Die Gliederpuppe: Kult - Kunst - Konzept 3110457105, 9783110457100

Mannequins are mobile sculptures in human shape. For the first time, the monograph describes their cultural roots in Chr

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German Pages 592 [615] Year 2016

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Table of contents :
FM
TOC
Einleitung
1. Gliederpuppen im Altertum
2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum
3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter
1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance
2. Gliederpuppen nördlich der Alpen
3. Gliederpuppen als kunstvolle Schöpfung – die Kleinplastiken des I .P.
1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper
2. Der Statuswandel der Gliederpuppe
3. Phänomenologie der Gliederpuppe
Schluss
Literatur
Sekundärliteratur
Personenregister
Bildnachweise
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Die Gliederpuppe: Kult - Kunst - Konzept
 3110457105, 9783110457100

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Die Gliederpuppe

Band XIX

Actus e t I m ag o Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant Schriftleitung: Marion Lauschke

Markus Rath

Die Gliederpuppe Kult – Kunst – Konzept

Publiziert mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Exzellenzclusters "Bild Wissen Gestaltung. Ein Interdisziplinäres Labor" der Humboldt-Universität zu Berlin. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Einbandgestaltung unter Verwendung von Francesco Colonna: „Hypnerotomachia Poliphili“, 1499 (Vorderseite). 3D-Computertomographie der Leipziger Gliederpuppe © Klaus Bente/ Alexandra Franz/Christian Jürgens, Universität Leipzig/Grassi Museum für Angewandte Kunst (mit freundlicher Genehmigung) (Rückseite).

ISBN 978-3-11-045710-0 e-ISBN 978-3-11-059621-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

© 2016 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Redaktionelle Mitarbeiterin der Reihe: Johanna Schiffler Reihengestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Printed in Germany Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis



Vorwort



Einleitung

XI 1

I Kult

7



9

1. Gliederpuppen im Altertum



a Ägypten



b Griechenland



Additive Bauweise Erste Gliederpuppen: Figuren mit beweglichen Beinen und Armen Spielfiguren und Fruchtbarkeitsfigurinen Gegliederte Apotropaia Das zergliederte Körperbild der Ägypter Böotischer Glockentypus Archaisch-frühklassische Gliederpuppen Klassisch-hellenistische Gliederpuppen Spielzeug, Hochzeitsopfer oder Votivgabe? Gliederpuppen als ideale parthenoi

c Rom



Crepereia Tryphaena Gliederpuppen in christlichen Katakomben Vom Verschwinden der Gliederpuppe

9 9 12 17 24 28 30 31 33 35 40 47 55 55 67 69



2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum



a Bewegliche Christusfiguren



Statue vestite Bewegliche Christuskinder

c Transformationen



79 83 84 95 101 109 112 119

b Bewegliche Marien, Prozessionsfiguren und Christuskinder 125



Typen beweglicher Christusfiguren Allgemeiner Kreuzabnahme-Typus Pietà-Typus Mirakelmann-Typus Verismus-Typus Bedingungsfelder: ‚Gestorbener Mensch‘ und ‚Fühlender Leichnam‘ Amplexus-Motiv und körperlicher Glaubensvollzug

73

Automatisierung, Stillstand und Fortleben

125 136 145 145

3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

149

a Körperpolitik: Bewegliche Effigies

150





b Mode und Wissenschaft



Ad similitudinem – Die Fassungen des Herrscherkörpers Gestaltfixierung Gestaltveränderung Bewegende Begräbnisse Gliederpuppen als bewegliche Modepuppen Moderne Mannequins Crash-Test-Dummys Anatomische Gliederpuppen

c Spiel



Typen gegliederter Spielpuppen Gegliederte Erwachsenenpuppen des kindlichen Spiels Gegliederte Kinder- und Babypuppen Puppen für Erwachsene Marionetten

150 155 161 165 175 175 186 197 203 212 215 217 222 226 229

II  Kunst

265



267

1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance



a Schriftquellen



b Bildquellen



Bildinventare früher Akademiebilder Sprezzatura als Handlungsanweisung

2. Gliederpuppen nördlich der Alpen



a Albrecht Dürer





Dürers Import und Gebrauch Dürers Nachfolger – Erhard Schön

b Niederlande



Die Gliederpuppe im Atelier Die Gliederpuppe im Zeichenbuch – Biens, van de Passe, de Lairesse Eine ‚Querelle du mannequin‘ in der Académie Royale Die Gliederpuppe im deutschen Sprachraum Historische Exemplare

3. Gliederpuppen als kunstvolle Schöpfung – die Kleinplastiken des I.P.



a Die Werkgruppe



Gliederpuppen der nordalpinen Renaissance

b Bestimmungen



267 274 283 291 292 309 313 313 318 325 325 325 337 346 347 361

c Theorie und Praxis – Akademie und Privatatelier bis 1850 372



Draperie- und Modellstudien Figurenarrangements und Szenerien

c Das verheimlichte Modell



Die erste Quelle - Filaretes „figuretta di legniame“ Gliederpuppen und plastische Modelle in Vasaris Vite Modellvarianten in Quellen des Cinquecento – von Armenini bis Zuccari

267

Atelierhilfsmittel oder Kunstkammerstück? „Galantes Spielzeug“

c Schöpfung



Die Gliederpuppe als Geschöpf

372 379 396 409 409 409 430 430 436 441 441

III Konzept

447



451

1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper



a Auge und Hand



451

b Variabilität und Stillstand

458



Die Gliederpuppe als bildliche Kubenfigur – Luca Cambiaso

2. Der Statuswandel der Gliederpuppe



a Lebendes Modell





Das gegliederte Gegenüber Die Gliederpuppe als Komparsin

b Symbol des Seelenlosen



Die Gliederpuppe als Realitätsallegorie Das abgelegte Modell Entseelte Gliedergestalten

c Fortleben der bewegten Form



Figurationen des bozzare

c Denkfigur Gliederpuppe



Der Gliederpuppenkörper als Idealform Bellmers Puppen – Fetisch und „Gelenk“ Gliederpuppen bis zur Gegenwart – von altmeisterlich bis digital

3. Phänomenologie der Gliederpuppe



a Verkörperungen



451

Das Konzept des rilievo



Variabilität als Körperkonzept

b Formen-Sprache



Die Gliederpuppe als literarisches und strukturalistisches Motiv

458 468 468 475 477 477 480 485 485 491 496 506 506 510 521 535 535 535 542 542

c Medium des ‚Extended Mind‘

547

Apperzeption, Appetition und Affordance Schluss

548



551

A nhang

555



557 557 560 597 599 607



Literatur Primärliteratur Sekundärliteratur Nachschlagewerke Personenregister Bildnachweise

Einleitung

Die aus Mammutelfenbein geschnitzte, etwa sechs Zentimeter hohe Venus vom Hohle Fels (ca. 35.000 v. Chr.) besitzt anstatt eines Kopfes eine Öse, durch die eine Trageschnur gezogen werden kann (Bild 1). Hieraus erschließt sich formal ihre Funktion als Talisman, indem erst das Haupt der Trägerin die Figur zu einer zweigliedrigen Hybridgestalt aus künstlichem Körper und natürlichem Kopf vervollständigt.1 Ähnlich groß und mit vergleichbar prominent ausgeformten weiblichen Geschlechtsmerkmalen versehen wie die steinerne Venus von Willendorf, gilt sie als eine der ersten dreidimensionalen Darstellungen des Menschen und steht gleichsam am Beginn des menschlichen figurativen Schaffens. Anders als weit früher gefertigte Werkzeuge der Jagd und der Arbeit sind diese figürlichen Objekte vor allem in kultischen Praktiken verhaftet. Im Fall der Figur vom Hohle Fels sollten auf die Besitzerin die der Venus zugeschriebenen Eigenschaften, insbesondere jene der Fruchtbarkeit, übergehen.2 Die durch Um­binden generierte Körperform aus Elfenbeinfigur und Trägerinnenhaupt zieht in eindringlicher Weise unterschiedlichste Entwicklungslinien menschlichen Gestaltens zusammen: Neben die Fähigkeit zur Herstellung einer anthropomorphen Skulptur tritt die überproportionale Aufladung der Geschlechtsmerkmale und schließlich die Abstraktionsleistung, ein Mischwesen zu kreieren, dessen gegliederter Leib sich erst während des Getragenwerdens vervollständigt. Trotz dieser spannungsgeladenen Doppelgliedrigkeit handelt es sich bei der schwäbischen Venus noch nicht um eine Gliederpuppe im Sinne der vorlie1

2

Nicholas J. Conard, Maria Malina: Spektakuläre Funde aus dem unteren Aurignacien vom Hohle Fels bei Schelklingen, Alb-Donau-Kreis, in: Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2008, Stuttgart 2009, S. 19–22. Vgl. Nicholas J. Conard: Die erste Venus, in: Susanne Rau u. a. (Hg.): Eiszeit. Kunst und Kultur, Ostfildern 2009, S. 268–271; Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 26–33.

2  

Einleitung

genden Untersuchung. Als Urgestalt der Gattung Gliederpuppe gilt eine etwa 26.000 Jahre vor Christus entstandene männliche Elfenbeinstatuette, die 1891 bei Konstruktionsgrabungen im tschechischen Brno in einer Grabstätte entdeckt wurde (Bild 2). Die ursprünglich etwa 23 cm hohe Figur erweist sich durch angedeutete Haarsträhnen, Augenhöhlen und Nase sowie die hervorspringenden Brustwarzen, Nabel und Penis als deutlich anatomisch markiert. Wenn-

Bild 1: Venus vom Hohle Fels, ca. 35.000 v. Chr., Mammutelfenbein, Höhe ca. 6 cm, Institut für Ur- und Frühgeschichte, Sammlungen der Universität Tübingen.

gleich nur drei Körperfragmente in leidlichem Zustand erhalten sind, verweisen einander entsprechende Bohrungen an Hals und Kopfbasis auf eine mögliche Steckverbindung, während eine Durchbohrung links des Geschlechtes von einer einfachen additiven Anbringung der Beine zeugt.3 Die durch Verknüpfungen bewirkte Gliederung der Skulptur bedeutete einen dramatischen Zuwachs an bildlicher Kompetenz. Indem die anthropomorphe Gestalt mit Bewegungspotential ausgestattet wurde, vermochte sie nun die mit ihr vollzogenen Figurationen dynamisch durch Haltungsänderungen in besonderem Maße zu vergegenwärtigen. Damit scheint ein kultischer Einsatz als heiliger Talisman oder als handelnde Götterfigur wahrscheinlich, doch auch

3

Vgl. Ausst. Kat.: Ice Age Art. The Arrival of the Modern Mind, hg. v. Jill Cock, London 2013, S. 99–102.

3  

Einleitung

Bild 2: Männliche Figur mit beweglichen Gliedmaßen, ca. 26.000 v. Chr., Mammutelfenbein, Kopf: 6,7 cm, Körper: 13,5 cm, Moravské Museum Brno. (Farbtafel 1)

ein Einsatz als performative Spielfigur ist möglich.4 Die hier aufscheinende Frühform der Gliederpuppe ist einzigartig, bleibt über Jahrtausende ohne bekannte Nachfolger und sollte erst im Altertum mit den ägyptischen Gliederfigurinen eine verstetigte Form annehmen. Dennoch gibt bereits dieser frühe Gliedermann Hinweise auf die entscheidenden Parameter der zu untersuchenden Skulpturengattung. Die vorliegenden Forschungen zielen ab auf eine erstmalige umfassende wissenschaftliche Darstellung beweglicher Skulpturen in Menschengestalt. Die 4

Zur Deutung als Talisman und Götterfigur vgl. Victoria Nelson: The Secret Life of Puppets, Cambridge, MA 2001, S. 25. Jill Cock geht darüber hinaus von einer theatralischen Funktion als Frühform einer Schattentheaterfigurine aus: „Its spectral appearance and the shadows it could perhaps have made on the walls of a tent if suspended in firelight add a sense of theatre to the way it may have been seen 26,000 years ago.“ Ausst. Kat.: Ice Age Art, S. 102.

4  

Einleitung

damit beschriebene Gattung der Gliederpuppe (engl. jointed doll, lay figure; ndl. manneken, leeman, ledepop; ital. manichino; frz. man(n)equin) umfasst alle mechanisch beweglichen anthropomorphen Artefakte, die aufgrund ihrer Gelenkverbindungen eine Gestaltveränderung erfahren können. Die Gliederungsformen reichen von einfachsten Ösen und Steckverbindungen über Scharnier- und Scheibengelenke bis hin zu aufwendigen Kugelgelenken. Der Grad an Beweglichkeit kann gleichermaßen variieren, von einzelnen Körperpartien, wie Arme oder Kopf, über den gesamten Körper bis hin zu Finger- und Zehenspitzen. Die Bewegungsheterogenität ist in unterschiedlichsten Ausprä­ gungs­formen observierbar, zeigt sich bei beweglichen Kultfiguren ebenso wie bei Spielpuppen, bei Modemannequins oder bei den tradierten Ateliermodellen. Entscheidend für die Zuordnung in die Kategorie ‚Gliederpuppe‘ ist eine Bewegungsfähigkeit als ein mechanisches Potential, das durch den Austausch mit dem Rezipienten aktiviert werden kann, indem dieser manuell eine Figurationsbeziehungsweise Haltungsänderung herbeiführt. In diesem Sinne können für die Gattung der Gliederpuppe neben ihrer grundlegenden Eigenschaft, ein anthropomorphes Gegenüber darzubieten, drei weitere Hauptcharakteristika bestimmt werden: 1. eine genuine Beweglichkeit, d.h. die Möglichkeit einer manuellen Ausführung der durch die Gelenke vorgegebenen Bewegungsmuster, 2. eine bipolare Gestalt, d.h. die Disposition zwischen Stillstand und Veränderung sowie 3. eine stets unabgeschlossene Form, d.h. eine Variabilität, die nie auf eine einzige Figuration festgelegt bleibt. Mit dieser Definition ist die Gliederpuppe von ihren Schwestergattungen zu unterscheiden, zwischen welchen sie anzusiedeln ist: statische Skulpturen und eigenbewegliche Automaten. Diese sind ebenso aus dem Untersuchungsrahmen ausgeschlossen wie mechanisch bewegliche Objekte ohne anthropomorphe Ge­ stalt. Während der Versuch unternommen werden soll, die Großgattung der Gliederpuppe in ihrer historischen und systematischen Dimension zu erschließen, ist der geographische Fokus auf den europäischen Kulturraum gerichtet. Gliederfiguren aus Asien, Afrika, Amerika und Ozeanien können nicht oder nur am Rande behandelt werden. Die Hauptkapitel Kult, Kunst und Konzept eröffnen drei Untersuchungsräume, die zugleich einer diachronen wie inhaltlichen Disposition unterliegen. Im ersten Hauptteil sind diejenigen Gliederpuppen gefasst, die ihre Bestimmung in religiösen oder profanen Kulthandlungen fanden, also ägyptische, griechische und römische Gliederpuppen der Antike und Figuren des christlichen Kultes und Kulturraums. Dabei wird sich zeigen, dass besonders bei den

5  

Einleitung

frühen und frühesten Gliederpuppen eine strenge Unterscheidung zwischen Kult und Spiel kaum zu rekonstruieren ist.5 In einer Analyse profaner Stellvertreterfiguren, von den Funeraleffigies über das gegliederte Mannequin bis zur Spielfigur, wird der gesellschaftlichen Bedeutung der Gliederpuppe sowie ihrem fortwährend gültigen Einsatz Rechnung getragen. Der zweite Teil widmet sich der Funktion der Gliederpuppe an ihren ‚klassischen‘ Einsatzorten: als Modell in der Künstlerwerkstatt der italienischen Renaissance und Protagonistin der Künstlerausbildung nördlich der Alpen. In Atelier und Akademie, als Ersatzgestalt und ‚Naturvorbild‘, Widerstreiter und Ideengeber, bildete die Gliederpuppe einen stets wiederkehrenden und dabei meist verheimlichten Referenzkörper. Auch in ihrer nur bildlich entwickelten Variante, mithin als bewegliche Denkfigur, war es die Gliederform, die künstlerische Prozesse provozierte und vorantrieb. In Gestalt einer Werkgruppe kleinplastischer Gliederpuppen aus der nordalpinen Renaissance sollte die stets als Hilfsmittel deklarierte Modellform zudem den Status eines autonomen Kunstwerks erlangen. Wie im dritten Hauptteil dargelegt werden soll, ist der gegliederte Kunstkörper nicht allein in seiner materiellen Variante, sondern auch als konzeptuelles Konstrukt von besonderer Bedeutung. Der epistemologische Zuwachs der Gliederpuppe führte seit der Frühen Neuzeit zu einer metaphorischen Aufladung der Gattung. Zunächst als lebendiges Modell gefeiert, wandelte sich ihr Bild bis hin zum Symbol des seelenlosen Geschöpfs. Gleichwohl sollte die Kunst des 20. Jahrhunderts der Gattung, aufgrund ihrer fortwährenden Variabilität, zu neuem Ruhm verhelfen. Somit steht am Ende des dritten Hauptkapitels die Erörterung einer Phänomenologie der Gliederpuppe, beruhend auf ihrer Körpervariabilität, reflektiert in Literatur und Sprache und verkörpert im kognitionswissenschaftlichen Komplex des Extended Mind. Die Aufteilung der Gegenstände in ihr jeweiliges Kapitel ist der Untersuchungsstruktur geschuldet. Sowohl elfenbeinerne römische Gliederpuppen oder bewegliche Christusfiguren des ersten Kapitels als auch die gegliederte Bewegungsfigur Oskar Schlemmers aus dem letzten Hauptteil sind genuine Untersuchungsgegenstände der Kunstwissenschaft. Die Wahl der Kapitel soll dazu beitragen, auf die jeweilige zentrale Funktion und den zugrundeliegenden Einsatzrahmen der Gattungsbeispiele innerhalb des sehr breiten Untersuchungsintervalls zu fokussieren. Die wissenschaftliche Untersuchung der Gliederpuppe konzentrierte sich bislang vornehmlich auf ihre Funktion als Hilfsmittel im Künstleratelier

5

Vgl. die Kategorisierung doll – eidolon in: Stefano De’ Siena: Il gioco e i giocattoli nel mondo classico. Aspetti ludici della sfera privata, Modena 2009, S. 54.

6  

Einleitung

der Frühen Neuzeit,6 widmete sich Einzelphänomenen7 oder einem thematisch, zeitlich oder geographisch fokussierenden Rahmen.8 Wenn mit der vorliegenden Untersuchung erstmals eine Zusammenführung von bekannten und neu erschlossenen Einsatzgebieten der Gliederpuppe unternommen wird, dann im Ansinnen darauf, die mit den Charakteristika der Gattung einhergehenden Bedeutungsdimensionen zu erörtern und für folgende Forschungen bereitzustellen. Dabei kann es sich aufgrund der enormen Anzahl von Realia und medialen Vergegenwärtigungen nicht um einen Katalog der bekannten Gliederpuppen handeln, sondern um eine Analyse der für die Gattung bedeutsamen Intentionen und Wirkungsfelder im Verbund mit einer grundsätzlich am Objekt orientierten Herangehensweise. Als dienende und eigenständige Form hilft die Gliederpuppe Bildwelten zu entwickeln und die menschliche Gestalt greifbar in Erscheinung treten zu lassen. Trotz ihres mitunter unscheinbaren Äußeren erweist sich die Gliederpuppe stets als ein entscheidendes Mittel und Merkmal menschlichen Gestaltens. 6

7

8

Arpad Weixlgärtner: Dürer und die Gliederpuppe, in: Beiträge zur Kunstgeschichte. Franz Wickhoff gewidmet, o. Hg., Wien 1903, S. 80–90; Julius von Schlosser: Aus der Bildnerwerkstatt der Renaissance. Fragmente zur Geschichte der Renaissanceplastik, in: Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 31 (1913/1914), S. 67–135, hier S. 111–118; Joseph Meder: Die Handzeichnung. Ihre Technik und Entwicklung, Wien 1919; Arpad Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, in: Göteborgs Konstmuseum Arstryck (1954), S.  37–71; Evert Frans van der Grinten: Le cachelot et le mannequin, deux facettes de la réalité dans l’art hollandais du seizième et du dix-septième siècles, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 13 (1962), S. 149–180; Marianna Haraszti-Takács: Compositions de nus et leurs modèles, in: Bulletin du Musée Hongrois des Beaux-Arts 30 (1967), S. 49–75; Wolfram Prinz: Dal vero o dal modello? Appunti e testimonianze sull’uso dei manichini nella pittura del Quattrocento, in: Maria Grazia Ciardi Dupre dal Poggetto (Hg.): Scritti di storia dell’arte in onore di Ugo Bocacci, Mailand 1977, S. 200– 208; Claudia Peppel: Der Manichino. Von der Gliederpuppe zum technisierten Kultobjekt. Körperimaginationen im Werk Giorgio de Chiricos, Weimar 2008. Sally Woodcock: Posing, Reposing and Decomposing: Life-size Lay Figures, Living Models and Artists’ Colourmen in Nineteenth Century London, in: Erma Hermens (Hg.): Looking Through Paintings, Leids Kunsthistorisch Jaarboek 11 (1998), S. 445–464; H. Perry Chapman: The Wooden Body. Representing the Manikin in Dutch Artists’ Studios, in: Body and Embodiment in Netherlandish Art, hg. v. Ann-Sophie Lehmann/Herman Roodenburg, S. 188–215. Zur Gliederpuppe in der Moderne vgl. Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten – Phantasmen der Moderne, hg. v. Pia Müller-Tamm/Katharina Sykora, Köln 1999; im Verbund mit der fulminanten Ausstellung Silent Partners (14.10.2014– 25.1.2015 Fitzwilliam Museum, Cambridge sowie 31.3.–12.7.2015 Musée Bourdelle, Paris), die den Schwerpunkt auf Gliederpuppen des 19. und 20. Jahrhunderts legte, vgl. den Ausst. Kat.: Silent Partners. Artist and Mannequin from Function to Fetish, hg. v. Jane Munro, New Haven/London 2014. Eine präzise Überschau bietet: Esther P. Wipfler: Gliederpuppe, in: RDK Labor (2014), URL: [06.02.2015].

1 . G liederpuppen im A ltertum

a   Ä g y p ten Ägyptische Figurinen des ausgehenden dritten Jahrtausends vor Christus zeugen von einer ersten verstetigten Ausprägung der Gattung Gliederpuppe.1 Das Korpus erweist sich dabei als deutlich eingeschränkt, nicht allein durch Verlust, sondern auch dadurch, dass eine bewegliche Bauweise gegliederter Figuren meist nicht mehr mit Bestimmtheit zu rekonstruieren ist. Wenngleich auf den ersten Blick eine Vielzahl von Statuetten durch gesonderte Körperteile in ihrer Gestalt als veränderbar erscheint, waren nur wenige Objekte tatsächlich variabel angelegt.2 Unter den ägyptischen Funden sollen deshalb nur jene figürlichen Artefakte in den Untersuchungsrahmen einbezogen werden, bei welchen ein ur­sprünglich intendiertes Bewegungspotential nachvollzogen werden kann. Diese gegliederten Statuetten bilden wiederum eine heterogene Gruppe. Im Alten Ägypten dienten sie als Spiel- und Erziehungsfiguren sowie als Kultgegenstände in Form von beschützenden Göttern, magischen Helferinnen und vorbildhaften Idolen.3

A dd it ive Bauwe i s e Eine beträchtliche Anzahl altägyptischer Figuren ist nicht aus einem Block, sondern aus mehreren Einzelteilen zusammengesetzt, ein Verfahren, das neben einer einfacheren Fertigungsweise auch einer effizienten Materialnutzung

1 2 3

Kate McK. Elderkin: Jointed Dolls in Antiquity, in: American Journal of Archaeo­ logy 34/4 (1930), S. 455–479, hier S. 456. Vgl. ebd., S. 457, Anm. 1. Alfred Chapuis, Edouard Gélis: Le monde des automates. Etude historique et technique, Genf 1984, S. 8.

10  

I  Kult

Bild 3  Figur eines schreitenden Mannes, VI. Dynastie (ca. 2246–2152 v. Chr.), Holz mit Resten der Fassung, 33 cm, Inv. Nr. 1996.136, Harvard Art Museum/ Arthur M. Sackler Museum, Cambridge, MA.

Bild 4  Statue des Metjetji, V./VI. Dynastie (ca. 2371–2288 v. Chr.), gefasstes Holz, 70 cm, Inv. Nr. 53.222, Brooklyn Museum, New York.

geschuldet war.4 Indem zumeist die Arme im Schulterbereich aus gesondert gefertigten Bauteilen mit Dübeln angefügt wurden, erhalten einige Statuetten einen gliederpuppenhaften Charakter. Exemplarisch zeigt die im ersten Zwischenreich etwa 2150 v. Chr. entstandene, ellenlange Figur eines schreitenden 4

In Ägypten waren hochwertige Holzsorten rar und wurden aus anderen Regionen (etwa aus dem Libanon) importiert. Einige einheimische Gehölze (Platane, Lorbeer, Weide) besaßen mythische Bedeutung, zudem verweisen ägyptische Texte auf ­spezielle Holzsorten für magische oder rituelle Figuren, wie etwa Shabtis. Vgl. Richard H. Wilkinson: Symbol & Magic in Egyptian Art, London 1994, S.  91 f. Monika Wagner sei für ihre Hinweise zu den Materialien der antiken Gliederpuppen gedankt.

11  

1 Gliederpuppen im Altertum

Mannes (Bild 3) aus der Sammlung des Arthur M. Sackler Museums in Boston eine männliche Gestalt in Schritthaltung, deren ausgestreckte Arme mit Holzdübeln an die Schultern angeheftet sind. Stellt man der Bostoner Statuette die bereits in der späten V. beziehungsweise frühen VI. Dynastie (ca. 2400–2300 v. Chr.) gefertigte Statue des Metjetji aus dem Brooklyn Museum gegenüber, kommen jedoch Zweifel an einer intendierten Beweglichkeit der Arme auf (Bild 4). Beide Figuren zeigen denselben ikonographischen Typus: einen nur mit Lendentuch bekleideten athletischen Mann, dessen ausgestreckte Arme in grei-

Bild 5  Modell eines Flussboots, XI./XII. Dynastie (ca. 2010–1961 v. Chr.), Holz, 30 × 59 × 11 cm, Inv. Nr. 21.497, Museum of Fine Arts, Boston.

fenden Fäusten enden. Durch den Abrieb der farbigen Fassung am linken Schultergelenk des Metjetji tritt dessen Mehrteiligkeit zutage. An den Rumpf wurden beiderseits Arme angefügt, die mittels Grundierung und Fassung zu einem kontinuierlichen Körperbild verschmolzen worden waren. Durch den beinahe völligen Verlust aller überformenden Grundierungs- und Malschichten erweist sich vor diesem Hintergrund der Schreitende aus Boston als trügerischer Gliedermann, für den eine ursprüngliche Gestaltung wie bei der Skulptur aus Brooklyn angenommen werden muss.5 Hölzerne ägyptische Modelle des Funeralkultes, die als Grabbeigaben den Weg der Verstorbenen im Reich des Todes bestimmen sollten, zeichnen sich 5

Eine große Reihe ähnlicher Statuetten verzeichnet: Julia Harvey: Wooden Statues of the Old Kingdom. A Typological Study, Leiden/Boston/Köln 2001.

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I  Kult

durch eine meist schematische Gestaltung und eine wie bei den Einzelfiguren beobachtete additive Bauweise aus. Im Gegensatz zu den Uschebti 6 genannten mumienförmigen Beigaben aus Holz, Ton oder Fayence, sind die Figuren der Grabmodelle bei der Feldarbeit, der Herstellung von Nahrungsmitteln oder auch als Bootsführer gezeigt.7 Mit diesem Transportmittel wurde die im Sinne einer Reise begriffene Leib-Seele-Transformation des Verstorbenen bildlich gefasst. Bei dem Modell eines Flussboots aus dem Museum of Fine Arts in Boston tritt die additive Bauweise der Figuren aufgrund des prekären Erhaltungszustands besonders prägnant vor Augen (Bild 5). Das Fahrzeug ist in schlechtem Zustand, Steuer und Ruder sind verloren. Von den sechs gleichgestaltigen Besatzungsmitgliedern des Grabmodells haben alle, bis auf das am Bug stehende, ihre mit einem dünnen Stift an die Schultern angehefteten Arme verloren. Wenngleich das Rudern und Steuern aktive Handlungen bedeuten, waren die Extremitäten der Figuren nicht realiter als beweglich bestimmt. Die schematisch geschnitzten und anschließend grundierten und bemalten Helfergestalten waren allein als Grabbeigabe und nicht für einen performativen Gebrauch vorgesehen.

E r ste Gl ie der p up p e n: Fig u r e n m it b e weg l ic he n Be i ne n u nd A r me n Im Mittleren Reich, wohl in der XII. Dynastie und parallel zu den hölzernen invariablen Grabmodellen, entstanden Figuren, deren Gliedmaßen über einfache Gelenke verbunden waren, wodurch diese Statuetten eine erste greifbare Gruppe der Gattung Gliederpuppe bilden.8 Eine Holzfigur aus der ägyptischen Sammlung in Manchester ist zwar äußerst schlecht erhalten, dennoch weist 6

7

8

Diese standen potentiell bereit, an Stelle der Verstorbenen Arbeiten im Totenreich zu verrichten. Vgl. Hans D. Schneider: Shabtis. An Introduction to the History of Ancient Egyptian Funerary Statuettes with a Catalogue of the Collection of Shabtis in the National Museum of Antiquities at Leiden, Leiden 1977; allg.: Jan Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, bes. S. 151–156; Glenn Janes: Shabtis – A Private View. Ancient Egyptian Funerary Statuettes in European Private Collections, Paris 2002. Angela M. J. Tooley: Egyptian Models and Scenes, Princes Risborough 1995, S.  51–56. Vgl. die Exemplare bei John Garstang: The Burial Customs of Ancient Egypt, London 1907, S. 56, 59, 60 sowie die zahlreichen Aufnahmen von Bootsmodellen in situ; James H. Breasted (Jr.): Egyptian Servant Statues, New York 1948, Pl. 64–66, 68–78. Zur Chronologie der ägyptischen Zeitrechnung vgl. Jürgen von Beckerath: Chronologie des pharaonischen Ägypten. Die Zeitbestimmung der ägyptischen Geschichte von der Vorzeit bis 332 v. Chr., Mainz 1997; zur Neuberechnung der XII Dynastie ders.: Nochmals zur Chronologie der XII. Dynastie, in: Orientalia, Nova Series 64/4 (1995), S. 445–449.

13  

1 Gliederpuppen im Altertum

Bild 6  Fragment einer Gliederpuppe, XII. Dynastie, Holz, 12,2 × 4,4 cm, Inv. Nr. M.M.89, The Manchester Museum, Manchester. Bild 7  Fragment einer Gliederpuppe, XII. Dynastie (?), Holz, 12,7 cm, Inv. Nr. L-55-189, Museum of Archaeology and Anthropology, University of Pennsylvania.

ihre Bauform untrüglich auf einen beweglichen Ursprungszustand hin (Bild 6):9 Der hölzerne Rumpf ist stark tailliert, weist in der Mitte des Brustbereichs eine Durchbohrung sowie an den Schulterseiten Löcher zur Anbringung von Armen auf. Am Unterkörper ist die Gelenkaussparung eines Beins noch vollständig erhalten, zusammen mit dem Gelenkzapfen, der einst das eingehängte Bein mit dem Rumpf verbunden hatte. Durch den Vergleich mit einer ebenfalls nur noch fragmentarisch erhaltenen Gliederfigur aus dem Pennsylvania Museum of Archaeology and Anthropology, deren linkes Bein indes erhalten blieb und bis heute vollbeweglich ist, verstetigt sich diese Konstruktionsform (Bild 7).10 Auch unter den zahlreichen vom Ägyptologen und Archäologen William Matthew   9

10

Vgl. A. R. David: Toys and Games from Kahun in the Manchester Museum Collection, in: Glimpses of Ancient Egypt. Studies in Honour of H. W. Fairman, hg. v. John Ruffle/G. A. Gaballa/Kenneth A. Kitchen, Warminster 1979, S. 12–14. Der Kuratorin der Ägyptischen Sammlung des Pennsylvania Museums, Jennifer Houser Wegner, sei für diesen Hinweis und das Bildmaterial gedankt.

14  

I  Kult

Bild 8  Gliederpuppenfragmente, XII. Dynastie, Holz, ca. 15,2 cm/14,3 cm/ 8,5 cm, Inv. Nr. 16685–16687 Petrie Museum of Egyptian Archaeology, London. Bild 9  Weibliche Figur mit beweglichen Armen, XII. Dynastie, Holz, 17,5 cm, Inv. Nr. 3970, Museum of Archaeology and Anthropology, University of Pennsylvania.

Flinders Petrie (1853–1942) in Kahun entdeckten Holzstatuetten ist bei einigen Exemplaren eine entsprechende Bauweise umgesetzt (Bild 8).11 Wie bei der heute im Manchester Museum aufbewahrten fragmentierten Statuette (Bild 6) wurde bei diesen eine laterale Durchbohrung des Schulterbereichs vorgenommen. Ein solches Verfahren verdeutlicht, dass die Arme nicht wie bei den Grabmodellen mittels Stiften oder Nägeln am Rumpf fixiert werden sollten, sondern dass hier ein Aufhängemechanismus entwickelt wurde, durch welchen die Arme frei schwingend angebracht werden konnten. Anhand der Weiblichen Figur aus dem Pennsylvania Museum (Bild 9) wird eine solche Bauweise nachvollziehbar.12 11

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William Matthew Flinders Petrie: Objects of Daily Use, London 1927, S.  59 f. u. Tafel LI. Vgl. die Sammlungsdokumentation der Objekte unter: http://petriecat. museums.ucl.ac.uk/brief.aspx?gotopage=4 [16.6.2013]. Vgl. auch ders.: Kahun, Gurob, and Hawara, London 1890, S. 30 u. Plate VIII, Fig. 15. Vgl. Rosalind Janssen und Jac. J. Janssen: Growing up in Ancient Egypt, London 1996, S. 46.

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Bild 10  Weibliche Figur mit einst beweglichen Armen, XII. Dynastie, Holz, 15,8 cm, Inv. Nr. 08.200.22, Metropolitan Museum of Art, New York. Bild 11  Fragment einer Gliederpuppe in Kindergestalt, XXVI. Dynastie (?), Holz, Inv. Nr. A.1971.139, National Museum of Scotland, Edinburgh.

Während die feststehenden Beine möglicherweise als Griff dienten, sind ihre Arme schwenkbar, wodurch dieser Typus als ‚Armschwenkfigurine‘ bezeichnet werden kann. Auch bei einer weiblichen Statuetten aus dem Metropolitan Museum kann die Beinpartie als Griff interpretiert werden (Bild 10).13 Lateral durchbohrte Schultern verweisen auf einst bewegliche Arme der ursprünglich farbig gefassten und mit Echthaar und Augeneinlagen versehenen Gliederpuppe.14 13

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Bei dieser Gliederpuppe aus der Grabstätte von Lisht, die aus der Zeit Amenemhet I. stammt († 1965 v. Chr.), sind die ehemals beweglichen Arme zwar verloren, doch verweist die durchbohrte Schulterpartie auf deren einstige variable Anbringung. Trotz der abgestoßenen Nase tritt die feine Gestaltung der Gesichtszüge deutlich zutage. Vgl. Elderkin: Jointed Dolls, S. 45 u. Fig. 2. Auf eine reich mit silbernen Ringen geschmückte, elfenbeinerne Puppe, die bei Ausgrabungen von 1898 bis 1899 in Abadiyeh und Hu gefunden wurde, machte Flinders Petrie aufmerksam: „W 72 was probably the richest tomb of all, for the number of burials. It had been completely turned over by plunderers, and filled with earth washed in; so that it occupied about two weeks to entirely clean it. In it

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Eine hölzerne Gliederfigur in Kindergestalt aus dem National Museum of Scotland in Edinburgh lässt aufgrund ihres schlechten Erhaltungszustandes nur noch Reste der farbigen Fassung in den Augenhöhlen sowie im konkaven Nabel erkennen (Bild 11).15 Der rundliche Körper zeigt die wohlgenährte Gestalt eines Knaben, dessen Bauch- und Brustpartie sich deutlich hervorwölben. In dieser Figur aus der Spätzeit des Alten Reiches manifestiert sich eine Kombination der beiden rekonstruierten technischen Verfahrensweisen, die Beine einerseits mittels Scharniergelenken beweglich zu machen und die Schulterpartie lateral zu durchbohren, um die Arme freischwingend anbringen zu können. Die Funktionen der frühesten Gliederpuppen sind durch die im Nachhinein kaum umfassend rekonstruierbaren Fundkontexte und mangels schriftlicher oder bildlicher Quellen nicht vollständig zu erschließen.16 Während sie bislang häufig als ‚Spielpuppen‘ klassifiziert wurden,17 erscheint eine ausschließlich dem kindlichen Zeitvertreib zugeeignete Bestimmung angesichts der großen Vielfalt der teilweise wertvoll geschmückten gegliederten Statuetten jedoch als unzureichend.

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was the ivory doll with silver wire earrings, pottery doll, pottery ass with packs, and a great quantity of beads […].“ William Matthew Flinders Petrie: Diospolis Parva. The Cemeteries of Abadiyej and Hu, London 1901, S. 43 f. Der Inventareintrag des NMS zu dieser Gliederpuppe lautet: „A.1971.139 - ANCIENT EGYPT. THE CHILD. FIGURINE or DOLL (female) wood, head and body to knees only: lower part slotted to take pivoting lower legs and feet, upper part drilled transversely to take arms. Excavated by EES at Sakkara (H6.14 Inv. No. 579). ANCIENT EGYPTIAN, prob. Late Period.” Dank an die Kuratorin Henrietta Lidchi für diese Auskunft. Lemma Puppe, in: Lexikon der Ägyptologie, Bd. 4, hg. v. Wolfgang Helck/Otto Eberhard, Wiesbaden 1982, Sp. 1201 f.; Cäcilia Fluck: Puppen – Tiere – Bälle. Kinderspielzeug aus dem spätantiken bis frühislamzeitlichen Ägypten, in: Spiel am Nil. Unterhaltung im Alten Ägypten, hg. v. Harald Froschauer/Hermann Harrauer, Wien 2004, S. 1–21, hier S. 3. Dies geschieht z.T. allein durch Analogien: „Immerhin haben auch wir mit Porzellanpuppen gespielt, und unsere Zinnfiguren waren ähnlich kostbar, wie die kleinen profanen Bronze-Tiere und -Puppen (!), die schwerlich etwas anderes sein können, als Spielzeug.“ Lemma Spielzeug, in: Lexikon der Ägyptologie 5 (1984), Sp. 1152– 1155 (Emma Brunner-Traut), hier Sp. 1154; vgl. zudem: Flinders Petrie: Objects of Daily Use, S. 59 ff.; Elderkin: Jointed Dolls, S. 475; Marco Fittà: Spiele und Spielzeug in der Antike. Unterhaltung und Vergnügen im Altertum, übers. v. Cornelia Homann, Stuttgart 1998, S. 54 ff. sowie Peter J. Ucko: Anthropomorphic Figurines of Predynastic Egypt and Neolithic Crete with Comparative Material from the Prehistoric Near East and Mainland Greece, London 1968, S. 421 m. weiterer Lit.

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Spiel f ig u r e n u nd Fr uc htb a rke it sf ig u r i ne n Puppen, die neben Bällen, Kreiseln, Reifen oder ähnlichem als Kinderspielzeug dienen, erlangen ihre fundamentale Bedeutung durch die Kombination von Unterhaltungs- und Erziehungsinstrument. Sie zählen zu den ältesten menschlichen Artefakten und sind in Ägypten spätestens seit dem Mittleren Reich belegt.18 Puppen wurden aus mannigfaltigen Materialien gefertigt,19 wobei jene aus Stoff mit großer Bestimmtheit als Kinderspielzeug interpretiert werden können.20 Derartige Relikte wurden – ebenso wie Miniaturen von Hausrat und Tieren – in erheblicher Zahl Kindern mit ins Grab gegeben.21 Als besonderes Merkmal der dem kindlichen Spiel zugeeigneten Unterhaltungsinstrumente gilt einerseits die Mobilität des Artefaktes, etwa bei Wägen oder Reiterfiguren, andererseits eine intrinsische Beweglichkeit, die Möglichkeit der Formveränderung, die auch die frühen einfachen Gliederpuppen auszeichnet. Auch unter den zoomorphen Spielartefakten des Alten Ägypten existieren gegliederte Exemplare wie Krokodile, Löwen und Mäuse mit beweglichem Unterkiefer, bei welchen mithilfe einer Schnur die Schnappbewegung des Maules ausgelöst werden konnte.22 Diese einfachste Frühform der Automaten findet sich auch in Menschenform, etwa als Getreide mahlende

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Vgl. Lemma Puppe, in: Lexikon der Ägyptologie, Sp. 1201f m. weiterer Lit. Auch zuvor könnten bereits Gliederpuppen aus Holz hergestellt worden sein, die sich jedoch nicht bis heute erhalten haben. Vgl. Ucko: Anthropomorphic Figurines, S. 428; vgl. für eine Rückführung bis in die Urgeschichte auch: George Davis Hornblower: Predynastic Figures of Women and Their Successors, in: The Journal of Egyptian Archaeology 15/1/2 (1929), S. 29–47. Cäcilia Fluck betreibt in diesem Zusammenhang eine materialikonographische Unterscheidung: es zeichne sich die Tendenz ab, „in Tonfiguren eher kultische oder magische Objekte zu sehen, in Holz-, Bein- und Textilobjekten dagegen eher Spielzeug.“ Als Grund für die primär kultische Anwendung von Terrakotten wird unter anderem das fragile Material angeführt, das zum Spielen ungeeignet sei. In der Folge plädiert sie indes für eine Multifunktionalität der Objekte. Fluck: Puppen – Tiere – Bälle, S. 4. Vgl. ebd. sowie dies.: Ägyptische Puppen aus römischer und früharabischer Zeit. Ein Streifzug durch die Sammlung des Ägyptischen Museums in Berlin, des Museums für angewandte Kunst in Wien und des Benaki-Museums in Athen, in: Hermann Harrauer/Rosario Pinauti (Hg.): Gedenkschrift Ulrike Horak (P. Horak), 2. Teil, Florenz 2004, S. 383–400 m. weiterer Lit.; Fittà: Spiele und Spielzeug, S. 57 mit Bild; aus Seilen geknüpfte Puppen: John Garstang: 74. Excavations at BeniHasan, 1902–03 (ii), in: Man 3 (1903), S. 129–130. Georg Schweinfurt: Zur Topographie der Ruinenstätte des alten Schet, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 22 (1887), S. 54–88, hier S. 69. Vgl. Fittà: Spiele und Spielzeug, S.  70, Bild 117, S.  71, Bild 118; Adolf Erman: Aegypten und Aegyptisches Leben im Altertum, Tübingen 1923, S. 192.

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Bild 12  Getreide mahlende Figur, XI./XII. Dynastie (ca. 2040–1783 v. Chr.), 8,5 × 19,2 cm, Rijksmuseum van Oudheden, Leiden.

Figur (Bild 12):23 Gleich einer Marionette hängen ihre Bewegungen unmittelbar von der mittels Schnüren manipulierbaren Gliederbauweise ab. Die feststehenden Füße leiten zu beweglichen Hüftgelenken über, sodass der Oberkörper nach vorne in Richtung der schrägen Mahlfläche zu kippen vermag. Durch Scharniergelenke in den Schultern sind die Arme schwenkbar; der in den Händen gehaltene Mahlstein kann somit auf der Schrägfläche auf und ab gleiten.24 Viele kleingestaltige Artefakte, die in die Kategorie Spielpuppe eingeordnet, wenn nicht ‚entsorgt‘ wurden, entfernen sich jedoch aufgrund ihrer spezifischen, die weiblichen Geschlechtsmerkmale betonenden Ikonographie vom unbedarft-kindlichen Spiel. Aufgrund der Überzeichnung weiblicher Körperlichkeit vereinen sie gleichsam die Eigenschaften der sogenannten ‚Fruchtbarkeitsfigurinen‘ in sich. Unter diese Kategorie fallen Grabbeigaben in Form von 23 24

Vgl. Fittà, S. 86, der diese als „Nudelteig ausrollende Frau bestimmt“ sowie Hans D. Schneider: Life and Death under the Pharaos, Perth 1997, Nr. 181. Die derart in Aktion versetzte Zwischenform von Automat und statischer Figur bildet ein Gegenbeispiel zur meist als statisch aufgefassten Kunst des Mittleren Reiches. Vgl. dazu weiter unten: Das zergliederte Körperbild der Ägypter.

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plastischen nackten Frauendarstellungen, die als ‚Beischläferinnen‘ oder ‚Konkubinen der Toten‘ das Geschlechtsleben im Jenseits sichern sollten.25. Im Diesseits dienten die Figurinen innerhalb magischer Handlungen aufgrund ihrer apotropäischen und schutzbietenden Eigenschaften einer Steigerung der Fertilität. Die Ausprägungsformen der Fruchtbarkeitsfigurinen, welche sich grundsätzlich durch eine prononcierte Wiedergabe der Geschlechtsmerkmale auszeichnen, reicht von den äußerst abstrahierenden ‚Paddle-Dolls‘ aus Holz über teils aufwendig gestaltete Tonpuppen bis hin zu fein gearbeiteten und mit Schmuck verzierten Statuetten.26 Kaum ausgeschlossen werden kann, dass die Fruchtbarkeitsfigurinen teilweise auch als Objekte kindlichen Spiels fungiert haben.27 Dennoch verweist die demonstrative Konzentration auf die Merkmale von Weiblichkeit und Fruchtbarkeit ebenso auf einen ursprünglich kultisch-rituellen Entstehungszusammenhang (Votivgaben), wie die bislang bekannten Fundumstände, die derartige Objekte sowohl im häuslichen Umfeld als auch im Tempel verorten.28 Bei den häufig nur noch fragmentarisch erhaltenen Gliederpuppen aus Holz mit beweglichen Beinen (Bilder 6–8) ist eine derartige Ausprägung der Sexualorgane nicht zu beobachten, woraus sich schließen lässt, dass diese genuin als vielgestaltige Protagonistinnen kindlichen Spiels gefertigt wurden.

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Vgl. Geraldine Pinch: Votive Offerings to Hathor, Oxford 1993, S.  198–234, die diese Untergattung anhand von ikonographischen und qualitativen Gesichtspunkten in sechs Kategorien einteilt; zudem: Nira Kleinke: Female Spaces. Untersuchungen zu Gender und Archäologie im pharaonischen Ägypten, Göttingen 2007, S. 33–36; Andrea M. Gnirs: Nilpferdstoßzähne und Schlangenstäbe: Zu den magischen Geräten des so genannten Ramesseumsfundes, in: Texte – Theben – Tonfragmente. Festschrift für Günter Burkard, hg. v. Dieter Kessler u. a., Wiesbaden 2009, S. 128–156, besonders S. 138 f. Als ‚Paddel-Dolls‘ werden Flachpuppen bezeichnet, die aus einem wie ein längliches Paddelblatt geformten Holzbrett gefertigt wurden, wobei insbesondere der runde, von einem überdimensionalen Schamdreieck ausgefüllte Leibabschluss gegen die übliche Lesart als Kinderspielzeug spricht. Zur Kategorisierung vgl. Pinch: Votive Offerings. Zu den prädynastischen Vorläufern einzelner Typen vgl. Ucko: Anthropomorphic Figurines sowie Hornblower: Predynastic Figures, dessen Typenvergleich bis zur Venus von Willendorf reicht. Gisèle Pierini geht davon aus, dass mithilfe der exaltiert weiblichen ‚Spielpuppe‘ das kindliche Frauenbild im Sinne einer zukünftigen Mutterschaft unbewusst geprägt werden sollte. Gisèle Pierini: Les jeux de l’enfance en Egypte, in: Ausst. Kat.: Jouer dans l’Antiquité, hg. v. Musées de Marseille RMN, Marseille 1991, S. 41–43, hier S. 42. „Hierzu passt, dass viele Figurinen in Siedlungen gefunden wurden, wo sie in der Regel in privaten Räumlichkeiten aufbewahrt waren; dies ergeben die Fundumstände von Figurinen aus Amarna, Deir el-Medine und vielen anderen Orten. Ihre Deponierung oder Darbietung in Tempeln von Göttinnen, insbesondere der Hathor, dürfte ebenfalls individuell motiviert gewesen sein, und dem Wunsch der Stifter nach Nachkommenschaft entsprochen haben.“ Gnirs: Nildpferdstoßzähne und Schlangenstäbe, S. 139.

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Bei einigen hölzernen Gliederpuppen des Neuen Reiches (1550–1070 v. Chr.) hingegen tritt die für die Fruchtbarkeitsfigurine typische Überbetonung der weiblichen Geschlechtsmerkmale besonders deutlich zutage. Die femininen Grundzüge kippen bei der fünfundzwanzig Zentimeter hohen Statuette einer stehenden nackten Frau aus dem Ägyptischen Museum in Kairo ins Groteske (Bild 13).29 Die einst mit rotbrauner Farbe bemalte Gestalt steht hochaufgerichtet mit parallel gestellten Beinen auf einem kleinen Fußbett. Die Oberschenkel und Hüften schwingen weit aus, sodass sich eine deutliche Überproportionierung des Körpers hinsichtlich des Unterleibs ergibt. Über dem breiten Nabel wölben sich die halbrund aufgesetzten Brüste. Anhand des gestreckten linken Armes zeigt sich die einstige Beweglichkeit: wie bei den ‚Armschwenkfigu­ rinen‘ zeugen die lateral durchbohrte Schulterpartie und die an einem Achsstab befestigten, schwenkbaren Extremitäten von der Variabilität der Armhaltung. Die vergleichsweise fein gearbeitete Statuette aus Edinburgh (Bild 14) ist schließlich um zusätzliche Mobilitätspotenziale erweitert: Neben einst rotationsfähigen Armen30 besitzt sie doppelt bewegliche Beine. Durch die in die Beckenpartie seitlich eingefrästen Scharniergelenke lassen sich die Oberschenkel der Holzfigur spreizen, während sich die Unterschenkel mittels desselben Gelenktypus beugen lassen. Auch dieses Objekt zeigt eine unverkennbar üppige Frau.31 In ihrer Betonung der weiblichen Anatomie vereinen diese Figuren Eigenschaften der statischen Fruchtbarkeitsfigurinen in sich, im Gegensatz zu diesen jedoch sind sie durch ihre Bewegungsfähigkeit explizit auf einen performativen Einsatz ausgelegt. Eine Interpretation dieser Figuren als Kinderspielzeug oder als einfache Votivgaben erscheint insofern fragwürdig. Diese hölzernen Gliederpuppen stellen die Ahnen einer Figurengruppe dar, die deren Ausprägungsform materialiter nobilitierte. Sie umfasst etwa zwanzig bis heute erhaltene Bronzefiguren mit beweglichen Armen aus der XXV. Dynastie (ca. 751–656 v. Chr.).32 Besonders wertvoll und aufwendig gearbeitet wurde eine derartige Gliederpuppe, die heute im Louvre aufbewahrt wird 29 30

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Ludwig Borchardt: Statuen und Statuetten von Königen und Privatleuten im Museum von Kairo, Berlin 1930, Kat. 775, S. 86 f. Erhalten ist nur der abgetrennte linke Arm. Wie im Museumskatalog von 1900 ersichtlich, scheint damals noch ein Teil des Achsstabs erhalten geblieben zu sein. Vgl. Margaret A. Murray: Catalogue of Egyptian Antiquities in the National Museum of Edinburgh, Edinburgh 1900, S. 487, Kat. 385: Jointed doll. Ein weiteres Exempel aus der XXV. Dynastie stellt der Torso einer Holzstatuette aus Berlin dar, deren fehlende Extremitäten gesondert gearbeitet waren. Vgl. Hedwig Fechheimer: Kleinplastik der Ägypter, Berlin 1921, S. 107. Elizabeth Riefstahl: Doll, Queen or Goddess?, in: Brooklyn Museum Journal (1943/ 1944), S. 5–30. Vgl. Zudem die Exemplare bei Käthe Bosse: Die menschliche Figur in der Rundplastik der ägyptischen Spätzeit von der XXII. bis zur XXX. Dynastie, Glückstadt/Hamburg/New York 1936, S. 63 f., Kat. 169 und Kat. 172 sowie Tafel IX.

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Bild 13  Statuette einer stehenden nackten Frau, Holz, Ägyptisches Museum, Kairo.

Bild 14  Gliederpuppe mit beweglichen Armen und Beinen, Holz, National Museum of Scotland, Edinburgh. (Farbtafel 1)

(Bild 15a–b). Die 30,1 cm hohe Plastik ist bis auf eine vierzackige, zylindrische Krone nackt.33 Voluminöse Rundungen betonen auffällig die Weiblichkeit des streng frontal ausgerichteten, gedrungenen Leibes. Schamdreieck und Nabel sind durch Vertiefungen auf dem gewölbten Bauch gekennzeichnet, durch Glas­ intarsien waren einst neben den Augen auch die breiten Brustwarzen zusätzlich herausgehoben. Die Arme sind derart mit Metallstiften am Körper angebracht, dass sie vor- und zurückbewegt werden können.

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Mit dieser eindrucksvollen Größe übetrifft die Bronzegestalt die durchschnittlichen Maße der meisten gleichgestaltigen Figuren, welche sich in der Höhe zwischen zehn und zwanzig Zentimetern bewegen.

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Bild 15a–b  Statuette mit beweglichen Armen, „Fruchtbarkeits-Helferin“, XXV. Dynastie (715– 656 v. Chr.), Bronze, 31,1 × 9,9 cm, Inv. Nr. E 25959, Département des Antiquités égyptiennes, Louvre, Paris.

Im Gegensatz zu den Grabmodellen mit angesetzten Armen oder Füßen aus Holz oder Elfenbein34 wurden ägyptische Kleinplastiken aus Bronze in der Regel aus einem Stück gegossen.35 Die Beweglichkeit, und damit die Veränderbarkeit der Gestalt, war somit offensichtlich ein zentrales Anliegen bei diesen bronzenen Gliederpuppen.36 Ihre Gestaltung aus Metall sowie das damit einher-

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Vgl. die von John D. Cooney beschriebenen Elfenbeinstatuetten, auf deren „doll like treatment of the body“ er hinweist: John D. Cooney: Three Early Saïte Tomb Reliefs, in: Journal of Near Eastern Studies 9/4 (1950), S. 193–203, hier S. 201 ff. sowie Plate XVII u. XVIII. Vgl. Günther Roeder: Komposition und Technik der ägyptischen Metallplastik, in: Jahrbuch des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches 48 (1934), S. 226– 263; ders.: Ägyptische Bronzewerke, Glückstadt 1937, S.  187–224, besonders S. 204 f. Riefstahl: Queen, Doll, or Goddess?, S. 9. Auch bei den bronzenen Gliederpuppen sind differenzierte Lösungen für die angestrebte Beweglichkeit der Arme verwirklicht: So zeigt eine Gliederpuppe desselben ikonographischen Typs aus dem British Museum, mit schwellenden Körperformen, feiner Perücke und Krone, eine laterale Durchbohrung auf Schulterhöhe, durch welche ein Achsstab geschoben wurde, an dem die separaten (heute verlorenen) Arme angebracht werden konnten. British Museum: Votive Figure/Doll, Bronze, ca. 625–501 v. Chr., Inv. Nr. 1864,1007.528; vgl. Henry Beauchamp Walters: Catalogue of the Bronzes, Greek, Roman, and

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gehende hohe Gewicht sprechen gegen eine Bestimmung dieser Gliederpuppen als Spielzeug.37 Altägyptische Könige und Götter wurden in den seltensten Fällen nackt wiedergegeben, sodass es sich bei den Bronzen um zugewanderte Gottheiten fremder Kulturen – wie die vorderasiatische Göttin Astarte (Ishtar) – oder auch um deren nobilitierte Helferinnen handeln könnte, die mit dem Attribut der Krone geschmückt wurden.38 Das Zusammenspiel aller Hauptmerkmale – Nacktheit, Überbetonung der Geschlechtsmerkmale, Krone39 – mit den beweglichen Armen ergibt das Bild eines Talismans, der manuell eingesetzt und demnach in kultischem Rahmen bewegt wurde, um die weibliche Fruchtbarkeit

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Etruscan, in the Department of Greek and Roman Antiquities, British Museum, London 1899, S. 138. Riefstahl: Queen, Doll, or Goddess?, S. 9. Ebd., S. 11–14. Der Kult dieser Göttin der Fruchtbarkeit und des Krieges gelangte in der Zeit der XVIII. Dynastie von Syrien nach Ägypten. Vgl. Jean Leclant: Astarté à cheval d‘après les représentations égyptiennes, in: Syria 37/1–2 (1960), S. 1–67, hier S. 3. Vgl. insbesondere zur Bestimmung der Kronen John Alexander: The Origin of the Ballana Crowns, in: Études Nubiennes 2 (1994), S. 193–196.

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positiv zu beeinflussen. Die Einschätzung Georg Steindorffs zielt indes auf eine unmittelbar mit dem Geburtsvorgang verbundene Bestimmung ab: es handele sich um „[…] ‚magic figures‘ einer Hausgöttin, ähnliche Schutzgöttinnen wie die Toëris, die das Liebesleben beschirmten und den Frauen bei der Geburt Hilfe leisteten. Dann erkläre ich mir auch die ‚beweglichen‘ Arme. Diese hielten keinen Gegenstand, sondern liessen sich ausstrecken, um die Gebärende zu halten.“40 Die schweren Figuren aus belastbarem, mit der Hand kaum zerstörbarem Material könnten sich als Schutzgestalten ihrer in den Wehen liegenden Besitzerinnen erweisen, zugleich als Talisman und beistehende ‚Helferin‘ fungiert haben. In diesem Sinne ließen sich die bronzenen Figuren als bildlicher Ausdruck und greifbare Begleiterinnen einer gelungenen Schwangerschaft deuten. Die ‚Fruchtbarkeitshelferinnen‘ verkörperten sowohl den erwünschten als auch den geglückten Kinderwunsch, stellten ein Idealbild einer fruchtbaren Frau dar und beschirmten die Schwangere vor Unheil.

G eg l ie der te Ap o t r op a i a Eine verstärkt apotropäische Verwendungsweise ist für die zeitgleich entstan­ dene außergewöhnliche Gliederpuppe einer Löwenfrau aus Theben anzunehmen, die heute im Manchester Museum aufbewahrt wird (Bild 16a–b). Während der XIII. Dynastie gefertigt, wurde sie in einem Grab im Ramasseum in Theben zusammen mit weiteren Objekten und Textfragmenten aufgefunden, die allesamt im Rahmen kultischer Handlungen von Priestern, Ammen oder Hebammen eingesetzt wurden.41 Die 20,2 cm hohe Holzskulptur zeigt den hochgewachsenen nackten Körper einer Frau mit leoninen Gesichtszügen. In ihren

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Zit. n. Riefstahl: Queen, Doll, or Goddess?, Anm. 51. Bei dem Fund in Grab 5 (‚Grab der Magier‘) handelte es sich um: eine Kiste mit hieratischer Papyri, vier Nilpferdstoßzähne (‚Zaubermesser‘), vier unterschiedliche Fruchtbarkeitsfigurinen, darunter eine ‚paddle doll‘, ein Löwe, zwei Paviane, Perlen, Modelle einer Gurke und eines Kürbis, eine Zwergengestalt aus Elfenbein, ein Elfenbeinplättchen, ein Fayencebecher, ein Paar Armklappern, ein Djed-Pfeiler-Amulett, ein elfenbeinerner Figurenstab mit Löwendarstellungen, ein Schlangenstab aus Bronze sowie die Gliederpuppe der Ahat. Vgl. Ausst. Kat.: Pharaohs and Mortals. Egyptian Art in the Middle Kingdom, hg. v. Janine Bourriau, Cambridge 1988, Kap. ‚Art and Magic‘, S. 110 f. sowie Gnirs: Nilpferdstoßzähne. Herzlichen Dank an die Kuratorin des Manchester Museums, Karen Exell, für ihre Auskünfte. Vgl. zudem die Angaben des Museums unter http://emu.man.ac.uk/ mmcustom/Display.php?irn= 103798&QueryPage= /mmcustom/narratives/index. php [25.2.2012].

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1 Gliederpuppen im Altertum

Bild 16a–b  Figurine mit Löwenkopf und beweglichen Armen, XIII. Dynastie, Holz, Bronze, 20,2 cm, Inv. Nr. 1790, The Manchester Museum, Manchester.

ausgestreckten Händen hält sie zwei Bronzeschlangen umklammert. Durch diese Attribute steht sie in unmittelbarer Verbindung mit der altägyptischen Gottheit Ahat, die als Fruchtbarkeitshelferin für eine gelungene Geburt angerufen wurde.42 Durch die Beweglichkeit der Arme konnte die Figur in den Händen des Priesters oder der Hebamme eingesetzt, das heißt verlebendigt werden, indem sie durch ein Schwenken der Arme mithilfe der Schlangen zur magischen Abwehr des Unheils beitrug. Möglich ist auch, dass diese Figur als Schutz42

In männlicher Gestalt genannt Aha. Vgl. Lemma Aha, in: Lexikon der Ägyptologie, Bd. 1, hg. v. Wolfgang Helck/Otto Eberhard, Wiesbaden 1975, S. 96–98; Hartwig Altenmüller: Die Apotropaia und die Götter Mittelägyptens, Bd. 1, Hamburg 1965, S. 36 ff. und S. 152 ff. sowie Richard Parkinson: Reading Ancient Egyptian poetry. Among other Histories, Malden, MA 2009, Kap. 6.

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Bild 17  Totenbuch der Muthotep, Vignette zu Kapitel 182, 13. Jh. v. Chr., British Museum, London.

gestalt innerhalb des Rituals der Totenwache und Bestattung eingesetzt wurde, bevor sie als Grabbeigabe fungierte. So zeigt die Vignette zu Kapitel 182 des Totenbuchs der Muthotep im British Museum aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. eine Mumie in einer Sargkammer, die von Schutzgottheiten, so auch von der zentral im unteren Register gezeigten Ahat, bewacht wird (Bild 17). Anders als die statischen Modelle von Booten, Arbeitsszenen oder Interieurs, welche ausschließlich als Grabbeigaben bestimmt waren, verweist die Beweglichkeit der Löwenfrau auf einen unmittelbar performativen Einsatz. Durch ihre Ausstattung mit sich windenden und demnach lebendigen Schlangen wird sie als Schutzgestalt in Extremsituationen, bei Geburt, Krankheit oder Tod, zum Einsatz gelangt sein.43 43

Dies steht der Einschätzung von Claude Lamboley entgegen, der eine Verwendung von gegliederten Statuetten für kultische Zusammenhänge kategorisch ausschließt („il faut d’ailleurs noter qu’une statuette rituelle n’est jamais articulée.“) und Gliederpuppen als Spielzeug deklariert. Claude Lamboley: Les poupées à travers les siècles, in: Bulletin de l’académie des siences et lettres de Montpellier 39 (2008), S. 417–430, hier S. 419.

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1 Gliederpuppen im Altertum

Bild 18  Statuette eines Tänzers mit beweglichen Gliedmaßen, Tamariskenholz, 13,8 cm, Inv. Nr. E 11562, Département des Antiquités égyptiennes, Louvre, Paris.

Dieselbe Aufgabe kam wahrscheinlich auch der feinen Statuette eines Tänzers im Teufelshabitus aus der Zeit des Mittleren Reiches (2033–1710 v. Chr.) zu, die heute im Louvre aufbewahrt wird (Bild 18). Die Gesichtszüge der nackten, rotbraunen Gestalt sind mit dunkler Farbe betont, eine Körperbemalung aus weißen Bändern verläuft kreuzförmig über der Brust und oberhalb des Geschlechts. Aus sechs stummelartigen Hörnern, die in zwei Dreierreihen aus der schwarzen glatten Kalotte heraustreten, besteht der Kopfschmuck des Tänzers. Wenngleich die Beine der aus Tamariskenholz geschnitzten Figur verloren sind, belegen die Gelenkaussparungen der Oberschenkel den Einsatz beweglicher Glieder, um dynamische Handlungen vollziehen zu können. Mit 13,8 cm ist die Figur leicht manuell handhabbar. Genauso wie die Figurine der Ahat könnte der Tänzer seine Erfüllung in den Händen eines Priesters gefunden haben, der durch einen mithilfe der Gliederpuppe inszenierten Abwehrzauber Krankheit und Tod bannen sollte.

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Sowohl die Fruchtbarkeitsfigurinen als auch die Gliederpuppen des Abwehrzaubers verweisen auf eine aktive Kompetenz des Artefaktes innerhalb kultischer Handlungen. Die teilweise höchst preziöse Gestaltungsweise zeugt vom bedeutsamen Stellenwert dieser gegliederten Figuren. Ihren letzten Bestimmungsort fanden sie als Beigabe im Grab ihrer Besitzer, wo sie über dessen weltliches Leben hinaus wirksam sein sollten. Innerhalb des Funeralkultes tritt wiederum das ägyptische Körperbild besonders prägnant in Erscheinung, das auf eine von Einzelgliedern bestimmte Leibauffassung verweist.

D a s z erg l ie der te Kör p erbi ld der Ä g y p ter Wie Emma Brunner-Traut grundlegend dargelegt hat, war das ägyptische vor­ antike Menschenbild Ausdruck eines aspektivischen Denkens.44 Im Gegensatz zu späteren perspektivischen Prinzipien, Einzelelemente einem Gesamtzusammenhang ein- und unterzuordnen, wurden Gebilde oder Funktionsprinzipien aus Sicht der Aspektive als ein Nebeneinander der Einzelglieder verstanden. Der menschliche Körper entsprach somit noch nicht dem Bild eines Orga­­­­nismus, dessen Erscheinung mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Vielmehr, so präzisiert Brunner-Traut, könne das ägyptische Menschenbild am besten mit einer Gliedergestalt verglichen werden: „Der Körper wird aus einer Anzahl von Teilstücken zusammengesetzt, ‚verknotet, zusammengeknüpft‘, er ist das was wir eine ‚Gliederpuppe‘ nennen.“45 Diese Vorstellung vom menschlichen Körper als ein aus Einzelgliedern additiv zusammengesetztes Kompositum fand in verschiedenen kulturellen Ausprägungen der Ägypter ihren Widerhall: in magisch-apotropäischen Kulten, in der darstellenden Kunst und in der Religion. Im Sinne einer „Gliedervergottung“46 verweisen Heilgedichte und Liebeslyrik darauf, nicht den kranken oder geliebten Menschen als ganzen anzusprechen, sondern dessen Leib durch 44 45

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Emma Brunner-Traut: Frühformen des Erkennens. Aspektive im Alten Ägypten, Darmstadt 1996. Emma Brunner-Traut: Der menschliche Körper – eine Gliederpuppe, in: Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde 115 (1988), S. 8–14, hier S. 10; Vgl. zu diesem Komplex zuletzt: Joachim Friedrich Quack: Gliederpuppe oder komplexe Einheit? Zum Menschenbild ägyptischer Körperteillisten, in: Markus Hilgert/ Michael Wink (Hg.): Menschenbilder. Darstellungen des Humanen in der Wissenschaft, Heidelberg u. a. 2012, S. 13–26. Dieser ägyptische Topos erhielt eine klassische Form in der von Livius überlieferten Legende des Menenius Agrippa, in der Magen und die Glieder um die Vorrangstellung streiten (Livius: Ab urbe condita 2, 32). Vgl. Heinrich Gombel: Die Fabel „Vom Magen und den Gliedern“ in der Weltliteratur, Halle 1934; Brunner-Traut: Frühformen des Erkennens, S.  71 f.; eine biblische Reflektion findet sich im 1. Korintherbrief des Paulus (12, 12–31), im Hohelied Salomons sowie im JohannesApokryphon; vgl. Joachim Friedrich Quack: Dekane und Gliedervergottung.

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Bild 19  Vignette aus dem Papyrus Jumilhac, 1. Jh. v. Chr., Papyrus, Gesamtlänge ca. 9 m., Inv. Nr. E 17110, Département des Antiquités égyptiennes, Louvre, Paris.

die Benennung seiner Einzelteile zu heilen oder zu schützen. Ebenso wurde in der Flachkunst die abstrahierte Darstellung einzelner Organe häufig allein deswegen mit dem benachbarten Körperteil gezeigt, um die Lage und nicht etwa eine Funktionseinheit anzugeben. In der Religion äußerte sich schließlich die Addition der Einzelelemente am prägnantesten in der Kompositgestalt der Götter, deren Zusammensetzung – als eine aus menschlichen und animalischen Körperteilen gebildete Gestalt – sich bis zum omnipotenten, mit zahlreichen Tierköpfen, Flügelpaaren und einem Krokodilschwanz ausgestatteten Gott Bes steigern konnte.47 In besonderer Weise wird dieses Verständnis im Osiris-Mythos greifbar.48 Dessen Herrschaft fand durch die Hand seines weltlichen Bruders Seth ihr jähes Ende. Dieser erschlug den göttlichen König, riss ihn in Stücke und verteilte die einzelnen Gliedmaßen und Organe durch die Ströme des Nils über das ganze Land. Seiner Schwester und Gattin Isis gelang es jedoch, die Glieder wieder zu­ sammenzutragen. Dem schakalköpfigen Gott der Mumifizierung und Totengeleiter Anubis oblag es dann, die verstreuten Einzelglieder des Osiris wieder zusammenzufügen. Diese Handlung macht die Vignette des neun Meter langen, spätägyptischen Papyrus Jumilhac aus dem Louvre (ca. 1 Jh. v. Chr.) be­­­sonders anschaulich (Bild 19): Die von Isis zusammengetragenen organischen Einzelteile

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Altägyptische Traditionen im Apokryphon Johannis, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 38 (1995), S. 97–122. Vgl. ebd. sowie Brunner-Traut: Frühformen des Erkennens, S. 71–81. Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, Kap. 1: Der Tod als Zerrissenheit, S. 29–53.

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wie Kopf, Augen und Beine sind im rechten Bilddrittel sorgsam angeordnet, damit Anubis mit ihnen den aufgebahrten Mumienleib vervollständigen kann.49 Die additiv zusammenhängenden, über den Blutkreislauf verbundenen Glieder werden durch den Tod getrennt und müssen im Ritual der Totenpflege symbolisch wieder miteinander verbunden werden. Das Körperbild einer gegliederten Kompositgestalt manifestiert und transformiert sich im ägyptischen Mumifizierungskult, der von den Göttern (Osiris) auch auf Sterbliche übertragen wurde.50 Möglich ist, dass in dieser kultischen Körperbehandlung auch der ursprüngliche Kern einer gegliederten Gestaltgebung zu finden ist. Noch um 700 v. Chr. vermitteln die homerischen Epen ein solches Körperverständnis. Der Leib wird weiterhin nicht als geschlossene Einheit, sondern als Summe von Einzelorgangen und Gliedern (mélea, gyía) verstanden, jedoch durch Gelenke verbunden und dank Sehnen und Muskeln dynamisch ausgebildet.51

b   Gr ie c hen la nd Angesichts der nur vereinzelt auftretenden Beweglichkeit ägyptischer Figurinen überrascht die Fülle an Gliederpuppen, die in Griechenland in der letzten Jahrtausendhälfte vor Christus entsteht. Im Gegensatz zu den kaum beachteten frühesten vorantiken Exemplaren der Gattung ist die Erforschung der griechischen Gliederpuppen weiter fortgeschritten.52 Wenngleich die Kulturen Ägyptens und Griechenlands in regem Austausch standen,53 erweisen sich ägyptische und erste griechische Gliederpuppen zunächst als kaum formver49 50 51

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Jacques Vandier: Le papyrus Jumilhac, Paris 1961, Tafeln V u. VI. Dieser Mythos bildet die Ausgangslage für die Riten der Einbalsamierung und Mumifizierung der Verstorbenen. Vgl. Assmann: Tod und Jenseits, S. 30–34. Die Körper nähern sich insofern dem Bild einer dynamisch beweglichen Gliederpuppe an. Vgl. Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 92009, S. 13–29, bes. S. 16; Lukas Thommen: Antike Körpergeschichte, Zürich 2007, S. 17. Philipp Ruch sei für seine Hinweise bezüglich des frühantiken Körperbildes gedankt. Vgl. Franz Winter: Die Typen der figürlichen Terrakotten, Berlin 1903; Elderkin: Jointed Dolls in Antiquity; José Döring: Von griechischen Puppen, in: Antike Kunst 2 (1958), S. 41–52; Regine Schmidt: Die Darstellung von Kinderspielzeug und Kinderspiel in der griechischen Kunst, Wien 1977, Kap. II/3, S. 114–128; Doris Karlik: Antike Gliederpuppen, Diplomarbeit Univ. Wien 1993; Barbara Vierneisel-Schlörb: Die figürlichen Terrakotten, I. Spätmykenisch bis späthellenistisch, München 1997, Kap. 5, S. 50–58; Fittà: Spiele und Spielzeug in der Antike, bes. S. 48–65; Mirjam Andres: Spielzeug der Griechen und Römer, in: Ausst. Kat.: Die Antikensammlung. Griechische, Römische, Altorientalische Puppen und Verwandtes, hg. v. ders., Hanau 2000, S. 8–22; Gloria Merker: The Sanctuary of Demeter and Kore. Terracotta Figurines of the Classical, Hellenistic, and Roman Periods, Princeton 2000, S. 48–60 m. weiterer Lit.; seither De‘ Siena: Il gioco e i giocattoli nel mondo classico, bes. S. 53–58. Vgl. Ausst. Kat.: Ägypten Griechenland Rom. Abwehr und Berührung, hg. v. Herbert Beck, Frankfurt a. M. 2005.

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wandt. Vielmehr scheint die Entwicklung der ersten Generation gegliederter Artefakte in Griechenland einem regionalen kulturellen Brauchtum entsprungen zu sein, um in späterer Zeit auch ägyptische Gliederungstechniken zu integrieren.

Bö o t i s c her Glo c ke nt y p u s Im Vergleich mit den zur selben Zeit entstandenen bronzenen Gliederpuppen aus Ägypten, deren nackte weibliche Körper mit beweglichen Armen ausgestattet wurden, erweisen sich die frühgriechischen Figurinen als höchst abstrakt. Ihre zylindrische Hohlform erinnert an den Klangkörper einer Glocke, weshalb diese Plastiken auch mit dem Begriff ‚Glockentypus‘ oder ‚Glockenidol‘ gefasst werden.54 Ein fast vierzig Zentimeter großes Exemplar aus Terrakotta, das heute im Louvre aufbewahrt wird, kann als besonders kunstvolles Exemplar dieser Gattungsform herangezogen werden, die ab 700 v. Chr. nachzuweisen ist (Bild 20): Mit geometrischen, vegetabilen und animalischen Elementen wurde der rotationssymmetrisch geformte Körper bemalt, dessen schmale Schultern zu einem überlangen Hals führen, um in einem kleinen Kopf zu enden. Inwieweit derartige Figuren als Kultidole oder als Spielzeug fungiert haben, ist nicht endgültig geklärt.55 Im Vergleich mit den unterschiedlichen Typen ägyptischer Gliederpuppen, die grundsätzlich eine stärker anthropomorphe Gestalt aufweisen, überwiegt der Eindruck eines Kultobjekts, das nicht durch seine Arme agierte, sondern dessen Beine manuell oder durch Luftverwirbelungen in Schwingung versetzt werden konnten. Für einen kultischen Verwendungszusammenhang liefert eine weitere Gliederpuppe des Glockentypus aus dem Louvre das entsprechende Bildprogramm (Bild 21a–b).56 Mit dünnen Linien sind auf ihrem Gewand fünf Frauenfiguren wiedergegeben, die sich an den Händen haltend einen Reigentanz aufführen. Neben der mythologischen Hochzeit von Zeus 54

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Vgl. Friedrich Wilhelm Hamdorf: Antike. Puppen in der griechischen und römischen Antike, in: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 50–56, Kat.-Nr. 1. Doris Karlik spricht hingegen von „Geometrischen Gliederpuppen“, vgl. Karlik: Antike Gliederpuppen, Kap. II. 1. Der überlange Hals und die rudimentären Arme verweisen auf Fruchtbarkeitsidole aus Zypern. Vgl. Ilse Schneider-Lengyel: Griechische Terrakotten, Berlin 1936, S. 16. Für eine Interpretation als Spielzeug vgl. Siegfried Laser: Sport und Spiel, Göttingen 1987, S. T 96 ff.; Elderkin: Jointed Dolls, S. 461; Schmidt: Kinderspielzeug, S.  115; Döring: Von griechischen Puppen, S.  41, der zugleich die Abgrenzungsschwierigkeiten betont; vgl. zudem das Lemma Giocattolo, in: Enciclopedia Italiana, Rom 1960, S. 905–910, hier bes. S. 907 u. Bild 1131 sowie Nikolaus Himmelmann: Realistische Themen in der griechischen Kunst der archaischen und klassischen Zeit, Berlin/New York 1994, S. 114. Vgl. Steven Lonsdale: Dance and Ritual Play in Greek Religion, Baltimore/London 1993, S. 112, Fig. 13, der sie mit „female divinity (?)“ bezeichnet.

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Bild 20  Glockenidol, um 700 v. Chr., Terrakotta, 39,5 cm, Inv. Nr. CA 573, Département des Antiquités grecques, étrusques et romaines, Louvre, Paris.

und Hera, deren Kult in Böotien, wie von Plutarch und Pausanias beschrieben,57 das Puppen-Fest der Daedala begründete, erweist sich der Tanz als zweites wichtiges rituelles Gravitationsfeld der frühen griechischen Gliederpuppen. Auch für spätere Typen sollten diese Kultbereiche formdeterminierende Faktoren darstellen. 57

Zum Mythos der Puppe Daedala bei Plutarch vgl. Paul Decharme: Note sur un fragment des Daedala de Plutarche, in: Mélanges Henri Weil, o. Hg., Paris 1898, S. 111–116. Pausanias: Beschreibung Griechenlands, Buch 9, Kap. 3, § 1. Vgl. Pausanias: Description of Greece, hg. v. James George Frazer, New York 2012, S. 448 f. sowie Döring: Von griechischen Puppen; Elderkin: Jointed Dolls, S. 458; Schmidt: Die Darstellung von Kinderspielzeug und Kinderspiel, S. 115–117.

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Bild 21a–b  Glockenidol, um 700 v. Chr., Terrakotta, 33 cm, Inv. Nr. CA 623, Département des Antiquités grecques, étrusques et romaines, Louvre, Paris.

A r c h a i s c h-f r ü h k l a ssi s c he Gl ie der p up p e n In der Folge des Glockentypus entwickelte sich eine Gruppe von ‚Pendelfiguren‘ in Form von Musikern, Tänzern oder Soldaten, die im Unterleibsbereich angeknüpfte, frei schwingende Beine aufweisen. Die einfach gegliederten Gestalten wurden häufig unter Zuhilfenahme von Modeln und teilweise in großer Zahl hergestellt (Bild 22). Neben diesen schematischen Figuren entwickelten sich körperlich zunehmend ausdifferenzierte Gliederpuppentypen, welche ein höheres Maß an Beweglichkeit und gestalterischem Aufwand aufweisen. Die archaisch-frühklassischen Gliederpuppen rekurrieren einerseits auf das altägyptische Formenrepertoire, um andererseits dem Habitus der Tänzerin in ganz besonderem Maße verpflichtet zu sein. Ihr Typus entsteht Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. in Korinth und unterscheidet sich nicht nur durch die neuartige Prägung, sondern auch durch die geringere Größe vom Glockentypus, da die Figuren nun kaum mehr als eine Handspanne messen.58 Eine Tän58

Döring: Von griechischen Puppen. Bezüglich der Ursache für das zeitliche Intervall zwischen dem Verschwinden des böotischen Glockentypus und dem Auftreten des

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Bild 22  Gliederpuppen in Kapuzenmantel, 4./3. Jh. v. Chr. (?), Terrakotta, 18,2 cm, Inv. Nr. RAP 666, 667, 679, 680, Hessisches Puppenmuseum, Hanau.

zerinnenfigurine aus dem British Museum verdeutlicht beispielhaft die Prägeform dieser Gliederpuppen (Bild 23): Ein mittels Matrize erzeugter kompakter und am Rücken verflachter Rumpf bildet mit der zylinderförmigen Kopfpartie eine Einheit. Mit Kopf und herabfallendem Haar verschliffen ist der hohe Polos.59 Die separat gefertigten Arme mit nur angedeuteten Ellenbogen sind beweglich an den lateral durchbohrten Schultern befestigt. Sie hält, wie viele griechische Gliederpuppen, Krotalen zur akustischen Begleitung des Tanzes in den Händen. Der kurze Chiton, eine Festtagskleidung, in welcher diese Gliederpuppen stets dargestellt werden, ist mit rot-braunen geometrischen Ornamenten versehen und wölbt sich über eine weibliche Brust.60 Die knielosen Beine

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frühklassischen Tänzerinnentypus liegen bislang keine eingehenden Untersuchungen vor; möglicherweise ist dieses jedoch einer Veränderung der Produktionswege durch zunehmende Importe aus Korinth geschuldet. Vgl. Karlik: Antike Gliederpuppen, S. 27. Vgl. die Exemplare des Hanauer Puppenmuseums, Inv. Nr.: MAP 833, MAP 834, MAP 835, in: Andres: Die Antikensammlung, S. 72–74, Kat. 43–45. Anhand der unterschiedlich aufwendig vorgenommenen Gestaltung der Bekleidung lässt sich innerhalb dieser Gruppe eine differenziertere Datierung vornehmen, indem bei den Exemplaren der ersten Generation die Kleidung nur grob ausgeformt wurde, während sie bei späteren Exemplaren bewegt und bauschig wallend erscheint. Vgl. Karlik: Antike Gliederpuppen, S. 29.

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Bild 23  Gliederpuppe einer Tänzerin, 5. Jh. v. Chr., Terrakotta, 15 cm, Inv. Nr. 1865,0720.36, British Museum, London.

hängen in Gelenkpfannen, die aus drei dornförmigen Fortsätzen in der Beckenpartie gebildet werden. Ausgehend von Töpferwerkstätten in Korinth verbreitet sich die archaisch-frühklassische Gliederpuppenform im gesamten griechischen Siedlungsraum, sodass sich alle weiteren an dieser orientieren.61

K l a ssi s c h-hel le n i st i s c he Gl ie der p up p e n Ab der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts entwickelt sich der klassisch-hellenistische Gliederpuppentypus. Die Figuren wirken nun verfeinert und sind länger gestreckt, mit schmalem Hals und feineren Köpfen. Durch hoch angesetzte Brüste erreichen die knabenhaften Körper das Aussehen jugendlicher Mädchen (Bild 24). Die stets vorder- und rückseitig mittels Modeln geformte, bis zu den Knien verlängerte Rumpfeinheit ist innen hohl, wobei die Befestigungstechnik zunächst auf den drei vorspringenden Dornen der Gelenkpfannen beharrt.62 Matrizenfunde bezeugen, dass der Kopf separat geformt werden 61

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Das Verbreitungsgebiet dieses Typs reicht von Korinth, Athen, Tanagra, Delos und Rhodos über die Cyrenaika bis nach Unteritalien, Sizilien, Spanien und sogar nach Ägypten sowie die Halbinsel Krim. Karlik: Antike Gliederpuppen, S. 29; Andres: Die Antikensammlung, S. 68. Vgl. Karlik: Antike Gliederpuppen, S. 34.

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Bild 24  Gliederpuppen, 5./4. Jh. v. Chr., Terrakotta, 16,5 cm (rechts), Inv. Nr. RAP 567, 836, 954, Hessisches Puppenmuseum, Hanau.

konnte. Neben einfach gestalteten Häuptern sind auch idealisierende Köpfe angefügt, mit Polos, Haube, Kopfschmuck oder kunstvollen, zeitgenössischen Frisuren, die eine genauere Datierung ermöglichen.63 Zunehmend setzte sich sodann das Verfahren durch, die Gelenkköpfe der Unterschenkel ohne Gelenkdorne in den Oberschenkelstümpfen zu befestigten, um den Aufhängemechanismus zu verbergen. Die damit organischer gestaltete Beinpartie lässt sich etwa bei der am Übergang zum 4 Jh. v. Chr. in Athen entstandenen, besonders wohlgeformten Tänzerin aus Brunswick/Maine beobachten (Bild 25).64 Der voluminöse, geradezu fleischliche Körper wird von einem ebenmäßigen Haupt mit hochgesteckten Haaren bekrönt. Rhythmusinstrumente weisen auch die Gliederpuppen dieses Typs als Tänzerinnen aus. Eine besonders fein modellierte Gliederpuppe aus dem Alten Museum in Berlin, in deren zum Griff geformten Händen sich gewiss einst ebenso Rhythmusinstrumente befunden haben, offenbart durch eine kleine Öffnung im Scheitel63 64

Vierneisel-Schlörb: Die figürlichen Terrakotten, S. 50. Vgl. Kevin Herbert: Terracotta Figurines at Bowdoin College, in: The Classical Journal 55/3 (1959), S. 98–111, hier S. 105 f.

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Bild 25  Gliederpuppe einer Tänzerin, 4. Jh. v. Chr., Terrakotta, 19 cm, Inv. Nr. 1913.28, Bowdoin College Museum of Art, Brunswick, Maine. (Farbtafel 2) Bild 26a–b  Gliederpuppe einer Tänzerin, Frontal- und Draufsicht, 4. Jh. v. Chr., Terrakotta, Inv. Nr. 31573v89, Altes Museum, Berlin.

punkt der Haube, dass einige Figuren auch mithilfe von Führungsstäben oder -schnüren als eine Art neurospaston bewegt werden konnten (Bild 26a–b).65 Friedrich Wilhelm Hamdorf vermutet, dass die griechischen Gliederpuppen allesamt, dem böotischen Glockentypus folgend, am Kopf aufgehängt wurden. Die hierfür notwendige Vorrichtung in Form von Ösen oder Bohrlöchern kann jedoch mitnichten bei allen Gliederpuppen verzeichnet werden. Indem er von den Gliederpuppen als mit Schnüren versehenen Marionetten spricht und sie als passive ‚Statisten‘ deklariert, wird Hamdorf ihrem performativen Impetus kaum gerecht.66 Nicht hinreichend ist ebenso die Annahme von Ulrich Hübner, der die aufwendig gegliederten Puppen genuin als aufzuhängende ex-voti bestimmt.67 Die Haltevorrichtungen, an denen einige der Puppenköpfe 65 66 67

Vgl. Döring: Von griechischen Puppen, S. 45 und Anm. 36; zur Gliederpuppe als Marionette vgl. u., Kap. I.3.c). Vgl. Friedrich Wilhelm Hamdorf: Puppen und Marionetten, in: Ausst. Kat.: Hauch des Prometheus. Meisterwerke in Ton, hg. v. dems., München 1996, S. 35–40. Ulrich Hübner: Spiele und Spielzeug im antiken Palästina, Göttingen 1992, S. 95.

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Bild 27  Sitzpuppe, Anf. 4. Jh. v. Chr., Terrakotta, 21,5 cm, Inv. Nr. 6660, Staatliche Antikensammlung, München.

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befestigt waren, dienten vielmehr einer Verlebendigung der Figuren, indem sie dadurch manuell in Bewegung versetzt werden konnten.68 Zeitgleich mit dem klassisch-hellenistischen Typus entstehen die sogenannten ‚Sitzpuppen‘. Diese Terrakottafigurinen sind in Sitzhaltung wiedergegeben, wobei die angewinkelten Beine unbeweglich mit dem Körper verbunden und allein die Arme separat an die Schultern angefügt sind.69 Die obligatorische Ausstattung dieser Gliederpuppen umfasste ein Sitzmöbel, wie etwa der prunkvolle Götterthron einer Münchner Tonfigur mit Armlehnen tragenden Sphingen vor Augen führt (Bild 27). Einige der sitzenden Gliederpuppen sind nackt, bei anderen wurde ein sehr dünnes langes Gewand angedeutet. Auffällig seltener sind Funde aus jener Zeit von männlichen Gliederpuppen. Eines der wenigen Beispiele ist der gegliederte Bronzesoldat aus der Münchner Glyptothek, der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. entstand. Sein athletischer Leib wird von einem aufwendigen Kopfschmuck bekrönt, dem offenbar eine Grifffunktion zukam, um die Glieder manuell zu bewegen (Bild 28).70 Bild 28  Statuette eines Kriegers, um 540/530 v. Chr., Bronze, 16,4 cm, Inv. Nr. 4361, Staatliche Antikensammlung, München.

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Reynold A. Higgins beschreibt diese entsprechend als „piece of string by which the doll could be dangeled and made to dance.“ Reynold A. Higgins: Catalogue of the Terracottas in the British Museum, London 1954, S. 248, Nr. 909; ebenso Lesley Beaumont: Child’s Play in Classical Athens, in: History Today 44/8 (1994), S. 30–35, hier S. 32 f. Vgl. dazu ausführlich Döring: Von griechischen Puppen. Vgl. Hamdorf: Antike, S. 51 sowie die Soldaten im Bestand des Puppenmuseums Hanau.

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Spiel z e u g , Ho c h z e it s opf er o der Vo t ivg ab e? 7 1 Die große Anzahl gegliederter Tonfiguren täuscht über die Vielfalt an Materialien hinweg, aus welchen griechische Gliederpuppen hergestellt wurden, jedoch nicht erhalten sind. Als plangones wurden Wachsfiguren bezeichnet72 und Platon (in Phaidros, 230, b) berichtet weiter von Puppen aus Holz, Elfenbein oder Knochen. Ebenso mannigfaltig sind die Fundorte der Gliederpuppen: Sie sind als Grabbeigaben und in Terrakottawerkstätten belegt, viele wurden zudem in den Heiligtümern von Demeter und Kore, aber auch von Persephone und im Artemisheiligtum in Brauron gefunden.73 Die griechischen Gliederpuppen wurden bislang vielfach unbedarft unter dem Begriff ‚Spielzeug‘ abgehandelt.74 Darstellungen auf Vasen von Kindern im Spiel mit Tieren und Bällen sowie Reifen und Kreiseln sind häufig.75 Doch ist bislang keine einzige Szene bekannt, die das Spielen mit Puppen zeigt.76 Als ‚Spielzeug‘ wurden Gliederpuppen solchen Gegenständen zugerechnet, die als Relikte der Kindheit beim Übergang zum Erwachsenenalter, etwa der jungfräulichen Artemis, rituell geopfert werden mussten. Eine literarische und meh-

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Teile der folgenden Interpretation konnten bereits im Rahmen der Tagung Figuren – Modelle – Schemata. Antike Grundlagen von Bildakt und Verkörperung (Berlin, 9.–10. September 2011) vorgestellt werden. Allen Diskussionsteilnehmern sei für ihre Hinweise an dieser Stelle herzlich gedankt. In den Papyri Graecae Magicae ist vielfach von magischen Wachspuppen die Rede, wobei diese wohl meist unbewegliche Püppchen für Liebes- und Schadenzauber darstellen. Vgl. Ivana Petrovic: Von den Toren des Hades zu den Hallen des Olymp. Artemiskult bei Theokrit und Kallimachos, Leiden 2007, insb. S.  23–28. Papyri Graecae magicae. Die griechischen Zauberpapyri, hg. u. übers. v. Karl Preisendanz, Berlin 2002. Andres: Spielzeug der Griechen und Römer, S. 10; Vierneisel-Schlörb: Die figür­ lichen Terrakotten, S. 51. Zu den wenigen Gegenpositionen gehört Daniel Graepler, der einen kultisch-rituellen Wert der Figurinen im Sinne einer Rollencharakterisierung annimmt: Daniel Graepler: Tonfiguren im Grab. Fundkontexte hellenistischer Terrakotten aus der Nekropole von Tarent, München 1997, S. 237 ff.; ebenso Gladys R. Davidson und Dorothy Burr Thompson, die die Figuren als Unterhaltungsinstrumente in Form von Hetären beziehungsweise als Apotropaia interpretieren: Gladys R. Davidson/ Dorothy Burr Thompson: Small Objects from the Pnyx, in: Hesperia Supplements 7 (1943), S. 1–172, hier S. 117, Anm. 144. Vgl. hierzu auch Lâtife Summerer: Hellenistische Terrakotten aus Amisos. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des Pontosgebietes, Stuttgart 1999, S. 101 ff. Vgl. allg. Fittà: Spiele und Spielzeug; Hilde Rühfel: Kinderleben im klassischen Athen. Bilder auf klassischen Vasen, Mainz 1983; Andres: Die Antikensammlung, S.  16 f. Diese Tätigkeiten standen im Einklang mit erzieherischen Werten. Vgl. Mark Golden: Childhood in Classical Athens, Baltimore/London 1990, S. 54. Vgl. Schmidt: Die Darstellung von Kinderspielzeug, S. 128; Frederick A. G. Beck: Album of Greek Education, Sydney 1975, Kap. VII.

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rere bildliche Quellen dienten für diese Einschätzung als Belege: In der Anthologia Graeca VI, 280 berichtet ein anonymer Dichter von einem jungen Mädchen namens Timarete, welches aus Anlass seiner Hochzeit die artifiziellen Wegbegleiter seiner Kindheit der Göttin Artemis als Opfer darbringen muss: „Vor ihrer Hochzeit entbot Timarete hier diese Pauke/ diesen entzückenden Ball, auch von den Locken das Netz/ und, wie es sich recht gebührt, die Puppen und Puppengewänder/ Artemis, dir, du Kind Letos, o Göttin der See/ dir, der Jungfrau, die Jungfrau.“77 Der Altphilologe Georges Daux hat darauf aufmerksam gemacht, dass innerhalb dieses Gedichtes, das für bisherige Deutungen der Gliederpuppen eine zentrale Rolle spielte,78 wohl ein Übertragungsfehler begangen wurde. Seine Zweifel betreffen genau jene Stelle, die von der Abgabe der Puppe und ihrer Kleider handelt. Sowohl stilistisch als auch im Hinblick auf die gesamte Anthologie schlägt er vor, eine Emendation des Claudius Salmasius (1588–1653) von 1607 rückgängig zu machen, da der Codex nicht „koras“, sondern „komas“ angebe. Aus „Puppe“ würde somit „Haar“, demnach einige Locken des Mädchens, eine vielerorts bezeugte Opfergabe, und aus den Puppenkleidern die Kleider der kóre, ¯ der Jungfrau, also Timaretes eigene Mädchenkleidung.79 Durch diese Deutung der literarischen Quelle wird die Interpretation der Gliederpuppen als Spielzeug und genuine Opfergaben in Schwellenriten heiratsfähiger Mädchen nicht mehr gestützt.80 Die bildlichen Belege, die für die Deutung der Gliederpuppen als Opfergaben im Rahmen der Frau-Werdung beziehungsweise als Ausweise kindlichen Spiels ins Feld geführt wurden, sind gleichermaßen ambivalent. Als einzige Darstellung eines jungen Mädchens im Moment eines Puppenopfers gilt eine weißgrundige Lekytos in Privatbesitz (Bild 29): Im Festhabit bewegt sich die junge Frau mit behutsamen Schritten auf den hochaufragenden Opferaltar zu. In den Händen der weit ausgestreckten Arme hält sie eine Figur, die in ihrer

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Anthologia Graeca. Buch I–VI, gr.-dt. hg. v. Hermann Beckby, München 1957, VI, 280, S. 592 f. Den konzisen Überblick bieten: Andres: Die Antikensammlung, S. 9–16; Joan Reilly: Naked and Limbless. Learning about the Feminine Body in Ancient Athens, in: Naked Truths. Women, sexuality, and gender in classical art and archaeology, hg. v. Ann Olga Koloski-Ostrow/Claire L. Lyons, London/New York 1997, S.  154–173 und Merker: The Sanctuary of Demeter and Kore. Georges Daux: Les ambiguïtés de grec KOPH, in: Comptes-rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 3 (1973), S. 382–393. Dank an Walter Burkert für seine Einschätzung der unterschiedlichen Interpretationen des Ausdrucks ‚kór e¯ ‘. Dass junge Frauen jedoch Opfergaben zu tätigen hatten, erläutert Matthew Dillon: Girls and Women in Classical Greek Religion, London/New York 2003, Kap. I.1: Women as Dedicators, S. 9–36.

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Bild 29  Thanatos Maler (zugeschr.): Attisch-weißgrundige Lekythos, Mädchen eine Statuette opfernd, um 440 v. Chr., Ton, Privatbesitz.

Erscheinung, durch die schwarzen, am Hinterkopf zusammengefassten Haare und ein durchscheinendes wallendes Gewand, dem Mädchen auf bemerkenswerte Weise ähnelt. Der bildliche Befund lässt jedoch keinesfalls eindeutig entscheiden, ob es sich bei dieser Figurine um eine Gliederpuppe oder um eine unbewegliche Opferfigur handelt. Als weitere Beispiele für das kindliche Spiel mit Gliederpuppen wurde eine Vielzahl von Grabstelen ins Feld geführt: Die Grabstele der Plangon (ΡΛΑΓΩΝ) in München zeigt ein aus pentelischem Marmor gearbeitetes, 74 cm hohes und 53 cm breites Relief mit der Darstellung eines jungen Mädchens von vielleicht fünf Jahren (Bild 30a–b). Auf etwa 320 v. Chr. datiert, ist die Darstellung wohl als Innenraumszene angelegt. Gekleidet in einen Chiton mit hoher Gürtung und Schulterkordel wird die Verstorbene in leichter Drehung im Dreiviertelprofil wiedergegeben. Den unteren linken Bildraum nimmt eine große Gans ein, die als Spielgefährtin zu deuten ist.81 Während das Mädchen einen 81

Als „Spiel- und Zuchttier“ mit Bezug auf Homer (Odyssee 19, 536 ff.) wird die Gans bestimmt bei Jens-Arne Dickmann: Bilder vom Kind im klassischen Athen,

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Vogel scheinbar gedankenverloren mit seiner linken Hand gepackt hält, präsentiert es eine kleine, nackte Frauengestalt in der angewinkelten Rechten. Die derart in die Bildmitte gehobene, frontalansichtige Figurine ist nur bis zur Mitte der Oberarme und ohne Unterschenkel gefertigt. Gespiegelt zwar, und doch in geradezu wörtlicher Entsprechung, hält die etwa gleichaltrige und bis auf das Diadem entsprechend gekleidete Melisto einen Vogel nun in der Rechten, während die Finger ihrer Linken einen demonstrativ frontal gedrehten weiblichen Torso umgreifen (Bild 31a–b). Auf dem Grabstein aus Boston bildet diesmal ein kleines Malteserhündchen den aktiv-spielerischen Gegenpart zum gedankenverloren die Puppe fixierenden Mädchen. In beiden Fällen handelt es sich bei den präsentierten Figurinen keineswegs um Gliederpuppen, sondern augenscheinlich um den Typus der ‚Torsopuppe‘.82 Wie eine solche Torsopuppe aus München zeigt, entsprechen diese Figuren den Gliederpuppen klassischer Zeit insofern, als Rumpf, Kopf, Oberschenkel und Schultern als Einheit geformt wurden, wobei die Schulterpartie etwas weiter nach unten gezogen ist (Bild 32). Gleichwohl gibt es keinerlei Hinweise auf Bohrungen, Ösen oder Gelenkpfannen. Meist stellen sie einen wohlgerundeten, weiblichen und dabei fragmentierten Leib dar, auf jene Regionen reduziert, die für Fruchtbarkeit und Geburt von Bedeutung sind. Joan Reilly zufolge verweisen Grabfunde von und Bildstelen mit Torsopuppen daher nicht auf Spielzeuge, sondern auf ihre Funktion als soma gynaikos, als anatomische Votivplastiken.83 Die Verbindung von Votivplastiken und Fruchtbarkeitspflicht

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in: Ausst. Kat.: Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit, hg. v. Wolf-Dieter Heilmeyer, Mainz 2002, S. 310–320, hier S. 314. Darstellungen auf Grabsteinen mit jungen Mädchen, die in ihren Händen Sitzpuppen halten, sind deutlich seltener, doch ist auch in keinem dieser Fälle von einer beweglichen Figurine, sondern vielmehr von einer unbeweglichen Votivgabe auszugehen. Beispiele sind in Edinburgh, National Gallery of Scotland, die Grabstele der Aristomache sowie das Grabrelief eines Mädchens im Athener Nationalmuseum (NM 776). Vgl. Agnes Schwarzmaier: „Ich werde immer Kore heißen“ – zur Grabstele der Polyxena in der Berliner Antikensammlung. Mit einem Anhang zu den Schmuckgarnituren aus der Großen Blisniza auf der Halbinsel Taman, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 121 (2006), S. 175–227, S. 190, Bild 14 und S. 192, Bild 15. Das Fragment einer Grabstele aus Athen ist eines der äußerst seltenen Beispiele, das eine Statuette vollständig, mit allen Extremitäten darstellt: Fragment einer Grabstele mit Dienerin, Attika, 4 Jh. v. Chr, Marmor, Höhe: 66 cm, Archäologisches Nationalmuseum Athen, Inv. Nr. 1993. Reilly: Naked and Limbless. Als zergliederte bzw. zerstörte Puppe wurde die Torsopuppe von Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth gedeutet: „Hier ist die Puppe mit ausgerissenen Armen wiedergegeben, in einem bezeichnenden Realismus also, der das typische Schicksal des Kinderspielzeugs, nämlich zerstört zu werden, charakterisiert.“ J. Adolf Schmoll gen. Eisenwerth: Zur Genesis des Torso-Motivs und zur Deutung des fragmentarischen Stils bei Rodin, in: ders. (Hg.): Das Unvollendete als künstlerische Form, Bern/München 1959, S. 117–139, hier S. 118.

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Bild 30a–b  Grabstele der Plangon, 320/310 v. Chr., Marmor, 73,8 × 53 cm, Staatliche Antikensammlung, München.

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Bild 31a–b  Grabstein der Melisto, um 340 v. Chr., Marmor, 95,5 × 49,2 cm, Inv. Nr. 1961.86 Harvard Art Museums/ Arthur M. Sackler Museum, Cambridge, MA.

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Bild 32: Stehender Frauentorso (‚Torsopuppe‘), Mitte 5. Jh. v. Chr., Terrakotta, 11,5 cm, Inv. Nr. 8594, Staatliche Antikensammlung, München.

mit dem Hochzeitsritus wurde zuletzt von Agnes Schwarzmaier untermauert, indem sie auf den Grabstelen den Weihegang jung verstorbener Mädchen, dargestellt im Brauthabit, erkannte.84 Die Torsopuppen verkörpern damit als Votivgaben junger Frauen in nuce den gesellschaftlichen Zwang zu Fruchtbarkeit und Gebärfähigkeit. Zu Lebzeiten ihrer Spenderin waren sie Ausdruck einer erhofften Erfüllung dieser Pflicht. Durch einen frühen Tod konnte ihr zwar nicht mehr nachgekommen werden, mit der Darstellung auf den Stelen und als fune84

In diesem Sinne wären auch die teilweise miniaturhaften Ausstattungsgegenstände als Surrogatgaben für die Braut und weniger als Puppengeschirr zu werten. Schwarzmaier: „Ich werde immer Kore heißen“, S.  175–227; dies: Gaben an die Toten? Die Nekropole von Lipari als Quelle für Totenritual und Grabkult, in: Körperinszenierung – Objektsammlung – Monumentalisierung: Totenritual und Grabkult in frühen Gesellschaften. Archäologische Quellen in gesellschaftlicher Perspektive, hg. v. Christoph Kümmel/Beat Schweizer/Ulrich Veit, Münster u. a. 2008, S. 397–415, bes. S. 405–410. In diesem Sinne folgert auch Mirjam Andres: „Miniarturkeramik ist überwiegend Frauen und Kindern mit ins Grab gegeben worden, darunter auch Kleinkindern. Dies legt den Schluss nahe, daß es sich um eine Art ‚Kindergeschirr‘ handeln könnte, das in Frauengräbern symbolisch auf die Aufgabe der Frau als Mutter und Fürsorgerin (Kurotropos) der kleinen Kinder hinweisen würde. Sicherlich handelt es sich nicht um Puppengeschirr, da diese Keramik in den meisten Fällen nicht mit Puppen vergesellschaftet ist.“ Andres: Die Antikensammlung, S. 21.

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rale Beigaben wurde dieser jedoch posthum weiterhin Ausdruck verliehen.85 In der Reduktion auf einen extremitätenlosen Körper konzentriert die Torsopuppe in sich die geschlechtliche Leiblichkeit. Die Natur bewegungsfähiger Gliederpuppen erscheint vor diesem Hintergrund gleich doppelt potenziert – verfügen jene nicht allein über einen vollständigen, sondern auch beweglichen Körper, dessen performativem Impetus entscheidende Bedeutung zukommt.

Gl ie der p up p e n a l s ide a le p a r th e n o i Gliederpuppen aller Typen wurden in Gräbern und Heiligtümern gefunden, als Opfergaben für Frauengottheiten wie Artemis und Demeter. Sie wurden damit denjenigen Göttinnen übereignet, denen junge Frauen durch Kulttänze huldigten. Zugleich ist eine bemerkenswerte Anzahl durch Attribute wie Tamburin, Krotalen oder Schellen als Tänzerinnen ausgewiesen. Frühe Typen haben mit dem kurzen Chiton gar das Tanzgewand auf den Leib geformt. Alle erhaltenen weiblichen klassisch-hellenistischen Gliederpuppen zeigen in unterschiedlichen Facetten das Bild der parthenos, des jugendlichen Mädchens. Je weiter sich die Frauen von diesem Ideal entfernten – als Neugebo­ rene oder alte Frauen – desto mehr waren sie Anfeindungen ausgesetzt.86 Parthenoi waren jung, schön, begehrenswert, fruchtbar, voll unberechenbarer Energie – und daher zugleich gefährlich. Die Entwicklung der jungen parthenoi war deshalb stets zu kontrollieren, was meist von älteren, erfahrenen Frauen bewerkstelligt wurde. Das ideale Körperbild der kalokagatía, des „Schön- und Gutseins“, sollte sich durch Erziehung und Unterricht nicht allein in den Heroen, sondern in jedem Individuum ausprägen.87 Anders als der etwa gleichaltrige Ephebe auf der gegenüberliegenden Seite des um 430 v. Chr. entstandenen Kelchkraters im Alten Museum in Berlin, 85

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Irrig ist insofern die Annahme von Fittà, der angibt, dass „[g]riechische Grabmonumente beweisen, daß Mädchen, die vor ihrer Hochzeit gestorben waren, mit ihren Puppen spielend dargestellt wurden.“ Fittà: Spiele und Spielzeug, S. 54. Vgl. Susanne Moraw: Was sind Frauen? Bilder bürgerlicher Frauen im klassischen Athen, in: Ausst. Kat.: Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit, hg. v. Martin Maischberger, Zabern 2002, S. 300–306. Im Bild der parthenos spiegelt sich im Umkehrschluß der misogyne Grundzug der griechischen Kultur wider, da allein die schönen jugendlichen Mädchen die Idealvorstellung der Frau verkörpern konnten. Zur Stellung alter Frauen vgl. Jan Bremmer: La donna anziata: Libertà e indipendenza, in: Le donne in Grecia, hg. v. Giampiera Arrigioni, Rom 1985, S. 275– 298, hier S. 275 ff. Vgl. Edith Specht: Schön zu sein und gut zu sein. Mädchenbildung und Frauensozialisation im antiken Griechenland, Wien 1989, insb. S. 35 ff., 102–119; Kurt Sier: Der Körper als Zeichen in der griechischen Philosophie, in: Körper – Sprache. Ausdrucksformen der Leiblichkeit in Kunst und Wissenschaft, hg. v. Angelika Corbineau-Hoffmann/Pascal Nicklas, Hildesheim 2002, S. 63–94, hier S. 66.

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der im Gymnasion den rhetorischen Ausführungen seines Lehrers lauscht, konzentriert sich die junge Frau auf die Körpersprache des Tanzes (Bild 33a–b). Eine rechts auf dem Klismos sitzende Frau mit Haube spielt mit vollen Backen den Aulos, die Doppelflöte, und gibt dabei mit dem rechten Fuß den korrekten Rhythmus des Tanzes an. Die parthenos wird in schwungvoller Haltung gezeigt, mit gestreckten, weit ausschwingenden Armen. Der Saum ihres leichten Kleides schwingt durch die dynamische Bewegung zurück, wie schwebend scheinen ihre Füße erst im nächsten Augenblick wieder festen Stand zu gewinnen. Die im Tanz bewirkte Körperkontrolle bedeutete, die sprunghafte Energie der Heranwachsenden zu zähmen. Wichtigster Ausweis eines schönen und ehrenhaften Tanzes war dabei die Einhaltung der vorgegebenen Tanzschemata. Willkürliche Motive und Abfolgen waren nicht erlaubt. Der Tanz war mitnichten allein Mittel der Unterhaltung und Zerstreuung: Neben der Ausbildung der Jüngeren diente er insgesamt der Bildung aller Zuschauer. In den regelhaften Tanzformen war eine strukturelle Rhetorik der über Figurationen vermittelten Gesellschaftserziehung angelegt.88 Die Tanzhandlungen vollzogen sich durch rhythmisch-fließend verbundene Posen, wobei der Körper überindividuelle Bildformeln transportierte.89 Aristoteles, der Platons Bildbegriff der körperlichen Nachahmung weiterentwickelte, beschreibt in seiner Poetik (1477a), dass die Darsteller in Form dieser standardisierten Schemata beim Tanz bevorzugenswerte Charaktereigenschaften (¯eth¯e), Emotionen (path¯e) und Handlungen (praxeis) wiedergeben sollten.90 Als Transporteure von Affekterzeugungen besitzen die Schemata eine Gefäßfunktion, deren Wirkung mit enargeia beschrieben wird, und die in ihrer organisierten Form das Dargestellte zugleich verlebendigt und monumentalisiert.91 88 89

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Vgl. grundlegend Maria Luisa Catoni: La communicazione non verbale nella Greca antica, Turin 2008. Susanne Gödde weist darauf hin, dass diese Bildformeln gleichsam mit dem Bild im Sinne eines Kunstwerkes, etwa einer Skulptur, als auch mit Vorstellungsbildern verwandt sind. Susanne Gödde: Sch¯emata. Körperbilder in der griechischen Tragödie, in: Ralf von den Hoff/Stefan Schmidt (Hg.): Konstruktion von Wirklichkeit. Bilder im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart 2001, S. 241–259, hier S. 242. Aristoteles: Poetik, Vers 1447a27: „Durch Rhythmus allein, ohne Harmonie stellt die Tanzkunst dar; nur die Tänzer stellen durch Rhythmus in den Stellungen Charakter, Leidenschaften und Handlungen dar (αὐτῷ δὲ τῷ ῥυθμῷ [μιμοῦνται] χωρὶς ἁρμονίας ἡ τῶν ὀρχηστῶν [καὶ γὰρ οὗτοι διὰ τῶν σχηματιζομένων ῥυθμῶν μιμοῦνται καὶ ἤθη καὶ πάθη καὶ πράξεις]).“ Vgl. Salvatore Settis: Schemata e Pathosformeln fra antichi e moderni, in: Maria Luisa Catoni: La communicazione non verbale nella Greca antica, Turin 2008, S. VII–XI, hier S. IX. Gödde: Sch¯emata, S. 248 f. Die überhistorische Gültigkeit dieser somästhetischen Form körperlicher Bildausprägung, sei es im Tanz, in Form von tableaux vivants oder Werken der Bildenden Kunst, sollte Aby Warburg mit dem Begriff der „Pathosformel“ erfassen. Horst Bredekamp verortet die handlungsbestimmende Dimension

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Bild 33a–b  Kelchkrater mit Szenen der Ausbildung eines Jünglings und eines Mädchens, 3. Viertel 5. Jh. v. Chr., Terrakotta, 26,5 cm, Inv. Nr. F2400, Altes Museum, Berlin.

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Die auf unterschiedlichen Behältnissen überlieferten jugendlichen Tänzerinnen werden teils während des Übungsprozesses, teils in bereits eingeprägten idealen Tanzschemata dargestellt. Eine wiederkehrende Haltung zeigt junge Frauen, die ihre ausgestreckten Arme im Tanz schwingen lassen, während ihre Füße schwebend über den Boden gleiten. Häufig unterstützen sie ihre derart getanzten Figurenabfolgen selbst mit Rhythmusinstrumenten, wie etwa die Tänzerin auf der rotfigurigen Lekythos aus dem British Museum (Bild 34). Ganz ähnliche Bewegungen können Gliederpuppen evozieren: Mit Hilfe eines Führungsstabs oder manuell in Rotation versetzt, folgen die Arme der Puppe den Fliehkräften, sodass sie vom Körper weggestreckt werden, während die Figur gleichsam schwebend in der Luft tanzt. Auf einer astragalförmigen Vase des Sotades von 460 v. Chr. sind die tanzenden Mädchen in einer solchen Haltung zu sehen: An keine Bodenhaftung mehr gebunden, führen diese parthenoi ihre dynamischen Figurationen in hauchdünnem Chiton frei schwebend in der Luft vor – wie von unsichtbarer Hand gehalten (Bild 35). Viele weitere Tanzdarstellungen korrelieren ebenfalls mit dem Bewegungspotential der Gliederpuppen. Prägnantes Beispiel ist eine äußerst sportliche Tanzübung – bibasis, ein Springtanz, den man mit dem Begriff „Anfersen“ zu umschreiben versucht hat.92 Dabei werden die Oberschenkel gerade gehalten und die Unterschenkel angewinkelt, um die Fersen zum Gesäß schnellen zu lassen.93 In Aristophanes Komödie Lysistrata (80 f.) hängen Kraft und Schönheit einer spartanischen Tänzerin von der Beherrschung eben dieses Tanzes ab, und Pollux (IV 102) erinnert an den von einer tanzenden parthenos aufgestellten Rekord von eintausendmaligem Anfersen.94 Bei den Tänzen der parthenoi geht es allgemein um die Kontrolle des weiblichen Körpers. Sie unterschieden sich hierdurch in eklatanter Weise von den Tänzen der Mänaden, deren Bewegungsfiguren keinem Schema folgten und die in geradezu hysterischem Wahn ungebändigt und unkontrolliert agierten.95 Der Vergleich zweier Vasendarstellungen aus London und Berlin führt diesen Kontrast anschaulich vor Augen: Die zwei Mädchen auf einer Hydria aus dem British Museum haben unter der strengen Anleitung der Tanzlehrer dasselbe Schema synchron einzuüben (Bild 36). Die Mänaden auf der Schale aus

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der Bildschemata im Prozess des „Schematischen Bildakts“. Vgl. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 40 f. sowie 103 f. Vgl. Thomas F. Scanlon: Eros & Greek Athletics, Oxford/New York 2002, Kap. 5, S. 121–138. Vgl. etwa die Darstellung dieses Tanzes auf einer Lekythos in Brüssel, Musées Royaux d’Art et d’Histoire, Inv. Nr. A 3556; Beck: Album of Greek Education, Pl. 79. Stephen G. Miller: Ancient Greek Athletics, New Haven 2004, S. 157. Vgl. Lonsdale: Dance and Ritual Play in Greek Religion, bes. Kap. 3, S. 76–110.

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Bild 34  Attisch-rotfigurige Lekythos mit tanzendem Mädchen, 480–460 v. Chr., Terrakotta, 27,9 cm, Inv. Nr. 1863,0728.10, British Museum, London.

Bild 35  Sothades-Maler: Rotfiguriges Gefäß mit tanzenden Mädchen, um 470–450 v. Chr., Terrakotta, 12 × 16,8 cm, Inv. Nr. 1860,1201.2, British Museum, London. Bild 36  Rotfigurige Hydria mit der Tanzstunde zweier Mädchen, um 430 v. Chr., Terrakotta, 39 × 33 cm, Inv. Nr. 1873,0820.354, British Museum, London.

dem Alten Museum in Berlin folgen hingegen keiner Regel, sondern tanzen ekstatisch um ein Dionysoskultbild, manche schwingen Thrysoi oder Krotalen, eine gar ein Rehkitz (Bild 37). Zeitgleich mit den Vasendarstellungen des bibasis wird der klassische Gliederpuppentypus entwickelt, bei dem die Oberschenkel fest mit dem Rumpf verbunden sind, sodass die Unterschenkel spielerisch nach hinten bewegt werden

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Bild 37  Rotfigurige Schale mit tanzenden Mänaden, 1. Viertel 5. Jh. v. Chr., Terrakotta, 12,3 × 33 cm, Inv. Nr. F2290, Altes Museum, Berlin.

können – etwa um die Bewegung des Anfersens nachzuahmen.96 Der Rekurs auf die Kontrolle ehrenhaften Tanzes ist insofern von Bedeutung, als er die Forderung nach einem regelhaften Modellgebrauch inkludiert.97 Durch Gelenke auf Schulter- und Kniehöhe beweglich, können Gliederpuppen bei richtiger Handhabung jene markanten Tanzfiguren gleichsam schwebend ausführen, welche die eingeforderte Körperkontrolle zum Ausdruck brachten. Durch die Möglichkeit unkontrollierter Bewegungen wohnt den Gliederpuppen jedoch auch eine ent-schematisierte, mänadenhafte Bewegungsfähigkeit inne.98 96

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Ein hiervon weitergehender Schritt bedeutete, die beweglichen Figurentypen und Darstellungsdetails einzelner Gliederpuppen genauer mit den unterschiedlichen Tänzen zu vergleichen. So könnten einige aufwendige Kopfbedeckungen der Gliederpuppen auf eine Frühform des Kalathiskos-Tanzes verweisen, ein Tanz zu Ehren der Artemis und der Demeter, welcher mit Körben auf den Köpfen vorgetragen wurde. Vgl. die Statuette einer Kalathiskos-Tänzerin aus Berlin in: Elisabeth Rohde: Griechische Terrakotten, Leipzig 1970, Kat. 20a, Bild 20a. Vgl. auch die Tanzunterrichtsszenen bei Fritz Weege: Der Tanz in der Antike, Halle 1926, Abb. 179; Rühfel: Kinderleben, S. 43, Bild 21; Beck: Album of Greek Education, Plates 77–81 („X. Education of Girls: Dancing“). In diesem Sinne erscheint auch die Lesart von Davidson und Burr Thompson plausibel, die den tönernen Gliederpuppen nackter, beweglicher Tänzerinnen auch

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Bild 38  Melisches Relief, Tänzerin mit Krotalen, 480–470 v. Chr., Terrakotta, Inv. Nr. TC 5892, Altes Museum, Berlin.

Die Tanzaufführungen junger parthenoi bildeten häufig die Höhepunkte der Hochzeiten und der Feste zu Ehren weiblicher Gottheiten. Funde in den Heiligtümern von Nymphen oder von Artemis, Demeter und Kore schienen bislang hinreichend die genuine Bestimmung von Gliederpuppen als Opfergaben zu belegen. Dies geschah jedoch unter Bezugnahme auf Grabstelen, die jene Puppen in den Händen junger Mädchen zeigen, die ausschließlich als Torsopupeinen apotropäischen Impetus zusprechen, wie er bereits bei einigen ägyptischen Gliederpuppen zutage tritt. Vgl. Davidson: Small Objects, S. 117.

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Bild 39  Tänzerin, 4. Jh. v. Chr., Terrakotta, Inv. Nr. TC 6822, Altes Museum, Berlin.

