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German Pages 370 [372] Year 1998
Anne-Franfoise Ehrhard Die Grammatik von Johann Christian Heyse
W G DE
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann
45
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
Anne-Franf oise Ehrhard
Die Grammatik von Johann Christian Heyse Kontinuität und Wandel im Verhältnis von Allgemeiner Grammatik und Schulgrammatik (1814-1914)
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufhahme Ehrhard, Anne-Franjoise: Die Grammatik von Johann Christian Heyse : Kontinuität und Wandel im Verhältnis von allgemeiner Grammatik und Schulgrammatik ; (1814-1914) / Anne-Franfoise Ehrhard. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Studia linguistica Germanica ; 45) ISBN 3-11-014624-X
© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüdetitz & Bauer-GmbH, Berlin
Meinen Eltern, in tiefer Dankbarkeit
Abb. 1.
Porträt von Johann Christian Heyse (1764-1829)
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist ein Auszug aus meiner ursprünglich auf französisch verfaßten Dissertation, deren Titel lautete: "Un si£cle de pensöe grammatical et syntaxique: la grammaire de Johann Christian Heyse (1814-1914)". Sie wurde am 29. Januar 1993 (Paris IV Sorbonne) im Fachbereich germanistischer Linguistik verteidigt. Der hier veröffentlichte Text mit seinen drei Kapiteln ist eine Übersetzung und Bearbeitung der zwei ersten Bände. Das vierte Kapitel der ursprünglichen Arbeit befaßt sich mit der Diachronie des Deutschen im Laufe des 19. Jahrhunderts, zeigt konkrete Wandlungen der Syntax auf, wie sie in den Grammatiken von Johann Christian Heyse und seinen Nachfolgern nachzuvollziehen waren. Die neue Perspektive, in die diese Studie somit gerückt wird, und die Schwierigkeiten der Übersetzung (u.a. in der Terminologie, bei Rückübersetzungen ins Deutsche) erklären zum Teil den Verzug bei der Veröffentlichung. Ich möchte insbesondere meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Paul Valentin, danken, der mich seit meiner Studienzeit durch seine Leitung sehr gefördert hat. Besonderer Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Oskar Reichmann (Heidelberg), der meine Arbeit empfohlen, und Herrn Professor Dr. Stefan Sonderegger (Zürich), der sie auf französisch gelesen hat. Beiden verdanke ich die Aufnahme in die Reihe "Studia Linguistica Germanica". Vielmals danke ich Frau Dr. Brigitte Schöning vom De Gruyter Verlag. Ohne ihre Geduld angesichts meiner Verspätung sowie die drucktechnische Beratung durch Herrn Andreas Vollmer wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Für die Übersetzung ins Deutsche der drei ersten Kapitel meiner Dissertation in ihrer urspünglichen Fassung danke ich der Romanistin Frau Angelika Lochmann. Dank schulde ich auch dem DAAD, der mir ein dreimonatiges Stipendium für Forschungen in Deutschland im Sommer 1990 gewährt hat. In diesem Rahmen wurde mir an der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz von Frau Dr. Stolzenberg der Zugang zum ergiebigen Heyse-Familienarchiv erleichtert, in dem sich zahlreiche Dokumente, Briefe und Werke von Johann Christian Heyse sowie anderen Grammatikern, mit denen er in Briefwechsel stand, befinden. Einige Wochen an der Bayerischen Staatsbibliothek ermöglichten mir Zugang zur Korrespondenz Carl Wilhelm Heyses und seiner Brüder Theodor und Gustav mit ihrem Vater Johann Christian Heyse, und seinem Sohn Paul Heyse. Hier bin ich der Betreuung durch Frau Dr. Sigrid von Moisy zu Dank ver-
χ
Vorwort
pflichtet. Die Universitätsbibliothek Augsburg besitzt ergiebiges Material an Grammatiken des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt an Heyse-Grammatiken. Frühere Forschung am Marbacher Literaturarchiv über den Briefwechsel zwischen Wilhelm von Humboldt und Jean-Francois Champollion hatte mir ermöglicht, einen noch unveröffentlichten Brief Wilhelm von Humboldts an Johann Christian Heyse aufzufinden. Ich erhielt die freundliche Erlaubnis, diesen Brief zu publizieren. Bei der Entzifferung und Transkription von Briefen in deutscher Schrift sage ich meiner Mutter innigen Dank. In Frankreich gebührt mein Dank Herrn Professor Dr. Sylvain Auroux, Directeur de recherches am C.N.R.S. (Centre national de la recherche scientifique), der Auszüge aus dem zweiten Kapitel kritisch durchlas und mir wichtige Hinweise zu allgemeinen Grammatiken der französischen Tradition gab. Für ihre konstruktive Kritik danke ich ebenfalls sehr Frau Professor Dr. Gertrud Greciano (Strasbourg II). Mein Dank wendet sich auch an die Straßburger Universitätsbibliothek (Bibliothäque nationale et universitaire de Strasbourg), in deren Besitz sich infolge des 1871 gegründeten Fonds viele Grammatiken des 19. Jahrhunderts und zahlreiche Ausgaben der Heyseschen befinden. Große Unterstützung fand ich bei ihrem Konservator, Herrn Georges Freychet, der mir Zugang zu älteren Grammatiken und auch zu denen Heyses erleichterte, sowie durch die genaue Arbeit der Femleihe. Beratung in genealogischen Fragen, methodologische Hinweise bei der Bearbeitung von Archiv-Materialien und bildtechnische Hilfe bei der Verwertung meiner zahlreichen Mikrofilme gewährte mir sehr freundschaftlich das Straßburger Stadtarchiv in Gestalt ihres Direktors, Herrn Dr. Jean-Yves Mariotte, und ihres Conservateur-archiviste, Herrn Georges Foessel. Die schwierigen Jahre der Forschung bei belastendem beruflichem Einsatz und die Zeit der Publikationsarbeit hätte ich ohne den ständigen ermutigenden Zuspruch meiner Eltern kaum durchgehalten. In Dankbarkeit ist diese Arbeit ihnen zugeeignet.
Lille, im Sommer 1997
A.-F. E.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
IX
Einleitung
1
Kapitel I: Johann Christian Heyse und seine Nachfolger bis zu Otto Lyon - Entstehungsgeschichte eines grammatikalischen Denkens 7 0. Einleitung
9
1. Herkunft der Familie Heyse 1.1 Kontinuität 1.2 Stammbaum der Familie Heyse 1.2.1 Allgemeines 1.2.2 Zwei Bestimmungen: Kaufleute und Erzieher
14 14 15 15 16
2. Zur 2.1 2.2 2.3
20 20 21 22
Biographie Die Jahre Die Jahre Die Jahre
Johann Christian August Heyses 1764-1790 1790-1806 1806-1829
3. Das Werk Johann Christian August Heyses 24 3.1 Johann Christian Heyses pädagogischer Ansatz 25 3.1.1 Grundlegende pädagogische Werte und Ziele 26 3.1.2 Erziehung der jungen Mädchen und Wichtigkeit der Sprachen 28 3.2 Das sprachwissenschaftliche Werk: Pädagogik und Sprachunterricht 30 3.2.1 Veröffentlichungen zur Grammatik 30 3.2.1.1 Neuausgaben der Grammatiken und Titeländerungen . . . . 31 Exkurs: Johann Christian Heyses Beitrag zur Lexikographie 33 3.2.2 Kulturelle und pädagogische Zielsetzung des neusprachlichen Unterrichts 34
XII
Inhaltsverzeichnis
3.2.3 Die politische Funktion der muttersprachlichen Kompetenz . . 35 3.2.3.1 Verwendung der Beispiele 35 3.2.3.2 Die Heysesche Grammatik vor dem Hintergrund der der nationalistischen Bewegung 36 4. Rezeption Johann Christian Heyses 41 4.1 Die weite Verbreitung der Grammatiken 41 4.2 Rezensionen, Veröffentlichungen, Briefwechsel 44 4.2.1 Rezensionen 44 4.2.2 Selbständige Veröffentlichungen 45 4.2.3 Heyses Briefwechsel 46 4.3 Johann Christian Heyses Anerkennung in den intellektuellen Kreisen 47 4.3.1 Verleihung der Doktorwürde 47 4.3.2 Johann Christian Heyse als Mitglied des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache und der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache 48 4.3.2.1 Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache 49 4.3.2.2 Frankfurtischer Gelehrtenverein für deutsche Sprache . . . 50 4.3.2.3 Sechs Werte der deutschen Sprache, die es nach Grotefend zu verteidigen gilt 53 5. Die späteren Bearbeiter der Heyseschen Grammatik 56 5.1 Carl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855) 56 5.1.1 Die prägenden Jahre (1797-1827) 57 5.1.2 Laufbahn (1828-1855) 59 5.1.3 Carl Wilhelm Heyses Arbeitsgebiete 61 5.1.3.1 Lehrtätigkeit 61 5.1.3.2 Veröffentlichungen- die Fortführung des väterlichen Werks 62 5.1.3.3 Die Bibliothek Carl Wilhelm Heyses 64 5.2 Friedrich Theodor Heyse und Gustav Ferdinand Heyse 66 5.2.1 Friedrich Theodor Heyse (1803-1864) 66 5.2.2 Gustav Ferdinand Heyse (1809-1883) 67 5.3 Otto Lyon (1853- 1912) 69 5.3.1 Zur Biographie 69 5.3.1.1 Lehrer und Schulbeamter 69 5.3.1.2 Veröffentlichungen, der intellektuelle Durchbruch 70 5.3.2 Otto Lyon und die Neuausgabe der Heyseschen Werke . . . . 72 5.3.2.1 Neubearbeitungen 72 5.3.2.2 Schulpolitik und Sprachunterricht -"Gesamterziehung" und Willensbildung 73 5.3.2.3 Neuansatz - Mündlichkeit gegen Schriftlichkeit 74
Inhaltsverzeichnis
6. Zusammenfassung
XIII
76
Kapitel II: Allgemeine Grammatik und Syntax: Divergierende Einflüsse (1814-1838) 79 0. Einleitung
81
1. Grammatisches Denken 85 1.1 Eine Grammatik des Ausgleichs 85 1.1.1 Ein programmatischer Titel 85 1.1.2 Ineinandergreifen von Theorie und Praxis 87 1.1.3 Aufbau der Grammatik: Ähnlichkeiten und Unterschiede . . . 89 1.2 Grammatik und Sprache 90 1.2.1 Untersuchungsgegenstand: Heyses Definition des Hochdeutschen 91 1.2.2 Normative Grammatik - traditionnelle Definitionen 92 1.2.2.1 Einzelgrammatik und Vernunft 93 1.2.2.2 Allgemeine Grammatik und Einzelsprache 93 1.2.2.3 Regel, Sprachgebrauch und Analogie 95 1.2.2.4 Gebrauch und Vernunftlehre: der Grammatiker als Gesetzgeber 96 1.2.3 Didaktischer Zweck der Grammatik - Grammatik als Kunst und Wissenschaft 99 2. Syntax 2.1 Heyses allgemeine Bestimmung der Syntax 2.1.1 Semantisch-topologische Definition, niedere und höhere Syntax 2.1.2 Eine Morpho-Syntax 2.2 Niedere Syntax 2.2.1 Redeteile - Begriffsanalyse in der Nachfolge der allgemeinen Grammatik 2.2.1.1 Allgemeine Begriffsbestimmung 2.2.1.2 Die verschiedenen Redeteile 2.2.1.3 Begriffsbestimmungen des Satzes 2.2.1.4 Entsprechung zwischen Redeteilen und den Funktionen von Subjekt und Prädikat 2.2.2 Einzelanalysen: Tradition und neue Impulse 2.2.2.1 Das Verb - Einflüsse von Adelung und Steinheil
102 102 102 104 106 106 106 108 110 113 116 116
XIV
2.3
2.4
Inhaltsverzeichnis
2.2.2.2 Modi und Tempora 2.2.2.2.1 Modus, Begriffsbestimmung 2.2.2.2.2 Heyse und die Kantische Definition der Modalität . . 2.2.2.2.3 Die Kategorie der Zeit und die Tempora (1814-1826). 2.2.2.2.4 Die Kategorie der Zeit und die Tempora Die Neuerung von 1827^ 2.2.2.2.5 Etzlers System, die beiden Konjunktivreihen, und seine Kritik an Heyses System der Tempora und Modi.. . . 2.2.2.2.6 Die Zeitenfolge 2.2.2.2.7 Politische Auswirkung der Festlegung und genauen Beschreibung eines Modus 2.2.2.3 Die Konjunktionen 2.2.2.3.1 Der Zeitraum 1814-1822: Semantische Klassifikation.. 2.2.2.3.2 Die Klassifikation ab 1825/1827: Zweiteilung 2.2.2.3.3 Theodor Heyse in der Pflicht anderer Grammatiker. . Höhere Syntax - Wortfolge und Satzlehre 2.3.1 Satzlehre und allgemeine Grammatik 2.3.1.1 Das System Girards und die deutsche allgemeine Grammatik 2.3.1.2 Das System Girards bei Heyse 2.3.2 Die Stellung der Wörter im Satz - die "natürliche Wortfolge" 2.3.2.1 Stellung des Prädikats bei Johann Christian Heyse . . . . 2.3.2.2 Stellung des Prädikats bei Theodor Heyse: Erneuerung, das Prinzip der inneren Kohärenz 2.3.3 Verallgemeinerung - Skizze einer Typologie Höhere Syntax - Wortfolge und die Klassifikation von Sätzen. . . 2.4.1 1814 - Die Klassifikation der Sätze 2.4.1.1 "Form" und "Inhalt" 2.4.1.2 Die vier großen Satzarten, die Wortfolge 2.4.1.3 Einflüsse 2.4.1.3.1 Johann Christian Heyse und Adelung 2.4.1.3.2 Vergleich mit der Grammatik von Heinsius 2.4.2 Die Einteilung von 1827 : Wortfolge und Klassifikation, Neuerungen 2.4.2.1 Klassifikation und Versetzung 2.4.2.1.1 Die Hauptversetzungen 2.4.2.1.2 Nebeninversionen 2.4.2.2 Von der Verbindung und Folge der Sätze - Unterschied zwischen semantisch-logischer und syntaktischer Ebene . 2.4.2.2.1 Beiordnung 2.4.2.2.2 Unterordnung
119 119 121 122 126 129 132 133 134 136 137 141 147 147 148 150 152 152 153 156 159 160 160 160 161 161 162 163 163 164 165 166 167 169
Inhaltsverzeichnis
2.4.3 Theodor Heyse und seine Zeitgenossen 2.4.3.1 Theodor Heyse und der Frankfurtische Gelehrtenverein . 2.4.3.2 Theodor Heyse und der Grammatiker Boye 3 Zusammenfassung
XV 170 171 171 174
Kapitel III: Grammatik und Syntax (1838-1914): Auf dem Weg zur Vereinheitlichung 177 0.Einleitung
179
1. Carl Wilhelm Heyses grammatisches Denken 183 1.1 Eine "philosphische Grammatik" 183 1.1.1 Der Mensch als sprachliches Wesen - Auf dem Weg zu einer Sprachpsychologie 184 1.1.1.1 Individuum, Sprache und Bewußtsein: Dualität des Menschen 184 1.1.1.2 Die beiden Bewußtseinsstufen 185 1.1.1.3 Sprache und Geist 186 1.1.2 Verbindung zur Bewußtseinsphilosophie von Christian Wolff 187 1.1.3 Carl Wilhelm Heyses Kritik am Denken Fichtes 188 1.2 Sprache und Energie, organizistisches Denken: Carl Wilhelm Heyse und Wilhelm von Humboldt 190 1.2.1 Nähe und Distanz zum Denken Wilhelm vonHumboldts . . 191 1.2.1.1 Carl Wilhelm Heyse-Geist und Energie 193 1.2.1.2 Geist und Erkenntnis 194 1.2.2 Die Kritik an Karl Ferdinand Beckers "Organismus" der Sprache 195 1.3 Die geschichtliche Dimension 198 1.3.1 Vermittlung zwischen historischer Grammatik und Schulgrammatik 198 1.3.2 Niederschlag der Vermittlung in der Grammatik 200 1.3.2.1 Die inhaltliche und referentiell-wissenschaftliche Lesart 200 1.3.2.2 Morphologie und Etymologie 202 1.3.2.3 Dialekte 203 1.3.3 Sprachtypologie 204 1.3.3.1 Sprachtypologie und Geschichtlichkeit der Sprachen . . 205 1.3.3.2 Typologie und Sprach-Idee 206
XVI
Inhaltsverzeichnis
2. Der praktisch-theoretische Ansatz 2.1 Beziehung zur Muttersprache und zum Hochdeutschen . . . . 2.2 Regel und Gebrauch 2.3 Theorie und Praxis
208 208 209 210
3. Strukturierung und Syntax 3.1 Der Aufbau der Grammatiken Carl Wilhelm Heyses 3.2 Syntax als Satz-Lehre 3.2.1 Primat des Satzes 3.2.1.1 Die Assertion oder "Aussage" als Ausdruck des Denkens 3.2.1.2 Das prädikative Verhältnis 3.2.1.3 Aufhebung der Übereinstimmung von Satz und logischem Urteil 3.2.1.4 Satz und Rede 3.2.2 Satz und Wortarten 3.2.2.1 Stoffwörter 3.2.2.2 Formwörter 3.2.2.3 Interjektionen 3.2.3 Wesen (nature) und Funktion - die Struktur des einfachen Satzes 3.2.4 Carl Wilhelm Heyses Randbemerkungen auf einem Brief Boyes an Johann Christian Heyse vom 24. September 1826. 3.2.5 Einteilung der Sätze 3.2.5.1 Einteilung der einfachen Sätze - Form, Inhalt, Modalität 3.2.5.2 Der erweiterte Satz 3.2.5.3 Der zusammengesetzte Satz 3.3 Wortfolge - die Folge der Bestimmungen 3.3.1 Allgemeine Gesetze des Denkens und Wortfolge 3.3.2 Neuansätze 3.3.2.1 Ordnung der Bestimmungen 3.3.2.2 Syntaktische Funktionen - das System Girards 3.3.2.3 Versetzungen 3.4 Einzelanalysen zu den Kategorien und Wortarten 3.4.1 Zu Heyses Betrachtung der Kasus im allgemeinen 3.4.2 Modi und Tempora 3.4.2.1 Der Konjunktiv: Alte und neue Ansichten (1830-1840) . 3.4.2.2 Modi und Tempora nach 1840 3.4.3 Fügewörter
213 214 216 216 217 218
4. Otto Lyon und die Heysesche Grammatik 4.1 Treue zum Aulbau der Grammatik und zur Syntax von 1838/1849
218 220 220 222 222 223 223 227 228 228 231 234 235 235 237 237 239 241 242 242 243 244 245 246 250 251
Inhaltsverzeichnis
4.1.1 Primat des Satzes und Wortarten 4.1.2 Wortfolge 4.1.3 Zu einzelnen Kategorien 4.2 Neuerungen 4.2.1 Der historische Neuansatz 4.2.1.1 Geschichte der Sprache und Literatur 4.2.1.2 Laut-und Schriftlehre 4.2.1.3 Morphologie 4.2.2 Syntax - Die Klassifikation der Sätze
5. Zusammenfassung
XVII 251 256 257 257 258 258 258 259 260
266
Schlußbetrachtung
269
Anhang 1 - Briefe
277
Brieftranskriptionen 1. Wilhelm von Humboldt an J.C.A. Heyse, 7.1.1815 2. Ministerium des Geistlichen Unterrichts, 9. 5.1825 3. Simon H.A. Herling an J.C.A. Heyse, 26. 10. 1826 4. Simon H.A. Herling an J.C.A. Heyse, 11. 05. 1827 5. Philipp Lorberg an J.C.A. Heyse, 7.4. 1823 6. Philipp Lorberg an J.C.A. Heyse, 20. 3. 1825 7. J.F. Carl Dilthey an J.C.A. Heyse, 21. 3. 1826 8. J.F. Carl Dilthey an J.C.A. Heyse, nicht datiert 9. Christian W. Ahlwardt an J.C.A. Heyse, 21. 5. 1824 10. Heinrich G. Zerrenner an J.C.A. Heyse, 24. 3. 1803
281 283 285 285 286 288 290 292 295 297 298
Anhang 2 - Kurzbiographien
301
Literaturverzeichnis
319
1. Handschriftliche Quellen 2. Primärliteratur Heyse 3. Allgemeine Primärliteratur 4. Sekundärliteratur
321 322 332 336
Namenregister
349
Verzeichnis der Abbildungen
354
Einleitung
Im Rahmen einer großen Ausstellung anläßlich des 150. Geburtstags von Paul Heyse, des ersten deutschen Nobelpreisträgers für Literatur, ehrte die Stadt München im Jahre 1981 eine Familie von Grammatikern und Lexikographen, deren Ruhm sich im Laufe des 19. Jahrhunderts von Preußen aus über das gesamte Deutsche Reich verbreitete. Die Theoretisch-praktische deutsche Grammatik war 1814 erschienen, die erste Schulgrammatik Johann Christian Heyses, des Großvaters von Paul Heyse. Sie stand am Beginn einer Reihe von Grammatiken, die in verschiedenen Fassungen, je nach Adressatenkreis und Gebrauch, erscheinen sollten: die Theoretisch-praktische deutsche Grammatik, die Schulgrammatik und der Kleine Leitfaden der deutschen Sprache. Nach dem Tode Johann Christian Heyses 1829 übernahm sein Sohn, Carl Wilhelm (der Vater Paul Heyses), die Fortsetzung der Arbeit und veröffentlichte ab 1838 seine wichtigen Überarbeitungen. Als er 1854 starb, kümmerten sich seine beiden Brüder Gustav und Theodor bis 1878 um die Neuausgaben. Der Grammatiker Otto Lyon besorgte 1885 eine zweite Neubearbeitung des Kleinen Leitfadens der deutschen Sprache, 1896 der Schulgrammatik, die er unter dem Titel Deutsche Grammatik veröffentlichte. Bis 1923, also über hundert Jahre, trug Heyses Grammatik den Namen ihres Begründers Johann Christian Heyse - nur die Grammatik Karl Ferdinand Bekkers, seines Konkurrenten, hatte eine vergleichbare Geschichte. Die Nachfolger haben bei ihrer Fortführung des Heyseschen Werkes auf diese Kontinuität geachtet und durch die ständige kritische, auf den Unterricht abgestimmte Überarbeitung an den ersten Verfasser erinnert, in einer Zeit, in der es in Preußen praktisch kein Gesetz zum Schutz des Urheberrechts gab. Ein rückwirkendes Gesetz aus dem Jahre 1870 garantierte diesen Schutz für die Dauer von dreißig Jahren nach dem Tod des Urhebers. Zwar trugen die Grammatiken Heyses bis 1923 denselben Verfassernamen, nicht jedoch seine Wörterbücher, die nach 1870 ohne Rücksprache mit der Familie Gegenstand von neuen Veröffentlichungen wurden.1 Innerhalb eines Zeitraums von mehr als hundert Jahren zwischen 1814 und 1914 erfuhr Heyses Schulgrammatik tiefgreifende Veränderungen. Die ersten und die letzten Ausgaben verbindet dennoch ein Spannungsbogen, trotz der verschiedenen Bearbeiter der Grammatik, eines gewissen Wandels der Sprache2 1 Vgl. dazu Kap. 1.5.2.2., die Reaktion von Gustav Heyse. 2 Wie im Vorwort gesagt, wird dieser Spur im Rahmen dieser Veröffentlichung nicht nachgegangen. Es handelt sich aber im zitierten Zeitraum keineswegs um eine etwaige "Sprachstufe" des Deutschen, sondern vielmehr um Veränderungen, die ζ. T. mit den Erörterungen von Wladimir Admoni (1987) in Verbindung zu bringen sind. Doch Sprachforscher wie Werner Besch oder Admoni legen ihren Untersuchungen andere Korpora als die der Schulgrammatiken zu-
4
Die Grammatik von Johann Christian Heyse
und der sich notwendigerweise ändernden Schulpolitik Preußens. Die vorliegende Untersuchung will die Kontinuität der Heyseschen Grammatik in ihrem Wandel im Laufe des 19. Jahrhunderts aufzeigen, unter Ausschluß der genaueren Studie der diachronischen Sprachentwicklungskomponente3 und der Verslehre. Damit rückt diese Arbeit in ein anderes Licht als die ursprüngliche Dissertation, die zwei einander ergänzende Richtungen verfolgte, eine sprachtheoretische, die sich mit der Geschichte der Grammatik und verschiedener linguistischer Theorien und Ansätze befaßt, und eine andere, "praktische", syntaktische, die auf konkrete sprachliche Entwicklungen hinweist. Im Unterschied zu Forschungsrichtungen in Frankreich, wo eine Bemühung um deutsche Schulgrammatiken des 19. Jahrhunderts kaum zu verzeichnen ist, schließt diese Arbeit an die gegenwärtige Wiederentdeckung der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert und seiner Schulgrammatiken im deutschen Sprachraum an. Die französischen Arbeiten, so etwa die des von Sylvain Auroux geleiteten Forschungsprojektes an der französischen Forschungsgemeinschaft C.N.R.S, gelten eher der Sprachtheorie in Frankreich und anderen europäischen und nicht-europäischen Ländern4, und eigentlich nicht dem deutschen 19. Jahrhundert. Die neueren Arbeiten Marilliers (1989) widmen sich zwar teilweise diesem Bereich, sein Interesse gilt aber hauptsächlich der Synchronic des Deutschen. 1985 fand in Bad Homburg ein erstes, überwiegend soziolinguistisch ausgerichtetes Kolloquium zur Geschichte der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert statt. 1989 folgte ein internationales Kolloquium in Eichstätt, das sich mit Sprachfragen auf der Grundlage unterschiedlicher Textkorpora befaßte. Ebenfalls 1989 erschienen die von Klaus Mattheier und Dieter Cherubim herausgegebenen Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache5, in deren Mittelpunkt das 19. Jahrhundert steht; die Verfasser stützen sich meist auf sonder- und fachsprachliche Bereiche wie Brief-, Zeitungs-, Arbeiter- oder Wissenschaftssprache, weniger auf Grammatiken. Eine lange, 1966 veröffentlichte Studie Georg Haselbachs über Karl Ferdinand Becker, einen späten Gegner Johann Christian Heyses, konzentriert sich auf den Autor und dessen Syntaxkonzeption. Die Verweise auf Heyse sind negativ. Seit 1974 haben Linguisten wie Wilhelm Vesper, ein Spezialist des muttersprachlichen Unterrichts im 19. Jahrhundert, oder Bernd Naumann (1986), der die Geschich-
3
4 5
grunde. Sie richten ihr Augenmerk im Unterschied zu den üblicherweise der Morphologie und der Geschichte der Orthographie geltenden Studien (Veith, 1986) auf die Entwicklung der Syntax. So wird hier auf die 28. Auflage, die letzte Bearbeitung 1914 durch Willy Scheel, den Direktor des Realgymnasiums zu Nowawes, nicht näher eingegangen. Sie bleibt dem Aufbau und dem Inhalt der Lyonschen Neubearbeitung treu, bringt aber, nach dem Neudruck der Grammatik Grimms, den philologischen Teil auf den neuesten Stand der damaligen Wissenschaft. Seit 1992/1993 (dem Abschluß der Dissertation) wurde den europäischen und nichteuropäischen Traditionen stark nachgegangen. Vgl. auch das Vorwort dieser Arbeit.
Einleitung
5
te der Kategorien der deutschen allgemeinen Grammatik untersucht, die Grammatiken Johann Christian Heyses der normativen Tradition zugewiesen und sie in der deutschen allgemeinen Grammatik verankert, doch ohne verschiedene Stellungnahmen zu nuancieren und auf die unterschiedlichen Beiträge zur Heyseschen Grammatik einzugehen. Selbst Claus Knoblochs syntaktische Studie 1988 in seinem Artikel Wortarten und Satzglieder in der deutschen Sprache zwischen Adelung und Becker arbeitet nicht die grundsätzlichen Unterschiede in der Ausrichtung der verschiedenen Ausgaben heraus. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch Forsgren (seit 1973), dessen Überlegungen sich auf die Theorie des Satzes zwischen 1780 und 1830 konzentrieren. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts beziehen sich zwei große deutsche Autoren und Sprachforscher, Rudolf von Raumer (1879) und Klaus Matthias (1907) in positiver Weise auf Heyse: Raumer betont den Wert der Heyseschen Grammatik, bevor er die Grammatiker Karl Ferdinand Becker, Johann Gottlieb Radlof, Simon Heinrich Herling, Friedrich Schmitthenner und Max Wilhelm Götzinger nennt. Auch Theodor Benfey erkennt 1869 Heyses Bedeutung an, wenn er über die Arbeiten zur Lexikologie und zur Grammatik spricht. Er ist ebenfalls der Ansicht, daß Theodor Heinsius, Johann Heinrich Bauer, Christian Friedrich Michaelis und weiteren Zeitgenossen Heyses eine geringere Bedeutung zukommt, zugleich unterstreicht er die Wichtigkeit der Arbeiten Carl Wilhelm Heyses. In dem von Erlinger herausgegebenen Sammelband (1969) findet sich dagegen kein Beitrag zu Johann Christian Heyse, hier gilt die Aufmerksamkeit vielmehr Theodor Heinsius, Carl Friedrich Etzler oder Friedrich Adolf Diesterweg. Heute ist die Grammatik Johann Christian Heyses wenig bekannt, sie war bisher auch noch nicht Gegenstand einer umfassenden und detaillierten Gesamtdarstellung. Wie in späteren Kapiteln dieser Arbeit im konkreten Zusammenhang erwähnt wird, sind die Stellungnahmen zu Heyse öfter negativ oder abschätzig. Es geht in dieser Arbeit also auch darum, Heyses Grammatik zu "rehabilitieren". Drei Hauptkapitel sind drei verschiedenen Themenbereichen gewidmet. Das erste Kapitel untersucht die Entstehung einer Sprachlehre: Wie und weshalb war eine Kontinuität der Sprachlehre Johann Christian Heyses und seiner Nachfolger möglich? Welche waren die historischen und kulturellen Fixpunkte? Dabei wird hauptsächlich unveröffentlichten Briefen und Archivmaterialien der Familie Heyse nachgegangen. Dieser "internen" Betrachtung, um den von Schlieben-Lange eingeführten und von Sylvain Auroux6 übernommenen Begriff zu verwenden, folgt ab Kapitel Zwei die "externe", die Heyses Grammatik- und Syntaxauffassung darstellt; das Interesse gilt traditionellen Einflüssen der französischen und deutschen allgemeinen Grammatik sowie den eigenständigen Beiträgen Heyses und eines neuen Kreises deutscher Grammatiker. Das dritte Kapitel setzt die Reflexion auf einer theoretischen 6 (1989: 11 ff.).
6
Die Grammatik von Johann Christian Heyse
Ebene fort: Obwohl die Überarbeitung der Grammatik des Vaters durch den Sohn Carl Wilhelm Heyse der vorangehenden Epoche verpflichtet bleibt, arbeitet letzterer doch an einer Konzeption des Menschen und der Grammatik, die ihn zur Gründung eines neuen Faches, der "philosophischen Grammatik" führt. In dieser Tradition steht Otto Lyon mit seiner Bezugnahme auf die historische Grammatik, allerdings vereinfacht er das zu schwerfällig gewordene Gedankengebäude.
I Johann Christian Heyse und seine Nachfolger bis zu Otto Lyon Entstehungsgeschichte eines grammatikalischen Denkens
0. Einleitung
Johann Christian Heyses Beschäftigung mit Grammatik steht im Zusammenhang mit der zunehmenden Einbindung der Muttersprache in den Schulunterricht, die Preußen seit dem 18. Jahrhundert prägt. Das erste, biographische Kapitel dieser Arbeit fühlt sich nicht der von Kohli 1 kritisierten rein biographischen Methode verpflichtet. Es hebt vielmehr in soziolinguistischer Perspektive diejenigen biographischen Elemente aus Johann Christian Heyses Leben und dem seiner Nachfolger hervor, aus denen sich allgemeine Tendenzen innerhalb von mehr als hundert Jahren, von 1780 bis 1914, am Beispiel einer kohärenten und kontinuierlich entwickelten Grammatik ablesen lassen. Wilhelm Vesper, der sich auf die Arbeiten von Jeismann, Lundgreen, Jäger und Paulsen 2 bezieht, zeigt auf prägnante Weise die Aufspaltung der Kulturen, vor deren Hintergrund der Deutschunterricht gesehen werden muß: Der gesellschaftliche Modernisierungsprozeß führt zur Ausbildung einer technisch-praktischen Intelligenz, deren Kenntnisse und Fähigkeiten in die Lehrpläne drängen und auch im naturwissenschaftlichen Bereich den Prozeß des Selbständigwerdens der Fächer auf wissenschaftlicher Basis vorantreiben. [...] Dieser Modernisierungsschub, der sich schon in der Ablösung von den alten Gelehrtenschulen hin zum neuhumanistischen Gymnasium dokumentierte, führt zur Ausbildung zweier Kulturen, die sich auch während des 19. Jahrhunderts teilweise unversöhnlich gegenüberstehen: Die überkommene literarische Kultur und die naturwissenschaftlich-technische Kultur [...].5
Johann Christian Heyse ist das typische Beispiel eines Gelehrten und Pädagogen, der noch am Zusammenfluß dieser beiden Strömungen steht. Die unterschiedlichen Bedürfhisse der Welt der "Gelehrten" und der Welt der "Bürger", der treibenden gesellschaftlichen Kraft in ökonomischer und später politischer Hinsicht, spiegeln sich in zwei Schultypen wider, dem Gymnasiun und den Realschulen sowie den Höheren und Niederen Schulen 4 . Die unterschiedliche Gewichtung des Deutschunterrichts in diesen Einrichtungen ist Ausdruck
1 (1981). 2 Jeismann (1968), Lundgreen (1970), Jäger (1977), Paulsen (1885). 3 (1989:247). 4 Die Gymnasien legen den Schwerpunkt auf die klassischen Sprachen; die Realschulen (sie bieten keinen Unterricht in den toten Sprachen) und die Höheren Schulen richten sich jeweils an das mittlere und das gehobene Bürgertum; vgl. Gesammelle Schriften und Reden (1826: 211).
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einer soziokulturellen Kluft. Andererseits wirkt die gute Kenntnis der Standardsprache, der Hochsprache5, als Einigungsfaktor. Ende des 18. Jahrhunderts formiert sich eine bürgerliche Klasse, das "Bildungsbürgertum", das dank seiner Bildung, seiner Ausbildung und seines Wissens gesellschaftlichen Einfluß gewinnt.6 Eine Darstellung der Spannungen zwischen der mittleren Klasse des Bürgertums im weiteren Sinne, dem Bildungsbürgertum und der Macht während des großen Zeitraums von den Napoleonischen Kriegen über den Vormärz 1848 bis zur Wilhelminischen Epoche geben die Historiker Kocka, Kraul, Wehler, Sellin und Doerry.7 Rüdiger Gans stützt sich in seinem wichtigen Aufsatz Erfahrungen mit dem Deutschunterricht* auf autobiographische Erzählungen ehemaliger Schüler und schreibt somit aus der Perspektive derer, denen die Erziehung galt; er hebt dabei eher die literarische als die grammatische Dimension des Deutschunterrichts hervor. Hier wird die umgekehrte, gewissermaßen innere Blickrichtung vorgeschlagen: ausgehend von einem Grammatiker, der ein typischer Vertreter des neuen Bildungsbürgertums ist, und seinen Nachfolgern, um sich primär9 auf den grammatischen Aspekt ihrer Arbeit zu konzentrieren und das Erwachen eines nationalen Bewußtseins zu betonen. Der Prozeß der Neubewertung der deutschen Sprache, dessen Verlauf die geistige Nähe Heyses zur allgemeinen Geschichte der Grammatik erkennen läßt, sei hier zusammengefaßt, indem die wichtigsten Punkte hervorgehoben werden, die im einzelnen von Matthias, Jellinek, neuerdings von Frank, Schwenk sowie insbesondere von Wilhelm Vesper10 behandelt wurden: Hauptfaktoren des Deutschunterrichts und des deutschen Sprachunterrichts, zweier selbständiger Fächer, sind: die Befreiung religiöser Bindung und die Säkularisierung, wodurch diese Fächer von der Theologie abgekoppelt werden, dazu die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht, die zunehmenden gesetzlichen Regelungen, die Bildung und Reglementierung einer deutschen Standardsprache" sowie die Festlegung eines korrekten Gebrauchs. Vom 16. Jahrhundert an befreit sich die deutsche Sprache schrittweise, wenn auch unter Schwierigkeiten, von der Vorherrschaft der Theologie und des
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Vgl. unten, Kap. I. Kocka (1989: 9f.) und Langewiesche (1989). Kocka (1987, 1989), Doerry (1986), Kraul (1988), Wehler (1987, 1988), Sellin (1985). Vgl. hierzu auch die Arbeiten von Lepsius (1987). 8 (1991:9f.). 9 Auf den pädagogischen Aspekt kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Matthias (1907) und die in Anm. 10 genannten Verfasser. 10 Matthias (1912), Frank (1970), Schwenk (1976), Vesper (1980: 84f.). Mit Ausnahme von Orthographie, Aussprache, Stil, Lektüre und Aufsatz. 11 Vgl. unten, Kap. I.
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Latein, der Verkehrssprache der Kirche, der Gelehrten, Staatsmänner und Diplomaten. Die ersten Versuche einer Neubewertung der gesprochenen Sprache durch Conrad Pentziger, Conrad Celtis oder Jacob Wimpheling sowie die auf deutsch abgefaßten Abhandlungen Johannes Taulers können die Kluft zwischen dem Latein und den deutschen Dialekten nicht überbrücken. Selbst für Luther ist die Muttersprache ein Instrument im Dienste der Theologie, zur besseren Verbreitung und Kenntnis der Heiligen Schrift und deren Auslegung: Sprachfertigkeit dient der Bibelfestigkeit. Dank der Unterrichtsreformer Comenius und Ratichius ist das 17. Jahrhundert geprägt durch den allgemeinen Gebrauch des Deutschen, das zur konkurrierenden Unterrichtssprache des Latein beim Studium von Religion, Geschichte und Naturwissenschaften wird; es ist dies bereits ein Sieg im Vergleich zu den Schulen, die noch unter dem nach rückwärts gewandten Einfluß eines Sturm oder Trotzendorf stehen, erklärten Gegnern des Deutschunterrichts. Die Sprachgesellschaften12, Vereinigungen zur Verteidigung der deutschen Sprache, hier besonders der nach dem Florentiner Modell der Accademia della Crusca gegründete "Palmenorden", waren Beförderer einer Aufwertung des Deutschen in seiner Reinheit und die Träger seiner literarischen und poetischen Wiedergeburt13. Die Grammatiken von Albertus, Oelinger und insbesondere Clajus fanden ihre Fortsetzung durch die Veröffentlichung von Schottels Teutscher Sprachkunst, der Grammatiken von Olearius und Ritter, Helwigs Sprachkünste, der Deutschen Sprachlehre von Gueintz und der Kurzen Lehrschriften von Stieler. Bödikers Grammatik Grundsätze war ein entscheidender Schritt hin zu einer echten normativen Syntax. Am Ende des Jahrhunderts ist das Deutsche so geläufig geworden, daß Thomasius seine Vorlesungen an der Universität Halle auf deutsch hält. Im 18. Jahrhundert ist an Schule und Universität ein deutlicher Rückgang des Latein festzustellen zugunsten des Deutschen, das neben dem Latein an immer mehr Schulen Hauptunterrichtssprache wird. In den sogenannten Gelehrtenschulen sowie in den Jesuitenschulen spielt die deutsche Sprache zwar noch keine Rolle, ganz unberücksichtigt bleibt sie aber nicht. Es werden sogar einige lateinische Grammatiken auf deutsch veröffentlicht. Die Laisierung des Unterrichts bringt eine radikale Änderung mit sich, nämlich die Einführung des Deutschen als Hauptsprache in den niederen Schulen; dieser Prozeß wird beschleunigt durch die in Thüringen 1650 und in Preußen 1716 eingeführte Schulpflicht. Deutsch wird selbständiges Schulfach mit besonderer Betonung der Orthographie und dem Erlernen spezifischer grammatischer Regeln. Mit der 1748 erfolgten Einfuhrung von Gottscheds Grammatik Grundlegung einer deutschen Sprachkunst an den Schulen, der dann Adelungs Deutsche Sprachlehre für Schulen, das Umständliche Lehrgebäude und Deutscher Styl folgen, wird der 12 Vgl. dazu die Zusammenfassung von Kirkness (1975, Bd. 1: 23f ), und Stoll (1973). 13 Browning/Teuscher (1980).
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Deutschunterricht in Preußen zu einer festen Institution. Eine Verordnung Friedrichs II. von 177914 besagt: "Eine gute teutsche Grammatik, die beste ist, muß auch bei den Schulen gebraucht werden, es sei nun die Gottschedsche oder eine andre, die zum Besten ist. " Der Deutschunterricht wird 1788 durch einen ersten Erlaß Friedrich Wilhelms II. über das Abiturientenexamen gefestigt, der es den Schulen erlaubt, die Prüfungen in alten und neuen Sprachen sowie in natur-wissenschaftlichen Fächern selbst abzunehmen. Während vorher der Schwer-punkt auf dem mündlichen Vortrag lag, auf Rhetorik, Deklamation, Rezitation, der Aufführung von Theaterstücken, wird nun dem Schriftlichen eine immer stärkere Bedeutung beigemessen. Die Zielsetzung des Unterrichts ändert sich; parallel dazu wird auch die Lehrerausbildung strenger.15 Am Ende des 18. Jahrhunderts, in den Jahren von Heyses Wirken, ist der Schulunterricht von zwei neuaufgelegten großen Grammatiken geprägt, der von Adelung, die 1781 zum ersten Mal und 1816 in sechster Auflage erschien, sowie der von Gottsched. Es entstanden zahlreiche konkurrierende Schulgrammatiken, wobei die von Theodor Heinsius, dann die von Karl Ferdinand Becker16 aus dem Jahre 1828 hervorzuheben sind. Wie Dieter Erlinger17 gezeigt hat, wird die folgende Zeit von drei großen Tendenzen bestimmt. Für die Grammatik Heyses sind sie von besonderer Bedeutung: Dem Deutschunterricht kommt ein Entwurf des Ministers Süvern aus dem Jahr 1813 zugute, das für ganz Preußen von Bedeutung ist. Süvern legt fest, daß in den zehn Pflichtschuljahren auf den Deutschunterricht sechs Wochenstunden in den unteren Klassen entfallen, anschließend vier, dann zwei in den höheren Klassen. Der Erlaß von 1812 zur Abiturientenprüfung verlangt eine gute Beherrschung der deutschen Sprache. Diese entwickelt sich besonders in der Region Greifswald und in Nordhausen, der Heimat Heyses. In den Schulordnungen Magdeburgs von 1825 wird hervorgehoben, welche Rolle die Grammatik für die Formung des logischen Denkens spielt. Diese Aufwertung erklärt sich durch die Übereinstimmung der Interessen von Schulreformern wie Niemeyer oder Seidenstücker mit den beabsichtigten Reformen Fromsteins. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts zeichnet sich allerdings eine Gegenbewegung ab: Friedrich Thiersch sowie Ministerialrat Schulz favorisieren die herkömmliche Schule mit Griechisch und Latein, ohne Deutsch, das höchstens im Zusammenhang mit Latein berücksichtigt werden darf. Die Lage der deutschen Sprache bleibt schwierig, um so mehr als jede schulische Anstalt sich ihre eigenen Richtlinien18 geben darf. 1837 erscheint der erste "allgemein verbindliche
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Cabinettsordre. Vgl. oben, Einleitung. Vgl. unten, Kap. I. (1989: 45) mit Bezug auf Matthias, Jeismann, Jäger und Eckert. Vgl. die von Marquis de Morante zusammengestellten schulischen Richtlinien, in: Pascale Hummel (1991).
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Lehrplan" in Preußen. Seine Vorschriften beabsichtigen eine neue Stärkung des Latein auf Kosten der Muttersprache, deren Unterricht um durchschnittlich zwei Stunden pro Woche reduziert wird.19 Das Jahr 1856 markiert einen neuen Abschnitt in dieser Politik der Verhärtung: Der Lehrplan bevorzugt den Religionsunterricht, führt sogar wieder Lateinunterricht an den Realschulen ein und streicht einen eigenständigen Grammatikunterricht. Grammatik soll je nach Bedarf in den Lesestunden gelehrt werden. Da man sich der unterschiedlichen Bedürfnisse bewußt ist, schafft eine Reform zwei Arten von Realschulen, nämlich die "erster" und "zweiter Ordnung". Der administrative Druck auf die Gymnasien nimmt zu. Den Schnitt zwischen diesen beiden Zeiträumen markiert die Veröffentlichung Hieckes: Grammatik soll anhand von Texten und der praktischen Übung des Aufsatzes vermittelt werden. 1882 wird dank Bonitz der Deutsch- und Grammatikunterricht wieder eingeführt. Im Deutschen Reich nimmt, wie bereits in Österreich geschehen, die Stundenzahl wieder zu, ohne allerdings die Zahlen der Anfangsjahre des Jahrhunderts zu erreichen. Der deutsche Literaturunterricht gewinnt an ideologischer Bedeutung.20 Der sozialgeschichtliche Abschnitt der vorliegenden Arbeit soll die Entwicklung von drei Grammatikern, die aus einer Familie hervorgingen, untersuchen, nämlich Johann Christian Heyse und seine beiden Söhne Theodor und Carl Wilhelm Heyse. Die Kontinuität ihres Wirkens hat ihre Wurzeln in der familiären Herkunft, in der Biographie und im pädagogisch-grammatischen Werk Johann Christian Heyses. Die positive Aufnahme seines Wirkens sicherte die Fortschreibung seiner Arbeiten bis ans Ende des Jahrhunderts in der Person Otto Lyons, wie Heyse ein Mann aus dem Bildungsbürgertum, während der unruhige Geist Carl Wilhelm Heyses mehr zur Philosophie drang.
19 Vgl. Erlinger (1991). Hier werden vor allem die Reformen in folgenden Gebieten besprochen: Dortmund (von Arnsberg), Wesel (von C. Bartels) und Aachen (von Erlinger selbst). 20 Vgl. unten, Kap. II.
1. Herkunft der Familie Heyse Der Grammatiker Johann Christian August Heyse entstammt der jüngeren Linie einer protestantischen preußischen Familie von Kaufleuten und Lehrern. Aus einem umfassenden theologischen Wissen resultierten geistige Strenge, Pflichtgefühl, die Sorge um das Ansehen, Merkmale der Familie, die auch Johann Christian Heyse und sein Werk prägten: Die Gewissenhaftigkeit, das starke Selbstbewußtsein, der Stolz und die Familienehre sind deutlich.
1.1. Kontinuität Der vom Nachkommen Gustav Heyse 1888 aufgestellte Stammbaum der Familie Heyse21 zeichnet über mehr als zwei Jahrhunderte, vom Beginn des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, die Familiengeschichte nach. Diese wird 1910 gekrönt durch die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an den Schriftsteller Paul Heyse, einen Enkel Johann Christian Heyses. Die ungewöhnliche Kontinuität des grammatischen und lexikographischen Werkes Johann Christian Heyses über drei Generationen hinweg und die allgemeine Ausrichtung seiner Schriften lassen es notwendig erscheinen, auf diese Genealogie einzugehen. Es stellen sich dabei mehrere Fragen: - Wie konnte ein auf den ersten Blick wenig ansprechendes grammatisches Werk ein Jahrhundert lang mit solcher Beständigkeit fortgesetzt werden? Es wurde nicht einfach einige Jahre nach dem Tode seines Begründers Johann Christian 1829 aufgegeben, sondern von seinen Söhnen mit erstaunlicher Konsequenz fortgeführt, durchgesehen, vervollständigt, aktualisiert. Diese Tatsache erklärt sich zum Teil durch eine vergleichbare Ausbildung in deutscher Philologie, die Johann Christian und zwei seiner Söhne genossen, und durch ihre enge Zusammenarbeit in den Jahren 1825-1829. Doch diese Erklärung ist nicht ganz befriedigend. Die Gründe liegen vielmehr in der geistigen und moralischen Strenge, von der die Heirat und Wiederheirat mit Pastorentöchtern zeugt und die einen starken Familiensinn sowie ein Gefühl der gemeinsamen Verantwortung schuf. Das Bewußtsein, Glieder einer Familie zu sein, wurde im übrigen gepflegt, ζ. B. anläßlich eines großen Familientreffens aller Heyses, von dem Paul Heyse in seinen Jugenderinnerungen berichtet: 21 Heyse-Familienarchiv - StB zu Berlin.
Herkunft der Familie Heyse
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Im Jahre 1842 berief er [Großkaufmann Ludwig Anton Heyse] einen Familienkongreß aller Heyses mit 'y' - die sich mit 'i' schreiben, haben wir nie als Stammverwandte anerkannt - nach Magdeburg [...]22
Mit bissigem Humor läßt er durchblicken, wie relativ gering das Ansehen der entfernteren Verwandten war, die auf Einladung des wohlhabenden Kaufmanns Ludwig Anton Heyse, Sohn Johann Christian Heyses und Onkel Paul Heyses, gekommen waren: Da kamen zweiunddreißig Heyses, verschiedene halbverschollene Vettern, Landpfarrer und Landschullehrer, auf des Onkels Kosten mit ihren Frauen herbei, ärmliche Leutchen, sehr unbeholfen und verlegen, sich plötzlich in einem so großen Verwandtenkreise zu finden. Sie tauten dann aber auf, als bei dem solemnen Festmahl im ersten Gasthof der Stadt der Champagner schäumte, den sie früher kaum je zu kosten bekommen hatten, und der Festgeber in seiner gütigen Art freute sich, ihnen einmal einen sonnigen Tag verschafft zu haben. 23
- In der allgemeinen Ausrichtung der Schriften Johann Christian Heyses, insbesondere seiner sprachwissenschaftlichen Arbeiten, zeichnen sich zwei Tendenzen ab, eine kaufmännische und eine erzieherische, beides ebenfalls Kennzeichen der Familientradition. Man stellt in der Tat überrascht fest, daß von 1814 bis 1914 alle Neuauflagen der Grammatiken Johann Christian Heyses sich von ihrer Konzeption her an ein Publikum von Geschäftsleuten und Schülern richten, wie es in dem jeweiligen Vorwort heißt. In diesen Lehrbüchern verbinden sich Handel und Unterricht in der Sorge um das Konkrete und die praktische Anwendung von allgemeinen Regeln, und zwar viel prononcierter als das in den konkurrierenden Werken von Karl Ferdinand Becker oder Schmitthenner der Fall ist, bei völligem Verzicht auf philosophisch-intellektualistische Aspekte: Dieser [Zweck der Grammatik] 24 ist nämlich, nicht bloß der Jugend unter Anführung des Lehrers ein praktisches Lehr- und Lesebuch ihrer Muttersprache, sondern auch denkenden Geschäftsleuten, denen die Reinheit und Richtigkeit im Sprechen nicht gleichgültig ist, ein eben so vollständiges, als bequemes Nachschlagebuch in zweifelhaften Fällen zu verschaffen. 25
1.2. Stammbaum der Familie Heyse
1.2.1. Allgemeines Es wird nur auf die hier relevante jüngere Linie Heyse in deren direkter Abstammung von dem gemeinsamen Vorfahren Johann Heinrich eingegangen. Sie ist seit Anfang des 18. Jahrhunderts im Raum Nordhausen, Oldenburg und 22 23 24 25
(1912: 1 f.), Anmerkung. (ibid.: 2), Anmerkung. d. h. einer vollkommenem praktischen Sprachlehre. TPdG (1814, Vorbericht: II).
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Johann Christian Heyse und seine Nachfolger
Magdeburg nachgewiesen durch den zweiten Sohn Johann Heinrichs, Johann Adam; die ältere, weniger repräsentative Linie geht von Johann Christian, dem Bruder Johann Adams, aus. Der Grammatiker Johann Christian August Heyse, geboren 1764, gestorben 1829, war der Enkel Johann Adam Heyses und der Sohn von dessen einzigem Sohn Johann Georg aus zweiter Ehe mit Friederike Katharine Justi, der Tochter eines Pastors. Johann Georg hatte fünf Kinder, drei Söhne und zwei Töchter. Die erste Ehe mit Anna Margaretha Tebel war kinderlos geblieben. Der älteste Sohn hatte keine Kinder; der jüngere, Johann Conrad, sicherte die sogenannte ältere Linie, sein dritter Sohn, Johann Christian August, begründete die jüngere Linie. Abstammung und Nachkommenschaft Johann Christian Heyses stellen also in doppelter Hinsicht die jüngere Linie des jüngeren Hauptstamms gegenüber dem älteren Bruder Johann Conrad und dem Großvater Johann Adam dar.
1.2.2. Zwei Bestimmungen: Kaufleute und Erzieher Herausragende Persönlichkeiten der jüngeren Linie bezeugen, wie sehr die FamiHentradition vom Handel und vom Unterricht bestimmt ist. Der Bestimmung zum Kaufmann folgten Johann Heinrich Heyse, der Urgroßvater Johann Christian Heyses, sein Großonkel Johann Christian, sein Bruder Johann Conrad und ebenso seine beiden Söhne, Julius Herrmann und Ludwig Anton. Ersterer wurde 1854 "Großhändler" in Magdeburg, letzterer machte eine glänzende Karriere und wurde 1837 in Sankt Petersburg Leiter der Firma Dryssen und Co., nachdem er 1832 das nicht leicht zu erreichende russische erbliche Ehrenbürgerrecht erworben hatte. 1843 wurde er zum Konsul, 1861 zum Generalkonsul von Lübeck ernannt; bis 1862 wurden ihm weitere Auszeichnungen zuteil. Wie dem Stammbaum zu entnehmen ist, schlug Johann Christian Heyse dagegen den Weg seines Großvaters Johann Adam und seines Vaters Johann Georg ein, die beide Schulmeister waren. Wie sie studierte er Theologie und Philosophie, ging an die Schule und beendete seine Karriere als Direktor des Gymnasiums in Magdeburg. Sein Sohn Carl Wilhelm Heyse, Philologe und Philosoph, erlangte ebenfalls Ansehen als außerordentlicher Professor an der Universität Berlin; sein Ruhm gründete sich ebenso auf die Bearbeitung und Herausgabe der Werke seines Vaters wie auf seine bemerkenswerten Vorlesungen zur Philosophie der Grammatik. Weniger bekannt ist Friedrich Theodor Heyse, der Übersetzer klassischer Autoren, der dieselben Fächer studiert hat, dessen Laufbahn als Lehrer jedoch mehrmals unterbrochen wurde. Nur Gustav Heyse scheint sich nach einer anfänglichen Ausbildung im Bergbau für das Unterrichten naturkundlicher Fächer und der Mathematik entschieden zu haben. Er knüpfte damit an das starke Interesse seiner Vorfahren für diese
Zur Biographie Johann Christian Heyses
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Fächer an. Paul Heyse, Sohn des Professors Carl Wilhelm Heyse, schien nach seinem Studium der Philosophie, Philologie und Geschichte für die Schullaufbahn bestimmt; 1854 wurde er jedoch nach München an den Hof Maximilians I. von Bayern berufen und widmete sich dann ganz dem Schreiben. 1871 wurde ihm der Maximiliansorden für Kunst und Wissenschaft verliehen, 1910 der Nobelpreis für Literatur, den er als erster deutscher Autor in Empfang nahm. Auf der rein familiären Ebene entsteht so das Bild vom Aufstieg einer Familie, das die Widersprüche eines entscheidenden Jahrhunderts offenlegt: ein Jahrhundert der weltweiten Verbindungen mit Auswanderungen nach Amerika und nach Rußland; ein Jahrhundert, das auf der anderen Seite geprägt ist von einer hohen Sterblichkeitsrate bei Kindern, Jugendlichen und Frauen, die mit der Notwendigkeit der Wiederheirat und der Großfamilie einhergeht. Der Stammbaum auf den beiden folgenden Seiten zeigt die hier maßgebliche jüngere Linie von Nordhausen-Oldenburg-Magdeburg ohne die Nebenlinien. Die Namen der Philologen und Grammatiker bzw. Fortsetzer des grammatikalischen Werks sind kursiv und ihre Tätigkeit in Kapitälchen gesetzt, in runden Klammern wird die Haupttätigkeit der betreffenden Familienmitglieder angegeben.
2. Zur Biographie Johann Christian August Heyses Zwei Dokumente, die Lebensbeschreibung Johann Christian Heyses durch seinen Sohn Gustav und der große Nachruf, der im September 1829 im Intelligenzblatt, einem Supplement zur Allgemeinen Literaturzeitung26, erschien, liefern zur Biographie von Johann Chrisitan Heyse die wichtigsten Daten. Aus ihrer Lektüre wird deutlich, daß das Leben Johann Christian Heyses von drei wichtigen Abschnitten bestimmt wurde: die theologisch geprägten Jahre der Ausbildung und die Zeit als Hauslehrer 1764-1790 bis zu seinem Eintritt in den Schuldienst; es schlossen die undankbaren, arbeitsreichen Jahre am Gymnasium in Oldenburg 1790-1806 an, sechzehn äußerst schwierige Jahre für den integren Lehrer; 1806 schließlich die Erlösung. Heyse setzte seine Lehrtätigkeit in Nordhausen und Magdeburg fort, wurde Anstaltsdirektor, kam als Grammatiker zu Ruhm und Ehren. Während dieses letzten Abschnitts widmete er sich verstärkt seinem pädagogischen Werk und der deutschen Grammatik.
2.1. Die Jahre 1764-1790 Johann Christian Heyse wurde am 21. April 1764 in Nordhausen geboren als vierter Sohn Johann Georg Heyses (1706-1784) und dessen zweiter Frau, der Pastorentochter Friederike Katherine Justi27. Der Vater, theologisch und philosophisch gebildet, war Lehrer an der Konventschule des Frauenberges und Ädituus28 in der Kirche in Nordhausen. Die Interessengebiete Johann Christian Heyses waren äußerst vielfältig, und zunächst ließ nichts darauf schließen, daß die Beschäftigung mit der Muttersprache einmal einen besonderen Platz einnehmen würde. Wie der Vater und der Großvater studierte Johann Christian Heyse zunächst in Göttingen Philologie bei den Professoren Koppe, Less, Miller, Plank, Sextro und Schleussner. Er belegte Vorlesungen in Philosophie, Anthropologie und Psychologie bei Feder und Meiners; seine Lehrer in Geschichte wa-
26 (Op.cit.: 618f), vgl. Bibliographie. 27 Wie es in Gustav Heyses handschriftlicher biographischer Erzählung Uber das Leben Johann Christian Heyses heißt, stand die Wiege des Grammatikers in einem Zimmer neben dem Klassenzimmer seines Vaters. Als sich seine Frau einmal über den Lärm beklagte, antwortete der Vater Johann Georg: "Du willst ja einen aufgeweckten Jungen haben!" 28 Vermutlich Küster (so übersetzt Heyse selbst in seinem Fremdwörterbuch).
Zur Biographie Johann Christian Heyses
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ren die großen Professoren Schlözer und Spittler; in Physik und Naturkunde erregte er die Aufmerksamkeit so berühmter Professoren wie Blumenbach, Lichtenberg und Richter.29 Nach dem plötzlichen Tod Cromes brachte Heyse, auf Anraten des Naturforschers Blumenbach, dessen Handbuch der Naturkunde für Landwirthe zum Abschluß. Sein naturwissenschaftliches Interesse war also von weitem nicht oberflächlich. Als Mitglied der Fakultät für Theologie erteilte er neben seinem Studium den Kindern angesehener Familien Religionsunterricht. Er zeichnete sich durch pädagogisches Gespür aus; auf Empfehlung Professor Feders wurde er Hauslehrer des einzigen Sohnes des königlich dänischen Kammerherrn von Johen, Landvogt des Herzogs von Oldenburg in Delmenhorst. Die laxe Haltung der Eltern untergrub jedoch Heyses Bemühungen, so daß er im Januar 1788 zum Bedauern Johens seine Arbeit aufgab und eine andere Stelle suchte. Er hatte sofort Erfolg und fand eine Anstellung bei der Witwe eines Kaufmanns, wo er fast zwei Jahre lang die Enkelkinder unterrichtete.
2.2. Die Jahre 1790-1806 Johann Christian Heyses Entscheidung, in den Schuldienst einzutreten, gab seiner Laufbahn eine Wende. Auf Bitten zahlreicher bedeutender Oldenburger Familien gründete er zwei Privatschulen für Jungen und für Mädchen aus gutem Hause. Unter der Leitung des Generalsuperintendenten Mutzenbacher nahmen sie eine sehr positive Entwicklung. 1792 wurde Johann Christian Heyse dank der Unterstützung Mutzenbachers zum "Collaborator" (vierter Lehrer) am Gymnasium in Oldenburg ernannt, wo er wöchentlich zwanzig Stunden Latein, Naturkunde, Physik, Geographie und Religion unterrichtete. Da das jährliche Gehalt von dreihundertfünfzig Reichstalern jedoch nicht ausreichte, unterrichtete er gleichzeitig an der privaten Mädchenschule der Stadt. Am 29. Dezember 1794 heiratete er, wie sein Vater, eine Pastorentochter: Sophie Louise Agnese Bussenius30. Im Oktober 1800, inzwischen Vater von zwei Kindern31, wurde er zum dritten Lehrer der Schule befördert. Die Karriereaussichten bei seinem Eintritt in das Oldenburger Gymnasium schienen glänzend, aber die vom Consistorium, dem Verwaltungsrat der Anstalt, aufgezwungenen Unterrichtsbedingungen erwiesen sich als katastrophal: Es schürte die Spannungen und Rivalitäten unter den Lehrern, war ungerecht, zeigte wenig Solidarität mit den Schülern und übte eine absolute Herrschaft in 29 Vgl. Anhang 2, mit den kurzen Lebensbeschreibungen dieser zu ihrer Zeit wichtigen, heute zum Teil in Vergessenheit geratenen Persönlichkeiten. 30 Sie war die zweite Tochter des Pastors D. C. Bussenius, Pastor in Steimbke bei Nienburg an der Weser, dann in Harpstedt bei Delmenhorst. 31 Elise Katherine Auguste (1795) und Carl Wilhelm Ludwig (1797).
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Johann Christian Heyse und seine Nachfolger
Sachen Lehrplan aus. Zu seinem eigenen Schaden befolgte Heyse diese absurden Anweisungen nicht; er wurde das Opfer wiederholter Demütigungen, so daß er es vorzog, seine Stelle aufzugeben. Die schwierige finanzielle Lage seiner Familie zwang ihn zu dieser Entscheidung; 1806 verließ er die Schule als Vater von fünf Kindern32. Das Zögern der Oldenburger Regierung bei der Annahme seines Entlassungsgesuchs ist ein Beweis dafür, welches Gewicht sein Ausscheiden hatte. Viele Jahre später, 1826 und 1827, veröffentlichte er in der berühmten Allgemeinen Schulzeitung33 die Fragmente aus dem Leben und Wirken eines gewesenen vieljährigen Schulmannes, einen anonymen Bericht in vierzehn Folgen über seine Erfahrungen am Oldenburger Gymnasium.
2.3. Die Jahre 1806-1829 Das Jahr 1806 bringt eine neue Wende in der Arbeit Johann Christian Heyses: Es begann die Zeit der Abfassung und Herausgabe von Grammatiken und Wörterbüchern. Ein Jahr lang gab er Privatunterricht, dann bot ihm der Magistrat seiner Heimatstadt Nordhausen im Bemühen um eine Schulreform die Stelle als Rektor des Gymnasiums und als Direktor der privaten Mädchenschule an, die neu gegründet werden sollte. Das Gehalt für diese Aufgaben betrug sechshundert Reichstaler. Heyse verließ im November 1807 Oldenburg endgültig, um Sparr, dem neuen Direktor des Gymnasiums, bei der Ausarbeitung eines neuen Lehrplans zu helfen. Am 3. Mai 1808 übernahm er offiziell das Amt des Rektors, am 9. Mai weihte er die Höhere Töchterschule ein. Ihm oblag der Unterricht in den letzten drei Klassen des Gymnasiums; er gab dort wöchentlich neun bis zehn Stunden Mathematik, Physik, Deutsch, Lektüre und Interpretation klassischer Autoren, dazu kamen zwölf Stunden Geographie, Naturkunde, Deutsch und Lektüre französischer Texte an der Höheren Töchterschule. Als Sparr am 30. Januar 1812 starb, übernahm Heyse die Vertretung bis zur Ernennung des neuen Direktors F. Straß. Der Sohn Gustav Ferdinand Heyse hält lobend fest: Daß er in Nordhausen, sowohl als Mitglied der Schulinspection und als Schulvorsteher, wie auch als Lehrer und Erzieher Großes und Herrliches gewirkt, daß er besonders dem Studium der deutschen Sprache am Gymnasium einen neuen Schwung gegeben, daß ihm namentlich die höhere Töchterschule ihre, von sehr geachteten Pädagogen als zweckmäßig und zeitgemäß anerkannte Einrichtung zu verdanken hat, das haben seine Oberen, so wie seine Collegen und seine zahlreichen dankbaren Schüler mündlich und schriftlich oft ausgesprochen.
Heyses weiterer beruflicher Werdegang verlief nun glänzend. Durch Vermittlung des Konsistorialrats Zerrenner wurde er anläßlich der Neugestaltung des städtischen Schulsystems zum Direktor der Mädchenschule der höhe32 Ludwig Anton (1801), Friedrich Theodor (1803), Caroline Wilhelmine (1806). 33 Fünf bis zehn Seiten pro Heft.
Zur Biographie Johann Christian Heyses
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ren Stände in Magdeburg befördert. Sein monatliches Gehalt betrug hundert Reichstaler, dazu kam eine schöne Dienstwohnung. Er trat seine Stelle am 1. Oktober 1819 an.34 Die Familie konnte nun in besseren Verhältnissen leben, aber am 4. Dezember 1822 starb seine Frau Sophie, Mutter von acht Kindern. Im selben Jahr verlor Heyse auch seine dreiundzwanzigjährige Tochter Elise; der jüngste Sohn war acht Jahre alt. Zwei Jahre später, am 20. April 1824, heiratete Heyse in zweiter Ehe Auguste Justine Sophie Charlotte Henriette Munderloh, die Tochter des Pastors Munderloh35. In dieser Zeit fanden Heyses Schriften die Anerkennung so bekannter Sprachwissenschaftler wie Grotefend oder Herling. 1818 wurde er Mitglied der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache, 1821 des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache; 1824 wurde ihm von der Universität Greifswald anläßlich des Ottofestes, des Gedenkens an die Einführung des Christentums in Pommern, die Ehrendoktorwürde verliehen. Heyse vermittelte den Eindruck eines gesunden, tatkräftigen Mannes, und so war die allgemeine Bestürzung groß, als er nach vierwöchiger Krankheit am 27. Juni 1829 unerwartet an den Folgen eines "hitzigen Schleimfiebers" starb. Es ist erstaunlich, wie Johann Christian Heyse neben seinen mit größter Gewissenhaftigkeit wahrgenommenen Aufgaben als Direktor, Lehrer und Vater einer großen Familie die Herausgabe seiner zahlreichen Arbeiten betrieb. Trotz materieller Schwierigkeiten konnte er sich behaupten und seine Arbeit auf verschiedenen Ebenen fortsetzen. Als Schuldirektor gab er 1826 und 1829 zwei Werke mit Gedanken, Reden und Grundsätzen des Unterrichtens heraus. Seine drei ständig neu aufgelegten Schulgrammatiken sicherten ihm einen bleibenden Ruf: Die Theoretisch-praktische Grammatik der deutschen Sprache, die Schulgrammatik sowie der Kleine Leitfaden der deutschen Sprache. Zunächst allein, dann mit seinem ältesten Sohn Carl Wilhelm hatte er ein Fremdwörterbuch veröffentlicht und ein Handwörterbuch der deutschen Sprache begonnen mit zahlreichen Überlegungen zur Orthographie, Flexion, Wortbildung und "Sinnverwandtschaft" der Wörter. Er starb vor Abschluß dieses Werkes, das dann von Carl Wilhelm Heyse fortgeführt wurde.
34 Inzwischen war er Vater von drei weiteren Kindern geworden: Gustav Ferdinand (1809), Bertha Eugenie (1811) und Julius Hermann (1814). 35 Munderloh war Pastor in Burgdorf bei Hannover. Nach dem Tod ihres Vaters ging Sophie Mtlnderloh nach Hannover zu ihrem Onkel mütterlicherseits, Domeier, Advokat und Bürgermeister von Hameln, wo Heyse ihr begegnete. - Sie hatten Zwillinge; einer der beiden starb kurz nach der Geburt (9.-20. April 1825), der andere, Johann Georg August, ließ ab 1860, dem Zeitpunkt seines Verschwindens in Chicago, nichts mehr von sich hören. Henriette Munderloh starb am 29. August 1850 in Magdeburg an der Cholera.
3. Das Werk Johann Christian August Heyses Johann Christian Heyses großes Ansehen ist in seinem pädagogischen und grammatischen Werk begründet, dem er sich nach seiner Anstellung in Nordhausen 1808 verstärkt widmen konnte. Die ersten, vor 1808 entstandenen Schriften erschienen in Zerrenners Zeitschrift Zerrenners Schulfreund. Sehr erfolgreich war Heyses erstes Werk, der Neue Jugendfreund, mit einer Fülle von naturkundlichen Beobachtungen und Informationen. Der große Naturforscher Blumenbach schätzte dieses Werk, das sich sowohl an Erwachsene wie an jugendliche Leser richtete, sehr und empfahl es. Er war es auch, der Heyse ermutigt hatte, letzte Hand anzulegen an das posthume Werk seines Kollegen Crome, das Handbuch der Naturgeschichte, dessen abschließender Band noch ausstand. Unter den sehr marginalen Werken Heyses sei erinnert an die Sammlung auserlesener Räthsel, Charaden und Logogryphen von 1802, seine vereinzelten Gedichte sowie an seine zahlreichen Besprechungen von Veröffentlichungen zur Grammatik, zur deutschen Sprache, zur Erziehung junger Mädchen und zur Erziehung allgemein, die in den großen Zeitschriften dieser Epoche erschienen: die von seinem Freund C. Dilthey in Darmstadt herausgegebene Allgemeine Schul-Zeitung, die in Verbindung mit dem Pädagogisch-philologischen Literaturblatt zur Allgemeinen Schul-Zeitung stand; die Neue Kritische Bibliothek und die Kritische Bibliothek für das Schulund Unterrichtswesen von W. Seebode in Hildesheim, mit dem er ebenfalls freundschaftlich verbunden war; die Leipziger Literaturzeitung·, der, von einem weiteren Freund, Zerrenner, herausgegebene Deutsche Schulfreund in Erfurt, der nach 1820 unter dem Titel Der Neue Deutsche Schulfreund in Berlin und Stettin erschien. In den folgenden literarischen und pädagogischen Zeitschriften finden sich nur sporadisch Abhandlungen von Heyse: zu nennen sind die Allgemeine Aelternzeitung in Frankfurt a. M., die Jugend-Erholungen Winckelmanns in Magdeburg, die Rheinisch-westfälische Monatsschrift in Aachen, die Magdeburgische Zeitung und das Taschenbuch für bildende, dichtende und historische Kunst Aschenbergs in Dortmund. Nicht zu diesen Veröffentlichungen sind die wichtigeren, in die Ausgaben der Gesammelten Schriften und Reden von 1826 und 1829 aufgenommenen Artikel zu rechnen.36 Die weiteren Schriften Heyses kann man unter sprachwissenschaftlichen und pädagogischen Themen
36 Vgl. die vollständige Liste der Publikationen Heyses im Literaturverzeichnis, Primärliteratur Heyse.
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zusammenfassen; beide Bereiche sind in seiner praktischen Arbeit nicht voneinander zu trennen.
3.1. Johann Christian Heyses pädagogischer Ansatz Das sprachwissenschaftliche und grammatische Werk Johann Christian Heyses ist Ergebnis seiner pädagogischen Bemühungen, seiner Tatkraft und seiner langen Unterrichtserfahrung. Als Rektor eines Gymnasiums und Direktor der Höheren Töchterschule in Nordhausen, dann als Direktor am Gymnasium und an der Höheren Töchterschule in Magdeburg konnte er die von ihm vertretenen Methoden anwenden, ohne, wie in Oldenburg, gegen die feindselige Haltung eines inkompetenten, sich widersetzenden Konsistoriums kämpfen zu müssen. So brachte er in Nordhausen jedes Jahr regelmäßig seine neuen Nachrichten über die Schule für die weibliche Jugend in Nordhausen heraus, die er mit zahlreichen pädagogischen Bemerkungen versah. Während seiner Vertretung Sparrs, des verstorbenen Direktors des Gymnasiums, redigierte er ebenfalls eine Fortgesetzte Nachricht über die Schulen für die männliche Jugend zu Nordhausen. In dieser Hinsicht gaben die schwierigen Jahre in Oldenburg den Anstoß, die eigene Überzeugung bewußt zu vertreten.37 Wie aus seinen Erinnerungen, den Fragmenten aus dem Leben und Wirken eines gewesenen vieljährigen Schulmannes, hervorgeht, wollte Heyse seine Schüler aktiv in den Unterricht einbeziehen, dabei jegliches reine Auswendiglernen vermeiden. Seine Entschlossenheit war groß, seine Autorität unbestritten, ohne daß er deshalb auf Macht aus gewesen wäre. Dieser anschauliche, oft humorvoll geschriebene Bericht, beeindruckte seinen Verleger Dilthey stark. In einem Brief vom 21. März 1826 teilte er Heyse mit38, der Veröffentlichung drohe kein Druckverbot seitens der Behörden, da ja kein deutscher Einzelstaat direkt kritisiert und die Religion in keiner Weise angegriffen werde. Den beiden Ausgaben der Gesammelten Schriften und Reden von 1826 und 1829 sind am Anfang und am Ende zwei Zusammenfassungen des Heyseschen Denkens beigegeben: in der Form seiner Rede zum Schulfest in Oldenburg 1792 Wie und wodurch wird die bürgerliche Jugend in öffentlichen Anstalten ihrer Bestimmung gemäß gebildet? und der Gedanken und Bemerkungen über Erziehung und Unterricht, als letzter Beitrag im zweiten Band, welche beiden Texte zur Stütze folgender Überlegungen dienen.
37 Vgl. J. C. Heyses Besprechung des Schulgesetzes des Gymnasiums Oldenburg. Familienarchiv der StB zu Berlin, Akte A4, S. 155f. 38 Vgl. Anhang I, Brieftranskriptionen; unveröffentlichter Brief Diltheys, Heyse-Familienarchiv StB zu Berlin.
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Johann Christian Heyse und seine Nachfolger
3.1.1. Grundlegende pädagogische Werte und Ziele Heyse, der überzeugte Pädagoge, erkannte den pädagogischen Umbruch am Ende des 18. Jahrhunderts: Nichts beweiset aber die größere Aufklarung unseres Zeitalters wohl mehr, als der Eifer f)ir die Verbesserung der Erziehung und des Unterrichts, besonders in öffentlichen Anstalten.39
Der Unterricht muß auf das Individuum eingehen, indem er die Anlagen jedes Schülers berücksichtigt. Zwischen der geistigen und körperlichen Entwicklung muß ein Gleichgewicht entstehen. Heyse ist im großen ganzen dem Denken seiner Zeit verpflichtet, einer "neueren und gesünderen Philosophie", die das Individuum in seiner ganzen Komplexität annimmt, seine Neigungen, Gewohnheiten, Leidenschaften, Triebe berücksichtigt, und anerkennt, daß ein "festes Band zwischen Körper und Seele" besteht. In diesem Punkt bezieht er sich hauptsächlich auf das Werk seines Zeitgenossen Johann Bernhard Basedow.40 Doch Heyse macht eine Synthese aufklärerischer Konzepte: der philanthropischen Ideen, die Basedow in seiner Erziehungsanstalt in Dessau und Christian Gotthilf Salzmann in Schnepfenthal zu verwirklichen suchen, und der Arbeit Pestalozzis in der Schweiz. Nach Heyses Ansicht richtet sich der erzieherische Auftrag an die Schule wie an die Familie. Er möchte ein gemeinsames Verantwortungsgefühl der Eltern, insbesondere der Mütter, und der Lehrer wecken und fördern. Wesentliche Aufgabe der Schule ist die Vermittlung von Werten wie "Ordnung", "Pünktlichkeit", "Gehorsam", "Aufmerksamkeit": [...] werden die Kinder an Ordnung, Pünktlichkeit, Gehorsam und Aufmerksamkeit gewöhnt und eben dadurch für ihre künftige Thätigkeit in der Welt entwickelt, erzogen und vorbereitet. Das ist es, was die Schule soll und will. Ob der Jugend mehr, oder weniger Kenntnisse beigebracht werden, ist von geringerer Wichtigkeit und kann erst bei der höhern Bildung in Anschlag kommen. - Die Schule ist darum die eigentliche Bildungszeit des Menschen, nämlich der Menschheit in dem Menschen [...].41
Betont wird die Notwendigkeit, die jungen Menschen mit den Schwierigkeiten des Lebens zu konfrontieren: Eine frühe Gewöhnung an die rauhen Seiten des Lebens gehört unleugbar zu den Fundamenten einer verständigen Erziehung.42
Er setzt sich ganz konkret für eine Erziehung ein, die die Erfordernisse des Lebens berücksichtigt und nicht bloße Wissensaneignung ist. Aus ganz praktischen Erwägungen plädiert er deshalb für eine Zweiteilung des Schulwesens in Bürgerschulen und Gelehrtenschulen, eine "Trennung des Unterrichts, der bloß zur Gelehrsamkeit abzielt, von dem Unterrichte für's gesell39 40 41 42
Gesammelte Schriften (1826: I). Vgl. Anhang 2, Kurzbiographien. Gesammelte Reden (1829: 220). Ebd.
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schaftliche Leben und filr bürgerliche Verbindungen", - eine Stellungnahme, die er in einem Satz prägnant zusammenfaßt: Kurz der Gelehrte soll die Masse der Nationalkenntnisse unterhalten und vermehren; der Bürger aber soll sie praktisch anwenden lernen [...].43
Heyse wendet sich entschieden dem Bürgertum zu, den "bürgerlichen Ständen", die er als tragendes Element der Gesellschaft in wirtschaftlicher Hinsicht betrachtet ("der erwerbende Stand der Bürger, der doch im Ganzen der zahlreichste und wichtigste ist, der die Geschäftigkeit und Wohlfahrt des Ganzen nicht nur erhalten, sondern auch befördern und vermehren soll"). Dazu rechnet er in erster Linie Kaufleute im weiteren Sinne, "alle diejenigen [...], welche große Erwerbungsgeschäfte unternehmen, Manufacturisten, Handwerker, Künstler, Land- und Hauswirthe"; die im medizinischen oder juristischen Bereich freiberuflich Tätigen erwähnt er allerdings nicht44: Je zahlreicher also die Glieder dieses Standes [des bürgerlichen] sind und sein müssen, je wichtiger ihre Bestimmung, je größer ihr Einfluß auf das Wohl oder Wehe des Staates ist: desto wichtiger und nothwendiger wird auch die Sorge filr eine ihrer Bestimmung gemäßere Bildung und Unterweisung sein müssen.45
Allzu lange hatte man sich nicht um die Kinder des Bürgertums gekümmert, sie nur am Arbeitsplatz ausgebildet. Eine schulische Ausbildung, die sie auf ihre künftigen Tätigkeiten vorbereitet, mußte erst mit Nachdruck entwickelt werden. Das war das Ziel der Unterrichtsreform von 1808 in Nordhausen, wo in der Quarta und Tertia das Fach Staatsbürgerkunde eingeführt wurde; eine Besprechung dieser Reform erschien im Juni 1808 in der National Zeitung der Deutschen?6 Die Hauptunterrichtsfächer müssen folgende Gebiete berücksichtigen: Die elementaren Kenntnisse wie Lesen, Schreiben, Rechnen; Religion zur "Bildung des Herzens und der Gesinnungen", eine Übung der Vernunft und Seelenkräfte; Kenntnisse des menschlichen Körpers und der Ernährungslehre; der Unterricht muß Klugheit fördern, Wohlverhalten und den Umgang mit Menschen lehren, er muß den von Heyse so genannten "äußeren Wohlstand" schaffen und mehren. Die Hauptfächer heißen also Sprachunterricht - lebender Sprachen sowie besonders der Muttersprache -, Geschichte, Geographie, Natur- und Kunstbeschreibung, Gewerbekunde, Naturkunde, Physik, Mathematik, Staatsbürgerkunde. 43 Gesammelte Schriften (1826: 9). 44 Geht das auf seine schlechten Erfahrungen zurück, die er in Oldenburg mit Schülern aus dieser Schicht gemacht hat? Die Erzählungen eines gewesenen Schulmannes geben darüber Auskunft; das gilt auch für seinen Ärger Uber die Juristen, bei denen er Genauigkeit, Klarheit und praktischen Sinn vermißt, wie aus seiner Besprechung der Schulgesetze aus Oldenburg hervorgeht: Juristische Viel- oder gar Allwisser schrieben diese Gesetze filr die Jugend. Eine einfachere Erklärung liegt darin, daß Mediziner und Juristen nicht zum BildungsbUrgertum im eigentlichen Sinn gehören. 45 Gesammelte Schriften (1826: 5). 46 6. Juni 1808, S. 494.
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Johann Christian Heyse und seine Nachfolger
3.1.2. Erziehung der jungen Mädchen und Wichtigkeit der Sprachen Als Direktor der Höheren Töchterschule entwickelte Johann Christian Heyse ein Erziehungskonzept speziell fiir Mädchen aus dem Bürgertum. Die beiden Bände der Reden und Schriften versammeln seine Ansprachen beim Abschied von der Höheren Töchterschule in Nordhausen, beim Amtsantritt als Direktor der Mädchenschule in Magdeburg sowie bei den jährlichen Schülerpreisverleihungen. Der erste Band enthält auch eine harsche Kritik Heyses an den falschen Ansichten, die ein gewisser Bernhard der Fünfziger mit Herablassung über die Erziehung junger Mädchen im Frankenhäuser Intelligenzblatt von 1810 äußerte. 1825 erschien eine Abhandlung von Franz Georg Ferdinand Schläger, Oberprediger und Senior des Ministeriums in Hameln: Über den hohen Werth und wichtigen Einfluß der weiblichen Bildung auf alle Verhältnisse des weiblichen Lebens mit Anmerkungen Heyses. Auffällig an Heyses Eintreten fur die Erziehung junger Mädchen ist die Bedeutung, die er dem muttersprachlichen Unterricht beimißt. Dieses beständige Eintreten für die Frauen, deren Erziehung er gegen die Vorurteile seiner Zeit verbessern will, scheint bei Heyse eine Grundeinstellung zu sein. Er stützt sich dabei auf Gedanken der Konsistorialräte Zerrenner aus Derenburg47 und Natorp, auf H. Müllers Eheliches Leben und häusliches Glück, Gräfin Amalie von Wallenburgs Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, auf die Anschauungen des Pädagogen C. Nicolai, wie sie besonders deutlich in der zweiten Auflage seines Werkes Über Menschenkunde, Menschenkenntniß und den Umgang mit Menschen zum Ausdruck kommen, schließlich auf die Encyclopedie feminine von J. A. Donndorff. Auf diesem Hintergrund haben nach Heyse die Töchterschulen den Zweck, Mädchen denselben Fächern Zugang zu verschaffen wie Jungen. Es ist sein Verdienst, bei den Mädchen besonderen Nachdruck auf die Beherrschung der Muttersprache und mindestens einer Fremdsprache, des Französischen, gelegt zu haben. Wenn er einer Abhandlung den Titel gibt Wie kann eine große Anzahl Schüler oder Schülerinnen im deutschen Rechtschreiben sehr leicht und gründlich geübt und befestigt werden?, so beweist die Gleichsetzung "Schüler und Schülerinnen", daß er die jungen Mädchen in seine pädagogischen Bestrebungen mit einbezieht: Ihre Erziehung soll keine oberflächliche, sondern eine umfassende sein. Er wird nicht müde, gegen die Unwissenheit aufzubegehren, in der man die Mädchen zu seiner Zeit hielt, und gegen die Tendenz, ihre schulische Ausbildung mit vierzehn Jahren, zum Zeitpunkt der Konfirmation, mit
47 Vgl. dazu den aufschlußreichen Brief Zerrenners, in dem seine Nahe zu Pestalozzis Anschauungen deutlich wird: 'Jede Mutter, auch das geringste Weib aus der niedrigen Volksclasse kann und muß die erste und beste Lehrerin der Kinder sein, weil sie dieß seyn soll.' Aber doch wohl nur das höchste zugegeben: künftige erst noch zu bildende Mütter [...]. (Dieser Satz ist von Zerrenner unterstrichen, S. 3) - Transkription des Briefes im Anhang 1.
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der sie in das Erwachsenenleben eintreten, abzubrechen. Ein Mädchen soll vielmehr durch die Erziehung darauf vorbereitet sein, den einzigen der Frau zugedachten Beruf ganz auszufüllen: "geschickte Haushälterin" zu sein, "würdige Gattin und Freundin ihres Mannes, musterhafte Mutter und Erzieherin". Der unverheirateten Frau aus dem Bürgertum widmet erst Schläger 1825 in seinem Buch Über den hohen Werth der weiblichen Erziehung ein Kapitel. Nach Heyses Vorstellung ist das Ziel der weiblichen Erziehung weniger die Förderung der Fähigkeiten an sich, die die Mädchen mitbringen, als sie auf ihre gesellschaftliche Rolle vorzubereiten, der sie sich ganz unterordnen müssen. Werte wie "Pflichtgefühl", "Wohlgefallen", "Anständigkeit", "Folgsamkeit", "Verträglichkeit", "echte Bescheidenheit" sollen die Mädchen verinnerlichen, damit sie ihre Aufgabe in der Familie, bei Ehemann und Kindern, erfüllen können; die "große geräuschvolle Welt" bleibt den Männern vorbehalten. Heyses Anliegen entspringt keiner idealistisch gesinnten philanthropischen Regung, sondern einer nüchternen Feststellung; das ist zumindest der Äußerung seines Kollegen Stephani in seinem Bericht über die Reform der Töchterschule in Nordhausen zu entnehmen. Da die Frauen etwa die Hälfte der Menschheit ausmachten, hätten sie Anrecht auf eine ebenso gründliche Erziehung wie ihr männliches Gegenbild. Diese Aussage erhält jedoch ihren vollen Sinn, wenn man das folgende ergänzt: Hierzu kommt noch der Umstand, daß die glückliche Verfolgung des Zwecks der Männerwelt selbst noch in vielen Stücken von der Bildung des weiblichen Geschlechts abhängig gemacht worden ist. Jeder Mensch wird vom Weibe geboren, und erhält von ihm die Grundlage seiner Charakterbildung.48
Wegen dieser Verantwortung als zukünftige Mütter müssen die jungen Mädchen aus ihrer Erziehung mehr mitnehmen können als die bloßen Fähigkeiten des Lesens, Schreibens, Betens und Singens, die ihnen die ehemalige Magdeburger Töchterschule 49 vermittelte. Der Unterricht der Mädchen soll daher die meisten Fächer einschließen, in denen die Jungen unterrichtet werden: Religion, Ernährungslehre und Anatomie, Grundkenntnisse der Physik, Naturkunde, "Waarenkunde", Geographie, Geschichte, Mythologie, Logik, Rechnen; sie sollen Französisch lesen, schreiben und sprechen lernen sowie korrektes Deutsch, zudem sollen sie tanzen können und "weibliche Geschicklichkeiten" perfekt beherrschen. Die Frau soll "keine Gelehrte" werden, sich aber mit ihrem Ehemann über fast alle Themen unterhalten können, und, wenn nötig, ihn in seiner beruflichen Arbeit unterstützen. Heyse unterstreicht im Rahmen des sprachlichen Unterrrichts die Notwendigkeit, daß die Frauen sich schriftlich wie mündlich gut ausdrücken können und ihre Muttersprache perfekt beherrschen. Ein guter Stil wird ebenfalls von ihnen erwartet: 48 Gesammelte Schriften (1826: 127). 49 Es handelt sich um die ehemalige Klosterschule am Frauenberge.
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Johann Christian Heyse und seine Nachfolger Die höhern Stände sind (gegen Adelung's Verwechslung) zwar nicht die besten stehenden Tonkünstler der Sprache (Compositeurs), aber doch die besten vortragenden (Virtuosen).50
Nicht nur Leichtigkeit und Spontaneität des Ausdrucks sind gefragt, die Frauen sollen auch die Regeln ihrer deutschen Muttersprache kennen und die verwendeten grammatischen Konstruktionen erklären können. Durch "schriftliche Aufsätze", die private wie Geschäftskorrespondenz ("Quittungen", "Obligationen") einschließen, soll die Frau mit allen Formen der Korrespondenz vertraut gemacht werden. Vor dem Erwerb einer Fremdsprache (Französisch), steht die Anforderung der sicheren Beherrschung der Muttersprache: das Französische ist für Heyse eine "Denkübung", die durch Vergleiche zum besseren Verständnis der eigenen Sprache führt: [...] gehörig gelernt und geübt, durch richtige Vergleichung mit der Muttersprache sehr viel beitragen, die gründlichere Erlernung dieser zu befördern.51
In Heyses pädagogischem Ansatz ist die Schule der Ort, wo man für das Leben lernt, weil sie Grundwerte vermittelt. Die Beherrschung des Deutschen hat dabei Vorrang.
3.2. Das sprachwissenschaftliche Werk: Pädagogik und Deutschunterricht Heyses elementares Interesse für die deutsche Sprache ist Teil seiner allgemeinen Beschäftigung mit lebenden Sprachen, deren Unterricht er an den von ihm geleiteten Anstalten fördern möchte, und zwar auf Kosten der klassischen Sprachen. Sein Ziel ist es, Jungen und Mädchen auszubilden, die sich in ihrer Muttersprache gut ausdrücken können. Damit zählt er zu den Neuerem, die die Pädagogik in Deutschland am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert entscheidend belebten. Neben diesem allgemeinen Anliegen nimmt er Stellung zu gewichtigen kulturellen und wirtschaftlichen Fragen, die von seinen nationalistisch gesinnten Ausführungen zu unterscheiden sind. In seinen Schriften überlagern sich diese beiden Ebenen, er sah jedoch nie die Notwendigkeit, selbst ins politische Leben einzugreifen.
3.2.1. Veröffentlichungen zur Grammatik Nach seiner ersten sprachwissenschaftlichen Veröffentlichung, dem Hülfsbuch zur Erlernung und Beförderung einer richtigen deutschen Aussprache und Rechtschreibung (1803) fand er mit der Theoretisch-praktischen deutschen 50 Gesammelte Schriften (1826: 139). 51 Ebd.
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Grammatik oder Lehrbuch zum reinen und richtigen Sprechen, Lesen und Schreiben der deutschen Sprache (im folgenden abgekürzt als TPdG) von 1814 definitiv Anerkennung. Die TPdG war die erste von drei Schulgrammatiken, die während des gesamten 19. Jahrhunderts mehrfach neu herausgegeben wurden. Bereits zwei Jahre später, 1816, erschien eine Kurzfassung dieser ersten Grammatik unter dem Titel Kleine theoretisch-praktische deutsche Sprachlehre (im folgenden entsprechend ihrem späteren Titel Schulgrammatik abgekürzt als SG), die 1821, auf Anregung seines Lehrerkollegen Tetzner, der Kurze Leitfaden zum gründlichen Unterricht in der deutschen Sprache für höhere und niedere Schulen (abgekürzt als KLf) ergänzte.
