: Can I Play with Madness? Metal, Dissonance, Madness and Alienation, hg. von Colin A. McKinnon, Niall Scott und Kristen Sollee, Oxford 2011, S. 143–154. 41 Mareike Späth und Helihanta Rajaonarison, „National Days between Commemoration and Celebration: Remembering 1947 and 1960 in Madagascar“, in: Anthropology Southern Africa, Bd. 36, 2013, H. 1–2, S. 47– 57. 42 Verne 2017 (wie Anm. 13).

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Momente werden von madagassischen Metalfans als erdrückend empfunden, weil sie ihnen verunmöglichen, ihr Leben auf erfüllende Art und Weise zu leben. Heavy Metal lässt sie dabei an der power teilhaben, die er ästhetisch inszeniert, und wird ihnen so zu derjenigen im Grunde mystischen Kraftquelle, derer sie bedürfen, um ihr Leben in widrigen Umständen zu meistern. Dabei gibt er der verliehenen power durch seine spezifische Gestalt auch gleich eine Stoßrichtung vor: sich den existentiellen Erschütterungen zu stellen nämlich und sich gegen sie zu behaupten. Womit allerdings, wie wir unten noch sehen werden, weniger der politische Kampf gegen die Umstände gemeint ist als vielmehr der Kampf gegen sich selbst und den eigenen Weltschmerz, mit dem Ziel, nach innen und außen Stärke zu zeigen und sich von den Umständen nicht erdrücken zu lassen.

Härte „Härte“ ist das definitorische Merkmal von Heavy Metal: historisch wie systematisch ist es der gesteigerte Härtegrad, der diese Musik von Hard Rock absetzt, dem weniger „harten“ Nachbarn, der die Härte doch schon im Namen trägt. Auch Härte wird durch eine Vielzahl musikalischer Techniken produziert, und auch sie wird nicht nur gehört, sondern erfahren und gelebt. Tatsächlich lässt sich Härte als Kernmoment einer spezifischen Metal-Ethik verstehen, die die Musik moduliert, die sich in Phrasen von „metal sein“ oder etwas „auf metal Weise tun“ artikuliert und die sich am Ende sowohl in alltäglichen Praxen als auch in grundlegenden Ideologien und Überzeugungen manifestiert. Ob es dabei darum geht, sich bei einsetzendem Regen nicht gleich unter ein schützendes Dach zu flüchten, sondern genau da stehen zu bleiben, wo man gerade steht und den Regen eben Regen sein zu lassen, oder ob man sich fundamentalen Anforderungen der Gesellschaft entgegenstellt und bereit ist, für seine Überzeugungen weitreichende Konsequenzen zu tragen – einen Job zu verlieren zum Beispiel, weil man sich weigert, sich entsprechend zu kleiden: „Metal sein“ heißt auch in Madagaskar, sich selbst und die eigenen Überzeugungen zum zentralen Kriterium des eigenen Handelns zu machen, eine Haltung, die in Gesprächen immer wieder eingefordert wird und an der das Handeln all derer bewertet wird, die sich selbst, ob explizit oder durch ihre öffentliche Inszenierung, als „metal“ bezeichnen. Auch wenn alle natürlich genau wissen, dass es de facto gar nicht möglich ist, sich kompromisslos an nichts als den eigenen Überzeugungen zu orientieren, fordert diese Ethik der Härte aber doch ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit ein und verlangt damit grundsätzlich auch im echten Leben nach derjenigen Authentizität, die die Musik durch ihren Sound, aber auch in all den visuellen und lyrischen Evokationen des Kämpfens für die eigenen Überzeugungen vorgibt. Kehrseite dieser „Ethik der Härte“ ist prinzipiell ein Mangel an Verständnis all denen gegenüber, die sich nicht zu einer solchen Kompromisslosigkeit bekennen, was auch im madagassischen Hochland zu Konflikten mit bestehenden Werten und Handlungsanweisungen führt; einen markanten, weil sehr

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expliziten Gegenpol nehmen dabei die christlichen Kirchen und ihre aus der Bibel abgeleiteten Grundpositionen ein, die sich um Schwäche, Versündigung und Vergebung drehen und einer „Ethik der Härte“ damit zunächst diametral gegenüberstehen. Nur in vereinzelten Ausprägungen steigert sich dieser latente Konflikt allerdings tatsächlich in satanistisch-antichristliche Positionen,43 obwohl es dafür im frühen norwegischen Black Metal ein international berühmtes und auch in Madagaskar bekanntes Vorbild gibt.44 Ansonsten mündet die Metal-Ethik trotz ihrer Allgegenwart weder im Satanismus, noch führt sie in erkennbarem Maß zu antisozialem Verhalten; tatsächlich verstehen sich die meisten madagassischen Metalheads durchaus auch als Christen und verbinden, der prinzipiellen Inkommensurabilität zum Trotz,45 ihre Metal-Ethik der Härte mit Vorstellungen von Gegenseitigkeit und Nächstenliebe. Wie alle Ideologien, die in Alltagskontexten als Leitfaden spezifischer Lebensführungen behauptet werden, wird die Suppe auch hier lang nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird; man weiß eben doch um die Differenz von Kunst und Leben. Und so dient diese Ethik den madagassischen Metalfans am Ende eher als allgemeine und situativ bedeutsame Richtschnur denn als allumfassende und handlungsleitende Ideologie. Trotzdem hilft der hohe ethische Anspruch, den die Musik ästhetisch vermittelt, vielen mit denen ich über diese Dinge gesprochen habe eben doch auch bei ihrem Versuch, einen gewissen Grad an Freiheit für ein Leben zu beanspruchen, das selbstbestimmter ist als dies die Regeln der madagassischen Mehrheitsgesellschaft eigentlich gestatten – und die Folgen, die dieser Anspruch möglicherweise zeitigt, dann eben auch in Kauf zu nehmen. Die anhaltende sinnliche Konfrontation mit dem ethischen Anspruch erneuert dabei nicht nur immer wieder den Schwur, sondern verleiht, wie wir gesehen haben, in ihrem Pathos auch die Kraft, diesem Anspruch wenn nicht zu folgen, so doch immerhin folgen zu wollen; was für die madagassischen Metalheads auch dann von existentieller Bedeutung ist, wenn dieses Ziel am Ende vor allem in symbolischen Akten erreicht wird.