Bild 40  Gliederpuppe, spätes 4. Jh. v. Chr., Terrakotta, 27 cm, Inv. Nr. DAP 838, Hessisches Puppenmuseum, Hanau. (Farbtafel 3)

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pen identifiziert werden können. Neben Gliederpuppen wurden auch tönerne Votivgaben gefunden, die das Bild einer jungen Tänzerin evozieren, ohne jedoch wie die Gliederpuppen beweglich zu sein. Ein Melisches Relief aus dem Alten Museum in Berlin von ca. 475 v. Chr. zeigt eine parthenos als Tänzerin mit Krotalen (Bild 38), ebenso wie die am selben Ort aufbewahrte farbig gefasste Statuette einer Tänzerin mit Rhythmusinstrumenten aus Athen, wohl aus dem 4. Jh. v. Chr. (Bild 39). Diese Votiv- oder Weihegaben bezeugen das Bestreben der Darbringenden, eines Tages als Braut Ehrentänze zu erhalten, oder zur Elite der ausgewählten Tänzerinnen zu gehören. Solche ausschließlich als Votivgaben gefertigte Figuren mussten per se nicht beweglich sein, denn eine energiegeladene Tanzbewegung konnte, wie die Statuette aus Berlin eindrucksvoll widerzugeben vermag, ebenso durch das ‚bewegte Beiwerk‘ eines schwingenden Tanzkleides evoziert werden. Gliederpuppen, Votivtäfelchen und unbewegliche Terrakotten sind zwar allesamt in Kultstätten und Gräbern bezeugt. Aufgrund ihrer Bewegungsfähigkeit verweisen Gliederpuppen jedoch auf eine Bestimmung ante quem, die in ihrer Funktion als manuell einsetzbares Modell lag. Bevor sie eines Tages zu Votivgaben wurden, müssen Gliederpuppen für die Hände lernender Tänzerinnen bestimmt gewesen sein – nur darin erklärt sich schlüssig ihre Beweglichkeit, die sogar, wie eine äußerst aufwendig gearbeitete Gliederpuppe aus dem 4. Jahrhundert zeigt, auch unterschiedliche Kopfhaltungen umfassen konnte (Bild 40). Ihr unmittelbar auf den Tanz ausgerichtetes Äußeres lässt auf eine zielgerichtete Anwendungsfunktion innerhalb der Ausbildung schematisierter Tänze schließen. Diese spezielle Ausrichtung sollte sich in der Folge gleichwohl reduzieren und wird sich bei den römischen antiken Gliederpuppen als kaum mehr relevant erweisen.

c   Rom Cr e p er e i a Tr y ph ae n a Im Zuge von Grabungsarbeiten am Justizpalast in Rom, unweit des Vatikans, traten am 10. Mai 1889 zwei Marmorsarkophage zutage. Bei den sterblichen Überresten handelte es sich den Inschriften der Särge zufolge um jene einer in jungem Alter verstorbenen Frau namens Crepereia Tryphaena sowie eines älteren Mannes, Crepereio Euhodo, der wahrscheinlich ihr Vater gewesen war.99 In 99

Im Stile eines Augenzeugenberichtes erscheint der Artikel von Rodolfo Lanciani: A Romance of Old Rome, in: The North American Review 150/398 (1890), S. 80–87 sowie Auguste Geffroy: Lettre du directeur de l’École française de Rome, in: Comptes-rendues des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 33/3 (1889), S. 198–200. Vgl. grundlegend den Ausst. Kat.: Roma Capitale 1870–1911.

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dem mit Sickerwasser gefüllten Sarg, der den erstaunlich gut erhaltenen Leichnam der etwa im Alter von zwanzig Jahren verstorbenen Crepereia barg, befand sich, neben wertvollen Schmuckstücken und Preziosen, eine Gliederpuppe von höchster Qualität (Bild 41).100 Die dreiundzwanzig Zentimeter hohe Figur, die durch ihre äußerst feine Formgebung besticht, zeigt den Körper einer jungen Frau mit leicht ausla­ dendem Becken, gewölbtem Bauch mit rundem Nabel, hochsitzenden Brüsten und einem zierlichen Kopf, der von einer aufwendigen Frisur bekrönt wird (Bild 42a–b).101 Der Rumpf und die leicht überlängten Gliedmaßen der aus neun Einzelteilen zusammengefügten Gliederpuppe sind allesamt aus Elfenbein geschnitzt.102 Die präzise ineinander gepassten, mit Zapfen fixierten Scharniergelenke in Schultern, Becken, Arm- und Kniebeugen führen zu einem komplexen Bewegungsspektrum, das selbst jenes der aufwendigen griechischen Gliederpuppen übertrifft (Bild 43a–b). Verblüffend detailliert sind Finger und Zehen mit fein geschnitzten Nägeln versehen, das größte Augenmerk wurde jedoch auf den Kopf gerichtet.103 Dem ernst blickenden Gesicht eignet ein kindlich-femininer Zug, bedingt durch die vollen Lippen, die kleine Nase und die leicht überdimensionierten Augen, deren unterschiedlich große Pupillen den Lebendigkeitsimpetus verstärken. Für die Datierung der Gliederpuppe ist insbesondere die kunstvolle Frisur des Haupthaars entscheidend.104 Die über der Stirn gescheitelte dichte Haarpartie wird von einer dreistufigen Haarschnecke überfangen, welche durch

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Crepereia Tryphaena. Le scoperte archeologiche nell’area del Palazzo di Giustizia, hg. v. Anna Mura Sommella, Venedig 1983 sowie Elderkin: Ancient Jointed Dolls, S. 472 u. Bild 23; Adolf Rieth: Die Puppe im Grabe der Crepereja, in: Atlantis 7/33 (1961), S. 367–369; Karlik: Antike Gliederpuppen, S. 50 ff.; Rudolf Degen: Römische Puppen aus Octodurus/Martigny VS. Gliederpuppen der römischen Antike, in: helvetia archaeologica 109/28 (1997), S. 15–38, hier S. 18 ff.; Maurizio Bettini: The Portrait of the Lover, Berkeley/Los Angeles/London 1999, Kap. 17 ‚The Doll‘, S. 213–227; zuletzt Chiara Bianchi: Le bambole in avorio e in osso, in: Anna Ceresa Mori/Claudia Lambrugo/Fabrizio Slavazzi (Hg.): L’infanzia e il gioco nel mondo antico, Mailand 2012, S. 27–32. Bettini zufolge handelt es sich um „the most famous doll from antiquity“. Bettini: The Portrait of the Lover, S. 216. Rieth geht davon aus, dass die Puppe einst bekleidet war. Vgl. Rieth: Die Puppe, S. 367; diese Annahme kann durch verschiedene Funde gestützt werden, bei welchen Puppenkleidung, teilweise mit wertvollen Goldfäden durchzogen, aus republikanischer Zeit gefunden wurde. Vgl. Fittà: Spiel und Spielzeug, S. 58 f. u. Anm. 50. Erst bei einer wiederholten Restaurierung konnte die Materialverwendung abschließend geklärt werden. Vgl. Degen: Römische Puppen, S. 21 sowie die Angaben von Adolf Rieth: Die Puppe. Dies verleitete Fittà zu der Annahme, es könnte sich um ein Porträt der Verstorbenen handeln. Fittà: Spiele und Spielzeug, S. 58. Degen: Römische Puppen, S. 20 f. u. Anm. 2.

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Bild 41  Grabbeigaben aus dem Grab der Crepereia Tryphaena, ca. 150 n. Chr., Kapitolinische Museen, Rom.

einen vom Nacken zum Scheitel geführten Zopf fixiert ist. Der Vergleich mit einer Büste Faustinas der Älteren (105–140 n. Chr.) in den Kapitolinischen Museen zeigt verblüffende Parallelen im gelockten Stirnscheitel, den stufig nach oben gewickelten Haarbändern sowie dem über den Hinterkopf geführten Zopf (Bild 44a–c).105 Eine Entstehungszeit der Gliedefrau Mitte des 2. Jahrhunderts gilt demnach als höchst wahrscheinlich, das Begräbnis dürfte wenige Jahre später, um das Jahr 170 stattgefunden haben.106 Die Werthaftigkeit der kunst-

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Zugleich ergeben sich Ähnlichkeiten mit Medaillenbildnissen ihrer Tochter, Faustina der Jüngeren (130–176), die um 150 geprägt worden sind. Vgl. Ausst. Kat.: Roma Capitale, S. 58 f. Dies deckt sich mit der Datierung der Sarkophage in die antoninische Zeit. Vgl. Anna Mura Sommella: Crepereia Tryphaena, in: Ausst. Kat.: Roma Capitale 1870– 1911. Crepereia Tryphaena. Le scoperte archeologiche nell’area del Palazzo di Giustizia, Venedig 1983, S. 29–32, hier S. 30.

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Bild 42a–b  Gliederpuppe aus dem Grab der Crepereia Tryphaena, um 150 n. Chr., Elfenbein, 23 cm, Inv. Nr. 469, Kapitolinische Museen, Rom. (Farbtafel 4)

vollen Schnitzarbeit setzt sich in der aufgefundenen preziösen Ausstattung fort. Von feinster Goldschmiedearbeit zeugt der Daumenring an der rechten Puppenhand, an dem ein kleiner Schlüssel befestigt ist.107 In ähnlichem Maße reich wie diejenige der Crepereia Tryphaena war die Ausstattung einer weiteren aus Elfenbein geschnitzten Gliederpuppe von 16,3 cm Länge, die im Sarkophag eines etwa achtjährigen römischen Mädchens ent­deckt wurde, das als „Mummia di Grottarossa“ große Bekanntheit erlangte 107

Vgl. Rieth: Die Puppe, S. 368; Ausst. Kat.: Roma Capitale, S. 66 ff.

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(Bild 45a–b).108 Die heute im Museo Nazionale in Rom bewahrte Figur aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts war zusammen mit einer Goldkette, Fingerund Ohrringen sowie verschiedenen Miniaturgefäßen aus Bernstein zum Leichnam in den Sarkophag gelegt worden.109 Insgesamt mutet die Puppe etwas voluminöser an als das Exemplar aus dem Grab der Crepereia, insbesondere bedingt durch den runden Bauch und das ausladende Gesäß. Außerdem ist sie nicht barfüßig, sondern mit Calcei ausgestattet, ein Indiz, das auf eine Beklei-

Bild 43a–b  Schematische Darstellung von Konstruktion und Bewegungsspektrum der Gliederpuppe aus dem Grab der Crepereia Tryphaena.

dung der Figur mit eigens gefertigten und heute verlorenen Puppenkleidern schließen lässt. 108

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Bei der am 15. Februar 1964 gefundenen Puppe ging Michel Manson zunächst von Hartholz (Ebenholz) als Material aus; dementgegen steht die Auffassung von Degen, der die dunkle Färbung der Puppe auf ein Erhitzen des Elfenbeins zurückführt. Michel Manson: Le bambole romane antiche, in: La Ricerca Folklorica 16 (1987), S. 15–26, hier S. 25; Degen: Römische Puppen, S. 21. Ebenfalls für Elfenbein plädiert Somella: Crepereia, S. 29. Degen: Römische Puppen, S. 21, 27 u. 36.

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Bild 44a–c  Büste Faustinas der Älteren (105–140 n. Chr.), 1. Hälfte 2. Jh. n. Chr., Marmor, Kapitolinische Museen, Rom.

Die Bauweise der beiden Gliederpuppen ist in vielen Teilen identisch, einzig die Gelenke der nach innen hin eingefrästen Oberschenkel der Letztgenannten sind nicht an zwei Zapfen beweglich eingehängt, sondern mit Seitenstäben an dem nach unten gezogenen Schambereich angefügt.110 Durch ihren Materialwert und die aufwendige technische Bearbeitung erhalten die elfenbeinernen Gliederpuppen den Status von die Verstorbenen verkörpernden Kleinodien, die im Verbund mit der kostbaren Ausstattung an einen im Grabesraum substitutiv verwirklichten Reichtum erinnern.111 Zur Gruppe preziöser römischer Gliederpuppen aus Elfenbein ist auch eine dreißig Zentimeter große, feingliedrige Figurine zu zählen, die in Tivoli im Grab der Vestalin Cossinia gefunden wurde (Bild 46a–b).112 Fälschlicherweise wurde die Puppe, dadurch dass sie sich im Grab der über siebzig Jahre alten Reli­ gionsdienerin befand, als Ausdruck eines keuschen Lebenswandels gewertet,

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Auch in den Oberarmen sind, offenbar zur besseren Beweglichkeit der Arme, Einkerbungen an den Schulterbereichen zu vermerken. Damit setzen die römischen Gliederpuppen das bei den früh verstorbenen griechischen Mädchen angenommene substitutive Ausstattungsverfahren fort. Vgl. Schwarz­­maier: „Ich werde immer Kore heißen“, S. 175­­–227. Einen Gegensatz bilden Spielzeuge aus Ton von geringem Wert und einfacher Gestaltung. Vgl. Barbara Speck: Römisches Spielzeug. Rassel, Tiere, Puppen und Knöchelchen, in: Ausst. Kat.: Spielzeug in der Grube lag und schlief. Archäologische Funde aus Römerzeit und Mittelalter, hg. v. Andreas Pfeiffer, Heilbronn 1993, S. 13–25. Die Puppe wurde 1929 bei Grabungsarbeiten entdeckt. Vgl. hierzu G.H. Hallam: A Note on the Monument and Tomb of a Vestal Virgin, in: The Journal of Roman Studies 20 (1930), S. 14–15; Gabriella Bordenache Battiaglia: Corredi funerari di età imperiale e barbarica nel Museo nazionale romano, Rom 1983, S. 124–138; Eugenia Salza Prina Ricotti: Giochi e giocattoli, Rom 1995, S. 56, Bild 45.

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1 Gliederpuppen im Altertum

Bild 45a–b  Gliederpuppe aus dem Grab der „Mummia di Grottarossa“, 2. Hälfte 2. Jh. n. Chr., Elfenbein, 16,5 cm, Museo Nazionale, Rom.

welcher in der grundsätzlich jungen Mädchen vorbehaltenen Grabbeigabe scheinbar zum Ausdruck kam. Stilistische Vergleiche der Kopfgestaltung führten jedoch zu dem Schluss, dass die Puppe dieser römischen Priesterin erst Ende des zweiten, beziehungsweise Anfang des dritten Jahrhunderts gefertigt worden war, wohingegen das Grab der Vestalin bereits in die erste Hälfte des ersten Jahrhunderts zu datieren ist.113 Wohl durch mehrfache Überschwemmungen 113

Fittà: Spiel und Spielzeug, S. 53.

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I  Kult

Bild 46a–b  Gliederpuppe aus dem Grab der Vestalin Cossinia, 1. Hälfte 3. Jh. n. Chr., Elfenbein und Goldschmuck, 30 cm, Museo Nazionale, Rom.

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1 Gliederpuppen im Altertum

Bild 47  Bewegungsvarianten von Gliederpuppen aus der römischen Antike, Schaubild nach Michel Manson (1987).

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des Tibernebenflusses Aniene war der Inhalt eines in räumlich unmittelbarer Nähe befindlichen Mädchengrabes in die Ruhestätte der Vestalin geschwemmt worden.114 Bei den Gliederpuppen der römischen Antike wurden unterschiedliche Gliederungs- und damit Bewegungsvarianten entwickelt, die Michel Manson beschrieben und analysiert hat (Bild 47):115 Die Gelenkbildungen des Unterleibs sind mit denjenigen der frühklassischen griechischen Gliederpuppen vergleichbar, deren Beine zwischen drei hierfür gefertigten Dornen am Unterleib befestigt wurden. Ebenso ist die Fixierung der Unterschenkel an den vom Rumpf ausgehenden, unbeweglichen Oberschenkeln eine tradierte Gliederungsvariante. Neuartig ist die sich bei römischen Gliederpuppen verstetigende Methode, die Beine am nach unten gezogenen Schambereich seitlich zu fixieren. Im Gegensatz zu den nur vereinzelt überlieferten Gliederpuppen mit individualisierten Köpfen und deutlich artikulierten Proportionen erscheinen die römischen Gliederpuppen, die ab dem dritten Jahrhundert nach Christus entstehen, vornehmlich als stilisierte, einfach gestaltete und stets nur in Schulter- und Beckenpartie mit Scharniergelenken ausgestattete Schnitzwerke.116 Exemplare dieser eher schematisch gearbeiteten Gliederpuppen fanden in vielen der römischen Provinzen Verbreitung,117 so etwa auch auf der iberischen Halb114

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Ein ähnliches Schicksal der Entmystifizierung wurde den vermeintlichen Puppen von Maria, der Ehefrau des weströmischen Kaisers Honorius (384–423), zuteil, welche dieser mit ins Grab gegeben worden sein sollen – eine Annahme, die sich als philologischer Übertragungsfehler erwiesen hat. Michel Manson: Histoire d’un mythe. Les poupées de Maria, femme d’Honorius, in: Mélanges de l’École française de Rome. Antiquité 90/2 (1978), S.  863–869. Zur ursprünglichen Annahme vgl. Elisabeth Lemke: Spiel-, Zauber- und andere Puppen, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25 (1915), S. 126–136, hier S. 129 sowie noch in jüngster Forschung: Karen K. Hersch: The Roman Wedding. Ritual and Meaning in Antiquity, Cambridge 2010, S. 68. Manson: Le bambole romane, S. 17. Manson zählt siebzehn derartiger individueller Puppen. Vgl. Manson: Le bambole romane, S. 19. Zur Kategorisierung der römischen Gliederpuppen vgl. bereits ausführlich ders.: Les poupées dans l‘Empire romain, le royaume du Bosphore cimmérien et le royaume parthe, Diss. École pratique des hautes études Paris, Typoskript, Paris 1978. So wurden vergleichbare Gliederpuppen in Bosnien-Herzegovina, Frankreich, der Schweiz, Slowenien und Spanien gefunden. Vgl. Degen: Römische Puppen, S. 18; Karlik: Antike Gliederpuppen, S.  40. Manson berücksichtigt in seiner Untersuchung ‚römischer‘ Gliederpuppen das gesamte römische Siedlungsgebiet, neben italienischen, spanischen und gallo-germanischen Gebieten auch griechische und ägyptische, Mesopotamien, den Bosporus, die westliche Krim sowie Kleinasien, um hierbei knapp 500 Gliederpuppen zu periodisieren, geographisch zuzuordnen und zu kategorisieren. Manson: Les poupées; ders.: Le bambole romane. Vgl. weitere Exemplare bei M. R. Rinaldi: Ricerche sui giocattoli nell‘antichità a proposito di un’inscrizione di Bresello, in: Epigraphica 18 (1956), S. 104–129.

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Bild 48  Junger Gaukler mit beweglichen Beinen und Phallus, 1. Jh. v.–1. Jh. n. Chr, Terrakotta, 15,6 cm, Inv. Nr. H.3093, Martin von Wagner Museum, Würzburg.

Bild 49  Knabenpuppe, frühes 3. Jh. n. Chr., Terrakotta, 27,5 cm, Inv. Nr. RAP 540, Hessisches Puppenmuseum, Hanau.

insel, wie ein Fundkomplex aus vier beinernen und einer bernsteinernen Gliederpuppe im Museo Arqueológico Provincial de Albacete bezeugt.118 Diese in der Nekropole Las Eras (Ontur) zu Tage beförderten unbekleideten Figurinen sind mit einer Größe von 16,5 cm bis 25,5 cm größer als die Puppe der Crepereia Tryphaena. Bis auf die mitgeschnitzten, spitzzulaufenden Stiefeletten sind alle Figuren unbekleidet. Die im dritten oder vierten Jahrhundert entstandenen Gliederfiguren müssen, insbesondere die bernsteinerne Gliederpuppe, aufgrund des verwendeten Materials als äußerst wertvolle Artefakte gelten. Noch in der Tradition hellenistischer Pendelfiguren stehen die man­ nigfachen römischen Gliederpuppen aus Ton des ersten und frühen zweiten Jahrhunderts, die etwa Schauspieler, Soldaten oder Musiker darstellen.119 Sie

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Der Komplex wurde bei Grabungen im Jahre 1946 von Joaquín Sánchez Jiménez erschlossen. Vgl. Joaquín Sánchez Jiménez: Excavaciones y trabajos arqueológicos en la provincia de Albacete, Madrid 1947. Vgl. Andres: Die Antikensammlung, S. 174–182, Kat. 101–109.

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reflektieren somit unterschiedliche gesellschaftliche Handlungsfelder des Er­ wachsenenlebens – vom häuslichen Umfeld bis zum kriegerischen Kampf, von der profanen Unterhaltung bis zur religiösen Andacht. Während einzelne dieser Ton­figuren, wie etwa ein aus Kertsch (Krim) stammender junger Gaukler aus dem ersten Jahrhundert, dessen Beine und Phallus durch einen Achsstab auf Hüfthöhe beweglich sind, einem aufwendigeren Formverfahren zugrunde liegen (Bild 48),120 erweisen sich die meisten dieser einfachen Gliederfiguren als serielle Produkte, die in Töpfermanufakturen mittels Modeln hergestellt worden sind.121 Als besondere Gliederpuppe aus römischer Zeit offenbart sich schließlich eine Knabenfigur aus Ton mit beweglichem Kopf und angewinkelten schwenkbaren Armen (Bild 49). Anders als bei den zahlreich erhaltenen kleineren unbeweglichen Kinderfiguren mit Orantengestus war es durch die beweglichen Arme möglich, der Kindsfigur im entscheidenden Moment die erwünschte Gebetshaltung zu verleihen. Zusammen mit dem abgeflachten Gesäß bestärkt sich die Auffassung, dass es sich hier kaum um eine Spielpuppe, sondern um eine Stellvertreterfigur handelt, die, etwa auf einem privaten Altar positioniert, an Kulthandlungen teilnahm.122 Während die griechischen Gliederpuppen in der Mehrzahl, sei es durch ein aufmodelliertes Tanzkleid oder die Ausstattung mit Rhythmusinstrumenten, sich als Tänzerinnen zu erkennen geben, wodurch sie im erweiterten Rahmen öffentlicher Kulthandlungen gedeutet werden müssen, ist dieser sozio-kulturelle Zusammenhang bei den elfenbeinernen Gliederfiguren aus römischer Zeit nicht mehr ersichtlich. Neben einer kostbaren Ausstattung mit Schmuck lässt das mitgeschnitzte Schuhwerk der feinen Figurinen darauf schließen, dass sie eine eigens gefertigte Garderobe besaßen, mit welcher sie bekleidet werden konnten.123 Bei ihnen handelt es sich offenbar um kostbare Gefährtinnen der früh Verstorbenen aus wohlhabenden Familien, die diese über den Tod hinaus begleiteten. Derart ‚personalisierte‘ Elfenbeinfiguren begründeten eine Hochphase der Gliederpuppengestaltung im zweiten und dritten Jahrhundert. Ihre Verwendung als Grabbeigaben steht wiederum in der hellenistischen Tradition 120

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Die Figur ähnelt insofern den bei Herodot, II, 48 und bei Lukian: De Dea Syria, 16 beschriebenen Dyonisos zugeeigneten männlichen Gliederpuppen, die über einen (teilweise mit Fäden) beweglichen Phallus verfügten. Vgl. Davidson: Small Objects, S. 117, Anm. 144. Den apotropäischen Impetus erkennt auch Manson: Le bambole romane, S. 22. Vgl. die Beispiele in Manson: Le bambole romane antiche, S. 15; Ausst. Kat.: Die Antikensammlung, S. 191. Vgl. Andres: Die Antikensammlung, S. 220 m. weiterer Lit. Durch ihre wohlgenährte Gestalt kann die Knabenfigur in das frühe dritte Jahrhundert n. Chr. datiert werden. Vgl. Bianchi: Le bambole in avorio e in osso, S. 28.

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1 Gliederpuppen im Altertum

der substitutiven Brautausstattung zu früh – also vor Hochzeit und Schwangerschaft – verstorbener Mädchen.124 Bis in christliche Zeit hinein wurde die Beigabe einer Gliederpuppe in das Kindergrab mit weniger aufwendig geschnitzten, zunehmend schematisierten Puppen fortgesetzt und zugleich modifiziert, indem Gliederpuppen auch als Erkennungszeichen in christlichen Katakomben dienen sollten.

Gl ie der p up p e n i n c h r i st l ic he n K at a komb e n „HERMOFILIS • IN PACE • DORMI • QUE VIX • ANNO • I • MENSIBVS • III • DIEBVS • XIIII (Es ruhe in Frieden Hermofilis, der 1 Jahr 3 Monate und 14 Tage alt wurde)“ lautet die dreizeilige Inschrift einer Grabplatte in den Novatianus-Katakomben des Friedhofs westlich der Viale Tiburtina.125 Links der Bezeichnung wurde in den noch feuchten Mörtel eine Gliederpuppe aus Bein hineingedrückt, sodass ein Teil ihrer Oberfläche als tastbares Relief auf der Grabplatte erscheint (Bild 50). Die nur elf Zentimeter große Puppe ist durch ihre grob angegebenen weiblichen Geschlechtsmerkmale, den sich leicht nach vorn wölbenden sehr hoch sitzenden Brüsten und einer als ‚V‘ eingeritzten Scham, der Gruppe schematischer Gliederpuppen aus dem dritten bis vierten Jahrhundert zuzuordnen. Dass es sich bei dem Verfahren der Objektfixierung in der Grabplatte um keine einmalige Vorgehensweise handelt, zeigen die mannigfachen Einfassungen verschiedener Gegenstände in die Verschlussplatten der Loculi in dieser Begräbnisstätte, von Metallobjekten und Münzen über Figurenfragmente aus Bein bis hin zu kleinen Öllampen, tönernen Fischen oder Muscheln. Besonders bemerkenswert ist jedoch die Häufung von in den Kalk eingelassenen Gliederpuppen in dieser und weiteren Katakomben.126 124

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Vgl. zu dieser Frage auch Marie-Odile Kastner: L‘enfant et les jeux dans les documents d‘époque romaine, in: Bulletin de l‘Association Guillaume Budé 1/1 (1995), S. 85–100, insb. S. 89 ff. Enrico Josi: Cimitero alla sinistra della via Tiburtina al viale Regina Margherita, in: Rivista di archeologia cristiana 11 (1934) S. 7–47, hier S. 31 f. u. Bild 52 f.; Degen: Römische Gliederpuppen, S. 35 u. Abb. 12; der aus dem Griechischen stammende Name des Verstorbenen könnte im Zusammenhang mit einem weiteren Grab der Anlage stehen, in dem ‚Baebia Hermofile‘ begraben worden war. Heikki Solin: Die griechischen Personennamen in Rom, Bd. 1, Berlin 2003, S. 62 sowie Josi: Cimitero alla sinistra della via Tiburtina, S. 31 f. Karlik unterscheidet diejenigen Gliederpuppen, die aus Katakomben stammen, deren genaue Fundumstände jedoch ungeklärt sind, von denjenigen Gliederpuppen (und ähnlichen Figuren), die in die Verschlussplatten eingelassen worden sind. Karlik: Antike Gliederpuppen, S.  43. Zu den Gliederpuppenfunden innerhalb von Katakombengräbern vgl. Joseph Fink: Die römischen Katakomben, Mainz 1997, S.  15; Victor Schultze: Die Katakomben. Die altchristlichen Grabstätten (1882), Hamburg 2013, S. 216.

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Bild 50  Grabverschluss des Hermo­ filis-Grabes, Gliederpuppe in Mörtel eingedrückt, 3.–4. Jh., Bein, 11 cm, Novatianus-Katakomben, Rom.

Bild 51  Gliederpuppe in Mörtel eingedrückt, 3.–4. Jh. N. Chr., Bein, 24,5 cm, Museo Nazionale, Rom.

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1 Gliederpuppen im Altertum

Im Gegensatz zu den in die Katakombengräber verbrachten figürlichen Beigaben blieben die außen angebrachten Gliederpuppen ein für die Hinterbliebenen sichtbares – oder vielmehr tastbares – Relikt: Auch wenn sich die heute im Museo delle Terme in Rom aufbewahrte 24,5 cm große kaiserzeitliche Gliederpuppe aus Bein nicht mehr an ihrem letzten Bestimmungsort befindet, verweist sie noch heute auf ihre Funktion als Erkennungszeichen für Angehörige, indem sie, nur zum Teil in den Kalk eingelassen, reliefhaft an der Oberfläche erscheint (Bild 51). Somit konnten die auf die Grabplattenoberfläche gebannten Gliederfiguren als haptische Identifikationsformen dienen, die nunmehr unbeweglich als letzte zur Außenwelt gewandte Figurationen der Verstorbenen erschienen.127 Die weibliche Gliederpuppe des Hermofilis auf der Grabplatte eines jung verstobenen männlichen Kleinkindes offenbart, dass diese kaum als substituierende Figuration eines weiblichen Ideals begriffen wurde. Die eingelassenen Gegenstände verbinden sich vielmehr durch einen persönlichen Bezug mit den Verstorbenen. Einige Gegenstände dienten sicherlich einst Kindern als Spielzeug, weshalb sie gleichsam als erinnerndes Zeugnis höchster Lebendigkeit und als ‚Berührungsreliquien‘ für die Hinterbliebenen gelten können. Andererseits zeigt sich im Vorgang des Einmörtelns einer Gliederpuppe – mit der Arretierung ihres Bewegungsmechanismus – die Stillstellung des Lebens, sodass sie im reglosen Zustand auch als eine sinnfällige Verkörperung des im Grab gebannten, für immer reglosen Verstorbenen erscheint.

Vom Ver s c hw i nde n der Gl ie der p up p e Während durch die hohe Anzahl an tönernen Exemplaren der Sammlungsbestand antiker Gliederpuppen von griechischen Stücken bei weitem dominiert wird, belegen Einzelstücke aus römischer Zeit eine qualitative Hochphase der Gliederpuppengestaltung. Die schnitzbaren Ausgangsstoffe wie Elfenbein oder Knochen erlaubten eine detaillierte Ausgestaltung der anatomischen und physiognomischen Merkmale, sodass die Gliederpuppen der Crepereia Tryphaena (Bild 42) und der „Mummia di Grottarossa“ (Bild 45) von einer hohen Kunstfertigkeit der römischen Kleinmeister zeugen. Die beweglichen Figurinen der Folgezeit, insbesondere die Gliederpuppen der Katakombenverschlüsse, verlieren indes zunehmend an gestalterischer Qualität. Mit der Schematisierung der Gliederfiguren geht schließlich ein Rückgang ihrer Produktion einher. In Zen127

Franz Josef Dölger schwankt bei seiner Einschätzung zwischen „Grabschmuck oder Erkennungszeichen“. Franz Josef Dölger: Die Kinderpuppe als Grabbeigabe, in: Antike und Christentum 5 (1936), S. 77–78, hier S. 78. Vgl. auch Hans Graeven: Antike Schnitzereien aus Elfenbein und Knochen in photographischer Nachbildung, Hannover 1903, S. 95 f., Kat. Nr. 58, Taf. 58.

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I  Kult

traleuropa sind nur wenige Stücke für die Zeit nach dem 5. Jahrhundert belegt. Trotz der offensichtlich teilweise materialbedingten schlechten Überlieferungslage müssen sozio-religiöse Gründe für den derart signifikanten Rückgang der Gliederpuppenproduktion in Betracht gezogen werden.128 In ihrer besonderen Eigenschaft als handgeschnitzte anthropomorphe Figuren, die überdies durch ihre Beweglichkeit zusätzliche Verlebendigungsinstanzen inkorporieren, scheint ein entscheidender Grund des Verschwindens der Gliederpuppen zu liegen. Nachdem sie ihren ursprünglichen, performativen Bestimmungen als bewegliches Lehr- und Spielinstrument nachgekommen waren, wurden griechische und römische Gliederpuppen als Grabbeigaben verwendet. Die Impli­ kationen dieses Vorgangs sind mannigfaltig und dürften nur im Falle der unbeweglichen griechischen Torsopuppen allein dem Feld des Votivkultes zugerechnet werden, während den beweglichen Gliederpuppen eine solche Bestimmung erst in einem zweiten Schritt zukommen sollte. Römische Gliederpuppen, denen der dominierende Impetus des Tanzkultes fehlt, dienten gleichwohl als persönliche vielgestaltige Identifikationsfiguren, um ebenso wie Schmuck und kostbarer Hausrat in Miniaturform als Grabbeigabe ihre letzte Bestimmung zu finden. Durch ihre vielschichtige Verwendung, die bis zu einer Funktion als Erkennungszeichen des Grabmals reichen sollte, war die Gliederpuppe damit stets auch Teil religiöser Praxis. Diese sollte im 4. Jahrhundert, mit der Konstantinischen Wende und der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion, großen Veränderungen unterliegen.129 Die aus unterschiedlichsten Traditionen gespeiste religiöse Bildpraxis Roms, die ägyptische, griechische und orientalische Einflüsse aufweist, wurde durch die vergleichsweise restriktive christliche Bildverwendung von Grund auf in Frage gestellt. Während der Bildeinsatz bei staatlichen Bauten, bei Ehrenreliefs oder Porträtbildnissen erst sekundär von den Bildfragen des Christentums berührt wurde, waren diese für den persönlichen Bildumgang umso drängender. Im Zentrum des christlichen Kultes standen keine Laren und Penaten, römische Hausgötter des persönlichen Kultes, sondern die Mensa, der Tisch des Opfermals. Die Bildvermeidung der Christen war als Opposition zum reichen Bildgebrauch des römischen Staatskultes einerseits, andererseits als Einhaltung

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Als Gemeinplatz zur Begründung des Verschwindens von Spielzeug und Puppen gilt der Einfall der Barbaren. Vgl. Lamboley: Les poupées à travers les siècles, S. 420: „Après les invasions barbares du Vème siècle, la référence à des jouets ou des poupées disparaît. Pendant plus de cinq cents ans, aucun temoignage ne subsiste. Ce n’est qu’à partir du XIIème siècle qu’un premier écrit de Lambert d’Andres fait état de l’existence de poupées […].“ Zu den politisch-religiösen Implikationen vgl. Klaus Bringmann: Die konstantinische Wende. Zum Verhältnis von politischer und religiöser Motivation, in: Historische Zeitschrift 260/1 (1995), S. 21–47.

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der Vorgaben der Heiligen Schrift zu verstehen.130 Wenngleich es sich bei den Gliederpuppen um eine sehr spezielle, wohl kaum als Hausgötter tradierte Skulpturengattung handelt, standen sie als Schnitzwerke besonders dem im 2. Buch Mose formulierten Gebot entgegen: „Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“ Die in wiederkehrenden Wellen virulente Bilderfrage des sich bis zum 6. Jahrhundert in ganz Europa etablierenden Christentums sollte insbesondere für das körperhafte Standbild, die dreidimensionale Skulptur von Bedeutung sein. Diese wurde unmittelbar mit den Götterbildern der römischen Kulte verbunden, weshalb Bildwerke sich stärkeren Sanktionen ausgesetzt sahen. Wie Jan Assmann in stringenter Form ausführt, war die gattungsbezogene Unterscheidung bildlicher Darstellungen im hebräischen Urtext bereits deutlich angelegt: „lo ta-assäh lekha pessel we-kol temunah ‚Du sollst Dir kein pessel und keinerlei temunah anfertigen‘. Was ist ein pessel? Das Wort pessel stellt den Herstellungsvorgang in den Vordergrund. Es ist von einem Verb abgeleitet, das ‚behauen, schnitzen‘ heißt. Ein pessel ist ein ‚Machwerk‘, kein Bild. Zum Bild, das etwas darstellt, im Sinne von Mimesis, wird es erst durch den Zusatz: ‚und keinerlei temunah‘ in der Exodusfassung, bzw. in der Deuteronomiumsfassung, ohne das ‚und‘: ‚d.h. keinerlei temunah‘: ‚kein Schnitzwerk in Gestalt irgendeiner Figur von etwas im Himmel oben und auf der Erde unten und im Wasser unter der Erde., d.h. kein figürliches pessel, kein pessel, das etwas darstellt. Das Wort pessel betont das handgemachte, der Zusatz temunah die Bildbeziehung auf etwas Innerweltliches, Lebendiges. Man soll sich keinen figürlichen Fetisch machen.“131 Geschnitzte anthropomorphe Darstellungen, insbesondere die vielge­stal­tig beweglichen Gliederpuppen, waren einem nunmehr abgelehnten Bildgebrauch 130

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Vgl. Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, Kap. 3c. Tertullian (nach 150–nach 220), der in De idolatria (8) nicht nur die Bildhauer, sondern alle bildlich gestaltenden Künstler und Kunsthandwerker zu potentiellen Handlangern des Götzendienstes erklärt, stellt insofern eine allgemeine bildkritische Position dar: Lemma Tertullian, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg 1964, S. 1370–1374 (Bernhard Kötting), hier S. 1370. Die Traditio apostolica (um 215) verlangte wiederum von Kunsthandwerkern als Voraussetzung zur Taufe eine Einverständniserklärung, keine Götzen­ bilder mehr anfertigen zu wollen. Vgl. Michael Durst: Zur Einführung, in: ders./ Hans Münk: Christentum-Kirche-Kunst. Beiträge zur Reflexion und zum Dialog, Fribourg 2004, S. 11–26. Jan Assmann: Was ist so schlimm an den Bildern?, in: Hans Jonas (Hg.): Die zehn Gebote. Ein widersprüchliches Erbe?, Köln 2006, S. 17–32, hier S. 20.

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verhaftet. Zudem sollten Kulthandlungen, in welchen der Verstorbene durch ein Artefakt substituiert wurde, in der neuen Glaubenspraxis unterbunden werden. Die religionsabhängige Bildpolitik erwies sich als ein entscheidender Faktor für die Ablehnung und sogar Bekämpfung figurativer Kunstwerke und damit auch der Gliederpuppe.

2 .   G liederpuppen im christlichen Brauchtum

Bereits die Gliederpuppen, welche in die Verschlusssteine der Katakomben eingelassen wurden, waren Teil kultischer Prozesse innerhalb der zunehmend tradierten Handlungsformen des Christentums. Dabei stellten sie jedoch keine Gerätschaften offizieller Glaubensausübung dar, sondern dienten der privaten Erinnerung. Die Transformation der christlichen Religion sollte den beweglichen Bildwerken zum Verhängnis werden, indem ihnen, wie anderen skulpturalen Darstellungen, denen der Widerschein heidnisch-römischer und damit polytheistischer Kulte anhaftete, der Einzug in die kirchliche Bild- und Ausstattungspraxis über lange Zeit versagt blieb. Erst nach Jahrhunderten, aus welchen kaum Gliederpuppen überliefert sind, wurden bewegliche Bildwerke wieder im Rahmen kultischer Handlungen eingesetzt. Vom 4. bis zum 7. Jahrhundert erlebte die Ikone innerhalb der Ostkirche eine Blütezeit, um im 8. Jahrhundert den byzantinischen Bilderstreit mit zu bedingen.1 Für eine zunächst moderate, sodann bis zur Reformation expandierende Bildpraxis bildete das zweite Konzil von Nicäa die entscheidende Voraussetzung. Die Bildbefürworter argumentierten im Hinblick auf die Inkarnation Christi, der Fleischwerdung des Gotteswortes, als bereits göttlich präfigurierte Überwindung der Wort-Bild-Dichotomie.2 Im Zuge dieser progressiven Bilderpraxis fanden Skulpturen zunächst als Reliefs, dann als unterlebensgroße und schließlich als lebensgroße dreidi1

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Vgl. hierzu grundlegend: Hans Belting: Bild und Kult. Zur performativen Kompetenz der ‚erstarrten‘ Ikonen vgl. Bissera Pentcheva: The Performative Icon, in: The Art Bulletin 88/4 (2006), S. 631–655; dies.: The Sensual Icon. Space, Ritual, and the Senses in Byzantium, University Park 2010 sowie Leslie Brubaker, John Haldon: Byzantium in the iconoclast era, c. 680–850. A History, Cambridge, MA 2011. Moshe Barash: Das Gottesbild. Studien zur Darstellung des Unsichtbaren, München 1998; Hans Belting: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005.

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mensionale Bildwerke Eingang in den Kirchenraum.3 Der zunehmende Bildeinsatz, der mit den Ikonen der Ostkirche und den skulpturalen Bildprogrammen der Westkirche eindrucksvolle Zeugnisse hinterließ, führte über die sich weiter ausdifferenzierenden liturgischen Programme zur Ausbildung mobiler und beweglicher „handelnder Bildwerke“4, die im Rahmen von Prozessionen und theatralischen Glaubenspraktiken zum Einsatz gelangten. Ihre Funktion bestand in der materiell-bildlichen Evokation der christlichen Heilsgeschichte, wobei sich ihr Einsatz im Kirchenjahr auf die Palmsonntagsprozession, die Osterfeier und die Himmelfahrt konzentrierte. Neben den Figuren des Palmesels und des Himmelfahrtschristus erhielt mit dem beweglichen Kruzifix ein spezieller Gliederpuppentypus Einzug in den sakralen Raum.5 Die einerseits mobilen, andererseits gestalterisch manipulierbaren Christusdarstellungen nahmen als bewegliche Bildkörper in religiösen Kulthandlungen eine zentrale Rolle ein, indem sie der dramatischen Aufführung des Einzugs nach Jerusalem, der Kreuzigung, Kreuzabnahme, Beweinung und Grablegung sowie der Inszenierung der Himmelfahrt Christi dienten. Das zeitliche Erscheinen des Palmesels, des Himmelfahrtschristus und des beweglichen Gekreuzigten differiert dabei um etwa zwei Jahrhunderte.6

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Zur Großskulptur karolingischer Zeit vgl. Hilde Claussen: Karolingische Stuck­ figuren im Corveyer Westwerk. Vorzeichnungen und Stuckfragmente, in: Kunstchronik 48 (1995), S. 521–534; vgl. hierzu auch den Tagungsband: Joachim Poeschke (Hg.): Sinopien und Stuck im Westwerk der karolingischen Klosterkirche von Corvey, Münster 2002. Diesen Forschungen vorausgehend: Christian Beutler: Bildwerke zwischen Antike und Mittelalter. Unbekannte Skulpturen aus der Zeit Karls des Großen, Düsseldorf 1964. Johannes Tripps: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik, Berlin 1998; zweite, erweiterte Auflage 2000. Der Begriff „handelnde Bilder“ wurde erstmals von Peter Jezler eingeführt und durch Tripps als „handelnde Bildwerke“ verstetigt. Peter Jezler: Bildwerke im Dienste der drama­ tischen Ausgestaltung der Osterliturgie. Befürworter und Gegner, in: Ernst Ullmann (Hg.): Von der Macht der Bilder. Beiträge des CIHA-Kolloquiums „Kunst und Reformation“, S. 236–249, hier S. 237. Vgl. zu diesem Begriff zuletzt Stephan Gasser, Katharina Simon-Muscheid, Alain Fretz: Die Freiburger Skulptur des 16. Jahrhunderts. Herstellung, Funktion und Auftraggeberschaft, Bd. 1, Petersberg 2011, Kap. B: Handelnde Bildwerke, S. 252–268. Weitere veränderliche Skulpturen des religiösen Kultes stellen die mit Gelenken ausgestatteten Heiligen sowie bewegliche Christuskinder dar. Siehe hierzu Kap. I. 2. b. Teilweise dem Bereich der Volksfrömmigkeit zugeordnet, umfasst der Ausdruck ‚sakraler Raum‘ nicht nur den offiziellen Glaubensort des Kirchengebäudes, sondern alle Orte der Glaubenspraxis einer Gemeinde oder Religionsgemeinschaft. Zu Geschichte, liturgischer Einbindung und Ikonographie des Palmesels vgl. Eduard Wiepen: Palmsonntagsprozession und Palmesel, Bonn 1903; Theodor Müller: Ein spätromanischer Palmeselchristus, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 21 (1967), S. 128–134; Lemma Palmchristus, Lemma Palmesel,

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bild 52a–b Palmeselchristus, um 1055, Fichten-, Tannen- u. Buchenholz, Schweizer Landesmuseum Zürich.

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Der in den Evangelien geschilderte Einzug Jesu nach Jerusalem7 bildet die früheste Form einer szenischen Darbietung des Geschehens durch eine lebensgroße mobile Skulptur.8 Die Quellenlage erlaubt eine Annahme der ersten Darstellung des Palmesels bereits Ende des 10. Jahrhunderts.9 Ein besonders frühes und dabei gut erhaltenes Exemplar aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts ist heute im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich ausgestellt (Bild 52a–b).10 In streng aufgerichteter, beinahe ‚stehender‘ Haltung auf einer Satteldecke im Männersitz reitend, ist die bärtige Figur in ein braunes Gewand gehüllt. Der hellrote Umhang bauscht sich über die linke Hand, die ein Buch gegen die Brust presst. In dem geradeaus gerichteten Blick und den nach oben gezogenen Augenbrauen verbinden sich Weitsicht und innere Schau. Die Gestalt hat den rechten Arm auf Brusthöhe gehoben, um mit der heute verlorenen rechten Hand den Segensgestus auszuführen. Der lebensgroße Reiter ist aus einem Holzblock vollrund gearbeitet, der Esel wurde aus mehreren ausgehölten Teilstücken zusammengefügt.11 Ein im Prozessionszug mitgeführter Palmesel kann

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Lexikon der Christlichen Ikonographie: Bd. 3, Freiburg 1990, Sp. 363 f.; Tripps: Das handelnde Bildwerk, S.  89–113; Ausst. Kat.: Der Palmesel. Geschichte, Kult und Kunst, hg. v. Alfons Wenger u. a., Schwäbisch-Gmünd 2000; Christian von Burg: „Das bildt vnsers Herren ab dem esel geschlagen“. Der Palmesel in den Riten der Zerstörung, in: Historische Zeitschrift, Beihefte 33 (2002), S. 117–141. Zum Mysterienspiel und theatralischen Inszenierungen religiöser wie profaner Natur vgl. allg.: Götz Pochat: Theater und Bildende Kunst im Mittelalter und in der Renaissance in Italien, Graz 1990. Die entsprechenden Verse finden sich bei Johannes 12,12–18; Lukas 19,35–40; Markus 11,7–10; Matthäus 21,11–21. Gleichwohl gibt es eine Gruppe kleinfiguriger Palmeseldarstellungen aus unterschiedlichen Materialien, die weniger im Prozessionsgeschehen als in der privaten Andacht zu verorten sind. Als „effigies sedentis domini super asium“ beschreibt die früheste Quelle aus der Zeit um 982–992, die Vita des Bischofs Ulrich von Augsburg (923–973), den Palmesel. Im Gegensatz zu den mit tabula bezeichneten zweidimensionalen Prozes­ sionsikonen werden Skulpturen mit effigies oder auch imago benannt. Vgl. Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 89–92. Zur Entwicklung der Großplastik ottonischer Zeit auf Basis karolingischer Errungenschaften Vgl. ebd., S. 92–107. Die AMS C 14 Messung ergab als historisches Alter der Materialien, unter der Voraussetzung der gleichzeitigen Entstehung beider Skulpturen, ein relativ enges Zeitintervall von 1011–1015. Dione Flühler-Kreis/Peter Wyer (Hg.): Die Holz­ skulpturen des Mittelalters I. Katalog der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich. Einzelfiguren, Zürich 2007, S. 176–179 (m. weiterer Lit.). Bei der Restaurierung 1974–1976 konnten spätere Ergänzungen wie der Bart entfernt und die originale Fassung rekonstruiert werden. Wenngleich Eselbeine und rollbarer Untersatz aus dem 19. Jahrhundert stammen, kann eine ähnliche Vorrichtung, welche die Skulptur zu einem mobilen Bildwerk machte, als ursprünglich vorhanden angenommen werden, wie sie etwa beim Palmesel aus Kreuzlingen am Bodensee (Ende des 15. Jahrhunderts) erhalten blieb (Historisches Museum Basel, Inv. Nr. 1898.275). Alle Exemplare des Schweizeri-

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

als ein aktiver, zentraler Handlungsträger charakterisiert werden, dem die Führung des Prozessionszuges oblag, dem gehuldigt wurde und dem schließlich wundertätige Eigenschaften zugesprochen wurden.12 In diesem Sinne fungiert der lebensgroße Palmchristus als Ahne der mechanisch veränderbaren Figuren des Gekreuzigten. Dennoch reihen sich die Skulpturen der fahrbaren Palmesel nicht in die Gattung der Gliederpuppe ein, da kein Exemplar belegt ist, dessen Reiterfigur eindeutig über bewegliche Gliedmaßen verfügte.13 Für die kontinuierliche liturgische Verbildlichung des Heilsgeschehens war zudem der Einsatz eines hölzernen Himmelfahrtschristus, eine ymago resurrectionis erforderlich.14 Jene die Passion Christi abschließend inszenierende Bewegung – die Skulptur wurde mit einem Seilmechanismus nach oben getragen und entschwand durch das ‚Himmelsloch‘ in der Kirchendecke – erscheint zwar äußerst effektvoll.15 Allerdings kann die dabei eingesetzte Skulptur ebenso wenig wie der Palmesel zur Gattung der Gliederpuppe gezählt werden. Die Figur des Himmelfahrtschristus wurde aufgrund der für die Auffahrt notwen-

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schen Landesmuseums, das „gesamthaft sechs Palmeselfiguren aus einem Zeitraum von etwa sechshundert Jahren [besitzt], […] ein Beweis für die frühe und fortbestehende Existenz der beweglichen großplastischen Vollfigur“, waren wohl mit Rollen versehen. Vgl. Flühler-Kreis/Wyer: Die Holzskulpturen des Mittelalters I, S. 174. Deutlich seltener sind tragbare Exemplare, wie der Palmesel aus der Mitte des 13. Jahrhunderts aus Santa Maria in Organo, Verona; vgl. Pochat: Theater und Bildende Kunst, S. 38 u. Abb. 25b. So sollten etwa die mit ihm in Berührung gebrachten Palmwedel und Zweige heilende Kraft entfalten. Vgl. von Burg: Das bildt vnsers Herren. Zur gut dokumentierten Palmeselsprozession in Essen vgl. Elizabeth Lipsmeyer: Devotion and Decorum. Intention and Quality in Medieval German Sculpture, in: Gesta 34/1 (1995), S. 20–27 sowie Jürgen Bärsch: Raum und Bewegung im mittelalterlichen Gottesdienst. Anmerkungen zur Prozessionsliturgie in der Essener Stiftskirche nach dem Zeugnis des Liber Ordinarius vom Ende des 14. Jahrhunderts, in: Franz Kohlschein/Peter Wünsche (Hg.): Architektur, Kunst und Liturgie in den mittelalterlichen Kathedralen und Stiftskirchen, Münster 1998, S. 163–186. Eine Ausnahme stellt möglicherweise ein zwischen 1350 und 1360 gefertigter Palmesel aus Oberrotweil im Kaiserstuhl dar, der im Freiburger Augustinermuseum ausgestellt ist. Die Unterschenkel Jesu, von welchen nur einer erhalten ist, sind hier offenbar teilbeweglich gestaltet worden. Detlef Zinke sei für diesen Hinweis gedankt. Vgl. Johannes Taubert, Gesine Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe mit schwenkbaren Armen. Ein Beitrag zur Verwendung von Bildwerken in der Liturgie, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 23 (1969), S.  79–121, hier S. 96. Die Tradition hielt sich bis weit in das 19. Jahrhundert, vgl. Katharina Staudigl-Jaud: 100 Jahre Fastenkrippe und Heiliges Grab in Achenkirch, in: dies. (Hg.): Achentaler Heimatbuch, Innsbruck 1980, S. 264–267. Eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Darstellung der Himmelfahrt, die von der Ergriffenheit der Gläubigen angesichts des mirakulösen Geschehens zeugt, findet sich in: Franciscus Antonius Obermayr: Bildergalerie katholischer Misbräuche, Frankfurt a. M./Leipzig 1784, S. 158.

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Bild 53  Hans (Johannes) Fries: Himmelfahrtschristus, 1503, Lindenholz, 120,5 (mit Ring) × 55,3 × 37,2 cm, Inv. Nr. 2448, Musée d’art et d’histoire, Fribourg.

digen, kompakten Steifigkeit in aller Regel aus einem Stück gearbeitet, wie ein heute im Museum für Kunst und Geschichte Fribourg (Schweiz) bewahrtes Exemplar veranschaulicht (Bild 53).16 Erst etwa zweihundert Jahre nach dem 16

Eine Ausnahme bildet der Himmelfahrtschristus aus dem Klarissenkloster in Krakau, der über bewegliche Arme verfügt, um den Arm für den Segensgestus zu heben. Vgl. Jolanta Rzegocka: Performance and Sculpture. Forms of Religious Display in Early Modern Krakow, in: European medieval drama 9 (2005), S. 177–194. Zur Figur des Himmelfahrtschristus vgl. Robert A. Koch: A Gothic Sculpture of

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Palmesel, ungefähr zeitgleich mit dem Auftreten des Himmelfahrtschristus, ist der Gebrauch von beweglichen Kruzifixen durch Quellen zu belegen.17

a   Be weg l ic he Ch r ist usf ig u ren Ein hölzerner Christus aus der Sammlung der italienischen Skulptur des Berliner Bode-Museums stellt ein besonders eindrucksvolles Beispiel beweglicher Christusfiguren dar, die einst in religiösen Kulthandlungen Anwendung fanden. Mitte des 14. Jahrhunderts, wohl in der Werkstatt des Nino Pisano (um 1315 – um 1370) entstanden,18 ist die mit 176 cm lebensgroße Figur bis auf ein die Lenden umhüllendes Tuch nackt (Bild 54). Eine tiefe Seitenwunde hebt sich mit austretenden Blutströmen stark vom aschfahlen Inkarnat des fein modellierten Körpers ab. Rippen und perlstabförmiger Rippenbogen zeichnen sich unter der dünnen, spannenden Haut ab und erreichen in ihrer Symmetrie beinahe ornamentale Qualität. Zwischen hellen Ockertönen und grünlichen Graustufen schimmert die glänzende Haut. Das bärtige Haupt mit ebenmäßigen Zügen wird von hellbraunem Haar gerahmt und ist auf die Brust gesunken (Bild 55). Die Augen sind geschlossen, der angespannte Mund zu einem schmalen Schlitz geformt. Der in sich gesunkene Gekreuzigte erfährt durch eine Reihe widerstrebender Bewegungsmomente Impulse der Verlebendigung: Während die Arme, und insbesondere die Hände, in entspannter Ruhe verharren, zeigen sich die Zehen von den letzten Marterwellen schmerzgekrümmt. Besonders deutlich wird die divergierende Körperdynamik im Schulterbereich. Auch wenn der Leib leblos erscheint, ist die linke Schulter energievoll nach oben gezogen. Somit zeigt sich dieser Christus in einem Zwischenzustand – ermattet und doch von

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the Ascending Christ, in: Record of the Art Museum, Princeton University 19/1 (1960), S.  17–43; Hans-Joachim Krause: ‚Imago ascensionis‘ und ‚Himmelloch‘. Zum ‚Bild‘-Gebrauch in der spätmittelalterlichen Liturgie, in: Friedrich Möbius/ Ernst Schubert (Hg.): Skulptur des Mittelalters. Funktion und Gestalt, S. 281–353; Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 141–145; auch für die Himmelfahrt Mariae sollte eine dergestaltige Skulptur durch das „Himmelsloch“ entschweben, versilberte Heiliggeisttauben oder Leuchterengel wurden hingegen von oben in den Kirchenraum herabgelassen. Zum liturgischen Hintergrund vgl.: Hans Ruedi Weber: Die Umsetzung der Himmelfahrt Christi in die zeichenhafte Liturgie, Bern u. a. 1987. Vgl. Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe. Margrit Lisner tendiert zur Werkstatt des Nino Pisano: Margrit Lisner: Holzkruzifixe in Florenz und in der Toskana aus der Zeit um 1300 bis zum frühen Cinquecento, München 1970, S. 25; ebenso Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 148. Die Gegenposition (zuerst Wilhelm von Bode: Neue Erwerbungen für die Abteilung der christlichen Plastik in den königlichen Museen, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen 7 (1886), S. 203–214, hier S. 212 ff.; zuletzt Kamil Kopania: Animated Sculptures of the Crucified Christ in the Religious Culture of the Latin Middle Ages, Warschau 2010, S. 254, Kat. Nr. 22, m. weiterer Lit.) erkennt die Werkstatt seines Vaters Andrea Pisano (um 1290–1348).

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Bild 54 (Farbtafel 6), 55  Nino Pisano (Werkstatt): Kruzifix, Pisa, 2. Hälfte 14. Jh., Pappelholz, 176 × 151 cm (Kruzifixus), Inv. Nr. 33, Bode-Museum, Berlin.

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Bild 56  Nino Pisano (Werkstatt): Kruzifix, Zustand von vor 1945.

Bild 57  Konstruktionsschema des Kruzifixes von Nino Pisano (Werkstatt) nach Volker Ehlich (1990).

Kräften durchdrungen, bereits in einer übermenschlichen Sphäre und dennoch den irdischen Qualen verhaftet. Erst auf den zweiten Blick wird man den Bewegungskapazitäten der Skulptur vollauf gewahr: Neben den Gelenken im Schulterbereich ist das herabgesunkene Haupt am Hals beweglich, und auch die unter dem Lendenschurz versteckten Knie sind mit Scharniergelenken versehen. Diese zur figurativen Veränderung befähigenden Elemente waren über Jahrhunderte hinweg unentdeckt geblieben, bis vor fünfundzwanzig Jahren der damalige Chefrestaurator des Bode-Museums, Volker Ehlich, eine aufwendige Untersuchung und Restaurierung dieser Christusfigur veranlasste.19 Eine computertomographische Untersuchung deckte auf, dass es sich bei diesem Exponat einst um einen beweglichen Kruzifixus gehandelt haben muss, dessen Gelenke

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Der unrestaurierte Zustand ist zuerst dokumentiert bei: Wilhelm von Bode, Hugo von Tschudi: Beschreibung der Bildwerke der christlichen Epoche, Berlin 1888, S.  II, Nr. 25 („aus einer Kirche in Lucca stammend“, mit „vergoldetem Nimbus etwas späteren Ursprungs“ sowie „eine[r] Tafel mit der Inschrift in gotischen Lettern: IRS. NACRAEN REX IVDEORUM“).

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in späterer Zeit von einer Gipsschicht überformt worden waren (Bild 56).20 In einer Rekonstruktionszeichnung konnte Ehlich den gliederpuppenhaften, komplexen Aufbau der Holzskulptur visualisieren (Bild 57). Die Gliedmaßen waren einzeln gefertigt und ineinander gepasst worden, ebenso der Rumpf, welcher aus einem Stamm gearbeitet, ausgehöhlt und schließlich zu einem kontinuierlichen Körper zusammengefügt worden war.21 Seit der Restaurierung ist es wieder möglich den Kopf des Christus zu heben und zu senken, die ausgestreckten Beine anzuwinkeln und die Arme an den Körper zu legen. Bei der Berliner Skulptur handelt es sich um einen besonderen Typus beweglicher Christusfiguren. Durch seine multiplen Bewegungseigenschaften ist er in der Lage, unterschiedlichste Körperhaltungen einzunehmen; neben der Kreuzigungshaltung auch die des ins Grab verbrachten Leichnams, aufgrund der veränderbaren Kopfhaltung und der beweglichen Unterschenkel insbesondere auch jene Haltung, welche die Beweinung des Leibes Christi erfordert. Damit unterscheidet er sich von der Mehrzahl der beweglichen Christusfiguren, die seit den 1970er Jahren immer stärker in den Blickpunkt kunsthistorischer Forschungen gerückt sind.22 Während die meisten dieser Christusfiguren 20

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Volker Ehlich: Ergebnisse naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden. Grundlage der Restaurierung eines italienischen Holzkruzifixus des 14. Jahrhunderts, in: Forschungen und Berichte. Staatliche Museen zu Berlin 28 (1990), S. 189– 200. Auch bei unbeweglichen Christusskulpturen wurden die Arme separat gefertigt und mittels Zapfen im Schulterbereich befestigt, wobei Kopf- und Beinpartie meist zusammen mit dem Rumpf aus einem Stück gearbeitet wurden. Zentraler Ausgangspunkt der Erschließung dieses Skulpturentyps war die Untersuchung von Johannes und Gesine Taubert, die in ihrer Studie erstmals den Typus der wissenschaftlichen Öffentlichkeit bekannt machten: Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe. Zur selben Zeit veröffentlichte Magrit Lisner ihre Untersuchung zum Komplex der italienischen Kruzifixe, um damit die Gattung selbst in den Fokus kunstwissenschaftlicher Forschung zu rücken (Lisner: Holzkruzifixe). Hiernach widmeten sich Johannes Tripps in seiner Habilitationsschrift von 1998 zu den ‚handelnden Bildwerken‘ der Hochgotik (Johannes Tripps: Das handelnde Bildwerk) und Tanya A. Jung in ihrer Dissertation (Tanya A. Jung: The Phenomenal Lives of Movable Christ Sculptures, Diss. Univ. of Maryland, Ann Arbor 2006) eingehend dem Gegenstand beweglicher Christusskulpturen. Schließlich lieferte die Dissertation von Kopania die bislang umfassendste monographische Untersuchung zu diesem Skulpturentypus, in welcher der aktuelle Forschungsstand dargelegt wird sowie die ca. 150 durch Bild- und Schriftquellen überlieferten Exemplare auf ihre bauliche Konstruktion, ihre liturgische Einbindung sowie ihren historischen Wandel hin analysiert werden. Sie bietet zugleich die bislang weitreichendste Zusammenstellung relevanter Quellen und der Forschungsliteratur. Eine phänomenologisch übergreifende Annäherung bot unlängst Amy Knight Powell: Depositions. Scenes from the Late Medieval Church and the Modern Museum, New York 2012. Die jüngst publizierte Masterarbeit von Ruth Fernández González hilft zudem, die für die Gattung der Gliederpuppe relevanten variantenreichen Bewegungsmechanismen der mobilen Christusfiguren ab dem 15. Jahrhundert zu erschließen.

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über Schultergelenke verfügt, welche die ausgestreckten Arme eng an den Körper legen lassen, sind bei einigen Exemplaren über zusätzliche Gelenkverbindungen Bewegungen des Kopfes oder der Beine möglich. Einzelne Skulpturen waren gar mit einem Seilmechanismus versehen, der ihnen eine marionettenähnliche Manipulierbarkeit verlieh. Um den Verismus der Figuren zu steigern, wurden die hölzernen Christusdarstellungen zudem teilweise mit Echthaar, Nägeln und Hautimitationen ausgestattet.

Ty p e n b e weg l ic her Ch r i st u sf ig u r e n Die durch Kamil Kopania geleistete geographisch-chronologische Erschließung des europäischen Bestandes an beweglichen Christusfiguren liefert einen breiten Überblick über die Verteilung, Konstruktion und Verwendung der gegliederten Skulpturen. 23 Bei der Aufbauanalyse der jeweiligen Typen unterscheidet der Autor zwischen „most common construction types“ und „less common construction types“, wobei er unter der ersten Kategorie die Christusskulpturen mit verstellbaren (also schwenkbaren oder umsteckbaren) Armen einordnet, während jene mit weiteren Bewegungskapazitäten der zweiten Kategorie zufallen.24 Diese grobe Einteilung wird jedoch der offensichtlich aus verschiedenen Einsatzkonfigurationen entsprungenen Ausbildung unterschiedlicher Bewegungselemente kaum gerecht. Die im Folgenden vorgeschlagenen drei aufeinander aufbauenden Kategorien sollen einer weiter spezifizierten Analyse der beweglichen Christusfiguren dienen. Die hierbei vorgeschlagene Unterteilung ist unmittelbar mit dem Funktionszusammenhang und Wirkungspotential der beweglichen Figuren verbunden, wobei die zunehmende Gliederung der Skulpturen einen entscheidenden Faktor darstellt. Zugleich sollen jene Ausstattungen, die den Verismus des Bildwerks zu steigern suchten, in einer vierten, und dabei beigeordneten Kategorie gefasst werden, da die darunter subsumierten Eigenschaften nicht

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Ruth Fernández González: Sistemas de articulación en Cristos del Descendimiento, Master en Conservacion y Restauracion de Bienes Culturales, Universita Politècnica de València 2011, unter: http://riunet.upv.es/bitstream/handle/10251/15562/ Ruth%20Fernandez%20Gonzalez.pdf?sequence=1 [10.10.2014]. Kopania: Animated Sculptures. In seiner Zusammenfassung unterscheidet Kopania drei verschiedene Typen, ohne diese dabei jedoch an die damit verbundenen unterschiedlichen Anwendungssituationen rückzubinden: „in terms of construction features, the works in question can be divided into three groups: a) sculptures with movable arms only, b) sculptures fitted with mechanisms allowing movement of either the head or the tongue, c) sculptures whose construction allows movement of several parts of the body simultaneously – the arms, legs, head an tongue.“ Ebd., S. 240.

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allesamt mit der hier relevanten Beweglichkeit von Skulptur verbunden sind.25 Zu unterscheiden sind demnach folgende Typen: I Allgemeiner Kreuzabnahme-Typus, die Christusfigur mit verstellbaren, beziehungsweise schwenkbaren Armen, II Pietà-Typus, die meist lebensgroße Christusfigur mit zusätzlichen Gelenkverbindungen an Kopf und/oder Beinen, III Mirakelmann-Typus, die mittels Zugmechanismus manipulierbare Christusfigur, deren beweglicher Kopf und meist weitere Kopfelemente wie Augen, Kiefer, Zunge o. ä. sich scheinbar eigenständig bewegen, IV Verismus-Typus, die Christusfigur mit (weiteren) Ausstattungen zur Verismus-Steigerung wie Naturhaar, Nägel aus Horn, Lederhautüberzug, Blutkammer o.ä.

A l lge m e i n e r Kre u z a b n a h m e -Ty p u s In die erste Kategorie beweglicher Christusfiguren sind in der Regel alle wandlungsfähigen Objekte einzuordnen, die in großer Zahl zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert in ganz Europa26 im Rahmen liturgischer Handlungen eingesetzt wurden.27 Im Gegensatz zu den nicht eigenbeweglichen Figuren des fah25

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Zu den durch Bewegung evozierten Effekten kann etwa das lange Naturhaar gezählt werden, das nicht allein vermittels seines Glanzes, sondern auch aufgrund seiner Haptik und der Bewegungseffekte des schwingenden Haarschopfes besticht. Das aus einer internen Kammer am Körper herabfließende Blut erreicht, anhand des durch den Lanzenstich ausgelösten Stroms, eine besonders eindrucksvolle Form aktualisierter Bewegung. Kamil Kopania hat erhaltene Exemplare aus Süd-, Mittel- und Zentraleuropa eruiert (Kopania: Animated Sculpture, S. 38–44); über Spanien gelangte der Brauch auch bis nach Südamerika, vgl. Susan Verdi Webster: The Descent from the Cross in Sixteenth-Century New Spain, in: Clifford Davidson (Hg.): The Dramatic Tradition of the Middle Ages, New York 2005, S. 245–261. Dennoch sind einige wenige bewegliche Christus-Figuren nicht der ersten Kategorie zuzusprechen, wie etwa die kleine Holzskulptur aus dem Musée de Cluny, Musée National du Moyen Âge, Paris, die nur dem III. Typus zuzuordnen wäre. Desgleichen verfügen die Kruzifixe aus Pietrarossa und Terni aus dem 15. Jahrhundert nur über eine bewegliche Zunge, weshalb sie kaum zur Gattung der Gliederpuppe zu zählen sind. Vgl. Kopania: Animated Sculpture, S. 268, Kat. 73, S. 272, Kat. 94. Beim hier angegebenen Intervall handelt es sich um die Kernzeit beweglicher Kruzifixe, deren Einsatz ins 13. Jahrhundert zurückzuverfolgen ist und in einigen Gemeinden noch bis zum heutigen Tag fortgeführt wird. Während Karl Young in seiner frühen Untersuchung zur Osterliturgie davon ausgeht, dass der Einsatz beweglicher Christusfiguren dem extraliturgischen Bereich der Prozessionsspiele

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renden Palmeselchristus und dem Bild des auffahrenden Heilands verfügen sie durch ihre frei schwenkbaren Arme über ein intrinsisch angelegtes Beweglichkeitspotenzial. Statt der zuvor mit zweierlei Objekten geleisteten liturgischen Stationen der Anbetung (Adoratio Crucis) und der Grablege (Depositio Cuxis) war es mit den beweglichen Imagines Christi28 nun möglich, sowohl Anbetung als auch Kreuzabnahme und Grablege in einer kontinuierlichen Abfolge vor den Augen der Gläubigen zu vollziehen. Erste Exemplare dieses einfachsten Typus finden sich im späten 13. Jahrhundert in Spanien, die Mehrzahl entstand sodann im italienischen Tre- und Quattrocento.29 Bei der als Viernageltypus angelegten, Ende des 13. Jahrhun-

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zuzuordnen sei, beharren die Tauberts, in Bezugnahme auf die grundlegende Untersuchung von Kolumban Gschwend, auf eine unmittelbar liturgische Einbindung der Kruzifixe. Karl Young: The Dramatic Associations of the Easter Sepulchre, Madison 1920, S. 9; Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S. 101; Kolumban Gschwend: Die Depositio und die Elevatio Crucis im Raum der alten Diözese Brixen. Ein Beitrag zur Geschichte der Grablegung am Karfreitag und der Auferstehungsfeier am Ostermorgen, Sarnen 1965, S. 1 f. In den liturgischen Quellen der Depositio Crucis werden die beweglichen Skulpturen mit Imago/Ymago oder Crucifixus angegeben, wobei diese Begriffe hier eine dreidimensionale Darstellung Christi bezeichnen. Zur terminologischen Verwendung vgl. Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S. 103 ff.; Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 59, Anm. 15, S. 71, Anm. 30; Kopania: Animated Sculptures, Kap. I.2 Nomenclature issues, S. 27–36; mit dem Hinweis auf eine gemalte ymago crucifixi jedoch Hans Belting: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981, S. 20; vgl. auch Agathe Schmiddunser: Körper der Passionen. Die lebensgroße Liegefigur des toten Christus vom Mittelalter bis zum spanischen Yacente des Frühbarock, Regensburg 2008, S. 22. Der aus dem späten 12. beziehungsweise frühen 13. Jahrhundert stammende lebensgroße Cristo de los Gascones aus San Justo in Segovia weist schwenkbare Unterarme auf, die jedoch erst im Nachhinein beweglich umgearbeitet wurden. Mit den nach schräg unten gerichteten Oberarmen ist seine ursprüngliche Form den Christusfiguren zeitgleicher Kreuzabnahmegruppen verwandt. Vgl. Schmiddunser: Körper der Passionen, S. 22 ff., die von einer im 12. Jh. gefertigten, genuin beweglichen Figur ausgeht sowie Fernández González: Sistemas de articulación, S. 15 f. (m. Bild), die auf die jüngste Untersuchung des Kruzifixus durch José Andrés Casquero Fernández verweist. Der auf um 1200 zu datierende, wohl aus England stammende Kruzifixus mit beweglichen Armen, der heute im Kunstindustriemuseet in Oslo aufbewahrt wird, scheint durch seine sehr geringe Größe von 25 cm, das Material Walrosshorn sowie die Tatsache, dass von den verlorenen Armen nur einer beweglich war, ebenfalls nicht unmittelbar gattungsprägend gewirkt zu haben. Vgl. Elizabeth T. Parker, Charles T. Little: The Cloisters Cross. Its Art and Meaning, New York 1994, S.  253–258; Kopania: Animated Sculptures, S. 43 f. und Kat. 101. Aus dem 12. Jahrhundert stammt der Torso einer Christusskulptur aus Val d’Aran, deren heute verlorene Arme einst mit Metallschlingen befestigt gewesen sein sollen. Ob es sich bei diesem Exemplar jedoch um eine genuin bewegliche Figur gehandelt hat, muss offen bleiben. Vgl. Kopania: Animated Sculptures, S. 282, Kat. 2.1.

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Bild 58  Triumphkreuz, Kruzifixus mit beweglichen Armen, Ende 13. Jh., Holz, San Pedro Félix, Hospital de Incio, Lugo.

derts in Galizien gefertigten Christusfigur, die heute in San Pedro Félix, Hospital de Incio, Lugo, als Triumphkreuz über dem Altar hängend präsentiert wird, handelt es sich um eine Frühform dieses Typs (Bild 58). Das auf die Brust gesunkene Haupt mit geschlossenen Augen löst in seiner leicht nach rechts gekippten Haltung die ansonsten streng symmetrische Darstellung dynamisch auf. Die Arme des anatomisch stark schematisierten Leibes sind leicht überlängt und mittels einfacher, eingelassener Scharniergelenke beweglich. Durch die in die Handteller30 sowie die auf einem Suppedaneum aufgestützten Füße geschlagenen Nägel wird die Figur am Kreuz gehalten. Als früher Dreinageltypus mit schwenkbaren Armen erweist sich der wohl von Giovanni di Balduccio (ca. 1300–nach 1360) um 1333 geschaffene Kruzifixus, der einst im Florentiner Baptisterium zum Einsatz kam und heute im

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Ersichlich an der rechten Hand, die linke Hand ist verloren.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bild 59a–b  Giovanni di Balduccio: Kruzifixus mit beweglichen Armen, um 1333, Holz, Museo dell’Opera del Duomo, Florenz.

Museo dell’Opera del Duomo aufbewahrt wird (Bild 59a–b).31 Der Bewegungsmechanismus dieser Skulptur scheint verfeinert, indem die Schulterpartie weiter nach außen geformt wurde, sodass die darin eingelassenen, mit einem Holzdübel fixierten Oberarme weniger abrupt, sondern organisch mit dem Körper verbunden werden. Wenngleich der heftige Blutstrom den Tod des Gottessohnes bezeugt, sind wie beim Christus aus dem Bode-Museum Mund und Augen noch leicht geöffnet, verharren die Züge in einem letzten gepeinigten Seufzer. Die vom romanischen Christus triumphans zum leidenden Leib Christi der Hochgotik führende Transformation bis hin zum Crucifixus dolorosus der Spätgotik ist insofern auch bei den Kreuzabnahmefiguren zu beobachten, die zwar per se stets den sterbenden beziehungsweise toten Leib Christi zeigen müssen, diesen jedoch in zunehmendem Maße neben seiner realen Bewegungskompetenz durch die Herausstellung der Martern und Schmerzen zu einem Auslöser emotionalen ‚Bewegtwerdens‘ machen.32

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Weitere Zuschreibungen an Giovanni und Andrea Pisano. Vgl. Lisner: Holzkruzifixe in Florenz, S. 22; Pavel Kalina: Giovanni Pisano, the Dominicans, and the Origin of the „crucifixi dolorosi“, in: Artibus et Historiae 24/47 (2003), S. 81–101. Zur Verbindung dieses Kruzifixus mit der Bildform des crucifixus dolorosus (jedoch ohne Berücksichtigung der beweglichen Arme), vgl. Kalina: Giovanni Pisano, S. 84.

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Zu den berühmtesten und am intensivsten erforschten beweglichen Kruzifixen des einfachen ersten Typus gehört die von Donatello (um 1386–1466) um 1415 geschaffene Holzfigur des Gekreuzigten (Bild 60). Die farbig gefasste, 168 cm hohe und 173 cm breite Skulptur befindet sich heute in der Capella Bardi in der Florentiner Franziskanerkirche Santa Croce. Innerhalb der Vita di Donato berichtet Giorgio Vasari (1511–1574) in einer berühmten Passage von der Anfertigung dieser Skulptur, wobei weniger deren Beweglichkeit als der Paragone mit einer Christusdarstellung Filippo Brunelleschis (1377–1446) im Zentrum der Schilderung steht.33 Der Wettstreit entspinnt sich aus der Ansicht Brunelleschis (wie sie ihm Vasari in den Mund legt), Donatello habe offenbar einen „Bauern und nicht eine Jesus Christus entsprechende Gestalt an das Kreuz genagelt“.34 Während einerseits das expressive Haupt der Christus­figur Donatellos diesen Eindruck zu fördern vermochte, ist es andererseits der sich wie unter Schmerzen windende muskulöse Körper, der in vehementem Gegensatz zum feinsehnigen Leib des von Brunelleschi gestalteten Gekreuzigten steht. Ein entscheidender Grund für die besonders im Oberkörperbereich kräftig ausgebildete Anatomie liegt in der massiven Schulterpartie, die Donatello als nötig erachtete, um die schwenkbaren Arme sowohl in technischer als auch in ästhetischer Hinsicht adäquat zu realisieren.35 Der Wunsch, ein bewegliches und damit polyvalentes Bildwerk des Gottessohnes zu schaffen, führte zu einer gesteigerten physischen Präsenz, die für Vasaris Gewährsmann Brunelleschi

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Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, hg. v. Rosanna Bettarini/Paola Barocchi, Bd. III, Florenz 1966–1987, S. 204 ff.: „Nella chiesa medesima sotto il tramezzo, a lato alla storia di Taddeo Gaddi, fece con straordinaria fatica un Crucifisso di legno, il quale quando ebbe finito, parendogli aver fatto una cosa rarissima, lo mostrò a Filippo di ser Brunellesco suo amicissimo, per averne il parere suo; il quale Filippo, che per le parole di Donato aspettava di vedere molto miglior cosa, come lo vide sorrise alquanto.“ Vgl. Gosbert Schüßler: Ein provozierendes Bildwerk der Passion. Donatellos Kruzifix von S.  Croce, in: Karl Möseneder (Hg.): Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp, Berlin 1997, S. 49–72. Weitere Literatur bei Kopania: Animated Sculptures, S. 264, Kat. 55. „[…] gli pareva che egli avesse messo in croce un contadino e non un corpo simile a Gesù Cristo“. Vasari: Le vite, Bd. III, S. 204. In diesem Sinne betont Schüßler: „Allein die von Anfang an einkalkulierte Schwenkbarkeit der Arme Christi bedingte, daß die allzu kugelig herausgearbeitete Region der Schultergelenke an einen durchtrainierten Körper denken lassen.“ Schüßler: Ein provozierendes Bildwerk, S.  56 f. Der Korpus wurde inklusive des Lendentuches aus einem massiven Block gearbeitet. Vgl. Peter Stiberc: Polychrome Holzskulpturen der Florentiner Renaissance. Beobachtungen zur bildhauerischen Technik, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 33 2/3 (1989), S. 205–228, hier S. 212 u. 217. Zur Aufstellung und der damit verbundenen Wirkungsweise vgl. John T. Paoletti: Wooden Sculpture in Italy as Sacral Presence, in: Artibus et Historiae 13/26 (1992), S. 85–100.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bild 60  Donatello: Kruzifixus mit beweglichen Armen, um 1415, Holz, 168 × 173 cm, Santa Croce, Florenz. (Farbtafel 5)

die leibliche Last des Gekreuzigten auf allzu menschliche Weise herausstellte.36 Dessen Christus, durch ein identisches Höhen- und Breitenmaß bereits auf eine harmonische Idealisierung hin ausgelegt, sollte hingegen zugleich himmlische Anmut und menschliche Schönheit verkörpern.37 36

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Horst W. Janson beschreibt diesen Eindruck als eine „down-to-earth physical reality“. Horst W. Janson: The Sculpture of Donatello, Bd. 2, Princeton 1957, S. 7 f., hier S. 12. Roger Tarr zufolge vereinen sich somit im Kruzifixus Brunelleschis, im Gegensatz zu jenem Donatellos, menschliches Leiden und übermenschliche Moral, pathos

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I  Kult

Die sich für eine Inszenierung von Kreuzabnahme und Grablege ergebende technische Notwendigkeit beweglicher Arme bildete im Falle Donatellos den kritischen gestalterischen Ausgangspunkt einer stimmigen anatomischen Umsetzung. Dabei entsprach die gewählte Gelenkbildung einem nicht nur in Italien,38 sondern in ganz Europa39 tradierten Verfahren: Im Nut-und-FederSystem wurden die Schultern halbrund nach außen gezogen und zu einer Gelenkpfanne schlitzförmig ausgehöhlt, um den Gelenkkopf des Oberarmendes passgenau aufzunehmen. Vermittels einer Durchtrittsbohrung konnten beide Elemente mit einem Achsstab beweglich verbunden werden.40 Die Öffnungsbreite der nach außen gezogenen Schulterpartie bestimmt dabei den Winkel der ausgestreckten Arme, die durch diese Gelenkform nur eine Bewegungsachse besitzen, was sich in ihrer ursprünglichen terminologischen Bezeichnung als „Kruzifixe mit schwenkbaren Armen“ widerspiegelt.41 Die nicht immer befriedigend lösbare Schultergestaltung, die in einigen Fällen unnatürlich und abrupt in die Armpartien übergeht, führte zu einer Weiterentwicklung unterschiedlichster Gelenkformen, wie sie von Ruth Fernández González beispielhaft an spanischen Christusfiguren des 15.–17. Jahrhunderts

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und e¯ thos: „From a distance it seems a perfect figure of Christ crucified, while on approaching and looking up from below, a sense of the frailty of His suffering seems to bring that perfect image within the realms of human experience. It is as though the e¯ thos of the figure, its abiding quality – its perfection, is seen through the pathos of its temporal condition – its frailty. It seems to me that this equivocation of the human and the divine expresses with utmost clarity the idea of God made man.“ Roger Tarr: Brunelleschi and Donatello. Placement and Meaning in Sculpture, in: Artibus et Historiae 16/32 (1995), S. 101–140, hier S. 116. Vgl. neben dem Kruzifix aus dem Bode-Museum (Mitte 14. Jh.) beispielhaft die beweglichen toskanischen Christusfiguren aus Sant’Andrea, Palaia (um 1340), San Felice in Piazza, Florenz (1405–1415) oder Saint-Germain des Prés (urspr. Florenz, um 1480); vgl. Kopania: Animated Sculptures, S. 268, Kat. 71, S. 263, Kat. 54 und S. 251, Kat. 16 mit weiteren Angaben. Vgl. etwa die Skulpturen aus der Nationalgalerie, Prag (urspr. Barnabiterinnenkirche, um 1350), Pfarrkirche v. Spišska Belà, Slowakei (um 1390), Klagenfurt (urspr. St. Veit an der Glan, um 1510) oder St. Johann, Memmingen (um 1510); vgl. Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S. 86, Kat. 23, S. 88, Kat. 30, S. 84, Kat. 13, S. 85, Kat. 17 mit weiteren Angaben. Die 1974 erfolgte Restaurierung ergab, dass Donatello ursprünglich die Arme zu kurz bemessen hatte und sie eigenhändig mittels eingefügter Metallhülsen verlängerte. Diese ‚Pentimenti‘ könnten wiederum der beschriebenen Bewegungsmechanik geschuldet sein, insofern im Entwurfsprozess die beim Zusammenfügen sich um die Gelenktiefe verringernde Länge des Oberarms möglicherweise nicht in der Gesamtanlage berücksichtigt worden war. Zur Restaurierung vgl. Umberto Baldini, Lando Bartoli: Il complesso monumentale di Santa Croce, Florenz 1983, S. 263. Vgl. Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bild 61  Bewegungsvarianten der Christusfiguren mit beweglichen Armen nach Ruth Fernández González (2011).

erforscht wurde (Bild 61):42 Neben einfachen Verbindungen aus Metallösenstiften, deren spitzes dornenförmiges Ende in die zu verbindenden Gliedmaßen getrieben wurde (erstes Register) entstanden Varianten der klassischen Scharniergelenke (zweites Register) sowie durch Kugelgelenke und Metallscharniere erreichte Verbindungsformen (drittes Register). Die mittels Ösen oder durch Kugelgelenke in variantenreicherem Maße beweglichen Skulpturen weisen bereits über die einfache Bewegungsfähigkeit des ersten Allgemeinen Kreuzabnahme-Typus hinaus, der nur zwei unterschiedliche Haltungen erlaubte und gänzlich auf den Moment der Kreuzabnahme hin ausgelegt war.

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Fernández González: Sistemas de articulación. Um die Sichtbarkeit der Gelenkverbindungen zu kaschieren, wurden diese bei einigen Figuren mit Stoff (wie etwa im Falle des Kruzifixus aus Orense) oder Leder (wie die Christusfiguren aus Burgos oder Döbeln) bedeckt.

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I  Kult

Das zwischen 1363 und 1367 entstandene Ordinarium Barkingense43 aus dem Benediktinerinnenkloster in Barking bietet den frühesten Quellenbeleg einer solchen Abnahme der lebensgroßen Christusfigur mit beweglichen Armen vom Kreuz, an die sich eine rituelle Waschung der Figur, ihre Einhüllung in das Leichentuch und die Grablege anschlossen.44 Die liturgischen Wurzeln der Kreuzabnahme finden sich zunächst in den Adoratio Crucis-Feierlichkeiten, die sich als Karfreitagszeremonie bis in das 7. Jahrhundert, in Form der aktiven Kreuzverehrung bis nach Jerusalem in das 4. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.45 Die Adoratio wurde später mit der liturgischen Station der Depositio Crucis verbunden,46 der Verbringung des Kreuzes, wobei es sich zunächst um unbewegliche Kruzifixe handelte.47 Als Grab diente der Altar oder eine

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Oxford, University College, Ms 169. Vgl. John Basil Lowder Tolhurst (Hg.): The Ordinale and Customary of the Benedictine Nuns of Barking Abbey, London 1927; Kopania: Animated Sculptures, S. 69 f. u. Anm. 128. „Deferant Crucem ad magnum altare, ibique in specie Joseph et Nichodemi, de ligno deponentes Ymaginem vulnera Crucifixi uino abluant et aqua.“ Zit. n. Neil C. Brooks: The Sepulchre of Christ in Art and Liturgy. With Special Reference to the Liturgic Drama, Urbana, Ill. 1921, S. 39. Vgl. Walther Lipphardt (Hg.): Lateinische Osterfeiern und Osterspiele, Bd. 5, Berlin 1976, S. 1454–1458; Peter Meredith/John E. Tailby (Hg.): The Staging of Religious Drama in Europe in the Middle Ages. Texts and Documents in English Translation, Kalamazoo, Michigan 1983, S. 226– 229; Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S.  97 f.; Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 145; Kopania: Animated Sculptures, S. 120 ff. Die sich daran anschließende Himmelfahrt wurde in diesem Fall jedoch nicht mit einem Himmelfahrtschristus, sondern mit einer Hostie vollzogen. Die bislang unübertroffene Quellensammlung zur römischen Osterliturgie bietet Herrmann Schmidt: Hebdomada sancta. Fontes historici, commentarius historicus, 2 Bde., Rom u. a. 1956/1957. Aus liturgiehistorischer Sicht grundlegend bleibt: ­Gerhard Römer: Die Liturgie des Karfreitags, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 77 (1955), S. 39–92; vgl. zur Adoratio Crucis zudem Brooks: The Sepulchre of Christ, S. 32; Markus Maisel: Sepulchrum domini. Studien zur Ikonographie und Funktion großplastischer Grablegungsgruppen am Mittelrhein und im Rheinland, Mainz 2002, S. 70 f.; Anne-Madelaine Plum: Adoratio crucis in Ritus und Gesang: die Verehrung des Kreuzes in liturgischer Feier und in zehn exemplarischen Passionsliedern, Tübingen/Basel 2006, S.  21–165. Weitere Lit. versammelt: Clemens Kosch: Auswahlbibliographie zu Liturgie und Bildender Kunst, in: Franz Kohlschein/Peter Wünsche (Hg.): Heiliger Raum. Architektur, Kunst und Liturgie in mittelalterlichen Kathedralen und Stiftskirchen, Münster 1998, S. 243–377. Nördlich der Alpen stellt die reich illuminierte Regularis Concordia (British Library, Additional MS 49598) des Hl. Æthelwold I., Bischof von Winchester, die früheste Quelle der Depositio Crucis dar. Vgl. Robert Deshman: The Benedictional of Æthelwold, Princeton 1995. Diese Handlung symbolisierte teilweise auch eine in das Ostergrab verbrachte Hostie. Vgl. zu diesem Komplex grundlegend Mateusz Kapustka: Figura i hostia. O obrazowym przywoływaniu obecno´sci w pó znym ´ sredniowieczu ´ [Figur und Hostie. Über die bildliche Evokation von Präsenz im Spätmittelalter], Warschau 2008;

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

mobile Begräbnisstätte.48 Wie der 1498 verfasste Ordo schriftlich belegt, handelte es sich im Prüfeninger Kloster bei der feierlichen Grablege mit einer beweglichen Christusgestalt um eine eigens im Altar angelegte Grabstätte: Vor den Augen aller Gläubigen nahmen der Abt und ein Helfer die Skulptur vom Kreuz ab.49 Der hölzerne Leib wurde sodann in Tücher gewickelt und das ‚leere‘ Kreuz von einem Gehilfen an den „ihm gebührenden Ort“ zurückgebracht. Für die Elevatio Crucis wurde schließlich die Figur eines Himmelfahrtschristus eingesetzt, da die Figur des beweglichen Verstorbenen kaum zugleich als Verkörperung des Auferstandenen dienen konnte.50 Bei einer dritten Quelle, die den Einsatz einer beweglichen Christusfigur belegt, handelt es sich nicht um eine liturgische Angabe, sondern um die Stiftungsurkunde für die Allerheiligenkirche in Wittenberg, mit der die finanzielle Ausstattung von vierzehn „manßpersonen“ bekannt gegeben wurde, damit diese in angemessener Form an „der abnehmung des bildnus vnsers liebn herrn und Seligmachers vom Creutz vnd

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zudem: Tripps: Das handelnde Bildwerk, S.  122 ff.; Jung: The Phenomenal Lives, S. 90–92. Zur Frühform und Beziehung dieser Aufbauten zu den Heiliggrabanlagen vgl. Annemarie Schwarzweber: Das Heilige Grab in der deutschen Bildnerei des Mittelalters, Freiburg 1940; Werner Noack: Ein erstes Heiliges Grab in Freiburg, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 23/3/4 (1960), S. 246–252; Pochat: Theater und Bildende Kunst, Kap. I; Tripps: Das handelnde Bildwerk, S.  128–141; eine ausführliche Bibliographie vom Heiligen Grab bis zu den Sacri Monti liefern: Johannes Andresen, Amilcare Barbero, Guido Gentile: Passion in der Landschaft. Deutschsprachige Bibliographie, dt.-it. Ausgabe, Ponzano Monferrato 1997. „De cruce adoranda […] (f. 64^) Deinde dominus abbas et qui cnicem cum eo portat imponunt responsorium Vadis propiciator, cum quo cantu fit processio de choro ad monasterium, et precedit primo conuentus, deinde ministri, videlicet diaconus et subdiaconus, post hos duo iuuenes cum candelis, vltimo portitores crucis, et fit stacio ante altare sancte crucis quod antea a custode loco dominici sepulchri lintheo magno specialiter ad hoc apto velatum existit […] (65^) Quibus omnibus rite expeditis, singulis rursum genua flectentibus, cantor imponit antiphonam Super omnia ligna cedrorum tractim a choro canendam, qua inchoata, dominus abbas et qui cum eo crucem tenuit ymaginem crucifixi coram populo de cruce deponunt quam dominus abbas intra velum ante altare sancte crucis protensum in eodem altari vice dominici sepulchri preparato ponit et pannis ac lintheis ibidem positis reuerenter operit. Crucem vero in qua dicta ymago pependit custos per ministrum suum ad locum debitum deportari facit. Ipse vero mox chorum ingrediens scrineum reliquiarum retro altare in quo corpus dominicum reconditum est aperit, aspersoriumque cum turribulo ut ibidem habeantur et reliqua necessaria pro communione sancta rite disponit.“ Ordo de divinis officiis, Staatsbibiothek München, Clm 12018, zit. n. Brooks: The Sepulchre of Christ, S. 105. Dabei muss es sich um einen begehbaren Kreuzaltar, wie jene in Mittelzell (Reichenau) und Bad Wimpfen im Tal, gehandelt haben; vgl. Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 122. „Candela vna in altari apostolorum ante ymaginem resurreccionisaccenditur, et usque post Matutinas Laudes donec ipsa Ymago per custodem ad summum altare portetur, ardere permittitur.“ Zit. n. Tauber/Tauber: Mittelalterliche Kruzifixe, S. 96.

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wie die besuchung des grabs“ teilnehmen konnten.51 Das Zeremoniell wird mit einem eigens für diese Kulthandlung hergestellten Kruzifix gefeiert, das keineswegs während des gesamten Kirchenjahres fortwährend als Andachtsbild diente.52 Vier Kaplane waren vonnöten, um die offensichtlich schwere, weil lebensgroße Christusskulptur vom Kreuz zu nehmen, wobei sie von den vierzehn ausgewählten Gläubigen, die als ‚pleurants‘ das Geschehen begleiten sollten, umgeben wurde.53 Der erste Typus des Kruzifixus mit schwenkbaren Armen bildet die Hauptform beweglicher Christusfiguren. Mit ihm wurde die symbolische in eine figurative depositio transformiert. In ihnen verkörpert sich damit exemplarisch ein entscheidender Schritt hin zu einer Dynamisierung christlicher Glaubensinhalte in spätgotischer Zeit: Durch die Einbeziehung eines vielgestaltigen Bildwerks, welches den liturgischen Kult im Wortsinne „begreifbar“ werden ließ, entlastete es zunächst die Gläubigen von mittelbaren, abstrahierenden Präsentationsformen, um das dadurch freigesetzte Imaginationspotential in Form von persönlicher emotionaler Anteilnahme einzufordern. Durch ihr Bewegungspotential förderten die beweglichen Skulpturen die inszenierte Aktu­­ alisierung kultischer Inhalte, reale Bewegung führte zu emotionalem ‚Bewegtwerden‘. In der Konkretion von Kreuzigung und Kreuzabnahme anhand beweglicher Christusfiguren kulminiert der Wandel vom geglaubten zum beobachteten, vom überlieferten zum erlebten Kultbild.54 Wenngleich dieses Glaubensinhalte derart konkretisierende Bildverständnis im 16. Jahrhundert reformatorische Bilderstürme auslöste, starb der Ursprungstypus beweglicher Kruzifixe bis heute nicht aus. Eine unmittelbare Anschauung der Abnahme und Grablege mit einem Kruzifixus des ersten Typus kann noch dieser Tage vielerorts in Spanien unternommen werden.55 Im Rahmen der alljährlichen Prozessionsfeier der Osterwoche in Friás (KastillienLeón) wird noch heute ein Christus mit schwenkbaren Armen vom Kreuz abgenommen, in einen Glassarg gelegt und von der Gemeinde getragen, um schließ-

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Zit. n. ebd., S. 98 f. Dem Bericht einer Prozessionale um 1490 zufolge scheint auf selbe Weise im Dom von Florenz die Grablege mit einem auf einer Bahre getragenen Kruzifix mit schwenkbaren Armen inszeniert worden zu sein. Ebd., S. 101. Zur Diskussion um die kontinuierliche oder einmalige Verwendung beweglicher Christusfiguren im Kirchenjahr vgl. Kopania: Animated Sculptures, S. 163–185. Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S. 99 f. Hans Belting verweist in diesem Zusammenhang auf die zunehmende Privatisierung des Glaubens im Andachtsbild und spricht von einem „Dialog mit dem Bild“. Belting: Bild und Kult, S. 457. Vgl. Anna-Laura de la Iglesia y Nikolaus: Semana Santa in León. Die Prozessionsfiguren einer nordspanischen Provinz vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, Regensburg 2007, bes. S. 174–180.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

lich nochmals den Gläubigen im geöffneten Sarg während der Predigt präsentiert zu werden. 56

P i e t à -Ty p u s Der Körper Christi, der lebendig heilig und heilsspendend war, wird als bewegliche Skulptur des theatralisch-verbildlichten Heilsgeschehens im wörtlichen Sinne begreifbar. Durch die Loslösung vom Kreuz wurde das derart inszenierte Corpus Christi historicum in seiner Materialität vergegenwärtigt. Die damit verbundenen visuellen und haptischen Implikationen einer Erfassung des Leibes Christi, die sich beim Einsatz gegliederter Christusskulpturen sowohl bei der Kreuzabnahme als auch bei der Grablegung offenbaren,57 fanden wiederum zeitgleich in einem zwischengeordneten Bildtypus ihre wohl augenfälligste Ausprägung: im Vesperbild beziehungsweise der Pietà.58 Auf die Präsentation des toten Leibes Jesu im Schoß der Gottesmutter reduziert, sollte sich diese ­Bildform als „erfolgreichste unter einer ganzen Reihe von ikonographischen Neuschöpfungen der Zeit um 1300“59 erweisen, die, nebst ihrer thematischen Überschneidung, in bezwingender zeitlicher Nähe zum Phänomen des Kreuzabnahmechristus entwickelt wurde.60 56

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Die Prozessionsfeier von 2012 ist als Videomitschnitt „Santa Semana 2012“ unter: http://zaleza. blogspot.fr/p/videos-todo-frias.html [19.10.2013] einsehbar; © Miguel Angel Zález, der als Datierung der Skulptur „s.XVI–XVII“ angibt. Die Ikonographie der körperlich-haptischen Annäherung an den Christusleib im Zuge der Kreuzigung wird nicht allein durch die von Joseph von Arimathea und Nikodemus vorgenommene Kreuzabnahme verkörpert, sondern insbesondere auch durch Maria und Johannes, die tastend den Leib Christi vergegenwärtigen, indem sie ihn berühren oder die Hand des Verstorbenen an die eigene Wange führen. Zum Vesper- und Andachtsbild vgl. Wilhelm Pinder: Die Pietà, Leipzig 1922; Walter Passarge: Das deutsche Vesperbild im Mittelalter, Köln 1927; Lemma Vesperbild, in: LCI, Bd. IV, Freiburg 1972, Sp. 450–456 (Johannes H. Emminghaus); Georg Satzinger, Hans Joachim Ziegeler: Marienklagen und Pietà, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hg.): Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, Tübingen 1993, S. 241–276 m. weiterer Lit. Grundlegend zum Andachtsbild Erwin Panofsky: ‚Imago Pietatis‘. Ein Beitrag zur Typengschichte des ‚Schmerzensmanns‘ und der ‚Maria Mediatrix‘ [1927], in: ders.: Deutschsprachige Aufsätze, Bd. 1, hg. v. Karen Michels/Martin Warnke, Berlin 1998, S. 186–233 sowie Thomas Noll: Zu Begriff, Gestalt und Funktion des Andachtsbildes im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 67/3 (2004), S. 297–328 m. weiterer Lit. Satzinger, Ziegeler: Marienklagen und Pietà, S. 261. Wenngleich bereits Panofsky beim Vesperbild von einer Verbindung der Madonna mit dem Kruzifix ausgeht (Panofsky: ‚Imago Pietatis‘, S. 192 f.) und Gesine Taubert auf die zeitliche Koinzidenz von Vesperbild und Kreuzabnahmechristus verweist (Gesine Taubert: Spätmittelalterliche Kreuzabnahmespiele in Wels, Wien und Tirol, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereins 119 (1974), S. 53–89), erweist sich bislang die umfassende Erschließung einer möglichen gegenseitigen

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I  Kult

Die Christusfiguren dieser zweiten Kategorie sind durch ihre zusätzliche Gliederung auf die Präsentation eines Vesperbildes als besonders eindringlichen Akt des Prozessionsspiels hin ausgelegt. Die aufwendige Aufrüstung des Kruzifixes aus dem Bode-Museum mit Hals- und Kniegelenken lässt kaum einen anderen Schluss zu, als eine unmittelbare Ausrichtung auf diese modifizierte Form der Lamentatio Christi als Planctus Mariae. Während die ebenerdige Beweinung des vom Kreuz Abgenommenen auch mit dem ersten Typus beweglicher Christusfiguren möglich war, ermöglichte diese Figur eine besonders Pietà-konforme Darstellung durch das Zurücksinken des Kopfes sowie das Anwinkeln der Knie (Bild 62). Sowohl bei der leicht überlebensgroßen Pietà aus der Kunstsammlung der Veste Coburg (Bild 63), als auch bei der unterlebensgroßen und dabei umso expressiver das entwichene Leben darbietenden Pietà Roettgen61 beschreibt die seitliche Körperachse des Leichnams eine auseinandergezogene liegende W-Form. Der innerlich gleichsam zergliederte, „gebrochene Körper“62 wirkt durch den zurückkippenden Kopf und die kraftlos herabhängenden Unterschenkel umso mitleiderregender, indem er die Notwendigkeit des körperlichen Stützens und Gehaltenwerdens der leblosen Glieder auf geradezu schmerzliche Weise vor Augen führt. Die Schilderung der Beweinung einer mit dem Berliner Kruzifixus vergleichbaren Christusfigur, die im Jahr 1448 in Perugia vonstattenging, liefert ein eindringliches Zeugnis der zentralen Rolle und Einbindung der ChristusGliederpuppe. Der Lenten sermon des Roberto da Lecce (1425–1495) ist in einer Chronik mit dem Namen Diario del Graziani überliefert.63 Sie beschreibt ein

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Bedingtheit bei den Darstellungsformen als Desideratum. Nur angedeutet werden kann hier, dass bei einer derartigen Erforschung eine besondere Ambivalenz des Vesperbildes zu berücksichtigen wäre: im herkömmlichen Sinne steht das Andachtsbild für die verinnerlichte compassio; angesichts seiner möglichen Verbindung zur bildlich inszenierten realbeweglichen Christusfigur müsste der schwebende Zwischenzustand des Vesperbildes – nach der Abnahme und vor der Grablege – auch in seiner äußeren Dynamik erfasst werden. In diesem Zusammenhang erlangen die Pietà-Darstellungen mit beweglicher Christusfigur, wie jene aus Sankt Martin in Bamberg oder im Schnütgen Museum in Köln, eine weitere Bedeutungsschicht, da hier von einer szenischen Zusammenführung des Ensembles während der Andacht ausgegangen werden kann. Vgl. Johannes Tripps: The Mechanical Presentations of Marian Statues in the Late Gothic Period [Lecture given at the Western Michigan University in Kalamazoo on Friday, 11 May 2012 in the framework of the 47th International Congress on Medieval Studies], unter: http://archiv.ub. uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/ 2012/2106/ [22.10.2013]. Pietà Roettgen, um 1360, Holz, 89 cm, Inv. Nr. 24.189, Rheinisches Landesmuseum, Bonn. Alasdair A. MacDonald/Bernhard Ridderbos/Rita M. Schlusemann (Hg.): The Broken Body. Passion Devotion in Late-Medieval Culture, Groningen 1998. Vgl. Mara Nerbano: Il teatro della devozione. Confraternite e spettacolo nell‘Umbria medievale, Perugia 2006, S. 79 ff.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bild 62  Kruzifixus des Nino Pisano (Werkstatt) als Pietà-Typus während der Restaurierung.

Bild 63  Coburger Pietà, um 1360–1370, Pappelholz, 175 cm, Inv. Nr. Pl.002, Kunstsammlungen der Veste Coburg.

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Amalgam aus liturgisch bestimmtem Gottesdienst und Mysterienspiel, in dem die Kreuzigung vor der Kirche inszeniert und dabei ein beweglicher Kruzifixus eingesetzt und ans Kreuz genagelt wurde: drei Marien- und ein Johannesdarsteller beklagten dabei den Gemarterten. Dieser wurde von den Akteuren Nikodemus und Joseph von Arimatheas vom Kreuz abgenommen, um ihn in den Schoß der Mutter zu legen. Es entstand so ein ephemeres, gattungsübergreifendes tableau vivant aus Skulptur und lebender Person. Die anschließende Bei­ setzung des hölzernen Leibes vollzog sich unter heftigem Wehgeschrei der Bevölkerung.64 Auch während der Passionsspiele in Bologna wurde ein bewegliches Kruzifix im Schoß der Vergene Maria beweint,65 während man in Wels nun64

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„Adì 29 de marzo, che fu el vienardì santo, recomenzò ditto frate Ruberto a predicare in piazza ogni dì, et al giovedì santo predicò della comunione, et invitò tutto el popolo per lo vienardì santo; et nel fine della dicta predica della Passione fece quista representatione: cioè predicava in capo della piazza fuora dalla porta de San Lorenzo, dove era ordinato uno terrato dalla porta per fina al cantone verso casa de Cherubino de gli Armanne; et li quando se devè mostrare el Crucifisso, uscì fuora di S. Lorenzo Eliseo de Cristofano, barbiere de porta S. Agnolo, a guisa de Cristo nudo con la croce in spalla, con la corona de spine in testa, e le suoi carne parevano battute e flagellate como quando Cristo fa battuto; et li parechie armate lo menavano a crucifigere; et andarono giù verso la fonte intorno alle persone e per fina al remboco de gli Scudellare, e argiero su alla udienza del Cambio, e argiero nella porta de S. Lorenzo, e intraro nel dicto terrato, et lì a mezo al terrato glie se fece incontra una a guisa de la Vergene Maria vestita tutta de negro, piangendo e parlando cordogliosamente quillo che accadeva in simile misterio della passione de Iesu Cristo; et gionti che fuoro al pergolo de frate Ruberto, li stette un pezo con la croce in spalla, et sempre tutto el populo piangeva e gridando misericordia; e puoi puseno giù la dicta croce, e pusonce uno crucifisso che ce stava prima, e dirizaro su la ditta croce, et allora li stridi del populo fuoro assai magiori; e ai piei della dicta croce la Nostra Donna comenzò el lamento insieme con S. Giovanni et Maria Madalena e Maria Salome, li quali disseno alcune stanzie del lamento della passione. E puoi venne Nicodemo e Ioseph ab Arimathia, e scavigliarono el corpo de Jesu Cristo, quale lo poseno in gremio della Nostra Donna, e puoi lo miseno nel monumento; et sempre tutto el populo piangendo ad alta voce. Et molti disseno che mai più fu fatta in Peroscia la più bella e la più devota de questa. Et in quella mane se fecero sei frate: uno fu dicto Eliseo, quale era uno stolto garsone; Tomasso de Marchegino, Bino che stava con li Priori; el figlio del Boccho del Borgo de Santo Antonio.“ BAP, ms. 1022, zit. n. ebd., S. 79 f. Die vollständige erläuterte Beschreibung findet sich zudem bei Meredith/Tailby: The staging of religious drama, S.  248 f.; vgl. Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 148 f. sowie ders.: „Ein Crucifix, dem ausz den funff Wunden rotter Wein sprang“. Die Inszenierung von Christusfiguren in Spätgotik und Frührenaissance, in: Eckhardt Leuschner/Maik R. Hesslinger (Hg.): Das Bild Gottes in Judentum, Christentum und Islam. Vom Alten Testament bis zum Karikaturenstreit, Petersberg 2009, S. 117–127, hier S. 120. Vgl. Ilaria Tameni: The Piety’s Theatre. Mobile Crucifixes in Holy Friday’s Depositions, Online-Publikation (2004), 5 S., unter: http://parnaseo.uv.es/Ars/webelx/ Pon%C3%A8ncies%20pdf/Tameni.pdf [26.12.2013].

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

mehr einem männlichen Marien-Darsteller einen beweglichen Pietà-Kruzifixus in den Schoß legte.66 Noch eineinhalb Jahrhunderte später war die Tradition einer derartigen in­ ter­medialen Inszenierung der Beweinung mithilfe eines beweglichen Kruzifixes fest in den Mysterienspielen in San Vincenzo in Prato, bei welchen die Glaubensschwester Catarina de’ Ricci die trauernde Gottesmutter darstellte, und in St. Stephan in Wien verankert.67 Nicht alle Kruzifixe des Pietà-Typus sind derart aufwendig sowohl mit Kopf als auch mit Kniegelenken ausgestattet. Kann in einigen Fällen der Kopf nur in den Nacken kippen, so haben andere bei variablen Unterschenkeln eine feststehende Kopfhaltung. Dass die Beweinungsszene auch mithilfe eines Kruzifixus mit feststehenden Beinen und be­ weglichem Kopf verbildlicht wurde, legt schließlich die Christusfigur aus Bad Wimpfen am Berg aus dem späten 15. beziehungsweise frühen 16. Jahrhundert nahe.68 Die zeitgleich entstandene Christusskulptur aus Valvasone ist hingegen bei invariablem Kopf mit doppelbeweglichen Armen und Beinen ausgestattet, die dem Dargestellten neben der Kreuzigungshaltung auch die Pietà-Stellung im Schoß der

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Zum Kreuzabnahmespiel in Wels vgl. Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S. 114 ff.; Taubert: Spätmittelalterliche Kreuz­­­ abnahmespiele. Zum Kreuzabnahmespiel in San Vincenzo vgl. Tripps: The Mechanical Presenta­tions, S. 3. Zur Pietà-Darstellung in Wien: Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S.  116– 120. Kopania: Animated Sculptures, S. 253, Kat. 20.

Bild 64  Kruzifixus mit beweglichen Armen und Beinen, Ende 15. Jh., Valvasone, Privatbesitz.

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Bild 65  Kruzifixus, Anf. 13. Jh., im 14./15. Jh. zum beweglichen Pietà-Typus umgearbeitet, Holz, 162 × 156 × 23cm, Inv. Nr. 890, Museu Grão Vasco, Viseu.

Gottesmutter nachzubilden ermöglichten (Bild 64).69 In diesem Fall ist jedoch der Einsatz der Skulptur als Kreuzigungssubstitut nicht in Gänze zu rekonstruieren, da die Figur lebendig-geöffnete Augen aufweist. Möglicherweise war sie zudem mit einem Lederüberzug versehen, der einst die metallenen Gelenkverbindungen kaschierte.70 Ein bislang kaum untersuchtes Exemplar des Pietà-Typus stellt der Chritus aus dem Museu Grão Vasco in Viseu, Portugal, dar: Datiert in die Zeit69

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Vgl. hierzu: Teresa Perusini: „Descaviglietur corpus totum et detur in gremio Mariae“. I crocifissi mobili per la liturgia drammatica e i drammi liturgici del triduo pasquale. Nuovi esempi dal nord-est d’Italia, in: Ausst. Kat.: In hoc signo. Il tesoro delle croci, hg. v. Paolo Goi, Mailand 2006, S. 191–205. Kopania: Animated Sculptures, S.  273, Kat. 97. Diese Technik des Pergamentbeziehungsweise Leder- und auch Tuchüberzugs, der die Gelenkverbindungen überdeckte und zu einem kontinuierlichen Körperbild beitrug, war Mitte des 14. Jahrhunderts sowohl südlich als auch nördlich der Alpen verbreitet. Vgl. etwa die beweglichen Christusfiguren aus Kempten (um 1350), Agnuzzo (um 1390), Orense (um 1330) und Bovara di Trevi (1330–1340), in: ebd., S. 255, Kat. 24, S. 281, Kat. 124 (Leinwandüberzug), S. 279, Kat. 116 sowie S. 261, Kat. 42.

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spanne zwischen der Mitte des 12. und dem Anfang des 13. Jahrhunderts, würde es sich hierbei um die älteste bekannte Ausführung einer beweglichen Christusfigur handeln (Bild 65).71 Neben der dendrochronologischen Untersuchung erlauben die Physiognomie des ausdrucksvollen Hauptes und die schematisierende Anatomie des Rumpfes zwar eine derartige zeitliche Einordnung.72 Die Ausstattung mit Gelenken – in Armen, Ellenbogen- und Handgelenken, der linken Hüfte, den Knien und Fußgelenken – lässt jedoch kaum Zweifel an einer späteren, vielleicht im späten 14. Jahrhundert vorgenommenen Umarbeitung der ursprünglich unbeweglichen romanischen Skulptur zu. Im Umkehrschluss steht die Umwandlung dieses Exemplars in eine Gliederpuppe des Pietà-Typus hingegen für das drängende Bedürfnis von Glaubensgemeinschaften in ganz Europa nach einer performativen Inszenierung der Passion, des Leidens, Sterbens und Betrauerns Christi.

M i ra k e l m a n n-Ty p u s Die Übergangsform zum dritten Typus, dem Mirakelmann-Christus, und gleichsam eine über die regulären Einsatzfelder hinausreichende „Gliederfigur für die Osterliturgie“,73 bildet der lebensgroße Christus aus Rattenberg in Tirol (Bild 66a–b). Die im Laufe des späten 17. Jahrhunderts zu einer Ecce-HomoFigur umgestaltete Skulptur diente einst, wie der Restaurator Manfred Koller darlegt, als multifunktionale Passionsgestalt: „Ihre Bewegungsfunktionen lassen auf gewissermaßen universellen Einsatz in der Osterliturgie der Karwoche als ‚Mehrzweckskulptur‘ schließen: Von der Geißelung und Dornenkrönung zu Ecce-Homo-Szene, dann Kreuzigung und Grablegung bis zur Auferstehung am Ostersonntag.“74 Als Weiterentwicklung jener nur mit Scharniergelenken ausgestatteten Christusfiguren, wie etwa der mit beweglichen Armen und Beinen ausgestattete Pietà-Typus aus der Werkstatt der Pisani, deren Bewegungsvektoren vorgegeben waren, ist es dank der gedrechselten Kugelgelenke möglich, mit dem Christus aus Rattenberg ein variantenreiches Repertoire an Haltungen,

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Carla Varela Fernandes: PATHOS – the bodies of Christ on the Cross. Rhetoric of suffering in wooden Sculpture found in Portugal, twelfth–fourteenth centuries. A few examples, in: RIHA Journal 0078 (28 November 2013), unter: http://www.rihajournal.org/articles/2013/2013-oct-dec/fernandes-christ [03.08.2014]. Lúcia Maria Cardoso Rosas: Cristo, in: Ausst. Kat.: Arte, Poder e Religião nos Tempos Medievais. A Identidade de Portugal em Construção, hg. v. Maria de Fátima Eusébio/João Soalheiro, Viseu 2009, S. 198–199. Manfred Koller: Gliederpuppe und Mirakelmann. Der spätgotische Schmerzensmann von Rattenberg in Tirol, in: Restauratorenblätter 26 (2007), S. 133–143. Ebd., S. 139.

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Bild 66a–b  Christusfigur, um 1500, im späten 17. Jahrhundert zu einem Ecce-Homo umgestaltet, Holz, lebensgroß, Augustinerkonvent Rattenberg (Tirol).

Gesten und Bewegungen vorzuführen.75 Die entscheidende Besonderheit dieses Gliederchristus, die ihn zugleich in die Kategorie des Mirakelmann-Typus befördert, besteht in einer beweglichen Zuge, die unter anderem ein für den 7. Juli 1707 bezeugtes Redewunder auslöste (Bild 67).76 Der dritten Kategorie gehören damit all jene Christusfiguren wie die­ jenige aus Rattenberg an, die einerseits aufgrund ihrer mehrgliedrigen Beschaffenheit zu den beweglichen Kruzifixen und damit zur Gattung der Gliederpuppe zu zählen sind.77 Ihre spezifische Besonderheit liegt jedoch in einem eingebau75

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Diese technische Neuerung des 15. und 16. Jahrhunderts war entscheidend für die Umsetzung komplexerer Bewegungspotentiale. Vgl. Manfred Koller: Kleider machen Heilige. Über Bedeutung und Pflege bekleideter Bildwerke, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde L/99 (1996), S. 19–58, hier S. 21. Koller: Gliederpuppe und Mirakelmann, S. 135. In diesem Sinne beginnt Frank Schmidt in seinem Katalogbeitrag zur Ausstellung Zeit und Ewigkeit. 128 Tage in Marienstern die Beschreibung des „Kruzifix mit schwenkbaren Armen, sog. Mirakelman“ mit der Feststellung: „Das zunächst be­­

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Bild 67  Christusfigur aus Rattenberg, um 1500, Kopfkalotte mit Einblick in die Zungenmechanik.

ten Seilzugmechanismus, vermittels dessen sie scheinbar eigenständig wundersame Handlungen auszuführen vermögen, wobei dieses Repertoire die Bewegung von Zunge, Augen und Kopf einschließen kann. Diese Gliederpuppen erweisen sich somit als Hybride, die, aufgrund einer manuell vermittelten Übertragung von Bewegung, Elemente der scheinbaren – ‚mirakulösen‘ – Eigenbeweglichkeit in sich vereinen. Ein besonders eindrucksvolles Exemplar stellt der sogenannte Mirakelmann aus Döbeln in Sachsen dar (Bild 68a).78 Die lebensgroße Christusfigur ist, Fuß- und Kniegelenke ausgenommen, in allen Gelenken beweglich, die mit kaschierenden, inkarnatfarbenen Lederüberzügen zu einem kontinuierlichen Körperbild beitragen (Bild 68b). Die Brustwunde ist rückseitig mit einer Hohl-

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fremdlich erscheinende Werk ist nicht einfach eine lebensgroße Liegefigur, sondern vielmehr eine Gliederpuppe.“ Ausst. Kat.: Zeit und Ewigkeit. 128 Tage in St. Marienstern, hg. v. Judith Oexle/Markus Bauer/Marius Winzeler, Halle an der Saale 1998, S. 130. Andreas Schulze: Der sogenannte Mirakelmann aus Döbeln in Sachsen, eine bewegliche Christusfigur der Spätgotik, in: Polychrome Skulptur in Europa (1999), S. 126–132; Kamil Kopania: „The idolle that stode there, in myne opynyon a very monstrous sight“. On a number of late-medieval animated figures of Crucified Christ, in: Aleksandra Lipinska ´ (Hg.): Materiał rze´zby. Mi˛edzy technik a˛ a seman­ tyk˛a/Material of Sculpture. Between Technics and Semantics, Warschau 2009, S. 131–148, insbes. S. 136–138.

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Bild 68a–b  Mirakelmann, Christusfigur mit beweglichen Gliedmaßen ohne und mit Lederkaschierungen, um 1510, Holz, Leder, Leinwand, Metall, 190 × 190 cm (Armspanne), St. Nicolai zu Döbeln in Sachsen. (Farbtafel 7)

kammer ausgestattet, sodass aus der mit Wachs o. ä. Materialien verschlossenen Seitenwunde nach dem Lanzenstich realiter Flüssigkeit herausströmen kann.79 Der als Aktfigur geplante, äußerst wirklichkeitsnah gestaltete männliche Körper wird im Lendenbereich von einem Tuch bedeckt.80 Für Bart- und Haupthaare war Naturhaar verwendet worden, welches die hochgradige Realitätsnähe zusätzlich steigerte. Die äußerst differenzierten Bewegungsmechanismen des Döbelner Glieder-Christus reichen von komplizierten Eisenscharnieren an den 79

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Schulze geht davon aus, dass die Flüssigkeit in einer Tierblase fest eingeschlossen war, um bei den unterschiedlichen Bewegungen der Skulptur nicht vorzeitig herauszufließen: Schulze: Der sogenannte Mirakelmann, S. 129. Zur Konzeption des Döbelner Mirakelmanns als Aktfigur vgl. Tripps: „Ein Crucifix, dem ausz den funff Wunden rotter Wein sprang“, hier S. 123.

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Schultern bis zu einfachen Verbindungsschnüren an den Ellenbogen. Die Hüftgelenke weisen wiederum eine besondere Ausgestaltung auf: Um die Totenstarre bei der Kreuzabnahme überzeugend wiedergeben zu können, sind die Beine nur im Winkel von etwa 10° zu allen Seiten hin beweglich. Trotz dieses geringen Spielraums sind entscheidende Bewegungsvorgänge und Haltungen möglich, etwa die der bei der Kreuzigung übereinandergelegten Füße. Der Kopf war schließlich mittels Seilzugmechanismus derart beweglich, dass er für die Gläubigen durch eine scheinbar autonome Neigung des Kopfes den eintretenden Kreuzestod anzuzeigen vermochte.81 Nicht alle Gliederskulpturen des Mirakelmann-Typus sind derart veristisch ausgebildet. Wenngleich der bewegliche Kruzifixus aus dem Schweizerischen Landesmuseum in Zürich auf einer einfachen Konstruktionsweise aus vier Bauteilen beruht, besticht er durch seine expressive Gestalt (Bild 69a–b). Die wie papieren wirkende Haut spannt sich dünn über einen feingliedrigen Leib, Venenstränge zeichnen sich deutlich auf der Hautoberfläche ab. Der Eindruck des zwischen Leben und Tod stehenden Leibes wird besonders durch das Haupt mit schmalen, eingefallenen Wangen und einem halb geöffneten Mund verstärkt, der im Moment des letzten Atemzuges wiedergegeben scheint. Neben den beweglichen Armen verleiht der heute noch intakte, rückseitig in den Hohlraum des Korpus eingearbeitete Seilzug, mit dem der einst von Naturhaar geschmückte Kopf auf- und abgesenkt werden konnte, der Christusfigur die Anlagen des Mirakelmann-Typus (Bild 70).82 Mit dem Senken des Hauptes konnte so etwa das Aushauchen des letzten Atemzugs inszeniert werden. Diese dritte Kategorie beweglicher Christusfiguren wird nicht allein mittels erhaltener Stücke, sondern auch durch Quellenbelege in ihrer ‚mirakulösen‘ Funktion fassbar: Nicholas Partridge († 1540), ein junger Dozent der Universität Oxford, berichtet in einem Brief vom 12. April 1538 an den Schweizer Reformator Heinrich Bullinger (1504–1575) davon, dass eine englische Christusfigur in der Lage war, den Kopf zu schwenken, mit den Augen zu rollen, den Mund zu bewegen und Tränen zu vergießen. Bei dem Kruzifixus handelte es sich um die berühmte mechanische Skulptur namens „Rood of Grace“ aus der Abtei von Boxley in Kent, die aufgrund der Wunder, die sie über Generationen

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Schulze: Der sogenannte Mirakelmann, S. 129; den Seilzugmechanismus beschreibt bereits Cornelius Gurlitt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen 25 [Amtshauptmannschaft Döbeln] (1903), S. 22 f.: „Es konnte somit der Christus durch unsichtbare Stricke bewegt und die Brustwunde durch jenes Gefäss zum Bluten gebracht werden.“ Alle Bauteile sind ebenso wie der Bewegungsmechanismus zur selben Zeit entstanden und sind nicht, wie kurz nach seiner Erwerbung 1935 angenommen, eine barocke Zutat beziehungsweise Umarbeitung. Vgl. Flühler-Kreis/Wyer: Die Holzskulpturen des Mittelalters I, S. 199.

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Bild 69a–b, 70  Kruzifixus mit beweglichen Armen und Kopf, Anfang 16. Jh., 143 × 143,5 cm, , Inv. Nr. LM 200 18, Schweizerisches Landesmuseum Zürich.