3.2.1.1. Neuausgaben der Grammatiken und Titeländerungen Zwischen 1814 und 1829 wurden diese Grammatiken mit geänderten Titeln neu aufgelegt und, besonders ab 1825, überarbeitet.52 Eine solche Flut von Neuausgaben ist selten. Einzig vergleichbares Beispiel sind die ab 1828 in Konkurrenz erscheinenden Grammatiken von Karl Ferdinand Becker53, die jedoch wegen ihrer stärker theoretischen Ausrichtung und ihres geringeren pädagogisch-praktischen Nutzens sehr umstritten waren. Philipp Lorberg, der Heyses Schriften in der Allgemeinen Schul-Zeitung bespricht, geht in einem Brief vom 20. März 1825 gleich zu Beginn auf den außergewöhnlichen Erfolg der Grammatiken ein54: Es ist fürwahr ein seltenes Beispiel, daß man gleich nach Erscheinung einer neuen Auflage eilen muß, um mit den Zusätzen für die nächste nicht zu spät zu kommen.
Im folgenden sind die zu Lebzeiten Heyses55 erschienenen Neuauflagen aufgeführt, deren inhaltliche Änderungen im Kapitel II untersucht werden. Zwischen 1814 und 1829 erscheinen nacheinander vier große Ausgaben der TPdG. Der Theoretisch-praktischen deutschen Grammatik, oder Lehrbuch zum reinen und richtigen Sprechen, Lesen und Schreiben der deutschen Sprache. Für den Schul- u. Hausgebrauch bearbeitet von Johann Christian Heyse. Hannover bei den Gebr. Hahn, 1814, folgen zwei durchgesehene Ausgaben. Eine ist Heyses Freund, dem Konsistorial- und Schulrat in Magdeburg C. Ch. G. Zerrenner, Herausgeber des Neuen Schulfreund, gewidmet, die andere August Hermann Niemeyer, Professor in Halle: Es sind die 2. sehr verbesserte und besonders mit der Verslehre der deutschen Sprache vermehrte Ausgabe, 52 Es sei erwähnt, daß die Bezeichnungen Auflage und Ausgabe bei Heyse gleichbedeutend verwendet werden. 53 Vgl. Haselbach (1966) und unten Kap. II und III. 54 Heyse-Familienarchiv in der StB zu Berlin, unveröffentlichter Brief. 55 Eine Übersicht aller bis 1914 erschienenen Neuausgaben mit Hinweis auf die wichtigsten Auflagen und Mitarbeiter oder Nachfolger steht am Ende von Kap. I.
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Johann Christian Heyse und seine Nachfolger
und besonders mit der Verslehre der deutschen Sprache vermehrte Ausgabe, 1820, und die 3. vermehrte Ausgabe 1822. Die wichtigste Ausgabe56 ist die vierte von 1827: 4. sehr vermehrte und verarb. Ausg., 1827 mit geändertem Titel: Theoretisch-praktische Grammatik der deutschen Sprache, nebst einer kurzen Geschichte und Verslehre derselben. Zunächst zum Gebrauche für Lehrer und zum Selbstunterricht. Zwischen 1819 und 1829 erscheinen nacheinander acht Ausgaben der Schulgrammatik (SG), der ersten gekürzten Fassung der TPdG. Ab der zweiten Ausgabe ersetzt Heyse den Begriff "Sprachlehre" durch "Grammatik". Es sind:
die Kleine theoretisch-praktische deutsche Sprachlehre, ein Auszug aus dem großen Lehrbuche der deutschen Sprache. Zunächst für Schulen bearbeitet. Hannover bei den Gebrüdern Hahn, 1816:, die 2. verbesserte und durch einen Abschnitt von der deutschen Verslehre vermehrte Ausgabe, 1819, mit dem geänderten Titel Kleine theoretisch-praktische deutsche Grammatik. Ihr folgen zwei weniger wichtige Ausgaben: die 3. und 4. verbesserten Ausgaben von 1821 und 1823. Die entscheidenden inhaltlichen Änderungen gehen in die Ausgaben ab 1825 ein, wobei der endgültige Titel "Schulgrammatik" 1826 feststeht: Es erscheinen die 5. sehr verbesserte Ausgabe 1825, die 6. verbesserte teilweise umgearbeitete Ausgabe von 1826 mit dem neuen Titel, Kleine theo-
retisch-praktische deutsche Schulgrammatik oder kurzgefaßtes Lehrbuch der deutschen Sprache, mit Beispielen und Aufgaben zur Anwendung der Regeln. Darauf folgen 1827 und 1829 die jeweils 7. und 8. verbesserten Ausgaben, denen die Umarbeitung der TPdG von 1827 zugrunde liegt. Ab 1821 erscheint die Heysesche Grammatik in einer dritten Form, jener des Leitfadens (KLf), einer Vereinfachung der SG. Sie hat den gleichen Erfolg wie ihre beiden Vorgängerinnen und erscheint sechs Mal, ab 1826 mit dem endgültigen Titel Leitfaden: Es handelt sich um den Kurzen Leitfaden zum
gründlichen Unterricht in der deutschen Sprache für höhere und niedere Schulen, nach den größeren Lehrbüchern der deutschen Sprache von Johann Christian Heyse, Hannover bei Hahn, 1821', die 2. verbesserte Ausgabe von 1823 und die 3. neu bearbeitete Auflage von 1824; die 4. sehr verbesserte Auflage von 1826 mit dem neuen Titel: Leitfaden zum gründlichen Unterricht [...]. Kurz darauf erscheinen die 5. verbesserte
Auflage
von 1828 und die 6.
verbesserte Auflage 1829. Die inhaltlichen Änderungen der SG und der TPdG wirken sich auf den KLf aus, dessen Ausgaben starke Entsprechungen aufweisen, so daß sie parallel benutzt werden können. Diese große Leistung ist das Ergebnis der engen Zusammenarbeit Johann Christian Heyses mit seinen Söhnen Carl Wilhelm und Friedrich Theodor seit 1825.
56 Vgl. Kap. I
Das Werk Johann Christian Heyses
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Exkurs: Johann Christian Heyses Beitrag zur Lexikographie Heyses Anliegen einer guten Beherrschung der deutschen Sprache äußert sich auch in seinen Arbeiten zur Lexikologie. Er sprach sich gegen das Überhandnehmen fremdsprachiger Ausdrücke im Deutschen aus und empfahl die Verwendung von Wörtern germanischen Ursprungs. Diese Arbeit ging seiner eigentlichen grammatischen Arbeit zunächst voraus, wurde dann aber gleichzeitig betrieben. Er veröffentlichte fünf Fassungen seines Verdeutschungswörterbuchs, das seit 1825 unter dem bekannteren Titel Fremdwörterbuch erschien und verschiedene Neuauflagen erfuhr: - Allgemeines Wörterbuch zur Verdeutschung und Erklärung der in unser Sprache gebräuchlichen fremden Wörter und Redearten. Zum bequemen Gebrauch für alle, welche Ausdrücke richtig verstehen und gebrauchen oder auch vermeiden wollen, insonderheit für Schulen. Oldenburg bei Schulze, 1804, 2 Theile, 1. Thl. A-K, 2. Thl. L-Z. - Kurzgefaßtes Verdeutschungs- Wörterbuch der in unser Sprache mehr oder minder gebräuchlichen fremden Ausdrücke nebst der nöthigsten Erklärung. Wohlfeilere Ausgabe für Schulen und unbemittelte Geschäftsmänner bearbeitet von Johann Christian Heyse, Bremen bei Müller, 1807. 1809 erschien auf Betreiben des Verlegers eine zweite Augabe dieser gekürzten Fassung, allerdings ohne Rücksprache mit dem Verfasser: - 2. Auflage 1809,57 Die drei zwischen 1819 und 1829 erschienenen Ausgaben waren alle von Heyse durchgesehen und verbessert worden. Der geänderte Titel der dritten Auflage hebt das "Verstehen und Vermeiden" hervor, macht so die beabsichtigte praktische Anwendung deutlich. Die vierte ersetzt die Bezeichnung VerdeutschungsWörterbuch durch das neutralere Kurzgefaßtes Fremdwörterbuch und bringt den Zusatz Handbuch: - 3. rechtmäßig sehr vermehrte und verbesserte Ausgabe. Nordhausen bei Happach (darauf Hannover bei Hahn), 1819; mit dem geänderten Titel: Kurzgefaßtes Verdeutschungs- Wörterbuch zum Verstehen und Vermeiden der in unserer Sprache mehr oder minder gebräuchl. fremden Ausdrücke, mit Bezeichn. der Aussprache und Betonung und der nöthigst. Erklärung. - 4. rechtmäßige sehr vermehrte und verbesserte Ausgabe, Hannover, bei Hahn, 1825; mit dem geänderten Titel Kurzgefaßtes Fremdwörterbuch oder Handbuch zum Verstehen und Vermeiden [...]. Die letzte zu Lebzeiten ihres Begründers Johann Christian Heyse erschienene Ausgabe von 1829 trägt den neuen Titel Allgemeines Fremdwörterbuch, den Carl Wilhelm Heyse, der das Wörterbuch fortführen wird, beibehält:
57 Diese Aufl. wurde ohne Heyse's Vorwissen, vom Verleger veranstaltet. Anmerkung von Gustav Heyse. (Heyse-Familienarchiv, StB zu Berlin).
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- 5. rechtmäßig sehr vermehrte und verbesserte Ausgabe, Hannover bei Hahn, 1829. (Erste Abth. von A-J, zweite Abth. von K-Z), mit dem geänderten Titel:
Allgemeines Fremdwörterbuch.
3.2.2. Kulturelle und pädagogische Zielsetzung des neusprachlichen Unterrichts Veröffentlichung und Neuauflage der Grammatiken Heyses folgen nicht allein dem Bestreben, die der deutschen Sprache innewohnenden Regeln mit größter Genauigkeit zu vermitteln, sondern auch kulturellen und politischen Vorgaben. In seiner Oldenburger Rede von 1792 Wie und wodurch wird die bürgerliche
Jugend in öffentlichen Anstalten ihrer Bestimmung gemäß gebildet? zeigt Heyse mit großer Klarheit die Notwendigkeit auf, den Lateinunterricht durch Deutschunterricht zu ersetzen. Im Widerspruch zu Thiersch 58 plädiert er für einen Rückgang des Latein. Der Briefwechsel zwischen Heyse und C. Dilthey 59 bespricht dieses Problem und den bereits schlechten, nicht mehr bildenden Lateinunterricht. Lateinunterricht nützt nach Heyses Ansicht nur den sich einem längeren Studium widmenden Schülern (den "Studierenden"); für sie sei er eine gute Anleitung zur Schulung des Denkens und "Grund zu jeder erhabenen und gründlichen Wissenschaft". Wer sich jedoch für das Geschäftsleben im weiteren Sinne entscheidet, für den seien Lateinkenntnisse nicht nur "entbehrlich", sondern sogar "schädlich"; denn den direkten Zugang zu lateinischen Texten könnten j a gute Übersetzungen ohne weiteres ersetzen. Sollte es eines Tages erforderlich sein, mit juristischen Begriffen lateinischen Ursprungs umzugehen, könnte ein gutes Wörterbuch Klarheit verschaffen. Die Beschäftigung mit Latein koste den Schüler Zeit und Kraft, die er nutzbringender zum Erlernen lebender Sprachen verwenden könnte. Diese auf den Schüler gerichtete individuelle Perspektive wird von Heyse ergänzt durch den Blick auf die internationalen Beziehungen von Handel, Kultur und Wissenschaft, innerhalb derer der künftige Beruf ausgeübt wird: Wenn der Verkehr der Nationen, worunter ich aber hier nicht bloß einen Umtausch von Waaren, sondern auch von Gedanken und Kenntnissen verstehe, [...] der Grund ist, warum man gewohnlich fremde Sprachen lernt: so wird dadurch auch zugleich bestimmt, welche Sprachen sie zu lernen hat.60
Da Heyse von den deutschen Auslandsbeziehungen ausgeht, empfiehlt er den Unterricht in Französisch, Englisch, Holländisch, Spanisch und Italienisch. Diese Fächer sollten mit demselben Ernst betrieben werden wie der Deutsch58 Vgl. oben, Einleitung, 1.0. 59 Brief von Dilthey an Heyse vom 21. März 1826. 60 Gesammelte Schriften (1826: 13f ).
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Unterricht; die Schüler sollen somit die Bildung und Sprachenbeherrschung erwerben, die ihr späterer Beruf und ihre soziale Stellung verlangen.
3.2.3. Die politische Funktion der muttersprachlichen Kompetenz Zwischen 1792 und 1814, als Heyse seine TPdG zum erstenmal veröffentlicht, erstarkt das nationalistische Denken. Dazu gehört für Heyse die Einstellung zur deutschen Muttersprache und zu Fremdsprachen. Das Beherrschen von Fremdsprachen setzt für ihn gute Deutschkenntnisse voraus. Er kritisiert die modisch gewordene "Unkunde" in den höheren Gesellschaftsschichten, die sich sogar ihrer Unkenntnis des Deutschen rühmen. Gut Deutsch sprechen soll nun den Vaterlandsstolz fördern, wobei jegliche Nachlässigkeit getadelt wird: "Ist es nicht schimpflich, ein Deutscher zu sein, und doch nicht richtig deutsch denken, reden und schreiben zu können?" 61 1814 will Heyse nicht mehr nur die Gesetzmäßigkeiten der deutschen Grammatik vermitteln und einüben. Seine Haltung wird rigider. Zu dem kritischen Bemühen um die Darstellung der Regeln einer Einzelsprache 62 tritt der Wille, die politische Funktion der Schulgrammatik zu Beginn des 19. Jahrhunderts hervorzuheben; diese ist so entscheidend, daß sie anscheinend sogar der Auslöser für die Abfassung einer Grammatik war. Johann Christian Heyse hat zwar schon vor 1814 sprachwissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, z.B. den Neuen Schulfreund; in seiner Vorrede zur TPdG von 1814 betont er aber den politischen Aspekt so stark, daß man ihn schwerlich übersehen kann. Er stellt die Grammatik in den Dienst der Interessen der "Deutschen Nation" und rückt so in die Nähe der Position Heinsius'63, der sich in seiner eigenen Sprachlehre ähnlich, allerdings bündiger als Heyse, äußert.
3.2.3.1. Verwendung der Beispiele Die von Heyse gewählten Beispiele befördern das stark nationalistisches Denken. Hier eine Auswahl: Nur aus der Kräfte schön vereintem Streben Erhebt sich wirkend erst das wahre Leben. (Schiller) Errungen, früh errungen hat er seine Palme, Der treue Streiter. (Kosegarten)64
61 62 63 64
(Ebd.: 14). Vgl. Kap. I Vgl. Anhang 2, Kurzbiographien. TPdG (1814: 501).
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Solche Zitate finden sich noch 1827: Diese seine drei noch ganz neuen und schönen Häuser sind in dem letzten so verheerenden Kriege in Asche gelegt worden.65 Groß ist der Held im Kampfe fllrs Vaterland. Umstürzen wolltet ihr die Republik, Aufwerfen euch zum Herren von Venedig, Vergießen Btlrgerblut, der Edlen Blut. (Raupach) Abtreiben wollen wir verhaßten Zwang; Die alten Rechte, wie wir sie ererbt Von unsern Vätern, wollen wir bewahren. (Schiller).66
Die große Zahl der Beispiele lassen auf die vollkommen bewußte tendenziöse Haltung Johann Christian Heyses schließen.
3.2.3.2. Die Heysesche Grammatik vor dem Hintergrund der nationalistischen Bewegung Aus deutscher Sicht67 hat der allgemeine politische Kontext als Grundzüge: Der Einfall der Armeen der französischen Revolution und die expansionistische Politik Napoleons bewirkten eine völlige Neuordnung der politischen Landschaft. Das Heilige Römische Reich endete 1806, Preußen wurde 1807 besiegt und aufgeteilt, ebenso die Mehrzahl der ehemals souveränen Staaten.68 Preußen wehrte sich heftig gegen die Besetzung, ein starkes Nachdenken setzte ein, denn die tieferen Gründe der erlittenen Niederlagen sollten verstanden und in der Zukunft vermieden werden: Dieses Nachdenken zunächst über die Gründe des militärischen Erfolgs der Franzosen, dann Uber die Mittel zur Beendigung der Besetzung führt dazu, daß die bestehenden Beziehungen zwischen Gesellschaft und staatlicher Organisation, zwischen Sozialstruktur und militärischer Organisation in Frage gestellt werden.69
65 TPdG (1827: 647). 66 TPdG (1827: 657). 67 An diese Perspektive mußte in der ursprünglichen Fassung dieser Arbeit in französischer Sprache erinnert werden. 68 Vgl. dazu die neuere Darstellung von Roger Dufiraisse L'Allemagne Napoleonienne jusqu'en 1809. In: Tulard (Hrsg.): 1989: I I I (Kap. 3). Dufraisse untersucht eingehend das napoleonische Deutschland, das sich aus den deutschen Einzelstaaten des Ancien Regime mit Ausnahme Preußens und der habsburgischen Erblande zusammensetzt. 69 Roger Dufraisse, in: Tulard (Hrsg.): 1989: 323 (Kap. 4 La Prusse de 1806 ä 1813): "Cette rdflexion, d'abord sur les causes de la fortune guerri6re des Francis, puis sur les moyens de mettre fin ä l'occupation, conduit ä remettre en cause les rapports existant entre la societe et l'organisation de l'etat, entre les structures sociales et l'organisation militaire."
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Der Grammatiker Heyse fühlte sich offensichtlich in dieses allgemeine Nachdenken, in diese aktive Veränderung einer Gesellschaft von innen eingebunden. Als er seine Grammatik 1813 abschloß, war die politische Lage noch unsicher. Auf die Katastrophe des Rußlandfeldzuges 1812/13 waren 1813 die Siege Napoleons in Groß-Görschen und Bautzen gefolgt. Aber die Einfuhrung des Eisernen Kreuzes, die Schaffung mehrerer Armee-Corps und die Einberufung Freiwilliger, schließlich der Aufruf des preußischen Königs Friedrich Wilhelms I. An mein Volk vom 17. 3. 1813, kündigten eine Wende an und rechtfertigten offiziell die Fortsetzung der Befreiungskriege. 70 Vom Frühjahr 1813 an entwickelte sich die Lage rasch zugunsten der deutschen Länder. Nach dem Waffenstillstand von Pleisewitz (4.6. 1813) mit Napoleon wurde die Allianz durch Österreich und Schweden erweitert. Der österreichische General K. Ph. Schwarzenberg übernahm die Leitung der alliierten Armeen. Napoleon erlitt eine Niederlage nach der andern; mit der Völkerschlacht von Leipzig, die ihm eine vernichtende Niederlage zufügte (16.-19. 10. 1813), fiel die Entscheidung. Die Staaten des Rheinbundes schließen sich der siegreichen Armee an, die am 31. März einmarschiert. Der erste Pariser Vertrag vom 30. Mai 1814 verwies Frankreich in die Grenzen von 1792.71 Der unterschiedliche Ton des Vorworts vom August 1814, dem letzten vor der Drucklegung verfaßten Teil der TPdG, und der Einleitung ist ein Beweis für die politische Verankerung der Grammatik Heyses. Dieser schreibt in seinem Vorbericht: Möge es [mein Streben] dazu beytragen, unsere Sprache - dies einzige von außenher unverletzlich gebliebene Gut, zu dem wir in der Zeit der drückendsten fremden Zwangsherrschaft flüchten, in dem wir uns einigen, aus dem wir noch Trost und Glauben an die Rettung des deutschen Volks schöpfen konnten - nun auch in der Zeit der Freyheit desto reiner und inniger zu lieben, sie von Mängeln und Unvollkommenheiten immer mehr zu reinigen, und deutschen Sinn, deutsches Gemüth möglichst treu in ihr auszusprechen!72
Die gegen die französische Besetzung gerichteten Begriffe sind deutlich. Die deutsche Sprache ist das gemeinsame Gut, das Zuflucht gewährt, um die Einheit der Nation zu bewirken. Die Völkerschlacht markiert das Ende einer Epoche, aus der die deutsche Sprache gereinigt hervorgeht. Der Tenor der Einleitung klingt dagegen ganz anders, polemischer, mißtrauischer. Demnach muß der Text vor dem Sieg von Leipzig in Druck gegangen sein, zu einer Zeit, als die
70 Dufraisse, in: Op. cit.: 178 (Kap. 3) erklärt die deutsche Lage so: Nur das gemeinsame Handeln der aufständischen Völker und der von außen gekommenen Befreier könnte von der französischen Übermacht befreien. Ihre Angst wurde noch verstärkt durch die Kontinentalsperre, das Scheitern der Aufstände von 1809 und durch Napoleons Heirat mit Marie-Louise. Nur die Staaten des Rheinbundes fürchteten, Opfer der Annäherung zwischen Preußen und Wien zu werden. 71 Vgl. Jean Tulard, Zusammenfassung: 577f. (L'Europe du Congres de Vienne), und Dufraisse, in: Op.cit.: 473-509 (Kap. 1, L'ecroulement de la domination franqaise en Allemagne, 1813) 72 TPdG (1814: IXf ).
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antifranzösische Stimmung noch verstärkt wurde durch "das Übermaß an Besteuerungen, Kriegsbeiträgen, Unterhalt der Truppen, durchmarschierende Soldaten und ständig sich wiederholende Ärgernisse aller Art"73. Heyse zeichnet die Geschichte der deutschen Sprache seit ihren Ursprüngen nach, erinnert an ihre großen Schriftsteller, an die Arbeit der Grammatiker und stellt sie den anderen europäischen Sprachen gleich. Sein Urteil lautet: "Unsere Sprache darf sich jetzt mit jeder andern lebenden Sprache messen." 74 Diese Aufwertung der deutschen Sprache ist eine folgerichtige Reaktion auf die imperialistische Politik Napoleons. Die Tiraden gegen den, der nie mit Namen genannt wird, den "Barbaren", sind zitierenswert: Die gebildetsten Völker Europa's, welche sonst mit einer Art von stolzer Verachtung auf sie [die deutsche Sprache] herabsahen, lernen sie immer mehr kennen und schätzen, und nur ein Barbar in jedem Sinne des Wortes konnte den vermessenen Gedanken hegen, unsre durch eine solche Sprache gegründete und vereinigte freye Nation mit sich selbst zu verunreinigen, sie auf die Dauer zu beherrschen oder vielmehr zu unterjochen - eine Nation, deren gebildete Sprache er weder kannte, noch zu erlernen der Muhe werth hielt!75
Dieses sprachliche Selbstverständnis steht im Dienst eines erwachenden Nationalbewußtseins: Jeglicher Angriff auf die deutsche Sprache, jede Geringschätzung, jeder Versuch, sie durch eine andere Sprache zu bevormunden, ist einer Verachtung der diese Sprache sprechenden Nation gleichzusetzen. Sprache und Nation sind zwei untrennbare Größen. Die Sprache begründet das Sein einer Nation. Deshalb wird jede Gefährdung der Sprache zwangsläufig einen nationalistischen Sturm zu ihrer Verteidigung auslösen. Ausführlich werden die großen Philosophen zitiert, die offen für ein Nationalbewußtsein mittels der Sprache gekämpft haben, nämlich Fichte, Arndt und Friedrich Ludwig Jahn, insbesondere Ernst Moritz Arndts Ueber Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache (1813) und Bereicherung des hochdeutschen Sprachschatzes (1806). Der deutsche Historiker Rudolf von Raumer schreibt 1870, daß "[...] diese Herolde der deutschen Freiheit, die den unschätzbaren Werth der deutschen Sprache hervorhoben"76; ihnen sei es zu verdanken, daß die Wissenschaft sich entfaltete "durch die Belehrung des deutschen Sinns". Wie die deutsche Nation habe die deutsche Sprache ihre Identität wiederzugewinnen und sich von fremden Einflüssen zu befreien, schreibt Heyse. "Die unglückliche Nachahmungssucht der Franzosen" sowie die Manie, "die französische Sprache auf Kosten der vaterländischen zu lernen und zu schwatzen"77, hätten zu lange geherrscht. Er bezieht sich auf zahlreiche Lehnwörter aus dem 73 Vgl. Dufraisse, in: Op. cit: 474 (L'ecroulement): " (...) la surcharge des impositions, contributions de guerre, entretien de troupes, passages de soldats et vexations de tous les genres continuellement rep&öes". 74 TPdG (1814: 30). 75 Ebd. 76 R. von Raumer (1870: 314). 77 TPdG (1814: 25).
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Französischen, auf den Gebrauch von Suffixen, Redewendungen, französischen Satzkonstruktionen, die die deutsche Sprache "verunreinigt und befleckt" 78 haben. Man versteht jetzt besser, daß die beiden Arbeitsgebiete, d.h. Grammatik und Wörterbücher, in Johann Christian Heyses Denken eine Einheit bilden. Dennoch will er keinen Kreuzzug gegen das Französische starten, im Gegenteil, es gilt den wahren Wert dieser Sprache zu erkennen, wie auch Wilhelm Seebode forderte: [...] sie [die französische Sprache] werde gelernt und auch gebraucht, wo es nöthig ist; nur hervordrangen soll sie sich nicht vor der unsrigen [...]. 79
Der Deutschunterricht an den Schulen ist zwar ein Lernfach, folgt aber einer politischen Motivation: Aufgabe der Jugend ist es, auf sprachlicher Ebene zu "wetteifern". Es kann demzufolge zwangsläufig nicht mehr um den Vorrang des Unterrichts in den klassischen Sprachen gehen: Die deutsche Jugend wird zu den Quellen deutscher Meisterwerke nicht weniger, als zu denen der Griechen und Römer geführt, und wetteifert unter sich, durch gegenseitigen Tadel und strenge Aufmerksamkeit auf sich selbst, die Reinheit und Richtigkeit ihrer Muttersprache immer allgemeiner zu machen, immer mehr überzeugt, daß es zwar keine große Ehre ist, richtig deutsch zu sprechen und zu schreiben, wohl aber die größte Schande, dies nicht zu können. 80
Die Zuspitzung dieses Gedankens, der noch 1827 in der dritten Auflage der TPdG81 steht, lautet: "Wer sie [die deutsche Sprache] verachtet, der verachtet auch seine Nation und ist nicht werth, ein Deutscher zu heißen." 82 Der von Johann Christian Heyse angeschlagene Ton ändert sich eigentlich nicht, immer bleibt das Deutsche prägend fur einen "echt bildenden Unterricht". Die späteren Ausgaben der TPdG und der anderen Grammatiken, ebenso die Kleine theoretisch-praktische deutsche Grammatik von 1816 formulieren jedoch diese Gedanken ab 1820 weniger scharf. Antifranzösische Tiraden bleiben aus. Diese Entwicklung steht sicher im Zusammenhang mit den französischen Niederlagen und dem territorialen Wachstum hauptsächlich Preußens, aber auch der übrigen deutschen Staaten infolge des Wiener Kongresses; hinzu kommt die Schaffung des Deutschen Bundes, in dem Preußen und das neue Kaiserreich Österreich die Hauptrolle spielen. Die Angriffe gegen den "Barbar" fallen zwar weg, doch die nationalistische Apologie bleibt. Allein das deutsche Volk habe einen Rechtsanspruch auf seine, die deutsche Sprache, dem es historisch äußerst eng und viel stärker verknüpft sei als ein anderes europäisches Volk mit seiner Sprache. 83 Es ist nun Aufgabe
78 Ebd. 79 TPdG (1827: 73f.) Heyse zitiert in einer Anmerkung Seebodes Über das Verhältniss deutschen Sprache zur französischen. 80 TPdG (1814: 30f.). 81 TPdG (1827: 75). 82 TPdG (1814: 33) und TPdG (1827: 79). 83 TPdG (1827: 3).
der
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der übrigen europäischen Völker, sich dem Deutschen zuzuwenden und es zu erlernen. Die Rollen werden also getauscht. Die deutsche Sprache sei also das kostbarste Erbe, das es zu bewahren gelte, denn um sie sammeln sich die einigenden Kräfte der deutschen Nation; die Sprache ist "das einzige unter allen politischen Stürmen [...] unauflöslich gebliebene Band"84. Sehr ähnliche Formulierungen sind fünfzig Jahre später bei dem Historiker Rudolf von Raumer wieder anzutreffen, der die Ereignisse zu Beginn des Jahrhunderts mit eben den Worten Heyses zusammenfaßt: Die Helden der Befreiungskriege schufen die Heere, mit denen sie dann den französischen Zwangherrn aus dem Felde schlugen [...] In dieser Zeit der größten Zerrissenheit und scheinbaren Vernichtung unsres Vaterlandes erwachte in den kräftigsten und edelsten Geistern unseres Volkes nun um so lebhafter das Gefühl der deutschen Gemeinsamkeit [...] V o r a l l e m ist e s d i e d e u t s c h e S p r a c h e , d i e man a l s d a s g e m e i n s a m e B a n d e r k e n n t und preist, das alle deutschen Stämme umschlingt. Denn wäre sie nicht gewesen, woran hätten sich die Deutschen, die sich damals in erbittertem Kampfe gegenüberstanden, jemals wieder als Genossen Eines Volkes erkennen sollen?85
Johann Christian Heyses Überlegungen integrieren sich in einen allgemeineren Reflexionsbereich über die deutsche Sprache, und die scharfen Formulierungen innerhalb seiner Grammatik sind nicht Ausdruck einer vorübergehenden persönlichen Erregtheit. Seine Worte sind 1870 noch aktuell. Reinheit der Sprache und staatsbürgerliches Engagement gehören nicht nur zusammen, sondern gehen auseinander hervor. Alle späteren Ausgaben (sogar diejenigen Carl Wilhelm Heyses nach seiner grundlegenden Überarbeitung von 1838/1849) bewahren die patriotische Idee: Seine Muttersprache gut zu beherrschen ist eine staatsbürgerliche Aufgabe, und das Gebot sprachlicher Reinheit ein Garant nationaler Integrität. So geht die Unterordnung der Grammatik unter politische Erwägungen einher mit der Herausbildung eines eigenen Forschungsgegenstandes, nämlich der deutschen Sprache.
84 (Op.cit.: 79). 85 R. von Raumer (1870: 314). Von Verf. unterstrichen.
4. Rezeption Johann Christian Heyses Die Grammatiken Johann Christian Heyses hatten gleich nach Erscheinen einen großen Erfolg. In ganz Norddeutschland, von Nordrhein-Westfalen, damals West-Preußen bis nach Berlin und Brandenburg, den Königreichen Sachsen, Hannover und im Großherzogtum Hessen, wurden sie sehr wohlwollend aufgenommen. Diese positive Rezeption Heyses ist hervorzuheben, um ihn gewissermaßen zu rehabilitieren, denn bisher bestimmen die zurückhaltenden oder meist abschätzigen Urteile sein Bild, so vor allem Haselbach, der Befürworter der philosophischen Grammatik von Becker; er sieht in der Heyseschen Grammatik "ein Beispiel für die Zusammenhanglosigkeit grammatischen Materials" 86 , steht also ganz im Banne der Meinungen von bekannteren Gegnern wie etwa dem Grammatiker Schmitthenner, der in einer Besprechung in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung 1825 die Heyseschen Grammatiken als "abgeschmakkte Lehrbücher der deutschen Sprache" bezeichnete. Heyses positive Rezeption läßt sich an der großen Verbreitung seiner Werke ablesen, an den zahlreichen Besprechungen, den Reaktionen der Zeitgenossen in Form von Briefen an den Verfasser oder von eigenständigen Veröffentlichungen, schließlich an seiner Einbeziehung in die geistige Gemeinschaft der Sprachwissenschaftler seiner Zeit, insonderheit als aktives Mitglied der beiden großen deutschen Sprachgesellschaften, des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache und der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache.
4.1. Die weite Verbreitung der Grammatiken Johann Christian Heyses anhaltende Rezeption läßt sich eindeutig an der kontinuierlichen Neuauflage seiner Grammatiken ablesen, die einer starken Nachfrage der rasch vergriffenen Auflagen nachkam. Es ist uns nicht gelungen, die jeweilige Auflagenhöhe zu ermitteln, auch die genaue Verbreitung der verschiedenen Ausgaben war nicht festzustellen, obwohl Heyse bei allen seinen Grammatiken und Wörterbüchern dem Verlagshaus Hahn in Hannover treu blieb (die pädagogischen Schriften erschienen hingegen bei den Gebrüdern Basse in
86 (1966: 131). Vgl. auch in: Ibid: 71, Anmerkung 127.
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Quedlinburg und Leipzig sowie bei Friese in Pirna). Am 26. Juli 1943 wurde der Verlag Hahn Opfer des Bombenangriffs auf Hannover, der das Geschäftshaus völlig zerstörte, wobei der Hauptteil des Archivs in Flammen aufging. 87 Indirekte Zeugnisse belegen dennoch eindeutig die Verbreitung: Es sind zuerst die Einleitungen zu den verschiedenen Grammatiken, in denen Heyse und später seine Nachfolger - den Erfolg der verschiedenen Kurzfassungen der TPdG erwähnen, der sie zur Veröffentlichung durchgesehener und überarbeiteter Fassungen ermutigte. So heißt es 1819 im Vorwort der zweiten Auflage der SG: "Die günstige Aufnahme dieser kleinen Sprachlehre und die Einführung derselben in viele Schulen hat den Verfasser aufgemuntert, diese zweite Ausgabe der von ihm beabsichtigten Zweckmäßigkeit noch näher zu bringen." Nur 1840, in der Einleitung zur zwölften Ausgabe der Schulgrammatik wird eine konkrete Zahl genannt. Carl Wilhelm Heyse hält fest, daß allein die elfte Ausgabe von 1834 dreimal neu aufgelegt wurde und die für ihre Zeit eindrucksvolle Gesamtauflagenhöhe von 25000 Exemplaren erreichte, innerhalb des kurzen Zeitraumes von fünf Jahren, zwischen 1834 und 1839. In der Korrespondenz Heyses finden sich weitere Hinweise auf die regionale und nationale Verbreitung in den "Archigymnasien" für die Lehrerausbildung und den schulischen Anstalten. Aus einem Brief des Unterrichtsreformers und Lehrers Johann Philipp Seidenstücker, Direktor des Archigymnasiums 88 von Soest (in West-falen), an Heyse vom 6. November 1816 geht hervor, wie schnell die Heysesche Grammatik Verbreitung fand: Ihre Sprachlehre hat meinen Beyfall in hohem Grade; ich habe sie dem hiesigen Seminar empfohlen, sie ist schon einzeln von den Seminaristen gekauft, und wird jetzt bey neuer Organisation des Seminars förmlich eingeführt werden, entweder die größere, oder die kleinere. - Das Ober-Consistorium schrieb noch vor etwa 14 Tagen an den Inspector des Seminars und empfahl Ihr Werk zur Einführung, oder wenn ich ein anderes Werk vorschlagen würde; ich stimmte für das Ihrige [,..]. w
Der noch unveröffentlichte Brief des Ministeriums des Geistlichen Unterrichts und der Medizinal-Angelegenheiten an Heyse vom 9. Mai 1825 belegt die allgemeine Verbreitung dieser Grammatiken, die sich zehn Jahre nach Erscheinen der ersten TPdG so durchgesetzt hatten, daß eine offizielle Empfehlung in den Amtsblättern der königlichen Regierungen mit dem Ziel, diese Werke in den Schulen einzuführen, überflüssig wurde: Schon früher Schriften] hat daß sie sich Überzeugung
bei ihrem ersten Erscheinen [Ihrer auf die deutsche Sprache sich beziehenden das Ministerium von ihnen nähere Kenntnis genommen, und sich gern überzeugt, besonders durch eine klare faßliche Darstellung empfehlen. Von dieser geleitet, hat das Ministerium die Einführung derselben in mehrere inländische
87 Antwortbrief des Verlegers vom 4. Mai 1992 auf Anfrage des Verf. Der Verlag Hahn besteht weiterhin unter demselben Namen. 88 Entsprach einer Pädagogischen Hochschule. Vgl. Anhang 2, Kurzbiographien. 89 Das Original des Briefes, den auch Heyse in seinem Vorwort zur zweiten Ausgabe der SG (1819) zitiert, befindet sich in der StB zu Berlin.
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Schulen genehmigt, und dadurch zur weitern Verbreitung dieser Schriften mitgewirkt, so daß eine besondere amtliche Empfehlung derselben von Seiten der Ministerii mittelst der Amtsblätter der Königlichen Regierungen jetzt um so weniger fllr nöthig erachtet werden kann, als manche dieser Schriften durch die wiederholten Auflagen, welche sie erlebt haben, hinreichend bekannt geworden sind. 90
Eine Erklärung für die zahlreichen Neuauflagen und die große Verbreitung liegt hauptsächlich in dem sehr zweckmäßigen didaktischen Aufbau der Werke. Der Anfang des Briefes, den Carl Christoph Zerrenner, der Herausgeber des Neuen Schulfreunds, am 24. Mai 1803 aus Derenburg schrieb, gibt Aufschluß über die von Heyse in seiner ersten wichtigen Veröffentlichung, dem Hülfsbüchlein für eine gute Aussprache des Deutschen, angewandte Methode. Dieses erste Werk läßt bereits den Praktiker spüren, der die theoretische Darstellung mit ihrer Anwendung auf ein schulisches Publikum zu verbinden weiß: Nicht minder werden Ihnen denn auch alle Schulmanner danken, um die Sie sich durch Ihr Hülfsbüchlein so wie durch die Anleitung zum zweckmäßigen Gebrauch desselben ein wahres Verdienst machen [...]. An Vollständigkeit und guter Auswahl der Beispiele übertrifft das erste gewiß alles, was wir von der Art für den Volksschulunterricht bisher hatten [...]. 91
Der Kritiker bei der Allgemeinen Schul-Zeitung, der Sprachwissenschaftler und Lehrer Philipp Lorberg92 erkennt ebenfalls die Eignung der Heyseschen Grammatik für seine pädagogischen Ziele an. Er schreibt in einem Brief vom 7. April 1823 an Heyse93: Sie haben durch Ihre Deutsche Sprachlehre dem Vaterlande, namentlich allen Freunden eines gründlichen Schulunterrichts, einen so wesentlichen Dienst geleistet, daß es nicht zu entschuldigender Undank seyn würde, dieß zu verkennen.
und weiter: Denn wenn bey irgend einem Werke die vereinten Bemühungen Mehrer zur möglichsten Vollendung desselben beytragen müßten, so ist dieß gewiß bey einer Schrift der Fall, welche zum Unterricht der Jugend bestimmt ist, weil in ihr Alles auf Einfachheit und Bestimmtheit in allen ihren Theilen ankommt.
Wenn man aufgrund des zitierten Briefes des Berliner Ministeriums mit Sicherheit sagen kann, daß die Grammatiken in Preußen auf ministerieller Ebene wegen ihrer Methode eindeutig anerkannt und geschätzt waren und daß ihre Verbreitung gefördert wurde, so geben die positiven Rezensionen in zahlreichen Zeitschriften Aufschluß über den geographischen Einflußbereich der Grammatiken.
90 Unveröffentlichter Brief des Ministeriums an Johann Christian Heyse vom 9. Mai 1825. Berlin, StB zu Berlin; wiedergegeben im Anhang 1, Brieftranskriptionen. 91 Zitiert nach dem Original, unveröffentlichter Brief, Heyse-Familienarchiv StB zu Berlin. 92 Vgl. Anhang 2, Kurzbiographien. 93 Wiedergegeben Anhang 1, Brieftranskriptionen.
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4.2. Rezensionen, Veröffentlichungen, Briefwechsel Das Erscheinen der Grammatiken wurde in zahlreichen Besprechungen und selbständigen Veröffentlichungen begrüßt, die ein reger Briefwechsel mit Heyse begleitete. 4.2.1. Rezensionen Als erstes fällt auf, daß alle Grammatiken Heyses in den literarischen und pädagogischen Zeitschriften Mittel- und Norddeutschlands besprochen wurden, die Ausgabe der TPdG von 1827 sogar in sechs Zeitschriften. Die Rezensionen, bis auf wenige Ausnahmen durchweg positiv, erschienen in den folgenden fünfzehn großen deutschen Zeitschriften (zuerst werden diejenigen angeführt, die sich zum Erscheinen der TPdG äußerten): Der deutsche Schulanzeiger (Magdeburg), die Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung (Jena), die Ergänzungsblätter zur Allgemeinen Literatur-Zeitung (Halle), die Kritische Bibliothek (Leipzig), Stephani's Schulfreund (Bayern, o. O.), die Leipziger Literatur-Zeitung (Leipzig), Der Neueste Deutsche Schulfreund (Berlin und Stettin), die Göttingischen Gelehrten Anzeigen (Göttingen), die Allgemeine Schul-Zeitung (Berlin) und der Hannoveranische Schulfreund, dazu der Allgemeine Anzeiger der Deutschen (Gotha). Durch die Besprechungen der SG und des KLf erweitert sich das Spektrum auf John's Jahrbücher (Leipzig), das Pädagogisch-philologische Literaturblatt zur allgemeinen Schul-Zeitung (Darmstadt), die Rheinisch- Westphälische Monatsschrift (Aachen), Zerrenner's Jahrbuch für die deutschen Volks-Schulen (Magdeburg) und die Heidelberger Jahrbücher (Heidelberg). Diese Rezensionen heben den pädagogischen Nutzen der Grammatik hervor und ihre Stellungnahme zu damaligen aktuellen Fragen, ζ. B. der Orthographie (insbesondere der Gebrauch von "ß" und "y"), der Flexionsendungen (Klassifikation der Deklinationen und Einzelprobleme wie die Deklination von "mehr" oder "mehre/mehrere"), der Verbarten, der Klassifikation der Adjektive, Adverbien, Pronomina und Zahlwörter. Die Allgemeine Schul-Zeitung zeigt, wie ausfuhrlich diese Themen diskutiert wurden, oft in mehreren Teilen über einige Hefte hinweg.94 Einen Überblick über die Grammatiken einschließlich spezifisch syntaktischer Betrachtungen bieten nur wenige Rezensionen: Es sind hauptsächlich die Philipp Lorbergs in der Allgemeinen Schul-Zeitung und deren Supplement, dem Pädagogischen Literaturblatt, sowie die des Sprachwissen-
94 Zu Fragen der Orthographie siehe die Nummern vom Juni 1827 und 1831 und vom September 1832.
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schaftlers Georg Friedrich Grotefend95, Präsident des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache, in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen. Daß eine für den Schulunterricht verfaßte Grammatik nicht einhellig Zustimmung erfährt, ist selbstverständlich, werden doch die wissenschaftlichen und theoretischen Aspekte dem pädagogischen Ziel untergeordnet. Friedrich Schmitthenner, Grammatiker und Lehrer, führte in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung eine regelrechte antiheysesche Verleumdungskampagne. Die Schärfe seiner Äußerungen überrascht, da er wie Heyse Mitglied des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache war, deren Statuten Wohlwollen beim Meinungsaustausch ihrer Mitglieder vorsahen. Schmitthenners Unkorrektheit wurde im übrigen von Briefpartnern Heyses hervorgehoben, so besonders von C. Dilthey, dem Herausgeber der Allgemeinen Schul-Zeitung in einem nicht datierten Brief, der allerdings nach Schmitthenners Ausfälligkeiten und vor der ersten Auflage von Heyses Gesammelten Schriften, also vermutlich im Frühjahr 1825, geschrieben wurde. Darin wird Schmitthenner aufgrund seiner schlechten Geschichte der Deutschen selbst lächerlich gemacht96: So unangenehm es mir auch sein mußte, durch Herrn Schmitthenners Machtspruch Ihre Mißbilligung und Ihren Unwillen zu erregen, so glaube ich doch, mir selbst und der guten Sache wegen des Erfolgs Glück wünschen zu müssen, mir, weil es mir Gelegenheit verschafft in schriftlichem Verkehr Ihnen meine dauernde Hochachtung, Verehrung und meinen Dank zu versichern, der guten Sache, weil es gerade Ihrer Stimme bedurfte, um Hn. Schmitthenners in vielen Zeitschriften jetzt herrschende Dictatur vor der Öffentlichkeit zu würdigen, und Ihres Namens, um der A.S.Z. eine neue Empfehlung zu Theil werden zu lassen. Da nun zu gleicher Zeit H. Schmitthenners Geschichte der Deutschen [...] das Prädicat der Verrilckheit erhalten hat, so wird ohne Zweifel die Belehrung um so nachdrücklicher wirken.
Schmitthenners an Objektivität mangelnder Wutausbruch hatte auch Philipp Lorberg, ebenfalls Mitglied des Frankfurtischen Gelehrtenvereins, gegolten wie aus dessen Brief an Heyse vom 3. März 1825 hervorgeht (vgl. Wiedergabe im Anhang). Lorberg, in seinen Ansichten konservativer als Heyse, war mit seinem Lob zurückhaltend und durchaus kein vorbehaltloser Bewunderer, wie er 1825 in seinem Vorwort der Zusätze zu den Heyseschen Lehrbüchern schreibt97. Eine weitere negative Besprechung veröffentlichte der Grammatiker Reinbeck in der Halle'schen Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1822; ihr mangelte es allerdings an Sachlichkeit, wie Heyse im Vorwort seiner SG von 1822 betont.
4.2.2. Selbständige Veröffentlichungen
95 Vgl. unten, Heyse als Mitglied in den deutschen Sprachgesellschaften, und Anhang 2, Kurzbiographien. 96 Unveröffentlichter Brief, Familienarchiv Heyse in der StB zu Berlin, wiedergegeben im Anhang 1, Brieftranskriptionen. 97 Lorberg (1825: Ulf.).
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Als Reaktion auf Heyses Grammatiken erschienen nicht nur viele Rezensionen, sondern auch einige selbständige Veröffentlichungen. Zu nennen sind hier Lorbergs Ergänzungen, die in zwei Ausgaben 1825 und 1829 in Wiesbaden unter dem Titel Zusätze zu Heyse's Lehrbüchern der deutschen Sprache erschienen. Sie sind, wie aus der Korrespondenz zwischen Lorberg und Heyse zu ersehen ist, nicht in Zusammenarbeit mit Heyse entstanden, verantwortlich zeichnet allein Lorberg. Es handelt sich eher um einen persönlichen Kommentar, im Ton belehrend, in der Ausrichtung selektiv; er bezieht sich hauptsächlich auf Orthographie und Aussprache, auf die Einteilung bestimmter Begriffe, Adverbien, Adjektive und Zahlwörter und stellt eigentlich eine detailliertere Wiederaufnahme seiner Überblicks-Besprechungen aus der Allgemeinen Schul-Zeitung dar. In einem von seinem Bruder Carl Wilhelm 98 ausführlich zitierten Brief bezieht sich der Grammatiker Theodor Heyse kritisch auf Lorbergs Werke. Die meisten Bemerkungen Lorbergs blieben ohne Wirkung. 1819 war ein recht seltsames Werk, dessen Ton eher an die Streitschriften des vorigen Jahrhunderts erinnert, erschienen, nämlich die achtzigseitige freundlich gesinnte Satire in niederdeutschem Dialekt, verfaßt von einem Lehrer
A. Swen: Dar toitsche Sprachgrund oder Vorschläge die Verderbnisse unsers Sprachschatzes snelst und bäst möglich nach den Forderungen von Sprachurtum zu hailen, mit dem Untertitel A in Brifvon L. A. Swen, dam Rector Heyse in Nordhausen sagt der toitsche Jüngling libend haitern Gruß. Diese Kritik zielt vor allem auf die von Heyse empfohlene Orthographie sowie auf lexikalische Überlegungen". Abschließend sei die interessante Arbeit des Lehrers und Grammatikers Boye über Beugungen bei Heyse genannt und ihre vereinfachte Darstellung im Verhältnis zur Deklinationslehre Adelungs, dazu seine ausführliche Korrespondenz über Fragen der Grammatik wie den Gebrauch der Hilfswörter, den Status der Satzteile und die Einteilung der Sätze 100 .
4.2.3. Heyses Briefwechsel Heyses Briefwechsel ist, was das Thema Grammatik betrifft, sehr umfangreich. Zu seinen unterschiedlichsten Kontakten zählen als ständige Briefpartner der Sprachwissenschaftler Simon Heinrich Herling 101 , dessen Veröffentlichungen er genau verfolgte, und vor allem der Rektor Boye, der ihm wohl manche Anregung für seine syntaktischen Überlegungen gab. Er schickte Heyse auch
98 TPdG (1827)- Vorbericht. 99 Sie sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. 100 Vgl. unten, Kap. II. 101 Vgl. Anhang 2, Kurzbiographien.
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eine beeindruckende Menge von handschriftlichen Blättern102. Im Unterschied zu Lorberg hat er diese allerdings nicht als eigenständige Publikation veröffentlicht. Von freundschaftlicher wie fachlicher Art war seine Korrespondenz mit den Herausgebern der oben zitierten Zeitschriften, besonders mit C. Dilthey, Stephani und Zerrenner. Heyse korrespondierte auch mit Reformern seiner Zeit wie Seidenstücker, dem Grammatiker Sanders, sogar mit dem Arzt und Grammatiker Karl Ferdinand Becker103. Sein Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt ist jedoch nur einmal belegt, im Rahmen einer Familienangelegenheit, obwohl Humboldt von Heyse als Grammatiker wußte.104
4.3. Johann Christian Heyses Anerkennung in den intellektuellen Kreisen
Heyses große Leistung brachte ihm die Anerkennung durch die sprachwissenschaftlichen Kreise seiner Zeit. Die Ausgaben seiner Werke waren ja eigentlich nicht bloß Frucht der eigenen Untersuchungen: ihm lag an einer Diskussion über seine Grammatiken, er korrespondierte beständig mit verschiedenen Autoren über allgemein grammatische und syntaktische Fragen und berücksichtigte die Ergebnisse in seinen Neuausgaben. In der Folge wurde ihm die philosophische Doktorwürde der Universität Greifswald verliehen, und er konnte als aktives Mitglied Aufnahme in die beiden Gelehrtenvereine für deutsche Sprache in Berlin und Frankfurt finden.
4.3.1. Verleihung der Doktorwürde Daß Heyse die Doktorwürde verliehen wurde, obwohl er nicht die klassische akademische Laufbahn eingeschlagen hatte, ist ungewöhnlich für diese Zeit. Der Prodekan der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald, Professor Ahlwardt, lud Heyse in einem Brief vom 21. Mai 1824 ein, diesen Ehrentitel anläßlich eines hohen außergewöhnlichen Festes entgegenzunehmen, im 102 103 104
Zum Teil im Heyse-Familienarchiv der StB zu Berlin erhalten. Zitiert bei Haselbach. Vgl. unten, Kap.I. 5.1.1. zur Biographie Carl Wilhelm Heyses. Der große Sprachwissenschaftler und Staatsmann Wilhelm von Humboldt schrieb Johann Christian Heyse am 7. Januar 1815 einen dreiseitigen Brief, um ihm mitzuteilen, daß sein Sohn Carl Wilhelm als Erzieher in Schloß Tegel willkommen sei. In diesem bisher unveröffenlichten Brief macht Humboldt eine Anspielung auf zwei andere Briefe an J.C. Heyse, die aber weder in den verschiedenen von Verf. bearbeiteten Familienarchiven noch im Archiv Schloß Tegel zu finden sind, (siehe Anhang 1)
Johann Christian Heyse und seine Nachfolger
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Rahmen der großen Greifswalder Feier zum 700. Jahrestag der Einführung des Christentums in Pommern: An diesem Feste nimmt auch die hiesige Universität durch öffentliche Reden und Ehrenpromotionen a u s g e z e i c h n e t e r Männer in allen Facultäten theil. Da Sie zu diesen Männern gehören, so habe ich, als Mitglied und Prodecan der philosophischen Facultät, Sie meiner Facultät zur philosophischen Doktorwürde vorgeschlagen und die Facultät hat mit der größten Bereitwilligkeit diesen Vorschlag angenommen. 105
Die beiden Männer waren einander wirklich freundschaftlich verbunden, wie aus ihrem seit 1822 immer persönlicher werdenden Briefwechsel hervorgeht.
4.3.2. Johann Christian Heyse als Mitglied des Frankfurtischen
Gelehrten-
vereins für deutsche Sprache und der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache Das wieder aufkommende allgemeine Interesse für die deutsche Sprache und Literatur wird in den deutschsprachigen Ländern zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der Gründung zahlreicher gelehrter Gesellschaften begleitet, die der wissenschaftlichen Forschung ebenso zur Geltung verhelfen wie der deutschen Sprache und Literatur. Dazu schreibt der Schriftsteller Stoehr 1859 in seinem Buch Das Freie deutsche Hochstift: "Könnte man geistiges Licht den leiblichen Flammen wahrnehmbar machen, ein Heer von Flammen würde auf dem Deutschen Boden erglimmen und dieses ganze geheiligte Land mit hellem Glänze übergießen" 106 . Die neu gegründeten Vereine und Gesellschaften teilen dasselbe Ziel, "als Glieder eines geistig verbundenen Ganzen [zu] erscheinen". Stoehr schreibt zwar zu einem Zeitpunkt, als sich die nationalistische Bewegung nach der Revolution von 1848 festigte; aber der Wille zur Verteidigung der deutschen Sprache, wie ihn die Statuten der beiden Gesellschaften für deutsche Sprache in Berlin und Frankfurt festschreiben, kann nur derselben Überzeugung entspringen, um so mehr als Johann Christian Heyse sich öfter für nationalistische, sich auf die Sprache als Mittel stützende Bestrebungen ausgesprochen hat. Die beiden großen deutschen Gesellschaften für deutsche Sprache, der
Frankfurtische Gelehrtenverein für die deutsche Sprache und die Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache, nahmen Johann Christian Heyse als Mitglied auf, erstere 1818, letztere 1821. Diese Aufnahme könnte zunächst überraschen, da Heyse keine theoretischen oder im eigentlichen Sinne wissenschaftlichen Veröffentlichungen vorzuweisen hatte. Aber seine Werke und Veröffentlichungen waren im Sinne ihrer Bestrebungen, und Herling, Mitbegründer des
105 106
Wiedergabe des Briefes im Anhang 1, Brieftranskriptionen. Im Text hervorgehoben. Die offizielle Urkunde liegt noch vor, ist aber hier nicht abgebildet. Stoehr (1859: 20-22).
Rezeption Johann Christian Heyses
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Frankfurtischen Gelehrtenvereins und selbst Grammatiker, achtete Heyse sehr; er schätzte dessen ständige Auseinandersetzung mit den neuesten Veröffentlichungen und Überlegungen zur deutschen Grammatik, die in seinem Handbuch, der TPdG, ihren Niederschlag fanden. Dies lftßt sich aus Herfiftgs Briefwechsel mit Heyse, dem wir einige unveröffentlichte Briefe efltftehmen und abdrucken107, deutlich herauslesen. Die rege Tätigkeit dieser beiden Gesellschaften scheint noch nicht Gegenstand einer neueren Untersuchung gewesen zu sein. Selbst bei Stoehr, der in seinem allgemeinen Besprechungswerk über die gelehrten Gesellschaften im 19. Jahrhundert ihre Statuten und Publikationslisten zusammenfassen will, ist über die Gesellschaften für deutsche Sprache wenig zu finden: So taucht die Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache nur im zweiten, statistischen Band ohne Angabe ihres Gründungsjahres oder der Mitgliederzahl auf; der Frankfurtische Gelehrtenverein für deutsche Sprache fehlt ganz. Nachforschungen hierzu erwiesen sich als schwierig. In zwei neueren Studien werden Teilaspekte dieser beiden Gesellschaften behandelt: So Hartmut Meyer in Theodor Heinsius, Preußischer Lehrer des Deutschenm und Alan Kirkness (1975), die beide auf die Rolle der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache eingehen. Die Frankfurter Gesellschaft wird nicht erwähnt, sie taucht nur bei Haselbach109 auf, der ihre Bedeutung unterstreicht. Im folgenden soll auf diese Gesellschaften kurz eingegangen werden, und zwar in dem Maße, wie es zur Erhellung von Heyses Arbeit im Laufe der seiner Haupttätigkeit entsprechenden Zeit bis 1830 dient.
4.3.2.1. Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache Die Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache wurde 1815 auf Initiative des Professors Christian Hinrich Wolke, zugleich Kaiserlich-Russischer Hofrat, und des Privatdozenten Karl Krause gegründet, die noch den Grammatiker Theodor Heinsius, Professor am Berlinisch-Cölnischen Gymnasium, den Reformer des Schulsports, 'Turnvater' Friedrich Ludwig Jahn, und August Zeune, Professor für Geographie an der Universität Berlin, für ihre Sache hatten gewinnen können. Ihr ausschließlicher Zweck war die wissenschaftliche Erforschung der deutschen Sprache mit dem Ziel, sie "in ihrem ganzen Umfange und aus ihren eigenen Quellen zu veredeln". Dabei ging es jedoch nicht um eine systematische Reglementierung im Sinne etwa der Acadömie Fran9aise:
107 108 109
Vgl. Anhang 1, Brieftranskriptionen. In: Erlinger, Knobloch, Meyer (Hrsg.): 1989: 115-140. (1966:65f).
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Johann Christian Heyse und seine Nachfolger Daher will die Gesellschaft auch nicht angesehen werden als eine deutsche Academie Frani;aise, deren Absicht es sein könnte, die lebendige, regsame deutsche Sprache in starre unbewegliche Fesseln zu schlagen, eben so wenig als ein Sprachgerichtshof, der sich anmaaßte zu entscheiden, wo die Entscheidung allein dem Volke gebührt, und noch weniger als eine bloße Sprachreinigungsgesellschaft, die nur an der äußern Schaale künstelt und nie bis zu dem Kem der Sprache zu dringen wagt.110
Zwischen 1815 und 1818 wurden die Statuten der Gesellschaft zweimal geändert, um den Mitgliedern mehr Handlungsfreiheit zu geben und die unabhängige Forschung und den Meinungsaustausch zu fördern, ohne Vorschriften zu erteilen. Sie setzte sich drei Ziele, zu deren Erreichen drei Kommissionen gegründet wurden: ein Wörterbuch, eine Grammatik und eine Geschichte der deutschen Sprache. Aufgaben und Ziele der Gesellschaft wurden in den Statuten festgelegt, die nur den Mitgliedern zugänglich waren, also nicht veröffentlicht wurden. Im Familienarchiv von Johann Christian Heyse fand sich die Fassung von 1816, deren Weisungen in der Folge Gültigkeit behielten. Nach Artikel 1 ist ausschließliches Ziel der Gesellschaft die wissenschaftliche Erforschung der deutschen Sprache in ihrer Gesamtheit. Deshalb folgert Artikel 3: "Alle fremde Sprachen kommen nur insofern in Betracht, als sie auf die geschichtliche Kenntniß von der Ausbildung unserer Muttersprache Einfluß haben". Artikel 5 präzisiert, wie bei der beabsichtigten Erforschung der deutschen Sprache vorgegangen werden soll, nämlich deskriptiv, und zwar in Synchronic wie Diachronie. Aufgabe der Mitglieder ist: die Erforschung der deutschen Mundarten in ihrer schriftlichen und gesprochenen Form; eine "Würdigung der heutigen deutschen Sprachen nach ihrem eigenthümlichen Musterbilde"; und "gesellschaftliche Ausmittelung alles dessen, was im Geiste der geschichtlich gegebenen Sprache selbst gethan werden kann, um die heutige Deutsche Sprache weiter auszubilden, und den als zweckmäßig erkannten Sprachverbesserungen bei dem Deutschen Volke Eingang zu verschaffen." Zu ihren bekanntesten und ersten Mitgliedern gehörten noch u.a. der Grammatiker J. O. Schulz; Gustav Samuel Köpke, Direktor des Klostergymnasiums in Berlin und Spezialist des griechischen Altertums; der Philologe Johann K. Ribbeck; Benjamin Adolf Giesebrecht, Provinzialschulrat und Spezialist der römischen Geschichte. Nachdem ein allgemeiner Konsens hergestellt worden war, gab die Gesellschaft in Form von Abhandlungen Überlegungen zu Themen der Grammatik heraus. Sie setzte ihre Veröffentlichungen nach einer längeren Unterbrechung 1830 fort, widmete sich aber zunehmend Themen der historischen Sprachwissenschaft und der alt- und mittelhochdeutschen Literatur.
4.3.2.2. Frankfurtischer Gelehrtenverein für deutsche Sprache
110
In: Jahrbuch der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache, Bd. 1, 1820: VII.
Rezeption Johann Christian Heyses
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Die Frankfurter Gesellschaft, zu deren aktiven Mitgliedern so berühmte Männer wie die Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm zählten, weist einen ganz anderen Charakter auf; ihr lag eher an der Schaffung von Normen als an einer deskriptiven Erforschung der deutschen Sprache. Die Initiative zu ihrer Gründung gab der Sprachwissenschaftler und Gelehrte G. F. Grotefend, der dadurch nach dreihundert Jahren das Andenken des "großen Kirchenverbesserers" ehren wollte, "des großen Mannes, welchem die hochdeutsche Schriftsprache, wo nicht ihr erstes Entstehen, doch ihr erstes Aufblühen zu verdanken hat" Grotefends Idee, Luther auf diese Weise zu würdigen, wurde von den zukünftigen Gründungsmitgliedern, mit denen er Verbindung aufgenommen hatte, begeistert aufgenommen: Engelmann, Göntgen, den damals einflußreichen Professoren S.H. Herling und J.G. Radlof, Klaß, Minner, Seel; dazu den auswärtigen Mitgliedern Rat Schödde, Schulrat Ruth, Oberkonsistorialrat Breidenstein, den Lehrern Zipf und Eichhof. Die normative Aufgabe des Vereins wurde von ihrem Präsidenten Grotefend, der sich wie gesagt unter die Ägide Martin Luthers stellte, deutlich hervorgehoben: [...] ich fllhle mich ihm [Luther] als Sprachforscher durch Stiftung dieses Vereines um so mehr zum Danke verpflichtet, je lebhafter bei allen Deutschen das Gefühl des Werthes unserer Muttersprache wieder erwacht ist, um welche Luther anerkannt große Verdienste hat. Der beßte Dank, den wir ihm in sprachlicher Hinsicht darbringen können, scheint mir der, fortzufahren in der Laufbahn, zu welcher er einst die Schrankken geöffnet hat, und, so viel wie Möglich, das Schwankende der Regeln zu tilgen, welchem noch immer [...] die deutsche Schriftsprache unterliegt."2
Viele der Mitglieder des Frankfurtischen Gelehrtenvereins waren Professoren, Schulräte oder Grammatiker und Pädagogen, die zahlreiche Veröffentlichungen für die Schule vorzuweisen hatten. Der Kreis der Mitglieder dehnte sich bald bis nach Dänemark und Island aus. Es waren: die Professoren Scheving (Island) und Magnussen (Kopenhagen), der Justitiar und Magistrat Stephensen (Island); der Arzt und Grammatiker K. F. Becker (Offenbach); der Bibliothekar Th. Bernd (Bonn); J. C. Müller, Lehrer für Deutsche Sprache und Mathematik in Frankfurt; der Grammatiker F. J. Schmitthenner; die Grammatiker und Professoren J. Eiselein, G. Reinbeck, Th. Heinsius; der spätere Lexikograph J. A. Schmeller; der Schriftsteller Amberg; der Philologe Karl W. Krüger; der Professor und Oberbibliothekar F. A. Ukert; der Indologe Rask; der Grammatiker und Philosoph August F. Bernhardi. Ehrenmitglieder waren der Schriftsteller Johann Heinrich Voß, Professor G. F. Benecke, der Schriftsteller und Pädagoge Friedrich L. Zahn, Minister Wangenheim. Das Ziel des Gelehrtenvereins ist in Artikel 2 der Statuten festgehalten:
111
In: Abhandlungen des Frankfurtischen Gelehrtenvereins,
112
(Op. cit.: 8).
1816: 7.
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Sein Zweck ist: beizutragen zur Fortbildung der Muttersprache in Bezug auf Reinheit und Reichthum, Richtigkeit und Bestimmtheit, Schönheit und Würde derselben; besonders wird er sich bestreben, durch vielseitige Erwägung dessen, was noch streitig ist, zu einer entschiedenen Gewißheit zu gelangen.
Seine Hauptaufgabe sieht er also in der Pflege der Reinheit und Richtigkeit der Sprache sowie in der Ausarbeitung der dafür nötigen Regeln. Dabei wird auf die Grammatik des ehemaligen Frankfurter Bürgers Adelung in ihrer Überarbeitung durch Professor Roth Bezug genommen. Innerhalb des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für die deutsche Sprache pflegte Heyse einen regelmäßigen Briefwechsel mit dem berühmten Grammatiker Herling, der ihn, wie aus dessen an ihn gerichteten Briefen hervorgeht, sehr schätzte. Als aufmerksamer Leser der Heyseschen Grammatiken zeigte er die Übereinstimmung der von Heyse vorgenommenen Korrekturen und Änderungen mit den Veröffentlichungen des Frankfurter Vereins auf. Bereits 1825 hatte Heyse sein Syntax-Kapitel geändert, indem er Herlings Untersuchungen über die Klassifizierung von Sätzen und Konjunktionen berücksichtigte, wie dieser sie unter dem Titel Über die Topik der deutschen Sprache in den Abhandlungen des Vereins 1821 veröffentlicht hatte. Gleiches gilt für seine Untersuchung Über den Gebrauch des deutschen Conjunctivs und seiner Zeitformen, die in demselben Band" 3 veröffentlicht wurde. Herling wußte sehr wohl, daß die Aufnahme seiner Überlegungen in ein so verbreitetes Schulbuch einer Werbung gleichkomme: "Es [die 2. Aufl. meines Werkchens] verdankt Ihnen gewiß sehr viel von seiner aufmunternden Aufnahme [...]", schreibt er im Oktober 1826 an Heyse. Aber seine Anerkennung ging noch weiter. Er regte einen regelmäßigen Briefwechsel zwischen Heyse und Becker an und fuhr fort: "Ich sehe ihr Werk als das Organ an, die sichern Resultate aller sprachlichen Forschungen zum Gemeingute deutscher Nation zu machen [...]" " 4 . Grotefend, der Präsident des Vereins, folgte Herling in seinem Urteil über Heyses Grammatiken. In seiner Rezension in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen von 1827 schrieb er über die TPdG von 1827, die SG und den AX/von 1826: Mit Recht betrachtet sie Herling als die Organe, die sichern Resultate aller grammatischen Forschungen zum Gemeingute deutscher Nation zu machen, und man muß dabey die Umsicht des Verfassers rühmen, mit welcher er die neuesten gediegenen und gründlichen Forschungen allgemein verehrter und still wirkender Sprachforscher benutzt, unhaltbare und zwecklose Wortgrübeleyen und Schwindeleyen dagegen, mit welchen gelehrtthuende Machtsprecher den Sprachunterricht mehr verwirren und erschweren, als wahrhaft fördern, sorgfältig vermeidet." 5
113 114
115
Ein 1824 erschienener Band der Abhandlungen war ausschließlich der Deutschen Wortbildung von Karl Ferdinand Becker gewidmet. Herling, darauf bedacht, zur Verbesserung von Heyses Grammatik beizutragen, empfiehlt dann in seinem Brief die neueste Veröffentlichung seines Freundes und Kollegen Karl Ferdinand Becker: Organism der Sprache. Heyse geht kaum darauf ein. Vgl. den im Anhang 1 wiedergegebenen Brief. Vgl. Nr. 74/75. 1827: 730.
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4.3.2.3. Sechs Werte der deutschen Sprache, die es nach Grotefend zu verteidigen gilt Im Anhang zu den fünfundzwanzig Artikeln der Statuten nennt Grotefend sechs allgemeine Grundsätze, die es zu respektieren gilt: den Erhalt der "Reinheit" der deutschen Sprache, ihres "Reichthums", ihrer "Richtigkeit" und "Bestimmtheit", "Schönheit" und "Würde". Bereits aus Heyses ersten bedeutenden Veröffentlichungen, der lexikalischen von 1803 und der grammatischen von 1814, ist zu ersehen, wie konstant er in diesem Sinne gewirkt hat: Seinen Untersuchungen ist ein Vorwort oder eine Einleitung beigegeben, die auf diese Themen eingehen. In seinen Begriffsbestimmungen dieser zu befolgenden Grundsätze schlägt Grotefend zunächst eine allgemeine Definition vor, die er dann durch konkrete Beispiele erläutert: Die "Reinheit" der Sprache soll der Grammatiker dadurch fördern, daß er alles ausschließt, was dem Geist der deutschen Sprache widerspricht. Gegenüber äußeren Einflüssen gilt keine systematische Ablehnung, sondern eine überlegte Überprüfung der Ausdrücke, die bereits einen gewährten Eingang in die Sprache gefunden haben: Er [der Verein] wird sich nicht nur hüten, Etwas für fremd zu halten, was fremd nur scheint; sondern auch Anerkanntfremdes in Ausdruck und Form beibehalten, wenn es einmahl ein deutsches Gewand angenommen, oder sich so tief in unsere Sprache eingewurzelt hat, daß es Sprossen nach deutschem Geiste getrieben [...].116
Jeglicher Mißbrauch ist zu vermeiden ("Nur des Überflusses aus fremden Sprachen sollte sich jeder Deutsche schämen"), was auch für die grammatische und, mit gewissen Abstrichen, wissenschaftliche Terminologie gilt. Allerdings wird vor einer "unbesonnenen Verdeutschungssucht" gewarnt: Ein deutsches Wort soll ein fremdes möglichst erst dann ersetzen, wenn es treffender als das fremde ist und es keine Verwirrung verursacht. An zweiter Stelle soll der "Reichthum" der deutschen Sprache bewahrt werden. Dieser ist weniger im Wortschatz und in der Wortbildung als in den Wurzeln der Wörter und in den Ableitungsverfahren begründet: Anstatt die Sprache durch bloßes Wörterzusammenschweißen bereichern zu wollen, soll man den wahren Gebrauch der mancherlei Wortbiegungen, Vorlaute und Nachlaute genauer erforschen, um durch deren zweckmäßige Anwendung in reinen Wurzelwörtem den innern Reichthum der Sprache auf eine wahrhaft empfehlungswürdige Weise zu vermehren." 7
Der sofortige Ausschluß fremder Wurzeln würde allerdings die "Gefahr einer zu großen Verarmung an Begriffen" mit sich bringen. Entlehnungen sollten jedoch "durch deutsche Umformung" zu eigen gemacht werden.
116 117
Abhandlungen (1816: 15f ). (Op. cit.: 17f.).
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Die dritte Bestimmung, die "Richtigkeit", hängt unmittelbar von der Einhaltung der Sprachgesetze ab: Zur Richtigkeit der Sprache gehört die Entfernung alles dessen, was den deutschen Sprachgesetzen widerstreitet. Diese Sprachgesetze beruhen theils auf Foderungen der reinen Vernunft, theils auf dem heimischen Sprachgebrauche." 8
Grotefend gründet also die Sprachgesetze sowohl auf die Gesetze der Vernunft - und bezieht sich damit implizit auf die allgemeine Grammatik - als auch auf den Sprachgebrauch. Seine differenzierten Beobachtungen führen ihn so weit, vor willkürlichen Gesetzen der Sprachwissenschaftler und Grammatiker zu warnen; deren Aufgabe ist vielmehr, "immer das Bestrittene mit dem Unbestrittenen in Einklang [zu] bringen." Unter Sprachgebrauch versteht Grotefend weder den tradierten Sprachgebrauch noch den einer Mehrheit, sondern den der "anerkannt guten Schriftsteller". Das Prinzip der Richtigkeit findet seine Anwendung in den Grammatiken und der Orthographie, wo eine zu große Willkür herrscht. Die "Bestimmtheit" als viertes Prinzip gilt hauptsächlich in der Abgrenzung des Wortschatzes: Die Bestimmtheit der Sprache besteht darin, daß ein jedes Wort seine eigenthümliche Bedeutung erhalte, und durch genaue Festsetzung der Granzen seines Umfanges alles Schwankende im Gebrauche desselben getilgt werde." 9
Die Formenlehre muß sich auf die Ableitung konzentrieren, immer wieder Synonyme und Antonyme vergleichen und vor allem die Wortstellung in größeren Einheiten wie Zusammensetzungen und wortübergreifenden Sequenzen untersuchen. So erst kann die eigentliche und die übertragene Bedeutung eines Wortes ermittelt werden. Waren die bisherigen Grundsätze eher technischer Art, so hängen die beiden letzten von äußeren Faktoren, Ethik und Stil, ab; ihren Sinn erhalten sie aber nur im Zusammenhang mit den vier bereits genannten. Der Grundsatz der "Schönheit" der Sprache wird wie folgt definiert: Zur Schönheit der Sprache zählen wir Entfernung alles Uebellautes, sofern darunter nicht der Wohlklang leidet, welchen die Uebereinstimmung des Lautes mit dem Begriffe bedingt.120
Dabei sind die prosodischen Gesetze des Wechsels von Hebung und Senkung zu beachten. Diese Schönheit der Sprache verlangt auch die Ablehnung aller Begriffe, die den Grundsätzen der Reinheit und des Reichtums der Sprache widersprechen: Am allerwenigsten darf der Verein den Wortgebilden aus einer verschweißungsgelehrsamkeitlichen Schmiede" Eingang gestatten [...].121
118 119 120 121
(Ibid.: 18). (Ibid.: 20). Abhandlungen (1816:21). (Ibid.: 22).
"Wörterzusammen-
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Der letzte Grundsatz, die "Würde", ist ethischer Art. Sie gebietet es, "Pöbelhaftigkeit und Gemeinheit im Ausdrucke" zu vermeiden, Umgangssprache nicht mit dem zu verwechseln, "was unsittliche Vorstellungen erweckt". Die Sprecher werden jedoch angehalten, verschiedene Sprachebenen ganz bewußt einzusetzen. In diesem allgemeinen Klima gegenseitiger Anregung verfaßte Johann Christian Heyse seine Grammatiken. Wesentlichen Einfluß hatte dabei ganz offensichtlich der Frankfurtische Gelehrtenverein für deutsche Sprache, zu dessen Mitgliedern Jacob Grimm und Herling zählten. Wie aus einem Brief Herlings hervorgeht, wurde auch Carl Wilhelm Heyse in diesen Kreis eingeführt und aufgenommen122; so erklärt sich wohl dessen vollständige Kenntnis der Arbeiten Jacob Grimms. Die ständigen Besprechungen und Veröffentlichungen, als Reaktion auf die weite Verbreitung der Grammatiken sowie Heyses umfangreiche Korrespondenz sind Beweis für seine Anerkennung in den intellektuellen Kreisen seiner Zeit. Mit seinem Sohn Carl Wilhelm, dessen starke Neigung zur Philologie offensichtlich war, und mit Herling insbesondere, konnte Johann Christian Heyse auf eine dauerhafte Fortsetzung seiner Arbeit hoffen.
122
Transkription des Briefes von S. H. Herling an Johann Christian Heyse vom 11. Mai 1827 im Anhang 1.
5. Die späteren Bearbeiter der Heyseschen Grammatik Fortgesetzt wurde das heysesche Werk im engen Familienkreis durch die drei Söhne Johann Christian Heyses, Carl Wilhelm, Gustav und Theodor, und erst nach deren Tod von einem "Außenseiter", Otto Lyon. Den Hauptteil der Neuausgaben übernahmen Theodor und vor allem Carl Wilhelm Heyse, der Denker und Philologe, später der Lehrer und Dresdner Stadtschulrat Otto Lyon. Nach Carl Wilhelm Heyses Tod sicherte Gustav zusammen mit seinem Bruder über fünfundzwanzig Jahre, von 1855 bis 1880 das Fortbestehen. Der Geist der Neuausgaben unter Carl Wilhelm ändert sich, wird intellektuellerer, denn der Sohn hat nicht die pädagogische Berufung des Vaters. Mit Otto Lyon zeichnet sich 1886 ein pädagogisches Projekt von weit größerem Umfang ab, das Fremdsprachen und den Unterricht in der Muttersprache einschließt.
5.1. Carl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855) Hinweise zur Biographie Carl Wilhelm Heyses gibt der Familienstammbaum, den Gustav Heyse 1888 erstellte, während Petzet (1913) eine ausführliche Darstellung seines Lebens, in der viele unveröffentlichte Briefe zitiert werden, verfaßt. In den Jugenderinnerungen, einer biographischen Erzählung seines Sohnes Paul Heyse, finden sich zahlreiche anschauliche Bemerkungen zur Persönlichkeit und Weltanschauung Carl Wilhelm Heyses, während Max Lenz (1910) und Rudolf von Raumer (1870) eher auf den Grammatiker eingehen. Im Unterschied zum Vater, der seine Berufung zum Lehrer und Grammatiker hatte verwirklichen können, mußte Carl Wilhelm Heyse auf seine eigenen intellektuellen Neigungen verzichten und der testamentarischen Verpflichtung zur Fortfuhrung des Werkes seines Vaters nachkommen. Die materiellen Verhältnisse und sein ausgeprägtes Pflichtgefühl lähmten immer wieder sein Bemühen und seine Entscheidungskraft; sein schweres Schicksal hinderte ihn zu tun, wozu er sich berufen fühlte. Sein Sohn Paul und sein späterer Biograph Petzet haben beide von einem "Verhängnis" gesprochen, "das ihn sein Leben lang verfolgt hat" 123. Trotz der inneren Unzufriedenheit, die in den Briefen an seinen Sohn oft zum Ausdruck kommt und über die dieser in seinen 123
Petzet (1913: 20f. und 26).
Spätere Bearbeiter der Heyseschen Grammatik
57
Jugenderinnerungen124 berichtet, hat sich Carl Wilhelm Heyse einen Namen gemacht. Sein Leben steht unter dem Zeichen der Ambivalenz, die seine Ausbildung, seine berufliche Tätigkeit und sein Werk prägt.
5.1.1. Die prägenden Jahre (1797-1827) Carl Wilhelm Heyse kam als zweites Kind und ältester Sohn Johann Christian Heyses am 15. Oktober 1797 in Oldenburg zur Welt, wo sein Vater am Gymnasium als Lehrer tätig war. Mit fünfzehn Jahren bereits bestand 1812 der begabte, aufgeweckte Junge, dessen Gesundheit allerdings labil war, glänzend das Abitur am Gymnasium in Nordhausen, wo sein Vater seit 1808 nun als "dritter Lehrer" unterrichtete. Unmittelbar nach diesem Erfolg verhinderte die mißliche finanzielle Lage der Familie ein Universitätsstudium: Er war das älteste von acht Kindern, und sein Vater hatte eben nach seinem Austritt aus dem Oldenburger Gymnasium zwei harte Jahre hinter sich gebracht. Carl Wilhelm Heyse sah sich gezwungen, so schnell wie möglich finanziell selbständig zu werden, wie sein Sohn Paul und der Biograph Petzet bezeugen. Vom August 1815 an unterrichtete er im schweizerischen Vevey an der Erziehungsanstalt des Pädagogen Carl Christian Wilhelm von Türk125, einem Freund seines Vaters. Auf dessen Empfehlung wurde er dann für drei Jahre Hauslehrer des jüngsten Sohnes des Staatsministers Wilhelm von Humboldt in Berlin. Während dieser Zeit schrieb sich Carl Wilhelm an der Universität Berlin ein, konnte die Vorlesungen in Philosophie und Philologie jedoch nur sporadisch besuchen, da seine Anstellung ihn zu sehr in Anspruch nahm; seine weitere Bildung war im wesentlichen autodidaktisch. Petzet schließt aus dem genauen Studium von Leben und Briefwechsel Carl Wilhelm Heyses, daß ein direkter Einfluß Humboldts auf ihn unwahrscheinlich ist126. Die Eventualität einer Begegnung mit Wilhelm von Humboldt, dem berühmten Philosophen und Sprachwissenschaftler, soll sehr begrenzt gewesen sein: Allein so wohltuend und reich an starken Eindrücken die Berührung Heyses mit der edlen Persönlichkeit Caroline von Humboldts gewesen sein muß, so fehlte doch fast jede Möglichkeit, von Wilhelm von Humboldt selbst irgend welche unmittelbare Anregungen zu empfangen, ja es erscheint nahezu ausgeschlossen, daß Heyse je mehr als ganz flüchtig mit ihm zusammengetroffen ist. [...] Wissenschaftliche Anregungen hat er also durch seine Stellung im Humboldtschen Hause kaum erfahren und ebensowenig eine Förderung in seinem äußeren Fortkommen, wie sie etwa Franz Bopp einige Jahre später von dieser Stelle zuteil wurde. 127
124 125 126 127
(1912, Bd. 1, Aus dem Leben: 1-53). Kap. 1, Mein Elternhaus. Siehe Anhang 2, Kurzbiographien, (von Türk) Eigene Nachforschungen im Heyseschen Familienarchiv in Berlin sowie an der Bayerischen Staatsbibliothek in München lieferten keine Hinweise auf ein tatsächliches Treffen. Petzet (1913: 6).
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Johann Christian Heyse und seine Nachfolger
Diese Erörterung Petzets kann überraschen, denn die Bedingungen für ein Zusammentreffen der beiden Männer schienen vorerst günstig zu verlaufen. Doch der vorhandene Briefwechsel und die politischen Ereignisse führen zum selben Schluß. In einem noch unveröffentlichten Brief128 aus Wien an Johann Christian Heyse vom 7. Januar 1815 bittet Wilhelm von Humboldt, Carl Wilhelm Heyse möge als Erzieher seines jüngsten Sohnes Hermann nach Tegel kommen. Dem jungen Mann, der von Carl von Türk, einem guten Freund Humboldts und der Familie Heyse, wärmstens empfohlen worden war, sollte die Möglichkeit eröffnet werden, seinen künftigen Schützling und dessen Mutter, Caroline geb. von Dacheröden, auf einer langen Reise nach Paris zu begleiten. Wilhelm von Humboldt verspricht ihm Sicherheit und stellt in Aussicht, daß er bestehende Verbindungen nützen könne. Fehlende Hinweise auf ein Treffen und erhebliche Unterschiede im Denken, trotz einiger Ähnlichkeiten, lassen auf folgendes schließen129: Carl Wilhelm Heyse war leider ein Opfer der politischen Verhältnisse geworden. Dem Brief Humboldts folgten die Hundert Tage, wodurch der Staatsmann offensichtlich auf den ursprünglichen Plan verzichtete, seine Familie zu sich nach Paris kommen zu lassen. Im Juli 1815 weilte Humboldt in dieser Stadt, um - wie bekannt an der Pariser Konferenz teilzunehmen, während Carl Wilhelm Heyse Ende desselben Monats seine Tätigkeit in Tegel begann. Humboldt kehrte nicht nach Berlin zurück, sondern setzte bis 1817 seine diplomatische Arbeit in Frankfurt am Main fort. Als er im April desselben Jahres besuchsweise nach Tegel kam, befand sich Carl Wilhelm in Begleitung seines Schülers im Hause seines Wohltäters von Türk in Frankfurt an der Oder. Als dieser Ostem 1817 nach Potsdam zog, um die Erziehung des jungen Hermann zu übernehmen, gab Carl Wilhelm seine Tätigkeit auf: Jetzt wollte er endlich sein Universitätsstudium in Berlin nachholen. Es wäre daher gewagt, einen direkten und persönlichen Einfluß Wilhelm von Humboldts auf das Denken Carl Wilhelm Heyses anzunehmen, was ganz im Gegensatz zu den sehr fruchtbaren Kontakten steht, die der spätere Philosoph mit Persönlichkeiten wie Karl Ferdinand Becker oder Franz Bopp pflegen sollte. Die letzten Bildungsjahre führten Carl Wilhelm Heyse von Oktober 1819 bis Ostern 1827 in das Haus des Bankiers A. Mendelssohn-Bartholdy, wo er als Erzieher dessen Sohn Felix, den späteren großen Komponisten, auf das Universitätsstudium vorbereitete. Petzet ist der Meinung, daß die in seinem Werk spürbare klassische Bildung auf Carl Wilhelm Heyse zurückgehe. Auf einer Reise der Familie Mendelssohn-Bartholdy in die Schweiz lernte Carl Wilhelm Heyse seine zukünftige Frau kennen, die brillante und schöne 128 129
Deutsches Literaturarchiv Marbach. Wiedergegeben mit dessen Transkription im Anhang 1. Vgl. dazu Anmerk. 104. Vgl. zum Denken Carl W. Heyses, Kap. II. Die Analyse der Dokumente läßt nur diese Möglichkeit offen.
Spätere Bearbeiter der Heyseschen Grammatik
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Caroline Julie Saaling, eine Cousine der Mutter des jungen Felix. Sie war die jüngste Tochter des Königlich Preußischen Hofjuweliers Salomon Jacob Salomon - einer sehr angesehenen jüdischen Familie -, dessen sechs Kinder zum Christentum übergetreten waren und den Namen Saaling angenommen hatten. Karl heiratete im Juli 1827 nach Abschluß seiner Promotion. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, Ernst Hermann, geboren 1828, und Paul, geboren 1830, der spätere Nobel-Preisträger für Literatur. Die Erziehung des älteren Sohnes wurde erschwert durch eine geistige Behinderung, die sich in der Pubertät verschlimmerte, so daß die Eltern gezwungen waren, ihn zur Pflege in die Familie seiner Tante Bertha, der Schwester Carl Wilhelm Heyses, zu geben. Zur materiellen Unterstützung dieses Kindes, das 1866 starb, überwies Carl Wilhelm Heyse seiner Schwester die Hälfte der Einkünfte aus seinen Veröffentlichungen. Durch das Testament Johann Christian Heyses stand ihr bereits die Hälfte der Honorare für die Neubearbeitung der Grammatiken und Lexika zu. 130 Dieser doppelten Belastung konnte er nur sehr schwer standhalten. Welches Leid dieser Kummer seinen Familienangehörigen brachte, schildert Paul Heyse im ersten Kapitel seiner Jugenderinnerungen.
5.1.2. Laufbahn (1828-1855) Carl Wilhelm Heyses Laufbahn und sein geistiges Wirken müssen vor dem Hintergrund dieser quälenden familiären Verhältnisse gesehen werden, die es ihm nicht erlaubten, die gebotenen Anregungen seines längeren Aufenthaltes in Tegel zu nutzen. Auch dort wurden seine Pläne durchkreuzt. Die Professoren der Universität Berlin, die einen bleibenden Einfluß auf ihn ausübten, waren der Philologe Ferdinand August Wolf sowie die Historiker August Böckh und Karl Philipp Buttmann.131 Petzet zufolge, habe Heyse nach 1821 auch Vorlesungen bei Franz Bopp gehört. Außerdem waren zwei Philosophen für ihn prägend, nämlich Solger, dessen Ästhetik er 1829 herausgab, und Hegel; mit den Historikern und Philosophen Heinrich Hotho, Karl Werder, Karl L. Michelet, Eduard Gans und Erasmus Helwing, alle Hegelianer, verknüpften ihn weitere geistige Bande. Sein starkes Interesse an Hegel sollte die Chancen auf eine Karriere an der Universität Berlin zerstören, wie es Paul Heyse in seinen Jugenderinnerungen betont. Die Meinungen über den Einfluß des Hegeischen Denkens auf das philosophische und grammatische Werk Carl Wilhelm Heyses sind geteilt. Heyse selbst hat sich stets gegen diese geistige Abhängigkeit gewehrt, wohingegen seine Verleumder mit diesem Argument sein berufliches Fortkommen verhinderten. Als er 1848 einen Brief seines Schülers Hermann Steinthal erhielt, der ihm eine Arbeit über die Klassifizierung der Sprachen vorlegte, 130 131
Jugenderinnerungen (1912:14f.). Vgl. Anhang 2, Kurzbiographien.
Johann Christian Heyse und seine Nachfolger
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bestritt Carl Wilhelm Heyse den in der Einleitung postulierten Einfluß Hegels auf seine sprachwissenschaftliche Arbeit; in einem Brief an seinen Sohn Paul schrieb er am 8. Mai 1849: Ich verdanke allerdings meine philosophische Bildung größtenteils Hegel, aber ich habe meine sprachwissenschaftlichen Ideen ganz und rein aus mir hervorgearbeitet, ohne Rücksicht auf das Hegeische System, das ich als solches nie vollständig meinem Gedächtnis angeeignet habe.132
Am 16. Dezember 1826 wurde Carl Wilhelm Heyse mit seiner Dissertation De Herodoti vita et itineribus zum Doktor der Philosophie promoviert; Böckh lobte das kritisch-historische Vorgehen dieser Arbeit über Leben und Reisen Herodots. Gleich darauf im Januar 1827 stellte Heyse einen Antrag auf eine Privatdozentur an der Universität Berlin; er erklärte seine Absicht, sich ganz der "philosophischen Grammatik" widmen zu wollen: "non tantum litteras Graecas et latinas, sed maxime philosophicam grammaticam in posterum docere."133 Auf Antrag J. Bekkers und Böckhs wurde Heyse nicht zur Habilitation verpflichtet. Erst zwei Jahre später, im November 1829, wurde er zum außerordentlichen Professor an der Universität Berlin ernannt. Das ihm erteilte Gehalt betrug bis zum Ende seiner Tätigkeit trotz seiner zahlreichen Anträge auf Erhöhung nie mehr als zweihundert Reichstaler. Selbst Alexander von Humboldt setzte sich für ihn ein und nannte den Namen Carl Wilhelm Heyses wiederholt in seinen Beförderungsempfehlungen an das Ministerium,134 allerdings ohne Erfolg. Auch Heyses Bemühungen um die Ernennung zum ordentlichen Professor scheiterten. Sein Sohn Paul geht auf die Gründe dieser als bitter empfundenen Ablehnung ein: Entscheidend war wohl seine Bewunderung Hegels, dessen Zeit abgelaufen war, so daß seine Anhänger von Aufstiegsmöglichkeiten ausgeschlossen blieben. Die ausbleibende Beförderung der Karriere seines Vaters führt Paul Heyse auf die Anhänger der historischen Bewegung zurück, in der sich Persönlichkeiten wie Trendelenburg, ein ehemaliger Freund der Familie135, befanden, die als Philosophen eine andere Richtung als die der philosophischen Grammatik Heyses vertraten. Trendelenburg, der Schwiegersohn Karl Ferdinand Bekkers, war Aristoteliker, und damit zugleich glühender Verfechter von Beckers grammatischem System und Heyses Konkurrent. Carl Wilhelm Heyse soll darüber hinaus sehr liberal gesinnt gewesen sein, was nicht gerade zum Abbau des Widerstandes gegen ihn beitrug - so sein Biograph Petzet. Als Carl Wilhelm Heyse im Oktober 1853 der Rote Adlerorden verliehen wurde, einer der großen
132 133 134 135
Zitiert nach Petzet (1913: 41). Passus nach dem Original im Heyse-Familienarchiv (StB zu Berlin) zitert; auch von Petzet erwähnt. Heyse-Archiv in München; auch Petzet verweist darauf. Paul Heyse geht in seinen Jugenderinnerungen (1912: 40) auf diese Freundschaft von Carl Wilhelm Heyse und Trendelenburg ein und schildert die Überraschung der Eltern, als sie infolge der Angriffe gegen den Vater zerbrach. War vielleicht Becker selbst an diesen Vorgängen beteiligt?