Aggression Das Moment der Aggression, das vor allem in den extremeren Spielarten des Metal tatsächlich von großer Bedeutung ist, ist wohl dasjenige, das in der Sozialgeschichte des Heavy Metal die meisten und höchsten Wellen schlug. Musikalisch tritt diese Aggression heute vielleicht am markantesten in den gutturalen Gesangsstilen zu Tage, in den

43 Verne 2012 (wie Anm. 3). 44 Michael Moynihan und Didrik Søderlind, Lords of Chaos. The Bloody Rise of the Satanic Metal Underground, Venice 1998. 45 Eva Spies, „Coping with Religious Diversity: Incommensurability and Other Perspectives“, in: A Companion to the Anthropology of Religion, hg. von Janice Boddy und Michael Lambek, Malden u. a. 2013, S. 118–136.

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growls, shouts und screams46 durch die die oft mit Gewaltphantasien verbundenen Texte vorgetragen werden und die für die insistierende und aufpeitschende Wirkung der Musik von maßgeblicher Bedeutung sind. Anders als dies seit dem großen Erfolg von Heavy Metal in den frühen 1980ern in bürgerlichen Kreisen befürchtet wird,47 übersetzt sich diese Aggression durchaus nicht in eine generell aggressive Haltung anderen Menschen gegenüber. Nicht umsonst gilt beispielsweise das „Wacken Open Air“, eines der größten Metal-Festivals weltweit, seit Jahren als Hort eines ungewöhnlich friedlichen Musikgenusses und wird, wie schon eine oberflächliche Internetrecherche zeigt, in der Presse Jahr für Jahr auch als solches gefeiert – wohl gerade weil dies von Außenstehenden so nicht erwartet wird. Auch wissenschaftliche Publikationen, die sich empirisch mit der Frage nach der Bedeutung „transgressiver“ Inszenierungen im Metal befassen, verweisen seit Jahren darauf, dass es sich hier um eine gegenkulturelle „Kontroverse“48 handelt, bei der das kompetitive Ausreizen möglichst extremer Musik und Positionen einen Selbstzweck darstellt und einzig dem Vergnügen dient.49 Und entsprechend sind auch in Madagaskar Metalheads keineswegs weniger friedliebend als die Menschen um sie herum – auch wenn ihr Ruf hier nach wie vor klar das Gegenteil behauptet. Trotzdem spielen Aggression und Aggressivität bzw. das sich affizieren Lassen durch die Aggressivität der Musik eben doch auch in diesem ästhetischen Feld eine Rolle, und zwar in der konkreten Musikerfahrung. Am augenscheinlichsten tritt dies dort zum Vorschein, wo bei Konzerten die laute Musik kollektiv und mit dem ganzen Körper erfahren wird: vor der Bühne. Die Tanzstile, in die die Musik dabei übersetzt wird, sprechen hier eine klare Sprache – das zwar nicht bösartige, aber eben doch „aggressive“ und gelegentlich durchaus schmerzhafte wechselseitige Anrempeln im Moshpit genau wie dessen Kollektivierung in der sogenannten Wall of Death, bei der zwei Fronten, die sich auf ein Zeichen hin bilden, auf Kommando und mit der Wucht zweier Heere aufeinanderprallen. Blaue Flecken und aufgeplatzten Augenbrauen werden dabei nicht nur in Kauf genommen, vielmehr ist die Möglichkeit, selbst tatsächlich Schmerz zu erleiden und anderen Verletzungen zuzufügen, ein inhärenter Bestandteil dieser Tanzformen. Die Ambivalenz ist dabei Programm: Denn nur ein im Kern ungeklärtes Verhältnis des als aggressiv inszenierten Tanzens zur „echten“ Aggression, wie sie, wenngleich auch hier nicht ohne Ambivalenz, auf der Bühne ästhetisch hergestellt wird, gestattet dasjenige authentische Erleben von Aggression, das einen Kern ästhetischer Metal-Erfahrung bildet; nur dadurch, dass am Ende eben nicht gänzlich klar ist, worum es bei der Aggressivität im Moshpit tatsächlich geht, lässt sich ihr Wesen im

46 Michelle Phillipov, Death Metal and Music Criticism. Analysis at the Limits, Lanham/MD u. a. 2012, S. 79–80. 47 Weinstein 1991/2000 (wie Anm. 4), S. 247–250, 265–275. 48 Titus Hjelm, Keith Kahn-Harris und Mark LeVine, „Heavy metal as controversy and counterculture“, in: Popular Music History, Bd. 6, 2011, H. 1 und 2, S. 5–18. 49 Phillipov 2012 (wie Anm. 46), S. 91–105; auch Walser 1993 (wie Anm. 11), S. 55–65.