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vollbrachte, viele Gläubige, darunter Heinrich VII. (1457–1509), angezogen hatte.83 Nach einer Predigt gegen den Bilderkult des Bischofs von Rochester, John Hilsey († 1539), wurde sie öffentlich zerstört.84 Einzelne dieser ‚mirakulösen‘ Ausstattungen, die zu einer zusätzlichen Verlebendigung der Skulptur beitrugen, sind auch bei vielen weiteren Exemplaren überliefert. So besaß der bewegliche Kruzifixus aus San Feliciano in Foligno, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts zum Einsatz kam, neben seinen beweglichen Armen eine Vorrichtung, mit der seine Augen geöffnet und ge­ schlossen werden konnten.85 Mit einer beweglichen Zunge war hingegen eine bewegliche Christusfigur aus Norcia vom Ende des 15. Jahrhunderts ausgestattet,86 ebenso wie der heute in S. Maria degli Angeli ausgestellte Cristo di Pordenone, dessen interner Bewegungsmechanismus möglicherweise durch den

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Gail M. Gibson: The Theater of Devotion. East Anglican Drama and Society in the Late Middle Ages, Chicago 1995, S. 15. „The Rood of Grace at the Abbey of Boxley in Kent was, according to William Warham, Archbishop of Canterbury in 1524, ‘much sought from all parts of the realm’ primarily because the Abbey was ‘so holy a place where so many miracles be shewed’. The Rood of Grace was the apparent source of these ‘miracles’ and consisted of a cross bearing an image of the crucified Christ that was capable of moving.“ Philip Butterworth: Magic on the Early English Stage, Cambridge, 2005, S. 123 f.; vgl. Scott Lightsey: The paradox of transcendent machines in the demystification of the Boxley Christ, in: Postmedieval. A Journal of Medieval Cultural Studies 1 (2010), S. 99–107. Zur Diskussion, ob es sich in diesem Fall um eine magische oder theatralische Inszenierung des beweglichen Kruzifixus handelt, vgl.: Leanne Groeneveld: A Theatrical Miracle: The Boxley Rood of Grace as Puppet, in: Early Theatre. A Journal Associated with the Records of Early English Drama 10/2 (2007), S.  11–50. Vgl. zudem die ausführliche Literatur bei Kopania: Animated Sculptures, S. 284 f., Kat. 8. Weitere Auskünfte erhielt Bullinger von John Hoker und Rudolf Gwalther. Vgl. die Briefe 1122 (Nicholas Patridge an Bullinger, Frankfurt a. M., 12.4.1538) sowie 1183 (Rudolf Gwalther an Bullinger, Basel 3. Oktober 1538), in: Heinrich Bullinger: Werke. Abteilung 2. Briefwechsel, hg. v. Zwingliverein Zürich, Bd. 8, Briefe des Jahres 1538, bearb. v. Hans Ulrich Bächtold, Zürich 2000, S. 123 u. 233; Margaret Aston: Englands Iconoclasts. Laws Against Images, Oxford 1988, S.  235 f. Zur Quellenlage und Abfolge der Geschehnisse vgl. zuletzt: Colin Flight: The Rood of Grace, Onlinepublikation 2010, 25 S., unter: http://www.kentarchaeology.ac/digiarchive/ ColinFlight/rood-of-grace.pdf [28.12.2013]. Kopania: Animated Sculptures, S. 49 f.; Mario Sensi: Fraternite disciplinate e sacre rappresentazioni a Foligno nel secolo XV, in: Bollettino della Deputazione di storia patria per l‘Umbria 71/2 (1974), S. 139–217, hier S. 193 f.: „(41) Item uno crucifisso de ligno che apre et chiude l’ochi“; Claudio Bernardi: Deposizioni e Annunciazioni, in: Il teatro delle statue. Gruppi lignei di Deposizione e Annunciazione tra XII e XIII secolo. Atti del convegno „Attorno ai gruppi lignei della Deposizione“, hg. v. Francesca Flores D’Arcais, Mailand 2005, S. 69–85, hier S. 82. Kopania: Animated Sculptures, S.  267, Kat. 69; Elvio Lunghi: La passione degli Umbri. Crocifissi in legno in Valle Umbra tra Medioevo e Rinascimento, Foglino 2000, hier S. 165 f.

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Bild 71  Kruzifixus (Böser Schächer), 15./16. Jh., Holz, 28,5 cm (Figur), Inv. Nr. CL3322, Musée de Cluny – Musée national du Moyen Âge, Paris.

inszenierten Lanzenstich des Longinus während der Karfreitagsfeierlichkeiten in Gang gebracht wurde.87 Als Übergangsform des Mirakelmann-Typus erweist sich schließlich eine einzigartige, nur 28,5 cm große Holzskulptur aus dem Musée de Cluny – Musée national du Moyen Âge in Paris (Bild 71). Der Gekreuzigte zeigt vermut-

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Vgl. Elisabet Francescutti: Caratteristiche esecutive, cifre stilistiche, espedienti tecnici. Suggerimenti per una nuova analisi della produzione di Giovanni Teutonico, in: Riflessioni sul Rinascimento scolpito. Contributi, analisi e approfondimenti in margine alla mostra di Camerino, 5 maggio–5 novembre 2006, hg. v. Maria Gian­ natiempo Lòpez/Raffaele Casciaro, Pollenza 2006, S. 82–91; Valeria E. Genovese: Statue vestite e snodate. Un percorso, Pisa 2011, S. 158 u. Anm. 61 m. weiterer Lit.

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lich nicht Christus, sondern einen Bösen Schächer am Kreuz.88 Die Arme wurden am Kreuz fixiert, während Kopf, Augen und Zunge durch einen Seilzugmechanismus beweglich gestaltet sind, wodurch das Haupt geneigt, die Augäpfel gedreht und die Zunge nach vorn geschoben werden können.89 Als marionettenhafte Figur ohne manuell verstellbare Gliedmaßen manifestiert sich in dieser Figur der Übertritt über die Gattungsgrenze der Gliederpuppe.90

Ve r i s m u s -Ty p u s Die Christusfigur aus Burgos ist wohl eine der bekanntesten variablen Christusfiguren überhaupt (Bild 72). Neben ihrem beweglichen Kopf und den schwenkbaren Armen und Beinen, die sie unter die Kategorie des Pietà-Typus fallen lassen, besitzt sie auch einen unterfütterten ledernen Überzug mit Wundmalen, der die haptischen Qualitäten des geschundenen Leibes als Crucifixus dolorosus eindrucksvoll wiederzugeben vermag.91 In die Seitenwunde ist zudem ein Behältnis für Blut eingearbeitet. Die im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts in Galizien gefertigte Skulptur wurde ursprünglich im Augustinerkonvent aufbewahrt. Ihre aufwendige Ausstattung mit Naturhaar und Nägeln aus Horn machen sie überdies zu einem frühen Beispiel des Verismus-Typus. Wohl zeitgleich entstand der bewegliche Kruzifixus aus der Kathedrale in Ourense, der mit hüftlangem Naturhaar und wundengezeichneter Lederhaut die veristischen Züge des Cristo de Burgos verstetigt (Bild 73).92 Dessen Ausstattung mit einer 88

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Derart identifiziert durch Edmond Haraucourt im Bestandskatalog von 1925: Edmond Haraucourt: Musée des Thermes et de l’hôtel de Cluny. Catalogue des bois et des meubles, Paris 1925, S. 49, Kat. 231. Bei einer Untersuchung des heutigen Zustandes des Objektes zeigte sich der Mechanismus als nicht mehr voll funktionsfähig. Für die Möglichkeit der Inaugenscheinnahme des im Depot befindlichen Exponats sei dem Kurator des Musée du Moyen-Âge, Xavier Dectot, gedankt. Ein weiterer Christus mit beweglichen Augen und beweglichem Unterkiefer soll sich in den 1920er Jahren in der Sammlung Piraud in Paris befunden haben. Vgl. Chapuis, Gélis: Le monde des automates, S. 95. Da einige bewegliche Kruzifixe des Mirakelmann-Typus nicht nur von Menschenhand, sondern auch durch Gewichte in Bewegung versetzt werden konnten, stehen sie in unmittelbarer Verwandtschaft mit den Sakralautomaten. Vgl. Nicolas Rogers: Mechanical Images at Salisbury, in: Clifford Davidson (Hg.): The Dramatic Tradition of the Middle Ages, New York 2005, S. 46f. María José Martínez Martínez: El Santo Cristo de Burgos y los Cristos dolorosos articulados, in: Boletín del Seminario de Estudios de Arte y Arqueología 69/70 (2003–2004), S. 207–246; vgl. zudem die ausführliche Literaturangabe bei Kopania: Animated Sculptures, S. 277, Kat. 110. Vgl. José Hervella Vázquez: La capilla del Santo Cristo, in: ders./Ramón Yzquierdo Perrín/Miguel Ángel González García (Hg.): La Cathedral de Orense, Léon 1993, S. 148 f.; Kopania: Animated Sculptures, S. 279, Kat. 116.

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Bild 72  Kruzifixus mit beweglichen Armen und Kopf, Mitte 14. Jh., Holz, Kalbsleder, Naturhaar, Horn, Kathedrale von Burgos.

Bild 73  Kruzifixus mit beweglichen Armen und Kopf, Mitte 14. Jh., Holz, Naturhaar, Kathedrale von Ourense.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Blutkammer, wie etwa auch beim ursprünglich ebenso realitätsnah ausgestalteten Mirakelmann aus Döbeln und anderen Exemplaren,93 erlaubte eine facettenreichere Inszenierung des Passionsgeschehens, wobei die Fließbewegungen der Haare und auch des Blutes ihrerseits das Bewegungs- und damit das Affektpotential der gegliederten Skulpturen erweiterten.94 Der Verismus-Typus vereint Exemplare aller drei vorausgehenden Kategorien in sich, indem er nicht primär auf die jeweiligen Bewegungsimplikationen der Gelenke abzielt, sondern auf eine besonders veristische Ausgestaltung der Christusfigur. Ein Lederhautüberzug konnte einerseits für eine besonders naturgetreue Widergabe der Haut dienen, war andererseits jedoch dazu geeignet, Gelenkverbindungen zu kaschieren.95 Überaus häufig wurden für Hauptund Barthaar Naturhaare verwendet, so auch bei beweglichen Kruzifixen aus Palma de Mallorca (14. Jahrhundert),96 Como (Ende 14. Jahrhundert),97 Agneza (um 1490),98 Bad Wimpfen am Berg (um 1480),99 Schönbach (um 1490),100 Seitenstetten (um 1520),101 oder jenem aus Caravaggio (frühes 16. Jahrhundert).102 Desgleichen wurden auch unbewegliche Christusfiguren mit Naturhaar in ihrem Verismus gesteigert.103   93

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Ebenfalls mit einer Blutkammer ausgestattet ist etwa der bewegliche Christus aus dem Stift Göttweig in Niederösterreich (um 1380). Vgl. Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S. 82, Kat. 9; Kopania: Animated Sculptures, S. 246, Kat. 1. Zur spätmittelalterlichen Vorstellung der Seitenwunde Christi als „fons pietatis“ vgl. Lemma Fons pietatis, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 10, hg. v. Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, München 2003, Sp. 140 f. (Esther Wipfler); Tripps: „Ein Crucifix, dem ausz den funff Wunden rotter Wein sprang“, S. 124 f. Neben dem Kruzifixus aus Valvasone etwa bei dem 166 cm großen Kruzifixus aus Kempten aus der Zeit um 1350, vgl. Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S.  83, Kat. 12; Kopania: Animated Sculptures, S.  255, Kat. 24 sowie bei einem 172 cm großen Kruzifixus aus Bovara di Trevi (um 1330/1340), vgl. ebd., S. 261, Kat. 42. Vgl. Kopania: Animated Sculptures, S. 279, Kat. 118. Vgl. ebd., S. 262, Kat. 48. Vgl. ebd., S. 281, Kat. 124. Vgl. Johannes Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 176 u. 215; Kopania: Animated Sculptures, S. 247, Kat. 10. Vgl. Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S. 88, Kat. 28; Kopania: Animated Sculptures, S. 247, Kat. 8. Vgl. Taubert, Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe, S. 88, Kat. 29; Kopania: Animated Sculptures, S. 247, Kat. 10. Vgl. Kopania: Animated Sculptures, S. 262, Kat. 51. Vgl. Stefan Roller: Nürnberger Bildhauerkunst der Spätgotik. Beiträge zur Skulptur der Reichsstadt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, München 1999, hier S. 27–99; Manfred Koller, Franz Höring: Spätgotische Kruzifixe mit echten Haaren in Österreich, in: Restauratorenblätter 26 (2007), S.  121–132. Vgl. auch die vom 1. Oktober 2014 bis 1. März 2015 im Liebighaus gezeigte Ausstellung „Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken“, die sich der durch Naturhaar,

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Be d i ng u ng sf elder: ‚G e storb e ner Me n s c h‘ u nd ‚Fü h le nder L e ic h n a m‘ Mit den beweglichen Christusfiguren konnte vermittels einer einzelnen Skulptur eine Vielzahl liturgischer Stationen veranschaulicht werden. Während der Allgemeine Kreuzabnahme-Typus für die grundlegenden Stationen der Kreuzigung, der Kreuzabnahme und der Grablege zum Einsatz kam, war mit dem Pietà-Typus die öffentliche Beweinung als zusätzliche Passionsstation möglich. Der Nachvollzug des Passionsgeschehens durch die Gläubigen fand in der Beweinungsszene einen nicht allein visuellen, sondern gleichsam körperlich-haptischen Höhepunkt. Einerseits durch ihre Beweglichkeit, andererseits durch ihre teils veristische Körpergestaltung gelangten mit den beweglichen Christusfiguren hochspezialisierte Gliederpuppen im christlichen Kult performativ zum Einsatz. Der während der Hochgotik zunehmende Wunsch nach einer derartigen Verbildlichung des liturgischen Geschehens anhand einer Einzelskulptur wurde bislang als Hauptgrund ihrer Entstehung ins Feld geführt.104 In dieser Bündelung liegt jedoch mehr als ein praktischer Ansatz. Vielmehr ist zu erfragen, weshalb der Palmesel als handelndes Bildwerk bereits im 10. Jahrhundert entstand, die Notwendigkeit der Abnahme des Körpers vom Kreuz durch eine tragbare Skulptur hingegen erst im Laufe des 13. Jahrhunderts virulent wurde, welche Bedingungsfelder somit den Nährboden ihrer Entwicklung bildeten. Ein erstes Feld betrifft die mit der spezialisierten Gliederpuppe verbundenen bildaktiven Implikationen, ihre Bildnatur zwischen Leben und Tod. Ein zweites betrifft die Geisteslandschaft der Mystik und ihre sich besonders im 13. Jahrhundert verbreitende Lehre körperbezogener Gotteserfahrung. Mit der Entwicklung eines veränderbaren Artefakts war eine pluridimensionale Bildwirkung verbunden, die die Untiefen mittelbarer Repräsentationen aufzuheben vermochte. Durch seine Beweglichkeit erreichte der Christus eine Präsenz zwischen zwei komplementären Polen: einerseits dem des wahrhaftig leblosen Menschenleibs, der dabei zum Bild wurde, andererseits dem des lebendigen, heilspendenden Bildkörpers. Die hölzern-starre Beweglichkeit des Kruzifixus der Passionsspiele entspricht der partiellen Steifheit eines Leichnams in den ersten Stunden der

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Glasaugen, Elfenbein und anderer Werkstoffe erreichten „beeindruckende[n], irritierende[n] und zugleich schockierende[n] Wirkung“ von Bildwerken widmete. Dokumentation unter: http://www.liebieghaus.de/ lh/index.php?StoryID=552 [28.07.2014]. Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 26. „Dahinter steht der Wunsch der Epoche, daß ein Symbol Gestalt annehme und in figura sichbar werde.“ Ebd., S. 138.

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Totenstarre.105 Die aktive Wirkung, welche die bewegungsfähigen Christusfiguren zu agierenden Skulpturen macht, beruht auf einem komplexen Modulationsprozess des Körpers zum Bild, den Maurice Blanchot 1951 in seinem Essay Les deux versions de l’imaginaire [Die zwei Fassungen des Bildlichen] auf präzise Weise zu erfassen verstand. Darin beschreibt er den Vorgang des Ablebens als Substitutionsphänomen, indem er das Sterben als einen Bildwerdungsprozess begreift. Die Leiche, so Blanchot, sei mit dem Eintritt des Todes mit dem Verstorbenen identisch und doch etwas anderes, ein verkörpertes simulacrum von absoluter Ähnlichkeit.106 Im Fall der ‚handelnden Kruzifixe‘ wird der kalte, starre Leib des verstorbenen Christus in der Situation der Re-Inszenierung der Kreuzigung, der Abnahme vom Kreuz und der Grablege mittels seiner mimetischen Eigenschaften naturnaher Gestaltung und dank der steifen Beweglichkeit umso realer. Hierin begründet sich auch der in den Prozessionsberichten dargelegte, vor der Kreuzigungsszene erfolgte Austausch des menschlichen Darstellers gegen das bewegliche Bildwerk, wie er etwa für die Passionsspiele in Perugia belegt ist.107 Der artifizielle Körper kann in seiner leblosen Präsenz als Bild eines wirklich verstorbenen Menschen begriffen werden. 105

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Das Markusevangelium (15,33-47) lässt auf einen Todeszeitpunkt nach drei Uhr nachmittags schließen: „Gegen drei Uhr rief Jesus laut […] Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? […]Einer von ihnen tauchte schnell einen Schwamm in Essig und steckte ihn auf einen Stab, um Jesus davon trinken zu lassen. Wir wollen doch sehen, ob Elia kommt und ihn herunterholt!, sagte er. Aber Jesus schrie laut auf und starb. […] Am Abend ging Joseph aus Arimathäa, ein geachtetes Mitglied des Hohen Rates, zu Pilatus. […] Weil am nächsten Tag Sabbat war, entschloss er sich, Pilatus schon jetzt um den Leichnam Jesu zu bitten.“ Laut dem Petrusevangelium (6,21–22) erfolgte die Abnahme vom Kreuz etwa um neun Uhr abends: „Da zogen die Juden die Nägel aus den Händen des Herrn und legten ihn auf die Erde. Und die ganze Erde erbebte und große Furcht kam auf. Da schien die Sonne (wieder), und es fand sich, dass es die neunte Stunde war.“ Bei einer Abnahme der Leiche nach etwa sechs Stunden wäre demnach erst bei den Augen, dem Nacken und den kleinen Gelenken die Todesstarre eingetreten, während die großen Muskeln und Gelenke noch durch Fremdbewegungen gebrochen werden können (NystenRegel). Schulze sieht die nur geringe Bewegungsfähigkeit der Beine des Mirakelmannes aus Döbeln auf eine solche Imitation der Totenstarre hin ausgerichtet: „Da die Figur bei der Abnahme vom Kreuz oder ihrer Grablegung nicht scherenartig zusammenklappen, sondern eine gewisse Totenstarre imitieren sollte, haben die Beine gegenüber dem Oberkörper nur einen Bewegungsspielraum von etwa 10° nach allen Seiten.“ Schulze: Der sogenannte Mirakelmann aus Döbeln in Sachsen, S. 129. Maurice Blanchot: Les deux versions de l’imaginaire, zuerst in: Cahiers de la Pléiade 12 (1951), S. 115–125; jüngst in dt. Übersetzung: ders.: Die zwei Fassungen des Bildlichen, in: Thomas Macho/Kristin Marek  (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes, Paderborn 2007, S. 25–36. Während etwa bei deutschen Passionsspielen heute meist menschliche Darsteller den Verstorbenen mimen, werden in Spanien weiterhin bewegliche Kruzifixe eingesetzt. Vgl. De la Iglesia y Nikolaus: Semana Santa in León.

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Indem sich der Transformationsprozess des am Kreuz Sterbenden und als Leichnam geborgenen Körpers durch den Einsatz von beweglichen Skulpturen unmittelbar nachvollziehen lässt, erscheint das plastische, bewegliche Bild des Gekreuzigten nicht als Abbild eines Vorgangs – vielmehr bedeutet die Präsenz des bewegten Bildes den Vorgang selbst.108 Indem Christus am Kreuz zum steif-beweglichen Bild wurde, ist seine Darstellung als ein solches in höchstmöglichem Maße adäquat. Dadurch erreicht das bewegliche Artefakt ein affizierendes Potential jenseits der Simulation.109 Dass der geradezu reflexhafte Übertritt der Todespräsenz auf den Betrachter durch einen beweglichen Kruzifixus auch außerhalb der Passionsspiele ausgelöst werden kann, wird auf eindrucksvolle Weise in der 1554 in Burgos gedruckten Hystoria de como fue hallada la ymagen del sancto Crucifixo geschildert. Die Begegnung Isabellas I. von Kastilien (1451–1504) mit dem beweglichen Cristo de Burgos (Bild 80) versetzte die Regentin kurzzeitig selbst in den Zustand der Leblosigkeit: „Eine sehr bemerkenswerte Sache ist, was man über das liest, was der sehr katholischen Königin Doña Isabel geschah, der Frau von König Fernando V. [Ferdinand II. von Aragón (1479–1516)] von Kastilien, welche wegen ihrer Ruhmestaten den Namen ‚die Katholische‘ verdiente. Als sie sich einmal wünschte, den heiligen Gekreuzigten von nahe zu sehen, befahl sie, dass man ihr eine Leiter bringen solle, um die besonderen Sachen, die man sich merken sollte, von nahe zu betrachten. Und bald nachdem sie eine kurze Zeit lang einige Sachen betrachtet hatte, obwohl sie es auf eine gewisse Distanz tat, befahl sie, dem heiligen Kruzifix einen Nagel wegzunehmen, um ihn als Reliquie zu besitzen. Und als man ihn wegnahm, fiel der Arm des heiligen Gekreuzigten hinunter, wie wenn es derjenige eines Toten wäre. Und dies verursachte eine so grosse Angst und Schrecken im Geist jener Herrin, dass sie viele Stunden ohnmächtig blieb, so dass sogar viele Anwesende fürchteten, sie sei tot gewesen. Und als diese wieder zu sich kam, befahl sie, den Nagel

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In diesem Sinne beschreibt Peter Jezler auch die „toten“ Christusfiguren aufgrund ihrer Bewegungskompetenz als „handelndes Bild“: „Als Rollenträger der Spectacula theatralia unterliegen sie der rationalen Logik einer materialistischen Welterfahrung und ziehen darin das aufgeführte Ereignis als handelndes Subjekt historisch nach. Selbst das Tot-Sein des Depositionsbildes wird (so paradox es klingen mag) als transitiver Zustand, als Handlung vollzogen, die sich auf die Zeit von Karfreitag bis zur Auferstehungsfeier beschränkt.“ Jetzler: Bildwerke der dramatischen Ausgestaltung der Osterliturgie, S. 246, Anm. 23. Damit erweist sich der Gliederchristus der Passionsspiele als ein Protagonist des substitutiven Bildakts. Vgl. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Kap. IV: „Der substitutive Bildakt: Austausch von Körper und Bild“, S. 173–230.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

wieder an den Ort zu bringen, wo sie ihn weggenommen hatten. Und in Erinnerung an das Ereignis schenkte sie eine sehr reiche Verzierung […]“.110 Es war die abrupte, und dabei einem toten Leib entsprechende Bewegung, die dem Chronisten aus Burgos zufolge die Regentin in einen analogen, leblosen Zustand versetzte. Der zweite mit den beweglichen Kruzifixen verbundene Komplex ist jener des „lebenden Leichnams“.111 Dieses Verständnis zielt auf eine durch die dreidimensionale mobile Skulptur geleistete, aktive Kapazität der Verkörperung des Heilsgeschehens. Es richtet sich an ein sowohl öffentlich ausgestelltes als auch in der Privatandacht vorbereitetes, körperbezogenes Glaubensverständnis, das jene dem leidenden Leib eingeschriebene Qualen im Rahmen der Kulthandlung zu vergegenwärtigen sucht. Der Einsatz beweglicher Kruzifixe verweist auf eine gesteigerte Hinwendung zum Körperlichen innerhalb der christlichen Religion. Die Konzentration im Gebet sowohl auf den heiligen als auch auf den eigenen, profanen Leib ist Ausweis mystischer Lehren.112 Diese implizierten eine ‚ganzheitlich‘ angelegte Frömmigkeit, in deren Zentrum die Teilnahme am Leidensweg Christi stand. Die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstandenen Meditationes vitae Christi113 lieferten die bestimmende Grundlage aktiver Glaubenspraxis, die darauf abzielte, sich die Leiden des Gottessohnes derart zu vergegenwärtigen, „als hörest Du [sie] mit eigenen Ohren und sähest [sie] mit eigenen Augen“.114 Andachtsbilder der Mystik zeichnen sich insbesondere durch eine körperhafte Inszenierung des vom Kreuz abgelösten Christus aus, so etwa in der Bildformel des Schmerzensmanns.

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Neben ihrem heilsgeschichtlichen Kontext ist diese Schrift zugleich als Ausweis eines hierokratischen Anspruchs zu verstehen: Hystoriade como fue hallada la ymagen del sancto Crucifixo, f. XVIv–XVIIr, zit. n. Luís M. Calvo Salgado: Die Wunder der Bettlerinnen. Krankheits- und Heilsgeschichten in Burgos und Santo Domingo de la Calzada (1554–1559), Tübingen 2000, S. 23 f. Mit „lebendem Leichnam“ sei nicht jene Auffassung des mittelalterlichen Sterberituals angesprochen, welche dem Leib des Verstorbenen auch nach dem Ableben eine aktive, meist bösartige magische Macht zuspricht, weshalb Verstorbene oftmals gefesselt wurden. Vgl. Alois Haas: Todesbilder im Mittelalter, Darmstadt 1989, S. 60. Zur Mystik vgl. zuletzt umfassend: Peter Dinzelbacher: Deutsche und niederlän­ dische Mystik des Mittelalters. Ein Studienbuch, Berlin 2012. Für eine spätere Datierung Mitte des 14. Jahrhunderts vgl. Sarah McNamer: Further evidence for the date of the Pseudo-Bonaventuran Meditationes vitæ ­Christi, in: Franciscan Studies 10/28 (1990), S. 235–261. Johannes de Caulibus: Meditationes vitae Christi (14. Jh), zit. n. Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 117.

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Bild 74  Michele Giambono: Schmerzensmann, 1420–1430, Tempera und Gold auf Holz, 47 × 31,1 cm, Inv. Nr. 1906.06.180, Metropolitan Museum of Art, New York.

Während die Andachtsbilder des Ecce Homo oder des Christus im Elend den gemarterten lebenden Jesus zeigen, verweist der Schmerzensmann auf eine komplexe Ikonographie zwischen Leben und Tod:115 Die Präsentation des gemarterten Körpers dient der Vergegenwärtigung der erlebten Schmerzen des am Kreuz Gestorbenen, wohingegen die Qualen nur von einem noch lebenden Körper empfunden werden können. Michele Giambonos (um 1400–1462) Tafel mit der Darstellung eines Schmerzensmanns von etwa 1425 zeigt den Heiland in 115

Vgl. grundlegend Panofsky: ‚Imago Pietatis‘ sowie zuletzt mit ausführlicher Literatur: Christian Hecht: Der Schmerzensmann, in: Eckhardt Leuschner/Maik R. Hesslinger (Hg.): Das Bild Gottes in Judentum, Christentum und Islam. Vom Alten Testament bis zum Karikaturenstreit, Petersberg 2009, S.  128–152, hier S.  128: „Das Bildformular des Schmerzensmanns ist paradox. Es zeigt Christus als „lebenden Toten“, der als Leidender – nicht als verherrlichter Auferstandener – die Wundmale der Kreuzigung trägt, aber nicht ans Kreuz genagelt ist.“

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bild 75: Christusfigur mit beweglichen Gliedmaßen, Ende 16. Jh. (?), Holz, 53 cm, Obj. Nr. 1329, Galerie Bruil & Brandsma, Amsterdam. (Farbtafel 9)

einem solchen Maße als belebten Toten (Bild 74). Vor einem dunklen Hintergrund, in welchem sich schemenhaft goldene Engelswesen abzeichnen, wird der Leichnam eigenständig stehend in einem vor das Kreuz geschobenen Marmorsarkophag präsentiert.116 Vom Lendenbereich abwärts ist er in reich bestickte 116

Eine ikonographische Wurzel der aufrechten Haltung und des Leichentuches findet sich möglicherweise in einer Beschreibung des Kreuzfahrers Robert von Clari, der im Verlauf der Eroberung Konstantinopels am 12. April 1204 vom Leichentuch Christi berichtet, das sich einst in der Blachernenkirche befunden haben soll, und sich stets am Freitag „ganz gerade aufrichtete, so dass man gut die Gestalt Unseres Herrn sehen konnte“. Vgl. Hecht: Der Schmerzensmann, S. 131 ff.

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Leichentücher gehüllt, deren Enden über die Sarkophagwände fallen. Aus den Wunden der Dornenkrone und der Seitenwunde quellen Blutströme, die sich plastisch vom Bildgrund abheben, wobei das während der Kreuzigung an den Innenseiten der Unterarme herabgeflossene Blut bereits festgetrocknet ist. Zugleich fließen aus den Wundmalen feine Blutstrahlen, die den bedeutungsperspektivisch verkleinerten Hl. Franziskus, welcher der Szene im Hintergrund beiwohnt, stigmatisieren. Die Haltung des Schmerzensmanns – aufrecht vor dem Holzkreuz – entspricht derjenigen eines frontal gestellten, vom Kreuz abgenommenen Kruzifixus. Im Fall der beweglichen Christusfiguren erhalten diese, wenn sie kurz nach der Kreuzabnahme aufrecht präsentiert werden, denselben Status des empfindenden Toten, wie er für die Figur des Schmerzensmanns beschrieben werden kann. Während die bewegliche Christusfigur aus dem Bode-Museum (Bild 54) als Pietà-Typus für eine Beweinungsszene im Schoß einer Mariendarstellerin ausgelegt ist, scheint der um 1500 entstandene Gliederchristus aus Rattenberg (Bild 66a–b) durch seine Fähigkeit, eigenständig zu stehen, bewusst auch als Schmerzensmann konstruiert. Spätestens ab dem frühen 18. Jahrhundert (und seit seiner Restaurierung 1987) war er schließlich in einer entsprechenden Funktion als Ecce homo auf dem Barockaltar in der gleichnamigen Kapelle ausgestellt.117 Eine Gliederpuppe aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts bildet hierzu den eindrucksvollen Gegenpart (Bild 75). Die heute im Kunsthandel befindliche vollbewegliche Holzskulptur von 53 cm Höhe zeigt den leidenden Christus mit schmerzverzogenem Mund, von dessen Stirn, aus dessen Augen sowie Kugelgelenken Blutströme fließen. Die fehlenden Stigmata lassen weniger auf einen Schmerzensmann, denn auf eine Darstellung des Christus im Elend schließen. Mit dieser Gliedergestalt ist der Übertritt der beweglichen Christusfiguren hin zur vollbeweglichen Gliederpuppe vollzogen. Während der Mirakelmann aus Rattenberg durch seine Lebensgröße unmittelbar für ein größeres Publikum im Andachtsraum ausgelegt ist, verweist die geringere Größe des gegliederten Christus im Elend auf eine Verwendung im Rahmen der persönlichen Andacht. Neben der ambivalenten, zwischen Leben und Tod anzusiedelnden Natur des beweglichen Kruzifixus treten als Bedingungsfelder ihrer Entstehung nun ikonographische und glaubenspraktische Grunddispositionen. Zwei Sonderformen der Kreuzabnahmeikonographie sowie die körperbezogene Privatandacht der Mystik verweisen auf die hierfür wesentlichen Motive.

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Koller: Gliederpuppe und Mirakelmann. Zur ikongraphischen Verbindung von Schmerzensmann und Ecce homo vgl. Lemma Schmerzensmann, in: LCI, hg. v. Engelbert Kirschbaum, Freiburg i. Br. u. a. 1994, Bd. 4, Sp. 87–95 (Sigrid Braunfels) sowie Lemma Ecce homo, Bd. 1, Sp. 557–560 (Anton Legner).

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

A mple x u s-Mo t iv u nd kör p erl ic her Gl aub e n s vol l z u g Als eine besondere Ausprägungsform der Kreuzabnahme erweist sich das Motiv der eigenständigen Ablösung Christi vom Kreuz. In seiner historischen Entwicklung kann es als ein entscheidender ikonographischer Ausgangspunkt des beweglichen Kruzifixus gewertet werden. Während sich nordspanische Kreuzabnahmegruppen des 12. und 13. Jahrhunderts durch ein einseitiges Ablösen vom Kreuz auszeichnen, indem nur der rechte Arm seitlich herabgesenkt erscheint, während der linke noch mit dem Nagel fixiert ist,118 zeigen einige romanische monumentale Kreuzabnahmegruppen Italiens, wie etwa die berühmte Kreuzabnahme aus dem Dom von Tivoli (Bild 76), die eigenständige Ablösung beider Arme vom Kreuz.119 Die hier gezeigte Loslösung des heiligen Leibes vom Kreuz präfiguriert die reale Abnahme mobiler Christusskulpturen durch die ersten italienischen und spanischen Exemplare. Entscheidend ist die in die Figur Christi selbst verlegte dynamische Trennung von Kreuz und Kruzifixus, die dabei jenen performativen Impetus erhält, der den beweglichen Christus­ figuren inhärent ist. Diese Ablösung kann in einer zweiten Lesart als Umarmungsgestus gedeutet werden, der seinerseits auf eine frühe Schlüsselszene einer unmittelbaren Glaubenspraxis verweist. In der Geste der aktiven Umarmung durch den Gekreuzigten ist eine bedeutende Empfindungsebene mystischer Lehren angelegt, indem sie die körperlich-geistige Vereinigung des Gläubigen mit Christus im Moment höchster imitatio beschreibt. Als ursprüngliche und zugleich berühmteste Christusumarmung gilt eine Begebenheit aus dem Leben des Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153), die in der Folge begrifflich als „Amplexus-Motiv“ gefasst wurde: Als er vor dem Gekreuzigten betete, soll sich Christus vom Kreuz gelöst haben, um den Betenden zu umarmen.120

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„Durch diese Gebärde, die durch die Neigung des Kopfes und des Oberkörpers in dieselbe Richtung verstärkt wird, entsteht in der Figur eine Bewegung, die zwischen dem Ausdruck des passiven Hängens und einem Hinwenden und Darreichen vermittelt.“ Bernd Schälicke: Die Ikonographie der monumentalen Kreuzabnahmegruppe des Mittelalters in Spanien, Diss. Freie Univ. Berlin, Berlin 1977, S. 1. Vgl. hierzu grundlegend: Géza De Francovich: A Romanesque School of Wood Car­ vers in Central Italy, in: The Art Bulletin 19/1 (1937), S. 5–57. Zur Entwicklung der unterschiedlichen Kreuzabnahmeikonographien vgl. Erna Rampendahl: Die Ikonographie der Kreuzabnahme vom 9.–16. Jahrhundert, Diss. ­Friedrich-Wil­­­­helms-Univ. Berlin, Bremen 1916; Lemma Kreuzabnahme, in: Lexikon der Christlichen Ikonographie, Bd. 2, Freiburg 1990, Sp. 590–595 (Miklós Boskovits/Géza Jászai). Exordium magnum Cisterciense sive Narratio de initio Cisterciensis ordinis II (Cap. VII). Vgl. Esther Wipfler: Corpus Christi in Liturgie und Kunst der Zister­ zienser, Münster 2003, S. 167.

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Bild 76  Kreuzabnahmegruppe, um 1220–1230, Holz, 180 cm (Kruzifixus), Dom von Tivoli.

Bernhard von Clairvaux galt als scharfer Bilderkritiker,121 was einen Grund für die auffällige zeitliche Synkope zwischen überliefertem Ereignis und erster bildlicher Fassung darstellen könnte. Das durch diese Visionen erzeugte Bild der im Rahmen meditativer compassio erfolgten Umarmung trug jedoch die Subversion des Verbots selbst in sich. Die ersten Darstellungen des AmplexusMotivs entstanden erst etwa zweihundert Jahre nach der Überlieferung seiner Vision, in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts.122 Sie erscheinen damit zeit-

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Vgl. Herbert Beck, Horst Bredekamp: Bilderkult und Bildersturm, in: Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, München/Zürich 1987, S. 108–126, hier S. 122 f. Wipfler: Corpus Christi, S. 167–172.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

gleich mit den beweglichen Kruzifixen, wodurch sich sowohl inhaltliche wie auch zeitliche Zusammenhänge ergeben. Beide Phänomene beschreiben die Ablösung des Gekreuzigten und eine unmittelbare körperliche Kontaktherstel-

Bild 77  Herrenalber Gebetbuch, Amplexus, 1482– 1484, Buchmalerei, Inv. Nr. Ms.theol.lat.Quart9;72v, Handschriftenabteilung, Staatsbibliothek zu Berlin.

lung. In beiden Fällen wird so eine nicht zu steigernde Erfahrung von Präsenz gewonnen. Wie eine gut einhundert Jahre später geschaffene Darstellung aus der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek zeigt, war das Motiv des umarmenden Christus über Generationen virulent (Bild 77). Mit ihm wird der zweite Pol der Lebendigkeit hin zu einer körperhaften Präsenzerfahrung moduliert. In der Gestalt des am Kreuz hängenden Schmerzensmanns mit geöffneten oder umschliessenden Armen vereinen sich einerseits die Figur des leidenden Gekreuzigten und andererseits die Geste der Umarmung als besondere Form einer körperlichen unio mit Gott. Das Umarmende Kruzifix aus dem Kloster Marienberg in Helmstedt bildet durch seine Entstehung im 14. Jahrhundert

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Bild 78  Umarmendes Kruzifix, um 1350, Nadelholz, 260 cm (Kreuz), Kloster Marienberg in Helmstedt. 

ein frühes Beispiel einer solchen in der Andacht anvisierten körperlichen Erfahrung (Bild 78).123 Die mithilfe beweglicher Kruzifixe real inszenierte körperliche Annäherung konnte indes kaum von allen Gläubigen eines Prozessionsspiels erlebt werden. Aus diesem Desideratum resultierten offenbar bewegliche Christusfiguren, die hinsichtlich ihres geringen Ausmaßes gezielt auf eine persönliche, intime Erfahrung der beschriebenen Effekte hin angelegt sind: Ein gekreuzigter Christus, den Baccio da Montelupo (1469–1523) in Florenz im Jahr 1500 geschaffen hat, ist der zweite im Berliner Bode-Museum ausgestellte bewegliche Kruzifixus (Bild 79a–b). Die Skulptur aus Lindenholz weist noch ihre ursprüngliche Fassung auf. Der Lendenschurz ist aus Cartapesta, das Kreuz stammt aus späterer Zeit. Was diesen Kruzifixus besonders auszeichnet, ist 123

Vgl. Gert von der Osten: Der umarmende Kruzifix in Helmstedt, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 6 (1967), S.  111–116; Dinzelbacher: Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters, hier S. 331 ff.

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Bild 79a–b  Baccio da Montelupo: Kruzifix, um 1500, Holz, 54 cm, Bode-Museum, Berlin.

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seine Größe: Anders als der lebensgroße Christus aus Pisa ist dieser nur etwa unterarmlang. Er ist für den privaten Einsatz, etwa in einer Hauskapelle, gefertigt worden.124 Mit ihm konnte der bewegende Moment der Kreuzabnahme von einer einzelnen Person unmittelbar erlebt werden. Mit der mystischen Aufladung der Andacht im Sinne eines körperlichen Nachempfindens war eine wesentliche Voraussetzung dafür geschaffen, dem Leib Christi auch realiter habhaft zu werden. Das devotionale Prinzip der Vergegenwärtigung findet in der unmittelbaren Handhabung einer Christusfigur eine weit über das Imaginative hinausreichende Konkretion.125 Die in der Folge von Bernhard von Clairvaux verbreiteten Erfahrungen einer körperlichen Annäherung an den gekreuzigten Leib in Form eines skulptierten Kruzifixus reicht von den erlebnismystischen Begegnungen des Benediktinerabtes Rupert von Deutz († 1129/1230), dem der Gekreuzigte den Kopf zugewandt und seine Umarmungen und Küsse erwidert haben soll, bis zu den Erlebnissen der Gertrud von Helfta (1256–1302) mit einem sie umarmenden Gekreuzigten, welchen sie küsste und streichelte. Die häufig beschriebene ‚aktive Schaulust‘ der Gläubigen am Übergang zur Neuzeit erweist sich, bezogen auf den beweglichen Kruzifixus, als eine nunmehr visuell-haptische Bildstrategie, welche auf der aktivierenden Präsenzerfahrung durch die stellvertretende Christusgestalt beruht.126 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, nach den Pendelschlägen der Reformation und des Konzils von Trient, ergibt sich für den Einsatz mobiler Christusfiguren schließlich ein heterogenes Bild. Obgleich als bildmagische Objekte deklariert und im Zuge der Bilderstürme zerstört, blieb ihr Einsatz dennoch in zahlreichen Regionen Europas erhalten. Unterdessen wurde ihr kultischer Einsatz erstaunlich früh in den Konventen der Neuen Welt über-

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Wenngleich die Skulptur eindeutig toskanischen Ursprungs ist, lässt sich kein Nachweis für eine kirchliche Auftragsarbeit erbringen. Vgl. Kopania: Animated Sculptures, S. 39. Im Vergleich zu den teilweise über zwei Meter großen beweglichen Exemplaren, die weithin sichtbar eingesetzt werden konnten, erscheint ein intentionaler Präsentationscharakter bei einer derart kleinen Figur kaum naheliegend. Vgl. Pochat: Theater und Bildende Kunst, S. 51. Vgl. zu diesem Komplex die grundlegenden Arbeiten von Paoletti: Wooden Sculpture; Joanna E. Ziegler: Sculpture of Compassion. The Pietà and the Beguines in the Southern Low Countries, c.1300–c.1600, Brüssel/Rom 1992; Jacqueline E. Jung: The Tactile and the Visionary. Notes on the Place of Sculpture in the Medieval Religious Imagination, in: Looking Beyond. Visions, Dreams, and Insights in Medieval Art and History, hg. v. Colum Hourihane, Princeton, NJ 2010, S. 203–240; zur haptischen Bildwahrnehmung plurimedialer Bildwerke Iris Wenderholm: Bild und Berührung. Skulptur und Malerei auf dem Altar der italienischen Frührenaissance, München 2006.

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nommen, um von dort aus wieder nach Europa zurückzuwirken und die Kreuzabnahmespiele erneut zu begründen.127 Die unterschiedlichen Typen beweglicher Christusskulpturen – vom Allgemeinen Kreuzabnahmetypus mit schwenkbaren Armen bis hin zum vielbeweglichen Mirakelmann-Typus – markieren eine besondere Ausprägungsform der Gattung Gliederpuppe. Als multifunktionale Skulptur den Gottessohn verkörpernd, vereint sie neben ihrer praktischen Variabilität auch religiöse Tiefenschichten in sich und erlaubte aufgrund ihrer veränderbaren Struktur über Jahrhunderte hinweg eine gleichsam unvermittelte Glaubenspraxis im öffentlichen wie im privaten Raum.128

b Be weg l ic he Ma r ien, Prozessionsf ig u ren u nd Ch r ist usk i nder Nicht alle beweglichen Christusfiguren waren für die theatralische Inszenierung der Kreuzabnahme bestimmt. Indem der Jésus de la Pasión des andalusischen Bildschnitzers Juan Martínez Montañés (1568–1649) von ca. 1615 doppelt bewegliche Arme besitzt, der restliche Körper jedoch in Schrittstellung fixiert ist, erweist er sich als multifunktionale Passionsgestalt, welche das Geschehen bis zur Kreuzigung, also Gefangennahme und Kreuztragung verbildlichen konnte (Bild 80).129 Dieses Exemplar eines beweglichen Christus stellt insofern eine Zwittergestalt dar, als es Eigenschaften des beweglichen Kruzifixus und einer weiteren Gattung von Gliederpuppen des religiösen Kults in sich vereint: jene der beweglichen Prozessionsfiguren.

St a t u e ve s t ite Zur Gattung der Gliederpuppe zählende Figuren des christlichen Kultes sind nicht allein die beweglichen Kruzifixe, sondern auch all jene Marienfiguren und Heiligenskulpturen, die in der Folge der mobilen Kruzifixe als agierende Gestalten zur dramatischen Inszenierung kirchlicher Historien – im Rahmen 127

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Vgl. Webster: The Descent from the Cross in Sixteenth-Century New Spain, insb. S. 71; zur aktuellen Untersuchung beweglicher Prozessionsfiguren in Ouro Preto (Brasilien) vgl.: Maria Regina Emery Quites: Processional images of the third order of Saint Francis of Assisi of Ouro Preto – History – Technique and Preservation, in: XI Congress of ABRACOR: „Scientific Methodology in the Conservation-Restoration of Cultural Goods“, o. Hg., Rio de Janeiro 2002, S. 85–91. Sie tragen zu einer Praxis bei, die Hans Ulrich Gumbrecht umfassend als ästhetisches Erleben von Präsenz beschreibt: Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004. Vgl. Susan Verdi Webster: Art and Ritual in Golden-Age Spain. Sevillian Confraternities and the Processional Sculpture of Holy Week, Princeton 1998, Abb. 15, 16.

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Bild 80  Juan Martínez Montañés: Jésus de la Pasión, um 1615, Holz, 164 cm, Iglesia del Salvador, Sevilla.

von Prozessionen, seltener als Teil einer figürlichen Theaterszene oder als temporäre Ausschmückung – mit beweglichen Gliedern ausgestattet wurden. Diese Einrichtung von Gelenken betrifft meist die Armpartien, um dadurch auch ein leichteres Bekleiden zu erreichen, weshalb die Prozessionsfiguren mit dem Begriff statue vestite (bei Marienfiguren Madonne vestite) oder sculture da vestire belegt wurden.130 Neben der bekleidungsdienlichen Beweglichkeit waren 130

Zum Komplex der Bekleidungsfiguren, vor allem im deutschsprachigen Raum, bereitet zur Zeit Beate Fücker vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg eine ausführliche Untersuchung vor. Für ihre Auskünfte sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Zur Begriffskategorie der statue vestite vgl. Genovese: Statue vestite e snodate, insb. S. 33–36. Die von Nero Alberti da Sansepolcro (1502–1568) gefertigten „manichini“, teilweise bewegliche Heiligenfiguren, die genuin auf ein Bekleiden hin ausgerichtet waren, wurden in der Ausstellung von 2005 als „Sculture da vestire“ betitelt: Ausst. Kat.: Sculture „da vestire“. Nero Alberti da Sansepolcro e la produzione di manichini lignei in una bottega dell‘italia centrale alla metà del XVI secolo, hg. v. Cristina Galassi, Perugia 2005. Im selben Jahr nahm sich ein Symposium in Ferrara den beweglichen italienischen Marienfiguren vornehm-

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

durch diese Objekte, im Gegensatz zu statischen Heiligenfiguren, unterschiedliche Haltungen und Gesten möglich, wodurch sich ihr Einsatzrepertoire entscheidend erweiterte. Das Bekleiden von Kultbildern ist bereits in der Antike bekannt,131 im Mittelalter kann dieser Brauch im christlichen Kult jedoch bis zur Spätgotik nicht nachgewiesen werden.132 Auch unbewegliche Skulpturen, wie etwa die berühmte schwarze Madonna di Loreto, wurden eingekleidet oder mit Umhängen versehen.133 In diesen Fällen handelt es sich weniger um einen liturgischen Einsatz, in welchem die Gewänder Teil einer theatralischen Inszenierung sind,

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lich des 18. u. 19. Jhs. an, um hierbei auch die unterschiedlichen Kleidungsformen zu untersuchen. Vgl. Lidia Bortolotti (Hg.): Atti del Convegno organizzato in occasione di Restauro 2005. Salone dell’arte del Restauro e della Conservazione dei beni culturali e ambientali, Ferrara 2005, vgl. insb. den Beitrag von Elisabetta Silvestrini: Le effigi „da vestire“. Note antropologiche, 12 S.; unter: http://online.ibc.regione. emilia-romagna.it/h3/ h3.exe/ apubblicazioni/t?NRECORD=0000047838 [06.08. 2014]. Vgl. Franz Willemsen: Frühe griechische Kultbilder, Diss. Univ. München, Würzburg 1939, S.  36–43; Thomas Pékary: Das Opfer vor dem Kaiserbild, in: Bonner Jahrbücher für Altertumswissenschaft 186 (1986), S. 91–103. Auch im apokryphen Brief des Jeremia, dessen Wurzeln in das erste Jh. v. Chr. zurückreichen, wird das Bekleiden von Götzenstandbildern angeprangert: „Und sie schmücken die silbernen, goldenen und hölzernen Götzen mit Kleidern, als wären es Menschen.“ (Baruch 6,22). Gemeint ist dabei das veritable Bekleiden von Skulpturen mit Stoffen; Goldüberzüge wie bei der Hl. Fides aus Conques aus dem 9. Jh. oder der Essener Madonna (980), aber auch Ausstattungen mit massiven, schalenartigen Kleiderteilen sind bekanntlich bereits im ersten nachchristlichen Jahrtausend anzutreffen. Zum Bekleiden von Skulpturen im Rahmen religiöser Kulthandlungen vgl. Lemma Bekleiden von Bildwerken, in: RDK, Bd. 1, Stuttgart 1937, Sp. 219–225 (Hans Wentzel); Wolfgang Brückner: Mannequins. Von Modepuppen, Traggestellen, Scheinleibern, Schandbildern und Wachsfiguren, in: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 1–24, hier S. 12–17; Richard Trexler: Der Heiligen neue Kleider. Eine analytische Skizze zur Be- und Entkleidung von Statuen, in: Norbert Schnitzler (Hg.): Gepeinigt, Begehrt, Vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992, S. 365– 406 (hier jedoch explizit ohne besondere Berücksichtigung beweglicher Bildwerke, „sogenannte[r] mannequins“; ebd., S. 370); Koller: Kleider machen Heilige; Genovese: Statue vestite e snodate; Iglesia y Nikolaus: Semana Santa in León. Die Figur trägt auch den Namen Vergine Lauretana. Das Original aus dem 15. Jahrhundert verbrannte im Jahre 1921 und wurde durch eine Kopie ersetzt. Vgl. Floriano Grimaldi, Katy Sordi: L‘iconografia della Vergine di Loreto nell‘arte, Loreto 1995; Ottaviano Turrioni (Hg.): La statua della Vergine Lauretana di Cannara. Storia, Tradizione e Culto. Il Restauro, Spello 2005. Zu den „Schwarzen Madonnen“ und ihrer Bekleidung vgl. Monique Scheer: From Majesty to Mystery: Change in the Meanings of Black Madonnas from the Sixteenth to Nineteenth Centuries, in: The American Historical Review 107/5 (Dec. 2002), S. 1412–1440.

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Bild 81 Umbrisch/ Perugia: Schmerzensreiche Madonna, verschiedene Zustände, um 1236, Holz, 147 cm, Privatbesitz.

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als vielmehr um ein Element eines wundertätigen Ensembles, bei dem die kultische Bedeutung der Kleidung zwischen Votivgabe und Reliquie oszilliert.134 Während die mobilen Kruzifixe vom 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts in Erscheinung traten, um in der Folge der Reformation zurückgedrängt zu werden, gelangten die beweglichen Prozessionsfiguren erst im Zuge der Gegenreformation zu ihrer vollen Blüte.135 Bis heute werden in einigen Regionen Europas, insbesondere in Spanien und Italien, derartige Figuren in Prozessionsumzügen präsentiert. Einige wenige Exemplare aus dem italienischen Due- und Trecento weisen indes bereits bewegliche Extremitäten auf, wie etwa die Schmerzensreiche Madonna von 1236 aus Perugia (Bild 81).136 Die 147 cm hohe gefasste Holzskulptur, welche sich heute in Privatbesitz befindet, war jedoch mitnichten genuin als beweglich bestimmt. Im entkleideten Zustand zeigt sich unter dem fein modellierten Kopf ein grob behauener Rumpf ohne anatomische Details mit glockenförmigem Unterleib. Die an Schultern und Ellenbogen beweglichen Arme sind ohne Modulation an den Körper angeheftet. Ganz offensichtlich wurde die Figur aus dem 13. Jahrhundert erst in späterer Zeit, vermutlich im Rahmen einer ‚Restaurierung‘ im späten 18. Jahrhundert, zu einer veränderbaren Prozessionsfigur umgearbeitet.137 Eine Verkündigungsgruppe aus dem späten Trecento, die heute im Museo Santa Verdiana in Castelfiorentino aufbewahrt wird, erweist sich hingegen in ihrer kontinuierlichen Durchformung, den in allen Körperteilen ausgewogenen Proportionen und den organisch eingepassten Gelenken im Schulter- und Ellenbogenbereich als vom Bildhauer Mariano d’Agnolo Romanelli (tätig zwischen 1376 und 1391) genuin beweglich gefertigt (Bild 82).138 Die große Mehrzahl der bis heute erhaltenen Prozessionsfiguren entstand zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert.139 Ebenso wie die zuvor untersuchten Christusfiguren der Karwoche variieren dabei die veränderbaren Heiligenskulpturen stark hinsichtlich ihrer Gestalt und Bewegungsfähigkeit, können jedoch grundsätzlich in zwei Haupttypen unterschieden werden: eine erste Kategorie (‚Oberkörpertypus‘) vereint eine grosse Anzahl von Prozessionsfiguren mit durch Gelenke oder Drahtkonstruktionen beweglichen Armen, jedoch 134 135

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Vgl. Genovese: Statue vestite e snodate, S. 32. So betont Iglesia y Nikolaus, dass „[i]n keiner anderen Epoche oder Region des katholischen Christentums […] Prozessionsfiguren eine derart wichtige Rolle wie in der barocken Semana Santa Spaniens“ spielten. Iglesia y Nikolaus: Semana Santa in León, S. 17. Vgl. Genovese: Statue vestite e snodate, S. 26. Ebd., S. 27. Ebd., S. 175 f. Für eine repräsentative Auswahl von Prozessionsfiguren vgl. Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, Kat. 98–104 sowie Kat. 106– 111, S. 102–110; zudem Wipfler: Gliederpuppe, III. E.

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I  Kult

Bild 82  Mariano d’Agnolo Romanelli: Verkündigungsmadonna, 1380–1390, Holz, 158,5 cm, Museo di S. Verdiana, Florenz.

ohne anatomisch durchgebildeten Unterleib. Diese Figuren wurden nur im bekleideten Zustand der Öffentlichkeit präsentiert. Die künstlerisch höherentwickelte, seltenere Form stellen die ganzgestaltigen Heiligenskulpturen (‚Ganzkörpertypus‘) mit durchgebildeten Extremitäten dar, die ebenfalls bewegliche Arme, häufig veränderliche Beine und weitere einstellbare Elemente aufweisen, um damit ein vielfältiges Bewegungsrepertoire bereitzustellen.140 Eine italienische Heiligenfigur aus dem 18. Jahrhundert, die sich heute in Münchner Privatbesitz befindet, weist die Eigenschaften des einfacheren Oberkörpertypus der beweglichen Prozessionsfiguren auf (Bild 83): Die mit

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Genovese verfeinert diese Aufteilung insofern, als sie auch unbewegliche Holzgerüste oder statische Skulpturen aus Holz und Ton, die jeweils mit Kleidern ausgestattet wurden, einer weiteren Kategorie unterordnet. Vgl. Genovese: Statue vestite e snodate, S. 34.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

79 cm deutlich unterlebensgroße Gestalt besteht aus einem anthropomorphen, androgynen Oberkörper, von welchem nur Kopf und Hände fein modelliert wurden. Während Gesicht- und Halspartie farbig gefasst sind, verweist die ockergelbe Kopfkalotte auf den Einsatz einer Perücke. Mittels Holzstab ist der Kopf drehbar auf den mit Leinen überzogenen, hölzernen Rumpf gesteckt. Die ausgestopften Arme sind durch Drahtgelenke variabel einstellbar. Unterhalb der Taille ist der Oberkörper auf ein hölzernes Rockgestell montiert, das ebenso wie dieser vollständig von der Festtagsbekleidung verdeckt wurde. Derselbe Auf­ ­bau lässt sich bei einer Vielzahl von Prozessionsfiguren beobachten, wie etwa bei der überlebensgroßen, 220 cm hohen Madonna della Stella, die von Giacomo Colombo (1663–1730) um 1720 ge­ fertigt wurde und bis heute jedes Jahr im Juli von der Confraternita di Ostuni im Rahmen einer Prozession durch die Altstadt getragen wird.141 Die sich hierbei manifestierende Zuordnung der Prozessionsfiguren in den Bereich der Volksfröm­ migkeit lässt sich auch an ihrer musealen Unterbringung erkennen, die meist in diözesanen oder Bild 83: Heiligenfigur, ethnographischen Sammlungen erfolgt. frühes 18. Jh., Holz, 79 cm, Als Zwischenform zur ganzfigurigen varia­­ Privatbesitz. blen Prozessionsfigur kann etwa die Skulptur der Damina aus dem 18. Jh. gelten, der an der Unterseite des hölzernen Rockgestells zwei Fußstümpfe angesetzt wurden, sodass diese auch in bekleidetem Zustand über sichtbare Füße verfügt.142 Eine bewegliche Heiligenfigur des Ganzkörper141 142

Vgl. den bebilderten Bericht der Prozession unter: http://ostunimagazine.blogspot. de/2012/07/la-tradizionale-processione-di-santa.html [06.08.2014]. Figur der Damina, 18. Jh., Holz, 163 cm, Privatbesitz Genua, vgl. Valeria E. Genovese: Statue vestite e snodate. Un percorso, Pisa 2011, S.  521. Ebenfalls als Zwischentypus können Standfiguren mit beweglichen Armen und einem als massiven Rock gebildeten Unterleib gelten – ein Typus, wie er etwa bei der gut dokumentierten Madonna aus der Burgkapelle Forchtenstein im Burgenland beobachtet werden kann, die 1687 von Paul Esterhazy gestiftet wurde. Bis auf die verlorene Perücke ist die Ausstattung der Figur original erhalten. Vgl. Koller: Kleider machen Heilige, S. 30 f. und Abb. 3a–c. Koller beschreibt in diesem Zusammenhang auch die thronende Rosenkranzmadonna aus Axams bei Innsbruck: „eine hölzerne Gliederpuppe, deren Holzköpfe für die Prozessionen durch solche aus Wachs ersetzt werden

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I  Kult

Bild 84a–b  Benito Silveira: Hl. Antonius, 2. Hälfte 18. Jh., Holz, Museo Nacional de Escultura, Valladolid.

typus ist indes der im Museo Nacional de Escultura in Valladolid aufbewahrte polychrome Hl. Antonius (Bild 84a–b). Die von Benito Silveira († 1800) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschaffene Holzskulptur aus San Martín in Santiago de Compostella ist lebensgroß. Als kunstvolles Beispiel der Polychromskulptur des spanischen Barock erscheint das nuancierte Inkarnat des Heiligenkopfes, gerahmt vom grauen Haupthaar und einem langen, in achsen-

können.“ Sich auf ein weiteres derartiges Beispiel stützend, weist er darauf hin, dass „hier nicht nur das Bemühen um Beweglichkeit der Glieder, sondern auch um Variation des Ausdrucks zur funktionsbezogenen Verlebendigung bekleideter Heiligenfiguren deutlich wird.“ Ebd., S. 33.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bild 85  Prozessionsfigur mit beweglichen Gliedmaßen, 17./18. Jh., Holz, 113 cm (sitzend), Privatbesitz.

symmetrischen Locken herabfliessenden Bart. Eine metallene Halterung, die wohl für die Kopfbedeckung eingebracht worden war, steckt im Hinterkopf in der Mitte des Scheitelbeins. Die männliche Gestalt besitzt einen athletischen, vollständig durchgebildeten Leib. Dieser ist jedoch nicht nackt, sondern in schmuckloser Unterkleidung dargestellt, was im Zusammenspiel mit den beweglichen Armen und dem ausgehölten Rücken seine Natur als escultura de vestir offenbart, die erst durch zusätzliche Kleidungsstücke einen einheitlichen Eindruck erlangt. Die Arme des Antonius sind mit doppelten Scharniergelenken in unterschiedliche Haltungen versetzbar, können erhoben oder angelegt werden, während die Hände ausgestreckt oder nach unten weisen können. Hinsichtlich dieser Beweglichkeit erscheint der in sich gekehrte, unfokussierte Blick bewusst

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I  Kult

intendiert, da das eigentliche Objekt seiner Aufmerksamkeit – die Heilige Schrift, die aufgeschlagen in seiner linken Hand liegt – bei veränderter Haltung auch als seitlich gehaltenes Attribut fungieren kann. Möglicherweise als spätere Zutat erweist sich der Ösenhaken am linken Oberarm, welcher, nach einer Lockerung der Gelenke, die Winkelstellung fixiert.143 In ihrer Beweglichkeit komplexer gestaltet ist die Prozessionsfigur einer weiblichen Heiligen, die Ende des 17. oder Anfang des 18. Jahrhunderts in Süddeutschland gefertigt wurde (Bild 85). Ihr vollständig durchgebildeter Leib ist in Sitzhaltung wiedergegeben, wobei nun neben die Armbeweglichkeit des Oberkörpertypus auch bewegliche Unterschenkel treten. Wiederum ist der Kopf die am feinsten modellierte Körperpartie, wenngleich der in Form barocker Prunkrüstungen gestaltete Rumpf auch im bekleideten Zustand partiell sichtbar bleiben konnte. Die heute verschlossenen Gelenkpfannen der Beckenpartie können einst ebenfalls bewegungsfähig gewesen sein, wie dies etwa in der Gestalt einer oberitalienischen Heiligen des 17. Jahrhunderts verwirklicht ist (Bild 86a–b).144 Von dieser beweglichen Ganzkörper-Prozessionsfigur sind nur der Rumpf sowie ein Oberschenkel erhalten, dennoch erweist sich die Skulptur als ein künstlerisch äußerst aufwendiges Stück. Mit seinen kleinen, hoch sitzenden Brüsten den Idealproportionen des Manierismus verhaftet, leitet der Oberkörper über zu einem dreh- und neigbaren, ebenmäßigen Haupt mit kleinem Mund, prägnant langgezogener Nase mit durchbohrten Löchern und symmetrisch ausschwingenden Augenbrauen über großen Glasaugen. Die in späterer Zeit ersetzten Gelenkarme führen zu den bemerkenswert ausgeformten Händen, deren expressiv bewegte Finger bis in die Spitzen aufgespreizt sind. Die unverschlossene Rückenpartie gibt den Blick in das ausgehöhlte Innere der Skulptur frei, wobei die Gelenkkonstruktionen ebenso wie die Kopfverankerung deutlich zum Vorschein kommen. Über die rein praktische Ausstattung mit Gelenken zur leichteren Bekleidung, die zweifellos ein entscheidendes Element beider Typen der sculture da vestire darstellt, gehen viele Gelenkapparaturen gleichwohl hinaus.145 Aufgrund der häufig schwierigen Quellenlage ist heute jedoch kaum mit Gewissheit zu rekonstruieren, ob und in welcher Form die beweglichen Prozessionsfiguren im Rahmen ihrer Präsentation vor den Augen der Gläubigen unterschiedliche Haltungen einnehmen sollten. Die Beweglichkeit der Schultergelenke führte zu 143 144 145

Von einem zweiten, wohl noch vor der Restaurierung angebrachten Haken sind noch die Bohrungen sichtbar. Zu den besprochenen Beispielen des Ganzkörpertypus vgl. Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, Kat. 98 u. 100. Zudem sind Skulpturen bekannt, die auch ohne bewegliche Gliedmaßen bekleidet wurden. Beispielhaft sei auf die von Wentzel angeführten Skulpturen aus Worms und Altötting verwiesen: Wentzel: Bekleiden von Bildwerken, S. 223, Abb. 3–5.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bild 86a–b  Lebensgroße Gliederfigur einer Heiligen, 17. Jh., Holz, 88 cm (o. Beine), Privatbesitz.

einer besonderen Gestaltvariabilität, die ganz bewusst zu einer Varianz von Haltung und Gebärden beitrug und den Skulpturen bei unterschiedlichen Auftritten ein veränderliches Erscheinungsbild ermöglichte. Eine Heiligenfigur konnte damit bei zwei aufeinanderfolgenden Prozessionen in unterschiedlichen Haltungen präsentiert werden. In diesem Potential der Gestaltveränderung liegt eine besondere, der Gattung Gliederpuppe innewohnende Eigenschaft: jene einer durch die eingeschriebene Veränderlichkeit gegebene Verlebendigungsinstanz. Dieses Bestreben der Lebensnähe sakraler Figuren äußert sich auch bei statischen Figuren in einer Realismussteigerung, insbesondere bei den italienischen sacri monti oder auch den spanischen pasos.146 Wie bereits bei der Ausstattung von Kruzifixen mit Naturhaar eine mimetische Annäherung an das 146

Zu den unterschiedlichen Realitätsgraden der pasos vgl. Iglesia y Nikolaus: Semana Santa in León, insb. S. 135 f.

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Naturbild erreicht werden sollte, trugen Kleidung, eine fein nuancierte Fassung, Köpfe aus Wachs oder Tränen aus Harz und Glas zu einem trompe-l’œil-Eindruck der Figuren bei, wenngleich einige der allein für Prozessionszwecke gefertigte Figurengruppen zum Karrikaturhaften tendieren.147 In der Polychrom­ skulptur, die im spanischen Barock eine Hochphase erlebte, bekundet sich ein Bestreben nach einem die Gattungsgrenzen von Skulptur und Malerei überwindenden Zusammenspiel der Künste.148 Die bis ins Extrem getriebene Realitätsnähe der farbigen Ausgestaltung der Heiligenfiguren bildet damit eine Ergänzung zum zeitgleichen Verfahren der Bekleidung und Bewegungsbefähigung von Prozessionsfiguren.

Be weg l ic he Ch r i st u sk i nder Während bei den mit einfachen Gelenken ausgestatteten Prozessionsfiguren eine prozessuale Handhabung, der Vorgang des Be- und Entkleidens selbst, in den Hintergrund tritt, erweisen sich die beweglichen Christuskinder besonders aus performativen Gründen als veränderbare Bildwerke gestaltet.149 Bereits um 1300 gelangte die Gestalt des Christuskindes zu einer eigenständigen Bildform, vorbereitet durch die im Gebet als Vision erfahrene Begegnung mit dem neugeborenen Jesus, wie sie von Bernhard von Clairvaux und Franz von Assisi (1181– 1226) übermittelt worden war,150 aber auch in den Meditationes des Pseudo147 148

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Vgl. Iglesia y Nikolaus: Semana Santa in León, S. 136 f. Vgl. Joris van Gastel/Yannis Hadjinicloaou/Markus Rath: Paragone als Mitstreit, in: dies. (Hg.): Paragone als Mitstreit, Berlin 2014, S. 15­–32, hier S. 29 ff. Den Fragen nach Realitätsnähe der spanischen Barockskulptur nahm sich vor wenigen Jahren eine Ausstellung in der National Gallery in London an: Ausst. Kat.: The Sacred Made Real. Spanish Painting and Sculpture, 1600–1700, hg. v. Xavier Bray u. a., London 2009. Jesuskindfiguren rückten in den vergangenen Jahren wieder verstärkt in das öffentliche wie wissenschaftliche Interesse. Vgl. etwa die Publikationen zu zwei Ausstellungen in Bayern: Frank Matthias Kammel (Hg.): Im Zeichen des Christkinds. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter. Ergebnisse der Ausstellung Spiegel der Seligkeit, Nürnberg 2003; Ausst. Kat.: Seelenkind. Verehrt. Verwöhnt. Verklärt. Das Jesuskind in Frauenklöstern, hg. v. Bernhard Haßlberger u. a., Regensburg 2013. Für die Darstellung des Kindes in der Krippe stellt die Inszenierung des Krippenspiels im Jahre 1223 durch den Hl. Franziskus eine entscheidende Etappe dar, wobei umstritten ist, in welcher Form das Heilige Kind vergegenwärtigt wurde. Dem Bericht des Chronisten Thomas von Celano zufolge, lag in der Krippe „ein lebloses Kind“ („puerulum unum iacentem exanimem“), welches von Franziskus aus dem Todesschlaf erweckt wurde. Helmut Feld sieht darin die Diskussion insofern entschieden, als „es sich bei der von Celano berichteten ‚Auferweckung des Kindes‘ nicht um eine Vision handelte, sondern dass tatsächlich eine Figur – oder eher noch ein pupazzo – in der Krippe lag.“ Helmut Feld: Die Zeichenhandlungen des Franziskus von Assisi, in: Gert Melville (Hg.): Institutionalität und Symbolisierung.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bonaventura zutage trat.151 Desgleichen berichtet Heinrich von Seuse (1295/ 1297–1366) von einer Begebenheit während der Konstanzer Purificatio MariaeProzession, derzufolge eine Madonnenskulptur ihm das Jesuskind überreichte, um seine schöne Gestalt zu bewundern.152 Neben den Andachtsbildern der Pietà, der Christus-Johannes-Gruppe und des Schmerzensmanns ist die Entwicklung des Christuskindes als eigenständige Bildform auch der um 1300 erstarkenden Bewegungen der Frauenmystik geschuldet.153 In der Gestalt des kindlichen Jesuskindes verkörperte sich auf ebenso eindrückliche Weise wie in der zur compassio aufrufenden Leidensgeschichte Christi die Menschwerdung Gottes, die eine entscheidende Komponente mystischer Frömmigkeit darstellte.154 Neben der Inkarnation als wahrhaftiger Mensch, ausgezeichnet durch kindliche Rundungen des unbedeckten Leibes, verweist die Nacktheit der Christusknaben wiederum auf die bevorstehende Passion, in der die Schmerzen von der Schmach der Nacktheit begleitet wurden.155 Während im Italien des Quattrocento erste Exemplare belegt sind,156 gehörten Christuskinder insbesondere im deutschen Sprachraum des 16. bis 18. Jahrhunderts zum weit verbreiteten Grundbestand der Nonnenklöster. Erst die Säkularisation leitete zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Ende dieser klösterlichen Tradition des Umgangs mit Figuren des Christuskindes ein.

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Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001, S. 393–408, hier S. 405 f. Zit. n. ebd. Vgl. Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 67–74, hier S. 74: „Der Ursprung des Bildtyps des Jesusknaben liegt somit im Bilderkult, in der Visions- und in der Meditationsliteratur der Franziskaner des 13. Jahrhunderts. Es kann kein Zufall sein, dass parallel zur Verbreitung der Visions- und Meditationsschriften der Franziskaner, am Ende des 13. Jahrhunderts, und vor allem zu Beginn des 14. Jahrhunderts, auch die ersten gesicherten Christusfiguren verbürgt sind.“ Dies muss stets im Verbund mit den Hoheliedpredigten des Hl. Bernhard, insbesondere jenen in Volgare, gesehen werden. Ebd., S. 75. Vgl. Nikolaus Heller (Hg.): Des Mystikers Heinrich Seuse deutsche Schriften, Regensburg 1926, S. 31. Vgl. Walter Blank: Dominikanische Frauenmystik und die Entstehung des Andachtsbildes um 1300, in: Alemannisches Jahrbuch (1964/1965), S. 57–86. In der Entwicklung dieser Formen des Andachtsbilds sah bereits Wilhelm Pinder die „Sichtbarmachung eines Gefühlsgehaltes“ und eine „tastbare Verwirklichung dichterischer Wurzeln“. Zit. n. RDK, Bd. 1, Sp. 681–687, hier Sp. 681. Sylvia Hahn: Weihnachten. Hochfest der Geburt Christi, in: Von Korbinian bis Lichtmess. Kunst und Symbolik im Weihnachtsfestkreis, hg. v. ders./Anna-Laura de la Iglesia y Nikolaus/Carmen Roll, Regensburg 2001, S. 36–37. So beschrieb etwa der Kartäusermönch Ludolf von Sachsen (um 1300–1377/1387) in seiner weit verbreiteten Vita Christi die Nacktheit als die erste Leidensstufe der Passion. Vgl. Christiane Klapisch-Zuber: Les saintes poupées. Jeu et dévotion dans la Florence du Quattrocento, in: Philippe Ariès/Jean-Claude Margolin (Hg.): Les jeux à la Renaissance, Tours 1980, S. 65–79.

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I  Kult

Unter den seit der Spätgotik erhaltenen Jesuskindern sind wiederum zwei Haupttypen auszumachen: Neben der Darstellung des in Windeln gewickelten Säuglings bilden jene Figuren eine zweite Hauptkategorie, die aufrecht stehend, häufig segnend und mit Attributen ausgestattet dargestellt wurden.157 Zum letzteren Typus zählen auch die Brabanter, beziehungsweise Mechelner Jesusfiguren des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, die dort in großem Stil produziert und in ganz Europa vertrieben wurden.158 Wenngleich einige Krippenfiguren wohl nur zur Weihnachtszeit der privaten Frömmigkeit dienten, kamen kindliche Christusfiguren im häuslichen Umfeld als Objekte der geistigen Erbauung und als vorbildgebende Erziehungsinstrumente zum Einsatz, besonders jedoch traten sie in verschiedenen Szenen und Glaubenszusammenhängen des klösterlichen Lebens zutage.159 Dabei erweisen sich diese Figuren weniger als Substitute einer nicht erfüllbaren Mutterschaft und können kaum als einfaches „Spielzeug für Nonnen“ oder „Seelentrösterlein“ abgetan werden.160 Mit ihnen verbinden sich neben der bildlichen Konkretion der menschlichen Natur Gottes auch die damit verbundenen Aufgaben einer Imitatio Mariae – heiligen Handlungen der Gottesmutter, wie sie etwa Heinrich von Nördlingen (um 1310 – um 1379) sanktioniert hatte.161

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Vgl. Lemma Christkind, in: RDK, Bd. 3, Stuttgart 1954, Sp. 590–608 (Hans Wentzel). Eines der ältesten erhaltenen autonomen Christuskinder aus Perugia von um 1320 befindet sich heute in der Skulpturensammlung des Bode-Museums, Staatlichen Museen zu Berlin, Inv. 11/68. Für den Nordalpinen Raum kann als geradezu klassischer Typus der aufrechtstehende Gottessohn mit einer Weltkugel in der Linken (Logos), die Rechte zum Segensgestus erhoben, gelten. Im Süden sind es vornehmlich stehende Christuskinder mit Passionssymbolen, welche die ‚wundertätigen‘ Skulpturen von Donatello, Desiderio da Settignano oder Baccio da Montelupo zum Vorbild hatten. Für die unterschiedlichen Christkindtypen sind neben der exegetischen Literatur auch die über die Druckgraphik transportierten Bildformen zu berücksichtigen. Vgl. Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 78 f. Marietheres Preysing: Über Kleidung und Schmuck von Brabanter Christkindfiguren, in: Documenta textilia. Festschrift für Sigrid Müller-Christensen, München 1981, S. 349–356. Während sie einerseits zur Grundausstattung junger Novizinnen zu zählen sind, erscheinen Christuskinder mannigfach in den von Christiane Klapisch-Zuber untersuchten Florentiner Haushaltsinventaren von 1450 bis 1520, und zwar meist als nacktes Kind, ausgestattet mit mehreren wechselbaren Kleidergarnituren. Vgl. Christiane Klapisch-Zuber: La famiglia e le donne nel rinascimento a Firenze, Bari 1988, S. 306 f. Lemma Christuskind, in: LCI, hg. v. Engelbert Kirschbaum, Freiburg i. Br. u. a. 1994, Bd. 2, Sp. 400–406 (Rainer Hausherr). Für eine solche gegen die bis heute vereinfachende Lesart gewendete Deutung vgl. Christof Metzger: „es muoss ein zeserlin haben…“. Überlegungen zur Funktion des Naturalismus im späten Mittelalter und ein Jesuskind von Nikolaus Gerhaert von Leyden, in: Menschenbilder. Beiträge zur altdeutschen Kunst, hg. v. Andreas Tacke u. a., Petersberg 2011, S. 56–80.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Häufig mit einem expressiv-gestischen Ausdruck wiedergegeben, sind die JesuskindSkulpturen zunächst ohne bewegliche Extremitäten dargestellt. Erst ab dem späten 15. Jahrhundert erscheinen erste als Gliederpuppen gestaltete Christuskinder, wie der Christusknabe mit beweglichen Armen aus dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (Bild 87). Die um 1500 in Schwaben entstandene, lebensgroße Figur aus Lindenholz mit originaler Fassung besitzt im Schulter- und Ellenbogenbereich Gelenke, sodass unterschiedlichste Gesten möglich sind.162 Bis auf einen hautfarbenen Lendenschurz völlig nackt, ist die rundplastische Schnitzfigur mit ruhigem, wachem Blick frontal nach vorne gerichtet. Während der feingliedrige Oberkörper die Muskeln erahnen läßt, weisen der Kopf mit kurzem Hals und die voluminösen Beine noch kindlich-fleischige Proportionen auf. Die doppelt beweglichen Arme sind, im Ge­ gensatz zum restlichen Körper, ungefasst, weshalb eine genuin als beweglich angelegte Gestaltung der Figur ungewiss bleibt. Eine derartige performative Aufrüstung findet ihren Ursprung in den Glaubenspraktiken der Bild 87  Christuskind mit Nonnenklöster am Übergang zur Neuzeit. beweglichen Armen, 1. Viertel Ein innerhalb der Gruppe der Jesus- 16. Jh., Holz, lebensgroß, kindfiguren vorgenommener kategorischer Inv. Nr. Pl.O.2845, Germanisches Unterscheidungsmechanismus zielte bislang Nationalmuseum, Nürnberg. zunächst insofern auf die Eigenschaft der Beweglichkeit derartiger Figuren ab, als unbewegliche Skulpturen als eigenständige Kunstwerke innerhalb der kunst- und kulturhistorischen Forschung Platz gefunden haben, während bewegliche Christusfiguren als „heilige Puppen“ in vielen Fällen dem Bereich der Volksfrömmigkeit zugeordnet, wenn nicht 162

Zur Christusfigur vgl. Ausst. Kat.: Deutsche Kunst und Kultur zwischen Mittelalter und Neuzeit. Eine Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums im National Museum of Western Art, hg. v. Gerhard Bott, Nürnberg 1984, Nr. 38 (Ulrich Schneider); Frank Matthias Kammel: Was macht das Christkind im Oktober? Kleine Zeugen gefühlvoller Frömmigkeit, in: Monatsanzeiger. Museen und Ausstellungen in Nürnberg 235 (Okt. 2000), S. 4–5; ders.: Im Zeichen des Christkinds, S. 42.

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gar ‚entsorgt‘ wurden.163 Dabei sind die als Gliederpuppen zu bestimmenden Jesuskindfiguren keineswegs eine Randerscheinung religiöser Kulthandlungen. Zu den wohl häufigsten Visionen des Spätmittelalters gehören Erscheinungen des jungen Jesuskindes und sie erweisen sich in besonderem Maße durch dessen skulpturale Darstellungen ausgelöst.164 Ein eindringliches Beispiel ist jenes der Mystikerin Margareta Ebner (1291–1351), Schwester aus dem Dominikanerinnenkloster Maria Medingen in Mödingen, Schwaben, der 1344 ein Christuskind samt Wiege aus Wien übersandt worden war.165 Es war Auslöser ihrer zahlreichen mystischen Visionen, in welchen die Figur als lebendiges Gegenüber erschien, das nicht allein von ihr bewegt, bekleidet und gestillt wird, sondern auch eigenständig spielt, spricht und körperliche Nähe sucht: „do fiel ez umb mich mit sinen armen und hiels mich und küsset mich.“166 Für Margareta erscheint die Gestalt nicht wie eine hölzerne Skulptur, sondern als „ain liplich kint“.167 Die Umarmung des Kindes mit der seligen Nonne verweist wiederum auf das Amplexusmotiv des Bernhard von Clairvaux und die mit diesem verbundene innige Vereinigung mit Gott. Bei Christuskindern mit einem Bewegungsrepertoire, das in den meisten Fällen veränderliche Arme, in selteneren Fällen zudem die Beine umfasste, war ein leichteres Be- und Entkleiden möglich, konnten Umarmungen oder der Segensgestus ausgeführt werden, sodass eine große Anzahl von Situationen aus der ersten Lebensphase Jesu – bis hin zum Nachvollzug der Beschneidung –

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Vgl. Anna Laura de la Iglesia y Nicolaus: „Heilige Puppen“? Zur Materialität barocker Jesuskind-Figuren, in: Ausst. Kat.: Seelenkind, S. 84–97, hier S. 86 mit dem Verweis auf das Nikolaus Gerhaert von Leyden zugeschriebene Jesuskind mit Weintraube. Vgl. Metzger: „es muoss ein zeserlin haben…“. Metzger betont, dass „die spätmittelalterliche Kind-Jesu-Frömmigkeit durchaus keine intellektuell minderwertige Abart theologisch fundierter Gedankengänge [ist], sondern […] als eine der höchsten Formen der Begnadung [galt].“ Ebd., S. 64. Eine Übersicht der Forschungen zur Ikonographie s. ebd. sowie bei Brigitte Zierhut-Bösch: Ikonografie der Mutterschaftsmystik – Interdependenzen zwischen Andachtsbild und Spiritualität im Kontext spätmittelalterlicher Frauenmystik, Dipl. Arbeit Univ. Wien, Wien 2007, unter: http://othes.univie.ac.at/407/1/01-25-2008_8516579.pdf [31.07.2014]. Philipp Strauch: Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik, Freiburg i. Br. 1882, S. 91; Hans Wentzel: Eine Wiener Christkindwiege in München und das Jesuskind der Margaretha Ebner, in: Pantheon 18 (1960), S.  276–283; Jung: The Tactile and the Visionary, S.  236 f.; Johannes Janota: Freundschaft auf Erden und im Himmel. Die Mystikerin Margareta Ebner und der Gottesfreund Heinrich von Nördlingen, in: Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, hg. v. Gisela Vollmann-Profe u. a., Tübingen 2007, S. 274–300, hier S. 284 f.; Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 73 m. weiterer Lit. Zit. n. Strauch: Margaretha Ebner, S. 91. Ebd.

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

inszeniert werden konnte.168 Während seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Umsetzung der Karfreitagsliturgie mit beweglichen Kruzifixen durch immer lauter werdende Vorwürfe bildmagischer Handlungen zurückgedrängt wurde, nehmen in dieser Zeit die Versionen veränderlicher Christuskinder zu. Auch ursprünglich unbeweglichen Figuren werden nun nachträglich Gelenke eingesetzt, wie im Falle der Jesuskinder aus Mindelheim und Ingolstadt geschehen. Das Laufende Jesuskind aus dem Kloster St. Johann im Gnadenthal in Ingolstadt aus dem 15. Jahrhundert (Bild 88a–b) besaß zunächst die tradierte Gestalt spätgotischer Jesuskinder, wie sie heute noch in den kunstvollen Jesuskindern des Nikolaus Gerhaert von Leyden (um 1430–1473) oder des Gregor Erhart (1470– 1540) zutage tritt: Der in changierenden Inkarnattönen gefasste Körper stand in leichtem Kontrapost, die rechte Hand zum Segensgestus erhoben, die linke hielt ein heute verlorenes Attribut. Wohl im frühen 17. Jahrhundert wurde der Jesusknabe zu einer Gliederfigur umgearbeitet, indem Oberarme und Oberschenkel mit Kugelgelenkprothesen versehen und in die hierfür ausgehöhlten Rumpfpartien eingesetzt wurden.169 Neben unterschiedlichen Gesten war nun auch die Körperhaltung entscheidend variierbar. Stehen, Sitzen und insbesondere Laufen waren nunmehr simulierbar. Dieser Fall zeugt von einer komplexen Vermischung der allgemeinen Aufladung der Christuskinder mit Bewegungspotential und einer in der Klosterchronik beschriebenen Legende, die berichtet, dass der Jesusknabe aus Angst vor dem Alleinsein stets den Nonnen folgte, um hierdurch den Eigennamen des „laufenden Christkindls“ zu erhalten.170 168

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Vgl. Erich Liedl: Die Schwäbische Krippe, Weissenhorn 1978, S. 20. Bereits Thomas von Kempen (um 1380–1471) beschreibt in seiner „Orationes et meditationes de vita Jesu“ das Stillen und die Beschneidung des Jesuskindes. In einer Predigt Johannes Geilers aus dem frühen 16. Jahrhundert wird die Bedeutung des männlichen Geschlechts („zeserlin“) bei Darstellungen des Jesusknaben verdeutlicht: „kein maler kann kein iesus knabe[n] ietz malen, on ein zeserlin [.] es muoß ein zeserlin habe[n], also spreche[n] vnsere begeine[n] und nunne[n], vn[d] wen[n] ma[n] ein iesus knabe[n] in ein closter gibt, hatt es kein zeserlin so sol es nüt“. Zit. n. Metzger: „es muoss ein zeserlin haben…“, S. 69 f. Vgl. Ausst. Kat.: Seelenkind, S. 206. Vgl. ebd. sowie bei Metzger: „es muoss ein zeserlin haben…“, S. 66. Ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert stammt die Überlieferung der Legende um die Gestalt des um 1360 entstandenen „Sarner Chindli“ aus dem Benediktinerinnenkloster St. Andreas in Sarnen, dessen ursprünglich gerade Beine durch eigenständiges Bewegen krumm geworden sind: „wie das Kindlein for Frost wird gezittert haben und sin Händ und Füösslin hin und her beweget und um unser Sünd so herzlich geweindt, do im selben Punkten zücht das Kindlein das recht Füösslin und Beinli an sich wie es noch ist. Da hat sy vor Schrecken geruoffen, man soll es von ihr nämmen und in die Kirchen tragen, da hat sich männiglich mit großem Schrecken verwundert und Gott gelobt.“ Bericht vom 6. Oktober 1634, zit. n. Zierhut-Bösch: Ikonografie der Mutterschaftsmystik, S. 57 f.; vgl. Ilse Futterer: Gotische Bildwerke der deutschen Schweiz 1220–1440, Augsburg 1930, S. 65.

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Bild 88a–b  Laufendes Christkindl, um 1500, mit späteren Überarbeitungen, Holz, 62 cm (sitzend), Kloster St. Johann im Gnadenthal, Ingolstadt. (Farbtafel 8)

Eine der größten historischen Sammlungen von Christuskindfiguren wird heute im Monasterio de las Descalzas Reales in Madrid aufbewahrt. Die Sammlung der von den ehemaligen Nonnen gehegten Christuskinder umfasst Exponate vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, darunter auch einige Beispiele von Christuskindern mit beweglichen Armen (Bild 89).171 Die bis zu ihrer ersten 171

Für die Möglichkeit einer Inaugenscheinnahme der Sammlung und einzelner beweglicher Christusfiguren sei an dieser Stelle der Chefkuratorin des Klosters, Ana García Sanz, herzlich gedankt. Zudem geht der Dank an Karl Rudolf vom

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

öffentlichen Ausstellung 2010/2011 kaum bekannte Kollektion der Jesusfiguren besticht sowohl durch die Qualität der Einzelstücke als auch durch den figürlichen Facettenreichtum (vom Kind in der Wiege oder Krippe über jene mit Passionsattributen bis hin zum Königskind als Christus triumphans).172 Wie bei den beweglichen Kruzifixen erlaubte die Beweglichkeit der Jesuskinder eine dezidiert performative Umsetzung von Glaubensinhalten.

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Österreichischen Historischen Institut in Madrid für die Vermittlung und die anregende Diskussion. Vgl. den 2010 erschienenen Katalog zur Sammlung: Ana García Sanz: El Niño Jesús en el Monasterio de las Descalzas Reales de Madrid, Madrid 2010.

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Bild 89  Christuskind mit beweglichen Armen, 17. Jh. (?), Holz, ca. 30 cm, Monasterio de las Descalzas Reales, Madrid.

Hierbei waren es jedoch weniger die liturgisch (und in der Folge paraliturgisch) geprägten öffentlichen Handlungsvollzüge, die mithilfe der Gliederpuppen präsentiert wurden, sondern vielmehr private Szenen der Kindheit, die einerseits auf mystischen Erfahrungen und deren Überlieferungen beruhten, andererseits im weiteren Sinne einer Umsetzung christlich sanktionierter Handlungsmuster einer ‚mütterlichen‘ Erziehung dienen sollten. Dass in diesem real-haptischen Umgang mit einer Christuskindfigur gesetzte Grenzen immer wieder berührt und überschritten wurden, verdeutlichen die zahlreichen Berichte erotischer Assoziationen und Erlebnissen von Nonnen mit derartigen Bildwerken.173 173

Diese reichen von Umarmungen und Küssen bis zum kontinuierlichen Spüren der Vorhaut im Mund bei Agnes Blannbekin (1250–1315). Vgl. Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Band II: Frauenmystik und Franziskanische Mystik in der Frühzeit, München 1993, S. 135; Peter Dinzelbacher: Religiöses Erleben vor bildender Kunst in autobiographischen und biographischen Zeugnissen des Hoch-

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bild 90a–b  Erste Madonna von Toppertz, Madonna und Christuskind mit beweglichem Kopf, 1320–1330, Holz, 115,5 cm, Ungarische Nationalgalerie, Budapest.

c   Tra nsfor mat ionen Autom at i sier u ng , St i l l st a nd u nd For t leb e n Aus der Gruppe der beweglichen Christuskinder löst sich eine Sonderform von Madonnen, deren Jesuskindfiguren über bewegliche Köpfe verfügen, wie dies etwa bei der um 1320–1330 entstandenen Madonna von Toppertz zu beobachten ist (Bild 90a–b). Hierbei wurde der Kopf des Kindes nicht massiv aus dem Holzblock herausgeschnitzt, sondern als steckbarer Einsatz gearbeitet. Der derart in den Kindskörper eingebrachte Stab war mit horizontalen Kerben versehen, um welche eine Schnur gewickelt war, die durch ein kleines Loch in der Schulter

und Spätmittelalters, in: Birgit Tang (Hg.): Images of Cult and Devotion. Function and Reception of Christian Images in Medieval and Post-Medieval Europe, Kopenhagen 2004, S. 61–88; zum Motiv des Küssens vgl. Tripps: Das handelnde Bildwerk, S. 72.

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nach hinten geführt wurde. Vom frontal stehenden Betrachter unbemerkt, konnte mithilfe der Schnur der Kopf nach links und rechts – hin zur Gottesmutter und zurück zum Gläubigen – gewendet werden.174 Dass diese Form der Animation durchaus kein Einzelfall war, belegen die gleichzeitig entstandene Madonna aus Rießdorf (Ruszkin, Ruskinovce) sowie die wenige Jahrzehnte später gefertigte Madonna von Pudlein (Podolin, Podolinec).175 Die Beweglichkeit dieser Figuren war nicht durch eine gegliederte Bauweise, sondern allein mechanisch bedingt. Sie erweisen sich als frühe Transformationen von ‚handelnden‘ Bildwerken, die eine vermittelte Figurationsänderung besitzen, ohne unmittelbar manuell verändert werden zu müssen. Bei den beweglichen Christusfiguren sollte dieser Transformationsprozess bis hin zu mechanischen Ölbergspielen und allgemein zur Gruppe der Sakralautomaten führen. Die bewegliche Christusfigur des Rood of Grace, jener Kruzifixus vom Mirakelmann-Typus, der 1538 aufgrund seiner ‚magischen‘ Fähigkeiten öffentlich zerstört wurde, markiert durch seine Ausstattung mit einem verborgenen Seilmechanismus die Gattungsgrenze zwischen veränderbarer Gliederpuppe und eigenbeweglicher Automate. Als beweglicher Kruzifixus konzipiert, dessen Arme im Prozess der Kreuzabnahme stets manuell angelegt wurden, verleihen innerlich verbaute Seilzüge, von einer für die Gläubigen unsichtbaren Hand bedient, zusätzlich den Anschein autonomer Bewegung.176 In der automatenhaften Aufladung der Skulpturen des christlichen Kultes liegt zugleich ein autonomisierender Zug begründet, der, im Falle des Rood of Grace, zu seiner bilderstürmerischen Zerstörung führen sollte. Die Wurzeln automatenhaft bewegter Objekte im Kirchenraum reichen weit zurück und werden durch Quellenberichte, aber auch durch Zeichenbücher wie jenes des Villard de Honnecourt (tätig um 1230–1235) greifbar. Neben den Konstruktionszeichnungen eines auf einem Lesepult angebrachten Adlers, der den Kopf heben und senken kann, beschreibt Villard darin auch die Automate eines Engels, dessen erhobener Finger immer der Sonne entgegengestreckt bleibt, sich also mit dem Lauf der Sonne dreht.177 Durch einen nicht unmittelbar 174

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Gyöngyi Török: Die Madonna von Toppertz, um 1320–30, in der Ungarischen Nationalgalerie und das Phänomen der beweglichen Christkindköpfe, in: Annales de la Galerie Nationale Hongroise (2005/2007), S. 76–89. Einige französische und schwedische Sitzmadonnen verfügen ebenfalls über einen derartigen Mechanismus. Vgl. ebd. In diesem Sinne sind auch die Christuskinder mit allein über Seilzüge beweglichen Köpfen eher den einfachen Sakralautomaten denn der Gattung der Gliederpuppe zuzurechnen. Gleiches gilt für den gekreuzigten Bösen Schächer aus dem Musée de Cluny, Paris. Zur Phänomenologie der Automaten in der Gotik grundlegend: Michel Camille: The Gothic Idol. Ideology and Image-making in Medieval Art, Cambridge 1989, insb. S. 244–258. Vgl. zudem den differenzierten Sammelband: Klaus Grubmüller/

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2. Gliederpuppen im christlichen Brauchtum

Bild 91a–b  Mechanisches Ölbergspiel, Christusfigur, 18. Jh., Holz, 109 cm (kniend), St. Martin in Reischach.

mit menschlicher Hand ausgeführten Bewegungsimpuls nähern sich diese Automaten den statischen, ungegliederten Bildwerken an, die im Kultraum einen inszenierten Ortswechsel erfuhren, wie schwebende Himmelfahrtsfiguren, Heilig-Geist-Tauben oder Engel. Zwar sind die frühen Sakralautomaten nicht der Gattung Gliederpuppe angehörig, da diese grundsätzlich eine potentielle manuell herbeigeführte Gestaltveränderung vorgibt; gleichwohl stellten sie Ausgangsformen für spätere Automaten im sakralen Raum bereit.178 In Gestalt von Prozessionsfiguren wurden nicht nur Heilige und Marienskulpturen im öffentlichen und sakralen Raum bewegt. Als Transformation der beweglichen Christusfiguren entwickelten sich im Barock auch szenische

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Markus Stock (Hg.): Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2003. Vgl. zu diesem Phänomen Butterworth: Magic on the Early English Stage, Kap. 6 (“Mechanical images, automata, puppets and motions”), S. 113–139; Kara Reilly: Automata and Mimesis on the Stage of Theatre History, New York 2011.

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I  Kult

Ölbergandachten.179 Diese sakraltheatralischen Erscheinungen können seit dem 17. Jahrhundert beobachtet werden, etwa in Gestalt eines Christusautomaten auf der Altarbühne der Dießener Klosterkirche, mit dem „Die Angst Christi“ vor Augen geführt werden sollte.180 Ein Ölberg-Christus aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der Pfarrkirche zu Reischach im Landkreis Altötting (Oberbayern) ist noch heute in funktionalem Zustand erhalten (Bild 91a–b): Der massive Kopf sitzt hier auf einem mechanischen Leib, dessen Einzelglieder über ein Seilzugsystem durch eine im Zwischenboden eingelassene Kurbel in Bewegung versetzt werden können. Mittels Gelenken in den Knien, der Hüfte und den Ellenbogen sind als Haltungsvarianten stehende, kniende und nach vorn überkippende Positionen möglich.181 Mit dieser aus der Automatenkultur des 16. Jahrhunderts gespeisten Autonomisierung der Bewegungskompetenz lösten sich die beweglichen Heiligenfiguren aus der Gattung der Gliederpuppe. Neben der Dynamisierung der Skulptur zu einer quasi eigenbewegten Figur des religiösen Kultes führte ein zweiter Transformationsschub in die diametral entgegengesetzte Richtung. Die im Zuge der Gegenreformation ausgelösten Bilderstürme richteten sich, unter der Fahne des Bilderverbots, gegen die den Bildern zugesprochene Wirkmacht, die im Falle der beweglichen Heiligenfiguren gleichsam mirakulöse Formen angenommen hatte. Eine alle Beweglichkeit lähmende Überformung der Gelenke der beweglichen Christusfiguren, wie diese bei der Christusfigur aus dem Bode-Museum vor ihrer Restaurierung vorlag (Bild 56), geschah somit im Ansinnen auf den entscheidenden Entzug bildaktiver Kompetenzen. 182

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Vgl. Alois Stockner: Das mechanische Ölbergspiel in der Pfarrkirche Reischach, in: Heimat an Rott und Inn (1976), S.  97–105; Edgar Harvolk: Szenische Ölberg­ andachten in Altbayern, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1976/1977), S. 69–87; ders.: Szenische Ölbergandachten in Altbayern, Nachtrag zum Jahrbuch 1976/1977, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1983/1984), S. 181 f. Vgl. Jörg Jochen Berns: Sakralautomaten. Automatisierungstendenzen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Frömmigkeitskultur, in: Klaus Grubmüller/ Markus Stock: Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2003, S. 197–221, hier S. 211 u. Abb. 5. Vgl. Stockner: Das mechanische Ölbergspiel sowie Ausst. Kat.: Christus im Leiden. Kruzifixe, Passionsdarstellungen aus 800 Jahren, o. Hg., Stuttgart 1985, Kat. 36 („Ölberg-Christus“), S. 156–159. Doch sollte sich die Transformierung der beweglichen Heiligenfiguren im 15. Jahrhundert noch auf zweiter Ebene vollziehen, indem sich die beweglichen Skulpturen aus dem kultischen Zusammenhang lösten, um in den Einzugsbereich der Kunst zu gelangen. Durch ihren Übertritt in die Werkstatt des Renaissancekünstlers vollzog die bewegliche Gestalt der Gliederpuppe eine nächste und dabei ebenso weitreichende Transformation. Vgl. zu diesem Komplex Kap. II. 1. a).

3 .   G liederpuppen als profane S tellvertreter

Durch den Einsatz von Gliederpuppen in liturgisch sanktionierten Szenen der Passion Christi – und davon ausgehend in regionalen Glaubenspraktiken mit Marien- und Heiligenfiguren sowie teilweise beweglichen Christkindfiguren – drängt sich die Frage nach dem Repräsentationscharakter derartiger imagines auf.1 Weniger als die bekleidungsbedürftigen Prozessionsfiguren waren Christuskinder und Kruzifixe mit beweglichen Gliedmaßen auf eine Performativität hin ausgerichtet, die auch ein explizites Berührungs(an)gebot beinhaltete. Als beweglich-manipulierbarer Körper des Gekreuzigten gelangte insbesondere der Leib Christi zu einer Bildform, die dem angenommenen Urbild neben einer ikonischen nun auch eine performative Kompetenz einschrieb.2 Damit verschob sich der Verweischarakter des Repräsentierten im Moment seines Einsatzes hin zu einem szenischen Erleben im Sinne einer Präsentifikation, das heißt eines

1

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Die Bedeutungsfelder des Begriffs „Repräsentation“ haben Philosophie, Kunstund Kulturwissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten auf Grundlage juristischer, politikwissenschaftlicher und ekklesiologischer Analysen (hierfür immer noch grundlegend: Hasso Hofmann: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1990) entscheidend bereichert und vorangetrieben. Für den hier bedeutsamen Komplex der personal-bildlichen Repräsentation vgl. Carlo Ginzburg: Représentation. Le mot, l‘idée, la chose, in: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 46/6 (1991), S. 1219–1234; Martin Schulz: Die Re-Präsenz des Körpers im Bild: in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, S.  33–50; Hans Belting/Dietmar Kamper/Martin Schulz  (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002. Von Bissera V. Pentcheva stammen zuletzt die wichtigen Analysen der (syn)ästhetischen Wahrnehmungsdimensionen byzantinischer Ikonen, die etwa durch Beleuchtungseffekte ebenfalls eine bewegt-glänzende Erscheinung erhielten. Die hier eingeführte „performative Kompetenz“ bezieht sich jedoch explizit auf eine nur durch Gliederpuppen ermöglichte Gestaltveränderung. Pentcheva: The Performative Icon. Vgl. hierzu ausführlich: dies.: The Sensual Icon.

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ausgewiesenen Angebots momentan erlebbaren Geschehens.3 Dieser durch Beweglichkeit gewonnene Bedeutungszuwachs eines Bildwerkes, das nunmehr durch Memoria, Andacht und Anbetung den Anschein realer Anwesenheit erhielt, lässt auch profane Repräsentationsbilder in neuem Licht erscheinen. Die unterschiedlichen Ausprägungsformen weltlicher Stellvertreterfiguren mit beweglichen Gliedern bieten seit dem Hochmittelalter ein wahres Panoptikum an Anwendungsbereichen: neben ihrem Einsatz im religiösen Kult wurden Gliederpuppen auch als Surrogate des Realleibs verstorbener Herrscher eingesetzt. Ferner dienten die beweglichen Skulpturen als anthropomorphe Kunstkörper, welche die menschliche Gestalt und Anatomie auch außerhalb religiöser oder politischer Bedeutungsrahmen bereitstellten. Neben der Analyse des Gebrauchs von Gliederpuppen als profane politische Repräsentationsinstanzen, als Modevermittler und Kunstkörper in Medizin und Wissenschaft, soll bei der Erörterung ihrer Einsatzfelder abschließend ein kurzer Blick auf ihre allge­ meine Rolle als Spielzeug gerichtet werden, um die kultischen Bedeutungsfelder und kulturellen Dimensionen der Gattung umfassend bestimmen zu können.

a   Kör p er p ol it i k: Be weg l ic he Ef f ig ies A d s i m i l it u d i n e m – D ie Fa ssu nge n de s Her r s c herkör p er s In der Folge der theatralischen Inszenierung des christlichen Herrschers auf Erden, seiner menschlichen, sterblichen und zugleich überzeitlichen Natur, kam es auch zu einer ‚Mobilisierung‘ von Skulpturen weltlicher Herrscher. Ihre Stellvertreterfiguren dienten einem überzeitlichen Anspruch, der sich jedoch in der endlichen Form des Individualleibs verbildlichen sollte. Wurde in der Gliederpuppengestalt des beweglichen Kruzifixus das Menschliche in Gott greifbar, lieferten die teilweise beweglichen Effigies von weltlichen Herrschern den Ausweis überindividueller und überzeitlicher Gegenwart. Bereits in der Antike ist das Ritual eines den Verstorbenen darstellenden Grabbildes bekannt, etwa durch Tacitus (um 58 – um 120 n. Chr.), der in seinen Annalen vom Brauch berichtet, ein Bildnis des Verstorbenen auf dem Grab zu errichten.4 Neben Kleidung und Amtsinsignien dienten Wachsmasken (imagi3 4

Vgl. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Tacitus: Annales, Buch 3, 5: „ubi illa veterum instituta, propositam toro effigiem, meditata ad memoriam virtutis carmina et laudationes et lacrimas vel doloris imitamenta?“ Vgl. Lemma Effigies, in: RDK, Bd. 4, Sp. 743–749 (Harald Keller). Zur römischen Kultur des sepulkralen Stellvertreterbildnisses grundlegend: Elias Bickermann: Die römische Kaiserapotheose, in: Archiv für Religionswissenschaft 27 (1929), S. 1–34, dort zur doppelten Bestattung durch eine Wachs­puppe insb. S. 4–9.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

nes, cerae) Schauspielern dazu, bei der Trauerfeier die Gestalt des Verblichenen anzunehmen.5 Eine den ermordeten Caesar darstellende Effigies sorgte bei ihrer Präsentation für einen Volksaufstand.6 Die kaiserliche effigies bezeichnete dabei, im Gegensatz zur imago, ein täuschend echtes Bildnis des verstorbenen Herrschers.7 Durch die Übernahme einer aus der römischen Jurisprudenz überlieferten Vorstellung der unmittelbaren Verkörperung von Höchstgewalt in der Person des Fürsten (lex animata) und ergänzt durch die theologische Lehre der unsterblichen Form der Amtsgewalt (nomen intellectuale)8 erstarkte im Spätmittelalter die Vorstellung einer überzeitlichen Korporationslehre.9 Vor diesem Hintergrund entflammte die sepulkrale Tradition einer den Toten als Lebendgestalt vorweisenden Grabfigur aufs Neue, wie Ernst Kantorowicz in seiner umfassenden Untersuchung von 1957 analysierte.10 Das hierbei entscheidende   5   6

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Vgl. Andrea Klier: Fixierte Natur. Naturabguß und Effigies im 16. Jahrhundert, Berlin 2004, S. 23–30. Appian, Römische Geschichte II, 147; vgl. Julius von Schlosser: Tote Blicke. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch, hg. v. Thomas Medicus, Berlin 1993, S. 21. Schlosser vereint zahlreiche weitere antike Beispiele und Varianten. Vgl. Klier: Fixierte Natur, S. 31 f. Auch lebende Herrscher wurden mit verschiedenartigen stellvertretenden Bildnissen vergegenwärtigt. Bekannt ist etwa aus karolingischer Zeit die Kolossalfigur Karls des Großen, die bei drei Prozessionen im Jahr präsentiert wurde: „Das künstlerisch verfertigte Bildnis war zwei Mannslängen hoch, eine Art hohle Gliederpuppe, die von einem in ihrem Inneren verborgenen Mann getragen und bewegt wurde. Es stellte den Herrscher mit der Krone und mit dem Reichsadler (vorn und hinten an seiner Kleidung) mit dem Zepter in der Rechten und auf der Linken das Marienmünster, die Pfalzkapelle tragend, dar.“ Vgl. Karl Hauck: Heldendichtung und Heldensage als Geschichtsbewußtsein, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner, hg. v. historischen Seminar der Univ. Hamburg, Göttingen 1963, S. 118–169, hier S. 129. Den Effigies wurde zudem eine ‚heilende Wirkung‘ zugemessen, wie im Falle der Wachsbilder, die nach der Pazzi-Verschwörung für den überlebenden Lorenzo de‘ Medici (1449–1492) angefertigt und am Fenster des Palastes präsentiert wurden oder als Votivplastiken in den Kirchen der Monache di Chiarito, Santa Maria degli Angeli zu Assisi und in SS. Annunziata als quasi mirakulöse Bildwerke eingesetzt wurden. Vgl. Horst Bredekamp: Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem, München 1995, S. 30–32; ders.: Theorie des Bildakts, S. 216–224. Zur hierbei ebenfalls virulenten Frage der Transsubstantiationslehre vgl.: Ginzburg: Représentation, insb. S. 1230. Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters (1957), München 1990, insb. S. 422–438. Vgl. zudem Julian Blunk: Das Taktieren mit den Toten. Die französischen Königsgrabmäler in der Frühen Neuzeit, Köln 2011, S. 50. Ernst Kantorowicz: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957. Wichtigste vorausgehende Untersuchungen waren: A. G. Bradley: The Wax Effigies in Westminster Abbey, in: English Illustrated Magazine 121 (1893), S.  61–66; Aby Warburg: Bildniskunst und florentinisches Bürgertum (1902), in: Gesammelte Schriften, hg. v. Gertrud Bing u. d. M. v. Fritz Rougemont,

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Paradigma beinhaltet die Lehre der zwei Körper des Königs, bestehend aus einem natürlich-sterblichen biologischen Leib (body natural) und einer übernatürlich-politischen Funktionsgestalt (body politic), eine Vorstellung, die in einer Hochphase beweglicher Effigies, Mitte des 16. Jahrhunderts, auch juristisch explizit ausformuliert wurde.11 Durch die Synkope zwischen dem Ableben des Herrschers und der Investitur seines Nachfolgers war eine mögliche Angriffsfläche für schwelende Machtansprüche in der Zeit des Interregnums geboten. Mit der Präsentation eines das Äußere des Potentaten aufnehmenden Kunstkörpers, der an den Staatshandlungen partizipierte, sollte diese Zwischenzeit überspielt werden.12

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Nendeln 1969, S. 89–126; grundlegend für die englischen Effigies und mit reichem Quellenmaterial: W. H. St. John Hope: On the Funeral Effigies of the Kings and Queens of England, with special reference to those in the Abbey Church of Westminster, in: Archaeologia 60/2 (Jan. 1907), S. 517–570; von Schlosser: Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Im Anschluss an Kantorowicz wurden weitere Ausprägungsformen des Effigienkultes (Ralph E. Gisey: The Royal Funeral Ceremony in Renaissance France, Genf 1960) sowie Fragen nach magisch-symbolischer Aufladung, Körperlichkeit und Bildfunktion der Effigies erschlossen: Wolfgang Brückner: Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies, Berlin 1966; Adolf Reinle: Das stellvertretende Bildnis. Plastiken und Gemälde von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, München/Zürich 1984; Susann Waldmann: Die lebensgroße Wachsfigur. Eine Studie zu Funktion und Bedeutung der keroplastischen Porträtfigur vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert, München 1990; Anthony Harvey/Richard Mortimer (Hg.): The Funeral Effigies of Westminster Abbey, Woodbridge/Rochester 2003; Horst Bredekamp: Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder, 1651–2001, Berlin 32006; Klier: Fixierte Natur; Kristin Marek: Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009; Gudrun Gersmann: Le Roi est mort, vive la Révolution, vive Marat. Anmerkungen zum Gebrauch der Effigies in Frankreich von der Frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution, in: Christine Roll/Frank Pohle/ Matthias Myrczek (Hg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln 2010, S.  313–332; vgl. zuletzt Lars Stamm: Indexikalische Körperplastik. Der Naturabguss in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2013, Kap. II („Kultur des Naturabgusses“), S. 29–136, insb. S. 44–52 („Effigies“). Die vom Tudor-Juristen Edmund Plowden (1518–1585) um 1562 formulierten Argumente einer in der Zwei-Körper-Lehre verdeutlichten Doppelnatur des Regenten (Edmund Plowden: Commentaries or reports, London 1816. Vgl. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S.  29) finden sich auch in der von Thomas Hobbes entworfenen Figuration des aus Körpern gebildeten Staatskörpers des Leviathan, der im Frontispiz Abraham Bosses (1604–1676) zu einer so trefflichen wie tiefgründigen Bildform gefunden hat. Vgl. Bredekamp: Thomas Hobbes. Der Leviathan. Alfred Hirsch beschreibt den von Hobbes entworfenen, im König vereinten komplexen Staatskörper als „politische Gliederpuppe“, ohne dies jedoch anschaulich zu begründen. Alfred Hirsch: Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes, München 2004, S. 75 f. Vgl. Gisey: The Royal Funeral Ceremony, S. 183 ff.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Damit vereinten sich im Herrscherleib unterschiedliche Bedeutungsschichten, die in Form der Effigies als jeweils ‚personifiziertes Ikon‘13 des unsterblichen Amtskörpers einer doppelten Verweisstruktur zugrunde lag: „eine persona ficta, das Abbild, personifizierte eine andere persona ficta, die dignitas.“14 Seit Ende des 12. Jahrhunderts wurde, wie etwa bei der Leichenfeier für Henry II. (1133–1189) geschehen, der Leichnam des Königs in vollem Ornat zur Schau gestellt.15 Im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts wird der Einsatz einer Effigies aus Holz samt eigens gefertigter Krone und Gewändern erstmalig durch die königlichen Rechnungsbücher für das Begräbnis Edwards II. von England (1284–1327) greifbar.16 Drei Monate nach dem gewaltsamen Tod des Königs am 21. September 1327, dessen Umstände niemals restlos aufgeklärt werden sollten, fand die Beerdigung seines Leichnams statt. Anstelle des Wappens oder der Reichsinsignien verbildlichte den Verstorbenen zum ersten Mal eine wertvolle geschnitzte Skulptur „ad similitudinem dicti domini Regis“.17 Dass dies 13

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Der Begriff des Ikons stützt sich auf die durch Charles Sanders Peirce geprägte Bedeutung als ikonisches Zeichen, dessen Zeichenfunktion darauf basiert, dass es mit dem bezeichneten Gegenstand eine sinnlich wahrnehmbare Ähnlichkeit hat, um sich damit von einer rein willkürlichen Bezeichnung (etwa des Symbols) zu unterscheiden. Vgl. Charles S.  Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen [1903], Frankfurt a. M. 1983. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 416. Dass diese Kernaussage, wie Kantorowicz betont, aus mehreren Bedeutungsschichten herausgeschält wurde, um sie in ihrer Prägnanz zu schärfen, lieferte dennoch die Grundlage einer kritischen Relativierung. Vgl. Jean-Philippe Genet: Kantorowicz and The Kings Two Bodies. A non Contextual History, in: Robert L. Benson/Johannes Fried (Hg.): Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung, Stuttgart 1997, S. 265–273; Michael Viktor Schwarz: Chichele’s Two Bodies. Ein Grabmal in der Kathedrale von Canterbury, in: ders.: Visuelle Medien im christlichen Kult. Fallstudien aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, Wien 2002, S. 131–171. Vgl. Hope: On the Funeral Effigies, S. 542, der bereits mit dem Begräbnis Heinrichs III. (1216–1272) die Tradition eines auf dem Sarg befindlichen „image of wax“ annimmt. Auch Keller spricht sich für einen früheren Einsatz aus: RDK, Lemma Effigies, Sp. 745. „Item cuidam Magistro coindenti et formanti quadam ymaginem de ligno ad similitudinem dicti domini Regis E[dwardi] deffuncti ex convencione in groso, xls./ Item in una Corona de Cupro pro eadem ymagine empta cum facture et deauracione ejusdem vijs vijd.“ Zit n. Hope: On the Funeral Effigies, S.  531. Zum Begräbnis Edwards II. vgl.: Joel Burden: Re-writing a Rite of Passage: The Peculiar Funeral of Edward II, in: Nicola F. McDonald/William Mark Omrod (Hg.): Rites of Passage. Cultures of Transition in the Fourteenth Century, York 2004, S. 13–29. PRO E/101/383/3, fol6. Dem Buchhalter Stephen Hadley (von Hope noch selbst als Künstler identifiziert) wurden £22 4s 11d zur Bezahlung einer aufwendig ausge­ statteten Effigies in der Gestalt des Königs überlassen: „Stephano Hadley pro factura unius ymaginis ad similitudinem Regis uno Sceptro una pila una cruce cum crucifixo argentea deaurata et aliis diversis custubus per ipsum factis circa preparacionem corporis ejusdem domini Regis ante diem sepulture.“ PRO E/101/398 /9, fo 27v. Zit. n. Hope: On the Funeral Effigies, S. 532; vgl. Harvey/Mortimer: The

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möglicherweise auch einer praktischen Notwendigkeit geschuldet sein musste, ist anzunehmen – war der Leichnam doch bereits dem Verwesungsprozess anheimgegeben. Dennoch kann hier das Begräbnis Edwards I. im Jahre 1307 entgegengestellt werden, der erst nach vier Monaten – und ohne Effigies – seiner letzten Ruhestätte zugeführt worden war.18 Anhand dieses frühesten Beispiels wurde die Zwei-Körper-Lehre jüngst relativiert und um einen dritten – heiligen – Körper ergänzt. Da im Falle Edwards II. kein Interregnum überspielt werden musste, kann die Verwendung der Königspuppe und die Verehrung des Grabes des einst gehassten und noch zu Lebzeiten abgelösten Herrschers, so Kristin Marek, auf seinen heiligen, heilsspendenden Körperstatus zurückgeführt werden.19 Aus einer anfänglich praktischen Substitutionshandlung, die zugleich der Heiligkeit des Regenten Rechnung zollte, entsprang eine zunehmend tradierte Trauerform, die den Verstorbenen als intakten, lebendigen Leib in Form seiner ebenbildlichen imago vorwies. Erst im 16. Jahrhundert wurden die Königspuppen mit dem Begriff der „Effigies“ belegt, während zuvor „pycture“, „perso(n)nage“, „ymage“ oder „cast“, aber auch „representation“ oder „pourtraicure“ den Kunstleib umschrieben.20

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Funeral Effigies, S.  31. Kristin Marek betont die in dieser Bezeichnung liegende Brisanz einer Erscheinung körperlicher similitudo, die vor allem in der plastischen Greifbarkeit zutage tritt: „Ähnlichkeit bezieht sich hier nicht allein auf den Grad des Verismus des bildlich Dargestellten, wie man es aus späteren Epochen kennt, sondern umfassend auf dessen körperlich-plastische Gestalt, sein spezifisches Aussehen und seine körperlich-reale Präsenz im Raum der Lebenden. Die Effigies sollte dem König nicht nur ähnlich sehen, sondern auch ähnlich sein, seine Gestalt haben, seine Kleider tragen und sicher auch in seinen Gesichtszügen wieder zu erkennen sein. Sie sollte den König doubeln, ihn verkörpern. Dieser umfassende ganzkörperliche Verismus ist das bildgeschichtlich wesentlich Neue, das mit der Effigies in den spätmittelalterlichen Bildhaushalt eingeführt wurde.“ Marek: Die Körper des Königs, S. 118. Zu den Kosten der Figur und ihrer Ausstattung vgl. ebd. Vgl. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 422. Marek: Die Körper des Königs. Marek bezieht sich bei ihren Analysen insbesondere auf die erstmals im Jahre 1924 publizierte, grundlegende Arbeit von Marc Bloch: Les rois thaumaturges. Étude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre, Paris 1924. Hierin beschreibt Bloch die ritualisierten Heilungen der ‚wundertätigen‘ Könige, die durch Handauflegen die Skrofeln, eine tuberkulöse Entzündung der Lymphknoten, heilen sollten. Die Untersuchungen Giorgio Agambens vollzogen sodann den Schwerpunktwechsel des Körperverständnisses hin zum Heiligen: Giorgio Agamben: Homo sacer. Il potere soverano e la nude vita, Turin 1995. Zum Körperverständnis bei Bloch und Kantorowicz vgl. zudem Ulrich Raulff: Ein Historiker im 20. Jahrhundert. Marc Bloch, Frankfurt a. M. 1995, insb. S. 349 f. Vgl. Julian Litten: The Funeral Effigy. Its Function and Purpose, in: Anthony Harvey/Richard Mortimer (Hg.): The Funeral Effigies of Westminster Abbey, Woodbridge/Rochester 2003, S. 3–19; Waldmann: Die lebensgroße Wachsfigur, S. 46 u. Anh. II B. Zur Begrifflichkeit der Effigies im Strafvollzug (executio in effigie) vgl.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Die seit dem 14. Jahrhundert in England entstehenden Effigies können Richard Mortimer zufolge in drei distinkte Gruppen unterschieden werden: eine erste Gruppe, die vom Scheinleib Edwards III. bis zur Effigies James I. reicht und unmittelbar in den Funeralien als Stellvertreterfiguren eingesetzt wurden, jedoch anschließend entkleidet und sorglos aufbewahrt dem Bedeutungsverfall preisgegeben waren – weshalb sie nicht zuletzt auch die Bezeichnung des „ragged regiment“ erhielten.21 Viele dieser Figuren sind heute nur noch durch Quellen, Zeichnungen oder historische Fotografien überliefert.22 Eine zweite Gruppe von „Schaueffigies“23, die ab 1660 nur noch mittelbar mit den Grabesriten in Zusammenhang standen und, den französischen Effigies folgend, mit Köpfen und Händen aus Wachs versehen wurden, blieb zusammen mit ihrer Kleidung in deutlich besserem Zustand erhalten und wurde Teil der Erinnerungskultur. Ebenso gilt dies für die dritte Gruppe der bis heute gut erhaltenen Effigies des 18. und 19. Jahrhunderts, die verschiedene Mitglieder des Adels darstellen und als genealogische Vorläufer des modernen Wachsfigurenkabinetts gelten können.24 Bei diesen in festgelegter Pose und Kleidung fixierten Figuren bleibt die für eine aktive Inszenierung notwendige Beweglichkeit indes vollständig aus.

G e st a lt f i x ier u ng Die älteste realiter erhaltene Effigies, jene Edwards III. (1312–1377), Sohn von Edward II. und Isabella von Frankreich (um 1295–1358), wird heute im Undercroft Museum der Abteikirche von Westminster aufbewahrt (Bild 92a–b). Die 179 cm hohe Skulptur aus Walnussholz erweist sich als grob behauene, rückwärtig ausgehöhlte Liegefigur, deren anatomische Details nur schwach markiert sind, während der Kopf durch ein Gipsgesicht, möglicherweise mittels Toten-

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etwa Reinle: Das stellvertretende Bildnis, S. 201–203; zum Begriff auch Hope: On the Funeral Effigies, S. 517. Richard Mortimer: The History of the Collection, in: Anthony Harvey/ders. (Hg.): The Funeral Effigies of Westminster Abbey, Woodbridge/Rochester 2003, S. 21–28, hier S. 21. Während Hope eine große Anzahl der Effigies in ihrer ganzkörperlichen Ausprägung erfassen und studieren konnte, wurden viele von ihnen durch Demontage, falsche Restaurierung und schließlich Kriegsverlust unwiderbringlich zerstört. Marek: Die Körper des Königs, S. 274. Vgl. Uta Kornmeier: Taken from Life. Madame Tussaud und die Geschichte des Wachsfigurenkabinetts vom 17. bis frühen 20. Jahrhundert, Diss. Humboldt-Univ. zu Berlin 2003, unter: http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/kornmeier-uta-200304-28/PDF/kornmeier.pdf [18.10.2014]; Marek: Die Körper des Königs, S. 59–65 u. 274–286. Joseph Roach: Celebrity Erotics: Pepys, Performance and Painted Ladies, in: The Yale Journal of Criticism 16/1 (2003), S. 211–230; Mark B. Sandberg: Living Pictures, Missing Persons. Mannequins, Museums, and Modernity, Princeton 2003.