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preußischen Orden, die im Anschluß an den Schwarzen Adlerorden geschaffen worden war, sah er darin eine magere Entschädigung für die versagte Beförderung, zumal ihm nur die vierte Klasse des Ordens (des Ritters) zugesprochen wurde. Paul Heyse erzählt, wie sie beide bei der Nachricht der Auszeichnung in ein helles Lachen ausbrachen. Man muß wohl nicht erwähnen, daß Carl Wilhelm Heyse diesen Orden nie getragen hat.
5.1.3. Carl Wilhelm Heyses Arbeitsgebiete Trotz der großen inneren Unzufriedenheit aufgrund der persönlichen Lage und der versagten Karriere widmete sich Carl Wilhelm Heyse ganz der Lehre und seinen Veröffentlichungen. Dabei lassen sich jeweils zwei Schwerpunkte ausmachen: bei seiner Lehrtätigkeit, die klassischen Sprachen und Literatur, sowie Grammatik und Philosophie; bei seinen Veröffentlichungen, seine Arbeit an den Wörterbüchern und das Interesse für Morphologie, und seine Bearbeitung der Schulgrammatiken.
5.1.3.1. Lehrtätigkeit Carl Wilhelm Heyse verstand es, eine breite Zuhörerschaft zu gewinnen, die größer war als die seiner Kollegen. In klassischer Literatur und Philosophie las er über Sophokles (Philoktet), drei Semester über die griechische Tragödie, acht Semester über Piatons Kratylos, gab in diesem Zeitraum eine Einführung in die philosophische Grammatik der Antike und las auch über Herodot und die griechischen Historiker. Neben einem Seminar zu Catull hielt er wiederholt eine Reihe von Vorträgen über klassische römische Dichtung, wandte sich Terenz, der römischen Komödie, Juvenal und der Satire zu, aber auch der Poetik Horaz'. Leider gibt es außer der Dissertation kein schriftliches Zeugnis von Heyses reger Forschungstätigkeit im Bereich der klassischen Philologie. Den anderen Schwerpunkt seiner Lehre legte er auf die "philosophische Sprachwissenschaft" - so der Titel einer Vorlesung -, obwohl ihm ein Lehrstuhl versagt worden war. Selbst der Plan, philosophische Grammatik als selbständiges Fach unter Berücksichtigung der Ergebnisse der historischen Grammatik einzuführen, wurde abgelehnt: In einem Brief vom 4. Juni 1835 hatte er dem zuständigen Ministerium diesen Vorschlag unterbreitet. Im Sommer 1829 sowie im Winter 1834/35 und 1835/36 hielt Heyse zwei Stunden in der Woche Vorlesungen über Geschichte, Ziele und Methode der philosophischen Grammatik. Während der Wintersemester 1836 bis 1842 nahm er diese Vorlesungen wieder auf, dehnte sie zunächst auf vier, dann, 1843 bis 1846, auf fünf Wochenstunden aus. 1847 bis 1854 schließlich hielt er zwei vierstündige Parallelvorlesungen, eine über
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allgemeine, die andere über spezielle Fragen der von ihm vertretenen philosophischen Grammatik.136 Heyses Kränklichkeit, die ihn wiederholt zur Unterbrechung der Lehre zwang, so 1832 bis 1833 ein Jahr lang, im Sommer 1838 und 1842, im Winter 1844/45 und 1849/50, erklärt zum Teil, weshalb ihm die beabsichtigte Synthese seiner Arbeiten nicht gelang. In einem Brief an seinen Sohn vom 7. Juli 1849137 drückte er sein Bedauern darüber aus: Ich zweifle, daß ich noch damit zu Stande kommen werde, meine Sprachwissenschaft in allen Teilen so vollständig und gleichmäßig durchzuführen und zu einem vollkommenen Ganzen zu gestalten, daß ich mich entschließen könnte, sie als Buch zu veröffentlichen, so sehr ich auch von vielen Seiten dazu aufgefordert bin.
Er beauftragte dann Paul mit der Veröffentlichung seines Lebenswerkes; von seinen Aufzeichnungen ausgehend sollte es unter Mitarbeit von H. Steinthal als Vorlesungen über Sprachwissenschaft erscheinen. Die endgültige Publikation im Jahre 1856 durch Steinthal unter dem Titel System der Sprachwissenschaft enttäuschte allerdings viele der Zeitgenossen. An der Lehre lag Carl Wilhelm Heyse sehr viel, ja fast alles, war sie doch für ihn mit intensivem Forschen verbunden. Der Eintritt in den Ruhestand war ein großer Einbruch in seinem Leben: Immer klarer sehe ich übrigens ein, daß mein eigentlicher Beruf das Lehren war; seit ich nicht mehr lehren kann, ist mir meine wahre geistige Lebensluft entzogen. [...] Selbst die Wissenschaft [...] hat ihren Reiz fllr mich verloren, seit ich das Erforschen und die daraus entwickelten Ideen nicht mehr in lebendigem Vortrag darstellen kann. 138
5.1.3.2. Veröffentlichungen - die Fortführung des väterlichen Werks Mit seinen Veröffentlichungen tritt Carl Wilhelm Heyse bereits zu Lebzeiten in die Nachfolge seines Vaters und kümmert sich um schulische Belange. Sie umfassen die beiden großen Bereiche der Wörterbücher und der Schulgrammatik. Die eigenständige theoretische Ausrichtung seines Denkens im Bereich der philosophischen Grammatik, das ganz im Gegensatz zu dem seines Zeitgenossen Becker steht, zeigt sich vor allem in einem zweiteiligen Besprechungsaufsatz, der 1829 in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik erscheint, sowie in der Einleitung und im Vorwort zum Ausführlichen Lehrgebäude von 1839. Die Veröffentlichungen entsprechen einer, nach Carl Wilhelm Heyses eigenem Ausdruck, "Pflicht der Pietät". Nach dem Tod seines Vaters Johann Christian Heyse am 27. Juni 1829 war er durch eine testamentarische Bestimmung als dessen Nachfolger eingesetzt worden mit der Aufgabe, 136 137 138
Vgl. unten, Kap. II. Unterlagen zu seinen Vorlesungen waren in den Familienarchiven nicht zu finden. Zitiert nach Petzet (1913: 23). (Op.cit.: 21). Brief vom 9. Mai 1855.
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die Veröffentlichung der Werke des Vaters, an denen er sich vorher zusammen mit seinen Brüdern beteiligte, weiterzuführen. Die Brüder waren von diesem Vorhaben zurückgetreten. Doch der bereits zu Lebzeiten auf Johann Christian Heyse ausgeübte Druck, damit er unter verschiedenen Vorwänden fertige Bogen seiner Grammatiken noch vor dem definitiven Druck aushändige, scheint stark gewesen zu sein: So z.B. lautete der ausdrückliche Wunsch Philipp Lorbergs in seinem an J.C. Heyse gerichteten Brief vom 20. März 1823139. In Abwesenheit eines wirksamen rechtlichen Schutzes nach dem Tode des ursprünglichen Verfassers140 mag der testamentarische Weg für J.C. Heyse die beste Lösung gewesen zu sein, sein Werk vor fremden Einflüssen zu sichern. Ein Brief Carl Wilhelm Heyses an seinen Vater vom 28. April 1828141 gibt Aufschluß über die enge Zusammenarbeit zwischen beiden und über die Verantwortung, die ihm bei der Überarbeitung der Grammatiken übertragen worden war. Zum Kommentar des Grammatikers Lorberg über die TPdG Johann Christian Heyses bemerkt er folgendes: Ich habe die Lorbergische Schrift genau durchgelesen und jede seiner Bemerkungen sorgfältig geprüft. Was ich gegründet und brauchbar fand, habe ich [...] benutzt [...]. Wo ich sie [...] nicht billigen konnte [...] habe ich meine Gegenbemerkungen in den Rand seiner Schrift gesetzt.
Aus diesem sehr wichtigen Brief geht hervor, daß die Randbemerkungen im Briefwechsel Johann Christian Heyses mit Lorberg und anderen Grammatikern von der Hand Carl Wilhelm Heyses stammen. Seine auch aus seinen Briefen bekannte Schrift ist tatsächlich identisch mit der des zitierten Briefes. Die Anmerkungen und umgeschriebenen Abschnitte am Rand der Schulgrammatik von 1829 aus dem Heyseschen Familienarchiv in Berlin sind damit ebenfalls eindeutig Carl Wilhelm Heyse zuzuweisen. Im lexikalischen Bereich gab Carl Wilhelm Heyse das Allgemeine Wörterbuch zur Verdeutschung der in unserer Sprache gebräuchlichen fremden Wörter von 1804 neu heraus unter dem Titel Allgemeines Fremdwörterbuch, das 1892 in der siebzehnten Auflage erschien und an dem er bereits als Mitarbeiter seines Vaters beteiligt war. Das Werk kam dem Bemühen um die Reinheit der deutschen Sprache entgegen, wie sie später der Frankfurtische Gelehrtenverein für deutsche Sprache anstrebte. Carl Heyse veröffentlichte ebenfalls eine Kurzfassung des Werkes, das Kleine Fremdwörterbuch, das auch mehrfach neu aufgelegt wurde. Ein Projekt, das Johann Christian Heyse begonnen hatte, jedoch nicht zu Ende führen konnte, war ein großes Wörterbuch der deutschen Sprache. Es sollte durch seine ausschließliche Bemühung um Wörter und Ausdrücke germanischen Ursprungs das Gegenstück zum Fremdwörterbuch werden, das Wörter und Ausdrücke nicht germanischen Ursprungs versammelte 139 140 141
Brief transkribiert in Anhang I. Vgl. Einleitung 1.0. StB zu Berlin (unveröffentlicht); die handschriftlichen Kommentare Lorbergs sowie die gedruckte Fassung befinden sich im Heyse-Familienarchiv.
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und erklärte mit der Absicht, fälschliche und berechtigte Verwendung zu begründen; nur letztere könnte Eingang in ein Wörterbuch finden. 1833 und 1843 erschienen nun die beiden ersten Bände des Handwörterbuchs der deutschen Sprache. Seine Arbeit wurde durch die Veröffentlichung von Schmellers großem Wörterbuch, das er als Arbeitsinstrument benutzte, erleichtert. Wie der Bestand seiner Bibliothek beweist, 142 betrieb er umfangreiche eigene Nachforschungen. Carl Wilhelm Heyse blieb zwar dem Geist der Schriften seines Vaters treu, richtete jedoch einen wesentlichen Teil seiner Bemühungen auf die praktische Benutzbarkeit und reduzierte den ihn eigentlich mehr interessierenden theoretischen Anteil. Heyse war sich bewußt, daß seine Arbeit trotz Gewissenhaftigkeit und Güte seiner Artikel "zweideutiger Natur" blieb, wie er es Ende 1849 formulierte: Was dem Gelehrten vom Fach oberflächlich scheint, weil es ihm nicht neu ist, [...] das findet der Laue meist schon allzu gelehrt und beschuldigt den Verfasser des Pedantismus. Das Geschäft des Vermittlers ist hier, wie überall, ein undankbares. 143
Doch laut Paul Heyse nahm die Arbeit an der Grammatik die meiste Zeit in Anspruch. Nur zweimal wurde dabei Carl Wilhelm Heyse für kurze Zeit von seinem Bruder Gustav unterstützt: Im Jahre 1832 sowie achtzehn Monate lang vom Frühjahr 1834 an. Die Zusammenarbeit mit seinem Bruder Theodor dauerte nur von 1825-1829. Schon die Ausgabe der Schulgrammatik von 1829 war fast vollständig von Carl Wilhelm Heyse besorgt worden. Zwischen 1830 und seinem Todesjahr 1855 erschienen die Neuausgaben der drei Grammatiken seines Vaters: Die Theoretisch-praktische Grammatik der deutschen Sprache (4. Aufl. 1827) unter dem Titel Ausführliches Lehrgebäude der deutschen Sprache. Es war dies die fünfte große, vollständig überarbeitete Neuausgabe der Grammatik von 1814. Sie erschien in einem zeitlichen Abstand von zehn Jahren, zunächst der Laut-, Schrift- und Wortlehre gewidmete erste Band 1839, und der zweite Band zur Satzlehre 1849. Parallel dazu betrieb Carl Wilhelm Heyse die Veröffentlichung der gekürzten Fassung dieser Grammatik, der Schulgrammatik der deutschen Sprache, deren gründliche Überarbeitung direkt an das Erscheinen der beiden Bände des Ausführlichen Lehrgebäudes anschließen (vgl. dazu Kapitel III). An dritter und letzter Stelle steht die weitere Veröffentlichung des Kleinen Leitfadens, der ebenso erfolgreich ist wie die beiden älteren Werke.
5.1.3.3. Die Bibliothek Carl Wilhelm Heyses Von nicht geringer Bedeutung für die Arbeit Carl Wilhelm Heyses war der Aufbau einer Bibliothek seltener Werke, die große Bereiche umfaßte, wie alt- und 142 143
Vgl. unten. Zitiert nach Petzet (op. cit.: 21).
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mittelhochdeutsche Literatur, deutsche Grammatik seit dem 16. Jahrhundert, lateinische und griechische Grammatik, klassische Philologie, Geschichte, Geographie. Ein vollständiges Verzeichnis der Werke erschien 1854 unter dem Titel Bücherschatz der deutschen Nationalliteratur anläßlich ihres von Carl Wilhelm Heyse organisierten Verkaufs. Materielle Gründe, da er weder eine Rente (selbst für Beamte damals noch nicht vorgesehen) erhielt noch sozial gedeckt war, zwangen ihn zu diesem schweren Schritt. Ausreichende Ersparnisse für den Ruhestand hatte er nicht anlegen können, weil er trotz seiner angeschlagenen Gesundheit für die Pflege seines behinderten Sohnes und für die Bedürfnisse der eigenen Familie aufkommen mußte. Einen großen Teil der Bibliothek kaufte die Berliner Staatsbibliothek, der Rest wurde verstreut. 144 Der Verkauf der Bücher war ein seelischer Schlag für Carl Wilhelm Heyse. Die Ironie des Schicksal will es, daß er ihn nur wenige Monate überlebte, und der Verkauf praktisch umsonst war. Carl Wilhelm Heyse erlag am 26. November 1855 in Berlin einem "Unterleibs- und Lungenleiden" und wurde am 30. November auf dem Berliner Dreifaltigkeits-Friedhof beigesetzt. Bedenkt man die labile Gesundheit des Verfassers, gibt das Gesamtwerk Carl Wilhelm Heyses Zeugnis von einer großen Arbeitskraft und ungewöhnlichen Schnelligkeit; es bedurfte der Akribie wie einer stark ausgeprägten synthetischen und analytischen Methode, die in den etymologischen Ausführungen seiner Wörterbücher sehr auffällt. Zwei zeitliche Abschnitte sind erkennbar: bis zum Erscheinen des Ausführlichen Lehrgebäudes, danach die Zeit der vollen geistigen Entfaltung. Bei einem rein äußerlichen Zugang zu seinen Schriften (das von Steinthal bearbeitete, sehr ungleiche System der Sprachwissenschaft ausgenommen) ist nicht zu bemerken, wie stark Heyses Berufung beschnitten wurde und wie sehr er zum Opfer seiner Pflichterfüllung und seiner vielseitigen Begabungen wurde. Paul Heyse ging soweit, ihn einen "Märtyrer seiner Pietätspflicht" 145 zu nennen. Aus Neigung und seiner Veranlagung folgend wandte sich Carl Wilhelm Heyse einem eher theoretischen Denken und der Philosophie zu. Seine Lehre an der Universität brachte auch eine Distanz zu den schulischen Belangen des Vaters, die Neuausgaben der Schulgrammatiken gründen also nicht mehr auf direkter Unterrichtserfahrung. Das Testament seines Vaters und die seit seiner Kindheit schwierigen materiellen Verhältnisse haben seine Entfaltung gehemmt und den Abschluß seines Lebenswerkes, die Veröffentlichung einer Philosophie der Grammatik auf der Grundlage seiner Vorlesungen, verhindert. Die Forschung
144
145
Deren Schicksal war nicht ganz so tragisch wie das der Bibliothek Alexander von Humboldts, die verbrannte. Paul Heyse hatte sich nie wirklich dafür interessiert: "Es hat mir zeitlebens, bis auf sehr bescheidene Ansätze zu einer Käfersammmlung, an allem Sammeltrieb gefehlt [...]." (Jugenderinnerungen: 16). Jugenderinnerungen (1912: 15).
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war der wesentliche Antrieb seines Handelns, durch sie konnte er sich anschließend dem praktischen und erst an zweiter Stelle dem wissenschaftlichen Aspekt seiner lexikalischen und grammatischen Publikationen zuwenden. Der Reichtum seiner Bibliothek ist ein Beweis seiner Offenheit für neue Forschungen und das Zeitgeschehen. Folgende Zeilen, die er am 6. Juli 1849 an seinen Sohn schrieb, können in ihrer Klarheit und Hellsichtigkeit als geistiges Vermächtnis Carl Wilhelm Heyses gelten: Ich weiß leider aus Erfahrung, daß eine durch den Drang der Umstände verkümmerte Jugend nie wieder eingebracht werden kann, und werde umso mehr Alles aufbieten, was ich vermag, um Dir den sorglosen Genuß Deiner Jugend und das freie Spiel Deiner Kräfte unverkümmert zu erhalten. Mir ist es seit meiner frühesten Jugend nie so gut geworden, ganz mir selbst leben zu können; ich mußte meine besten Kräfte zusetzen in harter Arbeit für Andere und habe, indem ich fremden Zwecken diente, am Ende mich selbst verloren. So ist es denn auch gekommen, daß ich in meinem äußeren Lebensgange auf halben Wege stehen geblieben bin und das höchste Ziel meines Strebens nicht erreicht habe. Dies hat jedoch wohl noch tiefere Gründe, die in der eigenthümlichen Natur und Richtung meines Geistes liegen. [...] Mein wahrer Beruf wäre die philosophische Behandlung der Philologie oder wenigstens der Zweige des Wissenschaften-Complexes gewesen, die es mit der Sprache und Litteratur zu thun haben. [...] Da drängte mich die Macht der Verhältnisse und die Pflicht der Pietät von meinem eigensten Wege ab auf andere Bahnen; ich mußte meine Kräfte erschöpfen in weitläufigen mühsamen Arbeiten, die nicht meine freie Wahl waren; ich mußte wieder fremden Zwecken dienen und meine eigenen zu einer Nebensache machen, der ich nur sparsam erübrigte Mußestunden widmen konnte. - So könnte ich mein jetzt auf die Neige gehendes Leben wohl ein verfehltes nennen. Aber ich klage nicht; [...]. 146
5.2. Friedrich Theodor Heyse und Gustav Ferdinand Heyse Über das Leben der beiden anderen Söhne Johann Christian Heyses, die an seinen Grammatiken der deutschen Sprache mitgearbeitet haben, ist weniger bekannt. Ihre Namen tauchen im Unterschied zu dem Johann Christian Heyses, Carl Wilhelm Heyses und des Schriftstellers und Dramatikers Paul Heyse nicht in den großen biographischen Nachschlagewerken auf. Die folgenden Skizzen stützen sich auf Unterlagen aus dem Familienarchiv in Berlin.
5.2.1. Friedrich Theodor Heyse (1803-1884) Die Biographie Friedrich Theodor Heyses ist bewegter als die seines Bruders Carl Wilhelms. Das Ansehen in seiner Zeit verdankt er hauptsächlich seinen Übersetzungen griechischer Autoren und Catulls. Theodor Heyse, geboren am 8. Oktober 1803 in Oldenburg, war ein glänzender Schüler am Gymnasium in 146
Zitiert nach Petzet (1913: 265).
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Nordhausen, wo sein Vater unterrichtete, dann am Domgymnasium in Magdeburg, dessen Direktor der Vater geworden war. Nach dem Abitur verließ er Ostern 1822 die Schule, um bis Dezember 1825 an der Universität Berlin Philologie und Philosophie zu studieren. Dann aber kam er als Erzieher in das Haus des Bankiers Hertz in Altona. Er kehrte für ein Jahr nach Marburg zurück und half seinem Vater bei dessen sprachwissenschaftlichen Veröffentlichungen. Im Mai 1827 wurde ihm eine Stelle als Lehrer an der Erziehungsanstalt Lippes auf Schloß Lenzburg im Kanton Aargau angeboten. Theodor Heyse kündigte und lebte einige Monate bei seinem Freund Doktor Heusler in Lenzburg. Im Oktober 1832 ging er nach Italien, wo er sich als Privatgelehrter philologischen und archäologischen Studien widmete. Im Juli 1861 kehrte er nach Deutschland zurück, lebte einen Winter lang in Karlsruhe, verbrachte den Sommer 1862 bei seinem Freund Heusler in Lenzburg, lebte drei Jahre in München und ließ sich im Herbst 1865 in Florenz nieder, wo er in der Nacht vom 9. auf den 10. Februar 1884 starb. Friedrich Theodor Heyse war zusammen mit Carl Wilhelm Heyse ein enger Mitarbeiter seines Vaters. Die Überarbeitung mehrerer Kapitel seiner Grammatiken seit 1825 belegen sein ständiges Interesse an den Forschungen zur deutschen Philologie. Sein vielversprechender Beitrag zu den Forschungen seines Vaters fand leider keine Fortsetzung. Das Vorwort der TPdG von 1827 wie das der Schulgrammatik von 1825 heben die Bedeutung seiner Beiträge hervor. Sein Drang zur Unabhängigkeit führte ihn aber oft auf Reisen und veranlaßte ihn zu selbständigen Studien. Daß andere Gründe seine Lebenswahl bestimmten, ist dem vom Verf. bearbeiteten Archiv-Material nicht zu entnehmen, doch seine Liebe zur Kunst tritt aus seinen zahlreichen Briefen hervor 147 . Nach dem Tod seines Vaters besorgte er 1859 die zwanzigste Ausgabe der Schulgrammatik., 1864 die einundzwanzigste, die jedoch keine Veränderungen mehr brach-
5.2.2. Gustav Ferdinand Heyse (1809-1883) Gustav Ferdinand Heyse kam am 26. März 1809 in Nordhausen zur Welt, wo er bis 1819 an der Schule seine Grundausbildung erhielt. In den folgenden vier Jahren besuchte er die Handelsschule Magdeburg im "Berg- und Hüttenfach", wurde "Hüttenschüler" in Ilsenburg im Harz, und setzte dann 1824 bis 1827 seine Ausbildung an der Bergschule in Clausthal fort. Nachdem er ein Jahr bei
147 148
Briefsammlung im Münchener Familienarchiv. Dies läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß Carl Wilhelm Heyse einen großen Teil seiner interessanten Ansätze nicht berücksichtigt und in seine neu überarbeiteten Ausgaben nicht integriert hatte. Vgl. dazu Kapitel II und III. In den verschiedenen Familienarchiven ist keine persönliche Stellungnahme Theodor Heyses zu dieser Frage zu finden.
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seinem Vater in Magdeburg gelebt hatte, reiste er zu Fuß durch Deutschland, die Schweiz und Italien bis nach Neapel. Zu diesem Werdegang sei bemerkt, daß Gustav Ferdinand als einziges der neun Kinder Johann Christian Heyses mit zehn Jahren die Schule verließ, um eine berufliche Ausbildung zu erhalten. Seine ausgesprochene Vorliebe für Naturwissenschaften und Physik traf sich mit der des Vaters, der aber bis auf einige besuchte Vorlesungen und seinen Beitrag zu Cromes Werk 149 diesen Interessengebieten nicht mehr nachgegangen war. 1830 nimmt das Leben von Gustav Heyse eine Wende. Zurück in Marburg studierte er ab Ostern 1830 an der Universität Göttingen. 1832 schrieb er sich an der Universität Berlin ein und belegte Vorlesungen in Mathematik und Naturwissenschaften. Er hatte endlich seinen Weg gefunden, trotz längerer Reisen, die ihn von Juni bis Dezember 1833 in die Niederlande und nach Oberschlesien führten, und trotz eines Jahres, das er bei seinem Bruder Carl Wilhelm in Berlin verbrachte. 1836 wurde er Lehrer an der Höheren Bürgerschule in Aschersleben (die 1864 zur "Realschule erster Klasse" ausgebaut wurde). Als sehr geschätzter Pädagoge wurde er 1842 zum "Oberlehrer", 1859 zum "Professor" ernannt. 1869 schied er aus dem Schuldienst aus und starb am 4. April 1883 in Aschersleben. Gustav Heyse besorgte nach 1864 die 21., 22. und 23. Neuausgaben der Schulgrammatik (letztere 1878). Daß die von seinem Bruder veröffentlichten letzten Fassungen fast wörtlich, ohne regelmäßige Überarbeitung wieder aufgelegt wurden, erklärt sich vermutlich aus der fehlenden grammatischphilologischen Bildung Gustav Heyses. Sein Verdienst ist die Überarbeitung der Einleitung zur Geschichte der deutschen Sprache sowie die typographische Neugestaltung. Trotz seiner Bemühungen war diese Übergangszeit für das Erscheinen der Heyseschen Wörterbücher sehr negativ. Nachdem 1870 die vierzehnte Auflage des Fremdwörterbuchs durch Gustav Heyse und Dr. Wittich erschienen war, kündigten zwei Verlage neue Ausgaben an, nämlich S. Cronbach in Berlin und der Leipziger Fries-Verlag. Wie aus einem Artikel der Bonner Zeitung vom 28. November 1871150 hervorgeht, stellte sich Gustav Heyse die Frage, ob das Buch wohl ein "herrenloses Gut" geworden sei. Der rechtliche Schutz des geistigen Eigentums war nämlich vor kurzem Gegenstand einer neuen Gesetzgebung geworden, das die Eigentumsrechte nach dem Tod des Verfassers dreißig Jahre sicherte: Johann Christian Heyse war aber - wie Gustav Heyse daran erinnert - über dreißig Jahre zuvor 1829 gestorben.
149 150
Vgl. oben. Eingesehen im Heyse-Familienarchiv in Berlin.
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5.3. Otto Lyon (1853-1912) Der vielseitige, hochbegabte, unermüdliche Lehrer, Reformer und Dresdner Stadtschulrat Otto Lyon ist eine einflußreiche Persönlichkeit. Die Neuausgabe der Grammatiken und des Fremdwörterbuchs von Johann Christian Heyse und Carl Wilhelm Heyse machen nur einen geringen Teil seines Schaffens und seiner Veröffentlichungen zur deutschen Sprache aus. Sein pädagogisches Engagement im allgemeinen und im speziellen Bereich des Sprachunterrichts bestimmten ihn zum geistigem Nachfolger Heyses im neuen deutschen Kaiserreich, mit einem weit größeren Wirkungsbereich als der, der jemals Johann Christian Heyse zuteil geworden war. Julius Sahr, Biograph Otto Lyons und Verfasser des Nachrufs, ehemaliger Mitarbeiter der von Lyon gegründeten Zeitschrift für den deutschen Unterricht, hebt besonders dessen Einsatz als "Vertreter des Deutschtums"151 für die deutsche Nation hervor. Seine Leistungen auf den drei Gebieten Unterricht, Verwaltung und Veröffentlichung lassen sich in der Tat unter diesem Begriff zusammenfassen.
5.3.1. Zur Biographie Otto Lyon kam am 10. Januar 1853 als Sohn eines Volksschullehrers in Spittewitz bei Meißen auf die Welt, zwei Jahre vor dem Tod Carl Wilhelm Heyses. Er war ein willensstarker junger Mann, der seine erste Ausbildung später als Autodidakt vervollständigte. 1867-1872 studierte er am Königlichen Lehrerseminar in Nossen, wurde darauf bis 1875 Lehrer am Waisenhaus in Pirna und konnte sich nach der selbständigen Verbesserung seiner Kenntnisse durch Privatunterricht in den klassischen Sprachen und in Französisch an der Universität Leipzig einschreiben. Dort studierte er vier Jahre lang die Fächer Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte und deutsche Philologie. Professor Rudolf Hildebrand 152 , der mit ihm in dieser Zeit Freundschaftsbande knüpfte, sind entscheidende Impulse in seinem Werdegang und für seine Veröffentlichungen zu verdanken.
5.3.1.1. Lehrer und Schulbeamter Otto Lyon war einer der Lehrer, die sich, wie häufig in Deutschland, durch die wissenschaftliche Qualität ihrer Veröffentlichungen einen Namen erwarben und zugleich an der Schule unterrichteten. Nach Abschluß des Universitätsstudiums 151 152
Sahr (1912). Vgl. Anhang 2, Kurzbiographien.
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1879 unterrichtete Otto Lyon - nach kurzem beruflichem Einsatz in Leipzig - als Oberlehrer am Realgymnasium I. Ordnung in Döbeln. 1884 wechselte er auf die Annenschule in Dresden über. Inzwischen hatte er die Prüfung als Kandidat des höheren Schulamts erfolgreich bestanden und 1880 an der Universität Leipzig mit einer Dissertation über Goethe und Klopstock promoviert. 1898 erhielt er den Professorentitel und wurde 1900 zum Stadtschulrat ernannt. Im selben Jahr gab er die Lehrtätigkeit auf, um sich ganz der Schulpolitik und der Erarbeitung neuer Konzepte zu widmen; in dieser Zeit veröffentlichte er sein einziges philosophisches Werk, Das Pathos der Resonanz, eine Philosophie der neuen Kunst und des neuen Lebens, eines seiner wenigen Bücher, dem kein Erfolg beschieden war. In Otto Lyons Denken und in seine Arbeit waren alle schulischen Einrichtungen einbezogen: Töchter- und Knabenschulen, Realschulen, Berufsschulen, Volksschulen, Gymnasien. Er wollte alle Aspekte des deutschen Schulwesen im Primär- und Sekundarbereich verbessern, indem er sie zusammenführte, anstatt einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen zwei einander ausschließenden Schulformen beizubehalten. Die Schule hatte generell den Auftrag zur "Willensbildung"153, sie sollte weniger eine "Wissensschule" sein. Bis zu seiner Pensionierung war die Meinung Otto Lyons stets gefragt: Untersuchungen, Beratungen, Kongresse und Versammlungen auf allen Ebenen boten ihm die Möglichkeit, seinem Denken im Namen des Dresdner Rates Gewicht und Wirkung auf überregionaler Ebene zu verleihen. Seine schulischen Schriften sind zahlreich.
5.3.1.2. Seine eigenen Veröffentlichungen - Der intellektuelle Durchbruch Tritt 1900 die berufliche Wende in Otto Lyons Leben ein, so markieren die Jahre ab 1880 seinen intellektuellen Durchbruch. Es bietet sich an, seine eigenen literaturwissenschaftlichen und grammatischen Veröffentlichungen zu trennen von der Herausgabe von Werken in Zusammenarbeit mit anderen Autoren und seiner Überarbeitung oder Durchsicht grundlegender älterer Werke. Zu Otto Lyons wichtigsten literaturwissenschaftlichen Publikationen gehören die Dissertation Goethes Verhältnis zu Klopstock (1880) sowie Minne- und Meistergesang - Bilder aus der Geschichte altdeutscher Literatur (1883), Wettiner Balladen und Lieder (1889), und schließlich Schillers Leben und Werke (1912). Die beiden anderen Schriften, die ein bleibendes Echo fanden, sind seiner Aufwertung der deutschen Sprache und des deutschen Bewußtseins zuzuschreiben: Dank seines Buches Martin Greif als Lyriker und Dramatiker (1889) und seiner Herausgabe von Bismarcks Reden (\ 895) hielten die beiden Autoren Einzug in alle Schullesebücher, wie man bei Julius Sahr154 nachlesen kann. 153 154
(1904: 14f). In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht, 26, 1912: 593-606.
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Otto Lyon veröffentlichte vor allem Werke, die zum Schulgebrauch bestimmt waren. 1885 erschien das zweibändige Handbuch der deutschen Sprache für höhere Schulen, der erste Band zur Grammatik, wie sie von der Sexta bis zur Tertia gelehrt wurde, der zweite Band zu Stil, Poesie und Metrik für die oberen Klassen. Der Stoff ist nicht thematisch sondern nach Unterrichtsstufen aufgebaut. Dieses Werk eignete sich für die Bildung der Jungen und Mädchen sowohl am Gymnasium wie an den Berufsschulen. Daneben veröffentlichte Otto Lyon einen Leitfaden der deutschen Grammatik: Lektüre als Grundlage eines einheitlichen und naturgemäßen Unterrichts in der deutschen Sprache sowie als Mittelpunkt nationaler Bildung (1. Aufl. 1890, 3. Aufl. 1904). Es handelt sich um die kommentierte Ausgabe von Prosatexten und Gedichten für die Klassen von der Sexta bis zur Tertia, in der das nationale Bewußtsein wieder zum Vorschein deutlich wird: Der ausführliche Titel zeigt deutlich den nationalen Standpunkt, von dem aus Lyon die Lektüre betrieben wissen will; ein Standpunkt, der schon beim Döbelner Lesebuch mitwirkte, aber erst hier zu voller Klarheit herausgearbeitet ward.155
1886 gründete Otto Lyon mit seinem ehemaligen Professor, dem Sprachwissenschaftler Rudolf Hildebrand, die Zeitschrift für den deutschen Unterricht'56. Das erste Heft dieses für Lyon entscheidenden Unternehmens erschien im Januar 1887. Er fungierte neben all seinen anderen Aufgaben als Herausgeber. Die Zeitschrift gliedert sich in verschiedene Rubriken: Zunächst der Teil Allgemeines·, hier finden sich Erläuterungen zu den großen Autoren und Artikel über die deutsche Sprache; der Lektüre-Teil behandelt Fragen der Literaturwissenschaft und analysiert klassische Texte; der grammatisch-stilistische Teil widmet sich grammatischen und philologischen Betrachtungen. Im letzten, sprachlichen Teil Behandlung des Altdeutschen und der volkstümlichen Mundarten werden sowohl die Dialekte als auch Fragen der älteren deutschen Literatur behandelt. Hier erkennt man das ständige Bemühen Otto Lyons um eine Aufwertung des germanischen Erbes. Von weit geringerem Umfang ist die Rubrik Deutscher Aufsatz, wohingegen die Rezensionen einen sehr breiten Raum einnehmen. Es werden Grammatiken, Lesebücher und andere Schulbücher, Werke zur Didaktik und Pädagogik besprochen. Als Schwerpunkte setzt Otto Lyon deutsche Sprache, Grammatik, Erläuterungen zur zeitgenössischen, klassischen und alten deutschen Literatur, und Besprechungen, wodurch diese Zeitschrift eindeutig ein Standardwerk für Lehrer der Sekundarstufe wird. Otto Lyon sorgte für ein regelmäßiges Erscheinen. Diese Zeitschrift bot ihm zum einen die Möglichkeit, seine eigenen Schriften zu veröffentlichen, wie z.B. die genannte Untersuchung über Martin Greif, die hier 1889 zum erstenmal erschien157; zum andern war sie der Ort, an dem seine Vorträge und Überle155 156 157
(Op. cit.: 600). Sie besteht heute noch unter dem Titel Zeitschrift für Deutschkunde. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht, 1889, Nr. 3.
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gungen zur Schulpolitik einem breiteren Publikum vorgestellt wurden, etwa Die
Schule der Gegenwart im Lichte der Gemeindeverwaltung158 oder Meister und Propheten, eine Kritik der Kritik der Schule159, ein wichtiger Beitrag, der 1906 in zwei Teilen erschien.
5.3.2. Otto Lyon und die Neuauflage der Heyseschen Werke Otto Lyons Interesse an Heyses Wörterbüchern und Schriften zur Grammatik ist Teil seines generellen Bemühens, älteren Standardwerken durch eine Neubearbeitung wieder Geltung zu verschaffen. Otto Lyon steht ganz in der Nachfolge Johann Christian Heyses: Zunächst durch die neue Ausgabe der Schulgrammatik, die seiner Absicht entsprach, grundlegende Werke auf den neuesten Stand zu bringen, dann durch die erstaunliche Nähe zum pädagogischen Denken Heyses, besonders was den Stellenwert der Sprachen anbelangt. Neue Ansätze sind jedoch nicht zu umgehen.
5.3.2.1. Neubearbeitungen Geht man von seinen Bearbeitungen anderer Werke aus, so scheint er selbst die Initiative ergriffen zu haben, vielleicht auf Anregung von R. Hildebrand. Sein Interesse an Heyse ist jedoch nicht absolut, sondern relativ. Im Unterschied zu Carl Wilhelm Heyse, der dieser Arbeit neben dem Unterrichten seine ganze Kraft widmete, setzte Otto Lyon nur einen geringen Teil seiner Zeit dafür ein. Seit 1882 arbeitete Otto Lyon mit mehreren Kollegen an gemeinsamen Vorhaben oder kümmerte sich um die Neubearbeitung von Werken; es sind so verschiedene Projekte wie Lesebücher, Grammatiken, Wörterbücher. 1884 erschien unter Mitarbeit von C. Hentschel, G. Hey und K. Meyer ein neu konzipiertes Lesebuch, das Döbelner Lesebuch, das durch eine Auswahl patriotischer Texte die kindliche Neugier auf die "heimatlichen Wege" zu lenken und so das deutsche Bewußtsein zu stärken sucht. Ein weiteres Arbeitsfeld war die Neuausgabe von Grammatiken und Wörterbüchern: Er besorgte die dreizehnte Ausgabe des Synonymischen Wörterbuchs von Eberhard, das er dann dreißig Jahre lang herausgab; das 1891 von ihm wieder veröffentlichte Fremdwörterbuch Johann Christian und Carl Wilhelm Heyses betreute er bis zur neunzehnte Ausgabe 1910, das Kleine Fremdwörterbuch Carl Wilhelm Heyses bis zur fünften Ausgabe 1909. Im Bereich der Grammatiken bearbeitete Otto Lyon sowohl die Schriften Karl Ferdinand Beckers als auch die von Carl Wilhelm und Johann Christian Heyse. 1884 erschien die dritte Ausgabe von Beckers 158 159
Ebd. 1904, Nr. 18. Ebd. 1906, Nr. 20.
Spatere Bearbeiter der Heyseschen Grammatik
73
Deutscher Styl, und zwischen 1886 und 1907 kamen vier neue Ausgaben der Schulgrammatik Carl Wilhelm Heyses unter dem Titel Deutsche Grammatik oder Lehrbuch der deutschen Sprache (24.-27. Ausg.) heraus.
5.3.2.2. Schulpolitik und Sprachunterricht "Gesamterziehung" und "Willensbildung" Aufgrund seines ausgeprägten Interesses für das Schulwesen steht Otto Lyon Johann Christian Heyse viel näher als der Denker Carl Wilhelm Heyse. Er steht nicht im Konflikt zwischen der verhinderten Berufung zum Forscher und Denker und der Verpflichtung zur Veröffentlichung von Werken, deren erklärte Absicht eine leichte Benutzbarkeit sein soll. Obwohl ein Jahrhundert sie trennt und ihre Wirkungsbereiche verschieden sind - Otto Lyon als einflußreicher Stadtschulrat auf regionaler und überregionaler Ebene, Johann Christian Heyse als Lehrer und Schuldirektor auf kommunaler und regionaler -, bestehen Verbindungen in der von beiden vertretenen Auffassung des Unterrichtens. In seiner Abhandlung Die Schule der Gegenwart im Lichte der Gemeindeverwaltung äußert sich Otto Lyon ganz im Sinne Johann Christian Heyses: Denn Schule ist nicht Selbstzweck und darf niemals Selbstzweck werden, sondern sie ist Vorbereitung für das Leben. 160
In dem Aufsatz Meister und Propheten von 1906 unterstreicht er die Wichtigkeit einer "Gesamterziehung" und "Gesamtpädagogik" 161 , in deren Kette die Schule nur ein Glied ist. Das Nachdenken über die Schule soll nie losgelöst von politischen und wirtschaftlichen Überlegungen geschehen. 162 Das hatte auch schon Heyse betont. 163 Hauptfächer sind, wie schon bei Heyse, Religion, Sprachen, Naturkunde, Physik und Mathematik. Die Schulpolitik muß aber auf ein Gleichgewicht zwischen Geist und Körper achten, so daß Sport -und besonders das Schwimmenüberall eingeführt und zum Pflichtfach wird, und "Übungen der Hand" (d.h. Handarbeit) gefördert werden. Der auf das "cogitare et fari" gegründete Unterricht soll durch das Motto "sehen und handeln" abgelöst werden. Lyon stützt sich dabei auf die Schriften Friedrich Ludwig Jahns und Fichtes, die bereits Johann Christian Heyse zitierte, sowie auf die pädagogischen Lehren von Hensinger, Herbart und Fröbel. Neue wissenschaftliche Theorien über die Aufteilung des Gehirns in eine linke und rechte Hemisphäre mit je eigenen Funktionen ermutigen ihn zu der Feststellung, daß ein entsprechend vielseitiger Unterricht für ihre gleichmäßige Entwicklung notwendig sei. 160 161 162 163
Lyon (1904: 4). Lyon (1906: 12f.). (Op. cit : 15f.). Vgl. oben Kap. 1.3.
Johann Christian Heyse und seine Nachfolger
74
Diesen Grundsätzen wird auch an den Töchterschulen Geltung verschafft, wo die Mädchen in erster Linie auf Arbeiten im Haus und in der Familie vorbereitet und nicht intellektuell geschult werden sollen.164 In dieser heiklen Frage scheint Otto Lyon etwas rückständiger zu sein als Johann Christian Heyse.
5.3.2.3. Neuansatz: Mündlichkeit gegen Schriftlichkeit Die Sprachpolitik setzt nun einen anderen Akzent als Heyse. Sollen lebende Sprachen, besonders das Französische, und der muttersprachliche Unterricht gefördert und der Lateinunterricht reduziert werden, so ist aber der spontane mündliche Ausdruck entscheidend. Im Unterschied zu Heyse legt Lyon den Schwerpunkt im Sprachunterricht nicht zuerst auf die schriftliche Beherrschung der Regeln. Die neuen Schlagworte sind "lebendige Übung, frisches fröhliches Sprechenkönnen", was allerdings im Gegensatz zu der in Deutschland üblichen Praxis steht, die auf schriftliches, geistiges Wissen abhebt. Durch diese überholte Einstellung stehe das Reich hinter den anderen europäischen Nationen zurück, deren Schulabgänger es im Ausland leichter hätten. Diese Neuorientierung beim muttersprachlichen Unterricht unterstreicht Lyon, wenn er sagt: Übrigens gilt alles, was hier vom fremdsprachigen Unterrichte gesagt wird, erst recht von dem Unterrichte in der Muttersprache.165
"Referieren", "Debattieren" und "Protokollieren" sind die neuen Übungsformen, die es zu fördern gilt. Otto Lyons Werk zielte auf eine Annäherung von Gymnasium und Realschule, um die starken Unterschiede in der Ausbildung abzubauen und so den Schülern einen eventuellen Wechsel zu ermöglichen. Er wollte zudem die Kompetenzen der kommunalen Verwaltung in Sachen Kultur und Erziehung erweitern unter Nutzung der seit 1870 einsetzenden Politik. Dabei konnte er mit der Unterstützung des Ministers von Seydewitz sowie des Bildungsministeriums rechnen, die es ihm ermöglichte, seine Pläne dauerhaft zu verwirklichen. Seine Bemühungen, die denen Johann Christian Heyses so nahe kommen, geben seiner Neubearbeitung der Schulgrammatik Gewicht. Lyon bleibt den wichtigsten Neuerungen Carl Wilhelm Heyses treu, entfaltet aber zudem eine eignene intensive literaturwissenschaftliche Tätigkeit.
164 165
Lyon (1904: 21). Lyon (1904: 11).
75
Spatere Bearbeiter der Heyseschen Grammatik
Tabelle der wichtigsten Neuauflagen der Heyseschen Grammatiken (1814-1914)
GRAMMATIKEN
U R H E B E R UND
Theoretischpraktische deutsche Grammatik (TPdG)
Schulgrammatik (SG)
Kurzer Leitfaden (KLf)
1814(1. Aufl.) [1820, 1822]
1816(1. Aufl.)
1819(1. Aufl.)
1827
1825
1825
neuer Titel: Ausführliches Lehrgebäude (5. und letzte Aufl. der TPdG) "philosophische" Grammatik 1839 (Bd.l) 1849 (Bd. 11)
1840(12. Aufl.)
1841 (12. Aufl.)
1851 (17. Aufl.)
1851 (16. Aufl.)
FORTSETZER
JOHANN CHRISTIAN HEYSE MITARBEITER: (SÖHNE) C A R L WILHELM U N D THEODOR H E Y S E
CARL WILHELM HEYSE
(AB 1829/1830)
NUR NEUAUFLAGEN
fällt aus
es gelten dieselben Daten wie bei der SG
(KEINE BEARBEITUNG MEHR)
1859 1864
FRIEDRICH T H E O D O R AB
1855
1868 bis 1878
G U S T A V FERDINAND AB
1868
O T T O LYON AB
fällt aus
1886 (24. Aufl.) Neuer Titel: Deutsche Grammatik fünf Neuauflagen
1885 (25. Aufl.)
fällt aus
1914(28. Aufl.) 1923 (29. Aufl.)
fällt aus
1885
W I L L Y SCHEEL
6. Zusammenfassung
Die praktisch orientierten Grammatiken von Johann Christian Heyse nehmen im Laufe des 19. Jahrhunderts eine kontinuierliche Entwicklung in enger Abhängigkeit von allgemeinen Tendenzen innerhalb des Sprachunterrichts und des politischen Denkens. Johann Christian Heyse war als Pädagoge und Grammatiker offen für die sprachwissenschaftlichen Forschungen seiner Zeit, ihm lag an der Übereinstimmung von schulischer Ausbildung und späterer beruflicher Tätigkeit in der Schicht der "denkenden Bürger". Dies waren Unternehmer und Großkaufleute, deren Bildungsbedarf noch nicht berücksichtigt wurde, und nicht höhere Beamte, leitende Angestellte oder Freiberufler, die - nach Rüdiger Gans (1989)zum Bildungsbürgertum gehören. Heyses umfangreiche Korrespondenz, die positive Aufnahme seiner Werke in ganz Norddeutschland und ihre amtliche Anerkennung sind Belege dafür, daß er eine treibende Kraft war. Als Mitglied der beiden Gesellschaften für deutsche Sprache zu Berlin und Frankfurt am Main gelang es ihm, dauerhafte Verbindungen zu schaffen mit anerkannten Persönlichkeiten seiner Zeit: u.a. Johann Ph. Seidenstücker, Carl Ch. Zerrenner, Simon H. Herling, Georg F. Grotefend, Jacob Grimm, aber auch in weniger freundschaftlicher Hinsicht mit Karl F. Becker oder Friedrich J. Schmitthenner. Die deutsche Sprache ist für Johann Christian Heyse ein unverzichtbares Bildungs- und Machtinstrument, welches das nationale Bewußtsein verkörpert. Heyses grammatische Bestrebungen sind unzertrennbar von politischen Überlegungen. Grammatikunterricht geht bei ihm mit dem Nachdenken über die Wirkung auf das Denken immer zusammen, wie den Vorreden und Einleitungen zu seinen Grammatiken zu entnehmen ist. Das Politische ist ebenfalls fester Bestandteil der Ziele, die sich die genannten Sprachgesellschaften gesetzt hatten. Durch Diskussionen soll ein allgemeiner Konsens hergestellt werden Uber eine Norm des Deutschen, die sich in Regeln fassen läßt, und zwar ohne den Ausschluß deskriptiver Untersuchungen synchroner wie diachroner Art (der Standardsprache und der Dialekte). Heyses Briefwechsel belegt sein Interesse an aktuellen Forschungen zu allgemeinen Fragen der Syntax und Grammatik und seine Einbeziehung der Tradition, für die Grammatikunterricht auch eine Anleitung zum Denken sein muß. Der nationale Blickwinkel ist ein besonderes Kennzeichen seiner Zeit, er wird in neueren Untersuchungen zum 19. Jahrhundert wiederholt hervor-
Zusammenfassung
77
gehoben. Nach Wehler 166 liege der tiefere Grund für diese Ausrichtung des Deutschunterrichts im Verlust der Idee einer friedlichen Koexistenz der liberalen Staaten des Deutschen Bundes. Das deutsche Bewußtsein und damit der Deutschunterricht sind das Mittel zur Überwindung der Kluft sowohl zwischen den Staaten als auch zwischen der klassisch-humanistischen und der "realen" Bildung. Außerdem ist bei Johann Christian Heyse der Wille zu erkennen, den Deutschunterricht aus- und den altsprachlichen Unterricht abzubauen. Er geht dabei von dem Grundsatz der unterschiedlichen, einander ausschließenden Bedürfnisse zwischen Gelehrtenschule und den übrigen Schulen aus. Otto Lyon will dagegen am Ende des Jahrhunderts den Unterricht etwas weniger rigide durch einen erleichterten Übergang zwischen Realschule und Gymnasium umformen, die er beide als einander ergänzende und nicht ausschließende Ausbildungsstätten betrachtet. Der Sohn Carl Wilhelm Heyse war es, der das geistige Vermächtnis seines Vaters wahrte - zum Nachteil seiner eigenen Karriere und auf Kosten seiner persönlichen Neigungen, wie er 1849 in dem bereits zitierten Brief an seinen Sohn Paul zugibt. Man hätte sich eine Aufteilung der Verpflichtungen vorstellen können, da Theodor Heyse ein starkes Interesse für Grammatik und, wie der Bruder, eine Ausbildung in deutscher und klassischer Philologie genossen hatte. Zusammen mit Gustav konnte er sich jedoch unbeschwert seinen Forschungen und Reisen hingeben, während ihr Bruder die familiäre Verantwortung für die Schwester trug. Theodor Heyse, der Philologe, übernahm von seinem Bruder die Veröffentlichung der Grammatiken, und zwar von 1855 bis 1864, wohingegen Gustav Heyse, der Mathematiker, sich wider Erwarten als äußerst kompetenter Nachfolger erwies, indem er bis 1878 drei neue Ausgaben der Schulgrammatik besorgte sowie das Fremdwörterbuch überarbeitete. Erst 1880 sollte jemand außerhalb der Familie, nämlich Otto Lyon, den Heyseschen Grammatiken durch eine gründliche Überarbeitung neue Geltung verschaffen. Das grammatische Denken entwickelt sich nicht allein aus Gegensätzen, es zeichnen sich vielmehr Dreierschritte ab: - die Edition von drei Grammatikhandbüchern, der TPdG, der SG und des KLf\ - die drei Nachfolger: seine beiden Söhne Theodor und Carl Wilhelm, zwei gegensätzliche Charaktere - Theodor ist primär Literat, ein unabhängiger Geist, Carl Wilhelm, Denker und Philosoph, wird Grammatiker aus Pflichtgefühl gegen den Vater- und seit 1880 der Pädagoge und Schulbeamte Otto Lyon, der geistige Nachfolger Heyses. - drei große Editionsphasen, deren erste mit dem Todesjahr Johann Christian Heyses abschließt; deren zweite grundsäzlich von der Überarbeitung durch Carl Wilhelm Heyse geprägt ist und der durch die beiden Gebrüder Theodor und Gustav besorgten Neuauflagen; deren dritte mit dem Abklingen des direkten 166
Deutsche Gesellschaftsgeschichte (1987), Deutsches Bildungsbürgertum in vergleichender
Perspektive (1988).
Johann Christian Heyse und seine Nachfolger
78
familiären Einflusses beginnt und der Einwirkung von Otto Lyon entspricht: 1814 - 1829, 1830 -1855/80, 1886 - 1914. Sie entsprechen überraschenderweise drei entscheidenden Momenten des Deutschunterrichts im 19. Jahrhundert: Bis 1837 ist als Folge der Verordnung von Süvern ein Aufschwung des Deutschunterrichts festzustellen. Ihm entspricht die äußerst intensive Grammatikarbeit Johann Christian Heyses und Carl Wilhelm Heyses, der besonders zwischen 1838 und 1849 die Grammatiken vollständig überarbeiten wird. Nach 1837 kommt es aufgrund der ministeriellen Verordnung zu einem Stillstand, sogar zu einem Rückschritt, weil das Erreichte erneut zugunsten der historischen Grammatik zurückgedrängt wird;167 die von Carl Wilhelm Heyse besorgten Neuausgaben der Grammatiken seines Vaters stehen in einem allgemeinen politischen Rahmen, der im Vergleich zur tragenden Bewegung am Beginn des Jahrhunderts weit weniger günstig ist. Ab 1886 zeichnet sich ein erneuter Aufschwung ab, die Stimmung wird auf anhaltende Weise günstig für den Deutschunterricht; in diese Zeit fällt die Wirksamkeit Otto Lyons. So treffen die didaktischen Bemühungen innerhalb des Deutschunterrichts zwischen 1814 und 1914 wieder zusammen. Nach einem relativen Niedergang zwischen 1835 und 1880 gewinnt der Deutschunterricht wieder an Bedeutung, angeregt von ministeriellen Richtlinien aus Berlin. So läßt sich ein Spannungsbogen schlagen von der ersten Ausgabe der Heyseschen Grammatik im Jahre 1814 bis zu den Neuausgaben durch Otto Lyon zwischen 1886 und 1914.
167
Vgl. unten, Kap. II.
II
Allgemeine Grammatik und Syntax Divergierende Einflüsse (1814- 1838)
0. Einleitung Als Johann Christian Heyse zwischen 1814 und 1819 seine ersten Grammatiken veröffentlicht, ist Deutsch ein seit dem Ende des 18. Jahrhunderts anerkanntes Unterrichtsfach. Zwei Grammatiken hatten in den deutschsprachigen Ländern aufgrund einer Verordnung Friedrichs des II. von 17791 große Verbreitung gefunden, zum einen die Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst (1748) von Johann Christoph Gottsched, deren sechste Neuausgabe 1776 erscheint, zum andern vor allem die Deutsche Sprachlehre für Schulen (1781) von Johann Christoph Adelung, die 1816 in sechster Neuausgabe erscheint. Sein Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache (1792) und der Deutsche Styl (1785, vierte Auflage 1808) waren ebenfalls weit verbreitet. Es war Adelung, der die allgemeine Grammatik an der deutschen Schule einführte2. Auf theoretischer Ebene ist der andere große Vertreter dieser Tradition in Deutschland, Johann Werner Meiner, zu nennen. Adelungs Grammatik ist, wie Hans-Dieter Erlinger (1991)3 und Margrit Strohbach (1984)4 darlegen, ein entscheidender Schritt in Richtung "empirische Grammatik"; sie tendiere bereits zur Loslösung vom begrifflichen Modell einer allgemeinen Grammatik und finde ihren Abschluß in den historischen und deskriptiven Grammatiken, im allgemeinen Prozeß der "Empirisierung"5 der Grammatik. Die Adelungsche Sprachlehre ist auch die erste große normative Grammatik in Deutschland, die sich ausschließlich mit der deutschen Sprache befaßt und Grammatik als eine Zusammenstellung von Regeln versteht. Grammatisch 'richtig' ist, was den Regeln entspricht. Diese werden nach dem Analogieprinzip erstellt und richten sich nach dem Sprachgebrauch des Volkes. Der Sprachlehrer soll sich nicht als Gesetzgeber einer Nation verstehen, er ist ihr Übersetzer: Etymologie und Wohlklang sind seine Werkzeuge. Adelungs Unterscheidung zwischen Etymologie und Morphologie als selbständigen Teilen der Grammatik wurde in der Folge beibehalten.
1 2 3 4 5
"Eine gute teutsche Grammatik, die die beste ist, muß auch bei den Schulen gebraucht werden, es sey nun die Gottschedsche oder eine andere, die zum Besten ist." Naumann (1986: 28f. und 56f ). (1991:70). (1984: 130f.). Strohbach sieht in Adelung einen "Pragmatiker". Dieser Prozeß steht im Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung der «Produktivität» (dazu Erlinger, 1991: 238): der praktische Unterricht zielt stärker auf die Performanz und nicht mehr auf eine formale Kompetenz.
82
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Zu Beginn des Jahrhunderts fanden noch weitere zum Schulgebrauch bestimmte Grammatiken, die diese Richtung einschlugen, Verbreitung, so besonders die von Georg Reinbeck (1802), F. Karl Bernhardt (1825) und Theodor Heinsius; diese Werke von Mitgliedern des Frankfurtischen Gelehrterivereins für deutsche Sprache wurden seit 1804 mehrfach neu aufgelegt. Als 1814 die TPdG erscheint, heißt der eigentliche Konkurrent Johann Christian Heyses Theodor Heinsius. Die Gesamtauflage seiner Grammatiken beträgt in der ersten Hälfte des Jahrhunderts 74,000 Exemplare6, eine Zahl, die jedoch im Vergleich zur weit größeren Auflagenhöhe der Heyseschen Grammatiken niedrig ist7. Johann Werner Meiners Sprachlehre (1781) ist keine Schulgrammatik, sondern ein Beispiel fiir die Richtung der allgemeinen Grammatik, die aus dem französischen Denken hervorging und bis 1856, dem Zeitpunkt des Erscheinens von Carl Wilhelm Heyses System der Sprachwissenschaft, das Feld beherrschte. Der Einfluß dieser Denkschule ist groß; sie gründet auf der Logique von Arnauld und Nicole sowie der Grammatik von Port-Royal, die im Laufe des 18. Jahrhunderts überarbeitet worden war, etwa von Beauzöe, Du Marsais, dem Abbi Girard, um nur die Namen zu nennen, denen Johann Christian Heyse verpflichtet ist. Logik war ein Schulfach zur Erziehung im Denken, und Johann Christian Heyse trat als Leiter verschiedener Anstalten für diesen Unterricht ein. In seinem Aufsatz aus dem Jahre 1808 über die Unterrichtsreform an der Töchterschule von Nordhausen zitiert er die "praktische Logik (Vernunftlehre) und Klugheitslehre"8 und unterstreicht die Bedeutung deduktiven Denkens9. Schon 1792 hob er in einer Oldenburger Rede die Formung des Denkens hervor: die "Übung der Vernunft und der Seelenkräfte überhaupt durch Entwicklung der Begriffe von Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel, Unterschied und Ähnlichkeit u.s.f."10 Wilhelm Vespers (1980), Hans-Dieter Erlinger (1989; 1991), Clemens Knobloch (1989; 1991) sowie die Bestandsaufnahmen von Matthias (1913) und Wegener (1906) zu Beginn dieses Jahrhunderts betonen, wie stark der Sprachunterricht von der Erziehung zu logischem Denken bestimmt wurde. Darüber gibt es jetzt neuere Untersuchungen, unter anderem den Aufsatz Jürgen Schiewes zu Joachim Heinrich Campes Verdeutschungprogramm und die Sprachpolitik der Französischen Revolution (1989)11. Erlinger (1991) gibt im Anhang die Artikel einiger für örtliche Programme verantwortlicher Lehrer, wie 6 7 8 9 10 11
Meyer, in: Erlinger (1991: 115). Vgl. oben, Kap. 1.4.; die Auflage allein der SG betrug in den fünf Jahren von 1834 bis 1839 34,000 Exemplare. Nachricht über die neue Einrichtung der Schulanstalten zu Nordhausen (1808: 127). (Op. cit.: 138). Wie und wodurch wird die Jugend des gesitteten Bürgerstandes in öffentlichen Anstalten gemäß gebildet! (1792: 10) In: Europäische Sprachwissenschaft um 1800. Methodologische und historiographische Beiträge zum Umkreis der "ideologie", Bd. 1, Hg. v. Brigitte Schlieben-Lange u. a., 1989.
Einleitung
83
ζ. Β. Heinsius in Berlin, wieder. Hier Heinsius' Plädoyer für den Deutschunterricht: [...] Zweckmäßigkeit und Klarheit der Gedanken, richtige Anordnung derselben, Correctheit und Bestimmtheit des Ausdrucks, kurz die logischen, grammatischen und rhetorischen Anforderungen verlangt man doch mit allem Recht von Jedem, dessen Kopf mit Sprachen und Wissenschaften genährt ist. 12
1825 führte das Magdeburger Konsistorium, dessen Mitglied Heyse kraft seines Amtes als Direktor der Höheren Töchterschule ist, den allgemeinen Grammatikunterricht wieder ein, und zwar innerhalb des Deutschunterrichts bis zur Prima, mit der Forderung, den Schülern dessen Grundlage zu erklären. Damit kam dem Deutschen die Bedeutung zu, die ursprünglich das Latein hatte.13 Ziel des vorliegenden Kapitels ist es zu zeigen, daß Heyses Grammatik, was das grammatische und syntaktische Denken anbetrifft, von zwei Strömungen durchzogen wird: der allgemeinen Grammatik und der Vorrangstellung der Logik innerhalb des Unterrichts, die beide zum großen Teil unter dem französischen Einfluß der Grammatiken Beauzöes und des Abb6 Girard stehen; und dem sachlichen Zugang zu syntaktischen Fragen, wie ihn die Philologen und Mitglieder des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache in ihren grammatischen Arbeiten vertreten. Einer dritten, neuen Strömung, die Karl Ferdinand Becker, ebenfalls Mitglied des Frankfurtischen Gelehrtenvereins, vertritt, verschließt sich Johann Christian Heyse. Becker hat sich von der traditionellen Logik losgesagt und fordert in seiner Grammatik sowie in seinen Untersuchungen einen immanenten, induktiven Zugang zur Sprache; seine Überlegungen zum "Organismus" der Sprache stehen in der Nachfolge Wilhelm von Humboldts14. Wo die beiden genannten Strömungen zusammenlaufen, entsteht kein einheitlicher neuer Ansatz, sondern es verstärkt sich bei Heyse ab 1825 ein grundlegender Dualismus, so daß man eine erste bis etwa 1838 dauernde Periode als Periode der Ambivalenz bezeichnen kann. Sie wird zeitlich abgegrenzt durch das erste Erscheinen der TPdG im Jahre 1814 und die von Johann Christian Heyse selbst besorgten Ausgaben bis 1825; die darauffolgende Mit- und Zusammenarbeit seiner Söhne Theodor und Carl Wilhelm; und zuletzt durch die erste Phase des selbständigen Wirkens Carl Wilhelms, - vor dessen großer Überarbeitung der Schulgrammatik 1840 und 1850 sowie der Veröffentlichung des Ausführlichen Lehrgebäudes 1838/49. Es sollen zunächst die Elemente untersucht werden, die die Kontinuität der Jahre 1814 bis 1838 ausmachen durch das der allgemeinen Grammatik verpflichtete Denken. Anschließend gilt es zu zeigen, wie diese Grundlage langsam von neuen Analysen überlagert wird durch die hauptsächlich von Theodor Heyse 12 Erlinger (1991: 295f ). 13 Hierzu Matthias (1907: 282). 14 Haselbach (1965), Knobloch (1989 b).
84
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
betriebene Entwicklung der Syntax. Angesichts der zunehmenden divergierenden Einflüsse zweigen die der Logik der allgemeinen Grammatik verbundenen Analysen von neuen syntaktisch-semantischen neuen Ansätzen ab.
1. Grammatisches Denken 1.1. Eine Grammatik des Ausgleichs Ziel Johann Christian Heyses ist die Abfassung einer zugleich theoretischen und praktischen Grammatik für den Schulgebrauch. Das Unternehmen scheint den schulischen Rahmen zu sprengen: Die Sprachlehre umfaßt fast fünfhundert Seiten. Lhomonds französische Schulgrammatik hatte nur sechzig, die Gottscheds zweihundert und die von Adelung dreihundert Seiten. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß die Leser Kurzfassungen verlangten, die dann 1816 und 1819 erschienen. Sie brachte^ zwar gegenüber der ersten Ausgabe einige kleine Änderungen, bewahrten aber streng die Anlage der Ausgabe von 1814. Der ambivalente Charakter ist bereits daran zu erkennen, daß Heyse Grammatik ganz in der Tradition der allgemeinen Grammatik bestimmt und sie als Einheit von 'Theorie* und 'Praxis' auffaßt, die er beide gleichrangig behandelt.
1.1.1. Ein programmatischer Titel Die Wahl des Titels für dieses grammatische Nachschlagewerk ist programmatisch. Indem Heyse es Theoretisch-praktische Grammatik der deutschen Sprache nennt, stellt er sich den Anforderungen einer Schulgrammatik. Der theoretische Anspruch wird sofort durch den Zusatz "praktisch" abgeschwächt. Außerdem konzentriert sich Heyse bei der Abfassung auf eine natürliche Sprache, das Deutsche. Wohl nur bei dem zeitgenössischen Grammatiker Theodor Heinsius (1770-1849), einem Vorläufer Heyses, findet sich ein vergleichbarer Titel in dem 1807 veröffentlichten Teut oder theoretisch-praktischen Lehrbuch des gesammten Deutschen Sprachunterrichts. Obwohl Heyse ihn nie erwähnt, greift er auf viele seiner Untersuchungen und Definitionen zurück. Darin erschöpft sich allerdings die Ähnlichkeit, der innere Aufbau des Werkes ist ein ganz anderer. Heyse hat bewußt die zu seiner Zeit geläufigen Bezeichnungen wie "Sprachkunde", "Sprachkunst", "Vernunftlehre" und besonders "Sprachlehre" vermieden, alles Begriffe, die in Deutschland meistens auf eine Verbindung zur allgemeinen Grammatik hindeuten. Unter den eigentlichen allgemeinen Grammatiken, die bezwecken, für alle Sprachen gültige logische Grundlagen zu er-
g6
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
ermitteln, seien als wichtigste genannt: Johann Wemer Meiner, Versuch einer an der menschlichen Sprache abgebildeten Vernunftlehre, oder Philosophische und allgemeine Sprachlehre (1781) und Johann Severin Vater, Versuch einer allgemeinen Sprachlehre (1801). Allgemeine einzelsprachliche Grammatiken des Deutschen sind die Sprachlehre von Adelung, die Sprachlehre von Bernhardi (1801), das Elementarbuch der deutschen Sprachlehre von Appel (1791-1801), nicht zu vergessen die kantianisch geprägte Systematische deutsche Sprachlehre für Schulen (1799) von Georg Michael Roth sowie die Teutsche Sprachlehre für Gelehrtenschulen (1822) von Friedrich Schmitthenner. Einige für den Unterricht bestimmte Grammatiken weisen auf die Ausformung des Denkens mittels der allgemeinen Grammatik hin; sie führen den Titel "Sprachdenklehren". Hier ist vor allem die 1837 erschienene Praktische Sprachdenklehre für Volksschulen und die Elementarklassen der Gymnasialund Realanstalten von Raimund Jacob Wurst zu nennen. Häufig finden sich auch die beiden Bezeichnungen "Lehrgebäude" und "Lehrbuch", die den normativen Aspekt einer Grammatik betonen. So nennt Adelung eines seiner Werke Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache (1792), Johann H. Bauer wählt den Titel Vollständiges Lehrbuch der deutschen Sprache (1812). Weniger bekannt ist Steinheils Lehrgebäude der Deutschen Sprache (1812) oder das 1830 veröffentlichte Lehrgebäude der hochdeutschen Sprache von J. G. Frieß. Die Verwendung des Begriffs "Grammatik" im Titel eines Werkes scheint sich im 19. Jahrhundert erst ab 1825 durchzusetzen. Aus dem 16. und 17. Jahrhundert sind uns zwar viele "Grammaticken" bekannt, ζ. B. die von Ickelsamer (1534) oder Schottel (1641; 1663). Im 18. Jahrhundert ändern sich allerdings die Bezeichnungen. Die Verwendung eines deutschen Begriffs, der weder aus dem Französischen noch aus dem Lateinischen entlehnt ist ("Sprachkunst" etwa), steht im Zusammenhang mit der von den deutschen Sprachgesellschaften unterstützten Herausbildung einer deutschen Grammatikterminologie. Diese Neuerung zeigte sich vor allem im Bereich der Wortlehre: Das "Sustantiv" oder "Nomen" wurde zum "Hauptwort", das "Verb" zum "Aussagewort". Im 19. Jahrhundert aber taucht der Begriff "Grammatik" wieder auf, er wird sogar häufig verwendet; erinnert sei an die Vollständige Grammatik der neuhochdeutschen Sprache (1827-1833) von Johann H. Bauer, an Karl Ferdinand Beckers Schulgrammatik der deutschen Sprache (1831) sowie seine Ausführliche Grammatik als Kommentar der Schulgrammatik (1836-1839). Hat hier vielleicht die Grimmsche Deutsche Grammatik Schule gemacht, und wollte man damit den Abstand zu den "Sprachlehren" zum Ausdruck bringen? Oder war es vielleicht eine Auswirkung des hohen Bekanntheitsgrades der Heyseschen TPdG, die ja bis 1830 schon in mehreren Ausgaben erschienen
15 Dazu Kap. I und Anhang 1, Brief des Ministeriums des Geistlichen Unterrichts an Johann C. Heyse vom 9. Mai 1825.
Grammatisches Denken
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Aufgrund von Beobachtungen und Recherchen kann man festhalten, daß sich der Ausdruck "theoretisch-praktisch" erst gegen Ende des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts durchsetzt: J.G. Frieß veröffentlicht 1828 sein Theoretischpraktisches Lehrbuch der Hochdeutschen Sprache für den Schul- und Selbstunterricht, C. F. Michaelis 1825-1826 seine Theoretisch-Praktische deutsche Grammatik oder Anleitung zur Kenntniß der Aussprache, Beschreibung und Wortbildung, und der Redetheile des Deutschen, J.H. Bauer 1843 seine Theoretisch und praktische verfaßte deutsche Sprachlehre in Fragen und Antworten. Es ist zu bemerken, daß diese Werke alle nach 1814, also nach Heyses Grammatik, erschienen sind. Die Wahl des Titels belegt somit Heyses doppelte Neuerung: Er schreibt nach Heinsius eine der ersten theoretischen und zugleich praktischen Grammatiken. Er hat als einer der wenigen bewußt den Begriff "Grammatik" gewählt und ihn mit den beiden genannten Attributen verbunden.
1.1.2. Ineinandergreifen von Theorie und Praxis - Methode, Anlage der Kapitel und Funktion der Beispiele Heyses allgemeine Methode ist auch die seines Kollegen Heinsius in Berlin: Man will ein mechanisches Lernen vermeiden, auch einen Unterricht, der zu stark auf der muttersprachlichen Intuition basiert, denn es sollen ja Regeln erkannt werden. Sein Ziel ist die Förderung der Kompetenz: Diese [die Sprachlehre] ist nämlich eine Anweisung, eine Sprache richtig sprechen und schreiben zu lernen, um sich Andern, welche dieselbe Sprache verstehen, verständlich zu machen.16
Dabei setzt sich Johann Christian Heyse wie Heinsius bewußt von zwei geläufigen Unterrichtsmethoden des Deutschen ab. Da Verf. nicht möglich ist, Heyse direkt nach den Lehrplänen, die er für die von ihm geleiteten Schulen erstellte, zu zitieren, soll auf eine Schrift von Heinsius Bezug genommen werden. In seinen Historisch-pädagogischen Andeutungen (1827) faßt dieser die allgemeine Unterrichtssituation folgenderweise zusammen: Die auf den meisten Schulen herrschende Methode ist die synthetische, welche die Regel gibt, sie durch Beispiele erläutert und auswendig lemen läßt. Die entgegen gesetzte analytische gibt keine Regeln, sondern läßt diese nach den Gesetzen des Denkens selbst erfinden und aus der Rede ableiten.17
Heinsius kritisiert sowohl das Prinzip einer analytischen, einzig auf das Konkrete ausgerichteten Ausbildung, die keine Sicherheit im Umgang mit der Sprache vermittelt, als auch die zu künstliche synthetische Methode, die nicht die Urteilskraft wecke. Jede einseitig verfolgte Methode schade dem Kind.
16 TPdG (1827: 1). 17 Zitiert nach Erlinger (1991: 298).
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Deshalb tritt er dafür ein, die beiden Methoden im Grundschulunterricht zu verbinden. Heyse ist derselben Überzeugung, verwirklicht sie aber auf andere Weise. Im Vorbericht und in der Einleitung zu seiner Grammatik legt er seine methodischen Überlegungen dar. Er geht auf die p r a k t i s c h e Dimension ein, welche für ihn unmittelbar mit der Notwendigkeit zusammenhängt, Regeln durch Beispiele zu veranschaulichen und ihre tatsächliche Beherrschung durch Übungen zu festigen: Da sie diese Grundsätze und Regeln nicht bloß kennen und einsehen lehrt, sondern auch dieselben durch viele Beyspiele und Aufgaben zur Anwendung und Ausübung zu bringen sucht: so tragt sie darum den Namen einer theoretisch-praktischen Grammatik.18
Als deduktiver Geist entscheidet sich Heyse für den folgenden Aufbau der einzelnen Kapitel: [...] daß ich, nach einer kurzen Betrachtung des Allgemeinen, das Besondere, und in diesem sogleich nach der Begriffsbestimmung und etymologischen Betrachtung jedes einzelnen Redetheils auch die ihn betreffenden syntaktischen Regeln über den richtigen Gebrauch desselben folgen lasse und durch zweckmäßige Beyspiele erläutere.'9
Der Aufbau folgt immer dem gleichen Schema: allgemeine Definition, Bemerkungen zur Etymologie und Morphologie, zum Gebrauch von Kategorien, zur Rektion, Beispiele. Jedes Kapitel oder Unterkapitel endet mit Übungsaufgaben. Dieser Aufbau macht die Sonderstellung der Heyseschen Grammatik innerhalb der übrigen Anfang des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen Schulgrammatiken deutlich, die die theoretische Darstellung von der praktischen Anwendung trennten. Anstatt in jedem Kapitel grammatische Fragestellungen und Beispiele zu verbinden, boten sie zwei Bände: einen mit Grammatik und Regeln, den andern mit Übungen zur Rechtschreibung, zur Lektüre und zur Anwendung. Außerdem waren die Übungen nicht entsprechend den Kapiteln des theoretischen Teils, sondern thematisch zusammengestellt. Als Beispiel sei das Theoretisch-praktische Lehrbuch des gesammten Deutschen Sprachunterrichts von Heinsius in seiner Ausgabe von 1807 genannt. Heyse baut dagegen die Beispiele direkt in seine Grammatik ein, und er achtet dabei sowohl auf eine systematische Entsprechung von Übung und Grammatik als auch auf einen zunehmenden Schwierigkeitsgrad. Die Übungen sind äußerst vielfältig: Sie gelten der Morphologie, der Konjugation, der Deklination, der Rektion und besonderen Konstruktionen. Der Schüler muß aus mehreren vorgeschlagenen Formen den richtigen Ausdruck herausfinden oder in einem vorgegebenen Text die eingebauten Fehler erkennen, wobei deren Anzahl in Klammern genannt ist. Der Umfang der Übungen beträgt im allgemeinen zwei bis vier Seiten, aber auch bis zu zehn Seiten wie in den
18 TPdG (1814. 35). 19 (Ebd., Vorbericht: V).
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Kapiteln über das Verb oder die Präpositionen, wo sie den theoretischen Teil gewissermaßen phrasieren. Sie sind wahrscheinlich von Heyse gebildet, eine eventuelle andere Herkunft ist nirgends angegeben. Um die Benutzung zu erleichtern und die Grammatik auch als Nachschlagewerk nutzbar zu machen, fügt Heyse am Ende noch ein langes der Terminologie gewidmetes Stichwortregister hinzu. Heyses Sonderstellung liegt aber hauptsächlich in der ständigen Einbeziehung von Beispielen in den Aufbau seiner Grammatik.
1.1.3. Aufbau der Grammatik - Ähnlichkeiten und Unterschiede
Die drei Grammatiken Heyses, die TPdG, die SG und der KLf, folgen demselben Aufbau, so daß jede Änderung einer Ausgabe unmittelbare Auswirkungen auf die beiden anderen hat. Die endgültige Form liegt mit der vierten Ausgabe der SG von 1825 fest, die vierte Ausgabe der TPdG von 1827 bringt noch einige Präzisierungen und Ergänzungen. Johann Christian Heyse geht davon aus, daß die Schriftsprache ein Mittel zur Verbesserung der gesprochenen Sprache sein soll, daß sie die Kenntnisse in Orthographie und Interpunktion mehren und damit zu Lektüre und Textanalyse hinführen soll. Deshalb baut er diese beiden Abschnitte in seine Grammatik ein, anstatt sie, wie seine Kollegen, an den Anfang oder ans Ende zu stellen. 1814 ist der Aufbau wie folgt: Phonologie und Phonetik ( Von den Buchstaben und deren richtiger Aussprache), Morphologie (Von der Bildung der Wörter und richtigen Betonung), allgemeine Darstellung der Redeteile, Orthographie, Interpunktion, einzelne Darstellung und Behandlung der Redeteile, Syntax (Wortfolge und Constructionslehre), grammatische Figuren. Heyse betont also die Vorrangstellung der Orthographie als festen Bestandteil der Grammatik: Die Orthographie erscheint also nicht als ein untergeordneter, sondern mehr als ein zugeordneter Theil der Grammatik. Beyde - Schrift- und Ton-Sprache - unterstützen und begründen einander wechselseitig zum richtigen Gebrauch [...].20
1820 bezieht er die Metrik mit ein und stellt sie als Grammatik der dichterischen Sprache21 ans Ende des Werkes. Auf Bitten seiner Kollegen und Briefpartner beschließt Heyse jedoch, ab 1823 das Kapitel zur Interpunktion unmittelbar vor das abschließende Metrikkapitel zu stellen, da die Erfahrung gezeigt habe, daß es Anfängern nicht möglich sei, die Zeichensetzungsregeln losgelöst von der Syntax zu erlernen. Heyse empfiehlt den Lehrenden, sich auf das Niveau ihrer Klasse einzulassen, rät aber, den fortgeschrittenen Schülern die Zeichensetzung beizubringen. Der Aufbau müsse nicht sklavisch befolgt werden, er sei lediglich ein Vorschlag. 20 TPdG (1814: V). 21 Vgl. Kap. 14.
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Die Schulgrammatik und die TPdG, Heyses grammatische Hauptwerke, unterscheiden sich nur in dem Punkte, daß die SG weniger stark theoretisch ausgerichtet ist. Die SG umfaßt daher in ihren verschiedenen Ausgaben nur etwa dreihundertfilnfzig Seiten, die Kürzung betrifft den Umfang der Kapitel, der allgemeinen Definition und Beispielreihen. Die Übungen hingegen bleiben vollständig bewahrt. So wird die TPdG zum Grammatikhandbuch der Lehrenden, denn vor oder nach den Beispielen stehen oft didaktische Hinweise zu ihrer Anwendung. Der KLf umfaßt in seinen verschiedenen Ausgaben bis 1840 dagegen nur etwa hundert Seiten. Die Definitionen und Beispiele sind prägnante Zusammenfassungen der SG, Übungsbeispiele fehlen ganz. Aus diesen Betrachtungen ist zu schließen, daß Johann Christian Heyses Theoretisch-praktische deutsche Grammatik die erste sowohl theoretische als auch praktische Grammatik dieses Namens ftlr den Schulgebrauch war. Ihr doppeltes Anliegen rückt sie in die Nähe ihres unmittelbaren Konkurrenten, des Theoretisch-praktischen Lehrbuchs von Heinsius, von dem sie sich jedoch durch die als Neuerung eingeführten Beispiele unterscheidet. Dieses ständige Ineinandergreifen von Theorie und Praxis durch die völlige Entsprechung grammatischer Fragestellungen und Übungen hatte es in Deutschland vorher noch nicht gegeben. Die beiden Bereiche wurden bisher getrennt und auf zwei Werke verteilt, deren Aufbau nicht unbedingt gleich war. In diesem Punkt stimmt die Schulgrammatik als Kurzfassung mit der TPdG Uberein. Die ursprüngliche Abfolge der Kapitel, in der die Zeichensetzung der Untersuchung der Redeteile folgte, verdankt sich demselben Prinzip. Die innere Abfolge der Kapitel nach dem deduktiven Prinzip ist dagegen äußerst traditionell. Mit diesem Gleichgewicht von Tradition und Innovation fügt sich Heyse in das Bild des pädagogischen Neuanfangs zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als das Auswendiglernen allmählich von einer aktiven Einbeziehung der Kinder abgelöst wurde. Nur im Kleinen Leitfaden der deutschen Sprache fehlt diese "praktische" Dimension.
1.2. Grammatik und Sprache
Nur in seiner TPdG von 1814 schlägt Heyse eine traditionelle, von der allgemeinen Grammatik bestimmte Definition des Begriffs Grammatik vor. Die späteren Ausgaben und Neuauflagen der SG und des /^//behalten sie nicht bei. Ein ausführlicher Kommentar zum Stellenwert einer Grammatik findet sich erst 1838 in der Bearbeitung der TPdG durch Carl Wilhelm Heyse wieder, 1840 dann in der teilweise überarbeiteten SG und schließlich 1850. In Johann Christian Heyses Ansichten sind zwei Hauptrichtungen zu erkennen. Das Hochdeutsche wird als Untersuchungsgegenstand festgelegt. Damit folgt Heyse einer Tendenz, die sich bald in den meisten Grammatiken seines Jahrhunderts wiederfindet. Der Grammatik und dem Grammatiker weist er aber auch eine
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erhebliche Rolle zu. Hier greift er allem Anschein nach Formulierungen verschiedener Vertreter der allgemeinen französischen Grammatik auf, ohne daß er sie allerdings zitieren würde.
1.2.1. Untersuchungsgegenstand: Heyses Definition des Hochdeutschen Wie sein Zeitgenosse Heinsius macht Heyse das Hochdeutsche zum Gegenstand seiner grammatischen Untersuchungen. Er spricht sich für eine Interpretation aus, die durch die zeitgenössische Forschung bestätigt wird. Im 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es noch keine Übereinstimmung bezüglich einer deutschen Hochsprache. Diese als abstrakt empfundene Größe bereitete den Kritikern, Schriftstellern und Sprachwissenschaftlern am Ende des 18. Jahrhunderts Kopfzerbrechen; Wieland schrieb 1782 im Teutschert Merkur den berühmt gewordenen Aufsatz Ueber die Frage: Was ist Hochdeutsch?. In Frankreich dagegen wurde die französische Hochsprache im Zusammenhang mit der Diskussion um den "Usage" ("Sprachgebrauch") festgelegt: Maßgebend war die Sprache des Hofs, wie Nicolas Beauzöe22 unter Berufung auf Vaugelas erklärte. In Deutschland war die Frage problematischer, denn keine regionale Umgangssprache, kein Dialekt oder Soziolekt hatte sich als Standardsprache in den deutschsprachigen Ländern durchgesetzt. Wie der Sprachwissenschaftler J.H. Jellinek in seiner Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik (1913) schreibt, standen sich bei der Festlegung einer Norm der deutschen Sprache zwei Hauptströmungen gegenüber: Vertreter der ersten hoben die gesprochene Sprache der gebildeten Stände auf den Schild, etwa der Grammatiker Philipp von Zesen, Mitglied des Palmenordens, oder sein Kollege Gueintz. Andere bevorzugten eine regionale Variante: Jakob Bodmer war von der fuhrenden Rolle des in Meißen gesprochenen Deutsch überzeugt, für Gottsched war es das Obersächsische, Adelung23 sah den niedersächsischen Dialekt als deutsche Hochsprache an, der durch Luthers Bibelübersetzung eine Verfeinerung erfahren und weite Verbreitung gefunden hatte. Deshalb nannte er die deutsche Sprache Tochter des Oberdeutschen, verfeinerte oberdeutsche Mundart1*. Für andere Sprachwissenschaftler, wie z.B. den Grammatiker Schottel, sollte die Standardsprache mit keiner gesprochenen Form übereinstimmen, also mit keiner Regionalsprache und keinem Dialekt. Es sollten die der deutschen 22 "Usage est la Fa?on de parier de la plus nombreuse partie de la Cour, conformöment ä la fafon d'ecrire de la plus nombreuse partie des auteurs les plus estimös du temps. " ("Gebrauch ist die Art und Weise wie der größte Teil des Hofes spricht und wie der größte Teil der angesehensten Autoren unserer Zeit schreibt.") Der Artikel Usage von Nicolas Beauzöe in: Encyclopedic methodique, Langue et grammaire, Bd. 10/3, 1786: 603-607, hier 603. 23 Adelung (1781). 24 (Ebd.: 16).
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Sprache innewohnenden Regeln mittels des Analogieprinzips herausgearbeitet werden. Eine dritte Strömung wollte die beiden Ansätze zusammenfahren. Für Gottsched sollte das "Hochdeutsche" eine regionale Verkehrssprache sein, in der Form wie sie große Dichter sprechen oder schreiben. Heyse stimmt in diesem Punkt mit Schottel überein, wenn er seine Grammatik auf das Hochdeutsche gründet, das für ihn keine lebende, gesprochene Sprache, sondern ein "Selbstgebilde" ist, welches in direkte Beziehung zur Idee einer "Schriftsprache" gesetzt werden muß. Während Heinsius sich nicht eindeutig äußert und in den Varianten des Deutschen "das Gemeinsame" sucht, benennt Heyse den künstlichen Charakter seines Untersuchungsgegenstandes direkt: Die Schriftsprache ist daher kein Abgebilde irgend einer Mundart oder Provinzsprache, sondern ein nur von Mundsprachen ausgegangenes Selbstgebilde. Wenn nun unsre Schriftsprache unsre hochdeutsche Sprache ist, so muss Jeder, der richtig hochdeutsch sprechen will, sprechen, wie die Schriftsprache schreibt.25
Diese Definition Heyses ist angesichts der noch von Adelung gegebenen konträren Definition sehr interessant. In seiner Einleitung der TPdG stützt er seine Ansicht durch eine Geschichte der deutschen Sprache, die die verschiedenen Entwicklungsstufen der Sprache zeigt, die Rolle Luthers, der Kanzleien, der Grammatiker seit dem 17. Jahrhundert und der Sprachgesellschaften beschreibt. Neuere Forschungen bestätigen Heyses Hypothese weitgehend: Die deutsche Hochsprache oder Standardsprache sei demnach ein künstliches Gebilde, hervorgegangen aus der Kanzleisprache und der Sprache der Lutherbibel. Einen geschichtlichen Überblick bieten die Arbeiten von Dieter Nerius26 und Werner Besch mit seinem Aufsatz Die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache/Standardsprache11. Es sei daran erinnert, daß die Vielfalt der deutschen Dialekte und die Schwierigkeit einer überregionalen Verständigung sehr bald die Verwendung einer gemeinsamen Sprache forderte. Ist das Hochdeutsche in seiner Aussprache vor allem dem in Meißen und von den Fürsten gesprochenen Dialekt verpflichtet, so hängt die Konsonanten- und Vokalentwicklung vom Oberdeutschen ab. Diese überregionale Sprache scheint sich am Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet zu haben, als das Hochdeutsche die Ausdrucksform der großen, in den Grammatiken der Zeit ständig zitierten Autoren wurde: Voß, Schiller, Goethe, Arndt...
1.2.2. Normative Grammatik - traditionelle Definitionen
25 TPdG( 1827: 81). 26 Nerius (1965, 1967). 27 In: Hrsg. W. Besch, O. Reichmann und S. Sonderegger, 1984: 1781-1810. Es sei auch verwiesen auf die Arbeiten von Adolf Bach und Hugo Moser.
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1.2.2.1. Einzelgrammatik und Vernunft Deutlicher als alle, die zur gleichen Zeit fur die Schule schreiben, wie ζ. B. Heinsius, beschreibt Heyse seine Konzeption einer normativen Grammatik, ohne jedoch einer Systematik zu folgen. Diese Erläuterungen sind auf die Einleitung, das Kapitel über die Redeteile und das Syntaxkapitel verteilt. Heyses grammatische Arbeit gründet sich auf die absolute Autorität der Vernunft, da "die Gesetze des Denkens und Empfindens bey allen vernünftigen Menschen dieselbigen sind" 28, wie er auf der ersten Seite seiner Einleitung der TPdG schreibt. Bei seiner Satzanalyse bezieht sich Heyse implizit auf die allgemeine Grammatik als fundamentale und universelle Gegebenheit. Wie sich die Gesetze, die die Vernunft leiten, konkret äußern, variiert je nach Sprache: Obgleich die Gesetze des Denkens und Empfindens bey allen vernünftigen Menschen dieselbigen sind, die einer jeden Sprache zum Grunde liegen, und aus denen eine allgemeine Sprachlehre entsteht: so giebt es doch so viele Verschiedenheit der einzelnen Sprachen, als es verschiedene Nationen giebt und gab. 29
Zwischen Sprache und Denken besteht ein Abhängigkeitsverhältnis, das chronologisch zu sehen ist, denn die Gesetze des Denkens haben zeitlich den Vortritt: Das Denken geht dem Sprechen voraus.30 Heyse schreibt zu Beginn des dritten Kapitels über die Redeteile: Da das Denken dem Sprechen vorausgeht, so müssen auch die Redetheile oder Wörter in Hinsicht der Zahl ihrer verschiedenen Arten und deren Ordnung von den verschiedenen Begriffen abhängig und den Gesetzen des Denkens unterworfen seyn. 31
1.2.2.2. Allgemeine Grammatik und Einzelsprache Mit seiner normativen Beschreibung einer Einzelsprache schließt Heyse an die zweite Art von allgemeinen Grammatiken an, wie sie Beauz£e und Douchet definierten: Sie unterschieden zwischen einer allgemeinen Grammatik als "theoretisch-kritischen Wissenschaft von den unveränderlichen und allgemeinen
28 TPdG (1814). Ein vergleichbarer Gedanke findet sich in der allgemeinen Grammatik von Meiner: "[...] daß die Kunst zu denken und zu reden, folglich auch die Vernunftlehre und Sprachlehre aufs genaueste mit einander verbunden werden sollen [...] philosophische Sprachlehre ihre gemein-schafilichen Regeln aus der allgemeinen Beschaffenheit des menschlichen Denkens [...]." (1781: LXXVII). 29 TPdG (1814: 1). 30 Bedeutet dieses Vorzeitigkeitsverhältnis, daß die allgemeine Grammatik eine Gegebenheit a priori im Kantischen Sinne, also unabhängig von der Erfahrung ist? Heyse sagt hierzu ebenso wenig wie die Vertreter der allgemeinen Grammatik. 31 TPdG (1814: 66).