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Tanz überhaupt sinnlich erfahren.50 Dieselbe Ambivalenz zeigt sich dabei spiegelverkehrt auch in den Momenten spontaner Fürsorge, durch die aggressive Handlungen, wenn sie erkennbare Folgen haben, immer gleich wieder gekontert und entschärft werden – wenn zum Beispiel einem Gestürzten sofort aufgeholfen oder ein Moshpit spontan beendet wird, um zu sehen, ob ein Verletzter tatsächlich der Hilfe bedarf.51 Dass die Verursacher von Schmerz für ihr Verhalten nicht verantwortlich gemacht werden, solange sie sich in einem sozial akzeptierten Bereich bewegen, deutet auch hier auf die Handlungsmacht der Musik hin, oder jedenfalls darauf, dass ihr diese Handlungsmacht kollektiv zugestanden wird: Es ist die Musik, die die Tänzer tanzen lässt, und zwar ihrem ureigensten Wesen gemäß – in der Folge ist es auch sie, die für die Konsequenzen verantwortlich zeichnet. Wie uneindeutig das Wesen der getanzten Aggressivität ist zeigt sich schließlich auch in der Tatsache, dass die Kanalisation des musikalischen Affekts keineswegs auf die dafür vorgesehenen ritualisierten Bereiche beschränkt bleibt, sondern leicht überhandnehmen und aus dem Ruder laufen kann. In Madagaskar manifestierte sich dies zur Zeit meiner Forschung besonders deutlich in der Tatsache, dass es den Veranstaltern und Veranstalterinnen von Metal-Konzerten zunehmend schwerfiel, geeignete Veranstaltungsorte zu finden. Denn zwar gibt es in der madagassischen Hauptstadt zahlreiche „Volkstheaterhäuser“ (tranompokonolona), Konzertgelände, Kneipen und Veranstaltungszentren, die diesem Zweck im Grunde sehr gut dienen könnten. Die Metal-Konzerte waren allerdings bei den betreffenden Verantwortlichen bekannt dafür, dass es bei ihnen gern zu Verwüstungen kommt – und tatsächlich führte die zunehmend aufgeheizte Atmosphäre im Konzertverlauf immer wieder auch dazu, dass Fans damit begannen, mit Flaschen zu werfen und das Mobiliar zu zerstören, trotz einer relativ hohen Polizeipräsenz und warnender Bitten der Organisator*innen im Vorfeld. Und so war die Bereitschaft der entsprechend Verantwortlichen eben oft auch nur noch gering, sich auf das Wagnis eines Metal-Events einzulassen. Die Folge war, dass Konzerte an immer unpassenderen Orten durchgeführt wurden, die sich nur insofern noch für ein solches Konzert eigneten, als dort kaum etwas kaputt zu machen war. Für den ohnehin schwer handhabbaren dichten Sound der Musik war dies in vielen Fällen derart abträglich, dass von der Musik außer Lärm nicht mehr viel übrigblieb. (Vielsagend ist in diesem Zusammenhang, dass die weltberühmte, inzwischen seit über vierzig Jahren aktive britische Heavy Metal-Band Iron Maiden die Zehntausenden Besucher ihrer Konzerte immer erst mit dem atmosphärisch vollkommen 50 Vgl. dazu Louise Meintjes, Dust of the Zulu. Ngoma Aesthetics After Apartheid, Durham und London 2017, S. 107, 119–120. 51 Gabrielle Riches, „Embracing the Chaos. Mosh Pits, Extreme Metal Music and Liminality“, in: Journal for Cultural Research, Bd. 15, 2011, H. 3, S. 315–332, S. 326–327; Gabrielle Riches, „‚Caught in a Mosh‘: Moshpit Culture, Extreme Metal Music and the Reconceptualization of Leisure“, Thesis submitted to the Faculty of Graduate Studies and Research in partial fulfillment of the requirements for the degree of Master of Arts in Recreation and Leisure Studies, Faculty of Physical Education and Recreation, Edmonton und ­A lberta 2012, [https://era.library.ualberta.ca/items/10209a3d-118a-4312-bfd5-33e82bb9e2d2] (22. Mai 2021), S. 53–56.

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unpassenden Lied „Always Look On the Bright Side of Life“ aus Monty Pythons Leben des Brian aus ihrer aufgewühlten, potentiell aggressiven Stimmungslage befreit, bevor sie sie, derart gebändigt, wieder in die Realität entlässt).52

Fantastik / Epik Das Moment des Fantastischen ist ein weiteres und sehr markantes ästhetisches Kernmoment von Heavy Metal, das sich in dessen verschiedenen Untergenres allerdings sehr unterschiedlich ausgestaltet und von Tötungs- und Gewaltphantasien über sexuelle Perversionen bis hin zu Fantasy-Szenarien im engeren Sinne reicht, in denen der ewige Kampf von Gut gegen Böse in quasi-mittelalterlichen Umgebungen ausgefochten wird. Die fantastischen Welten, die musikalisch auf heterogene Weise, aber oft mit pathetischem Tenor ausgestaltet werden und die neben der musikalischen Form auch Texte und visuelle Komponenten charakterisieren – allem voran das Cover-Artwork – sind dabei grundsätzlich dunkel und „transgressiv“53: es geht um Abgründe unterschiedlichster Art, die in ihrer Tiefe und ihren Konsequenzen ausgelotet werden. Dass es dabei nicht nur um die Erfahrung dunkler Lüste und beklemmender Konstellationen geht, sondern auch um die Notwendigkeit, sich ihnen immer dann zu stellen und aufzubegehren, wenn sie den eigenen Überzeugungen entgegenstehen – und zwar im Metal-Stil, d. h. kompromisslos und ohne nach den Konsequenzen zu fragen – erklärt dabei die Allgegenwart von Metaphoriken des Kampfes und des Kämpfens, die sich in zahllosen Varianten durch die Metal-Welt ziehen und von blutdurchtränkten Texten und martialischen Ikonographien bis hin zu den typischen, in Sound und Rhythmus Maschinengewehrsalven nachempfundenen blast beats der Schlagzeuger reichen. In der Metal-Forschung, beispielweise im Kontext der leisure-studies, wird oft betont, dass es sich hier letztlich doch nur um eine Freizeitaktivität und also um „Spaß“ handelt,54 eine Rahmung, der einerseits eine konsumkritische Note innewohnt, die andererseits aber auch dem Bedürfnis folgt, Metal als etwas zu beschreiben, das nicht die öffentliche Ordnung bedroht. Doch als Musik ist es dieser Musik grundsätzlich ernst. Und es ist genau dieser Ernst, der Kritiker und Kritikerinnen an vielen Stellen irritiert, weil er mit einer zutiefst unkritischen Art und Weise einhergeht, in der diese ästhetischen Untersuchungen ins Reich fantastischer Welten stattfinden und 52 Vgl. Scot McFadyen und Sam Dunn, Iron Maiden: Flight 666, United Kingdom und Canada 2009, Konzert-CD, 1:13:52 und 1:49:38. 53 Keith Kahn-Harris, „Metal Beyond Metal“, in: Souciant 2014, o. P. [http://souciant.com/2014/01/metal-beyond-metal/] [22. Mai 2021]. 54 Karl Spracklen, „Sex, drugs, Satan and rock and roll: re-thinking dark leisure, from theoretical framework to an exploration of pop-rock-metal music norms“, in: Annals of Leisure Research, Bd. 21, 2018, H. 4, S. 407– 423, S.413.