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Bild 92a–b  Effigies von Edward III., 1377, Holz, Gips, 179 cm, Undercroft Museum, London.

maske, feiner ausgebildet und farbig gefasst wurde.25 An den Armstümpfen sind Bohrungen zu erkennen, die mutmaßlich auf austauschbare Händepaare hindeuten, wie sie in späterer Zeit etwa bei der Effigies François I. von Frankreich (1494–1547) eingesetzt wurden: dort war ein Händepaar auf das Greifen der Insignien hin ausgelegt, während ein zweites Paar in Gebetshaltung geschlos25

Harvey/Mortimer: The Funeral Effigies, S. 31–35.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

sen erschien.26 Die Effigies Edwards III. war wohl allein dazu bestimmt, auf dem Sarg liegend die Trauerzeremonie zu begleiten.27 Indes weist der Kopf geöffnete Augen auf und vom erhobenen Oberkörper sowie dem geneigten Haupt scheinen Bewegungsimpulse auszugehen, sodass vor den Trauernden das Bild eines ruhenden und zugleich wachsamen Regenten entstand. Anders als die aus Stein gemeißelten oder aus Bronze gegossenen Gisants28 waren die Körper der englischen Funeraleffigies aus Holz, später teils mit Leinen überzogen und mit Flachs und ähnlichen Materialien gefüllt, während die französischen ‚mannequins‘ der Herrscherbilder meist aus leichterem Weidengeflecht gefertigt waren und wächserne Köpfe besaßen.29 Alle Effigies wurden in prachtvollem Staatsgewand präsentiert. Die erste Effigies auf französischem Boden erscheint dem Ursprung nach englischer Natur, war sie doch für den Trauerzug des englischen Königs Henry V. (1387–1422) von Rouen nach Calais gefertigt worden. Die auf der Leichentruhe aufgebarte, aus gekochtem, bemaltem Leder geformte30 und in das Gewand des Verstorbenen eingekleidete Effigies bot die eindrucksvolle „imago staturae et faciei Regis mortui simillima (ein in Statur und Gesicht dem verstorbenen König täuschend ähnliches Bildwerk)“.31 26 27

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Vgl. Klier: Fixierte Natur, S. 35. Darüber hinaus wäre jedoch auch eine stehende Präsentation durchaus möglich; dies kann anhand des heutigen Befundes, der keine Rekonstruktion der Füße zulässt, allerdings nicht mit Sicherheit belegt werden. Eine räumliche Verknüpfung der in der Zwei-Körper-Lehre angelegten Zeitschichten von menschlicher Endlichkeit und übermenschlicher Regentschaft erscheint auch in den kurz nach der Einführung der ersten Effigies entwickelten „Doppelde­ ckergräber“, die innerhalb eines Grabmals den verwesenden Transi und den überzeitlichen Gisant vereinen. Vgl. hierzu Erwin Panofsky: Grabplastik. Vier Vorlesungen über ihren Bedeutungswandel von Alt-Ägypten bis Bernini, Köln 21993; Lemma Doppelgrab, in: RDK 4, Sp. 186–196 (Harald Keller). Da diese Sonderform des Grabmals aber auch kirchliche Würdenträger zeigt und die Grabprogramme teilweise im Widerspruch zur Zwei-Körper-Lehre stehen, mehrten sich die kritisch-differenzierenden Stimmen. Vgl. Kurt Bauch: Das mittelalterliche Grabbild, Berlin 1976; Hans Belting: Repräsentation und Anti-Repräsentation. Grab und Porträt in der Frühen Neuzeit, in: ders./Dietmar Kamper/Martin Schulz (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 29–52, hier S. 44 f.; Blunk: Das Taktieren mit den Toten, S. 55–68. „Alle genannten Details sprechen für die Richtigkeit der Überlieferung, daß dies aus Weidenruten geflochtene bewegliche Mannequins waren.“ Brückner: Mannequins, S. 19; ders.: Bildnis und Brauch, S. 68–86; ders.: Bilddenken, S. 127; Waldmann: Die lebensgroße Wachsfigur, S. 53 f. sowie S. 58–61. Der französische Chronist Enguerrand de Monstrelet berichtet von einer „[…] resemblance, et representation de cuyr bouilly painct moult gentillement […].“ Zit. n. Hope: On the Funeral Effigies, S. 536. Thomae Walsingham: Quondam Monarchi S.  Albani, Historia Anglicana, hg. v. Henry Thomas Riley, Vol. II, London 1864, S.  345 f.; vgl. Hope: On the Funeral Effigies, S. 535 f. Das Verfahren der Hautimitation durch Leder zeichnet auch einige Kruzifixe des Verismus-Typus aus. Vgl. Kap. I.2.a) IV Verismus-Typus.

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I  Kult

Im Gegensatz zu den massiven Grabbildern erweisen sich die ephemeren Funeraleffigies damit bereits materialiter für die kurze Dauer der Begräbnisrituale ausgelegt. Für den im selben Jahr verstorbenen Charles VI. (1368–1422) wurde der Effigies-Kult übernommen und erstmals für einen französischen König ein Scheinleib angefertigt. Nachdem ein Schneider über einem anthropomorphen Holzgerüst eine Stopfpuppe aus Leinen gefertigt hatte,32 wurde der Maler und Kammerdiener François d’Orléans damit beauftragt, das Äußere zu formen, und zwar „nach der Gestalt, die der wohlbesagte Herr bei guter Gesundheit besaß (forme que led. feu seigneur estoit en sa bonne santé)“, und dies „nach dem Leben, so ähnlich wie nur irgend möglich (après le vif, le plus proprement que on a peu)“.33 Die zunehmende Superiorität des künstlichen Körpers gegenüber dem realen Herrscherleib zeigte sich in der Folge auf eindrückliche Weise dahingehend, dass der zukünftige Regent sich nicht im selben Raum wie die Effigies aufhalten durfte.34 Darüber hinaus wurde die Leiche des Herrschers, die zunächst noch sichtbar aufgebahrt war, in einen geschlossenen Sarg verbracht und nackt beerdigt. Sie schied damit aus dem Schauzeremoniell aus und wurde gewissermaßen ‚anonymisiert‘.35 Den verwesenden Leib ersetzte ein immer realistischer ausgeformter Kunstkörper. War das Antlitz Edwards III. trotz einer möglichen Verwendung der Totenmaske nur charakterisierend wiedergegeben, näherte sich die Erscheinung der Verstorbenen in der Folge immer vehementer der Naturtreue an, indem seit der Effigies Charles VI. Kopf, Hände und teilweise auch Füße durch direkte Abformungen gewonnen wurden.36 Die Effigies sollten jeweils „nach dem Leben“, beziehungsweise „dem Lebenden ähnlich“ gestaltet sein.37 Farbige Fassung und die Übertragung von Bart- und Haupthaar ergänzten die Erscheinung.38 Damit erstarkte ihre Natur von derjenigen eines veristischen Ab-Bilds

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Vgl. Gisey: The Royal Funeral Ceremony, S. 100 f.; Brückner: Bildnis und Brauch, S. 106 f. Compotus Reginaldi Doriae, fol. 159v–160, zit. n. Gisey: The Royal Funeral Ceremony, S. 100 u. Anm. 94; vgl. Waldmann: Die lebensgrosse Wachsfigur, Anhang II, B, S. V; Klier: Fixierte Natur, S. 34 f. u. Anm. 117. Belting: Repräsentation und Anti-Repräsentation, S. 30. Blunk: Das Taktieren mit den Toten, S. 53. Bei der Herstellung der bekleideten Effigies Charles VI. wurden Abdrücke von Händen und Füßen genommen. Vgl. Klier: Fixierte Natur, S.  34 f. Gegen eine Abformung der anschließend bekleideten Füße wendet sich Brückner: Bildnis und Brauch, S. 107. Vgl. die Quellenbelege bei Waldmann: Die lebensgrosse Wachsfigur, S. 60. Klier: Fixierte Natur, S. 35.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

zum zeugenhaften Kontaktbild,39 das durch die unmittelbare Berührung und die Aufnahme von Körpermaterialien selbst eine heilige Form erhielt. Die minutiös-mimetische Annäherung an das Erscheinungsbild der Königinnen und Könige erfuhr durch den Einsatz wächserner Gesichtsmasken eine Realpräsenz, die heute nur noch annähernd durch die von Pietro Torrigiano (1472–1528) gefertigte Kopfpartie der Effigies Henrys VII. (1457–1509) evoziert werden kann.40 Die ursprüngliche Figur, eine schlanke, 185 cm große und feingliedrige Gestalt, war bis zum Zweiten Weltkrieg noch intakt (Bild 93).41 Heute sind nur noch Teile des einst mit Baumwollstoff überzogenen und mit Heu gefüllten Holzgerüsts sowie die Hals-Kopf-Partie erhalten. Das wächserne Antlitz des Regenten wirkt noch immer, nicht nur aufgrund von Farbigkeit und Material,42 sondern auch durch die leichten Asymmetrien des Ausdrucks – das hochgezogene rechte Lid, den zuckenden Mundwinkel oder die in wacher Konzentration zusammengeschobenen Augenbrauen – verblüffend lebendig. In der hier beobachtbaren zunehmenden Annäherung an die äußere Gestalt des Verblichenen liegt jedoch auch ein potentielles Wagnis hinsichtlich des zu verbildlichenden überindividuellen Status der überzeitlichen Herrschaft. Als ‚personifiziertes Ikon‘ konzentrierte sich in der Effigies ein quasi reliquienhaftes Simulacrum des verstorbenen Individualleibs, um zugleich als generelles Sinnbild monarchischer Kontinuität zu dienen. Eine entscheidende Maßnahme, welche eine Stärkung beider Bedeutungsschichten beförderte – ebenso der dargebotenen Lebendigkeit des faktisch Verstorbenen wie auch der kontinuierlichen Wahrnehmung der Staatsaufgaben – beruhte auf der Weiterentwicklung der Effigies in eine bewegliche Gliederpuppe.43 Dadurch, dass die Effigies als Gliedergestalt verschiedene menschliche Haltun-

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Zum Komplex des Kontaktbildes, das aufgrund seines mechanischen Herstellungsverfahrens eine physische Unmittelbarkeit zum Urbild inkorporiert, vgl. den Band Kontaktbilder der Reihe Bildwelten des Wissens – Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik: Vera Dünkel (Red.): Kontaktbilder. Bildwelten des Wissens 8.1 (2010). Pietro Torrigiano: Totenbüste von Henry VII., 1509, Holz, Gips, Undercroft Museum, London. Vgl. Carol Galvin/Phillip G. Lindley: Pietro Torrigiano’s portrait bust of King Henry VII, in: The Burlington Magazine 130 (1988), S. 892–902. Die Kopfpartie wurde zusammen mit einer Porträtbüste geschaffen, die sich heute im Victoria and Albert Museum befindet (Inv. A. 49-1935). Wie durch Röntgenaufnahmen belegt werden konnte, geht die Gestaltung des Hauptes auf eine Totenmaske zurück. Vgl. Klier: Fixierte Natur, S. 36. Vgl. Hope: On the Funeral Effigies, S. 551, der die Größe mit „6 feet 1 inch“ angibt. Zur Materialikonographie und Phänomenologie des Wachses vgl. Schlosser: Tote Blicke. Dieser Aspekt eines erstarkten Verlangens nach Bewegungsfähigkeit bzw. Gestaltveränderung der Effigies wurde bislang kaum umfassend analysiert. Den wichtigsten Beitrag hierzu lieferte Bredekamp: Thomas Hobbes. Der Leviathan, Kap. 5.b „Die Kunstzeit der Scheinleiber“, S. 97–106.

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Bild 93  Effigies von Henry VII., 1509, Holz, Baumwolle, Heu, 185 cm, Zustand vor 1907, zerstört. Bild 94  Marcus Gheeraerts d. J.: Queen Elizabeth I. (Ditchley Porträt), um 1592, Öl/Lw., 241,3 × 152,4 cm, Inv. Nr. NPG 2561, National Portrait Gallery, London.

gen einzunehmen vermochte, multiplizierte sich einerseits ihre Wahrheitsnähe zum verstorbenen Individuum. Indem das Double an unterschiedlichen Stationen und im Rahmen unterschiedlicher Zeremonien nicht mehr nur liegend, sondern auch stehend, sitzend oder kniend präsentiert werden konnte, wirkte andererseits die körperlich visualisierte Herrschergewalt bis zur letzten Station der Funeralien fort. Die zunehmende Variabilität bedeutete somit auch die Möglichkeit einer differenzierteren Fortsetzung königlicher Repräsentation.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

G e st a lt ver ä nder u ng Durch ihre geöffneten Augen als lebendig ausgewiesen, erlaubte die Aufrüstung der Effigies zu einer Gliederpuppe eine Partizipation an den Stationen des rite de passage. Wenngleich fließende Bewegungsabfolgen oder gar ein lebendiges Gestikulieren nicht möglich und wohl auch kaum intendiert waren, erreichten die Effigies durch ihre veristische Ausgestaltung, ihr waches Antlitz und ihr veränderbares Äußeres, das unterschiedliche Handlungsposen ermöglichte, den zeitlich begrenzten Anschein autonomer Lebendigkeit. Die ruhigen und zugleich wachsam-lebendigen Figuren nahmen ‚aktiv‘ an Gebeten, Trauerumzügen und Banketten teil.44 Durch die Umgestaltung der Effigies zu einer beweglichen Gliederpuppengestalt trat neben die Gestaltfixierung des individuellen Herrscherkörpers die Gestaltveränderung im Sinne von distinkten Haltungen und entsprechenden Tätigkeiten. Als emergenter Prozess aus veristischem Kontaktbild und beweglichem Gliederleib erfuhr die Effigies eine weitere Aufladung als realpräsentes, an der Trauerfeier partizipierendes Double. Die zu Lebzeiten inszenierten und bildlich gefassten Körpererscheinungen der Herrscher geben Hinweise darauf, welcher Ikonographie diese ephemeren Grabbilder der Herrscher folgten: jener von belebten Statuen.45 Bereits bei ihrer Krönung im Jahre 1558 erschien Königin Elisabeth I. in ihrer royalen Pracht als stilisiertes Gebilde, wobei sie das artifizielle Erscheinungsbild im Laufe ihres Lebens weiter forcierte. Besonders im sogenannten Ditchley-Porträt, einem allegorischen Bildnis der Regentin, das um 1592 von Marcus Gheeraerts d. J. (1561/ 1562–1636) geschaffen wurde, wird erkennbar, wie die Künstlichkeit des Herrscherinnenkörpers mit dem Herrschaftskonstrukt der englischen Krone ver44

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Die Teilnahme an unterschiedlichen Speisezeremonien ist insbesondere in Frankreich bezeugt, wie etwa im Falle der Effigies François I.: „Während der quarantaine, einer vierzig Tage währenden Spanne zwischen Tod und Beisetzung des Herrschers, die dem ambrosianischen Ritus aus Mailand entnommen worden war, wurde sie [die Effigies] zunächst in dem [sic!] salle d’honneur von Saint-Cloud auf einem lit de parade ausgestellt. Während die mit Insignien ausgestattete Figur Franz‘ I. im Staate lag, verzichtete der reich geschmückte Raum der Aufbahrung zunächst auf jedes Symbol der Trauer. Mehr noch: Regelmäßig wurde der Effigies im Beisein von kirchlichen und weltlichen Würdenträgern mehrgängige Menüs und der Wein sogar nach Maßgabe der ehemaligen individuellen Trinkgewohnheiten Franz‘ I. serviert, so ‚als wäre sie der lebende König selbst‘. Nach elf Tagen schließlich wurde die Ehrenhalle schwarz drapiert und in einen [sic!] salle de deuil verwandet.“ Blunk: Das Taktieren mit den Toten, S. 54. Zu den unterschiedlichen Zeremonien, die auch Bankette beinhalteten, vgl. auch Ralph E. Giesey: Effigies Funéraires et puissance souveraine en Europe du XVe au XVIIIe siècle, Vortrag gehalten am 10. Juni 1987 im Collège de France, Paris, unter: http://cour-de-france. fr/article1756.html?lang=fr [26.08.2014]. Zum Komplex des Herrschers als belebte Statue, bzw. Automat vgl. Bredekamp: Thomas Hobbes. Der Leviathan.

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Bild 95a–b  Effigies der Elizabeth of York, 1503, Holz, Baumwolle, Heu, 181 cm, Zustand vor 1907, z. T. zerstört.

knüpft war (Bild 94): Als Riesin auf dem Erdenrund stehend, weilt die Königin zwischen zwei Wetter- und Zeitzonen. Aus ihrem reich verzierten, von Tüllfächern umrahmten Haupt blicken starr die Augen aus dem eingegefrorenen Gesicht. Mit manieriertem Griff halten die Finger Handschuhe und Fächer. Als eingeschnürte Einzelglieder erscheinen die Arme, welche sich dem in ein enges Korsett geschnürten Rumpf morphologisch angleichen. Dieser ragt aus einem weit ausladenden gefächerten Reifrock, aus dem die Schuhspitzen wie schwebend heraustreten. Um die Idee der überzeitlichen Herrschaft ins Bild zu setzten, nähert sich der Herrscherkörper der Gestalt einer gigantischen Gliederpuppe an.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 96  Effigies der Elizabeth of York, Undercroft, Museum, London.

Bereits mit der Effigies der Elizabeth of York (1466–1503), Mutter des zukünftigen englischen Königs Henry VIII. (1491–1547), erreichte die äußerliche Übereinstimmung mit dem Lebendbild durch eine zusätzliche Bewegungsfähigkeit der Glieder eine neue Wirkungskompetenz (Bild 95a–b). Der mit Stroh ausgestopfte Körper wurde allseitig gleichmäßig gearbeitet. An den Ellenbogen und den Handgelenken war die Figur mit Scharniergelenken ausgestattet worden, die unterschiedliche Handhaltungen ermöglichen (Bild 96). Die Figur konnte nicht nur liegend, sondern auch stehend und möglicherweise sogar sitzend präsentiert werden, da vermutlich auch Knie- und Hüftbereiche beweglich

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I  Kult

Bild 97a–b  Effigies der Maria Tudor, 1558, Holz, 165 cm, Zustand vor 1907, zerstört.

gestaltet waren.46 Die Effigies der Maria Tudor (1516–1558) war ebenfalls mit beweglichen Gelenken, nunmehr im Schulterbereich, ausgestattet, wodurch die 46

Peter-André Alt versucht durch die begriffliche Fassung der Effigies der Elizabeth of York als „image or personnage lyke a queene“ bereits seine grundlegend anvisierte kategorische Unterscheidung zwischen weniger bedeutsamen KöniginnenEffigies im Vergleich zu ihren männlichen Pendants zu belegen: „Während die Darstellung der Königin im Sinne eines Erinnerungszeichens fungiert, das sein Objekt nur über eine Vergleichsbezeichnung zur Anschauung bringt (‚lyke a queene‘), erfüllt das Herrscherbildnis den Zweck, durch den Akt der ‚Representaçon‘ [im Falle Henrys VII.] die unaufhörliche Gegenwart der Macht als Merkmal der Amtswürde zu verdeutlichen. […] Der rein personal gedachten Figur der Königin ist damit der institutionelle Leib des Monarchen kontrastiert, dessen Präsenz sich in der Einheit spiegelt, die Bild und Körper zusammenzwingt.“ Die offensichtlich veristische Fassung der weiblichen Effigies im Zusammenspiel mit ihrer beweglichen Ausgestaltung bleibt dabei unbeachtet. Peter-André Alt: Der Tod der Königin. Frauenopfer und politische Souveränität im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, Berlin 2004, S. 27 ff.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Arme des voluminösen Holzkörpers, die Gelenke in den Ellenbogen besaßen, auf- und abwärts bewegt werden konnten (Bild 97a–b). Zudem wies die Figur Scharniergelenke im Kniebereich auf. Wenngleich hierdurch noch keine sitzende Haltung möglich war, so konnte es sich dennoch nicht um eine ‚reine‘ Liegefigur handeln, da die beweglichen Unterschenkel zumindest eine kniende Haltung erlaubten. Der markante, hochovale Kopf wiederum ist mittels Eisenstumpf mit dem Körper verbunden. Diese Konstruktion erlaubte eine graduelle Wendung des Hauptes zu verschiedenen Seiten hin, eine Konstruktion, wie sie etwa auch im Fall von religiösen Prozessionsfiguren häufig verwirklicht wurde.47 Die Effigies Maria Tudors war demnach in der Lage zu liegen, zu stehen und zu knien, die Arme unterschiedlich zu positionieren sowie in verschiedene Richtungen zu blicken.

Be wege nde Beg r äbn i ss e Durch die Ausstattung mit Gelenken zeigen die Königseffigies eine vergleichbare Entwicklung auf, wie sie bereits bei den religiösen Skulpturen des Hochmittelalters beobachtet werden konnte, insbesondere bei der Inszenierung der Grablege mithilfe von beweglich gestalteten Kruzifixen. Ausgehend von einem statischen Artefakt – dort der Gekreuzigte, hier der Gisant – erfolgte eine Gliederung der Figur, um diese im Rahmen einer performativen Kulthandlung in verschiedene Zustände versetzen zu können. Auch die Effigies diente innerhalb einer zeitlich befristeten Kulthandlung als zentrale Bezugsfigur.48 In den beweglichen Effigies James I. (1566–1625), seiner Gattin Anne of Denmark (1574–1619) und dem ältesten Sohn Henry Frederick Stuart, Prince of Wales (1594–1612), sollte die durch die Gliederpuppennatur bedingte auratische Präsenz der königlichen Effigies zu einem Höhepunkt gelangen – bevor sie im politischen Kollaps um den abgesetzten jüngeren Sohn Charles I. (1600–1649) in derartiger Form verschwand. In einem Kupferstich, der James I. zusammen mit seiner Frau zeigt, kommt die bereits angedeutete Natur der englischen Herrscher als belebte Statuen in feinsinniger Weise durch Aufmachung und Anordnung der Figuren im Bildraum zum Ausdruck (Bild 98). Wie skulptierte Standfiguren sind beide in von Rundbögen überfangene Wandnischen gestellt. 47 48

S. o., Kap. I.2.b). Zu den Gemeinsamkeiten religiöser und profaner ‚Erinnerungsbilder‘ vgl. Jan Gerchow: Körper der Erinnerung. Votiv-, Stifter- und Grabbilder im Spätmittelalter, in: Ausst. Kat.: Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle des Menschen, hg. v. dems., Ostfildern-Ruit 2002, S. 55–64. Zur Verbindung zwischen Effigies und den ‚authentischen‘, teils durch Totenmasken quasi reliquienhaft aufgewerteten Bildern von Heiligen vgl. Urte Krass: Nah zum Leichnam. Bilder neuer Heiliger im Quattrocento, Berlin/München 2012.

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Bild 98  Anonym: James I. und Anne of Denmark mit Henry, Prince of Wales, 1603– 1612, Kupferstich, 22,6 cm × 30,3 cm, Inv. Nr. NPG D18233, National Portrait Gallery.

Ihre Körper und Blicke scheinen eingefroren, allein die Hände, also die bei den Effigies häufig mobilen Partien, sind bewegt: während beide mit der Rechten das Zepter tragen, hält James mit der linken Hand ein Buch geöffnet, während die Linke Annes die Schmuckkordel ihres Gewandes zwischen den Fingern flicht. Im mittig auf die Wand applizierten Stammbaum sind Eheschließungen durch Handschläge verbildlicht: Die aus ihnen herauswachsenden Verästlungen führen zum ältesten Spross und eigentlichen Thronfolger, Henry Frederik Stuart. Der kräftigste Strang trägt dessen Brustbild, das wie ein antiker clipeus zwischen den Wappen der beiden Geschlechter prangt. Der Kupferstich ist vermutlich vor dem Tod des in diesem Rundbild wiedergegebenen Thronfolgers entstanden. Der Verlust des Prinzen wurde als nationale Katastrophe empfunden.49 Dies mag auch die Begründung dafür liefern, dass für sein Begräbnis zum ersten 49

Vgl. Roy Strong: Henry, Prince of Wales and Englands Lost Renaissance, London 2 2000. Jüngst nahm sich eine Ausstellung in der National Portrait Gallery des „verlorenen Prinzen“ an, um seinen Werdegang und die Reaktionen auf seinen Verlust ebenso wie die kulturellen Zeugnisse seines Lebens zu analysieren. Vgl. Ausst. Kat.: The Lost Prince. The Life & Death of Henry Stuart, hg. v. Catharine MacLeod, London 2013.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 99  Gerüst der Effigies von Henry, Prince of Wales, 1612, Holz, Undercroft Museum, London. Bild 100  Effigies der Anne of Denmark, 1619, Zustand vor 1907, zerstört.

Mal die Effigies eines ungekrönten Mitglieds der Herrscherfamilie angefertigt wurde,50 worin sich eine Loslösung des Kultes aus dem Zwang der Interregnumsüberspielung manifestiert. Ihre Ausgestaltung zu einer Gliederfigur für die Inszenierung differenzierter Haltungen erweist sich als ein entscheidendes Merkmal ihres Einsatzes:51 Für das Begräbnis Henrys wurde bei dem Kunstschreiner Richard Norris († 1628/1629) eine Holzskulptur in Auftrag gegeben, ausgestattet „mit verschiedenen Gelenken, in den Armen, Beinen und im Körper, um in verschiedenen Handlungen bewegt zu werden und für das Aufstellen in der Kirche und für seine dortige Präsentation“.52 50 51

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Harvey/Mortimer: The Funeral Effigies, S. 61. „The effigy, which had to be recumbent during the funeral absequies, seems to have been designed not only so that it could be easily dressed but also so that it could be arranged in different postures.“ Harvey/Mortimer: The Funeral Effigies, S. 60. „Richard Norris. The Coffin and Representation vizt. […] Item for making the bodie for the representation with several joynts, in the armes legs and bodie to be

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Als Hope die Effigies des Prinzen 1907 begutachtete, befand sie sich noch in einem besseren Zustand als heute (Bild 99).53 Nichtsdestotrotz ist noch immer die Mehrzahl der Gelenke intakt, etwa die Hüftgelenke sowie ein massives Scharniergelenk unterhalb der Brust, durch welches der Oberkörper in unterschiedliche Positionen gebracht werden konnte. Auch die fein geschnitzten, schlanken Beine, von Hope als „beautifully modelled“ beschrieben, haben bis heute überdauert. Verloren sind hingegen die einst an Ösengelenken befestigten Arme, ebenso die durch Gelenkverbindungen angesetzten Zehen.54 Ebenfalls nur rudimentär erhalten blieb die sieben Jahre später eingesetzte Effigies seiner Mutter, Anne of Denmark. Dennoch kann auch bei ihr mittels historischen Aufnahmen eine durch Ösengelenke vollzogene Beweglichkeit der Glieder im Bereich der Arme zweifelsfrei belegt werden (Bild 100). Sie wurde vom flämischen Hofbildhauer Maximilian Colt († 1641) geschaffen, Bruder von James Colt, dem Erbauer der Effigies Elisabeths I. Ihm wurde der Auftrag erteilt, „eine Repräsentation [der Königin] sowie diesbezügliche Metallarbeit und Gelenke für ein Paar Körper“ zu schaffen.55 Noch immer zeugen Körperbau und Antlitz von der porträthaften Gestaltung, die die Puppe einst besessen haben muss (Bild 101).56 Maximilian Colt wurde sechs Jahre später auch die Anfertigung der exorbitant teuren Effigies für die Funeralien James I. im Jahre 1619 anvertraut. Hope identifizierte 1907 eine kopflose, nur noch in ihrer grundlegenden Anlage erhaltene Figur als Kernbestand dieser Funeraleffigies, die wiederum in Form einer historischen Aufnahme überliefert ist (Bild 102): Am grob ausgeführten Torso sind die Arme nur leidlich in Gestalt ihrer Stoffhüllen erhalten. Die Beine sind durch metallene Scharniergelenke beweglich am Rumpf angebracht, wäh-

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moved in sonderie attions and for settinge up the same in the Abbie and for his attendance there.“ PRO LC 2/4 (6), fol. 5r–v, zit. n. Harvey/Mortimer: The Funeral Effigies, S.  59. Ebenso war der Schmied Thomas Larkin in die Konstruktion der Effigies involviert, Vgl. ebd., S. 60. Mit der Ausgestaltung der Kopfpartie wurde hingegen Abraham van der Doort beauftragt. Die Effigies befand sich dabei bereits in einem weit schlechteren Zustand als in der bis 1872 dokumentierten Fassung, bei der auch der aufwendig gestaltete Kopf noch erhalten war. Vgl. ebd., S. 61. Hope: On the Funeral Effigies, S.  554; Harvey/Mortimer: The Funeral Effigies, S. 59. „Paied to Maximilian Coute Carver for makeing the representacion, for Ironworke for the Joynts for a pair of Bodyes […]“. PRO LC 2/5, fol 3r, zit. n. Harvey/Mortimer: The Funeral Effigies, S. 64. Beim Vergleich mit einem Porträt Gheeraerts d. J., das wenige Jahre vor ihrem Ableben entstand, fallen insbesondere die schmale, langgezogene Nase, der dünne Mund und die hochstehenden Augen bestechend ähnlich aus (Marcus Gheeraerts d. J.: Anne of Denmark, 1611–1614, Öl/Lw., Woburn Abbey, Bedfordshire). Der Maler Gheeraerts d. J. nahm zudem auch an der Beerdigungszeremonie Annes teil. Vgl. Harvey/Mortimer: The Funeral Effigies, S. 65.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 101  Büste der Effigies Anne of Denmark, heutiger Zustand, Undercroft Museum, London. Bild 102  Effigies von James I., 1625, Holz, 170cm (ohne Kopf), Zustand vor 1907, zerstört.

rend im Halsbereich nur ein Holzstift für den aufsteckbaren Kopf erscheint. Gewiss ist dies eine überarbeitete Form der ursprünglichen Gestalt, umfasste der zugrunde liegende Auftrag an Colt doch „den Körper des Bildnisses mit etlichen Gelenken in Armen, Beinen und Körper, damit jener in verschiedene Positionen bewegt werden kann und um denselben sitzend in Westminster Abbey zu zeigen und für und seine dortige Aufstellung.“57 Wiederholt erweist sich in der Quelle die Beweglichkeit der Effigies als elementare Eigenschaft, die explizit durch die Auftraggeber eingefordert wurde. Dieser obligatorische Impetus der Gestaltveränderung, der den Begräbnis57

„Paid to Maximilian Colt for making the body of the representation with several joynts in the armes legs and body to be moved to severall postures and for setting up the same in Westminster Abbey and for his attendance there […]“. PRO LC 2/6, fol. 5v, zit. n. Harvey/Mortimer: The Funeral Effigies, S. 67. Eine weitere Effigies wurde für die Präsentation im Denmark House geschaffen. Vgl. ebd., S. 69.

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figuren die Natur von Gliederpuppen verlieh, verweist eindrucksvoll auf ihren Status als ein in verschiedenen Figurationen präsentierter und damit wie lebendig behandelter Körper.58 Dieser Status musste auch Folgen für die Erscheinung der Effigies im Rahmen der Begräbniszeremonie haben. Dennoch sind die von ihr diesbezüglich ausgelösten Effekte häufig nur mittelbar zu erschließen. Wichtige Quellen für die von beweglichen Effigies ausgelösten Reaktionen innerhalb der Trauergemeinde sind einerseits als Zeugenberichte überliefert, andererseits fanden sie, auch aufgrund der im Funeralzeremoniell dramatisch kulminierenden Effekte, Eingang in die zeitgenössische Dichtung. Bereits die mithilfe einer Effigies vollzogene Beerdigungszeremonie Elisabeths I. wurde von großer Anteilnahme begleitet,59 doch die Trauerfeier Henry Stuarts sollte diese noch übertreffen. Ein Augenzeugenbericht der Beerdigung beschreibt zunächst die Aufbahrung der Leiche und die Verbringung der Effigies auf einen Schauwagen: „Am Montag, 7. Dezember [1612], (dem Tag der Funeralien), wurde die Effigies auf die Leichentruhe gelegt und beide wurden sodann gemeinsam auf eine offene Kutsche gestellt“.60 Zu Füßen der Effigies, die sich in vollem Staatsgewand des Prinzen zeigte, saß Sir David Murray, der Garderobenmeister des Prinzen.61 Hinter dem Gespann bildeten Gruppen

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Vehement widersprochen werden muss insofern all jenen Ansätzen, die die Körperlichkeit der Effigies marginalisieren, etwa die englischen Funeralfiguren nur als leblose Staffage begreifen. Vgl. Jennifer Loach: The Function of Ceremonial in the Reign of Henry VIII, in: Past and Present 142 (1994), S. 43–68, insb. S. 56–62. Die öffentliche Präsentation der Effigies löste tiefe emotionale Reaktionen aus: „and when they beheld her statue or picture lying upon the coffin, set forth in royal robes, having a crown upon the head thereof, and a ball and sceptre in either hand, there was such a general sighing, groaning, and weeping, as the like has not been seen or known in the memory of man; neither doth any history mention any people, time, or state, to make like lamentation for the death of their sovereign.“ John Stow: The Annales, or Generall Chronicle of England […], London 1615, S. 815, zit. n. Thomas P. Anderson: Performing Early Modern Trauma from Shakespeare to Milton, Aldershgot/Hampshire 2006, S. 170. „Monday, the 7th of December, (the funeral day) the representation was layd upon the corps, and both together put into an open chariot“. [John Taylor:] The Funerals of the High and Mighty Prince Henry, Prince of Wales, Duke of Cornmaile […], London 1613, zit. n. Walter Scott: A Collection of Scarce and Valuable Tracts, on the most Interesting and Entertaining Subjects […], London 1809, S. 211–217, hier S. 211. „The Corps of the Prince, lying in an open Chariot, with the Princes representation thereon, invested with his robes of estate of purple velvet, furred with ermines, his Highnesse Cap and Coronet on his head, and his Rod of Grace in his hand, and at his feet, within the said chariot, sat Sir David Murrey, Master of the Wardrobe.“ [Taylor]: The Funerals of the High and Mighty Prince Henry, S. 215. Der Garderobenmeister zählte zu den wenigen Hofangestellten, die den Regenten zu Lebzeiten berühren durften. Dies ist sicherlich auch einer der entscheidenden Gründe dafür, dass er in die Anfertigung der Effigies und deren Bekleidung (falls es sich nicht um die Originalkleidung des Verstorbenen handelte) meist unmittelbar involviert war.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

und Einzelpersonen aller Stände und Bevölkerungsschichten einen eindrucksvollen Trauerzug. Von den Emotionen, die während dieses feierlichen Aufmarsches bei den rund zweitausend in schwarz gekleideten Trauernden zu beobachten waren, berichtet Sir Charles Cornwallis, Kämmerer des Königshauses: „als er [der Trauermarsch] vorbeizog, schien die ganze Welt, alle fühlenden und nicht-fühlenden Dinge und Kreaturen, zu trauern und mitzuleiden, der Himmel, die Erde, durchweg alles: hat es jemals eine solche unzählbare Menge an Männern, Frauen und Kindern jeden Alters gegeben, die in solch wunderbarer Wehklage, die kaum beschrieben werden kann, erschien?“62 In seinem Bericht der Funeralien wird die Lebensnähe der beweglichen Effigies auch implizit durch einen Sprung der Beschreibungsebenen verdeutlicht: Cornwallis berichtet von der zwölftägigen öffentlichen Präsentation der Effigies, um anschließend die Einreihung der beweglichen Prinzengestalt in die Ahnengalerie verstorbener Königinnen und Könige von Westminster Abbey zu schildern. Das Bild der historischen Effigies-Genealogie vor Augen, erfolgt der Wechsel zu einer metadiegetischen Erzählebene, indem Cornwallis zu einem detaillierten Bericht über das attraktive Äußere des Prinzen übergeht. Erst nach einigen Augenblicken wird dem Leser deutlich, dass hier nicht mehr die lebensechte Effigies, sondern die verstorbene Realgestalt Henry Stuarts beschrieben wird, wenn auch dessen charakterliche Eigenschaften gepriesen werden.63

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Es ist insofern davon auszugehen, dass auch er die Effigies in ihre unterschiedlichen Haltungen versetzte. „as it passed along, the whole world, sensible and insensible things, and creatures, seemed to mourn, and have compassion, heaven and earth and all: there was to be seene an innumerable multitude of all sorts of ages and degrees of man, women and children, whose wonderful sorrow who is able to express?“ Charles Cornwallis: The life and Death of our late most incomparable and Heroique Prince Henry, Prince of Wales. A Prince (for Valour and Virtue) fit to be imitated in succeeding Time, 1641, zit. n. Walter Scott: A Collection of Scarce and Valuable Tracts, on the most Interesting and Entertaining Subjects […], London 1809, S. 225–252, hier S. 247. „the coffin, with the representation, (as is before said) remaining still under the hearse, to be seene of all, untill the 19. of the said moneth of December, when decked and trimmed with cloathes, as he went when he was alive, robes, collar, crowne, golden rode in his hand &c. it was set up in a chamber of the said chappell at Westminster, amongst the representations of the kings and queens, his famous predecessors, where in remaineth for ever to be seene. He was of a comely, tall, middle stature, about five foot and eight inches high, of a strong, straight, well made body (as if nature in him had shewed all her cunning) with somewhat broad shoulders, and a small waiste, of an amiable majesticke countenance, his haire of an abourne collour, long faced, and broad forehead, a piercing grave eye, a most gracious smile, with a terrible frowne, courteous, loving, and affable; his favour, like

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I  Kult

Der lebensnahe Eindruck der Effigies löste bei den Trauenden starke emotionale Effekte aus,64 die jedoch durch den Rahmen des inszenierten Aufzuges vom Berichterstatter als ambivalenter „wonderfull sorrow“ umschrieben werden konnten. Obwohl die Effigies von allen als artifizielle Stellvertreterfigur (statue, picture, representation) erkannt wurde, vergegenwärtigte sie dadurch, dass sie als eine wie lebendig präsentierte Gestalt besonders lebensnah erschien, den schmerzlichen Verlust in größerem Maße als etwa repräsentative Herrschersymbole. Gerade im Entzug von Abstraktion, in der zunehmenden äußerlichen Konkretion, wurde eine kritische Nähe erreicht, die eine Kippfigur zwischen symbolischem Scheinleib und den Schmerz des Verlustes auslösendem Revenant erzeugte.65 Wenngleich die in unterschiedlichen Situationen präsentierte Effigies dem Äußeren Henry Stuarts täuschend nahe kam, substituiert sie den Verstorbenen nicht als Mensch, sondern ließ ihn in einer für die Gattung der Gliederpuppe signifikanten Zwitternatur zwischen Tod und Leben verharren.66 Diese ambivalente Erscheinung der Effigies als unheimliches Herrscherdouble sollte auch für die zeitgenössische Dichtung eine unumgängliche Reizfigur darstellen.67 William Shakespeare (1564–1616) lässt in beklemmender Ahnung Macbeth (1608) die Verbringung einer achten Königseffigies in die Westminster Abbey voraussehen, wie dies 1612 durch die Effigies Henry Stuarts auch vollzogen wurde, als sie in die Runde der sieben dort bereits aufgestell-

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the sunne, indifferently seeming to shine upon all“. Cornwallis: The life and Death, S. 248 f. Zu den durch die ambivalente Natur der Effigies ausgelösten Emotionen vgl. auch David Freedberg: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago 1989, S. 212 f. Für Martin Schulz liegt die mediale Zuspitzung der Effigies weniger in ihrer äußerlichen Fassung, sondern in ihrer vergegenwärtigenden „Spur“ des Dagewesenen: Die ‚Anwesenheit‘ des Doubles „gründet sich wesentlich darauf, daß es in einem Medium verkörpert oder auf ein Medium übertragen wurde, das eben seinen Raum mit dem Raum des lebenden Betrachters teilt. Dabei kommt es in nicht allen Fällen auf eine mimetische Referenz an, sondern ebenso überhaupt auf die Spur der ehemals physischen Präsenz.“ Schulz: Die Re-Präsenz des Körpers im Bild, hier S. 43. Als Gegenposition vgl. Kristin Marek: Erscheinungsweisen bildlicher Präsenz: Körper, Verkörperung und Repräsentation am Grabmal, in: Grabmal und Körper – zwischen Repräsentation und Realpräsenz in der Frühen Neuzeit, hg. v. Philipp Zitzlsperger, erschienen in: kunsttexte 4/1 (2010), 11 S., unter http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2010-4/marek-kristin-7/PDF/marek.pdf [31.08.2014]. Zu dieser zwischen Leben und Tod anzusiedelnden Natur der Gliederpuppe s. u., Kap. I.2.a), Bedingungsfelder: ‚Gestorbener Mensch’ und ‚Fühlender Leichnam‘. Claire Gittings spricht den Effigies diesbezüglich „an intense dramatic quality“ zu. Vgl. Claire Gittings: Death and Burial in Early Modern England, London 1995, S. 224.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

ten Herrscherfiguren aufgenommen wurde.68 Auch in weiteren Dichtungen evozierte Shakespeare die zwiespältige Natur der Effigies: Erscheint diese in Richard III. als „eiskaltes Bildnis eines heiligen Königs! (Poor key-cold figure of a holy king!)“ und „blutloser Rest des königlichen Bluts! (Thou bloodless remnant of that royal blood!)“69, tritt sie in Hamlet (1605) als bewegte Phantomstatue in Erscheinung, die voranschreitet, den Kopf bewegt und scheinbar zu sprechen vermag.70 In den Dichtungen des fünfzehn Jahre jüngeren Dramatikers John Webster (1579–1634) sollte schließlich Prinz Henry Stuart – wahrhaftig und in Gestalt seiner Effigies – poetischen Widerhall finden. Bereits kurz nach den pompösen Funeralien, an welchen Webster mit großer Wahrscheinlichkeit teilgenommen hatte,71 verarbeitete er die dortigen Eindrücke in seinem Gedicht A Monumental Columne. A Funeral Elegy (1613). Es beginnt mit den Versen: „The greatest of the kingly race is gone,/ Yet with so great a reputation/ Laid in the earth, we cannot say he’s dead,/ But as a perfect diamond set in lead,/ Scorning our foil, his glories do break forth, […].“72 Wie Thomas Anderson überzeugend vorschlägt, nimmt Webster in diesen Zeilen Bezug auf die während der Funeralien zutagetretende Zwischennatur des Prinzen, der sich in der beweglichen Effigies, wenn auch nur scheinbar, dem Tod momenthaft zu entziehen schien: „Just as his effigy – with its movable joints that allowed the royal „representation“ to conform to its environment – sustains loss by reminding spectators of what is absent even as the royal body appears present, even alive, the elegy attests to a royal reminder that resists death […] Royal death appears unspeakable in these lines. Unable to „say he’s dead“, the elegist articulates a challenge to the logic of death’s finality.“73

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„Another yet! – A seventh! – I‘ll see no more/ And yet the eighth appears, who bears a glass/ Which shows me many more; and some I see/ That twofold balls and treble sceptres carry“. William Shakespeare: Macbeth, IV, i, 119–121. Vgl. hierzu Bredekamp: Thomas Hobbes. Der Leviathan, S. 102. William Shakespeare: Richard III, I,ii, 5–7. „Been thus encounter‘d. A figure like your father,/Armed at point exactly, cap-ape,/Appears before them and with solemn march/Goes slow and stately by them: thrice he walk‘d/By their oppress‘d and fear-surprised eyes […] It lifted up it head, and did address/Itself to motion, like as it would speak“. William Shakespeare: Hamlet, I, ii, 199–219. Vgl. Anderson: Performing Early Modern Trauma, S. 170. John Webster: A Monumental Columne, 1–5, in: The Works of John Webster. With Some Account of the Author, and Notes, hg. v. Alexander Dyce, London 1859, S. 371–376, hier S. 373. Anderson: Performing Early Modern Trauma, S. 172.

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In den folgenden Versen setzt Webster dann all jenen dem Verfall und Vergessen entgegenwirkenden Körperpraktiken, namentlich der Konservierung durch das Einbalsamieren der Leiche, das seines Erachtens am längsten überdauernde Bild des Verstorbenen entgegen, das nicht aus materiellem Stoff, sondern aus den „Farben“ des Dichters besteht: „If princes think that ceremony meet,/ To have their corpse embalm’d to keep them sweet,/ Much more they ought to have their fame exprest/ In Homer, though it want Darius’ chest:/ To adorn which in her deserved throne,/ I bring those colours which Truth calls her own.“74 Auch noch Jahre nach dem Begräbnis Henry Stuarts stellte dessen Figur eine der wichtigsten Inspirationsquellen für Webster dar.75 In seiner 1624 verfassten Festrede Monuments of Gratitude, entstanden aus Anlass der Lord Mayor’s Show, ruft er in der Speech of Amade le Grand erneut die Lichtgestalt des Prinzen in Erinnerung, um zugleich an ihr Fortleben zu erinnern: „Such was this Prince, such are the noble hearts,/ Who, when they dye, yet dye not in all parts:/ But from the Integrety of a brave mind,/ Leave a most Cleere and Eminent Fame behind.“76 Neben der Allusion einer sich durch den Verlust in das Kollektivgedächtnis einschreibenden positiven fama erscheint die Formulierung des „wenn sie sterben, so sterben sie nicht in all ihren Teilen“ besonders bemerkenswert. Wenngleich für den Bezugsbegriff „all parts“ unterschiedliche Aspekte der historischen Gestalt, etwa Henrys noble Errungenschaften, in Anschlag gebracht werden können, so erscheint es im Lichte seines Begräbnisses als durchaus legitim, dabei auch die körperlich präsente, bewegliche Zweitfassung seines Leibes als ein überbleibender Teil der persönlichen Memorialstruktur in Betracht zu ziehen: Der Prinz war als Mitglied des Königsgeschlechts (eine weitere Bedeutung von „noble hearts“) Bestandteil einer Erinnerungskultur, die nach dem biologischen Ableben den repräsentativen Bestand der Person als bewegliches Simulacrum darbot. Der unvergängliche Teil ihrer Würde blieb sichtbar – dignitas non moritur. Die darauf folgenden Verse würden dann die Wendung beinhalten, dass ungeachtet dieses Memorialkultes erst die moralische Integrität den Grad der wahrhaftigen historischen Bedeutung bestimmt. Im Jahr nach der Lord Mayor’s Show starb James I. Er wurde mit Funeralien geehrt, die als „grösste jemals in England bekannte Trauerfeier“ überliefert wurden.77 Nach dem Ableben seines Sohnes Henry und seiner Frau Anne 74 75 76

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John Webster: A Monumental Columne, 15–20, S. 373. Vgl. Charles R. Forker: Skull Beneath the Skin: The Achievement of John Webster, Carbondale/Edwardsville 1986, S. 168. John Webster: Monuments of Gratitude. The Speech of Amade le Grand, in: ders.: The Works of John Webster. With Some Account of the Author and Notes, hg. v. Alexander Dyce, London 1859, S. 363–370, hier S. 370 (Hervorhebung im Original). Vgl. Harvey/Mortimer: The Funeral Effigies, S. 70.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

erfolgte mit seiner variablen Effigies die vorerst letzte öffentliche Inszenierung einer königlichen Gliederpuppe, um mithilfe des beweglichen Körpers eine quasi-lebendige Memoria des Königs zu festigen. Die Begräbniszeremonie James I. vervollständigte das Bild einer gelungenen Regentschaft und setzte zugleich das zukünftige politische Wirken seines Sohnes und Nachfolgers höchsten Ansprüchen aus. Dem unglücklich agierenden Charles I. sollte es indes nicht gelingen, dieser großen Bürde gerecht zu werden. Nach seiner Festsetzung, Anklage und Enthauptung endete durch das zwangsläufig modifizierte Begräbnis die Ära der beweglichen Funeraleffigies.

b   Mo de u nd Wissensc ha f t Gl ie der p up p e n a l s b e weg l ic he Mo de p up p e n Bei der Untersuchung der historischen Formen von Kleiderpuppen ist zunächst eine kategoriale Unterscheidung zweier Ausgangstypen vorauszuschicken: Schneiderpuppe und Modepuppe.78 Während sich die Schneiderpuppe häufig als 78

Die Modeindustrie wird heute zwar als ein zentrales Ausdrucksmittel kulturellen Schaffens angesehen und stellt einen starken Wirtschaftsfaktor der Industrienationen dar. Vgl. Barbara Vinken: Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1993 sowie jüngst dies.: Angezogen. Das Geheimnis der Mode, Stuttgart 2013. Geschichte und Genese ihrer Entstehung, insbesondere ihre ersten Wurzeln und Verbreitungswege, sind jedoch bislang nur unzureichend erforscht, so Brückner: Mannequins, S. 5: „Die in aller Regel populärwissenschaftliche Mode- und Puppenliteratur behandelt ihre eigene Vorgeschichte stets dilatorisch.“ Während es an Gesamtdarstellungen der frühesten Modegeschichte mangelt, steht eine Vielzahl von zeit- oder regionalspezifischen Einzeluntersuchungen zur Verfügung. Als Quellenmaterialien dienen sowohl Sach- und Schriftquellen (etwa Inventare) als auch Bildquellen, letztere vornehmlich im Rahmen der Kostümkunde, die die konkrete Ausgestaltung von Kleidung einer Epoche untersucht und damit sozial-, wirtschafts- und kulturwissenschaftlichen Analysen zuarbeitet. In weit geringerem Maße wurden jedoch bislang Anfertigung, Präsentation und Distribution der Mode, und dabei auch die Rolle der Kleiderpuppe, wissenschaftlich beleuchtet. Für die ab dem 19. Jahrhundert zunehmend industrialisierte Produktion von Modepuppen ist die Forschung hingegen weiter fortgeschritten. Zu den jüngeren Untersuchungen, die das aktuelle wissenschaftliche Spektrum der vormodernen Kleiderforschung verdeutlichen, vgl. etwa: Ann Rosalind Jones/Peter Stallybrass: Renaissance Clothing and the Materials of Memory, Cambridge 2000; Matthew David: Cutting a Figure: Tailoring, Technology and Social Identity in Ninteenth-Century Paris, Diss. Stanford University 2002; Marita Bombek: Kleider der Vernunft. Die Vorgeschichte bürgerlicher Präsentation und Repräsentation in der Kleidung, Münster 2005; Regula Schorta/Rainer C. Schwinges (Hg.): Fashion and Clothing in Late Medieval Europe. Mode und Kleidung im Europa des späten Mittelalters, Basel 2010. Eine präzise wissenschaftliche Annäherung an die historische Kleiderpuppe im Falle François I. (1494–1547) lieferten zuletzt etwa Yassana C. Croizat: „Living Dolls“: François Ier Dresses His Women, in: Renaissance Quar-

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einfache Torso- oder Rumpffigur darstellt, die aufgrund ihrer Funktion im Anfertigungsprozess der Kleidung nicht zwangsläufig bewegliche Glieder aufweist, verfügt die Modepuppe als Präsentationsgestalt meist über einen vollständigen Leib, der mit beweglichen Armen und teilweise auch Beinen, seltener mit einem beweglichen Kopf ausgestattet wurde. Gleichwohl lassen sich ab dem 19. Jahrhundert auch Hybridformen aus diesen beiden Grundformen bestimmen, wenn etwa auch Torsomannequins zur Präsentation von Kleidung eingesetzt werden und Weidenrutenkörper Gliederpuppengestalt annehmen. Dass die Grundform der Schneiderbüste bereits viele Jahrhunderte vor Christi Geburt eingesetzt wurde, könnte ein eindrucksvolles Relikt aus der Regierungszeit Tutanchamuns belegen: Für die Anfertigung und Aufbewahrung der Kleider dieses Pharaos (XII. Dynastie, regierte 1332–1323 v. Chr.) diente offenbar eine von Howard Carter 1922 im Tal der Könige in Grab KV 62 entdeckte stucküberzogene und farbig gefasste Holzbüste, die heute im Ägyptischen Museum in Kairo aufbewahrt wird.79 Die armlose Rumpffigur des jugendlichen Herrschers gibt den schlanken Leib vom Becken aufwärts wieder, wobei der Körper, im Gegensatz zur aufwendig gefassten und teilvergoldeten Kopfpartie, außer einer Grundierung unbehandelt blieb. Diese differenzierte Oberflächenbehandlung, einhergehend mit der Reduktion auf die körperlichen Proportionen, führte dazu, in diesem Objekt eine frühe Form der Schneiderbüste zu erkennen.80 Der Einsatz der für die Geschichte der Gattung Gliederpuppe bedeutsamen Form des beweglichen Mannequins als Kleiderpuppe ist erst für das frühe 16. Jahrhundert gesichert zu belegen, wobei es bereits aus dem späten 14. Jahrhundert Quellenhinweise auf eine derartige Verwendung gibt. In den Rechnungsbüchern Charles VI. findet sich für das Jahr 1396 ein Beleg über die

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terly 60/1 (2007), S. 94–130 sowie Caroline Evans: The Ontology of the Fashion Model, in: AA Files 63 (2011), S.  56–69. Eine Vielzahl der kolportierten historischen Ereignisse und Zusammenhänge der im Rahmen von Modepräsentationen verwendeten Puppen stammen aus dem so grundlegenden wie diffusen Werk Max von Boehns. Max von Boehn: Puppen, München 1929; zur Kritik vgl. Juliette Peers: The Fashion Doll: From Bébé Jumeau to Barbie, Oxford 2004, S. 17; im selben Sinne bereits Brückner: Mannequins, S. 5. Eine Elementarkritik an Boehn stammt von Walter Benjamin: Lob der Puppe. Kritische Glossen zu Max v. Boehns „Puppen und Puppenspiele“, in ders.: Kritiken und Rezensionen. Gesammelte Schriften. Bd. III, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Berlin 1991, S.  213–218. Vgl. dazu Katja Rothe: Nicht machen. Lassen! Zu Walter Benjamins pädagogischem Theater, in: Barbara Gronau/Alice Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld 2010, S. 331–352. Vgl. Boehn: Puppen, S. 64, Abb. 76. Vgl. Gaye Strege: The Store Mannequin: An Evolving Ideal of Beauty, in: Louisa Iarocci (Hg.): Visual Merchandising. The Image of Selling, Farnham 2013, S. 95–115, hier S. 96.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Zahlung von 496 livres und 16 sols an Robert de Varennes, Seidensticker und Kammerdiener von Isabeau de Bavière (1370–1435)81, für „Puppen nebst ihrer Kleidung für die Königin von England“.82 Die hohe Summe führte zu der Annahme, dass es sich bei diesen Puppen um aufwendig ausgestattete Kleiderpuppen gehandelt habe.83 Gleichwohl war die Person, welcher diese Puppen zugeeignet werden sollten, die im selben Jahr im zarten Alter von nur sieben Jahren mit dem englischen König Richard II. (1367–1400) verheiratete Isabelle de Valois (1389–1409). Neben einer Übersendung der neusten Mode des französischen Hofes kann somit auch eine Spielfunktion der Gliederpuppe in Betracht gezogen werden.84 Als weiterer Beleg früher Kleiderpuppen gilt die im Jahre 1496 von Anne de Bretagne in Auftrag gegebene „grosse Puppe für die Übersendung an die spanische Königin“.85 Die in der Quelle genannte mehrfache Überarbeitung der Figur könnte ein wichtiges Indiz dafür sein, dass es sich hier nicht um ein Spielzeug für die jüngste Tochter Isabellas I. von Kastilien gehandelt haben mochte, sondern vielmehr um eine Kleiderpuppe, deren prachtvolles Äußeres höchsten Ansprüchen zu genügen hatte. Diesbezüglich unzweideutig ist die ausführlichste frühneuzeitliche Quelle zu einer Kleiderpuppe. In einem Brief, den Federico I. Gonzaga (1441–1484) im Auftrag von François I. am 19. November 1515 verfasste, bittet er seine Mutter Isabella d’Este (1474–1539) um die Übersendung einer reich ausgestatteten Kleiderpuppe:

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Wie Rachel Gibbons darlegen konnte, kulminiert in der Gestalt dieser französischen Königin der höfische Kleiderkult – als Ausweis herrscherlicher Prosperität –, um dabei die Gemahlin Charles VI. selbst zu einer „gesellschaftlichen Kleider­ puppe“ zu machen: Rachel Gibbons: The Queen as ‚social mannequin‘. Consumerism and expenditure at the Court of Isabeau of Bavaria, 1393–1422, in: Journal of Medieval History 26/4 (2000), S. 371–395. Bestellt wurden „poupées et mainages d’icelle pour la royne d’Angleterre“. Léon de Laborde: Glossaire français du moyen âge à l’usage de l’archéologie et de l’amateur des arts [1872], Genf 1975, S. 465; (zit. N. Croizat, S. 98.) Antonia Fraser geht davon aus, dass diese Puppen wohl Lebensgröße besessen haben müssen: Antonia Fraser: Puppen, Frankfurt a. M. 1963, S. 39 f. Croizat hingegen schlägt aufgrund des etymologischen Hintergrundes von „poupées“, als kleine Figuren bzw. Kinderpuppen, vor, die hohe Summe der besonderen Qualität und Quantität der angefertigten Puppen zuzuschreiben. Croizat: Living Dolls, S. 99. Ebd. S. 98 f. „1496. […] Pour avoir fait faire et refaire par 2 fois, par l’ordonnance et commandement d’icelle dame (la Royne) une grande poupée pour envoyer à la royne d’Espagne.“ Laborde: Glossaire, S. 465.; zit. n. Croizat, S. 99. Über die genauen Ausmaße der Figur wird jedoch nichts berichtet, sodass von einer Konvention der Modepuppengestaltung – möglicherweise von zwei unterschiedlichen Standardgrößen – ausgegangen werden kann.

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I  Kult

„eine Puppe, die Euch gemäß entsprechend bekleidet sei mit Hemd, Ärmeln, Unter- und Überkleidung sowie Mäntel, nebst Kopfschmuck und Frisuren, die Sie tragen; verschiedene Kopfputze würden seiner Majestät besonders gefallen, da er das Ansinnen hat, einige der Kleidungsstücke den Frauen Frankreichs zu übereignen. Es wäre daher sehr willkommen, dies so schnell wie möglich zu übersenden.“86 Die Ausgestaltung der eigentlichen Puppe bleibt im Schriftstück unbehandelt, wohl aus Gründen der allgemeinen Kenntnis derartiger Modepuppen und der damit einhergehenden Praxis des internationalen Modepuppenversands. 87 Bei diesen Quellen ist der höfische Impetus der Figuren besonders bedeutend, da die Modepuppen ganz entscheidend auf das Erscheinungsbild des Adels einzuwirken vermochten.88 Im Falle von François I., der die Puppen explizit für den Zweck einer attraktiven Ausstattung der ihn umgebenden Hofdamen bestellte, diente die Modepuppe als ein zwar mittelbares, aber dennoch entscheidendes Instrument höfischer Repräsentation. Die Modepuppen, die diesen genuinen Zweck erfüllt hatten, wurden an die Kinder des Hofes weitergegeben und trugen somit zu einer frühen Sensibilisierung und Prägung des adeligen Nachwuchses bei. Die auf Standesporträts adeliger Mädchen demonstrativ ins Bild gesetzten, à la mode gekleideten Figuren verweisen in diesem Sinne auf eine frühe Normierung der äußeren Erscheinung. Auch in den reichen Sammlungen der Caterina de Medici (1519–1589) fanden sich nach ihrem Ableben zahlreiche „poupines“ in unterschiedlichem 86

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Die gesamte Anfrage des Briefes lautet: „Ill. Ma et Ex.ma signora mia matre et signor observandissima. Monsignor de Moretta me ha detto ch’el Re desidera che Vostra Signoria li mandi una puva vestita all fogia che va lei de camisa, di maniche, de veste di sotto, et di sopra, et de abiliamenti, et aconciatura de testa, et deli capili, come la porta; mandando perhò varie fogie di acconciatura di testa. Vostra signoria satisfarà melio perché Sua Maestà designi far fare alcuni de quelli habiti per donar a Donne in Franza. Quella adunche serrà contenta mandarla et piu presto sia possible.“ Zit. n. Croizat: Living Dolls, S. 97. Möglicherweise aus Bescheidenheit antwortet Isabella das Ersuchen dahingehend, die gewünschte Puppe gerne zuschi­ cken zu wollen, dass dieselbe jedoch wohl kaum etwas Neuartiges zur Schau stellen würde. „Volientieri per satisfare al desiderio de la M.ta Chr.ma faremo fare la puva con tutti il acconciamenti di dosso et testa che portiamo nui, anchora che Sua M.ta non vedrà cosa alcuna nova, perchè quelli che portamo nui si usano anche lì in Milano da le gentildonne Milanese.“ Zit. n. Croizat: Living Dolls, S. 97. In einem ähnlichen Bittbrief ihres jüngeren Sohnes Ferrante d’Este, in welchem er für die Kammerfrau der Eleonore von Kastilien (1498–1558) um eine Modepuppe im Habit Isabellas ersucht, bleiben Größe und Gestalt der Figur ebenfalls unbenannt. Vgl. Croizat: Living Dolls, S. 101. Zum Komplex der vom Adelsstand in eine kapitalistische Gesellschaft mündenden Luxusgüterproduktion vgl. Werner Sombart: Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung, Berlin 1984.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Habit.89 Neben einigen Miniaturkleiderpuppen, die „en demoiselle“ – als Dame – ausstaffiert waren, sind auch sechs in Schwarz gekleidete Figuren überliefert, die dem Umstand Rechnung tragen, dass Caterina nach dem Tod ihres Mannes Heinrich II. (1519–1559) nur noch schwarze Kleidung trug.90 Die Puppen legen somit einerseits Zeugnis über die Entwicklung der unterschiedlichen Moden der Regentin ab und fungieren zugleich als mobile, manipulierbare Sammelobjekte. Auch zwischen England und dem Kontinent dienten Kleiderpuppen als Informationsträgerinnen der sich ständig verändernden Stile.91 Sogar in Zeiten des Spanischen Erbfolgekrieges wurde mithilfe derartiger Gliederpuppen der grenzüberschreitende Modetransfer fortgesetzt, wie Antoine-François Prévost (1697–1763) in seinen Contes, Aventures et Faits singuliers berichtet: „Addisson [Joseph Addison (1672–1719)] liebte es, […] dass es seinerzeit auch während des Krieges nicht unterlassen wurde, regelmäßig von Paris nach London ‚Die große Puppe‘ kommen zu lassen, die eine Alabasterfigur von drei bis vier Fuß Länge war, gekleidet und frisiert nach den jüngsten Moden, um allen Damen des Landes als Modell zu dienen. Sicher ist, dass über eine Galanterie, welche nicht unwürdig wäre, in die Geschichte einzugehen, die Minister beider Höfe zugunsten der Damen ein Abkommen schlossen, das die Puppe mit einem unverletzlichen Passierschein versah, und während der heftigen Feindseligkeiten auf beiden Seiten war sie die einzige Sache, die von den Waffen verschont blieb.“92 89 90 91

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Edmond Bonnaffé: Inventaire des Meubles de Catherine de Medicis en 1589. Mobilier, Tableaux, Objets D‘Art, Manuscrits, Paris 1874, S. 93–95. Leonie Frieda: Catharine de Medici. Renaissance Queen of France, New York 2003, S. 312; vgl. Croizat: Living Dolls, S. 102. Im Rahmen eines 1615 angestrengten Prozesses gegen die Mörder von Sir Thomas Overbury wurden als Beweisstücke unter anderem Kleiderpuppen aufgeführt. Der Augenzeuge William Sanderson beschreibt, dass sich die von der Anklage als Wachsfiguren eines magischen Bildzaubers angekündigten Figuren schließlich als Modepuppen herausstellten, „the pictures, puppets for magick spells, were no other but severall French babies, some naked, some clothed; which were usuall then, and so are now a dayes to teach us the dresse of ladies tyring and apparel.“ Sir William Sanderson: Aulicus coquinariae. Or, a vindication in ansvver to a pamphlet, entituled The court and character of King James, London 1650, zit. n. Walter Scott: Secret History of the court of James the First, Edinburgh 1811, S. 224 f. Vgl. hierzu auch Jones/Stallybrass: Renaissance Clothing, S. 78; Jane Ashelford: Dress in the Age of Elizabeth I, London 1988, S. 75. Wie Joan DeJean betont, impliziert der Begriff „babies“ den Gliederpuppenstatus der Modepuppen: „Many early fashion dolls were articulated and thus were called „jointed babies“ in English (They were also referred to as „mannequins“; the word „doll“ appeared only around 1750.)“. Joan DeJean: The Essence of Style. How the French Invented High Fashion, Fine Food, Chic Cafés, Style, Sophistication and Glamour, New York 2005, S. 63. „Addisson admiroit […] que pendant une guerre de son temps […] on ne laissa pas de faire venir réguliérement de Paris à Londres, la grande Poupée, qui étoit une

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I  Kult

Wenn man der Feder seines Schriftstellerkollegen Louis-Sébastien Mercier (1740– 1814) Glauben schenken darf, so erlebte diese Puppe eine internationale Erfolgstournee, die sie bis an die Höfe von St. Petersburg und Konstantinopel führte.93 Bezüglich der genauen Gestalt, Material und Größe geben die überlieferten Schriftquellen nur selten detaillierte Auskünfte, sodass Modepuppen in bildlichen Darstellungen meist lediglich aufgrund ihrer besonders aufwendigen Garderobe als solche gedeutet wurden. Neben solchen Bildquellen geben einige wenige erhaltene Modepuppen Hinweise, wie dieser Gliederpuppentypus wohl einst mannigfach in Erscheinung getreten war. Diejenigen bis heute überlieferten Exemplare, die vor dem 19. Jahrhundert entstanden sind, reichen in ihren Ausmaßen von Handspannengröße bis zu leichter Unterlebensgröße, wobei die Mehrzahl etwa 60 bis 75 cm misst. Als eines der ältesten erhaltenen Beispiele erweist sich die heute in der Rüstungskammer des königlichen Schlosses in Stockholm aufbewahrte Modepuppe, deren Körperlichkeit relativ unscheinbar gegenüber der umso prachtvolleren Kleidung wirkt (Bild 103). Die mit geringen Ausmaßen von 16 × 16,5 cm

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figure d’albâtre de trois ou quatre pieds de hauteur, vêtue & coëffée suivant nos modes les plus récentes, pour servir de modèle à toutes les dames du pays. On assure même que par une galanterie qui n’est point indigne de tenir rang dans l’Histoire, les Ministres des deux Cours accordoient en faveur des Dames, un passeport inviolable à la Poupée, & que pendant les hostilités furieuses qui s’exerçoient de part & d’autre, elle étoit ainsi la seule chose qui fût respectée par les armes.“ Antoine-François Prévost: Aventure Bizarre d’un Anglois, in: ders.: Œuvres choisies, Bd. 35, Amsterdam/Paris 1767, S. 492–497, hier S. 492 f. (Hervorhebungen im Original). In seinem umfassenden, jedoch wiederum Überlieferungen teils ungeordnet kolportierenden Werk zur Mode des 18. Jahrhunderts nimmt Max von Boehn ebenfalls Bezug auf diesen Import französischer Modepuppen nach Frankreich: „Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte man in Paris begonnen, alle Monat einmal eine vollständig nach neuester Mode kostümierte lebensgroße Puppe nach London zu senden: „die große Pandora“ in Staatstoilette, „die kleine Pandora“ in Négligé gekleidet. Diese Puppe der Rue Saint Honoré wurde anfänglich im Hotel Rambouillet zurecht gemacht mit der gern geleisteten Hilfe der berühmten Mademoiselle de Scudéry, jener fruchtbaren Romanschriftstellerin, die man zwar nicht mehr liest, aber aus Hoffmanns Erzählungen so gut kennt. Diese Puppe wanderte so regelmäßig über den Kanal, dass selbst Kriegszeiten die englischen Damen nicht der Möglichkeit beraubten, sich allmonatlich über die letzte Pariser Mode zu orientieren. Mitten im Spanischen Erbfolgekrieg bestellte König Georg I. von England die ganze Ausstattung seiner deutschen Schwiegertochter in Paris.“ Max von Boehn, Oskar Fischel: Die Mode. Menschen und Moden im achtzehnten Jahrhundert, München 1919, S. 122–124. „La fameuse poupée, le mannequin précieux, assublé des modes les plus nouvelles; enfin le prototype inspirateur passe de Paris à Londres tous le mois; & va de là, répandre des graces dans toute l’Europe. Il va du nord & au midi: il pénetre à Constantinople & à Pétersbourg; & le pli qu’a donné une main Françoise, se répete chez toutes les nations, humbles observatrices du goût de la rue Saint-Honoré!“ Louis-Sébastien Mercier: Tableau de Paris, Bd. I, Paris 1781, S. 280.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 103  Modepuppe, Ende 16. Jh., Drahtgelenke, Baumwolle, Seide, 16 × 16,5 cm, 91 gr., Inv. Nr. 77 (56:15) 260, Livrustkammaren, Stockholm.

und einem Gewicht von 91 Gramm sehr handliche Puppe ist aus einem beweglichen Drahtgestell gefertigt, ähnlich den einfachen Gelenkverbindungen bei einigen Prozessionspuppen. Sie besticht durch ihre kostbare Ausstattung mit einem von Goldfäden durchwirkten Überkleid aus violettem Seidentaft, das mit Spitzenstickereien, Perlen sowie Gold- und Silberfäden verziert wurde, den drei Unterröcken, einem Mieder aus Taft und einem Muff aus roter Seide, in dem ihre Hände stecken. Das mit Seidenfäden gestickte Gesicht schmückt eine aus Naturhaar gestaltete Frisur mit eingearbeiteten Perlen und Goldfäden. Ein auf dem Unterrock befindlicher Zettel benennt die ursprüngliche Besitzerin: „Puppe der Prinzessin König Karls IX. (Denna docka gjord af Konung Carl den Nijondes prinsessa)“, womit womöglich die Tochter des schwedischen Königs Karl IX. (1550–1611), Katharina (1584–1638) gemeint war. Es ist jedoch ungewiss, wann genau die Puppe in der Kleidung vom Ende des 16. Jahrhunderts in ihren Besitz gelangte. Aufgrund der wertvollen Ausstattung wird die Figur heute jedoch weniger als Kinderpuppe denn als Modepuppe gewertet.94 94

Zur Puppe vgl. Ann Grönhammar: Hantverk till kunglig ära, Stockholm 1989; Anne-Marie Dahlberg (Hg.): Drottningar. Kvinnlighet och makt, Stockholm 1999;

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I  Kult

Bild 104  Anonym: Bildnis der Arabella Stuart, 1577, Öl/Lw., Hardwick Hall, Derbyshire.

Zeitgenössische Kinderporträts verweisen allerdings auf ähnlich erle­ sene Puppen in den Händen der Dargestellten: In einem Bildnis der fast zweijährigen Arabella Stuart (1575–1615) wird die Nichte der Königin mit einer durchaus vergleichbaren Puppe dargestellt (Bild 104). Deren prächtige Robe mit schwarzem Unterkleid und purpurnem Mantel mit Hermelinbesatz war bereits Mitte der 1560er Jahre en vogue gewesen,95 was auf einen möglichen Einsatz ante quem als Modepuppe hinweist.96 Ihre Feingliedrigkeit, die sich bis in die Finger hinein fortsetzt, lässt eine Fertigung aus Holz anstelle von Drahtgelenken vermuten.97 Eine heute im Puppenmuseum in Hanau aufbewahrte Gliederpuppe erweist sich als eine solche Modepuppe (Bild 105). Die cremeweiße Haut des um 1740 in Frankreich hergestellten Objekts zeigt herrschaftliche Blässe, während die kahle Kopfkalotte ursprünglich mit einer der neuesten Haarmode

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Croizat: Living Dolls, S. 108 f. Ashelford: Dress in the Age of Elizabeth I, S. 75 u. Abb. 49. In ähnlicher Weise kann die Puppe im Porträt der kindlichen Herzogin Maria von Sachsen von Lucas Cranach d. J. gedeutet werden, das sich heute im Besitz der Kunstsammlungen Chemnitz befindet. Vgl. die Abbildung bei Boehn: Puppen, S. 105, Abb. 115. „Lady Arabella’s doll appears to be jointed at shoulder and elbow and the face was painted realistically. It is unlikely that the painters would have idealized the appearance of the dolls, so that we must conclude that the dolls of wealthy children were artistically finished and actually beautiful in their original state.“ Constance Eileen King: The Collector’s History of Dolls, New York 1977, S. 50.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 105  Französische Modepuppe, um 1740, Holz mit originalem Unterkleid, Hessisches Puppenmuseum, Hanau.

Bild 106  Modepuppe, 18. Jh., o. A., Hessisches Puppenmuseum, Hanau.

entsprechenden Perücke ausstaffiert werden konnte.98 Sie verfügt an den Schultern sowie an den Ellenbogen über bewegliche Gelenke. Ebenso deutlich als Gliederpuppe mit Scharniergelenken gekennzeichnet ist eine am selben Ort bewahrte Modepuppe aus dem 18. Jahrhundert, wobei auch bei dieser die im Scheitelpunkt der Kalotte anzubringende Wechselperücke ebenso fehlt wie die ursprüngliche Kleiderausstattung (Bild 106). Beide Figuren sind etwa armlang, was den Transport zu entfernten Bestimmungsorten deutlich erleichterte. Noch mit originaler Kleidung erhalten ist eine um 1750 entstandene 66 cm hohe Modepuppe, die heute im Amsterdamer Rijksmuseum aufbewahrt wird. Die Figur aus Holz und Leinen trägt eine Garderobe aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, der Kopf ist farbig gefasst, mit Glasaugen versehen und mit

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Für die Inaugenscheinnahme, Diskussion und Informationen zu den Kleiderpuppen sei der Kuratorin des Hanauer Puppenmuseums Maren Raetzer gedankt.

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I  Kult

Bild 107a–b  Modepuppe, 1. Hälfte 18. Jh. (?), Holz, 34 cm, Sammlung Galéa, Musée National de Monaco.

einer Silberhaarperücke ausstaffiert.99 Einige Jahre zuvor dürfte die Modepuppe  aus der Sammlung Galéa im Musée National de Monaco entstanden sein (Bild 107a–b). Unter der hohen, geschnitzten Perücke blicken ernste Augen aus dem regungslosen Gesicht. Sie trägt eine seidene taubenblaue Robe über einem lachsroten gerafften Rock. Im entkleideten Zustand sind ihre Gelenke in Schulter-, Ellenbogen-, Oberschenkel- und Kniebereich deutlich erkennbar. Als frivoles Detail erweisen sich bei dieser Figur zudem die explizit verwirklichten weiblichen Geschlechtsmerkmale, die ihre Bestimmung als ‚Erwachsenenpuppe‘ umso deutlicher offenbaren.100 99

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Modepuppe, um 1750, Holz, 66 cm, Inv. Nr. BK-NM-3396, Rijksmuseum, Amsterdam. Eine vergleichbare 60 cm große Modepuppe befindet sich in der Sammlung des Victoria & Albert Museums, London. Ihre Entstehungszeit liegt zwischen 1755 und 1760. Inv. Nr. T.90 to V-1980. Vgl. Ausst. Kat.: Taumwelt der Puppen, Kat 213, S. 199, hier aufgrund des Kleides in das Jahr 1778 datiert. Die Kleidung entstand hingegen wohl erst etwa ein halbes Jahrhundert nachdem die Puppe selbst gefertigt worden ist. Vgl. DeJean: The

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 108  Zwei männliche Modepuppen, 18. Jh., Holz, 39 cm bzw. 38,5 cm, Inv. Nr. T2076/T2077, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. Bild 109­  Männliche Kostümpuppe, 18. Jh., Holz mit Kugel-Steckgelenken, Kopf nicht ursprünglich (?), 132 cm, Privatbesitz.

Dass Gliederpuppen nicht allein Frauenmode präsentierten, belegen männliche Kleiderpuppen, wie die beiden Exemplare aus dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, die zudem unterschiedliche Lebensalter wiedergeben (Bild 108). Die Figuren, wohl aus dem deutschsprachigen Raum, sind im 18. Jahrhundert entstanden. Während die Gestalt des Älteren mit halblangem Haar und Vollbart eindeutig männliche Züge aufweist, erscheint die jüngere Figur androgyner, insbesondere aufgrund der roten Wangen und Lippen, sodass sie, ausstaffiert mit einer Damenperücke, durchaus auch als weibliche Gestalt aufgefasst werden könnte. Schnallenschuhe und bis zu den Knien weißgefasste Unterschenkel verweisen hingegen auf die damalige Männermode der Kniehosen. Beide etwa 40 cm großen Gliederpuppen sind aus Holz geschnitzt und in den Knien, im Beckenbereich, Schultern und Ellenbogen mit Scharniergelenken beweglich gestaltet. Die gesondert gefertigten und feiner modellierten Essence of Style, S. 63 f. Zum Körperbau der Modepuppen auch Evans: The Ontology, S. 59.

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Hände und Köpfe sind durch Zapfen angefügt und ebenso wie die Unterschenkel farbig gefasst. Die Ausarbeitungsunterschiede zwischen den Partien, die von Kleidung bedeckt sein wollten, und jenen, die immer sichtbar blieben, erinnern an die religiösen Prozessionsfiguren, bei welchen ein ähnliches Verfahren üblich war.101 Eine italienische männliche Kostümpuppe aus dem 18. Jahrhundert verknüpft unmittelbar diese beiden Typen der Gattung Gliederpuppe, indem auf den beweglichen Leib der Kopf einer Heiligenfigur montiert wurde (Bild 109). Mit 132 cm noch unterlebensgroß, weist die Figur einen hölzernen Torso mit wattierten Hüften und Kugelgelenken in den Armen auf. Ihre originale Garderobe aus Weste und Rock ist aus Brokat- und Damaststoffen gearbeitet. Modepuppen erweisen sich noch im 19. Jahrhundert als teilweise unterlebensgroße Gliederpuppen, deren Körper zwar beweglich, jedoch ohne anatomisch präzise Ausformungen erscheinen. Die im bekleideten Zustand sichtbaren Partien waren hingegen meist sorgfältig ausgestaltet und farbig gefasst, wobei nunmehr kindliche Biskuitköpfe das Erscheinungsbild der Modepuppen prägen sollten.102 Sowohl durch ihre Konstruktion als auch ihre Funktion bewegt sich die Modepuppe in einem Feld zwischen bekleideter Prozessionsfigur und bekleideter Spielpuppe, wobei im manipulierbaren Körperbild eine sekundäre, in der Präsentation der jüngsten Mode hingegen die primäre Aufgabe bestand. Für die Ländergrenzen überschreitende Begutachtung der unterschiedlichen Kleidungsstücke stellte sie den beweglichen anthropomorphen Körper in kontinuierlicher Gesamtheit zur Verfügung. Zugleich Diplomatin und Lobbyistin der Mode, wurde wohl kaum ein anderes gegliedertes Artefakt über ähnlich weite Entfernungen befördert wie die bewegliche Kleiderpuppe.

Mo der ne M a n ne qu i n s Während die ersten Modepuppen, neben ihrer nachgeordneten Funktion als Erziehungsreferenz und Sammelobjekt, vorrangig als Präsentationsfigur in höfischen Kreisen zirkulierten, um von dort aus auch die Modesinnigen des zweiten Standes zu inspirieren, verbreiterte sich im 18. Jahrhundert durch das aufstrebende Bürgertum die Klientel für eine sich ständig ändernde Mode. Bevor der bis heute andauernde Siegeszug der gegliederten Schaufensterpuppe begann, dienten zunächst Zeitungen und Journale als öffentlichkeitswirksames Vermittlungssystem der Kleidung. Das Aufkommen der Modejournale steht wiederum mit der gegliederten Modepuppe in unmittelbarem Zusammenhang.

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Vgl. hierzu Kap. I.2.b). Vgl. etwa die Modepuppe ‚Bella Donna‘, um 1870/1875, Biskuit-Kopf, Ganzlederkörper, 65 cm, mit Accessoires, Privatbesitz (Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 191).

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 110a–b  Mode der Dame und des Herren, Mercure Galant, Oktoberausgabe 1678, Kupferstich.

Mit dem Mercure Galant begründete der Journalist und Publizist Jean Donneau de Visé (1638–1710) die erste Zeitschrift für Politik, Gesellschaft und Darstellende Künste, um in diesem Rahmen gleichermaßen über die neuesten Entwicklungen der Mode zu informieren. Ab der 1678 publizierten zweiten Folge des Journals wurde auf beiliegenden Drucken jeweils die aktuelle Mode für Damen und Herren vorgestellt (Bild 110a–b).103 Die Stiche wurden von Jean Bérain (1640–1711) angefertigt, dem königlichen Kammer- und Kabinettzeichner Ludwigs XIV., der sich zu diesem Zweck kleine, der aktuellen Mode gemäß gekleidete Puppen schicken ließ.104 Die Modepuppe gelangte somit in den unmittelbaren Einzugsbereich der Künstlerpuppe, deren Aufgabe gerade im Studium der Draperien und der Kleiderpräsentation für Porträts und Historienbilder lag. Um den Kunden die aktuelle Mode in einer möglichst authentischen Form vor Augen zu führen, wurden nun, neben den leichter verschickbaren unterlebensgroßen Modepuppen, auch solche in Lebensgröße hergestellt, wie

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Jean Donneau de Visé (Hg.): Mercure Galant, Oktober 1678, o. S.  (S. 372 verso, S. 376 verso). Zwar gab es bereits im 16. Jahrhundert Stiche, die allein einer Dokumentation der jeweiligen Kleidung dienen sollten; diese wurden jedoch nicht einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Vgl. John L. Nevinson: Origin and Early History of the Fashion Plate, Washington 1967. DeJean: The Essence of Style, S. 63.

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Bild 111  Anonym: Englische Satire auf die Krinolinenmode, 1748, Kupferstich.

eine Karikatur von 1748 aus der Zeit der Krinolinenmode belegt (Bild 111).105 Die Szene zeigt einen weit in die Tiefe fluchtenden Marktplatz, auf welchem sich eine große Menschenmenge versammelt hat, um der Präsentation der neuesten Entwürfe beizuwohnen. Während hinter dem Torbogen des rechten Bildfeldes die Rockkonstruktion als überdimensionaler Raumschirm in der Luft schwebt, wird im linken Vordergrund die Handhabung dieses modischen Reifrocks von den Angehörigen des Adels interessiert verfolgt, von den sich rechts anschließenden Beobachtern des dritten Standes jedoch nur mit Spott überzogen.106 Hinter der Menschentraube öffnen unterdessen drei Pagen einen riesigen Transportkorb, aus dem sie mittels Zuggestell eine lebensgroße Modepuppe herausmanövrieren, die für ihre Präsentation mit einem ausladenden Krinolinenkleid ausstaffiert ist. Durch ihr realistisches Äußeres kaum von den Vorführdamen zu unterscheiden, pointiert diese Nebenhandlung wohl am deutlichsten die groteske Transformation der ‚modebewussten‘ Dame zu einer Marionette des Zeitgeistes. 105 106

Vgl. Norah Waugh: Corsets and Crinolines, New York 22000, S. 63; Brückner: Mannequins, S. 5. Die Unterschrift des satirischen Blattes verweist auf die so ausladenden wie im städtischen Leben unpraktischen Ausmaße dieser Mode: „Ladies for you this ample Scene I vend,/ A new Invention by your Sexes Friend,/ With which you may securely trip along/ Each narrow Lane, or shun the rustic Throng.“ Zit. n. Waugh: Corsets, S. 63.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 112  Weibliche Modepuppe, um 1765, Holz, mit einer Robe à la française, 175 cm, Pelham Galleries, Paris/London. (Farbtafel 11)

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Bild 113  Les Belles Marchandes, Almanach historique, proverbial et chantant, 1784, Paris.

Bei einer heute im Kunsthandel befindlichen, nur wenige Jahre später wohl um 1765 entstandenen und mit 175 cm lebensgroßen Modepuppe handelt es sich womöglich um das älteste erhaltene derartige Exemplar (Bild 112).107 In originaler Ausstattung sind ihr von einer blonden Perücke umrahmter Kopf, ihre Unterarme sowie die artifiziell gespreizten Finger in feinen Nuancen farbig gefasst. Während die Linke vorsichtig eine Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger balanciert, erlauben die beweglichen Arme eine hebende Geste der rechten Hand. Bis derartige lebensgroße Modepuppen in die Auslage der Schaufenster gelangten, wurden sie bereits in den Räumlichkeiten der Schneider vorgeführt. 107

Vgl. Ausst. Kat.: Fastes de Cour et Cérémonies Royales. Le Costume de Cour en Europe 1650–1800, hg. v. Pierre Arizzoli-Clémentel/Pascale Gorguet Ballesteros, Paris 2009.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 114  Christian Gottlieb Geyser: Im Modeatelier, um 1780, Kupferstich.

Eine Darstellung von Moderverkäuferinnen aus dem 1784 erschienenen Almanach historique, proverbial et chantant verdeutlicht dies auf prägnante Weise (Bild 113):108 Aufgrund ihrer fehlenden Perücke und ihrer Positionierung auf einem runden Standfuß – aber auch aufgrund ihres ausdruckslos-naiven Blickes – als Mannequin erkennbar, steht die Kleiderpuppe im Zentrum eines Verkaufsgespräches zwischen einer Verkäuferin, die den Unterrock des Modells zurechtzupft, und einer im Schatten stehenden Kundin, deren Kleidung bereits bis ins Detail jener der Modepuppe zu entsprechen scheint. Die Wanderung der Modepuppe vom Inneren des Verkaufsraumes in die Schaufenstervitrine lässt sich an einem etwa zur selben Zeit entstandenen Kup108

Les Belles Marchandes, in: Almanach historique, proverbial et chantant, Paris 1784; vgl. Madeleine Delpierre: Se vêtir au XVIIIe siècle, Paris 1996, Abb. 51.

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ferstich des Leipziger Graphikers Gottlieb Geyser (1742–1803) beobachten: nunmehr wird die Modepuppe nicht mehr allein für eine Kundin, sondern für eine ganze Schar von modeinteressierten Damen vor dem geöffneten Fenster ausstaffiert (Bild 114). Ihr beweglicher Körper ermöglicht, behände verschiedendste Moden anzulegen und damit das variantenreiche Repertoire des Modegeschäftes zu präsentieren. Noch unbekleidet, tritt hier die Nähe dieser mit zahlreichen Kugelgelenken ausgestatteten Figur zu den traditionellen Gliederpuppen des Künstlerateliers besonders deutlich zutage.109 Bald wird die Schaufensterpuppe zu einem internationalen Phänomen,110 wobei besonders Paris – mit den von Georges-Eugène Haussmann (1809–1891) durch die Stadt getriebenen Boulevards – den Ruf als Welthauptstadt der Kaufhäuser und ihrer Schaufensterpräsentationen festigen sollte. Dieser neue Präsentationsraum hatte auch Folgen für das öffentliche Erscheinungsbild der Modepuppe: Im Gegensatz zu den manipulierbaren armlangen Kleiderpuppen, aber auch zu den vor den Augen der Kunden be- und entkleideten ganzfigurigen Mannequins, sollte die Gliederpuppe als anthropomorphes Schaufensterphantom von nun an stillgestellt werden, in gegebener Pose verharrend. Der unmittelbare Manipulationsprozess, der durch einfacheres Bekleiden die Vorzüge der beweglichen Gliederpuppen stets deutlich zutage treten lies, rückte zunehmend in den Hintergrund. Auf die Eroberung der Schaufenster folgte die Entwicklung standardisierter Ankleidefiguren, wie sie der Pariser Schneidermeister Alexis Lavigne (1812–1880) in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu entwerfen begann. Lavigne gründete 1841 die bis heute weiter an Bedeutung gewinnende École supérieure des arts et techniques de la mode (ESMOD) und war Hofschneider der letzten Monarchin Frankreichs, Eugénie de Montijo (1826–1920). Mithilfe von Wachsabdrücken gewann er unterschiedliche Grundformen des weiblichen Körpers. Damit schuf Lavigne eine Serie von Schneiderpuppen, die den Auftakt zur

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Geyser führte auch Kupferstiche für Daniel Chodowiecki (1726–1801) aus, der für die Bilder von Johann Bernhard Basedows (1724–1790) Elementarbuch verantwortlich zeichnete; vgl. hierzu Kap. II.2.c) Die Gliederpuppe im deutschen Sprachraum. Möglicherweise rührt die unmittelbare Formenverwandschaft mit der Gliederpuppe von der darin befindlichen Darstellung eines Malerateliers her. Vgl. hierzu zuletzt: Ausst. Kat.: Silent Partners, Kap. 9, S. 167–189. Zu Kleiderpuppen, die etwa in Wien im frühen 19. Jahrhundert präsentiert wurden, vgl. Brückner: Mannequins, S. 5 f. In Boston wurde bereits 1773 mit einer aus London übersandten Kleiderpuppe geworben: „Bei Mrs. Hannah Teatts, Mantuamaker [Damenmantel-Schneiderin], am oberen Ende von der Sommer-Straße in Boston, Baby zu besichtigen mit den neuesten Modellen von Damenmänteln und Nachtgewändern und allem, was dazugehört. Vor kurzem erst mit der Captain White von London angekommen.“ New England Journal, 2. Juli 1773, zit. n. Mary Hillier: Puppen und Puppenmacher, Frankfurt a. M. 1968, S. 44.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

industriellen Produktion der Kleiderbüsten bildete.111 Bei den dabei entstandenen Figuren handelte es sich nicht um ganzfigure Gliederpuppen, sondern um Rumpffiguren, die – kopf- und armlos – allein den bekleideten Torso bezeichnen. Ihre von Émile Zola 1884 in Au Bonheur des Dames oder von Joris-Karl Huysmans in seinen Croquis parisiens (1886) eindrucksvoll beschriebene ambivalente Erscheinung zwischen Tod und Erotik bannte der nur einige Jahre jüngere Eugène Atget (1857–1927) kongenial in seinen späten Schaufensterfotografien.112 Es war ein Schüler Lavignes, der junge Bildhauer Frédéric Stockman, der ausgehend von dieser Präsentationsform die Modepuppe mit beweglichen Gliedmaßen zu einem Massenprodukt machen sollte.113 Sein 1867 gegründetes Unternehmen fertigte im Jahre 1900 bereits rund eineinhalb Millionen beweg111

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Vgl. Claudia Peppel: Der Manichino. Von der Gliederpuppe zum technisierten Kultobjekt. Körperimaginationen im Werk Giorgio de Chiricos, Weimar 2008, S. 82. Der Beruf des Mannequins entstand nur wenige Jahrzehnte zuvor, als in den 1820er Jahren erstmals junge Männer von Pariser Schneidern mit der öffentlichen Präsentation wechselnder Garderoben beauftragt wurden. Erst eine Generation später wurden Damen als Vorführmodelle engagiert, zunächst als „demoiselles“, ab den 1880 Jahren als „mannequins“ bezeichnet. Vgl. David: Cutting a Figure, S. 80 ff; Evans: The Ontology, S. 59 ff. „Les corsets et les tournures occupaient un comptoir, les corsets cousus, les corsets à taille longue, les corsets cuirasses, surtout les corsets de soie blanche, éventaillés de couleur, dont on avait fait ce jour-là un étalage spécial, une armée de mannequins sans tête et sans jambes, n‘alignant que des torses, des gorges de poupée aplaties sous la soie, d‘une lubricité troublante d‘infirme […].“ Émile Zola: Au bonheur des dames, Paris 1883, S.  493; Joris-Karl Huysmans: Croquis parisiens (21886): „Dans une boutique, rue Legendre, aux Batignolles, toute une série de bustes de femmes, sans têtes et sans jambes, avec des patères de rideaux à la place des bras et une peau de percaline d’une couleur absolue, bis sec, rose cru, noir dru, s’aligne en rang d’oignons, empalée sur des tiges ou posée sur des tables. On songe tout d’abord à une morgue où des torses de cadavres décapités seraient debout; mais bientôt l’horreur de ces corps amputés s’efface et de suggestives réflexions vous viennent, car ce charme subsidiaire de la femme, la gorge, s’étale fidèlement reproduit par les parfaits couturiers qui ont bâti ces bustes.“ Zit. n. dems.: Croquis parisiens. À vaul’eau. Un dilemme, Paris 1905, S. 135. Als Sonderform zwischen Gliederpuppe und Automate, die dem Exponat einer Wunderkammer gleichkam, erwies sich das vom Ingenieur Count Dunin bei der Weltausstellung von London 1851 präsentierte mechanische Mannequin aus 7000 Bauteilen, das individuell an die spezifischen Körperproportionen angepasst werden konnte. Count Dunin‘s Mechanical Figure, in: Official Descriptive and Illustrated Catalogue, London 1851, Bd. 1, S. 433; vgl. Caroline Arscott: Mutability and Deformity: Models of the Body and the Art of Edward Burne-Jones, in: Nineteen. Interdisciplinary Studies in the Long Nineteenth-Century 7 (October 2008 = Minds, Bodies, Machines), o. S., unter: http://www.19.bbk.ac.uk /index.php/19/article / view/482/342 [20.09.2014]; Sara K. Schneider: Body Design, Variable Realisms: The Case of Female Fashion Mannequins, in: Design Issues 13/3 (1997), S. 5–18, hier S. 5.

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liche Kleidermannequins.114 Stockmans mannequins articulés erweisen sich als deutlich mit den Künstlerpuppen des 19. Jahrhunderts verwandte Gliederfiguren, indem sie wie jene einen mit Füllmaterial gestopften Stoffleib aufwiesen, dessen Extremitäten durch Gelenkverbindungen in variantenreiche Posen zu bringen waren. Aufwendige Ausstattungen mit Wachsköpfen und Echthaar, wie sie etwa auch bei den Schaueffigies üblich geworden waren, verliehen den Schaufensterpuppen einen rasanten Verlebendigungsschub.115 Wie Nicole Parrot betont, waren die von Stockman entworfenen Mannequins, etwa die Reiterfiguren, ganz bewusst als hochflexible Gliederpuppen entworfen worden, da „deren ausdrucksstarke Beweglichkeit speziell für den Reitsport geschaffen wurde, wobei selbstverständlich den Hüften und dem Knie die grösste Aufmerksamkeit gewidmet wird.“116 Jede zusätzlich gewünschte Beweglichkeit der Figur, die bis in die Fingerspitzen hinein reichen konnte, hatte ihren individuellen Preis. Die Hände männlicher Modepuppen von Pierre Imans waren hingegen in einer Haltung fixiert, um Stock und Hut fassen zu können, während Oberkörper und Oberarme noch bewegungsfähig blieben (Bild 115a–b). 117 In Massen bevölkerten Modepuppen von nun an die Schaufenster der Modehäuser. Wenngleich sich ihre Materialien – statt Wachs und Holz nun Gipsverbundstoffe sowie Fiberglas und Kunststoffe – und Konstruktionsweisen bis heute verändern und weiterentwickeln sollten, vereinten die Pariser Interieurs des frühen 20. Jahrhunderts bereits die zentralen Charakteristika der modernen Kleiderpräsentation in sich. Mit ganzfigurigen Modepuppen in unterschiedlichen Szenen und in bewegten Gesten sollte der hier zutage tretende Realitätsgrad nicht mehr überboten werden.118 Eine entscheidende Transformation der Modepuppe kündigte sich jedoch bereits im Jahre 1911 durch eine mit Spiegeln versehene kubistische Kleiderfi114 115

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Vgl. Hillel Schwartz: The Culture of the Copy. Striking Likenesses, Unreasonable Facsimiles, New York 1996, S. 89. Vgl. Nicole Parrot: Mannequins, Bern 1982, S. 42; Peppel: Der Manichino, S. 85. Zu den Gliederpuppen im Atelier des 19. Jahrhunderts vgl. Kap. II.2.c), Die Gliederpuppe im deutschen Sprachraum. Parrot: Mannequins, S. 42 f. Imans hatte auf der Weltausstellung von 1900 mit einer anatomischen Wachsautomate große Aufmerksamkeit erregt. In seinem Salon in der Rue Crussol präsentierte Imans in unterschiedlichen Interieurszenen seine verblüffenden Mannequinkreationen aus Wachs, benannt nach beliebten Frauennamen der Zeit. Vgl. die zahlreichen Beispiele in ebd., S. 55–68. Die Modernisierungsschübe, etwa der 1920er oder 1968er Jahre, die auch einen Wandel des Frauen(selbst)bildes mit sich brachten, fanden in der Gestaltung der Schaufenstermannequins stets ihren Widerhall. Eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen Schaufensterpuppen im Wandel der Zeit bietet Parrot: Mannequins.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 115a–b  Pierre Imans: Männliche Modepuppe mit Handhaltungen für Hut und Stock, Holz, Wachs, Baumwolle, um 1910, Fotografien, Archive Féry-Boudrot, Paris.

gur sowie durch die zehn Jahre darauf entworfenen avantgardistischen, den bewegten Körper in schwingende Formen auflösenden Mode-Plastiken des Berliner Bildhauers Rudolf Belling (1886–1972) an: die Gestaltungshoheit der Mannequins gelangte nun in den Einzugsbereich der Künste.119 Diese Entwicklung nahm das Modejournal Vogue zum Anlass, in der Ausgabe vom 1. August 1925 die Kunstrichtung „L’art du mannequin“ zu proklamieren.120 Die Schaufensterpuppe sollte auch von anderen künstlerischen Strömungen vereinnahmt werden, indem ihre variable Gestalt motivisch in die Bildwelt der Dadaisten und Surrealisten Einzug erhielt. Als eigentliche Protagonistinnen erscheinen die Mannequins schließlich in der so berühmten wie berüchtigten Ausstellung Exposition Internationale du Surrealisme im Jahre 1938.121 119 120 121

Vgl. Peppel: Der Manichino, S. 86. Vogue vom 1. 8. 1925, S. 4. Vgl. hierzu Kap. III.2.c) Bellmers Puppen – Fetisch und „Gelenk“.

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Bild 116  Viktor & Rolf: The House of Viktor & Rolf, Installationsansicht, 2008, 7 × 6 × 5 m (Haus), 60 cm (Puppen), Barbican Centre, London.

Die Einsatzfelder der beweglichen Modepuppe waren in jener Zeit bestellt. Als handliche Gliederpuppen von Hof zu Hof zirkulierend, wandelte sich ihre Gestalt zum lebensgroßen Gegenüber, das – den neusten Moden unterworfen – diese zugleich verbreiten konnte. Als flexible Menschengestalt bildete sie Vorbild, Widerpart und Reizfigur für Konsumenten und Künstler. Sie bevölkert bis heute omnipräsent die Schaufenster, steht jedoch auch für andere Expositionsanlässe als entscheidender, flexibler Referenzkörper zur Verfügung, indem sie etwa innerhalb von Sammlungen und Museen nunmehr auch historische Gewänder und Moden dauerhaft zur Schau stellt.122 122

Vgl. Sandberg: Living Pictures. Die niederländische Firma Hollands Wondere Wereld, 1678 HD Oost-woud, NL, hat sich auf die Anfertigung unterschiedlichster Museumsgliederpuppen – von der abstrahierten Kleiderpuppe bis zur hyperrealen Silikonfigur – spezialisiert. Vgl. die Produktpalette unter: http://museummannequins.com/museum-figures.html [30.09.2014].

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entworfene Wanderausstellung des Théâtre de la mode, die in Paris beginnend in den Jahren 1945 und 1946 das Modeinteresse der Bevölkerung erneut entfachen sollte, evozierte durch eine dem Materialmangel geschuldete geringe Größe der Kleiderpüppchen noch einmal deren Ursprungsform.123 Auch heute, in einer Zeit der lebenden Starmannequins, haben die kleinen Kleiderpuppen ihren Reiz nicht verloren: armlange Exemplare präsentierten im Jahr 2008 die aktuelle Kollektion ihrer Modeschöpfer in The House of Viktor & Rolf (Bild 116).124

Cr a sh-Te st-D u m mys Am 17. März 1953 bevölkerten 50 Kleiderpuppen, vom ansässigen Handelskonzern J. C. Penney mit der aktuellen Mode ausgestattet, eine Geisterstadt in Yucca Flat, einer weiten Ebene in der Wüste von Nevada.125 Die beweglichen Kunstkörper waren die zeitweiligen Protagonisten einer umfassenden wissenschaftlichen Studie zur Erprobung und Analyse der Auswirkungen unterschiedlicher Atombombentypen.126 Als Teil einer Testserie in der Nevada Test Site, in welcher von 1951 bis 1992 über 1100 ober- und unterirdische Kernwaffentests stattfinden sollten, wurden an diesem Tag die Folgen einer durch die Atombombe Annie ausgelösten nuklearen Explosion für das zivile Leben getestet. Im Rahmen der Operation St. Pat sollte die Zerstörung einer ‚normalen‘ amerikanischen Stadt simuliert werden. In Automobilen und Häusern wurden die Modepuppen in möglichst alltäglichen Situationen und Haltungen arrangiert und fotografiert, um nach der Explosion Krafteinwirkung und Destruktionsgrad zu dokumentieren.127 Ein besonderes Augenmerk lag auf den unterschiedlichen 123

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Vgl. Gertrud Lehnert: „Es kommt der Moment, in dem sie selbst ihre Puppe ist“. Von modischen Körpern, Frauen und Puppen, in: dies. (Hg.): Mode, Weiblichkeit und Modernität, Dortmund 1998, S. 86–106. Vgl. Caroline Evans, Susannah Frankel: The House of Viktor & Rolf, London/New York 2009; zum Spiel mit der Modepuppe als Reflektionskörper eigener Kreationen im ausgehenden 20. Jahrhundert vgl. auch Barbara Vinken: Mannekin, Statue, Fetisch, in: Kunstforum international 141 (1998), S. 144–153. Die Lieferung bestand aus zwanzig männlichen und zwanzig weiblichen Erwachsenenpuppen, zwei Knaben und zwei Mädchenpuppen sowie sechs Babypuppen, wie der Manager des Las Vegas J. C. Penney-Store angab. Vgl. Las Vegas Review Journal vom 8. März 1953. Die Atombombentests werden gegenwärtig von Rachele Riley in einem webbasierten Archiv wissenschaftlich aufbereitet. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei auch den eingesetzten Kleiderpuppen. Vgl. Rachele Riley: The Evolution of Silence, in: Leonardon 47/4 (2014), S.  400–401. Eine Beschreibung des Projektes findet sich unter: http://www.hatchfund.org/project/the_evolution_of_silence/ about/updates [26.09.2014]. Vgl. Tom Vanderbilt: Survival City. Adventures among the Ruins of Atomic Ame­ rica, Princeton 2002; Emily Eliza Scott: Desert Ends, in: Ausst. Kat.: Ends of the

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Bild 117a–b  Atombombentest vom 15.3.1953, Modepuppen einer ‚typischen amerikanischen Familie‘ im Wohnzimmer von Haus 2, Yucca Flat, Nevada, Fotografien.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Stoffen und Kleidungsstücken, vom Arbeiteranzug bis zur Abendrobe, in welche die Puppen eingekleidet wurden.128 Während etwa im Obergeschoss eines Wohnhauses eine weibliche Kleiderpuppe im Bett lag, saß im Untergeschoss von Haus 2 eine Gruppe im Wohnzimmer um einen Tisch (Bild 117a). Nach der Explosion wurde sichtbar, dass die Wucht der Detonation die Puppen vielerorts beschädigt, wenn nicht gar vollständig zerstört hatte (Bild 117b). Gelenke waren verschoben oder gebrochen, die Kleidung zum Teil zerrissen oder angeschmaucht, Oberflächenpartien wiesen durch umherfliegende Gegenstände hervorgerufene Abplatzungen auf. Einige der Gliedermannequins, die nicht innerhalb eines Gebäudes positioniert worden waren, wurden vollständig zerstört, ihre Einzelteile blieben unauffindbar. Durch ihre anthropomorphe Gestalt, die Verwendung aktueller Kleidung sowie das Arrangieren in Alltagszenen, wies die mediale Aufmerksamkeit in forciertem Maße auf die ‚Menschlichkeit‘ der Kleiderpuppen hin: Als „Märtyrer für die Wissenschaft“ betitelte das LIFE Magazine in seiner Ausgabe vom 30. März 1953 die Gliederpuppen.129 Die Las Vegas Sun druckte Bilder der Mannequins, die Schilder mit dem Schriftzug „Wir nehmen Deinen Platz ein beim Nevada-Atombombentest am 17. März (We are taking your place in Nevada Atomic Tests March 17)“ zeigten (Bild 118). Als menschenähnliche bewegliche Kunstfiguren dienten die Mannequins dabei nicht nur als versuchsrelevante Substitute, die Erkenntnisse über die Explosionsauswirkungen auf unterschiedliche Kleidungsstücke liefern sollten. Als universell bekanntes, tagtägliches Gegenüber sollten die Modepuppen insbesondere eine Reflexionsfläche bieten, die durch ihre mediale Inszenierung eine virulente Bedrohung für jeden Bürger suggerieren und damit derartige Test legitimieren sollte. Bei den im Rahmen der Atomtests eingesetzten Kleidermannequins handelte es sich zwar um gegliederte Versuchsfiguren, jedoch nicht um solche, die genuin für derartige Testzwecke hergestellt worden waren – die Schaufensterpuppe entsprach damit nur bedingt der anthropometrischen Testpuppe, dem Dummy. Dieser Typ der Gliederpuppe, der neben seiner beweglichen Menschengestalt zunehmend mit weiteren lebenssimulierenden Eigenschaften und Messinstrumenten aufgerüstet wurde, sollte das Feld der Biomechanik, welches

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Earth. Land Art to 1974, hg. v. Michelle Piranio, München 2012, S.  66–85, hier S. 71–73 u. Anm. 22. Die Auswirkungen sollten vom durch die Firma J. C. Penney bestellten Textilexperten, Charles W. Dorn, genau untersucht werden. Vgl. Las Vegas Review Journal vom 8. März 1953. „Outcasts of Yucca Flat: Mannequins Are Martyrs for Science in a ‚Nuclear Diagnostic Shot‘“, in: LIFE Magazine, 15.3.1953, S. 21–25.

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Bild 118  Bericht über den Atom­bombentest vom 17.3.1953, LIFE Magazine 30. März 1953.

der Erforschung traumatischer Verletzungen dient, entscheidend prägen.130 In Form von Crashtest-Dummys erlangte die Gattung Gliederpuppe einen dramatischen Funktionszuwachs, entschieden doch die mit ihnen durchgeführten Versuchsreihen über lebensrettende technische Entwicklungen.131 Anstelle der zuvor für Unfallforschung und Produktentwicklung eingesetzten Leichen wurde ein derartiger beweglicher Testkörper erstmals 1949 konstruiert.132 Der von der Firma Sierra Engineering & Co. gefertigten Glieder130

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Vgl. D. H. Robbins: Guidebook on Anthropomorphic Test Dummy Usage, Ann Arbour 1977; Harold J. Mertz: Anthropomorphic test devices, in: M. Nahum/John W. Melvin (Hg.): Accidental Injury. Biomechanics and Prevention, New York 22001, S. 72–88; Petra Jahn: Die Wirklichkeit der Traumwelt. Puppen in Medien und Technik, in: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 352–355; Florian Kramer (Hg.): Integrale Sicherheit von Kraftfahrzeugen. Biomechanik – Simulation – Sicherheit im Entwicklungsprozess (ATZ/MTZ-Fachbuch), Wiesbaden 42013, Kap. 7.3 „Anthropometrische Testpuppen (Dummies)“. Vgl. Zudem die Literaturdatenbank der National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA), unter: http://www-nrd.nhtsa.dot.gov/database/bio/proceedings/search.asp [27.09.2014]. Der Sicherheitsgurt oder verletzungsminderndes Autoglas basieren unmittelbar auf den Testreihen mit diesen Gliederpuppen. Auch heute noch werden Leichen sporadisch für Versuchs- und Entwicklungszwecke in den Ingenieurswissenschaften verwendet. Vgl. Kai-Uwe Schmitt u. a.: Trauma-Biomechanik. Verletzungen in Straßenverkehr und Sport, Berlin 2010, S. 41 f.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 119  Sierra Engineering & Co: Sierra Sam, Harold serial No. 226, Crash-Test-Dummy, 1949/1952, Holz, Stahl, Gummi, ca. 182 cm, Space Centre Alamogordo, New Mexico.

puppe wurde der Name SAM, beziehungsweise Sierra Sam verliehen (Bild 119). Eingesetzt wurde sie für Versuchsanordnungen der United States Air Force zur Entwicklung von Flugzeugschleudersitzen, sodann allgemein für die experimentelle Erforschung von Beschleunigung, Abbremsen und Aufprall des menschlichen Körpers. Waren die ersten Dummys noch mit hölzernen Extremitäten versehen, vereinheitlichte sich ihre Konstruktionsweise zunehmend: die Gliederpuppe besaß ein Skelett aus Aluminium oder Stahl, das mit einer Latex- oder Kunststoffhaut überzogen wurde. Um Instrumente wie Dehnungsmessstreifen, Beschleunigungsmesser und Wendekreisel anzubringen, war der Oberkörper hohl, während der Schädel durch Aluminiumguss gefertigt wurde.133 133

Bereits seit 1946 entwickelte die Firma zusammen mit dem „Erfinder“ des Dummys, Samuel Alderson (1914–2005), bewegliche menschliche Einzelglieder. Vgl. Kramer: Integrale Sicherheit, S. 377, Tab. 7.4.

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Bild 120  First Technology Safety Systems: Crash-TestDummy Hybrid III, um 1990, Kunststoffe, Metall, 88cm (Sitzhöhe), 75 kg, Abteilung Fahrzeugsicherheit, BMW AG München.

Die Entwicklung komplexerer Dummys schritt zügig voran, wobei sie in steigendem Maße zu einer menschlichen und gleichwohl passiven Bewegungsfähigkeit der Körper tendierten. In den 1970er Jahren wurden neben männlichen nun auch weibliche Dummys und künstliche Kinderkörper hergestellt, deren Gliedmaßen sich im Vergleich zum Erwachsenendummy durch eine höhere Beweglichkeit und Biegsamkeit auszeichneten.134 Mit dem Modell Hybrid I wurde 1971 sodann eine Unfallpuppe entworfen, die in Größe, Proportion und Gewicht dem exakten Durchschnitt des nordamerikanischen Mannes entsprach, weshalb sie die Bezeichnung 50th Percentile Male erhielt. Die National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) entwickelte zusammen mit General Motors, nach einer schnellen Verbesserung der Beweglichkeit von Halsgelenk und Wirbelsäule im Hybrid II, ab 1976 mit dem Hybrid III eine bis heute gültige Standardform des Crashtest-Dummys, welche eine weitgefächerte Testreihe erlaubt (Bild 120).135 Angesichts der hohen Kosten eines Crashtests 134

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So beschreibt Robbins im Zusammenhang mit einer 1971 durchgeführten Testreihe für Kindersitze: „Because of its articulation, the dummy was capable of defining a motion envelope not possible in a static test which showed relative motions between body parts and the potential for forcible interactions with the vehicle interior.“ Robbins: Guidebook, S. 9. Stanley H. Backaitis, Harold J. Mertz: Hybrid III. The First Human-Like Crash Test Dummy, Warrendale, PA, 1994; Jae-Yong Park: The Simulation of Hybrid III Motion in Automotive Crash Environment, Diss. Univ. of Winsconsin-Madison, Ann Arbor 2008. Die heutigen Hybrid III Modelle werden aus 53 Hauptgliedern zusammengesetzt und bestehen aus insgesamt 13.000 Bauteilen. Vgl. A. Noured-

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

wird heute eine Zunahme computerbasierter virtueller Simulationen von Unfällen anvisiert, wenngleich der Einsatz der hochentwickelten Dummy-Gliederpuppen auf absehbare Zeit unersetzbar bleibt.136

A n atom i s c he Gl ie der p up p e n Gliederfiguren, die sich zu einem pseudofühlenden Substitut des Geschädigten in der Unfallforschung entwickelten, gelangten auch als künstliche Patienten auch auf den medizinischen Lehrtisch.137 So besteht heute mithilfe des Human Patient Simulator (HPS) während der ärztlichen Ausbildung die Möglichkeit, auf eine computerüberwachte, sensitiv aufgerüstete Gliederpuppe zurückzugreifen, sodass verschiedene Szenarien wie Geburt, Notoperation und Pflege simuliert werden können. (Bild 121).138 Durch ihre automatisierte aktive Performanz – von Atmung und Augenbewegung bis hin zum allergischen Schock – haben sich die mechanisch bewegbaren Gliederpuppen durch ihr technisches Innenleben hin zur Gattung der eigentätigen Automate entwickelt. Die Wurzeln der medizinischen Gliederpuppe liegen in Menschenmodellen des bloßgelegten, durch seine Zergliederung erforschten Leibs am Übergang zur Neuzeit. Zu den frühesten medizinischen Anschauungsobjekten zählen Écorchés, also Muskelmänner, die den ‚gehäuteten‘ beziehungsweise ‚geschundenen‘ menschlichen Leib ohne Haut präsentieren.139 Der erst als Funk-

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dine, A. Eskandarian, K. Digges: Computer Modeling and Validation of a Hybrid III Dummy for Crashworthiness Simulation, in: Mathematical and Computer Modelling 35/7/8 (April 2002), S. 885–893, hier S. 886. Mit THOR (Test device for Human Occupant Restraints) wird vonseiten der NHTSA zurzeit ein noch leistungsfähigerer Crashtest-Dummy entwickelt. Vgl. Tariq Shams u. a.: Development of THOR NT: Enhancement of THOR-Alpha The NHTSA Advanced Frontal Dummy, GESAC, Inc., United States Paper Number 05-0455, 2005. Vgl. Katja Neder: Entwicklungstendenzen der Informations- und Kommunika­ tionstechnologie in der Automobilindustrie, Diplomarbeit FH Wiesbaden 1998, S. 38. Waldemar Karwowski (Hg.): International Encyclopedia of Ergonomics and Human Factors, Boca Raton, FL 2006, S. 1181 f.; Kathleen R. Rosen: The history of Medical Simulation, in: Journal of Critical Care 23 (2008), S. 157–166; Rebecca D. Wilson/ James D. Klein/Debra Hagler: Computer-Based or Human Patient SimulationBased Case Analysis. Which Works Better for Teaching Diagnostic Reasoning Skills?, in: Nursing Education Perspectives 35/1 (2014), S. 14–18. Vgl. etwa Sue Oliver Kell: Effects on Learning Using Human Patient Simulation in Medical Education, Diss. Univ. of Virginia 2006. Vgl. Lawrence Price Amerson Jr.: The Problem of the Ecorché. A Catalogue Raisonné of Models and Statuettes from the Sixteenth Century and Later Periods, Diss. Pennsylvania State University, Ann Arbor 1981; Ausst. Kat.: Spectacular Bodies. The Art and Science of the Human Body from Leonardo to Now, hg. v. Martin Kemp/Marina Wallace, London 2000; Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, hg. v. Helmut Friedel, Köln 2001, S. 21–30 sowie S. 215–275; Sandra Mühlen-

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tionsmodell und zunehmend als eigenständiges künstlerisches Sujet entwickelte dreidimensionale Écorché diente zunächst Künstlern aber zunehmend auch Anatomen dazu, die unterschiedlichen Muskelpartien in ihrer bloßen Exposition zu studieren, um damit den körperlichen Aufbau des Leibes zu verinnerlichen.140 Das Interesse der Renaissancekünstler betraf einerseits die varietà des Muskelspiels, wie sie von Antonio Pollaiuolo (1431–1498) eindrucksvoll in seinem berühmten Kampf der zehn nackten Männer (um 1471) evoziert wurde, um andererseits den Tiefenblick auf die unter dem nackten Leib liegenden Schichten von Muskelapparat, Sehnen, Adern und Skelett zu richten. Das anatomische Wissen der frühneuzeitlichen Künstler tritt in zahlreichen theoretischen wie praktischen Ausführungen zutage, von Leon Battista Albertis (1404– 1472) gedanklichem „Bekleiden“ der Knochen bis zu den anatomischen Studien

Bild 121  Krankenpflegepuppe mit abnehmbarem Kopf und auswechselbaren Organen, 2014, Kunststoffe, Metall, 178cm, 23,5 kg.

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berend: Surrogate der Natur. Die historische Anatomiesammlung der Kunstakademie Dresden, Paderborn 2007, Kap. 3 „Der Muskelmann/Muskeltorso“. Über das Feld der Anatomie waren Medizin und Kunst seit der Antike eng miteinander verflochten, noch im 14. Jahrhundert waren etwa Maler und handwerkliche Ärzte in Florenz derselben Zunft, den Arti degli speziali zugeordnet. Vgl. Raffaele Ciasca: L‘Arte dei medici e speziali nella storia e nel commercio fiorentino dal secolo XII al XV, Florenz 1927; Lemma Anatomie, in: RDK, Bd. 1, Stuttgart 1935, Sp. 670– 682 (Kurt Karl Eberlein); Lemma Bildende Kunst und Medizin, in: Enzyklopädie Medizingeschichte, hg. v. Werner E. Gerabek, Berlin 2005, S. 177f. (Klaus Bergdolt). Reinhard Hildebrandt: Anatomische Darstellungen zwischen Kunst und Wissenschaft, in: Ausst. Kat.: Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, hg. v. Andrea von Hülsen-Esch/Hiltrud Westermann-Angerhausen, Köln 2006, S. 181–195.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Leonardo da Vincis (1452–1519).141 Mit Andreas Vesalius (1514–1564) im Jahre 1543 in Basel publiziertem Werk De humani corporis fabrica libri septem fand die bildliche Darstellung des Muskelmannes zu einer frühen Blüte und die neuzeitliche anatomisch-morphologische Medizin ihren Ausgangspunkt.142 Durch Darstellungen des geschundenen Marsyas erhielt der Écorché seinen motivischen Rückbezug, doch auch im Gewand biblischer Prägungen wie dem Hl. Bartholomäus stellten Künstler wie Marco d’Agrate (1504–1574) sowohl ihr anatomisches Wissen als auch ihre Kunstfertigkeit unter Beweis.143 Das um 1580 entstandene berühmte Wachsmodell La bella notomia von Lodovico Cardi, genannt Cigoli (1559–1613), welches heute im Museo Nazionale del Bargello in Florenz aufbewahrt wird, sollte für Jahrhunderte den dominierenden Darstellungsmodus bieten. Der in antiker Rednerpose festgehaltene Écorché, in leichtem Kontrapost und mit erhobenem linken Arm, fand in Arztzimmern, Ateliers und Akademien weite Verbreitung.144 Doch auch viele Generationen später gelangten noch Künstler wie Jean-Antoine Houdon (1741–1828) durch die Bildform des Muskelmanns zu internationaler Bekanntheit.145 141

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Vgl. Laurie Fusco: The Nude as Protagonist. Pollaiuolo’s Figural Style explicated by Leonardo’s Study of Static Anatomy, Movement, and Functional Anatomy, Diss. Univ. of New York, Ann Arbor 1981. Albertis Diktum, dass von einer Figur zunächst die Knochen entwickelt werden, die dann mit Muskeln und zuletzt mit Fleisch „bekleidet“ werden sollen, stammt aus seinem Kunsttraktat Della pittura: „ma come a vestire l’uomo prima si disegna ignudo, poi il circondiamo di panni, così dipignendo il nudo, prima pogniamo sue ossa e muscoli, quali poi così copriamo con sue carni che non sia difficile intendere ove sotto sia ciascuno moscolo.“ Leon Battista Alberti: Della Pittura. Über die Malkunst, hg. v. Oskar Bätschmann/Sandra Gianfreda, Darmstadt 2002, S. 122. Insbesondere die heute in Windsor Castle aufbewahrten Anatomiestudien Leonardos zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem menschlichen Muskelapparat. Zu Vesalius, seinem disziplinärem Umfeld und den wissenschaftlichen Vorraussetzungen vgl. Gerhard Baader: Anatomie, Konsilienliteratur und der neue Naturalismus in Italien im Spätmittelalter und Frühhumanismus, in: Andreas Beyer/Wolfram Prinz (Hg.): Die Kunst und das Studium der Natur vom 14. zum 16. Jahrhundert, Weinheim 1987, S. 127–139; zum Werk jüngst: Andreas Vesalius: The Fabric of the Human Body. An Annotated Translation of the 1543 and 1555 Editions, hg. v. Daniel H. Garrison/Malcolm H. Hast, Basel 2014. Marco d’Agrate: Hl. Bartolomäus, 1562, Marmor, Dom von Mailand. Vgl. Mühlenberend: Surrogate der Natur, S. 57. Als sinnbildliches memento mori dienten indes gegliederte Skelette; vgl. Wipfler: Gliederpuppe, III. B. Lodovico Cigoli: Écorché „La bella notomia“, um 1580, Bronze, 62 cm, Inv. Nr. A.251956, Victoria & Albert Museum, London. Zu Cigolis Werk und seinen anatomischen Studien vgl. zuletzt Jasmin Mersmann: Lodovico Cigoli. Formen der Wahrheit um 1600, Diss. Humboldt-Univ. zu Berlin 2012. Vgl. Reinhard Wegner: „Ein vollkommenes Athen aus Weimar machen“. Weimarer Reaktionen auf Houdon in Gotha, in: Werner Greiling/Andreas Klinger (Hg.): Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung, Köln 2005, S. 251–261, hier S. 251 f.