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Grundsätzen des gesprochenen oder geschriebenen Wortes in allen Sprachen"32 und einer Einzelgrammatik als der "Kunst, auf alle unveränderlichen und allgemeinen Grundsätze des gesprochenen oder geschriebenen Wortes die willkürlichen und gebräuchlichen Einrichtungen einer bestimmten Sprache" ("l'art d'appliquer, aux principes immuables & g£n6raux de la Parole prononcöe ou öcrite, les institutions arbitraires & usuelles d'une langue particulidre") anzuwenden. In der Terminologie Meiners, eines deutschen Beauz6e-Schülers, heißt die in vergleichender Perspektive arbeitende Einzelgrammatik "harmonische Sprachlehre"; ihre Aufgabe ist es, die Denkkategorien zu erarbeiten, deren Spiegelbild sie ist. Erstes Ziel der Heyseschen Grammatik ist die Strukturierung der der deutschen Sprache innewohnenden Regeln. In der ungebrochenen Nachfolge der normativen Grammatik stellt er fest: Wer also als Deutscher nur einigermaßen auf Bildung Anspruch machen will, der muß das Hochdeutsche rein und richtig oder fehlerfrey sprechen und schreiben, so wie es die deutsche Grammatik oder Sprachlehre erfordert.33
Diese Anschauung ist Bestandteil seiner Überlegungen zu den Einzelsprachen als solchen. Er hebt die große Verschiedenheit der Sprachen hervor und setzt sie durch ihr "Eigenthümliches" in Beziehung zur allgemeinen Grammatik. In diesem Sinne folgt er dem von Sylvain Auroux beschriebenen Geist der allgemeinen Grammatik: Wesensmerkmal einer Regel der allgemeinen Grammatik ist nicht ihre abstrakte Formulierung, sondern daß d i e in den D e f i n i t i o n e n d i e s e r A b s t r a k t e e n t h a l t e n e n V a r i a b l e n l i n g u i s t i s c h e r B e g r i f f e als mögliche Werte nicht Elemente einer bestimmten Sprache enthalten, sondern die aller Sprachen. Diese der Universalität der allgmeinen Grammatik notwendige Bedingung kann auch "Unabhängigkeitsbedingung der allgmeinen Grammatik gegenüber einzelsprachliche Vorkommnisse". 34
Syntax bildet sich ausgehend von beobachtbaren sprachlichen Fakten und macht die Faktizität der Sprache zum Untersuchungsgegenstand: Regeln werden aus der Erfahrung abgeleitet. Aber insofern also Sprache ein Abbild des Denkens ist, 32 Beauzöe/Douchet: Grammaire, in: Encyclopedie methodique: 189-197, hier 190: "la science raisonnee des principes immuables & ginöraux de la Parole prononcöe ou 6crite dans toutes les langues". 33 (Ebd.: 35). 34 Auroux (1979: 223f.), im Text hervorgehoben: "La caracteristique essentielle d'une regle de la grammaire genörale n'est pas d'etre formulöe en termes abstraits, c'est que les v a r i a b l e s de t e r m e s l i n g u i s t i q u e s c o n t e n u s d a n s les d ö f i n i t i o n s de ces a b s t r a i t s aient pour parcours de valeur non des 616ments d'une langue donn£e, mais ceux de toutes les langues. Cette condition nöcessaire ä I'universaliti de la grammaire gönörale peut encore etre dite "condition d'indöpendance de la grammaire gέnέrale par rapport ä la particularite de chaque langue". Plus loin Auroux cite Beauz6e: "Une grammaire particuli£re est l'art d'appliquer aux principes immuables et g0nöraux de la parole prononcöe ou öcrite les institutions arbitraires et usuelles d'une langue particuliere." (Beauzee, GG, priface) ("Eine Einzelgrammatik ist die Kunst, auf die unveränderlichen und allgemeinen Grundsätze des gesprochenen oder geschriebenen Wortes die willkürlichen und gebräuchlichen Regularitäten einer Einzelsprache anzuwenden.")
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unterliegt die Syntax ihren Forderungen, besonders in der Anordnung der Redeteile. Weder die Grammatik Heinsius' noch die Adelungs zeigen eine solch traditionelle Anschauung in ihren Formulierungen bezüglich des Stellenwerts einer Grammatik im Verhältnis zu den Gesetzen des Denkens. In diesem Punkt bedeutet Heyses Grammatik einen Rückschritt; sie reiht sich damit in den bestimmenden und wachsenden Einfluß der allgemeinen Grammatik und des Logikunterrichts zu Beginn des Jahrhunderts ein. Die normative, äußerst konventionelle Ausrichtung der Grammatik ist auch jene aller Grammatiken dieser Zeit, die sich nicht der von Grimm eingeleiteten Neuerung verschrieben, nämlich der Abfassung einer historisch-deskriptiven Grammatik.35 1.2.2.3. Regel, Sprachgebrauch und Analogie Heyse gründet die Aufstellung seiner Regeln auf drei Prinzipien, die sich regelmäßig in den der Grammatik von Port-Royal verpflichteten Sprachlehren finden, die "Analogie", die "Etymologie" und die "Euphonie": Ohne deutliche Einsicht in den Bau unserer Sprache, ohne gründliche Kenntniß alles dessen, was der Gebrauch oder die übereinstimmige Gewohnheit der bes-ten Schriftsteller mit genauer H i n s i c h t auf S p r a c h ä h n l i c h k e i t ( A n a l o g i e ) , auf A b s t a m m u n g ( E t y m o l o g i e ) und W o h l k l a n g ( E u p h o n i e ) zum Gesetz in der deutschen Sprache gemacht hat, wird man immer ungewiß seyn, ob man richtig oder unrichtig spricht und schreibt.36
Die Festsetzung einer Regel hängt also eng zusammen mit der Analogie, die zwischen den sprachlichen Formen besteht.37 Obwohl Heyse nicht weiter auf seine Analogiekonzeption eingeht, scheint es angebracht, die Definitionen aus der allgemeinen Grammatik zu erwähnen, zumal Grammatik, laut Beauzöe, ihrem Wesen nach analogisch ist. Nach Du Marsais ist Analogie zunächst "die Beziehung, eine Verbindung oder das Verhältnis, das mehrere Dinge miteinander haben" ("la relation, un rapport ou la proportion que plusieurs choses ont les unes avec les autres"). Auf die Sprache bezogen bedeutet dieses Prinzip für ihn den Ablauf der Bildung von Wörtern nach dem Vorbild bereits bestehender sowie den "Beweggrund unseres Denkens" ("motif de nos raisonnements"). Dennoch kann sie keine "Regel der Gewißheit" ("une rögle de certitude") sein, da es viele Ausnahmen gibt. In der Grammatik ist Analogie eine Ähnlichkeit oder Annäherungs-beziehung zwischen einem Buchstaben und einem anderen Buchstaben oder auch zwischen einem Wort und einem anderen
35 Zur Problematik des Verhältnisses von historischer Grammatik und Schulgrammatik vgl. unten, Kap. 3. 36 TPdG (1814: 35). Von Heyse hervorgehoben. 37 Einige wenige, den Anforderungen einer Schulgrammatik entsprechenden Betrachtungen zur Etymologie stehen im morphologischen Teil, die Euphonie wird im Zusammenhang mit der Construction im syntaktischen Teil behandelt.
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse Wort oder schließlich zwischen einem Ausdruck, einer Wendung, einem Satz und dem entsprechenden andern. 38
Für seinen Schüler Beauzee ist Analogie im allgemeinen die Kunst, über eine Gleichheit der Beziehungen zwischen verglichenen Dingen nachzudenken: Die Analogie ist das Licht der Sprachen; denn dadurch daß sie alle ähnlichen Fälle auf allgemeine Grundsätze zurückführt, bringt sie alle diese lächerlichen Ausnahmen zum Verschwinden. 39
Analogie soll auch den Gebrauch verbreiten oder bewahren. Zum einen verdankt sie ihm "die ersten nachzuahmenden Beispiele" ("les premiers exemples qu'elle doit imiter"), zum andern ist sie ein von der Vernunft eingesetztes Mittel, deren Autorität sie unterstellt ist: [...] es ist richtig und notwendig, daß die Vernunft dem Gebrauch zu Hilfe kommt: durch ständige Nachahmung der ersten Entscheidungen des Gebrauchs, die mit jedem der sie bedingenden Umstände verglichen werden, paßt die Vernunft unter Stützung und Stärkung des Gebrauchs die Sprache ihren eigenen Vorstellungen an [...].40
Heyse kommt aber nicht wie Beauzöe auf die Gründe zu sprechen, die den Gebrauch "zweifelhaft" ("douteux") machen: Schwierigkeiten wegen der Aussprache, wegen eines nicht festgelegten Gebrauchs, wegen der Entwicklung der Sprache und ihrer Diachronie ("ständige Veränderungen", "changements continued"). Er benennt zwar die Beziehungen zwischen Regel, Gebrauch und Analogie, aber er schlägt keine klarere Definition vor. Analogie ist für ihn ein im Dienste der Synchronic stehendes Mittel zur Bestimmung des Gebrauchs durch Regeln. 1.2.2.4. Gebrauch und "Vernunftlehre": der Grammatiker als Gesetzgeber In der Einleitung zu seiner TPdG von 1814 benutzt Johann Christian Heyse auch juristische Metaphern zur Beschreibung der normativen Aufgabe einer Grammatik, was den Gebrauch betrifft, und zur Festlegung der Rolle des Grammatikers. Er knüpft dabei an verschiedene Interpretationen an, ohne eine zu bevorzugen. Die Ausgabe von 1827 geht ausführlicher auf diese Frage ein.
38 Du Marsais: Analogie, in: F.ncyclopedie methodique: 176: "En Grammaire, l'Analogie est un rapport de ressemblance ou d'approximation qu'il y a entre une lettre & une autre lettre, ou bien entre un mot & un autre mot, ou enfin entre une expression, un tour, une phrase, et un autre pareil." 39 Beauzde: Analogie, in: Encyclopedie methodique: 176: "L'Analogie est la lumiere des langues; car, en ramenant ä des principes gineraux tous les cas semblables, eile fait disparoitre toutes ces exceptions ridicules." 40 "[...] il est juste & necessaire que la raison vienne au secours de l'Usage: et c'est par l'imitation constante des premiires döcisions de l'Usage, comparees ä chacune des circonstances qui les ont occasionntes, que la raison, secondant et fortiftant l'Usage, adapte le langage ä ses propres vües." (Ebd.: 178)
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Der Gebrauch steht bei Heyse an erster Stelle, er ist "oberster Gesetzgeber"41. Heyse stützt sich dabei auf die Tradition der Horazischen Poetik, die ihn bereits als "obersten Gesetzgeber" anerkannte.42 Für Heyse kann der Gebrauch tyrannische Formen annehmen, so auch bei Du Marsais, der die vom Gebrauch diktierten Gesetze oft als Gesetze eines "sonderbaren Tyrannen" ("d'un tyran bizarre") bezeichnet. Die Sprachlehrer dürfen ihm jedoch weder blind folgen noch jedes Vorkommen der geschriebenen Sprache gutheißen, im Gegenteil, sie werden mit besonnenen "Richtern"43 verglichen, die den Regeln der Vernunft Geltung zu verschaffen haben: Da der Sprachgebrauch als oberster Gesetzgeber in jeder Sprache, wie jeder Tyrann, oft gegen die Vernunft und bessere Einsicht verstößt: so muß er es sich auch [...] gefallen lassen, wenn man ihn hier und da entthront, wo er etwas Widersinniges beschützt oder gebietet. [...] Mit Recht werden demnach die durch Mißbrauch in eine lebende Sprache gebrachten Unrichtigkeiten von einsichtsvollen Sprachlehrern nach den Regeln der Vernunft immer mehr geprüft und verbessert.44
Die Autorität des Gebrauchs wird demzufolge gefestigt durch das Eingreifen gelehrter Männer. Er ist nur eine vorübergehende, zeitige Autorität45, die der übergeordneten Autorität der Vernunft weichen soll. Obgleich der Grammatiker sich ihrem Schiedsspruch stellen muß, dürfen die Regeln des Denkens der Sprache nicht willkürlich von der Grammatik aufgezwungen werden. Im Gegenteil: Nur das, was in der Natur der Sprache gegründet und als solches einmal anerkannt ist, macht den wahren bleibenden Sprachgebrauch aus, dem das Recht der Unverletzbarkeit gebührt.46
Heyse überlegt den Gebrauch anders als Beauzäe. Dieser verwendet keine juristische Metapher; er bringt den Gedanken der Tyrannei des Gebrauchs in Verbindung mit der regulierenden Kraft der Analogie, mit der Zuständigkeit der "Gebildeten" ("gens de lettres") und der "Meister der Kunst" ("maitres de l'art"). Er legt die jeweiligen Aufgaben von Gebrauch und Analogie klar fest. Der Gebrauch hat zunächst das Recht, erste Beispiele zu liefern, nach denen die
41 TPdG (1814: 35), Anmerkung. 42 Auf Horaz wird unten, Kap. III näher eingegangen, da Carl Wilhelm Heyse ihn ausdrücklich zitiert. 43 TPdG (1827: 82), Anmerkung. Die Metapher des Richters ist auch bei Marmontel anzutreffen: "[...] man kann also feststellen, wie der sich festigende Gebrauch zu einer anerkannten Autorität werden konnte; und wie die natürlichen Richter der verwendeten Sprache, die in der Schule der Meister der geschriebenen Sprache ausgebildet wurden, es wagen konnten, sie zu beurteilen." (Usage, in: Encyclopedie methodique. 609: "On voit alors comment l'Usage, en se fixant, put aquerir une autoritö lögitime; & comment les juges naturels de la langue usuelle, formes ä l'ecole de maitres de la langue ecrite, purent pretendre ä juger celle-ci.") 44 TPdG( 1827) 45 (Ebd.: 83), Anmerkung. 46 (Ebd.: 82).
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Analogie vorgehen soll; dann soll er kraft seiner Autorität die Entscheidungen bestätigen: Die Analogie hat das Recht 1.) durch allgemeine, auf alle ähnlichen Fälle anzuwendende Regeln die ersten Entscheidungen des Gebrauchs auszudehnen; 2.) mittels dieses Grundsatzes die Vorgaben des Gebrauchs zu lenken, Abweichungen davon zu verhindern oder ihnen Einhalt zu gebieten und laut gegen seine Tyrannei zu protestieren, falls er darauf beharrt, die hellen und einfachen Wege der Vernunft zu verlassen [...]. 47
Zur Unterstützung seines Gedankens zitiert Heyse in einer Anmerkung ausführlich seinen Kollegen SeidenstUcker. Dieser bestimmt die Rolle der Grammatik als solcher und die der Schulgrammatik im Verhältnis zum Grammatiker. Er verwendet das gleiche Vokabular wie Heyse: Die Grammatik soll der Sprache keine Gesetze aufdringen, vielmehr alle ihre Gesetze aus der Sprache entnehmen.48
Dem Gebrauch mißt er den gleichen Wert bei: Da ein herrschender Sprachgebrauch das deutliche Urtheil, oder wenigstens das dunkle Gefühl der Großzahl einer Sprachgesellschaft ausspricht: so ist er in so fern [...] als vorläufiger Gesetzgeber zu achten.
Die juristischen Metaphern bekommen allerdings eine andere Bedeutung. Es ist Aufgabe des Grammatikers, den Gebrauch zu beurteilen und eine Steuerungsfunktion zu übernehmen. Im Unterschied zu Heyse, für den der Gebrauch oberster Gesetzgeber ist, sieht SeidenstUcker ihn als "obersten Gerichtshof' an; dem steht ein "Gesetzgebungshof' gegenüber; diesen bilden die Grammatiker, Schriftsteller und Sprachgesellschaften, die die alten Gesetze überarbeiten, vervollständigen, widerrufen, und neue schaffen sollen.49 Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Instanzen des Gebrauchs, des Grammatikers und der Vernunft bei Heyse und SeidenstUcker lassen sich wie folgt schematisieren:
47 Beauzöe: Analogie in: Op.cit.: 178: "[...] le droit de l'Analogie est, 1°. d'&endre, par des rögles gdnerales applicables ä tous les cas semblables, les premieres d6cisions de l'Usage; 2°. de diriger sur ce principe les productions de l'Usage, d'en empecher ou d'en arreter les öcarts, & de reclamer hautement contre sa tyrannie, s'il s'obstine ä quitter les voies lumineuses & simples de la raison [...]." 48 Zit. nach Heyse in: TPdG( 1827: 82), Anmerkung. 49 TPdG (1827: 83), Anmerkung. Über diese Aufgabe des Grammatikers als Mitglied von Sprachgesellschaften vgl. Kap. 1.4.
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GRAMMATIK
SEIDENSTÜCKER
HEYSE
NORM UND SPRACHGEBRAUCH
höchster Gerichtshof
Schriftsprache Hochdeutsch als Selbstgebilde
vorläufiger Gesetzgeber ROLLE
Gesetzgebungshof
Grammatiker als Gesetzgeber und Richter geistige Autorität Regeln der Vernunft
ZWECK
richtig schreiben, lesen sprechen
richtig schreiben, lesen, sprechen
Beim Erstellen von Regeln gibt Heyse dem Grammatiker den Vortritt, da der Gebrauch willkürlich sei. Er zitiert Adelung allerdings nicht, der den Grammatiker als "Sprecher und Dolmetscher des Gebrauchs" versteht. Die ihm von der Vernunft verliehene geistige Autorität erlaubt es dem Grammatiker, als Richter und Gesetzgeber einzugreifen, ohne jedoch dem Wesen der Sprache ("nature de la langue") zu widersprechen. Obwohl die juristische Metapher durch die Tradition vorgegeben ist, übernimmt Heyse das Denken Du Marsais', Beauzöes oder Seidenstückers nicht.
1.2.3. Didaktischer Zweck der Grammatik - Grammatik als Kunst und Wissenschaft Mit der strengen Bestimmung, den richtigen Ausdruck in der gesprochenen wie in der geschriebenen Sprache zu vermitteln, ist auch der didaktische Zweck festgelegt. Die Aufstellung von Regeln begründet ein korrektes und reines Deutsch sowie die Grammatik als grammatische Kunst ("art grammatical"). Die Grammatik muß den Anforderungen der Sprachrichtigkeit genügen, ein Grundsatz, den bereits die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts nach dem Modell der "Sprachreinheit" und "Sprachrichtigkeit" des Französischen vertraten.50 Seit 1814 verweist die Idee des Richtigen in den Grammatiken Heyses auf die Entsprechung zu bestehenden Regeln, während die Idee der Reinheit ein 50 Alan Kirkness (1975) und Dirk Josten (1976).
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Beleg für die Besinnung auf den deutschen Geist ist und damit eine Abkehr von der Dominanz anderer europäischer Nationen, insonderheit Frankreichs, bedeutet. 51 Die besten "Sprachkenner" sind für Heyse die Schriftsteller und Grammatiker: Gegenwärtige Sprachlehre stellt also nach dem jetzt herrschenden Sprachgebrauch der besten Schriftsteller und Sprachkenner unserer Nation die Grundsätze und Regeln auf, wie man Hochdeutsch, rein und richtig sprechen, lesen und schreiben soll.52
Heyse schließt damit wortwörtlich an die vom Frankfurtischen Gelehrtenverein unter der Leitung Grotefends bestätigten Positionen an. Heyse bezeichnet ebenfalls in der Mitte seiner Einleitung mit dem Begriff "Erkenntniss-Lehre" Gegenstand und Zweck seiner Grammatik: "[...] Erkenntniss-Lehre eines richtigen und schönen Ausdrucks im Reden und Schreiben." 53 Es liegt nahe, diesen Ausdruck mit der grundlegenden Unterscheidung Beauzees und Douchets von Grammatik als Wissenschaft ("science grammaticale") und Grammatik als Kunst ("art grammatical") in Verbindung zu bringen: Die allgemeine Grammatik ist eine Wissenschaft, weil ihr Gegenstand nichts anderes ist als das theoretisch-kritische Nachdenken Uber die unveränderlichen allgemein gültigen Prinzipien des Worts; die Grammatik einer Einzelsprache ist eine Kunst, weil sie die praktische Anwendung der willkürlichen und gebräuchlichen Regularitäten einer Einzelsprache auf die allgemeinen Prinzipien des Worts ins Auge faßt. 5 4
Der Begriff "Erkenntniss-Lehre" legt zwar den der Wissenschaft nahe (im Verständnis der heutigen Zeit sogar den von Teleologie), Johann Christian Heyse gehört jedoch dadurch, daß er sich auf eine Einzelsprache, das Deutsche, bezieht, eindeutig in den Bereich der grammatischen Kunst; deshalb auch der Ausdruck "Lehre". Das höhere Ziel dieser Kunst sieht er in der Erkenntnis. Beide Begriffe ergänzen sich, insofern als Grammatik als Wissenschaft und Grammatik als Kunst sich gegenseitig ergänzen: Die Kunst kann der Praxis Uberhaupt keine Sicherheit geben, wenn sie nicht vom Licht der Spekulation erhellt und geleitet wird [...]. 55
Johann Christian Heyses Grammatikkonzeption ist ganz dem Geiste der französischen Tradition der allgemeinen Grammatik verpflichtet. Seine Bezug-
51 52 53 54
Vgl. Kap. 1.3. TPdG (1814: 35). TPdG (1814: 29). Beauzöe/Douchet: Grammaire, in: Op. cit.: 190: "LaGrammaire generale est une Science, parce qu'elle n'a pour objet que la speculation raisonnöe des principes immuables & gendraux de la Parole; une Grammaire particuliere est un Art, parce qu'elle envisage ('application pratique des institutions arbitrages & usuelles d'une langue particuliere aux principes genöraux de la Parole." 55 Ebd. Über Wissenschaft und grammatische Kunst vgl. Auroux (1979: 213f.): "L'Art ne peut donner aucune certitude ä la pratique, s'il n'est eclaire & dirige par les lumiöres de la speculation [...]."
Grammatisches Denken
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nahmen sind implizit, bis auf die großen Namen der deutschen Tradition wie Seidenstücker oder Adelung. Ohne Theoretiker zu sein, gründet Heyse seine Überlegungen auf die Begriffe Regel, Analogie und Gebrauch, er verwendet die juristischen Metaphern seiner Vorgänger, unterstreicht dabei aber die Rolle des Grammatikers als Richter und Gesetzgeber. Er berücksichtigt auf diese Weise als aktives Mitglied voll und ganz den normativen Geist der Sprachgesellschaften, die man mit Beratungsversammlungen vergleichen kann, die sich auf einer gemeinsamen Basis die Festlegung der deutschen Hochsprache vorgeommen haben, welche trotz ihrer Künstlichkeit als "Selbstgebilde" ein eigenes Wesen und Leben hat. Heyse wirkt vor allem in der Gestaltung der Schulrammatik innovativ: Seine Darstellung der Regeln veranschaulicht er systematisch durch Beispiele, daran schließen wohlüberlegt im Verlauf oder am Ende des Kapitels entsprechende Übungen an. Er teilt nicht wie sein Vorgänger Heinsius Theorie und Praxis auf zwei getrennte Bände, deren Aufbau zudem verschieden ist. So ist die Orthographie zusammen mit der Interpunktion fester Bestandteil der Grammatik. Die Kapitelfolge unterliegt nicht theoretischen, sondern pädagogischen Forderungen, es zählt nur, was der Schüler lernt.
2. Syntax Beim ersten Durchlesen der Grammatiken Johann Christian Heyses hat man den Eindruck, daß der Syntax nur ein geringer Anteil beschieden ist. Von den siebzehn Kapiteln der TPdG von 1814 behandeln elf die Redeteile, davor stehen drei Kapitel zur Phonetik, Orthographie und Interpunktion, danach zwei zur Constructionslehre und zu grammatischen Figuren. Der Begriff Syntax wird nur gelegentlich verwendet, und zwar in Kapitel II über die Redeteile im allgemeinen und in Kapitel XVI zur Wortfolge oder der mittelbaren Verbindung der Wörter zu mehr oder weniger einfachen Sätzen und zu Perioden oder Gliedersätzen, in Klammern fugt Heyse Constructionslehre hinzu. Das gleiche gilt für die Ausgaben der anderen Grammatiken bis 1838. Die Kapitel der Grammatik Johann Christian Heyses wurden ab 1825 von seinen beiden Söhnen Theodor und Carl Wilhelm überarbeitet. Sie teilten sich die Aufgabe, so daß Theodor die Abschnitte zu den Redeteilen, zu Substantiv, Adjektiv, Adverb, Verb, zur Konjunktion und zur Syntax neu faßte, während Carl Wilhelm diejenigen zu Artikel, Pronomen, Präposition, Interjektion und auch zur Metrik umarbeitete. Trotz des äußeren Anscheins spielt die Syntax eine sehr wichtige Rolle bei der systematischen Zusammenführung der beiden Bereiche Morphologie und Syntax. Es soll zunächst die allgemeine Definition der Syntax dargestellt werden, dann folgen die Rede- und Satzteile und die Satzverknüpfungen. Läßt sich Heyses Verständnis von Grammatik in die direkte Nachfolge von Beauzie und Du Marsais stellen, so haben seine Überlegungen zur Syntax andere Vorbilder: Den allgemeinen Rahmen stecken Untersuchungen ab, die Abb6 Girards Wahren Prinzipien der französischen Sprache (Vrais Principes de la langue frangaise, 1747) entnommen sind. Hinzu kommen Einzelanalysen, die er von verschiedenen Briefpartnern übernommen hat.
2.1. Heyses allgemeine Bestimmung der Syntax 2.1.1. Semantisch-topologische Definition, niedere und höhere Syntax Heyses erste Bestimmung der Syntax ist eine fast wörtliche Übersetzung der von Nicolas Beauzöe in der Encyclopedie methodique vorgeschlagenen Definition:
Syntax
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Wenn die Wörter als Theile der Rede einen verständlichen Sinn geben sollen, so müssen sie gehörig mit einander verbunden werden. Dieses geschieht nach gewissen Regeln, deren Inbegriff Syntax oder Wortfügung heißt. 56 [...] Syntax ist die Kunst, die zum Ausdruck eines Gedankens vereinten Wörter in eine ihm entsprechende Ordnung zu bringen. 3 7
Syntax wird definiert als Verbindung von Wörtern und Wortgruppen unter dem semantischen Gesichtspunkt eines Gesamtverständnisses. Während Beauzöe bereits am Anfang präzisiert, daß die Syntax sowohl die Stellung der Wörter als auch ihre jeweiligen Formen festlegen muß, und Syntax in Opposition zu Konstruktion setzt - diese bezeichnet die analytische Ordnung der Wörter in einem Satz -, geht Heyse erst in seinem XVI. Kapitel auf diesen Gedanken ein. Er unterscheidet zwei Arten von Syntax: - eine "niedere Syntax" der Kombination von Wörtern auf der Ebene der Flexion und der Rection. Es handelt sich hier um die grundsätzliche klassische Unterscheidung zwischen akzidentiellen (oder "zufälligen") Formen und Rektion, wie sie in der aristotelischen Tradition auch in der Grammatik des Abb6 Girard zu finden ist. Dieser faßt unter Rektion sowohl Konkordanzphänomene wie Rektion im engeren Sinn, Heyse dagegen trennt sie58. - eine "höhere Syntax": Sie [die Constructionslehre oder Topik] ist gewissermaßen die höhere Syntax oder Wortfllgungslehre nach den aus der Erfahrung abgeleiteten Regeln, indem sie noch weit mehr, als die Rectionslehre [...] den Gesetzen des Denkens oder dem Einflüsse der Vernunftlehre (Logik) unterworfen ist. 59
Während die niedere Syntax auf der Ebene der inneren Syntax funktioneller Gruppen angesiedelt ist, untersucht die höhere Syntax die Kombination dieser Gruppen sowie die syntaktischen Vorgänge auf Satzebene. Erstere spricht im Rahmen der einzelnen Redeteile von Wörtern und ihren Verbindungen zu kleineren Einheiten (die nicht unbedingt dem entsprechen, was heute unter 'Syntagmen' verstanden wird), und letzere untersucht die Verbindungen von Wörtern zu satzübergreifenden Einheiten. Der Aufbau der TPdG zeigt die Aufmerksamkeit, die Heyse diesen beiden Teilen der Syntax widmet: Jeder Satzteil wird zunächst unter dem Blickwinkel der niederen Syntax, dann der höheren Syntax betrachtet. Auf dieser Ebene liegt auch die Abfolge der Sätze, also die Verknüpfung der Sätze miteinander. Die Unterscheidung zwischen "Construction" und "höherer Syntax" ist noch sehr vage:
56 77»dG(18l4:75). 57 Beauzöe: Syntaxe, in: Encyclopedic methodique: 484: "[...] la Syntaxe est l'art d'etablir l'ordre convenable entre les mots reunis pour l'expression d'une meme pensäe." 58 TPdG (1814: 73-77). 59 (Ebd.: 495).
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Die Lehre von der Folge der Wörter und Satze, oder was einerley ist, die Lehre von dem Orte, den sowohl die Wörter, als die Sätze in einer Rede einnehmen, ist das, was man auch wohl mit einem Worte Topik und Constructionslehre nennt.60
Wenn auch Heyse die Verwendung der Begriffe "Construction" und "Syntax" nicht klar trennt, macht er dieselben Unterschiede wie Abb6 Girard, und seine Definitionen sind denen der Vrais principes und der Encyclopedic methodique sehr ähnlich. Es heißt dort: "Syntax oder Konstruktion ist die Anordnung der Wörter in der Abfolge des Satzes" ("Syntaxe ou construction est la construction des mots dans le tour de fräse."). 61 Die Bestimmung von Syntax ist also im wesentlichen stellungsgebunden, es interessiert weniger die gegenseitige Abhängigkeit der Satzteile als die Reihenfolge ihres Auftretens im Satz. Die Begriffe "Wortfügung", "Syntax", "Constructionslehre" werden fast synonym verwendet.
2.1.2. Eine Morpho-Syntax Trotz der verschiedenen Definitionen von Syntax bleibt das Wort die Bezugsgröße der Überlegungen und als Redeteil Gegenstand der grammatischen Untersuchungen. Heyses Vorgehensweise belegt dies: Nach seinem allgemeinen Kapitel über die Redeteile widmet er sich deren genauer Analyse, um dann auf die Satzebene zu übergreifen. Seine Anordnung folgt dem Aufbau der Grammatik Adelungs oder Girards, die mit zwei einleitenden Kapiteln zu den Wortarten ("esp£ces de mots") und zur Syntax beginnen; dann werden in einem ersten Teil die Redeteile behandelt, in einem zweiten und dritten der Satz und die Satzarten. Der Satzlehre wird aber bei Heyse ein geringerer Raum zugeteilt. Es scheint daher, als bedeute Heyses Grammatik im Vergleich zu derer Adelungs (1781, 1786), die ein Viertel ihres Umfangs der Syntax widmet, einen Rückschritt. Das relativ kurze Kapitel zur "Construction" darf jedoch nicht täuschen. Die ausführliche Entfaltung jedes Redeteils ist eigentlich dessen syntaktische Darstellung. Heyse verbindet morphologische und syntaktische Ebene, indem er in pädagogischer Absicht einer inneren Kohärenz folgt. Damit steht er in Opposition zu den Absichten anderer Grammatiker, die auch für die Schule geschrieben, Syntax und Morphologie jedoch getrennt haben: Gewöhnlich trennt man die Wortfügungslehre oder Syntax von der Etymologie oder der Betrachtung der einzelnen Redetheile, ihrer Bildung und Beugung. Da jedoch diese ohne Beyspiele nicht deutlich gemacht werden kann; diese Beyspiele aber ohne einige vorangegangene Kenntniß, wenigstens von der Rectionslehre oder der niedern Syntax nicht verstanden werden können: so wird man das Nöthigste davon schon hier am rechten Orte finden. 62
60 Ebd. 61 Vgl. oben, Anm. 2, und (1747: 27). 62 TPdG (1814: 75). Vgl. auch (1814, Vorbericht·. VI).
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Heyse betrachtet es als unmöglich, Morphologie und Syntax völlig zu trennen; er setzt sich bewußt vom Vorgehen seiner deutschen Kollegen Heinsius, Bernhardt oder Steinheil ab, die zunächst in einem morphologischen Teil die Wortarten und Satzteile untersuchen, dann den syntaktischen Teil anschließen. Adelung setzt jedoch in seinem morphologischen Teil syntaktisches Wissen voraus. In seiner "Morphologie" des Substantivs muß er Beispiele auf substantivischer Basis anführen, die Redeteile aufiiehmen, etwa den Artikel, die er selbst noch gar nicht behandelt hat. Seine Beispiele zum Adjektiv setzen auch die Kenntnis ihrer Rektion und der Regeln ihrer Angleichung voraus. 63 Heyse bezieht dagegen in sein Kapitel über das Substantiv die Deklination mit ein, wobei er besonders die Endungen als morphologische Zeichen ihrer syntaktischen Funktion untersucht, und er interpretiert die Bedeutung der einzelnen Kasus. Adjektiv und Adverb werden auf die gleiche Weise abgehandelt. Hier kommt eine andere Frage zum Vorschein: Wie soll man sie voneinander unterscheiden, erkennen, daß Adjektiv und Adverb zwei verschiedenen Klassen angehören, wenn das Kriterium der Unveränderlichkeit dazu nicht ausreicht und ihre Klassifikation im Deutschen funktionale Gesichtspunkte berücksichtigen muß? In seinem Verb-Kapitel behandelt Heyse ζ. B. die Beziehung des Verbs zum Substantiv unter Verweis auf die verschiedenen Satzglieder. Der Aufbau von Heyses Grammatik ist also insofern gerechtfertigt, als er den Schwerpunkt auf die morphologisch wie syntaktisch analysierten Satzteile legt. In diesem Sinne ist Heyse 'ehrlicher' als andere Grammatiker. Er verbindet bewußt Morphologie und Syntax und betreibt damit eine Form der Analyse, die aber nur in aller Vorsicht mit dem, was heute als Morphosyntax bestimmt wird, in Verbindung gebracht werden könnte: Weder Wortgefiige noch Syntagmen sind Grundeinheiten seiner Reflexion, und in der damaligen Reflexion war die semantische Ebene ausgeklammert 64 . Zum Unterschied soll weiterhin die Rechtschreibung Morpho-Syntax (nicht Morphosyntax) beibehalten werden.
63 (1782: 110 und 117f.). 64 Gegen Ende des Jahrhunderts entwickelte Ries (1894: 47) aufgrund einer kritischen Beschreibung anderer Syntaxtheorien seines Jahrhunderts (darunter die logische Tradition eines Becker oder Herling, die Reduzierung der Syntax auf eine Bedeutungslehre bei Miklosisch, Scherer oder Behaget, die nicht eindeutige Position der Mischsyntax, und die von Steinthal, Benary und Haase vorgenommene Trennung von Bedeutungslehre und Formenlehre) eine Auffassung der Syntax, die das "Wortgefiige" als Grundeinheit nach dem Laut und dem Wort bestimmte. Dieses sollte wiederum nicht systematisch mit dem später entwickelten Begriff "Syntagma" identifiziert werden. Als Begriffsbestimmung der Morphosyntax im heutigen Sinne sei hier die schlichte Definition von Confais und Schanen (1986:8) zitiert: "Es ist heute nicht selten, daß Morphologie und Syntax unter dem Begriff Morphosyntax vereint werden, dessen Ziel die Analyse von Syntagmen ist, d. h. von aufeinander folgenden syntaktischen Einheiten." Sie gründet auf der Reflexion von Jean Fourquet, der von der erweiterteten Ebene der semantischen Syntax ausgeht durch die Einbeziehung der Größe "Satz", durch die Definition des Syntagmas als Einheit von Signifikaten ("union de signifies") und durch die Hierarchie von Konnexionen. Dazu Fourquet (1979: 118 sq.), Tesniere (1969: 13). Zur Endstellung des Verbs vgl. unten.
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2.2. Niedere Syntax Mit dem dritten Abschnitt seiner TPdG widmet Johann Christian Heyse den Redeteilen ein eigenes Kapitel. Dieser Aufbau ändert sich zwischen 1814 und 1827 nicht; danach wird das Kapitel zusammen mit dem über die Construction von seinem Sohn Theodor vollständig überarbeitet. Beide Heyses gehen sehr traditionell vor, sie unterscheiden nicht eindeutig zwischen der Analyse der Syntagmen und der Analyse der Redeteile. Im folgenden soll versucht werden, die beiden Ebenen zu trennen. Bei der Bestimmung der Redeteile ist der Einfluß Adelungs und Meiners zu spüren, denn Johann Christian und Theodor Heyse operieren mit grammatischen und logischen Überlegungen zugleich. Pierre Swiggers hat in seinem Aufsatz La grammaire de Port-Royal et le parallelisme logico-grammatical (Die Grammatik von Port-Royal und der logisch-grammatische Parallelismus) eine vollständige Darstellung der Beziehungen zwischen diesen beiden Ebenen der aus Port-Royal hervorgegangenen allgemeinen Grammatik gegeben; Sylvain Auroux (1992) hat Entsprechendes für die Grammatik von Beauzöe geleistet.
2.2.1. Redeteile - Begriffsanalyse in der Nachfolge der allgemeinen Grammatik 2.2.1.1. Allgemeine Begriffsbestimmung Betrachtet man die Untersuchung der Redeteile zwischen 1814 und 1827, so stellt man eine große Übereinstimmung und Kontinuität im Denken von Johann Christian und Theodor Heyse fest, obwohl der Titel des Kapitels über die Redeteile zwischen diesen Jahren spürbare Änderungen erfährt: Verschiedene Arten der Wörter und Redetheile (1814) und Verschiedene Arten der Wörter (gewöhnlich Redetheile, richtiger Sprachtheile) nach ihrer Bedeutung und ihrem gegenseitigen Verhältnisse (1827). Heyse folgt bei seiner allgemeinen Bestimmung der Redeteile der Tradition der spekulativen Grammatik und grenzt sich in dieser Hinsicht von seinen Kollegen nicht ab. Seine Ausführungen zum Wort sind sehr knapp. Der Begriff der Redeteile basiert auf der Vorstellung vom Wort und auf den Verbindungen zwischen Denken, Welt und Sprache. Das Denken geht der Sprache voraus65, und die Sprache ist ihm untergeordnet. Der Zahl der Begriffe entspricht die gleiche Zahl von Arten von Redeteilen. Eine geringere Anzahl von Begriffen hat eine geringere Anzahl von Wortarten zur Folge. Heyses Darstellung legt nahe, daß es eine völlige Entsprechung von Begriffen und "Arten e'er Wörter" gibt. Sprache ist die dritte Instanz in einer zunächst zwischen Welt und Denken hergestellten Beziehung. Auf der diskursiven Ebene sagt die Sprache mittels der Wörter das Denken über die Welt aus. Zwischen 65 Vgl. oben, Kap. 1.
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den drei Ebenen Sprache, Denken und Welt entsteht eine Beziehung der Isomorphie. Entschiedener als sein Vater versteht Theodor Heyse Sprache als Wiedergabe von Kategorien des Denkens ("Vorstellungen"): Die Sprachlehre hat es [...] nicht mit den Worten zu thun, sofern sie eine zusammenhängende Rede bilden, sondern mit den Wörtern, sofern sie Theile der Sprache sind. 66
Die "Worte" stehen auf der Redeebene, die "Wörter" werden verstanden als Wortklassen. "Worte" sind "hörbare Ausdrücke einzelner Vorstellungen" 67 , damit wird der Begriff für Theodor Heyse gleichbedeutend mit "Redetheilen". Seine Untersuchung ist dadurch stringenter als die von 1814 oder 1820, wo Johann Christian Heyse den Begriff Wörter noch unterschiedslos zur Bezeichnung des Gesprochenen, der Einheiten der Parole verwendet, wie aus seinem allgemeinen Kapitel über die Redeteile 68 hervorgeht. In logischer Konsequenz kann der Begriff "Satztheile" nicht mehr zur Bezeichnung der Redeteile dienen. Theodor Heyse zieht deshalb die Synonyme "Wortarten" oder "Sprachtheile" vor. Wie der Name sagt, sind sie Zeichen von Begriffen auf der Ebene der Langue: Am besten nennt man also die verschiedenen Wortformen der Sprache, sofern sie Zeichen von Begriffen sind - Wortarten oder Sprachtheile. 69
Die Wortklasse ist das Zeichen einer begrifflichen Ordnung, es sind nicht die Lexeme selbst. Hierin zeigt sich die klassisch gewordene Unterscheidung der spekulativen Grammatik zwischen den "modi significandi" (die in Theodor Heyses "Sprachtheilen" zu erkennen sind) und den "modi intellegendi" (bei Heyse "Begriffe"), wie sie bei Thomas von Erfurt in seinem Werk De modis significandi sive grammatica speculativa (1350) zu finden ist. Anders als Beauζέε, der eine Theorie des Zeichens und des Worts ausarbeitet, geht Theodor Heyse jedoch nicht auf die Seinsweisen der Welt ("modi essendi"), auf die aktiven und passiven strukturellen Eigenschaften des Begriffs ein ("modi intellegendi activi", denen die "modi intellegendi passivi" entsprechen), auch nicht auf Etappen der Versprachlichung, die den Lauten ("voces") Bedeutungsformen 70 verleiht, kraft derer sie zu Wörtern ("dictiones") und Redeteilen ("partes orationis") werden.71 Bei Beauzöe heißt die semantische Begriffsebene des sprachlichen Zeichens "signification formelle" ("formale Bedeutung"). Johann Chris-
66 67 68 69 70
TPdG (1827: 125), Anmerkung. Zur Frage der Isomorphie bei Theodor Heyse vgl. 2.4.2.2. Ebd. TPdG( 1814: 66f.). TPdG (1827: 125), Anmerkung. Es kann hier nicht naher auf diese Theorie und die ihr zugrunde stehende Dreitieilung von Sein/Denken/Sagen eingegangen werden. Die Bedeutung wird inhaltspezifisch gedacht; sie setzt sich auch aus einigen den strukturellen Eigenschaften entsprechenden Bezeichnungsweisen zusammen. Vgl. dazu Arens (1955), Pinborg (1967), Rosier (1983). 71 Vgl. Irfene Rosier (1983); doch die Modisten betrachten die Wortklassen nicht gesondert.
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tian Heyses Darstellung und jene seines Sohnes sind nicht die eines Theoretikers, deshalb fallen sie auch weit weniger explizit aus als die von Beatme oder Girard. Die "Welt" wird als Gegebenheit gesetzt, die Begriffsbildung durch das Denken nicht näher ausgeführt.
2.2.1.2. Die verschiedenen Redeteile Bei der Darstellung der Redeteile gilt es, zwei Zeitabschnitte zu unterscheiden: 1814 hält sich Johann Christian Heyse im großen und ganzen an die für die Grammatiker Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts maßgebende Klassifizierung der Sprachlehre Adelungs. 1827 unternimmt Theodor Heyse eine neue Einteilung. Im Zeitraum zwischen 1814 und 1825 stellt Johann Christian Heyse zehn Redeteile zusammen. Wie bei Heinsius wird das noch von Adelung behandelte Partizip als Redeteil ausgeschlossen; schon Beauzöe und Girard hatten darauf verzichtet, es in ihre Klassifikation aufzunehmen. Die neun Redeteile im eigentlichen Sinn sind begrifflicher Art, während der zehnte, die Interjektionen, Gefühle mitteilen. Die implizite Unterscheidung zwischen Begriffs- und Empfindungswörtern wird nur in einer Anmerkung angesprochen, nicht ausführlich abgehandelt wie bei Heinsius, Girard oder Beauz^e, die die beiden Klassen gleich vorab trennen. Die Klassifikation ist folgende: 1) Substantiv oder Hauptwort 2) Artikel oder Selbstandswort (Geschlechtswort) 3) Pronomen, Fürwort oder Personwort (eig. nur eine Spezies des Substantivs) 4) Adjectiv, Beschaffenheit- und Eigenschaftswort 5) Numerale oder Zahlwort 6) Verbum oder Zustandswort (Zeitwort) 7) Adverbium oder Umstandswort 8) Präposition, Verhältnißwort oder Vorwort 9) Conjunction oder Bindewort 10) Interjection oder Empfindungswort.72
Die Substantivgruppe und ihre Stellvertreter erhalten eine größere Bedeutung. Entgegen der Behauptung vieler Kritiker73 rechtfertigt Heyse seine Einteilung, die weder unüberlegt noch willkürlich ist. Sie richtet sich nach der syntaktischen Funktion der Elemente auf Satzebene: So wird z.B. der Artikel zur Nominalgruppe gerechnet; das ihm gewidmete Kapitel muß folglich nach dem Substantivkapitel stehen. Ebenso wird das Pronomen als Stellvertreter des Substantivs nach diesem behandelt.74 Die Interjektion wird in den vier Ausgaben der 72 TPdG (1814: 72f). 73 Vgl.Haselbach (1966: 131); vgl. auch oben, Kap. I. 4. 74 Vgl .TPdG (1814: 69f.und 72), im Kapitel Uber die Redetheile, ebenso TPdG (1827: 128f. und 134).
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TPdG ganz gesondert behandelt, da sie an sich ein vollständiger Satz bilde und kein Redeteil im eigentlichen Sinn sei: Die Interjection kann zwar, genau genommen, so wenig wie der Imperativ, dem Inhalte nach, als ein Redetheil angesehen werden; sie drückt vielmehr alle drey Theile des Satzes aus und ist daher selbst ein Redesatz, obgleich derselbe sehr abgekürzt und unvollkommen dem Körper nach erscheint. 75
Die Ausgabe von 1822 schlägt in einer Anmerkung eine Reduzierung auf sieben Klassen unter bewußter Auslassung der Interjektionen vor: 1) Das Substantiv und seine StellVertreter a) persönliche Fürwörter b) beziehende Fürwörter c) hinweisende Fürwörter d) fragende Fürwörter 2) Der Artikel 3) Das Adjektiv, zueignende Fürwörter und andere (in Verbindung mit Zahlwörtern) 4) Das Verb 5) das Adverbium 6) Die Präposition 7) Die Conjunction
Bis auf das Fehlen des Partizips, das Heyse als Verbform und nicht als Redeteil betrachtet, folgt seine Einteilung im ganzen der Adelungs. Von Bedeutung sind dabei zwei Punkte. Zum einen unterscheidet er zwischen Adjektiven und Substantiven, die in der Grammatik Gottscheds noch nicht getrennt waren. Für das Deutsche hat Adelung diese Unterscheidung zum ersten Mal getroffen, als sie in Frankreich bereits von Girard eingeführt war. Zum anderen führt er die Zahlwörter als eigene Klasse auf, die nicht mehr zu den Adjektiven gerechnet werden; das gab es schon in Heinsius' Schulgrammatik und bei Girard, nicht jedoch bei Beauzee. In den Ausgaben von 1820 und 1822 ist diese Einteilung beibehalten. Im Vergleich bedeutet die TPdG von 1827 und damit der Zeitraum von 1825 bis 1838 teilweise einen Rückschritt. Sie verzeichnet neun Wortarten, die Zahlwörter werden wieder zu den Adjektiven gerechnet. Theodor Heyse 76 nimmt jedoch eine Dreiteilung entsprechend der Veränderbarkeit der "Sprachtheile" vor, dabei greift er auf lateinische Bezeichnungen zurück: "Partes orationis" heißen die veränderbaren, "particulae" die unveränderbaren, die Interjektionen bilden eine eigene Klasse. Das läßt sich wie folgt darstellen: partes orationis
I) Substantiv 2) Artikel 3) Pronomen 4) Adjectiv als - Beschaffenheits- und Eigenschaftswörter - Numeralia
75 (Ebd.: 72); TPdG (1827: 135). 76 TPdG( 1827: 134f.).
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse 5) Verb
particulae 6) Adverb 7) Präposition 8) Conjunction (separat)
9) Interjection (weder pars orationis noch particula)
Den veränderbaren oder deklinierbaren partes orationis, die die Hauptarten oder "Haupttheile der Darstellung" bilden, stellt Heyse die nicht veränderbaren particulae und die Interjektionen als "Nebenarten" gegenüber, wie es in der Schulgrammatik von 1829 heißt. Man kann darin die von Beauzöe getroffene Unterscheidung zwischen Interjektionen oder "mots affectifs" (affektiven Wörtern) und "mots önonciatifs" (aussagende Wörter) wiederfinden; diese in deklinierbar und nicht deklinierbar eingeteilten Wörter sind die Sprache des Geistes. Die Klassifikation der Redeteile lehnt sich zwischen 1814 und 1838 immer stärker an die Klassifikation der allgemeinen Grammatik an. Der Status der Zahlwörter ist noch nicht eindeutig festgelegt, während das Partizip als ein unabhängiger Redeteil endgültig aufgegeben wird. Heyse übernimmt zwar die kategoriellen und semantischen Definitionen der Adelungschen Grammatik, hebt aber viel stärker die syntaktische Funktion der Elemente hervor.77
2.2.1.3. Begriffsbestimmungen des Satzes Heyses Satzdefinitionen schwanken in dem angegebenen Zeitraum zwischen einer zwei- und einer dreigliedrigen Bestimmung der zugrundeliegenden prädikativen Beziehung. Lorberg kritisiert diese Unscharfe in seiner Besprechung der Heyseschen Schulgrammatik von 1825, wo sie sich zum ersten Mal zeigt. Carl Wilhelm Heyse bleibt in den von ihm bis 1838 besorgten Ausgaben unentschieden. Heyse bestimmt den Satz ganz traditionell in der Nachfolge von Port-Royal als Ausdruck eines Urteils. Das Sprache werdende Urteil setzt ein Verhältnis der Entsprechung und Unterordnung voraus, das an die Sprachauffassung Du Marsais1 erinnert. Sylvain Auroux bezeichnet sie als "langage-traduction" (Sprache als Übersetzung) aufgrund der Vorstellung, jedes konkrete Sprachelement
77 Was Heyses Varianten bei der Einteilung der Adjektive und der Adverbien sowie den Vergleich seiner Definition der Redeteile mit der seiner Zeitgenossen betrifft, so sei auf die Untersuchung von Naumann (1986) verwiesen. Vgl. dazu die allgemeine Gegenüberstellung S. U l f . ; die Klassifikation des Adjektivs und des Adverbs, S. 163f., der Zahlwörter und des Partizips S. 168, des Substantivs S. 207 und S. 221. Anders als bei Naumann (1986), dessen Anliegen es nicht war, geht Kapitel 2.2.1.3. dieser Arbeit auf die Satzdefinition ein, Kapitel 2.2.3. auf die Syntax, und Kapitel 2.2.2. auf die Untersuchung verschiedener Redeteile, und zwar auf kritisch-vergleichende Weise.
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entspreche einer Vorstellung78. Diese Adequatio existiert ebenfalls auf Satzebene, da der Satz auf einer einheitlichen geistigen Operation beruht: "Ein Satz muß das Abbild dessen sein, was der Geist durch sein Urteil wahrnimmt."79 Diese Auffassung vertritt auch Meiner, ebenso Georg Michael Roth in seiner Systematischen deutschen Sprachlehre für Schulen: Jeder Satz aber muß als Bezeichnung eines Urtheils eben dieselben Theile enthalten, welche das durch ihn bezeichnete Urtheil selbst enthält.80
Heyse verwendet den Begriff "Satz" noch nicht eindeutig; er verweist damit sowohl auf das Urteil (d. h. die "proposition" der allgemeinen Grammatik) als auch auf eine höhere bedeutungstragende Einheit der Rede-Ebene. Bei Theodor Heyse dagegen bezieht sich der Begriff Satz ab 1825 nur auf das Urteil, während "Redesatz" die diskursive Einheit meint. In der Ausgabe von 1814 bildet der Satz das Vorgehen des Urteils ab, indem er einem Subjekt, als dem Ausdruck der "Selbständigkeit", ein Prädikat, Ausdruck der "Unselbständigkeit", zuordnet: In Allem, was der Mensch spricht, findet sich ein selbständiger oder als selbständig gedachter Gegenstand, dem etwas Unselbständiges als Merkmal mit Bezeichnung der Zeit beygelegt, oder abgesprochen wird. [...] Jeder Ausdruck eines solchen Beylegens oder Absprechens ist ein Urtheil oder ein Redesatz, der einen verständlichen Sinn hat.81
Diese Formulierung ist fast identisch mit der Adelungs.82 Die Darstellung schwankt aber zwischen einer binären und ternären Auslegung, die Verbindung beider Satzteile wird durch das reine Verbum83 "seyn" oder "werden", hergestellt: Zu einem solchen Satze gehören wesentlich drey (wenigstens zwey) Stücke, nämlich: 1) ein selbständiger Gegenstand, von dem man etwas sagt (das Subject) [...] 2) etwas Unselbständiges, was man von jenem Gegenstande sagt oder behauptet (das Prädicat) [...] 3) die Verbindung des Subjects mit dem Prädicate (die Copula: ist und wird), welche zugleich zur Zeitbestimmung dient. 84
Ist die Kopula nicht zu erkennen, so ist sie nach Heyses Ansicht mit dem Verb zu einem "gemischten Verbum" verschmolzen. In der Ausgabe von 1827 wird, 78 Auroux (1979: 216f.). Auch (Ebd.:166f.) Diese Theorie wird von Auroux als Theorie 2 bezeichnet. Sie bewegt sich auf grammatischer Ebene. "De ce point de vue, la thöorie grammatical de la proposition - que nous nommerons lheorie-2 - peut s'exposer ainsi: une proposition est l'addition de plusieurs id6es de fagon a contituer une seule idöe." ("Von diesem Standpunkt aus läßt sich die grammatische Theorie des Satzes - die wir Theorie-2 nennen - folgenderweise darstellen: Ein Satz ist die Addierung von mehreren Ideen, so daß diese eine einzige Idee bilden.") 79 "Une proposition doit etre l'image de ce que l'esprit aperfoit par son jugement." (Ebd.: 164) Zit. aus dem Artikel "Verbe" der Encyclopidie methodique. 80 Roth (1799: 14). 81 TPdG (1814: 67). 82 Deutsche Sprachlehre (1781: 474f ). 83 TPdG (1814: 68). 84 (Ebd.: 67).
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
mit Ausnahme des Kapitels zur Construction, ersetzt durch eine zweigliedrige:
die dreigliedrige Bestimmung
Jede vollständige, für sich verständliche Äußerung, welche nach ihrer grammatischen Seite ein Satz oder Redesatz (nach ihrer logischen ein Urtheil oder eine Behauptung) heißt, enthalt 1) einen Gegenstand, - von welchem 2) Etwas ausgesagt wird. Ersterer heißt das Subject des Satzes, Letzteres das Prädicat oder das Ausgesagte.85
Theodor Heyse betont, daß er nur Subjekt und Prädikat behandelt, in der pädagogischen Absicht, dadurch den Unterricht zu vereinfachen. Damit knüpft er an Überlegungen Basedows an, der 1759 schreibt, die Bestimmung der Copula entspreche einer rein formalen Analyse, denn die sie sei in das Prädikat integriert. Zur Rechtfertigung dieser Auffassung wird, wie bei Adelung, eine logische und grammatische Äquivalenz zwischen Sätzen mit und ohne Copula hergestellt, indem eine Paraphrase mit Copula vorgeschlagen wird, sei sie noch so unnatürlich: so ζ. B. zwischen den Äußerungen "lies! "und "sey du lesend!". Auch die übrigen Grammatiken Heyses ( K L f , SG) verfahren nach dieser Vereinfachung. Johann Christian Heyses Bestimmung des Wahrheitswertes eines Satzes entspricht der Theorie 1 des Satzes als "proposition" bei Auroux (1979), wonach die Idee des Prädikats im Subjekt einbegriffen ist86. Es gibt zwei Möglichkeiten: die grammatische Richtigkeit, und die logische Wahrheit ("logisch richtig/ unrichtig"87), die keinen Bezug auf Erfahrung voraussetzt. Grammatikalität reicht nicht aus; als Ausdruck eines Urteils muß der Satz einen kohärenten Sinnzusammenhang bieten: Logisch richtig ist also nur dann ein Satz oder ein Period, wenn die Nothwendigkeit des Zusammenhangs und der Verbindung der einzelnen Theile oder Glieder zu einem Ganzen sichtbar wird. 88
Sätze des Typs "Gleich wie der Löwe ein grimmiges Thier ist, so sollen wir auch in einem neuen Leben wandeln" sind zwar formal korrekt, "logisch" jedoch falsch, und daher für Heyse unzulässig. Hervorzuheben ist der Gebrauch von "logisch", der im Zusammenhang auch als "semantisch" interpretiert werden 85 TPdG (1827: 127). Es sei daran erinnert, daß es zwei Prädikatformen gibt: der Ausdruck eines zeitlich bedingten Zustands durch ein Verb und der Ausdruck einer Eigenschaft durch ein Adjektiv: "Der Baum g r ü n e t und das Laub ist g r ü n ." (von Heyse hervorgehoben) 86 "Pour la th6orie-l, une proposition est vraie si l'idöe du prädicat est bien renfermee dans celle du sujet." (1979: 166) (Dieser Gedanke wird eingehend von Auroux (ebd.: 136f.) in Bezug auf D'Alembert besprochen.) Nach der Theorie 2 ist ein Satz wahr, wenn der von ihm vermittelte Sinn der Erfahrung entspricht. So ist der Satz: "les chiens sont blancs" ("die Hunde sind weiß") wahr nach der Theorie 2, wenn man sich vor weißen Hunden befindet, aber nicht wahr nach der Theorie 1. Doch ein im Rahmen der Theorie 1 wahrer Satz ist auch wahr im Rahmen der Theorie 2. In der Theorie 1 befindet sich das Subjekt im (log.) Umfang ("extension") des Prädikats, oder, anders formuliert, das Prädikat im Inhalt ("comprdhension") des Subjekts, (ebd.: 138) 87 TPdG (1814: 495). 88 Ebd.
Syntax
113
kann.89 Heyses Einbeziehung dieser logischen Wertung ist für Verf. nicht nur theoretisch zu deuten: Heyse betont den praktischen Charakter seiner dem Unterricht gewidmeten Grammatik, der auf den Gebrauch abzielt, und bezieht implizit Stellung gegen Döleke, der noch 1826, im Rahmen einer beabsichtigten Neubelebung der allgemeinen Grammatik, folgende extreme Position vertrat: [...] der philosophische Grammatiker hat vielmehr zunächst nur die Erscheinungen in der Sprache als solcher, d. h. abgesehen davon, ob sie gesprochen wird oder wer sie spricht, zu berücksichtigen.90
2.2.1.4. Entsprechung zwischen den Redeteilen und den Funktionen von Subjekt und Prädikat In der Folge der allgemeinen Grammatik und ihrer Vertreter in Deutschland leitet Heyse die verschiedenen Redeteile von den logischen Funktionen Subjekt und Prädikat ab. An den Anfang stellt er die grundsätzliche Behauptung, daß die Struktur der Äußerung (logisches Subjekt und logisches Prädikat) mit der grammatischen Satzstruktur übereinstimmt, und löst damit alle Probleme für die Definition der Redeteile. In Ermangelung weiterer Spezifizierungen scheinen die vorliegenden Klassen sowohl auf grammatische als auch auf logische Funktionen zu verweisen. Jeder dieser beiden Funktionen (Subjekt und Prädikat) entsprechen mehrere Wortarten: Jene völlige Übereinstimmung zwischen den Bestandtheilen des Satzes und den Hauptgattungen, in welche die Worte dem Begriffe nach zerfallen, erlaubt es nun auch, die besondem Wortarten in Beziehung auf ihren Gebrauch im Satze zu entwickeln.91
Während Adelung, wie Meiner, dem Substantiv die Funktion des Subjekts zuordnete, den anderen Redeteilen die des Prädikats, teilt Heyse die Funktionen der Redeteile gleichmäßig zwischen Subjekt und Prädikat auf. Das Subjekt kann durch Substantiv, Artikel, Pronomen, Zahlwörter ausgedrückt werden sowie durch ein Adjektiv, sofern es "mit dem Substantiv am innigsten verbunden"92, mit ihm gleichsam eine Einheit bildet. Der zweite Hauptbestandteil des Satzes, das Prädikat, umfaßt das Adjektiv, ein dem Substantiv nachgestelltes, ihm dadurch weniger verbundenes "Beschaffenheitswort", auch "Attribut" genannt; das Verb, wesentliches und unverzichtbares Element, das als solches die Idee des Prädicats ausdrückt; das Adverb, als nähere Bestimmung des Prädikats, die sich einzige Wortart auf ein Verb bezieht; auch die Präposition, denn sie gibt denselben semantischen Inhalt wieder wie das Adverb, wird aber stets durch ihr Verhältnis zu einem "Gegenstand" bestimmt; und schließlich die Konjunktionen. 89 Im folgenden wird daher öfter der Ausdruck logisch-semantisch, oder logisch (d.h.semantisch) verwendet werden. 90 Rezension von Döleke vom 23. April 1826, Über philosophische Grammatik: 253f. 91 TPdG{ 1827: 127). 92 TPdG (1814: 69).
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
114
1814 werden sie definiert als Verbindung zwischen Wörtern oder Sätzen und bilden eine eigene Gruppe; 1827 werden sie zusammen mit Adverb und Präposition als untergeordnete Nebenbestimmungen behandelt, die zur "Bezeichnung mannichfaltiger Beziehungen" dienen und "Gedankenverhältnisse" zwischen Sätzen ausdrücken. Die Redeteile werden also hierarchisch untergliedert: Es gibt "Hauptarten" oder "Hauptwörter", die die Funktion bestimmen, und "Nebenarten" oder "Bestimmungswörter". 93 Die folgenden Tabellen geben einen Überblick über die jeweiligen Funktionen der Wortarten in den entscheidenden Ausgaben der Jahre 1814 und 1827; sie werden ergänzt durch eine dritte Tabelle mit der Einteilung in der SG von 1829 (es sind die von Heyse verwendeten Bezeichnungen eingetragen). In dieser letzten Ausgabe tauchen die Zahlwörter als Wortart unter den prädikativischen, nicht subjektivischen Hauptwörtern wieder auf. Das Partizip, das 1825 und 1827 nur beiläufig erwähnt wird, steht zwar als solches in der Tabelle, hat aber nicht den Rang einer Wortart. Aus der Konjunktion wurde eine Satzpräposition. Die SG übernimmt den Aufbau der Ausgaben der TPdG, ihre Erklärungen sind jedoch summarischer und führen deshalb zu einer vereinfachenden Darstellung. Man darf darin wohl keinen Neuansatz zu einer Klassifikation sehen. Die Darstellungen von 1814, 1827 und 1829 lassen sich wie folgt tabellarisch zusammenfassen: Klassifikation von 1814:
I η t e r j e k t i 0 η Verbindung
REDESATZ
HAUPTWORT
BESTIMMUNGSWORT
Subjekt
Substantiv Pronomen
Artikel Numeralien Adjektiv (vor Subst.)
Prädikat
Adjektiv (nach S.) [best. Pronomen]
Adverb Präposition
Verbum von Wörtern
und Sätzen:
Conjunction
93 Vgl. SG (1829); TPdG (1827: 127-134) und die Definitionen in den Kapiteln zu den einzelnen Redeteilen.
Syntax
115
Klassifikation von 1827:
SÄTZE
REDESATZ
HAUPTWORT
Subject
Substantiv
BESTIMMUNGS -WORT Artikel
Pronomen
Adjectiv als Eigenschaftswort
Interjec -tion
[Participl 94 Prädicat und Copula
Verbum "sein", "werden"
Adverb Präposition
Conjunction
Adjectiv als Beschaffenheitswort ("Attribut")
Klassifikation von 1829:
SATZ Subject
HAUPTWORT
NEBENWORT
Substantiv Pronomen Artikel
Adjectiv als Eigenschaftwort]
Verbum
Adverbium
Adjectiv: -"Attribut" -Eigenschaftsw. - Numeralia -Particip
Präposition
Prädicat
Conjunction (als Präposition des Satzes) Interjection
94 Konstruktion vom Typ: "der geliebte Vater", "das schlafende Kind".
116
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
2.2.2. Einzelanalysen: Tradition und neue Impulse
Bernd Naumanns (1986) historisch ausgerichtete Untersuchung der meisten einzelnen Wortarten und Kategorien in der deutschen allgemeinen Grammatik nimmt direkt Bezug auf die Heysesche Grammatik und widmet ihr einige Abschnitte.95 Er hat also schon das Substantiv, das Pronomen, den Artikel, die Definition des Adjektivs im Verhältnis zum Adverb behandelt. Deshalb sollen im folgenden einige spezielle Probleme des Verbs und der Konjunktionen angegangen werden, die bei Naumann nicht behandelt sind, die aber zu einigen neuen Überlegungen bei der Interpretation Heyses führen.
2.2.2.1. Das Verb - Einfluß von Adelung und Steinheil Das Kapitel zum Verb wurde zwischen 1814 und 1827 verändert, seine endgültige neue Form erhielt es 1838. In den Ausgaben von 1825 und 1827 hält sich Carl Wilhelm Heyse an den Aufbau, den der Vater festgelegt hatte: 1) Bestimmung des Verbs ("Zustandswort", "Zeitwort") als Redeteil; 2) Morphologie ("Bildung der Zustandswörter"); 3) Verbarten ("Verschiedene Gattungen der Zustandswörter"); 4) "Verbbegriffe zur Conjugation der Zustandswörter" mit Darstellung von Modus, Tepus, Numerus, Person; 5) "Conjugation" oder "Abwandlung der Zustandswörter"; 6) "Gebrauch und Rection der Zustandswörter". Die in Punkt 6) gegebene Erläuterung der Tempora und Modi greift das in 4) Gesagte auf und stellt es in den syntaktischen Zusammenhang. Die allgemeine Darstellung zeigt in dem angegebenen Zeitraum eine große Kontinuität, nicht jedoch die Untersuchung der Tempora und Modi, die Carl Wilhelm Heyse völlig überarbeitet hat. Die allgemeine Einteilung der Verben zu Beginn des 19. Jahrhunderts konzentriert sich auf die drei Kernpunkte, die Adelung 1782 klar herausgearbeitet hat: Status des Prädikats, Status des Subjekts, Konjugation, wie Bernd Naumann96 in seiner Behandlung der genus verbi zusammenfassend feststellt. Beim Vergleich der Heyseschen Grammatiken ist jedoch insofern ein gewisser Rückschritt zu erkennen, als Johann Christian und Carl Wilhelm Heyse ihre Ausführungen auf nur zwei Punkte gründen, nämlich den Status des Prädikats und des Subjekts. Die Konjugation wird zusammen mit dem konkreten Gebrauch der Formen analysiert. Heyse übernimmt nur zwei Aspekte des Adelungschen Schemas, nämlich die Einteilung aufgrund des Status von Prädikat und Subjekt. Die Darstellung geht
95 Insbesondere (1986: 170f.), daneben die zahlreichen Anspielungen innerhalb der gesamten Arbeit. 96 (1986: 333f ).
Syntax
117
vom Status des Subjekts aus, ohne daß dies allerdings so explizit wie bei Adelung erläutert würde. Je nach Art des Subjekts gibt es persönliche Verben deren Subjekt eine Person ist - und unpersönliche Verben - deren Subjekt das Pronomen "es" ist. Der Status des Prädikats wird in diesem allgemein gesetzten Rahmen konventionell betrachtet. Heyses Untersuchung geht nicht näher auf die Verbvalenz ein, die bereits Meiner97 in seiner Grammatik berücksichtigte. Bei der Beschreibung des Prädikats hat die Untersuchung der Verbklasse Vorrang vor der Untersuchung der Handlungsform. Er unterscheidet zwischen: - "reinen Verba" oder verba substantiva, das sind die auch Copula genannten beiden Verben "seyn" und "werden", - "gemischten Verba" oder verba adjectiva; diese Gruppe umfaßt alle anderen Verben, bei denen die Copula nicht im Prädikat erscheint; die verba adjectiva sind entweder transitiv oder intransitiv, die intransitiven Verben heißen auch "Neutra". - "Hülfsverba", zu denen auch die Modalverben gehören. Die Definition dieser Verben ist nicht distributioneil, sondern semantisch: Transitive Verben wirken auf ein "Ziel", während intransitive "keine Hinwirkung auf einen äußern Gegenstand" haben. Heyse nennt auch formale Kriterien zu ihrer Unterscheidung: Transitive Verben antworten auf die Fragen wer oder was?, wen oder was?; intransitive dagegen lassen nur die erste Frage zu. Daraus leitet er den Schluß ab, daß die kein Passiv bildenden intransitiven Verben nicht wirklich aktiv sind. Sie haben nur eine Form. Transitive Verben haben dagegen zwei Formen, eine aktive als "thätliches Zeitwort", wenn das Subjekt handelt, "im Wirkungsstande" ist; oder eine passive als "leidendes Zeitwort", wenn das Subjekt eine Handlung erfährt, im "Leidensstande" ist. Zu dieser Verbgattung zählen auch die Reciproca, die "zurückzielenden oder zurückwirkenden Verba", deren Objekt in Form eines Pronomens dem Verb vorangestellt ist. Sie können allerdings kein Passiv bilden. Heyse präzisiert ihr Verhältnis zu den anderen Verben nicht, deshalb kann ihre Stellung in der Tabelle auch nur annäherungsweise wiedergegeben werden.98 Er betont, daß keine scharfe Grenze zwischen transitiven, intransitiven und reflexiven Verben gezogen werden kann. Einige Verben gehören aufgrund ihres Gebrauchs verschiedenen Gattungen an: So können ζ. B. die Verben "stürzen, kochen, zerbrechen, ziehen" sowohl "zielend" als auch "ziellos" sein, intransitive Verben transitiv verwendet werden in Ausdrücken wie "den letzten Schlaf schlafen, bittere Tränen weinen". Außerdem gibt es Verben, die reflexiv und intransitiv gebraucht werden, ζ. B. "waschen, sich waschen". Heyse faßt dann den Begriff der Hilfsverben ziemlich weit und bezeichnet damit Verbformen, welche die Kategorien der Zeit und des Modus durch Periphrasen ausdrücken. Er rechnet dazu die eigentlichen Hilfs97 Meiner (1781: 127f) und Forsgren (1973: 82). Zum Aufbau des Satzes vgl. unten Kap. II. 2.3. und II. 2.4. Sonstige Überlegungen zur verbalen Rektion sind bei Heyse (1814, 1827) mit dem konkreten Gebrauch der Kasus verbunden. 98 Vgl. unten.
118
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
verben "seyn, haben, werden" sowie die Modalverben. Sie bilden an sich keine eigene Gattung, sondern werden "nur in Hinsicht ihres gewöhnlichen Gebrauchs" als solche betrachtet. Modalverben sind nur dem Anschein nach verba activa; sie haben allein eigentlich keine Bedeutung, da sie immer in Verbindung mit einem anderen Verb verwendet werden müssen. Es handelt sich um eine obligatorische Distribution, wenn auch das zweite Verb nicht explizit genannt sein muß wie in dem Beispiel "Er darf nicht aus dem Hause (nämlich gehen)". Heyse mißt ihnen keine besondere Bedeutung bei, er neigt vielmehr dazu, ihren Gebrauch dem der anderen Verben anzugleichen, und braucht so nicht näher auf sie einzugehen. Die Behandlung ihrer Konstruktion geschieht sehr partiell. Heyses allgemeine Beschreibung weist einen wesentlichen Einfluß der Grammatik Adelungs auf, der durch einen Beitrag der Grammatik Steinheils abgeschwächt wird. In der Folge Adelungs verzichtet Heyse auf eine Dreiteilung, wie sie noch in der Grammatik Gottscheds zu finden ist, der zwischen aktiven, passiven und neutralen (intransitiven) Verben unterschied. Die Idee eines neutralen Verbs wird endgültig getrennt von der Vorstellung der genera verbi Aktiv und Passiv. Die Opposition von transitiven und intransitiven Verben bekommt semantischen und syntaktischen Wert. Das Passiv wird nicht mehr als Gegenstück zum Aktiv behandelt. Wie vor ihm Adelung, verleiht Heyse ihm den Status einer Periphrase, da die deutsche Sprache kein eigentliches Passiv besitze. Es hat nur bei transitiven Verben einen Sinn. Trotz dieser Anleihen ist die Grammatik Heyses in einem wichtigen Punkt sehr rückschrittlich: Es gelingt Heyse, der von Adelung getroffenen Unterscheidung zwischen transitiven und reflexiven Verben eine innere Einteilung überzustülpen, die Steinheils Grammatik von 1812 eigen ist. Damit behält er die klassische Unterscheidung der allgemeinen Grammatik zwischen verba substantive und verba adjectiva bei; wie Steinheil stellt er die Untergliederung der aktiven und der passiven Formen auf eine Stufe mit den reflexiven Verben. Seine Formulierung ist allerdings sehr unklar, so daß sich diese Anordnung nur sehr schwer präzise darstellen läßt. Deutlich wird nur, daß die Reflexiva eine Form transitiver Verben sind. Adelung dagegen trennt die reflexiven von den transitiven Verben, die eine höhere Valenz haben. Die Einteilungen bei Heyse, Adelung und Steinheil lassen sich wie folgt schematisieren: Heyse (1814-1837):
Verba nach der Art des Prädikats
des Subjekts
/
persönliche verba substantiva
verba adjectiva
/ \
.transitiva J intransitiva
seyn werden
/
\
(normale Klasse) reciproca aktiv passiv
Hillfsverba
/
zeitliche Periphrase
seyn, werden
modale Periphrase Modalverben
\
unpersönliche
Syntax
119
Bei Adelung (1782): Verben der Konjugation
nach der Art des Prädikats persönl.
unpers.
defektive
ttansitiva
intransitive
mit Ergänzungen
regelmäßige (schwache)
unregelmäßige (starke)
reciproca
I
genus verbi
Bei Steinheil (1812):
/
Verben verba adjectiva
verba substantiva transitiva
seyn,werden activa
passiva
intransitiva reciproca
2.2.2.2. Modi und Tempora Die Untersuchung der Modi und der Tempora wird von Heyse an zwei Stellen durchgeführt: einmal im Anschluß an die morphologische Beschreibung des Verbs, zum andern vor den Ausführungen zur Rektion. Sie werden noch als reine Verbkategorien beschrieben, die sich nur auf den verbalen Prozeß beziehen. Am Anfang des Kapitels Vorbegriffe zur Konjugation werden sie theoretisch abgehandelt, das Kapitel zu den Tempora schließt an. Die Modi stecken also den Rahmen ab für die Behandlung der Zeiten. Die von Carl Wilhelm Heyse vorgenommenen Änderungen sind gering. Die Beschreibung wird zwar zwischen 1814 und 1827, dem Jahr der Überarbeitung durch Carl Wilhelm Heyse, differenzierter, die grundsätzliche Analyse der Modi jedoch beibehalten. Nicht so was das Tempussystem betrifft: Dieses Kapitel überarbeitet er vollständig. In diesem Teil soll zuerst der Modus betrachtet werden, dann das Tempus und das Tempussystem; im Anschluß daran wird auf die Reaktion Etzlers eingegangen, eines Kollegen Heyses, der eine recht moderne und für seine Zeit neue Interpretation des Konjunktiv II vorschlägt und den Stellenwert erklärt, den die Diskussion um die Festlegung einer Norm für den Gebrauch des Konjunktivs bei den Grammatikern am Beginn des 19. Jahrhunderts hatte.
2.2.2.2.1. Modus, Begriffsbestimmung
120
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Der Modus ist eines der Hauptmerkmale des Prädikats, Zeit, Numerus und Person kommen hinzu." Johann Christian Heyse und Carl Wilhelm Heyse setzen drei "Weisen" an und übernehmen damit einen seit Ratke100 in der deutschen Grammatik geläufigen Begriff. Johann Christian Heyse legt die Zahl der Modi auf drei fest, nämlich Indikativ, Konjunktiv und Imperativ; er rechnet weder den Infinitiv, fur ihn eine neutrale Form, noch das Partizip dazu. Letzteres ist für ihn ein aus dem Verb abgeleitetes Adjektiv mit dem "Nebenbegriff der Zeit", seine Formen werden nicht aspektuell gedeutet; es wird als Adjektiv, Adverb und Substantiv gebraucht. Der Infinitiv als "rohe Gestalt" enthalte die Wurzel des Verbs mit der Endung "-en". Ganz organizistisch wird über ihn ausgesagt, er enthalte "den Stamm eines Zeitworts aus welchem dessen übrige Teile, wie die Zweige aus dem Stamme eines Baumes hervorgehen." 101 Damit steht Heyse im Gegensatz zum lateinischen Modell, wie es etwa in der Grammatik von Clajus vertreten wird, der sieben Modi anfuhrt, nämlich die drei bereits genannten plus Optativ, Infinitiv, Gerundium und Supinum. Schottel reduzierte sie bereits auf vier: Indikativ, Konjunktiv, Imperativ und Infinitiv. Auch Meiner und Gottsched setzten vier bis fünf Modi an. Adelung wollte nur drei gelten lassen, hatte aber im zweiten Teil seiner Grammatik, der der Syntax gewidmet ist, wieder vier Modi unterschieden. Der Modus gibt, so Heyse, die Stellung des Sprechers zur Rede auf drei Arten wieder: [...] Modus oder die Art und Weise, wie das Prädicat dem Subjecte beygelegt wird, ob gewiß, oder ungewiß und bedingt, oder nothwendig und befehlsweise. 102
Die drei Modi "Indicativ", "Conjunctiv", "Imperativ" stellen bzw. die Handlung als gewiß oder wirklich, oder als ungewiß und hypothetisch, oder als notwendig und befehlend dar. Die Untersuchung der Modi von 1827 gleicht der von 1814, es ändert sich nur die Begrifflichkeit: Der Indikativ heißt "Aussageweise" als Modus der Aussage; der Konjunktiv/ Optativ "Bedingweise", als Modus der Möglichkeit oder Bedingung; der Imperativ "Befehlsweise", als monitiver oder jussiver Modus. Die neuen Bezeichnungen sind restriktiv, da sie nicht die in der Definition angegebenen Funktionen der Modi wiederspiegeln: - Der Indikativ ist der Modus der Sicherheit oder der Wirklichkeit in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Auf diese Weise stellt Heyse eine Verbindung zwischen Tempus und Modus her und geht nicht mehr auf die noch in der Tradition der allgemeinen Grammatik weitverbreitete Überlegung ein, daß einer Aussage im Indikativ ein Wahrheitswert zukommen müsse. - Der Konjunktiv ist der Modus der Möglichkeit, der Ungewißheit, der Bedingung und des Wünschens. 99 TPdG (1814: 323f.) und (1827: 416f.). 100 Naumann (1986: 296-300). 101 TPdG( 1814: 310) und (1827: 396). 102 TPdG (1814: 320).
Syntax
121
Diese [Weise] läßt es ungewiß, ob etwas geschehe oder nicht, und hat allemal ein ausdrückliches oder verschwiegenes Bindewort bey sich. 103
Diese allgemeine Definition wird ergänzt durch ein formales Erkennungsmerkmal: Der vom Sprecher als ungewiß dargestellte verbale Prozeß folgt in der Regel einer Konjunktion ("einem ausdrücklichen oder verschwiegenen Bindewort"). Der Gebrauch des Konjunktivs wird also in Verbindung gebracht mit dem Vorhandensein einer abhängigen Verbalgruppe mit einleitender Subjunktion. - Die Definition des Imperativs identifiziert ihn mit seiner befehlenden Funktion.
2.2.2.2.2. Heyse und die Kantische Definition der Modalität Die Modus-Definition in der Grammatik Heyses und die verwendete Begrifflichkeit sind direkte Übernahmen aus Kant, für den Modalität eine Kategorie des Verstandes ist. Wenn Heyse nun den Modus von der Stellung des Sprechers abhängig macht, so folgt er damit Kant. Die Kantischen Modi der Möglichkeit, des Seins und der Notwendigkeit finden in der Sprache ihren Ausdruck in den Verbalmodi. In seiner Kritik der reinen Vernunft führt Kant aus, daß die Erkenntnis eines sinnlichen Gegenstandes an ein Zusammenwirken von Sinnlichkeit und Verstand gebunden ist. Vor aller Erfahrung und unabhängig von aller Erfahrung gibt es bestehende Vemunfterkenntnisse; diese gelten ausschließlich für die durch die Erfahrung zu erkennenden Gegenstände, weil eine im Individuum wirksame Venunfttätigkeit die gesamte Welt der Vorstellungen nach denselben Gesetzen erzeuge. Diese Gesetze sind für Kant die Formen der räumlichen und zeitlichen Anschauung und die Kategorien, "Stammbegriffe des Verstandes". So verwandelt sich für Kant die gewöhnliche Wirklichkeit in eine Welt von Erscheinungen. Die apriorischen Gesetze des Verstandes sind universell und notwendig. Kategorien sind reine Begriffe, die aber nur einen Sinn haben, wenn sie auf Gegenstände der Anschauung gerichtet sind. Aus den zwölf Urteilsformen der Vernunft leitet Kant vier Gruppen von drei Kategorien ab, die vierte Gruppe jene der Modalität. Sie ist das Gegenstück zum Modalitätsurteil als Bedingung von Möglichkeit. Die Kategorie der Modalität umfaßt "Möglichkeit", "Wirklichkeit" und "Notwendigkeit".104 Heyses Grammatik steht in einer gesicherten Traditionslinie. Georg Michael Roth hatte als erster das Kantische Kategorienschema der Modalität übernommen und auf die Sprache angewandt.105 Die Grammatiken von Berhardi, Steinheil, Heinsius und Pölitz, die alle älter sind als Heyses Werke, arbeiten auf
103 Ebd. 104 Ueberschlag (Bd III); Roth (1795: 43f). 105 Forsgren (1985: 50f.).
122
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
dieselbe Weise.106 Die allgemeine Darstellung des Modus belegt den Einfluß Kants auf Heyse, vermittelt durch die Grammatik Roths, und sie zeigt zugleich Heyses Abrücken vom Vorbild der lateinischen Grammatik. Der Modus wird als Kategorie in Verbindung mit dem Aussageakt gebracht, er kennzeichnet das Einwirken des Sprechers auf das Ausgesagte. Heyses vereinfachtes System der drei Modi bedeutet Adelung gegenüber einen Fortschritt. Bei der Abfassung dieses Kapitels scheint er den Rat Grotefends befolgt zu haben, der in seiner Einleitung in den Jahrbüchern des Frankfurtischen Gelehrtenvereins]07 empfahl, sich auf die von Georg Michael Roth überarbeitete Fassung der Adelungschen Grammatik zu stützen.
2.2.2.2.3. Die Kategorie der Zeit und die Tempora (1814-1826) Johann Christian und Carl Wilhelm Heyse nehmen Abstand vom Modell der allgemeinen Grammatik, in dem das Tempus, wie auch noch bei Adelung108, nur von geringer Bedeutung war. Auch hier stehen sie eher in der Nachfolge Roths, für die Zeit eine wesentliche, von der Notwendigkeit abhängige Kategorie ist. Das Verb ist Träger "notwendiger" und "wesentlicher" Merkmale, die sich unterteilen lassen in logische, modale und an die Anschauung gebundene Merkmale, eben die (sprachlichen) Tempora.109 Die Untersuchung des Tempus ist direkt an den Sprecher, also an das Individuum gebunden; diese neue Ausrichtung auf den Sprecher ist aus Kant übernommen, für den Zeit und Raum apriorische Bedingungen der Anschauung sind. Im Unterschied zu Kant mißt Roth dem Tempus und der Modalität - d.h. bei Roth im sprachlichen Modus die gleiche Bedeutung bei. Da bei Heyse Bezüge auf andere Grammatiker, etwa Steinheil, fehlen, die auch von Roths neuem Ansatz geprägt waren, kann man nicht mit Sicherheit den Gang dieser Überlegungen bis zu den Heyses verfolgen. Der Unterschied Zeit/ Tempus ist noch nicht klar durchdacht, das Verb wird 1827 auch als "Zeitwort" behandelt, und die Termini Zeiten/ Tempora synonymisch gebraucht. Außerdem ist der neue Beitrag Roths vermischt mit direkten Anleihen aus der Grammatik von Meiner, die bereits relative und absolute Tempora behandelt hatte, allerdings nur in der Vergangenheit.110 Eine absolute "Zeit" war das Perfekt, relative Tempora das Imperfekt und das Plusquamperfekt. Trotz des äußeren Anscheins ist die Zeit in der TPdG von 1814 bis 1822 für Johann Christian Heyse im Verhältnis zu den Modi keine sekundäre Kategorie. 106 Von uns in den verschiedenen Ausgaben nachgeprüft; vgl. auch Naumann (1986: 301f. und 307f.). 107 Vgl. oben, Kap. I. 4. 108 Naumann (Op; cit.: 280f. und 284f.). 109 Roth (1799). 110 Meiner (1781: 236f ).
Syntax
123
Er setzt zwar die Tempora zunächst ins Verhältnis zu den Modi, der syntaktische Teil des Kapitels beginnt jedoch mit dem Gebrauch der Tempora; er behandelt sie gesondert mit Hilfe der Tempora des Indikativs. Diese Umkehrung in der Reihenfolge der Behandlung der Tempora und Modi ist aufschlußreich. Schon in seiner Bestimmung des Verbs ist Tempus und nicht Modus ausschlaggebend: Das Verbum ist ein Wort, welches von einem Subjecte [...] aussagt, daß sie [die Handlung] sich in irgend einem Zustande entweder des bloßen Seyns oder Werdens, des Handelns oder des Leidens befindet, befunden hat, oder befinden wird. Da ein solches Wort zugleich die Zeit bestimmt, [...] wird es gewöhnlich auch ein Zeitwort genannt." 1
Das Tempus ist für Heyse also ein fester Bestandteil des Prädikats und ein wesentlicher Teil des Urteils. Die Untersuchung der Tempora haftet, wie es in jenem Jahrhundert üblich war, an eine rein zeitliche Interpretation der Tempora, die durch Betrachtungen über Aspekt und Aktionsart ergänzt werden, während heutige Ansätze ihren modalen und pragmatischen Wert untersuchen und Erzählperspektiven berücksichtigen. Bei Heyse geschieht die Untersuchung der Tempora jedoch nur auf implizite Weise auf mehreren Ebenen. Die Handlungszeit wird auf die Sprechzeit bezogen. Auf Satzebene werden die temporalen Beziehungen zueinander untersucht: Im Hinblick auf die Beziehung zwischen mehreren Sätzen wird ein Tempus als relativ, "beziehlich", angesehen, wenn Bezug auf ein anderes Geschehen genommen wird, oder als "nicht beziehlich", ja sogar "absolut"112, wenn dieser Bezug nicht besteht. Unter dem Gesichtspunkt des Aspekts wird die Handlung als "unvollendet" oder "vollendet" betrachtet. Auch auf das Verhältnis von Temporalität und Modalität wird eingegangen. Johann Christian Heyse unterscheidet sechs Tempora in folgender Unterteilung: die Gegenwart, ausgedrückt durch das Präsens; die "Zeiten" der Vergangenheit, zusammengefaßt unter dem Begriff "Präteritum", Imperfectum, Perfectum, Plusquamperfectum; die Zukunft: das "Futurum" in zweifacher Gestalt, Futurum simplex und Futurum compositum. Diese Tempora werden vom Indikativ aus untersucht. Der Leser der Grammatik stellt anhand der Konjugationstabellen nach und nach fest, daß diese Beschreibung implizit auch für den Konjunktiv gilt. Die Definition der Tempora geht vom Aspekt und von der Beziehung aus: - das Präsens bezeichnet das, was "jetzt", zum Zeitpunkt der Rede ist oder geschieht; es ist nicht abgeschlossen und "ohne Beziehung". - in der Vergangenheit: * das Imperfekt ist eine relative, "bezügliche Zeit", es steht in Beziehung zu einer anderen Handlung in der Vergangenheit. Die Handlung ist unvollendet, wird nach der Aktionsart "im Augenblick des Vergehens" dargestellt. Ein Beispiel:
111
TPdG (1814: 112 (Ebd.: 322f ).
308f.)
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
124
Als ich schrieb, kam mein Freund zu mir. (Die Handlung des Schreibens war also noch nicht beendigt, als der Freund kam, der sie unterbrach.)"3
* das Perfekt ist eine nicht relative "Zeit" und drückt "die völlige oder vollendete Vergangenheit aus", so im Beispiel, "Ich habe geschrieben". * das Plusquamperfekt, eine "bezügliche Zeit", bezeichnet eine abgeschlossene Handlung, die in Beziehung zu einer anderen, später erfolgten Handlung steht: "Als ich den Brief geschrieben hatte, kam mein Freund zu mir". - im Futur gibt es eine relative und eine absolute Form: * das Futurum "absolutum" oder Futurum "simplex" ist eine "Zeit" des nicht Abgeschlossenen und steht ohne Beziehung auf eine andere Handlung. * das Futurum "exactum" oder "compositum" betrachtet die Handlung als in der Zukunft abgeschlossen in bezug auf eine andere Handlung: "Ich werde geschrieben haben, ehe du zu mir kommen wirst." Mit Hilfe der Weglaßprobe belegt Heyse den bezüglichen Charakter des Imperfekts, Plusquamperfekts und des zusammengesetzten Futurs. Sätze, in denen Verben in diesen Tempora allein stehen, seien unklar: Beim Satz "Ich liebte meinen Freund sehr" z.B. erwartet der Hörer seine Fortsetzung, etwa "als..."; dasselbe gelte für "ich werde ihn gesprochen haben" - laut Heyse sei es zu ergänzen durch: "wenn..." 114 Eine genaue Darstellung der Origo ist aber nicht zu finden, gibt es aber generell zu dieser Zeit noch nicht. Heyses Darstellung der Tempora von 1814 läßt sich in zwei Schemata fassen: Schema 1 stellt die Zeiten der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft auf der Grundlage des Beziehungscharakters der ausgedrückten Handlungen zusammen. Schema 2 basiert auf dem Aspektunterschied hinsichtlich des Beziehungskriteriums. Nur aus dem zweiten tritt die Symmetrie des Heyseschen Systems deutlich hervor: Schema 1: temp. Beziehung OHNE BEZIEHUNG
MIT BEZIEHUNG
Tempus PRÄSENS
Präsens ("jetzt") (unvollendet)
PRÄTERITUM
Perfect (vollendet)
Imperfect (unvollendet) Plusquamperfect (vollendet)
FUTURUM
Futurum simplex (unvollendet)
Futurum exactum oder compositum (vollendet)
113 TPdG (1814: 322f ). 114 (Ebd.: 369f.).
125
Syntax
Schema 2: — T e m p u s RELATIV
NICHT RELATIV
VOLLENDET
Futurum exactum Plusquamperfectum
Perfectum
NICHT VOLLENDET
Imperfectum
Präsens Futurum simplex
Aspekt
^
Dieses System gilt ebenfalls für den Konjunktiv, dessen Temporalsystem für Heyse mit dem des Indikativs identisch ist. Strukturell werden die beiden Modi des Indikativs und des Konjunktivs gleich behandelt, es gelten dieselben Temporalbezüge. Die [hätt]-Formen werden ausgehend von den entsprechenden Indikativformen untersucht und nehmen für Johann Christian Heyse so einen Vergangenheitswert an. Das hat unmittelbare Auswirkung auf den Gebrauch dieser Formen in der indirekten Rede, wo er für die Zeitenfolge plädiert. Die [würd]Formen fehlen ganz. Sie werden in einer Anmerkung kurz erwähnt als mögliche Formen der [hätt]-Formen: Man könne "ich hätte, du hättest... " umschreibend ersetzen durch "ich würde haben" und "ich hätte gehabt" durch "ich würde gehabt haben". Er geht aber nicht auf den Ausdruck des Wünschens ein, auch nicht auf die Fälle, wo diese Formen nicht ersetzt werden.115 Das läßt sich vereinfacht so darstellen: INDIKATIV
KONJUNKTIV
PRÄSENS
ich habe
ich habe, du habest
IMPERFEKT
ich hatte
ich hätte
PERFEKT
ich habe gehabt
ich habe gehabt
PLUSQUAMPERFEKT
ich hatte gehabt
ich hätte gehabt
FUTUR ABSOLUTUM
ich werde haben
ich werde haben
FUTUR EXACTUM
ich werde gehabt haben
ich werde gehabt haben
115 TPdG (814: 333f.).
126
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
2.2.2.2.4. Die Kategorie der Zeit und die Tempora -Die Neuerung von 1827 Das Neue an der Ausgabe der TPdG von 1827 ist die Untersuchung der Tempora. Carl Wilhelm Heyse stützt sich dabei auf eine Kritik am Modell der lateinischen Grammatik und kommt zu einer Neueinteilung bezüglich des Tempus und der Aktionsart. Er reduziert die Zahl der eigentlichen Tempora wie sein Vater auf sechs und verzichtet endgültig auf die komplexen symbolisierten Modelle der Grammatik Aichingers (1753), die die [würd]-Formen zusammen mit dem Futur behandelt."6 Carl Wilhelm Heyses Anschauung der Unterscheidung relativ/nicht relativ auf das Präsens und die Zeiten des Futurs findet sich auch in der Theoretisch-praktischen Grammatik von Heinsius."7 Dieser überträgt wie Heyse das Tempus-System des Indikativs ganz einfach auf den Konjunktiv: Die [hätt]-Formen werden so zu Vergangenheitsformen. Es werden jetzt nicht mehr die lateinischen Bezeichnungen Präsens, Präteritum und Futur verwendet, sondern die deutschen Entsprechungen Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft. Jede Handlung wird anhand von drei Aktionsarten beschrieben: ingressiv ("Anfang"), durativ ("Mitte", "Währung"), egressiv ("Ende"). Daraus zieht Carl Wilhelm Heyse für das Präsens einen wichtigen Schluß: Er unterscheidet eine abgeschlossene ("vollendete") und eine nicht abgeschlossene ("währende") Gegenwart und weist auf die häufige aspektuelle Verwechslung von Vergangenheit und Abgeschlossenheit hin: Fälschlich hält man diese Zeitform [die vollendete Gegenwart] gemeiniglich für ein Tempus der Vergangenheit. Dieser Irrthum ist daher entstanden, weil man das Vollendetsein der Handlung mit der vergangenen Zeit verwechselte [...]."*
Der Ursprung dieses Irrtums liegt ftlr Carl Wilhelm Heyse in der lateinischen Grammatik, wo der Sinn des Perfectums nicht erkannt worden sei: Dieses muß nämlich neben seiner Bedeutung als Zeitform für die vollendete Gegenwart (ich habe geliebt, gelesen) zugleich den mangelnden Aorist der Vergangenheit ausdrücken, wofilr wir uns im Deutschen des Imperfects der Vergangenheit bedienen (ich liebte, ich las)." 9
Es wäre folglich falsch, das lateinische Perfekt mit dem deutschen Perfekt gleichzusetzen, wo ja schon das Tempus des Hilfsverbs ("ich habe gelesen") anzeigt, daß es sich um eine Zeitform der Gegenwart handelt. In der Vergangenheit gibt es wie in der Ausgabe von 1814 zwei Tempora, nämlich das Imperfekt zur Bezeichnung einer vergangenen nicht abgeschlossenen Handlung und das Plusquamperfekt, die abgeschlossene Vergangenheit. Auch die Zukunft kennt zwei Zeitformen, das durative einfache Futur und das zusammengesetzte Futur zur Bezeichnung einer zukünftigen Handlung, "in dem Moment ihres Vollendetseins". 116 117 118 119
Naumann (1986: 278-280). Heinsius (1807); (1817: 103-106). TPdG (1827: 414). Ebd.