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also eine offen apolitische Haltung vis-a-vis der behandelten Stoffe repräsentiert.55 Je abseitiger dabei die Themen, desto unangenehmer wird diesen Kritiker*innen die Tatsache, dass die Inszenierungen keine erkennbare Distanz zu dem einnehmen, was sie da inszenieren; die anhaltende Debatte über die Nazi-Ästhetik der Band Rammstein ist dafür nur ein, wenn auch markantes und aufgrund des Themas weithin diskutiertes Beispiel. Zurecht betont der britische Metal-Forscher Keith Kahn-Harris, dass es sich bei alledem wesentlich um ein Missverständnis handelt, das darauf beruht, dass Außenstehende, anders als die Metalfans selbst, die ästhetischen Inszenierungen des Metal zu ernst nehmen; „metal“ zu sein bedeute eben auch, wie er es formuliert, „to possess a certain ebullient wit and playfulness that those outside metal often mistake for crassness“56. Allerdings konstruiert der Soziologe hier eine Distanz, die in ihrer Absolutheit der Ernsthaftigkeit ästhetischer Metal-Erfahrungen auch wieder nicht ausreichend gerecht wird. Denn zum einen ist die Sorge, dass die ästhetischen Erkundungen fantastischer Welten am Ende doch zu Schablonen für die Gestaltung wirklicher Welten werden, nicht vollkommen ohne Grund, wie sich am oben angesprochenen Beispiel des norwegischen Black Metal ja exemplarisch zeigt, dessen antichristlich-faschistische Exzesse sich am Ende in Mord, Suizid und brennenden Stabkirchen manifestierte.57 Und zum anderen, ein sehr viel zentralerer Punkt, geht es im Metal eben doch darum, abgründige Szenarien so tief wie möglich ästhetisch zu erleben, wobei „Witz“ und „Spielerei“ am Ende genauso stören wie eine kritische Haltung das täte, weil auch sie reflexiv sind und also ebenfalls nach derjenigen distanzierten Haltung verlangen, die das erstrebte sinnliche Aufgehen in der ästhetischen Erfahrung verunmöglicht. Wie bei Kritik, der die Metalheads sich reflexiv verweigern, ist auch im Fall von Ironie ihre Abwesenheit eine Bedingung der Möglichkeit, sich von den fantastischen Welten tatsächlich absorbieren zu lassen. Denn auch sie verlagert, bildlich gesprochen, die ästhetische Erfahrung aus dem Körper ins Gehirn und verhindert so das ästhetische Erlebnis in derjenigen dionysischen58 Form, in der es gesucht wird. Bourdieus pointierte Gegenüberstellung von populärer und bürgerlicher Ästhetik59 setzt genau an diesem Unterschied von unmittelbarer und vermittelter Kunsterfahrung an, wenn er die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem, worum es in einem Bild geht,60 dem „distanzierten“61 Spiel des Wissens gegenüberstellt, wie es im Feld „seriöser“ Kunst gespielt wird, ob

55 Niall Scott, „Heavy Metal and the Deafening Threat of the Apolitical“, in: Popular Music History, Bd. 6, 2018, H. 1–2, S. 224–239. 56 Kahn-Harris 2014 (wie Anm. 53). 57 Moynihan und Søderlind 1998 (wie Anm. 48). 58 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV, Nachgelassene Schriften 1870–1873, Krit. Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 11–156. 59 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [1979], Frankfurt am Main 1987, S. 57–114. 60 Ebd., S. 81–85. 61 Ebd., S. 68–81.

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sich dieses Spiel nun auf Aspekte formaler Gestaltung62 oder darauf bezieht, was ein Bild gerade jenseits dessen auszusagen vermag, was es tatsächlich auch abbildet.63 Zwar geht es ihm grundsätzlich um den Gegensatz zweier ästhetischer Haltungen und den Versuch, diese als Folge gesellschaftlicher Positionierung zu verstehen – mit dem zentralen Ziel, auch das bürgerliche Kunstverständnis als historisch geworden und damit sozial situiert bzw. sozial situierend zu entlarven.64 Dennoch kann dieser Gegensatz auch den hier thematisierten Konflikt um die (Reflexion der) Reflexionsbereitschaft von Metalheads vis-avis ihrer Kunst insofern erhellen, als er die unbedingte Notwendigkeit einer „politischen“ Haltung zur Kunst als eine dekonstruiert, die sich, ihrerseits unkritisch, dem aufklärerischen, intellektualistischen, protestantischen Bedürfnis hingibt, das Sinnliche aus der Kunst zu verbannen bzw. es nur als reflektiertes Sinnliches noch gelten zu lassen.65 Dass diese grundsätzlich distanzierte, in einem kantischen Sinn „kritische“ Position auf Kosten wenn nicht der sinnlichen Erfahrung, dann aber doch der sinnlichen Erkenntnis geht, ist seit der Aufklärung ein zentrales Thema der Ästhetik als Theorie sinnlicher Erkenntnis.66 Dennoch wird man sich nur langsam der Tragweite wieder bewusst, welche Folgen es für das Kunstverständnis – und überhaupt den Weltbezug des Menschen – bedeutet, ihn wesentlich als reflektierendes Wesen zu verstehen.67 Auch in Madagaskar spielt die Unmittelbarkeit der ästhetischen Erfahrung fantastischer Metal-Welten eine große Rolle. Und grundsätzlich wird dieser ernsthaften Erfahrung auch eine große Bedeutung für das Leben jenseits dieser Erfahrung zugestanden. Allerdings geht es, wie schon im Fall der „Metal-Ethik“, auch im Bereich des Fantastischen wieder nicht darum, die ästhetischen Fantasien möglichst eins zu eins ins echte Leben zu übersetzen. Vielmehr geht es darum – sehr viel abstrakter – eine Haltung zur Welt zu befördern, die sich eher für die Möglichkeiten individueller Lebensvollzüge unter den beschriebenen „transgressiven“ Bedingungen der Träume und Leidenschaften, Zwänge und Ängste interessiert als für gesellschaftliche Belange oder das politische Tagesgeschäft.

62 Ebd., S. 94–100. 63 Ebd., S. 63, 87–88. Eine vergleichbar gelagerte, allerdings weniger berühmte Debatte aus der Musiktheorie, die sich ebenfalls um die Frage nach der Angemessenheit eines durch und durch „intellektuellen“ Zugangs zu Musik dreht, stellt die Folgen der musikwissenschaftlichen Hypostasierung der Notation ins Zentrum; vgl. dazu Joseph Kerman, Contemplating Music. Challenges to Musicology, Cambridge 1985; Susan McClary und Robert Walser, „Start Making Sense. Musicology Wrestles with Rock“ [1988], in: On Record. Rock, Pop, and the Written Word, hg. von Simon Frith und Andrew Goodwin, London und New York 1990, S. 277–292; Theodore Gracyk, Listening to Popular Music. Or: How I Learned to Stop Worrying and Love Led Zeppelin, Ann Arbor 2007, S. 134–152. 64 Bourdieu 1987/1979 (wie Anm. 59), S. 57–60, 85–100, 104–114. 65 Ebd., S. 62–63. 66 Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ [1750/58], Hamburg 1983; Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main 2003, S. 15–37. 67 Vgl. für die Ethnologie im allgemeinen Sarah Pink, Doing Sensory Ethnography, Los Angeles u. a. 2009.