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Neben Bronze und Gips, Holz und Marmor stellte insbesondere Wachs das bestimmende Material für medizinische Anschauungs- und Lehrinstrumente dar.146 Indem sie den Partien des natürlichen Leibes am ähnlichsten waren, gingen die Wachsmoulagen des 18. und 19. Jahrhunderts über die alleinige Darstellung der Muskelpartien weit hinaus. Tiefer gelegene Gewebe- und Gefäßstrukturen wurden durch Zergliederungs- und Schichtverfahren keroplastisch modelliert, wobei der materialimmanente mimetische Abbildungsgrad auch charakteristische pathologische Erscheinungsbilder wiederzugeben half. Als Erben der wächsernen Votivbilder und Verwandte des Wachsporträts bilden die anatomischen Wachsmodelle eine eigene Bildgattung zwischen Kult und Kunst, Medizin und Technik.147 146

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Zu den unterschiedlichen Materialien anatomischer Modelle vgl.: Regis Olry: Wax, Wooden, Ivory, Cardboard, Bronze, Fabric, Plaster, Rubber and Plastic Anatomical Models. Praiseworthy Precursors of Plastinated Specimens, in: Journal of the International Society for Plastination 15/1 (2000), S. 30–35. Als Mannequin anatomique en bois démontable wird das von Felice Fontana 1799 gefertigte anatomische Holzmodell benannt; wenngleich es sich dabei um eine höchst faszinierende Inkunabel der kunstvollen Holzgestaltung handelt, die das Ineinander der Körperpartien quasi organisch nachzubilden versteht, sind die Einzelglieder nicht wie bei einer Gliederpuppe durch Gelenke in unterschiedliche Posen zu bringen. Vgl. Michel Lemire: Fortunes et infortunes de l’anatomie et des préparations anatomiques, naturelles et artificielles, in: Ausst. Kat.: L’âme au corps. Arts et sciences 1793–1993, hg. v. Jean Clair, Paris 1993, S. 70–101. Berühmtheit erlangten etwa die anatomischen Wachsmoulagen der Sammlung La Specola in Florenz, insb. jene des Gaetano Zumbo (1656–1701), oder des Josephinums in Wien. Vgl. Anja Wolkenhauer: „Grauenhaft wahr ist diese wächserne Geschichte“. Die Wachsfiguren von Don Gaetano Zumbo zwischen Kunst und medizinischer Anatomie, in: Gabriele Dürbeck u. a. (Hg.): Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Amsterdam/ Dresden 2001, S.  71–85; vgl. auch Monika Steinhauser: Die Anatomie Selbdritt. Das Bild des zergliederten Körpers zwischen Wissenschaft und Kunst, in: Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten – Phantasmen der Moderne, hg. v. Pia MüllerTamm/Katharina Sykora, Köln 1999, S. 106–124; Manfred Skopec/Helmut Gröger (Hg.): Anatomie als Kunst. Anatomische Wachsmodelle des 18. Jahrhunderts im Josephinum in Wien, Wien 2002; Thomas Schnalke: Geteilte Glieder – ganze Körper. Von anatomischen Wachsmodellen und medizinischen Moulagen, in: Ausst. Kat.: Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle des Menschen, hg. v. Jan Gerchow, Ostfildern-Ruit 2002, S.  97–106; Monika von Düring, Saulo Bambi: Encyclopaedia Anatomica. A Complete Collection of Anatomical Waxes. Museo di Storia Naturale dell’ Università di Firenze, Sezione di Zoologia La Specola, Köln u. a. 2004; Rüdiger Schultka/Josef Neumann (Hg.): Anatomie und Anatomische Sammlungen im 18. Jahrhundert, Berlin 2007; Susanne Ude-Koeller/Thomas Fuchs/Ernst Böhme (Hg.): Wachs – Bild – Körper. Moulagen in der Medizin, Göttingen 2007 sowie zuletzt Marthe Kretzschmar: Herrscherbilder aus Wachs. Lebensgroße Porträts politischer Machthaber in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014. Zur Verbindung zwischen anatomischen Wachsmoulagen und wächsernen Votivbildern vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 103.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 122  Männliche Glieder­puppe, Muskelmann, 16./19. Jh. (?), Buche, 24,5 cm, Inv. Nr. 7792, Bode-Museum, Berlin, Foto: Barbara Herrenkind. (Farb­tafel 10)

Bild 123  Männliche Glieder­puppe, Muskelmann, 19. Jh. (?), Holz, 37,8 cm, Inv. Nr. NN 1069, Bayerisches Nationalmuseum, München.

Neben Muskelmännern aus Marmor, Bronze oder Wachs entwickelte sich eine faszinierende Untergattung aus Holz: der Gliederpuppenécorché.148 Eine derartige Gliederfigur wird heute im Berliner Bode-Museum aufbewahrt (Bild 122). Die körperliche Erscheinung der 24,5 cm hohen, aus Buchsbaumholz geschnitzten Statuette ist ambivalent. Einerseits durch ein expressives Muskelspiel ausgezeichnet, wird die Körperkontinuität andererseits insbesondere im 148

Zur Unterscheidung der Typen des Écorché vgl. Mühlenberend: Surrogate der Natur, S. 60. Vereinzelt wurden auch unbewegliche Muskelmänner als „Gliedermänner“ bezeichnet; vgl. Aukt. Kat.: Teile des Kunst- und Mobiliar-Besitzes des Herrn Staatsministers a. D. Exzellenz Wallraf, hg. v. Kunsthaus Lempertz, Köln 1931, Los 41: „Italienisch, 1. Hälfte 16. Jahrhundert (unter dem Einfluß Michelangelos), Gliedermann. Nußbaumholz, Naturfarbe. Tanzähnliche Haltung in großer Bewegung. H. 60“, S. 10 u. Taf. 9.

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I  Kult

Bereich der freistehenden Bauchkugel unterschnitten und damit stark unterbrochen. Zwiespältig scheint ferner die Frage nach der Entstehungszeit dieses Gliedermannes. Als Ausdruck einer Hochphase anatomischen Interesses könnte er dem späten 16. Jahrhundert zu entstammen.149 Etwas größer, jedoch gleichförmig gestaltet ist ein Gliederpuppenécorché aus dem Bayerischen Nationalmuseum in München (Bild 123). In bestechend ähnlicher Weise sind alle oberen Muskelpartien ausgeführt und darüber hinaus auch zusätzliche Details wie die Brustwarzen verwirklicht. Während die Kugelgelenke durch gedrillte Darmseiten bewegt werden können, die durch die Durchbohrungen der Extremitäten und der Bauchkugel geführt werden, dient eine industriell gefertigte Stellschraube am Scheitel des Hauptes der Fixierung einer gewählten Pose.150 Inwiefern diese beweglichen Figuren Anatomen und Künstlern hilfreich beim Studium des Muskelspiels waren, ist fraglich – bleiben doch Muskelstränge und Sehnen, auch wenn Sie über bewegliche Gelenke in unterschiedlichste Haltungen gebracht werden können, in der einmal gegebenen Form.151 Dabei zeigen sich die Muskelmannequins den Gliederpuppen des 16. und 17. Jahrhunderts, sowohl denjenigen des Künstlerateliers als auch jenen der Kunstkammer, durch ihre Bau- und Darstellungsweise unmittelbar artverwandt. Zu den Gliederpuppen in Form von Muskelmännern gesellt sich ein zweiter Typ beweglicher anatomischer Statuetten: elfenbeinerne Anatomiepüppchen.152 149

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Die von Ernst Bange vorgeschlagene Datierung in das 16. Jahrhundert wurde noch von Arpad Weixlgärtner übernommen, wohingegen jüngere Studien die Statuette dem 19. Jahrhundert zusprechen. Vgl. Ernst Friedrich Bange: Die Bildwerke in Holz, Stein und Ton: Kleinplastik, Berlin 1930, S. 79; Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S.  61 f. sowie zuletzt Ausst. Kat.: Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle des Menschen, hg. v. Jan Gerchow, Ostfildern-Ruit 2002, Kat. V/3. Für die Aufnahmen des Berliner Muskelmannes sei Babara Herrenkind herzlich gedankt, ebenso wie dem Kurator Hans-Ulrich Kessler für die Inaugenscheinnahme und Diskussion des Objektes. Diese aus dem 19. Jahrhundert stammende Fixierung ist wohl als originale Baueinheit zu werten, sodass eine frühere Datierung dieses Stückes eine spätere Umarbeitung voraussetzt. Vgl. Ausst. Kat.: Ebenbilder, Kat. V/3 sowie Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, Kat. Nr. 61. Zu dieser Kritik vgl. Eugen von Philippovich: Anatomische Modelle, in: ders.: Kuriositäten/Antiquitäten. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber, Braunschweig 1966, S. 348–357, hier S. 256 f.: „Die Muskelmänner mit Kugelgelenken sind wohl eher sowohl ein Grenzfall für Anatomen, wie auch für den Künstler, der sie zu Bewegungsstudien des nackten Menschen verwenden könnte. Sie stellen an sich ein Widerspruch dar, denn ihre Muskeln sind geschnitzt – verbleiben also starr – während die Glieder über Kugelgelenke beweglich gestaltet sind.“ Vgl. auch Mühlenberend: Surrogate der Natur, S. 60. Vgl. C. J. S. Thompson: Anatomical Mannequins, in: Journal of Anatomy 59/4 (1925), S.  442–445; Le Roy Crummer: Visceral manikins in carved ivory, in: American Journal of Obstetrics and Gynecology 13 (1927), S. 26–29; Eugen von Philippovich:

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Wenngleich einzelne Exemplare einen Einblick in das organische Innenleben des Mannes zu vermitteln halfen,153 und einige Statuetten paarweise erhalten sind,154 zeigt die überwiegende Mehrzahl dieser Elfenbeine den weiblichen Leib. Sie präsentieren dabei den geöffneten Körper einer schwangeren Frau, doch in solch schematischer und miniaturisierter Form, dass die kleinplastischen Werke wohl nur für die Aufklärung von Laien geeignet gewesen sein dürften. Ihre geringe Größe und das wertvolle Material machten sie dabei nicht nur zu preziösen Präsentationsinstrumenten, sondern auch zu Sammelobjekten der Kunstund Wunderkammer.155 Ebenso wie Demonstrationsobjekte einzelner Sinnesorgane, wie ophthalmologische oder otologische Lehrmodelle, waren diese Objekte einer Konjunktur der Elfenbeinkunst geschuldet, die vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zu den edelsten Künsten zählte.156 Wie ein Stück aus dem Science Museum in London beispielhaft verdeutlicht, sind derartige Puppen mit beweglichen Armen ausgestattet, wobei die Bauchdecke abgehoben werden kann, um die inneren, ebenfalls aus Elfenbein geschnitzten Organe freizulegen und schließlich einen Blick auf den Embryo zu erlauben (Bild 124a–b).157 Zwischen zwölf und vierundzwanzig Zentimeter messen diese weiblichen Gliederstatuetten, die meist liegend auf einem elfenbeinernen Kissen, seltener stehend präsentiert werden. Sie entstanden in Frankreich, Italien und Deutschland, wo namentlich Künstler wie Stephan Zick (1639–1715)

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154 155 156 157

Anatomische Modelle in Elfenbein und anderen Materialien, in: Sudhoffs Archiv 44 (1960), S. 159–178; ders.: Anatomische Modelle; ders.: Elfenbein, München 1982, insb. S. 331–336; Kenneth F. Russel: Ivory Anatomical Manikins, in: Mecical History 16 (1972), S. 131­–142; Ausst. Kat.: Mit Sinn und Verstand. Eine Ausstellung für Christa Habrich, hg. v. Marion Maria Ruisinger, Ingolstadt 2010, S.  94–95; Cali Buckley: The Elusive Past of Ivory Anatomical Models, in: The Dittrick Museum Blog, Case Western Reserve University 2013, 12 S., unter: http://dittrickmuseumblog.com/2013/08/27/the-elusive-past-of-ivory-anatomical-models/ [5.10.2014]. Ein Exemplar aus der Sammlung des Alabama Museum of the Health Sciences misst etwa 16,5 cm. Vgl. die Dokumentation der Ausstellung in der National Library of Medicine, 8600 Rockville Pike, Bethesda, unter: http://www.nlm.nih. gov/dreamanatomy/da_g_Y-4.html [5.10.2014]. Ein vergleichbarer Muskelmann aus Elfenbein wird in der Sammlung des Wellcome Institute of the History of Medicine aufbewahrt. Vgl. Russel: Ivory Anatomical Manikins, fig. 10c. Russel: Ivory Anatomical Manikins, S. 133. Ebd.; Buckley: The Elusive Past. Vgl. von Philippovich: Elfenbein, S. 331; Georg Laue (Hg.): Gedrehte Kostbarkeiten/Turned Treasuries, München 2004. Vgl. Danica Markoviç/Bojana Markovic-Živkovi ´ c´: Development of Anatomical Models – Chronology, in: Acta Medica Medianae 49/2 (2010), S. 56­– 62, hier S. 58, fig. 1. Darin sind sie wiederum mit den seit dem 16. Jahrhundert verbreiteten anatomischen Umklappbildern verwandt, mit welchen die Körperschichten des Rumpfes im Wortsinne ‚entblättert‘ werden können. Vgl. hierzu grundlegend Andrea Carlino: Paper Bodies. A Catalogue of Anatomical Fugitive Sheets 1538–1687, London 1999.

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I  Kult

Bild 124a–b  Statuette einer Schwangeren, 17./18. Jh., Elfenbein, Inv. Nr. A642591, Science Museum, London. (Farb­tafel 12)

oder Johann Michael Hahn (geb. 1714) als ausgewiesene Kunsthandwerker mit ihrer Herstellung betraut wurden.158 Weit über einhundert dieser feinen Gliederpuppen sind heute über den Globus sowohl in kunsthandwerklichen als auch in natur- oder medizinhistorischen Sammlungen verstreut.159 Bezüglich der für die Gattung der Gliederpuppe entscheidenden beweglichen Arme sind indes distinkte Typen auszumachen. Bei einigen Gliederpuppen scheint die zwangsläufige Überschreitung der 158 159

Von Philippovich: Anatomische Modelle. Einige gut erhaltene Stücke finden sich etwa in der Sammlung des Howard Dittrick Museums, Cleveland, wobei eine auf rotem Samt gebettete schwangere Gliederpuppe besondere Merkmale der Statuetten Zicks aufweist, wie etwa durch eine Querrille geteilte Kniescheiben. Russel: Ivory Anatomical Manikins, S. 135.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 125  Statuette einer Schwangeren, 17./18. Jh., ca. 13 cm, Elfenbein, Sammlung Richard und Ulla Dreyfus-Best, Basel.

Bild 126  Japanische Pflegepuppe einer Schwangeren, 19. Jh., Holz, lebensgroß, Edo Tokyo Museum.

Persönlichkeitssphäre, die durch Observierung des nackten weiblichen Körpers und dessen Introspektion vollzogen wird, durch die Haltung der verstellbaren Arme antizipiert: Da viele Statuetten den rechten Arm angelegt, den linken jedoch angewinkelt über den Bauch geführt haben, muss dieser zum ‚Enthüllen‘ des Körperinneren nach oben geführt werden. Durch diese Bewegung liegt der Arm unmittelbar über den Augen gleichsam als Zeichen der Scham und des Schutzes (Bild 125).160 160

Zu einem besonders qualitätvollen Exemplar aus der Sammlung Dreyfus-Best vgl.: Ausst. Kat.: For Your Eyes Only. Eine Privatsammlung zwischen Manierismus und Surrealismus, hg. v. Andreas Beyer, Ostfildern 2014.

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I  Kult

Mit den weiblichen Geburtspuppen, wie sie in Asien im 18. und 19. Jahrhundert Verwendung fanden, schließt sich der Kreis der gegliederten medizinischen Anschauungsobjekte (Bild 126). Sowohl die werdende Mutter als auch der entwickelte Fötus wurden hier durch unterschiedliche Gelenkverbindungen als variable Gliederpuppen gestaltet, um den dynamischen Prozess der Entbindung simulieren zu können.161 Als anatomische Anschauungsobjekte wie auch als Körpersubstitute dienen Gliederpuppen bis heute der medizinischen Aufklärung und Ausbildung.162 Die Gattung bereichert damit, neben dem Ingenieurswesen, auf funktionale Weise die Gefilde der Lebenswissenschaften.

c   Spiel Die Puppe Steffi LOVE – Welcome Baby des Spielzeugherstellers Simba, in ihrer Körperkonzeption eng an der Barbie von Mattel orientiert, erweist sich als gegliederte Spielfigur einer Schwangeren, welche wie die elfenbeinernen Gliederpuppen des 18. Jahrhunderts einen Embryo in ihrer Bauchhöhle trägt (Bild 127).163 Der anvisierten Zielgruppe wird dadurch eine variable Spielfigur ange161

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Vgl. zur abgebildeten Figur: Geijutsu Shincho Magazine Juli (2001); von Philippovich: Anatomische Modelle, S.  352, verweist hingegen am Beispiel einer kleinen chinesischen „Doctors Lady“ aus dem 18. Jahrhundert aus dem Nationalmuseum in Kopenhagen auf die kulturellen Unterschiede des Einsatzes: „Die chinesische Figur war im Besitz vornehmer Frauen, die im Krankheitsfall auf die Stelle der Figur wiesen, bei welcher sie im eigenen Körper Schmerz fühlten.“ Ein im Musée Flaubert et d’Histoire de la Médecine bewahrtes Schwangerenmannequin mit Embryo wurde von Angélique Marguerite Le Boursier du Coudray (1714/1715–1794) im 18. Jahrhundert als Anschauungsinstrument aus einem massiven, mit Stoff überzogenen Gliederleib gebildet. Vgl. Nina Rattner Gelbart: The King‘s Midwife. A History and Mystery of Madame du Coudray, Berkeley 1998, insb. S. 60–64. In ihrer Form als substituierende Körperglieder kann zudem der Einsatz medizinischer Prothesen über Jahrhunderte zurückverfolgt werden, ebenso wie die Umkleidung durch eine schützende Rüstung, welche dem menschlichen Leib das Bild eines metallenen Gliederkörpers vermittelte. Aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sind die Handprothesen des Götz von Berlichingen oder die Beinprothese des sogenannten „Kleinen Lothringers“, vermutlich vom Nürnberger Blechschmied Jörg Burger, überliefert. Vgl. Armin Geus: Vom Ersatz der Glieder oder die Überwindung des Verlustes. Zur Geschichte der Prothesen, in: Hanno Möbius/Jörg Jochen Berns (Hg.): Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie, Marburg 1990, S. 83–93. Vgl. zur Rüstung als Bildkörper Andreas Beyer: Die Rüstung als Körperbild und Bildkörper, in: Beat Wyss/Markus Buschhaus (Hg.): Den Körper im Blick. Grenzgänge zwischen Kunst, Kultur und Wissenschaft. Symposium Quadriennale 06, München 2008, S. 51–64. Wie der Hersteller angibt, lässt sich „Steffis Bauchdecke […] kinderleicht öffnen, so dass das kleine Baby hineingelegt aber auch wieder herausgeholt werden kann. Ist das Baby auf der Welt, kann Steffi ihr Baby mit dem zahlreichen Zubehör versorgen.“ Vgl. http://www.simbatoys.de/ de/marken__ produkte/steffi_love_puppen/ steffi_und_familie/detail.shtml?sArtNr=105734000 [07.10.2014].

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

boten, die zwei zentrale Bereiche des Puppenspiels – Erwachsenenimitation und Mutterrolle – in sich konzentriert. Die gegliederte Spielfigur ist als vielseitige Simulationsgestalt einsetzbar und bietet in ihrer körperlich normierten Gestalt eine spielerische Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Le­bens­situa­ tionen. Der­­artige Normierungs- und Vorbildinstanzen von Spielpuppen reichen bis weit in vormoderne Zeiten zurück. Auch wenn sich ihre mögliche Kleidung nicht erhalten hat, war der wertvollen römischen Gliederpuppe aus Elfenbein, deren Besitzerin Crepereia Tryphaena um 170 n. Chr. verstarb, eine Ausstattung mit Schmuckstücken, Silberspiegel und Elfenbeinkämmen in Miniaturformat beigegeben (Bild 41). Aus edlem Material gefertigt, verweist diese Gliederpuppe auch durch ihre Gaben in Puppenformat auf wertvolle Konsumgüter von Erwachsenen.164 Im Kinderspielzeug spiegelt sich seit jeher ein material- und objekt­ge­ bundenes, gesellschaftlich geprägtes Ideal, das ‚spielerisch‘ auf das Kind übertragen wird. Die Miniaturausstattung der griechischen Kindergräber lassen

Bild 127  Kinderpuppe Steffi LOVE – Welcome Baby, 2014, Kunststoff, ca. 29 cm, Simba Toys. 164

Vgl. Kap. I.1.c) Crepereia Tryphaena.

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I  Kult

ihrerseits auf die Intention einer materiellen Ausstaffierung der zu jung Verstorbenen schließen, wobei die Objektkonglomerate als substitutive Aus­steuer angesehen werden.165 Die griechischen Tänzerinnenpuppen der klassischen Antike zeigen sich schließlich mit Puppen des 21. Jahrhunderts insofern verwandt, als beide Schönheits- und Verhaltensideale inkorporieren und durch ihre normierte Ge­stalt verstetigen. Indem gegliederte Spielpuppen als Begleiter ihrer meist kindlichen Besitzer erscheinen, stellen sie ein primäres Prägungsmedium der Heranwachsenden dar.166 Nach einer auffällig reliktlosen Zeit sind erst seit dem Spätmittelalter Zeugnisse einer Produktion von gegliederten Spielpuppen greifbar, die sich von einförmigen, aus einem Stück gearbeiteten oder mithilfe einer festen Modelform gegossenen Puppen abgrenzen.167 Im 15. Jahrhundert war Nürnberg, als eine Hochburg der ‚Docken‘, für die Fertigung derartiger Holzpuppen mit einzeln beweglichen Gliedern bekannt. Dockenmacher wie die Meister Ott und Meß sind 1413 und 1465 urkundlich erwähnt.168 Einen Vertreter dieser Zunft zeigt ein Holzschnitt aus dem heilkundlichen Hortus Sanitatis von 1491 (Bild 128): Mit prüfendem Blick bearbeitet der Schnitzer den Oberkörper einer einfachen Holzfigur mithilfe eines länglichen Schneidewerkzeugs. Beine und Unterarme werden offenbar in einem nächsten Schritt gefertigt und angefügt, desgleichen bei zwei weiteren Puppen, die auf einem Tisch auf ihre Fertigstellung warten.169 Wenngleich in vorausgehenden Zeiten Gliederpuppen aus anderen Funktionsbereichen in die Sphäre des kindlichen Spiels eintraten,170 mani-

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Vgl. Schwarzmaier: „Ich werde immer Kore heißen“, S. 175–227; Andres: Die Antikensammlung, S. 21. Zu dieser bis heute anhaltenden Bedeutung der Spielpuppe vgl. zuletzt Insa Fooken: Puppen – heimliche Menschenflüsterer. Ihre Wiederentdeckung als Spielzeug und Kulturgut, Göttingen 2012. Quellen aus dem 12.–14. Jahrhundert verweisen auf die Herstellung von Stoff- und Hanfpuppen. Vgl. Michel Manson: Diverses approches sur l‘histoire de la poupée du XVe au XVIIe siècle, in: Philippe Aries/Jean Claude Margolin (Hg.): Les Jeux à la Renaissance, Paris 1982, S. 525–551. Weitere Puppenherstellungszentren neben Nürnberg waren Oberammergau, Berchtesgaden sowie das Grödnertal. Vgl. Manfred Bachmann, Claus Hansmann: Das große Puppenbuch, Leipzig 1971, S. 42. Zu den in der zeitgenössischen Literatur erwähnten ‚Docken‘ siehe: Ignaz Zingerle: Das deutsche Kinderspiel im Mittelalter, Innsbruck 21873, S. 132–135. Sehr viel einfacher gearbeitet und dadurch auch weniger kostspielig waren die über einhundert Pfeifentonpüppchen aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die 1859 unter dem Nürnberger Straßenpflaster ausgegraben wurden. Siehe: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, Kat. 12, S. 57. Jacob Meydenbach: Hortus Sanitatis, Mainz 1491, Tractatus de lampidibus, Blatt aaii verso. Vgl. Fraser: Puppen, S. 22. Vgl. Manson: Diverses approches, S. 526.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 128  Hortus Sanitatis, Puppenmacher, 1491, Holzschnitt, Meydenbach-Ausgabe Mainz, Tractatus de lampidibus, fol. Aaii.

festiert sich hier durch Quellen und erhaltene Stücke erstmals seit der Antike der Berufszweig des Puppenmachers, der die gegliederten Geschöpfe primär zur kindlichen Unterhaltung und Zerstreuung herstellt.

Ty p e n geg l ie der ter Spielp up p e n Aufgrund der äußerst heterogenen Erscheinungsformen von Spielpuppen scheint ihre Definition zunächst über eine Annährung ex negativo legitim, indem sie als anthropomorphe Objekte beschrieben werden können, denen keine ‚übergeordnete‘ oder singuläre Bestimmung zugeeignet ist. Ihre Funktion als Reflektionsgestalt entwickelt sich erst im individuellen spielerischen Umgang. Weit mehr als ihre naturgetreue Wiedergabe ist ihre materielle Präsenz, ihre haptische Greifbarkeit und ihre Variabilität aber auch ihre Anpassung an Wirklichkeitsmomente ebenso wie an phantastische Szenen von entscheidender Bedeutung.171 Wie Claudia Peppel betont, ist die Spielpuppe als „Darsteller, Funktionsträger sowie als Element von Inszenierungen immer der Wirklichkeit und der Imagination verpflichtet.“172

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Vgl. Martin Schulz: Körper sehen – Körper haben? Fragen einer bildlichen Repräsentation, in: Hans Belting/Dietmar Kamper/Martin Schulz (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 1–25, hier S. 18. Vgl. Peppel: Der Manichino, S. 122 mit Verweis auf Renate Berger: Metamorphose und Mortifikation: Die Puppe, in: dies./Inge Stephan (Hg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur, Köln 1987, S. 265–290, hier S. 265 f.

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I  Kult

Die dem Spiel übereignete Gliederpuppe äußert sich zuvorderst in Gestalt der Kinderspielpuppen. Als Simulationsfigur dient sie der Adaption kindlich erlebter Lebensumstände und Normen, indem sie ermöglicht, diese spielerisch zu reflektieren und einzuüben.173 Die Gliederpuppe erweist sich dabei als ein besonderer Typ der Spielpuppe, indem ihr eine Grundausstattung an Bewegungsschemata eignet, um damit die Verlebendigungsmomente im Spiel zu befördern. Primär auf die Unterhaltung von Kindern bezogen, sind Gliederpuppen auch sporadisch für die spielerische Zerstreuung von Erwachsenen belegt und werden in einer distanzbewegten Sonderform als Marionette zur Unterhaltung und kunstvollen Inszenierung bis heute geschätzt. Werden anthropomorphe Spielobjekte im Rahmen einer Gattungsgeschichte der Gliederpuppe beleuchtet, ist das diesbezügliche Korpus ebenso umfangreich wie es im Kern die zentrale Funktion der Gattung trifft: Als Spielobjekte vollziehen Gliederpuppen die ihnen ureigene Grundbestimmung der beweglichen Variabilität in permanenter Anwendung. Die bereits aus historischer,174 soziologischer175 oder auch verhaltenspsychologischer176 Sicht erarbeitete Kulturgeschichte der Spielpuppe und des Puppenspiels richtet den Blick vornehmlich auf die Formentwicklung der Puppe und die mit ihr verbundene Trias ‚spielen‘ – ‚simulieren‘ – ‚sammeln‘. 173

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Insofern sind die frühesten beweglichen anthropomorphen Gebilde bereits als reine Spielpuppen gedeutet worden, ohne dabei jedoch eine kultische Bedeutung in Betracht zu ziehen. Vgl. Lamboley: Les poupées à travers les siècles, S. 419. Besonders Michel Manson hat sich der intensiven Untersuchung der historischkulturellen Bedeutung der Puppe und des Kinderspielzeugs angenommen. Vgl. insbesondere seine Metastudie über die verschiedenen interdisziplinären Analyseformen im Lichte unterschiedlichster Kulturepochen der Puppe: Michel Manson: La poupée, objet de recherches pluridisciplinaires. Bilan, méthodes et perspectives, in: Histoire de l’Education 18 (April 1983), S. 1–23 sowie in zeitlicher und thematischer Engführung ders.: La poupée et le tambour, ou de l‘histoire du jouet en France du XVIe au XIXe siècle, in: Egle Becchi/Dominque Julia (Hg.): Histoire de l‘Enfance en Occident, Bd. 1 („De l‘Antiquité au XVIIe siècle“), Paris 1998, S. 432–464; ders.: Jouets de toujours de l’Antiquité à la Révolution, Paris 2001; ders.: Pinocchio, Pygmalion et la Poupée, in: Jean Perrault (Hg.): Pinocchio. Entre texte et image, Brüssel 2003, S. 101–114. Einen Überblick über die historischen Puppenformen vermitteln zudem: von Boehn: Puppen; Fraser: Puppen; Caroline Goodfellow u. a. (Hg.): Das große Buch der Puppen. Über 400 Puppen aus zwei Jahrhunderten, München 1998. Jürgen Fritz: Spiele als Spiegel ihrer Zeit. Glücksspiele, Puppen, Tarot, Videospiele, Mainz 1992, Kap. 3: Puppen – Spiegelbild des Menschen und seiner Gesellschaft, S. 63–92. Hilarion Petzold (Hg.): Puppen und Puppenspiel in der Psychotherapie, München 1983; Simon Blajan-Marcus: Die therapeutischen Puppen, in: Integrative Therapie 9/1 (1983), S. 20–28; Madeleine Rambert: Das Puppenspiel in der Kinderpsychotherapie, München 1988; Hans Mogel: Psychologie des Kinderspiels. Von den früh­ esten Spielen bis zum Computerspiel, Heidelberg 32008; Fooken: Puppen – heimliche Menschenflüsterer m. weiterer Lit.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

In die Gattung der Gliederpuppe treten wiederum all jene Spielpuppen ein, die sich in ihrer Machart zwischen der unbeweglichen Rumpfpuppe ohne Gestaltveränderungspotential und der vollbeweglichen Automatenpuppe mit vorprogrammiertem Bewegungsmuster ansiedeln. Über einfache Draht- und Scharniergelenke oder komplexere Kugelgelenke beweglich, ist ihnen grundsätzlich ein gesteigertes Maß gestalterischer Flexibilität gegeben. Im Folgenden sollen vier Hauptkategorien gegliederter Spielpuppen vorgeschlagen werden: 177 1. miniaturisierte Erwachsenenpuppen für Kinder, demnach Puppen, die dem Erscheinungsbild von Adoleszenten oder Erwachsenen entsprechen, um ‚erwachsene‘ aber auch phantastische Handlungssimulationen zu ermöglichen; 2. Baby- oder Kinderpuppen für Kinder und Heranwachsende, die durch diese mit der Elternrolle betraut werden; 3. Puppen für Erwachsene, die der privaten Zerstreuung und Unterhaltung dienen sowie, als eine Sonderform, 4. von ferner Hand geführte Marionetten, demgemäß durch Fäden oder Stöcke aus der Distanz bewegte Gliederpuppen.

G eg l ie der te E r wac h s e ne np up p e n de s k i nd l ic he n Spiel s Die gegliederten Tänzerinnen aus Ton der griechischen Antike besitzen den Leib junger Frauen in geschlechtsreifem Alter, um damit das Bild der tanzenden parthenos wiederzugeben und gesellschaftlich zu festigen (Bild 25). Den männlichen Gegenpart bilden Kriegerpuppen, deren athletischer Leib vom Inbegriff des wehrhaften Kämpfers zeugt (Bild 28). Diese Gliederpuppen dienten mitnichten nur einem unbedarft-ziellosen Zeitvertreib, indem ihnen ein gesellschaftliches Körperideal eingeschrieben wurde. Als spielerisch eingesetzte Gliederpuppen waren sie durch ihre determinierte Indienstnahme gesellschaftlicher Rollen auf einen spezifischen Handlungsrahmen beschränkt. In der Folge sollten desgleichen die römischen Gliederpuppen, die keine spezifischen Verrichtungen vorgeben, und somit in das weiter gefasste Feld des unvermittelten Spiels ein177

Die bisherige Puppenforschung trifft eine kategorielle Unterscheidung zwischen Trödler- und Handarbeitspuppen, „Automatenpuppen“ (also etwa Lauf- und Sprechpuppen), die durch ihre Form distinkten, sporadisch auftretenden monströsen oder phantastischen Puppen, unterschiedlichsten Sammelpuppen (aus Stoff, Wachs Porzellan und Biskuit), Charakterpuppen oder jene von besonders geschätzter Hand hergestellten Objekte wie die Steiff-, Schildkröt- oder Käthe-Kruse-Puppen. Die hier vorgenommene Unterscheidung zielt indes auf die grundsätzliche Erscheinung der gegliederten Spielpuppen.

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I  Kult

Bild 129  Isaac Claes van Swanenburg: Catharina van Warmondt, 1596, Öl/Lw., 81 × 62 cm, Museum Meermanno, Den Haag.

treten, durch langgestreckte, teils überlängte Proportionen nicht dem kindlichen, sondern dem Erwachsenenkörper entlehnt sein (Bild 46).178 Auch den seit dem späten 15. Jahrhundert greifbaren gegliederten Spielpuppen ist gemein, dass sie nicht als Kind, sondern als kleine Erwachsene verwirklicht scheinen.179 Neben der offenbar ursprünglich als Modepuppe verwendeten Spielgefährtin der Arabella Stuart (Bild 104) geben sich ebenso die Puppen der zweijährigen Catharina van Warmondt (1594–1668) (Bild 129) wie jene eines nur kaum älteren Mädchens aus selber Zeit (Bild 130) als erwachsene Zukunftsbilder ihrer Besitzerinnen zu erkennen. Im Falle des letztgenannten, 1591 entstandenen Bildnisses eines unbekannten Malers ist die kleidungs-

178 179

Vgl. Kap. I.1.c). Vgl. Barbara Krafft: Traumwelt der Puppen. Die Seele sammelt, was der Blick verleiht, in: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. ders., München 1991, S. XI–XX, hier S. XII f.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 130  Anonym: Bildnis einer Dreijährigen mit Puppe, 1591, Fries Museum, Leeuwarden.

gebundene Äquivalenz durch einen ostentativen Zeigegestus noch gesteigert: wie diese Puppe will einmal das junge Mädchen als stattliche Frau erscheinen. An den unterschiedlichen Armhaltungen derartiger Puppendarstellungen ist unverkennbar, dass es sich hier um variable Gliederpuppen handelt. Sie unterscheiden sich deutlich von den mannigfach beobachtbaren Docken, den blockhaften Rumpfpuppen, wie sie vielerorts als Kinderspielzeug Mitte des 16. Jahrhunderts in Erscheinung traten – so auch in allegorischen Darstellungen wie der Caritas von Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553).180 Die im Grödnertal seit dem 16. Jahrhundert nachweisbare Puppenproduktion wurde durch eine ebenso charakteristische wie vereinfachte Gliederpuppe berühmt: Die langgestreckten, hölzernen Figuren verfügen über Scharniergelenke in den Ellenbogen, den Becken- und Kniegelenken und zeigen meist 180

Lucas Cranach d. Ä.: Caritas, 1537–1550, Öl auf Holz, 56,3 × 36,2 cm, Inv. Nr. NG2925, National Gallery, London.

220  

I  Kult

das Antlitz junger Frauen (Bild 131).181 Durch Bekleiden wurden die ungefassten Partien überdeckt, was den Eindruck einer multifunktionalen Spielfigur zusätzlich erhöhte. Diese über die Niederlande als Dutch Doll bis nach England importierten Puppen zeigen sich verwandt mit dem dort im 17. Jahrhundert entwickelten Holzpuppentyp der William-and-Mary-Puppe.182 Ein derartiges, aus der Sammlung Dina Vierny in Paris stammendes weibliches Exemplar aus Holz ist in Hüft- und Kniegelenken beweglich und im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Puppen nicht im edlen Festgewand, sondern in Alltagskleidung erhalten (Bild 132). Sie ergänzt das Bild der Erwachsenenpuppe, die Kindern standesübergreifend als Spielpuppe fungierte. In den als Erwachsene verbildlichten Spielgefährten offenbart sich die ambivalente Bedeutungsdimension der Puppe, die einerseits dem genuinen Spieldrang des Kindes nachkommt, um die hierbei vollzogene Simulation jedoch durch eine Zielvorstellung der Gesellschaft zu besetzen. Erst durch die Aufklärung sollte sich im Europa des 18. Jahrhunderts das gesellschaftliche Bild eines eigenständigen Lebensstadiums ‚Kindheit‘ und einer damit verbundenen altersgemäßen Erziehung entwickeln, womit der spät keimende Samen für die zweite Kategorie der kindlichen Puppe als altersgemäßes Gegenüber gesät wurde.183 Nach den für das Rokoko typischen Hybridpuppen, mit kindlichen Köpfen auf erwachsenen, modisch gekleideten Körpern, entwickelte sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Babypuppe. Insofern erscheinen die Mitte desselben Jahrhunderts zutage tretenden Erwachsenenpuppen zugleich als Renaissance wie als Revolte. Eine zunächst in Deutschland als Lilli beworbene Frauenpuppe wurde 1959 von der Firma O&M Hausser an den Mattel Konzern verkauft und seither als Barbie vermarket. Zu Beginn ihrer Entwicklung war für diese Gliederpuppe ein neuartiges Hüftgelenk patentiert worden, das eine ge­ spreizte Sitzhaltung verhindern und zugleich eine dynamische Schreitbewegung

181 182 183

Vgl. Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, S. 65; zu weiteren hölzernen Puppentypen derselben Zeit vgl. Hillier: Puppen und Puppenmacher, S. 65–79. Vgl. Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, zur Dutch Doll S. 230 sowie zur Williamand-Mary-Puppe als Vorläuferin der George-II-Puppe S. 224 f., Kat. 243 f. Vgl. ebd. Der sich im 18. Jahrhundert vollziehende, namentlich mit der Philosophie Jean-Jacques Rousseaus (und dabei mit seinem Schlüsselroman Émile ou De l’éducation, 1762) verbundene Wandel des Verständnisses unterschiedlicher Lebensalter, und mithin einem im modernen Sinne begriffenen Kindheitsstadium, wurde von den Literatur- und Erziehungswissenschaften im Kern erforscht. Vgl. Hartmut von Hentig: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit, München 2004; Alfred Schäfer: Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt, Beltz 2002. Zur sozialisierenden Funktion der Spielpuppe vgl. Donald W. Ball: Toward a Sociology of Toys. Inanimate Objects, Socialization, and the Demography of the Doll World, in: Sociological Quarterly 8/4 (1967), S. 447–458.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 131  Grödnerpuppen, 18./19. Jh., Holz, Museum Ghërdeina, St. Ulrich in Gröden.

Bild 132  William-and Mary-Puppe, um 1690, Holz, 37 cm, Sammlung Dina Vierny, Paris.

Bild 133  Patent-Fotografie zur Demon­ stration des Körperbaus und der Gelenkkonstruktion der Bild-Lilli, 1955, Firma O&M Hausser.

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I  Kult

erlauben sollte (Bild 133).184 Ursprünglich unter anderem als Hängepuppe für die Rückspiegel der Autos ihrer erwachsenen Kunden konzipiert,185 war dieser miniaturisierten, gegliederten Frauengestalt eine Karriere als Sexsymbol, Modetrendsetter und Kinderidol beschieden. Mit über einer Milliarde verkaufter Exemplare ist sie heute die am weitesten verbreitete Gliederpuppe der Welt, die nicht zuletzt einen eigenen ‚Kult‘ hervorgebracht hat.186

G eg l ie der te K i nder- u nd Baby p up p e n In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts übertrafen sich die Puppeningenieure durch Patente, die nicht nur den Nährboden einer industriellen Fertigung bereitstellten, sondern Material, Erscheinung und Beweglichkeit der gegliederten Spielpuppen grundlegend veränderten. Der Pariser Puppenmacher Léon Casimir Brû (1837–1918), der sich zwei Jahre zuvor bereits eine Puppe mit zwei drehbaren Gesichtern hatte schützen lassen, reichte 1869 das Patent für eine vollbewegliche Kindergliederpuppe aus modelliertem Gummi ein. Dieser Bautyp mit konsequent über Kugelgelenke vermittelten Bewegungspotentialen aller Extremitäten sowie einer zentralen Bauchkugel bedeutete für die Variabilität dieser Gliedergestalten eine neue Etappe (Bild 134). Der anthropomorphe Leib bot nun potentiell mögliche, aber auch unmögliche Haltungen und Figurationen.187 Während die Puppen des 18. Jahrhunderts bereits teilweise über einen kindhaft-runden Kopf verfügten, sollte sich dieser Typ im Laufe des 19. Jahrhunderts in Form der Parisiennes oder Poupées mit kindlichen Biskuitköpfen 184 185 186

187

Vgl. Barbara Krafft: Das Phänomen Barbie, in: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. dies., München 1991, S. 346–351. Ebd., S. 346. Vgl. Fooken bezeichnet die Barbie als „die umstrittenste Mädchen- und Modepuppe aller Zeiten“, als „Kult- und Fantasiefigur zugleich“. Fooken: Puppen, S. 143 f. Vgl. zudem Iris Kahl: Barbie – eine Kinderwelt? Ein mode-orientiertes Spielzeug – fachdidaktisch analysiert, in: Textilarbeit & Unterricht 67/4 (1996), S. 211–219; Mary F. Rogers: Barbie Culture, London 1999; Frédéric Beigbeder: Barbie, Paris 2005. Zwar wurde Barbie mit der Spielfigur Ken ein männliches Pendant beigegeben, doch sollten vielmehr G.I. Joe, H-Man oder Batman, erwachsene Helden in Form gegliederter Action-Puppen, den Zuspruch der männlichen Heranwachsenden erhalten. Vgl. Jane Case-Smith, Heather Miller Kuhaneck: Play Preferences of Typically Developing Children and Children with Developmental Delays between ages 3 and 7 years, in: OTJR. Occupation, Participation And Health 28/1 (2008), S. 19–29. Damit konnten im kindlichen Spiel auch phantastische und groteske Figurationen herbeigeführt werden. Des Weiteren wurden die Puppen mit Mechanismen ausgestattet, durch welche die Augen bewegt werden konnten oder die sie befähigten, zu sprechen oder zu trinken. Vgl. Hillier: Puppen und Puppenmacher, S. 184–195. Zu den mannigfachen Aufrüstungen der gegliederten Spielpuppe im 19. Jahrhundert zur selbsttätige Automate vgl. Wipfler: Gliederpuppe, III. A.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 134  Léon Casimir Brû: Patent für eine vollbewegliche Puppe, 1896.

verstetigen. Zugleich wurde in Frankreich um 1850 die Puppenform des Bébé populär, eine aufwendig gearbeitete Gliederfigur mit dem Körper eines Kleinkindes (Bild 135). Bislang häufig als erste Babypuppe gedeutet, verbildlichte dieser Typ jedoch noch nicht die Proportionen eines Säuglings.188 Erst um 1910 entstanden die ersten Babypuppen, die durch ihre krummen Gliedmaßen und den rundlichen Bauch den Körper eines wenige Monate alten Kindes aufweisen (Bild 136).189 Aufgrund ihrer Sitz- und Armhaltung, besonders jedoch durch die Gestaltung und bewegliche Einfügung des Kopfes in den Rumpf, ergeben sich bei diesem frühkindlichen Gliederpuppentyp verblüffende Ähnlichkeiten zu der römischen Adorantenpuppe aus Ton (Bild 49). Mit den Babypuppen vervollständigte sich die bis heute angebotene Produktpalette an gegliederten Spielpuppen unterschiedlichen Alters. Die frühen ‚Charakterpuppen‘ verliehen, nach anfänglicher Entrüstung, der Puppenfertigung einen zusätzlichen Schub, indem nun nicht mehr modi-

188

189

Vgl. Barbara Krafft: Französische Porzellanpuppen, in: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. ders., München 1991, S. 204–214, hier S. 204; Hillier: Puppen und Puppenmacher. S. 170. Vgl. Jürgen und Marianne Cieslik: Puppen-Handbuch, Bad Honnef 1976, S. 308 f.

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I  Kult

Bild 135  Émile Jumeau: Bébé Jumeau, um 1902, BiskuitKopf, Körper aus Mischmasse, KugelgelenkGlieder aus Holz, 52 cm, Musée Roybet-Fould, Courbevoie. Bild 136  Kämmer & Reinhardt: Charakterbabies, um 1909, Biskuit-Kopf, Körper aus Mischmasse, jeweils 36 cm, Privatbesitz.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 137  Francisco de Goya: El Pelele, 1791/1792, Öl/Lw., 267 × 160 cm, Inv. Nr. P00802, Museo del Prado Madrid.

sche Kleiderausstattung, Beweglichkeit und technische Finesse, sondern auch eigene, ausgeprägte Physiognomien geschätzt und zunehmend auch von Sammlern eingefordert wurden.190 Zwar weisen bereits die teilweise überaus kostspieligen Puppen des 18. Jahrhunderts eine sowohl dem Spielbedürfnis als auch der Sammelleidenschaft geschuldete Ausgestaltung und Ausstattung auf. Die Charakterpuppen sollten diese nachgeordnete Intention der Puppenproduktion indes entscheidend vorantreiben. In ihrer Gestaltgebung fußten die als Spiel190

Vgl. Antje Lode: Die Charakterpuppe, in: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 250–251.

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und Sammelpuppen fungierenden Kinderpuppen dabei vielfach auf Entwürfen von lebenden, aber auch von verstorbenen Künstlern: der erste Entwurf von Puppe I, jener Charakterpuppe der weltweit bekannten Gestalterin Käthe Kruse (1883–1968), basierte unmittelbar auf einem Puttenkopf von François Duquesnoy (1597–1643), der nunmehr im kindlichen Spiel zum Leben erweckt wurde.191

P up p e n f ü r E r wac h s e ne Durch die hinzugewonnene Bedeutungsebene des Sammelns wurden Spielpuppen zum hochpreisigen Kulturgut.192 Doch auch in der neuzeitlichen Spielkultur von Erwachsenen sind Puppen anzutreffen. Eine der bekanntesten Darstellungen, die ein Gesellschaftsspiel mit einer Puppe zeigt, ist das Gemälde El Pelele von Francisco de Goya (1746­–1828):193 Im locus amoenus einer fruchtbaren Parklandschaft schwingen vier junge, in traditioneller Tracht gekleidete Frauen ein großes quadratisches Tuch, um damit eine männliche Harlekinspuppe aus strohgefüllten Kleidern wild durch die Luft zu wirbeln (Bild 137). Das sich auf den Gesichtern abzeichnende Amüsement zeugt von der Freude angesichts der heftigen Verrenkungen des wehrlosen Puppenmannes – eine spielerische Bestrafung in effigie.194 Dessen unglückliche Situation verweist im Speziellen auf den passiv von weiblichen Machenschaften Gelenkten, während sie im Allgemeinen auf den von fremden Mächten Heimgesuchten anspielt.195 Zwar kann bei dieser traditionell aus mit Stroh gefüllten Kleidern gefertigten, und damit gelenklosen Puppe nicht von einer Gliederpuppe im engeren Sinne gesprochen werden. Den-

191 192

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Vgl. ebd. sowie Barbara Krafft: Käthe-Kruse-Puppen, in: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. ders., München 1991, S. 268–279, hier S. 269 f. Bei der Christie’s Sonderauktion „Barbie: 1959–2002. The Ietje Raebel and Marina Collection“ am 26.9.2006 (Sale 5075) erzielte die Barbie in Midnight Red von 1965 einen Preis von 9000 £ (11.500 €), während am 24.9.2014 eine Kämmer & Reinhardt-Puppe bei der „Fine and Rare Character Dolls-Auktion“ von Bonhams für 242.500 £ (307.663 €) verkauft wurde (Auktion 22200). Vgl. José Manuel Arnaiz: Francisco de Goya. Cartones y tapices, Madrid 1987, S.  166–171; Janis Tomlinson: Francisco de Goya. Los cartones para tapices y los comienzos de su carrera en la corte de Madrid, Madrid 1993, S. 268–270. Victor I. Stoichita, Anna Maria Coderch: Goya. The Last Carnival, London 1999, S. 75 ff. In der Vorstudie ist eine andere Haltung der Puppe zu beobachten, die dort – aufrechter und in Schrittstellung – eine deutlich aktivere, partizipierende Rolle einzunehmen scheint. Das um 1791/1792 geschaffene Bild entstammt einer Serie von allegorisierenden Wandteppichentwürfen, die Goya für Carlos IV. von Spanien (1747–1819) anfertigte. Es ist Teil der siebten Serie der geplanten Tapisserien, in welcher Goya, im Gewand fröhlicher Unterhaltungsszenen, gesellschaftliche Problemkonstellationen verbildlichte. Die herumgewirbelte Puppe sollte möglicherweise auf die passive Rolle des regierungsschwachen Königs anspielen. Vgl. ebd.

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3. Gliederpuppen als profane Stellvertreter

Bild 138a–c  Puppenpaar, Erwachsenenspielzeug (?), 2. Hälfte 18. Jh., Holz, 23 bzw. 26,5 cm, Collection de Galéa, Musée National de Monaco.

noch verweist die Szene exemplarisch auf eine reale Tradition von puppenbasierten Gesellschaftsspielen, die nicht nur von Kindern praktiziert wurden. Eines der bekanntesten Beispiele, das Spielpuppen für Erwachsene in einem aufwendigen Komplex vereint, ist die Puppenstadt „Mon plaisir“ der Fürstin Auguste Dorothea von Schwarzburg (1666–1751). Nach dem Ableben ihres Mannes Anton Günther II. von Schwarzburg-Sondershausen (1653–1716) schuf die Fürstin im Lustschloss Augustenburg über Jahrzehnte ein Puppenkabinett, mit Puppenstuben gemäss dem zeitgenössischen höfischen Interieur sowie Szenerien der ländlichen Umgebung. Das in die Tradition der Kunst- und Wunderkammer einfließende Arrangement wurde jüngst als eindrucksvolles dreidimensionales Selbstzeugnis der Regentin bestimmt.196 Explizit für die Hände Erwachsener gefertigt erscheinen Gliederpuppen mit besonders ausgeformten Geschlechtsmerkmalen, die als frivoles Spielzeug Einsatz fanden. Ein heute im Musée National de Monaco erhaltenes Puppenpaar aus Holz erweist sich als ein derartiges Erwachsenenspielzeug (Bild 138a–c). Die 23 cm und 26,5 cm großen Gliederpuppen stammen aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und treten als Pendants mit deutlich ausformulierten Geschlechtsmerkmalen auf: die Frau mit hoch sitzenden, kugeligen Brüsten und einer anatomisch unnatürlich nach unten gezogenen Vagina, der Mann mit Hoden, Penis und aufgemalter Schambehaarung. Sowohl das einfache Gliederungsverfahren

196

Vgl. Annette Caroline Cremer: Mon Plaisir. Die Puppenstadt der Auguste Dorothea von Schwarzburg (1666–1751), Köln/Weimar/Wien 2015 m. weiterer Lit.

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der Arme und Beine über Knüpfgelenke als auch die rohe Erscheinung der geschnitzten Kopf- und Körperpartien lassen auf einen ursprünglich unterhalterischen Wert der Figuren schließen.197 Durch derart exponierte geschlechtsspezifische Merkmale zeichnen sich auch heutige Gliederpuppenformen aus, die vornehmlich der Erwachsenenunterhaltung zugedacht sind, etwa die Gliederfiguren der Serie Enchanted Doll der russisch-kanadischen Puppenkünstlerin Marina Bychkova (Bild 139). Die feingliedrigen, elfengleichen Porzellanpuppen, die in drei Kategorien – Costumed Dolls, Nude Dolls und Tattooed Dolls – angeboten werden, verblüffen ob ihrer geringen Größe von rund 35 cm durch eine detailgetreue Naturnähe, die auch auf einem aufwendigen System aus teilweise aneinandergereihten Kugelgelenken beruht. Explizit ausgeformte und kolorierte Geschlechtsmerkmale verweisen ebenso wie thematische Zuspitzungen verletzter oder allegorisch aufgeladener Gliederpuppen auf die anvisierte erwachsene Zielgruppe.198 Bychkovas Puppen bilden die kunstvolle Spitze einer kaum überschaubaren Palette von gelenkigen Fantasyund Mangapuppen, die, als Fortentwicklung der Actionpuppe für Kinder, zunehmend auch eine erwachsene Spiel- und Sammlerklientel erreicht. Zwischen erotischem Spiel und persönlichem Fetisch sind schließlich die lebensgroßen Bild 139  Marina Bychkova: Erwachsenenpuppen angesiedelt, die als artifiAnna Karenina Survives The zieller Partnerersatz dienen sollen. Die Realität Train, 2010, Porzellanpuppe mit Kugelgelenken, 34 cm, gewordenen Pygmalionvisionen verweisen auf Privatbesitz. (Farb­tafel 10) den Wunsch, im unbelebten anthropomorphen Gegenüber ein verlebendigtes Wesen zu erspüren und dieses zu beleben. Als frühes und zugleich berühmtestes Beispiel erlangte die 1918 von Hermine Moos (1888–1928) für Oskar Kokoschka (1886–1980) gefertigte gegliederte Fellpuppe Berühmtheit, als sehnlich erwünschtes (und 197 198

Vgl. Ausst. Kat. Traumwelt der Puppen, S. 71. Vgl. Kathleen Rowell: Spotlight on Enchanted Dolls, in: HauteDoll Magazine 5 (2008), S. 106–113.

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Bild 140  Hermine Moos mit Kokoschkas Puppe, 1919. Fotografie, Hochschule für angewandte Kunst, Wien.

bitter enttäuschendes) Substitut der Geliebten Alma Mahler (1879–1964) – eine ebenso verstörende wie faszinierende Gestalt (Bild 140).199 Der gefüllte Stoffüberzug wurde von einem inneren Skelettgerüst gestützt, das der Puppe unterschiedlichste Haltungen, Gesten und Positionierungen ermöglichte. Noch heute werden derartige hochvariable Skelette für lebensgroße Menschenpuppen hergestellt (Bild 141). Doch ist es nicht mehr flauschiges Fell, sondern Silikon, das die Gliederkonstruktion der aufgerüsteten Erwachsenenpuppen mit dem Namen RealDolls ummantelt.

M a r ione t te n Marionetten sind transformierte Gliederpuppen, deren leichte Glieder über ein Vermittlungssystem aus Fäden, Sehnen, Drähten oder Stöcken in Bewegung versetzt werden (Bild 142). Mit der Marionette begründet sich die eigenständige darstellende Kunstform des Puppenspiels.200 Durch diese Sonderform wird die 199

200

Vgl. Ausst. Kat.: Oskar Kokoschka und Alma Mahler. Die Puppe. Epilog einer Passion, hg. v. Klaus Gallwitz, Frankfurt a. M. 1992; Peter Gorsen: Kokoschka und die Puppe, pygmalionistische und fetischistische Motive im Frühwerk, in: Oskar Kokoschka: Symposion, abgehalten von d. Hochschule für angewandte Kunst in Wien vom 3. bis 7. März 1986 anläßlich des 100. Geburtstages des Künstlers, Erika Patka (Red.), Salzburg 1986, S. 187–202; zur Zerstörung der Puppe vgl. Peter Gorsen: Sexualästhetik. Grenzformen der Sinnlichkeit im 20. Jahrhundert, Hamburg 1987, S. 258. Der französische Begriff ‚Marionette‘, dessen Ursprünge auf mariologische Devotionarien zurückgehen, wird erstmals 1556 in Girolamo Cardanos De la subtilité et subtiles inventions als Bezeichnung für eine animierte Figurine verwendet. Als grundlegende Publikationen zur Genese und Geschichte der Marionette erschien vor wenigen Jahren die umfassende Encyclopédie Mondiale des Arts de la Marionette, hg. v. Henryk Jurkowski/Thieri Foulc, Montpellier 2009 mit einer generellen sowie einer thematisch spezifizierten Bibliographie. Zur Begrifflichkeit Vgl. ebd.,

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Bild 141  RealDolls-Fertigung, 2014, Gliederskellet mit Kautschukhülle, Abyss Creations San Marcos, CA.

Gattung der Gliederpuppe vom unmittelbar manuellen Einsatz in eine scheinbar eigenbewegte Form überführt. Dabei wird ein Grundparameter der Spezies, der sich im unmittelbaren manuellen Austausch mit der variablen Gliedergestalt manifestiert, stets nur mittelbar verwirklicht. Die Marionette erweist sich darüber hinaus insofern als janusköpfig, als sie nur in hängender Position oder bewegter Anwendung als lebendige Gestalt erscheint, während sie ohne ihr Tragesystem zu einem unbelebten Gliederhaufen gerinnt. Indem sich die Marionette vom unmittelba­ren Handkontakt entfernt, erlangt sie eine gleichsam eigenmächtige Bewegungsgewalt, die jedoch nicht dem mechanisch vorprogrammierten Bewegungsablauf einer Automate entspricht: der Puppenspieler kann Bewegungen nach eigenem Ermessen mehrfach oder in einer bestimmten Manier spontan ausführen. Insofern zeigen sich auch die über Seile beweglichen Christusfiguren oder Jesuskinder des Spätmittelalters mit der Marionette verwandt, indem Augen, Zunge oder Kopf der Skulpturen durch ein schnurbasiertes Lenksystem in Bewegung versetzt werden konnten.201 Die antiken neurospasmata sollten nicht nur als Beschreibungen wichtiger Kult- und Unterhaltungsmedien Eingang in die klassische Literatur fin-

201

Lemma Marionnette, S.  456–461. Unter den jüngeren Veröffentlichungen zum modernen Puppentheater vgl. Ernst-Frieder Kratochwil: Deutsches Puppen- und Maskentheater seit 1900, Berlin 2012 sowie zur Ästhetik des Marionettenspiels: Steve Tillis: Towards an Aesthetic of the Puppet. Puppetry as a Theatrical Art, New York/London 1992. Zu den beweglichen Christusfiguren vgl. o., Kap. I.2.a) Mirakelmann-Typus.

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den,202 sondern vielfach auch als allegorische Figuren in Erscheinung treten.203 Aus der von Herrad von Landsberg (um 1130–1195) im ausgehenden 12. Jahrhundert verfassten Enzyklopä­ die Hortus Deliciarum, eine zum klösterlichen Unterricht bestimmte Sammlung von weltli­chen und theologischen Weisheiten, stammt indes die älteste bildliche Darstellung von einfachen Marionetten an Ziehfäden, die wiederum als Sinnbild menschlichen Handelns gedeutet werden können (Bild 143).204 Als darstellendes Medium ist die Marionette seit vielen Jahrhunderten in Asien, Afrika und Europa bekannt. Seit dem Mittelalter kam das Puppentheater nicht mehr zum Erliegen: im Bild 142  Schematische Darstellung einer Faden-Marionette. 202

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Vgl. Lemma Neurospaston, in: Dictionnaire des Antiquités Grecques et Romaines […], hg. v. Charles Victor Daremberg/Edmond Saglio, Paris 1877–1919, Bd. IV, S. 76 f. (Georges Lafaye). Die Sittenbeschreibungen, die Herodot über die Ägypter liefert, wurden vielerorts mit klassischen Marionetten in Verbindung gebracht (Herodot, Historien, II, 48,2: „agálmata neuróspasta“), ebenso wie die Schilderungen Lukians (De Dea Syria 16); in beiden Fällen ist jedoch eine Sonderform der Marionette beschrieben, bei welcher nicht alle Gliedmaßen, sondern insbesondere ein übergroßer beweglicher Phallus durch Schnüre manipuliert wurde. Vgl. Heinrich Otto Schröder: Marionetten. Ein Beitrag zur Polemik des Karneades, in: Rheinisches Museum für Philologie 126 (1983), S. 1–24, hier S. 4, mit einer kritischen Analyse der bekannten antiken Belegstellen. Vgl. zur weiterführenden mechanistischen Philosophie der Antike die unlängst erschienene Studie von Sylvia Berryman: The Mechanical Hypothesis in Ancient Greek Natural Philosophy, Cambridge 2009. Bei Horaz (Sat. II, 7, 81 f.) wird das karnevaleske Motiv des willenlosen Ausgeliefertseins durch fremde Hand vom Sklaven gegen den Herrn gewendet: „tu, mihi qui imperitas, aliis servis miser atque duceris ut nervis alienis mobile lignum. (Du, der du mir befiehlst, dienst anderen erbärmlich und wirst wie eine hölzerne Puppe von fremder Hand geführt.)“ „In der Miniatur des ‚Puppenspiel‘ wird die Deutung von der Menschheitsgeschichte als Zeit des Kampfes erneut aufgegriffen und sinnerweiternd mit der seit der Antike tradierten Vorstellung vom Weltgeschehen als (Bühnen-) Spiel verbunden.“ Heike Willeke: Ordo und Ethos im Hortus Deliciarum. Das Bild-Text-Programm des Hohenburger Codex zwischen kontemplativ-spekulativer Weltschau und konkret-pragmatischer Handlungsorientierung, Diss. Univ. Hamburg 2004, unter: http://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2006/2963/pdf/ Band_1_Textband.pdf [18.10.2014], S. 192 f. m. weiterer Lit. Dieser konzeptuellen Verwendung der Marionette, bzw. der bewegten Gliederpuppe liegt auch ein zentrales neuzeitliches Metaphernkonzept zugrunde.

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Bild 143  Herrad von Landsberg: Hortus Deliciarum, Salomon und das Puppenspiel, Ende 12. Jh., Buchmalerei, fol. 215r.

16. Jahrhundert auf Schaustellerbühnen präsentiert, die noch im 17. Jahrhundert in den Pariser Jahrmarktstheatern zu finden waren, wurde es durch die Aufklärung eingedämmt und in der Romantik zur reinen Kinderunterhaltung deklariert, bevor es im 20. Jahrhundert eine bis dahin ungekannte Popularität und Vielfältigkeit erlangte und neben Kindern auch erwachsene Zuschauer in seinen Bann ziehen sollte.205 Durch den Einbezug der Theaterpuppe in Arrangements, Filme und Performances, beispielhaft greifbar im Werk von William Kentrige (*1955), erlangte diese Kunstform eine medienüberschreitende Präsenz. Auch im Medium des Fernsehens, das dabei die Form der traditionellen Kleinbühne übernahm, erlangte das Marionettenspiel eine kaum überschätzbare Popularität – im deutschen Sprachraum etwa im Sendeformat der „Augsburger Puppenkiste“.206 In ihrer distanzbewegten Erscheinung wandelte sich die Gliederpuppe in Gestalt der Marionette von der unvermittelten Abhängigkeit einer berührenden Hand zur ferngelenkten Bewegungsfigur, um damit eine distinkte Kunstform zu etablieren.207 Als Zwischenform von Gliederpuppe und Automate bildete sich mit der Theaterpuppe eine ganz eigene szenische Aktualisierungsform dieser anthropomorphen Gestalt aus. 205 206 207

Zu Geschichte und Formen der Theaterpuppe vgl. David Currell: The complete book of puppet theatre, New York 1990. Vgl. zuletzt Barbara van den Speulhof/Fred Steinbach (Hg.): Das große Buch der Augsburger Puppenkiste, Köln 2013. Zu den literarischen und philosophischen Implikationen dieser Loslösung von einer unmitellbaren manuellen Abhängigkeit, wie sie in Heinrich von Kleists (1777– 1811) Essay Über das Marionettentheater aufscheint, vgl. u. Kap. III.3.b).

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1 .   G liederpuppen in der italienischen R enaissance

a   Sc h r i f tquel len D ie er ste Q uel le – Fi l a r e te s „f ig u r e t t a d i leg n i a me“ Der Architekt, Bildhauer, Ingenieur und Theoretiker Antonio di Pietro Averlino (um 1400–1469), der sich später selbst den Namen Filarete („Tugendfreund“) verliehen hatte, schuf ab 1460 innerhalb von vier Jahren einen aus 25 Büchern bestehenden Trattato di architettura, der in der Volkssprache des Volgare die Baukunst in ihren theoretischen wie praktischen – und dabei auch in den idealen und utopischen – Dimensionen erörtern sollte.1 Im Rahmen fiktiver Dialoge und beispielhafter Beschreibungen stellte er technische Verfahren, Materialauswahl, Entwurfs- und Konstruktionsmethoden vor, um dabei auch einen bevorzugten, gegen die lombardische Baukunst gerichteten und auf römische Vorbilder rekurrierenden Baustil zu proklamieren. Kernstück der Schrift ist die Idealstadt „Sforzinda“, ein Ehrenerweis an den Mailänder Dienstherrn Francesco

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Zu Filaretes Libro architettonico, das erst um 1880 als Trattato di architettura bekannt wurde, vgl. zuerst: Robert Dohme: Filaretes Tractat von der Architektur, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 1 (1880) S.  225–241; sodann grundlegend Wolfgang von Oettingen (Hg.): Antonio Averlino Filaretes Tractat über die Baukunst nebst seinen Büchern von der Zeichenkunst und den Bauten der Medici, Wien 1890; Michele Lazzaroni, Antonio Muñoz: Filarete. Scultore e architetto del secolo XV, Rom 1908; Peter Tigler: Die Architekturtheorie des Filarete, Berlin 1963; John R. Spencer: Filarete‘s Treatise on Architecture. Being the Treatise by Antonio di Piero Averlino, Known as Filarete. Originally composed in Milan c. 1460-c. 1464, 2 Bde., New Haven 1965; Anna Maria Finoli/Liliana Grassi (Hg.): Antonio Averlino Filarete. Trattato di Archittetura, 2 Bde., Mailand 1972; Hans W. Hubert: In der Werkstatt Filaretes. Bemerkungen zur Praxis des Architekturzeichnens in der Renaissance, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 47/2/3 (2003), S. 311–344 m. weiterer Lit.

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Sforza (1401–1466), an dessen Hof Filarete auf Empfehlung von Piero I. de’ Me­ dici (1416–1469) gelangt war. 2 Die in verschiedenen Manuskripten überlieferte Schrift ist ebenso komplex wie in Teilen diffus.3 Das evozierte Bauprojekt reicht vom städtebaulichen Gesamtplan über eine Beschreibung der antiken Hafenstadt „Plusiapolis“ sowie idealisierter Bewohner bis hin zur dekorativen Innenausstattung einzelner Wohnräume. Dieser letzte Abschnitt versetzt Filarete in die Lage, auch über die Kunst des zeichnerischen Entwerfens und der Motivwahl zu referieren. Buch XXIV stellt unterschiedliche Hilfsmittel der Zeichenkunst und Möglichkeiten der Bildfindung vor. Ausgehend von der Farbenlehre gelangt der Autor zur Frage nach geeigneten modernen und antiken Sujets. Dabei liegt eine besonders vehement vorgetragene Forderung auf der Schicklichkeit und Angemessenheit der gewählten Figurenausstattung, dem decorum des Bildpersonals, das von Achilles und Paris bis Kleopatra und Daphne reicht.4 An der seinem imaginären Gesprächspartner wohl bekannten Trajanssäule seien Filarete zufolge Lebensalter und Nationen vorbildhaft zu studieren. Bei Nichtbeachten dieser Forderung würden, wie das mahnende Beispiel des Masolino (1383–1447) zeige, die historischen Figuren der Lächerlichkeit preisgegeben, da sie vom Maler mit zeitgenössisch-moderner Kleidung versehen worden waren.5 Um diesem Faux2

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Selbst nur bedingt erfolgreicher Architekt und Bildhauer (etwa im Fall der Bronzetüren des Hauptportals von St. Peter), entstand das Werk im Umkreis der Humanisten des Mailänder Hofes, namentlich unter dem Einfluss des befreundeten Filelfo. Vgl. John Onians: Alberti and φιλαρετη. A study in their sources, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes XXXIV (1971), S. 96–114; Susann Lang: Sforzinda, Filarete and Filelfo, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 35 (1972), S. 391–397. Angegeben werden sowohl die Manuskriptseite (Filarete: Trattato di Architettura, Cod. Mag., fol.) als auch die moderne Umschrift aus Finoli/Grassi: Filarete. Trattato di Architettura. Zitiert wird die moderne Umschrift. Als Referenzmanuskript dient der später Piero de‘ Medici gewidmete Codex Magliabecchianus, Biblioteca Nazionale Florenz, II, IV, 140. Diesem lag entweder Filaretes Originalmanuskript oder die 1944 beim Bombenangriff auf Mailand zerstörte frühere Handschrift (Sforza-Version) zugrunde. Vgl. Spencer: Filarete‘s Treatise on Architecture, S. XIX. „E così in qualunque cosa fai che sia bene accomodate tutte le proprietà. E così adattare gli abiti secondo loro qualità di quegli che tu rapresenti, ché, se tu avessi a fare una cosa che rapresentasse il tempo d’oggi, non vestirlo a l’antica; e così ancora, se hai a rapresentare l’antico, nollo vestire a l’usanza d’oggi.“ Filarete: Trattato di Architettura, Cod. Mag., fol. 184r.; Finoli/Grassi: Filarete. Trattato di Architettura, S. 675. „E così tutte secondo loro essere e loro abiti e paesi è mestiero dar loro gli abiti e l‘aere, secondo fece colui che ‚ntagliò la colonna Traiana che è a Roma, che tanto propriò bene ogni cosa, che tu conosceresti in quella colonna. […] E non fare come molti ho già veduti, che hanno tramutato questo atto degli abiti, che molte volte hanno alle figure antiche fatto abiti moderni. E in questo peccò Masolino, che molte volte faceva santi e vestivagli alla moderna.“ Filarete: Trattato di Architettura,

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pas zu entgehen, stellt Filarete die Gliederpuppe als das geeignete Hilfsmittel vor, mit welchem sich auch antikisierende Gewänder ‚nach der Natur‘ studieren lassen: „Studiere auch die Kleider nach der Natur. Ebenfalls jene, die antikisch sind, damit es gute Faltenwürfe gibt. In unterschiedlichen Arten kann man dies bewerkstelligen: wenn du eine solche [Figur] zu machen hast, lasse jemanden in dem gewünschten Habit einkleiden, wenn er modern sei soll; soll er [jedoch] antikisch sein, mache es so wie ich Dir sagen werde. Beschaffe dir eine kleine Holzfigur [figuretta di legniame] mit beweglichen Beinen, Armen und Hals; nehme dann ein Gewand aus Leintuch zur Hand und bekleide diese bis es deinen Vorstellungen entspricht, genau so, als wäre sie lebendig. Laß sie genau diejenige Haltung einnehmen, die du haben willst, und drapiere sodann das Gewand, wie es sein soll. Sollten die Drapierungen nicht dergestalt fallen, wie du es wünschst, nimm flüssigen Leim und befeuchte damit die Figur, dann kannst du die Falten nach Belieben anordnen; wenn du sie trocknen lässt, werden sie fest. Und falls du das Modell später umgestalten willst, tauche es in heißes Wasser, und du wirst seine Form verändern können. Damit halte jene Figuren fest, die du bekleidet darstellen willst.“6 Filaretes Anweisung ist in vielerlei Hinsicht bedeutungsvoll: Ausgangspunkt des Gliederpuppeneinsatzes ist der Wunsch nach einem angemessenen Bildpersonal. Für Figuren in moderner Kleidung kann hier ein lebendes Modell dienlich sein, da dessen Gewänder nicht gesondert angefertigt werden müssen. Im Hinblick auf die im Traktat bevorzugte antikische Bauweise sind bei den als Wandschmuck fungierenden Szenen, wie die zuvor zahlreich angeführten mythologischen, biblischen und historischen Gestalten nahelegen, bevorzugt Historien aus jener Epoche zu wählen. Die dabei erforderliche Modellfigur ist

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Cod. Mag., fol. 183v f.; Finoli/Grassi: Filarete. Trattato di Architettura, S. 674 f. Vgl. hierzu mit dem Verweis auf Leonardo, der ebenso alle modischen Bekleidungen im Bild kritisierte, Meder: Die Handzeichnung, S. 441. „E così ancora e‘ panni guarda il naturale. Anche di quegli che sono antichi ci è di buoni panni. In più modi si può imparare a fargli: quando n‘hai a fare, fa‘ vestire uno in quello abito che lo vuoi fare, s‘egli è moderno; e s‘egli è antico, fa‘ come ti dirò. Fa‘ d‘avere una figuretta di legniame che sia disnodata le braccia e le gambe e ancora il collo, e poi fa‘ una vesta di panno |fol. 184v| di lino, e con quello abito che ti piace, come se fussino d‘uno vivo, e mettigliele indosso in quello atto che tu vuoi ch‘egli stia, l‘acconcia, e se que panni non istessino come tu volessi, abbi la colla strutta, e bagnalo bene indosso a detta figura; e poi acconcia le pieghe a tuo modo, e falle seccare, e staranno poi ferme. E se poi la vuoi fare in altro modo, mettilo in acqua calda, e potra‘lo rimutare in altra forma. E da questo ritrai poi le figure che tu vuoi che sieno vestite.“ Filarete: Trattato di Architettura, Cod. Mag., fol. 184r–184v; Finoli/Grassi: Filarete. Trattato di Architettura, S. 676 f.

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keineswegs omnipräsentes Hilfsmittel des Malerateliers, ansonsten wäre sie nicht explizit vorzustellen. Augenscheinlich kann sie dem Leser jedoch auch nicht völlig unbekannt sein, da sie nur rudimentär beschrieben werden muss – als gegliederte unterlebensgroße Holzfigurine [figuretta], die in Kopf und Extremitäten mit Gelenken versehen ist. Ihre Herstellung wird zudem einer fremden Hand überlassen, was einerseits als Verweis auf eine bereits etablierte Spezialisierung von Bildhauern auf die Fertigung beweglicher Holzfiguren und das damit einhergehende Angebot gedeutet werden kann und andererseits auf die Komplexität der Herstellung verweist. Als variable Vorlage für die geplante Entwurfszeichnung liegt der Nutzen dieser Gliederpuppe darin, dass sie einen anthropomorphen Leib bereitstellt, der in ein antikisierendes Gewand eingehüllt wird, um anschließend in jede gewünschte Haltung gebracht zu werden.7 Das Substitut soll bei diesem Vorgang wie ein lebendiges Gegenüber behandelt werden [come se fussino d‘uno vivo]. Nach einer letzten Faltenkorrektur der Draperien, die durch den Einsatz von Leim fixiert werden können, ist die Figur bereit für das Zeichenstudium. Die durch das Bindemittel wie eine Stoffschale auf der Gliederpuppe erstarrten Gewänder werden schließlich durch warmes Wasser wieder geschmeidig, damit das Modell in eine andersartige Position eingestellt werden kann. Da die Gliederpuppe nur für die zeichnerische Vorbereitung bekleideter Figuren in unterschiedlichen Haltungen anempfohlen wird, muss es sich um eine einfach gearbeitete, verhältnismäßig schematische Modellfigur handeln, die für Studien des nackten Leibes kaum dienbar gemacht werden kann und soll. Die von Filarete als praktisches Studieninstrument vorgestellte Gliederpuppe erweist sich in dieser ersten Schriftquelle demnach als ein für das Faltenstudium von historischen Figuren in unterschiedlichen Posen obligatorisches Modell. Wenn Filarete im Anschluss an diese Beschreibung ein weiteres Hilfsmittel ankündigt, um mit diesem „nach der Natur“ zu zeichnen, wird sein bereits mit der Gliederpuppe verfolgtes Anliegen, körperhafte Strukturen bildlich zu generieren, erneut fassbar: „Nun gibt es auch ein weiteres Verfahren, will man das Zeichnen nach der Natur, und damit nach dem rilievo, wohl erler7

Filarete proklamiert unmittelbar vor der Behandlung der Gliederpuppe, dass sieben grundlegende Haltungen alle wichtigen Stellungen des Körpers in Ruhe verbildlichen können. Er beruft sich dabei auf Albertis Della Pittura, die wiederum Quintilians Institutio Oratoria zum Vorbild nimmt. Es ist davon auszugehen, dass die Gliederpuppe in eine dieser Haltungen gebracht werden soll: „E‘ posari delle figure sono di più ragioni, ma in quanto allo star fermi, non mi paiono più di sette. Tre ce ne sono pronti e forti, e quattro che mostrano più tosto debilità, i quali si convengono a donne e a fanciulle. I quali sette posari guarda al naturale, e vedrai variati modi e tempi che lo saranno.“ Filarete: Trattato di Architettura, Cod. Mag., fol.  184r; Finoli/Grassi: Filarete. Trattato di Architettura, S. 676. Zu den zeitgenössischen wie antiken Bezügen vgl. Spencer: Filarete‘s Treatise on Architecture, S. 315, Anm. 8.

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nen.“8 Die hiernach beschriebene Methode, beruhend auf einem netzbespannten Rahmen, in welchem sich die Umrisse einschreiben, dient der Übertragung von Proportionen sowie von Licht- und Schattenwerten auf die Bildoberfläche. Es handelt sich bei diesem Netzrahmen um eine Variante der von Alberti beschriebenen Projektion der Sehpyramide auf eine plane Fläche, wobei jener das gazeartige Velum (intersegazione) als seine Invention präsentiert hatte.9 Wenn Filarete anschließend die verschiedenen Techniken des Modellierens in Ton und Wachs behandelt, verweist er auf weitere grundlegende Verfahren der frühneuzeitlichen Werkgenese. Die plastischen Vorlagen aus Holz, Ton und Wachs dienten der bildlichen Bannung des rilievo, der plastischen Bildwerte eines zu schaffenden Bildkörpers.10 Die zweitälteste, bislang von der Forschung weitgehend ignorierte schriftliche Quelle zu einer Gliederpuppe ergänzt Filaretes Beschreibung insofern, als sie weniger auf die Einsatzmöglichkeiten denn auf die Bezeichnung sowie den Wert des variablen Modells eingeht, indem sie dieses als vererbenswertes Gut deklariert. In seiner 2002 publizierten Studie Giotto e Pietro Cavallini. La questione di Assisi e il cantiere medievale della pittura a fresco beleuchtet Bruno Zanardi unter anderem die Begriffs- und Bedeutungsgeschichte der mit patroni charakterisierten vorbildhaften Musterzeichnungen am Übergang zur Neuzeit.11 Das dabei herangezogene, in Latein verfasste und 1497 beglaubigte Testament des piemontesischen Malers Bernardino Simondi († 1498) aus Saluzzo sieht nicht nur die Übereignung der Mustervorlagen an seine geschätzten Gehilfen Antonio Regis und Honorato Labe vor, sondern auch die Vererbung der in seinem Besitz befindlichen hölzernen Gliederpuppe, die, wie er präzisiert, umgangssprachlich „manequin“ genannt werde: „meam ymaginem fusteam frachissam vulgariter dictam manequin.“12 Es ist die früheste Bezeichnung einer   8

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„Ancor c‘è un altro modo a volere imparare bene a ritrarre del naturale, e così di rilievo.“ Filarete: Trattato di Architettura, Cod. Mag., fol. 184v; Finoli/Grassi: Filarete. Trattato di Architettura, S. 677. Vgl. ebd., S. 545; zum Velum Vgl. ebd., S. 544 sowie Joaquim Garriga i Riera: La intersegazione de L. B. Alberti, in: D’Art 20 (1994), S. 11–57; Laura Catastini, Franco Ghione: Le Geometrie della Visione. Scienza, Arte, Didattica, Mailand 2004, Kap. 4.1: „L’intersegaziopne di Alberti e l’impianto della pittura“, S. 68–71. Vgl. hierzu Rath: Die Haptik der Bilder sowie Kap. 3.1.a). Bruno Zanardi: Giotto e Pietro Cavallini. La questione di Assisi e il cantiere medievale della pittura a fresco, Mailand 2002. Diese „patroni“ sind als zeitgenössische Vorlagen zu werten, die den mittelalterlichen Musterbüchern eng verwandt sind. Sie sind als gattungsübergreifendes Verfahren im Quattrocento weiterhin in Verwendung und ergänzen den Gebrauch selbst hergestellter Modelle. Der Auszug lautet: „(Anno 1497) Item [io, Bernardino Simondi] lego […] Claudio Ruffi, pictori civitatis Ebrudensis duodecim pecias pertracturarum mearum separatarum ad suam electionem, nec non et omnes meos patronos iterstitos quos eidem expediri volo semel tantum incontinenti post obitum meum. Item lego […] magis-

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Gliederpuppe mit diesem Begriff und darüber hinaus ein Ausweis dafür, dass sie als Hilfsfigur am Übergang zum 15. Jahrhundert derart üblich geworden ist, dass sich gar eine umgangssprachliche Bezeichnung entwickelt hat.13 Im Verbund mit Filaretes „figuretta di legniame“ verweist Simondis „manequin“ auf einen im italienischen Quattrocento zunehmend tradierten Einsatz der hölzernen Gliederpuppen. Diese wurden von einem Kunsthandwerker oder Bildhauer hergestellt, vom Künstler variabel eingesetzt und unter Künstlerkollegen weitergegeben. Neben den aufwendiger herzustellenden, manuell einstellbaren Modellen aus Holz dienten in vergleichbarer Weise einfachere plastische Modelle als gestalterischer Ausgangspunkt bildnerischen Schaffens: von Hand gefertigte tönerne, gipserne oder wächserne Figuren, teilweise über ein biegbares Drahtgestell oder eine Holzarmierung geformt. Diese waren einerseits für das Studium von Konturen und Lichtverteilung, etwa beim Faltenwurf, andererseits für die stimmige Proportionierung einer Bildgestalt vonnöten. Auf einem ebenen Grund arrangierte modelli sollten schließlich der Übersicht und der perspektivischen Überprüfung der Bildanlage dienen.14

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tris Antonio Regis et Honorato Labe pictoribus, servitoribus meis videlicet quandam meam ymaginem fusetam frachissam vulgariter dictam manequin, item omnes meoa patronos vulgariter dictos ponsos […].“ Zit. n. Zanardi: Giotto e Pietro Cavallini, S. 168, Anm. 177; desgleichen in gekürzter Argumentationsfolge bereits ders.: Projet dessiné et „patrons“ dans le chantier de la peinture murale au Moyen Âge, in: Revue de l’Art 124/1 (1999), S. 43–55. So rühmlich die Verbreitung dieser Quelle ist, so falsch ist doch die hierbei proklamierte Feststellung, es handele sich um die früheste Nennung einer Gliederpuppe. Vgl. Gian Luca Bovenzi/Bernardo Oderzo Gabrieli: Un repertorio per pittori: le mascherine e i modelli per gli ornati tessili nella produzione pittorica piemontese tra XV e XVI secolo, in: Bollettino della Società Piemontese di Archeologia e Belle Arti 63–64 (2012–2013), S. 123–160. Die früheste schriftliche Zusammenführung der für dieses Modell verwendeten Begriffe lieferte Crispijn van de Passe d. J. (um 1594–1670) in seinem Zeichenbuch ’t Light der teken en schilder konst (1643). Vgl. hierzu Kap. II. 2. b). Zu den unterschiedlichen Formen und Verwendungen von plastischen Modellen, darunter insbesondere Gliederpuppen, vgl. Meder: Die Handzeichnung; Irving Lavin: Bozzetti and Modelli. Notes on Sculptural Procedure from the Early Renaissance through Bernini, in: Stil und Überlieferung in der Kunst des Abendlandes. Akten des 21. internationalen Kongresses für Kunstgeschichte in Bonn 1964, Berlin 1967, S. 93–104; Carlo L. Ragghianti/Gigetta Dalli Regoli (Hg.): Firenze 1470–1480. Designi dal modello, Pisa 1975; Prinz: Dal vero o dal modello? S. 200– 208; Laurie Fusco: The Use of Sculptural Models by Painters in the Fifteenth-century Italy, in: The Art Bulletin LXIV (1982), S. 175–194; Gianni Carlo Sciolla: Il disegno dal manichino in legno e dal modello in terra e cera nella tradizione dal Quattrocento al Seicento. Appunti per una ricerca, in: Marina Regni/Piera Giovanna Tordella (Hg.): Conservazione dei materiali librari archivistici e grafici, Bd. 1, Turin 1996, S. 209–226; Michael Wiemers: Bildform und Werkgenese. Studien zur zeichnerischen Bildvorbereitung in der italienischen Malerei zwischen 1450 und 1490, München 1996; Johannes Myssok: Bildhauerische Konzeption und plastisches Modell in der Renaissance, Münster 1999; Alexandre Ragazzi: Os modelos plásticos

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Bereits in Cennino Cenninis (um 1360–vor 1427) im ersten Drittel des Quattrocento entstandenen Kunsttraktat Libro dell’arte, in dem er ein bis heute grundlegendes Begriffsspektrum in Anschlag brachte, um die künstlerischen Verfahren seiner Zeit festzuhalten,15 wird die Anfertigung von Körperabgüssen behandelt.16 Die aus Metall oder Wachs hergestellten Modellvorlagen waren in der Lage, die realen Körpervolumina in ihrer räumlichen Ausdehnung zu veranschaulichen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um jene variablen Modelle der italienischen Renaissance, zu welchen auch die Gliederpuppe gezählt werden muss, sondern um beispielhafte unveränderliche Modellvorlagen. Bei der Bildgenese, der Entwicklung des disegno, sollten hingegen individuell justierbare Modelle aus unterschiedlichen Materialien eine entscheidende Rolle einnehmen. Wenngleich sich die Verwendung von variabel gefertigten Hilfsmitteln, wie jene von Filarete beschriebene gegliederte Holzfigur und in noch größerem Ausmaß von Modellen aus formbaren Materialien wie Ton, Wachs oder Gips, als künstlerisches Verfahren im Quattrocento etablierte, stammt die Mehrzahl der schriftlichen Quellen, die Herstellung und Verwendung derartiger Modelle

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auxiliares suas funções entre os pintores italianos. Com a catalogação das passagens relativas ao tema extraídas da literatura artística, Diss. Univ. da Campinas 2010, unter: http://www.academia.edu/4889786/Os_modelos_pl%C3%A1sticos _ auxiliares_e_suas_fun%C3%A7%C3%B5es_entre_os_pintores_italianos_PhD_ Thesis_ [18.10.2014]; Markus Rath: Manipulationen. Modellformung, Bildrelief und kubische Denkfigur als Momente des Mitstreits, in: van Gastel/Hadjinicolaou/ ders.: Paragone als Mitstreit, Berlin 2014, S. 99–118. Vgl. die spätere Datierung durch Ulrich Pfisterer: Cennino Cennini und die Idee des Kunstliebhabers, in: Grammatik der Kunstgeschichte: Sprachproblem und Regelwerk im „Bild-Diskurs“, hg. v. Hubert Locher, Emsdetten u. a. 2008, S. 95–117. Für eine Datierung um 1400 plädiert Erling Skaug: Cenniniana. Notes on Cennino Cennini and His Treatise, in: Arte Christiana 81 (1993), S. 15–22. Der Entstehungszeitraum des Traktats wird als Übergangszeit zwischen ausgehendem Mittelalter und beginnender Neuzeit gefasst. Vgl. Christiane Kruse: Fleisch werden – Fleisch malen: Malerei als ‚incarnazione‘. Mediale Verfahren des Bildwerdens im Libro dell’arte von Cennino Cennini, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), S. 305–325, hier S. 305–314; Silvia Bianca Tosatti: Trattati medievali di tecniche artistiche, Mailand 2007, bes. Kap. VI, S.  113–127. Zur Terminologie des Libro dell‘arte vgl. Paola Salvi: Chiaroscuro. L’origine nel Libro dell’arte di Cennino Cennini (II), in: Lingua Nostra 66/3/4 (2005), S. 92–98; zu Umfeld und Malpraxis jener Zeit vgl. den umfassenden Katalog zur Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie: Ausst. Kat.: Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, hg. v. Wolf-Dietrich Löhr/Stefan Weppelmann, Gemäldegalerie Berlin (SMB), Berlin 2008. Kap. CLXXXV: „Ti dimostra come si può improntare un ignudo intero d‘uomo o di donna, o un animale, e gettarlo di metallo“; Kap. CLXXXVI: „Come si può improntare la propria persona, e poi gettarla di metallo“. Cennino Cennini: Il libro dell’arte (um 1400), hg. v. Gaetano Milanesi/Carlo Milanesi, Florenz 1859.

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beschreiben, aus der Mitte des Cinquecento. In Äußerungen von Benvenuto Cellini (1500–1571), Bernardino Campi (1522–1591), Giovanni Battista Armenino (1530–1609) sowie Giovanni Paolo Lomazzo (1538–1600), in unübertroffenem Maße jedoch in den Schriften Giorgio Vasaris wird die Bedeutung des plastischen Modells im Prozess der Bildentstehung manifest.17

Gl ie der p up p e n u nd pl a st i s c he Mo del le i n Va s a r i s V ite Im Jahre 1546 richtete Benedetto Varchi (1502–1565) an acht berühmte Florentiner Künstler eine ebenso provokante wie seit Jahrzenten schwelende Frage: jene nach der Vorrangstellung einer künstlerischen Ausdrucksform gegenüber anderen Kunstgattungen.18 Die hierauf formulierten Positionen sollten sich einerseits aus Erfahrungen speisen, die unmittelbar aus der Praxis in die Theorie überführt wurden, um andererseits implizit kulturpolitische Strategien zu

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Wie Myssok aufzeigt, wird auch in früheren Traktaten, wenn auch teilweise indirekt, das künstliche Modell als wichtiges Element der Werkentstehung benannt. So weist Leon Battista Alberti in De Statua auf ein „exemplum“ hin, ein vorbildhaftes Werk, bei welchem es sich um eine nachahmenswerte antike wie zeitgenössische Skulptur, jedoch nicht um ein vom Künstler verformbares Modell handelt. Lorenzo Ghiberti erwähnt in seinen Commentarii, dass er für Künstlerkollegen neben vielen Zeichnungen auch plastische Modelle aus Ton oder Wachs, sogenannte „provvedimenti“, hergestellt habe. Pomponius Gauricus trennt in seinem Werk De Sculptura das Modell als eigene Gattung der Skulptur von den anderen Künsten. Das Werk des Modellierers bezeichnet er, in Anlehnung an Plinius, als „proplastice“. Myssok: Bildhauerische Konzeption, S. 39 ff. Zu den frühen Beschreibungen der Modellverwendung gehören auch die in Leonardo da Vincis Libro della Pittura beschriebenen Verfahren. Leonardo da Vinci: Libro di Pittura, zit. n.: Claire J. Farago: Leonardo da Vincis Paragone. A Critical Interpretation with a New Edition of the Text in the Codex Urbinas, Leiden u. a. 1992. Die Anfrage richtete sich an Bronzino und Cellini, Francesco da Sangallo, Tribolo, Tasso und Pontormo sowie Vasari und Michelangelo. Bei Michelangelos Antwort handelt es sich offenbar um eine erst später zugesandte Einschätzung. Vgl. Oskar Bätschmann: Die Eitelkeit des Wettstreits. Benedetto Varchis Umfrage (1547) und Publikation (1550) zum Paragone, in: Welt – Bild – Museum. Topographien der Kreativität, hg. v. Andreas Blühm/Anja Ebert, Köln 2011, S. 101–120, hier S. 102 f. u. S. 110 f. Zur Umfrage vgl. grundlegend Paola Barocchi (Hg.): Benedetto Varchi, Vincenzo Borghini. Pittura e Scultura nel Cinquecento, Livorno 1998; Leatrice Mendelsohn: Simultaneität und der Paragone: Die Rechtfertigung der Kunst im Auge des Betrachters, in: Hanna Baader u. a. (Hg.): Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne, München 2007, S. 294– 334; Benedetto Varchi: Paragone – Wettstreit der Künste, hg. v. Oskar Bätschman/ Tristan Weddigen, Darmstadt 2013; Markus Rath: Die Haptik der Bilder, in: ders./ Jörg Trempler/Iris Wenderholm: Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit, Berlin 2013, S. 3–29.

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reflektieren.19 Im folgenden Jahr machte Varchi die vorgetragenen gegensätzlichen Positionen im Rahmen seiner Lezzioni öffentlich.20 Die von ihm befragten Künstler verwiesen bei ihren unterschiedlichen Nobilitierungen der persönlich präferierten Gattung wiederholt auf die Bildanlage, die im disegno verankerte künstlerische Entwurfsform.21

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Die Reaktionen tragen noch heute zu einer Festigung des als Paragone-Debatte in die Kunstgeschichte eingeflossenen Diskurses über Eigenschaften, Befähigungen und Hierarchien der Gattungen bei. Vgl. Leatrice Mendelsohn: Paragoni. Benedetto Varchi’s Due Lezzioni and Cinquecento Art Theorie, Ann Arbour 1982; Farago: Leonardo da Vinci’s ‚Paragone‘; Ausst. Kat.: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, hg. v. Ekkehard Mai/Kurt Wettengl, München 2002; Lemma Paragone, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 2003, Sp. 528–546 (Ulrich Pfisterer); Lemma Paragone, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2011, S. 321–324 (Hanna Baader); Rudolf Preimesberger: Paragons and Paragone. Van Eyck, Raphael, Michelangelo, Caravaggio, Bernini, Los Angeles 2011; Varchi: Paragone; van Gastel/Hadjinicolaou/Rath: Paragone als Mitstreit; Christiane Hessler: Zum Paragone. Malerei, Skulptur und Dichtung in der Rangstreitkultur des Quattrocento, Berlin/Boston 2014. 1546 nach florentinischer Zeitrechnung; erstmals publiziert als Benedetto Varchi: Due lezzioni, Florenz 1549; vgl. Mendelsohn: Paragoni; François Quiviger: Benedetto Varchi and the Visual Arts, in: Journal of the Warburg and the Courtauld Institutes 50 (1987), S. 219–224; Barocchi (Hg.): Benedetto Varchi; Varchi: Paragone. Beispielsweise betonte Benvenuto Cellini in seinem Reaktionsschreiben an Varchi die Aufgabe des bildhauerischen Modells, welches die Zeichnung ersetzt oder dieser vorausgeht und somit als primäre Äußerung des disegno dient. Wie er Jahre später in der Disputa infra la sculptura e la pittura (1564) verdeutlicht, wird damit ein manuell handhabbares Modell zum grundlegenden Entwurf (concetto), der im künstlerischen Werkprozess von bestimmender Bedeutung ist, da er den gedanklichen Kern des Projektes verkörpert: „A questa ciccalata rispondo gli scultori che, quando essi ànno sculpio, come valenti e sicuri homini nell’arte, quello che e’ voglion fare, pigliano, per esprimere il loro concetto, terra o cera, e con quella più facilmente e con più brevità si purgano delle difficultà delle vedute sopradette.“ Benvenuto Cellini: Disputa infra la scultura e la pittura […], in: Paola Barocchi (Hg.): Scritti d’arte del Cinquecento, Bd. I, Turin 1977, S. 595–599, hier S. 597. Vgl. Myssok: Bildhauerische Konzeption, S. 55–58. Zu Cellinis Position in der Paragone-Debatte vgl. Alessandro Nova: Paragone-Debatte und gemalte Theorie in der Zeit Cellinis, in: ders./Anna Schreurs (Hg.): Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahr­ hundert, Weimar/Köln 2003, S.  183–202. Cellinis Modelle sind zwar dem plas­ tischen Modellieren entsprungen und bilden eine raumgreifende Erstform des anvisierten Werkes. Da sie jedoch auf eine einzige, bestimmte Werkkomposition hin ausgelegt sind, stellen sie Derivate der kleinen, variablen Wachsmodelle dar, die wie die Gliederpuppe für unterschiedliche Modellvariationen und Draperiestudien eingesetzt wurden. Zu den unterschiedlichen Implikationen des Modells vgl. auch Joris van Gastel: Michelangelo’s Lesson. The Baroque Bozzetto between Creation and Destruction, in: Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (Hg.): Das haptische Bild, Berlin 2013, S. 209–225.

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Der Einfluss der Umfrage Varchis auf die in dieser Zeit entstehenden Schriften Varsaris ist noch nicht abschließend geklärt, doch spielen auch hier paragonale Fragestellungen eine wichtige Rolle.22 In seiner Antwortschrift an Varchi hatte Vasari den disegno gleichermaßen im realplastischen Modell wie in der Zeichnung erkannt. In seinen nur ein Jahr nach den Lezzioni Varchis erstmals publizierten Vite dei più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani (1550/1568) griff Vasari diesen Faden wieder auf, um ihn zu einem beziehungsreichen Geflecht zu verspinnen. Während er sich drei Jahre zuvor deutlich von Michelangelo beeinflusst zeigte, indem er dessen Ansicht teilte, beide Gattungen verfolgten auf unterschiedlichen Wegen dasselbe Ziel, kehrte er dies im Vorwort der Vite in dem Maße um, als er den Bildenden Künsten nun einen gemeinsamen Anfang beziehungsweise genealogischen Ursprung zuerkannte: „So sage ich, dass die Skulptur und die Malerei in Wahrheit Schwestern sind, gemeinsam und zeitgleich geboren von einem Vater, welcher der disegno ist […]“. 23 Im selben Sinne beginnt das XV. Kapitel über die Malerei mit der Feststellung, dass Architektur, Skulptur und Malerei vom selben Vater – dem disegno – abstammen.24 Nicht derart gewandt wie ihre Malerkollegen, seien gleichwohl die von den Bildhauern im plastischen Formprozess entworfenen modelli den Musterzeichnungen vergleichbar und sogar ebenbürtig.25 Die für den Maler entscheidende Fähigkeit der Wiedergabe körperhafter Formen auf flächigem Grund rühre wiederum vom steten Studium nach plastischen Modellen her. Dies umschließe Figuren aus Marmor, Gipsabdrücke oder Antiken, aber auch bloße oder mit Stoffen behangene oder bekleidete Tonfiguren, die sich besonders aufgrund ihrer Reglosigkeit [immobili e senza sentimento] zum Studienobjekt eigneten.26 22

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Vgl. Giorgio Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei. Die künstlerischen Techniken der Renaissance als Medien des ‚disegno‘, hg. v. Matteo Burioni, Berlin 2006. „Dico adunque che la scultura e la pittura per il vero sono sorelle, nate di un padre, che è il disegno, in un sol parto et ad un tempo […].“ Giorgio Vasari: Le vite de‘ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, hg. v. Rosanna Bettarini/Paola Barocchi, Bde. I-VI, Florenz 1966–1987, Bd. I, S. 26. „Perché il disegno, padre delle tre arti nostre architettura, scultura e pittura, procedendo dall‘intelletto cava di molte cose un giudizio universale simile a una forma overo idea di tutte le cose della natura […].“ Vasari: Le vite, Bd. I, S. 111. „E perché alcuni scultori talvolta non hanno molta pratica nelle linee e ne‘ dintorni, onde non possono disegnare in carta, eglino in quel cambio con bella proporzione e misura facendo con terra o cera uomini, animali et altre cose di rilievo, fanno il medesimo che fa colui il quale perfettamente disegna in carta o in su altri piani.“ Ebd. „Chi dunque vuole bene imparare a esprimere disegnando i concetti dell‘animo e qualsivoglia cosa, fa di bisogno, poi che averà alquanto as[s]uefatta la mano, che per divenir più intelligente nell‘arti si eserciti in ritrarre figure di rilievo, o di marmo o di sasso overo di quelle di gesso formate sul vivo overo sopra qualche bella statua

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Die Bedeutung von verschiedenen Modellen, insbesondere für Bildhauer, betonte Vasari bereits in seiner Vorrede der Introduzione […] alle tre arti del disegno cioè architettura, scultura e pittura: „dieselbe Perfektion der Urteilskraft ist für die Bildhauer indes nicht weniger wichtig als für die Maler, da es diesen genügt, gute Modelle aus Wachs oder Ton oder sonstigem Material zu fertigen, in gleicher Weise wie jene Zeichnungen oder Kartons“27. Die Modelle nehmen dabei denselben Stellenwert wie der disegno des Malers ein. Mit „modello“ beziehungsweise „modelli“ werden in den Vite verschiedenste veranschaulichende oder vorbildhafte Objekte bezeichnet – eine Begriffsreduzierung, welche die über Jahrzehnte andauernde terminologische Verun­ klärung dieser Objekte in sich trägt.28 Die summarische Verwendung der Termini wird im neunten Kapitel, welches die Herstellung von Ton- und Wachsfiguren behandelt,29 durch eine grundlegende Definition teilweise zu klären versucht: „Wenn die Bildhauer eine Figur aus Marmor schaffen wollen, pflegen sie dafür ein Modell anzufertigen, wie man es nennt, demnach ein Vorbild in Form einer Figur aus Ton, Wachs oder Stuck von einer halben Elle Höhe, mal kleiner, mal größer, ganz so wie es ihnen beliebt, damit sie in ihr die Haltung und Proportion der geplanten Skulptur darstellen können.“30

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antica, o sì veramente rilievi di modelli fatti di terra, o nudi o con cenci interrati addosso che servono per panni e vestimenti; perciò che tutte queste cose, essendo immobili e senza sentimento, fanno grande agevolezza, stando ferme, a colui che disegna; il che non avviene nelle cose vive, che si muovono.“ Vasari: Le vite, Bd. I, S. 112. „la detta perfezzione di giudizio non è punto più necessaria alli scultoriche a‘ pittori, bastando a quelli condurre i modelli buoni di cera, di terra o d‘altro, come a questi i loro disegni in simili materie pure one‘ cartoni“. Vasari: Le vite, Bd. I, S. 22. Dies wiederholt er in Kap. XIV. Zu den unterschiedlichen Bezeichnungen von Modellen in Schriftquellen der Renaissance vgl. Glasser: Artist’s Contracts, S.  115–149; Myssok: Bildhauerische Konzeption, S. 15–19. Dass die Diskussion um die Gattungsgrenzen und Einsatzgebiete der „modelli“ selbst bei einer differenzierten Quellenauslegung uneindeutig bleiben muss, machte die Diskussion zwischen Michael Hirst und Carmen Bambach Cappel deutlich. Vgl. dies.: A Note in the Word Modello, in: The Art Bulletin 74/1 (1992), S. 172–173. Der ausführliche Titel des IX. Kapitels lautet: „Del fare i modelli di cera e di terra, e come si vestino e come a proporzione si ringrandischino poi nel marmo; come si subbino e si e pulischino e impomicino e si lustrino e si rendino finiti.“ Vasari: Le vite, Bd. I, S. 87. „Sogliono gli scultori, quando vogliono lavorare una figura di marmo, fare per quella un modello – che così si chiama –, cioè uno esemplo che è una figura di grandezza di mez[z]o braccio o meno o più secondo che gli torna comodo, o di terra o di cera o di stucco, purchée‘ possin mostrar in quella l‘attitudine e la proporzione che ha da essere nella figura che e‘ voglion fare“. Ebd. (Übers. n. Victoria Lorioni, in:

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II  Kunst

Durch die angegebene Länge von einer halben Elle und die beschriebene Zweckbestimmung, Haltung und Proportionen der Figur wiederzugeben, sind jene plastischen Modelle der „figuretta di legniame“ bei Filarete verwandt. Noch übereinstimmender ist dann das von Vasari beschriebene Verfahren der Erkundung des Faltenwurfs, wobei die Modellfigur mittels eines mit Tonschlamm durchtränkten Tuchs umhüllt wird, das sich beim Trocknen dauerhaft fixiert: „Ist man damit fertig und will sie nun mit einem dünnen Gewand bekleiden, nimmt man ein feines Tuch; wünscht man hingegen eine dickere Qualität, nimmt man ein gröberes. Man macht es naß und bedeckt es mit Ton, der nicht flüssig ist, sondern die Konsistenz von recht zähem Schlamm haben soll. Nun drapiert man es um die Figur, dass es die gewünschten Falten und Ausbuchtungen bildet. Einmal getrocknet, verhärtet es sich und erhält den Faltenwurf auf Dauer. Mit dieser Methode bringt man also Modelle aus Wachs und Ton zur Ausführung.“31 Wie bei der Gliederpuppe sind so auch mittels der in Haltung gebrachten formbaren Modelle Draperiestudien möglich. Nachdem man die kleinen Figuren aus Ton oder Wachs fertiggestellt hat, wird schließlich ein Modell in Originalgröße geschaffen.32 Mit dieser Beschreibung evoziert Vasari genau jene Modelleigenschaften, die in Gestalt der hölzernen Gliederpuppe als geduldig-reglose Draperiefigur bei Filarete erstmalig angeführt wurden. Die Gliederpuppe selbst bildet bei Vasari eine selten genannte, besondere Ausprägungsform der für den disegno herangezogenen Modelle: erstmals tritt sie in der Lebensbeschreibung des Fra Bartolomeo (1472–1517) zutage. Der Künstlerbiograph berichtet hier von einem besonderen „modello di legno“,33 das der

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Matteo Burioni (Hg.): Giorgio Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei, Berlin 2006, S. 78). „La qual condotta, se se le vuol poi fare panni addosso che siano sottili, si piglia pannolino che sia sottile, e se grosso, grosso, e si bagna; e bagnato, con la terra s‘interra, non liquidamente ma di un loto che sia alquanto sodetto, et attorno alla figura si va acconciandolo, che faccia quelle pieghe et amaccature che l‘animo gli porge; di che, secco, verrà a indurarsi e manterrà di continuo le pieghe. In questo modo si conducono a fine i modelli e di cera e di terra.“ Vasari: Le vite, Bd. I, S. 89 f. (Übers. n. Lorioni, S. 80). „Finiti questi piccioli modelli o figure di cera o di terra, si ordina di fare un altro modello che abbia ad essere grande quanto quella stessa figura che si cerca di fare di marmo”. Vasari: Le vite, Bd. I, S. 89 f. Doch nicht nur für Marmorskulpturen, auch für solche aus Holz sind derartige Modelle anzufertigen: „Chi vuole che le figure del legno si possino condurre a perfezzione, bisogna che e‘ ne faccia prima il modello di cera o di terra, come dicemmo.“ Ebd., S. 108. Als „modello di legno“ wird andernorts hingegen das Architekturmodell beschrieben, etwa in seiner Lebensbeschreibung des Michelangelo: „Aveva portato seco il

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Dominikanerbruder für das Faltenstudium aber auch für Historienfiguren verwendet habe: „So denke ich, dass Fra Bartolomeo in seinem Werk alle Dinge nach dem Leben wiedergab, und um Gewänder und Waffen oder ähnliche Dinge zu zeichnen, ließ er sich ein lebensgroßes Holzmodell anfertigen, das in allen Gliedern verstellbar war, und welches er mit Gewändern bekleidete; damit führte er wunderbare Arbeiten aus, da er sie in gewünschter Haltung ruhig festhalten konnte, bis er sein Werk mit Bravour ausgeführt hatte. Dieses Modell wird, so wie es aufgefunden wurde, im Gedächtnis an ihn bei uns aufbewahrt.“34 Der Anspruch des Malers auch hinter Klostermauern alle Bildgegenstände „nach dem Leben“ wiederzugeben [tenere le cose vive innanzi] legt eine Verwendung der substitutiv das Lebendmodell ersetzenden Gliederpuppe besonders nahe.35 Dabei verweisen die Ausführungen Vasaris noch auf eine tiefgründigere Sinnschicht, indem die Erinnerung an den Maler nicht in Form eines Bildes geschieht, sondern vermittels seiner langjährigen gegliederten ‚Gehilfin‘, die in ihrem Originalzustand als stumme Zeugin an die Werke des geschätzten Malers erinnern soll. In einem noch zu Lebzeiten entstandenen Teilungsvertrag zwischen Fra Bartolomeo und seinem langjährigen Partner Mariotto Albertinelli (1474–1515) vom 5. Januar 1512 wird schließlich neben einer lebensgroßen eine zweite, etwa armlange Gliederpuppe genannt.36

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Vasari, perordine di Sua Eccell[enza], il modello di legno di tutto il palazzo ducale di Fiorenza“. Vasari: Le vite, Bd. VI, S. 102. „Aveva openione fra‘ Bartolomeo, quando lavorava, tenere le cose vive innanzi, e per poter ritrar panni et arme et altre simil cose fece fare un modello di legno grande quanto il vivo che si snodava nelle congenture, e quello vestiva con panni naturali; dove egli fece di bellissime cose, potendo egli a beneplacito suo tenerle ferme fino che egli avesse condotto l‘opera sua a perfezzione: il quale modello, così intarlato e guasto come è, è apresso di noi per memoria sua.“ Vasari: Le vite, Bd. IV., S. 101. In diesem Sinne eines durch die besonderen Lebensumstände eines Dominikanermönches erforderlichen Gliederpuppeneinsatzes bereits Meder: Die Handzeichnung, S. 555 f. „Ancora siamo d’accordo che queste masserizie che restono comune, l’abbi adoperare Fra Bartolomeo a servirsene mentre che vive e dopo la morte sua siano dette masserizie liberamente di Mariotto dipintore et sue rede: cioè uno modello di legno quanto el naturale, cioè una figura; e ancora uno altro modello circa d’un braccio ghangherato.“ Zit. n. Vincenzo Marchese: Memorie dei piú insigni pittori, scultori e architetti, Bd. 2, Florenz 1846, S. 608. Von Gaetano Milanesi wurde noch 1879 in der Accademia di Belle Arti in Florenz die angeblich originale, lebensgroße und wurmzerfressene Gliederpuppe des Fra Bartolomeo verortet: „Nella guardaroba della fiorentina Accademia delle Belle Arti si conserva un modello intarlato e guasto, eh‘ è tradizione esser quello di Fra Bartolommeo. Esso era nelle mani di Carlo Colzi custode della detta Accademia, il quale poi lo vendè a Domenico Bicoli, ispettore

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II  Kunst

Hoch in den Norden Italiens gelangte die Gliederpuppe Vasari zufolge durch Benvenuto Tisi, genannt Il Garofalo (1481–1559), der als erster dieses Holzmodell in der Lombardei eingeführt haben soll. In einer leicht differenzierten Begrifflichkeit wird dessen Gliederpuppe nunmehr als „modello di figura fatto di legname“ bezeichnet: „Wohl wahr ist, dass Benvenuto sich bei dieser Arbeit einer in der Lombardei bisher nie in Gebrauch genommenen Sache bediente, er machte nämlich Modelle aus Ton, um damit besser Licht und Schatten zu studieren, und er nahm eine hölzerne Figur aus Holz als Modell, welche er in die verschiedensten Stellungen bringen und mit der er Gewänder in vielen Haltungen wiedergeben konnte.“37 In dieser Schilderung der Atelierarbeit Garofalos verdeutlicht Vasari die Praxis der gleichzeitigen Verwendung von Tonfiguren einerseits, die für die Licht- und Schattenwirkung einer Bildanlage zum Einsatz gelangten, und der Gliederpuppen andererseits, welche das Studium der Haltungen und Gewänder erlaubten. Im Prozess der Werkentstehung konnten dank einer derartig differenzierten Modellhandhabung Einzelstudien ausgeführt und ganze Szenerien nachgebildet werden.38 Zwischen zwei grundsätzlich zu unterscheidenden Typen spannt sich die Bandbreite der in den Vite beschriebenen modelli auf: sie reicht vom formbaren Miniaturmodell, welches für sich allein Proportion und Haltung sowie in Zusammenstellung mit weiteren derartigen Figuren Szenerien wiederzugeben vermag, bis zum maßstabsgetreuen Modell, welches als unmittelbare Vorlage für Marmorskulpturen oder gar den Bronzeguss dient.39 Die Gliederpuppe stellt dabei

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della Galleria de‘ Pitti, e questi al prof. Carlo Ernesto Liverati, che lo legò per testamento alla predetta Accademia.“ Gaetano Milanesi (Hg.): Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architettori, Bd. IV, Florenz 1879, S. 196, Anm. 1. Dass diese nunmehr verschollen sei, berichtet Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 38, Anm. 3. „Ma egli è ben vero che, in facendo quest‘opera, fece Benvenuto quello che insin allora non era mai stato usato in Lombardia, cioè fece modelli di terra per veder meglio l‘ombre et i lumi, e si servì d‘un modello di figura fatto di legname, gangherato in modo che si snodava per tutte le bande, et il quale accomodava a suo modo con panni adosso et in varie attitudini.“ Vasari: Le vite, Bd. V, S. 412. „Usono ancora molti maestri, innanzi che faccino la storia nel cartone, fare un modello di terra in su un piano, con situar tonde tutte le figure per vedere gli sbattimenti, cioè l‘ombre che da un lume si causano adosso alle figure.“ Vasari: Le vite, Bd. I, S. 120. Zur Modellverwendung Garofalos vgl. grundlegend: Alessandra Pattanaro: Per Garofalo disegnatore. Uno studio per la pala di Modena e qualche riflessione sull’uso dei ‘modelli di terra’ e di ‘legname’, in: Prospettiva 119/120 (2005), S. 105–111. Myssok unterscheidet in seiner Untersuchung zwischen „Bozzetto“ (Objekte, die „nachweislich dem plastischen Entwurf gedient haben und noch deutlich dessen

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

eine Hybridform dar, indem sie als variables raumgreifendes Modell zwar in unterschiedliche Haltung gebracht werden kann, allerdings nur im Rahmen der durch ihre Konstruktion festgelegten Weise. Über die einfachen Modelle aus Ton und Wachs, die wie Gliederpuppen zu Haltungs- und Draperiestudien gebraucht wurden, berichtet Vasari in einer berühmt gewordenen Passage der Vita des Leonardo.40 Darüber hinaus werden in den Lebensbeschreibungen des Piero della Francesca (1420–1492) und des Niccolò Soggi (1480–1552) ähnliche Verfahren beschrieben, wobei der Modelleinsatz bei letzterem, so der Biograph, zu einer spröden Manier geführt habe.41 Wie bereits Lorenzo Ghiberti (1378–1455) in seinen Commentarii berichtet auch Vasari über die Herstellung der kleinen Modellfiguren aus formbarem Material von Künstlern für Kollegen.42 Niccolò Tribolo (1500–1550) fertigte vollplastische Wachsmodelle sowohl für sich selbst als auch für Andrea del Sarto (1486–1530)

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Spuren aufweisen“) und „Modell“ (Objekte, „bei denen ein entsprechender Entwurfsvorgang und eine anschließende, vollendende Überarbeitung, welche die Spuren des Entwurfsprozesses tilgte, vorauszusetzen ist“). Die Gliederpuppe diente jedoch nicht nur dem plastischen, sondern auch dem zeichnerischen Entwurf. Vgl. Myssok: Bildhauerische Konzeption, S. 19. „Fece disegni di mulini, gualchiere et ordigni che potessino andare per forza d‘acqua; e perché la professione sua volle che fusse la pittura, studiò assai di ritrar di naturale, e qualche volta in far modegli di figure di terra, et adosso a quelle metteva cenci molli interrati, e poi con pazienza si metteva a ritrargli sopra a certe tele sottilissime di rensa o di panni lini adoperati, e gli lavorava di nero e bianco con la punta del pennello, che era cosa miracolosa, come ancora ne fa fede alcuni che neho di sua mano in sul nostro libro de‘ disegni.“ Vasari: Le vite, Bd. IV, S. 17. Der Hinweis gilt bis heute als wichtiges Indiz bei der Zuschreibung der leonardesken Draperiestudien auf Leinwand. Vgl. Hein-Theodor Schulze Altcappenberg: Die italienischen Zeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett. Kritischer Katalog, Berlin 1995, S. 147. Dieses eher grobe Verfahren stimmt jedoch nicht mit dem bei Leonardo beschriebenen, hochsensiblen Einsatz unterschiedlicher Stoffarten überein: „Come i pani si debô ritrare di naturale, cioè se uorai fare pano lane usa le pieghe secôdo quello, e se sarà seta o pano fino o da vilani o di lino o di uelo, va diuersificâdo, a ci ascuno le sue pieghe, e nô fare abito come molti fâno sopra i modelli coperti di carte o corami sottili che t’ igannaresti forte.“ Handschrift A, fol. 97 verso; Codex Urbinas 169 a–b; zit. n. Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci. Die Gewandstudien, m. Texten v. Françoise Viatte, Carlo Pedretti u. André Chastel, München/Paris/London 1990, S. 111. Zu Piero della Francesca: „Usò assai Piero di far modelli di terra, et a quelli metter sopra panni molli con infinità di pieghe per ritrarli e servirsene.“ Vasari, Bd. III, S. 264; zu Niccolò Soggi: „Attese anco assai Niccolò a fare modelli di terra e di cera, ponendo loro panni addosso e carte pecore bagnate; il che fu cagione che egli insecchì sì forte la maniera, che mentre visse tenne sempre quella medesima, né per fatica che facesse se la poté mai levare da dosso.“ Vasari: Le vite, Bd. V, S. 189 sowie S. 192: „perché quella sua maniera dura lo conduceva, con le fatiche di que’ suoi modelli di terra e di cera.“ Zum Modell in Ghibertis Commentarii vgl. Myssok: Bildhauerische Konzeption, S. 43–46.

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an, der diese wiederum als Vorlagen verwendete,43 und auch Jacopo Sansovino (1486–1570) stellte für Pietro Perugino (um 1445–1523) derartige Figuren her.44 Modelle, die das auszuführende Werk vorstellen, ob als Einzelfigur oder als figurative Szenerie mit Architekturrahmen, bezeugt Vasari bei Leonardo, Alfonso Lombardi (1497–1537), Tribolo, Baccio Bandinelli (1493–1560), dem als Daniele da Volterra (1509–1566) bekannten Daniello Ricciarelli sowie bei Michelangelo.45 Die Gliederpuppe, wie Fra Bartolomeo und Garofalo sie als Modell einsetzten, diente als eine mit Tüchern drapierte oder mit Kleidung ausstaffierte nobilitierte Studiengestalt. Sie wurde zugleich für Bewegungs-, Verkürzungsund Kompositionsstudien sowie für die zeichnerische Erkundung von Licht und Schatten eingesetzt. Ihre nur äußerst sporadische Erwähnung täuscht über den mannigfachen Einsatz dieser Modellgestalt hinweg.46 Sie ist Teil eines flächendeckenden Einsatzes plastischer Modelle, der sich bis zum Ende des Cinquecento in zahlreichen Kunsttraktaten nachvollziehen lässt.

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„Finita la guerra, amici, e per Andrea del Sarto suo amicissimo tre figure di cera tonde, delle quali esso Andrea si servì nel dipigner in fresco e ritrarre di naturale in piazza presso alla Condotta tre capitani, che si erano fuggiti con le paghe, apiccati per un piede.” Vasari: Le vite, Bd. V., S. 203. „Per che, avendo visto Pietro la bella maniera del Sansovino, gli fece fare per sé molti modelli di cera, e fra gli altri un Cristo deposto di croce, tutto tondo, con molte scale e figure, che fu cosa bellissima.“ Ebd., Bd. VI, S. 179. So fertigte Leonardo Modelle verschiedener Größen (Bd. IV, S. 27), Alfonso Lombardi schuf das Modell des Papstgrabes für Leo X. und Clemens VII. in Wachs (Bd. IV, S. 412), ebenso wie Tribolo und sein Lehrer Sansovino, die Holzmodelle mit Wachsfiguren herstellten (Bd. V, S. 201). Von Baccio Bandinelli besitzt das Berliner Bode-Museum das 73 cm hohe erste Wachsmodell der Herkules und KakusGruppe von 1525 (Bd. V, S. 248). Er fertigte aber auch größere Szenerien, etwa das Grabmal des englischen Königs als Holzmodell mit Wachsfiguren (Bd. V, S. 245). Daniello Riccardi erarbeitete einen tönernen David als Bildvorlage (Bd. V, S. 545) und Michelangelo bevorzugte formbare Modellmaterialien wie Wachs und Ton (Bd. VI, S. 19, und S. 96). Zu Leonardos Modellen vgl. Michael W. Kwakkelstein: The Use of Sculptural Models by Italian Renaissance Painters. Leonardo da Vinci‘s Madonna of the Rocks reconsidered in the Light of his Working Procedures, in: Gazette des Beaux-Arts 6/133 (1999), S. 181–198; zu Michelangelos Modellen vgl. Ludwig Goldschneider: Michelangelo‘s bozzetti for statues in the Medici Chapel. The clay and wax models in the British Museum, the Pietri Collection, Caracas and at Florence in the Accademia delle Belle Arti and the Casa Buonarroti, London 1957; Paul James Le Brooy: Michelangelo. Models Fomerly in the Paul Von Praum Collection, Vancouver 1972; Michael Hirst: Michelangelo and his Drawings, New Haven/ London 1988, S. 4 u. 76; Myssok: Bildhauerische Konzeption, S. 219–223 u. 352 f. Als einer der Hauptgründe dürfte die Forderung nach einer scheinbaren Leichtigkeit des künstlerischen Verfahrens, im Sinne der sprezzatura, gelten. Vgl. hierzu Kap. II.1.c).