127
Syntax
Im zweiten Teil des Verbkapitels nennt Carl Wilhelm Heyse als absolute Tempora das Präsens, das Imperfekt und das Futur in ihrem aoristischen Gebrauch; alle anderen Zeiten mit Hülfsverba seien "beziehliche Zeiten". Dabei könne der Bezug auf eine andere "Zeit" ausdrücklich genannt sein oder nicht. Heyse führt bei den absoluten Tempora außer Präsens und Imperfekt auch zwei mit Hilfsverb an, nämlich das absolute Futur und das Perfekt, wenn sie die Bedeutung des lateinischen Perfekts haben: "Ich liebe meinen Vater, habe ihn geliebt, werde ihn immer lieben". Absolute Tempora könnten daher auch durch zusammengesetzte Tempora ausgedrückt werden: Aber auch das Perfectum kann hierher [zu den absoluten Zeiten] gerechnet werden, da die Beziehung auf die Gegenwart darin so enthalten ist, dass sie nicht ausgedrückt zu werden braucht: ζ. B. ich habe den Brief geschrieben. 1 2 0
Relative Tempora sind für Carl Wilhelm Heyse Futurum exactum, Plusquamperfekt und das Imperfekt als Ausdruck der Dauer (imperfektiv). Das deutsche Imperfekt drücke eine nicht abgeschlossene Handlung aus und stehe für den griechischen Aorist, was zu Widersprüchen führe. In "Das Kind ertrank" wäre es folgerichtig immer noch möglich, eine Beziehung zu einer bestehenden Sache herzustellen, während "Das Kind ist ertrunken" die Handlung als "reine Beziehung auf die Gegenwart wiedergibt und mehr ankündigende als erzählende Kraft" hat.121 Carl Wilhelm Heyses Beschreibung ist sehr nuanciert; deshalb läßt sich schwerlich eine Tabelle erstellen, das dem Schema der relationalen und nicht-relationalen Tempora bei Johann Christian Heyse entspräche. Sie könnte etwa folgendes ergeben:
BEZIEHUNG
VERGANGENHEIT
GEGENWART
ZUKUNFT
"ABSOLUTE ZEITEN"
Imperfekt
Präsens ggf. Perfekt
ggf. absolutes Futur
Perfekt
die beiden Futuren
"RELATIVE ZEITEN"
120 121
Imperfekt als Ausdruck der Dauer Plusquamperfekt
(Ebd.: 470). Car Wilhelm Heyse ftlhrt u.a. folgende Beispiele an: "Ich danke ihm, weil er mir einen Gefallen erwiesen hat." (relatives Perfekt) "Er steht mir bey, weil ich ihm beygestanden habe." (relatives Perfekt) "Er steht mir bey, weil ich ihm beystand." (Imperfekt Aorist) "Ich lobe meinen Freund, weil er es verdiente." (relatives Imperfekt) "Ich lobe meinen Freund, * weil er es verdient hatte, / verdient hat."
128
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Die Formen auf [würd-] und [hätt-] werden nicht untersucht. Der einzige Hinweis darauf ist identisch mit der Anmerkung der vorhergehenden Ausgaben. Carl Wilhelm Heyse selbst schlägt zusammenfassend folgendes Schema vor, dessen Bedeutung in der Einordnung der Aktionsarten und insbesondere der Form "ich habe gelesen" als "vollendete Gegenwart" liegt. Nur die zwei letzten Reihen geben jedoch gebräuchliche Formen wieder:
"--^EITBEZUG GEGENWART
VERGANGENHEIT
ZUKUNFT
AKTIONSART*—^ BEGINNENDE HANDLUNG
ich bin im Begriff ich war im Begriff zu lesen zu lesen
ich werde im Begriff sein zu lesen
WÄHRENDE HANDLUNG
ich lese
ich las
ich werde lesen
VOLLENDETE HANDLUNG
ich habe gelesen
ich hatte gelesen
ich werde gelesen haben
Die Originalität der Heyseschen Grammatik zeigt sich außer in der bevorzugten Behandlung der Tempora - wodurch sie sich von den anderen allgemeinen Grammatiken der Zeit absetzt - in der wenn auch überladenen Untersuchung der Aspekte in der Ausgabe von 1827 sowie vor allem in der Behandlung des Perfekts als Form der abgeschlossenen Gegenwart. Die Tempora sind zum Teil eine deiktische, an den Augenblick des Sprechens gebundene Kategorie und eigentlich keine absoluten Bezugnahmen auf Handlungen der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft; sie haben keinen absoluten Wert zeitlicher Bezugnahme, sondern lassen den verbalen Aspekt und/oder die Aktionsart zum Ausdruck kommen. Das Grundmodell kennt drei Modi und sechs Tempora, wobei Modus und Tempus wesentliche Kategorien des Verbs sind.122 Damit folgt Heyses Grammatik der Roths unter Einbeziehung und Erweiterung der Untersuchungen Meiners. Sie steht anderen Grammatiken mit demselben theoretischen Ansatz sehr nahe, besonders denen von Heinsius und Steinheil. Vermutlich läßt sich diese Gemeinsamkeit dadurch erklären, daß die Verfasser Mitglieder des Frankfurtischen Gelehrtenvereins waren, die beschlossen hatten, sich in ihrer Arbeit auf die Grammatik Roths zu beziehen. Leider führt Carl Wilhelm Heyse seine Behandlung des Konjunktivs Imperfekt, dessen modalen Wert er außer acht läßt, nicht weiter. 122 Genauere Analysen der Tempora, die sich im letzten Kapitel der ursprünglichen Dissertation befinden (vgl. Vorwort und allgemeine Einleitung), sind hier nicht aufgenommen;
Syntax
129
2.2.2.2.5. Etzlers System, die beiden Konjunktivreihen, und seine Kritik an Heyses System der Tempora und Modi Die Untersuchungen, die Johann Christian und Carl Wilhelm Heyse zu den Tempora des Konjunktivs und zum Konjunktiv als einzigem und einheitlichem Modus vorlegten, wurden von Etzler, einem Kollegen Johann Christian Heyses, in Frage gestellt. Die Systematisierung in seinem Artikel Vom deutschen Conjunctive (1826) fußt im übrigen auf der Kritik an Herling wie an der Grammatik Heyses. Sie geht in zwei Richtungen: die allgemeine theoretische Behandlung des Konjunktivs, und dessen konkreter Gebrauch. Etzlers Kritik an Heyse und Herling steht am Ende seines Artikels. Zunächst entwickelt er seine eigene Konzeption des Konjunktivs, um dann die beiden Hauptvertreter der entgegengesetzten Auffassung zu kritisieren. Hier soll in derselben Reihenfolge vorgegangen werden: Erst wird das außergewöhnlich Neue an Etzler gezeigt, dann im Gegenzug die Kritik dargestellt. Bereits auf den ersten Seiten Etzlers wird seine systematische und äußerst neue Vorgehensweise deutlich, denn er nimmt die Existenz zweier "Conjunctive" an. Er unterscheidet ganz neutral einen "Conjunctiv der ersten Reihe" und einen "Conjunctiv der zweiten Reihe".123 Er vermeidet es dabei, von einem Konjunktiv der Gegenwart oder der Vergangenheit zu sprechen.124 Etzler unterscheidet die jeweiligen Formen: Conjunctiv der ersten Reihe
Conjunctiv der zweiten Reihe
er gehe, er thue er sei gegangen, er habe gethan er werde gehen, er werde thun er werde gegangen seyn, er werde gethan haben
erginge, erthäte er wäre gegangen, er hätte gethan er würde gehen, er würde thun er würde gegangen seyn, er würde gethan haben
Die Tempora des Konjunktivs der ersten Reihe (I) sind nur "relative Zeitbestimmungen", die des Konjunktivs II dagegen die "conditionalen oder absoluten". So ist der Konjunktiv I der Modus der Redewiedergabe. Etzler 123 124
Etzler (1826: 93). Diese Einteilung macht Naumanns Annahme hinfällig, diese Unterscheidung und Numerierung verdanke sich der Moderne. Vgl. Naumann (1986: 302): "Erst heute hat diese Erkenntnis dazu geführt, daß man den Formen des Konjunktivs nicht mehr Tempusnamen zur Unterscheidung beilegt, sondern römische Ziffern: Konjunctiv I und Konjunctiv II." Unseres Wissens zählt Etzler zu den Ersten, wenn er nicht selber der Erste war, der im Deutschen den Gebrauch des Konjunktivs so systematisierte. Es wird sich im folgenden auf den "Conjunctiv der ersten Reihe" und "Conjunctiv der zweiten Reihe" bzw. als Konjunktiv I und II bezogen.
130
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
betont ausdrücklich - was damals sehr neu war - daß sie die Anwesenheit eines Sprechers voraussetze: "Die Obliquität setzt einen Redenden voraus".125 Der Konjunktiv I stehe nach einleitenden Verben des Sagens und Hoffens ("er behauptet, erzählt, setzt voraus, man habe sich verständigt"); oder nach Verben zur Wiedergabe der indirekten Rede bei Wunsch- und Interrogativsätzen ("er hofft, es werde alles ins Gleis kommen. Er fragte mich, ob ich wolle"). Etzler hebt hervor, daß im Falle der indirekten Rede nach "ob" der Konjunktiv I stehe. Die Formen des Konjunktivs der ersten Reihe dienen der "Redeanflihrung", wenn der Sprecher das Gesagte einem anderen zuweist: "Er habe das gethan" läßt sogleich das Urtheil des andern merken, oder wenigstens eine objective Trennung von meinem Urtheil.126
Der Konjunktiv I wird laut Etzler nur in Nebensätzen als "obliquale Rede" verwendet: Es sind immer abhängige Sätze, in welchen dieser Conjunctiv herrscht; obliquale Darstellungen des Denkens und Sprechens. 127
Der Gebrauch der Tempora im Konjunktiv I geschieht für Etzler u n a b h ä n g i g von der neuen Origo und bezieht sich nur auf deren Gebrauch in der angenommenen direkten Rede. Beim Konjunktiv II steht das Tempus dagegen im Verhältnis zum Augenblick der Äußerung des Sprechers: "Er sey" ist kein Präsens, sondern eine Congruenz; es kann sich auf einen vergangenen Zustand so gut als auf einen gegenwärtigen beziehen: "er sagte mir, er sey außer stand" [...]. Dagegen ist "er wäre" [...] ein wirkliches Präsens.128
Sehr interessant ist die Deutung des Präsens, die Etzler als einziger zu geben scheint. Dabei liegt die Verantwortung für die Äußerung im Konjunktiv II beim Sprecher: "Er hätte das gethan" aber ist ein Act meines eignen Denk- und Redevermögens. 129
Dieser Modus drückt die Bedingtheit ("bedingliche Begriffe") aus. Die Bildung des Konjunktivs II mit "würde" diene allein zum Ausdruck der Bedingung; die so gebildeten Sätze werden dann als autonome Äußerungen angesehen: "Sie haben auch nie einen andern als selbständigen Charakter". Fehlt das einleitende Verb oder wird die Konjunktion "wenn" ausgelassen, hat der Konjunktiv II eine optative Funktion: "Bedächte doch ein jeder" stehe demnach dem Imperativ "Bedenke doch ein jeder" nahe. Etzlers Ideen nimmt Carl Wilhelm Heyse allerdings in die unmittelbar an das Erscheinen dessen Sprachlichen Erörterungen (1826) anschließende Ausgabe
125 126 127 128 129
Etzler (1826: 96). (Ebd.: 95). Er ist neutraler als Heyse, der von "Ungewißheit" spricht. (Ebd.: 93). (Ebd.: 95). (Ebd.)
Syntax
131
1827 nicht auf. Eigentlich richtet sich Etzlers Kritik gegen die grammatische Praxis seiner Zeit, die darin bestand, den Formen des Konditionalis einen Vergangenheitswert zuzusprechen, und nicht zwei verschiedene Folgen von Konjunktiv zu unterscheiden. Etzler kritisiert also an Heyse und Herling, daß sie den Formen, die heute dem Konjunktiv II zugerechnet werden, einen Vergangenheitswert geben. So ist für ihn die Form "er hätte" eindeutig eine Präsentische und kein Präteritum.Das habe konkrete Auswirkungen auf die Zeitenfolge in der indirekten Rede. Heyse stellt nämlich folgende Sätze einander gegenüber: Ich sagte ihm, daß er sich vergangen hätte; er meinte aber, das wäre nicht möglich, weil er es dreimal durchgesehen hätte. Er meint, ich sey Ohrenzeuge davon gewesen.
Etzler kommentiert dazu: [...] so ist zu vermuthen (denn eine Erklärung ist nicht beigebracht), daß der Unterschied zwischen "sey" und "wäre" in der Zeitbeziehung gesucht wird; was freilich die Sache recht leicht machen würde, wenn es nur haltbar ware. 130
Noch leichter kann er Herling kritisieren, der den Vergangenheitswert der Konditionalformen des Konjunktivs ausdrücklich betont: Er [Herling] legt (§ 25) Gewicht auf die Ableitung des Conjunctivs vom Indicativ ("wäre" von "war" etc.), nach welcher auch eine Aehnlichkeit in ihrer Zeitbestimmung angenommen werden müsse. Allein nicht zu gedenken, daß die futurischen Conjunctive "er werde sprechen" und "würde sprechen" denselben Unterschied darbieten, als wie "er spreche" und "spräche", ohne daß im Indicative ein "würde sprechen" nachzuweisen ist: so hat die Verwandtschaft der bedinglichen Verbalausdrucke des Conjunctivs mit den Vergangenheitsformen des Indicativs [...] mit unserer Frage nichts zu schaffen. 131
Für Etzler beziehen sich dementsprechend die Formen "hätte", "wäre", "spräche" notwendig auf die Gegenwart, und sie können keinen Vergangenheitswert haben. Nur der Gebrauch, nicht die eventuelle Ableitung dieser Formen aus dem Indikativ der Vergangenheit, könnte Herlings Auffassung stützen. Etzler hält eine Zeitenfolge, die nicht durch den normalen Gebrauch bestätigt wird, für künstlich. Herling stellt im Unterschied zu Heyse noch eine weitere Regel auf, wonach die Aussagen im Konjunktiv I eine allgemeine Bedeutung haben sollen, während die im Konjunktiv II einen besonderen Wert haben. Für Etzler ist dies aber äußerst hypothetisch: Es wäre demnach ein Unterschied zwischen: "er bemerkte daß es kalt wäre", und "er bemerkte daß es kalt sey"; dort würde eine Wahrnehmung angedeutet, hier eine Aeußerung; dort läge zum Grunde "es war kalt"; hier "es ist kalt". Das sind Feinheiten, glaube ich, von denen der deutsche Sprach-Genius nicht das mindeste weiß. 132
130 131 132
Etzler (1826: 101), Anmerkung. (Ebd.: 103). (Ebd.: 105). Hier geht seltsamerweise Etzler nicht auf die Transposition einer usprünglich im Konjunktiv II oder im Indikativ Präsens gemachten Äußerung.
132
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Etzler spricht sich also gegen die Verwendung des Konjunktivs I zum Ausdruck einer Aussage mit allgemeinem Wahrheitswert oder einer allgemeinen Aussage aus, sowie gegen einen temporalen Unterschied zwischen Konjunktiv I und Konjunktiv II, besonders in der indirekten Rede. Diese Kritik wurde aber weder von Heyse noch von Herling positiv rezipiert. In einem langen Brief an Johann Christian Heyse vom 11. Mai 1827 stellt Herling Etzlers Interpretation in Frage: Etzler beschränkt den Gebrauch des Conjunctivs der historischen Zeitformen auf die conditionale Bedeutung. Man höre das Volk sprechen, und man wird das Künstliche seiner Argumentation richtig zu würdigen wissen.
Unter "historischen Formen" sind wohl die präterital-gebildeten Formen gemeint. Herlings Argumentation wird hinsichtlich der Präteritalformen interessant, wenn er ihnen einen modalen Wert verleiht. Doch er geht nicht wie Etzler auf die Frage der Zeitenfolge ein. Eine öffentliche Stellungnahme von Johann Christian oder Carl Wilhelm Heyse sind Verf. nicht bekannt.
2.2.2.2.6. Die Zeitenfolge Die Debatte über beide Konjunktiv-Reihen wirft in ihrer Folge die Frage der Zeitenfolge auf, wozu Etzler und die Heyses ganz unterschiedlich Stellung nehmen. Auf die relationale Analyse der Tempora gründen Johann Christian und Carl Wilhelm Heyse die Regel der Konkordanz im Indikativ: Auf eine Zeit ohne Beziehung folgt wieder eine Zeit ohne Beziehung; auf eine Zeit mit Beziehung muß wieder eine Zeit in Beziehung (auf einen anderen Gedanken) folgen. 134
Demnach und aus ihren anderen Analysen135 können im selben Satz einerseits das Präsens, Perfekt und Futurum simplex, andererseits das Imperfekt, Plusquamperfekt und Futurum compositum stehen, wie in folgenden in der TPdG angeführten Sätzen: a) Ich danke ihm, weil er mir einen Gefallen erwiesen hat. b) Er steht mir bey, weil ich ihm beygestanden habe, * beystand. c) Ich lobte meinen Freund, weil er es verdiente, * verdient hat.
Carl Wilhelm Heyse folgert 1827 aus seinen neuen Analysen: in b) auch den Gebrauch des Perfekts als relatives Tempus, das eine implizite Verbindung zum Präsens herstellt, und in a) das des Imperfekts als absolutes Tempus mit aoristischer Bedeutung. Diese Regel ist scheinbar die deutsche Anpassung einer lateinischen Zeitenfolge zu sein, die jedoch (im Latinischen) im Indikativ nicht so absolut angewandt wurde. Sie galt vor allem im Subjunktiv in der indirekten
133 134
Vgl. unten, Anhang 1, Brieftranskriptionen - S. 2 des Briefes. TPdG (1814: 369) und (1827: 470).
135
Vgl. Tabellen a.a.O. Kap. II. 2.2.2.2.3. und 2.2.2.2.4.
Syntax
133
Rede.136 Anders als durch das Vorbild der lateinischen Grammatik, das in der allgemeinen Grammatik weiter vermittelt wurde, läßt sich eine solche Regel in den deutschen Grammatiken bis 1838 schwerlich erklären: Einem präsentischen Hauptsatz folge ein Nebensatz im Präsens, Perfekt oder Futurum simplex; und ein Hauptsatz im Imperfekt lasse im Nebensatz nur ein Imperfekt, Plusquamperfekt oder Futurum compositum zu. Heinisus' Grammatiken weisen in ihren verschiedenen Ausgaben (1807, 1814, 1817) dieselbe Regel auf. Im Unterschied zum lateinischen Modell stellt Heyse jedoch sein System in Bezug auf den relationellen Charakter der Tempora auf. Diese zunächst fllr den Indikativ aufgestellte Regel wird von Heyse in der indirekten Rede auf den Konjunktiv (Präsens und der Vergangenheit) transponiert137: Mein Freund versichert, daß er in deinem Hause gewesen sey, dich aber nicht getroffen habe. Mein Freund versicherte, daß er in deinem Hause gewesen wäre, dich aber nicht getroffen hätte, •habe. 1 3 8
Etzler stellt diese Konkordanz in Frage, was ihn dazu führt, auf die Regel einer Zeitenfolge im Deutschen zu verzichten, sei es im Rahmen der indirekten Rede oder der indirekten Fragesätze.139 Der Gebrauch des Konjunktivs II sei nur insofern zuzulassen, als er jegliche Zweideutigkeit mit Indikativ-ähnlichen Formen des Konjunktivs I aufhebt. Am sonstigen sei hauptsächlich der Konjunktiv I zu gebrauchen. Etzlers neuer Ansatz blieb jedoch unbeachtet.
2.2.2.2.7. Politische Auswirkung der Festlegung und genauen Beschreibung eines Modus Die Betrachtung des Konjunktivs ist weit mehr als eine grammatische Einzelfrage. Für die Grammatiker am Beginn des 19. Jahrhunderts geht es bei dieser Diskussion um den Status der deutschen Sprache und ihrer Grammatik: Im politischen Kontext gesehen ist der Einsatz ftir die deutsche Sprache sogar von existentieller Bedeutung. Ziel ist die Vereinheitlichung des wechselnden
136 137 138 139
Ernout-Thomas (1973: 407f. und 430f.). "Dasselbe Gesetz in Hinsicht der Zeitfolge gilt auch gewöhnlich beym Conjunctiv." TPdG (1827:471) (Ebd.: 471) Ab 1838 nimmt aber Carl Wilhelm Heyse eine andere Stellung ein. Vgl. Kap. III. Etzlers Ausführungen (op. cit. 1826) sind zum Teil sehr fortschrittlich, lassen aber Kritik zu, da er in der indirekten Rede als fast ausschließliche Form den Konjunktiv I (nur im Ausnahmefall den Indikativ in bestimmten Fällen) zuläßt, selbst in der Wiedergabe der Hypothese. So wäre die Transposition des Satzes "Es würde mich sehr kränken, wenn solches Gerücht Glauben fände", "Er sagte, es werde ihn sehr kränken, wenn solches Gerücht Glauben finde." Denn: "Obliquität und Bedinglichkeit heben wegen ihrer verschiedenen Tempusformen nothwendig einander auf."
134
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Gebrauchs und seine Systematisierung durch eine kohärente bindende Beschreibung. Dazu Etzler in seinem Artikel Vom Conjunctive der deutschen Sprache: Wie gewagt es aber auch seyn mag, alles das was sich von wirklichen Abweichungen (denn es giebt sehr viele scheinbare, die bei genauerer Aufmerksamkeit als folgerecht erscheinen) auch bei klassischen Schriftstellern findet, dem Irrthum, der Nachahmung anders organisirter Sprachen, dem zu weit getriebenen Streben nach Bestimmtheit, der Furcht vor Ziererei, der Bequemlichkeit und Sorglosigkeit, der Reimnoth (bei Dichtern) zuzuschreiben: es gilt hier weniger die Ehre unsrer Schriftsteller als unsrer Sprache; es gilt die Entscheidung, ob ein System von Begriffen und Ausdrucksweisen, welches die feinern Mittheilungs-Erfordernisse vollkommen befriedigt, und jene innere umfassende Consequenz zeigt, die an einer gebildeten Sprache so wohl gefällt, aufzugeben sey gegen ein anderes, was gar kein System ist, sondern Verwirrung und Willkühr.140
Etzlers Schlußfolgerungen sind deutlich: Wenn die deutsche Sprache in den Rang einer "gebildeten Sprache" erhoben werden soll, dann muß sie ihre Formen erklären und sie systematisieren können. Es geht also weniger um den Gebrauch des Konjunktivs als um den Status der Sprache und damit um den einer normativen Grammatik par excellence. Die Existenz einer Sprache rechtfertigt die Existenz einer normativen Grammatik und umgekehrt: Eine Sprache ohne Grammatik oder ohne eine verbindliche Grammatik sei keine Sprache mehr. Die Richtlinien legt nicht mehr die Sprache der Dichtung fest. Über ihr steht der Grammatiker, weil sie keine Einheitlichkeit im Gebrauch der Formen bietet. Carl Wilhelm Heyse ist sich zwar bewußt, daß es keinen Konsens unter den Grammatikern über die Festlegung der Verwendung des Konjunktivs gibt, er erweist sich jedoch in seiner Behandlung dieses Modus als sehr konservativ und integriert noch nicht in seine Untersuchung Etzlers Analysen. Johann Christian Heyse bleibt ebenfalls derselben Tradition verpflichtet wie der Grammatiker Herling. Als theoretisch ausgerichteter Geist erstellt Carl Wilhelm Heyse ein hypothetisches Schema über die aspektivische Funktion von neun Tempora des Indikativs. Er erkennt die nicht temporale Funktion des Perfekts, das für ihn eine abgeschlossene Gegenwart ist. Heyses Grammatik zwischen 1814 und 1838 ist, was die allgemeine Darstellung des Verbs betrifft, teilweise nicht auf der Höhe der Adelungschen Grammatik, hebt sich aber von der Vorlage der allgemeinen Grammatik ab, indem sie den modalen Ansatz des Grammatikers Roth übernimmt, der stark von Kantischen Kategorien geprägt ist. Diese Sehensweise, die Heyses Zeitgenossen Steinheil und Heinsius teilen, läßt auch in dieser Frage auf die Wirkung der Reformen des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache schließen.
2.2.2.3. Die Konjunktionen
140 Etzler (1826: 107f.).
Syntax
135
Im Rahmen eines Vergleichs von Grammatiken des 19. Jahrhunderts hat sich ergeben, daß die Beschreibung der Konjunktionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine rapide Entwicklung nimmt.141 Erst zu diesem Zeitpunkt setzt sich die traditionelle Einteilung in koordinierende und subordinierende Konjunktionen durch. Obwohl die koordinierende Funktion mancher Konjunktionen gesehen wird, folgt die Einteilung weiterhin einem anderen, nämlich semantischen und nicht grammatischen oder funktionalen Prinzip. Dieser Schluß wird bestätigt durch die Aussagen Marilliers in seiner Dissertation über die Koordination142, wo er unter anderem auf die Untersuchung Sandmanns (1979) verweist. Man kann festhalten, daß die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Konjunktionen erst spät als Klassifikationsprinzip eingeführt wird und sich erst zwischen 1801 und 1819 in der deutschen Grammatik durchsetzt. Sie fehlt zwar noch in der Grammatik Bernhardis von 1801. Ihre Einführung kann jedoch nicht mit Sicherheit Heinsius zugeschrieben werden, der in seinem Theoretisch-praktischen Lehrbuch von 1819 diese Unterscheidung trifft. Ab 1828 findet sie sich jedoch in allen Grammatiken. Die einzig nachweisbare Erwähnung des Unterschieds zwischen zwei Arten von Konjunktionen und damit von untergeordneten Sätzen steht in Etzlers Abhandlung Uber subordinierende Konjunktionen aus dem Jahre 1797, die im Neudruck 1826 wieder erschien143. Die Konjunktion ist bei Johann Christian Heyse der zehnte Redeteil, abgehandelt im XIV. Kapitel der TPdG. Dieses wird von Theodor Heyse vollständig überarbeitet, der sich dabei auf die Arbeiten von Herling und Bernhardt stützt, wie sein Vater im Vorbericht der Grammatik von 1827 betont: In dieser Ausgabe fuhrt er die wesentliche Unterscheidung zwischen koordinierenden und subordinierenden Konjunktionen ein, wodurch die Satzlehre einen neuen Schwerpunkt bekommt. Die Konjunktion ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Satzanalyse, und die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Kapitel Conjunctionen und Construction ist, wie Johann Christian Heyse selbst bemerkt, offensichtlich.144 Das Kapitel über die Konjunktion folgt der üblichen Dreiteilung: Definition, allgemeine Beschreibung, Einzeluntersuchung der Konjunktionen in alphabetischer Reihenfolge. Es soll zunächst die Klassifikation des Zeitraums 1814-1822 behandelt werden, dann die von 1825 und von 1827, und zwar hinsichtlich: der allgemeinen Definition der Konjunktionen, der Zweiteilung in koordinierende und subordinierende Konjunktionen als Klassifika-
141 142
Es handelt sich um eine selbständige Forschungsarbeit, vgl. Ehrhard (DEA, 1987). Marillier (1989: 14f.): Kap. II zu den Grammatiken des 19. Jahrhunderts. Geschichtlicher Abriß des Gegensatzes "beiordnend/ unterordnend".
143
Eigene Forschungen führen zu diesem Schluß. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist Verf. auf Etzler gestoßen, es ist aber nicht gelungen, den 'Urheber' dieser neuen Einteilung zu ermitteln. Die Analyse der koordinierten und untergeordneten Sätze erfolgt unten, im Rahmen der Darstellung der "Höheren Syntax".
144
136
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
tionsprinzip, ihrer Zugehörigkeit zum Redeteil der Adverbien, des Einflusses verschiedener Grammatiker auf Theodor Heyse.
2.2.2.3.1. DerZeitraum 1814-1822: Semantische Klassifikation 1814 gehört die Konjunktion zu den Partikeln, deren Aufgabe darin besteht, Wörter, größere Einheiten (Syntagmen) und Sätze miteinander zu verbinden: [...] außer dieser unmittelbaren Abhängigkeit der einzelnen Wörter von einander, bedarf eine gebildete Sprache noch eines besondem Redetheils, welcher n i c h t n u r e i n z e l n e W ö r t e r oder Theile eines Satzes, sondern auch g a n z e S ä t z e auf mancherley Art mit einander verbindet und von einander a b h ä n g i g m a c h t . 1 4 5
Johann Christian Heyse unterscheidet je nach "Sinn" zwei Arten von Konjunktionen, gibt aber keine näheren Erläuterungen: Die deutsche Sprache hat [...] eine große Menge und Verschiedenheit von Bindewörtern, die sich jedoch alle in Hinsicht des Sinnes in zwey Hauptarten eintheilen lassen, nämlich in v e r k n ü p f e n d e und in t r e n n e n d e ; jene vereinigen Sätze und ihren Sinn, diese vereinigen zwar Sätze, aber sie trennen ihren Sinn. 146
Diese Unterscheidung, die als Einteilungsprinzip angewandt wird, ist logischsemantischer Art. Zur Erklärung dieser Vielfalt bezieht sich Heyse auf die Logik und auf die Übereinstimmung von Sprache und Denken: " So viel Arten und Unterarten von Sätzen es nun in der Logik giebt, so viel Formen dafür in der Sprache, d. i. so viel Bindewörter muß es geben." Heyse teilt, nach dem Kriterium der Konjunktion ("verknüpfend") oder der Disjunktion ("trennend"), die Konjunktionen in siebzehn Kategorien ein: 1) verbindende oder anfügende (copulative, wie "und, auch, sowohl...als auch"), 2) fortsetzende (continuative, "erstens, zweitens, übrigens"), 3) umschreibende (circumscriptive, "daß"), 4) erläuternde (declarative, "als, nämlich, oder, wie"), 5) bedingende (conditionale, "wenn, falls, wo nicht"), 6) begründende (causale, "denn, weil, da, darum"), 7) folgernde (illative, "daher, also, weswegen"), 8) zeitbestimmende (consecutive, "indem, während, vor"), 9) Verhältniß bestimmende (proportionale, "je...desto, je mehr...um so mehr"), 10) vergleichende (comparative, "wie, wie wenn, gleichwie...so"), 11) zertheilende (disjunctive, "entweder...oder"), 12) schlechthin ausschließende (exclusive, "weder...noch"), 13) bedingt ausschließende (exceptive, "außer, ausgenommen, außer daß"), 14) entgegensetzende (adversative, "sondern, aber, allein"), 15) einschränkende (restrictive, "als, nur, nur daß"), 16) einräumende (concessive, "obschon, wie wohl, zwar"), 17) zweifelhaft/ problematisch (die Konjunktion "ob"). Es bleibt anzumerken,
145 146
TPdG (1814: 471). Von Heyse hervorgehoben. Ebd.
Syntax
137
daß die angeführten Kategorien die der allgemeinen Grammatik sind, also auch bei Beauzöe, Girard und Meiner verwendet werden. 1820 ändert sich die Beschreibung leicht. Johann Christian Heyse betrachtet die Beiordnung und die Unterordnung von Sätzen. Er unterscheidet also parataktische und hypotaktische Beziehungen, d. h. die Erklärung wird funktional. Aber er teilt die K o n j u n k t i o n e n immer noch nicht nach diesen Arten der Beziehung ein, sondern behält die siebzehn Klassen bei. Beiordnung und Unterordnung werden in der lakonischen Bemerkung zusammengefaßt: "[der Satz] ist entweder eine bloße Fortsetzung von dem andern, oder er hängt von ihm ab."
2.2.2.3.2. Die Klassifikation ab 1825/27: Zweiteilung Der Neubearbeiter des Kapitels zur Konjunktion ab 1825 Theodor Heyse kommt wiederholt auf den Status der Konjunktion zurück und zählt sie wiederholt zu den Adverbien. Er bleibt der Definition Adelungs verpflichtet, der sie als "Gedanken-Verbindung" im weiteren Sinne bestimmt hatte. Bei diesem weiten Begriff ist ihm aber ganz offensichtlich unwohl, er empfindet ihn als Hindernis. Diese Zuordnung vieler Konjunktionen zur Klasse der Adverbien wird im ersten Teil seines Kapitels, am Ende des zweiten Teils, der die Zweiteilung abschließt, sowie im Verlauf seiner Analyse einzelner Konjunktionen behandelt. In einer Anmerkung147 geht er zuerst auf diese Frage ein, um sie dann weiterzuverfolgen: Wenn sich eine Konjunktion auf nur einen "Wortbegriff" bezieht, soll sie zu den Adverbien gerechnet werden. Erst später präzisiert er, daß es sich um Wörter handelt, die einmal "wirkliche Adverbien", ein anderes Mal "bindende Nebenwörter" sind. Ein Beispiel ist das Wort "auch" in dem Satz: "Mögst Du Dich auch meiner erinnern!", wo es als Adverb fungiere, im Unterschied zu seiner Funktion als Konjunktion in dem Satz: "Ich habe das schon lange gewünscht; auch zweifle ich nicht, dass es bald geschehen wird."148 Die Zugehörigkeit mancher Konjunktionen zur Klasse der Adverbien gilt für beide Hauptgruppen. Die vierte Ausgabe der TPdG von 1827 bringt eine völlige Neuerung der Klassifikation. Im Kapitel über die Wortarten werden die Konjunktionen, wenn auch implizit, als syntaktisches Organisationsprinzip anerkannt. Primäre Funktion der Konjunktion ist also laut Theodor Heyse, "zwei Sätze miteinander zu verbinden".149 147 148 149
TPdG (1827: 590). Vgl. Anm. Nr. 159. Es sei daraufhingewiesen, daß die Modalwörter und ihre unterschiedlichen illokutiven und pragmatischen Werte ein relativ neues Gegenstand der Forschung sind. In einer kurzen Anmerkung weist er aber darauf hin, daß sie auch einzelne Begriffe oder Satzglieder verknüpfen kann. Diese werden dann als "Überreste selbständiger Sätze" verstanden. Ein Beispiel: "Ich bin entweder zu Hause, oder im Garten" wäre die Ellipse von "Entweder bin ich zu Hause, oder ich bin im Garten (Ebd.: 589f.) Es wäre falsch, sich von
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Wenn nun durch diese Wörter die größte Mannichfaltigkeit und Bestimmtheit des Ausdrucks innerhalb eines Satzes erreicht werden kann, so bedarf die Sprache nur noch eines Mittels, verschiedene Satze selbst mit Bezeichnung ihres Gedankenverhältnisses an und in einander zu knüpfen und zu fügen. 150
Die Konjunktionen werden also aufgrund ihrer Wirkung auf den Satz von den übrigen Wortarten getrennt und gesondert behandelt. Der erste Teil des dreizehnten Abschnittes geht nach diesem Gesichtspunkt vor. Theodor Heyse liefert eine kritische, weitaus genauere Beschreibung der Konjunktion als die vorhergehenden Ausgaben. Sie folgt einem natürlichen Organisationsprinzip des Satzes und der Rede insgesamt, deren logischen Aufbau sie wiedergibt: Aber eben so wie die Begriffe innerhalb eines Satzes gleich Gliedern eines Körpers in einem bestimmten Zusammenhange stehn: so sind wiederum die ganzen Urtheile oder Satze selbst nur größere Glieder in dem Ganzen der Rede, von denen ein jedes zum andern ein bestimmtes Gedankenverhältniss hat. Für den Ausdruck dieser Beziehungen nun bedarf die Sprache noch eines besondern Wortes: der Conjunction oder des Bindewortes [...], dessen Geschäft also ist, von einem Satze zum andern gleichsam die Brücke zu schlagen, und dabei zugleich die Art und Weise oder die logische Form der Verknüpfung beider Sätze anzugeben. 151
In dieser relationalen Funktion gleichen die Konjunktionen den Präpositionen, so könnte man sie nach Heyse auch als "Vor- und Verhältnisswörter der Sätze" bezeichnen. Sie seien unentbehrlich, weil sie sowohl logische Bezüge herstellen als auch semantisch differenzieren. Dazu einige Beispiele Heyses, vor und nach Einfügung von Konjunktionen, die in alle späteren Ausgaben seiner Grammatik übernommen werden: Mein Freund war gestern bei mir. Ich habe ihn über die bewusste Angelegenheit gesprochen. Es war eine gute Gelegenheit. Er konnte sich nicht dazu entschließen. Er sagte das. Ich redete ihm zu. Er wollte sich noch einmal bedenken. 152 Mein Freund war gestern bei mir; und da mir dies eine günstige Gelegenheit gab, so habe ich über die bewusste Angelegenheit mit ihm gesprochen. Er sagte zwar, dass er sich nicht dazu entschließen könne; indessen, da ich ihm zuredete, wollte er sich noch einmal darauf bedenken [...]
Um die semantische Funktion der Konjunktionen, die die Nuancen im Denken wiedergeben, hervorzuheben, verfährt Theodor Heyse sehr pädagogisch und führt in einem Satz nacheinander verschiedene Konjunktionen ein: Er war nicht zu Hause, als ich nach ihm fragte. Er war nicht zu Hause, weil ich nach ihm fragte. Er war nicht zu Hause, ehe ich nach ihm fragte. Er war nicht zu Hause, wesshalb ich nach ihm fragte. Er war nicht zu Hause, damit (auf dass) ich nach ihm fragte. 153
150 151 152 153
der Interpunktion leiten zu lassen, da die Regeln zu dieser Zeit noch nicht festgeschrieben waren. (Ebd., 1827: 134). (Ebd.: 588f.). (Ebd.: 589). Ebd.
Syntax
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Dementsprechend besteht für Theodor Heyse die erste Funktion der Konjunktion darin, zwei Sätze zu verbinden. In einer Anmerkung präzisiert er jedoch, daß sie auch syntaktische Einheiten, die keine Sätze bilden, aufgrund elliptischer Zusammenhänge verbinde: Es handle sich um "Überreste vollständiger Sätze"154.
a) Binäre Klassifikation der Konjunktionen Im zweiten Teil des Kapitels untersucht Theodor Heyse die "beiordnenden Konjunktionen oder "Bindewörter" und subordinierenden oder "Fügewörter", wobei er sich auf ein rein syntaktisches Kriterium stützt, nämlich den Einfluß der Konjunktionen auf die Reihenfolge der Wörter im Satz: Nach ihrem syntaktischen Einflüsse auf die Sätze, oder nach der Wirkung, welche sie auf die Wortfolge in denselben äußern, und welche im Deutschen bedeutender ist, als in irgend einer andern Sprache, zerfallen sie in zwei Arten. Sie dienen nämlich entweder zur Beiordnung, oder zur Unterordnung der Sätze [...], und sind demnach theils beiordnende Conjunctionen [...], theils unterordnende Conjunctionen. [...] Demzufolge ist es Regel: dass nach allen Fügewörtern die Wortfolge des Nebensatzes eintritt.155
Diese erste, an die Wortfolge im nachstehenden Satz gebundene Definition wird ergänzt durch eine zweite, die die "syntaktische Gleichheit", eigentlich den syntaktischen Rang der verknüpften Sätze berücksichtigt: Durch beiordnende Conjunctionen werden Sätze in eine solche Beziehung zu einander gestellt, in welcher sie gleichmäßig durch einander bedingt, oder gleich wichtig neben einander erscheinen; - durch die unterordnenden wird ein Satz als unselbständig oder als Theil im Gebiete eines andern diesem an- oder eingefügt. 156
Diese wichtige Einsicht wird allerdings nicht weiterverfolgt. Theodor Heyses syntaktische Klassifikation der Konjunktionen wird bis zum Ende des Jahrhunderts mit minimalen Änderungen beibehalten. Innerhalb der syntaktischen Zweiteilung von "Binde"- und "Fügewörtern" verfährt er nach semantischen Kriterien. Bis 1838 hatte diese Darstellung Gültigkeit.
b) Die koordinierenden Konjunktionen oder "Bindewörter" Die koordinierende Konjunktion wäre eigentlich ihrem Wesen nach ein Adverb. Zur besseren Kennzeichnung ihrer Funktion spricht Theodor Heyse von "Conjunctional-Adverbien":
154
155 156
"Ich bin entweder zu Hause, oder im Garten" wäre die Ellipse von "Entweder ich bin zu Hause, oder ich bin im Garten." (1827: 589f.) Zur Definition der Ellipse vgl. auch Quintin (1984). TPdG (1827: 591). Zur Frage der Folge der Satzteile SPK, vgl. unten Kap. II. 2.3 und 2.4. Ebd.
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Die beiordnenden Bindewörter sind fast alle nichts, als bindend gebrauchte Nebenwörter (Conjunctional-Adverbien).157
Bei adverbialem Gebrauch stehen die Konjunktionen vor dem determinierten Element. Zu einer Änderung ("Inversion" bei Heyse) in der Folge der Satzglieder kommt es nur, wenn sie am Anfang stehen oder Wortfolgen verbinden, die nicht auf derselben syntaktischen Ebene stehen. Sonst haben sie keinen Einfluß auf die Wortfolge. Somit bezeichnet er Modalpartikeln wie "ja", "auch" als unveränderliche ohne Einfluß auf die Wortfolge ausübende Konjunktionen. Nur die Konjunktionen "denn, allein, und, oder, sondern" gelten als echte Konjunktionen, obwohl der adverbiale Ursprung der ersten beiden unverkennbar ist. Sie haben die Eigenheit, immer am Satzanfang zu stehen, keinen Einfluß auf die Wortfolge der nachstehenden Wörter auszuüben und keine andere Konjunktion vor sich zu dulden. Betrachtet man die mit "und, sondern, oder" verbundenen Satz-Ellipsen158, so gilt hier dasselbe. Als "echte" Konjunktionen werden nur diejenigen angesehen, die "auf den ganzen Gedanken des Satzes bezogen sind". Die Änderung der Wortfolge ("Inversion") ist fiir Theodor Heyse ganz offensichtlich ein Problem. Ist sie bei "aber, nämlich" nicht möglich, so ist sie bei "doch, jedoch, also, indessen" gestattet. Es gelingt ihm nicht, eine gesonderte Einteilung vorzunehmen und seine Überlegungen zu systematisieren etwa durch eine Einteilung der Wörter nach ihrer Wortart. Er trennt gewissermaßen intuitiv koordinierende Konjunktionen und Partikeln, behält aber die Bezeichnung Konjunktion bei, sei es für Modal- oder andere Partikeln159. Das Kriterium der Inversion und die Einteilung nach Konjunktionaladerverbien ließen sich folgenderweise schematisieren: Adverbien normale Klasse
Konjunktionen Conjunctional-Adverbien Partikeln u.a. Inversion möglich
koordinierende (allein, oder, sondern, denn...) keine Inversion
subordinierende Endstellung des Prädikats
c) Die subordinierenden Konjunktionen oder "Fügewörter" Die subordinierenden Konjunktionen sind in ihrer Funktion den Präpositionen vergleichbar. Ihren Einfluß auf die Wortfolge des nachstehenden Satzes und manchmal, so Theodor Heyse, auf den Modus des Verbs könne man mit der kasuellen Rektion der Präpositionen vergleichen. Durch Paraphrasen läßt sich die begriffliche Äquivalenz dieser beiden Redeteile belegen: 157 158 159
(Ebd.: 598). Im Sinne von Heyse, vgl. oben, Fußnote 149. Zur Klassifikation der Partikeln, vgl.u.a. Weydt (1979, 1987,1989); Perennec (1994).
Syntax
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Seinem Versprechen gemäß stand er schon vor Tagesanbruch reisefertig unter dem Thore. Wie er versprochen hatte, so stand er, noch ehe der Tag anbrach, reisefertig unter dem Thore. 160
Obwohl Theodor Heyse die subordinierenden Konjunktionen als einleitendes Element eines Satzes, dessen Prädikat am Schluß steht, definiert, betrachtet er "als, wie, denn, außer" als einleitende Konjunktionen adjektivischer und nicht verbaler Sätze. Parallel zu den "Conjunctional-Adverbien" hätte Heyse den Begriff "Conjunctional-Präpositionen" prägen können.161
2.2.2.3.3. Theodor Heyse in der Pflicht anderer Grammatiker Aus dieser Darstellung Theodor Heyses lassen sich drei entscheidende Einflüsse entnehmen. Er ist kein Neuerer, er fugt vielmehr die Untersuchungen seiner Kollegen Herling, Bernhardt und Etzler vom Frankfurtischen Gelehrtenverein zu einem klaren Ganzen.
a) Der Einfluß Etzlers In den Spracherörterungen162 hatte Etzler 1826 einen immer noch gültigen Aufsatz veröffentlicht, der bereits 1796 in den Beiträgen zur Critik des Schulunterrichts unter dem Titel Adverbien und Conjunctionen erschienen war und in dem er die weitverbreitete Uneinheitlichkeit der Beschreibungen zur Klasse der Konjunktionen kritisierte. Am Anfang von Etzlers Untersuchung steht eine Aufstellung der Konjunktionen, die einen "Bestimmungs-Satz" einleiten, also eine Liste subordinierender Konjunktionen. Auch er unterstreicht die Ähnlichkeit dieser Konjunktionen und der Präpositionen. Er hat vermutlich als einer der ersten die Konjunktionen je nach der Struktur der nachstehenden Verbalgruppe behandelt, ganz unter Ausschluß semantischer Überlegungen: Es unterscheiden sich die Wörter, wenigstens im Deutschen, auch äußerlich durch die besondre Construction, welche in den von ihnen regierten Sätzen statt findet. 163
Nicht zu den Konjunktionen sollen Wörter gehören wie: aber, allein, also, auch, ausgenommen, außer, dagegen, daher, dann, darum, demnach, denn, dennoch, deshalb, desto, doch, entweder, ferner, folglich, gleich, hingegen, ja, indessen, kaum,
160 161
162 163
TPdG (1827: 601). Eine solche Kategorie wird z.B. in der Grammatik von Confais und Schanen (1986) erwogen in einer Bemerkungen zu "als" in präpositionaler Verwendung. (§ 724, 727 und 733). Zu weiteren Unterschieden und ihren Auswirkungen aufSatzebene vgl. Kap. II. 2.4.2. Etzler (op.cit., 1826: 53f ). (Ebd.: 54). Im Artikel Langue von Beauzee in der Encyclopedie melhodique: 412, wird diese besondere Reihenfolge der Elemente auch erwähnt.
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
mithin, nehmlich, nicht, noch, nun, nur, oder, sowohl, sondern, sonst, theils, und, vielmehr, vielweniger, weder, wohl, zwar [...]
Seine Kritik richtet sich hauptsächlich gegen die unheilvolle Einteilung Adelungs, der mit der Funktion der "Gedanken-Verbindung" eine viel zu allgemeine Definition der Konjunktion gegeben hatte. Er stellt kopulative, disjunktive und exklusive Konjunktionen zusammen (und, auch, sowohl - als, nicht allein -sondern, aber, oder, entweder - oder, weder - noch...) und bemängelt, daß man sie zu den Adverbien rechnet. Falls sie bei dieser Wortart bleiben sollen, muß man unterscheiden zwischen "Umstandswörtern" und "VerbindungsAdverbien". Aufgabe letzterer ist: "[...] die Art und Weise der Beilegung oder Verbindung einer Vorstellung mit der andern näher [zu] bestimmen." Es handelt sich dabei entweder um semantische Abstufungen und "Einschränkungen der Verbindungen" wie mit "nicht, schwerlich,...", oder um "VerbindungsFunktionen in Hinsicht auf mehrere zu einer Haupt-Vorstellung gehörigen und verbundenen BegrifFe". Diese Konjunktionen können Satzteile oder ganze Sätze in Hinsicht auf ihre Verknüpfung näher bestimmen. Etzler untersucht die distinktiven Merkmale dieser Konjunktionen und der subordinierenden Konjunktionen, die seiner Ansicht nach die echten Konjunktionen sind aufgrund der Endstellung des Verbs im nachstehenden Satz. Zusammenfassend kann man sagen, daß es für Etzler auf implizite Weise zwei Klassen von Konjunktionen gibt: eine echte, nämlich die subordinierenden Konjunktionen, und "Verbindungs-Adverbien", die nicht verwechselt werden dürfen mit der 'normalen' Klasse der Adverbien, den Umstandswörtern. Die Verwendung des Begriffs "Verbindungs-Adverbien" durch Theodor Heyse geht wohl auf die Lektüre oder Wiederentdeckung Etzlers zurück, der als einer der ersten den konstitutiven Unterschied der Konjunktionen herausgearbeitet hat. Es ist eine rein terminologische Parallele, denn die Verbindungsadverbien ("Conjunctional-Adverbien") Theodor Heyses sind für Etzler keine Konjunktionen, und Theodor Heyse behält die Zweiteilung in koordinierende und subordinierende Konjunktionen bei. Merkwürdig ist, daß Etzler diese Ergebnisse in seine lateinischen Grammatiken und in sein Handbuch zur lateinischdeutschen Übersetzung nicht einbezog, und daß der Name Etzlers in der TPdG verschwiegen wird.
b) Der Einfluß Herlings Übersicht und Anordnung der Satz-Verbindungen164, ein Artikel Etzlers, der ein Jahr vor der TPdG von 1827 erschien, untersucht Koordination und Unterordnung ausschließlich unter dem syntaktischen Aspekt. Der Verfasser kritisiert dabei Herlings Grundregeln des deutschen Stils, wo drei Typen von abhängigen 164
Veröffentlicht in seinen Spracherörterungen,
1826.
Syntax
143
Sätzen oder "Nebensätzen" wie in der Beschreibung Theodor Heyses unterschieden werden. Aus dem Vorwort des Vaters Johann Christian Heyse geht hervor, daß sich Theodor Heyse auf die zweite Ausgabe der Grundregeln stützt. Eine genauere Analyse des von Theodor Heyse neu geschriebenen Kapitels bestätigt diesen Einfluß in zwei Bereichen: in der Einteilung der Nebensätze in drei Klassen, und in der syntaktischen Unter-suchung der koordinierenden und subordinierenden Konjunktionen, die tatsächlich stark von der ersten Ausgabe der Grundregeln Herlings abweicht. Theodor Heyse teilt die unterordnenden "Konjunktionen" entsprechend der Art der eingeleiteten Nebensätze in drei Klassen ein, je nachdem ob sie zu ersetzen sind durch - eine Nominalgruppe: "Fügewörter der Gegenstandssätze" eingeleitet durch "daß" und "ob", - adjektivische Ausdrücke: "Fügewörter der Adjectivsätze", eingeleitet durch "als, wie, denn, außer", ζ. B.: "Keiner, als der Gute, kann für wahrhaft glückselig gehalten werden, - Adverbiale: "Fügewörter der Umstandssätze". Dieselbe Unterscheidung findet sich bereits bei Herling, nicht nur in der zweiten Ausgabe der Grundregeln, sondern auch in der ersten, sowie in seinem Ersten Cursus eines wissenschaftlichen Unterrichts in der deutschen Sprache von 1828. Er untersucht "Substantivsäte", "Adjectivsätze" und "Adverbsätze", indem er sie mit den entsprechenden Konjunktionen verbindet: bzw. "daß" und "ob", "welch-, der, die, das, wer, was" und "weil, obgleich, als, wenn [...]". Theodor Heyse behält die Dreiteilung bei, ändert aber die Bezeichnungen und den Inhalt: - statt von "Substantivsätzen" spricht er lieber von "Gegenstandssätzen" wegen der Objektfunktion dieser Nebensätze, die durch die Konjunktion "daß" klar zum Ausdruck kommt: Die erstere [Conjunction "daß"] hat nur grammatische, aber keine logische Bedeutung [...] sie dient nur dazu, einen ganzen Satz als Gegenstand oder Ziel einer in einem andern Satze enthaltnen Handlung anzuführen.'65
- "Adjectivsätze" werden unterschiedlich aufgefaßt: Herling versteht darunter Relativsätze, während Heyse auch "Nebensätze" ohne verbalen Kern einbezieht (z.B. "als der Gute"). Die Bindewörter (Relativpronomina) zählt er zu den Pronomina. Der abweichenden Ansicht Theodor Heyses ist zu entnehmen, daß der allzu weite Begriff des Nebensatzes bei Herling ihn stört, ohne daß er jedoch in seiner eigenen neuen Einteilung die Einwirkung der Konjunktion auf Satzebene scharf berücksichtige. Er hält sich an Herling, insofern als er Etzler bei seiner scharfen Trennung der "Adjectivsätze" (Relativsätze) von den "subordinierten" Sätzen (als eigene Kategorievon Etzler behandelt166) nicht beistimmt. 165 166
TPdG( 1827: 594). Unberücksichtigt bleibt die Subjektfunktion der "daß"-Sätze. Vgl. oben, Etzler.
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Herlings syntaktische Untersuchung der Konjunktion scheint Theodor Heyse dagegen übernommen zu haben. In der ersten Ausgabe der Grundregeln (1823) definierte Herling Koordination und Subordination nach logischen Gesichtspunkten: Wenn zwei Satze mit einander verbunden werden sollen, so müssen sie entweder zu einem logischen (coordinative Verbindung) oder zu einem grammatischen Ganzen (subordinierte Verbindung) vereinbar seyn.
Koordination wäre somit Ausdruck einer zuerst "logischen" d.h. semantischen, und Subordination einer "grammatischen" d.h. untergeordneten syntaktischen Beziehung. 1825 und 1828 gibt Herling diese Position völlig auf. Dann erarbeitet er eine syntaktische Beschreibung der koordinierenden und subordinierenden Konjunktionen und untersucht die logischen Folgen gesondert. Er unterscheidet wie folgt: [...] A) abhängigen Beziehungen, nach welchen der abhängige Satz als eine bloße Nebenbestimmung das Verb des andern Satzes oder irgend einen Begriff desselben näher bestimmt; und den B) unabhängigen Beziehungen, nach welchen beide Sätze in dem Verhältnisse der Theile zu einem Ganzen stehen. 167
Doch Theodor Heyse ist der allgemeinen Grammatik weniger verpflichtet als Herling, der seine Werke systematisch durchstrukturiert, indem er der "grammatischen" Analyse der Sätze die "logische" folgen läßt. Große Ähnlichkeiten sind in der syntaktischen Abhandlung der Konjunktionen zu verzeichnen, auch in der Dreiteilung der Nebensätze, obgleich er ihnen einen anderen Wert verleiht und die Relativsätze ausläßt.
c) Der Einfluß von K. Bernhardt Bernhardts Deutsche Grammatik für den höheren Schulunterricht (1825), zeitgleich mit den Grundregeln Herlings, steht nicht mehr unter dem Einfluß der Logik und folgt einem eigenen strengen Aufbau. Der erste Teil untersucht die Phonologie, die Silben, dann die Wortlehre (eine kurze rein grammatische Betrachtung der Wortarten). Erst im zweiten Teil wird die Morphologie behandelt (Ableitung, Wortbildung, Flexion). Der sehr umfangreiche dritte Teil gilt der Syntax, und der vierte der Orthographie und Interpunktion (Schreibungslehre). Die Konjunktionen behandelt Bernhardt präzise und knapp im zweiten Teil, im dritten untersucht er ihre Auswirkung auf die Wortstellung im Satz. Seine Definition lautet prägnant: Bindewörter dienen zur Verbindung der Sätze und zur Bezeichnung ihres Verhältnisses zu einander.168
167 168
(1828:262). (1825:28).
Syntax
145
Es folgt eine Einordnung der Konjunktionen in die beiden Kategorien koordinierende und subordinierende Konjunktionen, die nicht begründet wird. Theodor Heyses Aufstellung mit zehn Kategorien koordinierender Konjunktionen steht der Bernhardts sehr nahe. Einige Untereinteilungen sind jedoch verschieden: So scheinen die "verbindenden" Konjunktionen bei Bernhardt den "anfugenden" und "fortsetzenden", teilweise auch "eintheilenden" bei Heyse zu entsprechen; die weiteren partitiven Konjunktionen sind bei beiden Autoren dieselben. Die disjunktiven sind bei Bernhardt weniger präzise dargestellt, während die Einteilung der komparativen, adversativen, konklusiven, kausalen (explikativen bei Bernhardt) und konzessiven identisch sind. Nur Bernhardts "zeitbestimmende" Gruppe scheint bei Heyse zu fehlen: Dieser rechnet sie zu den allgemein ordinativen. Den elf Kategorien Bernhardts entsprechen zehn bei Theodor Heyse.169 Manche Einordnungen sind verschieden. Unterschiedlich ist auch die Darstellung in der internen semantischen Einteilung der koordinierenden Konjunktionen, sie entspricht bei Heyse der grundsätzlichen Überlegung zu verschiedenen Satzarten.170 Was die subordinierenden Konjunktionen betrifft, so läßt sich Theodor Heyse bei ihrer allgemeinen Einteilung im wesentlichen von Herling leiten. Bernhardt gibt nur eine knappe Aufstellung der zwölf Klassen: konditional, illativ, kausal, final, temporal, lokativ, komparativ, proportional ( " j e - j e " , "je-desto", "so - so"), restriktiv, exzeptiv, konzessiv und explikativ. Dazu folgende Bemerkungen: - Bernhardt geht nicht auf "daß" und "ob" ein, die er nur am Rande erwähnt. 171 Theodor Heyse stellt sie dagegen an erste Stelle bei den Gegenstandssätzen. - Diese beiden Kategorien stehen bei Theodor Heyse unter den Adjectiv- und den Umstandssätzen. Heyses exzeptive und explikative Klassen (Adjectivsätze) werden bei Bernhardt als solche genannt (10. und 12. Kategorie). Die zehn übrigen Kategorien sind dieselben, werden nur in einer anderen Reihenfolge präsentiert. Die Grammatik von Bernhardt hat aufgrund der klaren Aufstellung der verschiedenen Arten von Konjunktionen nach semantischen Einteilungskriterien innerhalb der allgemeinen syntaktischen Unterteilung in koordinierende und subordinierende Konjunktionen einen spürbaren Einfluß auf Theodor Heyse gehabt. Diese systematische Darstellung, die weder Herling noch Etzler gaben, hat einen entscheidenden pädagogischen Vorteil und entspricht damit dem Zweck der TPdG mehr als die langen Betrachtungen Herlings.
169
170 171
Bernhardts Einteilung war folgende (1825: 28f.): "verbindende, vereinigende, eintheilende, ausschliessende, entgegensetzende, einräumende, vergleichende, Zeitbestimmende, erläuternde, gründliche, folgernde". Hierauf soll weiter unten bei der Einteilung der Sätze eingegangen werden Vgl. Kap. II. 2.4. (Ebd.: 30).
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Theodor Heyse ist folglich mehreren Grammatikern verpflichtet: Etzler wegen dessen kritischer Analyse der Konjunktion als einer Wortart, die oft dem Adverb nahe kommt; Herling wegen dessen streng grammatischer Analyse und der Einteilung der subordinierenden Konjunktionen in Gegenstands-, Adjectiv- und Umstandssätze je nach möglicher Ersetzung mit den entsprechenden funktionalen Gruppen; auch wegen des besonderen Status der Verbalsätze mit "daß"und "ob" (wenngleich Theodor Heyse es ablehnt, Relativsätze in die Nebensätze aufzunehmen); Bernhardt schließlich wegen der ausführlichen und genauen Aufstellung der verschiedenen Konjunktionen unter semantischen Gesichtspunkten, die sich leicht mit der Unterteilung Herlings verbinden läßt. Dazu bleibt Theodor Heyse der pädagogischen Bestimmung der Grammatik treu, die angeführten Beispiele sind leicht verständlich, den Lesern angepaßt und stehen im Anschluß an die Beschreibung jeder einzelnen Konjunktionsart. Die Inkonsequenzen der Heyseschen Grammatik wie etwa die Aufnahme von Partikeln, die sich als heterogene Klasse erweisen, unter die Konjunktionen oder die Darstellung von 'Konjunktionen', die in einigen Fällen keine Verbalgruppe einleiten, sind die zu seiner Zeit üblichen. Seinen Schulgrammatiker-Kollegen ist Theodor Heyse 1825 und 1827 mit seinen Untersuchungen jedenfalls voraus und von der Tradition der allgemeinen Grammatik weiter entfernt. Die Untersuchung der Wortarten in der Grammatik Heyses zwischen 1814 und 1827 bleibt ambivalent, trotz des Einschnitts, den die Überarbeitung der Kapitel zur Klassifikation der Redeteile, zum Verb und den Konjunktionen 1825/27 brachte. Die Söhne folgen der Entscheidung Johann Christian Heyses zugunsten einer Morpho-Syntax und behalten die theoretische Analyse der Wortarten nach dem Vorbild der allgemeinen Grammatik bei. Das Partizip wird zur Verbklasse gerechnet. Die Unklarheit zwischen den Wortarten und ihrer Funktion im Satz besteht weiter. Die Grammatiken von Adelung, Steinheil und Heinsius dienen offensichtlich als Vorbild, oder es wird implizit auf sie Bezug genommen. Wohl aus politischen Gründen vermeidet es Heyse, französische Autoren zu zitieren, deren Formulierungen er jedoch oft fast wörtlich übernimmt. Der Einfluß des Frankfurtischen Gelehrtenvereins auf Heyses Grammatik ist nach 1825 ganz unbestritten, als Theodor und Carl Wilhelm Heyse ihrer jeweiligen Arbeit die Grammatiken Herlings und Bernhardts zum einen, die Roths zum andern zugrundelegen. Carl Wilhelm Heyse ist weniger innovativ als sein Bruder wegen seiner Neigung, bei der Untersuchung der Tempora ein theoretisches Schema anzuwenden, das nicht die Wirklichkeit der Sprache berücksichtigt. Die Grammatik Heyses weist die Besonderheit auf, daß sie Neuerungen auf mehreren Gebieten bringt: bei der Analyse der Konjunktionen, die jetzt in zwei Arten eingeteilt werden; bei den Modi, die sich auf Kantische Kategorien gründen; und teilweise bei der Analyse der Tempora (insonderheit des Perfekts) nach Schemata, die nicht in Form einer derartigen Synthese in anderen Grammatiken der Zeit zu finden sind. Innerhalb des immer noch vorgegebenen Rahmens der allgemeinen
Syntax
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Grammatik vergrößert sich der Abstand zwischen Theodors eher semantischsyntaktisch und dem eher semantisch ausgerichteten Geist Carl Wilhelms.
2.3. Höhere Syntax - Wortfolge und Satzlehre Die Ambivalenz bei der Analyse der Wortarten in Heyses Grammatik, die aus ihrer Verpflichtung gegenüber der allgemeinen Grammatik und der Einbeziehung der Beiträge des Frankfurtischen Gelehrtenvereins resultiert, kennzeichnet auch das Syntaxkapitel. Die Darstellung zur "höheren Syntax" zeigt zwischen 1814 und 1840 eine deutliche Entwicklung. 1814 bietet die Satzlehre noch eine Klassifikation der verschiedenen Satzarten, 1827 beginnt Theodor Heyse dagegen mit einer Analyse der Wortfolge und untersucht dann die Satzverbindungen. Diese Zweiteilung des Kapitels belegt die Bedeutung einer neuen geistigen Strömung. Das Syntaxkapitel wird ausführlicher und umfaßt über einhundert Seiten. Wenn die Untersuchung der Satzglieder während dieses Zeitraums unverändert bleibt, so nicht die allgemeine Darstellung der Wortfolge und der Klassifikation der Sätze. Im folgenden soll die Neuerung in der Heyseschen Grammatik seit 1814 gezeigt werden, die sie von anderen deutschen Grammatiken der Zeit unterscheidet und durch die sie sich zu einer angemessenen Beschreibung der deutschen Sprachwirklichkeit entwickelt, und zwar in ihrer doppelten Verpflichtung gegenüber der Grammatik von Girard und den Mitgliedern des Frankfurtischen Gelehrtenvereins. Wegen des großen Unterschieds der Kapitel bezüglich Inhalt und Aufbau innerhalb des angegebenen Zeitabschnitts steht dabei die Analyse der Satzglieder am Anfang, die theoretische Abhandlung über die "natürliche Wortfolge" im Deutschen schließt an, dann folgt die Klassifikation der Sätze.
2.3.1. Satzlehre und allgemeine Grammatik Während in der Grammatik Adelungs eine Untersuchung der syntaktischen Funktionen fehlte (mit Ausnahme des Subjekts und des Prädikats), bezieht sie Johann Christian Heyse mit ein und steht dadurch in der deutschen Tradition der allgemeinen Grammatik. In der Wahl der von Heyse verwendeten Begriffe ist der Einfluß der französischen allgemeinen Grammatik zu erkennen, wie sie Girard als Urheber dieses Denkens innerhalb der französischen Grammatik in Les Vrais Principes de la langue franqaise (1747) aufgenommen hatte und wie sie teilweise in Deutschland durch seine Schüler Meiner und Heinsius vertreten wurde. Heyse knüpft offensichtlich an sie an, ohne sie allerdings zu nennen. Obwohl die Untersuchung der Satzglieder von Court de Gebelin (1776) oder Girault-Duvivier (1812) aufgegriffen wurde, ist der Bezugspunkt der vorlie-
148
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
genden Arbeit die Grammatik Girards, da weder Heyses handschriftliche Randbemerkungen in seinem Vorbericht oder seiner Einleitung in die TPdG noch das Studium seines Briefwechsels Hinweise darauf geben, welche Grammatiken er kannte oder auf welche er sich in dieser Angelegenheit tatsächlich direkt bezog. Die Grammatik von Port-Royal hatte einen Fortschritt bedeutet, denn das einfache Satzmodell von Subjekt/Prädikat wurde differenzierter, es kamen Kasus in der Verbalrektion (casus obliquus), ein Objekt (casus rectus) und Umstandsbestimmungen ("compliments") hinzu. Hatte sie hinsichtlich der logischen Analyse einen starken Einfluß auf die deutsche Grammatik, so wurde ihre detailliertere Analyse der Satzglieder nur bedingt angenommen. Wie JeanClaude Chevalier (1968) in seiner Dissertation über die Geschichte des Begriffs "compliment" darlegt, hat die Grammatik Girards eine geistesgeschichtliche Wende gebracht durch die Unterscheidung von sieben grundlegenden Satzgliedern bzw. -funktionen. Grammatiker wie Meiner und später Heinsius oder Spittlegarb (1799) haben dieses neue System wenn auch vereinfacht übernommen. Die Grammatik Heyses steht eindeutig in dieser Tradition. Weder Carl Wilhelm noch Theodor Heyse haben die Darstellung des Vaters verändert.
2.3.1.1. Das System Girards und die deutsche allgemeine Grammatik (Meiner, Spittlegarb, Heinsius) Girard stellt im Satz sieben Hauptfunktionen auf, "die die Wörter in der Harmonie des Satzes erfüllen müssen" ("fonctions que les mots doivent remplir dans l'harmonie de la fräse"172). Das sind das Subjektiv (der "subjectif"), hierauf bezieht sich die Äußerung (er steht im "regime dominant"); das Attributiv als Anwendung auf das Subjekt (der "attributif", "l'application qu'on fait au sujet", steht im "regime assujetti", eigentlich der verbale Inhalt der Äußerung); das Objektiv ( "l'objectif"), vom Attributiv regiert; das Terminativ ("le terminatif"), bezeichnet das Ziel des Betroffenseins; der Umstand ("le circonstanciel", eigentlich eine freie Umstandsangabe); das Conjonktiv ("le conjonctif") und das Adjonktiv ("l'adjonctif'). Die beiden letzten Funktionen, werden gesondert genannt, sie sind unabhängig von den Rektionen der anderen Teile. Das Conjonctiv dient zur semantisch-logischen Verbindung und kann das Attributiv regieren; das Adjunktiv ist eine "bloße Begleitung" ("simple accompagnement"), betrifft appositive und kommentative Strukturen unterschiedlicher Art. Es sei das erste Schlüsselbeispiel Girards genannt, mit unserer Zuschreibung der entsprechenden Funktionen173:
172
(Ebd.: 90f.).
173
(Ebd.: 93f.). Die w ö r t l i c h e Übersetzung des Satzes ergibt:
Syntax
/Monsieur /quoique /le m6rite Adjunktiv Conjonctiv Subjektiv
/ait / Attributiv
149 /ordinairement/ Umstand
/un avantage solide /sur la fortune / cependant, / chose itrange, / nous / Objektiv Terminativ Conjonctiv Adjunktiv Subjektiv /donnons / toujours /la pr6f6rence / ä celle-ci /. Attributiv Umstand Objektiv Terminativ
Meiners System, das er im zweiten Teil seiner Allgemeinen Sprachlehre darlegt, ist sehr vereinfacht. Er unterscheidet ein Subjekt, ein Prädikat, ein reales und ein personales Objekt (Objekt der Sache und der Person), sowie ein Instrumental, denen er den Namen der verschiedenen Kasus zuschreibt.174 Der Terminus und Begriff "Attributiv" fällt weg zugunsten der logischen Begrifflichkeit, "Prädicat". Girard ging vielmehr von der Aussagekraft und semantisch-pragmatischen Verhältnissen aus, während Meiner in dieses System eher valenzbezogene Rektionsbetrachtungen einbezieht, und insofern die traditionnelle Lehre von Casus obliquus/casus rectus stärker aufnimmt. Er spricht von einem Ablativ, obwohl dieser Kasus als solcher im Deutschen nicht besteht, um Präpositionalobjekte zu bezeichnen. Die Beispiele werden wie oben, also mit Zuteilung der bei Meiner entsprechenden Funktion, wiedergegeben175: /Der Sohn /hat /den Nachkommen /den Verlust /durch das Verdienst Subject Prädicat Object personale Object reale Instrument Nominativ Dativ Accusativ Ablativ /unendlich ersetzt / 2. Teil des Prädicats
Der Genitiv wird als abhängiger Kasus, "Verhältnißterminus", betrachtet: /Der Sohn Gottes Nominativ mit Genitiv den Verlust des Eb. Gottes Accusativ mit 2 Genitiven
/hat Prädicat
/den Nachkommen Adams/ Dativ mit Genitiv
/durch das Verdienst des Todes/ Ablativ mit Genitiv
unendlich ersetzt. 2.Teil des Prädicats
"Mein Herr,/ obwohl /das Verdienst /üblicherweise /auf Reichtum /einen großen Vorteil/ Adjunktiv Conjonctiv Subjektiv Umstand Terminativ Objektiv hat/, /geben zug". Attributiv Attributiv
174 175
/wir
/jedoch
/immer /seltsamerweise/ letzterem
Subjektiv Conjonctiv Umstand Adjunktiv
Terminativ
/den VorObjektiv
Es wird absichtlich jegliche Parallele mit aktuellen Bezeichnungen der Kasusgrammatik (etwa Fillmore z.B.) vermieden. Meiner (1781). (Ebd.: 161f).
150
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Spittlegarb seinerseits nennt 1799 neben Subjekt und Prädikat "Zielwörter, Zweckwörter, Aneignungswörter, Beifügung", während Heinsius176 bis 1830 ständig an seiner Einteilung arbeitet. Sein System wird ausgebaut, umfaßt aber Subjekt, Prädikat, Kopula (diese Dreiteilung ist bei Heinsius deutlicher als bei Heyse), ein "Zweckwort", welches Dativ- oder Akkusativobjekt sein kann, und eine präpositionale Ergänzung.
2.3.1.2. Das System Girards bei Heyse Im Unterschied zu Girard, der die Satzglieder zu Beginn seines Werkes behandelt, im dritten Abschnitt über La Construction, la Fräse, le Regime, et tout ce qui concerne les regies generales de la Syntaxe (Aufbau, Satz, Rektion und alles über die allgemeinen Regeln des Satzbaus), geht Heyse im V e r b k a p i t e l auf die syntaktischen Funktionen ein, im Anschluß an die Analyse der Rektion des Verbs, und nicht im Kapitel zur Satzlehre. Johann Christian Heyse scheint im Vergleich zu der sehr unvollständigen Analyse der Satzglieder in der Grammatik Adelungs etwas Neues zu bringen177: Adelung vertrat die logische Dreiteilung des Satzes in Subjekt - Prädikat - Kopula, er unterschied im ersten Teil seiner Syntax nur zwischen einem "leidenden und einem persönlichen Gegenstand". Für ihn war klar: Das Verb wird infolge seiner Rektion konstruiert. Heyse ergänzt die Zweiteilung des Satzes in Subjekt und Prädikat durch drei Glieder, das "Object", das "Terminativ"und das "Adject". Die fünf Satzglieder entsprechen, nach der Ausgabe der TPdG von 1827, folgenden grammatischen Funktionen178: - "Subject" ist das, worauf sich die Äußerung bezieht; es steht im Nominativ und antwortet auf die Frage "wer?". - "Prädicat" ist das, was durch das Verb ausgesagt wird. - Ein transitives Verb erfordert ein "Object" oder "Zielwort" im Akkusativ. - "Terminativ" oder "Zweckwor" heißt der- oder dasjenige, wofür die Handlung bestimmt ist; es steht im Dativ. - Das "Adject" oder das "Hinzugefügte" dient zur näheren Bestimmung oder zur Verbindung mit anderen Dingen und ergänzt das Verb oder Prädikat. Heyse unterscheidet bei den Adjecten zwischen Nebenbestimmungen oder Ergänzungen, die einen einzigen Ausdruck, im allgemeinen die Verbergänzungen näher bestimmen, und den Satzbestimmungen, die sich auf den ganzen Satz beziehen.179 Diese Unterscheidung ist nur im XV. Abschnitt, Die Lehre vom Satze, anzutreffen. Adjecte seien immer Verbindungen von Substantiven oder
176 177 178 179
Vgl. ζ. B. Heinsius (1814, Bd. I: 341f.). Vgl. Johann Christoph Adelung (1782: 452f.), Wortfolge. TPdG (1827: 483). (Ebd.: 635f.). Satzbestimmungen also nicht valenz-bezogen.
151
Syntax
substantivisch gebrauchten Wörtern mit Verhältniswörtern. Doch im XV. Kapitel steht über das Adverbium, das es als Umstandswort wie ein Adject fungiere. Von den acht Satzgliedern bei Girard übernimmt Heyse nur fünf. Der Terminus "attributif" weicht dem des "Prädicats". Die logische Funktion des Verbs wird demzufolge nicht konzeptuell der (Girardschen) Aussagefunktion des Subjekts zugeordnet180. Hinzu kommt, daß Heyse nicht wie Meiner von einem "2. Prädicat" bei zusammengesetzten Tempora, bei Gebrauch eines Hülfsverbs sprechen würde. Prädicat ist das verbale Lexem, das Hilfsverb wird als solches oder gegebenenfalls als Copula analysiert. Das "conjonctif' fällt weg. Wahrscheinlich läßt sich dieser Umstand durch den Ausbau der in der Grammatik den subordinierenden Konjunktionen und der Unterordnung gewidmeten Teile erklären. "Circonstanciel" und "adjonctif' verschmelzen in die Adjecte. Erst im 15. Kapitel wird das Adverb als Umstandswort eingeführt, dessen Funktion der der Adjecte vergleichbar ist. Somit verschwindet Girards feine Unterscheidung zwischen adverbialen Ergänzungen auf Satzebene und kommentativen bzw. appositiven Strukturen. Mit Ausnahme des Subjekts werden alle Satzglieder als Objekte beschrieben. Im Unterschied zu Meiner verwendet Heyse ein Vokabular, das Girard näher ist. "Object" und "terminatif' entsprechen den realen und personalen Objekten bei Meiner. Den Genitiv bezieht er nicht in sein System mit ein.181 Wie Meiner und anders als Girard identifiziert er eine Funktion mit einem Kasus, wie im Falle des Subjekts, des Objekts und des Terminativs. Diese drei durch die Rektion des Verbs geforderten Satzglieder stehen für ihn wegen ihrer Flexion im Nominalparadigma. Dadurch, daß die Zahl der Satzglieder größer ist als bei Meiner und da Heyse die Terminologie Girards ganz klar verwendet, geht Heyses Schematisierung also auf eine ältere Grundlage als die von Meiner oder Spittlegarb zurück. Heyse schlägt im neunten Kapitel folgende Tabelle zur konkreten Satzanalyse vor182 (vgl. nebenstende Seite). Die tatsächliche Reihenfolge der Abhängigkeit der fünf Satzglieder untereinander kann man im Rahmen der logischen Darstellung des Urteils so darstellen: SATZ Subject
Prädicat Object
Terminativ
Adject (Nebenbestimmung/ Satzbestimmung)
180
Es wird hier auf die binäre/ternäre logische Einteilung des Satzes als "proposition" verwiesen. Dazu Kap. 11,2.2.1.3.
181
Der übrige Teil von Meiners semantischer und syntaktischer Analyse, der an die heutige Valenzanalyse erinnert, bleibt Heyse fremd.
182
TPdG (1827: 484); (1814: 380); SG (1829: 2 0 8 f ). Die Beispiele sind dieselben.
152
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Satzanalyse (Kapitel IX der TPdG von 1814): SUBJECT
PRÄDICAT
Person des Zustandsworts
OBJECT
TERMINATIV
ADJECT
sächlicher Gegenstand
Der Vater
schenkte
dies Buch
Dir
Der Knabe
gab
sein Taschengeld
dem Mann
Er
macht
Freude
seinen Eltern
auf der Schule.
Ich
sagte
den Rest
meiner Mutter
mit Furcht.
Altern
erzeigen
viele Wohltaten
ihren Kindern.
Krieg
raubt
Gedanken und dem Staat. Menschen
zum Lesen. armen mit Vergnügen.
2.3.2. Die Stellung der Wörter im Satz - die "natürliche Wortfolge"
Die Heysesche Grammatik eine eigenartige Ambivalenz auf. Was die theoretische Ebene der Untersuchung der Satzglieder anbetrifft, so scheinen Johann Christian und dann Theodor Heyse die von Girard angegebene, fllr die französische Sprache gültige Reihenfolge zu übernehmen, ohne die Abfolge ihres Auftretens im d e u t s c h e n Satz zu berücksichtigen.183 Theodor Heyses konkrete Analysen der deutschen Satzstruktur beheben diesen Mangel, denn er bezieht sich auf die Endstellung des Verbs und spricht dann über die verschiedenen Abfolgen der Satzglieder in den natürlichen Sprachen. Nicht so sein Vater.
2.3.2.1. Stellung des Prädikats bei Johann Christian Heyse 1814 sieht Johann Christian Heyse die zweite Position (V2) als den natürlichen Ort des Verbs im deutschen Satz an. Er untersucht die Stellung der Verbalkonstituenten (d.h. Nebenbestimmungen) nur in Verbindung mit dieser zweiten 183
Vgl. Heyses Schema oben, Kap. II. 2.3.1.
Syntax
153
Position. Damit folgt er Adelung, der 1781 die natürliche Anordnung des Satzes ausgehend von seinem zweiten Element, dem verbum finitum, analysierte, dem die übrigen Satzteile, mit Ausnahme des Subjekts, nachgestellt sind: Daher stehet das Subject voran und das Prädicat folgt demselben, weil jenes zwar an und filr sich bestimmt genug, in der Rede aber der unbestimmteste Theil ist, und erst durch dieses seine ganze Aufklärung erhalt; daher gehen die Bestimmungswörter, das Verbum finitum ausgenommen, vor dem bestimmten her [...]; daher hat das Verbum finitum seine Bestimmungswörter gemeiniglich nach sich, weil mit ihnen die Bestimmung des Predicates immer höher steigt, bis es endlich durch das unmittelbar zu dem Verbo finito gehörige Adverbium, Participium oder Verbum infinitum seine völlige Bestimmtheit erhält.184
Die Nebenbestimmungen werden wie folgt von V2 aus betrachtet: Subject
verbum finitum * >.
Nebenbestimmungen Adverb/Partizip/ Infinitiv j
Steinheil, Grammatiker und Zeitgenosse Heyses, sagt bezüglich des Prädikats: "Es hat seine Bestimmungswörter gewöhnlich nach sich"185, und folgt damit Adelung. Andere Grammatiker ordnen die Satzglieder nicht in Abhängigkeit vom Prädikat oder von der Kopula an: Heinsius gibt in den verschiedenen Auflagen seiner Theoretisch-praktischen deutschen Grammatik nur die Kombinationsmöglichkeiten von Subjekt, Kopula und Prädikat an, ohne auf die syntaktische Stellung der anderen Satzglieder einzugehen. Herling erläutert die Sonderstellung der Nebenbestimmungen des Verbums nicht; Bernhardt begnügt sich in der Ausgabe seiner Grammatik von 1825186 mit der Angabe, das Verb stehe als zweites Element im Satz.
2.3.2.2. Stellung des Prädikats bei Theodor Heyse - Erneueurung, das Prinzip der inneren Kohärenz Mit seiner Satzanalyse hat Theodor Heyse auch teil an der Erneuerung der Grammatikbetrachtung in Deutschland. Seine Überarbeitung der Satzlehre aus dem Jahre 1827 ist entscheidend, stellt sie doch die Gegebenheiten der deutschen Sprache an erste Stelle und nicht ein theoretisches Gebäude: Hierunter wird also nicht die logische [...] Wortordnung verstanden [...], sondern die der deutschen Sprache natürliche oder gewöhnliche [...].
184 185 186
Adelung (1781: 451). (1812:568). (1825. I99f).
154
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Diese für alle Bestimmungen geltende Regel steht mit der Ordnung, in welcher die einzelnen Vorstellungen sich bei Bildung eines Urtheils an einander reihen, in offenbarem Widerspruch [...]." 7
Theodor Heyse betrachtet gleichwertig als natürliche Ordnung im deutschen Satz sowohl die Abfolge der Einheiten im "Hauptsatz" als auch im "Nebensatz". Im Hauptsatz gilt die Reihenfolge Subjekt - Kopula - Prädikat (das "ganz am Ende des Satzes" steht), so ζ. B: "Die Rose ist roth. Der Vater hatte gearbeitet."; im Nebensatz Subjekt - Prädikat - Kopula (sie steht "unmittelbar hinter dem Prädicate, den Satz abschließend"). Dann gibt Heyse die allgemeine, bei allen deutschen Grammatiken seit Adelung und Meiner zu findende Regel, wonach im Deutschen das determinierende Element dem determinierten vorausgeht: An diese Haupttheile des Satzes [Subject, Prädicat, Copula] werden nun alle Bestimmungen nach dem allgemeinen Gesetze angereiht: dass das Bestimmende dem Bestimmten vorangeht.188
Theodor Heyses Darstellung ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: zum einen die neue Annahme von zwei natürlichen Folgen, nämlich im Hauptsatz und im Nebensatz, was der diachronischen Entwicklung im d e u t s c h e n Satzbau mit dem progressiven Erscheinen untergeordneter Sätze im Unterschied zur unmarkierten Folge mit dem konjugierten Verb an zweiter Stelle in der Assertion entspricht189. Im "Nebensatz" gibt es nicht mehr bloß eine "Inversion", wie das vor 1825 der Fall war und fur andere Grammatiker noch weiter gilt. Zum andern bezeichnet er die Endstellung des Prädikats als "natürliche Wortfolge". Im Zusammenhang damit, deutet er an, daß die Wortfolge im assertiven Satz bei Gebrauch des Vollverbs "sein" oder bei nicht zusammengesetzten Tempora ein Sonderfall der Analyse konstituiert: Dies" 0 trifft eben sowohl die Satzbestimmungen, als die Nebenbestimmungen. Also Object, Terminativ, Adjecte, Adverbien stellen sich vor das P r ä d i c a t , und zwar im Hauptsatze zwischen Copula und Prädicat, im Nebensatze zwischen Subject und Prädicat. Ζ. B. Ich habe meinem Bruder dies Buch an seinem Geburtstage geschenkt. Er ist gestern Abend mit seinem Freunde bei mir gewesen [...]. Nur dann werden im Hauptsatze die Bestimmungen hinter das Prädicat treten, wenn dieses mit der Aussage in eins verschmolzen ist. [...] Also: Er war gestern Abend mit seinem Freunde bei mir.
Neu ist, daß Theodor Heyse vom Prädicat ausgeht, um die Abfolge der anderen Bestimmungen zu erwähnen, sei es im Haupt- oder Nebensatz. Kopula und Verb rahmen für Heyse die anderen Bestimmungen ein: Dies erreicht sie [die Aussage] dadurch, dass sie, wo nur möglich, das [...] Prädicat oder Attribut an das Ende drängt, die weitern Bestimmungen aber in der Mitte aufstellt, so dass dieselben von
187 188 189 190 191
TPdG (1827: 645f.). (Ebd.: 645); vgl. TPdG (1814: 496). Dazu Fourquet (1938), L 'ordre des elements de la phrase en germanique ancien. Bezieht sich auf das oben genannte "allgemeine Gesetz". TPdG (1827: 645f.)
Syntax
155
Copula und Prädicat, oder (in Nebensätzen) von Subject und Prädicat umschlossen und zusammengehalten werden. Ζ. B. Obgleich ich Deinem Bruder das Plaudern streng untersagt hatte, so hat er doch dem alten geschwätzigen Nachbar unser Geheimniss mitgetheilt. 192
Aus diesen beiden Zitaten läßt sich folgendes Schema ableiten, das von den Betrachtungen Johann Christian Heyses zu V2 stark abweicht: Subject
Copula
Nebenbestimmungen
Prädicat
Diese Analyse erinnert natürlich an die für das Deutsche gültige Satzordnung, wie sie Jean Fourquets formulierte.193 Doch beide Ansätze werden mit aller Vorsicht in Parallele gebracht, da Fourquet - anders als Theodor Heyse aufgrund der Diachronie klar beweist, daß im Deutschen die zweite Stelle des Verbs im Satz die Abfolge der anderen Bestimmungen nicht beeinflußt; wenn auch die Endsstellung des Prädicats in der Rede nicht immer realisiert ist, wird die Abfolge der Bestimmungen durch die hypothetische Endstellung des Verbs bestimmt. Bei Theodor Heyse unterliegt die Reihenfolge der Satzglieder einer vorgegebenen Ordnung, wonach dem Verb das "Object" dann das Terminativ vorausgeht, während das Adject oder die adverbialen Bestimmungen dazwischen stehen können. Diese Reihenfolge entspricht der allgemeinen Regel über die Wortstellung im Deutschen. Sie wird für ihn im übrigen gestützt durch eine Gesetzmäßigkeit der Intonation: Das Element mit dem Hauptakzent muß nach dem schwächer betonten stehen. Daraus folgt eine zweite Regel, die Aufschluß über den syntaktischen Rang der Satzglieder gibt: [...] die grammatisch wichtigern, die enger und schärfer bestimmenden, so wie die volltönendem Bestimmungen f o l g e n nach dem Grade ihrer Wichtigkeit und Betonung den allgemeinem und schwächer bezeichnenden n a c h . 1 9 4
Aus dieser inneren Notwendigkeit resultiert die eigentliche "Inversion", die die Stelle der P r o n o m i n a im Satz betrifft und darin besteht, daß das pronominalisierte Object dem Terminativ vorausgeht. Seine These von der Endstellung des Verbs und der Einrahmung der Nebenbestimmungen stützt Theodor Heyse auf theoretische Überlegungen. Auch darin entfernt sich die Heysesche Grammatik von den anderen deutschen allgemeinen Grammatiken seiner Zeit. Theodor Heyses Interpretation der besonderen Wortstellung im deutschen Satz beginnt mit grundsätzlichen Gedanken über den Status der Einzelsprachen. Theodor Heyse argumentiert zunächst auf der Rede192 193 194
77tfG (1827: 643). Fourquet (1979: 157f.). (Ebd.: 647); Dazu auch das Gesetz von Wackernagel (1892). Wie von Fourquet (1938) gezeigt wird, begann die systematische und historische Untersuchung des Satzbaus, und die Diskussion um die Endstellung des Verbs, die eigentlich eine Spätstellung ist, gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
156
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Ebene, wie der Grammatiker Michaelis195, und wird darin durch neuere Untersuchungen zur Textlinguistik bestätigt.196 Die Endstellung des Verbs (oder Prädikats) entspräche dem, was man einen S p a n n u n g s b o g e n nennen könnte, der die Aufmerksamkeit des Rezipienten wachhält: [...] daß die Aufmerksamkeit des Hörers oder Lesers immer gespannt erhalten und gesteigert wird, indem ein jedes Bestimmwort in seiner Beziehung auf etwas Andres, das uns noch nicht genannt worden ist, immer über sich hinaus weis't.197
Theodor Heyse schlägt ebenfalls eine streng grammatische Interpretation dieser Gegebenheit vor. Die Endstellung des Verbs ist natürlich, sie geht ineins mit der Regel, die besagt, daß das determinierende Element vor dem determinierten steht. Sie entspricht einem Prinzip innerer Kohärenz, das eine Zerstückelung des Satzes in seine verschiedenen Teile verhindert und ihn zu einer geschlossenen Einheit macht: Die deutsche Wortordnung hat nämlich im Allgemeinen den Zweck [...] das Zerstückeln oder Zerfallen des Satzes in seine einzelnen Theile zu verhüten, und den Satz als ein abgerundetes, in sich geschlossenes Ganzes erscheinen zu lassen. 198
2.3.3. Verallgemeinerung - Skizze einer Typologie Theodor Heyses verweilt nicht bei der Betrachtung des deutschen Satzbaues. Seine Absicht ist es, die Grammatik einer Einzelsprache überhaupt zu schreiben, dementsprechend hebt er auch die Besonderheit der deutschen Sprache hervor. Wenn auch das Urteil den von der Logik vorgegebenen Regeln folgt, so müssen die Sprachen die Aussagen doch nicht in der logischen Reihenfolge der allgemeinen Grammatik französischer Prägung anführen, wonach das bestimmte Element vor dem bestimmenden stehen sollte: Allein das gleichförmige Verfahren unsres Denkvermögens bei Bildung der Urtheile kann nicht das alleinige, unumgängliche Gesetz für die Sprachdarstellung sein, da diese für sich ihre eignen Rechte hat, und sich selbst noch andre, mehr äußerliche und aus der Form hervorgehende Zwecke setzt, denen jene ursprüngliche Wortfolge vielleicht aufgeopfert werden könnte. 199
Daraus zieht Heyse zwei unterschiedliche Schlußfolgerungen, hinsichtlich der Kommunikation und der Sprachtypologie. Als erstes belegt die Sprachenvielfalt die Notwendigkeit einer von der rein logischen Folge verschiedenen Wortfolge, weil nur so die kommunikativen Belange und Intentionen Berücksichtigung finden: 195 196 197 198 199
(1825: 269f. und 1826). Aber Michaelis setzt im Unterschied zu Heyse das Verb als tragendes Grundelement des Satzes ein und steht daher stärker in der Nachfolge Meiners. Wie in der kognitiven Semantik van Dijks (1978/1980). Weder Heyse noch Michaelis arbeiten allerdings auf der Ebene der Makrostrukturen. TPdG (1827: 646). (Ebd.: 643). (Ebd.: 642).