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Diesen dunklen, durchaus romantischen „Eskapismus“68 hat Kahn-Harris zwar defizitär, weil aus Sicht eines Apriori gesellschaftlicher Partizipation, in der Sache aber durchaus treffend als „reflexive anti-reflexivity“ beschrieben.69 Diese „anti-reflexive“ Haltung der Metal-Community, die auf einer Entscheidung und also nicht auf Einfalt oder Ignoranz beruht, trat auch während meiner Forschung in Madagaskar permanent zu Tage, und das, obwohl meine Forschungen in politisch außergewöhnlich unruhigen Zeiten stattfand: der Bürgermeister Antananarivos hatte den Präsidenten mit Hilfe des Militärs gerade erst aus dem Amt geputscht und eine „Übergangsregierung“ eingerichtet, die sich, wie sich später zeigte, über mehrere Jahre dahinschleppen sollte, was neben anhaltenden Protesten zum Einfrieren der internationalen Zusammenarbeit und damit dazu führte, dass die ökonomisch ohnehin bereits angespannte Lage sich quasi ad hoc noch einmal deutlich verschärfte. Die Metalfans und Musiker, mit denen gemeinsam ich diese Zeit erlebte, nahmen all dies zwar zur Kenntnis, lebten ihr Leben aber trotzdem nicht erkennbar in dieser politischen Rahmung, sondern in einer zutiefst von Heavy Metal und dessen Imaginationen bzw. Atmosphären geprägten Welt. Fragte ich aktiv nach Einschätzungen der politischen Umstände, erhielt ich stereotype und grundsätzlich desillusionierte Antworten, allesamt Variationen der Position, dass sich, egal was kommt, ohnehin nichts ändern wird; Gespräche über aktuelle Entwicklungen mochten in diesem Zusammenhang kurz aufflammen, aber nur, um schnell wieder abzuebben und denjenigen Themen Platz zu machen, die wichtiger schienen. Während draußen protestiert wurde, lebten sie in der Welt ihrer Musik; anstatt sich in einem politisch aufgeheizten Klima, in dem immerhin die Demokratie zur Debatte stand, gesellschaftlich zu engagieren, konzentrierten sie sich auf ihren praktisch und atmosphärisch durch Metal geprägten Alltag. All das heißt weder, dass die madagassischen Metalfans grundsätzlich keine politische Meinung hätten, noch, dass ihnen nicht auch an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen gelegen wäre. Es zeigt aber doch, dass der eigene Beitrag zu diesen Prozessen dabei nicht im Zentrum steht, weil der ewige Kampf, den man im Metal kämpft, im Wesentlichen ein innerer ist.

Virtuosität Dass es sich bei Heavy Metal nicht um aufwändig produzierten Lärm, sondern um ein extrem virtuoses musikalisches Genre handelt, ist Dank wachsenden medialen Interesses mittlerweile allgemein bekannt, auch wenn man sich jenseits der Metal-Community nach wie vor schwer damit tut, hinter die dicke Wand aus verzerrten Sounds, extremer Geschwindigkeit und – wohl die größte Herausforderung – dem oft nichtmelodiösen Gesang 68 Andreas Dorschel, „Der Welt abhanden kommen. Über musikalischen Eskapismus“, in: Merkur, Bd. 66, 2012, H. 2, S. 135–142. 69 Keith Kahn-Harris, Extreme Metal. Music and Culture on the Edge, Oxford und New York 2007.

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zu gelangen, um diese Virtuosität tatsächlich auch hören zu können. Die geübten Ohren von Metalfans sind dazu nicht nur in der Lage, sondern tatsächlich spielt die Musikalität des Metal in der Auseinandersetzung mit ihm die zentrale Rolle, was für die ansonsten so kontextverliebte Auseinandersetzung mit populärer Musik durchaus ungewöhnlich ist. Entsprechend interessiert man sich in Madagaskars Metal-Szene kaum für das Privatleben der nationalen oder internationalen Stars; auch das Verhältnis der Musik zu gesellschaftlichen Fragen, wie sie ansonsten so oft im Zentrum stehen – zum Beispiel im Hip Hop, beim Schlager oder auch in der Songwriter-Musik – sind hier nicht von Belang. Stattdessen geht es um die Musik als klanglich-ästhetisches Ereignis: um Spieltechniken und Klangfarben, Instrumente und Technologien, Solos und Riffs, den Vergleich von Alben, die musikalische Entwicklung von Bands oder darum, welcher Sound aus welchen Gründen echten Metal repräsentiert und auf welche Weise sich die unzähligen Varianten dieser Musik voneinander unterscheiden. Kernpunkt dessen, was Metalfans in Madagaskar wesentlich umtreibt, ist damit tatsächlich das Klangliche an der Musik – und neben der Wucht des ihn definierenden Sounds ist es vor allem die Virtuosität der Musiker, in der die Musikalität des Genres am augenscheinlichsten zu Tage tritt. Eine herausgehobene Rolle spielen dabei fraglos die Solos der Gitarristen, die seit den Anfängen dieser Musik und bis heute einen Höhepunkt fast aller Metal-Stücke darstellen: Positioniert in der Regel nach dem zweiten Refrain, d. h. gegen Ende des Lieds, wenn dessen harmonische und melodiöse Strukturen Zuhörenden in Fleisch und Blut übergegangen sind, verlangen sie den Solisten insofern viel ab, als der Anspruch an sehr schnelles, dennoch sauberes, kreatives und immer auch melodisches Spiel ungemein hoch ist. Doch auch in den ebenfalls meist sehr schnellen, häufig verzwickten und trotzdem eingängig groovenden Riffs der Begleitgitarren oder den auf extreme Spielgeschwindigkeit angelegten Drum-Patterns zeigen sich die hohen Anforderungen, die Metal an die musikalischen Fertigkeiten der Musiker stellt. Bei diesen technisch wie musikalisch überaus anspruchsvollen Spieltechniken handelt es sich um Prototypen derjenigen „Verzauberungs-“ oder „Verzückungstechnologien“ (technologies of enchantment), die Alfred Gell70 ins ästhetische Zentrum seiner Kunsttheorie stellte. Ihr zufolge entfaltet ein Kunstwerk seinen Zauber durch das unfassliche Können, das der Künstler zur Schau stellt. Das Werk wird dabei zur „Verzückungstechnologie“, die sich auf Seiten der Rezipienten des Werks als „Technologieverzückung“ (enchantments of technology) manifestiert. Die Faszination des oft unbegreiflichen Spielvermögens ergreift also die Zuhörer, sie sind „begeistert“, werden „gepackt“ – auch hier helfen wieder, wie schon am Anfang des Textes, religiöse Metaphern, diesmal aus dem Feld der Besessenheit71 – und dieses „gepackt“ Werden führt dann auch zu kon70 Alfred Gell, „The Technology of Enchantment and The Enchantment of Technology“, in: Anthropology, Art and Aesthetics, hg. von Jeremy Coote und Anthony Shelton, Oxford 1992, S. 40–66. 71 Jeanne Favret-Saada, Die Wörter, der Zauber, der Tod, Frankfurt am Main 1979; Markus Verne, „Begeistert. Musikerfahrung im madagassischen Hochland“, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Bd. 12, 2015, H. 2, S. 145–151.