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Mo del lva r i a nte n i n Q uel le n de s C i nque c e nto – von A r me n i n i bi s Zuc c a r i Varchis und Vasaris Schriften flankierend oder auf diese unmittelbar reagierend, zeugen zahlreiche italienische Kunsttraktate des 16. Jahrhunderts von einer Verwendung plastischer Modelle und dabei auch vom Einsatz der Gliederpuppe.47 Wie eine kompakte Überschau über die schriftlich diskutierten Modellvarianten aus der zweiten Cinquecentohälfte zu verdeutlichen vermag, kreisen die hierbei beschriebenen Einsatzbereiche stets um die Erkundung der menschlichen Gestalt, ihre Proportion, körperliche Kontinuität und kompositorische Anordnung. Die Gliederpuppe dient zumeist diesen Anliegen, um im Speziellen als wertvolle Modellfigur für das Draperiestudium bereitzustehen. In seinem 1548 erschienenen knappen Dialogo di pittura diskutierte Paolo Pino (tätig von 1534–1565) im fiktiven Gespräch zwischen den Freunden Lauro, der für die venezianische Kunst des colore eintritt, und Fabio, Verfechter des florentinischen disegno, die Unterschiede und Vorzüge der Gattungen.48 Dabei umreißt Fabio in seinem längsten Redebeitrag die Eigenschaften und Fähigkeiten eines idealen Malers. Neben einer Vielzahl von künstlerischen Verfahren habe dieser sich auch der Verwendung von plastischen Modellen für stimmige Haltungsdarstellungen und Draperien zu bedienen.49 Im Jahr darauf wurde der Autor selbst in einem von Anton Francesco Doni (1513–1574) 1549 in Venedig publizierten, zu Pinos Schrift geradezu antithetischen Werk mit dem Titel Il Disegno del Doni, partito in piu ragionamenti zum Dialogpartner.50 In einem antizipatorischen Verständnis des disegno als segno di Dio, und dabei offensichtlich durch die neoplatonischen Lehren des Marsilio Ficino (1433–1499) beeinflusst, unternimmt Doni dabei den Versuch,

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Für eine Übersicht vgl. Meder: Die Handzeichnung, S.  444 f.; Fusco: The Use of Sculptural Models; Prinz: Dal vero o dal modello, S. 204–206; zuletzt Ragazzi: Os modelos plasticos. Zur Konversationsform des Dialogs, der sich als dominierendes rhetorisches Überzeugungsmittel der Traktatliteratur geriert, vgl. Peter Burke: The Renaissance Dialogue, in: Renaissance Studies 3 (1989), S. 1–12; Bodo Guthmüller u. a. (Hg.): Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance, Wiesbaden 2004. „Bisogna ch’il nostro pittore sia come ebrio nello studio dell’arte, di modo che, con la buona disposizione, si facci pratico nel disegnare la qualità e quantità delle cose, svegliato nell’invenzioni e nel colorire perfetto; […] il che c’è al proposito anco nel far delli modelli per veder gli atti et acconciare i panni“. Paolo Pino: Dialogo di pittura di Messer Paolo Pino nuovamente dato in luce [1548], in: Trattati d’arte del Cinquecento, Bd. I, hg. v. Paola Barocchi, Bari 1960, S. 93–139, hier S. 133. Vgl. Anton Francesco Doni: Disegno. Facsimile della edizione del 1549 di Venezia, hg. v. Mario Pepe, Mailand 1970.

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die künstlerischen Werke einer vorgefassten idea einzuschreiben.51 En passant sollte er damit auch die Grundlagen des sich bei Vasari manifestierenden Michelangelo-Kultes vorbereiten.52 Innerhalb der eigenen Schrift noch unerwähnt, steht Paolo Pino bei Doni als Pate für die Gliederpuppenverwendung ein: Im paragonal aufgeladenen Gespräch disputiert der Maler mit dem Bildhauer Silvio Cosini (ca. 1495–ca. 1549) über Eigenschaften und Grundlagenverfahren von Malerei und Skulptur, wobei sich die Diskussionsrunde durch die Personifikationen dieser Künste und der Natur sowie den schließlich als Schlichter auftretenden Baccio Bandinelli erweitert. In seinen Argumenten rekurriert der Maler insofern auf bildhauerische Verfahren, als er neben den veränderlichen kleinen Modellfigürchen aus Ton und Wachs auch die veränderbare Gliederpuppe anempfiehlt: „P[ino]: Die sicherste und komfortabelste Methode ist jene, die [darzustellenden] Stoffe auf Modelle aus Ton oder auf solche aus Holz mit beweglichen Gliedmaßen zu drapieren, damit die Stoffe alle Haltungen annehmen, die Dir gefallen.“53 Die im folgenden proklamierte Notwendigkeit, unter den Falten jeweils die entsprechenden Körperpartien hervorscheinen zu lassen, ist eine von Leonardo erstmals vehement eingeforderte Eigenschaft.54 Indem die Gliederpuppe jedwede Haltung annehmen könne und dabei die darunterliegenden Gliedmaßen erkennbar blieben, empfehle sie sich mit größter Bestimmtheit als „sicheres und komfortables“ Modell. Bernardino Campi (1522–1591) verweist in seinen Parere sopra la pittura von 1584 explizit auf die Praktikabilität eines lebensgroßen Gliederpuppenmodells, das im Gegensatz zu kleineren Gliederpuppen mit gängigen Kleidungsstücken ausstaffiert werden kann: „Es wäre gut, ein kleines hölzernes Modell zu besitzen, doch noch besser würde mir ein Modell, das lebensgroß ist, gefallen, da man sicher weit mehr Dinge finden würde, die ihm passen.“55 Im 51

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„Il disegno non è altro che speculation divina, che produce un’ arte eccellentissima, talmente che tu non puoi operare cosa nessuna nella scoltura, et nella pittura senza la guida di questa speculatione et disegno.“ Vgl. ebd., fol. 7v. Dies bemerkte bereits Julius von Schlosser: Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien 1924, S. 215 ff. „P[ino]: Ma piu sicuro & comodo si è a comodargli sopra i modelli di terra o di legniame che si cometta con le membra, accio pessa col panno fare tutte l’attitudine che ti piache.“ Anton Francesco Doni: Disegno del Doni, partito in più ragionamenti […], Venedig 1549, fol. 16 recto. „I panni che vestono le figure debbono mostrare di essere abitati da esse figure“. Zit. n. Carlo Pedretti: „Bewohntes Tuch“, in: Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci. Die Gewandstudien, m. Texten v. Françoise Viatte, Carlo Pedretti u. André Chastel, München/Paris/London 1990, S. 15–21, hier S. 19. „Chi avesse un modello di legno piccolo, sarebbe buono, ma me piacerebbe più se ‘l fosse grande come il naturale, perché d’attrovarebbono più cose s’accomodarebbono a quello.“ Bernardino Campi: Parere sopra la pittura (1584), in: Giambattista Zaist:

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Verbund mit den testamentarisch bezeugten Gliederpuppen des Fra Bartolomeo verstetigt sich hier die zweifache Natur dieser hölzernen Modelle, die sowohl in Lebensgröße, als auch in kleineren, etwa armlangen Ausführungen bekannt waren.56 Generell schickt Campi voraus, dass größere Szenerien, etwa aufwendige Historienbilder, mithilfe von plastischen Modellen vorzubereiten sind. Die hierbei zu fertigenden Modelle sollten „un mezzo palmo“ (etwa zwölfeinhalb Zentimeter) groß sein und einer Standardfigur – aufrecht stehend mit gespreizten Beinen und ausgestreckten Armen – entsprechen. Größere Wachsfiguren („grande un palmo, e mezzo“) können wie Gliederpuppen in jede gewünschte Haltung gebracht und mit Draperien ausstaffiert werden.57 Drei Jahre darauf behandelt der mit Campi bekannte Giovanni Battista Armenini (1530–1609) ausführlich die unterschiedlichen variablen Modellvarianten zur Erkundung von Gestalt und Draperie. In De veri precetti della pittura (1587) führt er im zweiten Buch detailliert Material und Aussehen von unterschiedlichsten plastischen Modellen auf: „manche aus Wachs, andere aus Ton, diese gross, jene klein, manche bekleidet, andere nackt, und dabei stehen manche, während andere sitzen, oder liegen, ganz nach den Erfordernissen der Hal-

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Notizie istoriche de‘ pittori, scultori, ed architetti cremonesi, Bd. II, Cremona 1774, S. 103–106, hier S. 104. Vgl. hierzu Alexandre Ragazzi: Um episódio na história dos modelos plásticos auxiliares – o Parecer sobre a pintura de Bernardino Campi/Un episodio nella storia dei modelli plastici ausiliari – il Parere sopra la pittura di Bernardino Campi, in: Revista de História da Arte e Arqueologia 8 (2007), S. 30–50/ S. 123–131. Vgl. dazu auch Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 38. „Dopo questo gli bisogna imparare ritrarre dal naturale, come sarebbe far un ritratto in ogni modo che intravenga nella pittura, e farlo bene. E venendogli occasione di pingere un’istoria, gli bisogna schizzare l’invenzione al miglior modo che sa, avendo però sempre la memoria ai disegni già ritratti. Poscia faccia una figura di rilievo di cera, lunga un mezo palmo, o più o meno secondo il suo parere, in piedi, con le gambe alquanto aperte e con le braccia distese, tal che facilmente si possa formare col gesso e gittarne di cera tante quante ne sarà bisogno nell’istoria; e mentre che saranno tenere, le potrà acconciare nei suoi atti, e se elle diventassero troppo dure le potrà tenere alquanto nell’acqua tepida, e si faranno molle. Come il pittore avrà fatte tante figure quante gli basteranno, le potrà accomodare secondo l’invenzion sua, poscia attaccarle sopra un’asse con un ferro caldo, e commodarvele secondo il suo disegno […] Intervenendovi figure vestite, bisogna far un’altra figura di cera che sia ben svelta, grande un palmo, e mezzo, perché se tu non la facessi così, la figura vestita restarebbe bozza; la qual figura s’ha da gittare al modo detto di sopra.“ Campi: Parere sopra la pittura, S. 103 f. Vgl. hierzu auch Meder: „Bernardo Campi empfiehlt demjenigen, der nicht ein naturgroßes [sic !] Manichino besitze, sich wenigstens ein Wachsmodell anzufertigen, das er entsprechend biegen könne, um daran die Draperie mit gut eingenäßtem dickeren oder dünneren Tuch (panno) herzurichten.“ Meder: Die Handzeichnung, S. 444.

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II  Kunst

tungen und Sujets dessen, was Ihr zu malen wünscht.“58 Er bevorzugt gerade jene Modelle aus Wachs, da sie am leichtesten verstellbar seien, wobei stets die richtigen Proportionen eingehalten werden sollen.59 Als Beispiel führt er Michelangelo an, der sich einiger dieser vollrunden Modelle aus Wachs bedient, und deren Gelenke er in warmem Wasser biegbar gemacht habe, um die kontinuierliche Körpertorsion am Modell beobachten zu können.60 Mit Leonardo verweist Armenini hingegen auf die unterschiedlichen Gefahren und Erfordernisse des Faltenwurfs, welcher Qualität und Textur des Tuches verdeutlichen und den darunterliegenden Körper stets respektieren soll.61 Giovanni Paolo Lomazzo (1538–1600) fasst im XXII. Kapitel des zweiten Buches seines umfassenden Trattato dell’arte della pittura, scultura et architettura62 diese bereits bekannten Untiefen einer stimmigen Drapierung der Figu58

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„Alcuni [i predetti modelli] adunque se fabbricano di cera, alcuni die terra, altri grandi, altri piccoli, altri vestiti, altri ignudi, e quando in piedi, e quando a sedere, e quando distesi, secondo i bisogni, gli atti et i soggetti delle cose, che essi dipinger vogliono.“ Giovanni Battista Armenini: De veri precetti della pittura (1587), hg. v. Marina Gorreni, Turin 1988, S. 114. Ebd., S.  116 ff. In der Ausgabe von 1820 wies der Herausgeber, Stefano Ticozzi (1762–1836), in den Anmerkungen zum 2. Kapitel darauf hin, dass Fra Bartolommeo (Baccio della Porta) als „Erfinder“ der hölzernen Gliederpuppe anzusehen sei, jenes Modells, das als „fantoccio“ bezeichnet wird: „È comune opinione che Baccio dalla Porta fosse l‘inventore del fantoccio per servire di modello in tutte quelle attitudini che il pittore vuole. Pare che quest‘ invenzione non fosse ignota agli antichi, senza però averne fatta l‘applicazione alla pittura.“ Im Sinne des Zeitgeistes fügte er wertend hinzu: „Di questo studio si valsero utilmente molti pittori del XVI. secolo, e tutti i moderni, e molti lo disapprovarono come pericoloso, dicendo che non si può copiare correttamente la figura che studiando la natura, e che i panneggiamenti fatti sono sempre duri e taglienti. Con ciò si vorrà dire che i pittori devono valersene con discrezione, e non copiare servilmente le pieghe dei drappi acconciati sul fantoccio mobile, perchè in tal caso l’artefice viene a privare il suo lavoro di quel fuoco, che è figlio dell‘invenzione e non della servile imitazione.“ Giovanni Battista Armenini: De veri precetti della pittura (1587), hg. v. Stefano Ticozzi, Mailand 1820, S. 213. Peppel irrt in der Annahme, diese Anmerkungen stammen von Armenini selbst: Peppel: Der Manichino, S. 101. „Poichè ciò pure si vede, da chi punto considera nel Giudizio dipinto da Michelangelo, lui essersi servito nal termine ch’io dico. Nè ei è mancato c’hanno detto quivi, ch’egli ne aveva alcune fatte di cera di man[o] sua, e che li torceva le membra a suo modo, immollando prima le giunture nell’acqua calda, acciò quelle a rimorbidir si venisse; […].“Armenini: De veri precetti, S. 118. Ebd., S. 119. Bei den hier genannten „modelli molti cuoprono e vestono in varj modi e con più sorte di panni“ könnte Armenini wiederum Gliederpuppen im Sinn gehabt haben, da jene für mehrfache, intensive Nutzungen mit unterschiedlichen Stoffbehängen deutlich besser geeignet wären, als die kleinen Modelle aus Wachs. Vgl. hierzu auch Michael Cole: The Figura Sforzata. Modelling, Power and the Mannerist Body, in: Art History 24/4 (2001), S. 520–551. Vgl. Schlosser: Die Kunstliteratur, S.  352ff; Marilena Z. Cassimatis: Zur Kunsttheorie des Malers Giovanni-Paolo Lomazzo (1538–1600), Frankfurt a. M. 1985;

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

ren zusammen – sie soll leicht und fließend den darunterliegenden Körper umschmeicheln.63 Er vertritt vehement die Auffassung, dass die jeweiligen Faltenwürfe in lebendiger Bewegung den Körper zugleich bedecken und darbieten sollen, indem sich etwa an den erhabenen Körperpartien, wie dem Kniegelenk, die Stoffe eng anlegen.64 In einer abschließenden Volte macht Lomazzo seinem Unmut über die einstige Verwendung von Papier für Draperiestudien Luft, um in einem letzten beiläufigen Kommentar einen Hinweis auf die Weiterentwicklung und namentliche Verwendung der plastischen Modelle zu liefern: „Ein weiterer Mangel wird auch bei den Faltenwürfen der alten Maler erkennbar, die in gewisser Weise wie hingeworfen scheinen, was darauf schließen lässt, dass diese Menschenmodelle gezeichnet haben, die sie zuvor mit Papier bekleideten. Dieses Vorgehen wurde dann mit grossem Aufwand bis zur Perfektion von Bramante und Andrea Mantegna verbessert, und sodann noch weiter korrigiert und bereinigt von Albrecht Dürer und Francisco de Holanda.“65 Als Idea del tempio della pittura betitelte Lomazzo sein 1590 publiziertes, in noch stärkerem Maße als sein Trattato von der mystischen Zahl sieben organisiertes Werk zur Malerei. In sieben Kapiteln werden darin technische und kompositorische Grundlagen der Malkunst verhandelt, um schließlich die sieben wichtigsten Maler Italiens zu rühmen. Besondere Bedeutung erlangt dabei die Beschreibung der Entwurfstechnik Tizians (1490–1576): „In dieser Hinsicht richtete sich Tizian nach Modellen, die aus Holz, Ton und Wachs gemacht waren, und mit denen er die Haltungen zeichnete, jedoch in stumpfwinkliger Nahsicht, was die Figuren größer und furchterregender macht […].“66 Genau

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Cornelia Manegold: Wahrnehmung – Bild – Gedächtnis. Studien zur Rezeption der aristotelischen Gedächtnistheorie in den kunsttheoretischen Schriften des Giovanni Paolo Lomazzo, Hildesheim 2004. Giovanni Paolo Lomazzo: Trattato dell’arte della pittura, scultura et architettura (1585), hg. v. Saverio Del Monte, Rom 1844, Kap. XXII, „Dei moti di tutte le sorte de panni “, S. 309 f. Vgl. ebd., S. 310 f. „Un altro mancamento si scorge anco ne‘ panni dei vecchi pittori, che pajono fatti in certo modo a scaglie, secondo che li cavavano da modelli d’uomini, credo io, vestiti di carta. La cosa à stata poi ridotta a perfezione con fatica grandissima da Bramante, et Andrea Mantegna; e dopo fu anco ricoretta, e pulita un poco più da Alberto Durero, e da Luca d’Olanda.“ Ebd., S. 312. „Tiziano in questa parte si sottoponeva a i modelli fatti di legno, di terra, et di cera, e da quelli cavava le posture, ma con distanza molto corta, et ottusa, per il che le figure si rendono più grandi, et terribili […].“ Giovanni Paolo Lomazzo: Idea del tempio della pittura (1590), Bd. I, hg. v. Robert Klein, Florenz 1974, S. 137. Tizians Umgang mit plastischen Modellen aus Holz, Ton und Wachs sollte in der Folge wieder durch Carlo Ridolfis (1594–1658) Le maraviglie dell‘arte (1648) bezeugt werden.

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II  Kunst

einhundert Jahre nach seiner Geburt – und eine Generation nach dessen Ableben – bezeugte Lomazzo bei Tizian den Einsatz plastischer Modelle. Mit diesem für seine maniera bekannten Maler schließt – und öffnet – sich in gewisser Weise der Kreis der schriftlichen Zeugnisse von körperhaften Modellen im Atelier der italienischen Renaissance. Die in den Schriftquellen bezeugten Modelle galten insbesondere durch ihre variable Gestalt als grundlegende Adjutanten des disegno. Die zum Standard gewordenen Hilfsmittel der Maler und Bildhauer, die über Generationen durch einen individuellen Einsatz den entscheidenden Schritt der Werkgenese ermöglicht hatten, wurden von nun an auch institutionell zum Ausbildungs- und Gestaltungsmedium deklariert. Mit der Gründung der Accademia di San Luca in Rom im Jahre 1593 sollte sich die Schulung junger Künstler an einem Ort konzentrieren, um gesammeltes Künstlerwissen zu bündeln, zu lehren und weiterzuentwickeln.67 Federico Zuccari (1542–1609) war als ihr Initiator und erster Präsident die prägende Gestalt der Gründungszeit, doch erst in seiner 1607 erschienenen Idea de’pittori scultori ed architetti sollte er die kunsttheoretischen und praktischen Hintergründe darlegen. Den entscheidenden Hinweis auf eine institutionalisierte Festsetzung künstlerischer Verfahren liefern indes die ersten Statuten zur anvisierten akademischen Ausbildung, die in den ordini von 1593 und 1596 festgeschrieben wurden. Im Jahre 1596 werden im Rahmen des zeichnerischen Studiums, neben Antiken und Aktmodellen, auch plastische Modelle anempfohlen, die zu bekleiden und abzuzeichnen sind: so sollen „Modelle aus Ton oder Wachs [gefertigt werden], die bekleidet und in gefälliger Manier abgezeichnet werden (fare modelli di creta, di cera, vestirli, e ritrarli con buona maniera) […].“68 67

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Nikolaus Pevsner: Academies of Art. Past and Present, Cambridge 1973; Carlo Pietrangeli u. a. (Hg.): L’Accademia nazionale di San Luca, Rom 1974; Peter M. Lukehart: The Accademia seminars. The Accademia di San Luca in Rome, c. 1590– 1635, New Haven 2009. Das Center for Advanced Study in the Visual Arts der National Gallery of Art widmet sich in Zusammenarbeit mit zahlreichen Partnern dem Projekt The History of the Accademia di San Luca, c. 1590–1635: Documents from the Archivio di Stato di Roma. Vgl. die Dokumentation mit ausführlicher Bibliographie: http://www.nga.gov/casva/accademia/reference.shtm [27.11.2014]. Die vollständige Anweisung, die Romano Alberti zehn Jahre später in seinen Origine übernehmen sollte, lautet: „chi disegnerà disegni a mano, chi cartoni, chi rilievi, chi teste, piedi e mani, e chi anderà fra la settimana, disegnando all’antico, alle facciate del Polidoro, chi ritrarrà prospettive di paesi, casamenti, chi animali, et altre si fatte cose, oltre nelli tempi convenevoli spogliare ignudi, e ritrarli con grazia e intelligenza, fare modelli di creta, di cera, vestirli, e ritrarli con buona maniera […].“ Zit. n. Melchior Missirini: Memorie per servire alla storia della romana accademia di S.  Luca fino alla morte di Antonio Canova, Rom 1823, S.  32. Zur hier greifbaren Institutionalisierung des akademischen Aktmodells vgl. Költzsch: Maler Modell; Monika Knofler: Das Zeichnen nach dem Modell. Kontinuum und Bedeutungswandel, in: Ausst. Kat.: Das Bild des Körpers in der Kunst des 17. bis 20. Jahrhunderts, hg. v. ders./Peter Weiermair, Salzburg 2000, S. 10–21.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bis zu den offiziell beglaubigten Statuten aus dem Jahr 1607 gibt es nur vereinzelt quellenbelegte Hinweise auf das Programm der Künstlerausbildung.69 Von immanenter Bedeutung ist insofern ein am 28. Dezember 1605 erteilter Auftrag des Architekten und akademischen Sekretärs Ottaviano Mascarino70 an Cristoforo Orlandi: Mit diesem liegt nicht nur ein Beleg für die anvisierten Studienformen und Vorlagenmodelle, sondern auch die erste Quelle für die Bestellung einer Gliederpuppe für das akademische Curriculum vor. Die von der Akademie getätigten Ausgaben galten der Anfertigung eines „lebensgroßen Holzmodells für die Indienstnahme in unserer Accademia di San Luca“.71 Es dürfte sich dabei kaum um ein Architekturmodell, sondern vielmehr um eine derartige Gliederpuppe handeln, wie sie in den Privatateliers des Quattro- und Cinquecento bereits zum Einsatz gelangt war.72 Dass die hier bestellte Gliederpuppe abermals in eine solche Werkstatt abwandern sollte, bezeugt ein auf dem Dokument verso geschriebener Vermerk, der besagt, dass, entgegen der Vereinbarung einer Nutzung in der Akademie, die Figur zunächst an den Maler Giovanni Baglione (um 1573–1644) ausgehändigt worden sei. 73 Dass zu dieser Zeit dennoch diese oder eine andere Gliederpuppe Einzug in die Accademia erhielt, und dabei im Laufe der Jahre vom Studieneinsatz in Mitleidenschaft gezogen wurde, bezeugt ein unter dem kurzzeitigen Präsidenten Francesco Mochi (1580–1654) am 19. Februar 1633 erstelltes Inventar: Jenes verzeichnet ein „Menschenmodell aus Holz, das verbiegbar ist, [und] dem eine Hand fehlt“.74 Ob es sich bei dem für das Jahr 1679 ergangenen Restaurierungsauftrag für die Instandsetzung eines „modello di legno che servre per li panni“, 69

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Eine der wichtigsten Publikationen, welche die Anweisungen Federico Zuccaris versammelte, stammt von Romano Alberti: Origine et progresso dell‘Accademia del disegno de‘ Pittori, Scultori et Architetti di Roma, Pavia 1604. Vgl. Pietro Roccasecca: Teaching in the Studio of the ‚Accademia del Disegno dei pittori, scultori e architetti di Roma‘ (1594–1636), in: The Accademia Seminars. The Accademia di San Luca in Rome, c. 1590–1635, hg. v. Peter M. Lukehart, New Haven/London 2009, S. 122–159. Die genaue Funktion Mascarinos ist nicht völlig geklärt. Vgl. Rachel George: Un „modello di legno“ à l’Académie Saint-Luc-de Rome. Sur les traces d‘un atelier avant 1624, in: Revue de l’art 171 (2011), S. 31–38, hier S. 34. Der Eintrag lautet: „Adi 28 decembre 1605, Io Ottaviano Mascherino ho pagato a M. Cristoforo Orlandi spagnolo giuli quarantasette quali sono a bon conto d’un modello di legno grande come il naturale, quale s’ha da servire per la nostra Accademia di San Luca, accordo con Messer Cristoforo alla presenza di Antiveduto Gramatica in scudi Diece di moneta, si come sarà firmato dal sopradetto Messer Cristofaro di sua propria mano e questa l’ho scritta io d’ordine suo Ottaviano Mascherino.“ AASL, GI, fol. 272r, zit. n. Roccasecca: Teaching in the Studio, S. 153, Anm. 32. Vgl. ebd., S. 133 f. Vgl. ebd., S. 153, Anm. 32; George: Un „modello di legno“, S. 34. Archivio di Stato di Roma (ASR), Trenta Notai Capitolini (TNC), uff. 15, 1633, pt. I, vol. 135, fol. Eine Ansicht sowie die Reinschrift wurden vom NGA-Projekt besorgt,

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II  Kunst

mit welchem der Maler Giovanni Bonatti (1635–1681) von der Kunstakademie betraut worden war, um dieselbe Modellfigur handelte, ist ungewiss.75 Im Seicento sollten weitere schriftliche Quellen Zeugnis vom Einsatz plastischer Modelle und Gliederpuppen ablegen. Dass dieses Modell südlich der Alpen bis dahin nicht nur in Italien, sondern etwa auch in Spanien Eingang in das Künstleratelier gefunden hatte, bezeugen auch dort entstandene Malereitraktate. Als Brückenfigur und Vermittler drängt sich der in Florenz geborene Vicente Carducho (1576–1638) auf, der als Gehilfe Federico Zuccaris nach Spanien gelangte und als königlicher Hofmaler Philipps III. und Philipps IV. Karriere machte.76 In seinen Diálogos de la pintura (1633) beschreibt er wiederholt den Einsatz plastischer Modelle sowie der Gliederpuppe, und zwar sowohl bei Malern als auch bei Bildhauern. Im achten Dialog, in welchem Carducho die praktischen Anweisungen an den Malerschüler auffächert, klärt er auch technische Bezeichnungen und Begriffe: „Der Maler studiert, stellt Betrachtungen an, überdenkt, urteilt, ersinnt im Geist Konzepte, Bilder und Vorstellungen […] er entwirft, zeichnet, skizziert, erfindet, malt […] stellt Kartons und Modelle her. Er arbeitet mit Modellen, Statuen und Malerpuppen.“77 Im Entwurfsprozess des Bildhauers werden nahezu dieselben Tätigkeiten und Gegenstände benannt: „Der Bildhauer studiert, stellt Betrachtungen an, überdenkt, urteilt, ersinnt im Geist Konzepte, Bilder und Vorstellungen […] Er bedient sich der Statuen und Modelle der Alten und der Malerpuppe und arbeitet auch nach dem lebenden Modell.“78 Carducho besaß indes selbst zwei Gliederpuppen, wie sein Testament bezeugt.79 Nur fünf Jahre später sollte schließlich der Maler, Kunsttheoretiker und Dichter Francisco Pacheco (1564–1654) das umfassendste Malereitraktat des

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unter: http://www.nga.gov/casva/accademia/html/eng/ASRTNCUff1516330219. shtm# [24.10.2014]. Vgl. zum Auftrag und der Ausführung die Quellenangaben bei George: Un „modello di legno“, S. 34. f. Vicente Carducho: Diálogos de la pintura. Su defensa, origen, essencia, definicion, modos y diferencias, Madrid (1633), hg. v. Francisco Calvo Serraller, Madrid 1979. Vgl. zuletzt mit Forschungsüberblick: Corinna Gramatke: Drei spanische maltechnische Texte des Barock. Kommentierte Übersetzung ins Deutsche der Passagen aus Vicente Carducho, Diálogos de la pintura (1633), Francisco Pacheco, Arte de la pintura (1649) und Antonio Palomino, El museo pictórico y escala óptica (1715–24), Diss. HfBK Dresden, 2009, unter: http://www.hfbk-dresden.de/fileadmin/alle/downloads/Restaurierung/ Diss_2009_ Gramatke [22.10.2014]. Carducho: Diálogos de la pintura, S. 386, übers. v. u. zit. n. Gramatke: Drei spanische maltechnische Texte des Barock, S. 41. Carducho: Diálogos de la pintura, S. 390 f., übers. v. u. zit. n. Gramatke: Drei spanische maltechnische Texte des Barock, S. 46. María A. Vizcaíno Villanueva: El pintor en la sociedad madrileña durante el reinado de Felipe IV., Diss. Univ. Madrid, Madrid 2005, S. 164; vgl. Gramatke: Drei spanische maltechnische Texte des Barock, S. 41.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

17. Jahrhunderts in drei Bänden vorlegen.80 In seinen Erläuterungen zum zeichnerischen Entwerfen der Bildkomposition benennt auch er wiederholt den Gebrauch plastischer Modelle und hölzerner Gliederpuppen: „Pablo de Cespédes […] fertigte ebenfalls plastische Modelle an […]. Ich sah einige Modellfiguren aus Wachs und Ton, die er als Vorlage für seine Gemälde und Zeichnungen nutzte, und zwar nicht nur für kleine, mit schwarzer und roter Kreide [gezeichnete] Historien und Figuren, sondern auch für große Kartons für Ölgemälde, von denen ich bezeuge, dass sie sehr kunstfertig mit Kohle gezeichnet waren. […] Antonio Mohedano tat dasselbe, die Gewänder nach einer Malerpuppe und die Akte, Hände und Füße als Zeichnungen nach dem lebenden Modell.“81 In der hiernach folgenden Beschreibung der Draperieanlage, bei welcher auf das bereits bei Leonardo festgehaltene Menetekel der ‚falschen‘ Papierdrapierung rekurriert wird, vollzieht sich allerdings eine Volte gegen die Gliederpuppe: „Mir scheint auch, dass die bekleidete Malerpuppe der Figur nicht viel Leben verleiht, da sie ein totes Ding ist – wenngleich sie zum Ausharren besser geeignet ist, als das lebende Modell.“82 Der hier beschriebene, mit dem Einsatz der Gliederpuppe in Verbindung gebrachte Anschein der Leblosigkeit, die verharrende Starre des in Stellung gebrachten Holzmodells, sollte sowohl für nachfolgende Kunsthistoriographen als auch für Kunstwissenschaftler der Moderne in enigmatischer Prägung fortbestehen. In den schriftlichen Quellen wiederholt als anthropomorpher Kunstleib für das Faltenstudium benannt, wurden für die Verwendung der Gliederfigur zunächst Draperiezeichnungen sowie verwandte Modellstudien als bildlicher Beleg ins Feld geführt. Ein der Gliederpuppe gleichsam anhaftender leblos-steifer Ausdruck wurde auch mittelbar in Figurenarrangements mit ähnlich starrem Charakter erkannt und diese somit als indirekte Bildquellen einer derartigen Modellverwendung in Betracht gezogen.

b   Bi ldquel len Wenngleich die schriftliche Quellenlage zur Verwendung der Gliederpuppe in der italienischen Renaissance ihr Fundament erhielt, ist paradoxerweise bis heute keine südalpine Darstellung der Frühen Neuzeit bekannt, die unzweifelhaft 80 81 82

Francisco Pacheco: El arte de la Pintura en tres libros, por Francisco Pacheco, vezino de Sevilla (1638/1649), hg. v. Bonaventura Bassegoda i Hugas, Madrid 1990. Pacheco: El arte de la Pintura, S. 440. Übers. n. Gramatke: Drei spanische maltechnische Texte des Barock, S. 66. Pacheco: El arte de la Pintura, S. 443. Übers. n. Gramatke: Drei spanische maltechnische Texte des Barock, S. 69.

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II  Kunst

ein solches Modell präsentiert.83 Im Gegegnsatz dazu treten auf Skizzen und Studien nordalpiner Renaissancekünstler, wie Albrecht Dürer, insbesondere aber auch in idealisierenden oder genrehaften Atelierszenen nördlich der Alpen sporadisch die hölzernen Gliedermodelle realiter zutage. Als Bildquellen der italienischen Renaissance dienen daher mitnichten Darstellungen von Gliederpuppen, sondern nur solche, die mutmaßlich mithilfe von Gliederpuppen geschaffen wurden.84 Anders als Gipsabgüsse oder Kleinplastiken, aber auch manuell geformte Modelle, konnte die Gliederpuppe bislang nur mittelbar als Bildbestand identifiziert werden, sei es als schemenhafte anthropomorphe Form für eine Draperiestudie, sei es als komplexe oder merkwürdig ‚starre‘ Bildgestalt. Obgleich der Einsatz von Gliederpuppen in Künstlerviten und Malereitraktaten benannt und beschrieben wird, erlangen bildliche Quellen der italienischen Renaissance nur über Vergleich und Interpretation ihre Gültigkeit.

D r ap er ie- u nd Mo del l st ud ie n Bereits für Künstler der Frührenaissance, die vor der ersten schriftlichen Beschreibung der Gliederpuppe durch Filarete aktiv waren, wurde vereinzelt angenommen, dass diese hauptsächlich Faltenwurfstudien mithilfe dieses Modells hergestellt haben.85 Deutlich vielzähliger sind allerdings Auslegungen bildlicher Quellen, die speziell Vasaris Verweise auf die Verwendung von Gliederpuppen und anderen künstlichen Figurenmodellen im Schaffensprozess der von ihm versammelten Künstler belegen sollen. Insbesondere im Werk des Fra Bartolomeo – in den Vite als einer der ersten Maler benannt, der die Gliederpuppe verwendet haben soll – wurden zahlreiche Studien als Belege für den Gebrauch dieses Modells herangezogen. Der vor seinem Eintritt in das Dominikanerkloster als Baccio della Porta bekannte Maler schien besonders prädestiniert für einen Einsatz dieses künstlichen Holzmodells: Auch wenn die Gliederpuppe in

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In einem von Jane Munro in der Ausstellung Silent Partners vorgestellten Skizzenblatt von Franceso Salviati (1510–1563) das den Hl. Johannes und Kinder, die eine Gliederpuppe einstellen zeigen soll, ist zwar ein antropomorphen Leib zu erkennen, dessen Kopf und rechter Arm vom Körper abgenommen werden. Aufgrund ihrer auffälligen anatomischen Durchgestaltung und fehlener Gelenkkonstruktionen bleibt die Figur indes ambivalent. Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 27, Abb. 28. Als erste gesicherte Gliederpuppendarstellung der Renaissance gilt bislang eine auf Blatt 143 b des Dresdner Dürer Codex skizzierte, beinlose Gliederfigur. Vgl. Weixlgärtner: Dürer und die Gliederpuppe, S. 80. Vgl. etwa für Donatello die Ausführungen von Bruno Bearzi (in Anlehnung an Alberti): „Dal resto è uso comune agli scultori di tutti i tempi modellare prima il nudo e poi vestirlo. Donatello ha comminciato col vestire il manichino con stoffa o carta […]“. Bruno Bearzi: Considerazioni di tecnica sul S. Ludovico e la Giuditta de Donatello, in: Bollettino d’Arte XXVI (1951), S. 119–123, hier S. 121.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

der Hochrenaissance, wie Filarete schon zehn Jahre vor der Geburt Fra Bartolomeos schriftlich bezeugt hatte, als Malermodell bekannt war, wurde er sogar zuweilen als deren „Erfinder“ gepriesen.86 Insbesondere bei weiblichen Bildfiguren lag ein Einsatz derartiger Modelle hinter Klostermauern bestechend nahe.87 Aufgrund zahlreicher Zuschreibungen eignen sich insofern die Draperiestudien dieses Künstlers in besonderem Maße für eine erste Annäherung an die kunstwissenschaftliche Diskussion um eine bildlich fassbare Gliederpuppenverwendung. Bei Vasari als lebensgroß beschrieben [un modello di legno grande quanto il vivo], wurde die Gliederpuppe Fra Bartolomeos als vielfach eingesetztes Modell bei der Werkgenese angenommen. Wolfram Prinz etwa meint sie in einer männlichen Gestalt wiederzuerkennen, die – ohne präzisierte Hände und mit schematischem Kopf – in mannigfachen Posen in Erscheinung tritt.88 Insbesondere in den heute im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam aufbewahrten Konglomeraten aus Skizzenblättern, die 1990 in einer umfassenden Werkschau präsentiert wurden, legen einige Figuren- und Draperiestudien die Verwendung der Gliederpuppe nahe.89 So wurde die 1499 entstandene 28,4 × 20,9 cm große Studie einer segnenden Christusgestalt, die aufrecht sitzend mit geöffneten Schenkeln und einem erhobenen rechten Arm zentral ins Bild gesetzt ist, möglicherweise mithilfe dieses hölzernen Modells angefertigt

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Wenngleich in dessen biographischen Notizen nicht derart bezeichnet, verweist Weixlgärtner auf Vasari, der Fra Bartolomeo, in Anlehnung an Ticozzius Armenini-Kommentar von 1820, als den „Erfinder der Gliederpuppe“ benannt haben soll, um anzufügen, dass dieser das Modell „nur verbessert“ habe. Vgl. Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 38. Zum Diktum, Fra Bartolommeo sei der Erfinder der Gliederpuppe, vgl. Ticozzis Anmerkung zu: Giovanni Battista Armenini: De veri precetti della pittura (1587), hg. v. Stefano Ticozzi, Mailand 1820, S. 213. Vgl. Meder: Die Handzeichnung, S. 555 f.: „Ein Klostermaler tat sich mit der Darstellung des weiblichen Körpers besonders schwer, so daß es nicht wundernehmen darf, wenn wir darin eine direkt auf einen weiblichen Habitus zugerichtete Puppe vor uns sehen.“ In diesem Sinne folgten etwa Hans von der Gabelentz: Fra Bartolomeo und die Florentiner Renaissance, Leipzig 1922, S.  17, 85, 143 sowie 283; im selben Sinne Chris Fischer: „Lo status clericale di Fra‘ Bartolomeo rendeva evidentemente impossibile l’uso di modelli nudi femminili e quindi l’artista si procurò due manichini.“ Chris Fischer: Fra‘ Bartolomeo disegnatore, in: Ausst. Kat.: L‘ età di Savonarola. Fra‘ Bartolomeo e la scuola di San Marco, hg. v. Serena Padovani, Venedig 1996, S. 13–17; zuletzt noch Peppel: Der Manichino, S. 101. „Questo manichino può essere individuato nei suoi disegni in una figura maschile che torna spesso in diverse posizioni e con vestiti diversi, senza che la testa e le mani siano ben precisate.“ Prinz: Dal vero o dal modello, S. 200. Vgl. Ausst. Kat.: Fra Bartolommeo. Master Draughtsman of the High Renaissance. A Selection from the Rotterdam Albums and Landscape Drawings from various Collections, hg. v. Chris Fischer, Rotterdam 1990.

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II  Kunst

(Bild 144).90 Das Hauptaugenmerk des mit schwarzer Kohle und weißen Höhungen auf chamoisfarbenem Karton festgehaltenen Entwurfes lag auf dem Faltenwurf des ausladenden Umhangs. Während das Tuch mit nuancierten Übergängen und einer differenzierten Drapierung zeichnerisch ausgeformt wurde, erweisen sich die sichtbaren Körperpartien als schematisch und undefiniert. Über dem Schlüsselbein zusammengehalten, gibt der Mantel den Blick auf einen kompakten Rumpf mit tief sitzendem Nabel frei, der Kopf ist in diffuse Strichbündel aufgelöst. Besonders beachtenswert sind an diesem Blatt die mutmaßlichen pentimenti, die unter Annahme einer zugrundeliegenden Gliederpuppenverwendung in anderem Licht erscheinen. Sie könnten sich als eindrucksvolles Zeugnis des Einstellungsvorgangs der beweglichen Glieder herausstellen. Während Fra Bartolomeo in einem ersten Entwurf die rechte Hand ein längs auf dem Oberschenkel liegendes Buch festhalten ließ, wobei die Linke locker im Schoß ruhen und der Kopf in beinahe gerader Haltung erscheinen sollte, zeigt die zweite Pose einen nunmehr nach oben gebogenen, zum Segensgestus angewinkelten rechen Arm, einen deutlich zur linken Seite geneigten Kopf sowie eine mittig unter die Brust geführte linke Hand. Der Maler brachte demzufolge seine Gliederfigur in diese Stellung, um dadurch eine dramatisch zugespitzte Geste zu erreichen.91 Durch die Überblendung der beiden Haltungen auf ein und demselben Blatt wird der dynamisch vollzogene Prozess der Bildfindung gleichsam greifbar. Eine weitere Gewandstudie desselben Künstlers, nunmehr aus den Uffizien, wurde desgleichen als Bildquelle des hölzernen Modells angesehen. Die Studie auf Leinwand zeigt einen grob angelegten Körper, dessen Kopf und Arme nur leicht angedeutet sind, wohingegen die über die rechte Schulter gelegte und im Schoß geraffte Draperie durch weiße Höhungen in vollster Plastizität wiedergegeben ist (Bild 145). Die Haltung dieser Figur ist leicht instabil, sie scheint in sich gedreht, mit dem rechten Bein in der Hocke, mit dem linken auf dem Knie zu lagern.92

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So vermerkt der Kurator Chris Fischer: „It was probably executed after a manichino draped in soft rags dipped in plaster, a practice which must have been current in Verrocchio’s bottega and which Fra Bartolommeo [sic!] might have learned from Leonardo or Credi.“ Ausst. Kat.: Fra Bartolommeo, S. 51, Kat. 6. Diese Haltung wurde schließlich für den Weltenrichter im ausgeführten Fresko des Giudizio Universale gewählt, das Fra Bartolomeo zusammen mit Albertinelli zwischen 1499 und 1500 ausführte. 360 × 375 cm, Museo di San Marco, Inv. Nr. 1890, n. 3211. Drei unmittelbar verwandte Zeichnungen aus Florenz, Rotterdam und London, bei welchen nunmehr allein die Haltung mit angewinkeltem erhobenen Arm weiterverfolgt wurde, bezeugen, dass dies die weiterentwickelte finale Haltung der Figur sein sollte. Vgl. Florenz: Uffizien, Inv. Nr. 455 E; Rotterdam: Museum Boijmans Van Beuningen, Inv. Nr. N67; London: British Museum, Inv. Nr. 1895,0915.487. Vgl. Sciolla: Il disegno dal manichino, S. 213 ff.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 144  Fra Bartolomeo: Studie für die Gestalt Christi, um 1500, schwarze Kreide, weiß gehöht, 28,4 × 20,9 cm, Inv. Nr. Vol. N 77, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam. (Farb­tafel 13)

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II  Kunst

Bild 145  Fra Bartolomeo: Draperiestudie, Tempera auf Leinwand, 27,9 × 19 cm, Gabinetto Disegni e Stampe, Uffizien, Florenz.

In einer aus Lille stammenden Entwurfszeichnung Fra Bartolomeos wirkt der Körper schließlich noch reduzierter und zergliederter (Bild 146):93 Hier ist das Gewand über die linke Schulter und den Arm einer sitzenden Gestalt gelegt und um den Rücken herumgeführt, um vorn von der linken Hand wieder aufgegriffen zu werden. Armlos und nur mit schematisch eingezeichneten Brustund Bauchmuskeln, erscheint der Leib ohne Haupt. Dieses ist um 180° gedreht über der linken Schulter angegeben und ähnelt, haarlos und mit fliehender Stirn, dem Kopf einer Gliederpuppe. Die in diesem frühen Entwurfsstadium

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Zur Zeichnung aus Lille siehe Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci. Die Gewandstudien, S. 92 f.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 146  Fra Bartolomeo: Draperiestudie, Gewandstudie, o. J., Metallstift weiß gehöht, 28,6 × 19,8 cm, Inv. Nr. Pl. 193, Musée des Beaux-Arts, Lille.

noch deutlicher als plastisches Modell zutage trendende Figur wird vom Künstler nicht detailgetreu kopiert, sondern als dynamisches Vorbild verstanden, dessen Kopf nicht zwingend zeichnerisch fixiert werden musste.94

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Die in dieser Arbeit auf Linien reduzierte Körperlichkeit, welche mit der voluminösen Faltenbildung stark kontrastiert, kann durchaus als die schematische Gestalt einer Gliederpuppe interpretiert werden. Doch sind im zeichnerischen Œuvre Fra Bartolomeos vielerlei ähnlich schematisch skizzierte männliche Figurentypen enthalten, deren teilweise steife Haltung und abstrahierte Kontur Gliederpuppenstudien zugrunde liegen könnten. Unter den in der Ausstellung 1990 in Rotterdam gezeigten Zeichnungen aus Fra Bartolomeos Skizzenbüchern weist eine Vielzahl jene Eigenschaften auf, vgl. Ausst. Kat.: Fra Bartolommeo, Kat. 1–17, 31, 34, 37, 40, 42, 53, 54, 60, 64 sowie 67, 70, 72–75, 77, 83, 85, 90 und 100.

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II  Kunst

Bild 147  Fra Bartolomeo: Drei Figurenstudien, Rötelzeichung, 20,6 × 26,4 cm, Inv. Nr. 1885,0509.34, British Museum, London.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die nur marginal angegebenen Körperdetails aufgrund des schnellen Skizzierens nach einem modell­ stehenden Klosterbruder oder garzone vernachlässigt worden sind. Die kahlen Köpfe könnten schließlich auch nach einem der zahlreichen Gipsabgüsse, die in Fra Bartolomeos Inventar genannt werden, ausgeführt worden sein.95 Folglich sollten es namentlich die Studien von weiblichen Figuren sein, die als letzter bildlicher Beweis für eine Gliederpuppenverwendung durch Fra Bartolomeo ins Feld geführt wurden. Meder war überzeugt, in Fra Bartolomeos Studie einer sitzenden Maria, wie sie etwa auf einer Münchner Zeichnung, im Rotterdamer Skizzenalbum sowie als Einzelfigur links auf einem Blatt im British Museum erscheint, den frühesten Bildbeleg einer Gliederpuppe vor Augen zu haben (Bild 147). Dieses Diktum fand in der Folge ein vielfaches Echo – um zugleich aber auch frühen Widerspruch zu ernten, etwa durch Weixlgärtner, für den, nach einer Prüfung aller Zeichnungen des Künstlers, „keine einzige einen sicheren Schluß auf die Verwendung eines Mannequin[s]“96 zuließ. Indes offen95 96

Vgl. Fritz Knapp: Fra Bartolommeo della Porta und die Schule von San Marco, Halle 1903, S. 275. Weixlgärtners ausführliche Äußerung lautet: „Von den mir teils in den Originalen, teils als Reproduktionen zugänglichen Zeichnungen Fra Bartolommeos [sic!] scheint mir keine einzige einen sicheren Schluß auf die Verwendung eines Manne-

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 148a–b  Fra Bartolomeo: Madonna mit Kind und dem Johannesknaben, 1505/1506, Federzeichnung, teilw. laviert und weiß gehöht, 18,7 × 16,3 mm, Inv. Nr. 1975.1.271, Metropolitan Museum of Art, New York.

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II  Kunst

Bild 149  Domenico Ghirlandaio: Gewandstudie zur Heimsuchung, Kreide in braun und schwarz, weiß gehöht, um 1491, Gabinetto Disegni e Stampe, Uffizien, Florenz.

bart ein Studienblatt, das heute im Metropolitan Museum verwahrt wird, sonderbare anatomische Eigenheiten der Bildfiguren (Bild 148a–b). Die 18,7 × 16,3 cm große Federzeichnung zeigt, neben zwei im Hintergrund skizzierten Putti, eine Madonna mit Kind und dem Johannesknaben. Besonders auffällig erscheinen hier die Extremitäten der Gottesmutter, die vernachlässigt sind, und besonders

quin zu gestatten. Wohl findet man häufig Köpfe ohne Angabe der Haare, eine ganz schematische Behandlung der Formen des menschlichen Körpers, so daß man manchmal unschlüssig ist, ob man einen männlichen oder einen weiblichen, einen nackten oder einen bekleideten vor sich hat, Aufnahmen derselben Figur in der nämlichen Stellung, aber von verschiedenen Seiten, formlose Stummel anstatt der Hände u. dergl. [sic!], doch scheint Fra Bartolommeo in der Tat der Gliederpuppe für die mit dem Stifte oder der Feder festzuhaltenden Bewegungsmotive […] wenig bedurft, nach ihr mehr vollendet als entworfen zu haben.“ Weixlgärtner: Dürer und die Gliederpuppe, S. 87.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 150  Michelan­ gelo: Studie zur Erythraeischen Sibylle, Federzeichnung, weiß gehöht, 1508–1512, 38,4 × 25,8 cm, Inv. Nr. 1887,0502.118, British Museum, London.

der handlose linke Arm des Jesuskindes, der als Stumpf wiedergegeben ist. Möglicherweise handelte es sich bei der im Teilungsvertrag des Fra Bartolomeo als armlang angegebenen Gliederpuppe [uno altro modello circa d’un braccio ghangherato] um das Modell für die hier dargestellte Kindergestalt.97 Die bildbezeugte Verwendung der Gliederpuppe erweist sich nicht allein bei den Studien Fra Bartolomeos als indiziengetragen. Ausgehend von der Münchner Marienstudie schloss Meder bei einer Gewandstudie des Domenico Ghirlandaio (1449–1494), die als Vorbereitung für die heute im Louvre bewahrte Heimsuchung gewertet wird, auf eine Verwendung der Gliederpuppe (Bild 149), was Carmen Bambach Cappel mit weiteren Beispielen zu stützen suchte.98 Dabei 97 98

Marchese: Memorie dei piú insigni pittori, scultori e architetti, S. 608. Meder: Die Handzeichnung, S. 555; Carmen Bambach Cappel: Michelangelo and His Drawings by Michael Hirst, in: The Art Bulletin 72/ 3 (1990), S. 493–498, hier S. 496.

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II  Kunst

wies sie darauf hin, dass Michelangelo in Ghirlandaios Werkstatt mit der Gliederpuppe in Kontakt gekommen sein könnte. Aus diesem Grund begrüßte Bambach Cappel die von Michael Hirst vorgeschlagene Interpretation, in Michelangelos Studie zur Erythraeischen Sibylle eine Gliederpuppenverwendung zu erkennen (Bild 150). Hirst zufolge lassen die flüchtigen Angaben der Figur kaum auf ein kleines tönernes Figürchen, wie es Leonardo zum Einsatz brachte, denn vielmehr auf ein bewegliches hölzernes Modell schließen.99 Es gilt als gesichert, dass Leonardo wiederum diese Verfahren in der Werkstatt Verrocchios angetroffen hatte, um sich dort allgemein im plastischen Modellieren, im Zusammenspiel von Auge und Hand, zu schulen.100 Die von Hirst benannten und bei Vasari beschriebenen Gewandstudien Leonardos, die auf die Verwendung von plastischen Modellen seitens des Renaissancemeisters hindeuten, wurden 1989 in einer grundlegenden Ausstellung im Louvre versammelt. Die eindrucksvollen monochromen Studien widmeten sich den von Leonardo für eine stimmige Bildgestalt so vehement eingeforderten pieghe e ammacature,101 die er mit der prägnanten Formel des belebten Gewandes be­ schrieben hat: „Die Gewänder, mit welchen die Figuren bekleidet sind, müssen zeigen, dass sie von eben diesen Figuren bewohnt werden“.102 Eine in der Pariser Ausstellung präsentierte Faltenwurfstudie für eine sitzende Figur in Frontalansicht aus dem Berliner Kupferstichkabinett (Bild 151), neben Leonardo auch Domenico Ghirlandaio zugeschrieben,103 weist sich durch eine besondere Ausformulierung der scharfen Hell-Dunkelkontraste als hochplastische Draperielandschaft aus: Über die linke Schulter geworfen, wird das Tuch über den vor den Bauch geführten Arm, dessen Umrisse unter dem Tuch hervorscheinen, den Schoß und die Knie bis zum Boden geführt. Mit feinen

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„The curiously polished abstraction of the figure, really no more than a prop for the drapery, is unusual. It is, I think, likely that Michelangelo arranged the drapery over a model, not one of modelled clay of the kind familiar from Leonardo’s practice, but a lay figure.“ Hirst: Michelangelo and His Drawings, S. 71. Vgl. Nino Smiraglia Scognamiglio: Ricerche e documenti sulla giovinezza di Leonardo da Vinci, Napoli, 1900, S. 30–34; Andreas Beyer: „Verus oculus“ oder die Konversion des Verrocchio: der Lehrer Leonardos aus der Sicht Giorgio Vasaris, in: Herbert Beck/Maraike Bückling/Edgar Lein (Hg.): Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio, Frankfurt a. M. 1996, S. 103–119. André Chastel: Leonardo. Stoffe und Falten, in: Ausst. Kat.: Leonardo Da Vinci. Die Gewandstudien, S. 9–14, hier S. 9. „I panni che vestono le figure debbono mostrare di essere abitati da esse figure“. Zit. n. Pedretti: „Bewohntes Tuch“, S. 19. Schulze Altcappenberg: Die italienischen Zeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett, S.  146–149. Zum Zusammenhang dieser Studie mit den von Ghirlandaio ausgeführten Gewölbefresken in der Cappella Fina im Dom von San Gimignano – sowie weitere Zuschreibungen, etwa an Fra Bartolomeo – vgl. ebd.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 151  Leonardo/Ghirlandaio (?): Gewandstudie, um 1475, Pinsel in Brauntönen, weiß gehöht, 23,6 × 17,7 cm, Inv. Nr. KdZ 5039, Kupferstichkabinett, Berlin.

Pinselstrichen ist die bekleidete Figur auf der Leinwand nachmodelliert. Teilweise korrigierende Übermalungen, die auf dem Schädel nur angedeuteten langen Haare, Proportion und Stellung des rechten Arms sowie der insgesamt überlängte Oberkörper lassen an ein lebensgroßes plastisches Modell anstelle eines natürlichen Körpers denken.104 Eine derartige rasch gezeichnete Körpersilhouette mit vage formulierter Anatomie zeigt sich auch in verschiedenen 104

„The models were probably live size, in keeping with the concern to depict the naturalistic fall of drapery that is dependent on absolute scale; and they may even have had moveable limbs like the wooden manikins of later centuries.“ Jean K. Cadogan: Linen Drapery Studies by Verrocchio, Leonardo and Ghirlandaio, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 46/1 (1983), S. 27–62, hier S. 56.

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II  Kunst

anderen Draperiestudien Leonardos.105 Dass dieser Künstler wie kein anderer das Universum des menschlichen Körpers anatomisch bis mathematisch in allen Facetten zu erkunden suchte, ist vielfach belegt.106 105

106

Vgl. etwa die Gewandstudien aus den Uffizien, Inv. Nr. 433E oder dem Gabinetto Nazionale delle Stampe, Inv. Nr. F.C. 125770; Ausst. Kat.: Leonardo Da Vinci. Die Gewandstudien, Kat. 15, Kat. 17. Insbesondere eine Gewandstudie aus dem Louvre, die die Verkündigung der Uffizien vorbereiten sollte, wurde als Bildbeleg für einen Gliederpuppengebrauch herangezogen: „Leonardo ha usato il manichino anche se si opponeva al suo uso: nel famoso disegno del drappeggio sulle gambe, al Louvre, collegato al dipinto dell‘„Annunziazione“ degli Uffizi.“ Prinz: Dal vero o dal Modello, S. 207, Anm. 13. Die diesbezügliche Forschung ist derart umfangreich, dass nur eine knappe Auswahl der jüngsten, mit breitem bibliographischem Überblick ausgestatteten Publi-

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 152a–b  Leonardo: Studienblatt aus dem Codex Atlanticus, Federzeichnungen, fol 366 recto, Bibliotheca Ambrosiana, Mailand.

Ob sich Leonardo außer Tonmodellen auch hölzerner Modelle wie Gliederpuppen bediente, ist fraglich – Indizien weisen jedoch darauf hin. Die Verknüpfung von Faltenwurf, mechanischem Menschenmodell, organischer Studie und phantastischer Formfindung zeigt ein Studienblatt aus dem Codex Atlanticus, das einer zeichnerischen Schatztruhe gleichkommt (Bild 152a–b). Auf dem kationen genannt sei: Alessandro Nova/Domenico Laurenza (Hg.): Leonardo da Vinci‘s Anatomical World. Language, Context and „Disegno“, Venedig 2011; Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci. Anatomist, hg. v. Martin Clayton/Ron Philo, London 2012; Paola Salvi (Hg.): L‘anatomia di Leonardo. „figurare e descrivere“. Contesti e metodi di visualizzazione anatomica di Leonardo da Vinci, Poggio a Caiano 2013.

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II  Kunst

Blatt sind verschiedene kleine Skizzen spielerisch verteilt. Seine Besiedelung erfolgte nach dem Prinzip des skizzierenden Fortentwickelns, des zeichnenden Denkens. Geometrische Figuren sowie plastische Würfelkörper sind neben Schnecken- und Fleckenformen, natürlichen und amorphen Gebilden, leicht zu erschließen. Unterhalb des Blattmittelpunktes und leicht nach links gerückt ist mit schnellem Strich eine kleine Faltenwurfstudie festgehalten. Die Draperie einer sitzenden Gewandfigur ist von den Knien abwärts wiedergegeben und darin mit dem Motiv der Berliner Studie durchaus vergleichbar. In der oberen Blatthälfte finden sich en miniature komplexe Evokationen des menschlichen Bewegungsapparates, die in ihrer mechanischen Funktionsdarstellung der Bewegungstechnik von Gliederpuppen folgen. Über der Draperiestudie ist in vierfacher Weise der Bewegungsapparat eines Kopfes skizziert. Rechts neben einer Schulter-Kopfpartie konzentriert sich bei zwei Skizzen das zeichnerische Interesse auf die Bewegungsfähigkeit des Halses. Der rechte Kopf weist ein Scharniergelenk auf, dessen Mechanik daneben erneut gezeichnet wurde. Linkerhand erlauben flach übereinander liegende Gelenkscheiben die angedeutete seitliche Kopfbewegung.107 Bei der größten Skizze links scheint der Kopf im Inneren auf einem Kugelgelenk aufzusitzen. In der Blattpartie darüber wird schließlich ein knöchernes Kniegelenk in ein mechanisches Zapfengelenk übersetzt, um gleich darauf in schnellen Strichen rechts in einem angewinkelten Bein verwirklicht zu werden, bei dem ein solches Gelenk im Knie nunmehr Scharnierbewegungen erlaubt. Ausgehend von den einfachen Flächenzeichnungen hin zu den komplexeren, organisch-technischen Körpervisionen sind alle miteinander kombinierten Skizzen als Mosaiksteine eines im Zentrum des Blattes kulminierenden Denkprozesses zu deuten. Die Vereinigung von Zeichnung und Geist gipfelt in mechanisch-gliederpuppenhaften Körperstrukturen. Eine derartig auf ihre gegliederte mechanistische Funktion hin abzielende Aufschlüsselung des Menschenleibs findet sich zahlreich in Leonardos Schaffen, doch ist es wiederum ein vermeintlich ordnungslos mit Skizzen übersätes Papier, welches den wohl signifikantesten Hinweis auf einen tatsächlichen Gliederpuppenbesitz Leonardos vermittelt: Ein um 1478 entstandenes 40,5 × 29 cm messendes Studienblatt aus der Royal Collection wird im Zentrum von einer Madonna mit Kind und dem Johannesknaben bestimmt. Rechts oberhalb der von elf menschlichen und drei animalischen Kopfstudien gerahmten Gruppe ist eine kleine männliche Gestalt in dynamischem Ausfallschritt wiedergegeben (Bild 153a–b).108 Ihr rechter Arm ist vor dem nackten Leib angewinkelt, der linke 107

108

Ein solches Scheibengelenk wurde realiter bei Gliederpuppen verwirklicht, um eine graduelle seitliche Neigung zu ermöglichen. Vgl. etwa die Gliederpuppe im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Bild 203). Vgl. Martin Clayton: Leonardo da Vinci: The Divine and The Grotesque, London 2002, S. 16–19.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 153a–b  Leonardo: Madonna mit Kind und Johannesknaben sowie Köpfe im Profil, Federzeichnung, um 1478, 40,2 × 29 cm, Inv. Nr. 12276, The Royal Collection, London. (Farb­tafel 14)

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II  Kunst

wurde nicht verwirklicht. Noch vehementer als der schematisierte Kopf mit eingezeichnetem Konstruktionskreuz erregt die deutlich zweigeteilte Anlage des Rumpfes Aufmerksamkeit: Zwischen dem mit breitem Nabel markierten Unterleib und der blockhaften Brust ist die Körperkontinuität deutlich unterbrochen. Beide Rumpfpartien sind über eine Gelenkverbindung in der Leibesmitte beweglich miteinander verbunden, wie sie bei den Gliederpuppen-Écorchés beobachtet werden konnte (Bild 122, 123). Die nur tentativ hinter Kopf und Rücken ausgeführten Schattenlinien ergeben in diesem Licht eine zweite Deutungsebene. Wie die Christusgestalt des Fra Bartolomeo, die innerhalb eines Blattes in eine zweite Position verbracht wurde, scheinen die feinen Linien von einer ursprünglich aufrechteren Oberkörperhaltung der Figur herzurühren. Durch ihre Draperie- und Figurenstudien sind Protagonisten der Hochrenaissance wie Leonardo, Michelangelo und Fra Bartolomeo wiederholt mit der Verwendung von Gliederpuppen in Zusammenhang gebracht worden. Diese Reihe könnte durch Studien zahlreicher Zeitgenossen, von Francesco Botticini (1446–1497) bis Bandinelli, fortgesetzt werden.109 Wenn bei diesen Künstlern eine sich verstetigende Verwendung von Gliederpuppen angenommen wurde, dann vornehmlich unter Berufung auf die in den Werken ihrer Vorgänger bereits beobachteten Phänomene.110 Die Rückschlüsse konzentrierten sich jedoch mitnichten allein auf vorbereitende Einzelstudien oder Draperien. Auch Figurenarrangements oder gar ausgeführte Werke sollten als Bildquellen für den Einsatz der Gliederpuppe eintreten.

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Beide stehen beispielhaft für die einerseits beim Faltenstudium, andererseits bei der Erkundung der menschlichen Gestalt angenommene Gliederpuppenverwendung. William M. Griswold stellte bei den Draperiezeichnungen Botticinis den Einsatz des gegliederten Modells fest: „The Drapery [of Botticini] in the Florence and Turin studies appears to have been arranged on a lay-figure, perhaps after having been dipped in wet plaster so that the artist could more easily manipulate the fabric into complicated folds.“ William M. Griswold: Drawings by Francesco Botticini, in: Master Drawings 32/2 (1994), S. 151–154, hier S. 153 f. Lutz Malke sieht hingegen in einer variantenreichen Puttostudie des Baccio Bandinelli im Frankfurter Städel die Verwendung einer Gliederpuppe. Das mit Studien nach einer Gliederpuppe bezeichnete Blatt lässt aufgrund einer „artifizielle[n] Haltung […] vermuten, dass eine Gliederpuppe benutzt worden ist.“ Ausst. Kat.: Italienische Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts, bearb. v. Lutz Malke, Frankfurt a. M. 1980, S. 50. So bemerkt Popham über eine Draperiestudie des Parmigianino (1503–1540) im British Museum: „These are studies from different angles of the same model, which was no doubt a lay-figure of some sort.“ Arthur Ewart Popham: Catalogue of the Drawings of Parmigianino in Three Volumes, London/New Haven 1971, pl. lxxib.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 154  Masaccio: Zinsgroschen, 1425–1428, Fresko, 255 × 598 cm, Brancacci-Kapelle, Santa Maria del Carmine, Florenz.

Fig u r e n a r r a nge me nt s u nd Sz e ner ie n Auch wenn keine schriftlichen Belege dies untermauern, wurde die Verwendung von Gliederpuppen bereits in ausgeführten Szenerien in Fresken der Frührenaissance erkannt. Beim Bildzyklus der Brancacci-Kapelle von Masaccio (1401–1428) und Masolino (1383–1447) aus dem ersten Drittel des Quattrocento habe der Einsatz einer Gliederpuppe, so Prinz, beim Entwurf des Bildpersonals zu einer wiederholt beobachtbaren steifen Haltung in den verschieden variierten Figurendarstellungen geführt. Insbesondere in der Szene des Zinsgroschen sei für die Figuren eine Gliederpuppe in unterschiedlichen Posen als Modell eingesetzt worden (Bild 154).111 Diesem Vorschlag folgte Keith Christiansen,112 um ihn in anderen Gestalten bestätigt zu finden und schließlich zu einer grundsätzlichen Methode für die Figurenentwicklung der Renaissance zu erklären: Masaccio habe, unter dem Einfluss der plastischen Modelle Donatel111

112

„Anche se l’uso del manichino da parte di Masolino e di Masaccio rimane solo un’ipotesi, è però assai verisimile che proprio in quel clima di ricerca sperimentale in cui di frequente ricorre l’interesse per espedienti singolari […] è assai verisimile, appunto che il manichino descrittori dal Filarete abbia trovato giustamente allora la sua prima utilizzazione.“ Prinz: Dal vero o dal modello?, S. 202. „The figures of St. Peter paying the tax collector in the Tribute Money and distri­ buting alms in the lower band seem to have been created from a single draped model or mannequin viewed from different sides. Equally, the marvelously described drapery of Masaccio’s St. Peter enthroned must be the result of a study made from actual cloth dipped in size and arranged on a lay figure – a procedure later followed by Leonardo in Verrocchio’s workshop.“ Keith Christiansen: Some Observations on the Brancacci Chapel Frescoes after Their Cleaning, in: The Burlington Magazine 133/1054 (1991), S. 4–20, hier S. 19.

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II  Kunst

los, ein generelles Prinzip körperhafter Vorlagen in die Kunst der italienischen Malerei eingeführt. Die hier beobachtbare Gliederpuppenverwendung, so Christiansen, sollte wiederum andere inspirieren, etwa Piero della Francesca in seinem Fresko der Anbetung des Hl. Kreuzes durch die Königin von Saba in der Cappella Bacci in Arrezzo.113 Nicht nur in Piero della Francescas Fresko, sondern auch in den Bildzyklen von Paolo Ucello (1397–1475) und Luca Signorelli (1445–1523) glaubt Prinz die gegliederte Modellfigur zu erkennen. Er verwies dabei primär auf die bei Mensch und, im Falle von Ucello, bei Pferden zu beobachtende eigentümlich steife Haltung und schlug damit den Bogen zu Vasaris Ausspruch über die bei Niccolò Soggi festgestellte maniera dura, die von dessen Verwendung der unbelebten Modelle herrühren sollte. Prinz beschreibt, dass Ucello in seinen Schlachtendarstellungen die verschiedenen Haltungen der Pferde derart wiedergibt, als ob er nicht Tiere, sondern die Verwendung hölzerner Vorlagen zeigen wollte.114 In Piero della Francescas Schlacht des Kaisers Heraklius gegen die Perser entdecke man schließlich dasselbe Pferdemodell wie in der Schlacht des Heraklius gegen Choroes, jedoch um etwas mehr als neunzig Grad gedreht.115 Dass für verschiedene Ansichten ein dreidimensionales Modell verwendet wird, ist möglich, jedoch nicht in jedem Fall zwingend erforderlich. Auch durch Spiegelung und Drehung von gezeichneten Vorlagen konnte der Künstler ein Motiv von verschiedenen Seiten wiedergeben, wofür allerdings ein hohes Maß an körperlichem Verständnis und räumlichem Vorstellungsvermögen vonnöten war. Zwingend erforderlich wird die Verwendung eines plastischen Modells, wenn hoch komplexe, teilweise unnatürliche Körperhaltungen oder eine extreme Bewegung wiedergegeben werden sollen, die von einem lebenden Modell nicht für die Länge des Entwurfsprozesses gehalten werden könnte.116 Dies ist etwa im Dom von Orvieto in Luca Signorellis Fresko der Verdammten in besonders eindrucksvollem Maße nachvollziehbar (Bild 155). Bei einigen der in sich verdrehten Gestalten war die zurechtgestellte plastische Figur sicherlich dienlicher als ein Studium der Körper nach der Natur. Dass Signorelli Gebrauch von Gliederpuppen machte, ist nicht schriftlich belegt. Den113 114

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Christiansen: Some Observations, S. 20. „E quasi come se avesse voluto introdurre di proposito il manichino nel quadro, i suoi cavelli appaiano veramente come se fossero di legno.“ Prinz: Dal vero o dal modello?, S. 200. Er beruft sich dabei wiederum auf Vasari, welcher von Paolo Ucello berichtet, das jener „tenne sempre per casa dipinti uccelli, gatti, cani e d‘ogni sorte di animali strani che potette aver in disegno, non potendo tenere de‘ vivi per esser povero.“ Vasari: Le vite, Bd. III, S. 65. Prinz: Dal vero o dal modello?, S. 202. Es handelt sich in diesem Fall, wie bereits Weixlgärtner feststellt, wohl eher um ein festes, denn um ein wie die Gliederpuppe verstellbares Tiermodell. Weixlgärtner: Dürer und die Gliederpuppe, S. 86. Vgl. Fusco: The Use of Sculptural Models, S. 181.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 155  Luca Signorelli: Die Verdammten, 1499–1503, Fresko, Cappella di San Brizio, Dom von Orvieto.

noch können nicht nur für die bekleideten, sondern auch für viele der nackten Frauen und Männer des Freskos, etwa für die aus dem Himmel Herabstürzenden, besonders für den Fallenden zentral im Bild, der in höchst artifizieller Pose wie an einem Bein aufgehängt und mit von sich gestreckten Gliedmaßen gezeigt wird, Studien mit Gliederpuppen vermutet werden.117 Versuche in Werken jener Künstler, von welchen eine Verwendung plastischer Menschenmodelle aus Ton, Wachs oder Holz im Atelier nicht schriftlich belegt ist, einen Gebrauch derartiger Vorlagen durch werkimmanente Stilmerkmale nachzuweisen, erreichten auch die berühmtesten Bildkompositionen der Renaissance: Lutz Malke verwies anhand einer Entwurfszeichnung Raffaels (1483–1520) zum großflächigen Wandfresko der Disputà del Sacramento in der Stanza della Segnatura, in welcher sich die Figuren noch als arrangierte, schema-

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Vgl. Prinz: Dal vero o dal modello?, S. 202.

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II  Kunst

Bild 156  Tintoretto: Venus und Vulkan, um 1555, Feder- und Pinselzeichnung, 20,1 × 27,2 cm, Inv. Nr. KdZ 4193, Kupferstichkabinett, Berlin.

tische Gestalten zeigen, auf dessen Verwendung von Gliederpuppen im Rahmen eines sorgfältig vorbereiteten Werkentstehungsprozesses.118 Tintorettos einzig erhaltener zeichnerischer concetto, eine Vorzeichnung zu seinem Gemälde Venus und Vulkan, die im Berliner Kupferstichkabinett aufbewahrt wird, scheint ebenfalls auf eine Verwendung der Gliederpuppe zu verweisen (Bild 156). Die Zeichnung ist zwar, als erster Entwurf, deutlich kleiner als das ausgeführte Gemälde. Dennoch zeigt sich bereits hier unverkennbar die geplante Komposition, wenngleich etwa der unter dem reich drapierten Tisch versteckte Mars erst im Ölbild verwirklicht wurde. Die in der Studie mit suchendem Duktus umrissenen Figuren in ihrer artifiziellen Haltung hat,

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„Raffaelo ha portato al più alto livello la sistematica del diesgno preparatorio. È poco noto nella storia dell’arte, che anche lui ha fatto uso del manichino.“ Ausst. Kat.: Italienische Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 76. Auch bei der aus verschiedenen Ansichten gezeichneten Studie zum Kindermord in Bethlehem des Poalo Farinati geht Malke davon aus, dass die Figurendarstellungen mithilfe von Gliederpuppen entstanden sind. Hier verwiesen die neben der dann im Veroneser Altarbild verwirklichten, alternativen Ansichten „derselben Gruppe aus anderen Blickwinkeln […], dass plastische Modelle, Gliederpuppen abgezeichnet und im Blatt nebeneinander angeordnet worden sind.“ Ebd., S. 50.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

wie Hein-Theodor Schulze Altcappenberg annimmt, „Tintoretto wahrscheinlich nach Gliederpuppen („manichini“) oder Wachsmodellen studiert“119. In diesen und anderen figurenreichen Bildquellen ist der Einsatz der Gliederpuppe beziehungsweise eines formbaren plastischen Modells ebenso wenig wie in den Draperie- und Figurenstudien abschließend nachweisbar. Die vorgewiesenen formalen Aspekte – steife Haltung, unförmig modellierte Körperstrukturen oder eine insgesamt schematische Figuration – sind in sich schlüssig, allerdings nicht völlig hinreichend. Dass jene Modelle häufiger als in den wenigen schriftlichen Quellen überliefert zum Einsatz kamen, ist naheliegend, fand doch der zumeist wohl überlegte, teilweise aufwendige Entwurfsprozess selten Einzug in Berichte über die Genese der Kunstwerke. Zumindest dem Anschein nach sollten sie mit bravouröser Leichtigkeit des geistreichen Künstlergenies und nicht als Produkt eines langwierigen, von Rückschlägen durchzogenen Entwurfsprozesses erscheinen.

c   Da s verhei m l ic hte Mo del l Bei wohl kaum einem anderen Modell der italienischen Renaissance manifestiert sich die Diskrepanz zwischen bildlichem Auftreten und tatsächlichem Einsatz derart konsequent wie bei der hölzernen Gliederpuppe. Als dienendes Menschensubstitut für langwierige Faltenwurfstudien, als einstellbare Figur für variantenreiche Ansichten oder auch als flexible anthropomorphe Gestalt für komplexe Haltungen war sie in höchstem Maße für eine künstlerische Umsetzung körperhafter Bildwerte geeignet. Dennoch sind es nicht diese Modelle, die in den ersten Atelier- und Studiodarstellungen des Cinquecento oder gar als Inventar der ersten Akademiendarstellungen erscheinen.

Bi ld i nve nt a r e f r ü her A k ade m iebi lder Viele Jahre vor der ersten offiziellen Gründung einer Künstlerakademie im ­Jahre 1563 in Florenz unterhielt Baccio Bandinelli in Rom bereits eine zum gemeinsamen Zeichenstudium eingerichtete Werkstatt. Im 1531 entstandenen Kupferstich des Agostino Veneziano (1490–1540) wird die intime, geradezu geheimnisvolle Atmosphäre dieses kennerschaftlichen Künstlerkreises offenbar (Bild 157): In einem fensterlosen Zimmer um einen Tisch geschart, studieren sieben Männer die Kunst der Proportion und des disegno. Aus dem Sammelsurium von antiken Kleinplastiken, Gipsabgüssen und rundplastischen Gefäßen 119

Hein-Theodor Schulze Altcappenberg: Katalog, in: Alexander Dückers (Hg.): Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, Berlin 1994, S. 244– 298, hier S. 268.

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II  Kunst

Bild 157  Agostino Veneziano: Die Akademie des Baccio Bandinelli, 1531, Kupferstich, 27,4 × 29,8 cm, Inv. Nr. H,7.35, British Museum, London.

dienen der Gruppe während dieser Zusammenkunft als Anschauungs- und Lehrmittel eine weibliche sowie eine männliche Statuette.120 Die bei diffusem Kerzenlicht im Raum arrangierten Modelle erreichen eine eigene Form der Animation, die sich etwa in der Venusstatuette auf dem blockhaften Wandvorsprung deutlich zu erkennen gibt, deren Schatten eine abweichende Armhaltung zeigt.121 Alle hier evozierten Objekte, die dem Zeichenstudium des erlesenen Kreises dienen, sind sorgfältig ausgestaltet, keine der antikischen Miniaturen erscheint als form- oder veränderbares Ton- oder Wachsmodell, oder könnte gar

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Vgl. Nikolaus Pevsner: Academies of Art. Past and Present, New York 1973, S. 39 f.; Carl Goldstein: Teaching Art. Academies and Schools from Vasari to Albers, Cambridge 1996, Kap. I („The Problem of the First Academy“), S. 10–29; Georg-Wilhelm Költzsch: Maler Modell. Der Maler und sein Modell. Geschichte und Deutung eines Bildthemas, Köln 2000, S. 126; Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt, S. 84 f. Eine Allusion an das von Platon im siebten Buch seines Dialogs Politeía geschilderten Höhlengleichnisses ist unverkennbar. Zu diesem Stich und den dort beobachtbaren „belebten Simulacren“ vgl. Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, München 1999, S. 126 f.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 158  Enea Vico: Baccio Bandinellis Akademie, um 1545, Kupferstich, 30,7 × 47 cm, Inv. Nr. V,2.135, British Museum, London.

als eine der quellenbelegten unterlebensgroßen Gliederpuppen gedeutet werden. Es handelt sich vielmehr um die vor Augen gestellte, zeichnerisch zu entwickelnde Idealform, die nach dem Erfassen von Rundkörpern oder Einzelgliedern mit der Wiedergabe des wohlproportionierten Leibes eine höhere Stufe der Zeichenkunst beschreibt. Auch in einem zweiten mit Bandinellis Akademie verbundenen Stich, in dem Enea Vico (1523–1567) die Entwicklung dieser Institution nachvollzieht, zählen Gliederpuppen mitnichten zum Studieninventar (Bild 158): in einem längsgerichteten Studiensaal scharen sich zwei Gruppen von Künstlern um die beiden künstlichen Lichtquellen, links um den ausladenden, puttenbekrönten Kamin, in welchem eine dreiflammige Öllampe den Feuerschein verstärkt, rechts um eine stehende Lampe mit breiterem Docht, die auf der hinteren rechten Ecke des Zeichentisches platziert ist. Auch die Zahl der Künstler hat sich mit dreizehn Studierenden unterschiedlichen Alters beinahe verdoppelt.122 Zeichnend, sinnend, disputierend, gilt ihre kollektive Aufmerksamkeit der grund122

Vgl. Pevsner: Academies of Art, S.  40 ff. Der Stich geht auf eine von Bandinelli selbst entworfene Zeichnung zurück. Zum Bildpersonal, das möglicherweise Michelangelo, Bandinelli (ganz rechts, mit dem Kreuz des Santiago-Ordens auf der Brust) sowie Herzog Cosimo I. zeigt, vgl. Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt, S. 86 f. Zu den unterschiedlichen Formen der Selbstdarstellung Bandinellis vgl. grundlegend Nicole Hegener: Divi Iacobi Eques. Selbstdarstellung im Werk des Florentiner Bildhauers Baccio Bandinelli, München 2008.

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II  Kunst

Bild 159  Cornelis Cort: Akademie der Bildenden Künste, 1578, Kupferstich, 43,2 × 29,8 cm, British Museum, London.

legenden Erforschung einer praktischen und theoretischen Erfassung künstlerischer Formen. Die hierbei attributiv in zwei Ebenen arrangierten Vorlagen und Studienobjekte – auf dem Boden an der unteren Bildkante sowie am oberen Bildrand auf einem mit dem Kamin verkröpften Gesims – reichen vom menschlichen Schädel und Rumpfskelett über eine römisch-antikisierende Büste bis hin

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

Bild 160  Pietro Francesco Alberti: Malerakademie, Anfang 17. Jh., Radierung, 41 × 53 cm, Inv. Nr. 1684 F.2, Hamburger Kunsthalle.

zu zahlreichen, beinahe ausnahmslos fragmentierten Statuetten. Diese die Studierenden wie Beobachter umringenden Modelle sind zumeist ohne Extremitäten dargestellt, weshalb sie mit den handgeformten bozzetti verwandt scheinen.123 Abermals findet sich jedoch keine Gliederpuppe unter den Übungs- und Lehrobjekten. In weiteren berühmt gewordenen Graphiken des 16. Jahrhunderts, die im Kern auf eine Zusammenschau der anvisierten akademischen Lehrinhalte abzielen, sind verschiedenste Modelle und damit verbundene Studienbereiche der Künste auszumachen. In Cornelis Corts (1533–1578) pyramidal aufgeschichteter Allegorie zu einer Akademie der Bildenden Künste, die er 1578 in Rom nach einer Vorlage von Jan van der Straet (1523–1605) stach, reichen die Anschauungsobjekte von der aufgespannten, gehäuteten und mit „ANATOMIA“ bezeichneten Leiche über das menschliche Skelett bis hin zum unterlebensgroßen antikisierenden Modell des Menschen (Bild 159).124 Desgleichen werden in der kurz 123 124

Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt, S. 86 f. Vgl. Pevsner: Academies of Art, S. 48 ff.; Dorothee Müller: Die bildlichen Darstellungen der Kunstakademien im 17. und 18. Jahrhundert als Zeugnisse ihrer

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nach der Jahrhundertwende entstandenen Darstellung einer idealen Malerakademie, die ein Mitglied der Accademia di San Luca, Pietro Francesco Alberti (1584–1638), um 1625 radierte, alle Facetten des akademischen Lehrbetriebs vorgestellt (Bild 160): Neben dem Anatomiestudium an Leiche und Skelett stehen Gipsabgüsse von Einzelgliedern für das Zeichenstudium bereit, während rechts im Vordergrund kleinplastische Figuren aus Wachs oder Ton von Hand geformt werden. Ergänzt werden diese von Gemälden unterschiedlicher Bildgattungen – Landschaft, Porträt und religiöses Historienbild –, die an der Längswand angebracht sind. Das Inventar entspricht in bestechender Weise dem Lehrinstrumentarium, welches Zuccari 1593 vorgegeben und das vom späteren Sekretär der Accademia di San Luca, Romano Alberti, 1604 in den Origine et progresso dell‘Accademia del disegno beschrieben wurde.125 Für das Jahr 1605 ist die Bestellung einer Gliederpuppe bekannt – doch taucht sie weder in Pietros Akademieszene noch in einer der früheren Darstellungen des Lehrbetriebs auf.126 Innerhalb der neuzeitlichen Akademiebilder bleibt die Gliederpuppe ein verheimlichtes Modell.

Sp re z z a t u ra a l s H a nd lu ng s a nwe i su ng Eine im ersten Drittel des Cinquecento entstandene Schrift, die gleichsam als Manifest des geistigen Klimas jener Zeit zu gelten hat, könnte einen Hinweis auf das Verständnis der Darstellung von Kunstfertigkeit und damit den Grund einer Verheimlichung der Gliederpuppe als unsichtbares und doch stets angewendetes Hilfsmodell geben: Baldassare Castigliones (1478–1529) Libro del cortegiano. In dem nur wenige Monate vor seinem Ableben publizierten Werk evoziert der Autor ein Tischgespräch am Hofe der Herzogin Elisabetta Gonzaga (1471–1526). In dessen Rahmen wird jenes Idealbild des tugendhaften Hofmannes (und auch der Hofdame) entworfen, das in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen ist.127 Der sowohl im kämpferischen Wettstreit gerüstete als auch im

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geschichtlichen Entwicklung, ihrer Theorie und Praxis, Diss. TU München 1978, Typoskript, S. 23–28; Költzsch: Maler Modell, S. 128–131. In seinem nur ein Jahr später nach der Vorlage Federico Zuccaris entstandendenem Lamento della Pittura gesellen sich trotz überbordender Bildmotive nur einige Gipsabgüsse als weitere Modelle hinzu. Alberti war 1598–1599 Sekretär der Accademia und eng mit der Entwicklung der Statuten vertraut. Eine der vonseiten der assistenti begleiteten Übungen umfasste die Herstellung von Modellen aus Wachs und Ton, um diese zu bekleiden und abzuzeichnen. Vgl. Alberti: Origine et progresso dell’Accademia del disegno, S. 8. Roccasecca: Teaching in the Studio, S. 153, Anm. 32. Wie Andreas Beyer im Vorwort zur Neuausgabe der deutschen Übersetzung darlegt, entwirft „Castiglione […] mit dem universal begabten und gebildeten Menschen der Renaissance den Prototyp jenes „Gentiluomo“, der als „Hônnete homme“

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ästhetischen Empfinden gebildete Mensch erscheint als mündiges, durch überlegtes Agieren und verhohlenes Taktieren reüssierendes Individuum. Insbesondere für den Hofkünstler, als Inbegriff des uomo universale, sollte das hierbei aufscheinende Ideal eine prägende Wirkung entfalten.128 Im ersten Buch wird eines der hierfür erforderlichen zentralen Verhaltensmuster, ein Codex des zu wahrenden Anscheins, vorgestellt. Jedwede Handlung solle mit sprezzatura vorgetragen werden und von grazia bestimmt sein.129 Das hierbei als rhetorischer Auftakt gewählte Beispiel trägt bereits im Kern die für den bildenden Künstler relevante paragonale Situation zwischen Nachahmung und aemulatio des Vorbildes: „Wer nun ein guter Schüler sein will, hat alle Sorgfalt aufzubieten, sich seinem Lehrer ähnlich zu machen, ja, sich, wenn es möglich wäre, in ihn zu verwandeln. Wenn er einmal inne wird, bereits einen kleinen Vorteil erreicht zu haben, ist es für ihn sehr wichtig, andere Leute bei der betreffenden Übung zu beobachten und an ihnen mit raschem Urteil das herauszufinden, dessen Nachahmung ihm selbst förderlich ist.“130 Doch komme es nicht allein auf den Inhalt, sondern auch auf die Vortragsweise desselben an, die leicht, mühelos und anmutig erscheinen soll: „Ich habe nun des öfteren bei mir nachgedacht, woher die Anmut [grazia] mit Ausnahme der durch die Gunst der Gestirne erhaltenen eigentlich stamme, und eine Regel gefunden, die mir allgemein gültig zu sein scheint bei allen menschlichen Taten und Reden: man muß jede Ziererei gleich einer spitzigen und gefährlichen Klippe vermeiden und, um eine neue Wendung [nova parola] zu gebrauchen, eine gewisse Nachlässig-

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und „Gentleman“ zum gesellschaftlichen Leitbild der nachfolgenden Jahrhunderte werden sollte.“ Andreas Beyer: Vorwort, in: Baldassare Castiglione: Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance, a. d. It. v. Albert Wesselski, m. e. Vorw. v. Andreas Beyer, Berlin 32008, S. 5–9, hier S. 8. Vgl. grundlegend Martin Warnke: Der Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985. Vgl. Günter Blamberger: Ars et Mars. Grazie als Schlüsselbegriff der ästhetischen Erziehung von Aristokraten. Anmerkungen zu Castiglione und Kleist, in: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag, hg. v. Sabine Doering/Waltraud Maierhofer/Peter Philipp Riedl, Würzburg 2000, S.  273–282; Peter Burke: Die Geschicke des ‚Hofmann‘. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996. „Chi adunque vorrà esser bon discipulo, oltre al far le cose bene, sempre ha da metter ogni diligenzia per assimigliarsi al maestro e, se possibil fosse, transformarsi in lui. E quando già si sente aver fatto profitto, giova molto veder diversi omini di tal professione e, governandosi con quel bon giudicio che sempre gli ha da esser guida, andar scegliendo or da un or da un altro varie cose.“ Baldassare Castiglione: Il libro del cortegiano, Venedig 1528, Buch I, Kap. XXVI, Übers. n. dems.: Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance, übers. v. Albert Wesselski, m. e. Vorw. v. Andreas Beyer, Berlin 32008, Buch I, Kap. XXVI, S. 35.

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keit [sprezzatura] zur Schau tragen, die die angewandte Mühe verbirgt und alles, was man tut und spricht, als ohne die geringste Kunst und gleichsam absichtslos hervorgebracht erscheinen lässt. Davon leitet sich, glaube ich, am meisten Anmut ab; […]“.131 Bei der die Anstrengung verbergenden sprezzatura handelt es sich folglich um eine nova parola, ein Diktum von aktueller Relevanz. Mit (Nach-)Lässigkeit vorgetragen, erscheinen offensichtlich schwierige Handlungen leicht, wie anschließend erläutert wird: „denn jedermann kennt genau die Schwierigkeiten, die oft bei seltenen und wohl durchgeführten Handlungen zu besiegen gewesen ist [sic!], und so wird diese Leichtigkeit die allergrößte Bewunderung erzeugen, während deren Gegenteil, das Herbeiziehn bei den Haaren, wie man sich auszudrücken pflegt, jedes Ding minderwertig erscheinen läßt, wie wichtig es auch sein mag. Daher kann man sagen, dort sei die wahre Kunst, wo man die Kunst nicht sieht, so daß es die Hauptsorge sein muß, sie zu verbergen; kommt sie zu Tage, ist alles Vertrauen verloren, und der Mann verachtet.“132 Im Hinblick auf den schaffenden Künstler, der von seiner Kunst lebt und durch sie gesellschaftliche Meriten erhalten will, gilt es, die Bildlösungen als spielerisch und leicht hervorgebrachte Invention zu deklarieren, um dabei keinesfalls den mühsamen Weg der Werkgenese zu offenbaren. Übertragen auf die bildliche Entwicklung liegt hierin ein erster Hinweis auf die zweigestaltige Natur der Komposition: Einerseits sollte der Werkentstehungsprozess, der durch Beobachtung, Studium und Mühe geprägt ist, verschleiert werden, indem nur das finale Bild präsentiert wird. Andererseits ergibt sich dadurch ein Zweiklassen131

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„Ma avendo io già piú volte pensato meco onde nasca questa grazia, lasciando quelli che dalle stelle l‘hanno, trovo una regula universalissima, la qual mi par valer circa questo in tutte le cose umane che si facciano o dicano piú che alcuna altra, e ciò è fuggir quanto piú si po, e come un asperissimo e pericoloso scoglio, la affettazione; e, per dir forse una nova parola, usar in ogni cosa una certa sprezzatura, che nasconda l‘arte e dimostri ciò che si fa e dice venir fatto senza fatica e quasi senza pensarvi. Da questo credo io che derivi assai la grazia.“ Baldassare Castiglione: Il libro del cortegiano, Venedig 1528, Buch I, Kap. XXVI, Übers. n. ebd. „perché delle cose rare e ben fatte ognun sa la difficultà, onde in esse la facilità genera grandissima maraviglia; e per lo contrario il sforzare e, come si dice, tirar per i capegli dà somma disgrazia e fa estimar poco ogni cosa, per grande ch‘ella si sia.“ Baldassare Castiglione: Il libro del cortegiano, Venedig 1528, Buch I, Kap. XXVI, Übers. n. ebd., S.  35 f. Der Aphorismus des „Ars est celare artem“ entstammt ursprünglich den Dichtungen des Tibull (55 v. Chr–18 v. Chr.) und sollte als Topos die Geschichte der Künste durchziehen. Vgl. Paolo D‘Angelo: Ars est celare artem. Da Aristotele a Duchamp, Macerata 2005.

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

system von Bildern – öffentlich ausgestellte Werke und private, nur im Werkstattbetrieb kolportierte Studien, Hilfsmittel und Modelle, die auf den kontinuierlichen Prozess und nicht auf das kunstfertige Produkt verweisen. Die Schrift Castigliones entsteht ab 1508, also zeitlich vor einer akademisch institutionalisierten Künstlerausbildung, die im Quattrocento noch in handwerklich organisierten Werkstätten erfolgte. Um die Jahrhundertwende gelangte die Renaissance zu ihrer Blüte, ein Prozess, der sich für Castiglione insbesondere in der Gestalt Raffaels (1483–1520) personifizierte. Der junge Maler war ab 1499 fünf Jahre Schüler in der Werkstatt Peruginos (1445/1448– 1523) gewesen. Am Ende seiner Lehrzeit schuf er mit der berühmten Vermählung Mariae (Lo sposalizio) ein Bild, mit dem er erstmals ein Werk seines Meisters, sogar desselben Sujets, in der ihm eigenen Anmut und Leichtigkeit übertreffen sollte.133 Im Jahr der Fertigstellung reiste Castiglione nach Urbino, der Heimatstadt Raffaels, um sich bald darauf freundschaftlich mit ihm zu verbinden. Wenige Monate nachdem er die Arbeit am Libro del cortegiano aufgenommen hatte, gelangte Castiglione zusammen mit Raffael 1509 nach Rom, wo der Maler den Auftrag zu einem umfassenden Werkzyklus in den Stanzen des Vatikan erhielt, den er möglicherweise im geistigen Austausch mit Castiglione entwarf.134 In vielen Zeichnungen, die die Werke Raffaels vorbereiten, ist bereits die sichere Leichtigkeit seiner Bildkomposition spürbar, doch offenbart sich mancherorts auch ein mühsamer Entwurfsprozess.135 Raffael, für den im Rahmen des Zyklus eine Verwendung der Gliederpuppe bei der Disputà angenommen wurde, verkörpert hingegen in und durch seine Werke bis heute eine unerreichte Grazie, die kaum mit langwierigen Studien oder dem Einsatz profaner Modelle in Verbindung gebracht wurde. Dass, wie von Castiglione beschrieben, Beobachtungen, Studien und Hilfsmittel zwar vielfach angewandt, jedoch im öffentlich vorgetragenen Werk nicht zutage treten sollten, wurde zu einem den künstlerischen Prozess bestimmenden Gebot, das auch eine Generation später in den Lebensbeschreibungen Vasaris Widerhall finden sollte. Neben Raffael war auch Niccolò Soggi in der Werkstatt Peruginos tätig. In der Vita dieses Schülers bemerkt Vasari, dass der eigentlich sehr fähige Maler durch den Einsatz von Hilfsmodellen zu einer eigentümlichen Figurenanlage 133

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Öl auf Holz, 170 × 117 cm, signiert und datiert mit „Raphael Vrbinas“ sowie „MDIIII“, Pinacoteca di Brera, Mailand. „This quality of ‚sprezzatura‘ reveals itself right from the beginning of Raphael‘s career in his first signed work The Marriage of the Virgin (Lo Sposalizio) of 1504. Inspired by his teacher Perugino’s rendering of the same subject, Raphael’s painting can be found to differ primarily from its model by its unique awareness of the importance of ‚sprezzatura‘.“ Lynn M. Louden: „Sprezzatura“ in Raphael and Castiglione, in: Art Journal 28/1 (1968), S. 43–53, hier S. 45. Vgl. ebd., S. 43 f. Vgl. Max Hollein: Vorwort, in: Ausst. Kat.: Raffael. Zeichnungen, hg. v. Joachim Jacoby/Martin Sonnabend, Frankfurt a. M. 2012, S. 8–11, hier S. 9.

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II  Kunst

gelangt sei. Zur Werkvorbereitung bediente er sich der bekannten aus Ton und Wachs geformten Modelle, die er mit Stoffen und Papier bekleidet und dabei derart häufig einsetzte, dass er eine spröde Manier entwickelte, die er auch unter größten Mühen nicht mehr ablegen konnte.136 Bei einem bedeutenden Auftrag für Papst Leo X. (1475–1521), den Soggi 1513 durch Vermittlung von Kardinal Antonio Maria Ciocchi del Monte (1461–1533) erhalten sollte, zeigte sich, Vasari zufolge, dieser starre Stil.137 Die Unfähigkeit zur Überwindung des mit dem Modell unter Mühen angeeigneten Figurenhabitus und das damit einhergehende Durchscheinen der plastischen Hilfsfiguren habe verhindert, den Figuren grazia einzuhauchen, ihnen jene Natürlichkeit zu verleihen, die die Bildgestalten belebt.138 Dass dabei nicht die Hilfsmodelle per se verurteilt werden, sondern diese für die ‚neue‘ Kunst sogar unentbehrlich sind, macht Vasari gleich zu Beginn in der einleitenden Beschreibung der Malerei deutlich, und zwar bei keinem geringeren als dem über die Maßen geschätzten Michelangelo: Dieser habe für bestimmte Figurenkonstellationen geradezu ‚göttliche‘ modelli aus Ton und Wachs gefertigt, um mit ihnen Figuren aus unterschiedlichen Blickwinkeln festhalten zu können.139 Es ist gerade die mithilfe der plastischen Modelle erkundbare körperliche Wirkung, dank der ein Künstler zu einer überzeugenden Figurendarstellung gelangen kann, wobei er seinem Hilfsmittel nicht sklavisch verhaftet bleiben darf, sondern aus ihm die eigene Bildgestalt generieren soll.

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„Attese anco assai Niccolò a fare modelli di terra e di cera, ponendo loro panni addosso e carte pecore bagnate; il che fu cagione che egli insecchì sì forte la maniera, che mentre visse tenne sempre quella medesima, né per fatica che facesse se la poté mai levare da dosso.“ Vasari: Le vite, Bd. V, S. 189. „Nella quale opera Niccolò si portò non molto bene, perché nelle figure d‘alcuni ignudi che vi sono et in alcune vestite, fatte per ornamento di quell‘armi, cognobbe Niccolò che lo studio de‘ modegli è cattivo a chi vuol pigliare buona maniera. Scoperta dunque che fu quell‘opera, la quale non riuscì di quella bontà che molti s‘aspettavano […].“ Ebd., S. 189 f. „non vi si conosce bontà di disegno né altra cosa che molto lodevole sia, perché quella sua maniera dura lo conduceva, con le fatiche di que‘ suoi modelli di terra e di cera, a una fine quasi sempre faticosa e dispiacevole.“ Ebd., S. 191 f. „Di questa specie non fu mai pittore o disegnatore che facesse meglio che s‘abbia fatto il nostro Michelangelo Buonarroti, et ancora nessuno meglio gli poteva fare, avendo egli divinamente fatto le figure di rilievo. Egli prima di terra o di cera ha per questo uso fatti i modelli, e da quegli, che più del vivo restano fermi, ha cavato i contorni, i lumi e l‘ombre […] Di questa specie ne hanno fatto i moderni alcuni che sono a proposito e difficili, come sarebbe a dir in una volta le figure che guardando in su scortano e sfuggono; e questi chiamiamo al di sotto insù, ch‘ànno tanta forza ch‘eglino bucano le volte. E questi non si possono fare se non si ritraggono dal vivo, o con modelli in altezze convenienti non si fanno fare loro le attitudini e le movenzie di tali cose.“ Vasari: Le vite, Bd. I, S. 122 f. („Capitolo XVII. De li scórti delle figure al di sotto insù e di quelli in piano“).

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1. Gliederpuppen in der italienischen Renaissance

In figürlichen Skizzen, Draperiestudien und Menschenarrangements lässt sich der Einsatz der hölzernen oder manuell formbaren Modelle erahnen. Doch bereits hier sind diese nicht unbedarft ‚abgezeichnet‘, sondern bleiben in ihrer dienenden Funktion im Hintergrund, indem die schematisierten Gliedmaßen nur angedeutet oder gar völlig vernachlässigt werden. Bereits im ersten Schritt des bildlich zu entwickelnden disegno wird der Einsatz dieser Hilfsmittel verschleiert. Offensichtlich spielt sich ihr Einsatz auf einer anderen Schaffensebene ab als die Ingebrauchnahme der modelli in den bildlichen Akademieinventaren. Die bei Pietro Francesco Albertis Malerakademie (Bild 183) gezeigten antikisierenden Statuetten, Skelette und Gipse hatten weniger eine kreative denn eine instruktive Bestimmung, die darin beruhte, sich schrittweise über das Zeichenstudium der Malerei anzunähern. Wie in Armeninis De veri precetti della pittura von 1587 beschrieben, sah die Ausbildung eine stufenhafte Aneignung von Modellvorlagen vor, die bis zur Erkundung des lebenden Modells führte.140 Es sind die hierzu notwendigen Objekte, die von einfachen geometrischen bis zu abgeformten antiken Idealformen reichen, die das Bildinventar der Akademiedarstellungen bevölkern. Desgleichen sollte der Aufbau des menschlichen Leibs erkundet werden, um ihn bildlich vom Skelett über die Muskeln bis zur Haut zu „bekleiden“– ein grundlegendes Verfahren, das bereits ein gutes Jahrhundert zuvor in Leon Battista Albertis Della pittura (1435/1436) beschrieben worden war.141 Schließlich war es auch Alberti, der dem angehenden Maler riet, sich im Modellieren von Figuren zu üben, um dadurch die körperlichraumgreifende Plastizität der Figuren haptisch zu begreifen und sich damit geistig anzueignen.142 Diesem lehrreichen Studium dienen auch die in der Akademiedarstellung Pietro Francesco Albertis von Malerlehrlingen geformten Figuren. Als ein Distinktionsmittel der verschiedenen Modelltypen könnte die unterschiedliche Natur der hierarchisch höher gestellten Abgüsse und Antiken gegenüber den ‚profanen‘ Wachsmodellen und Gliederpuppen ins Feld geführt werden.143 Nichtsdestoweniger dienten die in Schriftquellen der italienischen Renaissance vielerorts bezeugten, in Skizzen und Studien hingegen nur vermuteten und in den Akademiedarstellungen fehlenden variablen Hilfsmodelle –

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Armenini: De veri precetti della pittura, Kap. IX. Die hier evozierte schrittweise Aneignung eines zeichnerischen Repertoires wird in der Folge in zahlreichen Zeichenbüchern zum Lehrstandard werden, etwa bei Gerard de Lairesse. Vgl. Kap. II.2.b Die Gliederpuppe im Zeichenbuch – Biens, van de Passe, de Lairesse. Alberti: Della Pittura, S. 122. Vgl. ebd., S. 160 f. Siehe dazu auch Kap. III.1.a). Zum besonderen Renommee eines insbesondere mit antiken Abgüssen ausgestatteten Ateliers vgl. Michael Cole, Mary Pardo: Origins of the Studio, in: dies. (Hg.): Inventions of the Studio. Renaissance to Romanticism, Chapel Hill 2005, S. 1–35.

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II  Kunst

sei es aus Ton, Wachs oder Holz, ob lebensgroß oder klein, in einer Szene arrangiert oder mit Papier oder Stoffbahnen drapiert – einem elementaren, über die zeichnerische Übung hinausreichenden künstlerischen Betätigungsfeld: jenem der Entwicklung des individuellen Entwurfes. Die Vasari zufolge mit großem Fleiß und Mühe abgezeichneten Draperiestudien Leonardos flossen in verschiedene Bildfindungen ein, wie etwa der Verkündigung in den Uffizien. Ebenso konnten Fra Bartolomeos Gliederpuppenstudien in einigen Fällen ausgeführten Bildfiguren zugeordnet werden. Möglicherweise war es gerade dieser Übertritt der Gliederpuppe aus der Gruppe lehrreicher, den geistigen disegno vermittelnder Hilfsmittel hin zum persönlich arrangierten Modell, dessen Spur unmittelbar im Bild erhalten blieb, und der sie damit einer öffentlichen Sichtbarmachung entzog. Ein Maler, dessen Bildfindung sich durch anmutige Grazie auszeichnete, durfte nicht auf sein zugrundeliegendes Hilfsarsenal schließen lassen. Wenn dies doch der Fall war, erschien seine Komposition ohne nötige sprezzatura und bravura vorgetragen, sodass ihr die gewünschte Natürlichkeit abhandenkam.144 Der darstellerische Gegenpart zu derartigen Bildgestalten erscheint in Castigliones Libro di cortegiano als ungelenker Tänzer, der auf der Tanzfläche wie eine Gliederpuppe erscheint: „Wer von Euch lacht nicht, wenn er unsern Messer Pierpaolo tanzen sieht, wie er springt und die Beinchen streckt, ohne den Kopf zu bewegen, als ob er von Holz wäre, alles mit einer derartigen Aufmerksamkeit, als ob er seine Schritte zählte?“145 Für den Maler bedeutet dies, dass die Grazie seines mit ingenio ausgeführten Bildes in besonderem Maße vom Verbergen der kunstfertigen Einzelschritte abhing.146

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Vasari sieht als eine Haupteigenschaft der terza maniera, die mit Michelangelo ihren Höhepunkt findet, eine sich bereits bei Leonardo offenbarende „bravezza del disegno“ Vgl. Vasari: Le vite, Bd. IV, S. 8. Zum Konzept der bravura vgl. grundlegend: Nicola Suthor: Bravura. Virtuosität und Mutwilligkeit der Malerei der Frühen Neuzeit, München 2010; zur sprezzatura vgl. ebd., S. 87–96. „Qual di voi è che non rida quando il nostro messer Pierpaulo danza alla foggia sua, con que‘ saltetti e gambe stirate in punta di piede, senza mover la testa, come se tutto fosse un legno, con tanta attenzione, che di certo pare che vada numerando i passi?“ Baldassare Castiglione: Il libro del cortegiano, Venedig 1528, Buch I, Kap. XXVI, Übers. n. ders.: Der Hofmann, S. 36. Dass dieses Konzept gerade auch den Einsatz des gegliederten Hilfsmodells betraf, sollte sich schließlich zwei Jahrhunderte später erweisen. Im Rahmen einer vehement geführten Diskussion in der französischen Académie royale de Peinture et de Sculpture wurde die Gliederpuppe von Antoine Coypel (1661–1721) als ein der sprezzatura (dort: négligence) entgegenstehendes Menetekel genannt.

2 .   G liederpuppen nördlich der A lpen

Während die Gliederpuppe bereits im Quattrocento in Italien als Atelierhilfsmittel bekannt ist, kann dieses Modell in den Malerwerkstätten des Nordens vor dem 16. Jahrhundert nicht nachgewiesen werden. Dies ist insofern erstaunlich, als im 15. Jahrhundert niederländische und deutsche Künstler, sei es auf Reisen, sei es als Angestellte, in unterschiedlichen Regionen Italiens tätig waren. Sowohl für Maler als auch für Bildhauer, die im regen Austausch mit Kollegen und Auftraggebern, Humanisten und Kaufleuten standen, wäre ein derartiges Hilfsmittel bei der Ausführung von Aufträgen hilfreich und nach der Rückkehr sicherlich auch für die Werkstätten der Heimatländer von bedeutendem Interesse gewesen. Doch erst im Schaffen Albrecht Dürers (1471–1528), in seinen zeichnerischen Erkundungen der menschlichen Proportionen, sind Kenntnis und Einsatz der Gliederpuppe diesseits der Alpen nachweisbar.

a   A lbrec ht D ü rer D ü r er s I mp or t u nd G ebr auc h Mit Dürer gelangte die Gliederpuppe über die Alpen.1 Doch ist bis heute nicht endgültig rekonstruierbar, wie er sich das gegliederte Modell aneignete. Vier Möglichkeiten sind als reale oder geistige Importszenarien in Betracht zu ziehen: Dürer hätte die Gliederpuppe im Rahmen seiner ersten Italienreise 1494–

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Die grundlegende Erforschung der Gliederpuppe in Dürers Œuvre wurde von Arpad Weixlgärtner in zwei zentralen Aufsätzen vorgelegt. Vgl. Weixlgärtner: Dürer und die Gliederpuppe, ders.: Von der Gliederpuppe. Bis heute liegt keine gegenteilige Erkenntnis vor, welche die Angaben Weixlgärtners, dass vor Dürer, beziehungsweise vor dem 16. Jahrhundert, die Gliederpuppe im Norden nicht nachweisbar sei, revidieren könnte.

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1495 entdecken können.2 Jacopo de‘ Barbari (um 1460/1470–1517), der zwischen 1500 und 1503 in Nürnberg Hofmaler Maximilians I. von Habsburg war, kommt als zweite Vermittlungsinstanz in Frage. Durchaus denkbar wäre ebenfalls, dass Dürer sich erst im Rahmen der zweiten, längeren Italienreise ein derartiges Hilfsmittel anschaffte oder gar im Anschluss daran – das angetroffene variable Modell aus Holz noch im Geiste – schließlich den Auftrag für eine Gliederpuppe an einen regionalen Bildschnitzer erteilte. Alle vier Szenarien sind möglich, wenn auch nicht im selben Maße wahrscheinlich. Filarete, der aus Rom nach Mailand gelangte, um dort bis 1464 seinen Trattato di architettura zu verfassen, kann als Zeuge einer in Oberitalien bereits eine Generation vor der ersten Italienreise Dürers praktizierten Verwendung von Gliederpuppen einstehen.3 In Dürers Schaffen sind nach seiner erstmaligen Rückkehr hingegen keinerlei Spuren ihrer Verwendung zu vermerken, unzweifelhafte Darstellungen der Gliederpuppe treten erst nach der Jahrhundertwende im Zusammenhang mit den Studien zur Proportionslehre zutage. Damit scheint die mit der ersten Italienreise verbundene erste Option am wenigsten wahrscheinlich. Nichtsdestotrotz wurde Dürer durch diese Italienreise zum Studium der menschlichen Gestalt angeregt und er begann sich in den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts verstärkt dem ‚Menschen nach Maß‘ zuzuwenden.4 Die Zeichnungen der frühen Werkphase beruhen weniger auf einem unmittelbaren Naturstudium als auf einer synthetischen Formfindung der durch die italienische Renaissance vermittelten antiken Vorbilder und Naturbeobachtungen, welche der Künstler nach der Jahrhundertwende geometrisch 2

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Nach dem Ende seiner Ausbildung beim Nürnberger Maler Michael Wolgemut (1434–1519) beginnt er im April 1490 seine Gesellenwanderung, die ihn zunächst an den Oberrhein führt, nach Basel, Colmar und Straßburg. Im Anschluss an seine Rückkehr heiratet er am 7. Juli 1494 Agnes Frey (1475–1539), doch hält es ihn nicht lange in seiner Heimatstadt; bereits im Spätsommer bricht er nach Italien auf. Dass Dürer im Rahmen dieser Reise bis nach Venedig gelangte, ist umstritten, doch weisen Befürworter dieser Ansicht auf die in der Albertina in Wien verwahrten Zeichnungen einer Dame im venezianischen Kostüm, bzw. Nürnbergerin und Venezianerin im Städel sowie auf die im Zusammenhang mit Gentile Bellinis (1429–1507) Prozession auf der Piazza San Marco (1496) entstandene Studie von drei Orientalen hin, die den Besuch in dessen Werkstatt belegen können. Vgl. Walter L. Strauss: Complete Drawings of Albrecht Durer, Bd. I, New York 1974, S. 268– 273, S. 284 f.; Ausst. Kat.: Albrecht Dürer and His Legacy. The Graphic Work of a Renaissance Artist, hg. v. Giulia Bartrum, London 2002, S. 108f; Andrew Morrall: Dürer and Venice, in: Larry Silver/Jeffrey Chipps Smith (Hg.): The Essential Dürer, Philadelphia, Pa 2011, S. 99–114. Den Ausführungen Vasaris folgend, könnte mit Florenz (Fra Bartolomeo) und der Lombardei (Garofalo) das Einsatzgebiet der Gliederpuppe am Übergang zum 16. Jahrhundert entsprechend erweitert werden. Eine umfassende Untersuchung zur Aktdarstellung in allen Werkphasen Dürers liefert: Anne-Marie Bonnet: ‚Akt‘ bei Dürer, Köln 2001.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 161a–b  Albrecht Dürer: Proportionsstudie einer weiblichen Aktfigur mit Wappenschild, recto und verso, um 1500, Federzeichnung, 30,3 × 20,5 cm, Inv. Nr. KdZ 44, Kupferstichkabinett, Berlin.

zu (re)konstruieren suchte. Ein Blatt mit zwei Federzeichnungen aus dem Berliner Kupferstichkabinett verbildlicht diesen Arbeitsprozess: Es zeigt recto einen schwarz hinterlegten weiblichen Akt, der jedoch nicht, wie es die Ansicht vermittelt, nach einem lebenden Modell gezeichnet, sondern, wie die Rückseite offenbart, geometrisch linear konstruiert wurde (Bild 161a–b).5 Die Praxis des Durchpausens einer Figur, um ihr Spiegelbild zu gewinnen, hatte Dürer aus der Pollaiuolo-Werkstatt übernommen.6 Doch im Gegensatz zum italienischen Bildhauer und Maler, der mithilfe eines dreidimensionalen Modells eine erste Zeichnung schuf, die für weitere Ansichten verwendet werden konnte, entwirft Dürer die Frauengestalt augenfällig mithilfe von systematisch kombinierten Rechtecken und Zirkelschlägen. Trotz dieser Konstruktionsmethode, wie sie 5

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Zur kontroversen Diskussion der Datierung des Blattes vgl.: Fedja Anzelewsky, Hans Mielke: Albrecht Dürer. Kritischer Katalog der Zeichnungen, Berlin 1984, S. 32 f. Zur Vorlagenverwendung Pollaiuolos vgl. Laurie Fusco: Antonio Pollaiuolo‘s Use of the Antique, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 42 (1979), S. 257– 263; dies.: The Use of Sculptural Models, S. 175 ff. Zur Übernahme derartiger Verfahren durch Dürer vgl. Bonnet: ‚Akt‘ bei Dürer, S. 75 ff.

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II  Kunst

etwa im Sündenfall-Stich von 1504 zutage tritt, wirken die Idealkörper natürlich durchgebildet.7 Dass sich dieses Interesse für die menschliche Proportion um die Jahrhundertwende durch den Austausch mit Jacopo de‘ Barbari noch verstärken sollte, bezeugt Dürer aus der Rückschau im Rahmen seiner 1523 verfassten Widmung der Proportionslehre an Willibald Pirckheimer (1470–1530): „Idoch so ich Keinen find, der Etwas beschrieben hätt dann einen Mann, hieß Jacobus, was ein guter lieblicher Maler, van Venedig geboren, der wies mir Mann und Weib, die er aus der Maß gemacht hätt, und wiewol ich zu Sinn nahm die Meinung, wie man sölch Ding zu Wegen bringen möcht, doch kunnt ich nit van ihm erlangen seinen Grund, wie er sein Kunst brauchet, und wiewol ich dieselb Zeit jung was, nochdann nahm ich die Ding zu Herzen, nahm fur mich den Fitrufium, der schreibt ein Wenig von der Gliedmaß eins Manns.“8 Vom italienischen Hofmaler Maximilians I. in das enigmatische Verfahren einer geometrischen Konstruktionsmethode zur Darstellung von Menschen „aus dem Maß“ nur rudimentär eingeweiht, sollte sich Dürer in der zweiten Lebenshälfte mit ausdauerndem Furor dem Proportionsstudium widmen, um für den Körperbau des Menschen ein rein konstruktives Verfahren zu entwickeln. Während der zweiten Italienreise, die Dürer ab 1505 unternahm, ist aufgrund des längeren Zeitraums, zahlreicher ausgeführter Werke sowie des regen Austauschs mit ansässigen Künstlern ein Kontakt mit dem dort gebräuchlichen modello di legno anzunehmen.9 Möglicherweise sind einige in Italien angefer7

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Zu dieser zeichnerischen Technik bemerkt Bonnet, dass „Dürer […] dies so gewandt [handhabte], dass noch heute seine, m. E. rein graphisch gewonnenen, Lösungen für Naturstudien gehalten werden.“ Ebd., S. 299. Karel van Mander gibt indes in seinem Schilderboek bezüglich dieses Kupferstiches an, Dürer habe eigens zur Vorbereitung Proportionsfiguren angefertigt: „Desghelijck by den Heer Arnoudt van Berensteyn tot Haerlem, die oock een goet beminder is, zijn oock eenige Proportymannekens, doch vry groot, en ten deele gheartseert, met noch eenighe armen, handen, en anders, die van Albert ghedaen zijn gheweest tot zijn behulp, om te maken den voorverhaelden Adam en Eva, dingen die seer fraey zijn gehandelt.“ Karel van Mander: Het schilder-boeck, Haarlem 1604, fol. 208 verso. Zit n. der ersten Publikation des Textes in: Konrad Lange/Friedrich Fuhse (Hg.): Dürers Schriftlicher Nachlass auf Grund der Originalhandschriften und theilweise neu entdeckter alter Abschriften, Halle a.d. Saale 1893, S. 340. Bei diesem längeren Aufenthalt wurden ihm große Ehren zuteil, etwa der bedeutsame Auftrag zum Rosenkranzfest (1506) als Altarbild für San Bartolomeo, die Pfarrkirche der deutschen Kaufleute in Venedig, doch diente die Reise auch einem persönlichen Rechtsstreit mit Marcantonio Raimondi (1475–1534), den er, wie Vasari berichtet, nur bedingt für sich entscheiden konnte. Vgl. Joseph Koerner: Albrecht Dürer. A Sixteenth-Century Influenza, in: Ausst. Kat.: Albrecht Dürer and His Legacy. The Graphic Work of a Renaissance Artist, hg. v. Giulia Bartrum, London

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 162  Albrecht Dürer: Draperiestudie zur Gestalt Christi des Heller-Altars, 1508, Pinsel in Tusche, weiß gehöht, 25,7 × 19,2 cm, Inv. Nr. 18597, Département des Arts graphiques, Louvre, Paris.

tigte Zeichnungen, beispielsweise die im Zusammenhang mit der Madonna mit dem Zeisig entstandenen Draperien, sogar mithilfe einer Gliederfigur angefertigt worden.10 Nach der Rückkehr aus dem Süden häufen sich jedenfalls derartige Studien, die auf eine Verwendung des gegliederten Modells schließen lassen.11 Ob Dürer jedoch ein derartiges Modell importiert hat, bleibt ungewiss.