Syntax
157
Und so zeigt es sich in der That, dass die Wortfolge sowohl in den verschiednen Sprachen nach ihrer EigenthUmlichkeit sich unterscheidet, als sie auch in verschiednen Sätzen einer und derselben Sprache wesentlich verändert wird, wo eine feinere Abschattung des Gedankens oder die Beziehung desselben auf besondre Absichten des Sprechenden dies erheischt.200
Dann unterscheidet Theodor Heyse zwei Spracharten: Die Sprachen, deren Struktur dem Französischen gleicht und wo die Wortfolge der logischen Folge sehr nahe ist, suchen seiner Ansicht nach die einfache und direkte Formulierung des Denkens.201 Andere Sprachen, etwa die meisten orientalischen, seien von "Sinnlichkeit" geprägt und bevorzugten den Reichtum und die Vielfalt der Sprachformen. Den ersten Sprachtypus scheint jedoch ein Mangel zu kennzeichnen. Heyses Kritik ist deutlich: In den Sprachen der erstem Art scheinen die einzelnen Satzglieder des festen Bandes zu ermangeln, durch welches sie in die äußere Einheit oder in das Ganze eines Satzes zusammengefasst werden müssten; Alles vereinzelt sich und fällt aus einander. 202
Es ist wohl undenkbar, daß Arnauld, Lancelot, Du Marsais oder Beauzöe Uber das strukturelle Auseinanderfallen einer Sprache wie des Französischen hätten schreiben können. Die Endstellung des Verbs und das Voranstellen des Determinierenden vor das Determinierte (wie im Deutschen) fungieren nun als Rahmen der Reflexion. Die Überlegenheit einer solchen Ordnung wird jedoch abgeschwächt durch die "Unordnung" und "Verwirrung", die der Formenreichtum und der flexible Satzbau dieser Sprachen erzeugt. Nur im Griechischen und im Lateinischen stimmen Form und Inhalt vollkommen überein, sie halten die "schöne Mitte" zwischen den beiden Sprachgruppen. In dieser Sprachtypologie kann man gewiß ein Nachwirken der von Abb6 Girard getroffenen Unterscheidung zwischen "gleichstellenden" ("langues analogues") und transponierenden oder umstellenden Sprachen ("transpositives"203) erkennen, die Beauzöe in seinem Überblicksartikel Langue (Sprache) in der Encyclopedic methodique204 gibt; auch lassen sie an seine Bemerkungen über die deutsche Sprache denken, die auf die Endstellung des Verbs im Nebensatz eingehen. Die analogen Sprachen, wie das Französische, Italienische, Spanische, folgen dem analytischen Gang: "die Gangart dieser Sprachen entspricht tatsächlich der des Geistes selbst, sie verläuft gewissermaßen parallel" ("la marche de ces langues est effectivement analogue & en quelque sorte parallele ä celle de l'esprit meme"); die umstellenden Sprachen dagegen, wie Griechisch, Latein, Deutsch, haben in der Rede "eine freie und von der natürlichen Abfolge der Ideen ganz unabhängige Gangart" ("une marche libre & tout ä fait independante de la succession naturelle des idöes"). Beauzöe präzisiert, daß diese allge-
200 201 202 203 204
Ebd. Ebd. Anmerkung. Ebd. (1747:24f.). Beauzöe: Langue: 412-414.
158
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
meinen Merkmaie andere Konstruktionen nicht ausschließen, daß in den analogen Sprachen auch Inversionen möglich sind. Der deutschen, umstellenden, Sprache widmet Beauzie einen eigenen Absatz. Trotz ihres flektierenden Charakters habe der Gebrauch, der weniger frei sei als in anderen Sprachen derselben Gruppe, den Satzbau fixiert. Im einfachen oder absoluten Aussagesatz entspreche die natürliche Wortfolge der analytischen Folge (mit dem Verb an zweiter Stelle). Die Zwischensätze ("propositions incidentes"), mit "Inversion" und Endstellung des Verbs, gehören für ihn zu den Fällen, in denen die analytische Reihenfolge aufgegeben wird. Steht Theodor Heyse in der Unterscheidung von Sprachen, die der logischen Ordnung folgen, und solchen, die davon abweichen, Girards Denken nahe, so setzt er sich durch seine negative Beurteilung der ersten Sprachgruppe deutlich davon ab. Bei Beauzde und Girard ist nichts dergleichen zu finden, sie messen selbstverständlich der analytischen Ordnung einen hohen Wert bei, beschreiben aber die tatsächlichen Strukturen der anderen Sprachen.205 Heyse gibt zudem die Vorstellung von der Inversion der Strukturen auf: Die Endstellung des Prädikats in Sprachen wie dem Deutschen wird als natürliche Ordnung angesehen. Jean Fourquet wird dies viel später beweisen.206 Theodor Heyse scheint also auf theoretischer Ebene im Vergleich zur traditionellen Satzanalyse eine Wende zu bringen, indem er von der Endstellung des Prädikats anstatt von "Inversion" spricht. Die Verbalkonstituenten bilden den Rahmen und werden in bezug auf sie definiert. Aufgrund des daraus resultierenden Spannungsbogens ist es möglich, einen 'Mangel' der analytischen Sprachen zu betonen. Wenn auch die Idee von der Einrahmung hinsichtlich eine Endstellung des Prädikats einen Fortschritt in Theodor Heyses Denken bedeutet, so sind seine Ausführungen doch insofern unbefriedigend, als er weiterhin zwei Wortfolgen im Satz unterscheidet, nämlich die im Haupt- und die im Nebensatz. Trotz des ersten Eindrucks einer Ähnlichkeit der Schlußfolgerungen mit dem Denken Fourquets beweist Theodor Heyse die Endstellung des Verbs im deutschen Satz nicht und hält an zwei grundsätzlichen Wortfolgen fest. Theodor Heyses Denken bleibt insgesamt ambivalent. Die Untersuchung der Wortarten und der syntaktischen Funktionen befriedigt vor allem aus zwei Gründen nicht. Seine Satzanalyse hat keine Auswirkung auf die strukturelle Analyse des Satzes hinsichtlich der Konstituenten. So steht Theodor Heyse im Widerspruch zu sich selbst: Er führt diesen intuitiven Ansatz, wonach der Satz von dem am Schluß stehenden Prädikat eingerahmt wird, nicht weiter und kehrt zu einer konventionellen Analyse der V2 zurück207. Dieser Teil der Heyseschen Grammatik belegt 205 206 207
Vgl. die zitierten Artikel in der Encyclopedie methodique. Jean Fourquet (1979: 124f.), Syntaxe et semantique und (op.cit.:137f.), Preface ä Maurice Marache: Syntaxe structurale de l'allemand. Dies ist umso seltsamer, als er stark die deutsche unglückliche Nachahmungssucht der Franzosen kritisierte! Vgl. oben, Kap. 1.3.
Syntax
159
somit den starken Einfluß der analytischen Ordnung auf sein Denken. Mit diesem Widerspruch korrespondiert folgende Unklarheit: Die Satzglieder werden nie an sich definiert, sondern immer in Verbindung mit einer ganz bestimmten Wortart; es geht um Substantiv, Verb, Adverb und die entsprechenden Satzteile Subjekt, Prädikat, Objekt, Terminativ, Adjekt sowie die adverbiale Bestimmung, die dieselbe Funktion wie das Adjekt hat. Die von Heyse vorgeschlagene Entsprechung von Nominalgruppe und den Funktionen von Objekt, Terminativ und Adjekt scheinen hinter den weit umfassenderen Definitionen Girards zurückzubleiben. Dort, wo Theodor Heyse die Satzglieder vermeintlich genauer bestimmt, verwendet er erneut Begriffe, die sich auf das Wesen von Wörtern beziehen und stellt so systematische Korrespondenzen zwischen Wesen ("nature") und Funktion her. Das Fehlen einer Systematik und einer zusammenhängenden Darstellung innerhalb eines einzigen Kapitels macht die Untersuchung schwierig: Drei verschiedene Kapitel gehen auf diese Fragen ein, oft in Form von Ergänzungen oder Anmerkungen, in denen dann Grundsätzliches behandelt wird. Selbst die Schulgrammatik, in der man eine klare Zusammenfassung des Problems erwarten würde, hält an der unübersichtlichen Aufsplitterung der TPdG fest.
2.4. Höhere Syntax: Wortfolge und die Klassifikation von Sätzen Ein deutlicher Fortschritt im Denken zeichnet sich in der Untersuchung der "Wortfolge" ab. In der Anlage des Kapitels Satzlehre läßt sich zwischen 1814 und 1827 der wachsende Wille Heyses ablesen, die Reihenfolge der Glieder im deutschen Satz und dessen Struktur genau zu beschreiben. Das sechzehnte Kapitel der TPdG von 1814 trägt noch die Überschrift Von der Wortfolge oder der mittelbaren Verbindung der Wörter zu mehr oder weniger einfachen Sätzen und zu Perioden oder Gliedersätzen, (Constructionslehre), während es 1827 schlicht Satzlehre lautet. 1814 werden die Satzarten abhängig von der Intention des Sprechers beschrieben. 1827 zählt dagegen die Abfolge der drei Satzteile, nämlich Subjekt, Kopula und Prädikat. Die Untersuchung der Grundstruktur der Sätze ist wichtiger als die ihre Klassifikation. Die Gliederung des Kapitels Satzlehre spiegelt diese unterschiedliche Ausrichtung wieder. 1814 gibt es drei Teile: Arten von Sätzen und Perioden, Wortfolge in einfachen und zusammengesetzten Sätzen, Zusammenziehung der Sätze. 1827 finden sich nur noch zwei große Teile: 1. Von der Wortfolge und 2. Von der Verbindung und Folge der Sätze. Teil 1 behandelt nur zwei Aspekte, die natürliche Wortfolge in den Haupt- und Nebensätzen sowie die Inversion oder "versetzte Wortfolge". Im folgenden sollen die beiden Zeiträume verglichen und die Unterschiede hervorgehoben werden. Gesondert betrachtet wird Theodor Heyses logisch-semantische und syntaktische Beschreibung der Koordination und Subordination, da er
160
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
diese infolge seiner neuen Analyse der Konjunktionen (dazu vollständig überarbeitet hat.
2.2.2.2.)
2.4.1. 1814 - Die Klassifikation der Sätze 2.4.1.1. "Form" und "Inhalt" In den Arten von Sätzen und Perioden wird zwischen "Form" und "Inhalt" unterschieden. Die Untersuchung der "Form" entspricht einer Einteilung nach ihrer illokutiven Funktion und ihrem semantischem Gehalt und weist kein einheitliches Klassifikationskriterium auf.208 Für Johann Christian Heyse gibt es sieben Satzarten: Aussage- oder deklarative Sätze, jussive oder wünschende, interrogative, exklamative, konditionale, dubitative ("zweifelnde") und gemischte (die zugleich interrogativ und konditional, oder deklarativ und exklamativ sind). Der "Inhalt" entspricht ihrer inneren, syntaktischen Struktur im Verhältnis zu ihren beiden Grundkonstituenten Subjekt und Prädikat. Johann Christian Heyse unterscheidet drei Möglichkeiten. Ein Satz kann: i) - einfach, "nackt", sein: S + Ρ (oder Sj + P, oder S + PO, wobei Subjekt und Prädikat zusammengesetzt sein können, - "ausgebildet", wenn Subjekt und Prädikat näher bestimmt sind, - "ausgebildet" oder "erweitert", wenn ein Satz als Parenthese eingeschoben wird (also etwa als Kommentativum, nicht strukturell integriert). ii) "zusammengesetzt", wenn er aus mehreren einfachen, durch Konjunktionen verbundenen Sätzen besteht iii) ein "Period", "Satzgefüge", "Gliedersatz" aus der Vereinigung mehrerer Sätze sein. Dieser Period kann zweigliedrig sein, mit Vorder- und Nachsatz, oder mehrgliedrig, falls er aus mehreren Hauptsätzen besteht.
2.4.1.2. Die vier großen Satzarten, die Wortfolge Der zweite Teil Wortfolge in einfachen und zusammengesetzten Perioden, beschreibt die vier großen Satzarten abhängig von der Reihenfolge der Satzglieder. Es handelt sich um Aussagesätze, Fragesätze, Konditionalsätze und Sätze mit versetzter Wortfolge (bei J.C. Heyse gleichbedeutend mit Inversion): i) In der natürlichen Reihenfolge stehen das Prädikat und die von ihm abhängigen Teile nach dem Subjekt: S + P. ii) In den Frage-, Befehls- und Wunschsätzen gilt die Reihenfolge: Ρ + S.
208
In neueren Klassifikationen begegnet man demselben Problem; den Versuch einer Vereinheitlichung unternahm ζ. B. Brinker (1986).
Syntax
161
iii) In den Nebensätzen (die "verbindende oder sich beziehende" Wortfolge) steht das Verb am Satzende: nach den Konjunktionen, den Relativpronomina ("Beziehungswörtern"), den Beziehungswörtern "woran, worauf, worin, wodurch, wovon, wo, usw."; nach den Interrogativpronomina ("Fragewörtern") "wann, was, was für, wie, wo"; auch in den indirekten Fragesätzen. iv) In der Inversion, die zur Hervorhebung von Einzelwörtern und von Sätzen dient. Heyse führt dazu verschiedene Fälle an (u.a.): bei Auslassung einer Konjunktion; bei Topikalisierungen, wenn statt des Subjekts ein Infinitiv, Adjektiv, Adverb, Partizip oder eine Präpositionalgruppe an erster Stelle steht, oder wenn die erste Position von einer verbalen Ergänzung ("Casus, den das Verb regiert") eingenommen wird; wenn der adnominale Genitiv links von Ν steht; bei Gebrauch von "es" als Platzhalter; bei Herausstellungsstrukturen, durch Linksversetzung einer Konstituente und ihrer Wiederholung durch ein Pronomen ("wenn der hinten stehende Kasus vorangestellt und am Ende durch ein Pronomen wiederholt wird"); wenn das Adjektiv nach dem Substantiv steht. Bei ganzen Sätzen tritt Inversion ein, wenn der Nachsatz vor den Vordersatz gestellt wird. Dieser Darstellung mangelt es an Einheitlichkeit. Sie behandelt ohne Diskriminierung syntaktische Konstruktionen auf gruppeninterner Ebene (wie im Falle des sächsischen Genitivs) und aufSatzebene, und identifiziert zugleich illokutive Funktionen eines Satzes mit einer bestimmten Folge der Satzteile.
2.4.1.3. Einflüsse 2.4.1.3.1. Johann Christian Heyse und Adelung Johann Christian Heyse entscheidet sich für eine sehr vereinfachte Darstellung der Adelungschen Einteilung, die an deren Übernahme durch Heinsius erinnert. Adelung untersucht zuerst die Wortfolge209, daran schließt das Kapitel Von den Sätzen an. Seine Wortfolge ist detaillierter dargestellt, sie umfaßt drei Teile: 1) Allgemeines zur Grundfolge S + Ρ und zur Wortfolge innerhalb von Syntagmen; 2) Änderung dieser Ordnung in Abhängigkeit von der Rede; 3) Inversion. Die Konstruktion mit dem Verb am Schluß des Satzes verweist auf eine erzählende oder deskriptive Haltung und gilt auch für den Satzbau in der indirekten Rede mit oder ohne einleitende Konjunktion "daß" ("die relativische Wortfolge"). Im letzten Teil behandelt Adelung die Hervorhebung von Wörtern oder ganzen Gruppen. Johann Christian Heyse behandelt dieses Thema erst später. Für ihn hängt die Wortfolge in den Fragesätzen nicht von der Äußerung ab, sondern gehorcht einer sprachlichen Notwendigkeit; seine Konzeption der Wortfolge in den Nebensätzen ist umfassender, insofern als er alle Beziehungs-
209
Adelung (1782: 450).
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Wörter und Subjunktionen miteinbezieht, während Adelung sich nur mit der indirekten Rede beschäftigt. Es ist außerdem eine Umkehrung der Terminologie in den Grammatiken von Heyse und Adelung festzuhalten. Adelungs Opposition von "Materie/Form" stellt Heyse in fast wörtlicher Umkehrung seine Begriffe "Form/Inhalt" gegenüber. In Von den Sätzen trifft nämlich Adelung auf der strukturellen Ebene die Unterscheidung von der "Materie" der einfachen, "nackten" Sätze - mit Subjekt und Prädikat - und den komplexen, "ausgebildeten", und "erweiterten" Sätzen bestehend aus komplexem Subjekt oder Prädikat oder aus mehreren Sätzen. Bezüglich ihrer "Form" sind sie deklarativ, interrogativ, jussiv, exklamativ. Es folgt eine lange Liste von Sätzen, zusammengestellt nach der semantischen Funktion der sie einleitenden Konjunktionen.210 Johann Christian Heyse beschäftigt sich dagegen zuerst mit dem "Inhalt", d.h. dem semantischen Gehalt und der illokutiven Funktion, indem er sieben große Satzarten unterscheidet und so die strengere Darstellung seines großen Vorläufers unberücksichtigt läßt. Außerdem geht er nicht wie Adelung, der seine Anschauung von Beauzee211 zu übernehmen scheint, auf die Gegensatzpaare zwischen einfachen und komplexen Sätzen, nackt - ausgebildet - erweitert ein, sondern setzt drei Gruppen an. Darin liegt der wesentliche Unterschied zur Adelungschen Grammatik, deren 'pragmatische'212 Tendenz der Struktur der Sprache nähersteht. Johann Christian Heyse bringt also im Vergleich zu Adelung eine doppelte Umkehr: er behandelt die Klassifikation der Sätze vor der Wortfolge und er kehrt die Adelungschen Begriffe von "Materie/Form" um. Die syntaktische Beschreibung Heyses ist aber generell weniger streng als die Adelungs und bedeutet einen Schritt zurück, obwohl die Untersuchung der Nebensätze genauer ist. 2.4.1.3.2. Vergleich mit der Grammatik von Heinsius Johann Christian Heyse hat sich vom Modell Adelungs weiter entfernt als sein Kollege Heinsius. Seine Analyse der "Form" steht diesem jedoch sehr nahe. Nach der Untersuchung der Rektion der verschiedenen Wortarten behandelt Heinsius zunächst Satzarten; dann, in der Topik Wörter und die Inversion, und zuletzt Sätze. Aber Heinsius bleibt Adelung sehr treu. Ausgehend von dem Gegensatz "Form/Materie" betrachtet er wie Adelung einfache-zusammengesetzte // ausgebildete - erweiterte Sätze. Heinsius' Liste bezüglich der Form ist aber umfangreicher: Sätze sind "erzählend, befehlend, (bittend), fragend, wünschend, ausrufend."213 Er schließt mit einer Klassifikation der Sätze nach der einlei-
210 211 212
(Ebd.: 4 7 4 f ). (1767, Bd. II: 19f.). Margrit Strohbach (1984).
213
Heinsius (1814: 356). In Klammern stehen die von Adelung nicht genannten Arten.
Syntax
163
tenden Konjunktion. Seine Topik beginnt mit einer Liste möglicher Wortfolgen im Deutschen entsprechend den sechs Möglichkeiten in der Abfolge von Subjekt, Kopula und Prädikat. Aber anders als Johann Christian Heyse sagt er nichts über die natürliche Wortfolge aus. Er trifft vielmehr eine Unterscheidung zwischen "willkürlich" und "notwendig", die in der Folge bei Heyse wichtig sein wird: Die willkürliche Reihenfolge betrifft die Stellung der Satzbestimmungen, der koordinierenden Konjunktionen und gewisser Partikeln, während die notwendige Reihenfolge sich auf die "Inversion" (so Heinsius) nach subordinierenden Konjunktionen bezieht. Der zweite Teil behandelt die Stellung der rektionalen Ergänzungen. Die Darstellung der Inversion ist im übrigen derjenigen Johann Christian Heyses (nicht der Theodors) sehr ähnlich.
2.4.2. Die Einteilung von 1827: Wortfolge und Klassifikation - Neuerungen
Von der Wortfolge, die erste Abteilung des XV. Kapitels über Die Lehre vom Satze, mündet in eine Klassifikation der Sätze. Theodor Heyse gibt 1827 die traditionelle, von Adelung systematisierte Einteilung in "Form" und "Inhalt" auf, ihn interessiert nur die Reihenfolge der Satzglieder. Die Klassifikation der Sätze dient keinem Selbstzweck, sie ist abhängig von der Struktur des einfachen oder zusammengesetzten Satzes. Wortfolge und Klassifikation stehen in engem Zusammenhang. Das Kapitel ist zweigeteilt: Es werden zunächst die natürliche und versetzte Wortfolge, dann die Beziehung zwischen den Sätzen bei Koordination und Subordination behandelt. Dabei verwendet er öfter synonymisch die Termini "versetzte Wortfolge" und "Inversion", "Haupversetzungen" und "Hauptinversionen" 214 . Es gelingt ihm offenbar noch nicht, in dieser seiner (ersten und auch einzigen) Neufassung des väterlichen Kapitels, den Gebrauch seines von ihm kritisierten und bei der natürlichen Wortfolge (vgl. oben 2.3.) klar verwendeten Ausdrucks "Inversion" zu vereintlichen. 2.4.2.1. Klassifikation und Versetzung Der erste Teil hat zwei Schwerpunkte: 1) natürliche Wortfolge, 2) versetzte Wortfolge oder Inversion. Auf den Doppelaspekt der natürlichen Wortfolge in Haupt- und Nebensätzen und die Einrahmungsregel der Satzglieder wurde bereits (vgl. 2.3) eingegangen. Außer der funktionalen Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebensatz nimmt Theodor Heyse in diesem ersten Teil keine Einteilungen vor. Der Terminus "Inversion" betrifft hier n i c h t e t w a die Reihenfolge der Satzteile S Ρ Κ in untergeordneten Sätzen, die im Gegensatz zu
214
"Eine jede Abweichung von der natürlichen Wortfolge, deren Gesetze im Obigen angegeben worden sind, heißt eine Inversion oder Versetzung." (1827: 651)
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
seinem Vater als natürliche Ordnung gilt, sondern ihre Reihenfolge in der Assertion ("Hauptsatz" genannt), wenn die "natürliche Folge" S Κ Ρ nicht beibehalten wird. Theodor Heyses Ausführungen über die Inversion fuhren also zu einer Klassifikation aufgrund der Reihenfolge der Satzteile entsprechend der logischen Dreiteilung des (Haupt)Satzes in Subjekt, Kopula und Prädikat. Er nimmt die von Heinsius entwickelte Idee der willkürlichen oder notwendigen Wortfolge auf und verleiht ihr einen anderen Sinn: Die Versetzung kann notwendig, vom "Sprachgebrauch" und in gewissen "Redeweisen" festgelegt, oder sie kann willkürlich sein und von der Intention des Sprechers abhängen 215 . Er plädiert für eine viel strengere Anlage als sein Vater, verweilt aber trotz anderer Erkenntnisse bei der Identifizierung eines Sprechakts mit einer bestimmten Folge der Satzteile 216 . Dieses Unterkapitel hat zwei Teile, in denen zunächst die Hauptversetzungen zwischen den wichtigsten Satzkonstituenten Subjekt, Verb, Kopula behandelt werden, dann die Nebeninversionen in den Syntagmen, d. h. für Heyse alle Abweichungen von der natürlichen Ordnung der Bestimmungen. 2.4.2.1.1. Die Hauptversetzungen Im Unterschied zu Heinsius, der natürliche Wortfolge und Inversion nicht scharf trennte, faßt Theodor Heyse die versetzte Wortfolge in fünf Punkten zusammen, deren entsprechende Abfolge der Grundelemente ist: Kopula, Subjekt, Prädikat (KSP); Prädikat, Kopula, Subjekt (PKS); Subjekt, Prädikat, Kopula (SPK); Kopula, Prädikat, Subjekt (KPS); Prädikat, Subjekt, Kopula (PSK). Es sei hier nur an Theodor Heyses Leitlinien erinnert: i) Κ - S - Ρ : Diese Inversion ist nur in einem Hauptsatz möglich, sie kann notwendig oder willkürlich sein. Das entscheidende ist für Heyse die Stellung des Subjekts, das vor der "Aussage", dem Prädikat, steht. Damit erklären sich die angeführten Satz- und Konstruktionsarten, bei denen das Prädikat am Satzanfang steht (VI). ia)Notwendig ist die Inversion, wenn die Betonung des Satzes auf dem Prädikat liegt, so in den Fragesätzen ("Haben Sie meinen Wunsch erfüllt?"), Befehlssätzen ("Erfüllen Sie doch meinen Wunsch!"), in bittenden ("O, erfüllen Sie doch meinen Wunsch!") und in wünschenden Sätzen ("Ach, erfüllten Sie doch meinen Wunsch! Hätten Sie doch meinen Wunsch erfüllt!").
215
216
"Der Zweck derselben [der Versetzung] ist einerseits: auf ein einzelnes wort, welchem der Verstand oder das Gemilth einen besondern Vorzug geben will, durch ungewöhnliche Stellung desselben die Aufmerksamkeit mehr hinzuleiten (...), andererseits überhaupt die Abwechslung innerhalb des Satzes zu befördern und Wohlklang (...) zu erhöhen. Am wichtigsten sind die Inversionen der ersten Art, welche die Auszeichnung einzelner Begriffe bezwecken. Eine solche Auszeichnung ist oft willkürlich (...)." (Ebd.: 651) und zwar, obwohl er sie im Unterschied zu seinem Vater ausdrücklich auf den "Sprachgebrauch" (usage) und den "Sprachgeist" zurückführt
Syntax
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Theodor Heyse vermischt den Ausdruck des Wünschens mit dem des Bedauerns und nennt hier Konstruktionen, wo das Prädikat an erster Stelle steht (VI). Diese scheint in seinen Augen nur eine Variante der Grundkonstruktion zu sein, die man V3 nennen könnte. Diese Inversion steht auch, wenn in Konditional- und Konzessivsätzen die Subjunktionen "wenn, ob, obgleich" ausgelassen werden ("Will er nicht, so ist's sein eigner Schaden; Sei er auch noch so geschickt..."); nach Konjunktionaladverbien (mit Ausnahme der koordinierenden Konjunktionen "und, oder, sondern..".), wenn diese den Satz eröffnen ("Zwar lässt sich der Geist selbst nicht mit Augen sehn ..".); wenn ein Umstandssatz vor den Hauptsatz gestellt wird ("Wenn es Zeit ist, werde ich erscheinen"); in Parenthesen ("Ich werde, sagte er, morgen bei Dir sein".) ib) Willkürlich ist die Inversion, wenn eine Neben- oder Satzbestimmung (Objekt, Terminativ, Adjekt oder dessen Entsprechung) an den Satzanfang tritt (ζ. B. "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde."). ii) Ρ - Κ - S: Bei der zweiten Art von Inversion steht das Subjekt nach der Kopula und damit an dritter Stelle. Das Prädikat ist eigentlich der wirkliche Gegenstand der Aussage, (ζ. B. "Groß ist der Held im Kampfe fürs Vaterland", "Dein Anker auf der Lebensreise sei Vorsicht, dein Führer Pflicht") iii) S - Ρ - K: Diese Konstruktion mit der konjugierten Verbform am Satzende wird hier zitiert insofern, als sie im Aussagesatz eine ungewöhnliche Wortfolge ist, im Gegensatz zum Nebensatz, wo sie die natürliche Wortfolge ist. Im Hauptsatz komme sie selten und nur in dichterischer Sprache, die an die Sprache des Mittelalters mit ihrer freieren Wortstellung erinnert, vor. (ζ. B. "Und Keiner den Becher gewinnen will -Schiller). iv) Κ - Ρ - S Daß das Subjekt am Satzende steht, ist ebenfalls eine seltene Art der Inversion. Sie wird eingesetzt, um das Subjekt anstelle des Prädikats hervorzuheben; seine Vertretung am Satzanfang übernimmt meist das kataphorische Pronomen "es", (ζ. B. "Es ist verschwunden meine Hoffnung.") ν) Ρ - S - K: Zuletzt nennt Heyse die Inversion, die nur in intensivierenden Strukturen zu stehen vermag, eingeleitet durch die "Konjunktionen" "so, je, desto, wie", wo das prädikative Adjektiv ("adjectivische Prädicat") am Anfang des Satzes steht (ζ. B. "So lieb der Vater Dich hat...").
2.4.2.1.2. Nebeninversionen Die von Theodor Heyse hier zusmannengefaßten Vorkommnisse sind heterogener Art: Nebeninversionen betreffen die innere Struktur von Syntagmen
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
oder auch die Abfolge von gewissen Bestimmungen im Satz. Das bestimmende oder beigefügte Element steht dann nicht vor, sondern nach dem bestimmten Element. Auch hier unterscheidet Theodor Heyse fünf Fälle: - Eine appositionelle Bestimmung folgt dem Substantiv: ζ. B. "Ich soll hier verschmachtend verderben / und der Freund mir, der liebende, sterben!" (die übliche Stellung vom Typ "Friedrich der Große" oder "Karl der Zwölfte" ausgenommen); - Eine Negation oder eine adverbiale Bestimmung steht nach dem bestimmten Element (außer bei "genug", wo diese Stellung normal ist): Ζ. B. "Sokrates vorzüglich hat die Mäßigung empfohlen" (anstatt "Vorzüglich Sokrates..."). Theodor Heyses Beispiele betreffen hauptsächlich Elemente, die jetzt als Modalpartikeln (die sich nur auf eine Einheit beziehen, "particules ά'έηοηοέ") eingestuft werden, aber auch illokutive Partikeln, Modalisatoren, oder auch "appr&natifs"217 (so z.B. "vermuthlich, auch, zumal, vorzüglich..."). - eine Nebenbestimmung steht nach dem Prädikat anstatt davor: Ζ. B. "Ich habe Dir bezahlt meine Schuld." - ein Substantiv wird von seiner rechtsstehenden Erweiterung im Genitiv durch ein anderes Wort getrennt: Ζ. B. "In dem Gewog' aufbrausend des vielfach tobenden Kampfes ..." - die Trennung gleichwertiger mit "und" verbundener Begriffe durch einen Ausdruck, der sich auf beide bezieht: "Den Feldherrn sing' ich und die frommen Waffen.", was eigentlich ein klassischer Fall der Ellipse auf Satzebene ist.
2.4.2.2. Von der Verbindung und Folge der Sätze - Unterschied zwischen semantisch-logischer und syntaktischer Ebene Der zweite Teil der Ausführungen handelt von der Verbindung von Sätzen. Die Untersuchungen, die teilweise schon in die Grammatik von 1825 eingegangen waren und ganz aus der Feder Theodor Heyses stammen, sind außergewöhnlich genau, erst später werden andere Grammatiker ähnliches erreichen. Theodor Heyse hebt hervor, daß die Beziehung zwischen Sätzen ein semantisches Band voraussetzt, das entweder koordinierend oder subordinierend sein kann. Erst wenn eine "Verwandtschaft ihres Inhaltes" besteht, können sie bei- oder untergeordnet werden. Wo Sätze also keinen inhaltlichen Bezug zueinander aufweisen, können sie auch nicht nebeneinander auf diskursiver Ebene eine kohärente Aussage bilden. Das Ergebnis wäre nur ein "widersinniges und unsinniges Ganzes"; als Beispiele führt er die beiden Sätze an: "Er hat das große Loos gewonnen, obgleich Rom nicht an Einem Tage erbaut worden ist. Hamburg ist eine sehr lebhafte Stadt, und die Bäume schlagen schon wieder
217
Vgl. Anmerkung Nr. 159.
Syntax
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aus."218 Theodor Heyses Darstellung ist jedoch noch nicht als eine textlinguistische Analyse zu verstehen. Das Prinzip der Kohärenz von Grice kann schwerlich herangezogen werden, da Heyse nicht von der Sprechsituation ausgeht und seine Analyse sich auf s p r a c h i m m a n e n t e r Ebene bewegt. Sein Ansatzpunkt ist ein logischer: Der Wahrheitswert der einzeln betrachteten Sätze genügt nicht, um eine Kohärenz des Satzganzen herzustellen, da "die Gedanken in kein Verhältniss eingehen könnnen". Die Verfahren von Beiordnung und Unterordnung werden gesondert untersucht, wobei der Schwerpunkt auf der semantisch-logischen Ebene und auf der syntaktischen Ebene liegt. Diese Studie zeugt mehrfach von Theodor Heyses Intuition. Marillier (1989) hat das Phänomen der Koordination ausführlich untersucht; er geht von einer fehlenden Isomorphic zwischen semantischer und syntaktischer Ebene aus, wobei er seine detaillierte Beschreibung mit dem Apparat der logischen Semantik und ihrer mathematischen Umsetzung realisiert. Schon Theodor Heyse stellte jedoch prinzipiell fest, daß es keine Isomorphic von "logischem" Ausdruck der Satzverknüpfungen und rein syntaktischer Ebene gibt. Er geht dabei so vor, daß er dies innerhalb seiner Analyse von Beiordnung und Unterordnung behandelt. Diese doppelte Perspektive ist die Entsprechung der Einteilung der Konjunktionen in zwei Klassen, nämlich in subordinierende und koordinierende Bindewörter. 2.4.2.2.1. Beiordnung Das Kapitel über die Beiordnung in Heyses Grammatik von 1827 läßt keinen klaren Aufbau erkennen. Es werden hier deshalb thematisch die Koordination auf Satzebene untersucht, die fehlende Isomorphic zwischen syntaktischem Verhältnis und logisch-semantischer Ebene, und die Auswirkung der Koordination auf die syntaktische Rangordnung. a) Theodor Heyses Definition der "Beiordnung" kommt ganz aus der Satzperspektive: Die grammatische Beiordnung ist eine Verbindung zweier oder mehrer syntaktisch gleicher Satze (zweier Hauptsätze, oder zweier Nebensätze), welche dem Inhalte nach nicht in, sondern außer und neben einander liegend gedacht werden. Ihrer ursprünglichen und eigentlichen Bestimmung nach drückt sie eine logische Beiordnung der Urtheile aus [...]. 219
Auf rein syntaktischer Ebene, ist jeder Satz unabhängig, aber die beiden beigeordneten Urteile sind semantisch gesehen Bestandteile eines größeren Ganzen. Die Koordination ist also mehr als das Verständnis der von ihr gebundenen einzelnen Teile:
218 219
TPdG( 1827: 667). TPdG (1827: 675).
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Zwischen logisch beigeordneten Urtheilen findet gleichsam eine Verschwisterung [... ] statt, die in einer gleichen Beziehung auf etwas Andres und zwar etwas Allgemeineres, unter welchem jene zusammengefasst werden können, beruht.220
Auf der Textebene wird von Theodor Heyse Wichtiges bemerkt: In der Abfolge der Sätze, wird die höhere semantische Ebene oft durch einen Satz ausgedrückt, der die innere semantische Beziehung zwischen den Teilsätzen wiedergibt: so z.B. "Wir saßen alle beisammen: ich las, mein ältester Bruder schrieb, meine Schwestern strickten und nähten und mein jüngster Bruder blätterte in seinem Bilderbuche." Die Erklärung geht weiter: Die gemeinsame, im ersten einleitenden Satz teilweise ausgedrückte Vorstellung wäre laut Theodor Heyse "wir waren auf mannichfache Weise beschäftigt". Die folgenden Sätze erklären den ersten und könnten mit "nämlich" eingeleitet werden. b) Die fehlende Isomorphic von semantisch-logischer Beziehung und syntaktischer Verknüpfung belegt er damit, daß mehrere parataktisch gegliederte Sätze auf semantisch-logischer Ebene einem anderen Satz oder einer anderen Idee untergeordnet sein können: Auch hier wird [...] der erstere Satz durch die folgenden in seine Theile zerlegt; letztere sind einander beigeordnet; sie alle zusammen aber sind dem erstem logisch, obwohl nicht grammatisch, untergeordnet.221
Dazu zitiert Heyse ein Beispiel aus Schiller: "Dreifach ist der Schritt der Zeit: / Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, / Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, / Ewig still steht die Vergangenheit." Die drei letzten Sätze sind dem ersten semantisch aber nicht syntaktisch untergeordnet. Die Abfolge der Sätze selbst macht die fehlende Isomorphie deutlich. Es kommt auch vor, daß die Abfolge von explizit (mit Konjunktion) oder implizit (ohne Konjunktion) koordinierten Sätzen keine Rolle spielt. In diesem letzten Fall, wo ihre Anordnung laut Theodor Heyse - "willkürlich" wird, stehen sie oft in parataktischer Relation nebeneinander. Wenn die Anordnung der Sätze aber einer semantischen Erfordernis zu entsprechen hat, dann sind zur Wiedergabe dieser Verbindung koordinierende Konjunktionen notwendig. Daraus kann man schließen, daß für Theodor Heyse eine Umstellung der beiden koordinierten Teile nicht zwingend möglich ist. Die Konjunktionen der ersten sechs semantischen Klassen ("anfügend, fortsetzend, eintheilend, ausschließend, vergleichend, entgegensetzend") drücken die logische Koordination aus. Semantisch-logische Ebene und Art der syntaktischen Verbindung entsprechen einander. Die koordinierenden "folgernden, begründenden, bedingenden und einräumenden" Konjunktionen ("denn, zwar, daher, deshalb, insofern") geben dagegen eine semantisch-logische Abhängigkeit wieder. Daraus erklärt sich das Vorhandensein und der grundsätzliche Unterschied der Oppositionspaare "denn/weil", "zwar/obgleich", 220 221
Ebd. (Ebd.: 676.)
Syntax
169
"daher/so dass", "desshalb/wesshalb", "insofern/ wiefern".222 So läßt sich in dieser propositionnellen Perspektive Theodor Heyses interne Einteilung der koordinierenden Konjunktionen im Vergleich zu der anderer Grammatiker wie etwa Bernhardt223 besser verstehen. c) Theodor Heyse untersucht ebenfalls die Auswirkung der Koordination auf die syntaktische Rangordnung. Koordination setzt syntaktische Gleichheit der Teile voraus, zum Beispiel zwischen zwei untergeordneten Sätzen. Die koordinierten Sätze können einfach oder zusammengesetzt ("Gegensätze") sein. Das Zeichen der Koordination muß notwendigerweise am Anfang der Folge und nicht am Ende stehen. Er untersucht dabei auch den veränderten Rang ("rhetorische Würde") bei Inversion, mit den daraus resultierenden inneren semantischen und syntaktischen Modifizierungen (ζ. B. den Wechsel der koordinierenden Konjunktion und den Einfluß auf die Wortfolge): Ζ. B. "Er ist nicht fleißig; darum lernt er Nichts. - Er lernt Nichts, denn er ist nicht fleißig."
2.4.2.2.2. Unterordnung Theodor Heyses Untersuchung der Unterordnung hat eine klarere Anlage als die der Koordination. Er hebt erneut die fehlende Isomorphic zwischen semantischlogischer und syntaktischer Ebene hervor. Nach einer allgemeinen Definition und der Analyse der Entsprechung von diesen beiden Ebenen nimmt er, auf der Grundlage der Arbeiten Herlings, eine allgemeine Einteilung vor. Seine Definition lautet: Die Unterordnung ist [...] diejenige Verbindung zweier Sätze, welche den einen Satz als eine dem andern angehörige Bestimmung, Ergänzung, überhaupt als einen Theil in dem Gebiete desselben erscheinen lässt, oder welche die Aussage des einen Satzes als in der des andern enthalten darstellt.224
oder, noch einfacher: Die Unterordnung ist, wie bemerkt, der grammatische Ausdruck des logischen Verhältnisses einer Abhängigkeit der Urtheile [...].
Der syntaktisch untergeordnete Satz steht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einem andern Satz und "wird von diesem getragen, wie ein Zweig von dem Stamme oder dem größeren Zweige, auf welchem er ruht". Die von Cortds (1983) getroffene Unterscheidung zwischen integrierten und nicht integrierten subordinierten Sätze gibt es bei Theodor Heyse nicht. Der untergeordnete Satz kann von einem Hauptsatz oder einem anderen Nebensatz abhängen. Die
222 223 224
TPdG (1827: 674). Vgl. oben, Konjunktionen. (Ebd.: 692f.).
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
Entsprechung von syntaktischer und semantisch-logischer Ebene sei bei der Unterordnung häufiger als bei der Beiordnung: [...] insofern nämlich zwar nicht jedes logisch abhangige Urtheil ein grammatisch untergeordneter Satz zu sein braucht, aber ein jeder grammatisch untergeordnete Satz immer ein logisch abhangiges Urtheil enthalten muß.
Diese Auffassung ist nach den Ergebnissen der Arbeiten Marilliers (1989) zu revidieren, wobei Theodor Heyse jedoch selbst schon in der Einleitung zu diesem Kapitel bemerkt: Die Erreichung dieses doppelten Zieles der Darstellung [der logischen Wichtigkeit und der rhetorischen Würde] wird nun sehr dadurch befördert, daß zuweilen (...) für den Ausdruck eines und desselben logischen Verhältnisses sowohl eine beiordnende Conjunction (Bindewort) als eine unterordnende (Fügewort) vorhanden ist.225
Theodor Heyse übernimmt im weiteren Verlauf seiner Darstellung die Nebensatzarten von der Klassifikation Herlings und unterscheidet wie bei den Konjunktionen substantivische, adverbiale und adjektivische Sätze. Bei seiner allgemeinen Behandlung der Nebensätze scheint er Fügewörter der Relativsätze mit unterordnenden Konjunktionen gleichzusetzen. Trotz der möglichen Permutation von Nebensätzen mit den genannten drei Wortarten Adjektiv, Substantiv und Adverb226, gelten für die untergeordneten Nebensätzen im allgemeinen andere Regeln als bei den Redeteilen. Die normale Reihenfolge der Bestimmungen (wonach das Bestimmende dem Bestimmten vorangehen müsse) wird umgekehrt: Die abhängigen Nebensätze stünden an zweiter Stelle, nach dem bestimmten Element, und nicht davor an erster Stelle- im Falle der untergeordneten Sätze also im Nachfeld, der Relativsätze in der Rechtserweiterung des substantivischen Kerns.
2.4.3. Theodor Heyse und seine Zeitgenossen Woher rührt diese grundsätzliche Veränderung im Jahre 1827? Theodor Heyse, dessen Beschreibung an Einfachheit und Sachlichkeit gewinnt, ist im Zusammenhang mit der allgemeinen Neuorientierung zu sehen, die die Beschreibung der Satzverbindungen in zahlreichen Grammatiken seit Etzler kennzeichnet, ζ. B. bei Bernhardt und Herling. Der Ursprung der von Theodor Heyse getroffenen Unterscheidung zwischen logischer und "grammatischer" (d.h. syntaktischer) Beziehung ließ sich nicht ausmachen: Ist er es vielleicht selbst? Nichts ist so unsicher wie dieser Gedanke. Marillier (1989) nennt in seiner Untersuchung einige Grammatiker, bei denen diese Unterscheidung anzutreffen
225 226
(Ebd.: 673). Vgl. oben Kap. II. 2.3.
Syntax
171
ist; es ist aber festzustellen, daß sie nach 1827 veröffentlicht haben, und daher wohl auch Heyses Neuauflage seiner Grammatik kannten.227
2.4.3.1. Theodor Heyse und der Frankfurtische Gelehrtenverein In Heyses Klassifikation spiegelt sich eine Denkrichtung des Frankfurtischen Gelehrtenvereins. Herling hatte in seinen Grundregeln des deutschen Stils (1823) drei Arten von Nebensätzen228 unterschieden. Das Werk basiert auf der grundsätzlichen Unterscheidung von Nebensätzen und beigeordneten Sätzen. Anders als Theodor Heyse geht er nicht auf den Unterschied zwischen syntaktischer und semantisch-logischer Beziehung ein. Er gründet seine Ausführungen auf eine implizite Isomorphic. Dieselbe allgemeine Einteilung von Subjunktionen und Fügewörtern von Relativsätzen findet man bei Bernhardt. In seiner Schulgrammatik von 1825 teilt er die Sätze nach diesen beiden Hauptkriterien ein; er behandelt jedoch weder die Isomorphic noch die fehlende Isomorphie zwischen der logischen und syntaktischen Ebene. Was die allgemeine Anlage betrifft, so weicht Theodor Heyse auch von der bisher üblichen Darstellung der Satztypen und -arten ab. Er geht sogar so weit, daß er den Teil zu den Satzarten wegläßt. Dadurch entfernt er sich von seinen Zeitgenossen, die jeweils in einem eigenen Kapitel eine Aufstellung von Satzarten geben.
2.4.3.2. Theodor Heyse und der Grammatiker Boye Die grundlegende Umgestaltung bei der Neubearbeitung des Kapitels ist wahrscheinlich nicht Theodor Heyse allein zuzuschreiben. Man muß bezüglich der neuen Behandlung von Beiordnung und Unterordnung den Rektor Boye, einen wichtigen Briefpartner seines Vaters erwähnen. Johann Christian Heyse nennt in seinem Vorwort von 1827 zwar Theodor Heyse als Verantwortlichen für die Umarbeitung der Abschnitte zu den Konjunktionen und der Construction und fuhrt dabei auch die Arbeiten Herlings und Bernhardts an, er verschweigt aber diesen wichtigen Briefwechsel. Aus der in Berlin archivierten Korrespondenz geht hervor, daß Boye in einem Brief vom 18. Juli 1825 Heyse einen vollständigen Plan zur Überarbeitung des Constructions-Ka$\it\s, der von einer langen Beschäftigung mit diesen Fragen zeugt, vorlegte. Theodor Heyse hat im großen und ganzen Boyes Vorschläge mit leichten Änderungen übernommen. Hier Boyes Gliederung:
227
Ζ. B. Bauer.
228
Vgl. oben, Kap. II. 2.2.
172
Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse TABELLARISCHE
OBERSICHT
ALLER
MÖGLICHEN
ARTEN
VON
SÄTZEN
UND
WORTFOLGEN 2 2 9
A. Die Sätze können sein I, einfach: 1) einfache nackte Satze, 2) einfache ausgebildete Satze, 3) einfache grammatische erweiterte Satze. II, zusammengesetzt. Die zusammengesetzten Sätze sind ihren Bestandteilen nach 1) Hauptsätze, welche, wenn sie verbunden werden, immer einander coordiniert sind. 2) Nebensatze, welche den Hauptsätzen zur nähern Bestimmung dienen. Sie sind a) in Ansehung des Begriffs, oder des Redetheils, das sie vertreten a) Substantivnebensatze, b) Adjectivnebensätze, c) Adverbialnebensatze. b) In Ansehung der logischen Verbindung a) coordinierte Nebensätze, b) subordinierte Nebensätze, aa) einem Hauptsatze subordiniert, bb) einem andern Nebensatze subordiniert. B) Die Wortfolge wird eingetheilt I. in die natürliche; diese ist: 1) entweder Hauptsatzwortfolge, oder 2) Nebensatzwortfolge. II. In die versetzte Wortfolge, (Inversion) 1) unwillkürliche Inversion, 2) willkürliche Inversion.
In seinem Brief führt Boye seinen Plan weiter aus: Zu den zwei Arten einfacher Sätze habe ich noch eine Dritte, nämlich die einfachen grammatisch erweiterten Sätze hinzugefügt. Den Begriff von Substantiv-, Adjectiv- und Adverbialnebensätzen, habe ich so bestimmt und klar, wie möglich, [?]. Auch in der versetzten Wortfolge habe ich unwillkürliche und willkürliche Inversion angenommen. Den Unterschied zwischen coordinierten und subordinierten Sätzen habe ich so deutlich, wie möglich, angegeben [...]. Den Ausdruck Zusammenziehung, welcher von der Verkürzung coordinierter Sätze gebraucht war, habe ich guth vermieden, weil er auch bildlich und desto nicht bestimmt genug ist.
Boye weiß um die Künstlichkeit der Begriffe Zusammenziehung/Verkürzung230, der in diesem Bezug konservativere Theodor Heyse behält sie jedoch bei. Er kehrt die beiden Hauptteile um und beginnt mit der Wortfolge. Boyes schwerfällige und ungeschickt formulierte Überschrift ändert er in Von der Verbindung und Folge der Sätze. Obwohl Theodor Heyse in seinem ersten Teil wie Boye die natürliche Folge im Haupt- und Nebensatz behandelt, ändert er den zweiten Teil und behandelt hier die Inversion unter strukturellen und syntaktischen Gesichts-
229 230
Es werden Boyes typographische Zeichen in dieser Transkription beibehalten. 7ΆΛ3 (1827: 681 f.), Kap. XV.
Syntax
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punkten, während bei Boye zwischen diesen beiden Ebenen nicht unterschieden wird. Im zweiten Unterkapitel zur Verbindung zwischen Sätzen gibt Theodor Heyse die Trennung verschiedener Satzarten auf und baut es auf Beiornung und Unterordnung auf. Herlings drei Klassen werden in diesem allgemein gesetzten Rahmen in die Analyse der Abhängigkeitsbeziehungen integriert. Selbst im Vergleich mit Boye scheint der Beitrag zur spezifischen Unterscheidung der semantisch-logischen und syntaktischen Ebene Theodor Heyse zuzufallen.
3. Zusammenfassung Aufgrund seiner Neigungen und seines beruflichen Werdegangs als Lehrer und Direktor eines Gymnasiums ist Johann Christian Heyse eher ein Praktiker der deutschen Sprache als ein Theoretiker. Seine Grammatik, die neu ist durch die systematische Einbeziehung des Praktischen in die theoretische Darstellung, zeigt ihn als einen Mann, der bestrebt ist, die Aneignung von Grundkenntnissen des deutschen Sprachbaus und vor allem der Sprachbeherrschung zu erleichtern. Er schreibt sehr wahrscheinlich die erste tatsächlich theoretisch-praktische Grammatik der deutschen Sprache. Seine grammatischen Interpretationen sind genau und kohärent, wie sich durch zahlreiche Quellen belegen läßt. Trotz der wiederholten Neuausgaben und der Mitarbeit der beiden Söhne Carl Wilhelm und Theodor seit dem Jahr 1825, bewahren Heyses Schulgrammatiken ihre einheitliche Grundkonzeption in Übereinstimmung mit dem didaktischen Ziel. Die Grammatik ist und bleibt normativ, der Grammatiker sieht sich in der Rolle desjenigen, der den Sprachgebrauch vorschreibt. Johann Christian Heyse stellt sich unter die Gesetze der Vernunft und bestimmt die Grammatik als Kunst ganz in der Tradition Beauzöes. Aber er konzentriert sich auf eine Einzelsprache, das Deutsche, dessen Strukturen er ermitteln will, ohne das Modell des Französischen zu übernehmen. Da Heyse auch von den Wortstellungen ausgeht, ist seine Syntax eine 'topologische'231 und knüpft damit direkt an die allgemeine Grammatik an. Die niedere Syntax im Rahmen der einzelnen Redeteile zu entwickeln und dabei Morphologie und Syntax miteinander zu verbinden, ist seine bewußte Entscheidung; dadurch setzt er sich von seinen Zeitgenossen Adelung, Heinsius, Bernhardt ab, die sich zwar um eine klare Trennung der beiden Bereiche Morphologie und Syntax bemühten, diese aber implizit doch zusammenbrachten. Innerhalb dieser grammatischen Grundkonzeption gibt es Brüche im syntaktischen Denken: Bald entfernt es sich durch neuansetzende Analysen vom Modell der allgemeinen Grammatik, bald nimmt sie deren Impulse zur Beschreibung sprachlicher Phänomene wie in der Grammatik Girards auf, bald bedeutet sie sogar in manchen Punkten einen Rückschritt. Diese Ambivalenz zeigt sich in der Behandlung der Redeteile. Zwischen 1814 und 1827 gibt es große Abweichungen, besonders hinsichtlich der Zahl der aufgenommenen Redeteile. Der Status der Zahlwörter bleibt in der Schwebe, während das Partizip endgültig seine Stellung als pars orationis verliert. Heyses Unentschiedenheit spiegelt sich in der Verbanalyse wieder: 1814 wie 1827 folgt 231
Diese Übersetzung soll den französischen Begriff "pensee localiste" wiedergeben.
Zusammenfassung
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die Einteilung des Verbs einem von Steinheil und der allgemeinen Grammatik übernommenen traditionellen Schema, das Verb wird in eine vereinfachte Adelungsche Form gepreßt. Den gleichen Eindruck des Aufgesetzten vermitteln die Untersuchungen zu Tempus und Modus. Einerseits folgt Heyse der Grammatik Roths, um der Analyse der drei Grundmodi, die für ihn genau so wichtig ist wie die der Tempora, neue Impulse zu geben; andererseits zwingt Carl Wilhelm Heyse 1827 die Einteilung der Tempora in einen künstlichen Formalismus, der dem wirklichen System nicht entspricht. Dann zeigt sich etwas Neues, Spezifisches seiner Grammatik, nämlich die aspektuelle Analyse und die Bestimmung des Perfekts als einer vollendeten Gegenwart. Zwischen 1825 und 1827 erhält Heyses Grammatik ein neues Gepräge durch die überarbeiteten Ausführungen zur Syntax. Die Darstellung auf der deskriptiven, syntaktischen Ebene wird sachlicher und klarer. Die Einbeziehung syntaktischer Funktionen nach dem Modell der Überlegungen Abbö Girards zur Grammatik bringt einen neuen Aufschwung. Satzbestimmungen werden, wenn auch summarisch, von (verbalen) Nebenbestimmungen unterschieden. Theodor Heyse konstatiert die Endstellung des Prädikats und die Einrahmung des Satzes, ohne allerdings die potentielle Endstellung des Verbs im deutschen Satz zu beweisen; das wird erst Jean Fourquet mehr als ein Jahrhundert später tun. Es werden zwei natürliche Satzfolgen in gegenseitiger Abhängigkeit und nicht mehr in bezug auf alle möglichen Kombinationen von Subjekt, Kopula, Prädikat herausgestellt. Im Kapitel über die Satzverbindung kann Theodor Heyse die von ihm als "logisch" bezeichneten (d.h. semantisch-logischen) Bezüge zwischen mehreren Sätzen mittels der Zweiteilung von Unterordnung/ Abhängigkeit und Koordination aufzeigen. Er betont die fehlende Isomorphic von semantischlogischer und rein syntaktischer Ebene. Die Trennung ermöglicht es, die "logische" Beziehung entweder durch das Mittel der syntaktischen Unterordnung oder der Beiordnung auszudrücken. Die semantisch-logische Beziehung wird nicht notwendigerweise auf der syntaktischen Ebene explizit ausgedrückt, so im Falle parataktischer Beiordnungen. Die Untersuchung der untergeordneten Nebensätze berücksichtigt in starkem Maße die semantische Funktion der Subjunktionen in dieser vergleichenden Perspektive. Man könnte in dieser Grammatik vielleicht Ansätze zu einer semantischen Grammatik erkennen, wie sie ζ. B. Bernard Pottier232 vertritt. Auch die Untersuchung der koordinierenden und subordinierenden Konjunktionen belegt die Modernität der Heyseschen Grammatik. Theodor Heyses Klassifikation berücksichtigt als eine der ersten überhaupt deren unterschiedliche syntaktische Funktion. Seine Einteilung der Satzarten steht ganz unter dem Einfluß der grammatischen Arbeiten der aktiven Mitglieder des Frankfurtischen Gelehrtenvereins, Herling oder Bernhardt, und des Grammatikers Boye. Modernität und Tradition sind also ineinander verwoben, und das macht die Beson232
Pottier (1985).
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Allgemeine Grammatik und Syntax (1814-1838): Divergierende Einflüsse
derheit der Heyseschen Grammatik aus. Die Einheit und Konstanz des grammatischen Denkens zwischen 1814 und 1837 kommt aus der allgemeinen Grammatik, diesem steht die Ambivalenz der deskriptiven Syntax gegenüber. Eine Überarbeitung der Heyseschen Grammatik wird nun zur zwingenden Aufgabe, nur so kann ihre theoretische Einheit wieder hergestellt werden. Dessen ist sich Johann Christian Heyse. Die Arbeit fällt seinem Sohn Carl Wilhelm zu ab 1829.
III
Grammatik und Syntax (1838-1914) Auf dem Weg zur Vereinheitlichung
0. Einleitung Nach dem Tode seines Vaters Johann Christian Heyse faßt Carl Wilhelm Heyse den Entschluß, die Theoretisch-praktische deutsche Grammatik vollständig neu zu bearbeiten, da er sich ihrer mangelnden theoretischen Einheit bewußt ist; diese rührte daher, daß drei verschiedene 'Geister' am Werk waren, der Vater, sein Bruder Theodor und er selbst.1 Die Umarbeitung veröffentlicht er 1838 und 1849 in zwei Teilen in Gestalt des Ausführlichen Lehrgebäudes der deutschen Sprache. Daneben überarbeitet er die entsprechenden Ausgaben der Schulgrammatik und des Kleinen Leitfadens der deutschen Sprache, die er bzw. 1840 und 1850 herausgibt. Carl Wilhelm Heyse will nämlich ein eigenes grammatisches Gebäude errichten, die grundlegenden Ergebnisse der historischen Grammatik einbauen und die Ausführungen zur Syntax im Rahmen einer Schulgrammatik, deren Ziel das Erlernen einer Sprache sowie "die formelle Verstandesbildung mittelst der grammatischen Begriffe" ist, revidieren.2 Nach dem Tod Carl Wilhelm Heyses kann man von einem theoretischen Vakuum sprechen, das die Jahre 1855 bis 1880 kennzeichnet. Seine Brüder Gustav und Theodor setzen die Ausgaben mit kleinen Berichtigungen fort. Erst durch die 1886 von dem Grammatiker, Lehrer und Schulrat Otto Lyon veröffentlichte Überarbeitung erhält die Heysesche Grammatik neuen Aufschwung. Die Ausgaben nach 1838 stehen in einem Gesamtkontext, der bis zur letzten Neuausgabe durch Otto Lyon im Jahre 1913 bestimmend bleibt: Abwertung der Schulgrammatik und gleichzeitig wachsende Bedeutung der historischen Grammatik, wieder größeres Interesse an den klassischen Sprachen auf Kosten der Muttersprache3, Verlagerung des Schwerpunkts innerhalb des Deutschunterrichts von der Grammatik auf Übungen zur Sprachbeherrschung. Die Tendenz zur Abwertung der Schulgrammatik resultiert aus dem Aufstieg des vergleichenden Studiums der Sprachen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Franz Bopps Entdeckung des Sanskrit zu Beginn des 19. Jahrhunderts bewies die Verwandtschaft der von ihm als "indoeuropäisch"4 bezeichneten
1 Ausführliches Lehrgebäude (1838, Vorwort: XVI) : "Ein in allen seinen Theilen völlig zusammenstimmendes Ganzes kann nur in einem Geiste entspringen und von einer Hand gestaltet werden." 2 SG (1840, Vorwort: IX). 3 Vgl. oben, Kap. I. 4 Diese Bezeichnung war zur Zeit Carl Wilhelm Heyses noch sehr umstritten: Die deutschen Gelehrten entschieden sich in der Mehrzahl filr "indogermanisch", während Bopp mit seinen
1 go
Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Sprachen und ermöglichte die Suche nach einer gemeinsamen Ursprache. Seine Untersuchung Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache (1816) begründete eine neue Wissenschaft, die "Vergleichende Grammatik". Noch Mitte des 19. Jahrhunderts bezieht sich dieser Ausdruck nur auf das vergleichende Studium der indoeuropäischen Sprachen. Durch Wilhelm von Humboldts Anschauung von den Sprachen als einer unabhängigen organischen Einheit, deren Struktur es zu erforschen gilt, können alle Sprachen in die Reflexion einbezogen werden. Mit Jacob Grimm kann sich die historische Grammatik von der vergleichenden Sprachwissenschaft absetzen und selbständig werden: Sie widmet sich, wie aus seiner großen Deutschen Grammatik (1819-1837) zu ersehen ist, der Erforschung der deutschen Sprache und ihrer dialektalen Varianten. Aber im Namen dieser Disziplin zieht er unerbittlich gegen die Schulgrammatik zu Felde. Seine Einleitung zur ersten Ausgabe seiner Grammatik von 1819 ist ungewöhnlich scharf im Ton, wenn er die Schulgrammatiken in der Nachfolge Adelungs "thöricht" und "verwerflich" heißt. Sie würden die freie sprachliche Entfaltung des Kindes hemmen: "Die Grammatik ihrer Natur nach ist nur für Gelehrte". Die zweite Ausgabe von 1822 ist gemäßigter, bezeichnet aber immer noch den Grammatikunterricht an der Schule als "Verschrobenheit"5. Linnig hat in seinem Aufsatz Ueber den Unterricht in deutscher Grammatik an den mittleren und unteren Classen der Gymnasien (1872) an die heftige Kritik Jacob Grimms erinnert. Aber er zitiert Grimm zu Unrecht als Gegner der deutschen Schulgrammatik allein und nicht der Schulgrammatik Uberhaupt. Diese Klarstellung hat Julius Jolly 18746 mit aller Deutlichkeit vorgenommen. Er betont, daß diese systematische Gegnerschaft zur Schulgrammatik Sprachlehrer wie Becker, Wurst oder Diesterweg in die Arme eines "Verstandesgrammaticismus"7 getrieben habe. Jolly vergißt leider dabei Carl Wilhelm Heyse als einen der wenigen Versöhner zwischen Sprachwissenschaft und Schulgrammatik.8 Grimms Anhängerschaft war groß. So übertrug der Staatsmann und Minister Karl von Raumer seine Prinzipien auf die Regulativa, das restriktive preußische Schulgesetz von 1854 zum Deutschunterricht.9 Andere, ζ. B. Kellner und Otto, versuchten diese Position zu mildern, indem sie auf die Wichtigkeit des mündfranzösischen, englischen und skandinavischen Nachbarn zu "indoeuropäisch" tendierte; Humboldt sagte "sanskritisch", Hupfeld und Görres "japhetisch"; Ewald "mittelländisch". 5 Beide Ausgaben wurden für diese Arbeit eingesehen. Vgl. dazu die Zusammenfassungen von Matthias (1907: 258f). und Bahner (1985: 125f). 6 Schulgrammatik und Sprachwissenschaft (1874: 1 -24). 7 (Ebd.: 13). 8 Er begnügt sich damit, Heyses viel mehr philosophischen als germanistischen Standpunkt anzuführen. 9 Es sei verwiesen auf Burgwardt, Honcamp, vgl. auch die Zusammenfassung von Matthias (1907: 258f.).
Einleitung
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liehen und schriftlichen Ausdrucks verwiesen, auf Lektüre- und VerständnisÜbungen. Der deutschen Grammatik erwächst Konkurrenz in Nachbarfächern wie mündlicher Vortrag, Deklamation, Lektüre, Texterläuterung und Aufsatz. Dazu hat Otto Ludwig (1986) eine Untersuchung vorgelegt. Angesichts der allgemeinen Kritik führt die Ostpreußische Direktorenkonferenz im Jahre 1831 Sprachgeschichte als Pflichtfach an Schulen ein. Der Verein der deutschen Philologen und Schulmänner schreibt zwischen 1835 und 1868, wenn auch nicht allgemein und ausschließlich, den Unterricht in historischer Grammatik an den Schulen vor. Als typische Vertreter dieser Richtung sind die Schulgrammatiker Bauer und Eiselein zu nennen. Am Ende des Jahrhunderts ist die Sprachgeschichte fester Bestandteil der Schulgrammatiken. Die Ausrichtung der Schulbücher ändert sich, und mit der Grammatik Heyses konkurrieren neue Werke, ζ. B. die im Jahre 1829 veröffentlichte Sprachlehre von Karl Ferdinand Becker. Er selbst besorgt mehrere Neuausgaben, und nach seinem Tod im Jahre 1849 übernimmt sein Sohn Theodor die Herausgabe. Es ist weder eine historische noch eine vergleichende Grammatik, denn mit ihrem Vorschlag für ein Verständnis von innen, einer Didaktik, die beim Lernenden die Vorkenntnis der Muttersprache voraussetzt, entfernt sie sich auch vom Vorbild der allgemeinen Grammatik. Direkte Zeitgenossen wie etwa Wackernagel beklagen die katastrophalen Auswirkungen auf die Schulpraxis: "Überall droht von Seiten ihrer Freunde Verderben." Um 1840 kommt die Hiecke-Methode auf, eine Unterrichtsmethode im Stile der platonischen Propädeutik. Hiecke setzt sich zur Aufgabe, Morphologie und Syntax über die Lektüre zu vermitteln. Dadurch soll das Auswendiglernen von Regeln, welche die schöpferische Ausdruckskraft hemmen, vermieden werden. Später, 1870, begründet Wilmanns' Grammatik eine neue Generation von Grammatiken, die sich als Organe einer eigenständigen Disziplin verstehen. Sie will das Verständnis der großen Klassiker und guten mündlichen und schriftlichen Ausdruck fördern. Reformer wie Otto Lyon sind hingegen stark vom Denken Rudolf Hildebrands geprägt. Überzeugt von der Wichtigkeit eines ausgeprägten Gefühls und einer starken Einbildungskraft, legt Lyon großen Wert auf den mündlichen Ausdruck; durch entsprechende Lektüre will er den patriotischen Geist der Schüler wecken. So vollzieht sich im Laufe des Jahrhunderts eine Entwicklung, innerhalb derer die Grammatik Johann Christian Heyses seit ihrem Erscheinen 1814 und dem Tode ihres ersten Verfassers sukzessive Veränderungen erfährt. Im folgenden Abschnitt, der bis 1913 reicht, lassen sich drei wesentliche Momente ausmachen: - In Abkehr vom Vorbild der allgemeinen Grammatik versucht Carl Wilhelm Heyse die Begründung einer "philosophischen Grammatik" unter Einbeziehung der historischen Dimension. - Durch die Arbeit an einer Syntax des Satzes erhält die Grammatik einen neuen Status.
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
- Nachfolger Carl Wilhelm Heyses ist Otto Lyon, der dessen Grammatik durch ein vereinfachtes Konzept und die Aktualisierung unter dem Titel Deutsche Grammatik eine neue Gestalt gibt.
1. Carl Wilhelm Heyses grammatisches Denken 1.1. Eine "philosophische Grammatik" Carl Wilhelm Heyses grammatisches Denken steht ganz im Zeichen einer philosophischen Grammatik, der er sich, wie offiziell bei seinem Amtsantritt als außerordentlicher Professor an der Universität Berlin bekundet, verschrieben hat: [...] non tantum litteras Graecas et Latinas, sed maxime philosophicam grammaticam in posterum docere. 10
Die entsprechende deutsche Bezeichnung wäre "Sprachwissenschaft" oder "sprachwissenschaftliche Grammatik". Was Carl Wilhelm Heyse darunter versteht, geht aus dem posthum veröffentlichten System der Sprachwissenschaft hervor, desweiteren aus dem Vorwort und der Einleitung des Ausführlichen Lehrgebäudes von 1838 sowie aus seinen Vorreden zur Schulgrammatik von 1840 und 1850. Die Einleitung zum System belegt, daß der Begriff als solcher nicht auf den Neubeginn der vergleichenden Sprachwissenschaft und der Philologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verweist. Er steht vielmehr in der Linie der Beauzöeschen "science grammaticale" ("Grammatik als Wissenschaft"). Für Carl Wilhelm Heyse gibt es jedoch keine Ursprache. Die wissenschaftliche Grammatik ist identisch mit der "grammatischen Kunst" einer Einzelsprache. Er möchte das Wesen der Sprache an sich erfassen, indem er von der Kenntnis einzelner Sprachen ausgeht." Carl Wilhelm Heyse hebt zwei große Traditionsstränge hervor: zum einen die allgemeine Grammatik oder "grammaire raisonnöe", deren Ziel es ist, einzelsprachliche Formen zu erklären, sie zu begründen und zu systematisieren mit Hilfe einer auf die Sprache angewandten formalen Logik; zum anderen die historische oder vergleichende Grammatik, die mit dem Ziel einer Genealogie der Sprachen Formen erklärt und beschreibt. Er selbst will eine neue, dritte Richtung vertreten, die "philosophische Grammatik". Im folgenden soll gezeigt werden, wie weit Carl Wilhelm Heyses Denken über die traditionelle allgemeine Grammatik hinausgeht, und zwar durch seine Auffassung vom Bewußt10 Petzet (1913: 9); zit. nach dem Manuskript im Heyse-Familienarchiv Berlin. 11 Vgl. Kap. II.l. Es geht nicht darum, wie in der Tradition der allgemeinen Grammatik, die Möglichkeit aller natürlichen Sprachen zu begründen.
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sein und vom Menschen als sprachlichem Wesen, seine Anschauung von der Sprache als Energie und Organismus, und die Einbeziehung der geschichtlichen Dimension.
1.1.1. Der Mensch als sprachliches Wesen - Auf dem Weg zu einer Sprachpsychologie Carl Wilhelm Heyses Sprachauffassung kommt aus einer psychologischen Betrachtung des Menschen als "bewußtes" Wesen. In der Einleitung und im Vorwort des Ausführlichen Lehrgebäudes von 1838 wird diese Vorstellung vom Menschen nicht deutlich. In einer ausführlichen Besprechung der Grammatik Karl Ferdinand Beckers aber, die 1829 in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik12 erschien, hat er sie zum ersten Mal dargelegt, 1856 wurde sie in das System der Sprachwissenschaft übernommen. Diese Schrift kann als zuverlässige Quelle gelten, da sie eine von Heymann Steinthal angefertigte Nachschrift der Vorlesungen Carl Wilhelm Heyses an der Universität Berlin ist und somit dessen Lehre zur Zeit der Abfassung der großen Grammatik wiedergibt. Im System zeigt sich Carl Wilhelm Heyses Verpflichtung gegenüber dem deutschen Idealismus, insbesondere gegenüber Fichte, dessen Gedanken über das Individuum er fortführt und vervollständigt, indem er den Menschen zu einem Wesen durch die "Sprache" und das "Sprechen" macht. Im selben Werk versucht er zu beweisen, daß Sprache ein "Werk des objektiven Geistes" ist.13
1.1.1.1. Individuum, Sprache und Bewußtsein: Dualität des Menschen Carl Wilhelm Heyse geht von der Dualität des Menschen als einem "sinnlichgeistigen"14 Wesen aus. Die geistige Seite hat zwei Aspekte: die an die materielle Zufälligkeit gebundene "empfindende Seele"15 und den "selbstbewußten, vernünftigen, freien Geist," der "erhaben [ist] über die physisch-organische Natur des Menschen"16. Während die Seele im Bereich der Gefühle und Empfindungen lebt, ist dem "theoretischen" Geist das Denken, und dem "praktischen" Geist der Wille zugeordnet.17 Carl Wilhelm Heyse geht induktiv vor,
12 Nr. 16-19: 127f. 13 Trotz möglicher Verbindungen zur Philosophie Hegels sollen auf Parallelen mit ihr verzichtet werden, da Carl Wilhelm Heyse immer die Unabhängigkeit des eigenen Denkens behauptete. Vgl. hierzu Kap. I. 4. 14 AL (1838, Einleitung: lf.). 15 (1856: 24). 16 (Ebd.: 38), und in einer ahnlichen Formulierung (ebd.: 24). 17 (Ebd.: 24f.).
Carl Wilhelm Heyses grammatisches Denken
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indem er von der Welt der inneren Vorstellungen der Wirklichkeit, die aufgrund der Erfahrung entstehen, ausgeht. Die Sprache ist deren Ausdruck: Wir gehen von den erfahrungsmäßig gegebenen Vorstellungen aus und steigen durch schärfere Bestimmung, Läuterung und Vertiefung derselben zu dem wissenschaftlichen Begriffe der Sache auf. Wenn ich spreche, so äussere ich mein Inneres. Das Sprechen oder die Sprache subjectiv genommen ist also Aeusserung des Innern, Darstellung und Ausdruck dessen, was in dem Menschen vorgeht. 18 Die Sprache, objectiv genommen, ist das Mittel der Aeusserung des Innern.
Hinsichtlich der individuell und subjektiv realisierten Parole-Ebene bringt die Sprache das Innere des Menschen zum Ausdruck. Von diesen Betrachtungen aus, anhand einer Philosophie des Bewußtseins, gelangt Carl Wilhelm Heyse zur Identifikation von Sprache überhaupt und menschlichem "Geist" und beweist, daß Sprache dem theoretischen Geist zuzuordnen ist.
1.1.1.2. Die beiden Bewußtseinsstufen Die erste Stufe im Bewußtsein des Menschen ist das Bewußtsein seiner selbst als eines individuellen Wesens. In seiner Rezension von 1829 wird diese Ebene durch den Begriff "Intelligenz" erweitert: [...] denn der Mensch ist nur Mensch, in so fem er ein intelligentes Wesen ist. [...] Die Intelligenz ist wesentlich Bewusstseyn, das intelligente Wesen ein bewusstes, und alle Thätigkeit der Intelligenz Thätigkeit eines Bewussten; allein deswegen noch nicht bewusste Thätigkeit. 19
Aber die Subjektivität, das "Ich", bleibt auf dieser Ebene noch leer und ein Abstraktum ("unangefüllt von dem concreten Inhalt der Intelligenz selbst, und das Bewusstseyn ist demnach ein bloss formales"). Über dieser ersten Stufe steht das "reale Selbstbewußtsein", der Zustand, in dem das Innere des Menschen zum äußeren Gegenstand der (eigenen) Wahrnehmung wird: Erst auf einem hohen Punkte der Reife gelangt der Geist zur Erkenntniss seiner geistigen Thätigkeit, zum realen Bewusstseyn und macht sein eigenes Inneres sich zum Aeusseren, zum Gegenstande seiner erkennenden Betrachtung. 20
Die Tätigkeit des Geistes im Selbstbewußtsein ist möglich durch die allgemeine, objektive, Vernunft, "das allgemeine Vermögen und Bedürfhiss, der mit Notwendigkeit erfolgenden Selbstentwickelung und Bethätigung des geistigen Lebens".21 Die allgemeine Vernunft erscheint aber einzeln, d. h. sie ist den
18 19 20 21
(Ebd.: 23). Jahrbücher ftir wissenschaftliche Kritik, Nr. 16-19: 137f. (Ebd.: 137). (1856: 62).
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Menschen als individuelle, subjektive und begrenzte Vernunft zugeteilt.22 Allgemeine und individuelle Vernunft sind die beiden Seiten des Selbstbewußtseins. Damit sind die Grenzen der Individualität klar festgelegt, nicht nur rein physisch, sondern auch geistig. Um die allgemeine Vernunft wiederzuerlangen, strebt das Individuum als gesellschaftliches Wesen nach einer Ganzheit durch die Gemeinschaft mit anderen Intelligenzen: Der Mensch hat, wie den natürlichen Geschlechtstrieb, so auch das lebendige Streben nach Ergänzung der individuellen Intelligenz durch Einigung mit andern Intelligenzen, nach Herstellung der allgemeinen Vernunft.
23
1.1.1.3. Sprache und Geist Gerade die Sprache stellt diese Gemeinschaft und geistige Einheit unter den Individuen her, denn sie ermöglicht ihnen den Aufstieg zur höheren Stufe der Vernunft: [...] die geistige Trennung der Individuen wird durch den geistigen Verkehr und Austausch in 24
der Sprache - dem geistigen Gattungsprocess - aufgehoben.
Daraus leitet sich die Funktion des Sprechens ab, das der dialogischen Situation zugrunde steht: So wird also die Offenbarung des Geistes durch die Sprache nothwendig Mittheilung; die einseitige Aeusserung des Gedankens: Austausch der Gedanken; die Sprache: Gespräch. 2 5
Sprache ist also eine notwendige Bedingung für das Selbstbewußtsein, den Ausdruck des Denkens und somit für die Entstehung von Individualität. Sie existiert auf der inneren Ebene des Bewußtseins wie auf der äußeren des Sprechens, durch welches der Geist die Kontingenz der Natur überwindet: So ist also das Sprechen nichts anderes, als das Hervorbrechen des freien denkenden Geistes in die Erscheinung durch das Medium des physischen Organismus; die Sprache: die Unterwerfung des leiblichen Organismus durch den denkenden Geist. [...] Es liegt in dem Act des Sprechens eine Versöhnung des Geistes mit der Materie, innerhalb des Individuums selbst [...]. 26
Auch bezüglich des Sprechens unterscheidet Carl Wilhelm Heyse zwei Ebenen: die erste ist die der spontanen Äußerung, eines unmittelbaren, rein "formellen"27 Sprechens ("bewusstlose Thätigkeit, Naturthätigkeit des bewussten Geistes"); die zweite im Bereich der bewußten Objektivierung des Selbstbewußtseins, in der der Inhalt der Rede an sich besteht und auf das Selbstbewußtsein verweist. 22 23 24 25 26 27
(Ebd.: 42). (Ebd.: 43). (Ebd.). (Ebd.) (Ebd.: 39). (Ebd.: 63 und 39f.).
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Doch ist sich auf dieser Ebene das sprechende Subjekt noch nicht der Sprache an sich bewußt geworden ("Sie [die Sprechenden] sind nicht zur deutlichen Erkenntniss ihres Thuns selbst, nicht zur Reflexion auf dasselbe durchgedrungen. Sie haben die Sprache nur im Gefühl als ein natürliches Vermögen").28 Dieses Sichbewußtwerden der Sprache überhaupt ist folglich eine entscheidende Stufe. Sprechen ist also nicht nur der Ort der Versöhnung von Materie und Geist. Erst das individuelle Sichbewußtwerden des Sprachvermögens führt zum Denken und zum "Ich". Sprechen steht somit am Anfang des geistigen Lebens und des Denkens, dadurch daß der Inhalt des Denkens mittels der Sprache vergegenständlicht wird29: Der Mensch, als sinnlich-geistiges Individuum, gelangt erst zu dem Gedanken und zugleich zu dem Erfassen seines Selbst, indem er den geistigen Inhalt ausser sich darstellt und sich selbst, sein denkendes Ich, in dieser seiner freien Production wahrnimmt. [...] Dadurch [das Sprechen] kommt er [der Mensch] zu sich selbst, d. i. er erfasst sich als Person. [...] Dies Bewusstsein ist aber der Anfang des Denkens überhaupt, welches nothwendig mit dem Erfassen des Ich oder mit dem Erwachen aus dem Naturleben zum Selbstbewusstsein beginnt. So fällt also der Anfang der freien geistigen Thätigkeit des Denkens mit dem Anfang des Sprechens in einen Moment zusammen. 30
Carl Wilhelm Heyse geht sogar weiter und postuliert die Einheit von Sprechen und Denken: Sprechen und Denken ist für den Menschen seiner Natur nach eins, ein einfacher Act, von welchem jenes nur die äussere, dieses die innere Seite ist. Das Sprechen ist das laut gewordene, in die Erscheinung tretende Denken; das Denken ein innerliches Sprechen. 31
Daraus wird gefolgert, daß Sprache der theoretischen Vernunft, dem Sitz des Denkens, als dessen äußere Erscheinung direkt zugeordnet ist.
1.1.2. Verbindung zur Bewußtseinsphilosophie von Christian Wolff Es scheint eine gewisse Verwandtschaft zwischen Carl Wilhelm Heyses Theorie des Bewußtseins und der Psychologie Christian Wolffs 32 zu bestehen, wie sie
28 (Ebd.: 63f). 29 Dazu noch folgendes Zitat: "Hierin liegt die Notwendigkeit der Aeusserung, der Darstellung des Gedankens. Dieser ist für den Denkenden selbst nicht da, wenn er ihn nicht ausser sich dargestellt hat." (Ebd.: 39). 30 (Ebd.: 39f.). 31 (Ebd.: 40). 32 Forsgren (1973: 60f.) untersucht die gedanklichen Verbindungen zwischen Leibniz, Platner, Herder, Tetens, Wolff und dem Grammatiker Thomas, auf die im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen wird. Leibniz ersetzt das 'Urteil' durch die "Idee", der Satz ist dann der Ausdruck vollständiger Ideen. Die vier Kategorien Substanz, Kraft, Gefühl und Beziehung von Thomas übernimmt Carl Wilhelm Heyse nicht; er geht ganz anders vor (Vgl. unten). Zu Wolff siehe auch u.a. Wundt (1941). Carl Wilhelm Heyse hat auch kein großes philosophisches Gebäude
1gg
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aus seinen verschiedenen Werken hervortritt {Psychologia empirica, 1732, Psychologia rationalis, 1734)33. Der "Gedanke" ist fur Wolff eine grundlegende Dimension des Seelischen. Für ihn kommt die Welt zum Menschen durch das Bewußtsein, das Gegenstände in ihrer Vielheit durch distinktive und relationale Vorgänge vorstellt. Das Bewußtsein ist - wie später bei Heyse - Zeugnis für die Individualität jedes Menschen. Carl Wilhelm Heyse geht ebenfalls von der Welt der Vorstellungen und von einem zweifachen Bewußtsein aus, nämlich dem Bewußtsein und dem Selbstbewußtsein, wobei er das Bewußtsein mit dem Inneren und das Selbstbewußtsein mit dem Geist in Verbindung bringt. Wolff bringt dagegen den Begriff des Selbstbewußtseins in Verbindung mit der Vorstellung eines sittlichen Sollens. Seine Philosophie, die vom Denkbaren und Möglichen ausgeht, unterscheidet zwischen philosophischer Erkenntnis (durch Erhellung der Möglichkeitsbedingungen der Dinge), historischer oder empirischer, sowie mathematischer Erkenntnis. Vernunft ist das Vermögen, einen Zusammenhang zwischen den Dingen (u.a. durch das natürliche Gesetz der Bewegung) und allgemeinen Wahrheiten zu erfassen. Er unterscheidet dann das Erkenntnisvermögen vom Begehrensvermögen. Durch die Empfindungen, die Einbildungskraft, das Gedächtnis und den Verstand erreicht die Erkenntnis die Ebene der Vernunft. Ebenso steigt das Begehrensvermögen von den Begierden über die Affekte zum Willen auf, bleibt aber vom Erkenntnisvermögen abhängig, denn es setzt durch die Unterscheidung von Gutem und Bösen eine determinierte Wahl voraus.34 Im Unterschied zu Wolff beschränkt sich Carl Wilhelm Heyse auf das Verhältnis von Sprache und Denken, und bezieht den Willen auf den "praktischen Geist"35. Leider veröffentlicht er nichts weiteres in dieser Richtung und entwickelt weder eine Ontologie, noch eine Theodizee, noch eine allgemeine Staatsphilosophie. Der Ansatz seines theoretischen Gebäudes kann durch die besondere Hervorhebung der sprachlichen Dimension als sprachpsychologisch bezeichnet werden: Der Mensch kommt nur durch die Sprache zu sich selbst und zum Bewußtsein.
1.1.3. Carl Wilhelm Heyses Kritik am Denken Fichtes entworfen, somit ist auch sein sprachpsychologischer Ansatz von Wolffs "rationaler" Erkenntnis, der die Möglichkeit der Dinge untersucht, grundlegend verschieden. 33 Vgl. auch Philosophia prima sive Ontologia (1729), Philosophia rationalis sive logica (1728), Philosophia practica universalis (1736-1737), und die juristischen Schriften. Eine detaillierte Besprechung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 34 In Wolffs Ontologie gehören Gut und Böse sowie die wesentlichen "Bestimmungen" in den Bereich der Welt und nicht der Vernunft. Wolff setzt schließlich das Recht der Vernunft gegen eine auf dem Glauben beruhende Autorität und entwickelt eine praktische Philosophie des Staates und der allgemeinen Wohlfahrt. 35 Vgl. zur Problematik des "Willens" bei C. W. Heyse, unten, 2.2.4.
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Auch Fichtes Denken beschäftigt sich mit einer Philosophie des Bewußtseins. In seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1794 sind die Überlegungen über das "Ich" aus politischen Erwägungen hervorgegangen, aus einer Staatsphilosophie im dialektischen Ablauf der Geschichte. Carl Wilhelm Heyse bezieht sich im allgemeinen nur indirekt und kritisch auf Fichte, so wenn er an die Anfangsgründe der Sprachwissenschaft und die Sprachlehre Bernhardis (1805) erinnert, die zu "abstract und einseitig vom Standpunkte des subjektiven Idealismus der Fichteschen Philosophie"36 geprägt seien. Er will sich bewußt von dieser besonderen Richtung des deutschen Idealismus absetzen. Bei Fichte steht das Individuum in einem intersubjektiven Verhältnis, eines Bewußtseins mit dem andern, eines "Ich" im Verhältnis zu einem "Nicht-Ich". Das absolute Ich und das "Nicht-Ich", das zwar bedingt, aber in seiner Form absolut ist, setzen sich gegenseitig Grenzen. Die Wahrnehmung seiner Identität durch den Prozeß der Unterscheidung führt das "Ich" zum Bewußtsein. Aus dieser aktiven Vorstellung leitet sich das Identitätsprinzip als ein Gesetz des Denkens ab. Das Subjekt erfaßt die Wirklichkeit mit Hilfe der Kategorien des Denkens, durch eine Projektion. Das Bewußtsein wird daher definiert als Kausalitätsgesetz in der Welt. Fichte versucht in einer Philosophie des "Ich" und des "Nicht-Ich" Idealismus und Realismus zusammenzuführen, indem er das "Ich" als Einheit des Bewußtseins und des Wirklichen definiert; das Bewußtsein kann nur zeitlich sein. Für Carl Wilhelm Heyse zählt Sprache dagegen zur Welt der Vorstellungen. Sie begleitet das Selbstbewußtsein im individuellen Prozeß sprachlicher Orientierung, der das Hinausschreiten über die Grenzen der individuellen Vernunft ermöglicht. Das Identitätsprinzip, bei Heyse eher das Bewußtsein bei jedem Individuum, wird im aktiven Verhältnis zur Sprache begriffen und nicht gegenüber eines "Nicht-Ich". Carl Wilhelm Heyse kritisiert zwei Hauptpunkte des Fichteschen Denkens: die Vorrangstellung der Vernunft, die schon vor der Sprache da ist und ohne sie zum Bewußtsein gelangen kann37; und die Ansicht Fichtes, daß die Sprache eine Erfindung des Menschen sei, daß eine subjektive "Willkühr" und keine natürliche Notwendigkeit in ihr wirke. Carl Wilhelm Heyses Antworten sind klar. Im Gegensatz zu Fichte gibt er der Sprache den Vorrang bei der Ich-Bildung: Wir räumen also ein, dass die Sprache ein Product der natürlichen Entwickelung des Menschen, ein notwendiges Erzeugniss der sich vollendenden Menschen-Natur ist; und behaupten doch, dass sie ein Werk des freien, selbstbewussten Geistes ist.
36 (1856: 43). 37 (Ebd.: 57). 38 (Ebd.: 62).
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Der Begriff "Werk" ist dynamisch zu verstehen, als "freie" Tätigkeit, denn es ist immer "ein Gedachtes"39. Carl Wilhelm Heyses Philosophie der Sprache ist demnach eine Philosophie des Denkens. Bei der Frage nach dem Ursprung der Sprache geht er nicht von der Alternative eines göttlichen oder menschlichen Ursprungs aus.40 Ganz klar widerspricht er den Vorstellungen, Sprache sei, mit Bezug auf die Genesis, ein göttliches Geschenk oder aber eine menschliche Erfindung; sie sei "weder ein unmittelbares Geschenk der Gottheit, noch eine Erfindung des menschlichen Verstandes". Damit steht er im Widerspruch zu einigen Denkern aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ζ. B. Hamann, Herder, oder Johann Peter Süßmilch ( Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, 1766)41, deren Anschauungen er im Ausführlichen Lehrgebäude und in anderen Schriften kritisiert. Die eigene Position ist im folgenden Satz prägnant zusammengefaßt: Der Ursprung der Sprache fällt mit dem Ursprünge des Menschengeschlechts zusammen und 42 liegt, wie dieser, jenseit der Geschichte.
Aus der gegenseitigen Abhängigkeit von Sprache und Vernunft folgt, daß Geist Sprache ist und Sprache Geist. Dazu ein ausführliches Zitat: Die Sprache ist hervorgebracht vom bewussten, freien Geiste auf dem Wege natürlicher Entwicklung seines innersten Wesens selbst. Bei dieser Entwickelung des Geistes fällt Freiheit und Nothwendigkeit zusammen. Beide sind Uberhaupt in aller höheren Vernunftthätigkeit eins [...]. Die Entwickelung des Geistes, mit welchem die der Sprache Hand in Hand geht, ist frei; denn der Geist ist wesentlich Freiheit, sich selbst bestimmende Thätigkeit, Selbstentwickelung. Sie ist nothwendig; denn diese selbstthätige Entwickelung und freie Bestätigung macht die ursprüngliche substantielle Natur des Geistes aus, die ihm angeborene natürliche Bestimmung, welcher er folgen muss, sofern er Geist ist. [...] Die Sprache ist also ein Naturerzeugniss des menschlichen Geistes. Dieser aber arbeitet sich durch nothwendige, aber selbstthätige und mithin zugleich freie Entwickelung, deren äusserliches Product die Sprache ist, stufenweise empor zu dem Standpunkte der verständigen Reflexion oder des urtheilenden Verstandes.43
1.2. Sprache und Energie, organizistisches Denken: Carl Wilhelm Heyse und Wilhelm von Humboldt
39 Vgl. unten, Kap. 1.2. Das Sprechen behandelt Carl Wilhelm Heyse gesondert, denn es ist intentional und nicht durch die Form bestimmt. 40 (1856: 46f. und 62f.). 41 Zur Frage des Ursprungs vgl. Borst (1957, 1963). 42 (1838, Einleitung. 6), und derselbe Gedanke (1856: 47). 43 (1856: 64f.).