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kretem Handeln: dazu nämlich, unter anderem, selbst zum Instrument zu greifen. In der konkreten Situation ästhetischer Erfahrung sind dies die vielbelächelten, so gesehen aber fast zwingenden Luftgitarren oder Luft-Schlagzeuge, später dann aber oft auch „echte“ materiale Instrumente, auf denen die derart Verhexten dem Zauber entsprechen und mit Üben beginnen. Tatsächlich habe ich in Madagaskar nur selten Metalfans getroffen, die nicht auch selbst aktiv musizierten. Zwar stellt ein Instrument zu besitzen hier durchaus einen Luxus dar. Trotzdem drängte es die meisten offensichtlich dazu, den musikalischen Affekt in aktives Spiel zu übersetzen, so dass sie die notwendigen Hebel in Bewegung setzen, um an ein Instrument zu kommen – im Notfall eine der an sich unpassenden, aber erschwinglichen, alten und schäbigen Konzertgitarren, die man im madagassischen Hochland fast überall findet, ihrer bereits einhundertfünfzigjährigen Geschichte vor Ort und der großen Bedeutung zum Dank, die sie in der madagassischen Musikkultur seit Jahrzehnten durchwegs genießt.72 Das Anliegen, ein Instrument so spielen zu können, dass man einige Lieblingslieder auf ihm mitspielen kann, vielleicht sogar so gut, dass es für das Zusammenspiel mit anderen in einer eigenen Band reicht, nimmt in Madagaskar recht schnell lebensbestimmende Züge an. Dies tut es zum einen, weil Metal-Musiker zu sein überhaupt schnell zum bestimmenden Identitätsmarker wird, auch dann, wenn die Band und ihre Musik nur wenigen Eingeweihten bekannt ist; die äußere Erscheinung – schwarze Kleidung, die typischen Metal-T-Shirts,73 lange Haare – bezeugt den entsprechenden Wandel und trägt mit dafür Sorge, dass sich auch das soziale Umfeld entsprechend neu gruppiert. Zum anderen aber muss, wer es ernst meint mit der Metal-Musik, auch eifrig investieren, und zwar sowohl Lebenszeit als auch Geld, wobei beide Momente in Madagaskar oft eng miteinander verwoben sind. Denn das eigene Musizieren verlangt nicht nur nach einem für madagassische Verhältnisse sehr teuren Instrument, sondern – eben wegen des generell hohen Anspruchs – auch nach sehr viel Zeit. Endloses Üben, fast immer im Selbststudium unter Zuhilfenahme von kursierenden Heften oder Internet-Tutorials, später dann auch das gemeinsame Komponieren und Einüben von Stücken in Proberäumen, das Vorbereiten und Spielen von Konzerten oder das Aufnehmen der Musik in Studios, um die eigene Band auch promoten zu können: All dies verlangt nach beträchtlichem Einsatz. Wer noch jung ist, hat diese Zeit zwar grundsätzlich, dafür fehlen oft die Mittel für die musikalische Infrastruktur, was nicht nur ein möglichst gutes und also grundsätzlich teures Instrument einschließt, sondern auch die notwendigen Saiten oder Felle, Kabel und Mikros, Soundeffekte, Computer – die meisten Sounds entstehen heute digital – oder die stundenweise 72 Ian Anderson, „Gitara gasy!“ F http://www.rootsworld.com/rw/feature/malagasy-guitar.html; [urspr. veröffentlich in FolkRoots 1998] [22. Mai 2021]. Die Folge dieser relativ kostengünstigen Möglichkeit ist, dass es der madagassischen Metalmusiker-Szene signifikant an Nicht-Gitarristen fehlt. 73 Andy Brown, „Rethinking the Subcultural Commodity. The Case of Heavy Metal T-shirt Culture(s)“, in: Youth Cultures: Scenes, Subcultures and Tribes, hg. von Paul Hodkinson und Wolfgang Deicke, New York und London 2007, S. 63–78.

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zu mietenden, zwar mit Drum-Kit und Verstärkern ausgestatteten, dafür aber auch teuren Proberäume. Wer alt genug ist, um einer „echten“ Arbeit nachzugehen, wer also nicht mehr in der Schule ist, studiert, oder sich mit kleineren Botengängen, dem Beaufsichtigen von Internetcafés oder einem wackeligen Business mit raubkopierten VDCs oder Telefonkarten durchschlägt, hat diese Mittel zumindest eher, dafür fehlt es ihm oder ihr jetzt an der nötigen Zeit und Muße. Die Folge ist in beiden Fällen, dass man sich recht schnell entscheiden muss zwischen einem Leben, das sich um nicht mehr viel anderes als um Musik dreht, und einem, in dem die Musik lange nicht den Raum einnehmen kann, nach dem sie verlangt. Wobei, wenn das Alter fortschreitet und der wachsende soziale Druck nach stabilen Verhältnissen und einer eigenen Familie verlangt, die Entscheidung zwar ab und an, aber doch zunehmend selten zugunsten des Musiker-Daseins ausfällt. Der Ausstieg aus dem aktiven Musikerleben artikuliert sich dabei oft in einer Weise, die symbolisch ein „eigentlich nach wie vor Musiker sein“ zelebriert; in einem sublimierten Musikerdasein also, das weiterhin privilegierten Zugang zur Musikalität des Metal und damit nicht nur zu einem seiner zentralen ästhetischen Marker, sondern letztlich zum Metal per se beansprucht, und das in der Wertschätzung deutlich zu Tage tritt, die Musiker ihren alternden Gitarren, Bässen oder Schlagzeugen einräumen, oft bis ins fortgeschrittene Alter.