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2002, S.  18–38, bes. S.  25–31 sowie Lisa Pon: Raphael, Dürer, and Marcantonio Raimondi. Copying and the Italian Renaissance Print, New Haven/London 2004. Vgl. die Draperiestudie in der Graphischen Sammlung der Albertina in Wien; Pinsel in Schwarz und Grau, grau laviert, mit Deckweiß gehöht, auf blauem Papier, 23,7 × 27,9 cm, Inv. Nr. 3107. „Dürer gebrauchte die Gliederpuppe nach seiner zweiten Italienreise als Ersatz und Ergänzung für lebende Modelle. Er bediente sich ihrer für Draperierungs- und Bewegungsstudien, hauptsächlich der Figuren des IV. Buches.“ Hans Rupprich: Albrecht Dürer. Schriftlicher Nachlass, Bd. III, Berlin 1969, S. 122. Vgl. dazu auch: Jürgen Fredel: Ideale Maße und Proportionen. Der konstruierte Körper, in: Ilsebill

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II  Kunst

Dem als Goldschmied ausgebildeten Maler und Kupferstecher wurde zwar kein eigenes bildhauerisches Œuvre zugesprochen, doch wird es ihm freilich wenige Probleme bereitet haben, in der Puppenmacherstadt Nürnberg ihm bekannte, fähige Handwerker für die Anfertigung einer für Atelierzwecke geeigneten Gliederpuppe zu finden.12 Eine kurz nach seiner Rückkehr um 1508 entstandene Draperiestudie, die als Vorbereitung der Figur Christi auf der zentralen Tafel des Heller-Altars bestimmt war, zeigt verblüffende Ähnlichkeiten mit den entsprechenden Zeichnungen Leonardos, indem die weiten Stoffbahnen durch graue Talschatten und weiße Faltenhöhungen in feinster Laviertechnik herausmodelliert wurden, während der zugehörige Leib skizzenhaft im Ungewissen verbleibt (Bild 162). Allein die unter dem Stoff hervorgestreckten Füße sind durchgeformt und durch die Stigmata als diejenigen des Auferstandenen kenntlich gemacht. Auch für spätere Bildgestalten wurden Haltung und Faltenwurf als Zeichen für Dürers Verwendung der Gliederpuppe herangezogen.13 Seine zahlreichen Erkundungen der Proportionsverhältnisse des menschlichen Körpers leiteten Dürer in den folgenden Jahren indes in eine neue Richtung: Zwar wurde die Figur weiterhin konstruiert, jedoch nunmehr mit der Intention, körperinterne mathematische Verhältnismäßigkeiten zu entwickeln, statt Bauelemente im Sinne eines ‚anthropometrisches Systems‘ geometrisch abzuleiten.14 In dieser Phase löste sich Dürer von der Suche nach einem absoluten, idealen Maßstab zugunsten der Etablierung einer Anzahl von wohlproportionierten Figuren.15 Dieser Wechsel zu einer nunmehr auf arithmetischen Kalkulationen fußenden Arbeitsmethode führte schließlich zu den Vier Büchern

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Barta Fliedl/Christoph Geissmar (Hg.): Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, Salzburg/Wien 1992, S. 11–42, bes. S. 33. Weixlgärtner tendiert zur spätestmöglichen Aneignung des Modells: „Ob er dieses Hilfsmittel des Malers […] schon während seines zweiten venetianischen Aufenthaltes oder erst später kennen lernte, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Nach den in seinem Werk vorhandenen Hinweisen ist das letztere wahrscheinlicher.“ Weixlgärtner: Dürer und die Gliederpuppe, S. 87. Weixlgärtner zufolge verraten „die Mäntel seiner Vier Apostel von 1526 […] deutlich den Gebrauch der lebensgroßen Gliederpuppe, die mit Tüchern behangen war.“ Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 40; vgl. auch Swillens: Beelden en ledepoppen, S. 256 f. Vgl. zu folgenden Überlegungen, in leicht veränderten und ausführlicherer Form, Markus Rath: Vermessung des Körpers – Verortung der Seele. Die künstlerische Erkundung des Menschen in der Dürerzeit, in: Tiroler Landesmuseum (Hg.): Nur Gesichter? Porträts in der Renaissance, Innsbruck 2016, S. 218–245. Vgl. Bonnet: ‚Akt‘ bei Dürer, S. 185.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

von menschlicher Proportion, die wenige Tage nach seinem Tod im Jahre 1528 erschienen.16 Die in den ersten drei Büchern beschriebene Proportionslehre wird im vierten Buch durch eine Anleitung ergänzt, wie Figuren in Bewegung dargestellt werden können, indem die zunächst unbewegten Maßfiguren mithilfe von Parallelprojektionen in verschiedene Körperhaltungen übersetzt werden. Dabei entwickelt Dürer eine Methode, durch die er natürliche Strukturen – einzelner Partien oder einer ganzen Figur – durch ein ‚Kubenverfahren‘ in geometrische Körper auflöst.17 Ein Ausweis für die intensive zeichnerische Vorbereitung dieses Werkes sind die im Dresdner Skizzenbuch versammelten Zeichnun­ gen  und Manuskripte. Annähernd 400 Jahre unbeachtet, wurde das Studienkonglomerat erstmals 1905 publiziert.18 In ihm findet sich die erste zweifelsfrei identifizierbare Gliederpuppendarstellung der Neuzeit. Auf fol. 143 sind, den locker besiedelten Studienblättern Leonardos vergleichbar, Strichzeichnungen einfacher zwei- und dreidimensionaler geometrischer Objekte im rechten und linken Drittel des hochformatigen Blattes verteilt (Bild 163). Genau auf der Mittelachse steht in der oberen Hälfte eine komplexe, bewegte Kubengestalt im Kontrapost, die sich leicht nach vorn beugt, mit der rechten Hand einen Stab hält und den linken Arm erhoben hat. Offensichtlich entstand die Figur als Ergebnis einer fortentwickelten organischen Zusammenstellung der sie umgebenden Quader. Im unteren Bereich des Blattes ist nun mit schnellem Strich der mechanische Oberkörper einer Gliederpuppe skizziert. Trotz der auf das Wesentliche reduzierten Strichführung sind Körperform und Konstruktion der Gliederpuppe präzise wiedergegeben. In vielen Gliedern mittels Scharnier- und Kugelgelenken beweglich, ist die Puppe durch ihr schematisches Äußeres den heutigen Künstlerpuppen durchaus vergleichbar. Als direktes Gegenüber zur kubischen Gestalt zeigt Dürer hier eine Gliederpuppe mit 16

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Albrecht Dürer: Vier Bücher von menschlicher Proportion (1528). Mit einem Katalog der Holzschnitte, hg., komm. und in heutiges Deutsch übertr. von Berthold Hinz, Berlin 2011 m. weiterer Lit. Ebd., S. 32. Schon in früheren Skizzen finden sich Ansätze, den menschlichen Körper mittels Kubenformen zu gliedern und damit strukturell zu erfassen, etwa auf dem Dresdner Studienblatt fol. 166v von ca. 1515. Das Dresdner Skizzenbuch erlitt Ende des Zweiten Weltkriegs einen gravierenden Wasserschaden, sodass der Öffentlichkeit lange Zeit nur die Lichtdrucke der von Robert Buck 1905 besorgten Ausgabe zugänglich waren. Nach aufwendiger Restaurierung war das Konglomerat erst wieder 2013/2014 in der umfassenden DürerAusstellung im Frankfurter Städel-Museum zu sehen. Vgl. Robert Bruck: Das Skizzenbuch von Albrecht Dürer in der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden, Straßburg 1905 sowie Thomas Haffner: Die Dresdner Dürerhandschrift. Ein bedeutendes Dokument der Kunst-, Wissenschafts- und Sammlungsgeschichte, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 55 (2006), S. 151–158.

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II  Kunst

Bild 163  Albrecht Dürer: Studienblatt mit Kubenfigur und Gliederpuppe, um 1510, Federzeichnung, 20,4 × 20,5 cm, Dresdner Skizzenbuch fol. 143. (Farb­tafel 15)

schräg gelegtem Kopf und nach hinten gestreckten Armen. Es scheint, als habe Dürer in der Gliederpuppe die präfigurierte Form seiner anvisierten abstrahierten, aus geormetrischen Körpern zusammengesetzten Bewegungsgestalt erkannt. Er verstand sie als konzeptuelle Denkfigur wie auch als praktische Realisation eines normierten anthropomorphen Körpers, mit dem grundlegende räumliche Bewegungsmuster darstellbar waren.19 Für die Bewegungsstudien der Kubenfi19

In diesem Sinne analysierte bereits Panofsky das Bewegungsverständnis des Künstlers: „Da er [Dürer] die menschlichen Bewegungen nicht als nervöse und muskuläre Phänomene erklären kann, so betrachtet er sie als rein physikalisch-

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guren, wie sie auf vielen der Dresdner Blättern, etwa fol. 136, 137, 138, 142, 143 oder 144 skizziert wurden, stellte die Gliederpuppe ein kongeniales Gegenüber dar. Ebenfalls mit den Darstellungen der Proportionslehre in Verbindung stehen zwei Federzeichnungen aus dem British Museum. Die 1526 datierten Blätter verstetigen in raffinierter Weise die in das Proportionsschema des Menschen überführte Idealform der beweglichen Gliederpuppe. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Studien der Jünglingsakte kaum von anderen Figurenanlagen (Bild 164, 165). Den Körper eines jungen Mannes von der Seite und von vorn wiedergebend, zeichnen klare exakte Linien den Umriss der Gestalt nach. Mit feinem Strich sind anatomische Details wie Fußgelenke, Knie, Lenden, Hände, Bauch- und Brustmuskeln sowie die Gesichtszüge angegeben, wobei die Körpervolumina nicht weiter mittels Schraffuren ausgearbeitet wurden. Im Oberkörper- und Oberschenkelbereich scheinen die Konturlinien durch die überlagernden Gliedmaßen hindurch, dennoch bleibt die Kontinuität des Körpers, ähnlich wie bei Leonardos Vitruv-Mann, erhalten. Als hervorstechendes Detail dieser Studien ist indes das Halsgelenk anzusehen, welches wie bei einer Gliederpuppe augenfällig als Kugelgelenk gestaltet wurde. Zwischen Körper und Kinn, jeweils deutlich durch Linien abgetrennt, erscheint eine feine, beidseitig konvexe Kontur. Auffällig sind auch die anderen Gelenke an Schultern, Ellenbogen, Handgelenken, Hüften, Knien und Füßen markiert – als Punkte, an welchen sich die Partien gegeneinander bewegen lassen. Zusätzlich zu den auch bei anderen grundsätzlichen Messpunkten eingezeichneten Linien, die in der Profildarstellung teilweise sogar handschriftlich benannt werden („die hoch des axell glides – üxen [Achsel] – das ist die weichen [Taille] – der nabel – das hüft glid“) sind die Gelenke durch einen kleinen Kreis besonders hervorgehoben.20 In den ausgeführten Jünglingsakten sind alle Messlinien und Markierungen verschwunden (Bild 166, 167). Nicht in der in Seitenansicht gegebenen Figur, sondern nur bei dem frontal gezeigten Körper ist der Hals abermals als Kugel gestaltet. Dass es sich dabei nicht um ein Versehen innerhalb einer flüchtig ausgeführten Studie handelt, zeigen eine die Beininnenseite genau definie-

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räumliche Vorgänge, und seine Lehre von ihnen besteht demgemäß in einer Bestimmung des Ortes, an dem, und der Richtung, in der sie sich vollziehen können, d.h. der Gelenkfunktion: ‚Wie und wo man die Bilder biegen soll.‘“ Erwin Panofsky: Dürers Kunsttheorie, vornehmlich in ihrem Verhältnis zur Kunsttheorie der Italiener, Berlin 1915, S. 69 ff. Dies lässt Weixlgärtner die Vermutung äußern, dass die Studien „möglicherweise Entwürfe zu einer Gliederpuppe [waren]. Dürer wollte ursprünglich alle Kugelgelenke einzeichnen, begann damit auch am Halse, ließ es aber schließlich als überflüssig sein.“ Weixlgärtner: Dürer und die Gliederpuppe, S. 89.

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Bild 164–167  Albrecht Dürer: Zwei Konstruktionszeichnungen einer männlichen Figur, verso u. recto, 1526, 44,5 × 24,2 cm, Inv. Nr. SL, 5218.185/186, British Museum, London. (Farb­tafel 16)

rende doppelte Linienführung und die Schraffuren, welche nun die anatomischen Formen, besonders im Bereich der Halskugel, körperlich hervortreten lassen. Der männliche Akt ist sehr sorgfältig ausgeführt und folglich ganz bewusst mit Kugelgelenk vollendet worden. Da Dürers gewandeltes Vorgehen es verlangte, die Proportionen für jeden der verschiedenen Typen spezifisch zu erschließen, dürfte die Gliederpuppe zumindest insofern eine inspirierende Rolle gespielt haben, als sie aus aufeinander abgestimmten, zusammengefügten Elementen bestehend wie kein anderes Modell die Gliederung des menschlichen Körpers kongenial aufdeckt. Eine individuelle Vermessung, beziehungsweise Berechnung der Gestalten bedeutete eine differenzierte Proportionierung der Gliedmaßen, sodass dabei

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

ein in seinen Ausmaßen unveränderliches Modell wie die Gliederpuppe zunächst nur bedingt vorbildhaft scheint. Indes zeigt sich, dass Dürer mitnichten alle Figuren minutiös vermessen hatte, indem er eine derartige Menge von Messdaten präsentiert, die schlechterdings kaum anhand lebender Modelle hätte erlangt werden können. Dürers Verfahren beruhen mitnichten auf einer tatsächlich empirischen Evaluation, sondern insbesondere auf einer immerwährenden Variation des Umrisses, bzw. der „Gestaltlinien“.21 Für die Bewegungsdarstellung der Kubengestalten wurde die bewegliche Gliederpuppe sodann

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Berthold Hinz: „Maß und Messen“. Dürers Zahlenwerk zur menschlichen Proportion, in: Buchmalerei der Dürerzeit, Dürer und die Mathematik, Neues aus der Dürerforschung, hg. v. Georg Ulrich Großmann, Nürnberg 2009, S.  125–138; Dürer/Hinz: Vier Bücher von menschlicher Proportion, S. 339–353.

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II  Kunst

zweifellos zum idealen Hilfsmittel. Als besonders geeignet erweist sich dafür eine schematische Gliederpuppe wie die auf fol. 143 verbildlichte, da diese bereits die in den geometrisch-plastischen Zeichnungen verwirklichte Abstraktion inkorporiert. Dürer erwähnt in seinen Schriften die Verwendung von Gliederpuppen nie ausdrücklich.22 Dass er sie in einer vorausgehenden Werkphase, wie Weixlgärtner zuerst annimmt, „nicht bloß für den Faltenwurf und das Bewegungsmotiv, sondern geradezu als Behelfe für die Darstellung des Nackten“23 verwendet, ist ebenso wenig durch Quellen zu belegen wie evident.24 Darstellungen des bloßen Leibs allein mithilfe von Gliederpuppen umzusetzen widerspricht Dürers synthetisierender Arbeitsweise.25 Dass die unbekleideten, in komplexe Bewegungsmuster versetzten Figuren der Proportionslehre jedoch in entscheidendem Maße – nicht allein ideell, sondern auch durch die praktische Erfahrung – von Dürers Gebrauch der Gliederpuppe beeinflusst worden waren, zeigen die Dresdner wie auch die Londoner Studien. Das zeichnerische ‚Verbiegen‘ der Konstruktionsfigur schließlich präfigurierte die Gliederpuppe wie kein anderes Modell, wie die bildlich konstatierbare Simultaneität von bewegter Kubenfigur und hochvariabler Gliederfigur auf ein und demselben Studienblatt verdeutlicht. In besonders zugespitzter Form stellte Erwin Panofsky diesen Zusammenhang zwischen den graphisch ‚gebogenen‘ Kubengestalten und der Gliederpuppe her: „Da liegt es denn sehr nahe, die in Kugelgelenken überaus leicht beweglichen und unermüdlichen Gliederpuppen heranzuziehen: die Figuren des IV. Buches sind nicht ‚verrenkt‘, weil sie nach der Gliederpuppe gezeichnet sind, sondern sie sind nach der Gliederpuppe gezeichnet, weil sie der Sache wegen ‚verrenkt‘ sein mussten.“26

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Vgl. Dürer/Hinz: Vier Bücher von menschlicher Proportion, S. 90; Bonnet: ‚Akt‘ bei Dürer, S. 302. Weixlgärtner: Dürer und die Gliederpuppe, S. 88. In seiner späteren Schrift relativiert er diese Annahme. Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 54. Vgl. Bonnet: ‚Akt‘ bei Dürer, Exkurs II, 1.2. Doch auch gegen eine bei Dürer konstatierte unmittelbare Wiedergabe eines lebenden Modells als Natur-Akt wendet sich Bonnet: „Ungeachtet der sittlichen Hemmschwelle […] widerspricht m. E. zweierlei der Notwendigkeit des bloßen ‚ModellAbmalens‘: zum einen die heterogene Genese der sog. Natur-Akte, zum anderen Dürers paradoxe Kunst-Auffassung, nach der ‚Natur‘ nur dann ‚Kunst‘ ist, wenn die ‚natürliche‘ Wirkung Ergebnis komplexer künstlerischer Gestaltung ist.“ Ebd., S. 303. Panofsky: Dürers Kunsttheorie, S. 71, Anm. 1.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

D ü r er s Nac h folger – E rh a r d S c hön Dürers theoretisches Vermächtnis – seine 1525 publizierte Underweysung der Messung sowie die posthum erschienenen Vier Bücher von menschlicher Proportion – löste nördlich der Alpen einen Schub theoretischer Auseinandersetzungen mit künstlerischen Verfahren aus. Diese waren allerdings nicht im Sinne einer Fortschreibung oder differenzierteren Weiterführung gedacht, sondern vielmehr der Tatsache geschuldet, dass Dürers hochkomplexe Ausführungen und Berechnungen für das zu erlernende praktische Zeichnen kaum Anwendungsstrategien bereitstellten.27 Die sich in der Folge entwickelnden Werke waren insofern zunächst einfache ‚Kunstbüchlein‘, die unterschiedliche Teilvorlagen anthropomorpher und animalischer Strukturen anboten. Sie setzten damit wiederum die Tradition mittelalterlicher Musterbücher fort, denen das Zeichenbuch des Villard de Honnecourt (tätig 1230–1235) aus dem 13. Jahrhundert ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt hatte.28 Ein solches Motivbuch veröffentlichte der Maler, Stecher und Verleger Heinrich Vogtherr (1490–1556) im Jahre 1538: Sein Frembdes vnd wunderbares Kunstbüchlein sollte, ganz unbescheiden, als variantenreiches Vorlagenarsenal den von ihm ersehnten (Wieder-)Aufschwung der nationalen Kunst begünstigen.29 Der in Fragmente zergliederte Körper wurde hierbei jedoch nicht 27

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Fredel: Ideale Maße und Proportionen, S. 33. Dass bedeutsame Künstler dennoch vom Lehrbuch der Proportionsstudien profitierten, hebt Franz Winzinger hervor: „Große Meister wie Michelangelo, Rubens oder Poussin benutzten es, und der Lehrer des Velasquez hatte 1649 empfohlen, auf das weibliche Aktmodell zu verzichten, da Dürers Vorlagen für Studienzwecke voll ausreichend seien.“ Franz Winzinger: Dürers Proportionslehre. Faksimile-Ausgabe, in: Pantheon 31 (1973), S. 204. Vgl. Robert Keil: Proportionslehre und Kunstbuchliteratur als künstlerisches Lehrmaterial im 16. Jahrhundert. Versuch einer Entwicklung nach Dürer unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Tradition, Diss. Univ. Wien 1983; Birgit Seidenfuß: „Daß wirdt also die Geometrische Perspektiv genandt“. Deutschsprachige Perspektivtraktate des 16. Jahrhunderts, Weimar 2006. Jüngst Maria Heilmann u. a. (Hg.): Punkt, Punkt, Komma, Strich. Zeichenbücher in Europa, ca. 1525–1925, Passau 2014 sowie Jaya Remond: The Kunstbüchlein. Printed Artists‘ Manuals and the Transmission of Craft in Renaissance Germany, Diss. Harvard University 2014. Er veröffentliche sein Werk, so Vogtherr im Vorwort, „damit die Kunst widerumb in ein auffgang/ vnd seinen rechten wirden vnd ehren komme […].“ Der vollständige Titel lautet: Ein Frembds und wunderbars kunstbüchlin allen Molern/ Bildschnitzern/ Goldschmiden/ Steinmetzen/ Schreinern/ Platnern/ Waffen un Messerschmiden hochnutzlich zu gebrauchen. Vgl. Jutta Funke: Beiträge zum graphischen Werk Heinrich Vogtherrs d. Ä., Berlin 1967; Heinrich Vogtherr: Ein Frembdes vnd wunderbares Kunstbüchlein […], hg. u. komm. v. Maria Heilmann, in: Fontes 61 (2011), URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2011 /1499urn:nbn:de:bsz:16-artdok-14999 [03.11.2014] (zit. n. dieser Ausgabe) sowie zuletzt Julia Kleinbeck: Künstlerwissen im und aus dem Buch. Zu einigen deutsch-

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zu einem kontinuierlichen Körperbild gefügt, vielmehr sollte die Zusammenführung der Motivvarianten individuell durch den abzeichnenden Künstler erfolgen. Komplexere gedruckte Anweisungen, die Dürers Werke im Sinne einer Nutzbarmachung aufgriffen, abwandelten oder transformierten, gaben weiterführende Aufschlüsse über zeichentechnische Konstruktionsweisen, die ausgehend von einfachsten geometrischen Strukturen bis hin zur darstellerischen Bildung von komplizierten Körpern führen sollten. Hans Sebald Beham (1500–1550), der ebenso wie sein Bruder Barthel (1502–1540) deutlich vom Schaffen Dürers beeinflusst wurde, richtete sein erstmals Mitte des 16. Jahrhunderts posthum veröffentlichtes Kunst und Lere Büchlin (1552) explizit an Laien und Lehrjungen.30 Mithilfe einer kohärenten Text-Bild-Verknüpfung legte er dar, wie der Zeichenschüler von geometrischen Elementarformen zur Proportionslehre gelangen soll. In späteren Auflagen wurde dies durch eine auf Dürer rekurrierende Parallelprojektion ergänzt.31 Durch die Zusammenarbeit mit Sebald Beham wurde wiederum das graphische wie publizistische Werk des Erhard Schön (um 1491–1542) beeinflusst. In Schöns Zeichenbuch sollte die bei Dürer beobachtete Entwicklung der menschlichen Gestalt mithilfe von Gliederpuppen zu einer konsequent durchdeklinierten Konstruktionsmethode führen. Schön, der in Nürnberg geborene Graphiker und Maler aus dem Umkreis des Dürerschülers Hans Springinklee (1490/1495–um 1540), erlangte vor allem durch seine Flugschriften und Buchillustrationen, etwa zur Klagrede der armen verfolgten Götzen und Tempelbilder eine gewisse Bekanntheit. 32 Als eines seiner letzten Werke erschien 1538 in Nürnberg sein Lehrbuch Underweissung der proportzion unnd stellung der possen.33 Wie Schön in seiner Vorrede angibt,

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sprachigen Kunstbüchlein vor Sandrarts Teutscher Academie, in: Ausst. Kat.: Unter Minervas Schutz. Bildung durch Kunst in Joachim von Sandrarts Teutscher Academie, hg. v. Anna Schreurs u. a., Wolfenbüttel 2012, S. 123–133. Vgl. zum Folgenden bereits, in leicht veränderter und erweiterter Form: Rath: Vermessung des Körpers, S. 230 ff. Vgl. Boris Röhrl: Die Transformation der mittelalterlichen planimetrischen Proportionsschemata zu den neuzeitlichen empirischen Proportionslehren. Dargestellt am Beispiel der ‚Proporcion der Ross‘ (1528) von Sebald Beham, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 39 (2012), S. 77–92; Polina Gedova: Sebald Beham. Wahrhafftige Beschreibung aller fürneme Künsten […], in: Maria Heilmann u. a. (Hg.): Punkt, Punkt, Komma, Strich. Zeichenbücher in Europa, ca. 1525–1925, Passau 2014, S. 148–150. Vgl. Heinrich Röttinger: Erhard Schoen und Niklas Stoer, der Pseudo-Schoen. Zwei Untersuchungen zur Geschichte des alten Nürnberger Holzschnittes, Strassburg 1925; Seidenfuß: „Daß wirdt also die Geometrische Perspektiv genandt”, S. 146– 150; Rath: Manipulationen, S. 112–118. Erhard Schön: Underweissung der/ proportzion unnd stellung der possen,/ liegent unnd stehend ab gsstolen wie man das vor augen sicht/ in dempuchlein durch Erhart Schon vonn Norennberg/ fur die Jungenu geselenn und Jungen zu unnt=/ herrichtung die zu der Kunst lieb thragenn und/ in denn truck gepracht, Nürnberg

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

sei das Lehrbuch als Reaktion auf ein Ersuchen seiner Gesellen entstanden, die nach einem verständlichen Figurenlehrbuch verlangt hätten. Das Werk könne daher im Sinne einer Vorstufe zu Dürers diffizileren Arbeiten verstanden werden: „Nach dem mir meine Jungenn zum offten mal mit pit angelegen sindt/ diese Kunst der proporcion und messunghalben Innen zuerleichternn das sie dester dass des durers und den vitruvium unnd andere púcher zu leychterem verstand auch kumen.“34 In Schöns Lehrbuch finden sich nun bebilderte Anweisungen zur zeichnerischen Konstruktion von einzelnen Körperteilen bis hin zur Komposition mehrfiguriger Historien, ferner die Anweisung zum Entwurf eines Wappenschildes sowie eines Pferdes in verschiedenen Stellungen. In diesem bildgetragenen Programm nehmen veranschaulichende Holzschnitte deutlich mehr Raum ein als der begleitende Text. Der erste Teil widmet sich der Erfassung eines Kopfes in verschiedenen Haltungen. Dabei wird früh ersichtlich, dass Schön eine zu Dürer reziproke Konstruktionsweise vorschlägt, indem das Haupt zunächst aus neun kubischen Einheiten gebildet wird, um von den so entstandenen Würfelbüsten ausgehend Schritt für Schritt eine natürliche Physiognomie zu entwickeln (Bild 168–170).35 Nach der geometrischen Herleitung des Menschen aus der Gestalt eines „homo ad quadratum“, wie sie Dürer in seiner Proportionslehre mannigfach vorgeführt hatte, gelangt Schön zur Erfassung der menschlichen Gestalt im Raum: In der „zehennd vigur“ präsentiert er „fünf possen/ in einem Geheus“, die sich als dreidimensionale, schematisch gegliederte Kubengestalten erweisen, welche wie in einem Guckkasten auf einem gerasterten Untergrund in fünf verschiedenen Haltungen angeordnet sind (Bild 171).36 Im Vordergrund sind zunächst zwei parallele Liegefiguren diagonal auf dem gerasterten Bildgrund angeordnet, 1540, Frontispiz. Vgl. auch die Faksimileausgabe: Erhard Schön: Unterweisung der Proportionen und Stellung der Possen, Nürnberg 1542, hg. v. Leo Baer, Frankfurt a. M. 1920, dort S. 7. Schön: Underweissung der/ proportzion unnd stellung der possen, S. 1. Dies weise, so Alfred Pauli, darauf hin, dass „er als angesehener Meister in Nürnberg eine eigene Werkstatt unterhielt und dass er sich seiner Tätigkeit als Lehrer vorzugsweise bewusst gewesen ist.“ Alfred Pauli: Erhard Schön. Ein Nürnberger Maler u. Holzschneider aus der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, Diss. Univ. Hamburg 1924, S. 24. Wie Frits Scholten hervorhebt, gleicht das hierbei vorgestellte Büstenschema auffällig den zeitgenössischen Porträtskulpturen, die damit immer noch dem italienischen Frührenaissance-Typus verhaftet sind: Frits Scholten: Johan Gregor van der Schardt and the Moment of Self-Portraiture in Sculpture, in: Simiolus. Netherlands Quarterly for the History of Art 33/4 (2007/2008), S. 195–220, hier S. 201 f. Es liegt nahe, dass Schön dabei real konstruierte, geometrisch organisierte Dioramen darstellt, wie sie Giovanni Pietro Bellori (1613–1696) bei Nicolas Poussin (1594–1665) bezeugt und Samuel van Hoogstraten (1627–1678) beschreiben sollte. 3

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Bild 168, 169, 170 Erhard Schön: Konstruktionsschritte des menschlichen Kopfes („Die ander vigur“, „die dryt vigur“, „die viert vigur“), 1542, Holzschnitte, Unterweisung der Proportionen und Stellung der Possen.

hinter diesen knien zwei spiegelbildlich verwirklichte Kubenwesen in Gebetshaltung vor einer auf ihre Ellenbogen gestützten Würfelgestalt. Die wie aus Einzelbausteinen zusammengesetzten Körper in diesem Holzschnitt weisen bis auf skizzenhaft in die Kopfquader eingetragene Gesichter den höchsten Grad an Abstraktion innerhalb des Lehrbuches auf. Die Kubenwesen sollen durch dieses einfache Körperschema – bestehend aus drei beweglichen Körperpartien (Arme, Beine, Kopf) – strukturell in den gleichermaßen parzellierten Raumkasten eingebunden werden.37

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„Die zehennd figur zaygt an vou fünf possen/ in einem Geheus von dreyen liegenden/ vnd zweyen knieenden/ mit Iren dreyen beweglichen glidren wie sie in der vierung begriefen sind so wayst du dich danach zu richten.“ Robert Keil beschreibt, dass sich der „messbare wohlproportionierte menschliche Körper […] dem ebenso messbaren Raum adäquat einfügen [muss]. Der menschliche Körper wird somit zu einem plastischen Gebilde, das in seinem Aufbau eine architektonische Struktur aufweist.“ Robert Keil: Ruhm der Künste, in: Ausst. Kat.: Zauber der Medusa. Europäische Manierismen, Wien 1987, S. 330–339, hier S. 334. Er schlägt damit den Bogen zu Vitruvs Diktum, dass die Formgebung einer auf Symmetrie und Proportion beruhenden Architektur der Zusammensetzung des menschlichen Körpers entspricht.

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Bild 171, 172, 173  Erhard Schön: Konstruktionsschritte der menschlichen Figur im Raum („Die zehennd vigur“, „die eylfft vigur“, „die funffzehendt vigur“), 1542, Holzschnitte, Unterweisung der Proportionen und Stellung der Possen.

Auf den folgenden Holzschnitten ordnet Schön in unregelmäßiger Folge weitere geometrisch-kubisch gegliederte Figuren in verschiedenen Posen im Raum an, teilweise in einem Raumquader, auf gerastertem Grund oder in einem abstrakten, durch eine Horizontlinie angegebenen Raumgefüge (Bild 172, 173). Dabei werden die vorgestellten Figuren immer weiter von Hilfslinien und Quaderformen befreit, um in einem Motiv dreier kämpfender Männer zu gipfeln, die in der „zwey undzwanzygst vigur“ von vorne und rückseitig in der „drey undzwanzygst vigur“ erscheinen (Bild 174, 175). Die hierbei vorgestellten und in starren Haltungsvariationen räumlich angeordneten Körper sind keineswegs konsequent aus dem kubischen Schematismus entwickelt, vielmehr scheinen organische Strukturen geometrisch überblendet oder Gliederwürfel formbar geworden zu sein. Ein Grund für die hier observierbare Unschärfe könnte in der Verwendung einer Gliederpuppe bei der zeichnerischen Vorbereitung der Schautafeln liegen. Wie Leo Baer im Vorwort der Faksimileausgabe des Zeichenbuchs hinsichtlich der Verfahrensweise Schöns präzisiert, fügte dieser „die darzustellenden Gegenstände rein flächenhaft nach Art Dürers in ein Proportionsnetz ein, dann gibt er die […] kubischen Gliederpuppen

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Bild 174, 175  Erhard Schön: Konstruktion und Drehung der menschlichen Figur im Raum („Die zwey undzwanzygst vigur“, „die drey undzwanzygst vigur“), 1542, Holzschnitte, Unterweisung der Proportionen und Stellung der Possen.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

wieder, die er ‚Possen‘ (in der 4. Auflage ‚Bossen‘ = bozze, italienisch) nennt. Es folgen naturalistische Gliederpuppen, in die er aber zunächst zum Vergleich noch die kubischen Umrisse hineinzeichnet. In den späteren Holzschnitten zeigt er die Figuren bewegt und verkürzt (‚sich verkürzen‘ bezeichnet er als ‚sich abstelen‘), wobei er sie, um die Maßverschiebung deutlicher darzustellen, mit Vorliebe auf einen Estrich (‚Pflaster‘) legt. Endlich schraffiert er die Figuren, um seinen Schülern auch die Modellierung der Körper und die Wiedergabe der Schatten beizubringen.“38 In diesem Sinne könnte Schöns Underweysung auch als eine Anweisung zur Herleitung der menschlichen Gestalt durch die richtige Anordnung von Gliederpuppen begriffen werden. Baers Deutung der „Possen“ als Ausdruck für die Gliederpuppe stützt ihrerseits eine bereits von Weixlgärtner vorgeschlagene Erläuterung, in welcher jener die Wortbedeutung vom Verb ‚bossieren‘ – dem Begriff für das ‚In-Form-Bringen‘ – ableitete, ein Begriff, den Dürer selbst in der Proportionslehre für das Formen seiner konstruierten Figuren verwendet hatte.39 Anders als bei Dürer diente Schön die Gliederpuppe vom ersten Arbeitsschritt an als ideales Hilfs- und Anschauungsmittel. Mithilfe des gegliederten Modells gelang es ihm, sowohl physiognomische Varianten des Kopfes herzuleiten, als auch unterschiedliche Stellungsmöglichkeiten der menschlichen Figur im geometrisch organisierten perspektivischen Raum zu erschließen.40 Seine Anordnung der Modellfiguren in einem Raumkasten setzte sich vielerorts als Studienverfahren durch. Zahlreiche bildliche und schriftliche Darstellungen der Folgezeit, von Heinrich Lautensacks „Pavimentmodell“ bis Nicolas Poussins „grande machine“, zeugen von einer weiten Verbreitung im Atelier der Frühen Neuzeit.41 Durch gliederpuppenhafte Körper ersetzt, wird bei Schön der Mensch zum bildlich variierten Konstrukt. Die zunächst stark abstrahierte 38 39

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Leo Baer: Vorwort, in: Erhard Schön. Unterweisung der Proportionen und Stellung der Possen, Nürnberg 1542, hg. v. dems., Frankfurt a. M. 1920, S. 5 f. „So mag das Wort Possen unter anderem nicht nur unser Modell, sondern geradezu die Gliederpuppe bezeichnet haben.“ Weixlgärtner: Dürer und die Gliederpuppe, S. 90. Vgl. auch Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 55. Ebenso Christian Theuerkauff: Gliederpuppe, in: Ausst. Kat.: Der Mensch um 1500. Werke aus Kirchen und Kunstkammern, hg. v. Hanna Gagel, Berlin 1977, S. 166–171, hier S. 170. Fredel verweist auf den italienischen „bozzetto“, den er unscharf als „Modellfigur[..], also hölzerne oder tönerne Gliederpuppe“ definiert. Fredel: Ideale Maße und Proportionen, S.  33. Zu Dürers Wortverwendung vgl. Rupprich: Albrecht Dürer, S. 136 sowie S. 246. Vgl. Rath: Manipulationen, S. 116 ff. Lautensacks „Pavimentmodell“ erscheint in: Heinrich Lautensack: Des Circkels vnnd Richtscheyts, auch der Perspectiua, vnd Porportion der Menschen vnd Rosse, kurtze, doch gründtliche vnderweisung, deß rechten gebrauchs, Frankfurt a. M.

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II  Kunst

Geometrisierung des Leibes löst sich in den natürlicheren Figurationen am Ende des Lehrbuchs indes nicht gänzlich auf. Die Wirkung der scheinbar aktiv bewegten Gestalten verbleibt im Artifiziellen.

b   Niederla nde Das kleine Korpus an niederländischen Atelierszenen, in welchen eine Gliederpuppenverwendung observierbar ist, bedingte ein merkliches kunstwissenschaftliches Interesse sowohl für diese kleinere Randgruppe des ab dem 17. Jahrhundert eigenständig auftretenden Bildgenres als auch für die Modellgattung der Gliederpuppe.42 Grundsätzlich war das nachmittelalterliche Künstleratelier der Niederlande in vielerlei Hinsicht mit den Werkstätten südlich der Alpen vergleichbar, als gemeinschaftlich organisierter Betrieb, in dem verschiedene Stufen der Ausbildung aber auch der Werkvorbereitung auf professionalisierten Lehrverfahren und einer differenzierten Atelierausstattung fußten.43 Ein entscheidender Faktor dafür, dass in den niederländischen Darstellungen des Künstlerateliers erste valide Bildzeugnisse der Gliederpuppe greifbar werden, liegt sicherlich auch in der für die im 17. Jahrhundert entstandenen Genreszenen eingeforderten – vermeintlichen – Realitätsnähe.44 Dass in diesen dem

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1564, Taf. 45; vgl. Meder: Die Handzeichnung, S. 553; Pirkko Rathgeber: Strichfiguren. Bilder der Bewegung, in: Sigrid Leyssen u. a. (Hg.): Bilder animierter Bewegung. Images of animate movement, Paderborn 2013, S. 31–72. Zu Poussin: Oskar Bätschmann: Nicolas Poussin. Dialectics of Painting, London 1990, S. 27 ff. sowie zuletzt Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 17–19. Vgl. zudem die Verknüpfung der Verfahren in: Camillo Sitte: Gesamtausgabe. Schriften und Projekte, hg. v. Klaus Semsroth, Bd. 5, Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte, Einleitung v. Robert Stalla u. Mario Schwarz, wiss. Bearbeitung u. Kommentierung v. Robert Stalla, Wien 2010, S. 545 sowie S. 595–597. P. T. A. Swillens: Beelden en ledepoppen in de schilderkunst, in: Maandblad voor beeldende kunsten 23 (1947), S. 247–258; van der Grinten: Le cachelot et le mannequin; Katja Kleinert: Atelierdarstellungen in der niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts – realistisches Abbild oder glaubwürdiger Schein?, Petersberg 2006, insb. S. 77–81; Chapman: The Wooden Body, S. 188–215; Astrid Kwakernaak: Van hout, van stof, van vlees en bloed: de modellen van de schilder, in: Ausst. Kat.: Mythen van het atelier. De werkplaats en schilderpraktijk van de negentiendeeeuwse Nederlandse kunstenaar, hg. v. Mayken Jonkman/Eva Geudeker, Den Haag 2010, S. 150–165. Vgl. Cornelia Peres: Materialkundliche, wirtschaftliche und soziale Aspekte zur Gemäldeherstellung in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 2 (1988), S. 263–296. Aus der überbordenden Forschungsliteratur seien nur einige wenige markante Beiträge genannt: Eddie de Jongh: Zinne- en minnebeelden in de schilderkunst van de zeventiende eeuw, Amsterdam 1967; Hans-Joachim Raupp: Untersuchungen zu Künstlerbildnis und Künstlerdarstellung in den Niederlanden im 17. Jahrhundert,

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Anschein nach alltäglichen Szenen gleichwohl eine tiefgreifend symbolische Aufladung, beziehungsweise eine bewusst arrangierte Objektkonstellation zu bemerken ist, offenbart sich auch bei den Atelierdarstellungen mit Gliederpuppen.

D ie Gl ie der p up p e i m Atel ier Neben Naturabformungen und Vorlagenbüchern dienten Antikenabgüsse als hierarchisch hochgestelltes Atelierinventar einer kunsttheoretischen wie ästhetischen Fundierung der künstlerischen Ausbildung und Tätigkeit.45 Davon, dass auch Gliederpuppen in den Ateliers der Niederlande ein alltägliches und relativ weitverbreitetes Instrumentarium darstellten, legen die zahlreichen erhaltenen Künstlerinventare ein beredtes Zeugnis ab.46 Diese nennen mannigfach den „houte man“, oder auch „Leeman“, wie der Gliedermann in den Niederlanden genannt wird, sowohl männliche als auch weibliche Figuren und in unterschiedlichen Größen und Ausführungen.47 Ferner geben Nachlassveräußerungen

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Hildesheim u. a. 1984; Svetlana Alpers: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985; Justus Müller Hofstede: „Wort und Bild“. Fragen zu Signifikanz und Realität in der holländischen Malerei des XVII. Jahrhunderts, in: Wort und Bild in der niederländischen Kunst und Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. dems./Herman Vekeman, Erftstadt 1984, S. IX–XXIII; Barbara Ghaetgens (Hg.): Genremalerei, Berlin 2002; Kleinert: Atelierdarstellungen. Vgl. Andreas Tacke: „Wenn Sie meinen Rat hören wollen, meine Herren…“. Zu Antiken, Abgüssen und weiblichen Aktmodellen in nordalpinen Akademien und Künstlerwerkstätten des 17. Jahrhunderts, in: Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, hg. v. Helmut Friedel, Köln 2001, S. 55–70 m. weiterer Lit. Auffällig ist dabei zunächst die Diskrepanz zwischen der geringen Verbreitung des Hilfsmittels in flämischen Werkstätten gegenüber den in holländischen Ateliers häufig bezeugten hölzernen Modellen. Vgl. Kleinert: Atelierdarstellungen, S. 81. Die konziseste und umfassendste Auflistung besorgte Abraham Bredius (Hg.): Künstler-Inventare. Urkunden zur Geschichte der holländischen Kunst des XVIten, XVIIten und XVIIIten Jahrhunderts, Haag 1915–1922. In den Büchern I–VI der Nachlassinventare finden sich über das 17. und 18. Jahrhundert verteilt bei folgenden Künstlern Gliederpuppen (chronologisch geordnet): Bilderverkäufe von Cornelis van der Voort u. Inv. Pieter van der Voort von 1625: „1 houte Lee wyff […] 1 houte Leeman.“ (IV, S.  1181, No. 29 u. No. 31), Inv. Nicolas de Bruyn von 1632: „Een houtte man“ (V, S. 1602, No. 74), Inv. Jan Bassé d. Ä. von 1637: „En lee-manntje van Palmenhout“ (I, S. 140, No. 91), Inv. Hendrick Munnekus von 1647: „Een Leeman“ (II, S. 694, No. 16), Inv. Der Witwe des Crijn Hendricksz Volmarijn von 1648: „Een leeman” (V, S. 1634, o. No.), Inv. Abraham de Pape von 1656: „1 leeman, 2 vrijffsteenen“ (V, S. 1861, No. 68), Inv. David Beckx von 1656: „Item een cleyn houtten gesneden Leemanneken voor schilderst e gebruycken.“ (IV, S. 1272, No. 67), Inv. François Carré von 1661: „Een houten knaep“ (V, S. 1904, o. No.), Inv. Der Witwe des Jan de Vos IV. von 1670: „Een houte man“ (VI, S. 2144, o. No.), Inv. Witwe des Batholomeus van der Helst u. seines Sohnes Lodewyck van der Helst von 1671: „En

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Aufschluss über die Art und Weise der Ausgestaltung der Gliederpuppen, deren Wert je nach Größe, Material und Detailtreue variieren konnte.48 Anhand von sechs Atelierszenen, die zwischen dem ersten Drittel des 17. und dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts entstanden sind, können die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen, vorwiegende Gestaltgebungen und Konstruktionstypen der Gliederpuppe in den Niederlanden exemplifiziert werden. Zwischen genrehaftem Porträt und porträthafter Genreszene schwingt die 1624 entstandene Darstellung eines Bildschnitzers von Werner Jacobsz. van den Valckert (um 1580–um 1627) (Bild 176).49 Das hochformatige, in Öl auf Holz gemalte Bildnis zeigt einen Bildhauer als Halbfigur links vor seiner Werkbank mit seinem jüngsten Werk posierend: einer prächtigen männlichen Gliederpuppe aus Holz. Das von oben einfallende Licht hat das Paar erfasst und verleiht der Szene vor dem dunklen Hintergrund der kahlen Werkstattwand einen theatralischen Impetus. Der knapp ein Meter hohe Gliedermann, in dramatisch ­gestikulierender Pose zu seinem Schöpfer blickend, erweist sich als besonders aufwendig gestaltetes, wertvolles Stück: Durch vierzehn Kugelgelenke in verschiedene Haltungen zu bringen, wurde bis ins Detail die Anatomie des männlichen Oberkörpers und der Extremitäten verwirklicht. Besondere Aufmerksamkeit kam auch dem herrschaftlichen Kopf zuteil, wohingegen der Unterleib

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houten leeman“ (I, S. 407, No. 17), Inv. Johannes de Vos II. von 1683: „Een houten leeman, en al zyn schildergeretschap“ (VI, S. 2106, o. No.), Inv. Matthijs van Dorsten von 1694: „Eenig Schildergereetschap met een leeman en 2 Esels [Staffeleien]“ (II, S.  714, No.  33); Inv. Michiel van Musscher von 1699: „Twee leemannen“ (III, S. 993, o. No.), Inv. Johan Hendrik Beringh von 1704: „Nogh een houte Ledeman levensgroote […]“ (I, S. 276, No. 22), „Een linne leeman [mit Stoff überzogen]“ (I, S. 408, No. 42); Inv. Dirk Valkenberg von 1721: „En houte Leeman, levensgroote“ (II, S.  430, No.  60), Inv. Christian August Francke von 1755: „Een Leeman …3:00.-“ (IV, S. 1450, No. 18). Modellpuppen aus anderen Materialien wie Stroh werden gleichermaßen vielzählig genannt (Inv. Symon Fangaert von 1665: „1 Stroo man“ (II, S.  612, o. No.)), doch handelte es sich bei diesen (teilweise bekleidbaren) Modellkörpern nicht um in verschiedene Haltungen versetzbare Körper im Sinne einer Gliederpuppe. Vgl. zu den Inventarbelegen auch Kleinert, die nach deren Sichtung davon ausgeht, dass etwa jeder sechste Maler eine Gliederpuppe besaß. Kleinert: Atelierdarstellungen, S. 78–81. Vgl. die Beispiele in Kleinert: Atelierdarstellungen, S. 81, die auch über die unterschiedlichen Verwahrungsorte der Gliederpuppen und der hiermit verbundenen unterschiedlichen Wertschätzung (und Wertigkeit) Auskunft gibt. Die sich an diesem Beispiel entzündende Frage nach der Gattungszugehörigkeit, die bei Kleinert als zwischen Genre und Porträt changierend erörtert wird, ist bereits von Hans-Joachim Raupp kritisch beleuchtet worden. Vgl. Hans-Joachim Raupp: [Rezension zu:] Kleinert, Katja: Atelierdarstellungen in der niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts. Realistisches Abbild oder glaubwürdiger Schein?, Petersberg 2006, in: H-ArtHist (17.01.2009), unter: http://arthist.net/reviews/242 [06.11.2014]. Zum Gemälde vgl. Kleinert: Atelierdarstellungen, S. 79 f.; Chapman: The Wooden Body, S. 197 ff.

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Bild 176  Werner Jacobsz. van den Valckert: Bildschnitzer mit Gliederpuppe, 1624, Öl/Holz, 82,2 × 57,3 cm, Inv. Nr. 1963.29, The Speed Art Museum, Louisville, Kentucky. (Farb­tafel 17)

zwar mit Nabel jedoch ohne Geschlecht ausgeführt wurde. Die Beine in leichtem Ausfallschritt überdecken offenbar die Halterungsstange, die die Figur mit dem Holzklotz verbindet, auf welchem sie positioniert wurde. Zu ihren Füßen liegen noch die Handwerkzeuge des Schnitzers wie zufällig übereinandergestapelt, fünf Flach- und Hohleisen unterschiedlicher Größe, ein Messzirkel ebenso wie ein massiver Holzhammer. Doch zeigt sich bereits hier, dass es sich wohl kaum um eine Momentaufnahme des soeben erfolgten Vollendungsprozesses

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der variablen Skulptur handeln dürfte, da jegliche Arbeitsspuren wie Staub, Raspeln und Holzspäne verschwunden sind. Dazu erscheint der Bildhauer selbst in einem feinen schwarzen Rock mit blütenweiß-gestärktem Mühlradkragen, aus welchem sein junges Gesicht mit markanter Nase und modischem Schnauzund Kinnbart umso zarter hervortritt. Es ist das Bild des stolzen Künstlers, der sein Meisterstück im Angesicht seiner Gerätschaften präsentiert, die im Hinblick auf die akribische Formgebung der Gliederpuppe umso gröber und damit die Kunstfertigkeit umso größer erscheinen lassen. Zurecht hat Harry Chapman darauf verwiesen, dass es sich bei dem hier porträtierten unbekannten Künstler um ein neues Mitglied der antieksnijdersgilde handeln muss, um jene Zunft also, die von ihren zukünftigen Mitgliedern auch ein gildeproef in Form einer handgefertigten Gliederpuppe („en leeman“) einfordern konnte.50 Das Bildnis könnte damit als gemalte Dokumentation des ‚Meisterbriefes‘ figurieren.51 Dabei deutet jedoch die bildinterne deiktische Verweisstruktur auf eine weitere Bedeutungsebene hin: die sich in den Bildkünsten – sowohl in der Malerei als auch der Bildhauerei – vereinenden Fähigkeiten von Geist, Auge und Hand. Indem der seinem Erschaffer wie aus dem Gesicht geschnittene Gliedermann mit der erhobenen linken Hand auf das Haupt seines Schöpfer weist, ergibt sich ein komplexes, zirkuläres Bedeutungsgeflecht, wobei er seinen Blick auf die Augen des Künstlers richtet, um zugleich mit der nach unten gestreckten Rechten auf dessen Arm zu zeigen, der seinerseits im Zeigegestus zur Holzskulptur zurückverweist. Durch eine leicht differierende Augenstellung des Bildschnitzers, mit einem geradeaus gerichteten rechten und einem nach oben verschobenen linken Auge, erweist sich der Blick des Porträtierten als besonders lebendig und geradezu allumfassend,52 wobei seine Hand, genau in Höhe des fehlenden Gliederpuppengeschlechts, auf seine künstlerische Zeugungs50

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Vgl. Chapman: The Wooden Body, S.  197 u. Anm. 30, mit dem weitergehenden Hinweis, dass die Bildschnitzer in antyckse manier, also im Sinne der Renais­ sancekünstler arbeiteten, um sich damit von den noch in spätgotischer Weise praktizierenden Kollegen abzusetzen. Chapmans weitergehende Deutung eines Tauschhandels – Bild gegen Gliederpuppe – ist vielleicht zu weit gegriffen. Doch lässt sich die Anfertigung von Gliederpuppen durch spezialisierte Bildschnitzer für Maler auch durch Nachlassinventare belegen, etwa durch das Inventar des Adriaen Huybertsz Verveer von 1680: [offene Rechnungen] „1679 voor 2 leemans…/ Maar voor een leeman…5.-“. Bredius: Künstler-Inventare, Bd. III, S. 902, o. Nr. Die im Chiasmus der Blicke begründete Blickaktivität (potentia) wurde besonders pointiert von Nicolaus Cusanus in seiner auf ‚zurückblickende‘ Andachtsbilder rekurrierenden Schrift De visione dei (1453) beschrieben. Vgl. hierzu Frank Fehrenbach: Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik des lebendigen Bildes, in: Ulrich Pfisterer/Anja Zimmermann (Hg.): Animationen/Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen. Berlin 2005, S. 1–40; Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 237–243.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 177  Pieter Cornelisz. van Egmont: Atelierszene, um 1640/1650, Öl auf Holz, 34,6 × 30,6 cm, einst Sammlung Sjöberg (Stockholm), Privatbesitz. (Farb­tafel 18)

fähigkeit verweist. Während der Bildschnitzer ein quasi lebendiges Gegenüber erschuf, erreichte der Maler mit den Mitteln seiner Kunst einen kongenialen bildlichen Nachvollzug des in Gestalt der vollendeten Gliederpuppe entgegentretenden Agens. Gemächlicher geht es in Pieter Cornelisz. van Egmonts (1615–1663) um 1640/1650 entstandener Atelierszene zu (Bild 177).53 Auf einem breiten Holzstuhl vor seiner Staffelei sitzend, raucht der sinnierend zum Betrachter blickende

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Einst der Sammlung Sjöberg (Stockholm) zugehörig, wurde das Bild jüngst an einen privaten Sammler versteigert. Vgl. van der Grinten: Le cachelot, S.  162 f., Abb. 14; Raupp: Untersuchungen zu Künstlerbildnis, S. 349, Abb. 224; Erin Griffey: The Artist‘s Stage. The ‚Schilderkamer‘ as a Site of Play in the 17th Century, in: De

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II  Kunst

Bild 178  Simon Kick: Maler in seinem Atelier, um 1648, Öl/Holz, 92 × 69,5 cm, National Gallery of Ireland, Dublin.

Maler eine Pfeife. Sein Bild, eine Kleingruppenszene mit Landschaftsausblick, ist fertiggestellt, die Malpalette hängt gereinigt an der Staffelei. Das ihn umgebende Studioinventar füllt stilllebenhaft die rechte Bildhälfte: Auf dem Tisch sind ein Globus, eine Violine mit Geigenbogen sowie eine Kupferkanne neben einer Riesenmuschel arrangiert. Direkt hinter dem Tisch steht aufrecht ein lebensgroßer Gliedermann aus Holz. Zwar im selben Maße wie die Gliedergestalt bei van den Valckert durch Kugelgelenke in den Armen, dem Hals und

Zeventiende Eeuw 15 (1999), S. 48–60; Kleinert: Atelierdarstellungen, S. 222 f. Vgl. Sotheby’s, Old Master Paintings, Amsterdam, 18. Mai 2010, Los 44; Dokumen­ tation unter: http://www.sothebys.com/de/auctions/ecatalogue/2010/old-masterpain­­tings-am1090/lot.44.html [29.11.2014].

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

einer massiven Bauchkugel variabel gestaltet, verleiht ihm jedoch der haarlose Kopf mit leerem Blick aus müden Augen im Verbund mit den passiv hinter dem Rücken verschränkten Armen eine diametral entgegengesetzte Aura des passiven, dienenden Modells. Als schematischer Wiedergänger dieses Modells van Egmonts erweist sich die etwa zur selben Zeit in einer Atelierszene des jüngeren Malerkollegen Simon Kick (1603–1652) gezeigte lebensgroße Gliederpuppe (Bild 178).54 Hier wird diese zur obskuren Phantomgestalt, zum stillen Bewohner des Ateliers. Während der junge Maler dabei ist, sein männliches Modell im Rollenbildnis eines Trinkenden zu porträtieren, erscheint die lebensgroße, in den Schatten der Leinwand gestellte Gliederfigur genau in der vertikalen Achse des Bildes. Erneut entsteht dadurch ein vielschichtiges Beziehungsgemenge: Während der Porträtierte bilddominant unter einem zur Seite geschobenen schweren Vorhang und in helles Licht getaucht die bühnenartige rechte Bildseite dominiert, wirkt die schmale Gestalt des Malers mit dem durch einen hohen Hut verschatteten Gesicht sogar weniger lebendig als das von der Staffelei den Betrachter anblickende Bildnis. Durch seine seltsam verdrehte Haltung, halb sitzend, halb stehend, schräg auf dem Stuhl platziert und auf die Tischkante gestützt, erhält der modellsitzende Edelmann selbst einen gliederpuppenhaften Habitus, der in einer geradezu unmöglich anmutenden Geste der eingedrehten rechten Hand kulminiert. Möglicherweise wurde die Kleidung, die der Maler in diesem Moment mit letzten Pinselstrichen fertigstellt, durch das übliche Verfahren, also mithilfe einer Gliederpuppe wiedergegeben.55 Dennoch fällt ein zweiter Zusammenhang ins Auge: in leichtem Kontrapost stehend und mit angewinkeltem Arm erscheint die Gliederpuppe hinter der Staffelei als unmittelbares Spiegelbild des Malers vor der Leinwand. Indem seine Existenz als Künstler vordringlich von Porträtaufträgen abhängt, scheint sich das hier andeutende Sinnbild des Malers als vom Kunstmarkt in Stellung gebrachte, geduldig und passiv ausführende Figur mit den Eigenschaften der Gliederpuppe zu decken. Diese verbleibt zwar im Hintergrund, ist aber dennoch die Referenzfigur des Bildes. Auch Wallerant Veillant (1623–1677) hatte sich zum Porträtmaler ausbilden lassen. In seinem Bild eines jungen Zeichners, welches sich heute in der Harold Samuel Collection befindet, ist indes nicht das Antlitz des Schülers, son54

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Vgl. Homan Potterton: Dutch Seventeenth and Eighteenth Century Paintings in the National Gallery of Ireland, Dublin 1986, S. 77 f., Abb. 88; Ausst. Kat.: Art & Home. Dutch Interiors in the Age of Rembrandt, hg. v. Mariët Westermann, Zwolle 2001, Abb. 131. Vgl. die frühe und präzise Beschreibung bei Wilhelm Martin: How a Dutch Picture was Painted, in: The Burlington Magazine for Connoisseurs 10/45 (1906), S. 140– 154, hier S. 146; zudem van der Grinten: Le cachelot, S. 159.

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II  Kunst

Bild 179  Wallerant Vaillant: Bild eines jungen Zeichners, um 1657, Öl/Holz, 32,1 × 39,5 cm, The Harold Samuel Collection, London.

dern das Zeichenstudium selbst eingefangen (Bild 179).56 Das um 1657 entstandene, 32,1 × 39,5 cm große Bild besitzt den Charakter eines Kabinettstücks und reiht sich in eine Serie verwandter Darstellungen junger Zeichenschüler von zeitgenössischen Künstlern ein.57 Veillant zeigt den Lehrjungen von hinten auf einem schwarzen Stuhl sitzend, gekleidet in einen hellblauen Rock, mit dunkel56

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Vgl. Zuerst Wilhelm Martin: The Life of a Dutch Artist in the Seventeenth Century. Part II – Instruction in Painting, in: The Burlington Magazine for Connoisseurs 7/30 (1905), S. 416–427; zu Provenienz, Zustand und Forschung vgl. Peter C. Sutton: Dutch & Flemish Seventeenth-Century Paintings. The Harold Samuel Collection, London 1992, S. 212–215, Kat. 72. Zuletzt mit umfassender Bibliographie: Florence du Pré: De kunstenaarsleerlingen van Wallerant Vaillant. Een beschrijving van Vaillants kunstenaarsleerling-voorstellingen binnen de zeventiende‐eeuwse beeldtraditie van de kunstenaarsleerling, Master thesis Univ. Utrecht, 2011, unter: http://dspace.library.uu.nl/handle/1874/210026 [07.11.2014]. Eine Vielzahl von Genreszenen ähnlichen Sujets stammt etwa von Michael Sweerts, dem das Bild einst zugeschrieben wurde (vgl. noch bei Kleinert: Atelierdarstellungen, S. 80, Abb. 30) (Junge die Büste Kaiser Vitellus zeichnend, um 1661, Minneapolis Institute of Fine Arts), Pieter Codde (Der junge Zeichner, ca. 1630, Koninklijke Musea voor Schone Kunsten, Brüssel), Gabriel Metsu (Junge zeichnende Frau, um 1655, National Gallery London) und wiederum Vaillant selbst (Le Petit Dessinateur, 3. Viertel 17. Jahrhundert, Paris, Louvre).

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blonden bis über die Schultern fallenden Locken. Tief in seine Arbeit versunken, ist er mit seinem Zeichenbrett auf den Knien nah an die holzverkleidete Wand gerückt, um ein dort angebrachtes Schlachtenbild abzuzeichnen.58 Im engen Atelier rechts neben ihm lehnt eine lebensgroße Gliederpuppe an der Wand, hinter ihr sind große Leinwände zu erkennen. Der Körperbau des hölzernen Menschenmodells ist, ganz im Gegensatz zum Gliedermann bei van den Valckert, sehr schematisch verwirklicht, zumal der androgyne Leib und der haarlose Kopf mit glänzender Kalotte das Geschlecht im Ungewissen lässt. Die Haltung der Figur ist aufgrund eines die Beine umhüllenden gelben Tuches verunklärt, jedoch zeugen die eng angelegten Arme und der auf die Brust gesunkene Kopf von ihrer starren, passiven Natur. Dass sie dennoch häufig und dabei möglicherweise auch unsachgemäß zum Einsatz gelangt war, ist durch ein kleines Detail an der rechten Gliederpuppenschulter insofern zu beobachten, als sich hier im Holz ein massiver Riss, der vom Schulter- bis zum Halsgelenk führt, abzeichnet. Möglicherweise hat dadurch das Gelenk jene Festigkeit verloren, die für Haltungsstudien vonnöten gewesen wäre. Als beschädigtes Atelierutensil vermag es nur noch an einstige Einsätze zu erinnern. Im Studium des jungen Zeichners wird ihr indes nur noch eine Nebenrolle zuteil. Eine der wohl berühmtesten Genreszenen des niederländischen Ateliers und zugleich eine der bekanntesten Gliederpuppendarstellungen der Kunstgeschichte stammt von Adriaen van Ostade (1610–1685).59 Die 1663 angefertigte, 38 × 35,5 cm große Atelierdarstellung Der Maler in seiner Werkstatt führt den Blick in eine langgestreckte Malerwerkstatt, die im ersten Geschoss eines großen Hauses gelegen ist (Bild 180).60 Ein links in die Wand eingesetztes, großzügiges Bleiglasfenster spendet helles Tageslicht und gibt den Blick frei auf das Dach und die dahinter gelegenen Baumwipfel. Unter einem das Licht reflektierenden und vor herabrieselndem Staub schützenden Tuch sitzt mit leuchtend roter Mütze und blauem Arbeitskittel der Maler an seiner Staffelei. Auf seinen Malstock gestützt, ist er gerade im Begriff, mit feinen Pinselstrichen eine von oben auf das Bild herabhängende Skizze auf sein Werk zu übertragen. In scheinbar bäuerlichem Ambiente verweist das symbolisch aufgeladene Inventar auf einen gelehrten Maler, einen pictor doctus: Das einfallende Licht erhellt nicht 58

59 60

Das Historienbild konnte als Palamedes Palamedesz‘ (1607–1638) Schlachtenszene auf einer Brücke identifiziert werden (Privatbesitz, London). Vgl. Sutton: Dutch & Flemish Seventeenth-Century Paintings, S. 213; du Pré: De kunstenaarsleerlingen van Wallerant Vaillant, S. 57 f. Vgl. Harald Marx (Hg.): Gemäldegalerie Alte Meister Dresden, Köln 2005, Bd. I, S. 441. Das Thema der Atelierdarstellungen sollte van Ostade in weiteren Werken aufgreifen, etwa im 1670–1675 entstandenen etwa gleichgroßen Gemälde Schildersatelier im Rijksmuseum, 37 × 36 cm, Inv. Nr. SK-A-298, vgl. hierzu: Nelleke Noordervliet: Nederland in de Gouden Eeuw, Amsterdam 2003, S. 152–185, Abb. 168.

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Bild 180  Adriaen van Ostade: Der Maler in seiner Werkstatt, 1663, Öl/Holz, 38 × 35,5 cm, Inv. Nr. 1397, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden. (Farb­tafel 19)

allein die Leinwand, sondern auch die diese umgebenden, ordnungslos im Raum verteilten vielfältigen Utensilien wie Flaschen und Papiere, Pinsel und Bücher, aber auch Studienobjekte wie Gipsabgüsse, Pferdeschädel oder Zeichenvorlagen – und eine hölzerne männliche Gliederpuppe. Das Modell, dessen Haupt von einem Efeukranz bekrönt wird, ist etwa armlang und über zahlreiche Kugelgelenke hochflexibel gestaltet. In einem hinteren, höher gelegenen Raumteil, welcher durch einen Vorhang abgetrennt werden kann, ist ein Gehilfe dabei, Farben anzurühren. Von dieser Ebene führt eine schmale Wendeltreppe am Ateliergeschoss vorbei in das Untergeschoss. Nur einen Schritt vom Treppenabsatz entfernt, ist der hölzerne Gliedermann in jäher Vorwärtsbewegung festgehalten, gerade so, als sei er selbst die Treppe herabgestiegen und eile nun, den Maler im Blick, sogleich an diesem vorbei. In Größe und Machart an das Modell derselben Gattung aus van der Valckerts Gemälde erinnernd, verleiht ihm die dynamische, lebhafte Haltung einen

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Bild 181  Vincent Laurensz. van der Vinne II: Maler in seinem Atelier, 1714, Kupferstich, 10,1 × 12,5 cm, Inv. Nr. RP-P-OB-62.383, Rijksmuseum, Amsterdam.

ähnlichen Impetus agierender Beseeltheit. Dadurch, dass van Ostade die Holzfigur über den aschfahlen Gipsabguss eines antikisierenden Kopfes hinwegeilen lässt, erlangt das Modell subversiv einen hierarchisch höher gestellten Rang. Dabei bleibt die scheinbare Verlebendigung der Gliederpuppe vom Bildpersonal unbemerkt – allein der Betrachter wird zum eingeweihten Zeugen. Auch nach der Jahrhundertwende erscheint die Gliederpuppe als Atelierinventar: Im Kupferstich des Vincent Laurensz. van der Vinne II (1686–1742) von 1714 bleibt die dynamische Bewegung der Figur erneut im Verborgenen (Bild 181).61 In einer merklich straffer organisierten Werkstatt, in welcher jedes Utensil den ihm zugewiesenen Platz einzuhalten scheint, arbeitet der zentral ins Bild gesetzte Maler an einer Figurenszene auf großformatiger Leinwand. Rechterhand der zu einem weiteren Raum mit zwei Mitarbeitern führenden Türe steht unterhalb eines von Modellfiguren dicht besiedelten, hohen Wandregals eine lebensgroße hölzerne Gliederpuppe. Auch sie ist, wie in der Atelierszene van Ostades, die am stärksten belebte anthropomorphe Gestalt: Im Gegen61

Vgl. zum Künstler Bert Sliggers: Vincent Laurensz. van der Vinne II, in: Painting in Haarlem 1500–1850. The Collection of the Frans Hals Museum, hg. v. Neeltje Köhler, Gent-Haarlem 2006, S. 377.

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satz zu dem in seiner Bildwelt gefangenen Maler und den beim Farbenanrühren gezeigten Gesellen im Hintergrund ist es die geschlechtsneutrale Gliederpuppe, die ungeachtet ihrer Fixierung in vehementer Bewegung erscheint, auf einem Sockel voranschreitend und die rechte Hand grüßend erhoben. Der kurze, ein knappes Jahrhundert umfassende Blick auf Genreszenen des niederländischen Künstlerateliers erlaubt eine zumindest vorläufige Rekapitulation der dort in den Malerwerkstätten eingesetzten Gliederpuppen: Zwischen armlang und lebensgroß differieren die Modelle teilweise deutlich hinsichtlich ihrer anatomischen Ausgestaltung. Während die Gliederpuppe im dokumentarischen Zunftbild van den Valckerts ein Höchstmaß an anatomischer Detailtreue aufweist, verbleiben die anderen Modelle im Schematischen. Gleichwohl eröffnen sich hinsichtlich ihrer bildlichen Rolle insofern bedeutsame Unterschiede, als die passiv gezeigten Gliedergestalten in den Atelierbildern van Egmonts und Veillants einer Inszenierung entgegenstehen, welche die Gliederpuppe als aktiv bewegte Modellfigur präsentiert. Ebenso variabel wie das hölzerne Modell scheint das mit diesem verbundene Darstellungsverständnis zu sein. Zudem ist besonders auffällig, dass die Mehrzahl der Gliederpuppen in unbekleidetem Zustand und frei von Draperien verbildlicht wurde. Bis auf die im Lendenbereich von groben Stoffbahnen umhüllte und an der Schulter beschädigte lebensgroße Gliederpuppe in Veillants Bild eines jungen Zeichners sind die Modelle nicht in der ihnen wesentlich zugedachten Situation eines den Faltenwurf präsentierenden Körpers gezeigt. Die Diskrepanz zwischen Anwendung, bildlicher Repräsentation und kolportiertem Einsatz der Gliederpuppe bereitete den Nährboden für Spekulationen, wie sie bereits für das Atelier der Frühen Neuzeit in Italien in Anschlag gebracht wurden. In den wenigsten Fällen lässt sich indes nachweisen, sondern nur vermuten, dass eine Figur aufgrund ihrer bildlichen Disposition auf einer Gliederpuppenstudie beruht. Den kunstwissenschaftlich weitreichendsten Auftakt zu dieser häufig wenig zielführenden Debatte bildete der Beitrag von Evert Frans van der Grinten, der die Gliederpuppe, als eine den Figuren eingeschriebene Vorlage, hundertfach indirekt in niederländischen Genreszenen und Historienbildern vermutete.62 Neben den Bildgestalten im Werk des verbrieften Gliederpuppenbesitzers Gerard ter Borch d. J. (um 1617–1681) erkannte er bei Figuren in Genredarstellungen von Jan van Hemessen (um 1500–um 1566), Pieter Aertsen (um 1509–1575), Willem Pietersz. Buytewech (um 1592–1624), Hendrik Gerritsz. Pot (um 1580–1657), Gabriel Metsu (1629–1667), Jan Steen

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Van der Grinten: Le cachelot et le mannequin. Andeutungsweise nennen bereits frühere Beiträge die hier ins Feld geführten Argumente, etwa Berthold Händcke: Der unbekleidete Mensch in der christlichen Kunst seit neunzehn Jahrhunderten, Straßburg 1910, S. 45–48; Meder: Die Handzeichnung, S. 557.

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(1626–1679) und Jan Miense Molenaer (um 1610–1668) sowie neunzehn weiteren Künstlern, darunter Jan Vermeer (1632–1675), Hinweise für die Verwendung des Gliedermanns.63 Neben der eigentümlich steifen Haltung der Figuren stellte van der Grinten als Kriterium den fehlenden emotionalen Ausdruck der gemalten Figuren heraus. Ein Grund dieser wie in einer angehaltenen Bewegung wiedergegebenen Figuren läge, so van der Grinten, in der bei vielen Genremalern fehlenden vorbereitenden Zeichnung: Indem ein unmittelbarer Einsatz der Hilfsfigur das prüfende Zeichnen ersetze, entstehe jener ‚gliederpuppenhafte‘ Charakter der Bildgestalten. Damit einhergehend hätten sich die Maler unentrinnbar von der Gliederpuppe abhängig gemacht.64 Van der Grintens Feststellungen sind heute in vielen Teilen revidiert, wenngleich er einen neuralgischen Punkt getroffen hat. Auch wenn seine Zuweisungen nicht im Einzelfall rekapituliert werden sollen, bleibt zu vermerken, dass die in genauestem Maße beobachtenden Genremaler der Niederlande, die auch bezüglich ihrer Maltechniken große Experimentierfreude bewiesen,65 freilich besonders auch ihre Figurenanlage hinsichtlich Komposition und Wirkung akribisch prüften. Ob der sich als ‚hölzern‘ artikulierende Widerschein der Gliederpuppe sporadisch in Figurendarstellungen der niederländischen Genremalerei indirekt Einzug fand, indem die steife Haltung der Gliederpuppe 63

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65

Für einen der prominentesten Niederländer des 16. Jahrhunderts, Pieter Bruegel d. Ä., versucht Axel L. Romdahl einen Nachweis für dessen Verwendung eines Gliedermanns zu erbringen: Axel L. Romdahl: Le style figuré de Pierre Brueghel, in: Georges M. Theunis (Hg.): Miscellanea Leo van Puyvelde, Brüssel 1949, S. 107–110. Die Verwendung der Gliederpuppe im Werk des Genremalers Adriaen Brouwer (1606/1606–1638) bezeugt ein Eintrag in seinem Lagerinventar vom 5.10.1632: „en houten Manneken met sijn pedestael“. Vgl. Jo Kirby: The Painter‘s Trade in the Seventeenth Century. Theory and Practice, in: National Gallery Technical Bulletin 20 (1999), S. 5–49, hier S. 16 u. Anm. 54. „On peint toutes les figures humaines à une d’après dès [sic !] modèles non vivants, c. à d. des mannequins habillés, directement sur le panneau ou sur la toile et on les achève aussi une à une. Les peintres de genre n’ont jamais ou rarement fait des études de dessin d’après des modèles vivants ou nus dans des poses différentes; c’est ainsi qu’ils n’ont pas acquis une expérience suffisante pour compléter ou arrondir les contours anguleux et les gestes rigides. Plus ou moins contraints par ce système ils étaient complétement dépendantes des modèles en bois devant leurs yeux.“ Van der Grinten: Le cachelot et le mannequin, S. 156 u. Anm. 14. So entwickelte etwa Arent de Gelder (1645–1727), der Arnold Houbraken (1660– 1719) zufolge ebenfalls eine Gliederpuppe besessen haben soll, ein komplexes, auf Körperpraktiken basierendes Malverfahren. Vgl. hierzu grundlegend die jüngst entstandene Dissertationsschrift von Yannis Hadjinicolaou: Denkende Körper – Formende Hände. Handeling in Kunst und Kunsttheorie der Rembrandtisten, Berlin/Boston 2016; sowie ders.: Malen, Kratzen, Modellieren. Arent de Gelders Farbauftrag zwischen Innovation und Tradition, in: Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit, hg. v. Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm, Berlin 2013, S. 227–252.

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II  Kunst

bei den Dargestellten nicht korrigiert und angepasst wurde, oder aber dieser eigentümliche Habitus vielmehr als bewusst eingesetztes und gewolltes Stilmittel anzusehen ist, sollte ein wiederholt aufflackerndes Randthema der Forschung darstellen.66 Als gesichert gilt, dass die gleichermaßen zur Übung eingesetzte Gliederpuppe ein für den jungen Zeichenschüler, wie ihn Veillant bemerkenswert geschildert hat, ständig verfügbares und dabei gleichsam immerwährend zum Studium aufforderndes Menetekel war. In einem berühmt gewordenen Brief kommt diese Zuweisung besonders einprägsam zum Ausdruck. Am 3. Juli 1635 ermahnte Gerard ter Borch d. Ä. (um 1583–1662) seinen zu dieser Zeit in England weilenden Sohn, indem er diesem eine Gliederpuppe zukommen ließ, damit er sie – ganz im Sinne der Gepflogenheiten – zum täglichen Studium einsetzen sollte: „Liebes Kind, ich sende dir den Gliedermann, aber ohne Ständer, weil dieser zu groß und zu schwer ist, um ihn in den Koffer zu legen. Für einen kleinen Betrag kannst du dir vor Ort einen machen lassen. Gebrauche den Gliedermann und lass ihn nicht still stehen, wie er das hier getan hat, sondern zeichne viel: große und dynamische Kompositionen […].“67 Als stattliche Gliederfigur nahm das Modell demnach derart viel Platz im Koffer in Anspruch, dass ein zugehöriges Gestell keinen Platz mehr fand. Die Formulierung der ständig in Bewegung zu haltenden Gliederpuppe, welche für weitgreifende Bildanlagen eingesetzt werden sollte, zeugt vom reichen Repertoire an Bewegungen und unterschiedlichen Haltungen, das mit ihr verwirklicht werden konnte. Dieses gestische Agieren scheint zwar immer wieder in den niederländischen Atelierdarstellungen auf, ihr von ter Borch d. Ä. beschriebener fleißiger Einsatz wird indes nur mittelbar deutlich, etwa durch den breiten Riss in der Schulterpartie der Gliederpuppe bei Veillant, der als Zeichen des häufigen Gebrauchs gedeutet wedern kann. Vom Bildschnitzer in van den Valckerts Bild aktiv dem Betrachter präsentiert, erweist sich die Gliederpuppe meist 66

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Den Gegenpart zu van der Grinten bildete etwa Ulrich Nefzger, der betonte, das eine Untersuchung im Hinblick auf die Gliederpuppenverwendung durch eine bewusste Verschleierung vonseiten der Maler erschwert worden sei, „durch eine oft eigenartige Ambivalenz aus detailliertem Naturalismus und eigenwilliger Stilisierung des Künstlichen.“ Ulrich Nefzger: Gliederpuppen-Kunst, in: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 81–90, hier S. 83. „Lieve kint ick seijnde u den Leem¯a. doch sonder block: omdat hij te groot en te swaer is int coffer te legg: en om een kleijn gellt koent ghij daer een block doen maeken, gebruickt den leeman en laet hem niet stille staen als hij hijr gedaen heeft, doch teijckent veel: grotte and woelende ordonantien, […]“. Als Faksimile ist dieser Brief abgedruckt in: Ausst. Kat.: Gerard ter Borch, hg. v. Arthur K. Wheelock Jr., Washington u. a. 2004, S. 188.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

als Atelierrequisit, dessen bildliches Eigenleben nur sporadisch zutage tritt, während das mit diesem Modell verrichtete Zeichenstudium selbst nur mittelbar zum Bildsujet gemacht wird.

D ie Gl ie der p up p e i m Z e ic he nb uc h – Bie n s, va n de Pa ss e, de L a i r e ss e Dass die in Genreszenen wie in persönlichen Überlieferungen in den Niederlanden verstärkt observierbare Gliederpuppenverwendung auch in schriftlichen Anleitungen zum Zeichnen Eingang erhielt, sollte kaum verwundern. Erstaunen löst hingegen die differenzierte Thematisierung dieser besonderen Modellgestalt aus, die von einer praktischen Anleitung der Herstellung über den geschickten Einsatz bis zur Feststellung ihrer Unentbehrlichkeit reichen. Drei niederländische Zeichenbücher des 17. Jahrhunderts sollen stellvertretend für die schriftlich erörterte Verwendung von Gliederpuppen im Gouden Eeuw herangezogen werden.68 Ein schmales, für die Erforschung der Gliederpuppe jedoch in seiner Bedeutung kaum zu überschätzendes Büchlein namens De Teecken-Const69 gab sein Verfasser Cornelis Pietersz. Biens (1590/1595–1645) 1636 beim Amsterdamer Verleger Johannes Janssonius (1588–1664) in Druck.70 Selbst kein Maler, sondern Dichter, bezog sich der Autor in Konzeption und Inhalt in weiten Teilen auf vorausgegangene schriftliche Beschreibungen der Künste, insbesondere auf Karel van Manders Schilder-Boeck (Haarlem 1604) aber auch auf Gerard ter Brugghens (1617–1681) Verlichtery Kunst-boeck, das in Amsterdam 1616 (21634) erschienen war.71 Das in elf Kapitel unterteilte Zeichenbuch richtet sich an den lehrbegierigen Schüler, der das Zeichnen, dessen immanente Bedeutung Biens in den beiden ersten Abschnitten erläutert, durch eine systematische Anweisung erlernen soll. Die Kapitel drei bis sieben sind der Darlegung der für die 68

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Zu den unterschiedlichen Traktaten dieser Zeit vgl. den Überblick bei Jaap Bolten: Method and Practice. Dutch and Flemish Drawing Books 1600–1750, Amsterdam 1985 sowie Jan Blanc: Champs et discours d’un genre. Le traité de peinture dans la Hollande du XVIIe siècle, de Carel Van Mander (1604) à Samuel Van Hoogstraten (1678), in: COnTEXTES. Revue de sociologie de la littérature 1 (2006), unter: http:// contextes.revues.org/66?lang=en#entries [09.11.2014]. Der vollständige Titel des Zeichenbuches lautet De Teecken-Const: ofte Een korte ende klaere aen-leydinghe tot die lofelijcke Const van Teeckenen tot Dienst ende behulp van de eerstbeghinnende Jeucht ende liefhebbers, in Elf Capittelen vervat. Vgl. zum Zeichenbuch de Biens erstmals umfassend sowie mit einer Reinschrift des Quellentextes versehen: E. A. de Klerck: De Teecken-Const, een 17de eeuws Nederlands Traktaatje, in: Oud Holland 96 (1982), S. 16–56. Zit. wird nach dieser Ausgabe. Vgl. Jo Kirby: Studio Practice and the Training of Artists, in: Art in the Making. Rembrandt, hg. v. David Bomford u. a., London 2006, S. 14–26, hier S. 16.

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II  Kunst

unterschiedlichen Bildsujets (von der Landschaft zur Historie) wichtigsten theoretisch gefassten Inhalte des Zeichnens vorbehalten, etwa der Komposition, der Perspektive und auch der Proportionslehre des menschlichen Körpers, mit Bezugnahme auf vorausgehende Kunsttheoretiker wie Vitruv und Dürer.72 Die verbleibenden Kapitel geben wiederum einen Überblick über die zu verwendenden Zeichenmaterialien und Hilfsmittel sowie im achten Kapitel, mit der vielversprechenden Überschrift „Hoe men en lede-beeldt sal konnen maecken“, über die ungewöhnliche Bauanleitung einer Gliederpuppe. Die von Biens beschriebene Gliederfigur wird aus fünfzehn wohlproportionierten Einzelteilen zusammengefügt. Dabei soll ihre Größe individuell, zwischen ein und zwei Fuß Länge (‚t zij een voet ofte twee lanek) gewählt werden, womit er offensichtlich nicht die lebensgroßen Gliederpuppen der Atelierbilder im Sinne hat. Durch vierzehn Kugelgelenke (clootkens) können die Einzelglieder zu einem kontinuierlichen Körper zusammengesetzt werden, indem die Holzteile mit einem trichterförmigen Kanal versehen und mittels fünf sie durchziehende Darmsaiten (vijf verscheyden luytsnaren) zusammen geknüpft werden.73 Wichtig ist hierbei, dass die Gliederrundungen zuvor ausgekerbt werden, um ein enges Anliegen der Körperteile an das Kugelgelenk zu ermöglichen. Die Enden der Zugschnüre werden schließlich durch quadratische Holzklötze im Inneren der Gliederpuppe zusammengehalten.74 Biens Beschreibung kommt relativ unvermittelt, weshalb angenommen werden kann, dass der anvisierte Zeichenschüler bereits in Kontakt mit dem vorgestellten Modell gekommen sein muss. Zugleich stellt die Beschreibung der Herstellung ein Novum dar, das keine Nachfolge in anderen Zeichenbüchern erfahren sollte. Gleichwohl erhielt die Gliederpuppe wenige Jahre später in Form einer ausführlichen Erörterung und besonders durch eine erhellende Bilderreihe im Lehrbuch des Crispijn van de Passe d. J. (um 1594–1670) eine bislang unbekannte Öffentlichkeitspräsenz. Der Autor war Spross einer bekannten flämischen Familie von Kupferstechern und Verlegern.75 In seinem ab 1643 auf Italienisch, Niederländisch, Französisch und Deutsch in Amsterdam publizierten Zeichen72

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„Over dese proportie heeft Albertus Durerus, Vitruvius en andere veel geschreven, wij sullen der selver beschrijvinghe volghende een besonbdere plaetse van allen aen wijsen.“ Biens: De Teecken-Const, Kap. 5, aus de Klerck: De Teecken-Const, S. 52. Diese Methode der Verbindung von Gliederpuppenteilen wurde auch bei den frühesten Gliederpuppen der Neuzeit verwirklicht. Vgl. dazu Kap. II.3.a). Vgl. de Klerk: De Teecken-Const, S. 33 ff. Zur Rekonstruktion der Gliederpuppe nach der vorliegenden Beschreibung de Biens vgl. ebd. Vgl. zum Gesamtwerk der Familie den ersten Werkkatalog von Daniel Franken: L‘œuvre gravé des Van de Passe, Amsterdam 1881 sowie Joaneath A. Spicer: The Role of Printmaking in Utrecht during the First Half of the Seventeenth Century, in: The Journal of the Walters Art Gallery 57 (1999), S. 105–132.

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buch, ’t Light der teken en schilder konst (Vom Licht der Reiß und Mahlkunst), sollte die Gliederpuppe in bemerkenswerter Ausführlichkeit vorgestellt werden.76 Die bereits im Titel aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit vorgewiesene universale Bedeutsamkeit wurde durch eine enge Bild-Text-Verknüpfung mit zahlreichen Kupferstichen unterstrichen, die in den meisten Fällen aus der Hand van de Passes selbst stammen. In bislang unerreichter Fülle und Qualität verdeutlichen die Bilder die erklärenden Texte, um dabei theoretische und praktische Aspekte zu vereinen.77 Die vom Autor in der Einleitung vollzogene Huldigung der Zeichenkunst kann bis zu den früheren italienischen Traktaten Varchis und Vasaris zurückverfolgt werden, wobei die Herausstellung geometrischer Grundlagen sowie eine aus diesen erwachsene Proportionslehre in besonderem Maße auf Dürers Erkenntnissen fußt.78 In konsequenter Text-Bild-Kombination beginnt das in fünf Bücher unterteilte Werk das Zeichenstudium im ersten Teil demgemäß mit der geometrischen Herleitung plastischer Körperpartien. Der zweite, den männlichen Proportionen und Haltungen gewidmete Teil verweist auf die Darstellung des unbekleideten Körpers, um dabei durch die kubenhafte Auflösung des bewegten Leibes in gepunktete Linien augenscheinlich an Dürer und Schön anzuschließen. Der dritte Teil ergänzt dies durch eine Darlegung der weiblichen Proportionen und eine Bildersammlung beispielhafter weiblicher Akte. Im vierten Teil wird schließlich die Gliederpuppe als jenes Mittel vorgestellt, das den bislang nackt erkundeten und zur Darstellung gebrachten Leib zu bekleiden hilft: „Was angeht die gestalten und maßen des nackichten Menschen/ so halte ich dafür/ das zur unterweisung der Lehrjungen/ in dem zweiten und dritten Theil davon ein genugsamer bericht geschähen seye; nun aber habe ich es auch für eine nothwendigkeit geachtet/ auff das kürtste zu beschreiben/ wie man dieselbe bekleiden solle […]. Es wird ein Mensch in die länge müde/ wem er lange für dem Model stehen/ und sich darbey bewegen sol: deswegen so haben die fürtrefflichen Italiänische Meister/ durch ein wohl-bedachtes mittel/ eine viel leichtere und gewissere weise 76 77

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Vgl. Jaap Bolten: Introduction, in: Crispijn van de Passe: ’t Light der Teken en Schilderkonst, m. e. Einf. v. dems., Soest 1973, S. 1–19. „Of all the model books for draftsmen published in the Northern Netherlands in the 17th century, ’t Light der teken en schilder konst is undoubtly the most complete.“ Bolten: Introduction, S. 3; zur Verknüpfung von Theorie und Praxis S. 9. Vgl. hierzu auch Egbert Haverkamp-Begemann: Review of ‘t Light der Teken en Schilderkonst by Crispijn van de Passe, hg. v. Gary Schwartz, in: Master Drawings 11/3 (1973), S. 291–293. Auch das jüngere Lehrbuch Jean Cousins d. J. (1522–1594) erhielt vielfach Einzug in van de Passes Überlegungen. Vgl. Bolten: Introduction, S. 6.

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gefunden/ wie man nach dem leben/ allerley gewanthe ab=mahlen könne/ nemlich durch einen hölzernen Lehmann/ auff daß/ wan man denselben mit einigem gewanthe behänget hat/ die falten desto besser auff einem platze bei ein ander bleiben mögen, dan dieselbe kann man durch gewisse gefügete glieder in gewerbe legen/ und dieselbe biegen gleich einem lebendigen menschen […].“79 Die im Folgenden beschriebene Anwendung der Gliederpuppe sieht vor, die angedachte Gestalt zunächst grob zu skizzieren und sodann den Faltenwurf, bei einheitlicher Beleuchtung, auf dem Modell festzulegen. Dabei ist auf ein harmonisches Faltenspiel zu achten, „damit man die unordentliche falten vermeide/ welche sich den seilen oder därmen vergleichen/ sondern sie müssen viel mehr über-ein-kommen/ mit den zweigen der bäumen und wällen der See […].“80 Je nach Körperpartie, ob Rundung oder Einbuchtung, müssen die Falten hier glatt, dort aufgebauscht werden. Verschiedene Materialien wie Atlas, Satin, Samt oder Leder, die für unterschiedliche Ikonographien benötigt werden, erzeugten unterschiedliche Falten. Den Abschluss der Beschreibung bilden Hinweise zum tatsächlichen zeichnerischen Erfassen von Falten auf getöntem Papier mit Kohle und Weißhöhungen. Unmittelbar an die ganzseitige Belehrung über den Gebrauch schließen sich drei Kupferstiche von Gliederpuppen an. Die erste, allgemeine Darstellung zeigt die viersprachig bezeichnete „gestalte des holtzen gliedmans“, eine im leeren Raum aufrecht sitzende männliche Modellfigur mit Kugelgelenken in Hals, den Ellenbogen, den Schulter- und Handgelenken sowie einer massiven, den Oberkörper mit dem Unterleib verbindenden Bauchkugel (Bild 182). Der Gliedermann erinnert in seiner Machart an die bei Biens beschriebene, wobei das dort mit Stellkeilen fixierte Modell hier, wie van de Passe angibt, mithilfe eines im Rücken einsetzbaren „eisernen schlüssel[s] regiert“ werden kann.81 Während der gerade Oberkörper, ebenso wie der haar- und augenlose Kopf, unbewegt scheint, ist die linke Hand locker in die Seite gestützt und die rechte frei vor die Brust gehoben – letzteres sicherlich als Hinweis auf eine kaum über längere Zeit vom menschlichen Modell ausführbare Handhaltung. Der gesamte Unterkörper ist von einer weiten Draperie umhüllt, unter welcher sich die Knie deutlich erhaben abzeichnen und nur die Zehenspitzen des linken Fußes unter dem Tuch hervorschauen. Für die eingeforderte gleichmäßige Beleuchtung sorgt

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Crispijn van de Passe: ’t Light der Teken en Schilderkonst, Amsterdam 1643, 4. Teil, o. S. (S. 4). Ebd. Ebd.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 182  Crispijn van de Passe d. J.: Le Modelle dell’huomo di legno […] Die gestalte des holtzen gliedmans, 1643/1644, Kupferstich, ’t Light der Teken en Schilderkonst.

Bild 183 (u.), 184  Crispijn van de Passe d. J.: Beispielhafte Draperiestudie mit Gliederpuppe (nach A. Blom), 1643, Kupferstich, ’t Light der Teken en Schilderkonst.

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II  Kunst

schließlich ein links oben über den Bezeichnungen angedeutetes künstliches Licht, dessen Strahlen durch kleine Strichbündel vermittelt werden. Bei der zweiten Gliederpuppendarstellung handelt es sich um eine von anderer Hand („A. Blom“) beigetragene Faltenstudie, diesmal einer weiblichen Gliederpuppe selber Machart (Bild 183). Nur der Schoß und die unterschiedlich angewinkelten Beine der auf einem massiven zweistufigen Block sitzenden hölzernen Figur sind von einer aufwendig drapierten Stoffbahn bedeckt. Im derart freigestellten Oberkörper treten die weibliche Brust und die Kugelgelenke an Bauch, Armen und Hals deutlich hervor. Den rechten Arm locker aufgelegt, streckt sie die Linke in weisendem Gestus zur Seite, während das frontal ausgerichtete Haupt mit angedeutetem, glatt gescheiteltem Haar den Betrachter aus leeren Augen anblickt.82 Die schließlich in einem dritten Stich gezeigte Gliederpuppe ist aufgrund der reichen Bekleidung auf den ersten Blick kaum als ein solches Modell auszumachen (Bild 184). Gekleidet in eine antikisierende Tunika und umhüllt von einem über die rechte Schulter gelegten Überwurf, zeigt sich die Figur in gespanntem weitgreifendem Kontrapost mit rechtem Standbein und nach hinten versetztem Spielbein. Die linke Hand fasst einen langen Stab, während die rechte durch das Raffen des Gewandes verdeckt bleibt. Graduell aus der Körperachse gedreht, ist das kahle Haupt leicht nach oben gerichtet. Mit dieser Gliederpuppenstudie zeigt van de Passe eine Brückenfigur zu den nachfolgenden Darstellungen unterschiedlich gewandeter, in mannigfache szenische Zusammenhänge gebrachter Typen beiderlei Geschlechts. Noch ist die hiesige Figur durch Kugelgelenke an Hals, Ellenbogen und Füßen als Gliederpuppe ausgewiesen, doch zeugen die bewegte Haltung, der sinnende Blick sowie die Kleidung im Stile antik-römischer Philosophen83 von einer fortschreitenden Vermenschlichung der Figur.

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Die Darstellung dieser weiblichen Gliederpuppe fand indes Eingang in spätere Zeichenbücher aus fremder Hand, etwa in die französische Ausgabe Les Principes Du Dessein. Ou Methode Courte Et Facile Pour Aprendre Cet Art En Peu De Tems (1746). Vgl. dazu Markus Rath: Gerard de Lairesse: Les Principes Du Dessein. Ou Methode Courte Et Facile Pour Aprendre Cet Art En Peu De Tems, in: Maria Heilmann u. a. (Hg.): Punkt, Punkt, Komma, Strich. Zeichenbücher in Europa ca. 1525– 1925, Passau 2014, S. 40–42. Als fortentwickelte Gestalt könnte insofern auch die im programmatischen Frontispiz gezeigte Allegorie einer minervisch gerüsteten Mal- und Zeichenkunst, die in der Mitte eines Kreise von Gelehrten thront, um mit Fackel auf das studium und mit Federschmuck auf das ingenium zu verweisen, ursprünglich mithilfe einer Gliederpuppe entworfen worden sein. Zum Titelblatt vgl. die Hinweise von Ulrich Pfisterer: Was ist ein Zeichenbuch?, in: Maria Heilmann u. a. (Hg.): Punkt, Punkt, Komma, Strich. Zeichenbücher in Europa, ca. 1525–1925, Passau 2014, S. 1–9, hier S. 7.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Mit Gerard de Lairesses (1640–1711) kurz nach der Jahrhundertwende veröffentlichten Grundlegginge Ter Teekenkonst ist ein Höhepunkt der öffentlich vorgetragenen und im Rahmen eines Zeichenbuches artikulierten Gliederpuppenverehrung erreicht. 84 Als der in Lüttich geborene Maler, Kupferstecher und Zeichner in der Blüte seines Schaffens mit fünfzig Jahren erblindete, hatte er bereits geplant, seine Erkenntnisse sowie jene von Kollegen in einem Zeichenbuch für Künstler aller Gattungen, vom Lehrling bis zum Kunstliebhaber, zu vereinen.85 Grundlage bildeten Lehreinheiten und Verfahren, die er seinem Künstlerkreis namens ingenio et labore in wöchentlichen Sitzungen dargelegt hatte. Mit vielen pädagogischen Hinweisen versehen, beschreibt de Lairesse im ersten Hauptteil in zwölf Lektionen die schrittweise Unterrichtung des Zeichenschülers, ausgehend von einfachsten geometrischen, gewissenhaft zu verinnerlichenden, da in allen Bildmotiven wiederkehrenden Elementen.86 Zunächst anhand von Graphiken, später von Reliefs und Gipsabgüssen, soll die richtige 84

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Der vollständige Titel des Werkes lautet Grondlegginge ter Teekenkonst, Zynde een korte en zeekere weg om door middel van de Geometrie of Meetkunde, de Teeken-konst volkomen te leeren (Amsterdam 1701). Wenngleich weit weniger bekannt als das Groot Schilderbœck (1707), erfuhr das Zeichenbuch de Lairesses ebenso mehrere Auflagen und Übersetzungen (dt. Aufl. 1705, 1727, 1728, 1745; niederl. Aufl. 1713, 1766; franz. Aufl.: 1719, 1746; engl. Aufl. 1777), wobei spätere Auflagen teilweise massive Textkürzungen erfuhren (vgl. Les Principes du Dessin, 1746). Vgl. zu Lairesses Leben und Werk grundlegend Jan J. M. Timmers: Gérard de Lairesse, Amsterdam u. a. 1942; Alain Roy: Gérard de Lairesse (1640–1711), Paris 1992; Lyckle De Vries: Gerard de Lairesse. An Artist between Stage and Studio, Amsterdam 1998. Deutliche Anleihen der Grondlegginge finden sich in vielen Lehrbüchern des 17. Jahrhunderts, wobei eine Fülle theoretischer, praktischer und historiographischer Übernahmen aus Charles Alphonse Dufresnoys (1611–1668) L’art de peinture (1668) stammt; hierin beschreibt Dufresnoy das Äußere und den Nutzen der Hilfsgestalt (S. 110): „Du reste vous devez avoir un Manequin à peu près grand comme Nature pour chaque Figure en particulier, sans manquer pour cela de voir le Naturel & de l’appeller comme un témoin qui doit confirmer la chose à vous premierement, puis aux Spectateurs, comme elle est dans la vérité.“  Die Gliederpuppe dient hier als zweifaches Überzeugungsmittel, das erst dem Maler und – im Idealfall – anschließend dem Betrachter „die Wahrheit“ vor Augen stellt. Um diese unmittelbare Anschauung sollte es auch de Lairesse bei seiner Gliederpuppenpreisung gehen. Vgl. Danny Beckers: Meetkunde als de korte en zekere weg naar kunst. Gérard de Lairesse (1640–1711) en zijn Grondlegginge der Teekenkonst, in: Gewina 21 (1998), S.  81–93; Hans Dickel: Deutsche Zeichenbücher des Barock. Eine Studie zur Geschichte der Künstlerausbildung, Hildesheim 1987, Kap. V, 2.3; Markus Rath: Gerard de Lairesse: Grondlegginge Ter Teekenkonst. Zynde een korte en zeekere weg om door middel van de Geometrie of Meetkunde, de Teeken-konst volkomen te leeren, in: Maria Heilmann u. a. (Hg.): Punkt, Punkt, Komma, Strich. Zeichenbücher in Europa ca. 1525–1925, Passau 2014, S. 155–157.

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Zeichentechnik, Maßnehmen und Kontur, Schraffur und Schattenwurf gefestigt werden, um damit das Studium nach dem menschlichen Modell vorzubereiten. So gelangt der Schüler vom anfänglichen Zeichnen mit Kohle auf weißem Papier schließlich zur Hell-Dunkel-Technik auf farbigem Grund. In die Lehrkapitel werden zudem immer wieder Erkenntnisse von Perspektive und Proportion eingeflochten. Zehn „Proposities“ bilden die zweite Abteilung des Lehrbuches, wobei de Lairesse in der Einleitung auf die für ihn persönliche Bedeutung der Kunst des Zeichnens abhebt, in der er sich durch langes Üben geschult habe.87 Im hierauf folgenden fiktiven Gespräch zwischen einem alten Zeichner und einem jungen Maler stellt sich heraus, dass sich der unerfahrene Schüler, den es in die Welt zieht, bislang kaum die wichtigsten zeichnerischen Verfahren angeeignet hat, worauf der Lehrer zunächst die noodzaakelykheeden dieses Studiums umreißt: „Was das Reisen angeht/ so köntet ihr die Kosten viel besser zu der Ubung eurer Kunst/ nicht allein an treffliche Bücher/ sondern auch an Kupferstiche von guten oder denen vornehmsten Meisters/ an Gips-Bilder/ einen Glieder-Mann/ und dergleichen Nothwendigkeiten anwenden/ und noch einige Zeit darinnen lernen […].“88 Doch ist die Litanei noch nicht zu Ende, vielmehr führt der erfahrene Meister dem jungen Künstler seine Versäumnisse nochmals vor Augen: „Ihr seid niemals in der Zeichner-Accademie gewesen. Die Proportion ist euch unbekant; Die Persp. versteht ihr nicht/ der bekleidete Glieder-Mann ist euch zu gering.“89 Auf zweierlei Wegen vorgetragen, aus der Sicht persönlicher Erfah87

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„Nicht allein in meiner Jugend/ sondern auch biß zu denen letzten Zeiten/ da mich diß mein großtes Unglück betroffen/ habe ich die wochentliche Collegien wargenommen/ und ausser denen Atiquem Basreliefs und gekleideten Glieder Männern/ Acamien-Bilder nach dem Leben gezeichnet/ gleichwie so es die Modellen oder Zeichnungen/ welche in den Händen der Liebhaber sind/ ausweisen können.“ – „[…] niet alleen in myn Jonkheid? [sic!] maar tot het laatste der daagen dat my dit ongeval overgekoomen is, heb ik de weekelyke Kollegien waargenoomen, en Akadeemie Beelden naar ‚t Leeven geteekent, behalven noch andere gewoontens dien ik had, van naat de Antyken, Basreleeves s en gekleede Leeman te teekenen, gelyk dezelve Modellen of teekeningen, onder de Liefhebbers berustende, kunnen uitwijzen.“ Gerard de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst […], Amsterdam 1701, Fol 38. Dt. zit. n. d. ersten deutschen Ausgabe: Gerard de Lairesse: Anleitung zur Zeichen-Kunst. Wie man dieselbe durch Hülffe der Geometrie gründlich und vollkommen erlernen könne, übers. v. Samuel Theodor Gerike, Berlin 1705, Fol. 39. „En wat het Ryzen aangaat, die kosten zoud gy veel nutter in uw Oeffening kunnen besteeden, zo aan fraaye Boeken. Schoone Printen van de voornaamste Meefters. Playster beelden. Een Leeman; en diergelyke noodzaakelykheeden meer: en brengen daar noch eenige tyd in ‚t leeren mede door.“ de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol 42. Dt. zit. n. de Lairesse: Anleitung zur Zeichen-Kunst, Fol. 46. „Gy hebt nooit op ‚t Teeken-Akademie geweeft. De Proportie is u onbekend. De Perfpektief verftaat gy niet. De gekleede Leeman is u te gering.“ de Lairesse:

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rung sowie in Form einer lehrreichen Unterhaltung, werden gleich zu Beginn des zweiten Hauptteils die für de Lairesse elementaren Verfahren zum Erlernen der Zeichenkunst offenkundig: das Zeichnen nach hervorragenden graphischen Vorlagen, nach Gipsen, nach Aktmodellen – und nach der Gliederpuppe. Der bald von seiner Hybris geläuterte Lehrling wird im Verlauf der Kapitel sukzessive in den notwendigen Grundlagen der Zeichenkunst unterrichtet, also wiederum in Perspektive und Proportion, aber auch Anatomie, Ausdruck, Körpervolumen und Faltenwurf. Dabei tritt wiederholt das Kunstverständnis des Autors zutage, wenn er etwa die Künste in zwei Hauptphasen einteilt: ‚antik‘, von der idealen Antike bis zur Gotik und ‚modern‘, von der Renaissance bis zu seiner Zeit. Insofern scheint es verständlich, dass für de Lairesse das reale Studienmodell stets einer Verbesserung durch klassische Vorbilder bedarf.90 Ausführliche Anweisungen zum Einrichten einer Zeichenakademie bilden sodann das achte Kapitel. Vor dem zehnten, ekphrastisch gestalteten Kapitel, das kostümkundliche Szenerien entwirft, wird im neunten Teil mit großer Vehemenz auf die Bedeutung der Gliederpuppe beim Faltenstudium verwiesen. In quantitativer und thematischer Einflechtung unterscheidet sich der Umgang mit visualisierenden Darstellungen im Vergleich zu van de Passe. Vom Frontispiz abgesehen, das sich auf die Allegorie vom Aufstieg des jungen Zeichenschülers der Nachrede bezieht, werden nur wenige Anweisungen de Lairesses (zwölf im ersten Teil, drei im zweiten) von erklärenden oder als bildhafte Vorlage dienenden Kupferstichen begleitet.91 Angesichts der – wie auch später im Groot Schilderbœck (1707) – vehement vertretenen Auffassung, dass das Zeichenstudium auch des richtigen Umgangs mit der Gliederpuppe bedarf, verwundert hier insofern das Fehlen einer den Text unterstützenden Darstellung. Möglicherweise war das Hilfsmittel in Gestaltung und Ausdruck derart bekannt, dass aufgrund seiner alltäglichen Gegenwart und Verfügbarkeit eine zusätzliche Veranschaulichung redundant erscheinen musste. Bereits gegen Ende des achten Kapitels verdeutlicht de Lairesse, dass der entscheidende Grund, sein eigentlich abgeschlossenes Buch um weitere Teile zu

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Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol 43. Dt. zit. n. de Lairesse: Anleitung zur Zeichen-Kunst, Fol. 47. Diese auf dem grazia-Konzept basierende Ästhetik de Lairesses wurde bereits von Willem Goeree (1635–1711) in seiner Inleiding tot de algemene tekenkunst (1668) vorbereitet (Dank an Yannis Hadjinicolaou für diesen Hinweis). Ebenso wie die im Traktat beschriebenen Zeicheninstrumente und Hilfsmittel (Kohle, Rötel, Bleiweiß; versch. Papiere; Fußmaß; plastische Vorlagen; Gliederpuppe; Beleuchtung etc.) soll etwa das in der siebten Proposition vorgestellte „PraktykBeeld“ eines nackten Mannes durch seine Kompositionslinien weniger als ‚Illustration‘, denn als universelles Instrument zur korrekten Motiverschließung dienen.

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ergänzen, darin liege, für die Gliederpuppe eine Bresche zu schlagen.92 Die beiden Abschnitte des folgenden neunten Kapitels berichten demzufolge über „de Kleedinge en manier de Plooyen“ sowie über die „Wyze om de Leeman met voordeel te gebruiken“.93 Hier insistiert er darauf, dass der natürliche Faltenwurf nicht adäquat „uit de Geest“ oder durch Kopieren der Meister erfasst werden kann: „Ich bin der festen Meynung/ daß die Fertigkeit Falten zu machen/ nicht kann erlernet werden/ ohne den Gliedermann zu gebrauchen. Denn was hilft es einem/ daß er sich ausmergele mit Gewanter aus Invention zu machen; da er doch das Leben haben kann/ ohne welchen man doch nimmer die Natur der unterschiedlichen Zeuge ergründen kann […]“94. Durch einen rhetorischen Zirkelschluss verdeutlicht der Autor, dass das Studium der von ihm genannten zahlreichen Maler, von Raffael bis Poussin, Michelangelo bis Tintoretto, für eine Aneignung verschiedener Stoffe nicht genüge, da diese sich selbst der Gliederpuppe bedient haben: „Ich antworte/ Raphael und die anderen haben das Leben oder den Gliedermann gebrauchet/ dadurch sie die Eigenschafft der Zeugen/ genugsam untersucht und also erkennen lernen […].“95 Die Gewänder sollen einerseits die unterschiedlichen Stofflichkeiten des

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„Was wir bis izo in der Abtheilung dieses Buches Abgehandelt haben/ scheinet eine genugsame Grundlegung zu seyn/ auff den rechten Weg zu einem gutem und gesetzten Urtheil zu kommen/ und wollte ich es auch gerne darbey lassen bewenden/ und ein Ende dieses meines Buchs mit dem Ende dieses Hauptsückes machen; Weil nur aber noch etwa nothwendiges angehende die Kleider des Gliedermannes/ in den Sinn lieget; so will ich dem folgenden noch etwas darvon vortragen.“ – „Wat wy tot noch toe in de Afdeelingen dezes Boeks verhandeld hebben, schynt een genoegzaame grondlegginge, tot den rechten weg, van een goed ende gezet oordeel te wezen, dies zouden wy het daar by gaarne laten blyven, ende een einde onzes Boeks met het eindevan dit Hoofdstuk gemaakt hebben; maar alzo ons noch iets noodzakelyks in de zinnen speeld, aangaande de Kleeren op de Leeman, zo zullen wy in ‚t volgende, daar van eenige dingen ophaalen.“ de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol. 92f. Dt. zit. n. de Lairesse: Anleitung zur Zeichen-Kunst, Fol. 115. De Lairesse: Grondlegginge der Teekenkonst, Fol. 93 u. 97. „Het is myn vaft gevoelen dat de Oeffening der plooijen niet volkomen geleerd kan worden, zonder de Leeman te gebruiken; Want wat baat het dat men zich uitmergeld met kleêren uit de Geest te Teikenen als wy ‚t leeven voor ons kunnen hebben, zonder welke het onmogelyk is de natuur der Stofte te doorgronden […].“ de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol. 93. Dt. zit. n. de Lairesse: Anleitung zur Zeichen-Kunst, Fol. 115. „de reeden is deeze, dat Raphaël het leeven gebruikt heeft, wel te verstaan een Leeman, waar door hy de natuur en eigenschap der Stoffe grondig heeft leeren onderzoeken.“ de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol. 93. Dt. zit. n. de Lairesse: Anleitung zur Zeichen-Kunst, Fol. 116.

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Materials wiedergeben, andererseits den Körper natürlich umgeben und nicht wie „Därme“ oder „Sandsäcke“ erscheinen.96 Desgleichen sei es unerlässlich, bei den Bildfiguren die ikonographisch bestimmte Hierarchie durch die Wahl der Bekleidung zu verdeutlichen, die etwa den Herrn vom Stallknecht unterscheidbar macht. Diese Grundüberzeugung geht soweit, dass de Lairesse, in bewusst provokantem Gestus, die Gliederpuppe über alle tradierten Kopierverfahren, auch jene nach den genannten großen Meistern der Renaissance und namentlich Raffael stellt: „Was mich belanget/ so bin ich der Meynung/ daß da nichts gewisser geht als das Leben/ und wollte ich lieber Raphaelen und aller Meisters fahren lassen/ als meinen Gliedermann missen.“97 Die sich hieran anschließende ausführliche Beschreibung des adäquaten Faltenwurfs folgt den bereits in früheren Kunsttraktaten vermittelten Grundsätzen, die mit dem Hinweis, den Körper unter der Kleidung erahnen zu lassen, ein seit Leonardo bekanntes Diktum tradiert hatten.98 Im genauen Naturstudium und dessen kunstvoller Umsetzung liegt de Lairesse zufolge das Geheimnis des Faltenwurfs. Doch bevor er noch einige praktische Hinweise gibt, wie Zeichengerät und Gliederpuppe für „die Entwerffung allerhand Gebehrden [ Actionen ]“ zu verwenden sind, setzt er der Gliederpuppe ein kategorisches Denkmal. Das mit ihr vollzogene Studium, so die Grundüberzeugung de Lairesses, sei ebenso wichtig und wertvoll wie das akademische Aktstudium: „Man wird kaum glauben können/ wie vorteilhaftig der Gebrauch des Gliedermanns seye/ bevor man es versucht habe/ und glaube ich nicht/ daß mir jemand Unrecht geben wird/ wan ich sage/ daß es also nothwendig seye als das Nachzeichnen des nackten Menschen; die Nothwendigkeit dieser beyderley Art zeichnen/ ist einerley/ nur daß die eine vorgeht/ die andere aber nachher folget. Wan alles sollte recht gehen/ und man die Sache nach Erforderung begriffe/ so sollte billich in allen Accademischen Collegien/ niemahls des eine ohne das andere ausgeübt werden.“99 96

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„als of het geheele Lichaam maar een buik, en alle leeden op de verheeven partyen, met zandzakken bekleed waaren. Veele wederom maken hun kleedingen als of het darmen zyn, […].“ de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol. 94. „Wat my belangd, ik ben van gevoelen, dat ‚er niets zeekerder gaat als het Leeven, willende liever Raphaël en al de meesters laaten vaaren, dan myn Leeman missen.“ de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol. 95. Dt. zit. n. de Lairesse: Anleitung zur Zeichen-Kunst, Fol. 118. Vgl. de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol. 96; zu Leonardos Diktum vgl. Carlo Pedretti: „Bewohntes Tuch“, in: Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci, S. 15–21, hier S. 19. „Men zal naulyks geloven hoe voordeelig het gebruik der Leeman is, voor al eer men het bezogt heeft. Ja ik denk niet dat my iemand ongelyk zal geeven, wanneer

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Mit den Zeichenbüchen von Biens, van de Passe und de Lairesse werden zentrale Bedeutungsdimensionen der Gliederpuppenverwendung im niederländischen Atelier des 17. Jahrhunderts greifbar. Während seit Filarete, und bildlich eindrucksvoll von van den Valckert geschildert, die Gliederpuppe als Auftragswerk bei einem fähigen Bildschnitzer bestellt wurde, liegt mit der Beschreibung Biens eine erste, wenngleich rudimentäre Bauanleitung des gegliederten Modells aus Holz vor. Obwohl dieses sicherlich nur im Einzelfall vom Maler selbst hergestellt wurde, treten anhand der Quelle freilich privater Nutzen und persönliche Handhabe der Gliederpuppe besonders zutage. Mit van de Passe wiederum wird die praktische Anleitung der Gliederpuppenverwendung durch eine ausführliche Bild-Text-Verknüpfung öffentlich gemacht, wobei in den Darstellungen die sukzessive Entwicklung der Bildgestalt aus der Gliederpuppe nachvollziehbar wird. De Lairesse liefert schließlich das ausführlichste Panoptikum von Verwendung und Bedeutung der Gliederpuppe, die Faltenwurf, Haltungsstudien und Materialkunde zugleich ermöglichte. Geradezu gebetsmühlenartig beharrt er auf der Bedeutsamkeit dieses Modells, wobei seine abschließende Gleichstellung des lebenden Aktmodells mit der Gliederpuppe ihre finale Nobilitierung bedeutet.

c The or ie u nd Pra x is – A k adem ie u nd Pr ivat atel ier bis 1850 E i ne ‚Q uer el le du m a n ne qu i n‘ i n der Ac adé m ie Roya le Nicolas Poussin (1594–1665) stellte für de Lairesse nicht allein wegen seiner bevorzugten, dem frühklassizistischen Ideal verpflichteten Sujets den Inbegriff des modernen Malers dar.100 In dessen Bildern beobachtete der Niederländer zugleich eine in idealer Weise mithilfe der Gliederpuppe verwirklichte Wiedergabe unterschiedlichster Stoffe („Zeuge“) nach der unmittelbaren Anschauung.101 Diese Erkenntnis war durch biographische Überlieferungen zur künst-

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ik zeg, dat het alzo noodzakelijk is naar de gekleede Leeman te teikenen, als naar een menschelyk naakt; ik kan tusschen die twee, geen ander onderscheid vinden, als dat het een voor gaat, en het ander volgd. Indien het recht zoude gaan, en de zaak naar eys begreepen wierd, zo zou men nooit geen Kollegie opregten, daar het een zonder het ander geoeffend wierd.“ de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol. 97. Dt. zit. n. de Lairesse: Anleitung zur Zeichen-Kunst, Fol. 121. Vgl. Dickel: Deutsche Zeichenbücher, S. 189 f. „Von dem berühmten Poussin aber muß man bekennen/ daß vor und nach ihm/ keiner gewesen/ welcher darinnen [in der Erkundung der Zeuge] so erfahren gewesen als er […]“ – „Evenwel moet men bekennen, dat ‚er voor, noch naderhand, geen zo ervaren en Konstryk in dezelve geweest is, dan een alleen, te weten Nikolas

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lerischen Vorgehensweise Poussins in Giovanni Pietro Belloris (1613–1696) Vite de‘ pittori, scultori, ed architetti moderni untermauert worden, die fünf Jahre nach dem Ableben des Künstlers 1672 in Rom erschienen waren. Im Sinne einer vermittels plastischer Modelle erkundeten Anschauung habe Poussin, so Bellori, sich kleine formbare Wachsfiguren hergestellt, um damit unmittelbar Stellungen, Schattenwürfe und Gesamtkompositionen überprüfen zu können.102 Damit bildete Poussin nicht nur eine Brücke der Kunstpraxis zwischen angenommener Gliederpuppenverwendung und bezeugtem Einsatz von variablen Modellen aus Wachs, sondern auch zwischen den nördlichen und südlichen Gefilden – sowie zwischen Akademie und Atelier. Der französische Maler war früh nach Rom gelangt und als Mitglied in die Accademia di San Luca aufgenommen worden, bevor er auf persönlichen Wusch von Louis XIII. (1601–1643) und Drängen von Kardinal Richelieu (1585– 1642) nach Paris zurückkehrte.103 Seine Wiederankunft fiel zwischen die Gründungen der Académie Française (1635) und der Académie Royale de Peinture et de Sculpture (1648), deren Mitbegründer, Kanzler und Rektor Charles Le Brun (1619–1690) wiederum mit Poussin in Rom Bekanntschaft geschlossen hatte. Inwiefern die in Frankreich neu zu entwickelnden akademischen Ausbildungsprogramme von den italienischen Akademien beeinflusst wurden, und inwieweit persönliche Verfahren des Atelieralltags Eingang in die Pariser Ausbildungsstatuten gefunden haben, ist kaum umfassend zu erschließen.104 Sicher ist

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Poussyn […].“ de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol. 93. Dt. zit. n. de Lairesse: Anleitung zur Zeichen-Kunst, Fol. 116. „[Poussin] quando voleva fare i suoi componimenti: poiché aveva concepita l‘invenzione, ne segnava uno schizzo quanto gli bastava per intenderla; dopo formava modelletti di cera di tutte le figure nelle loro attitudini in bozzette di mezzo palmo, e nè componeva l‘istoria, ò la favola di rilievo per vedere gli effetti naturali del lume, e dell‘ombre de‘corpi.“ Giovanni Pietro Bellori: Le vite de‘ pittori, scultori, ed architetti moderni, Rom 1672, fol. 285. Zu den soziopolitischen Verquickungen vgl. Todd P. Olson: Poussin and France. Painting, Humanism and the Politics of Style, New Haven/London 2002; zur Académie Royale vgl. zuletzt umfassend: Gudrun Valerius: Académie Royale de Peinture et de Sculpture 1648–1793. Geschichte, Organisation, Mitglieder, Norderstedt 2010 m. weiterer Lit. Einschlägig ist der Beitrag von Katharina Krause: Par les préceptes et par les exemples. Überlegungen zur Ausbildung der Maler im Paris des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 69/2 (2006), S. 194–216. Die Forschungslage zur Genese und Entwicklung wissenschaftlicher wie praktischer Diskussionen an der Académie Royale de Peinture et de Sculpture ist noch nicht in vollem Umfang erschlossen. Als zentrales Projekt zu einer grundlegenden Erforschung erweist sich die seit 2001 von Jacqueline Lichtenstein und Christian Michel herausgegebene kritische Edition der Conférences de l‘Académie Royale de Peinture et de Sculpture, als Zusammenarbeit der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, der Académie Française mit dem Projektträger, dem Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris.

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indes, dass im Laufe der Jahre sowohl Modelle aus Wachs als auch Gliederpuppen in den Studienalltag der französischen Akademieschüler Einzug erhalten haben – wobei diese nicht auf uneingeschränkte Zustimmung stoßen sollten. Im Akademievortrag des Louis de Boullogne (1609–1674), den dieser am 12. April 1670 vor den versammelten Mitgliedern hielt, wird die Gliederpuppe ganz im Sinne de Lairesses als wichtiges Lehrinstrument angepriesen, das, neben dem Studium von Antiken und Gemälden großer Meister, entscheidend zur individuellen Aneignung einer natürlichen Faltengebung verhelfe: „es bräuchte in der Akademie drei oder vier antike Figuren sowie eine Gliederpuppe für den Faltenwurf. Diese Gliederpuppe würde vom Professor eingestellt, damit den Schülern aufgezeigt werden kann, wo sie die schönen Falten finden können, die der Figur nicht zuwider laufen und die sie in ihrer Gesamtheit und wohl proportioniert erscheinen lassen […].“105 Der Vorstoß blieb zunächst unbeachtet, wie das viele Jahre später erneut vorgebrachte Anliegen einer Gliederpuppenanschaffung bezeugen wird. Möglicherweise spiegelt sich in dieser offensichtlichen Verschleppung des Antrags jedoch das innerhalb der Akademiemitglieder unentschiedene Meinungsbild gegenüber diesem Modell, ein Schwanken, das sich in den Folgejahren zu Ungunsten der Gliederpuppe entwickeln sollte. Henri Testelin (1616–1695), der seit 1650 das Amt des Akademiesekretärs bekleidete, präsentierte seine kritische Einschätzung des hölzernen Modells im Rahmen der öffentlich vorgetragenen Conférence am 3. November 1678 in plakativer Form. Auf zwei Schautafeln verdeutlichte er beide für ihn elementaren kunsttheoretischen Komplexe: Neben der Vorstellung der in der Table sur le clair et l’obscur systematisch gruppierten Parameter der Hell-Dunkel-Malerei widmete sich seine Cinquième table des préceptes de la peinture sur l’ordonnance den Hauptelementen der malerischen Komposition. Hierin, im dritten Unterpunkt zum zweiten Abschnitt der Figurengestaltung, weist Testelin auf die adäquate Wiedergabe von Kleidung hin: „bei den Kleidern muss man die Draperien auf den Figuren derart anordnen, dass sie wirklich nach Kleidung aussehen, und nicht nach zufällig 105

„[Pour ce sujet], il faudrait avoir dans l‘Académie trois ou quatre figures antiques avec un mannequin pour porter des draperies. Ce mannequin serait agencé par le professeur pour faire connaître aux disciples où ils doivent trouver les beaux plis qui n’embarrasent point une figure et qui la font connaître toute entière et bien proportionnée […].“ Louis de Boullongne [sic!]: La Vierge au lapin de Titien, 12 avril 1670, in: Jacqueline Lichtenstein/Christian Michel (Hg.): Conférences de l‘Académie Royale de Peinture et de Sculpture, Tome I, Vol. I, 1648–1681, Paris 2007, S. 359–367, hier S. 366.

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über einige Körperteile geworfenen Stoffen; für diesen Eindruck gilt es das Modell neu einzukleiden bevor es in die gewünschte Stellung gebracht wird, wobei es empfehlenswert ist, sich kleiner Modelle aus Wachs zu bedienen statt einer Gliederpuppe aus Holz, auf der man nur etwas Trockenes und Ärmliches zustande bringt.“106 Wie einst Vasari die steife Manier des Niccolò Soggi bemängelte, erkannte nunmehr Testelin in der hölzernen Modellfigur die Gefahr der Übernahme allzu unbewegter Haltungen. Nicht allein durch die öffentliche Vorstellung, sondern auch durch die schriftliche Deduktion manifestierte sich die kritische Bewertung der Gliederpuppe durch diese Schautafel in besonderem Maße. So ist es kaum verwunderlich, dass fünf Jahre später de Boullogne bei seinem erneuten Anlauf einer Werbung für die Gliederpuppe auf taube Ohren und sogar eine breitest mögliche Opposition stoßen sollte. Am Ende einer zweiten Lesung seines Vortrags am 7. August 1683 kamen noch einmal dieselben Forderungen des Malers in der viele Jahre zuvor genannten Weise zum Ausdruck. Wie der erste Historiograph der Académie Royale, Georges Guillet de Saint-George (1624–1705), berichtet, wurden diese einstimmig negativ beschieden: „Dieser letzte Vorschlag wurde nicht angenommen, und man kam darüber ein, dass die auf einem [lebenden] Modell gelegten Falten, und sogar jene auf einer von Hand geformten Figur [la bosse], sehr viel natürlicher erscheinen, als auf einer Gliederpuppe, deren Gebrauch vonseiten der Akademie mit grosser Vehemenz abgelehnt wurde, als ein Verfahren für bestimmte Personen, die sich keines hilfreicheren Mittels bedienen können.“107

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„[la disposition des figures considérée selon les vêtements, où] l’on doit ajuster les draperies sur les figures tellement qu’il paraisse que ce soit des véritables vêtements, et non pas des étoffes jetées au hasard sur quelqu’un des membres seulement; que pour cet effet il faut en revêtir le modèle avant de le mettre dans l’action qu’on désire et se servir plutôt de petits modèles de cire que d’un mannequin de bois, sur lequel on ne peut faire que de sec et de chétif.“ 5 novembre 1678. Henri Testelin lit la Table sur le clair et l’obscur et la Table sur l’ordonnance à l’Académie, in: Lichtenstein/Michel (Hg.): Conférences de l‘Académie, Tome I, Vol. II., S. 672– 680, hier S. 679. „Cette dernière proposition ne fut pas reçue, et l’on convint que les draperies appliquées sur le modèle et même sur la bosse faisaient des plis beaucoup plus naturels qu’elles n’en faisaient sur le mannequin, dont l’usage avait été rejeté fort à propos de l’Académie et laissé pour le service des personnes particulières qui ne pouvaient pas avoir un plus utile secours.“ Zit. n. Lichtenstein/Michel (Hg.): Conférences de l‘Académie, Tome I, Vol. I, S. 366, Anm. 9.