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Wie oben gezeigt, partizipiert Sprache bei Carl Wilhelm Heyse am ganzen Bildungsprozeß des Denkens, dessen Grundlage sie ist. Daraus ergibt sich für ihn eine organizistische Sprachauffassung, in "Energie"-Begriffen dargestellt. Indem Heyse die Sprache mit einem Organismus vergleicht, stellt er sich in eine sprachphilosophische Tradition, die ins 18. Jahrhundert zurückreicht und zwei Richtungen genommen hat: die genealogische und evolutionistische Interpretation der historischen Schule mit dem Hauptvertreter Grimm und die systematisch-funktionale mit Schelling, Ast und Wilhelm von Humboldt.44 Heyse schließt sich der zweiten an. Im Unterschied zu diesen Autoren betont er jedoch nicht die mit der Auffassung vom Organismus verbundene Idee der Polarität, wonach die Entwicklung in einer ständigen Spannung zwischen innen und außen geschehe.43 Heyses einziger und wichtiger Bezugspunkt ist Wilhelm von Humboldt, dessen Einleitung in das Kawiwerk (1836) er mehrfach in seinem Ausführlichen Lehrgebäude und im System der Sprachwissenschaft zitiert. Trotz zahlreicher, an Humboldts Abhandlungen erinnernder Formulierungen, darf man nicht auf wörtliche Übernahmen schließen. Wie der Biograph Petzet (1913) in seiner kurzen Besprechung des Systems unterstreicht, hat Heyse in einigen handschriftlichen Bemerkungen vom Winter 1834 Gedanken festgehalten, die denen Humboldts äußerst nahe stehen, aber zwei Jahre vor der Veröffentlichung der Einleitung zum Kawiwerk niedergeschrieben wurden. Eine engere Beziehung oder ein Briefwechsel zwischen den beiden Sprachforschern scheint es nicht gegeben zu haben, obwohl Carl Wilhelm Heyse zwei Jahre lang Hauslehrer des Sohnes von Wilhelm von Humboldt gewesen war46. Man kommt somit zu dem Ergebnis einer erstaunlichen aber partiellen Übereinstimmung im Denken Heyses und Humboldts und kann feststellen, daß Carl Wilhelm Heyse Begriffe und Kategorien benutzt, die im allgemeinen Humboldt zugeschrieben werden. Sicher hat die späte, posthume Veröffentlichung des Systems der Sprachwissenschaft dazu beigetragen, daß Carl Wilhelm Heyse verkannt und die Originalität seines Denkens nicht wahrgenommen wurde: Er sollte unwiderruflich im Schatten des berühmten Gelehrten bleiben.
1.2.1. Nähe und Distanz zum Denken Wilhelm von Humboldts Wenn auch nicht sehr zahlreich, so finden sich doch in jeder der großen Schriften Carl Wilhelm Heyses direkte Bezugnahmen auf Wilhelm von Humboldt: im Besprechungsaufsatz in den Jahrbüchern (1829), im Ausführlichen Lehrgebäude und im System der Sprachwissenschaft. Trotz der Verwendung vieler 44 Diese beiden Wege hat Forsgren (1973: 85-89) klar dargestellt. 45 Vgl. dazu Schwinger (1935), Spranger (1909), Fiesel (1927). 46 Dazu Kapitel I. 4.
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gleicher Termini ist die Nähe des Denkens weniger groß, als es den Anschein haben könnte. Humboldt begreift den Menschen in seiner Dualität von "Körper" und "Geist", die sich im Sprechen und der Grundeinheit des Sprechens, dem Wort, widerspiegelt. Er weist der Sprache eine zentrale Bedeutung zu: "Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken."47 Wie Coseriu zeigt, tritt mit Humboldt die Sprache als solche in den Mittelpunkt von Sprachwissenschaft und philosophischer Betrachtung.48 Sie ist vor allem schöpferisch und dynamisch: Von dem ersten Elemente an ist die Erzeugung der Sprache ein synthetisches Verfahren und zwar ein solches im ächtesten Verstände des Worts, wo die Synthesis etwas schafft, das in 49 keinem der verbundenen Theile für sich liegt.
Diese Synthese liegt im Wesen der Sprache, sie geschieht im schöpferischen Augenblick des Sprechens: Nicht aus Einzelnheiten, sondern aus der ganzen Beschaffenheit und Form der Sprache geht die vollendete Synthesis [...] hervor. Sie ist das Product der Kraft im Augenblicke der Spracherzeugung und bezeichnet genau den Grad ihrer Starke. 50
Sprache ist also "Energeia", ein zentrales Moment des Humboldtschen Denkens: Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. 51
Die Sprache erhält so ein eigenes Leben und wird autonom, vergleichbar der autonomen Existenz der Pflanzen. Sie ist, so Humboldts Gedanke, ein Organismus: Da sie [die Sprache], in unmittelbarem Zusammenhange mit der Geisteskraft, ein vollständig durchgeführter Organismus ist, so lassen sich in ihr nicht bloss Theile unterscheiden, sondern auch Gesetze des Verfahrens oder [...] vielmehr Richtungen und Bestrebungen derselben. 52
Er hebt besonders die Autonomie der Sprache hervor, die sich weniger in Gesetzen zeigt als in einer Anpasssungsfähigkeit der Sprache im "Gesprochenen" an den unendlichen Forderungen des Geistes: Das Verfahren der Sprache[...] muss derselben zugleich die Möglichkeit eröffnen, eine unbestimmbare Menge solcher Erscheinungen und unter allen, ihr von dem Gedanken gestellten Bedingungen hervorzubringen. Denn sie steht ganz eigentlich einem unendlichen und wahrhaft gränzenlosen Gebiete, dem Inbegriff alles Denkbaren gegenüber. Sie muss daher von
47 Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: (Hrsg.) Andreas Flitner und Klaus Giel, 1979: 426. (im folgenden, AF III) 48 Coseriu (1972: 13). 49 Humboldt (Op.cit.: 473). 50 (Ebd.: 474). 51 (Ebd.: 418). 52 (Ebd.: 476).
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endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen, und vermag dies durch die Identität der Gedanken- und Spracherzeugenden Kraft. 53
1.2.1.1. Carl Wilhelm Heyse - Geist und Energie Carl Wilhelm Heyse betont wie Humboldt das Leben der Sprache: In der Einheit und Durchdringung dieser beiden Seiten zu einem lebendig gegliederten Ganzen besteht die organische Natur der Sprache, wie der Organismus des Menschen selbst in der Einheit von Leib und Seele besteht.
54
Zur Unterstützung seiner These zitiert er Humboldt, für den die Sprache "unmittelbarer Aushauch eines organischen Wesens" ist, und den Grammatiker Becker, der in der Sprache ein "durch ein inneres Band zu einer Einheit verbundenes Mannichfaltiges" sieht. Bei der Verwendung der beiden Konzepte Energie und Organismus entfernt sich Carl Wilhelm Heyse jedoch von Humboldt, indem er die Idee der Energie nicht zur Sprache, sondern zu dem sich o b j e k t i v i e r e n d e n Geist in Beziehung setzt: Er [der Geist] muss also aus diesem Zustande der Gebundenheit sich selbstthätig befreien, um seiner selbst mächtig zu werden; er muss sich objectiviren, um zum Bewusstsein seiner selbst zu kommen, um das was er an sich der δ υ ν α μ ι ς nach ist, auch für sich ενεργεία zu werden. 5 5 Der Geist ist die herrschende Macht. 5 6
Folglich ist Sprache bei Heyse nicht an sich Energie. Es besteht vielmehr ein hierarchisches Verhältnis zwischen Sprache und Geist, dessen schöpferische Energie sie wiedergibt: Was also der Mensch als Aeusserung seines vernünftigen Geistes hervorbringt, ist nothwendig das Erzeugniss eines bewussten Wesens. Seine Thätigkeit bei der Erzeugung der Sprache ist die Thätigkeit eines bewussten Wesens, freie Selbstthätigkeit, keine bloss passive Entwickelung, wie die Pflanze, sondern Selbstentwickelung. 57
Für Carl Wilhelm Heyse scheint die Idee des Organismus negativ belegt zu sein, eher einen vegetativen, passiven Aspekt als den einer freien, spontanen, quasi selbsttätigen Entwicklung zu haben. Ein Organismus müsse den Grund seiner Entwicklung in sich selbst tragen, nicht so die Sprache, da sie vom Wirken des Geistes abhängt: Eine wesentliche Bestimmung aber eines jeden wahrhaften Organismus ist, dass er als ein, in sich geschlossenes selbständiges Ganzes das Princip seines Lebens, seiner Bewegung und Entwickelung [...] in sich selbst trägt [...]. Die Sprache aber hat ihr Lebensprincip nicht in sich,
53 54 55 56 57
(Ebd.: 477). AL (1838, Einleitung·. (1856: 38f.). AL (1838: 120). (1856: 63).
120).
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sondern ausser sich in dem menschlichen Geiste, dessen Product sie ist, und der sich ihrer als 58 seines Organes bedient.
In einem gesonderten Abschnitt des Systems der Sprachwissenschaft geht jedoch Heyse positiv auf das organizistische Wesen der Sprache ein, indem er auf der Ebene des Wortes auf die Einheit von "Laut" und "Begriff' eingeht: Das Gesprochene ist organisch, sofern es immer eine Einheit des Geistigen (des Begriffs) und Sinnlichen (der Lautform) darstellt; das Sprechen ist organisch, weil darin eine geistige Thätigkeit (das Denken) mit einer sinnlichen (der Lauterzeugung) sich einigt und durchdringt. 59
Wenn auch die Lauterzeugung von einer geistigen Tätigkeit abhängt, wird Sprache deshalb nicht zu einem bloßen Produkt der Vernunft, obwohl Heyse sie als "Erzeugung des Geistes" oder "Werk" bezeichnet ("wir (...) behaupten doch, daß sie ein Werk des freien selbstthätigen Geistes ist"). Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied: Verstand Humboldt das "Werk" ("Ergon") als bloßes Produkt im Gegensatz zur "Energeia", so verwendet Heyse den Begriff in seinem deutschen etymologischen Sinn, nämlich dynamisch, als "eine That": Sprache ist immer "ein Gedachtes". Trotzdem versteht sich die Sprache als "fortwährende Erzeugung" des Menschen- und Volksgeistes, und ist in keinem Fall ein "Machwerk" des Verstandes. 60
1.2.1.2. Geist und Erkenntnis Ein weiterer Punkt des Humboldtschen Denkens, den Carl Wilhelm Heyse nicht übernimmt, zumindest ganz verschweigt, ist die Konzeption von Sprache als "Weltansicht"61. Nach Humboldt ist jede Sprache in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit selektiv, und sie transponiert durch die ihr eigenen Gesetze und grammatischen Regeln die Begriffe und Gedankenverbindungen. Sie vermittelt die Weltansicht des Sprechers und des Volkes, zu dem er zählt. Das Erlernen einer Fremdsprache öffnet durch die ihr inhärente Weltansicht neue, doch schwer erfaßbare Horizonte, wegen des mächtigen Einflusses der Muttersprache.62 Bei Carl Wilhelm Heyse aber ist der Mensch nicht durch die Sprache
58 (Ebd.: 58f.). 59 (Ebd.: 65f.). 60 Zur "That", vgl. (Ebd.: 26). Auf S. 25 bezieht sich Heyse ausdrücklich auf Spinoza ("voluntas et intellectus unum et idem sunt") im Zusammenhang mit dem dem Sprechen zugrundeliegenden Denken und Wollen. Der Hinweis auf das "Gedachte" findet sich bereits in seiner Rezension von 1829: 133f. Den Energeia-Begriff Humboldts zitiert Heyse in der Vorrede (1838: XVIII, Anmerk.). Auf der selben Seite sind weitere Passagen zur Sprache als Erzeugung. 61 Vgl. Christmann (1966, 1988). 62 "Durch denselben Act, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis [...] Die Erlernung
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bestimmt. Der Mensch denkt und handelt durch die ihm zur Verfügung stehende Sprache und gelangt so zur Wirklichkeit an sich. Seine Auffassung der Welt ist nicht allein durch die von der Sprache beförderten Vorstellungen bestimmt: Desshalb aber verliert der denkende Geist keineswegs die Macht und Fähigkeit, die wahre Natur der Dinge zu begreifen. Obwohl nämlich der Mensch nur in der Sprache denkt und mittels der Sprache Gedanken äussert, so vermag die ursprüngliche Natur der Sprache seinem Geiste keine Fesseln anzulegen. Er strebt vielmehr kraft seiner denkenden Vernunft über die Sphäre der Vorstellung und des formellen Verstandes, in welcher die Sprache erwachsen ist, hinaus nach Erkenntnis der Dinge in ihrer Wahrheit und ihrem Wesen, und läutert gleichmässig die Sprache durch allmähliche Entleerung von dem sinnlich-natürlichen Elemente [...] zum angemessenen Ausdruck jener Erkenntniss. 63
Diesen Ausführungen läßt sich eine andere Stelle aus dem Ausführlichen Lehrgebäude gegenüberstellen, die die virtuelle Existenz einer gemeinsamen Sprache der Menschheit annimmt. Die Schlußfolgerung ist eine ganz andere als die Humboldts: So können wir auch der Menschheit überhaupt eine Sprache zuschreiben, denn die Gesetze des Denkens und Empfindens, welche der Sprache zugrunde liegen, sind bei allen vernünftigen Menschen dieselben [.,.]. 6 4
Trotz einer Formulierung, die hier auf eine Ähnlichkeit mit Ansätzen der Allgemeinen Grammatik schließen lassen könnte, ist Carl Wilhelm Heyses Ausrichtung grundsätzlich verschieden, da er zur Stütze keine formale Logik entwickelt, sie nicht einmal erwähnt. Wie vorher gezeigt geht er von einer Sprachpsychologie aus. Carl Wilhelm Heyse faßt Sprache weder als "Weltansicht" noch als "Energeia" oder "Organismus" im Humboldtschen Sinne. Sie erhält die ihr eigene Dynamik nur im Verhältnis zum Geist, ist "Gedachtes". Die Vorstellung vom Organismus ist insofern ambivalent, als Heyse ihm die Dimension der Freiheit abspricht, die doch der wesentliche Faktor des Geistes ist. Damit kann man Carl Wilhelm Heyse unter die kritischen Rezipienten Humboldts einordnen, zu deren Vertreter in der neueren Linguistik ζ. B. Weisgerber oder Coseriu65 zählen.
1.2.2. Die Kritik an Karl Ferdinand Beckers "Organismus" der Sprache
einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht seyn [...]. "Humboldt, Verschiedenheit (AF III: 434). 63 AL (1838: 275). 64 (Ebd.: 7). 65 Weisgerber (1971), Coseriu (1969, 1970,1983, 1984). Zur historischen Dimension der Sprache bei Carl Wilhelm Heyse vgl. unten, Kap. 1.3. im Zusammenhang mit der Sprachtypologie. Es sei daran erinnert, daß die historische Dimension auch im Denken Humboldts von grundsätzlicher Bedeutung ist.
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Humboldts Einfluß auf den Arzt und Grammatiker Karl Ferdinand Becker ist heute eher bekannt, wie die zahlreichen Untersuchungen zu seinem Werk belegen, ζ. B. Haselbach (1966), Forsgren (1973, 1986) und Knobloch (1989), um nur einige zu nennen. Obwohl beide, Carl Wilhelm Heyse und Karl Ferdinand Becker, Mitglied des Frankfurtischen Gelehrtenvereins waren, unterscheiden sich ihre Auffassungen von Organismus und Sprechen ganz grundsätzlich. Heyse legt seine Kritik bereits 1829 in einer ausführlichen Rezension von Beckers Organism der Sprache66 dar, einem Werk, das seine These schon im Titel führt. Karl Ferdinand Becker hatte seine Anschauung bereits in einer früheren Schrift, der Deutschen Wortbildung, vertreten, die 1824 in den Jahrbüchern des Frankfurtischen Gelehrtenvereins erschienen war: "Sprache ist ein organisches Erzeugnis der menschlichen Natur". Die sprachwissenschaftliche Forschung könne erst dann Fortschritte machen - so Becker -, wenn sie die organische Natur der Sprache nicht nur als abstraktes Prinzip, sondern in all ihren konkreten Erscheinungen anerkennen würde. Nur eine physiologische Untersuchung der Sprache, insbesondere der Morphologie, könne dies leisten. Becker will die Möglichkeit einer solchen Untersuchung am Einzelfall der deutschen Sprache beweisen. In einer bestimmten Sprache müßten nämlich die organischen Verbindungen zutage treten, die die Grundlage aller Sprachen bilden und den Gesamtbau einer höheren Einheit, eben "des allgemeinen Sprachorganism", ausmachen. Carl Wilhelm Heyse stellt diese Beckersche Interpretation in Frage, ihm ist, wie schon oben angeführt, der Begriff des Organismus im Vergleich zum tatsächlichen Wesen der Sprache zu restriktiv und führt zu einer falschen Ausrichtung der Grammatik: Die Sprache aber wird durch die Benennung einer o r g a n i s c h e n V e r r i c h t u n g in die Kategorie blosser durch das Naturleben geforderter bewusstloser Thätigkeiten herabgesezt.67
Der physiologischen Bestimmung hält er entgegen: Wenn er [Becker] aber behauptet, die S p r a c h l e h r e ü b e r h a u p t s e i nur e i n e P h y s i o l o g i e der S p r a c h e , so können wir diess nach dem Gesagten nicht zugeben, und müssen daftlr den Ausdruck substituiren: die wahre Sprachlehre soll eine Philosophie der Sprache seyn. 68
66 Wir beziehen uns auf die erste Ausgabe des Organism der deutschen Sprache, in der Becker nur auf den physiologischen Aspekt eingeht. Im Vorwort zu seiner zweiten Ausgabe von 1841 bezieht er die Dimension des Geistes in seiner "logischen" Form mit ein. "Diese Forschungsarbeit ist für ihn aber Gegenstand einer eigenen Wissenschaft, nämlich der Psychologie: [...] und wie Physiologie und Psychologie zusammen erst die volle Erkenntnis des Menschen gewähren; so entsteht die volle Erkenntnis der Sprache erst aus der vereinten Betrachtung ihres logischen und phonetischen Elementes." (Organism, 1841: XVIII). 67 Heyses Besprechung in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1829, Nr. 17 und 18: 129. Hervorhebung von Heyse. 68 (Ebd.: 131). Von Heyse hervorgehoben.
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Im folgenden gibt Carl Wilhelm Heyse seine Definition dieser Sprachphilosophie. Aufgabe des Sprachphilosophen ist zunächst die Beschäftigung mit den Forderungen des Geistes: Die Sprachphilosophie hat von den nothwendigen Bestimmungen der sich entwickelnden Intelligenz, der natürlichen Beschaffenheit des Sprechens als organischer Function gegenüber, auszugehen, und das innere Verhältniss, den wesentlichen Zusammenhang dieser beiden Seiten in der Wirklichkeit der Sprache im Ganzen und in allen besonderen Gestaltungen und einzelnen Erscheinungen derselben nachzuweisen. Sie muss, wie alle Philosophie, von den Forderungen des Geistes anfangen und das Daseyn derselben in der Welt der Erscheinungen aufzeigen.69
Sprachphilosophie soll mit ihren Betrachtungen im Bereich der "Intelligenz", worauf sie die organische Funktion des Sprechens bezieht, ansetzen und dabei die Abhängigkeit von Sprache und Geist aufzeigen. Carl Wilhelm Heyses Kritik an Becker beruht leider auf keiner sehr treuen Sicht seines Denkens. Gerhard Haselbach hat gezeigt, wie stark das physiologische Sprachdenken Beckers schon durch Zeitgenossen, insbesondere Steinthal, und durch die Mitarbeiter der Allgemeinen Schul-Zeitung, die Rezensionen von Johann Christian Heyse und Carl Wilhelm Heyse veröffentlicht hatte, verfälscht worden war. So geht dieser ζ. B. nicht auf die Stellen Beckers ein, wo die Sprache als schöpferische Kraft gekennzeichnet wird.70 Eigentlich leugnet Becker das geistige Wesen der Sprache nicht. Er beschreibt ihre Doppelgestalt, ihre "logische" und "phonetische Seite"71. Die logische Seite der Sprache liege in ihrem Inneren, dem die äußere, materielle Seite des Lautes gegenüberstehe. Die Verbindung zwischen der logischen und der phonetischen Dimension sei eine willkürliche, die nicht auf ein Subjekt sondern auf die organische Natur der Sprache zurückzuführen sei. Laut Haselbach (1966) rühre die negative Rezeption Beckers sicher daher, daß er sein System auf Oppositionsreihen aufbaut: Dem Gegensatz "logisch"-"phonetisch" entsprechen die Gegensatzpaare "Begriff"- "Laut", "Thätigkeit" ("Geist") - Seyn" und "Stoff - Form". Der Vergleich des Systems der Sprachwissenschaft, der Rezension in den Jahrbüchern und des Ausführlichen Lehrgebäudes bekräftigt die Ansicht von der tatsächlichen Eigenständigkeit von Carl Wilhelm Heyses Sprachauffassung gegenüber Wilhelm von Humboldt und Karl Ferdinand Becker, obwohl die drei Denker auf eine sehr ähnliche Terminologie zurückgreifen. Carl Wilhelm Heyse setzt Sprache und Geist gleich und macht das individuelle Bewußtwerden seiner selbst vom Bewußtwerden der Sprachfähigkeit abhängig. Seine Vorbehalte richten sich gegen jegliche physiologische Erklärung im Sinne Beckers, da sie zu einer mechanischen Interpretation des Begriffs Organismus' fuhren könnte.72 69 (Ebd.: 140). 70 Vgl. dazu Haselbach (1966). 71 Becker (1827: 9); zit. nach Carl Wilhelm Heyses Besprechung (Jahrbücher, 1829), in der die Hauptpunkte der Argumentation aufgegriffen werden. 72 Wilhelm Vesper (1980: 100).
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Die Energie der Sprache leitet er aus der Tätigkeit des Geistes ab. Sprache liefert keine Weltansicht, und sie darf nicht mit den Mitteln der Physiologie beschrieben werden. Vielmehr erfordert das organische Wesen der Sprache, nach einem induktiven Verfahren beschrieben zu werden. 73 In diesen Punkten steht Carl Wilhelm Heyse dem Idealismus nahe, insofern er die Priorität des Geistes setzt; die Sprache als solche erhält für ihn, im Unterschied zu Humboldt, eine Vorrangstellung erst im Bewußtsein.
1.3. Die geschichtliche Dimension Die Geschichte fließt auf ganz konkrete Weise durch Untersuchungen der historischen Grammatik in Carl Wilhelm Heyses Sprachlehre ein und ist theoretisch begründet. Sie mündet in eine Sprachtypologie und verfolgt den Zweck einer philosophischen Grammatik. Die geschichtliche Dimension ist wesentlich, denn nur durch sie kann die Grammatik einen logischen Formalismus ("ein starres Gebäude logischer Kategorien") vermeiden, welcher der organisch-lebendigen Natur der Sprache entgegenstehen würde: Das beste Sicherungsmittel gegen diese Verirrung bietet die Geschichte der Sprache dar [...].
74
1.3.1. Vermittlung zwischen historischer Grammatik und Schulgrammatik Daß Sprachgeschichte weit mehr ist als nur ein zusätzliches Unterrichtsfach, zeigt die durch sie ausgelöste Grundsatzdebatte, die auch auf den heftigen Streit um die Neubewertung des Latein- und Griechischunterrichts sowie die Verringerung der Unterrichtsstunden in Deutsch übertragen wurde. Carl Wilhelm Heyses Grammatik lobt dagegen Jacob Grimm als den "Meister der deutschen Sprachforschung" 75 . Duch ihr Plädoyer für eine Annäherung der beiden extremen Positionen setzt sie sich von den übrigen Schulgrammatiken der Zeit ab; so Heyse in der Schulgrammtik und im Lehrgebäude: Die Schulgrammatik hat sich also eben so sehr vor dem Abweg der historisirenden Grammatiker zu hüten, welche die vollständige geschichtliche Grammatik unmittelbar in die Schule einfuhren möchten. Hat sie in der bezeichneten Weise einen geschichtlichen Hintergrund, so ist damit für jeden Weiterstrebenden der Weg zur historischen Sprachforschung in rein wissenschaftlichem Interesse angebahnt und den dafür Berufenen hinlänglicher Reiz und
73 SG 1840, Vorwort'. "Wer eine Sprache in ihrer eigensten Natur erkennen will, muss ihren Organismus aus ihrem eigenen Leben heraus sich gestalten lassen, nicht sie in ein fertiges System, welches von einer anderen Sprache abstrahiert ist, hinein konstruieren". 74 SG (1840, Vorwort: XII). 75 AL (1838: 94), ebenso .SC (1840: X).
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Antrieb gegeben, diese Bahn später zu verfolgen. Mehr aber kann die Schule nicht leisten und soll nicht mehr leisten wollen.76 Soll aber eine solche Anweisung gründlich und befriedigend, nicht eine willkürlich geordnete, unzusammenhangende Sammlung einzelner Erfahrungssatze und Verhaltungsregeln sein, deren innerer Grund unbegriffen bleibt: so muß sie nothwendig die w i s s e n s c h a f t l i c h e Theorie und die G e s c h i c h t e der Sprache zur festen Grundlage haben.77
Vergleicht man Heyses Lehrgebäude mit den übrigen schulgrammatischen Schriften seiner Zeit, so stellt man fest, daß er der einzige ist, der die beiden Richtungen - historische Grammatik und normative Schulgrammatik - mit solch großer Genauigkeit in seiner Arbeit verbinden will. Er bestrebt, seine eigene didaktisch und pädagogisch ausgerichtete Grammatik mit den Ergebnissen der sich entfaltenden historischen Grammatik in Einklang zu bringen. Deshalb dürfen nur durch die Forschung gesicherte Ergebnisse Eingang in eine Schulgrammatik finden, deren Aufgabe es ist, "nur den klaren Wein völlig gereinigter Wahrheiten darzubieten"78: Auch muBtä es bedenklich scheinen, dem Neuen sofort ungehinderten Eingang in ein Buch dieser Art zu gestatten, dessen Aufgabe es ist, den sicheren und völlig bewahrten Erwerb 79 wissenschaftlicher Forschung ins Leben einzuführen.
Für Carl W. Heyse schließen historische Grammatik und Schulgrammatik einander überhaupt nicht aus, sie ergänzen sich vielmehr: Aufgabe ersterer ist die vergleichende diachronische Untersuchung der Sprache, während die Schulgrammatik Regeln aktualisieren soll, indem sie die neuesten Ergebnisse der Forschung berücksichtigt. Diese werden durch das aktive Mitdenken der Grammatiker geprüft und gefiltert, die ihnen bei einem weiten Publikum, gar bei der Nation, Anerkennung verschaffen.80 Trotz dieser aufgeschlossenen Haltung der Geschichte gegenüber bleibt die Schulgrammatik in erster Linie normativ, deskriptive Arbeit muß die historische Grammatik leisten. Der Rückgriff auf die Bezeichnung "Sprachlehre", dieses Mal bedingt durch die historische Ausrichtung, ist ein Hinweis auf die ständige Anwesenheit des pädagogischen Aspekts. Die Einführung der historischen Dimension weist noch auf einen anderen Grund hin: Durch die Geschichte der deutschen Sprache soll die Größe des deutschen Volkes wachgerufen und die jüngeren Generationen für ihren geschichtlichen Auftrag sensibilisiert werden. Politisch gesehen steht Carl Wilhelm Heyse nicht mehr wie sein Vater in einer Zeit nationalistischer antinapoleonischer Bestrebungen. Doch die Ereignisse von 1848/1949 ergreifen ihn zutiefst, und im Vorwort zum zweiten Band seines Ausführlichen Lehr76 77 78 79 80
Vorwort zur zwölften Auflage (1840: XIV). AL (1838: 1 lf.). Von Heyse hervorgehoben. (Ebd.: XVI). (Ebd.: XV). "Voreiliges Aufnehmen und Fortpflanzen jeder neuen, nicht hinlänglich erprobten Lehre, verwirrt, statt aufzuklären; nur der reine Gewinn wissenschaftlicher Bestrebungen verdient, Gemeingut der Nation zu werden." (Ebd.:XVI)
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gebäudes 81 beteuert er den "erbitterten Kampf der politischen Parteien" und das "unentwindbare Hadergewebe", die das Vaterland schwächen und bedrohen. Er hofft auf ein friedliches Auskommen, das auch das "deutsche Geistesleben in Kunst und Wissenschaft" zu sichern vermag. Auf eine andere Weise als bei seinem Vater fügt sich also Carl Wilhelms Arbeit am AL in einen allgemeinen Rahmen politischer Bildung: [...] es [ein solches Buch] hat vermöge seiner vermittelnden Stellung nicht allein der Wissenschaft, sondern auch der Nation gegenüber die Verpflichtung, jeden wahren Fortschritt der ersten der letzteren zu gute kommen zu lassen, gleichmaßig mit der steigenden Hohe der Wissenschaft auch die Bildung der Nation zu heben und dem VolksbewuBtsein eine tiefere und 82 hellere Einsicht in das Wesen der Sache zu gewähren.
1.3.2. Niederschlag der Vermittlung in der Grammatik 1.3.2.1. Die inhaltliche und referentiell-wissenschaftliche Lesart Die historische Ausrichtung der Arbeit in der Nachfolge Grimms konkretisiert sich vor allem in der Einleitung zu Carl Wilhelm Heyses Grammatiken, die ab 1838 erscheinen, sowie im morphologischen Teil. Seine große Grammatik des Ausführlichen Lehrgebäudes läßt zwei Lesarten zu: eine rein inhaltsbezogene, mit ausführlichen Einzelanalysen innerhalb des eigentlichen grammatischen Teils; die zweite, referentielle und kritische Lesart, versteht sich in Verbindung mit den Quellenangaben im Laufe der Darstellung und Heyses Anmerkungen. Die Wichtigkeit der Einleitung zum Ausführlichen Lehrgebäudes mißt sich an der Tatsache, daß von hundertvierundvierzig Seiten hundertacht auf den historischen Aspekt der Sprache eingehen. Sie gliedert sich in drei ungleiche Teile: Zunächst geht es um allgemeine Fragen der Grammatik und der deutschen Sprache, dann folgt ein sprachgeschichtlicher Abriß {Die Sprache und ihre Bildungsgeschichte) mit einem Anhang zur Entwicklung der grammatischen Formen und den Dialekten, den Schluß bildet ein Ausblick auf die Gesetze der Sprachentwicklung. Carl Wilhelm Heyse geht sehr systematisch vor. Zuerst ordnet er das Deutsche den großen indogermanischen Sprachfamilien zu. Die Überschrift dieses Teils könnte zu Mißverständnissen führen, weil er nämlich nicht auf die innere Entwicklung der Sprache eingeht, sondern er beschreibt sie "von Seiten ihrer Anwendung als Organ des geistigen Lebens der Nation"83, bringt Sprachgeschichte und Literaturgeschichte in enge Verbindung miteinander und schlägt Periodisierungen vor, die er mit historischen, literarischen, politischen und kulturellen Ereignissen begründet. Dabei unterscheidet er sieben Hauptabschnitte: von der Völkerwanderung bis 81 AL (1849, Vorwort·. VIII). 82 AL (1838.: XVf.) 83 (Ebd.: 93).
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zur Krönung Karls des Großen (113 v. Chr. bis 768 n. Chr.); die fränkische Zeit (768-1137); die Zeit der "schwäbischen" Dichter und Kaiser bis zur Gründung der ersten Universität in Prag (1137-1348); die Zeit der Meistersinger (13481534); die Zeit von den aufblühenden Wissenschaften, der Bibelübersetzung Luthers bis zu Opitz (1534 -1625); die Zeit der "widerstrebenden Meinungen", von Opitz bis Klopstock (1625-1751); die Zeit der "höheren Vollkommenheit" (1751-1834). Die fehlende Homogenität bei den Einteilungskriterien wird etwas ausgeglichen durch den Schnitt, den Heyse zwischen zwei großen Epochen vor und nach 1534 setzt, als ein sprachliches und kulturelles Ereignis bei der deutschen Bibelübersetzung durch Martin Luther zusammenfielen. Die deutsche Sprache vor 1534 nennt er "altdeutsch", die danach "neudeutsch". Bei der referentiellen Lesart stellt sich heraus, wie viel Carl Wilhelm Heyse älteren und auch unmittelbar zeitgenössischen Untersuchungen verdankt. Der Anmerkungsapparat ist umfangreich und eigentlich für ein wissenschaftliches Werk gedacht. Es werden zahlreiche Werke zitiert, die über das Niveau einer Schulgrammatik hinausgehen. In seinem Überblick über die Geschichte der deutschen Literatur zitiert Heyse nicht weniger als siebzehn Arbeiten, so K. F. Koch, Sprachwissenschaftler und Professor in Eisenach, J. F. Wachler, Spezialist für Literaturgeschichte und Professor für Geschichte und Theologie, und J. A. Schmeller, Sprachforscher in Dialektologie, Phonetik und Althochdeutsch. Er bezieht sich auf verschiedene Untersuchungen Adelungs, auf Reichard, sogar auf die mösogotische Grammatik Hickes'. Jeder dieser Abschnitte bis 1541 wird durch ausführliche, kommentierte Textbeispiele, ebenfalls in den Amerkungen, illustriert; so gibt Heyse etwa die älteste Quelle, das Vaterunser in der Übersetzung Ulfilas, wieder. Die Darstellungen zum 16. und 17. Jahrhundert sind neu und wurden von ihm selbst zusammengestellt. Sein Überblick enthält Zitate aus wenig oder nicht bekannten Werken und Ausgaben, die ihm selbst aber vollkommen vertraut waren, insbesondere die ersten Grammatiken der deutschen Sprache, die alle in seiner großen Bibliothek standen.84 Die Bedeutung dieser Synthese wurde sehr schnell erkannt. Wie Petzet es unterstreicht, diente sie sogar als grundlegende Vorarbeit für die Abfassung der berühmten Literaturgeschichte Goedekes: [...] denn es ist tatsächlich eine wertvolle Vorarbeit des Goedekeschen "Grundrisses", nicht nur für die genannten zwei Jahrhunderte, sondern auch ftlr die Inkunabelnzeit und den Anfang des XV Jahrhunderts. 85
So erklärt sich auch die unglaubliche Sorgfalt bei den bibliographischen Angaben und die Genauigkeit in den sprachgeschichtlichen Kommentaren. Die beispielhafte, selbst für die damalige Zeit seltene Typographie der Ausgabe des Ausführlichen Lehrgebäudes unterstreicht noch dieses Bemühen um Exaktheit und um eine umfassende Synthese. 84 Vgl. oben, Kap. I.4., zum Bestand der Bibliothek Heyses. 85 Petzet (1913: 13).
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Heyse vervollständigt seine Einleitung durch einen Anhang zur inneren Entwicklung der Sprache, der einen Abriß der Entwicklung der Flexionsformen bietet. Tabellen fassen die Deklinationssysteme des Substantivs in seinen drei Genera zusammen, auch die des Adjektivs, jeweils in den Sprachstufen gotisch, althochdeutsch, mittelhochdeutsch und neuhochdeutsch. Auch zu den Formen der Personal-, Interrogativ- und Demonstrativpronomina und zur Entwicklung der Deklination starker und schwacher Verben fügt er Tabellen ein. Bei seiner Unterscheidung von starker und schwacher Deklination, von regelmäßigen und unregelmäßigen Verben übernimmt Heyse die Terminologie Grimms. In den Kapiteln über die Wortarten (Redeteile) geht Heyse nicht mehr auf die historische Entwicklung ein, sondern gibt ältere Sprachstufen nur noch exemplarisch in Klammern an.
1.3.2.2. Morphologie und Etymologie Im ersten, der Morphologie gewidmeten Band des Ausführlichen Lehrgebäudes, nehmen Etymologie und die Entwicklung der Formen einen wichtigen Platz ein. Auf mehr als hundert Seiten zeichnet Heyse die lautliche Entwicklung der deutschen Sprache, ihrer Vokale und Konsonanten, unter drei Gesichtspunkten nach: "ohne Einfluß der benachbarten Laute", "durch Einfluß der benachbarten Laute", "durch Einfluß des Tons". Er geht dabei auf die von Grimm erstellten Regeln zur Konsonantenentwicklung ein. Die Beispiele gehen aus einer Gegenüberstellung des Gotischen, Althochdeutschen, Mittelhochdeutschen und Neuhochdeutschen hervor. Er stützt sich dabei auf die Vorrede im Altdeutschen Sprachschatz von Graff, auf die Vergleichende Grammatik von Bopp und die Etymologischen Forschungen von Pott; mit Hilfe von Beispielen aus dem Sanskrit und Zend differenziert und vervollständigt er die Schriften Grimms und kritisiert die Verwechslung der Begriffe "Umlaut" und "Ablaut". Carl Wilhelm Heyses Darstellung kommt einer wissenschaftlichen Abhandlung nahe. Er bezieht sich auch auf K. L. Schneiders berühmte Lateinische Grammatik und spart nicht mit Kritik an der Deutschen Etymologie seines Gegners Schmitthenner.86 In seiner Geschichte der Formen geht er auf Apophonie, Derivations- und Kompositionsprinzipien ein. Er stellt eine Verbindung zwischen Flexion und Wortbildung her und empfiehlt, mit Bezug auf Grimm, deren gemeinsames Studium. Anschließend gibt er einen Überblick über die verschiedenen Wortarten. Er vertritt eine andere Meinung als Grimm, dessen Theorie über die Wortbildung als ursprüngliche Verbindung von Pronominalund Verbalwurzeln er in Frage stellt.87
86 AL (Bd. 1: 373, Anmerkung). 87 Im Unterschied zu Petzet (op. cit.); darauf soll nicht näher eingegangen werden, es würde vom Thema dieser Arbeit wegführen.
Carl Wilhelm Heyses grammatisches Denken
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1.3.2.3. Dialekte Carl Wilhelm Heyses Grammatik weist die Besonderheit auf, sich auf die historische Schule zu stützen für eine wenn auch knappe Untersuchung der Dialekte. Der etwas längere zweite Teil des Anhangs hebt die Bedeutung der Dialekte und den Beginn der Dialektologie oder "Mundartenkunde" mit den Arbeiten Fuldas (1773) und Radlofs (Die Sprachen der Germanen in ihren sämmtlichen Mundarten von 1817, und Mustersaal aller deutschen Mundarten, von 1821-1822) hervor. Für das Oberdeutsche verweist er auf die Arbeiten von Stalder, Höfer, Schmid und Schmeller, für das Niederdeutsche auf Richey, Strodtmann, Dähnert und Schütze. Der erste Verweis gilt jedoch Grimm und seiner These, daß es keine Hierarchie der Dialekte geben kann. Damit widerspricht er ebenso dem Werturteil Gedikes, der das Niederdeutsche über das Oberdeutsche stellte, wie der Meinung Schmellers, für den das Niederdeutsche "gebildeter" war als das Hochdeutsche. Es kann nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, die von Carl Wilhelm Heyse vorgeschlagene Einteilung in Dialekträume darzustellen, etwa auf der Grundlage der damaligen zeitgenössischen Arbeiten oder im Vergleich mit Wenkers und Mitzkas Untersuchungen zur Arealdialektologie (1878, 1951) oder der Sprachgeographie Coserius (1975). Heyse illustriert seine Beschreibung der Dialekte, die auf Aussprache, Wortschatz und Formenbildung eingeht, am Beispiel eines Gleichnisses aus dem Markus-Evangelium, das er in ober-, mittel- und niederdeutscher Version wiedergibt; er verweist auch auf die Untersuchung Arndts, der vom eher "lyrischen" Charakter des Hochdeutschen und dem "episch-didaktischen" des Niederdeutschen spricht. Dennoch ist dieser Teil der Grammatik nicht als eine Apologie der Dialekte zu verstehen. Neben der Bereicherung, die sie bringen, sieht Heyse in ihnen eine Bedrohung für die Reinheit der deutschen Schriftsprache: Durch "Provincialismen", "Idiotismen" und "Archaismen" könnten sie der Schriftsprache ebenso schaden wie Neologismen oder Einflüsse aus fremden Sprachen. Carl Wilhelm Heyse löst die Spannung zwischen Schulgrammatik und historischer Grammatik, indem er in seiner Einleitung sprach- und formengeschichtliche Betrachtungen zusammenführt. Sie sind Beleg seiner profunden Kenntnis der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft und seines Bestrebens nach Ausgleich mit der Position Grimms. Trotz der Gefahr ihres möglichen negativen Einflusses auf die Schriftsprache, gehören die Dialekte unabdingbar zur Sprachwirklichkeit; sie in eine Typologie der Sprachen einzubeziehen, wie es Hock in seinen Principles of Historical Linguistics (1991 )88 vorschlug, konnte zur damaligen Zeit allerdings nicht erwogen werden.
88 (Op. cit.: 3091). Hock untersucht die Gründe und Mechanismen syntaktischer Veränderungen im Zusammenhang mit der semantischen Entwicklung.
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
1.3.3. Sprachtypologie Seine organizistische Auffassung der Sprache und der Sprachen in ihrem geschichtlichen Werden führt Carl Wilhelm Heyse zu einer Klassifikation der Sprachen. Sie erweist sich als echte Typologie. Diese noch immer aktuelle Frage hat heutzutage nach Meinung Ineichens (1991 )89 drei Schwerpunkte: eine sogenannte systematische Typologie, die induktiv vorgeht, von der spezifischen Abfolge sprachlicher Einheiten hin zu einzelnen Sprachen; eine integrative Typologie, die von mehreren Sprachen ausgeht und nach deren Gemeinsamkeiten sucht; sowie eine historisch-genealogische Typologie. Die syntaktisch geprägten Typologien August Wilhelm Schlegels und Wilhelm von Humboldts hatten die früheren Klassifikationsversuche von Girard (1747), Beauzöe (1767) und Sicard (1790) abgelöst. Schlegel unterschied 1818 zwischen Sprachen ohne jegliche grammatische Struktur, sowie affigierende und infigierende Sprachen, die wiederum in synthetische und analytische Sprachen unterteilt wurden. Humboldt hatte eine Dreiteilung in isolierende, agglutinierende und flektierende Sprachen vorgenommen. Sein wesentlicher Beitrag bestand darin, jede Einzelsprache einem allgemeinen Typus zuzuordnen90 und in ihr doch Merkmale anderer Sprachtypen aufzuweisen. Diese Neuerung wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidend, als sich Steinthal (1860), Schleicher (1850), Pott (1870), Max Müller (1876) bei der Arbeit an einer eigenen Klassifikation im Rahmen der vergleichenden Betrachtung der Sprachen auf die Sprachtypologie Wilhelm von Humboldts beriefen. Heyses Klassifikation ist zunächst einfach, sie kommt aus der historischvergleichenden Grammatik. Er führt, nach der Klassifikation Bopps91, fünf indoeuropäische Familien auf; die germanischen Sprachen teilen sich wiederum in drei Gruppen, die skandinavischen Sprachen, die niederdeutschen und die oberdeutschen Dialekte auf. Dann stellt Heyse wie Humboldt (den er nicht mehr nennt) eine Sprachtypologie mit drei großen Klassen auf: Sprachen ohne grammatische Struktur, affigierende oder agglutinierende Sprachen, flektierende Sprachen, wobei letztere noch in synthetische und analytische Sprachen unterteilt werden. Humboldts wesentliche Einsicht, daß Einzelsprachen einen Typus nie rein verkörpern, sondern strukturell gemischt sind und deshalb nur einem dominierenden Typus zugeordnet werden können, nimmt er allerdings nicht auf. Heyses Typologie ist nicht wertfrei. Wie Grimm verzichtet er auf die Vorstellung eines bloßen Sprachwandels und glaubt an eine progressive Höherentwicklung, die als eine "zunehmende Vergeistigung" parallel zur Entwicklung des "Volksgeistes" geschehe: 89 Ineichen (1991: 18f. und 470f)· Vgl. u.a. die Arbeiten von Ramat, Comrie, Coseriu, Hjelmslev (siehe Bibliographie). 90 Vgl. hierzu Coseriu (1972, 1983). 91 Am Ende des Jahrhunderts werden es noch acht Familien sein. Vgl. die Klassifikationen von Brugmann und Fick.
Carl Wilhelm Heyses grammatisches Denken
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Es giebt so viele einzelne Sprachen, als es verschiedene Nationen giebt und gab; jede besondere Sprache ist der Spiegel und Widerschein der geistigen Bildung und des eigentümlichen Charakters der Nation, welcher sie angehört, und hält mit der Bildung des Volkes gleichen Schritt. Je weiter dieses in seiner Bildung fortgeschritten ist oder noch fortschreitet, desto gebildeter und vollkommener wird auch seine Sprache, als die lebendigste Äußerung des Volksgeistes, erscheinen. 92
Dies führt Heyse dazu, die Sprachen auch in "gebildete" und "ungebildete" je nach der erreichten Bildungsstufe des Volkes, das sie spricht, zu unterteilen. Er betont jedoch, daß eine Sprache, die ihren "grammatischen" (d.h. syntaktischen) Höhepunkt erreicht hat, sich nur noch durch SatzfÜgung und schärfere semantische Bezüge weiter entwickeln kann, und bemängelt einen Niedergang der "bekannten Sprachen", die "stufenweise schwächer, stumpfer und somit schlechter geworden" seien.93 Das Ideal einer Sprache auf dem höchsten Entwicklungsstand verkörpern für ihn wie auch bei Schlegel die flektierenden Sprachen. Heyse stellt sich durch die Übernahme von Werturteilen und seine evolutionistische These außerhalb der umfassenden Neuerung in der Sprachtypologieforschung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1.3.3.1. Typologie und Geschichtlichkeit der Sprachen Carl Wilhelm Heyses Sprachtypologie gründet auf der Vorstellung vom historischen Werden der Sprache. Ihrem Wesen nach ist sie ist ein Werk, d.h. eine "That", und in der Zeit ein Werdendes. Damit wurzelt Sprache notwendigerweise in der Wirklichkeit. Die Entwicklung der Sprache hat verschiedene Stufen, die der progressiven Entwicklung der menschlichen "Intelligenz" überhaupt entsprechen: So ist auch die Sprache nothwendig als ein Werdendes zu betrachten, denn sie ist, in so fern sie thätige Intelligenz ist, in bestandigem Werden begriffen, und lebt nur, in so fem und so lange . 94
sie wird.
Carl Wilhelm Heyse betont ausdrücklich in der Einleitung des Ausführlichen Lehrgebäudes, daß dieser Prozeß symbolisch zu fassen und nicht auf die progressive Entwicklung der Sprachfähigkeit beim Kind zu beziehen sei95. Jede
92 (1838: 7); so läßt sich vielleicht auch folgendes Zitat deuten, wonach letztendlich die "grammatische" Entwicklung umgekehrt proportional zur kulturellen Entwicklung verläuft: "Wenn in jener Beziehung die Sprache zugleich mit dem Volksgeiste im Laufe der Jahrhunderte höher ausgebildet wurde, so hält jedoch [...] mit dieser litterarischen Vervollkommnung die grammatische Fortbildung der Sprache keineswegs gleichen Schritt, sondern steht vielmehr dazu in umgekehrtem Verhältnisse." 93 Ebd., Anmerkung. 94 In: Jahrbücher (1829: 136f.). Siehe dazu oben, 1.2. 95 AL (1838: 6f.): "Die allmähliche Ausbildung der Sprache bei Kindern hat nur entfernte und unvollkommene Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Sprachschöpfung (...). Die Entwickelungsstufen, durch welche die entstehende Sprache zu einer dem Bedürfnis des Geistes voll-
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Sprache überhaupt ist für ihn in diesem Sinne "symbolisch". Die Sprachwurzeln reichen in die Zeit der "vorherrschenden Sinnlichkeit" zurück und haben nur eine konkrete Bedeutung, da sie "kein ursprüngliches Abstractum" sind. Erst im Laufe der Zeit werden sie abstrakt und die Sprache "bildlich". Die Einheit von "Laut" und "Begriff" (Heyses Termini) sei nicht ursprünglich gegeben und notwendig, sondern hänge von der Geschichte jeder einzelnen Sprache ab. Die Nicht-Entsprechung von Begriff und Laut bereite die Grundlage für die Vielfalt der Sprachen (d.h. für die "Möglichkeit ihrer Trennung"). Auch die nach Volk und Kultur verschiedenen Laut- und Wohllautgesetze tragen zu dieser Vielfalt bei. Die Vielfalt der Sprachen wird nicht auf eine Ursprache und auf ein logisches Konstrukt zurückgeführt, sondern läßt sich vom Begriff der "Sprachidee" ableiten. 1.3.3.2. Typologie und Sprach-Idee Die Einzelsprachen sind für Heyse Bestandteile der "Sprach-Idee", d.h. der menschlichen Sprache überhaupt. Diese gibt es nicht als Wirklichkeit an sich, losgelöst von ihrer Verkörperung in den einer geschichtlichen Entwicklung unterworfenen natürlichen Sprachen. Die Vielfalt der Einzelsprachen und ihre Entwicklung stellen ebenso viele Stufen ihrer Realisierung "als einer Reihenfolge nothwendiger Entwickelungsstufen, in denen die Idee ihre substantiellen Momente verwirklicht"96 dar. Es sei möglich, nach Heyse, aus den Kategorien der natürlichen Sprachen diejenigen Kategorien abzuleiten, die allen Sprachen zugrundeliegen und somit konstitutiv für die Idee der Sprache sind. Dieser allgemeine und abstrakte Begriff der "Sprach-Idee" könnte eventuell an die erste Ebene des von Comrie (1981) entwickelten Typus denken97 lassen: Der Typus enthalt die Prinzipien, die mögliche Systeme konstituieren, gegebene Systeme durchdringen und damit die ideelle Organisation der Sprache bestimmen.
Carl Wilhelm Heyses "Sprach-Idee" bleibt ziemlich vage und wird von Steinthal im zweiten Teil des Systems nur unvollkommen wiedergegeben. Sie hängt offenbar mit einem allgemeinen Nachdenken über Universalien zusammen, das ausgehend von der Untersuchung einzelner Sprachen auf indukGeistes vollkommen entsprechenden Ausbildung gelangte, können mithin nur auf philosophischem Wege aus der notwendigen Stufenfolge der Entwicklung des Menschengeites überhaupt abgeleitet werden." 96 (1856: 15f.) Dazu auch folgendes Zitat: "Die Idee realisirt sich selbst in den besondern Gestaltungen, durch welche sie in die Wirklichkeit tritt." Aktuelle Forschungen zur Genealogie der Sprachen schlagen ganz andere Wege ein (Trabant, 1996). 97 Dazu auch Guchmann (1973) zur Frage der sprachlichen Universalien: "Universalien verstehen sich als verallgemeinerte Invarianz, deren Modifikationen sich als typologische Vorzeichen der Sprache heranstellen"; Comrie (1981) spricht von der "Invarianz, die allen Sprachen zugrunde liegt." Dieser Vergleich soll nicht vertieft werden, da die heutigen Ansätze notwendigerweise auf anderen theoretischen Grundlagen beruhen.
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tivem Weg fortschreitet, doch ohne den restriktiven Charakter der allgemeinen Grammatik zu haben, die deduktiv vorgeht. Sie bewegt sich auch auf einer theoretischen der Allgemeinen Grammatik fremden, sprachpsychologischen Grundlage. Heyses Kritik richtet sich in diesem allgemeinen Rahmen gegen die von den Ideen Kants geprägten Grammatiken, ζ. B. Gottfried Hermanns oder Michael Roths.98 Genauer gesehen scheint Heyse eigentlich drei Ebenen von Sprache zu unterscheiden: die Einzelsprache als "Sprach-Individuum", die Sprache als das der Einzelsprache innewohnende System, und die "Menschensprache" oder "Sprach-Idee" überhaupt. In der Vorrede zur Schulgrammatik von 1840 faßt er seine Überlegungen zusammen und betont die Auffassung von der Sprache als "System", wobei seine Formulierung mit der Humboldtschen "inneren Form" der Sprache eine bestimmte Nähe aufvveist. Doch beruht Heyses Interpretation der inneren "logischen Form" auf einem impliziten Verhältnis der Isomorphic mit Kategorien des Denkens und ist somit restriktiver als die Humboldtsche Auffassung. Weder die theoretische Darstellung der Syntax noch die Einleitung des Ausführlichen Lehrgebäudes vertiefen diese Einsicht in ein "System", das später das Denken Saussures und von der Gabelentz' bestimmen wird": Das eine ist die allgemeine Seite der Sprache, die innerste logische Form derselben, welche jeder Sprache inwohnt, sofern sie ein System von Lautzeichen für das dem denkenden Geiste wesentlich zukommende System von Denkbestimmungen ist. Das andere ist die besondere Seite, welche die allgemeine Menschensprache zu dem bestimmten Sprach-Individuum gestaltet, das sich innerhalb jener allgemeinen Form mit freier Lebendigkeit bewegt.
100
Das "Sprechen" oder die "Rede" spielt in diesem theoretischen Zusammenhang zumindest auf explizit formulierter Weise eine geringe Rolle. Nur in der syntaktischen Beschreibung geht Heyse beim "Redesatz" auf diese Ebene ein (vgl. unten 3.). Zusammenfassend kann man sagen, daß als ehemaliger Schüler der Philologen und Historiker des klassischen Altertums Friedrich August Wolf, Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, und August Böckh, Professor an der Universität Berlin, sowie von Buttmann, dem Generalsekretär der historischphilologischen Abteilung der Akademie, Carl Wilhelm Heyse in einem Streit Stellung bezieht, der seiner Ansicht nach zwischen den Vertretern von Schulgrammatik und historischer Grammatik gegenstandslos werden müßte. Er plädiert für eine Annäherung der Standpunkte. Seine Überlegungen gelten jedoch dem Bereich der von ihm vertretenen "philosophischen" Grammatik und konzentrieren sich auf das Individuum: Sprache ist ein durch die Energie des Geistes belebter Organismus, und als "Gedachtes" mit dem Denken gleichzusetzen. 98 Vgl. oben, Kap. II. 99 Vgl. unten, Zusammenfassung. 100 SG (1840, Vorwort: X). Zum Begriff "System",vgl. auch (1838, Vorwort: XXIII).
2. Der praktisch-theoretische Ansatz
Carl Wilhelm Heyses Grammatikkonzeption zeigt, wie er der von seinem Vater vertretenen Tradition verpflichtet bleibt und sie er aus dem eigenen Denken erneuert.
2.1. Beziehung zur Muttersprache und zum Hochdeutschen Carl Wilhelm Heyse betrachtet Grammatik nicht isoliert, er setzt sie vielmehr in ein Beziehungsnetz, zur Muttersprache und zu ihrem pädagogisch-didaktischen Zweck. Die direkte Verbindung zur Sprache wird über die Muttersprache hergestellt. Sie ist unmittelbarer Ausdruck des individuellen Denkens, dessen natürliches Organ sie ist. Das Sichbewußtwerden der Verbindung mit der Muttersprache setzt beim Schüler voraus, daß er Lesen und Schreiben lernt sowie eine Fremdsprache beherrscht. Die allgemeine Auffassung von der Muttersprache, dem Deutschen, als Hauptverkehrssprache, trifft sich mit der soziopolitischen Definition Johann Christian Heyses: Die Sprache nämlich [Muttersprache], welche in dem Lande, in welchem Jemand geboren und erzogen ist, im taglichen Leben gesprochen wird.101
Im Unterschied zu seinem Vater legt Carl Wilhelm Heyse noch mehr Gewicht auf das individuelle Lernen und vor allem auf das Lernen des Kindes. Dies erklärt sich wohl aus seiner Unterrichtszeit unter der Leitung von Türks in Vevey, der ein großer Anhänger der Pestalozzischen Pädagogik war.102 Ohne Anleitung könne das Kind seine Muttersprache nur unvollkommen erlernen. Es beherrsche sie dann nur begrenzt, bruchstückhaft ("weder in ihrem Umfange noch in ihrer völligen Reinheit"), und bleibe unsicher (habe nur "ein dunkles, leicht irrendes Sprachgefühl"): Es [das Kind] erlangt [...] kein klares, sicheres Bewußtsein über das, was die Sprache ist und vermag. Um zu diesem sicheren Bewußtsein zu gelangen, bedarf es selbst in der Muttersprache einer wissenschaftlichen Anleitung, welche die Sprachlehre zu geben hat.103
Erst ein normativer Grammatikunterricht kann diesen Mangel beheben. Gegenstand der normativen Grammatik ist das Hochdeutsche. Zu Beginn seines 101 102 103
AL (ms, Einleitung: 9). Vgl. oben, Kap. I. 4. AL (1838: 9).
Der praktisch-theoretische Ansatz
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Abschnittes über die Sprachgeschichte folgt Heyse der Definition Grinims, der das Hochdeutsche nicht als eine bestimmte geographische Variante sieht, sondern als Ergebnis der Verbreitung des Deutschen, das Martin Luther in seiner Bibelübersetzung schuf.104
2.2. Regel und Gebrauch Daß die Sprache als lebendige Einheit betrachtet wird, hat Auswirkungen auf die Rolle des Grammatikers, dessen Funktion den Regeln gegenüber er überdenkt. Im Unterschied zu seinem Vater und zu Seidenstücker105, die im Grammatiker die gesetzgebende Gewalt sahen, weist Carl Wilhelm Heyse ihm eine exekutive Funktion zu. Der Grammatiker muß sich dem Sprachgebrauch, den er erklärt, fügen, da der Sprachorganismus sich ständig erneuert. Dadurch, daß sich der Gebrauch ändert und entwickelt, kann er nicht durch willkürliche Regeln eingeengt werden.106 Der Grammatiker muß dementsprechend die Entwicklung der Sprache beachten und ihr folgen. Carl W. Heyse greift damit einen Gedanken der Horazischen Poetik auf, den er ausdrücklich zitiert, "dem Gebrauch steht in der Sprache die Herrschaft, das Recht und die Regel zu" 107. Horaz geht zwar nur auf die lexikalische Entwicklung ein (die zitierten Verse beziehen sich im Originaltext ausschließlich auf diesen Aspekt), Carl Wilhelm Heyse dehnt diesen Gedanken jedoch offensichtlich auf Morphologie und Syntax aus. Die Entwicklung einer Sprache folgt allgemeinen sprachinternen Regeln, den "Sprachgesetzen", die der Grammatiker, als das "Organ des als höchste Gewalt anerkannten Sprachgesetzes", festzuhalten und zu beschreiben hat. Gesetzgebende Autorität ist er nur insofern, als er bei schwankendem Gebrauch die Richtung weist; dabei richtet er sich nach den bestehenden Gesetzen der Analogie. Diese ist aber kein absolutes Prinzip. Heyse wendet sich gegen Puristen und "Sprachverbesserer", die korrekte, historisch begründete Formen in einem falschen Bemühen um Homogenität willkürlich ändern und ζ. B. konjugierte
104
105 106 107
(Ebd.: 14): "Unsere heutige hochdeutsche oder genauer neuhochdeutsche allgmeine Schriftund höhere Umgangssprache hat vorzüglich durch Luther im Anfange des 16ten Jahrhunderts ihre Ausbildung und durch die Reformation ihre Verbreitung erhalten. Sie ist keine Mundart irgendeiner Landschaft sondern aus der Vermischung und Vermittelung des Oberund Niederdeutschen hervorgegangen." Vgl. oben, Kap. II. 1. oder TPdC (1814) und (1827), Einleitung. AL (1838: 144), Anmerkung. Hier das Originalzitat: "Multa renascentur quae iam cecidere, cadentque/ quae nunc sunt in honore uocabula, si uolet usus/ quem pene arbitrium est et ius et norma loquendi." Der hervorgehobene Text ist der von Heyse zitierte. (De arte poetica, V. 72) Vollständig zitiert nach der lateineinisch-französischen Ausgabe (1961: 206).
210
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formen vom Verb "fragen" wie "du frägst, er frägt, ich frug" dem Verb "tragen" nachbilden108. Carl Wilhelm Heyse erweitert somit den Einfluß- und Arbeitsbereich des Grammatikers von der Synchronic auf die Diachronie. Wenn dieser bestimmen soll, wie die Gesetze einer Sprache entstanden sind, kann er historisch oder philosophisch vorgehen. Das erinnert an die von Wilhelm von Humboldt entwickelte Idee der "inneren Form" zur Bestimmung der Besonderheit einer jeden Sprache. Es scheint, als zeichne sich im Ausführlichen Lehrgebäude durch ein neues Verständnis des Begriffs "Regel" ein Übergang zu einer 'normativen' Grammatik ab: Die Regel gibt nur ein Entwicklungsprinzip der Sprache in einem bestimmen Moment ihrer Geschichte wieder. Der Grammatiker muß in seiner Bearbeitung von Regeln demzufolge der inneren Entwicklung der Sprache folgen. Regeln sind bei Carl W. Heyse nur in bezug auf den Schüler, der sie lernen muß, normativ, nicht jedoch in bezug auf die Sprache.
2.3. Theorie und Praxis Durch die Modifizierung des Regelbegriffs und die Einbeziehung der geschichtlichen Perspektive kann Carl Wilhelm Heyse die Aufgabe der von seinem Vater formulierten theoretisch-praktischen Grammatik neu überdenken. Er stellt sich bewußt in den Rahmen der besonderen Sprachlehre einer Einzelsprache, da die Sprachlehre oder Grammatik im Allgemeinen die wissenschaftliche Erforschung der Gesetze der Sprache und die notwendigen Bedingungen der Sprache überhaupt als System von Erkenntnissen darzustellen bezweckt. Es stehen für ihn auf theoretischer Ebene zwei Möglichkeiten offen, die Regeln einer natürlichen Sprache zu erarbeiten und dem Schüler zu einer entsprechenden Kompetenz verhelfen zu können. Eine von Heyse genannte "empirisch-praktische" Grammatik würde die unmittelbare Beziehung zur Sprache im Gebrauch, ohne Regeln, abbilden. Analoge Spracherscheinungen wären unter empirischen Regeln, sogenannten "Verhaltensregeln" zusammengefaßt ("der innere Grund der Regel kommt dabei nicht zum Bewußtsein"); diese Grammatik wäre rein deskriptiv und belege das Fehlen eines Systems. Ihr fiele aber das Können der Sprache und nicht das Wissen über die Sprache zu. Die zweite Alternative wäre eine allgemeine oder theoretische Grammatik, der es aber nicht um den Erwerb von Sprachkompetenz, sondern um die wissenschaftliche Ergründung der Beziehung zwischen Geist und "Bau" der Sprache und der Sprach-Idee unter Einbeziehung der Sprachgeschichte geht. In seinem Ausführlichen Lehrgebäude sucht Carl Wilhelm Heyse dagegen wie sein Vater die unterschiedlichen Anliegen von theoretischer und praktischer Grammatik zu verbinden. Wird die theoretische Dimension des Werkes auf die 108
AL (1838: 144), Anmerkung. Heyse kritisiert ausdrücklich seinen Kollegen Lisch.
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historische Untersuchung der deutschen Sprache ausgedehnt, so bleibt die praktische Ausrichtung der des Vaters verpflichtet. Carl Wilhelm Heyse versucht, die Kluft, die normalerweise zwischen einer theoretischen, wissenschaftlich oder philosophisch ausgerichteten Grammatik, die in die letzten Geheimnisse einer Sprache eindringen will, und einer praktischen Grammatik zu überbrücken, indem er die konkrete Sprachbeherrschung hervorhebt. Ziel ist: Gegenwärtiges Lehrbuch der deutschen Sprache trägt den Namen einer theoretisch-praktischen Grammatik, weil es die Anleitung zu einem richtigen Gebrauche der deutschen Sprache oder die Grundsätze und Regeln, die deutsche Sprache rein und richtig zu sprechen, zu lesen und zu schreiben, in wissenschaftlichem Zusammenhange darstellt. Weder ein bloßes System der Sprachgesetze, noch eine bloß praktische Anweisung zum Gebrauche der Sprache nach unbegründeten, nur erfahrungsmäßig festgestellten Regeln soll hier gegeben werden. 109
Als praktisch ausgerichtete Grammatik muß sie demnach jeglichen Anschein von Willkür vermeiden. Die Erträge von Wissenschaft und Geschichte werden eingesetzt, um Regeln zu erklären und zu ergänzen: Die Gesetze der Sprache sollen ihrer inneren Bedeutung und ihrem Zusammenhange nach gelehrt, zugleich aber durch Beispiele und Aufgaben erläutert und zur Anwendung und Ausübung gebracht werden, um den Ertrag wissenschaftlicher Forschung ins Leben einzuführen; dieses dadurch zu bilden und zu belehren, jenen selbst aber erst wahrhaft lebendig und fuchtbringend zu machen. 110
Die theoretisch-praktische Grammatik von 1838-1849, der er den Namen Allgemeines Lehrgebäude verleiht, ist in ihrer Gesamtheit eine programmatische Schrift, deren einschüchternde Wirkung sich Carl Wilhelm Heyse wohl bewußt ist: Ich muß darauf gefasst sein, daß das Buch diejenigen seiner früheren Freunde verlieren wird, die alle und jede Arbeit des Gedankens scheuend von dem Grammatiker nichts Anderes erwarten, als eine Sammlung positiver Regeln, welche sie auf seine Autorität bequem hinnehmen und anwenden können, unbekümmert um die tiefere Begründung, wodurch die bloße Verhaltensregel erst als ein Sprachgesetz begriffen [...] wird." 1
Obwohl die Ausführungen zur Diachronie und allgemeinen Sprach- und Literaturgeschichte einen größeren Platz einnehmen, wird der geschichtliche Faktor der didaktischen Zielsetzung einer theoretisch-praktischen, sich auf die Sprachkompetenz konzentrierenden Grammatik unterworfen. Das Ausführliche Lehrgebäude zentriert sich aber auf die Sprache. Die praktischen Übungen sind darin ausgelassen, ein Beleg dafür, daß dieses Werk auch als Nachschlagewerk gedacht ist und zur Stütze für Überlegungen und Nachforschungen dient. Übungen und Aufgaben, zum größten Teil die seines Vaters, sind in der erweiterten Fassung der Schulgrammatik von 1840 und 1850 zu finden, die die Rolle der früheren von Johann Chrisitan Heyse besorgten Ausgaben der TPdG einnehmen. Auch die Neuausgaben des Klf behalten die 109 110 111
(Ebd.: 11) (Ebd.: llf.) (Ebd., Vorwort. XVII).
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Übungen der Vorjahre bei. Es gibt wenig Änderungen, außer was ihren Umfang betrifft, der sowohl in der SG als auch im KLf geringer als in der TPdG von 1827 ist. Von 1840 an werden die zum Teil neugefaßten Übungen der geänderten Konzeption des Werkes angepaßt und auf die durch Carl Wilhelm Heyse neu hinzugekommenen Gebiete ausgeweitet. Die Grammatik sollte zusammen mit einem Lesebuch und einer Stillehre eingesetzt werden und verfolgt daher auf praktischer Ebene keinem Selbstzweck. Dieser Hinweis Heyses hängt sicher mit den Plänen zur Reform des Deutschunterrichts zusammen, die in dieselbe Richtung gingen. Die Kenntnis der Struktur des Deutschen dient in den höheren Klassen als Grundlage fllr den Fremdsprachenerwerb, insbesondere des Griechischen oder Latein. Eine definitive Umkehrung hat nun im Schulunterricht stattgefunden: Die Schüler lernen zuerst die Struktur ihrer Muttersprache und wenden sich dann dem Studium der klassischen Sprachen zu. Der neue Beitrag Carl Wilhelm Heyses besteht darin, daß er die Regel als eine nur für den Lernenden normative Einheit interpretiert. Der Sprachorganismus kann nicht fixiert werden. Der Grammatiker, dessen exekutive - und nicht mehr legislative - Aufgabe im Dienst des Sprachgebrauchs steht, schreibt eine primär explikative Sprachlehre. Die Geschichte hilft zur Erklärung der Sprachentwicklung und der Regeln. Die sowohl theoretische als auch praktische Ausrichtung der Grammatik ist beibehalten, jedoch in einem anderen als dem von Johann Christian Heyse vorgeschlagenen Sinn; denn der Sohn ist nicht nur durch die historische Schule gegangen, sondern ist auch von der Pädagogik Pestalozzis geprägt, in deren Mittelpunkt die Persönlichkeit des Schülers steht.
3. Strukturierung und Syntax Heyses Überlegungen zur Syntax sind kaum bekannt. In seiner Untersuchung über die Kategorien der allgemeinen Grammatik in Deutschland hebt Bernd Naumann (1986) hauptsächlich die Zugehörigkeit Carl Wilhelm Heyses zu der auf Adelung zurückgehenden Tradition hervor. 112 Das Ende des von ihm untersuchten Zeitraums fällt mit dem Erscheinungsjahr des Systems der Sprachwissenschaft zusammen. Im vorigen Teil dieses Kapitels ist Carl Wilhelm Heyses eigenständige Auffassung seines Werks dargestellt worden, dessen Ziel die Erarbeitung einer "philosophischen" Grammatik ist, die Grimms Forschungsergebnissen und der historischen Schule ebenso verpflichtet ist wie organizistischem Denken und - wenn auch kritisch - dem deutschen Idealismus. Dadurch hebt sich Carl Wilhelm Heyse eindeutig von der allgemeinen Grammatik ab, sowie mit seinem Bezug auf die Welt des Denkens und der Erarbeitung einer Sprachpsychologie (vgl. oben 1.). Naumanns interessanter aber kurzer Hinweis auf die seines Erachtens neue Verwendung des Begriffs "Vorstellung" in Carl Wilhelm Heyses Definitionen der Wortarten ist aber näher zu erläutern, denn dieser Begriff fußt in Wirklichkeit auf Heyses Bewußtseinstheorie. Es wird auch in der Satzdefinition beiläufig von Naumann113 auf die Ersetzung des Begriffs "Urteil" durch "Gedanken" hingewiesen. Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, wie genau sich dieser Begriff in Heyses Denken und allgemeine Philosophie fügt und ihn zu einer Syntax führt, die sich vom Geist der allgemeinen Grammatik seines Vaters entfernt. Vespers114 kurze Carl Wilhelm Heyse gewidmete Analyse betont dagegen seine Zusammenfilhrung von neuen Elementen, ohne dies leider zu vertiefen. Seine knappe Analyse der Sätze und ihrer Klassifikation wird hier weiter ausgearbeitet werden, um die Bedeutung und das Spezifische des Heyseschen Denkens zu erhellen, die bereits in seiner neuen Deutung der "Regel" (vgl. oben 2.) erscheint. Im folgenden soll gezeigt werden, inwiefern Carl Wilhelm Heyse mit seiner Satzlehre nicht als starker Vertreter der allgemeinen Grammatik angesehen werden kann, ebensowenig wie Becker. Das liegt sowohl an den unterschied112
113 114
Vgl. oben. Naumann trifft eine allgemeine Feststellung und geht nicht ins Detail; die unterschiedliche Auffassung Humboldts und Heyses vom Organismus bleibt unberücksichtigt, ebenso die Beziehung zu Fichte und der Bewußtseinstheorie. (1986: 173 und 292f.). (1980: 143-147).
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liehen philosophischen Grundlagen wie an Heyses ambivalenter Haltung gegenüber der Logik. Heyses Lage kann jedoch schwerlich direkt mit Karl Ferdinand Becker verglichen werden, da dieser besonders in seinem Humboldtschen Plan einer semantischen Grammatik, die nicht von der Unterscheidung der Wortarten und der Opposition von Morphologie und Syntax ausgeht115, von der allgemeinen Grammatik abrückte. Anders als bei Naumann116, der auf die Verwandtschaft zwischen den Grundprinzipien Beckers und Heyses eingeht, sollen hier die grundlegenden Unterschiede untersucht werden. Die Ähnlichkeit des Vokabulars ist groß, wie auch zwischen Heyse und Humboldt, aber die darunterliegenden Wirklichkeiten divergieren völlig. Die scheinbare Verwandtschaft erklärt sich im übrigen durch die Beschäftigung der beiden Sprachwissenschaftler und Philosophen mit dem Denken Humboldts (vgl. oben 1.2), und etwa dadurch daß Karl Ferdinand Becker und Carl Wilhelm Heyse sich als Mitglieder des Frankfurtischen Gelehrterivereins kannten und korrespondierten. Aus einem Brief Beckers an Johann Christian Heyse vom 15. Mai 1827 geht hervor, daß die Kontakte weit zurückreichen117.
3.1. Der Aufbau der Grammatiken Carl Wilhelm Heyses Die zweite große Schaffensperiode Carl Wilhelm Heyes, die ab 1830 beginnt, ist von der strikten Trennung der beiden Bereiche Morphologie und Syntax geprägt. Damit bricht er definitv mit dem morpho-syntaktischen Denken seines Vaters (vgl. dazu Kap. II), und distanziert sich zugleich von Becker. Das Ausführliche Lehrgebäude hat dementsprechend zwei Teile: einen ersten Band mit allgemeinen Überlegungen und einer morphologischen Analyse der Wortarten und einen zweiten, ausschließlich der Syntax gewidmeten Band. Wie sein Vater bringt Carl Wilhelm Heyse allerdings im morphologischen Teil eine Reihe von syntaktischen Analysen, trennt also nicht ganz so scharf wie ζ. B. Bernhardt118. Deshalb wird die folgende Darstellung auf beide Bände des Ausführlichen Lehrgebäudes eingehen. Die Trennung von Morphologie und Syntax wird erst in die gekürzte Ausgabe der Schulgrammatik von 1850, nach dem Erscheinen des zweiten Bandes des Ausführlichen Lehrgebäudes 1849 eingehen. Heyses Unternehmen ist enorm: Jeder Band umfaßt mehr als neunhundert Seiten. Die Neuausgaben in der Zeit von 1838 bis 1880 lassen sich in ihrem Verhältnis zur Vorlage schematisch wie folgt darstellen:
115 116 117 118
Vgl. unten, sowie Haselbachs zusammenfassende Betrachtung Beckers (1966: 237f.). Naumann (1986: 175). Wortlaut des Briefes vgl. Haselbach (1966: 273). Vgl. Kap. II.
Stnikturierung und Syntax
Grammatik
Zeitspanne
Aufbau befolgtes Modell
Schulgrammatik
1840-1847
TPdG 1827, Morpho-Syntax
1850-1878
Ausführliches Lehrgebäude, 1838-1849 zwei Teile, Morphologie und Syntax
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Leitfaden Schulgrammatik Leitfaden
1840 baut Carl Wilhelm Heyse die Ergebnisse der historischen Grammatik in die SG ein und ändert die Darstellung von Morphologie und Phonetik. Das vierte Kapitel über die Wortarten ist untergliedert in: Wortarten und Wortverhältnisse, Grundbegriffe der Wortbiegung und Rection; Wortbildung, (Etymologie): lautliche Wortbildung/begriffliche Wortbildung. 1850 werden hingegen die siebzehn Kapitel ersetzt durch vier Hauptteile, die in "Abtheilungen" und "Abschnitte" untergliedert sind: - Erster Theil, Laut- und Schriftlehre: I) von den Sprachlauten und der richtigen Aussprache, 2) von der Rechtschreibung und Orthographie. - Zweiter Theil, Wortlehre: 1) von den Worten, ihren Verhältnissen und Formen im Allgemeinen, 2) Von den verschiedenen Wortarten insbesondere. - Dritter Theil, Syntax: 1) Begriff, Arten und Bestandtheile des Satzes im Allgemeinen, 2) Die Gesetze der Wort- und Satzfügung im Besonderen. - Vierter Theil, Metrik. Die Metrik verliert an Bedeutung, sie gilt nicht mehr als fester Bestandteil der Grammatik. Im Ausführlichen Lehrgebäude fehlt sie ganz. Zur Grammatik an sich zählen Phonetik und Orthographie, Morphologie und Syntax; die Interpunktion schließt den systematischen Teil ab. Die Satzlehre beginnt mit einer allgemeinen Darstellung des Satzes, und behandelt dann sukzessiv immer größere Einheiten: - in einem ersten Unterteil die Wortfügung : die Untersuchung der Abhängigkeitsverhältnisse der Redeteile: Rektion des Verbs, Adjektivs, Substantivs und der Präpositionen; die Untersuchung prädikativer und attributiver Funktionen, mit Kongruenzregeln; die Zusammenordnung der Wörter (Unter-, Ein-, Beiordnung); - in einem zweiten Unterteil, die Wortfolge mit der Abfolge der Satzkonstituenten, - im letzten und dritten Unterteil, die Satzfügung und Satzfolge: das Verhältnis zwischen den Sätzen.
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Der Aufbau, den Carl Wilhelm Heyse seinem Syntaxkapitel gibt, findet sich in keiner anderen Grammatik seiner Zeit. Der Gesamtaufbau der Grammatik scheint traditionell und baut ständig auf Gegensatzpaaren auf. Dabei sind pädagogische oder didaktische Ziele maßgebend und nicht die theoretische Grundlage von Heyses Denken. Jegliche Grammatik sollte für ihn auf der Grundeinheit des Satzes basieren. Trotzdem räumt er ein, daß eine Schulgrammatik nicht auf dieser Ebene ansetzen kann. Das stellte auch Schmitthenner in seiner Teutonia, Ausführliche Teutsche Sprachlehre (1828) fest. Trotz der Einsicht, daß in der Syntax die Teile von einem Ganzen abgeleitet werden, kann in einer Grammatik die Darstellung nicht durch sukzessive Reduktionen verfahren und somit immer einfachere Ebene erreichen, sondern sie muß von den Grundelementen ausgehend auf eine immer höhere Stufe gelangen: Wie aber die grammatischen Formen nur aus der Verknüpfung der Worte zu Gliedern einer Gedanken-Einheit im Satze entspringen, so kann auch die Bedeutung derselben nur aus der Einheit des Satzes vollständig erkannt werden, und die Gesetze ihrer Anwendung gehören in die Lehre vom Satze (Syntax), welche sowohl die Abhängigkeits-Verhältnisse der Worte als Satzglieder und deren regelmäßige Verbindung, nach welcher das eine die Ursache der Abänderung des anderen ist (Rection), als auch die Ordnung der Worte im Satze (Wortfolge oder Construction), und die Verbindungsweise und Ordnung, nach welcher einfache Sätze als Satzglieder zu 119 größeren Satzvereinen zusammengefügt werden (Satzfügung und Satzfolge) in sich begreift.
Carl Wilhelm Heyses mehr als sechzig Seiten umfassendes Syntaxkapitel, das mit einer Darstellung und Bestimmung des Satzes beginnt, ist ganz aus der Perspektive der Satzeinheit geschrieben. Innerhalb der drei Abschnitte Wortfügung, Wortfolge, Satzfolge erkennt man immer den gleichen Aufbau, so daß ein konzentrischer Gesamtplan entsteht.
3.2. Syntax als Satz-Lehre 3.2.1. Primat des Satzes Heyse stellt eine Theorie der "Aussage" (d.h. Assertion) auf, in der er drei aus einander hervorgehende Ebenen unterscheidet. Jede Aussage sei das dreifache Ergebnis eines "Acts des denkenden Geistes" als eines "ganzen Gedankens"; der logischen Form des Gedankens als eines "Urtheils"; der sprachlichen Form des Urteils als eines "Redesatzes", in ganz anderer Perspektive geht dieses Primat des Satzes und der Satzperiode auf Harris' Grammatik Hermes, or a Philosophical Inquiry concerning Language and Universal Grammar (1751) zurück.
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AL (1838: 137).
Der praktisch-theoretische Ansatz
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3.2.1.1. Die Assertion oder "Aussage" als Ausdruck des Denkens Jede in ihrer Ganzheit betrachtete Tätigkeit des Geistes äußert sich in Sprache in einem Satz. Folglich gilt: "Wo keine Aussage, da ist kein Satz."120 Die Entsprechungen zwischen den Ebenen des Denkens und der sprachlichen Äußerung sind total. Der Einheit des Gedankens entspricht in der Sprache die Einheit des Satzes: Der Satz ist ein ausgesprochener Gedanken oder die vollständige Aussage von etwas Gedachtem. 121 Ist nun die Entstehung der Sprache die Frucht des sich regenden Geistes [...]: so muß nothwendig auch jede Sprachäußerung ihrem Inhalte und der Absicht des Sprechenden nach 122 ein ganzer Satz sein.
Der Satz ist eine untrennbare Einheit und nicht eine Aneinanderreihung verschiedener Elemente: Alle ursprüngliche Bildung in der Sprache geschieht [...] nicht durch Zusammensetzung von außen, sondern durch Entwickelung von innen. 123
Diese Formulierungen erinnern an die Grammatik von Thomas (1786), der die Auffassung vom Satz als Ausdruck des Urteils, durch den Satz als Ausdruck "ganzer Ideen" ersetzt hatte.124 Heyse leitet daraus aber nicht wie Thomas die vier Kategorien Substanz, Kraft, Empfindung und Verhältnis ab. Er sucht vielmehr in Anlehnung an Roth den empirischen Faktor auszuschalten und übernimmt dessen semantischen Gegensatz von Stoff und sprachlicher Form, gibt den Begriffen jedoch einen neuen Inhalt. Der Geist zerlegt die Wahrnehmung aufgrund sinnlicher Erfahrung in ihre Bestandteile, die er dann neu zusammensetzt. Diese durch das Denken hergestellte Synthese ist ein innerer Prozeß, eine "Entwickelung von innen", die eine neue sprachliche Gegebenheit schafft. Der Prozeß kann verschiedene Formen annehmen. So greift die Wahrnehmung eines laufenden Pferdes die Begriffe "Pferd" und "laufen" heraus und kann sowohl durch "laufendes Pferd" als auch durch "das Pferd läuft"125 wiedergegeben werden. Die Folgen der von Carl Wilhelm Heyse vorgeschlagenen Analyse zum Inhalt der Vorstellung sollen des weiteren (vgl. 3.2.2) im Verhältnis zu den Grammatiken Roths und Beckers beschrieben werden. Dabei geht es den abgeleiteten Gegensatz "Stoff/Form".
120 121 122 123 124 125
Dieser Standpunkt wird später revidiert. SG (1850: 72). AL (1838: 129). Ebd. Thomas (1786) und dazu auch Forsgren (1973). AL (1838: 278). Diese von Heyse vorgeschlagenen Entsprechungen lassen natürlich von weitem an die Konzepte der Tiefen- und Oberflächenstruktur in der generativen Transformationsgrammatik denken. Darauf soll aber nicht eingegangen werden.
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
3.2.1.2. Das prädikative Verhältnis Im ersten Band des Ausführlichen Lehrgebäudes beruht der eigentliche Satz auf einem prädikativen Verhältnis und enthält notwendigerweise ein Verb, Heyse präzisiert ein konjugiertes Verb, das allein die aussagende "Kraft" in seinen "Redeformen"126 hat. Wie Meiner scheint Heyse hier davon Uberzeugt zu sein, daß das Verb der wesentliche Bestandteil des Satzes ist. Doch im zweiten Band des Ausführlichen Lehrgebäudes, in der Satzlehre, wird dieser Gedanke nuanciert und präzisiert: Subjekt und Prädikat stehen in einem InhärenzVerhältnis, was durch die Kongruenz von Person und Numerus zum Ausdruck kommt, und nicht in einem Koordinations- oder Abhängigkeitsverhältnis. Sie stehen für Heyse auf derselben Ebene. Anders als die Grammatiken in der Nachfolge Meiners oder auch Beckers, stellt Carl Wilhelm Heyse das Prädikat nicht mehr in den Mittelpunkt der bestehenden Relation. Subjekt und Prädikat haben dasselbe semantische Gewicht. Der vermeintliche Widerspruch ist sehr wahrscheinlich dadurch zu erklären, daß als Träger der Aussage das Verb das zentrale und wesentliche Element des Satzes ist, während sich Heyses Überlegungen im zweiten Band Teil implizit nicht auf die Aussage und die Sprechsituation beziehen, sondern auf die syntaktische und semantische Ebene. Auf dieser letzten Ebene ließe sich die Vorrangstellung des Verbs nicht rechtfertigen. Wenn auch die Verbindung der Kongruenzidee mit dem Inhärenzverhältnis auf die Grammatik Bemhardis zu verweisen scheint, so wird sich aber zeigen, daß Heyses Interpretation von Inhärenz und Dependenz weit darüber hinausgeht, (vgl. unten 3.4)
3.2.1.3. Aufhebung der Übereinstimmung von Satz und logischem Urteil Der ursprünglichen Wahrnehmung und dann Vorstellung eines Dings als etwas Selbständiges, für sich Bestehendes, wird eine unselbständige Bestimmung, ein accidens, d.h. ein Merkmal, eine Eigenschaft oder eine Tätigkeit beigelegt. Dies erfolgt in der Aussage in der Form des prädikativen Verhältnisses. Die später im ersten Band des AL dargestellte Unterscheidung zwischen Stoff- und Forwörtern bezeugt, daß die Begriffe "Ding" und Gegenstand bei Heyse sehr weit zu fassen sind. Heyses Satzlehre liegt zudem ein Dualismus zugrunde, der dem Gegensatzpaar Geist- Vernunft// Empfindung-sinnliche Welt entspricht; sie unterscheidet innere Aspekte des Sprechens, welche der Logik, und äußere, die der Phonetik zugewiesen werden: Wir müssen also in der Sprache vor Allem zwei Seiten unterscheiden: die innere, welche dem Geiste, und die äußere, welche der Erscheinung zugewendet ist. Bestimmter kann jene die
126
AL (1849: 2).
Strukturierung und Syntax
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geistige oder logische, diese die sinnliche oder phonetische (lautliche) Seite der Sprache genannt werden. 127
Dazu findet sich eine Parallele bei Wilhelm von Humboldt, der ebenfalls trotz seiner zahlreichen neuen Überlegungen über die Sprache tendiert, auf die "Logik" einzugehen: Die allgemeinen, an den einzelnen Gegenständen zu bezeichnenden Beziehungen und die grammatischen Wortbeugungen beruhen beide grösstenteils auf den allgemeinen Formen der 128 Anschauung und der logischen Anordnung der Begriffe.
Dennoch weicht Heyse in zwei Punkten von der traditionellen Bestimmung des Satzes ab: Einerseits werden die logischen Beziehungen des Satzes in Opposition zu den "organischen Gesetzen", die die Morphologie bestimmen, gesehen129, und andererseits besteht keine notwendige Äquivalenz von Satz und logischem Urteil, zumal Carl Wilhelm Heyse die Entsprechung zwischen Urteil und logischem Urteil aufhebt. Der Satz kann nämlich Ausdruck eines nicht notwendigen Urteils sein: Nicht jeder Satz [...] drückt ein logisches Urtheil aus, wenn auch umgekehrt jedes Urtheil in der Form des Satzes ausgesprochen werden muB. Der Satz aber enthalt [...] häufig nur die Äußerung einer subjectiven Anschauung, Wahrnehmung, Meinung, eines Factischen, welches wohl wirklich ist, aber keine Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit fllr den Gedanken und daher keine Wahrheit im höheren Sinne hat. In dem logischen Urtheil ist, wenn es nicht bloß formell verstanden wird, die Verbindung zwischen Subject und Prädicat eine nothwendige; in dem Satze oder der Aussage kann sie auch eine zufällige sein. Ζ. B. es regnet, die Sonne scheint, ich schreibe, u. dgl. sind Aussagen oder Sätze, aber keine Urtheile im philosophischen Sinne des ι·· . 130 Wortes.
Die Analyse des logischen Urteils beruht auf einer prädikativen Beziehung (A ist B), die in der Sprache dagegen nicht notwendig ist, da etwas ausgedrückt werden kann, was keinen Wahrheitswert hat. Carl Wilhelm Heyse entfernt sich somit von der Position Roths, der die Isomorphie von Urteilsgliederung und ihrer sprachlichen Äußerung vertrat131, ein Gedanke, der auch in den Kantisch geprägten Grammatiken von Roth, A. F. Bernhardt, Steinheil, Reinbeck, Pölitz und Rosenberg zu finden ist. Auch K. F. Beckers These enthält diese Gleichsetzung. Heyse verzichtet somit auf das logische Urteil als der notwendige und universelle Ausdruck des Denkens. Darauf kommt er in seiner Satzlehre zurück, als er die voluntäre Auslassung der Frage-, Wunsch- und Heischesätze bezichtigt, die nicht in den Rahmen einer formalen logischen Definition zu fügen sind. Er formuliert auf neue und brisante Weise: 127 128 129 130
131
(Ebd.: 120). Humboldt, Verschiedenheit, in AFIII: 468. AL (1838: 289). Der Begriff logisch ist hier eigentlich gleichbedeutend mit semantisch. AL (1838: 277) Hier erscheint, daß es bei Carl Wilhelm Heyse nicht um die in der allgemeinen Grammatik gemachten Differenzierung zwischen den Theorien 1 und 2 der "proposition" geht. Vgl. dazu Kap. II. und Auroux (1979). Vgl. Roth (1799). Die Gleichsetzung geschieht durch Kategorien.
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Wir geben dem Begriff des S a t z e s einen weiteren Umfang, und verstehen darunter jede vollstandige A u s s a g e , in welcher einem S u b j e c t e i n P r ä d i c a t b e i g e l e g t wird, möge diese Beilegung als eine von dem Redenden e r k a n n t e , oder g e f o r d e r t e ausgesprochen werden.132
3.2.1.4. Satz und Rede Die Theorie des Satzes und der Äußerung verweist direkt auf die diskursive Ebene. Grundlage der Kommunikation im Sprechen ist die elementare Intersubjektivität des Menschen, die ihn zum andern Menschen treibt, um die allgemeine Vernunft wiederherzustellen (vgl. oben, 1.). Heyse rückt damit in die Nähe der Bestrebungen der heutigen Textlinguistik, in deren Mittelpunkt die Kommunikation steht. Allerdings setzen die Vertreter der Pragmatik nicht wie Heyse bei der Grundeinheit Satz an, sondern bei der Aussage überhaupt, deren Länge vom einfachen Ausruf bis zur gegliederten Rede reichen kann.133 Dennoch betrachtet Heyse die vom Kind geäußerten Einzelwörter als Aussage in Form einer komplexen inneren Einheit: "(...) aber dem Inhalte nach ist jedes Wort ein ganzer Satz, wie auch jetzt das erste Wort des Kindes ein ganzer Satz ist."134 Im zweiten Band seiner Grammatik gibt Heyse diesen innovativen Gedanken auf, er macht das Verb wieder zum Mittelpunkt und fällt damit in einen Formalismus Meinerscher Prägung zurück.
3.2.2. Satz und Wortarten Wörter sind für Carl Wilhelm Heyse der Ausdruck geistiger, auf Abstraktionsprozessen beruhender Vorstellungen, die sich aus empirischen Erfahrungen ableiten lassen und daher eine innere Strukturierung der Wirklichkeit135 voraussetzen. Folglich ist es unmöglich, aus der Erfahrung auf die Wortarten einer natürlichen Sprache zu schließen. Sie hängen als Ausdruck des Gedankens von Vorstellungen und deren formellen Verhältnissen in der Rede ab. Die isomorphische Entsprechung zwischen der Anzahl der inneren Vorstellungen und der Anzahl der Wörter einer Sprache behält Heyse jedoch bei: Ein Wort ist der hörbare Ausdruck oder das Lautzeichen für eine einzelne bestimmte Vorstellung. Als Ausdrücke unserer Vorstellungen müssen also die Wörter so zahlreich und mannigfaltig sein, wie diese. 1 3 6
Nur die "Worte", nicht die Wortarten oder "Wörter", sind aus dem Satz abzuleiten: 132 133 134 135 136
AL (1849: 7f ). Hervorhebungen von Heyse. Vgl. u.a.Brinker (1986: 12f. und 20-25) und seine Analyse des Begriffs Text. AL (1838: 129). (Ebd.: 274f.) SG (1859: 71).