Musik, Erfahrung, Handlungsmacht, Kulturrelativismus Was heißt dies nun alles für das Spannungsverhältnis zwischen ästhetischer Handlungsmacht des musikalischen Klangs auf der einen und der kulturrelativistischen Grundstimmung des musikethnologisch-ethnomusikologischen Unterfangens auf der anderen Seite? Zunächst gilt es, kritisch festzuhalten, dass sich die Handlungsmacht musikalischer Klänge empirisch natürlich nicht zweifelsfrei „beweisen“ lässt. Was in der Empirie zu Tage tritt sind Zusammenhänge, die, wenn es um die Frage der Verursachung geht, der Interpretation bedürfen. Insofern lässt sich auf Basis ethnographischer Untersuchungen grundsätzlich nie abschließend „belegen“, dass die Musik selbst über Handlungsmacht verfügt und also mehr ist als ein Ort, an dem soziale, kulturelle, politische, ökonomische oder sonstige historisch gewordene Verhältnisse sich ausdrücken. Dennoch zeigt die ethnographische Auseinandersetzung mit ästhetischen Dimensionen des madagassischen Metal aber eben doch, dass sich die These eines Beitrags der Musik selbst zu ihrer Erfahrung, ihrer Reflexion und zu der Art und Weise, wie sie mit konkreten Lebensvollzügen und also mit den sozialen und kulturellen Verhältnissen in Zusammenhang tritt, auch aus empirischer Perspektive vertreten lässt. Und der Grund dafür ist nicht nur, dass Musik von denjenigen als handlungsmächtig behauptet wird, um die es hier geht, und dass es zunächst auch keinen Grund gibt, ihren Stimmen nicht zu glauben. Die These lässt sich auch deshalb empirisch gut vertreten, weil man die Handlungsmacht musikalischer Phänomene, wie ich das oben zumindest skizzenhaft zu tun versucht habe, ethnographisch tatsächlich

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nachverfolgen kann, in den kurzen Momenten konkreter Musikerfahrung genau wie in Hinblick auf deren reflexive Bearbeitung und am Ende sogar in Bezug auf die Gestaltung ganzer Lebensvollzüge. Dabei ist sie deutlich weniger auf situationsunabhängige theoretische Vorannahmen über das Verhältnis von Kunst, Kultur und Gesellschaft angewiesen als diejenigen Positionen, die sie, ohne deren Kernbestände über Bord zu werfen, substantiell erweitern möchte. Denn weder muss sie a priori, axiomatisch und mehr oder weniger ausschließlich unterstellen, dass Musikgeschmack sich erschöpfend aus den je lokalen (wenngleich global mitbestimmten) Verhältnissen erklärt, um denjenigen kulturellen Relativismus weiterhin vertreten zu können, von dem die Musikethnologie einst ihren Ausgang nahm, der das Feld bei aller Ausdifferenzierung in seinem Kern bis heute prägt und den es schon deshalb weiterhin zu verteidigen gilt, weil vorschnelle Universalismen, die in Wahrheit nur uninformierte Eurozentrismen sind, hier immer wieder aufflackern.74 Noch muss, wer die Möglichkeit einer Handlungsmacht auch des musikalischen Klangs einräumt, musikalische Präferenzen und Praktiken allein aus den historisch gewordenen, außermusikalischen und zumeist kapitalistischen (oder, inzwischen, neoliberalen) Verhältnissen deduzieren, wie dies im Gefolge derjenigen „kritischen“ Zugänge üblich geworden ist, die von der Frankfurter „Kritischen Theorie“ und den British Cultural Studies ihren Ausgang nahmen75 und dem Studium globaler populärer Musiken ihren unverkennbaren Stempel aufgedrückt haben. Stattdessen lässt sich dort ansetzen, wo diejenigen, um die es geht, der Musik empirisch tatsächlich auch begegnen: bei ihrem Klang nämlich bzw. bei dessen Erfahrung. Für eine Musikethnologie, die der Möglichkeit einer Handlungsmacht des musikalischen Klangs Rechnung tragen möchte, bedeutet all dies, dass sie prinzipiell einen Weg finden muss, die große Bedeutung, die die je spezifischen Umstände für die Ausprägung ästhetischer Orientierungen zweifellos besitzen, mit der Frage nach klanglichen Ereignissen und deren jeweiligen Erfahrungen zu verbinden – Erfahrungen die, wie im Fall von Heavy Metal in Madagaskar, ihre spezifischen Umstände potentiell transzendieren, ohne dabei aber gleich unabhängig von ihnen zu sein.76 Was die ethnographische Beschäftigung mit dem Verhältnis von Musik, Kultur und Gesellschaft in bestimmten Lokalitäten angeht übersetzt sich dieses prinzipielle Anliegen in die methodische Notwendigkeit, neben den etablierten Parametern – kulturelle Vorstellungen, soziale Prozesse, politische Notwendigkeiten, ökonomische Verhältnisse, technologische Infrastrukturen – auch ei74 Birgit Abels, „Von Kühen und Hasen. Der Tagtraum von der Autonomie ‚der‘ Musik (und einige Gedanken zu deren Eigenästhetik“, in: Von der Autonomie des Klangs zur Heteronomie der Musik. Musikwissenschaftliche Antworten auf Musikphilosophie, hg. von Nikolaus Urbanek und Melanie Wald-Fuhrmann, Stuttgart 2018, S. 87–102. 75 Andy Bennett, „Towards a Cultural Sociology of Popular Music?“, in: Journal of Sociology, Bd. 4, 2008, H. 4, S. 419–432. 76 Markus Verne, „Music, Transcendence, and the Need for (Existential) Anthropologies of the Individual“, in: Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 140, 2015, H. 1, S. 75–89.