Strukturierung und Syntax
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Aus dem Satz entwickeln sich die Worte als dessen Factoren, und das Wort zerlegt sich in Buchstaben, als seine einfachsten Laut-Bestandtheile. 137
Bei der Einteilung der Wortarten im ersten Band des Ausführlichen Lehrgebäudes nimmt Heyse eine Neubestimmung vor, die sich in seiner Aufhebung der allgemein angenommenen Isomorphic von logischem Urteil und seiner Äußerung im Satz ankündigt. Es sind wie in der TPdG von 1827 ihrer zehn: Artikel, Substantiv, Pronomen, Adjektiv, Numerale, Verb, Adverb, Präposition, Fügewort (Konjunktion) und Interjektion. Ihre Einteilung in "Stoff'- und "Formwörter" beruht auf dem Inhalt der Anschauung, ob Verhältnisse oder hingegen der "Stoff' der Wahrnehmung genannt wird. Diese Zweiteilung erinnert an Roth, der in seiner Grammatik "Stoff", die Vielfalt der Vorstellungen, und "Form", die Einheit in der Vielfalt einander gegenüberstellte, und auch ein Beckers Unterscheidung zwischen "Begriffswörtern" und "Formwörtern". Auf letzteren verweist Heyse in einer Anmerkung.138 Die verwendeten Begriffe und die Einteilung der Wortarten in diese zwei Kategorien sind zwar bei beiden Grammatikern sehr ähnlich, die Unterteilung verweist aber auf jeweils andere theoretische Grundlagen. Der Heysesche Gegensatz Stoff/Form ist bewußt zur Abhebung von Beckers Opposition Begriff/Form geprägt. Es gilt nämlich bei Becker drei Referenztermini zu unterscheiden: "Begriff", "Bedeutung" und "Gedanke". Am Anfang steht der "ganze" Gedanke, dessen "Begriffe" den "Stoff' bilden. Während "Gedanke" in einem dem Hegeischen "Grundtypus" verwandten logischen Sinn zu verstehen ist, bezieht sich die "Bedeutung" auf die semantische Ebene, und zwar je nach Kontext auf die "grammatische", "organische" oder "syntaktische" Bedeutung.139 Becker konzentriert sich übrigens in seinen Arbeiten im wesentlichen auf die Begriffswörter. Bei Carl Wilhelm Heyse weist jedoch der Terminus "Stoff' auf den Inhalt einer sinnlichen Anschauung, Anlaß zu einer ersten konkreten Repräsentation der Wirklichkeit ("materielle Vorstellung"), die dann vom Geist nach den ihm eigenen Gesetzen neu gestaltet wird. In einem Satz erscheint die Art und Weise, wie der menschliche Geist sich die Anschauung der Wirklichkeit unterwirft ("wie dieser Inhalt von dem vorstellenden Geiste gefasst wird"). Wenn für Becker das "Wort" Ausdruck eines Begriffs ist, so ist es für Heyse Ausdruck einer aus sinnlicher Wahrnehmung gestalteten Vorstellung, deshalb seine deutliche Bevorzugung des Begriffs "Stoffwort" anstelle von "Begriffswort", wenn er die Dinge, Tätigkeiten oder andere Merkmale als Stoff der
137 138 139
AL (1838: 129). Zur Unterscheidung von Form und Inhalt, vgl. auch die aristotelische Unterscheidung - dazu die klare und knappe Darstellung von Cauquelin (1990). Vgl. die äußerst klare Darstellung Haselbachs (1966), auf die sich die hier wiedergegebenen Gedanken Beckers stutzen.
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (183 8 - 1914): Vereinheitlichung
Anschauuung meint140. Nur "Formwörter" sind für Heyse Ausdruck rein abstrakter und formeller Vorstellungen. Dies zeigt, wie sehr er die materielle Vorstellung mit den Stoffwörtern identifiziert, die geistige Vorstellung mit den Formwörtern. Diese Auffassung ist dem Rothschen Dualismus von sinnlicher Vorstellung und Begriff, der geistigen Vorstellung, fremd. Dieser interpretiert nämlich den Begriff als Vereinigung mehrerer Vorstellungen, die ein unmittelbares Bewußtseinsurteil wiedergeben. Die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen Stoff- und Formwörtern identifiziert nicht eine dieser Klassen mit einer bestimmten Wortart.141 3.2.2.1. Stoffwörter Zu den Stoffwörtern zählen die beiden Hauptwortarten Substantiv (nomina substantiva) und die Verba concreta (die Verben, mit Ausnahme der Hilfsverben), sowie die Eigenschafts- und Beschaffenheitswörter (adjectiva qualitativa) und die daraus gebildeten Adverbia (adverbia qualitativa). Substantive und Verben stehen für Heyse in einem "brüderlichen Verhältnisse", denn sie haben die gleiche Etymologie, sind "aus demselben Wurzelkeim". Substantive und Verben bezeichnen sowohl Dinge als auch Tätigkeiten. Auf seine Definition des prädikativen Verhältnisses (vgl. oben) wirkt sich dieser Ausgleich wohl nicht aus, da es dort um die Beilegung einer zufälligen Bestimmung geht, offensichtlich nicht um die Opposition Sein/Tätigkeit im überkommenen oder Beckerschen Sinn. Beckers grundsätzliche Dichotomie von Seins- und Thätigkeitsbegriffen, die bzw. in der Sprache durch Substantive und Verben wiedergegeben werden, übernimmt Heyse nicht, da für ihn Verben Zustände und Bewegungen bezeichnen können. 3.2.2.2. Formwörter Formwörter drücken dagegen Beziehungen oder sogenannte formelle Vorstellungen zwischen Gegebenheiten auf der Ebene der Wirklichkeit oder des Geistes aus, die ursprünglich räumliche Größen sind. Durch zunehmende Abstraktion wurden sie zum Ausdruck von Kausalität, Modalität und Kasus auf zeitliche und logische Verhältnisse ausgedehnt. Zu dieser Gruppe gehören die 140 141
AL (1838: 275f.) Heyse schafft zudem die Voraussetzungen für eine semantische Grammatik, wenn er hervorhebt, daß ein und derselbe begriffliche Inhalt durch Wörter verschiedener Wortarten ausgedrückt werden kann: "Ein und derselbe Inhalt kann unter sehr verschiedenen Begriffsformen aufgefasst und daher in der Sprache zu verschiedenen Wortarten ausgeprägt werden; vergl. ζ. B. lieb, Liebe, lieben, lieblich, liebend etc..." SG (1851: 71) Es ist klar, daß Heyse hier die Existenz einer Einheit "lieb-" voraussetzt, die heute auch als virtuelles Lexem bezeichnet werden könnte. Nirgendwo in seiner Grammatik finden sich jedoch Ansätze zu einer Semanalyse.
Strukturierung und Syntax
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Zahlwörter, Artikel, die "Adverbia des Ortes, der Zeit, der Zahl", die Partikeln, d.h. Präpositionen und Konjunktionen, die übrigen Modalwörter und die Proformen, die Heyse als "Pronomina" bezeichnet (substantivische und adjektivische Fürwörter, deiktische Adverbien wie "da", "dort", "jetzt"). Die Definition des Pronomens läßt an Benvenistes (1966) denken. Es wird nicht mehr in seiner Ersatzfunktion des Substantivs bestimmt, sondern als Parameter, der erst in der Rede als Bezugswort fungiert, sonst seines "materiellen Inhalts beraubt" ist: [Das Pronomen sei ein] Formwort, welches den Gegenstand, von seinem besondern Inhalte abgesehen, nur einer formellen Beziehung, einem Redeverhältnisse nach durch eine ganz 142 allgemeine Bezeichnung als selbständigen Überhaupt darstellt [...].
3.2.2.3. Inteijektionen Im Gegensatz zu diesen beiden Kategorien von Wörtern stehen die Interjektionen oder "Naturlaute", die auch bei Carl Wilhelm Heyse als satzwertig angesehen werden. Sie kommen nicht aus der "Vernunftsprache", sondern aus dem ersten Entwicklungsstadium der Sprache, der "Gefiihlssprache". Diese Kategorie umfaßt die "Empfindungslaute" (d.h. affektive Interjektionen), "Schallnachahmungen" (d.h. Onomatopäen) und "Lautgeberden". Zur Klassifikation der verschiedenen Wortarten innerhalb der Einteilung zwischen Stoff- und Formwörtern vgl. nebenstehende Tabelle (S. 224), die Heyses Systematisierung im 2. Buch seiner Wortlehre wiedergibt.
3.2.3. Wesen (nature) und Funktion - die Struktur des einfachen Satzes Durch diese klare Aufstellung beseitigt Carl Wilhelm Heyse die frühere Unklarheit bei der Definition der Wortarten, die sie nach ihrer Funktion im Satz und in ihrem Bezug zum logischen Urteil bestimmte und wie sie selbst in den von seinem Bruder Theodor überarbeiteten Kapiteln der Heyseschen Grammatik noch bestand. Carl Wilhelm Heyse vertritt nun folgende Position: Die wesentlichen Bestandteile des Satzes, Subject, Prädicat und Copula, können auf mannigfache Weise durch verschiedene Wortarten dargestellt werden, wodurch verschiedene Satzformen entstehen.143
Erst im Akt des Sprechens weist der Geist einem "Wort" eine bestimmte Funktion im Satz zu, wobei "unselbständig" nicht unbedingt das prädikative Verhältnis bedeutet (auch Substantive werden für Heyse u.U. nach Verba abstracta prädikativ gebraucht):
142 143
(Ebd.: 73f.). Vgl. Benveniste (1966,1: 251f.). AL (1849: 15).
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Klassifizierung nach der Zusammenfassung von Carl Wilhelm Heyse (1838):
A. Naturlaute der GefDhlssprache: Interjectionen (ζ. B. ach, o; krach, puff; st, he ) B. WOrter der Vernunftsprache (Lautzeichen für bestimmte Vorstellungen). a. STOFFWÖRTER
b. FORMWÖRTER
/. Substantiva (Gegenstandswörter: für Selbständiges) a. Nomina substantiva Haupt-oder Nennwörter (z.B. Mensch, Liebe)
b. Pronomina substantiva substantivische Fürwörter (z.B. ich, du, er; der, jener, wer)
II. Attributiva (Merkmals- oder Beilegewörter: für Unselbständiges) 1. Bestimmwörter des Subjects oder Prädicatswörter 1.1 .Bloß benennende Merkmalswörter: (Nomina) Adjectiva, Beiwörter a. Adjectiva qualitativa,Eigenschafts- und Beschaffenheitswörter (z.B. lieb, grün, wach, vernünftig)
b. 1) Adjectiva quantitative, od. Numeralia, Zahlwörter (z.B. ein, zwei; der erste, zweite; alle, viele) 2) Pronomina adjectiva, adjectivische Fürwörter (z.B. mein, dein, dieser, jener) 3. Artikel (der, die, das, ein, eine, ein)
1.2. Prädicatswörter mit aussagender Kraft: Verba, Redewörter a. Verba concreta (z.B. lieben, grünen, wachen, fliegen)
b. Verba abstracta (sein, und unter Umständen auch: werden, haben)
2. Bestimmwörter des Prädicats: Adverbia, Neben- oder Umstandswörter a. Adverbia qualitativa b. Adverbia des Ortes, der Zeit, der Zahl (von den Adjectiven entlehnt) (z.B. hier, da; heute, einmal...) III. Partikeln (Redetheilchen oder Verhältniswörter im weiteren Sinne) 1. Präpositionen, Vor- oder Verhältnisswörter (z.B. auf, vor in, hinter) 2. Conjunctionen, Bindewörter (da, weil, wenn, denn)
Strukturierung und Syntax
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Es können also beide, Stoffwörter und Formwörter, sowohl Bezeichnungen des Selbständigen, als des Unselbständigen sein.144
Heyse widmet den Begriffen selbständig/unselbständig folgende Aufstellung (vgl. S. 225, mitte), da er in einem bestimmten Umfeld selbst bei Nebenbestimmungen prädikative Verhältnisse erkennt (wie ζ. B. beim Adjektiv in der Nominalgruppe), und adjektivische Formwörter (wie z.B. "solch", "mein") prädikativ gebraucht werden können 145 . Daraus ergibt sich, daß der Gebrauch der Worte im Redesatz durch ihr Wesen nicht strukturell einem etwaigen Satzteil gebunden ist. Dafür bietet der dritte Abschnitt Bestandteile und Formen des einfachen Satzes des 3. Buches der Satzlehre eine exemplarische Beschreibung. Carl Wilhelm Heyse - die Kategorie der Selbständigkeit und Unselbständigkeit:
SELBSTÄNDIG
UNSELBSTÄNDIG
STOFFWÖRTER
Haus Mensch, Menschheit Freund, Freundschaft Kraft Liebe
häuslich, hausen menschlich freundlich, befreunden kraft, kräftig, kräftigen lieb,lieben, lieblich
FORMWÖRTER
ich, du er, wir der, dieser wer, was
mein, dein,sein, unser da,dort, hier, dann, denn wo, wie
Beim einfachen Satz entscheidet sich Heyse für eine Dreiteilung in "Subject", "Prädicat" und "Copula", die als vorwiegend relationale Begriffe zu denten sind. Das Subjekt kann als Funktion nicht durch ein selbständiges Wort ausgedrückt und von der Verbalform getragen werden (wie im Imperativ); aber auch als einfaches Formwort "es" unpersönlich, durch ein selbständiges Gegenstandswort, ein persönliches oder sächliches Pronomen, oder einen "Satz" als "Nebensatz" auftreten. Bei der Analyse des Prädikats verfährt Heyse identisch: Das Prädikat kann direkt durch eine Verbalform ausgedrückt werden, mit oder ohne Hülfsverb, dabei sind auch die Verbindungen mit Modalverben als umschriebene Verbalformen zu betrachten; oder das Prädikat wird von der Kopula gesondert durch ein Adjektiv, ein Partizip, ein prädikatives Substantiv, eine Adverbialform ("am schönsten"), in bestimmten Fällen gar ein Adverbium ("er ist fort", "ich war auf') ausgedrückt. Die Kopula tritt ihrerseits als selb144 145
AL (1838: 73). Vgl. Erklärungen dazu in: AL (1849: 22).
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
ständiges Wort nur in Sätzen ohne substantivisches oder adjektivisches Prädikat auf. Sie ist dann ein "unzureichendes Prädicat" oder ein abstraktes Aussagewort, das durch eine "modifizierende Nebenbestimmung des Seins" ergänzt wird, um einen vollständigen Prädikatssatz zu bilden. Diese Ausführungen werden von Heyse jeweils mit Hinweisen auf seine Einteilung in Satzarten ergänzt. Forsgren146 hebt hervor, daß in den Grammatiken von Thomas und Becker eine Verschiebung stattfindet von einer "statischen" Auffassung des accidens wie in der allgemeinen Grammatik, wo es Teil der Substanz war, zu einer "dynamischen", wonach es Kategorien wie "Tun", "Werden", "Kraft", "Tätigkeit" ausdrückt. Wie aus dem Vorigen hervorgeht, ist Heyses Auffassung in dieser Hinsicht zwar nicht so eindeutig wie die Beckers, da er sich von der Zweiteilung, die dem Nominalparadigma die Kategorie des "Seins" und dem Verbalparadigma jene der "Tätigkeit" verleihen würde, bewußt von Becker absetzt. Man kann jedoch sagen, daß er in der zweiten von Forsgren genannten Tradition steht, insofern als der "accidens" bei der semantischen Bestimmung des Verbs als Stoffwort des Unselbständigen und Selbständigen neu durchdacht wird und der Prozeß der Vorstellung das prädikative Verhältnis begründet. Im prädikativen Verhältnis werden die Bestandteile der Wahrnehmung zu einer Einheit des Gedankens. Dabei muß bei Heyse die Idee des Seins und der Bewegung durch Subjekt und Prädikat frei ausgedrückt werden können. Ein und dieselbe sinnliche Anschauung kann demzufolge bei Heyse subjektiv oder prädikativ aufgefaßt werden: Ein Substantiv sowohl Subjekt sein als auch prädikative Funktion haben, und ein Adjektiv prädikativ oder attributiv verwendet werden. Heyse gibt aber auf rein theoretischer Ebene, wie Becker, den Sonderstatus der Kopula auf. Er sagt: "Streng genommen hat für den Begriff der reinen logischen Copula keine Sprache ein eigenes Wort".147 Das Rückgreifen auf die Kopula geschieht also auf sprachdeskriptiver Ebene. Folglich basiert das Klassifikationsschema der Wortarten nicht mehr wie 1827 auf der Funktion von Subjekt und Prädikat, sondern eigentlich auf der allgemeineren und feineren Beziehung zwischen 1) den Wörtern der Nominalphrase, also vornehmlich Substantiv und Pronomen, 2) den Attributiva, den "Merkmals- und Beilegewörtern" im weitesten Sinne und 3) den "Partikeln", Präpositionen und Konjunktionen. In einer Anmerkung betont Heyse, daß alle Wortarten substantivierbar sind und Subjektfunktion haben können.148 Die Attributiva werden untergliedert in "Bestimmwörter des Subjects", auch "Prädicatswörter" genannt, und in Attributiva des Prädikats, nämlich Adverbien oder Umstandswörter.
146 147 148
(1973 : 89). AL (1838: 273f. und 282). vgl. auch SG (1850: 77).
Struktunerung und Syntax
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Durch diese den Rahmen einer Schulgrammatik sprengende Darstellung überwindet Carl Wilhelm Heyse die Position der allgemeinen Grammatik, die die Wortarten aus der Form des logischen Urteils ableitete und sie durch Entsprechungen zwischen ihrem Wesen ("nature") und ihrer Funktion zu Universalien der Vernunft erhob.149
3.2.4. Carl Wilhelm Heyses Randbemerkungen auf einem Brief Boyes an Johann Christian Heyse vom 24. September 1826 Ein interessanter Beitrag zur Diskussion bilden die Bemerkungen Carl Wilhelm Heyses auf dem Rand eines Briefes, den Boye an den Vater Johann Christian Heyse schrieb.150 Boye bespricht darin die Schulgrammatik, aber seine Ausführungen treffen a fortiori auf die TPdG zu, denn er geht auf die Vermischung von Wesen und Funktion bei der Behandlung der Redeteile und des Satzes ein: [...] und scheint mir die Eintheilung aller Redetheile in zwei Hauptclassen, welche sich auf die beiden Satztheile: Subject und Prädicat gründet, nicht sehr haltbar; weil jeder Redetheil sowohl zur Bestimmung des Subjects als des Prädicats dienen, und daher sowohl dem einen als dem anderen angehörig betrachtet werden kann. Die Satztheile bestimmen nicht die Redetheile, sondern jene werden durch diese bestimmt; daher kann ein und derselbe Redetheil bald einen Theil des Subjects, bald einen Theil des Prädicats ausmachen.
Diese bemerkenswert klaren Ausführungen haben sicherlich Carl Wilhelm Heyses Formulierungen in seinem zehn Jahre später erscheinenden Ausführlichen Lehrgebäude deutlich beeinflußt. Die Randbemerkung Heyses ist eine teilweise, aber bereits sehr nuancierte Rechtfertigung der Darstellung der Schulgrammatik, und sie bezeugt, daß er sich nur langsam vom traditionellen Modell des Vaters entfernt hat: Noch einmal missverstanden! [...] Von der Unselbständigkeit aber giebt es Grade. Der Begriff Prädicat fällt nicht mit dem Begriff unselbständig völlig zusammen, [...].
Am unteren Rand des Briefes notiert Carl Wilhelm Heyse eine neue Auffassung des Begriffs "unselbständig", die die spätere Einteilung sowie die Trennung von Wesen und Funktion ankündigt: Unselbständig [...] 1) als Prädicate, oder 2) als Nebenbestimmungen, sowohl des Subjects, als des Prädicats. Darum steht S. 32 [...].
Heyse verweist auf die Schulgrammatik, hat aber offensichtlich die ganze Tragweite von Boyes Kritik für die Bestimmung der Wortarten und der Funktionen von Subjekt und Prädikat noch nicht erfaßt. Es ist interessant, daß er, wie sein 149 150
Vgl. oben, Kap. II; Forsgren (1973) gibt eine zusammenfassende Darstellung der Tradition der Grammatik von Port-Royal. Heyse-Familienarchiv (Staatsbibliothek zu Berlin). Nach den in I. 4. gezogenen Schlußfolgerungen kann die Handschrift eindeutig als die Carl Wilhelm Heyses bestimmt werden.
228
D e
' Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Bruder Theodor vor ihm bei der Klassifikation der Sätze (vgl. oben Kap. II) trotz zahlreicher sonstiger Namensnennungen von Zeitgenossen den Beitrag Boyes nicht erwähnt.
3.2.5. Einteilung der Sätze Die dreigliedrige Klassifikation der Sätze ist dieselbe wie 1827, sie beruht auf der Adelungschen151 : Ein Satz ist "einfach", wenn er aus einer Aussage besteht. Er ist "nackt", wenn er nur Subjekt und Prädikat hat; "erweitert" oder "bekleidet", wenn Subjekt und Prädikat mehrere Bestimmungen haben; "zusammengesetzt", wenn er aus zwei oder mehreren Aussagen in Form von Haupt- und Nebensätzen besteht. Die Periode ist eine Variante des zusammengesetzten Satzes, "ein kunstmäßig gegliederter zusammengesetzter Satz von größerem Umfange, dessen Theile in ebenmäßigen Verhältnissen zu einander stehen". Die im Jahr 1849 vorgenommenen neuen Einteilungen geben der Heyseschen Grammatik ein neues Gepräge. 3.2.5.1. Einteilung der einfachen Sätze - Form, Inhalt, Modalität Bei der Analyse des einfachen Satzes greift Heyse das bereits 1827 verwendete Oppositionspaar Form/Inhalt wieder auf und gibt ihm eine neue Bedeutung. Mit "Inhalt" verbindet er ein inneres Einteilungskriterium nach dem semantischen Gehalt und der Sprechintention; mit "Form" die äußere Form der Aussage und die "Qualität der Copula".152 Damit folgt er einer Denkrichtung, die schon für Reinbeck, Grotefend, Rosenberg und seinen Kollegen Bauer bestimmend war. Carl Wilhelm Heyse entwickelt jedoch ein ganz eigenes Denken, er stellt eine Verbindung zwischen einer konkreten Satzklassifikation und seiner philosophischen Sprachauffassung her. Zum Inhalt und zur Form wird nun als dritter Faktor die Modalität zugefügt. a) "Inhalt" - Satzformen Der "Inhalt" ist hier zu verstehen als "Materie". Sätze dieser Art enthalten die Aussage des Seins oder einer allgemeineren, existentiellen Wahrheit. Das sind einerseits Existenzaussagen im engeren Sinn ("Existential-Sätze") als Aussagen eines Seins oder eines Vorgangs, wenn sie nur aus einem Subjekt und der Kopula im Sinne von 'existieren' bestehen, oder "es" als unpersönliches Pronomen oder Platzhalter beinhalten ("formellen Vertreter" des Subjekts), ζ. B. "Gott ist;
151 152
Vgl. oben, Kap. II. AL (1849: 4f ), auch z.B. SG (1864). Die folgenden Beispiele sind dem Ausführlichen Lehrgebäude (1849: 4f). entnommen.
Strukturierung und Syntax
229
Es gibt Geister; Es ist ein Gott; Es regnet; Es wird getanzt". Andererseits gibt es "Prädikative Sätze", wenn sie ein Prädikat haben, bei dem das Verb "sein" nur als logische Kopula fungiert, ζ. B. "Gott ist gerecht. Die Luft ist kalt. Alexander war ein Held ". Heyses Oberbegriff für diese Aufteilung ist "Satzformen", was nicht mit dem zweiten Kriterium der "Form" zu verwechseln ist. b) "Form" Nach dem zweiten Kriterium hinsichtlich der "Form" ist ein Satz entweder affirmativ/bejahend, oder negativ/verneinend. Es wird sehr deutlich zwischen der Satz- und Satzgliednegation als "subjectiven oder Satz-Negation" und der "objectiven oder Teil-Negation" unterschieden. Die Satznegation heißt subjektiv, denn sie zeigt das Eingreifen des Sprechers (des "redenden Subjekts") in die prädikative Beziehung, die sie verneint. Heyse stützt sich in diesem Punkt auf die ein paar Jahre zuvor 1840 erschienene Abhandlung De negatione von Hippolytus Cegielski, um zu zeigen, daß die Negation einen positiven und assertorischen Charakter hat, und nie eine vollständige Aufhebung der ursprünglichen, affirmativen Aussage ist. Die Satzgliednegation ist für Heyse die positive Assertion eines an und für sich negativen Begriffs ("affirmative Beilegung des in sich selbst negativ bestimmten Begriffs"), oft durch die Wortableitung mit der Vorsilbe "un-" ersetzbar. c) Modalität und Satzarten Das dritte Kriterium "Modalität" führt zur Aufstellung von zwei "Satzarten". Die Modalität gibt die Einstellung des Sprechers zu seiner Aussage wieder ("das Verhältniss, in welchem das Ausgesagte zu der geistigen Thätigkeit des Redenden steht")153. Die Darstellung dieses Begriffs ist für Carl Wilhelm Heyse nicht die einfache Übernahme Roths, sondern der Anlaß, einige Aspekte seiner Sprachphilosophie in seine Grammatik einzubauen und an seine eigneneTheorie des Geistes anzuknüpfen. Sprache ist ihrem Wesen nach Produkt ("Erzeugnis") und zugleich Organ des theoretischen Geistes oder der freien Intelligenz. Die doppelte, theoretische und praktische Tätigkeit des Geistes schafft den Unterschied zwischen "Erkenntniss"- und "Begehrungssätzen": - Als theoretischer Geist erkennt der Mensch die Wirklichkeit (das "Seiende") und verarbeitet sie ("nimmt sie in seine Sphäre auf"). Im Akt der vom Geist gelenkten sprachlichen Mitteilung wird der "Erkenntnissatz" erzeugt, als Wiedergabe einer Erkenntnis - man wäre geneigt, dies einen assertorischen Satz zu nennen-, (z.B. "du läufst, der Mensch ist vernünftig.") - Als praktischer Geist oder freier Willen ist der Mensch auf Handeln ausgerichtet. Dieses Wollen wird sprachlich durch den "Begehrungssatz", in 153
Vgl. oben Kap. III. 1. Zur Sprachphilosophie und Sprachpsychologie Carl Wilhelm Heyses.
230
Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
dem das Prädikat als "gewolltes" und nicht vom Subjekt erkanntes ausgesagt wird, verwirklicht. Heyse unterstreicht noch theoretisch das Fehlen einer absoluten Grenze zwischen dem theoretischen und dem praktischen Geist, und die notwendige Rückwirkung zwischen Willen und Gedanken (da jeder Wille einen Gedanken voraussetzt und jeder Gedanke einen Willen: "sie fließen beide aus derselben Quelle des selbstbewussten und selbstbestimmenden Geistes und wirken daher Uberall in und durcheinander). Frage-, Wunsch- und Befehlssätze werden hier beispielhaft angeführt. Heyse nimmt dann die drei Kantischen Modi Wirklichkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit auf, um erneut im Einzelfall zwischen den verschiedenen Ausdrucksformen des theoretisch-praktischen Geistes zu unterscheiden. Diese drei Seinsmodi entsprechen nur teilweise den drei Sprachmodi: Wirklichkeit dem Indikativ, Möglichkeit dem "Conjunctiv als Potentialis" (Konjunktiv I) sowie dem "Conjunctiv als Optativ" (Konjunktiv II). Die Notwendigkeit wird entweder durch das Modalverb "müssen" oder durch den Imperativ ausgedrückt. Dieser Punkt ist in folgender Tabelle zusammengefaßt: Klassifizierung der einfachen Sätze nach den Seinsmodi (1838-1878)
SATZ
MODI WIRKLICHKEIT
NOTWENDIGKEIT
THEORETISCHER GEIST
PRAKTISCHER GEIST
ERKENNTNISSATZ
BEGEHRUNGSSATZ
(ASSERTORISCHER S A T Z )
assertorisch
Entscheidungs- und Ergänzungsfragen rhetorische Fragen
im Indikativ
Indikativ
Vermutung
Wunsch (Konj. I)
Bedauern (Konj. II)
Konjunktiv II Aufforderung im Konj. I "können" (Κ. II) "mögen" (Konj. I) MÖGLICHKEIT
keine vorgelegte Form "müssen" im Indikativ haben/sein + Infinitivkonstruktionen + "zu"
Befehl Verbot Imperativform "sollen"
Strukturierung und Syntax
231
3.2.5.2. Der erweiterte Satz Das Besondere der formalen Analyse des erweiterten Satzes ist die ständige Trennung von "logischen" (d.h. semantischen) und "grammatischen" (d.h. syntaktischen) Beziehungen. 1827, unter dem Einfluß von Theodor Heyse, wurde diese Unterscheidung nur bei der Behandlung von Koordination und Subordination angewendet. 1849 wird sie zu einem Grundmuster der Heyseschen Satzlehre. Ein Satz ist erweitert, wenn die Hauptsatzteile selbst bestimmt und wenn Prädikat oder Subjekt komplex sind. Die Bestimmungen haben also entweder eine semantische Auswirkung auf den ganzen Satz und sind "Satzbestimmungen", oder eine Teilwirkung auf nur ein Element, dann sind es "Nebenbestimmungen". Die Bestimmungen des Subjekts heißen "adnominal", die des Prädikats "adverbial". Dann unterscheidet Heyse zwischen semantischer und syntaktischer Abhängigkeit. Jede Bestimmung steht zu dem von ihm bestimmten Wort oder Ausdruck in einem syntaktischen Verhältnis der "Unterordnung". Das "logische" (d.h. semantisch-logische) Verhältnis dieser Unterordnung ist entweder das der "Dependenz" oder das der "Inhärenz". Heyse nimmt so eine von Bernhardi nach dem Vorbild der Grammatik des Abbd Girards und der Modisten wieder eingeführte Unterscheidung zwischen "Inhärenz"- und "Dependenz"-Beziehungen154 auf, die er auf den Satzbau überträgt. Während Theodor Heyse 1827 in seinen Ausführungen vom bestimmten und bestimmenden "Element" sprach, arbeitet Carl Wilhelm Heyse mit dem theoretischen Begriff der "Vorstellung". Im Verhältnis der "Inhärenz" oder der "Einverleibung" bildet die bestimmende Vorstellung mit der bestimmten Vorstellung einen einheitlichen "BegrifF'. Dieser wirkt sich syntaktisch durch die Kongruenz im Genus, Numerus und Kasus aus. Die Einheit des Begriffs verweist hier auf die Kongruenzregeln der Flexion. Es besteht hingegen ein Verhältnis der "Dependenz" oder der "Abhängigkeit", wenn die bestimmende Vorstellung durch die bestimmte Vorstellung "beherrscht" ist. Beide werden vom Geist sukzessiv in ihrer Reihenfolge erfaßt. Carl Heyse meint damit Bezüge, die mit oder ohne einleitende formelle Wörter - Konjunktionen oder Präpositionen (rektionale oder nicht rektionale Gefuge) hergestellt werden. Diese Darstellung wird von einer allgemeinen Analyse der Unterordnung überlagert. Diese wird analysiert je nach der An- bzw. Abwesenheit der formellen Wörter, die als einleitende Einheiten fungieren. In deren Abwesenheit ist sie "unmittelbar" und wird durch die Flexion - genauer gesagt die Kasusendungen - bemerkbar. Auf semantisch-logischer Ebene wirkt sich die Vorstellung als Tätigkeit direkt auf ihr Objekt aus. Die Unterordnung ist in Anwesenheit eines formellen Wortes, der Präposition, "mittelbar". In beiden Fällen der Unterordnung handelt es sich um die casus obliqui oder die Rektion. Carl 154
Zum geschichtlichen Vergleich der Verwendung dieser Begriffe vgl. Forsgren (1973).
Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
232
Heyse läßt dieser Aufteilung die Klassifizierung der adnominalen und adverbialen Abhängigkeitsverhältnisse folgen. Zur anschließenden Einteilung der adnominalen und adverbialen Dependenz vgl. nebenstehendes Schema (S. 233). 155 Am Ende seiner Betrachtung des erweiterten Satzes untersucht Carl Wilhelm Heyse den syntaktischen Rang der verschiedenen Bestimmungen. Sie können dreierlei Verhältnisse eingehen:156 a) die Unterordnung, wobei eine Bestimmung sich jeweils sukzessiv auf eine andere geringeren Ranges bezieht, was sich anhand von Heyses eigenen Beispielen mit folgenden Konnexionen darstellen ließe: ζ. B. Er hat es außerordentlich genau besorgt.
1
1
b) die "Einordnung", oder Verhältnis der Integration. Die zweite oder letzte angeführte Bestimmung bezieht sich auf die erste Einheit, oder die von der ersten Bestimmung und dem bestimmten Element gebildeten semantischen Einheit.157 so z.B. mein treuer Freund
die hohen schweizerischen Gebirge
Er hat mir den Brief vorgelesen.
ι c) die "Beiordnung": Gleichrangige syntaktische Einheiten sind koordiniert oder parataktisch aneinandergereiht; die Bestimmungen beziehen sich auf dasselbe Element: z.B.
Er hat es fleißig, genau und zweckmäßig besorgt. ι ι | I
die Bücher meines Vaters und meines Oheims
ein treuer, redlicher Freund ι ι ij·
158
Diese Dreiteilung ist eine bedeutende Erweiterung der bereits von Harnisch (1818) unterschiedenen Verhältnisse der Subordination, Dependenz und "Inordnung". Während dieser Grammatiker seine Theorie auf Sätze anwendet und solche gleichen und verschiedenen Ranges ("Samsätze") nach den drei genannten Verhältnissen unterscheidet, widmet sich Heyse auf viel genauere und prägnantere Weise der Analyse von Syntagmen. 155
156 157 158
Zur neueren Klassifikation von Sätzen vgl. Weydt/Hentschel (1990); die dort genannten vier Satzarten (assertiv, exklamativ, imperativ und exoptativ) und die Einteilung der Nebensätze in sechs Kategorien (mit Subjekt-, Objekt-, Prädikat-, Adverb-, Attribut- und weiterführender Funktion) Heyses (sie 1856 wertend gegenüberzustellen, wäre anachronistisch). AL (1849: 39f.). Es wird auf die dunkle und komplizierte Formulierung Heyses verzichtet. Bei Carl W. Heyse ist die Beiordnung auch disjunktiv; siehe unten 3.4.3. Vgl. auch Forsgren (1973).Dieselben Beispiele stehen noch in der SG von (1864: 256-258).
Strukturierung und Syntax
233
E 3 S3 η cυ u
s
s-s
•a +
ε
ω 9
-cu c '5 υ e ο ο. Vi — t υ
> s υ
^
> £ on 'S D a C/5 1
c op S e ω
go ε ε
-4-t tSi
>
Ο ·—
1Ο 1 Λ
C/5
ü -D
234
Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
3.2.5.3. Der zusammengesetzte Satz Im einleitenden Teil der Satzlehre und im Kapitel Satzfügung und Satzfolge des Ausführlichen Lehrgebäudes wird der zusammengesetzte Satz untersucht. Die Analyse fällt im großen und ganzen mit der Behandlung der Koordination und Subordination von Sätzen zusammen. Carl Wilhelm Heyse stellt dieselbe Untersuchung an wie sein Bruder 1827, indem er der Nichtentsprechung von syntaktischer und semantischer Ebene nachgeht. In der gekürzten Fassung der Schulgrammatik begnügt er sich mit einem Hinweis auf die Koordination syntaktisch gleichrangiger Sätze (Heyse spricht von Sätzen "in gleicher Würde und Selbständigkeit") sowie auf nicht gleichrangige, wo der Satz untergeordneten Ranges durch eine Subjunktion oder ein Fügewort in den ersten gefügt wird. Koordinierte Sätze bilden einen "Satzverein", Sätze mit subordinierten Nebensätzen oder mit Relativsätzen ein "Satzgefüge". Er übernimmt auch Herlings Dreiteilung in substantivische, adjektivische und adverbiale Nebensätze, doch unterscheidet er dabei in der seinem Denken eigenen Dualismus wieder zwischen Inhalt und Form. Die bei der semantischen Einteilung der Wortarten innerhalb der Kategorien Stoff- und Formwort verwendeten Begriffe Objekt' und 'Tätigkeit' werden hier erneut eingesetzt. Nebenstehende Tabelle (S. 235) faßt die nach Inhalt und Form unterschiedenen Arten abhängiger Sätze zusammen. Dieser Teil der Grammatik behandelt außerdem die Möglichkeit der "Zusammenziehung" koordinierter und der "Verkürzung" subordinierter Sätze. Heyses Darstellung stimmt in diesen beiden Punkten ganz mit den Arbeiten seiner Zeitgenossen überein. Carl Wilhelm Heyse ist sich bewußt, daß die Untersuchung des zusammengesetzten Satzes in die direkte Nähe der Rhetorik führt159. Aus Rücksicht auf die individuelle Freiheit im Ausdruck der Gedanken will er keine strengen Kompositionsregeln geben. Eine Grammatik soll nur die Hauptarten von Perioden sowie die zu vermeidenden Konstruktionsfehler festhalten. Aus der Sicht des Empfängers (Hörers oder Lesers) muß jede Rede durch Verständlichkeit, Deutlichkeit und Schönheit in jedem Fall den inneren Gesetzen des Denkens unterliegen, und zugleich Fehlinterpretationen ausschließen. Was die Form betrifft, so soll der Ausdruck natürlich sein. Zudem stellt er noch eine dritte, ästhetische Forderung: Die Rede soll den Schönheitssinn ansprechen. Das erreichen im Grunde nur Dichtkunst und Rhetorik, die rhythmisch ausgewogene Sequenzen bilden können.
159
AL (1849: 747).
Strukturierung und Syntax
235
Klassifizierung der zusammengesetzten Sätze nach Carl Wilhelm Heyse
SUBSTANTIV-SÄTZE
INHALT
FORM
1) "concreta" Begriff des Gegenstandes oder der Person
1) abhängige Objectsätze
von "w-" Wörtern eingeleitet welcher, was für ein 2) "abstracta" Begriff der Tätigkeit oder eines Zustandes "daß" und "ob" eingeleitete Nebensätze
in der Erweiterung eines Substantivs oder eines Prädicats 2) abhängige Subjectsätze (syntaktische aber keine semantische Abhängigkeit) 3) prädicativer Satz
Inhärenzverhältnis
Nebenbestimmung
Relativsätze: Fügewörter der, die, das; welcher, welche, welches wer, was, wo, wo-, wann
Erweiterung eines Substantivs
Inhärenzverhältnis
Erweiterung eines Prädicats
subordinierende Fügewörter weil, sobald, obwohl, daß...
Satz- oder Nebenbestimmung
ADJECTIV-SÄTZE
ADVERBIAL-SÄTZE
syntaktische Unterordnung oder logisch-semantische Beiordnung
3.3. Wortfolge - die Folge der Bestimmungen 3.3.1. Allgemeine Gesetze des Denkens und Wortfolge Heyse beginnt den Teil zur Wortfolge sehr theoretisch mit einer Betrachtung der allgemeinen Gesetze des Denkens, die der Tradition der allgemeinen Grammatik sehr stark verpfichtet ist. Damit distanziert sich Carl Wilhelm Heyse sowohl von seinem Vater als auch von seinem Bruder Theodor. Sie bietet eine erstaunliche Neuformulierung der allgemeinen Gesetze der Vernunft, wie sie in der allgemeinen Grammatik anzutreffen ist, jedoch mit einer besonderen
236
Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Hervorhebung des Bereichs der Vorstellungen und des Denkens. Im Prozeß der Versprachlichung des Gedankens müßte eigentlich die Ordnung der einzelnen Worte im Satz von der Folge abhängig sein, in der der Verstand zur Bildung eines Gedankens die einzelnen Vorstellungen verbindet. Dementsprechend stehe "das zu Bestimmende eher vor der Seele, als die Bestimmung"160. Eine erstaunliche Formulierung in einer späten Auflage der Schulgrammatik belegt: Die zu einem Gedanken verbundenen Vorstellungen ordnen sich in unserm Verstände immer so, dass jede, die zur Bestimmung einer andern dient, dieser nachfolgt, oder dass alles zu Bestimmende dem Bestimmenden vorangeht. 161
Obwohl die determinierte Vorstellung im Geist der determinierenden vorausgeht, finde diese sogenannte logische Reihenfolge nicht unbedingt ihren Niederschlag in der Ordnung der Worte in einer natürlichen Sprache. Damit verweist Carl Wilhelm Heyse auf eine bestehende Diskrepanz zwischen den allgemeinen Gesetzen des Denkens, an denen er festhält, und der Sprachwirklichkeit: "Allein das gleichförmige Verfahren unsres Denkvermögens bei Bildung der Urtheile kann nicht das alleinige, unumgängliche Gesetz für die Sprachdarstellung sein (...)."162 Die in einer Einzelsprache anders zu verzeichnende Wortordnung rührt daher, daß Sprache sich der Absicht des Redenden anpassend der Darstellung der Gefühle diene, rhetorische und auch syntaktische Zwecke verfolge. Heyse führt ebenfalls eine Abweichung von der streng logischen Anordnung der Worte auf die "Wirkung auf die Empfindung des Hörers" zurück, und entwirft somit seltsamerweise durch die Polarität Sprecher/Hörer in einem allgemeingrammatischen Rahmen Ansätze einer Sprechakttheorie. In diesem syntaktischen Abschnitt wird erst später auf die Grundordnung eingegangen, wonach im Deutschen im allgemeinen das determinierte Element dem determinierenden folgt. Im allgemeinen Teil der Wortfolge hebt Heyse die zwei anderen Regeln auf, die der deutschen Wortfolge zugrundeliegen. Er fügt somit in eine geänderte Perspektive die Grundeinsichten seines Bruders Theodors, deren Wortlaut er übernimmt, ein: - Die syntaktische Würde der Sätze und ihr syntaktisches Verhältnis (hier wird mit "Satz" offensichtlich die "proposition" gemeint) werden durch die unterschiedliche Anordnung der Satzteile im Hauptsatz und im Nebensatz sichtbar. In der weiteren Darstellung wird klar, daß Carl Wilhelm Heyse tatsächlich das Subjekt, das Prädikat und die Kopula meint. Zu ihrer Bezeichnung verwendet er zunächst auf seltsame Weise den Terminus "wesentliche Satzglieder", den er in der Analyse des prädikativen Verhälltnisses aber nicht gebraucht hatte. Daraufhin nennt er sie "Haupt-Satztheile", was mit vorigen Darstellungen und Ausgaben besser im Einklang steht.
160 161 162
AL (1849: 537). SG (1854: 386). Ebd.
Strukturierung und Syntax
237
- Der Satz tritt durch die Einrahmung der Bestimmungen mittels Subjekt, Kopula und Prädikat als ein "abgerundetes, in sich geschlossenes Ganzes" auf. Die Regeln der Wortfolge müssen in Bezug auf drei Elemente, immer im Verhältnis zur Unterscheidung der drei Funktionen Subjekt, Kopula und Prädikat als getrennte Einheiten aufgestellt werden. Wenn das Verb zugleich Prädikat- bzw. Kopulafunktion hat, nimmt es die sonst der Kopula vorbehaltene Stellung ein. Im Falle eines zusammengesetzten Verbs mit trennbarem Verbzusatz ("ankommen, mitgehen") nimmt das Präverb immer den sonst dem Prädikat vorbehaltenen Platz ein, steht also am Ende des Hauptsatzes. In die Darstellung seines Bruders von zwei gleichwertigen Grundordnungen im Haupt- und Nebensatz integriert er seine eigene Kategorisierung der Satzarten.
3.3.2. Neuansätze Wie in der TPdG von 1827 geht Carl Wilhelm Heyse zunächst von der natürlichen oder "regelmäßigen Wortfolge" in Haupt- und Nebensätzen aus und dann auf die "Wortversetzung" ein, die als Abweichung von der natürlichen Folge aus semantischen ("logischen") oder rhetorischen Gründen definiert wird; die daraus resultierende Anordnung heißt "versetzte Wortfolge" oder Inversion. In seinem Aufbau privilegiert er auf strengere Weise als sein Bruder den Ausdruck "Versetzung". Er unterscheidet dabei jeweils Haupt- und Nebenversetzungen. Seine Erklärung der Formen ist identisch mit der von 1827. Allerdings bezieht Carl Heyse in seine Untersuchung der regelmäßigen Wortfolge und der Versetzung die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen den beiden Satzarten mit ein, in denen der theoretisch-praktische Geist sich mitteilt, nämlich dem dem Denken zugeordneten "Erkenntnisssatz" und dem dem Willen zugeordneten "Begehrungssatz". So wird im ersten Teil zur regelmäßigen Wortfolge als erster Punkt bezüglich der Satzarten festgestellt, daß die Wortfolge im Erkenntnisssatz Subjekt, Kopula, Prädikat lautet (ζ. B. "Der Mensch ist sterblich".) und im Begehrungssatz Kopula, Subjekt, Prädikat ("Ist er gesund?"). Die Darstellung der Nebensätze schließt in einem zweiten Unterteil mit der Grundfolge Subjekt, Prädikat, Kopula an. Von den bedingenden und einräumenden Nebensätzen wird bemerkt, daß sie auch ohne einleitendes Fügewort auftreten können und ihre Struktur sich dann jener der Begehrungssätze angleicht. 3.3.2.1. Ordnung der Bestimmungen Die Ordnung der Bestimmungen folgt der Darstellung der Satzteile (oder Haupt-Satzteile). Es interessiert Heyse in diesem Zusammenhang nur die im "Widerspruche" zur logischen Ordnung stehende Regel, wonach im Deutschen das bestimmende Element dem Bestimmten vorangeht. Heyse verwendet den
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Terminus "Bestimmung", um syntagmeninterne Erweiterungen und verbale Bestimmungen im weiteren Sinne zu bezeichnen. Die Folge der Bestimmungen wird in bezug auf Substantiv, Adjektiv und Verbum behandelt. Erst nach deren Analyse beim Substantiv und Adjektiv geht Heyse auf die verbalen Bestimmungen und auf das System Girards ein. Zusammenfassend treten folgende Fälle auf: Beim Substantiv wird nach der Aufstellung der allgemeinen Regel der Voranstellung zwischen den attributiven und den adverbialen Bestimmungen, denen die substantivischen in mittelbarer (präpositionaler) und unmittelbarer (im Genitiv) Dependenz zugeordnet werden, unterschieden. Die attributiven Bestimmungen befinden sich normalerweise in der Linkserweiterung, die adverbialen in der Rechtserweiterung des Substantivs oder der substantivischen Gruppe. Die umgekehrt auftretende Reihenfolge wird in einer langen Anmerkung eingehend untersucht. Beim Adjektiv und Adverb, die er zusammen behandelt, geht Heyse ebenfalls von der Voranstellung der Bestimmungen aus: So bei den Zusätzen in unmittelbarer Dependenz, seien sie substantivisch (des Rechtes kundig) oder adverbial. Doch Heyse verallgemeinert diese Regel nicht. Bei der mittelbaren Dependenz - d.h. der Analyse der präpositionalen Bestimmungen - unterscheidet er dem Sprachgebrauch treu bleibend zwischen attributiven und prädikativen Adjektiven. Gewöhnlich werden die präpositionalen Bestimmungen dem prädikativen Adjektiv nachgestellt (arm an Geld, schön an Gesicht), während sie dem attributiven Adjektiv vorangestellt werden (zwei an Gestalt ähnliche Brüder). Die Beispiele gelten hauptsächlich rektionalen Gefllgen, so läßt sich auch erklären, daß Heyse diese Bemerkungen auf die "abhängigen Casus" (d.h. für ihn unmittelbare Rektion ohne Präposition) dehnt. Beim Verb ist in den Formulierungen Carl Wilhelm Heyses ein gewisser Rückschritt gegenüber der früheren Darstellung Theodor Heyses zu verzeichnen. Im Hauptsatz spricht er tatsächlich von der Endstellung der Bestimmungen ("ganz am Schlüsse des Satzes"), doch in seiner darauffolgenden Unterscheidung zwischen Erkenntnis- und Begehrungssatz geht er von der Nachstellung der Bestimmungen aus, die dem Prädikat oder dem Subjekt folgen. Nur wenn die Kopula vom Prädikat getrennt ist, wird das Prinzip der Voranstellung beibehalten.163 Im Nebensatz hingegen wird Theodor Heyses Darstellung genau aufgenommen, wonach die Bestimmungen immer vor dem Prädikat auftreten. Wenn mehrere determinierende Elemente, die im Verhältnis der Zusammenordnung stehen, sich auf ein Determiniertes beziehen, so gilt eine andere Regel. Die ihrer Bedeutung nach wichtigeren und deshalb stärker betonten Bestimmungen folgen den anderen nach, und zwar in der Reihenfolge zunehmender Wichtigkeit. Diese Regel findet in der Nominal-, Adjektiv- und Verbalgruppe ihre Anwendung. Interessant ist die der Pronominalisierung 163
Vgl. Kap. II und die Hinweise auf Fourquet.
Stnikturiening und Syntax
239
geltende Passage, mit ihrem Hinweis auf die notwendige Versetzung der Wortordnung der "schwächer betonten" Pronomina aus "rythmischen" Gründen, vermöge des "Ton-Übergewichts" des Verbs, 164 lange vor der Beweisführung Wackernagels (1892) und der Aufstellung seines Gesetzes zur Betonung der Pronomina und Partikeln.
3.3.2.2. Syntaktische Funktionen - das System Girards Die Folge der Bestimmungen auf Satzebene folgt der Untersuchung der Determiniertheit und ihrer Implikationen auf der Ebene der Bestimungen, die zuerst einzeln betrachtet wurden. Die TPdG von 1827 hatte im Verbkapitel ein vereinfachtes Schema der syntaktischen Funktionen der Grammatik Girards übernommen. Außer Subjekt und Prädikat unterschied sie Adjekt, Terminativ und Objekt (vgl. oben, Kap. II). Das Ausführliche Lehrgebäude baut deren Behandlung zum Teil in das Verbkapitel und in den morphologischen Abschnitt, und insbesondere in die Wortfolge am Ende des der Ordnung der Bestimmungen gewidmeten Teils ein, in dem mehrere Tabellen aufgestellt sind. Das Schema von 1849 stimmt im großen und ganzen mit der Grammatik von 1827 überein, abgesehen von der vereinfachten Ausgabe der Schulgrammatik, in der Carl Wilhelm Heyse statt "Terminativ" die einfachere und ungenauere Bezeichnung "Dativ" verwendet. Die Angabe der Funktion ersetzt er durch den angewendeten Fall. Sein eigener Gebrauch bestimmter Termini wie "Adject" kann in Einzelanalysen erstaunen165. Trotz dieser Inkonsequenzen ist die Gesamtkonzeption der funktionellen Ebene differenzierter166 als zuvor, insofern, als Heyse insgesamt drei Tabellen zur Folge der Satzglieder und Bestimmungen im Erkenntnis-, Begehrungs- und im Nebensatz aufstellt. Nur in der Tabelle des Erkenntnissatzes (d.h. Behauptungssatzes) werden die Bestimmungen bei Namen genannt. Beim Begehrungssatz ist für ihn allein die allgemeine Reihenfolge 'Aussagewort oder einfache Verbalform'/ 'Subjekt'/ darauffolgende Bestimmungen von Bedeutung. Im Nebensatz gilt bei den Beispielen auch allgemein die Abfolge Fügewort/ Subjekt/ Bestimmungen (ohne Präzisierung)/ Prädikat (vom Aussagewort getrennt)/ Aussagewort (oder einfache Verbalform). Der "Genitiv" - als solcher bezeichnet und nicht etwa als genitives Objekt - wird als verbale Nebenbestimmung wieder eingeführt. Das Besondere an der ersten Tabelle besteht darin, daß Carl Wilhelm Heyse nun die tatsächliche Reihenfolge der Bestimmungen im Deutschen beachtet.
164 165
166
AL (1849: 554f.) Vgl. z.B. (ebd.: 550f.) Carl Heyse bezeichnet z.B. als "präpositionale Adjecte" und "ergänzende Satzbestimmungen" Sequenzen wie "Ich schreibe einen Brief an meinen Oheim, er dankte seinem Vater ftlr das Geschenk". AL (1849: 556f.); vgl. auch die SG (1878: 378-380).
240
Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Unter den Beispielen, die im prädikativen Rahmen (d.h. der Satzklammer) wie bei seinem Bruder 1827 die Abfolge Terminativ/Objekt/Adverb-Adjekt verdeutlichen, werden zwölf Beispiele genannt. Danach stehen in der Form von vier Sätzen und Umstellungen vier Varianten des Grundmusters Terminativ/ Objekt/ Adverb-Adjekt; die andere Folge der Bestimmungen berücksichtigt das Problem der Inversion bei Pronominalisierungen. Es sollen hier nur Auszüge aus Heyses Tabelle angegeben werden, die im folgenden Kapitel (vgl. unten 4.1.) vollständig aufgenommen wird:167 -Subject Aussagewort Der Vater hat
Terminativ dem Sohne
Object das Buch
- Subject Aussagewort Er hat
Adverb gestern
- Subject Aussagewort Er hat
Terminativ dem Sohne
- Subject Aussagewort Er hat
Object es
- Subject Aussagewort Er hat
Object es
- Subject Aussagewort Man soll
Object den Mann
Genitiv des Diebstahls
- Subject Aussagewort Man soll
Object den Mann
Adverb Genitiv mit Unrecht des Diebstahls
Terminativ dem Sohne
Adverb/Adject gestern
Prädicat gegeben
Object das Buch
Adject zum Lesen
Prädicat gegeben
Object das Buch
Adject zum Lesen
Prädicat gegeben
Terminativ dem Sohne (ihm)
Adverb gestern
Adject zum Lesen
Prädicat gegeben
Adverb gestern
Terminativ dem Sohne
Adverb gestern
Adject zum Lesen
Prädicat gegeben
Adverb u. Adject Prädicat mit Unrecht beschuldigt haben. Prädicat beschuldigt haben.
Während sein Vater Johann Christian Heyse eine französische, fürs Deutsche künstliche Ordnung der Bestimmungen angegeben hatte, gibt sie Carl Wilhelm wie sein Bruder Theodor vor ihm - auf, um auf verschiedene Varianten der Folge der Bestimmungen im Deutschen hinzuweisen. Implizit werden diese Varianten oder Umstellungen als gleichrangig eingestuft. Leider stellt Carl Wilhelm Heyse auch eine Tabelle für Begehrungssätze auf, die bei Theodor Heyses Darstellung der Fragesätze völlig fehlte. Sie bezeugt, wie stark im Unterschied zu seinem Bruder das Modell VI für ihn von Bedeutung war. Er ging also grundsätzlich nicht davon aus, daß die Reihenfolge der Bestimmungen nicht von der Stelle V1-V2 des Verbs sondern von anderen Faktoren, etwa der eigentlichen Endstellung des Prädikats oder illokutiven Zwecken abhängt. Seltsamerweise verweist Carl Wilhelm Heyse nur in der Versetzung, die unmittelbar auf die tabellarischen Übersichten folgt, darauf hin, daß die Reihe
167
AL (1849: 556).
Strukturierung und Syntax
241
der Satzteile von illokutiven Zwecken des "Redenden" abhängt. Man kann daraus rückschließen, daß Carl Wilhelm Heyse wahrscheinlich geahnt hat, wie irrelevant es gewesen wäre, beim Begehrungssatz die genaue Reihenfolge der Bestimmungen anzugeben. Auch die letzte Tabelle zur Ordnung der Bestimmungen und Satzteile im Nebensatz weist keine funktionnellen Girardschen Benennungen auf. 3.3.2.3. Versetzungen Die Opposition von Erkenntniss- und Begehrungssatz ist auch bei der Versetzung oder Inversion relevant. Nachdem Carl Wilhelm Heyse, wie sein Bruder Theodor, eine Liste mit sechs möglichen Stellungen der Satzteile im deutschen Satz aufgestellt hat (l.SKP; 2. KPS; 3. SPK; 4. PKS; 5. KPS; 6. PSK), untersucht er die Versetzungen im Erkenntniss- und Begehrungs-, sowie im Nebensatz nach einem dreigliedrigen Schema. Allen drei Satzarten wird dasselbe Gewicht beigemessen. In der internen Analyse jeder Satzart greift Heyse seltsamerweise auf den Ausdruck "Inversion" und nicht mehr "Versetzung" zurück. Im Erkenntnisssatz sind die Inversionen 2 bis 6 möglich, im Begehrungssatz 1, 4, 5 und im Nebensatz 1, 4, 6. Es wird jedesmal angegeben, ob die Inversion "willkürlich", d.h. an die Intention des Sprechers oder den Gebrauch von "es" als Platzhalter gebunden, oder "notwendig", d.h. von syntaktischen Konstruktionen und Hervorhebungen durch Erststellung im Satze abhängig, ist.168 Die Nebenversetzungen oder Abweichungen der Satz- und Nebenbestimmungen von der regelmäßigen Wortfolge werden in dreifacher Hinsicht abgehandelt, sofern sie sich nur auf einen Teil des Satzes beziehen und sich nicht auf die Stelle der Satzteile auswirken. Sie sind meistens "willkürlich", d.h. an illokutive und rhetorische Zwecke gebunden, und betreffen zum einen die Stelle der Bestimmung zum bestimmten Wort, zum anderen die Stellung zusammengeordneter Bestimmungen zueinander und die Stellung einer Satzbestimmung zum ganzen Satz oder zu einem Satzteil. Die darauffolgende Gliederung von Heyse ist nicht sehr klar und verläuft in einer anderen Reihenfolge. Bei der Stelle der Satzbestimmmungen, die zuerst untersucht wird, behandelt Heyse die Topikalisierung, die - wie er selber sagt - eigentlich eine Hauptversetzung nach sich zieht, dann die Stellung von Satzgliedern rechts außerhalb der Satzklammer, und schließlich die Begehrungssätze, bei denen das Subjekt die letzte Stelle nach den übrigen Satzgliedern einnimmt. Danach weist er bei Bei-
168
So ist z.B. beim Erkenntnissatz die Inversion willkürlich beim Gebrauch als Begehrungssatz (z.B. " Bist du ein wackrer Freund!", "Schmeckt das herrlich!") und notwendig, wenn die erste Stelle von einer "Adverbial-Bestimmung" eingenommen wird. Die Ausführungen sind sehr umfangreich, sie nehmen in der SG mehr als zehn, im Ausführlichen Lehrgebäude zwanzig Seiten ein. Eine zusammenfassende Wiedergabe würde hier nicht weiterführen.
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Ordnungen auf syntaktische Disjunktionen durch andere Satzglieder, Satzteile oder Syntagmen hin, und zuletzt auf die Disjunktion innerhalb eines Syntagmas, hauptsächlich wenn der adnominale Genitiv vom Substantiv durch andere Einheiten (Appositionen, verbale oder nominale Gefiige) getrennt ist. Carl Wilhelm Heyses Wortfolge übernimmt die Zweiteilung von theoretischem und praktischem Geist und ergänzt seine Aufteilung der Wortarten. Die Trennung von Wesen und Funktion wird auch hier bestätigt. Die Folge der Bestimmungen wird satzintern und syntagmenintern untersucht, und die Idee der Satzklammer von Theodor Heyse wieder aufgenommen. Von Girards Sytem übernimmt Carl Wilhelm Heyse offensichtlich nur die äußere Einteilung. Dessen System in sein eigenes System kohärent einzubauen wäre auch ein aporetisches Vorhaben gewesen, da sich seine eigenen Denkkategorien von denen Girards stark distanzieren und er die Wortarten anders als Girard semantisch und sprachpsychologisch beschreibt.
3.4. Einzelanalysen zu den Kategorien und Wortarten 3.4.1. Zu Carl Wilhelm Heyses Betrachtung der Kasus im allgemeinen Bei der Untersuchung der Fälle bezieht Heyse die Ergebnisse zahlreicher Arbeiten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ein und geht gleichzeitig ein gutes Stück hinter die früheren Ausgaben zurück. Zwischen 1814 und 1840 unterschied die Heysesche Grammatik vier Fälle: Nominativ, Genitiv, Akkusativ und Dativ. Die Formen des Vokativ wurden formell denen des Nominativs angeglichen, außer bei einigen Eigennamen. Was die deskriptive Ebene betrifft, so stand Johann Christian Heyse in Opposition zum System der acht Deklinationstabellen der Adelungschen Grammatik, das er auf drei reduziert hatte; unter dem Wirken Carl Wilhelm Heyses wurde das System nochmals vereinfacht, besonders in den überarbeiteten Ausgaben von 1825 und 1827, und es gab nur noch zwei Tabellen. Im Ausführlichen Lehrgebäude von 1838 und in der Schulgrammatik von 1840 führt Carl Wilhelm Heyse endgültig die Grimmsche Unterscheidung von sogenannter starker und schwacher Deklination ein. Leider greift er auf die alte Einteilung von fllnf Fällen der deutschen Sprache zurück und betrachtet den Vokativ als eigenständigen Kasus neben dem Nominativ. Dieser ist die nicht markierte Bezugsform. Die anderen drei Fälle werden noch mehr als zuvor als casus obliqui bezeichnet. Man muß betonen, wie stark sich Carl Wilhelm Heyse bei der Interpretation der Kasus auf Arbeiten seiner Zeitgenossen stützt.169 Explizit bezieht er sich auf 169
Es werden hier Aspekte hervorgehoben, die von Naumann (1986) nicht erwähnt werden.
Strukturierung und Syntax
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Lersch (1840), der den relationalen Charakter und ihre ursprünglich räumliche Bedeutung hervorhebt. So gibt der Genitiv den räumlichen Ursprung und den zeitlichen Beginn wieder; der Akkusativ die räumliche Gerichtetheit einer Bewegung und den Zeitraum; der Dativ dagegen "Ruhe und Betheiligung". Aus diesen allgemeinen Feststellungen leitet Heyse die Bedeutung der Kasus im Deutschen ab. Darin gleicht seine Darstellung Überlegungen von J. O. L. Schulz, der im Jahrbuch der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache 1820 eine lange Abhandlung Über die Grundbedeutung der Casus veröffentlicht hatte. Er ging dabei besonders auf den Ursprung der Bezeichnungen casus recti/ casus obliqui ein, auf den Genitiv, die Entwicklung des Kasusgebrauchs und der Bedeutungsverschiebungen, das Ersetzen eines Falls durch einen andern sowie auf das Erscheinen konkurrierender präpositionaler Gefüge. Dem sinngerichteten Gebrauch der Fälle folgt nach und nach eine sprachliche Willkür. Heyse erreicht bei der Untersuchung der Kasus eine große Genauigkeit, die auch damit zusammenhängt, daß er sich auf zahlreiche Studien zu indoeuropäischen Sprachen bezieht. Sie ist seiner Grammatik nicht eigen und sprengt eigentlich ihren pädagogisch-didaktischen Rahmen. Bewußt steht sie in Opposition zu den Modellen der Grammatiker Schmitthenner und Wüllner170. Der Vokativ wird, obwohl das sich in synchronischer Sicht nicht mehr rechtfertigt, wieder als eigenständiger Kasus betrachtet. Die theoretische Betrachtung der Kasus ist für Carl Wilhelm Heyse von großer Bedeutung, da sie den Wortfügungs-Teil ein leitet. Darin liegt die einzig wirkliche Neuerung. Die anschließende Behandlung der Rektionen von Verb, Adjektiv, Substantiv und Präposition baut darauf auf. Die Rektion der Verben steht an erster Stelle. Da der Nominativ keine eigene Bedeutung hat und jeder Gegenstand an sich "beziehungslos in sich ruhend" ist, könne ihn nur das Verb, das einen Zustand oder eine Bewegung ausdrückt, mit der übrigen Welt in Verbindung bringen, - eine Argumentation, die indirekt Heyses Auffassung des prädikativen Verhältnisses nur unterstützten kann, aber die nicht genau die gleiche Richtung wie seine kategorielle Einteilung der Stoffwörter des Unselbständigen und Selbständigen einschlägt.
3.4.2. Modi und Tempora Die Einteilung der Verben folgt bis auf eine bessere, systematischere Präsentation dem Schema von 1827. Die von Roth geprägte theoretische Darstellung der Modi und das System der neun Tempora werden beibehalten. Allerdings betont Heyse vielmehr als früher den Gebrauch des Konjunktivs im Unterschied mit dem Indikativ und dem Imperativ. Bei den drei "Hauptzeiten 170
Vgl. AL (1849) und Bernd Naumann (1986).
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
oder Hauptabschnitten" führt er eine zusätzliche Unterscheidung von "subjectiven" Zeiten ein, nämlich Präsens, Präteritum und einfaches Futur, die sich auf den Augenblick des Sprechens beziehen und Gleichzeitigkeit, Vorzeitigkeit oder Nachzeitigkeit ausdrücken. Die drei verbalen Aspekte, der nichtabgeschlossene oder imperfektive Aspekt, "actio imperfecta", der abgeschlossene oder perfektive, "actio perfecta", und der ingressive, die "beginnende Handlung", werden nun als "objective Zeitpunkte" bezeichnet. Das von ihm erstellte Schema ist vollständiger, jedoch zum größten Teil identisch mit dem von 1827. Das Entscheidende an der neuen Darstellung ist der Verzicht auf die Trennung von relationalen und nicht-relationalen Bezügen, die seine frühere Untersuchung der Tempora schwerfällig und unübersichtlich gemacht hatte. Diese wichtige Vereinfachung wirkt sich unmittelbar auf den praktischen Gebrauch der Tempora und Modi aus, so besonders im Verzicht auf die Zeitenfolge (consecutio temporum). 3.4.2.1. Der Konjunktiv: Alte und neue Ansichten (1830 -1840) Heyse hat die neutrale Unterscheidung Etzlers171 zwischen einem Konjunktiv der "ersten" und der "zweiten" Reihe 1838 in den ersten Band seiner neu überarbeiteten Grammatik nicht eingeführt. Der Konjunktiv hat für ihn eine "subjective Natur", und er unterteilt ihn im Abschnitt Vom Verbum zu Beginn des Gebrauchs der Modi gewidmeten Teil je nach seinem Gebrauch in Nebensätzen als "subjunctiv", und in bedinglichen Sätzen als "conditional". In beiden Fällen wird der Inhalt des Satzes als "bloß Gedachtes oder Gesagtes", oder als "problematisch" aufgestellt. Konkret wird dann zwischen vier Anwendungsformen unterschieden: Als Ausdruck der Obliquität oder der indirekten Rede wird der "Subjunctiv" gebraucht, besonders nach Verben, die ein Glauben oder eine Äußerung ausdrücken. Die angeführten Beispiele bezeugen den Verzicht auf die Zeitenfolge: z.B. "Er meinte, es sei gut; er zweifelt daran, daß ich Augenzeuge gewesen sei; ich bat ihn, daß er mir helfe (...)"172 Diese wichtige Neuerung, die tatsächlich eine grundsätzliche Änderung der früheren Stellungnahme der Heyseschen Grammatik bedeutet, wird von Carl Wilhelm Heyse in diesem Teil kaum unterstrichen. Es folgt darauf eine sehr traditionnelle Analyse des "Conditionalis" mit zwei Gebrauchsebenen: die Hypothese und Bedingung, wozu sich die Präteritalformen sowohl in dem bedingenden als auch im bedingten Satz eignen (z.B. "Er wäre glücklich, wenn er gesund wäre); und den Potentialis, dessen Formen aus einem elliptischen Konditionalsatz zu erklären sind (z.B. "Es wäre zu wünschen", "ich hätte wohl Lust dazu"). Der Optativ schließt an als Subjunktiv- und Konditionalform: Als subjunktive Form stellt er 171 172
Vgl.obenKap.il. AL (1838: 766).
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den Inhalt eines Wunsches als rein Gedachtes dar (z.B. "Lang lebe der König!"), und als konditionale Form das "Gegenteil von dem, was wirklich ist oder als möglich gedacht ist" (ζ. B. das Bedauern: "Wäre er doch gesund!") In dieser Darstellung zeigt sich, daß zwei Konjunktiv-Reihen im Sinne Etzlers Carl Wilhelm Heyse eigentlich fremd bleiben. Wegen seiner Analyse des Potentialis kann man nicht zwei allgemeine Einteilungen aufstellen, in der einerseits die Präsensformen und Futurformen in [werd-] zum Ausdruck der indirekten Rede und des Wunsches, andererseits die Präteritalformen und Futurformen in [würd-] zur Äußerung des Irrealis stünden. Übrigens stellt Heyse in Übereinstimmung mit früheren Ausgaben am Ende seiner Ausführungen über die Modi eine wenn auch kurzgefaßte Korrespondenz zwischen den "Zeiten" im Indikativ und im Konjunktiv auf. In kleinen Buchstaben, im Rahmen einer Anmerkung 173 , wird der fundamentale Wert des Konjunktivs und seiner Temporalformen anerkannt, die die Verpflichtung zu Etzler und Herling bezeugen (vgl. oben Kap. II), obwohl der Inhalt der Anmerkung bezüglich zwei "Conjunctiv-Formen" mit der übrigen Darstellung nicht völlig übereinstimmt: Es erhellt sich aus dem Obigen, daß die verschiedenen Conjunctv-Formen in Hinsicht ihrer Bedeutung und Anwendung nicht auf die Zeiten beschränkt sind, denen sie ihrer Form nach angehören. 'Er sei, er habe, er spreche', beziehen sich keineswegs ausschließlich auf die Gegenwart. Es heißt nicht bloß: 'man sagte, er sei krank', und: 'man wird sagen, er sei krank'. Die Präteritalformen 'er wäre, er hätte, er spräche', beziehen sich aber offenbar auf die Gegnwart, wenn ich z.B. sage: 'er wäre krank, wenn er nicht sehr mäßig lebte'; 'er spräche gern, wenn er nur dürfte'. Die Sprache bedient sich dieser verschiedenen Zeitformen nicht, um Zeit-Unterschiede, sondern um die oben entwickelten m o d a l e n Begriffsunterschiede und Gebrauchsweisen des Conjunktivs auszudrücken. Die Zeitform dient hier zum Ausdruck für Unterschiede des Modus."
Diese grundsätzliche Einsicht über die modale Deutung der Tempora wird von Otto Lyon wortwörtlich in seinen Ausgaben der Heyse Grammatik am Ende des Jahrhunderts übernommen werden. 174 3.4.2.2. Modi und Tempora nach 1840 Ab 1840 geht bereits in die Ausgabe der Schulgrammatik von 1840 der modale Wert der Tempora im Konjunktiv in die Grammatik von Carl Wilhelm Heyse ein. Die consecutio temporum ist endgültig abgeschafft. Es werden zwei Konjunktivreihen unterschieden, die Präsensformen des Konjunktivs (d.h. Konjunktiv I) und seine Präteritalformen (d.h. Konjunktiv II). Die Anwendungsbereiche der Tempora in der abhängigen Rede werden klar beschrieben und die bisher am Rande stehenden Futurformen in [würd-] integriert. Der Potentialis wird in bestimmten Sätzen (Potentialsätzen) ausgedrückt, und ist 173 AL (1838: 769). Von Heyse hervorgehoben. Vgl. beispielsweise Deutsche Grammatik (1900: 355).
174
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
keine "offizielle" Kategorie mehr des Konjunktivs wie noch einige Jahre zuvor. Leider werden auf theoretischer Ebene diese Einsichten nicht ausgebaut, weder in den nach 1850 erscheinenden von Carl Wilhelm Heyse und seinen Brüdern besorgten Ausgaben, noch in den Neuausgaben der Schulgrammatik von Otto Lyon, bei dem die [würd-]-Formen dem Konditionalis angehören. Auch die begriffliche und aspektuelle Analyse der Tempora bleibt bis 1913 den Darstellungen der Schulgrammatik von 1825 und der TPdG von 1827 treu, unter Ausschluß des relationalen Werts der Tempora (vgl. oben). Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind auch die Darstellungen zum praktischen Gebrauch der Tempora im Indikativ und die Bezugsebenen zum Sprecher, wie sie im AL und ab 1840 in den Neubearbeitungen der SG erschienen, beibehalten.
3.4.3. Fügewörter Die Einteilung der Fügewörter erfährt zwischen 1825 und 1838 eine wichtige Änderung. Theodor Heyse hatte 1825 die Unterscheidung von beiordnenden und unterordnenden Konjunktionen eingeführt. Zur zweiten Kategorie zählten alle Nebensätze einleitenden Wörter, Subjunktionen und Fügewörter. Der semantischen Analyse der Konjunktionen folgte ihre Klassifikation in drei Arten von eingeleiteten Nebensätzen, nämlich substantivischen, adjektivischen und adverbialen. 1838 behält Carl Wilhelm Heyse zwar das wesentliche Kriterium einer funktionalen Opposition von Subordination und syntaktischer Koordination bei, setzt aber streng semantische Kategorien ein, die ihm als übergeordnete Einteilungseinheiten dienen. In kaum veränderter Gestalt bleibt Otto Lyons Klassifizierung in den späteren Ausgaben der Darstellung Carl Wilhelm Heyses treu. In den Tabellen auf folgenden Seiten (S. 248-249) werden vergleichend die Einteilungen Theodor Heyses und die von Carl Wilhelm Heyse gegenübergestellt. Das vereinfachte Schema von Carl Wilhelm Heyses neuer Klassifikation stellt den großen semantischen Reichtum der koordinierenden Konjunktionen dar. Es zeigt aber nicht den von ihm getroffenen Unterschied bei der Satzverbindung und der Beiordnung im allgemeinen zwischen der "disjunktiven" und "kopulativen" Verbindungsweise, je nachdem die koordinierten Einheiten begrifflich verwandt ("Er ist mein und dein Vater") oder als getrennte Vorstellungen oder Gedanken aufzufassen sind ("meine und deine Bücher"). Aufgrund ihrer Unveränderlichkeit und ihrer Etymologie bringt Heyse die Konjunktionen wie die Präpositionen mit den Adverbien in Verbindung175; deshalb überrascht es nicht, daß in seiner Liste Partikeln und Adverbien stehen. Das Ausführliche Lehrgebäude analysiert auch die Modalisierung der Aussagen viel genauer, bringt aber im Vergleich zu den Darstellungen von 1825 und 1827 175
Kapitel "Konjunktionen", AL (1838).
Syntax und Strukturierung
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keine Neuerungen. Das Schema bleibt 1878 unverändert. Die vorwiegend syntaktische und funktionale Klassifikation von Theodor Heyse ersetzt Carl Wilhelm Heyse durch eine semantische. Obwohl er keine semantische Grammatik nach dem Modell Beckers anstrebt, gelingt es ihm, durch sukzessive Analysen der Wortarten, der Sätze und der Periode die semantische Dimension immer vor die Grammatikalität zu setzen. Im AL nimmt bei Heyse der Satz eine zentrale Stelle ein. Bei der Analyse des Satzes und der Klassifikation der Sätze dominiert Heyses philosophischtheoretisches Gebäude. Der im Kapitel über die Wortarten vorgenommenen Trennung von "Form" und "Stoff' entsprechen auf Satzebene die beiden komplementären Aspekte von "Form" und "Inhalt". Die Klassifizierung der Sätze erfolgt nach drei Kriterien, die von der Tätigkeit des theoretischpraktischen Geistes abhängen, nach "Inhalt" in Erkenntniss- und Begehrungssätze, der "Form" (d.h. Art der Assertion, affirmative oder negative Sätze) und der "Modalität". Die Abhängigkeitsverhältnisse im erweiterten Satz werden anhand des syntaktischen Ranges der Bestimmungen untersucht: Es gibt direkte ("unmittelbare") oder vermittelte ("mittelbare", durch ein "Formwort", im allgemeinen durch eine Präposition eingeleitete) Beziehungen zum determinierten, nominalen, verbalen oder adjektivischen Element. Über diese Einteilung schiebt sich eine weitere Hierarchie, in der Nebenbestimmungen von Haupt- oder Satzbestimmungen unterschieden werden. Herlings wieder zu Ehren gekommene Dreiteilung wird durch drei Arten der Unterordnung ergänzt: Dependenz, Beiordnung und Einordnung. Bei der Behandlung des zusammengesetzten Satzes kann Heyse diese Dreiteilung wieder aufgreifen. Er unterscheidet also mit Herling wieder zwischen Substantiv-, Adjektiv- und Adverbialsätzen, trennt aber ihr Wesen von der Funktion im Satz. Es folgt eine Aufstellung aller Kombinationsmöglichkeiten auf Satzebene. Man kann zwar gewisse Einflüsse anderer Grammatiker, ζ. B. Harnisch, feststellen, die große Eigenständigkeit Heyses bleibt aber deutlich. Anders als Becker hat er seine Überlegungen zur Sprache in ein äußerst kohärentes System gebracht, das in vollkommener Übereinstimmung mit seinem philosophischen System steht.
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838 - 1914): Vereinheitlichung
Klassifizierung der Konjunktionen bei Theodor Heyse (1827) BEIORDNENDE
UNTERORDNENDE
Fügewörter der Gegenstandssätze: anfügende fortsetzende erteilende ausschließende vergleichende entgegensetzende folgernde begründende bedingende einräumende
ob, daß Fügewörter der Adjektivsätze: erläuternde (als) beschränkende (außer daß, als daß) Fügewörter der Umstandssätze: ortbestimmende zeitbestimmende vergleichende folgernde begründende zweckliche bedingende einschränkende einräumende verhaltliche
Strukturierung und Syntax
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Carl Wilhelm Heyses und Otto Lyons gemeinsame Klassifizierung (1838-1914)
I. BEIORDNENDE
II. UNTERORDNENDE
FORM DER V E R H Ä L T N I S S E ^ - - ^ A . ÄUßERLICHE VERKNÜPFUNG
B . VERHÄLTNISSE DER ENTGEGENSETZUNG
C . ORTS- UND ZEITVERHÄLTNIB
D . QUALITÄT, QUANTITÄT, INTENSITÄT
E . KAUSALE VERHÄLTNISSE
F . VERHÄLTNISSE DER WEISE
1. anfügende (positiv, negativ) 2. fortsetzende (kontiunative) 3. eintheilende, (partitive) 4.entgegensetzende (beschränkend, aufhebend) 5. sich gegenseitg ausschließend 6. ortbestimmende 7. zeitbestimmende
1. ortbestimmende 2. zeitbestimmende
8. vergleichende 9. verhaltliche 10. einschränkende
3.vergleichende 4. verhaltliche 5. einschränkende
11. folgernde 12. begründende 13. zweckliche 14. bedingende 15. einräumende
6. folgernde 7. begründende 8. zweckliche 9. bedingende 10. einräumende 11. Modale FUgesätze der Weise= Umstandssätze (von Otto Lyon in D. klassifiziert, einziger Unterschied Uberhaupt in dieser Tabelle)
G . GRAMMATISCHE
12. Adjektivsätze
BESTIMMUNGS- ODER ABHÄNGIGKEITSVERHÄLTNISSE
13. Gegenstandssätze (daß, ob)
4. Otto Lyon und die Heysesche Grammatik Mit dem Tod von Gustav Heyse, der nach seinem Bruder Theodor die Neuausgabe der grammatischen und lexikalischen Werke Carl Wilhelms weitergeführt hatte, endet die Arbeit der Familienmitglieder an den Grammatiken. Der Fortbestand des grammatischen Werkes wird durch Otto Lyon177, einen Grammatiker der historischen Schule, gesichert, der es überarbeitet und unter dem Namen des ersten Verfassers, Johann Christian Heyse, weiter publiziert. 1885, zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner ersten Neubearbeitung des Leitfadens, ist er bereits durch verschiedene Beiträge zur Literatur und Grammatik bekannt, vor allem durch den von ihm neu bearbeiteten Deutschen Styl von Karl Ferdinand Becker. Außer dem Leitfaden besorgt Otto Lyon fünf große Neuausgaben der Schulgrammatik, und zwar 1886, 1890, 1900 und 1913. 1914 erscheint auf Anregung Willy Scheels eine weitere Überarbeitung der letzten Neuausgabe. Seit 1886 heißt die Grammatik nicht mehr Theoretisch-praktische Schulgrammatik, sondern nur noch Deutsche Grammatik. Damit verweist der Bearbeiter auf den Charakter eines allgemeinen Nachschlagewerks ohne didaktische Vorgaben. Die Übungen sind in dieser Ausgabe, die im wesentlichen der 1850 überarbeiteten Fassung der Schulgrammatik folgt, ganz weggelassen. Im Vorwort zur 24. Ausgabe würdigt Otto Lyon die Arbeit seiner Vorgänger und betont, wie stark Heyses Grammatiken eine Vielzahl neuerer deutscher Grammatiken beeinflußt haben, insbesondere die Karl Weinholds, Andresens und Wilmanns'. Aus heutiger Sicht gibt es verschiedene Stellungnahmen: Linguisten wie Werner Neumann178 betonen, daß Otto Lyon als Neuerer der deutschen Grammatik und Orthographie zu gelten hat. Bernd Naumann179 weist dagegen vor allem auf Lyons große Verpflichtung gegenüber der allgemeinen Grammatik bei der Definition der Wortarten hin. Hans Dieter Erlinger geht auf Otto Lyons eigene grammatische Arbeiten ein. Seine Deutsche Grammatik von 1897 schließt mit einem Kapitel zur Sprachgeschichte, die in den übrigen Kapiteln nicht mehr berücksichtigt wird. Erlingers Bemerkung zum Aufbau und zu Lyons Methode könnte sich aber genau so gut auf seinen großen Vorgänger und auf das Ausführliche Lehrgebäude von 1838/49 wie auf die Ausgaben der Schulgrammatik ab dem Jahr 1850 beziehen, wenn er das Bemerkenswerte an 177 178 179
Vgl. Kap. I. (1985: 204f.) (1986: 176).
Otto Lyon und die Heysesche Grammatik
251
einer Grammatik betont, die "an erster Stelle den Satz untersucht, Satz- und Wortlehre nicht trennt und schließlich mit 'einer Lehre des zusammengesetzten Satzes' endet" 180 , - wobei das Verhältnis zwischen Satz- und Wortlehre so zu verstehen ist wie bei Carl Wilhelm Heyse, der in seiner Syntax die Lehre von der Kongruenz der Kasus- und Rektionslehre anschloß. Die Morpho-Syntax von Johann Christian Heyse, die in der Definition der Redeteile die syntaktische Funktion und die Begriffsbestimmung des jeweiligen Redeteils (nature) vermengte, ist definitiv überholt und unmöglich geworden.
4.1. Treue zum Aufbau der Grammatik und zur Syntax von 1838/1849 Otto Lyons Tätigkeit versteht sich in der Treue zur Grammatik von 1838/1849. Alle von ihm besorgten Neuausgaben folgen streng dem Aufbau des Ausführlichen Lehrgebäudes von 1838/49, dessen Gliederung in vier Teile zerfiel: l)Laut- und Schriftlehre, 2) Wortlehre, 3) Syntax, (Lehre des Satzes, Wort-und Satzfügung), 4) Metrik. Die Interpunktion wird wie in der früheren Ausgabe am Ende des dritten Teils abgehandelt. Bei der inneren Anlage der Kapitel wird wie 1838/1849 vorgegangen. 181 Die Syntax behandelt in derselben Reihenfolge wie Heyse zuerst die Arten und Bestandteile des Satzes im allgemeinen, wobei die Progression vom einfachen zum zusammengesetzten Satz weiter besteht, dann im Rahmen der Wort- und Satzfügung die Wortfügung (Kasus- und Rektionslehre) und Kongruenzlehre, die Wortfolge, und schließlich die Satzfügung und Satzfolge im Rahmen der Periode. Otto Lyon setzt die von Heyse auf der Grundlage seiner philosophischen Grammatik erarbeiteten Kategorien wieder ein, ohne allerdings die theoretische sprachphilosophische Begründung zu übernehmen.
4.1.1. Primat des Satzes und Wortarten Die anfängliche allgemeine Darstellung der verschiedenen Wortarten beginnt genau so wie in der 1878 noch von Gustav Heyse besorgten Ausgabe. Sprache ist "Vernunftsprache" und "Gefühlssprache". Wörter stehen in der Vernunftsprache als hörbarer Ausdruck einer "Vorstellung" den "Naturlauten" oder Interjektionen der Gefühlssprache gegenüber. Carl Wilhelm Heyse hatte sie in drei Gruppen unterteilt: Onomatopäen, Empfindungslaute und Lautgebärden.
180 181
(1969: 23f.). Nur die Metrik wird grundlegend Uberarbeitet. Hier nicht dargestellt. Aus der Neufassung der Metrik geht übrigens hervor, daß Lyon das quantitative Prinzip aufgibt.
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Die Grammatik von Johann Christian Heyse (1838-1914): Vereinheitlichung
Bei den Wörtern gibt es zwei Arten, nämlich die von Carl Wilhem Heyse genannten "Stoffwörter" und die relationalen "Formwörter". Das Klassifikationsschema ist mit dem von 1838 identisch. Otto Lyon hebt den Primat des Satzes hervor, auf den die Wortarten bezogen werden. Die Formulierung lehnt sich direkt an Carl Wilhelm Heyse an: Die weiteren verschiedenen Wörter beruhen auf der Art und Weise, wie die Vorstellungen im Zusammenhang der Rede gefaßt werden. Die weiteren Wortarten können daher nur aus dem Begriffe des Redesatzes entwickelt werden, dessen Bestandteile sie sind.1*2
Den Satz definiert er weiterhin in der Kontinuität seines Vorgängers als den Ausdruck eines allgemeinen Gedankens und das Resultat einer komplexen Operation des Geistes, in der die Wahrnehmung von der Vernunft in ihre verschiedenen Bestandteile auf der Ebene der Vorstellung zerlegt wird: Ein Satz ist ein ausgesprochener Gedanke oder eine vollständige Aussage von dem Gedachten. Eine solche Aussage entsteht, indem der Verstand die Einheit einer Wahrnehmung in ihre Bestandteile zerlegt und diese wiederum zu der Einheit eines Gedankens verknüpft.1®3
Otto Lyon behält wie Carl Wilhelm Heyse in seiner allgemeinen logischen Begriffsbestimmung des Satzes die vorgegebene Zweiteilung in Subjekt und Prädikat bei, die die Funktion der Kopula verschweigt, während die genaue Untersuchung des deutschen Satzbaues auf einzelsprachlicher Ebene letztere integriert. Die generelle Formulierung des prädikativen Verhältnisses hat durch den Hinweis auf die Beschaffenheit eines Dinges und seiner selbständigen und unselbständigen Merkmale (accidens) noch traditionellere Akzente als die Carl Wilhelm Heyses umso mehr, als Otto Lyon die Grundlagen von Carl Wilhelm Heyses Bewußtseinstheorie ausklammert und nur flüchtig die Stoffwörter (welche Substantive und Verben umfassen) definiert: Der Verstand trennt also die Vorstellung des selbständigen Dinges von der seiner unselbständigen Merkmale, und indem er ein solches Merkmal dem Dinge ausdrücklich beilegt oder von demselben aussagt, entsteht der Redesatz. 184
Selbst wenn die Schulgrammatik Carl Wihelm Heyses knappe Formulierungen aufwies, so war sie auf dem Hintergrund des AL gedacht, das sie in jeder hinsieht ergänzte. Bei Lyons neuer Ausgabe hingegen gibt es keinen weiteren und umfassenderen Bezugspunkt. Lyon übernimmt das Primat des Satzes, ändert aber dessen Bedeutung. Stärker als Carl Wilhelm Heyse oder vor ihm Johann Christian Heyse steht er in der Nachfolge der Grammatiken Adelungs und Meiners185, die dem Prädikat eine wichtigere Rolle zuteilten als dem Subjekt. Das Syntax-Kapitel beginnt mit einer Definition186 des Redesatzes, in der die Anwesenheit eines konjugierten Verbs zum Ausdruck eines Gedankens 182 183 184 185 186
SG (1878: 56), und Deutsche Grammatik (1886: 57). Ebenso im Leitfaden (1885). Deutsche Grammatik (Ebd.). (Ebd.: 57f.). Vgl. oben, Kap. II. Zur ambivalenten Haltung Adelungs vgl. Forsgren (1973). Auch (1914: 414).
Otto Lyon und die Heysesche Grammatik
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zum ausschließlichen Kriterium gemacht wird. Diese Definition ist so allgemein wie möglich gehalten und im Gegensatz zu Heyse durch andere philosphische Betrachtungen wie z.B. die Verbindung zu den möglichen Formen des logischen Urteils nicht relativiert. Im übrigen scheint Otto Lyons Formulierung sich zum Teil mit der Definition des Grammatikers Franz Kern zu treffen, der einen großen Einfluß auf die Grammatiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausilbte. Seine Ansichten schlugen in einiger Hinsicht einen Weg ein, der bei Carl Wilhelm Heyse u.a. erkennbar ist. Kem unterscheidet wie vor ihm Carl Wilhelm Heyse den Satz vom Ausdruck eines Urteils: "Die ganze Auffassung des Satzes als einer logischen Aussage, die Identifizierung von Satz und Urteil ist also nicht zu billigen."187 Über die Rolle des Verbs schreibt er eindeutig und radikaler als ein Grammatiker wie ζ. B. Carl Wilhelm Heyse: 188 Der satzbildende Redeteil ist das finite Verbum.
189
[...] den Satz definieren als einen mit Hülfe eines finiten Verbums ausgedrückten Gedanken. Alle Worte einer Sprache sind entweder Resultate einer Denkthätigkeit oder Ausdruck einer sich eben vollziehenden Denkthätigkeit. Das Letztere wird sprachlich nur durch das finite 190 Verbum ausgedrückt und vermittelst desselben durch den ganzen Satz [...].
Damit ist Kern ein entschiedener Gegner der Grammatiker, die wie Trendelenburg den Satz in aristotelischer Tradition als Ausdruck eines logischen Urteils verstehen. Die Idee einer Kopula stellt er ernsthaft in Frage, denn sie ist nur auf logischer Ebene zu rechtfertigen, nicht aber in bezug auf den Satz. Das Verb hat absolute Vorrangstellung, es ist "die wichtigste Wortklasse für sich". Es ist mehr als nur einfache Wortart oder Satzteil, nämlich "der Satzkeim, die Satzwurzel, ohne welche der Baum des Satzes gar nicht bestehen kann."191 Sowohl sein Grundriß als auch die Satzlehre bilden Sätze in Strukturbäumen ab, in denen die einzelnen Bestimmungen vom Verb abhängen; diese Darstellungsweise hat eine große Ähnlichkeit mit den viel späteren Strukturbäumen der Dependenzgrammatik. Dort, wo Carl Wilhelm Heyse Hinweise zu einer zentralen Stellung des Verbs gibt, sie aber nicht unbedingt weiter verfolgt, versucht Kern zu interpretieren und zieht die Konsequenzen zum Status der anderen Satzteile in der Beziehung zum zentral gelegenen Verb. Eine wichtige Tendenz der Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert kündigt sich hier an. Bei Lyon ist ein ähnliches Interpretationsschema nicht vorhanden. Obwohl das Verb auch für ihn "wichtigster Bestandteil" des Satzes ist, geht er auf dessen logische Struktur ein: In seiner "Materie" enthalte der Satz die "Begriffe" von Subjekt und Prädikat192, in seiner "Form" die Kopula. Lyon legt also dem Redesatz 187 188 189 190 191 192
Kern (1888: 23). Kern (1885: 1). Kem (1888: 30). (Ebd.: 25). (Ebd.: 5f.). Deutsche Grammatik (1886: 277f.).
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