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nen Weg zu finden, die lokale Bedeutung des klanglich Erfahrenen sowohl empirisch nachzuvollziehen, als auch in Interpretationen mit einzubeziehen, was, eben weil die Erfahrung von Klang auch an das Klangliche selbst gebunden ist, dessen Materialität bzw. Physikalität zwar miteinschließt, aus dieser jedoch nicht ableitbar ist. Und was die theoretische Bewältigung betrifft, kann die musikethnologische Forschung dabei an all diejenigen Überlegungen anschließen, die Objekte in ihrer spezifischen Eigenheit und Handlungsmächtigkeit neu zu bestimmen versuchen – auch wenn es sich im Fall von Klang prinzipiell um ein flüchtiges Objekt handelt. Diese Überlegungen sind in sich durchaus heterogen und schließen Bruno Latours Behauptung einer agency von Objekten,77 die er objektivistisch dadurch begründet, dass Nägel ohne Hämmer eben nicht in der Wand landen können78 genauso ein wie posthumanistische Versuche, über den cartesianischen Dualismus und verwandte Dichotomien hinauszudenken, wie sie nicht nur in der Neubestimmung des Materiellen, sondern zum Beispiel auch in der ethnologischen Neubewertung des Animismus zu Tage treten.79 Auch Tim Ingolds erfahrungsbasierte Ontologien können hier als Vorbild dienen, in die sich die Welt durch ihre Wahrnehmung einschreibt – beispielsweise beim Barfußgehen80 – und die den hier zur Debatte stehenden Spagat insofern gelungen vorführen, als sie die konkrete Erfahrung materialer Welten mit der grundsätzlichen Möglichkeit verbinden, diese auf verschiedene Weisen mit Sinn zu versehen, was, ein anderes Beispiel, die Erde auch wieder als Scheibe zu verstehen erlaubt.81 Gemeinsam ist diesen Zugängen bei aller Differenz, dass sie das, was Gegeben ist, nicht mehr nur als etwas verstehen wollen, das seine Gestalt und Bedeutung lediglich dadurch erhält, dass wir es als etwas Bestimmtes anschauen – es also einseitig „korrelationistisch“ konzipieren82 – sondern als etwas, das durchaus auch als es selbst sowohl da ist als auch eine Rolle spielt, wobei die Tatsache, dass es da ist und eine Rolle spielt, eben nicht auch gleich bedeutet, dass es überall auf dieselbe Weise da ist und immer dieselbe Rolle spielt. Es geht bei alledem also nicht darum, das Klangliche wieder als universalistische Kategorie und damit letztlich apriorisch aus Sicht eurozentrischer Vermutungen zu fassen. Es geht aber doch darum, über einen zu einseitigen Blick auf die lokale Praxis hinauszugelangen und, wie Steven Feld dies formuliert, der dieses Anliegen im Bereich 77 Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford u. a. 2007, S. 63–86. 78 Latour 2007 (wie Anm. 82), S. 71–72. 79 Amiria Henare, Martin Holbraad und Sari Wastell, „Introduction: Thinking Through Things“, in: dies., Thinking Through Things. Theorizing Artefacts Ethnographically, London und New York 2007, S. 1–31; Eduardo Viveiros de Castro, „Cosmological deixis and Amerindian perspectivism“, in: Journal of the Royal Anthropological Institute, Bd. 4, 1998, H. 3, S. 469–88; Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur [2005], Frankfurt am Main 2011; siehe dazu auch den Beitrag von Guido Sprenger in vorliegendem Band. 80 Tim Ingold, „Culture on the Ground. The World Perceived Through the Feet“, in: ders., Being Alive. Essays on Movement, Knowledge and Description, New York u. a. 2011, S. 33–50. 81 Tim Ingold, „Rethinking the Animate, Reanimating Thought“, in: ders., Being Alive. Essays on Movement, Knowledge and Description, New York u. a. 2011, S. 67–77. 82 Vgl. dazu Annika Schlitte in vorliegendem Band.

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der ethnologischen Erforschung von Klang und Musik wohl am nachdrücklichsten verfolgt, „to add a critical posthuman and posthumanist perspective to the continued insistence on the centrality of human practice and agency“83. Der in der Einleitung zu diesem Band ausgeführte Versuch, die Handlungsmacht ästhetischer Objekte darauf zu gründen, dass sie ihnen zugestanden wird, ohne sie dabei aber in der Art dieses „Zugeständnisses“ aufgehen zu lassen, ist unser theoretischer Versuch, beide Positionen zu vermitteln. Ein Versuch, dessen Notwendigkeit in meinem Fall auf der empirischen Einsicht gründet, dass Musik aufgrund ihrer spezifischen Gestalt auch dort Imaginationen hervorrufen kann, wo sie auf mit ihr unvertraute Ohren stößt – Imaginationen, die, wie Appadurai schon vor einer ganzen Weile in Bezug auf die fortschreitend vernetzte Welt schrieb, nie nur abstrakte Ideen bleiben, sondern sich immer auch in soziale Tatsachen übersetzen.84 83 Steven Feld, „On Post-Ethnomusicology Alternatives: Acoustemology“, in: Perspectives on a 21st Century Comparative Musicology. Ethnomusicology or Transcultural Musicology?, hg. von Francesco Giannattasio und Giovanni Giuriati, Udine 2017, S. 82–98, S. 84. 84 Arjun Appadurai, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996, S. 31.

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Abbildungsnachweise

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Ilka Becker, Pilze und Dekomposition in der künstlerischen Praxis Abb. 1 © National Gallery of Australia, 2020, https://artsearch.nga.gov.au/detail.cfm ?irn=34045 (abgerufen 04.07.2020); Abb. 2 © Robert Rauschenberg Foundation, 2020, https://www.rauschenbergfoundation.org/art/artwork/dirt-painting-john-cage (abgerufen 30.08.2020); Abb. 3 Gordon Matta-Clark, Ausst.-Kat. IVAM Centre Julio González, Valencia, u. a., Valencia 1993, S. 74; Abb. 4 http://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/­dieter-roth/schimmelbild-ZQlp2S1_Dwc6S1RkjnjVFw2 (abgerufen 30.07.2020); Abb. 5 © Diether Roth Museum und Diether Roth Estate, 2020, https://www.dieterrothmuseum.org/­Schimmelmuseum/ (abgerufen 31.08.2020); Abb. 6 © Lee Ranaldo 2020; Foto: Jan Slavik (05.07.2012), http:// www.sonicyouth.com/symu/lee/2012/02/17/­decomposition-for-john-cage/ (abgerufen am 30.08.2020); Abb. 7 © Diana Lelonek 2020, http://dianalelonek.com/portfolio/zoe-therapy/ (abgerufen 30.08.2020); Abb. 8 © Jae Rhim Lee 2020,© Coeio 2016, © Ecoosfera 2020, https://ecoosfera.com/2017/12/arte-ecologico-funeral-jae-rhim-lee-infinity-­burial-suit/ (abgerufen am 30.08.2020); Abb. 9 © Claire Pentecost 2020, Claire Pentecost, „Notes from Underground“, Scapegoat Journal, Nr. 04 (2013), S. 277–299, hier S. 281.

Benjamin Wihstutz, Agency durch Abwesenheit Abb. 1–3, 7–9 Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin. Foto © Andrea Rossetti; Abb. 4 aus: Hans-Friedrich Bormann, Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik, München 2005, S.137; Abb. 5 Foto: Gary Krueger, © Michael Asher Foundation; Abb. 6 Foto: Werner Lengemann, © VG Bild-Kunst. Mit Genehmigung des documenta Archivs, Kassel.

198 Abbildungsnachweise

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Abbildungsnachweise

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