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II  Kunst

Dass diese Grundstimmung einer ablehnenden Haltung gegenüber der Gliederpuppe unter den Mitgliedern der Akademie auch nach der Jahrhundertwende virulent war, zeigt sich noch in Gestalt des Le Brun-Schülers und späteren Hofmalers Antoine Coypel (1661–1721). In seiner im Todesjahr publizierten Conférence bezieht er sich ebenfalls auf die Gliederpuppenverwendung, dies wiederum in Hinblick auf Poussin sowie namentlich auf Raffael, was aufgrund des kontrapunktischen Zuschnitts eine Kenntnis des zwei Jahre zuvor erstmals auf Französisch erschienenen Zeichenbuches de Lairesses nahelegt.108 Die Gefahr der Verwendung des Holzmodells, so Coypel, sei selbst für den französischen Historienmeister insofern abträglich gewesen, als all seinen Figuren eine gewisse Unnatürlichkeit zukomme: „Der Faltenwurf hat seine Ordnung und seine Anordnung, und das ist, was ich Komposition nenne. Doch sollte die Kunst unter dem Anschein von Leichtigkeit verborgen sein, manchmal sogar von Nachlässigkeit. Unter allen Umständen muss man die Geziertheit vermeiden, die jene befällt, welche sich nichts anderem als den kleinen Modellen bedienen, die man Gliederpuppen nennt, auf die sie nasse Kleider legen, um ihre Draperien festzuhalten. Man könnte mir vorhalten, dass sich Poussin dessen fast immer bedient hat; hierauf erwidere ich, dass die Wahrheit, Komposition, Ordnung und Anordnung seiner Falten, zwar vornehm und gelehrt ist, aber dass die Kunst die Schönheiten der Natur zu verdecken scheint, und dass seine Falten umso vollendeter gewesen wären, wenn dieser große Mann das, was er vielleicht zu dienerisch anhand von antiken Statuen nachgebildet hat, mit einem natürlicheren Geschmack verbunden hätte, weniger trocken und dafür müheloser, wovon ihn die nassen Gewänder und die Gliederpuppen zweifelsohne abgehalten haben; hierbei hätte er Raffael nacheifern können, der die Schönheiten der Antike wohl feinsinniger erfasst hat, um ihnen zugleich durch die Grazie und gefällige Einfachheit der Natur eine majestätische Würde zu verleihen.“109 108

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Die französischen Ausgaben der Teecken-Const de Lairesses erschienen 1719 und 1746. Zum hier aufscheinenden Theoriegebäude Coypels vgl. Dorothea Schille: Die Kunsttheorie Antoine Coypels. Eine Ästhetik am Übergang vom Grand Siècle zum Dixhuitième, Diss. Univ. Bochum, Frankfurt a. M. 1996. „Les draperies ont leur ordre et leur arrangement, et c’est ce que j’appelle composition; mais il faut que l’Art en soit caché sous une apparence de simplicité, quelquefois même de négligence. On en doit absolument bannir l’affectation où tombent ceux qui ne se servent jamais que de petits modèles, que l’on appelle mannequins, sur lesquels ils mettent des linges mouillés pour ajuster leurs draperies. On me dira peut-être que le Poussin s’en est presque toujours servi; je réponds à cela, qu’à la vérité, la composition, l’ordre et l’arrangement de ses plis, est noble et savant, mais

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Als Antipode de Lairesses und Parteigänger Raffaels wendet sich Coypel unter dem tradierten Paradigma der sprezzatura (simplicité, négligence) gegen den Einsatz der Gliederpuppe: Gerade sie fördere, mit nassen Gewändern behangen, eine unreflektierte Übertragung ihrer steifen und gezierten Haltung ins Bild. Der Modellgebrauch innerhalb der französischen Nationalakademie offenbart sich als schwelender Disput, der dennoch in seiner Heftigkeit erstaunt. Der Umschwung vom Wunsch, die Gliederfigur in den Studienalltag fest einzufügen, hin zu einer gänzlich ablehnenden Haltung als akademischer Konsens fällt in das letzte Viertel des 17. Jahrhunderts. Dieser Wandel könnte durch zwei Konstellationen befördert worden sein: Gegen Ende dieses Jahrhunderts vollzog sich durch die in akademischen Kreisen aufflammende Querelle des Anciens et des Modernes (auch Querelle des Classiques et des Modernes) ein grundlegender Abschälungsprozess der ästhetischen Positionen, der neben das Idealbild der Antike die glanzvollen Errungenschaften der französischen Literaten und Künstler stellte.110 Im Sinne einer Selbstvergewisserung und gleichzeitigen Emanzipation verdeutlicht sich in der Randnotiz einer Diskussion um die Gliederpuppenverwendung eine implizite Abwendung der Akademiemitglieder von Künstlern und Kunsttheoretikern wie Dufresnoy oder de Lairesse, die eine antikenbezogene Kunst auch und gerade unter Zuhilfenahme der traditionsreichen Gliederpuppe befürwortet hatten. Die zweite Position betrifft den Status der unterschiedlichen Modelle: Neben Antiken- und Naturabgüssen sowie Werken großer Meister diente das menschliche Modell dem Studium der Anatomie. Nachdem Le Brun das Direktorenamt der Académie Royale übernommen hatte, wurde das Zeichnen nach dem nackten Lebendmodell 1654 in das Curriculum aufgenommen. Da die

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que l’Art y parait cacher les beautés de la nature, et que ses draperies auraient été beaucoup plus parfaites, si ce grand Homme avait pu joindre à ce qu’il a imité, peutêtre trop servilement, d’après les Statues antiques, un goût plus naturel, moins sec et plus aisé, dont les linges mouillés, et les mannequins l’ont sans doute éloigné; il aurait imité en cela le grand Raphaël, qui ayant peut-être plus finement saisi les beautés de l’antique, en a rendu la noblesse majestueuse, avec les grâces et la simplicité charmante de la nature.“ Antoine Coypel: Discours prononcés dans les conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture, Paris 1721, fol. 116 f. Vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der „Querelle des Anciens et des Modernes“, in: Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences (1688–1696), München 1964, S.  8–64; Joan DeJean: Ancients Against Moderns. Culture Wars and the Making of a Fin de Siècle, Chicago 1997; Anne-Marie Lecoq: La Querelle des Anciens et des Modernes: XVIIe–XVIIIe siècle, Paris 2001 sowie zu den Bildenden Künsten: Victor I. Stoichita: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998, insb. S. 10.

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II  Kunst

Rechtslage das Aktstudium nur innerhalb der französischen Akademie gestattete, sollte diese damit ein Alleinstellungsmerkmal erhalten.111 Die Querelle scheint indes das Bild der akademischen Praxis kaum gewandelt zu haben, da die Gliederpuppe auch in der Folge mit den dortigen Ausbildungsformen in Verbindung gebracht und sie selbst als akademisches Attribut gewertet worden ist, als Zeichen eines immer noch stark am hierarchischen Gattungskanon verhafteten Kunstbetriebs.112 Zudem wurde schließlich auch das akademische Aktmodell seines Ansehens beraubt und auf eine Stufe mit dem künstlichen Modell gestellt. Denis Diderot (1713–1784) wandte sich in seinen Essais sur la peinture, in welchen er mehrfach über die gegliederte Holzfigur wettern sollte, gar gegen die gesamte akademische Ausbildung, mithin gegen das widernatürliche Aktstudium, das den Menschen zur eingestellten Gliederpuppe mache: „Die sieben Jahre, die man bei der Akademie zubringt, um nach dem Modell zu zeichnen, glaubt ihr die gut angewendet? Und wollt ihr wissen, was ich davon denke? Eben während diesen sieben mühseligen und grausamen Jahren, nimmt man in der Zeichnung eine Manier an; alle diese akademischen Stellungen, gezwungen, zugerichtet, zurechtgerückt, wie sie sind, alle die Handlungen, die kalt und schief durch einen armen Teufel ausgedrückt werden, und immer durch denselben armen Teufel, der gedungen ist, dreimal die Woche zu kommen, sich auszukleiden, und sich durch den Professor wie eine Gliederpuppe behandeln zu lassen, was haben sie mit den Stellungen und Bewegungen der Natur gemein?“113

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Vgl. Pevsner: Academies of Art, S. 82 ff.; Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt, S. 16; Krause: Par les préceptes et par les exemples, S. 198 u. Anm. 15 sowie S. 209. Für die Kunst des mitteleuropäischen Klassizismus, die Andreas Beyer mit der eingängigen Formel „Physiognomie und Faltenwurf“ umschreibt, blieben bewegtbelebte Draperien gerade auch in ihrer Bindung an das akademisch privilegierte klassizistische Historienbild eine zentrale künstlerische Aufgabe. Vgl. Andreas Beyer: Die Kunst des Klassizismus und der Romantik, München 2011, S. 88. „Et ces sept ans employés à l‘académie à dessiner d‘après le modèle, les croyez-vous bien employés, et voulez-vous savoir ce que j‘en pense ? C‘est que c‘est-là et pendant ces sept pénibles et cruelles années qu‘on prend la manière dans le dessin. Toutes ces positions académiques, contraintes, apprêtées, arrangées; toutes ces actions froidement et gauchement exprimées par un pauvre diable, et toujours par le même pauvre diable, gagé pour venir trois fois la semaine se déshabiller et se faire mannequinner par un professeur, qu‘ont-elles de commun avec les positions et les actions de la nature?“ Denis Diderot: Essais sur la peinture, Paris 1795, S. 7; Übers. n. dems.: Ästhetische Schriften, Bd. I, hg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1984, S. 638.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

D ie Gl ie der p up p e i m de ut s c he n Spr ac h r au m In den italienischen und französischen Akademien erfolgte das Studium der Künste als Gruppenausbildung, in der in weit aufwendigerem Maße als im Privatatelier die unterschiedlichsten Modelle, Hilfsmittel und Originale zum Einsatz gelangen konnten. Neben Antiken und Gipsabgüssen war das Engagement lebender Modelle möglich, erschwinglich und sogar gefordert. Dass auch die Gliederpuppe im 17. Jahrhundert immer wieder im akademischen Rahmen zum Einsatz gelangte, haben die Rechnungsnotizen und Inventare der Accademia die San Luca wie die scharfen Diskussionen der Académie Royale vor Augen geführt. Dennoch bleibt die Gliederpuppe in den Akademiedarstellungen ein verheimlichtes Modell, während sie in den kleineren Kunstwerkstätten der Niederlande – obgleich nie tatsächlich im Einsatz gezeigt – sporadisch als Bildinventar erscheint. Im deutschen Sprachraum sollte sie hingegen mehrfach, und dabei auch im Akademiebild, in Erscheinung treten.114 Für die künstlerischen Entwicklungen des 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum bildet Joachim von Sandrarts (1606–1688) Teutsche Academie der Edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste (1675–1680) eine bis heute unversieg-

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Auch in England, wenngleich weniger häufig, erscheint die Gliederpuppe bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Atelierinventar, etwa in Thomas Stothards (1755–1834) The Painter Who Pleased Nobody and Everybody. Hier erscheint die Gliederpuppe als lebensgroße Holzfigur, welche – ebenso wie das Modell einer antiken Büste – vor einem noblen Kunden hinter einem Paravent versteckt wird. Die vermeintlich heroische Bildgestalt auf der Staffelei des Malers wird nur dem bildexternen Betrachter als Ergebnis einer hybriden Modellverwendung offenbar (Graphit und Wasserfarbe auf Papier, 7,9 × 12,1 cm, Inv. Nr. T08723, Tate Gallery of Modern Art). Auch prominentere Künstler des 18. Jahrhunderts wie Thomas Gainsborough (1727–1788) sind mit der Verwendung der Gliederpuppe in Zusammenhang ge­­ bracht worden. Am Beispiel einer Vorstudie für das Bildnis Mary Gainsboroughs mit reichem Faltenwurf beschreiben diesbezüglich Stephen Lloyd und Kim Sloan: „[…] the present drawing […] must have been made in the same spirit of a pleasurable pastime as his drawings of landscape. Some were drawn from a costumed lay figure just as many of his landscapes were famously based on his imaginative interpretation of a table-top model of stones, dried herbs and bits of looking glass […].“ Ausst. Kat.: The Intimate Portrait. Drawings, miniatures and pastels from Ramsay to Lawrence, hg. v. Stephen Lloyd/Kim Sloan, London 2008, Kat. 78. In England sollte die Gliederpuppe noch im 19. und 20. Jahrhundert als wichtiges Atelierhilfsmittel dienen. Desweiteren gibt es eine Vielzahl nordeuropäischer Atelierbilder mit Gliederpuppe. So stellte etwa der Däne Wilhelm Bendz (1804–1832) den Bildhauer Christian Christensen bei der Arbeit mit dem lebenden Modell in seinem Atelier mit einer Gliederpuppe dar. Hier erscheint sie innerhalb der traditionellen Trias als Ergänzung zu den Abgüssen antiker Skulpturen und dem lebenden Modell. Vgl. Ausst. Kat.: Wilhelm Bendz 1804–1832. A Young Painter of the Danish Golden Age, bearb. v. Ejner Johannson, Kopenhagen 1996, Kat. Nr. 27; Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt, S. 166, Kat. 54.

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II  Kunst

te Quelle. Der zwischen Italien, den Niederlanden und Deutschland vielgereiste und künstlerisch tätige Maler und Kupferstecher versammelte sein historiographisches wie künstlerisches Erbe in diesem umfassenden dreibändigen Werk, in dem sich zahlreiche Einflüsse antiker und frühneuzeitlicher Kunsttheorie abzeichnen.115 Wie in den biographischen Beschreibungen manifestiert sich der Einfluss Vasaris auch bei der Schilderung der künstlerischen Verfahren, etwa bei der Vorstellung der plastischen Modelle der Bildhauer, die aus Wachs- und Tonmischungen über ein biegbares Drahtgestell geformt werden: „Diese Farben und Wachs/ mit Terpentin zusammen gemenget/ lassen sich hernach/ durch Wärme der Hände/ also abtreiben/ und zu einem Kügelein formiren: aus welchem sie folgends schöne zarte und subtile, auch dicke und große/ Bildnisen posiren/ auch solche an Hölzlein oder Eisen-Drätlein stecken/ daß sie alle Gliedmassen/ nach Notturft/ rühren/ biegen und bewegen mögen.“116 Neben derartigen Modellen nennt Sandrart die Gliederpuppe sodann explizit im Rahmen der Darlegung künstlerischer Verfahren hinsichtlich des Faltenwurfs: „Dieses wol zu begreiffen/ pfleget man/ nächst fleißiger Beschauung des Lebens/ die so–genannte kleine Wachs-Modellen zu machen/ oder Gliedmänner mit Röcken oder Mänteln von rauher Leinwat [sic!] oder nassem Papier zu überlegen: welches dann angenehme Falten macht/ und sich wohl erzeigt/ wann mit guter Bescheidenheit in und zu großen Bildern gefolget wird; wiewol man dadurch/ weil die Bewegung manglet/ leichtlich kan verführet werden.“117 In diesem, als weitgehend übliches Verfahren vorgestellten Einsatz der Gliederpuppe deutet Sandrart auch auf das lauernde Risiko einer allzu unbewegten Wiedergabe des zugrundeliegenden Modells hin – eine Gefahr, die ihm zufolge 115

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Zu Leben und Werk vgl. Christian Klemm: Joachim von Sandrart: Kunstwerke und Lebenslauf, Berlin 1986. Zur Teutschen Academie vgl. zuletzt umfassend Michael Thimann: Gedächtnis und Bild-Kunst. Die Ordnung des Künstlerwissens in Joachim von Sandrarts Teutscher Academie, Freiburg 2007; Ausst. Kat.: Unter Minervas Schutz. Bildung durch Kunst in Joachim von Sandrarts Teutscher Academie, hg. v. Anna Schreurs u. a., Wolfenbüttel 2012. Joachim von Sandrart: Teutsche Academie der Edlen Bau-, Bild- und MahlereyKünste, Nürnberg 1675, Bd. I, Buch 2, S. 31. Sandrart: Teutsche Academie, Bd. I, Buch 3, S. 82. Sandrart stützt sich in dieser Passage auf die bereits bei Karel van Mander beschriebenen Anweisungen zum Faltenwurf, vgl. die Hinweise von Christina Posselt in der digitalen Datenbank sandrart.net: http://ta.sandrart.net/de/text/de-fr/169 [29.11.2014].

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

namentlich Meister wie Lucas van Leyden (1494–1533), Dürer oder Raffael bei ihren Draperien in rühmlichem Maße umschifft hätten. Die Gliederpuppe wird in der Teutschen Academie schließlich noch als kunstvoll ausgeführtes Bildwerk beschrieben. Der Zeichner, Graphiker und Miniaturmaler Niklas Prucker (1620–1694) habe, so Sandrart, eine außergewöhnlich feine Gliederpuppe hergestellt, die bis in die Fingerspitzen hinein bewegt werden konnte: „Nicolaus Pruchert ware in Churfürstlichen Diensten/ und arbeitete in Oelfarb und Miniatur, deßen letztern er sich doch mehrentheils annahme/ wie dann viele rühmliche Werke von ihm die Churfürstliche Residenz-Stadt Mönchen noch aufzuweisen hat/ […] Neben diesem hat er auch allerley neue Arten von mechanischen Mahl-Instrumenten/ Paleten/ Fürneiß-Farben/ und dergleichen/ vernünftig inventirt/ sonderlich auch einen herrlichen und curiosen Lehenmann von Holz gemacht/ deßen Glieder alle/ so gar an den Fingern die kleineste Gelenke/ sich biegen laßen […].“118 Als überaus feine Schnitzarbeit ruft dieser vom Kunsthistoriographen beschriebene Gliedermann einerseits die bei van den Valckert präsentierte, delikat gestaltete Statuette in Erinnerung und verweist andererseits auf das Zeichenbuch von Biens, dessen Ansinnen darauf abzielte, dass die Maler selbst eine Gliederpuppe herzustellen vermochten. Sandrarts Nennungen der Gliederpuppe als hilfreiches Modell für das Faltenstudium trägt, ebenso wie sein Bericht über die kuriose Holzfigur Pruckers, zu einem über die geografischen Grenzen hinweg kontinuierlich observierbaren Auftreten dieses Hilfsmittels im Maleratelier bei. Er war schließlich auch maßgeblich an den ersten Akademiegründungen beteiligt, sein Neffe Jacob von Sandrart (1630–1708) wurde darüber hinaus erster Direktor der 1662 in Nürnberg gegründeten Ausbildungsstätte.119 In seinem 1820 gedruckten vierten Band über die Geschichte der Zeichnenden Künste wusste der Begründer der akademischen Kunstgeschichte, Johann Dominik Fiorillo (1748–1821), noch vom dortigen kontinuierlichen Einsatz der Gliederpuppe zu berichten: „In der Academie studierte man nach dem Nackenden, und rücksichtlich der Drapperie, nach einer Gliederpuppe.“120 118 119

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Sandrart: Teutsche Academie, Bd. II, Buch 3, S. 324. Vgl. Anna Schreurs: Joachim von Sandrart, „den Kunstliebenden zu Dienste“. Eine Einführung, in: Ausst. Kat.: Unter Minervas Schutz. Bildung durch Kunst in Joachim von Sandrarts Teutscher Academie, hg. v. ders. u. a., Wolfenbüttel 2012, S. 21–31, hier S. 22 ff. Johann Dominik Fiorillo: Geschichte der zeichnenden Künste. Vierter Band von ihrer Wiederauflebung bis auf die neusten Zeiten, Hannover 1820, S. 235. Im ersten Band des historischen Kompendiums hatte Fiorillo bereits 1798 in einer geschicht-

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II  Kunst

Ergänzt werden diese Einsichten im ausgehenden 18. Jahrhundert durch reale Ankäufe und Stiftungen von Gliederpuppen für den akademischen Unterricht im deutschsprachigen Raum: Von Wilhelmine von Lichtenau (1753–1820), die als Mätresse Friedrich Wilhelms II. (1744–1794) und Mäzenin der Künste in jener Zeit das politische und kulturelle Leben Preußens prägen sollte, ist die Schenkung einer Gliederpuppe an die Akademie in Berlin überliefert.121 Wie die Sitzungsprotokolle der Berliner Akademie von 1804 und 1805 belegen, wurde für die dortige Ausbildung eine weitere „Gliederpuppe aus Paris“ angeschafft.122 Johann Gottfried Schadow (1764–1850) bezeugt für andere deutsche Akademien in jener Zeit eine derartige Erwerbung,123 und auch in Wiener Ausbildungsstätten erfolgte der Zeichenunterricht mithilfe einer Gliederpuppe.124 Diese

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lichen Herleitung des hölzernen Modells dessen bis in die griechische Antike zurückreichende Anwendung erwogen und Vasaris Hinweise zu Fra Bartolomeo wiedergegeben, um schließlich allgemein den Sinn und Zweck der Gliederpuppe zu benennen: „Doch welche Bewandeniß es auch mit der Erfindung der Gliederpuppe haben mag, so kann sie dem Mahler gewiß von großem Nutzen seyn, hauptsächlich für die Bekleidung. Nur muß er im Gebrauch derselben vorsichtig seyn, damit nicht die Falten, die er dernach mahlt, nicht eine gewisse trockene Form bekommen. Welche verräth, daß dasjenige, was sie bekleiden, nicht Fleisch sondern Holz ist.“ Johann Dominik Fiorillo: Geschichte der zeichnenden Künste. Erster Band die Geschichte der Römischen und Florentinischen Schule enthaltend, Göttingen 1798, S. 111. Vgl. Alfred Hagemann: Wilhelmine von Lichtenau (1753–1820). Von der Mätresse zur Mäzenin, Köln 2007, S. 167. Protokoll vom 7.1.1804: „Senat wünscht nach Vorschlag Rehbergs Anschaffung einer lebensgroßen Gliederpuppe aus Paris für Gewandunterricht“. Protokoll vom 21.1.1804: „Dank für die Genehmigung zu [sic!] Anschaffung einer Gliederpuppe aus Paris; Vorschlag von Rehberg, in Paris zugleich Kostüme zu kaufen; Rehberg soll weitere Erfordernisse der Akad. anzeigen“. Die Erwerbung ließ jedoch auf sich warten, berichtet das Sitzungsprotokoll doch am 16.2.1805 von einer „Erinnerung an Anschaffung einer Gliederpuppe“. Diese wurde schließlich kurze Zeit später erworben, wie das Protokoll vom 24.9.1805 berichtet: „Gliederpuppe an Prinzessin von Hessen auf deren Gesuch hin ausgeliehen“. Vgl. Reimar F. Lacher: Die Konferenzen der Berliner Kunstakademie 1786–1815. Annalen des Berliner Kunstalltags, in: Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800/Online-Dokumente, BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften 2004, unter: http://www.berliner-klassik.de/ publikationen/ werkvertraege/ lacher_protokolle/ protokolle.html [23.11.2014], S. 103, 104, 109, 126. Hagemann: Wilhelmine von Lichtenau, Anm. 481. Für die Akademie in München wurden etwa 1808 eine weibliche und eine männliche Gliederpuppe erworben. Vgl. Monika Meine-Schawe: „…alles zu leisten, was man in Kunstsachen nur verlangen kann“. Die Münchner Akademie der bildenden Künste vor 1808, in: Oberbayerisches Archiv 128 (2004), S. 125–181, hier S. 14 u. Anm. 82. So etwa an der Wiener Baukunstschule, wie die Ausbildungsstatuten von 1786 bezeugen. Vgl. Kurt Haslinger: Die Akademie der bildenden Künste in Wien im 18. Jahrhundert – Reformen unter Kaulitz, Dipl. Arbeit Univ. Wien 2008, S. 104; unter: http://othes.univie.ac.at/369/ [23.11.2014].

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Erkenntnisse verdeutlichen, dass im deutschen Sprachraum eine wissenschaftliche Diskussion oder gar eine weitreichende Infragestellung der Gliederpuppe, vergleichbar mit der in der Académie Royale geführten Debatte, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts kaum stattfand. Vielmehr hatte sich die flächendeckende Anerkennung der Gliederpuppe als Atelierinventar im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verstetigt. Möglicherweise zeigt sich dies am prägnantesten in Form der in jener Zeit entstandenen pädagogischen Realienbücher, unter welchen das ab 1770 in Altona publizierte Elementarbuch Johann Bernhard Basedows (1724–1790) wohl einen der prominentesten Plätze einnimmt.125 Den Heranwachsenden zugeeignet, suchte es grundlegende, gesellschaftlich relevante Wissensbereiche zu vermitteln. Als enzyklopädisch organisiertes Lehrbuch aus erklärenden Textteilen sowie einem zugehörigen Bildband kommt den darin gedruckten 96 Kupferstichen von Daniel Chodowiecki (1726–1801) eine entscheidende Rolle zu, indem sie als objektivierende Schaubilder besonders einprägsam sein sollten.126 Die in bis zu vier Einzeldarstellungen aufgeteilten Tafeln zeigen charakteristische Motivzusammenstellungen des jeweiligen Themengebietes. Bildtafel LVIII bildet mit den Darstellungen des Drechslers, des Malers, des Bildhauers und des Schreibers die Fortsetzung des Bereiches „Handwerke und Künste“ (Bild 185a–b). Bei der Malerwerkstatt, welche die Handlung in eine Ecke des Ateliers verlagert, sticht rechts sogleich die lebensgroße Gliederpuppe ins Auge. Über eine massive Stange am Ständerblock fixiert, ist ihr aufrechter nackter Körper zum Betrachter ausgerichtet, während ihre linke Hand leicht erhoben und das Haupt in Richtung des Malers gedreht ist. Dieser sitzt vor seiner Staffelei, um mit der auf den langen Malstock aufgestützten rechten Hand durch feine Pinselstriche sein Werk zu vollenden: nur noch den auf der Gliederpuppe verbliebenen Rüschenmanschetten gilt offenbar seine Aufmerksamkeit.

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Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Zwischen Philosophie und Pädagogik. Vorträge und Aufsätze, Aachen 1988, Kap. IX, S. 134–144; Bettina Bannasch: 1774. Das Elementarwerk Johann Bernhard Basedows. Der Orbis Pictus des Moderne, in: Roland Borgards (Hg.): Kalender kleiner Innovationen. 50 Anfänge einer Moderne zwischen 1755 und 1856. Für Günter Oesterle, Würzburg 2006, S. 21–30; zuletzt mit besonderem Schwerpunkt auf Chodowiecki: Jasmin Schäfer: Das Bild als Erzieher. Daniel Nikolaus Chodowieckis Kinder- und Jugendbuchillustrationen in Johann Bernhard Basedows Elementarwerk und Christian Gotthilf Salzmanns Moralischem Elementarbuch, Frankfurt a. M. 2013. Vgl. Hermann Gilow: Einleitung. Basedow und Chodowiecki, in: Theodor Fritzsch (Hg.): J. B. Basedows Elementarwerk mit den Kupfertafeln Chodowieckis. Kritische Bearbeitung in drei Bänden, Leipzig 1909, Bd. III, S. 3–17, hier S. 6. Zum Komplex der objektivierenden Präsentationsformen empirischer Wissenschaften vgl. Lorraine Daston, Peter Galison: Objectivity, New York 2007.

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II  Kunst

Bild 185a–b  Daniel Chodowiecki: Tafel LVIII zu J. B. Basedows Elementarwerk, Handwerke und Künste (Drechsler, Maler, Bildhauer, Schreiber), Gesamttafel und Detail, 1773, Kupferstich, 19,8 × 25,5 cm, Inv. Nr. Nh 67690, Historische Sammlungen der Universitäts-Bibliothek, Humboldt-Universität zu Berlin.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 186  Peter Nathanael Sprengel: Der Mahler, um 1773, Kupferstich, 13,7 × 8,6 cm, Handwerke und Künste in Tabellen, Tab I.

Im zeitgleich entstandenen Lexikon des Peter Nathanael Sprengel (1737– 1814), das ab 1767 über zehn Jahre in siebzehn Bänden die wichtigsten Handwerke und Künste in Tabellen präsentierte, ist Der Mahler nicht bei seiner Tätigkeit, sondern allein durch Materialien, Werkzeuge und Hilfsmittel – wie Pinsel und Palette, Staffelei und Farbreibe, Malstab und eine prominent ins Bild gesetzte Gliederpuppe – vertreten (Bild 186).127 In der Synopse mit Chodowieckies Darstellung kann diese Schautafel als weiterer Beleg einer etablierten Gliederpuppenverwendung im 18. Jahrhundert gelten. Mit jenem Schaubild ist hingegen erstmals das Bild des unmittelbar nach einer Gliederpuppe arbeitenden Malers greifbar. Die hierbei aufscheinende leichte Ironie erschließt sich indes erst auf den zweiten Blick, diente dieses Modell doch traditionell – ganz entgegen der hier gewünschten typisierenden Darstellung – der Erkundung einer faltenreichen Draperie, wie sie sich im Umhang des Malers selbst darbietet, und nicht dem Studium von gestärkten Rokokoärmeln. 127

Peter Nathanael Sprengel: Handwerke der Künste in Tabellen, 10. Sammlung, Berlin 1773, S. 3, Tab I. Vgl. Schäfer: Das Bild als Erzieher, S. 296 f.; zu Sprengels Lexikon zudem Rainer S. Elkar: Altes Handwerk und ökonomische Enzyklopädie. Zum Spannungsverhältnis zwischen handwerklicher Arbeit und „nützlicher“ Aufklärung, in: ders. u. a. (Hg.): Altes Handwerk und ökonomische Enzyklopädie, Tübingen 1995, S. 215–231, insb. S. 225 ff.

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II  Kunst

Die sehr reduzierte, geradezu klinische Atelierszene in Basedows Elementarwerk128 scheint in der Atelierdarstellung des nur wenige Jahre älteren österreichischen Akademiemalers Johann Georg Platzer (1704–1761) ihren kongenialen Gegenpart zu finden.129 Hier leitet nunmehr von links eine Gliederpuppe in das Bild ein (Bild 187).130 Auf einem Beistelltisch stehend, vollführt sie mit der rechten Hand eine präsentierende Geste, um dabei den linken Arm derart nach oben zu schwingen, als ob sie den bühnenhaft in das Bild ragenden Vorhang noch weiter zurückraffen wollte. Gerade in seiner Arbeit innehaltend, sitzt der Maler mit einem Weinglas in der Rechten an seiner Staffelei vor dem puppenhaften Modell einer gezierten Dame, der Gliederpuppe am nächsten. Ganz im Sinne eines Realienbuches scheint Platzer in diesem Bild alle Phasen der Produktion eines Gemäldes bis zu dessen Hängung nachzuvollziehen: Am rechten Bildrand reibt eine Gehilfin rote Farbpigmente an, während im angrenzenden Raum Studien am männlichen Aktmodell betrieben werden. Zu Füßen des Malers spielt ein Kind mit einer Sammlung von Zeichnungen, die als Bildvorlagen dienen könnten. Im Zentrum wird schließlich einem potentiellen Käufer ein bereits gerahmtes Bild vorgeführt, während weitere Gemälde die Rückwand des Raumes in enger Salonhängung bedecken.131 In identischer Bildanlage,

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Die von Johann Wolfgang von Goethe geäußerte Kritik an Basedows Werk, das ihm zu überladen und in seiner Zusammenstellung zufällig erschien, scheint zumindest auf die Darstellung der Malkunst kaum zutreffend: „[…] allein mir mißfiel, daß die Zeichnungen seines „Elementarwerks“ noch mehr als die Gegenstände selbst zerstreuten, da in der wirklichen Welt doch immer nur das Mögliche beisammensteht und sie deshalb, ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und scheinbarer Verwirrung, immer noch in allen ihren Teilen etwas Geregeltes hat. Jenes Elementarwerk hingegen zersplittert sie ganz und gar, indem das, was in der Weltanschauung keineswegs zusammentrifft, um der Verwandtschaft der Begriffe willen neben einander steht; weswegen es auch jener sinnlich-methodischen Vorzüge ermangelt, die wir ähnlichen Arbeiten des Amos Comenius zuerkennen müssen.“ Johann Wolfgang von Goethe: Autobiographische Schriften II, in: ders.: Werke, Bd. 10, hg. v. Erich Trunz, München 71981, S. 25. Als einer der Hauptmeister des Wiener Rokoko spezialisierte sich Platzer auf Historien- und Genreszenen sowie auf Atelierbilder, die er meist auf Kupfer ausführte. Vgl. zum Künstler allg.: Gotthard Agath: Johann Georg Plazer. Ein Gesellschaftsmaler des Wiener Rokoko (1704–1761), Dresden 1955; Ausst. Kat.: Delikatesse der Malerei. Meisterwerke von Johann Georg Platzer, bearb. v. Ulrich Becker, Graz 2007. Zu den Atelierbildern von Platzer siehe zuletzt Michael Krapf: Die „AtelierBilder“ im Werk von Johann Georg Platzer. Eine Schaubühne für den Künstler, in: Essays in Honor of Professor Erik Larsen at the Occasion of his 90th Birthday, o. Hg., Mexico City 2002, S. 77–86, bes. S. 82 ff. In einer geradezu deckungsgleichen Komposition hat auch der mit Platzer befreundete Franz Christoph Janneck (1703–1761) eine Gliederpuppe als Präsentationsfigur ins Bild gesetzt. Vgl. Haraszti-Takács: Compositions de nus, S. 72, Abb. 50. Die gemalten Gemälde verbildlichen dabei die ‘Fünf Sinne’: Blumenstillleben den Geruch, Flötenspieler und Sänger das Gehör, der von einer Dame gefütterte Papagei

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 187  Johann Georg Platzer: Das Atelier des Malers, Öl/Kupfer, 42,5 × 60,5 cm, Privatbesitz. (Farb­tafel 20)

Bild 188  Johann Georg Platzer: Im Maleratelier, Öl/Kupfer, 44 × 59 cm, Inv. Nr. 117.215, Historisches Museum der Stadt Wien.

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II  Kunst

doch noch belebter und mit einer nach rechts gerückten lebensgroßen Gliederpuppe, sollte Platzer eine weitere Atelierszene gestalten (Bild 188). Aufgrund der gesteigerten räumlichen Ausmaße und der Anzahl der im Stil des 17. Jahrhunderts gekleideten Bildpersonen kann das historistische Kabinettstück durchaus als Akademieszene gelesen werden, insbesondere durch die zusätzlichen Attribute der Musik (Lautenspielerin), Literatur (Lesende) und Geographie (Globus).132 Noch im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde von offizieller wie von privater Hand die Verwendung der Gliederpuppe vielerorts gefördert.133 Doch lässt sich ab den 1830er Jahren bis zur Mitte des Jahrhunderts innerhalb der Atelierbilder des deutschsprachigen Raumes ein Stimmungsumschwung gegenüber der Gliederpuppe vermerken. Vier Atelierszenen, die im Intervall dieser zwanzig Jahren entstanden sind, verweisen auf den zunehmenden Wandel der mit diesem Modell verbundenen Implikationen. Das biedermeierliche Atelier in einer Wohnung, wie es vom österreichischen Porträt- und Genremaler Johann Baptist Reiter (1813–1890) um 1832/ 1833 eingefangen wurde, verlegt die Ausübung von Malerei und Musik in ein behagliches Wohnzimmer, das den Blick in weitere Räume freigibt (Bild 189).134

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den Geschmack; der Sehsinn wird durch eine Bathsheba-Szene verbildlicht, während der Bauer mit dem Satyr für den Tastsinn steht. Vgl. Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt, S. 277, Kat. 117, hier als „Im Maleratelier“ betitelt. Wie frei sich Platzer dabei einer eklektizistischen Methode bediente, lässt der Vergleich mit Pieter Boels (1622–1674) Stillleben mit Globus, Prunkgarnitur und Kakadu von 1658 (Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste, Wien) erahnen, aus dem Platzer Kakadu, Hund samt rotem Halsband, Globus, Laute und Prachtteppich übernommen zu haben scheint. So beschreibt der Historienmaler Wilhelm Georg Alexander von Kügelgen (1802– 1867) das gemeinsame Studium an der Gliederpuppe: „Jeden Sonnabend fanden wir uns abends in einem zu diesem Zweck gemieteten Lokal ein und begannen unsere Studien zuerst am Gliedermann. Für den Meister sind ohne Frage die Köpfe das schwerste, danach das Nackte; die Gewänder sind das leichteste. Umgekehrt geht es dem Schüler […] Falten – dachte ich – Falten sind Falten und brauchen weder ähnlich noch verstanden zu sein, weil sie weder Physiognomien noch Muskeln noch Knochen haben. In Zeit von einer halben Stunde hatte ich den ganzen Gliedermann bewältigt mit allem, was drum und dran hing, und wenn es meiner Arbeit auch an Reiz zu fehlen schien, so befremdete mich das wenig, da offenbar die Puppe in demselben Fall war. […] das Rätsel der Falten kostete mich noch manchen bitteren Seufzer, ehe sie sich nur einigermaßen von Wurzeln und Gedärmen unterscheiden wollten.“ Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes [1870], Berlin 2013, S. 303 f.; vgl. Wipfler: Gliederpuppe, III. F. Bemerkenswert ist die hier genannte, bereits von de Lairesse angeführte Gefahr, dass unzureichendes Faltenstudium zum Eindruck von Gedärmen führt („kleedingen als of het darmen zyn“). Vgl. de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol. 94. Vgl. Ausst. Kat.: Bilder des Lebens. Johann Baptist Reiter und der Realismus des 19. Jahrhunderts, hg. v. Lothar Schultes, Linz 1990.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 189  Johann Baptist Reiter: Atelier in einer Wohnung, um 1832/1833, Öl/Holz, 28,5 × 36,5 cm, Inv. Nr. 67.134, Historisches Museum der Stadt Wien.

Der links im Bild auf einem niedrigen Knieschemel sitzende Künstler hält in seinen Händen noch Pinsel und Palette. In melancholischer Denkerpose ruhen neben ihm der Maler und Grafiker Joseph Danhauser (1805–1845) sowie ein älterer Geigenspieler, der sein Instrument zum Stimmen zwischen den Knien hält. Hinter dem Musiker auf den Stuhl gestützt steht ein vierter Herr, bei welchem es sich wohl um den Genremaler Peter Fendi (1796–1842) handelt.135 Mit verinnerlichtem Blick ist er dabei, aus einer Karaffe Wein einzugießen, der zusammen mit Brot und Austern auf dem Tisch rechts im Vordergrund angeboten wird. Vor dieser Tafel, und teilweise vom Bildrand überschnitten, erscheint eine weitere Gestalt: eine lebensgroße, weibliche Gliederpuppe aus Holz. Über einen anwinkelbaren Eisenstab ist sie aufrecht sitzend auf einem massiven Holzblock befestigt. Ihre ungefassten Gliedmaßen sind über dunkle Kugelgelenke verstellbar, allein der Kopf ist mit hellem Inkarnat, zartroten Lippen und einer glatten Pagenfrisur lebensnah ausgestaltet. Doch sind es nicht die vielzähligen, bis in die Fingerspitzen verwirklichten Gelenke, die ihre artifizielle Präsenz verunheimlichen, sondern die leeren, pupillenlosen Augen. Als ein die 135

Zum Bildpersonal vgl. ebd., S. 29, Kat. 1.

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II  Kunst

Gruppe abschließendes, rahmendes Element bildet sie den Gegenpart zu der vom linken Bildrand beschnittenen Staffelei, an welcher noch der lange Malstock lehnt. Wie Maler und Musiker hält auch das Modell abwartend inne. Als einzige weibliche Figur scheint sie geduldet, und doch kaum als Muse der Künste tauglich.136 Im Atelier von Ferdinand Tellgmann (1811–1897) sind nunmehr drei Maler in die Arbeit an ihrer Staffelei vertieft (Bild 190).137 Das 1834 entstandene Bild wirkt auf den ersten Blick wie eine herkömmliche Szene aus einem Malerstudio, dennoch irritiert sogleich die Diskrepanz zwischen dem Bildsujet des bärtigen Künstlers im Vordergrund, der gerade eine Landschaft begutachtet, und den im Atelier befindlichen Modellen: Zahlreiche übereinander gestapelte Gipsabgüsse sind an der rechten Wand hinter einem grünen Paravent verborgen, über dessen Oberkante noch ein Neptunkopf prüfend hervorblickt. Vor dem Raumtrenner und doch überwiegend vom großen Landschaftsbild verdeckt, steht eine als Mönch in weiße Gewänder gehüllte Gliederpuppe mit ausgestreckten Armen, unsicher auf mehreren Holzblöcken balancierend. Aus einem Auge ins jenseits des Bildraumes blickend, weisen ihre Arme ins Nichts. Die ruhige Szene täuscht über ihren subversiven Impetus hinweg, indem sich die tradierten und stets geschätzten Hilfsmittel hier als vernachlässigte Relikte einer überkommenen Bildgenese offenbaren. Drastischer und dabei deutlich ins Satirische gewendet, wird der Um­ gang mit der Gliederpuppe in Johann Peter Hasenclevers (1810–1853) berühmter Atelierszene von 1836 als Entsorgungsprozess inszeniert (Bild 191).138 Die scheinbar genrehafte, in der Düsseldorfer Akademie angesiedelte Studiositua­ tion kann mitnichten als naive Alltagsschilderung gedeutet werden, sondern stellt sich, wie Wolfgang Hütt präzisiert, als „ein gegen das akademische Naza-

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Für Lothar Schultes steht die Gliederpuppe hier für „ein doppelt ironisches Element, spielt sie doch sowohl auf den Mangel an lebenden Modellen als auch auf das Fehlen einer Gefährtin an.“ Lothar Schulthes: „Der arme Maler“. Zur sozialen Lage der Künstler im Wiener Biedermeier, in: Studien zu Musikwissenschaft 50 (2002), S. 59–80, hier S. 62. Vgl. Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt, S. 168 f., Kat. 55. Vgl. zu Maler und Werk grundlegend Knut Soiné: Johann Peter Hasenclever. Ein Maler im Vormärz, Neustadt 1990; Stefan Geppert/Dirk Soechting (Hg.): Johann Peter Hasenclever (1810–1853). Ein Malerleben zwischen Biedermeier und Revolution, Mainz 2003; Albert Boime: Art in an Age of Civil Struggle, 1848–1871, Chicago 2006, insb. S. 536 f.; zur Düsseldorfer Malerschule sowie die Akademieausbildung unter Johann Gottfried Schadow: Marion F. Deshmukh: Between Tradition and Modernity. The Düsseldorf Art Academy in Early Nineteenth Century Prussi, in: German Studies Review 6/3 (1983), S.  439–473; Wolfgang Hütt: Die Düsseldorfer Malerschule 1819–1869, Leipzig 1995.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 190  Ferdinand Tellgmann: Im Atelier, 1834, Öl/Lw., 79 × 97,5 cm, Inv. Nr. AZ332, Staatliche Museen, Neue Galerie Kassel.

Bild 191  Johann Peter Hasenclever: Atelierszene, 1836, Öl/Lw., 72 × 88 cm, Inv. Nr. M4376, Stiftung Museum Kunstpalast Düsseldorf. (Farb­tafel 20)

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II  Kunst

renertum gerichtetes malerisches Programm dar.“139 Nach dem Bildeintritt über im Vordergrund wild verstreute Utensilien, darunter links eine hölzerne Gliederhand, gelangt der Bertrachterblick ins Innere des zur Bühne gewandelten Ateliers. In einer possenhaften Studiensituation avancieren die Maler selbst zu Darstellern. Hasenclevers Kollegen bevorzugen das aktive Nachstellen der Szene, statt sich am Einstellen der Gliederpuppe abzumühen – diese wird an einer um den kopflosen Hals gezogenen Kordel in symbolischer Handlung von Hasenclever selbst aus dem Atelier geschleift. In karnevalesker Umkehr wird das Studium nach herkömmlichen Modellen – der Gliederpuppe oder Antikenabgüssen, wie der armlose Borghesische Fechter – ebenso wie die künstlerische Umsetzung tradierter Bildformen – etwa großformatiger Historienbilder, die hier nur noch als Raumteiler dienen – zum Gespött gemacht. Indem sich Hasenclever selbst der Entfernung des gegliederten Modells annimmt, kommt der Gliederpuppe eine Schlüsselrolle zu: als Hilfsmittel des Raumes verwiesen, ist sie für die Kunst seiner Malergeneration obsolet geworden. Der von einer Gliederpuppe begleitete Übertritt in das komische Register sollte auch von Eduard Ritter (1808–1853) in seinem 1849 entstandenen Bild eines Armen Malers vollzogen werden, wenngleich mit einer weniger beißenden Polemik (Bild 192).140 Im Atelier an einem figurenreichen religiösen Historienbild arbeitend, versucht der Maler dem im Bild Stürzenden mithilfe des eigenen entblößten linken Unterschenkels einen lebendigen Anschein zu vermitteln. Die hinter der Leinwand hervortretende lebensgroße Gliederpuppe beobachtet entzückt die Genese der Bildfiguren. Wenngleich sich hier kaum eine kunstpolitische Geisteshaltung wie im Falle Hasenclevers manifestiert, kann das Bild dennoch einen wichtigen Hinweis auf die ambivalente Natur des hölzernen Modells in der Mitte des 19. Jahrhunderts liefern: Als lebensgroße Figur mit überrascht erhobener Hand nur dem Betrachter eine scheinbar emotionale, dynamische Regung suggerierend, nimmt der Maler von ihr keine Notiz, gereicht sie ihm kaum mehr als geeignetes Studienobjekt für die anvisierte lebendige Natürlichkeit. Die sich in diesen Atelierbildern offenbarenden vielschichtigen Vergegenwärtigungen der Gliederpuppe bezeugen, dass das Modell im 18. Jahrhundert, wie sich in den Realienbüchern Basedows und Sprengels abzeichnete, als gängiges Atelierinventar wahrgenommen wurde, das neben Staffelei und Palette zur Grundausstattung des Künstlers zählte. Die in der französischen Akademie bereits Ende des 17. Jahrhunderts öffentlich ausgetragene Debatte über Nutzen

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Vgl. Hütt: Die Düsseldorfer Malerschule, S. 114; vgl. hierzu auch Eva Mongi-Vollmer: Das Atelier des Malers. Die Diskurse eines Raums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 2004, S. 31; Soigné: Johann Peter Hasenclever, S. 46. Vgl. Schulthes: „Der arme Maler“, S. 61 f., u. Abb. 3.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 192  Eduard Ritter: Der arme Maler, 1849, Öl/Holz, 36,5 × 31 cm, Privatbesitz.

und Gefahr der hölzernen Modellfigur fand in einer derartigen Form im deutschen Sprachraum nicht statt. Vielmehr bedienten sich die Künstler in der Folgezeit einer kritischen Bildsprache, die eine zunehmende Nutzlosigkeit des Modells vor Augen führten sollte. Mitte des 19. Jahrhunderts entwarf Wilhelm von Kaulbach (1805–1874) eine Bildfolge für die Obergeschossfassade der Neuen Pinakothek in München, welche die konfliktgeladene Gemengelage der akademischen Ausbildung bündeln und zugleich einen prägnanten Kommentar zur zeitgenössischen Entwertung der Gliederpuppe abgeben sollte. König Ludwig I. von Bayern (1786–1868) hatte den 1837 zum Hofmaler ernannten von Kaulbach damit beauftragt, einen

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II  Kunst

Bild 193  Wilhelm von Kaulbach: Die Bekämpfung des Zopfes durch Künstler und Gelehrte unter dem Schutz der Minerva, um 1848, Öl/Lw., 81,3 × 179,5, Inv. Nr. WAF 409, Neue Pinakothek, München. (Farb­tafel 21)

Zyklus zu entwerfen, der auf den Außenwänden des Gebäudes Die neuere Entwicklung der Kunst darstellen, und dabei den Landesherrn als Förderer der zeitgenössischen Künste ausweisen sollte.141 Als Bekämpfung des Zopfes durch Künstler und Gelehrte unter dem Schutz der Minerva entworfen, ist das Bild heute als Kampf gegen die Chimäre der Perückenzeit bekannt (Bild 193). Bereits im Oktober 1850 prangte es an der Südwand des Gebäudes und zeigte, wie ein Autor der Augsburger Postzeitung zu berichten wusste, „die Niederlage des Zopfes oder Perückenstyls, welcher als Cerberus oder dreiköpfiges Ungeheuer

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Vgl. Werner Mittlmeier: Die Neue Pinakothek in München 1843–1854. Planung, Baugeschichte und Fresken, München 1977, S. 49–62; Sabine Schulz: Bildprogramme in deutschen Kunstmuseen des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1984, S. 89 f.; Werner Busch: Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985, S. 114–125; Christof Metzger: Wilhelm von Kaulbach. Die neuere Entwicklung der Kunst, in: Neue Pinakothek. Katalog der Gemälde und Skulpturen, München 2003, S.  174–181 sowie bereits ausführlich Markus Rath: Gliederpuppenpositionen. Zum Wandel eines Menschenmodells zwischen 1850 und 1925, in: ders./Ulrike Feist (Hg.): Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp, Berlin 2012, S. 117–138, insb. S. 122–126. Noch bevor der Bau im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, hatte die Witterung nach nur wenigen Jahren die Fresken stark beschädigt, doch sind die von Friedrich Christoph Nilson zwischen 1848 und 1853 ausgeführten Entwürfe Kaulbachs noch heute in der Neuen Pinakothek in München aufbewahrt. Neuen Pinakothek, München, Inv. Nr. WAF 409 ff. Vgl. Metzger: Wilhelm von Kaulbach, S. 174 f.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

mit hervorstechenden französischen Physiognomien dargestellt ist, da er ja in allen drei Kunstgebieten gewüthet hat“.142 Von Kaulbach zeigt in der Tat ein Kampfgetümmel: ein dreiköpfiges Un­ geheuer mit Perückenköpfen versucht die in einem steinernen, altarförmigen Gehäuse gefangenen drei Grazien der Kunst gegen die von links kommenden Klassizisten sowie die von rechts auf Pegasus heranstürmenden Nazarener zu verteidigen.143 Als besonders sprechendes Detail erweist sich ein sonderbares Paar, das Kaulbach am Fuße des Altars zeigt: Vom Getümmel völlig unbeeindruckt hält ein älterer Herr in seinen Armen neben dicken Folianten eine lebensgroße nackte Gliederfrau umschlungen. Es handelt sich offenbar um Gerard de Lairesse, der als „Inbegriff des Akademismus“, 144 als Menetekel einer verschlafenen Fortentwicklung der Kunst firmiert.145 Der Verfasser theoretischer Lehrbücher und Verfechter der Gliederpuppe wird zur Spottgestalt einer überkommenen Künstlerausbildung. Indem von Kaulbach jedoch den Richtungsstreit innerhalb akademischer Kreise in ironischer Wendung überzeichnet, verweist er auf die grotesken Auswüchse der Diskussion um die Zukunftsformen einer ‚deutschen‘ Kunst.146 Den zynischen Zuschnitt scheint er vom befreundeten Moritz von Schwind (1804–1871) übernommen zu haben: im sarkastischen Entwurf eines Dem neuen Pygmalion gewidmeten Ehrenbechers, eine Darstellung, die zur selben Zeit wie Kaulbachs Komposition entstanden ist, stellte von Schwind das gegliederte Menschenmodell als Gallionsfigur einer

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Augsburger Postzeitung 211 (22.10.1850), zit. n. Mittlmeier: Die Neue Pinakothek, S. 54. Zur Bestimmung des Bildpersonals vgl. Kerstin Bütow: Vom Musenross zum Droschkengaul. Pegasus in der Künstlergraphik des 19. Jahrhunderts, in: Ausst. Kat.: Pegasus und die Künste, hg. v. Claudia Brink/Wilhelm Hornbostel, München 1993, S. 124–132, S. 126. Zit. n. Mittlmeier: Die Neue Pinakothek, S. 54. Zu den Reaktionen vgl. Schulze: Bildprogramme, S. 90 ff. In ähnlicher Stoßrichtung, jedoch mit etwas gemilderter Rhetorik, suchte Camillo Sitte den jungen Künstler von der Überkommenheit der Gliederpuppe zu überzeugen: „Am schwierigsten sind die ungeometrischen, mannigfach gekrümmten Flächen des menschlichen Körpers einer perspectivischen Construction zugänglich und doch hilft auch hier nur das Wissen, nur die Construction weiter, wenn der Maler nicht zeitlebens auf einige auswendig gelernte Schemata oder beständig auf Modell und Gliederpuppe angewiesen sein will.“ Sitte: Gesamtausgabe, Bd. 5, S. 595. Vgl. dazu Robert Stalla, u. Mitarb. v. Andreas Zeese: „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte, in: Camillo Sitte: Gesamtausgabe. Schriften und Projekte, hg. v. Klaus Semsroth, Bd. 5, Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte, Einleitung v. Robert Stalla u. Mario Schwarz, wiss. Bearbeitung u. Kommentierung v. Robert Stalla, Wien 2010, S. 9–86, hier S. 59 u. Anm. 198. Vgl. Busch: Die notwendige Arabeske, S. 117.

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II  Kunst

Bild 194: Moritz von Schwind: Ehrenbecher „Dem neuen Pygmalion“, 1846, aus Fliegende Blätter 4/88 (1846).

verfehlten Kunst dar: unbeeindruckt vom Suizid der drei Grazien huldigt ein junger Künstler kniend der Gliederpuppe (Bild 194).147

H i stor i s c he E xe mpl a r e Die in Schriftquellen beschriebenen und bildlich dargestellten Gliederpuppen des Künstlerateliers erweisen sich in ihrer Ausformung, Größe und Machart als ein heterogener Gattungsverbund. Neben deutlich unterlebensgroßen, ellenoder armlangen Modellen sind Figuren in Lebensgröße zu beobachten, fein ausgeführte Schnitzwerke stehen schematischen Exemplaren gegenüber.148 Im Gegensatz zur größtenteils als Holzfigur in Erscheinung tretenden Gliederpuppe wird etwa in Hasenclevers Akademiebild eine von Stoff umspannte Modellfigur gezeigt, wie sie im 18. Jahrhundert in Frankreich entwickelt worden war. Neben den Gliederpuppen kultischer Handlungen aus Antike und Mittelalter können auch Modelle des Künstlerateliers anhand bis in das 16. Jahrhundert zurückreichenden Realien veranschaulicht werden. Die historischen Exemplare lassen sich dabei in zwei Haupttypen von Künstlergliederpuppen unterscheiden: einerseits die über Jahrhunderte tradierte Gliederfigur aus Holz,

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Vgl. Veronika Mertens: Die drei Grazien. Studien zu einem Bildmotiv in der Kunst der Neuzeit, Wiesbaden 1994, S. 279 und Abb. 115. Zu diesen drei ‚Standardgrößen‘ der Künstlergliederpuppe vgl. Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 38; Peppel: Der Manichino, S. 95 f.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

welche über eine unterschiedliche Anzahl von sichtbaren Kugelgelenken beweglich ist und die, in schematischer Form, noch heute tausendfach für das Zeichenstudium zum Kauf angeboten wird (Bild 195); andererseits die im 18. Jahrhundert entwickelte und bis zum 20. Jahrhundert verwendete Gliederpuppe, deren bewegliches Metall- oder Holzskelett von einer gefüllten Stoffhaut überzogen wurde, komplettiert durch einen austauschbaren hölzernen oder wächsernen Kopf. Insbesondere das Korpus der vom 18. bis ins 20. Jahrhundert entstandenen, teils hochqualitativen Gliederpuppen ist kaum überschaubar (Bild 196).149 Ein Katalog der bis heute erhaltenen historischen Gliederpuppen bedeutete insofern ein unabschließbares Unterfangen. Anhand ausgewählter prägnanter Beispiele, die vom 19. bis in das 16. Jahrhundert zurückreichen, soll jedoch ein hinreichender Eindruck der Diversität

Bild 195  Gliederpuppe, 2014, Holz, Metall, Künstlerbedarf. Bild 196  Panoptikum von Gliederpuppen, 18.–20. Jahrhundert, Kunsthandel, 2014, Zusammenstellung M. R.

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Gliederpuppen dieses Zeitraums werden aktuell auf dem Kunstmarkt für bis zu sechsstellige Beträge veräußert: Am 6. November 2014 erreichte das Los 1 der Auktion 19th Century European Art eine 170 cm große Gliederpuppe aus Walnussholz aus dem 18. Jahrhundert bei Sotheby’s New York den Zuschlagpreis von 118.750.USD. Vgl. die Dokumentation unter: http://www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue /2014/19th-century-european-art-n09218/lot.1.html [14.11.2014].

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II  Kunst

der Gattung und ihrer zentralen Erscheinungsformen vermittelt werden.150 Die Haupteigenschaften des jüngeren Typus vereint eine als Kassler Mannequin bekannte, besonders gut erhaltene Stoffgliederpuppe in sich.151 Das bewegliche Holzskelett des 163 cm hohen Modells wurde zusätzlich mit Gelenken und Rippen aus Metall verstärkt (Bild 197). Abwechselnd verleimte Lagen von Baumwollstoff, Flachs- und Hanffasern wurden mit Stopfmasse gefüllt und die Figur zuletzt mit Seidenstoff überzogen. Der aus bemaltem Pappmaché gefertigte Kopf verweist auf das Anbringen einer Perücke, während das Dekolleté aus einer nachträglich aufgebrachten bemalten Wachsschicht besteht, was die Bewegungsfähigkeit im Halsbereich leicht beeinträchtigte. Bei dieser bis in die Fingerspitzen vollbeweglichen Gliederpuppe konnten die Metallgelenke durch mehrere kleine Öffnungen, die etwa auf Höhe der Beckenknochen gut zu erkennen sind, mittels Schrauben in einer gewählten Position fixiert werden. Diese höchst aufwendig gestaltete Gliederpuppe bestellte der Bildnis- und Genremaler August Embde (1780–1862) im Jahre 1817 bei einem Pariser Kunstdrechsler namens Huot, dessen originale Gebrauchsanweisung, welche den Mechanismus darlegt und die geeignete Pflege erläutert, heute ebenfalls noch erhalten ist.152 Bereits ein halbes Jahrhundert zuvor wurden erste derartige Gliederpuppen in Frankreich hergestellt. Im Recueil de planches sur les sciences, les arts libéraux, et les arts méchaniques, avec leur application 150

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Einen besonders instruktiven Einblick in die Ausbildung und erfinderische Entwicklung unterschiedlichster Gliederpuppentypen, namentlich des 19. Jahrhunderts, vermittelte unlängst die von Jane Munro kuratierte Schau Silent Partners. Für den Austausch im Vorfeld der Ausstellung sei der Kuratorin herzlich gedankt. Vgl. Ausst. Kat.: Silent Partners. Weitere, teils schriftliche Belege für Gliederpuppentypen bei Wipfler: Gliederpuppe, III. F. Siehe dazu ausführlich: Hans Vogel: Der Meister des Kassler Mannequins, in: Zeitschrift für hessische Geschichte und Landeskunde 74/75 (1964/1965), S. 611–614. Vgl. Vogel: Der Meister des Kassler Mannequins, S. 613 f.; Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 30 f. Zur erhaltenen Anleitung der Gliederpuppe vgl. Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, S. 89.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 197 (S. 398)  Paul Huot: Gliederpuppe („Kassler Mannequin“), 1817, Holzskelett, Metallgelenke, Flachs- u. Hanffüllung, Baumwolle, Seidenüberzug, Papiermaché, Wachs, 163 cm, Inv. Nr. C37, Sammlung Angewandte Kunst, Hessisches Landesmuseum, Kassel. (Farb­tafel 22) Bild 198a–b  Denis Diderot/Jean le Rond d‘Alembert: Dessein, Mannequin/ Developemens du Mannequin, Écyclopédie, Réceuil de planches sur les sciences […], 1763, Kupferstich, Inv. Nr. 34, Cambridge University Library.

der 1763 publizierten Encyclopédie von Denis Diderots und Jean le Rond d’Alembert (1717–1783) ist eine entsprechende Figur in Gänze sowie in ihren einzelnen Bauteilen wiedergegeben (Bild 198a–b).153 Dass der hier beschriebene Gliederpuppentyp nicht nur Modelle Erwachsener, sondern auch jene von Kindern umfasst, bezeugt eine im Hamilton Kerr Institute des Fitzwilliam Museums in Cambridge aufbewahrte Kindergliederpuppe (Bild 199). Das interne Stahlskelett, welches durch eine Röntgenaufnah153

„Le manequin est une figure construite de maniere qu’elle a les principaux mouvemens extérieurs du corps humain, il sert aux Peintres pour fixer différentes attitudes; il est composé de cuivre, fer & liege, que l’on recouvre d une peau de chamois, ou de bas de soie découpés & cousus de la manière convenable.“ Denis Diderot, Jean le Rond d’Alembert: Encyclopédie. Recueil de planches sur les sciences, les arts libéraux, et les arts méchaniques, avec leurs explications, Paris 1762–1772, Vol. II b, Planche VI. Zur Darstellung in der Encyclopédie auch Meder: Die Handzeichnung, S. 557; Wipfler: Gliederpuppe, I. B.; Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 43 u. 47.

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II  Kunst

Bild 199, 200  Gliederpuppe eines Kindes („Child No. 98“), Mitte 19. Jh., Holz, Metall, Stopfmasse, Baumwolle, Papiermaché, lebensgroß, Inv. Nr. C.48, Hamilton Kerr Institue, Fitzwilliam Museum, Cambridge.

me in seiner ganzen Komplexität zutage tritt, ist mit einem rosshaargefüllten Baumwollüberzug sowie einem Pappmachékopf zu einer anthropomorphen Figur vervollständigt (Bild 200). Eine Gliederpuppe aus dem Besitz des Bildhauers Louis-François Roubiliac (1695–1762) zeichnet sich hingegen dadurch besonders aus, dass mit ihr eine umfassende Ausstattung von unterschiedlichsten Kleidungsstücken, sowohl eine männliche als auch eine weibliche Garderobe, erhalten blieb (Bild 201a–b). Erst durch die entsprechende Ausstaffierung wurde ihr Geschlecht festgelegt. Die heute im Museum of London aufbewahrte Modellpuppe gilt als eine der ältesten erhaltenen Gliederpuppen des Stopfpuppentyps.154 154

Vgl. zu Roubiliacs Gliederpuppe zuletzt ausführlich Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 43–49.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 201a–b  Gliederpuppe des Louis-François Roubiliac (1695–1762), Mitte 18. Jh., Holz, Metall, Stopfmasse, Baumwolle, mit zugehöriger Garderobe, lebensgroß, Inv. Nr. C.35, Museum of London.

Für die Produktion derartiger Figuren hatten Pariser Kunsthandwerker, die zur selben Zeit mit dem Phänotyp der lebensgroßen Modepuppe einen ähnlichen, wenngleich weniger variablen und kostspieligen Kunstleib schufen, über Generationen ein Monopol inne.155 Im Gegensatz zu den nur einfach beweglichen Schaufensterpuppen verfügten derartige Maler-Mannequins über ein hochflexibles Gliederskelett, welches alle erwünschten und erforderlichen Figurationen erlaubte, das jedoch einer aufwendigen Konstruktionsmethode entsprang, die ihren Preis hatte. Eine solche Anschaffung stellte für den Künstler eine enorme Investition dar, und der Marktwert von 1000 Francs, die der Kunstdrechsler Huot für das Kassler Mannequin verlangt hatte, überstieg in vielen 155

Zum zeitgleich in seiner modernen Form entwickelten lebensgroßen Modemannequin vgl. Kap. I.3.b).

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II  Kunst

Fällen das Atelierbudget. Ein prosperierender Leihverkehr mit derartigen Gliederpuppen war die Folge.156 Beachtenswert ist insofern ein vom kaiserlich-königlichen polytechnischen Institut in Wien erteilter Erlass aus dem Jahre 1828, welcher die Pariser Monopolstellung aufbrechen sollte, indem er zwei italienische Ingenieure mit der Fortentwicklung dieser neuartigen Gliederpuppen beauftragte. Die Anweisung enthält verschiedenste Ansprüche an das Modell, die von dessen Konstruktion und Handhabung über ein an klassischen Vorbildern orientiertes Äußeres bis hin zur Wirtschaftlichkeit seiner Herstellung reichen: „Dita Stefano Ceruti e Carlo Dell’Aqua, Fabrikanten physikalischer, mathematischer und astronomischer Instrumente zu Mailand (Porta orientale, Nro. 669): [Privileg] auf die Verbesserung der Gliederpuppen (Mannequins), d. i. der Modelle für Mahler und Bildhauer, welche verbesserten Gliederpuppen folgende Vortheile gewähren. a) daß sie alle bisher verfertigten durch ihre Leichtigkeit und durch ihre Genauigkeit in ihren Bewegungen übertreffen, b) daß sie in ihren Verhältnissen und im Muskelwerke nach den vorzüglichsten Mustern des griechischen und römischen Alterthums modelliert sind, c) daß der Stützpunkt, welcher ihnen zur Grundlage dient, nach Belieben und Bedürfniß des Künstlers verändert werden kann, daß sie endlich d) nur noch das Drittheil des Preises kosten, wofür sie bisher ganz allein Paris geliefert hatte. Auf fünf Jahre; vom 4. Dezember.“157 Als besonders bemerkenswerte Modellfigur des rein hölzernen Typus kann eine außergewöhnliche Gliederpuppe gelten, die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist (Bild 202). Sie weist eine aufwendige Ausarbeitung auf, indem nicht nur Kopf, Bauch und alle Extremitäten, sondern auch sämtliche Fingergelenke und schließlich der große Zeh sowie der Vorderfuß vollbeweglich gestaltet wurden. Mittels Feststellschrauben ist die Gliederpuppe in einer gewählten Stellung fixierbar. Ihr farbig gefasstes Gesicht wurde bewusst androgyn gehalten, da das jeweilige Geschlecht durch einschiebbare Holzelemente einer weiblichen oder männlichen Brust ‚eingestellt‘ werden kann.158 Als Variante dieser durch komplexe Gelenkkonstruktionen aufgerüsteten Gliederpuppen erweist sich eine um 1840 entstandene, 87 cm große Holzfigur, die heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg aufbewahrt wird (Bild 203). Anstatt der üblichen Bauchkugel 156

157 158

Bezüglich des Preises des Kassler Mannequins vgl. Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, S. 88 f. Eine umfassende Analyse des Leihverkehrs am Beispiel Englands liefert Woodcock: Posing, Reposing and Decomposing, S. 445–464. Johann Joseph Prechtl (Hg.): Jahrbücher des kaiserlichen königlichen polytechnischen Institutes in Wien, Bd. 14, Wien 1829, S. 401. Vgl. Nefzger: Gliederpuppen-Kunst, S. 86.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 202  Gliederpuppe mit austauschbaren Geschlechtsmerkmalen, frühes 19. Jh., Holz, lebensgroß, Privatbesitz. Bild 203  Weibliche Gliederpuppe, 1840/1850, Holz, Eisenmontierung, 87 cm, Inv. Nr. Pl.O.3041, Germanisches Museum Nürnberg.

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II  Kunst

Bild 204: Männliche Gliederpuppe, 18. Jh., Holz, 63 cm, Musée Roybet Fould, Courbevoie.

Bild 205: Gliedermann, Ende 16./17. Jh. (?), Buchsbaumholz, 21,6 cm, Inv. Nr. D36/1990, Dänisches Nationalmuseum, Kopenhagen. (Farb­tafel 22)

oder eines massiven Scharniergelenkes im Oberbauch wird die Rumpfmitte durch axiale Scheiben aufgelöst, die eine seitliche Körperbiegung erlauben.159 In das 18. Jahrhundert wird eine französische Gliederpuppe aus dem Musée Roybet Fould in Courbevoie datiert, die mit 63 cm etwa armlang ist

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Diese durch eine horizontale Scheibenverbindung vollzogene Variabilität ruft die Gliederungsmechanismen des Halses in Erinnerung, wie sie auf einer Skizze Leonardos aus dem Codex Atlanticus beobachtet werden konnten. Vgl. Kap. II.1.b), Draperie- und Modellstudien sowie Bild 152a–b.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Bild 206a–b: Gliederpuppe, Mitte 16./17. Jh., Holz, 42 cm, ehemals Kunstkammer Georg Laue, Privatbesitz. (Farb­tafel 22)

(Bild  204). Die hölzerne Modellfigur ist gleichmäßig gearbeitet, der haarlose Kopf weist ein neutrales Gesicht auf, nur der Brustkorb lässt eine anatomische Differenzierung erahnen. Gliedmaßen, Kopf und Oberkörper sind mittels verzapfter Kugelgelenke beweglich, deren Kugelköpfe jeweils mit einem Körperglied fest verbunden sind. Nur im Ansatz sind Hände und Füße verstellbar. Dass dieses Exemplar häufig zum Einsatz kam, zeigen sowohl die verschiedenen Abriebspuren, als auch die zahlreichen Messpunkte, die vor allem im Kopf eingeritzt sind. Diese Gliederpuppe vergegenwärtigt in ihrer Beschaffenheit den ‚Archetypus‘ des seit Dürer bekannten und über viele Malergenerationen eingesetzten Ateliermodells. Neben derartigen schematischen Holzgliederpuppen sind feingestaltigere Exemplare kleineren Ausmaßes bekannt. Ein exquisit erhaltener Gliedermann

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II  Kunst

Bild 207  Gliederpuppenpaar, Mitte 16./17. Jh., Holz, Privatbesitz.

aus dem 17. Jahrhundert wird in der Kunstkammer des Dänischen Nationalmuseums aufbewahrt (Bild 205). Er wurde aus hartem Buchsbaumholz geschnitzt und ist mit 21,6 cm kleiner als die sich vorwiegend zwischen Armlänge und Lebensgröße bewegenden historischen Modelle. Durch massive Schrauben, die die Kugelgelenkverbindungen fixieren, tritt ihre Bewegungstechnik prominent zutage. Die glatte Behandlung der Oberfläche zeigt hingegen eine meisterliche Schnitzkunst, die sich insbesondere in Details wie den Fingernägeln, dem Schamhaar und einem konzentrierten, ausdrucksstarken Haupt offenbart. Als zusätzliche Bewegungskompetenz ist der Unterkiefer separat gearbeitet und durch einen Querstab in den Wangenknochen beweglich eingefügt.

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2. Gliederpuppen nördlich der Alpen

Eine weibliche, etwa 42 cm hohe Gliederpuppe gehörte bis zu ihrer Veräusserung vor wenigen Monaten zum Bestand der Münchner Galerie Kunstkammer Georg Laue (Bild 206a–b).160 Ihre Entstehungszeit ist umstritten, wird zwischen Mitte des 16. Jahrhunderts und dem 17. Jahrhundert angegeben.161 Der Unterleib ist geschlechtslos, doch verfügt sie über eine voluminöse, weiblich ausgeformte Brust sowie ein symmetrisches, androgyn-antikisierendes Gesicht, das von einer reich gewickelten Zopffrisur bekrönt wird. Die Einzelglieder sind in auffälliger Präzision zu einem kontinuierlichen Gesamtkörper zusammengefügt, wobei Kopf und Extremitäten, sogar Zehen und Finger, über Kugelgelenke beweglich sind. Dabei ergibt sich für die Hände und Füße eine eigentümlich wulstige Ausprägung, indem die vollrunden Glieder unnatürlich lang ausfallen. Aufgrund dieser spezifischen Ausformung der Fuß- und Handglieder erweist sich diese Gliederpuppe als unmittelbar verwandt mit zwei im Kunsthandel veräußerten Stücken (Bild 207).162 Dieses Gliederpuppenpaar zeigt sich in analoger Größe und Machart, wobei es zusätzlich über ausgeformte primäre Geschlechtsmerkmale verfügt. Bei den ältesten erhaltenen Gliederpuppen der Neuzeit handelt es sich schließlich um eine kleine zusammenhängende Werkgruppe, die im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts entstanden ist und bis heute zu den bemerkenswertesten Erzeugnissen der europäischen Kleinplastik zählt. Die erhaltenen Stücke sind über verschiedene europäische Sammlungen verstreut, einige Exemplare während des Zweiten Weltkriegs verschollen. Innerhalb der Forschung stellen diese kleinformatigen Geschöpfe eine ebenso kunstvolle wie enigmatische Referenz dar. Die umfassende Untersuchung dieses Skulpturenkomplexes erweitert die Bedeutungsdimensionen der gegliederten Modellfiguren insofern entscheidend, als sich in ihm die Loslösung aus einem zweckbestimmten Anwendungszusammenhang manifestiert – die Gliederpuppe wird selbst zum Kunstwerk.

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Die Gliederfigur wurde zuvor von Sotheby’s als Exponat aus der Sammlung Robert & Angelique Noortman als Werk des 17. Jahrhunderts versteigert. Vgl. Antiquitätenzeitung vom 7. 12. 2007, S. 9. Für Hinweise und Bilder sei der Kunstkammer Georg Laue, namentlich Virginie Spenlé, herzlich gedankt. Die spätere Entstehungszeit würde das Stück zumindest zeitlich in die Nähe der von Sandrart beschriebenen, bis in die Fingerspitzen beweglichen Gliederpuppe des Malers Niklas Prucker bringen. Sotheby’s gab bei der Versteigerung als Datierung das 17. Jahrhundert an, während das Exposé der letztveräußernden Galerie Georg Laue für eine Entstehung Mitte des 16. Jahrhunderts plädiert. Das beim Pariser Auktionshaus Drouot Richelieu am 18.3.2009 angebotene Doppellos erzielte 55.200.- EUR. Vgl. die Dokumentation unter: http://catalogue.gazette-drouot.com/visitesdesalles/visite.jsp?id=2104 sowie das Ergebnis unter http:// www.artfinding.com/News/1717/55-000-%E2%82%AC-pour-deux-rares-mannequins-d%27artistes-des-XVIe-XVIIe-siecle.html?LANG=al [29.11.2014].

3 .   G liederpuppen als kunstvolle S chöpfung – die K leinplastiken des I . P.

a   D ie Werk g r upp e Gl ie der p up p e n der nor d a lpi ne n Re n a i ss a nc e Neun feingestaltige bewegliche Statuetten aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bilden zusammen ein einzigartiges Korpus frühneuzeitlicher Gliederpuppen. Neben drei verschollenen Statuetten werden die sechs erhaltenen Stücke in Berlin, Hamburg, Innsbruck, Leipzig und Madrid aufbewahrt und gemeinsam dem Œuvre eines noch immer allein durch sein Monogramm „IP“ bekannten Schnitzers zugeschrieben.1 Durch eine intensive Beschreibung und sukzessive Analyse der gegliederten Skulpturen soll der Versuch unternommen werden, die Natur dieser herausragenden Gliederpuppen näher zu bestimmen.2

D i e Be rl i n e r G l i e d e r p u p pe 3 Im Bestand des Berliner Bode-Museums sticht eine kleine weibliche Gliederpuppe aus dem Sammlungsgefüge zur nordalpinen Renaissance heraus. Die aus Buchsbaumholz geschnitzte Statuette misst 21,6 cm und verfügt über ein erstaunlich geringes Gewicht von 78 Gramm. Die glatte, äußerst feine Gestal-

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Vgl. zuletzt mit umfassendem Forschungsstand: Jutta Reisinger-Weber: Der Monogrammist IP und sein Umkreis, Passau 2007, S. 111–121, Kat. 7–13. Vgl. in kompakter Darstellung: Markus Rath: Creatio ex ligno. The Characteristics of Wooden Renaissance Dolls, in: Camilla Skovbjerg Paldam/ Jacob Wamberg (Hg.): The Artwork between Technology and Nature, London 2015, S. 41–54; ders.: Vermessung des Körpers, insb. S. 224–230. Dank an Julien Chapuis, Hans-Ulrich Kessler und Bodo Buczynski vom Berliner Bode-Museum für die Möglichkeit der intensiven Inaugenscheinnahme der Gliederpuppe. Für die Anfertigung der Fotografien sei Barbara Herrenkind herzlich gedankt.

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II  Kunst

Bild 208a–b, 209, 210  Monogrammist IP: Weibliche Gliederpuppe, 1520–1530, Buchsbaumholz, 21,6 cm, 78 g., Inv. Nr. 2167, Bode-Museum, Berlin, Fotos: Barbara Herrenkind. (Farb­tafel 23)

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

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II  Kunst

tung überspielt ihre Zusammensetzung aus insgesamt 57 Einzelteilen.4 Auf verschiedenste Haltungen hin ausgelegt, scheinen die vorn am Becken ansetzenden Beingelenke sowie eine leicht gebückte Haltung des Oberkörpers insbesondere auf eine sitzende Figuration hin ausgerichtet (Bild 208a–b). Die Gliederpuppe zeigt einen höchstmöglichen Grad an Körpervariabilität: Hals-, Schulter- und Armgelenke sind ebenso wie die Gelenke des Bauches, der Oberschenkel, der Knie und der Füße in Form von Kugelgelenken in unterschiedlichste Stellungen zu versetzen. Alle Fingerglieder und Zehen sind durch Zapfengelenke beweglich gestaltet. Die leicht überlängten Proportionen der Figur sind offenbar der additiven Zusammensetzung dieser Gelenkeinheiten geschuldet. Bis ins feinste Detail sind Gesicht und Haube, Finger- und Fußknochen sowie Nägel geschnitzt, Handund Fußflächen weisen sogar natürliche Linien und Wölbungen auf (Bild 209). Eine hohe Aufmerksamkeit wurde auch der Gestaltung der Geschlechtsmerkmale, den hohen, halbkugelig hervortretenden Brüsten und der nach oben spitz zulaufenden, welligen Schambehaarung geschenkt. Die ins Auge stechende rote Fassung der Scham und deren gewaltsame Aushöhlung wurden unverkennbar von späterer Hand vorgenommen. Die hohe Stirn der Puppe ist von einer Haube aus feinmaschigem Netz bedeckt, welches durch acht übereinandergelegte Bänder verstärkt und auf dem Scheitel und im Nacken von zwei Rosetten zusammengehalten wird. Dadurch, dass die von wulstigen Lidern umrahmten Pupillen nur vage auszumachen sind, bleibt der Blick unbestimmt und vieldeutig. Die ausgeprägte Brauenpartie leitet zu einer schmalen, an der Spitze verdickten Nase mit zierlichen Flügeln und dem breitlippigen, leicht geöffneten Mund mit runden Wangen über. Die schwellenden Schlüsselbeine zeugen ebenso wie die weichen Lenden, der Nabel auf der Bauchkugel oder auch das Gesäß mit den darüber liegenden Mulden von einer anatomisch versierten Körperbehandlung durch den Bildschnitzer. Eher summarisch sind indes die Gliedmaßen geformt, insofern lediglich an den Handgelenken Sehnen angedeutet sind. Die straffe Körpergestaltung und die ebenmäßige Physiognomie lassen auf ein Alter der Frau von etwa 25 Jahren schließen. Die Figur ist ohne Schrauben zusammengefügt, indem die von feinen, trichterförmig auslaufenden Kanälen durchbohrten hölzernen Bauteile durch

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Dies sind, unter Vernachlässigung der Verzapfungen und des ‚Innenlebens‘ der Puppe, Kopf, Oberkörper, Unterkörper, zwei Oberarme, zwei Unterarme, zwei Oberschenkel, zwei Unterschenkel, zwei Handflächen, zwei Daumen, sechzehn Fingerglieder, zwei Mittelfüße, zehn Zehen, die Bauchkugel und dreizehn Gelenkkugeln. In den Ausmaßen ist das kleinste Element der kleine Zeh, das größte der Rumpf.

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

Bild 211  Berliner Gliederpuppe, Röntgenaufnahme, Bode-Museum, Berlin.

ein inneres Schnursystem zusammengehalten werden (Bild  211).5 Ausgehend von vier in die äußersten Extremitäten eingeklemmten Knebeln sind die feinen Stränge durch diese Aushöhlungen bis zum Kopf geführt, auf Spannung gedrillt und gebündelt fixiert. Dieser letzte Schritt, die über das Schnursystem verliehene Körperspannung, ist nur durch eine kleine Öffnung im Hinterkopf der Puppe möglich: bewusst dem Haubenmuster folgend, wurde der kaum sichtbare trapezförmig in das Haupt eingearbeitete Deckel kunstvoll versteckt (Bild  210).

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Arpad Weixlgärtner gibt bei der verwandten Statuette aus Leipzig das Saitenmaterial als ‚Katzendarm‘ an, was als wörtliche Übertragung des englischen Worts für dünne Naturdarmsaiten, „catgut“, anzusehen ist. Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 45. Die aktuelle Untersuchung der verwandten Leipziger Gliederpuppe hat indes Hinweise auf rein pflanzliche Fasern ergeben.

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II  Kunst

Seit knapp fünfhundert Jahren ist der Bewegungsmechanismus der Gliederpuppe bis heute funktionstüchtig. Insgesamt ist die Statuette in sehr gutem Zustand. Bis auf drei Finger der rechten Hand scheinen sich alle Einzelteile original erhalten zu haben.6 Im Gesäß sowie oberhalb der Scham sind zwei Bohrungen auszumachen. Die größere diente der späteren Fixierung der Puppe an einem langen dünnen Metallstab, während das Loch im Beckenbereich von der Anbringung eines Feigenblatts herrührt, das die Scham bis in die 1930er Jahre verdeckte.7 Die Oberfläche der ungefassten Figur erscheint insgesamt glänzend poliert, wohl aufgrund der häufigen Handhabung. Seit 1877 befindet sich diese Gliederpuppe in Berliner Besitz. Zuvor war sie Eigentum des ungarischen Sammlers und Kunsthändlers Alexander Posonyi (1838–1899),8 der sie im Rahmen der Versteigerung seiner Dürer-Sammlung 1867 veräußerte.9 In geschäftsträchtiger Manier hatte Posonyi die Gliederpuppe als eigenhändige Arbeit Dürers deklariert und auf eine Herkunft aus der Sammlung des Paulus Praun (1548–1616) verwiesen. Im Inventar des Praunschen Kabinetts ist zwar unter der Inventarnummer 382 „Ein hülzes gliedmenlein, anderthalb schuch

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Die drei Finger wurden vor der Versteigerung des Stücks 1867 ersetzt: „Drei der bis in die Gliedmassen beweglichen Finger der rechten Hand sind von vorzüglicher Künstlerhand mit ausserordentlichem Fleisse jüngst nachgemacht worden, im Übrigen ist die Erhaltung eine wunderbare.“ Aukt. Kat.: Catalog der überaus kostbaren von Alexander Posonyi in Wien zusammengestellten Albrecht DürerSammlung […], m. e. Vorwort v. Alexander Posonyi, München 1867, S. 75, Los 355. Vgl. die Berliner Gliederpuppe mit Feigenblatt im Zustand vor 1904 in: Émile Michel: Deux Mannequins en bois du XVIe siècle, in: Gazette des Beaux-Arts 3/31 (1904), S. 135–139, hier S.  137. Vereinzelte kleinere Ausbrechungen sind in den fragilen Gelenkpfannen zu bemerken. Die variierende Patina des Stückes rührt von Schmutzablagerungen und Altersspuren her, genauso wie die Flecken auf dem linken Oberschenkel sowie ein hellgrauer Abdruck auf der rechten Brust. Frits Lugt: Les marques de collections de dessins & d’estampes, Amsterdam 1921, S.  367 f. Einen Einblick in seine Sammlung gewährte Posonyi 1864 mit seinem „Katalog der Handzeichnungen nebst zwei plastischen Werken von Albrecht Dürer in 16 photographischen und photo-lithographischen Nachbildungen von Jul. Leth nach den Originalen in Alexander Posonyi’s Dürersammlung zu Wien“. Bei ihrer Versteigerung im Jahre 1867 gab Posonyi an, diese stamme „aus dem berühmten Praun’schen Cabinet (Stifter Paul Praun, geb. zu Nürnberg 1548). Wenzel Jamnitzer, der nach Heller (das Leben und die Werke Albrecht Dürer’s par. 88) die Dürer’schen Sachen alle noch von dessen Bruder Andreas Dürer kaufte, überliess selbe größtentheils Paul Praun. Erst 1801, also nachdem das Cabinet an 200 Jahre in der Praun’schen Familie blieb, ging es durch Kauf an Frauenholz über. Ich verdanke diese […] der Güte des Herrn Director Jos. Böhm in Wien, in dessen Besitz selbe wieder fast 50 Jahre waren.“ Aukt. Kat.: Catalog der überaus kostbaren von Alexander Posonyi in Wien zusammengestellten Albrecht Dürer-Sammlung, Los 2.

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

hoch auch in einem kestlein“ aufgeführt.10 Gegen die Identifizierung dieser Gliederpuppe mit dem Berliner Stück sprechen jedoch sowohl die Angabe des Geschlechts, da innerhalb des schriftlichen Inventars durchaus zwischen „menlein“ und „weiblein“ unterschieden wird,11 als auch die Größe von „anderthalb schuch“, die nach der damals gebräuchlichen Längenmaßeinheit des ‚Nürnberger Fußes‘ etwa 45 cm ergeben müsste.12 Der Zerschlagung der Posonyi-Sammlung konnte zunächst durch einen Ankauf seitens des Pariser Kunsthändlers Anatole-Auguste Hulot (1811–1891) entgegengewirkt werden, von welchem Friedrich Lippmann (1838–1903) wiederum die Werke über einen Mittelsmann für die Berliner Sammlung erwerben konnte.13 Fraglich ist daher, wieso später entstandene Berliner Kataloge davon ausgehen, dass es sich bei der Gliederpuppe um ein Exponat aus „altem Besitz“, also um ein Stück aus der königlichen Kunstkammer handelt, deren Anfänge bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen.14 Erst zwei Jahre nach deren Auflösung im Jahr 1875 und der Überführung der Kunstkammerstücke in die Königlichen Museen und das neu gegründete Kunstgewerbe-Museum gelangte die Gliederpuppe zu ihrem heutigen Aufbewahrungsort.15 Offen bleiben muss die Pro10 11

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Katrin Achilles-Syndram (Bearb.): Die Kunstsammlung des Paulus Praun. Die Inventare von 1616 und 1719, Nürnberg 1994, S. 148, Nr. 382. So handelt es sich, im Gegensatz zum „gliedmenlein“, etwa bei Inventarnummer 400 um „Zwey ligende weiblein von bassa relebo, in ainem kleinen rundel eines fingers lang.“ Ebd. Im Glossar der Inventarsausgabe wird ein Schuch (Schuh) mit ca. 30 cm angegeben. Diese Längenmaßeinheit war wohl hauptsächlich im Bayerischen geläufig. Vgl. etwa Fridolin Solleder, welcher einen ‚Münchner Schuch’ mit 26,9 cm angibt. Fridolin Solleder: München im Mittelalter, München/Berlin 1938, S. 108. Auch Weixlgärtner weist, gemeinsam mit Otto Kurz, eine Zurückführung der Gliederpuppe auf das Praunsche Kabinett von der Hand, „da sie in dessen ausführlichem Katalog nicht vorkommt.“ Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 46. Vgl. Lugt, S. 377. Etwa von Wilhelm Vöge: Die Deutschen Bildwerke und die der anderen cisalpinen Länder, Berlin 1910, Nr. 189, oder von Bange: Die Bildwerke in Holz, Stein und Ton, S. 40, Nr. 2167. Erklären ließe sich die Verwirrung um die Herkunft des Stücks zum einen durch die falschen Angaben Arpad Weixlgärtners von 1903, die besagen, dass die Berliner Gliederpuppe nur neun Zentimeter groß und verschollen sei: Die Gliederpuppe, so Weixlgärtner, „befand sich 1864 im Besitze Alexander Posonyis in Wien. Sie ist jetzt verschollen […] – sie war etwa 9 cm hoch“. Weixlgärtner: Dürer und die Gliederpuppe, S. 84 f. Zum anderen liegt ein Grund wohl darin, dass sowohl Weixlgärtner als auch Wilhelm Vöge und Ernst Friedrich Bange die Publikation Alexander Posonyis von 1864 nicht bekannt war (vgl. Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 46). Dahingegen weist bereits 1897 Ulrich Thieme bei seiner Besprechung der „Ausstellung von Werken alten Kunstgewerbes“ im gerade fertig gestellten Alten Grassimuseum in Leipzig auf diese Gliederpuppe „im Kgl. Museum zu Berlin“ hin. Ulrich Thieme: Ausstellung von Werken alten Kunstgewerbes aus Sächsisch-Thüringischem Privatbesitz im Kunstgewerbemuseum zu Leipzig, in: Kunstgewerbe-

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venienz des Stückes vor dem 19. Jahrhundert. Da außer den Äußerungen Posonyis bis heute keinerlei weiteren Hinweise auf die Herkunft der Berliner Gliederpuppe bekannt sind, kann deren Rückführung über die Sammlungen von Joseph Daniel Böhm und Johann Friedrich Frauenholz bis in die Sammlung des Paulus Praun weiterhin nur als Hypothese angesehen werden.

D i e L e i pz ige r G l i e d e r p u p pe 16 Im Grassimuseum in Leipzig wird heute eine weibliche, 22,5 cm große, 86 Gramm schwere und exquisit erhaltene Gliederpuppe ausgestellt (Bild 212a).17 Sie ähnelt in ihrem Aussehen dem Berliner Stück in Körperauffassung und künstlerischer Ausarbeitung, doch scheint sie weniger summarisch denn in stringenterem Maße durchgestaltet. Ihre Körperlichkeit wirkt insgesamt fraulicher und doch gedrungener. Voluminöser ausgeformt sind der gewölbte Bauch mit größerer Bauchkugel und das ausladende Gesäß, das Becken ist fleischiger und mit weiblicheren Hüften versehen. Zudem besitzt sie breitere Schultern und vollere Oberschenkel. Ihre präzise geformten Geschlechtsmerkmale, insbesondere Brustwarzen und Schambereich mit weniger spitz zulaufender und dichterer Behaarung als bei der Berliner Gliederpuppe, weisen in weit geringerem Maße Abnutzungsspuren auf. Auch die Köpfe der beiden Statuetten differieren. Der Gesichtsausdruck der Leipziger Gliederpuppe ist starrer und bestimmter, die weiblich-runde Physiognomie der Berlinerin fällt bei der Leipzigerin markanter

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blatt (N.F.), hg. v. Karl Hoffacker, Leipzig 1897, S. 165–192, hier S. 191. Auch Émile Michel ist die Berliner Gliederpuppe in seinem 1904 erschienenen Artikel, dank eines Hinweises von Lippmann, bereits bekannt. Michel: Deux Mannequins en bois du XVIe siècle, S. 18. Jutta Reisinger-Weber gibt verkürzend an, dass die Gliederpuppe „von Alexander Posonyi an das Berliner Museum zu Beginn des 20. Jahrhunderts verkauft“ worden sein soll. Reisinger-Weber: Der Monogrammist IP, S. 113. Dem verantwortlichen Kurator des Grassimuseums, Thomas Rudi, sowie dem Chefrestaurator Christian Jürgens, sei für die Möglichkeit eines unmitellbaren Studiums der Puppe gedankt. Die wechselhafte Provenienz dieser Gliederpuppe, welche mit einem männlichen Pendant 1725 für 60 Taler vom Leipziger Stadtrat angekauft wurde und über New York wieder nach Leipzig gelangte, rekonstruiert Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S.  45. Über die Provenienz dieser Gliederpuppe vor dem Erwerb für den Leipziger Ratsschatz gibt es bislang keine neuen Erkenntnisse. Zur aktuellen Untersuchungskampagne mit neuesten technischen Untersuchungsmethoden wie 3D-Computertomographien vgl. Christian Jürgens, Klaus Bente: Die Leipziger Gliederpuppe. Naturwissenschaftliche Untersuchungen, in: Ji rˇ í Fajt/Susanne Jaeger (Hg.): Das Expressive in der Kunst 1500–1550. Albrecht Altdorfer und seine Zeitgenossen, Berlin 2017 (im Erscheinen). Dank an Christian Jürgens für die gemeinsame Diskussion des Stückes und die ermöglichte Einsichtnahme in das Manuskript.

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Bild 212a–b  Monogrammist IP: Weibliche Gliederpuppe, um 1520–1530, Buchsbaumholz, 22,5 cm, 86 g., Inv. Nr. 12.198, Grassimuseum, Leipzig. (Farb­tafel 24)

aus (Bild 212b). Bei der Gliederpuppe aus dem Bode-Museum ist der Mund weich und leicht geöffnet, die Lippen der Leipzigerin sind dünner und geschlossen. Ob­gleich ihre Augen weiter geöffnet und mit großen, geradeaus blickenden Pupillen versehen sind, wirkt der Gesichtsausdruck nicht hart erstarrt, sondern vielmehr konzentriert. Ihre Kopfbedeckung besteht aus einer sorgfältig gearbeiteten voluminösen Haube, die eine vergleichbare Machart wie jene der Berliner Puppe aufweist. Wird sie ebenso mittels verstärkender, geflochtener Bänder zusammengehalten, so findet sich in den Zwischenräumen jedoch keine Netzstruktur, sondern ein glatter Unterstoff. In die Kopfbedeckung ist wiederum eine viereckige

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II  Kunst

Öffnung eingearbeitet, die den Zugang zum Schnürchensystem im Inneren erlaubt. Ihr Haupt wird schließlich von einem Blütenkranz bekrönt, der schräg auf ihrer rechten Kopfhälfte aufliegt.18

D a s G l i e d e r p u p pe n p a a r a u s In n s b r u c k 19

Bild 213–216  Monogrammist IP: Gliederpuppenpaar, um 1520–1530, Buchsbaumholz, jeweils 23 cm, 80g. (Gliederfrau), 85,7 g. (Gliedermann), Inv. Nr. P 415, P 416, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck.

Im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck bilden eine weibliche und eine männliche Gliederpuppe zusammen das einzig erhaltene Paar der 18

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Der Zustand der Puppe ist größtenteils hervorragend. Allein die dünnwandige Bauchpartie ist oberhalb des Nabels unregelmäßig ausgebrochen, ebenso sind verschiedene leichte Ausbrüche an Gelenkpfannen und am Haaransatz zu bemerken. Zudem fehlen die Endglieder des rechten kleinen Fingers und des linken Zeigefingers, andere Finger sind durch Abrieb verjüngt. Dank gilt Eleonore Gürtler und Laura Resenberg vom Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck für die Gewährung einer intensiven Untersuchung der beiden Gliederpuppen.

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Werkgruppe (Bild 213).20 Die Gliederfrau ist, trotz ihres geringeren Gewichts von 80 Gramm, in ihrer Gestaltung der Berliner Gliederpuppe sehr ähnlich, mit 23 cm jedoch noch etwas größer als die Leipziger Figur. Wie die zwei anderen weiblichen Puppen zeugt auch die Innsbrucker Gliederfrau von einer weichen und glatten Behandlung der Oberfläche. Die wie aufgesetzt erscheinenden Brüste ragen prominent hervor, der Bauch ist, ähnlich dem Berliner Stück, deutlich flacher geformt als bei der Leipziger Gliederpuppe, die Bauchkugel besitzt hingegen keinen Nabel. Die Kopfhaube erweist sich als Netz, das von einem dünnen Band in Stirn und Nacken am Saum fixiert wird (Bild 214). Innerhalb

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Die Stücke (Inv. Nr. P 415 und P 416) gehören Weixlgärtner zufolge zum alten Besitz des Museums, stammen nach seiner Einschätzung jedoch nicht aus der Sammlung von Schloß Ambras. Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 42.

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der Netzrauten ist die voluminöse Haube aufwendig durch geschnitzte Blütenstickereien verziert. Unter der Kopfbedeckung treten regelmäßige Haarsträhnen bis über die Ohren hervor. Der aus einem quadratischen Haubenstück gearbeitete Verschluss des Saitensystems schließt nicht mehr ganz plan mit der Haubenoberfläche ab, sondern steht etwas hervor, wodurch die Öffnung deutlicher erkennbar wird. Der Kopf der Innsbrucker Gliederfrau ähnelt dem der Berlinerin stärker als jenem der Puppe aus Leipzig: Obgleich der Mund geschlossen, die Augen dagegen weiter geöffnet sind als beim Berliner Exemplar, wodurch ein wacher Eindruck entsteht, so sind doch Kopfbedeckung, Kopfform und die weiche Physiognomie des Gesichts hier ähnlicher als bei der Leipziger Puppe mit ihrem undurchlässigen Gesichtsausdruck. Ein die Scham verdeckendes Feigenblatt kann aufgrund seiner vergleichsweise plumpen Ausführung sicher als spätere Zutat gewertet werden.21 Das Pendant zur weiblichen Statuette ist ein jugendlich anmutender Gliedermann. Mit derselben Größe von 23 cm weist er ein leicht höheres Gewicht von 85,7 Gramm auf. Die männliche Gliederpuppe besitzt ein rundes, bartloses Gesicht mit wachen, weit geöffneten Augen und dichtem, unregelmäßig gelocktem Kopfhaar. Wie beim Berliner Exemplar sind die wulstigen Augenbrauen leicht nach oben gezogen, während der Mund leicht geöffnet ist, um dabei die Zähne erahnen zu lassen (Bild 215). Im Gegensatz zu den weiblichen, eher summarisch gearbeiteten Puppenkörpern ist seine sehnig-muskulöse Körperlichkeit auf das Höchste ausgebildet, wie etwa die feinen Schlüsselbeine, das Brustbein mit darüber gespannter Haut, die definierten Rippen und der mehrfach wulstig geformte Rippenbogen sowie die Bauchmuskeln, die athletischen Arme und die schlanken Beine bezeugen. Diese werden, ebenso wie die Schläfen und Füße, von feinen Adern überzogen (Bild 216). Beim Innsbrucker Gliedermann sind die Kugelgelenke der Schultern durch ihr hohes Ansetzten am Rumpf deutlicher prononciert als bei den weiblichen Puppen, bei welchen die Schulterlinie fließender verläuft.22 21

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Zwischen den Schulterblättern ist der Gliederpuppe ihre Inventarnummer P 415 eingeprägt worden. An beiden Händen sind die Endglieder von Zeige-, Mittel- und Ringfinger verloren, die kleinen Finger fehlen jeweils ganz. Sehr gut erhalten sind jedoch Leib und Gliedmaßen, nur leichte Ausbrüche weisen die Kniescheiben auf. Seine Gliedmaßen sind bis auf die Hände gut erhalten: Die rechte Hand ist stark beschädigt, alle Finger sind bis auf das erste Mittelfingerglied nicht mehr vorhanden, die Daumenpartie ganz abgebrochen. Auch bei der linken Hand sind die letzten Fingerglieder verloren. Einige Locken am Hinterkopf fehlen. An derselben Stelle wie der weiblichen Statuette ist der Gliederpuppe die Inventarnummer P 416 zwischen den Schulterblättern eingeschrieben. Zusätzlich zur Öffnung im Scheitel besitzt der Gliedermann noch eine weitere, kleinere runde Öffnung im linken Schulterblatt, welche mit einem Stöpsel verschlossen ist. Da alle anderen Gliederpuppen dieses Merkmal nicht aufweisen, ist anzunehmen, dass dieser Zugang nachträglich,

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

D e r Ha m b u rge r G l i e d e r m a n n 2 3 Im Bestand des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe findet sich ein preziöser Gliedermann (Bild 217).24 Mit 24 cm ist es die größte der zur Werkgruppe gehörenden Statuetten. Sie weist den Körper und die Physiognomie

Bild 217–219  Monogrammist IP: Männliche Gliederpuppe, 1520–1530, Buchsbaumholz, 24,0 cm, Inv. Nr. 1960.58, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (Fotografien des Verfassers).

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etwa bei Reparaturarbeiten, hinzugefügt wurde. Auch bei der männlichen Gliederpuppe wurde später ein die Schamgegend bedeckendes Feigenblatt hinzugefügt. Dank an Christine Kitzlinger vom Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg für die Möglichkeit einer Inaugenscheinnahme des Hamburger Gliedermannes. Die Gliederpuppe wurde vom Museum 1960 im Kunsthandel erworben. Zu ihrer Provenienz sind keine weiteren Hinweise bekannt.

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eines Mannes von etwa 40 Jahren auf. Wie die Innsbrucker Figuren bildeten die Gliederpuppen aus Leipzig und Hamburg, so wird vermutet, einst ein zusammengehöriges Paar. Dies scheint insofern plausibel, als die Leipziger Gliederpuppe mit ihrem vergleichsweise fortgeschritteneren Alter am ehesten das Pendant zum betagteren Hamburger Gliedermann darstellen könnte.25 Der hagere Körper der Hamburger Statuette offenbart sich im Oberkörperbereich als expressiv durchgestaltet, wenngleich graduell weniger sehnigmuskulös als der des Innsbrucker Gliedermanns. Allerdings sind beim Hamburger Stück etwa die Oberschenkelmuskulatur und besonders die Knieregion deutlich definierter geschnitzt worden. Durch das Zusammenziehen der Schulterblätter wird die Oberflächenmuskulatur des Rückens effektvoll gesteigert; fein, glatt und doch definiert sind Muskelstränge und Knochen wiedergegeben. Die Physiognomie des Hamburger Gliedermanns erscheint, im Vergleich mit den eher typisierenden Gesichtszügen der Gliederfrau aus Berlin oder des Innsbrucker Gliedermanns, charakteristisch und markant (Bild 218). Wangen-, Stirn- und Nasenknochen der Figur sind stark ausgeprägt und vor allem die scharf blickenden Augen geben dem Gesicht einen konzentrierten, beherrschten Ausdruck. Der lockige, symmetrische Vollbart wird von einem stattlichen Schnurrbart dominiert. Das Haupt bekrönt ein geflochtener Lorbeerkranz, unter dem in antiker Manier gestaltete Locken hervortreten (Bild 219). Oberhalb des Kranzes kann das Schädeldach abgenommen werden und erlaubt somit den Zugang zum Bewegungsmechanismus.26

D e r G l i e d e r m a n n a u s M a d r i d 27 Der im Museo Nacional del Prado in Madrid verwahrte Gliedermann unterscheidet sich deutlich von den vorausgegangenen Gliederpuppen der Werkgruppe durch ein zusätzliches Bauelement: Im Gegensatz zu den anderen Statuetten

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Dies wurde zuletzt von Reisinger-Weber angenommen: „Beide sind gleichen Alters. Darüber hinaus sprechen m. E. der Blumenkranz der Leipziger und der Lorbeerkranz der Hamburger Puppe für die Zugehörigkeit der Puppen zueinander. Sie zeichnen sich auf Grund dieser Besonderheit aus und verlangen nach einem ebenso besonders gestalteten Pendant.“ Reisinger-Weber: Der Monogrammist IP, S. 117. Der rechten Hand fehlen Zeige- und Mittelfinger, links ist allein der Ringfinger erhalten, zugleich sind dem rechten Fuß nur zwei, dem linken Fuß nur eine Zehe geblieben. Verschiedene kleinere Absplitterungen sind an den dünnen Randpartien der Kugelgelenke zu vermerken, am Kopf sind kleinere Ausbrüche der Locken zu verzeichnen und auch das Geschlecht ist unterhalb des fein gelockten Schamhaars abgebrochen. Stephan Schröder vom Museo Nacional del Prado in Madrid sei für die ermöglichte Begutachtung der Statuette sowie die gemeinsame Diskussion des Stückes vielmals gedankt.

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

Bild 220a–b  Monogrammist IP: Männliche Gliederpuppe, 1520–1530, Buchsbaumholz, 23,7 cm, Inv. Nr. E00484, Museo Nacional del Prado, Madrid. (Farb­tafel 22)

ist bei dieser auch der Unterkiefer be­ weglich, sodass bei geöffnetem Mund eine Zunge sichtbar wird und er Essoder Sprechbewegungen vollführen kann (Bild  220a–b).28 Dennoch wirkt der Gliedermann aus Madrid heute im Vergleich zu den anderen Gliederpuppen etwas gröber und weniger anatomisch durchgeformt, insbesondere aufgrund der deckenden, roséfarbenen Lackschicht, mit welcher er in späterer Zeit überzogen wurde.29

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Dieser befindet sich seit 1950 in spanischem Staatsbesitz und wird im Museo del Prado aufbewahrt; zuvor war er Eigentum des Conde de Valencia Don Juan. Zur Provenienz vgl. Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 44 sowie Rosario Coppel Aréizaga (Hg.): Museo del Prado. Catálogo de la escultura de época moderna. Siglos XVI–XVIII, Madrid 1998, S. 102 m. weiterer Lit. Francisco Javier Sánchez Cantón spricht von einer „leve pintura rosada“: Francisco Javier Sánchez Cantón: Un maniquí del siglo XVI, in: Archivo Español de Arte XXV (1952), S. 101–109, hier S. 103. Reisinger-Weber bezieht diese Wirkung vor allem auf die „weniger polierte Oberfläche“ und das „kantigere“ Aussehen. ReisingerWeber: Der Monogrammist IP, S. 120.

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II  Kunst

Die Figur weist einen den Statuetten aus Hamburg und Innsbruck vergleichbar schlanken, ausdefinierten Körperbau sowie einen entsprechend gestalteten Oberkörper mit analogem Brustbein, Brustwarzen und Rippenbogen auf. Kräftiger fallen die Nackenmuskeln aus, auch ist die V-Form des Oberkörpers mit breitem Kreuz und schmaler Taille deutlicher verwirklicht. Gleich der Gliederpuppe aus Hamburg besitzt der Madrider Gliedermann einen lockigen Vollbart, wobei der Haaransatz des Hauptes nicht gleichermaßen fein und detailliert, sondern undefiniert und mit dem Gesicht verschliffen scheint. Gleich dem Hamburger Exemplar ist die Kalotte abnehmbar. Aus schemenhaften Pupillen ist der Blick der Statuette nur noch andeutungsweise zu erschließen.30 Als einzige Statuette wurde der Gliedermann einst zusammen mit einem truhenförmigen Futteral aus Tannenholz und drei Zetteln aufbewahrt:31 Auf einem dieser kleinen Schriftstücke war in einer Handschrift des späten 16. Jahrhunderts „Maniquí de Alberto Durero“ zu lesen; ein zweiter Zettel, wohl aus dem 17. Jahrhundert, nannte Dürers Namen nebst Inventarnummer „Casa 20“ erneut, während auf einem dritten Zettel noch „Corado“ entzifferbar war. 32 Neben den erhaltenen Stücken ergänzten einst drei weitere Figuren die Werkgruppe: das seit dem Zweiten Weltkrieg verschollene Paar einer weiblichen und männlichen Gliederpuppe, welches durch verschiedene Text- und Bildquellen erschlossen werden kann, sowie eine nur schriftlich bezeugte Gliederpuppe derselben Machart.

D a s Pa a r a u s d e r Be rl i n e r A k a d e m i e d e r Kü n s te Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war in der Berliner Akademie der Künste ein weiteres Paar aus der Werkgruppe erhalten (Bild 221a–222b). Die jeweils nur etwa 19 cm hohen Gliederpuppen, welche seit 1945 als verschollen gelten müssen,33 offenbaren allein aufgrund der erhaltenen historischen Fotografien ihre erstaunliche, vital-körperliche Präsenz. Die ausdrucksvoll geschnitzten Figuren 30

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Die bei allen anderen Gliederpuppen am feinsten ausgestalteten feinen Körperpartien, etwa Schamgegend oder Äderungen, sind hier teilweise abgeschliffen, die Gelenkpfannen, vor allem in der Bauchregion, unregelmäßig ausgebrochen, vierter und fünfter Finger der rechten Hand fehlen. Die Muskelpartie der Oberarme ist auf unnatürliche Weise am Ellenbogengelenk übergangslos abgeschrägt, wohl um einen steileren Bewegungswinkel der Arme zu ermöglichen. Das Kästchen hatte die Maße 26,9 × 9,2 × 5,6 cm. Vgl. Sánchez Cantón: Un maniquí del siglo XVI, S. 102. Bei der Begutachtung der Statuette am 11. März 2010 waren indes das Kästchen ebensowenig wie der beschriftete Zettel im Depot auffindbar. Ebd., S. 102 f.; Aréizaga (Hg.): Museo del Prado. Catálogo de la escultura, S. 102. Vgl. Ingrid Hägele/Gudrun Schmidt/Gudrun Schneider (Hg.): Kriegsverluste der Preußischen Akademie der Künste, Berlin 2005, S. 45, Nr. 114 u. Nr. 115 mit Kurzbeschreibung und Abbildungen.

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

Bild 221a–b  Monogrammist IP: Männliche Gliederpuppe, 1520–1530, Buchsbaumholz, ca. 19 cm, ehemals Akademie der Bildenden Künste Berlin, Kriegsverlust.

weisen im Vergleich zu den erhaltenen Stücken wohl den höchsten Grad anatomisch-präziser Ausarbeitung auf. Feinste, von dünnen Adern überzogene Muskelpartien erzeugen bei der männlichen Figur einen sehnigen, beinahe asketischen Leib, der im Verbund mit dem kunstvoll geschnitzten Charakterkopf, der demjenigen des Hamburger Exemplars wohl am meisten ähnelt, größte Ausdruckskraft verleiht. Alle Körperbereiche sind präzise ausgeformt, sogar jene bei anderen Gliederpuppen summarisch gestalteten Bereiche wie die Beckenknochen, der Nabel oder die Rückenmuskulatur. Auch hier ist der Schambereich minutiös und unverdeckt wiedergegeben, wobei er in seiner völlig intakten Form wichtige Rückbezüge zu den anderen Stücken erlaubt. In seiner auf höchster

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II  Kunst

Bild 222a–b  Monogrammist IP: Weibliche Gliederpuppe, 1520–1530, Buchsbaumholz, ca. 19 cm, ehemals Akademie der Bildenden Künste Berlin, Kriegsverlust.

anatomischer Genauigkeit beruhenden Gestaltung verweist dieses Stück schließlich auch auf die Gliederpuppen-Écorchés.34 Die Gliederfrau scheint noch naturgetreuer als etwa die Leipziger Gliederpuppe verwirklicht, wie die sanfte Muskulatur der Rückenpartie, ihre Knie oder ihr Schambereich bezeugen. Mit den anderen Statuetten gemein sind ihr die sehr weiblichen Körperformen, insbesondere die kugelig aufgesetzten Brüste. Ohne Kopfbedeckung differiert ihre Haartracht jedoch in auffälliger Weise: Die langen Haare durch einen Wickelzopf kunstvoll bändigend, wird ihre Frisur auf der Stirn von einem Diadem bekrönt, das ein Band im Nacken fixiert.35

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Vgl. dazu Kap. I.3.b) Anatomische Gliederpuppen. Das Diadem zeigte Ernst Friedrich Bange zufolge ein brennendes, zersägtes Herz. Bange: Die Bildwerke in Holz, Stein und Ton, S. 41.

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

E i n Gl ie der m a n n au s de m Be sit z A r p ad We i x lg ä r t ner s Arpad Weixlgärtner führt in seiner grundlegenden Untersuchung zur Werkgruppe der hölzernen Statuetten noch eine weitere, männliche Gliederpuppe auf, welche sich einst im Besitz eines steirischen Klosters befunden hatte.36 Weixlgärtner hatte die Figur von Hermann Egger, Ordinarius für Kunstgeschichte in Graz, 1942 als Geschenk erhalten. Drei Jahre später ging sie durch einen Brand verloren. Obgleich die Gliederpuppe schlecht erhalten war – ihr fehlten beide Arme und das Geschlecht – charakterisiert sie Weixlgärtner als „besonders feine Arbeit“37. Mit einer Länge von 22 cm bis 23 cm entsprach sie der durchschnittlichen Größe der Werkgruppe, wobei sie wie die Hamburger und Madrider Gliedermänner ein bärtiges Gesicht aufwies. In der Zusammenschau stellen die Gliederpuppen aufgrund ihrer Analogien in Körpergestaltung, technischer Ausführung und gleichartiger Bewegungsmechanik einen zusammengehörigen Werkkomplex dar. Die männlichen Gliederpuppen aus Madrid, Hamburg und Innsbruck sowie der verlorene Gliedermann aus Berlin sind im Vergleich zu den weiblichen Exemplaren anatomisch exakter durchgeformt. Die definierten Muskelpartien und die feinen Äderungen an Gliedmaßen und Schläfen zeichnen diese Gliederpuppen besonders aus. Zudem stellen sie unterschiedliche Lebensalter dar: ist der bartlose Innsbrucker Gliedermann als Jüngling zu beschreiben, so scheint die Gliederpuppe aus Madrid noch etwas älter zu sein als die Exemplare aus Hamburg und der Berliner Akademie. Allen weiblichen Gliederpuppen aus Berlin, Leipzig und Innsbruck, wie auch der verlorenen aus der Berliner Akademie, liegt eine vergleichbare Körperauffassung zugrunde. Sie sind mit weicheren Konturen als ihre männlichen Gegenstücke versehen, die rundlichen Proportionen sind besonders deutlich beim Leipziger Exemplar durch die größer dimensionierte Bauchkugel zu beobachten. Auch bei den weiblichen Statuetten kann eine Verwirklichung unterschiedlicher Lebensalter ausgemacht werden, wenngleich sich das Bemühen manifestiert, alle in der Blüte ihres Lebens wiederzugeben. Überdies reicht ihr Gesichtsausdruck von markanter Ernsthaftigkeit des Leipziger Stückes bis zum fast heiteren Ausdruck der erhaltenen Berliner Gliederpuppe. Die Haare der Frauen sind, außer bei der verlorenen Gliederpuppe aus der Berliner Akademie, fast gänzlich unter Kopfhauben versteckt.38 Jene die 36 37 38

Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 48. Ebd. Reisinger-Weber vermutet, dass diese Kopfbedeckungen, ebenso wie die kurzen Haare der männlichen Gliederpuppen, notwendig waren, um die Beweglichkeit der Figuren im Halsbereich nicht zu beeinträchtigen. Reisinger-Weber: Der Mono-

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II  Kunst

Gliederpuppe aus dem Bode-Museum schmückende Art der leichten Netzhaube löste gegen Ende des 15. Jahrhunderts die voluminösere, Haare sowie einen Teil des Gesichts verhüllende Leinenhaube ab.39 Die mit verschiedenen Bändern und Blütenstickereien versehe Kopfbedeckung der Innsbrucker Gliederfrau sowie die Zopffrisur mit Diadem der Statuette aus der Berliner Akademie zeugen von einem deutlich höheren technischen Aufwand. Vor allem im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts erscheinen Hauben in Mode und Alltag in vergleichbarer facettenreicher Gestaltung40 wodurch jedoch kein eindeutiger Hinweis für eine Datierung gegeben ist, da der Schnitzer möglicherweise auf Haubenmoden früherer Zeiten zurückgegriffen haben könnte. Für die verschiedenartige Verwendung von Hauben, Haarbändern, Zöpfen und Kränzen gab es exakte Gebrauchsanweisungen und verbindliche gesellschaftliche Normen.41 So war durch die staatlichen und kommunalen Kleider- und Trachtenordnungen genau geregelt, welche Kopfbedeckung den Angehörigen der jeweiligen sozialen Klasse zustand und in welchem Maße diese mit Schmuck und Zierrat versehen sein durfte.42 Durch die mannigfaltig gearteten und unterschiedlich verzierten Kopfputze der Statuetten kann somit, neben der Verwirk-

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grammist IP, S. 55. Hauben verschiedener Gestalt wurden bereits seit dem 12. Jahrhundert als Kopfbedeckungen getragen, um das lange Haar zu schützen und zu verbergen. Vgl. Hans-Friedrich Foltin: Kopfbedeckungen und ihre Bezeichnungen im Deutschen, Gießen 1963, S. 195 ff. sowie Gunvor Krogerus: Bezeichnungen für Frauenkopfbedeckungen und Kopfschmuck im Mittelniederdeutschen, Helsinki 1982, S. 59. Jutta Zander-Seidel: Textiler Hausrat. Kleidung und Haustextilien in Nürnberg um 1500–1650, München 1990, S. 106. Die Autorin weist bezüglich dieses Wandels des Haubentyps auf das Porträt der Augsburger Patriziertochter Barbara Ehem von 1507 aus der Hand Hans Burgkmairs hin. Es zeigt sie mit einer modernen Goldhaube, welche in ihrer Anlage den Netzhauben der Gliederpuppen entspricht. Eine Röntgenaufnahme des Bildes offenbart, dass die Porträtierte ursprünglich eine einfache, helle Stoffhaube trug, welche dann wenig später übermalt und dabei von der moderneren, filigranen Netzhaube ersetzt worden war. Ebd. S. 107, Bild 27 u. 28. Bei prominenten Malern und Bildhauern dieser Zeit sind Hauben von der einfachen Leinenhaube, etwa bei Albrecht Dürers Bildnis der Felicitas Tucher (1499, Staatliche Kunstsammlungen Weimar) oder Hans Holbeins Porträt einer 34-jährigen Frau (1515/1516, Kunstmuseum Basel), bis zur reich und kunstvoll verzierten Netzhaube, etwa bei Lucas Cranach d. Ä. Venus (1532, Städelmuseum Frankfurt a. M.) zu beobachten. Der kunstvoll kranzförmig hochgesteckte Zopf findet sich beispielsweise bei den weiblichen Holzstatuetten des Conrat Meit, so bei einer Statuette der Judith (1512/1514, München), oder auch bei zwei seiner Eva-Figuren (um 1510, Schloss Friedensstein Gotha, und nach 1530, Kunsthistorisches Museum Wien). Zander-Seidel: Textiler Hausrat, S. 104. Vgl. Carsten-Peter Warncke: Rationalisierung des Dekors. Über Kleidung, Schmuck und Verschönerung in der Frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hg.), Schöpfungsträume und Körperbilder, 1500–2000, Wien 1998, S. 159–173, hier S. 161 ff.

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

lichung verschiedener Lebensalter, bei den weiblichen Gliederpuppen eine Umsetzung verschiedener sozialer Schichten ausgemacht werden. Die Gliederpuppen sind bezüglich ihrer Größe, ihrer Proportionen, ihrer Körperbildung und der bei allen Statuetten übereinstimmenden Bewegungsmechanik auf das Engste miteinander verwandt, wenngleich innerhalb der Werkgruppe Unterschiede, etwa im Grad der anatomischen Durchgestaltung, den Kopfbedeckungen oder auch der Größe erkennbar bleiben.43 Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass alle Statuetten vom selben Künstler stammen. Die in bisherigen Untersuchungen gezogenen Vergleiche zwischen diesen Statuetten und den gesicherten Werken des Bildschnitzers mit dem Notnamen ‚Monogrammist IP‘ lassen den Schluss zu, dass er der Urheber der feinen Gliederpuppen ist.44 Dasselbe Körperverständnis und identische anatomische Auslegungen, wie sie in den bekannten monogrammierten Reliefs sowie den ihm zugeschriebenen Werken zutage treten, können im selben Maße bei den Gliederpuppen festgestellt werden.45 Die analysierten Körperformen der Statuetten lassen außer der Feststellung ihrer Zusammengehörigkeit auch einen Schluss über die Chronologie 43

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Auch innerhalb seiner Sündenfall-Reliefs zeigt der Monogrammist IP keine schematische Vorgehensweise, sondern neu kombinierte, innovative Kompositionen. Bei den Gliederpuppen exemplifiziert, neben den unterschiedlichen Details, das zusätzlich bewegliche Kiefergelenk beim Madrider Gliedermann die Experimentierfreudigkeit des Schnitzers. Die Möglichkeit, dass es sich bei den Statuetten um Werke aus der Werkstatt des Schnitzers IP handelt, und die feinen Köpfe vom Meister selbst, die z.T. weniger detaillierten (weiblichen) Körper von Gehilfen geschnitzt wurden, ist insofern unwahrscheinlich, da Proportionen und Passgenauigkeit aller Einzelteile einer jeden Gliederpuppe individuell gestaltet wurden. Nur wenn zwei oder mehrere Puppen völlig übereinstimmende Maße aufwiesen, könnte von einem zugrundeliegenden, unter den Schnitzern vereinbarten Muster ausgegangen werden. Vgl. auch Reisinger-Weber: Der Monogrammist IP, S.  56. Für eine ausführliche Übersicht und Analyse der Zuschreibungen vgl. Markus Rath: Die Berliner Gliederpuppe, Magisterarbeit Humboldt-Universität zu Berlin 2008. So sind die hageren, sehnig-athletischen männlichen Körper, mit perlstabförmigem Rippenbogen und über dem Brustbein gespannten Hautpartien ebenso wie die üppigeren und dabei summarischer erfassten weiblichen Figuren charakteristisch. Alle Figuren zeichnen sich durch expressive Gesichtszüge aus. Tätig im südwestdeutsch-österreichischen Raum, dem Gebiet zwischen dem Städtedreieck Nürnberg, Passau und Salzburg, reicht das Werk des ‚IP‘ von Kleinplastiken über Reliefs bis hin zu großplastischen Altären. Die Künstlerpersönlichkeiten mit den Notnamen ‚Monogrammist/Meister IP‘, ‚Meister von Irrsdorf‘, ‚Monogrammist AD‘ und ‚Monogrammist Adam D‘ wurden über Jahre hinweg in verschiedenen Kombinationen zu einer einzelnen Person verquickt. So wurde der Monogrammist IP lange Zeit mit dem Meister von Irrsdorf gleichgesetzt. Die Analyse Reisinger-Webers liefert eine Aufschlüsselung jener Künstler aus dem Umkreis des Monogrammisten. Vgl. Reisinger Weber: Der Monogrammist IP, S. 71–87 sowie zu den Gliederpuppen Kat. 7–14 m. weiterer Lit.

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II  Kunst

der Entstehung der Werkgruppe zu. Geht man von einer Evolution der Komplexität von Körperformen, Kopfschmuck und der symbolischen Gestaltung aus, so ist das Berliner Stück, in seiner eher summarischen physischen Gestaltung und der einfachen Netzhaube, an den Anfang der Werkgruppe zu stellen. An dessen Ende steht das verlorene Paar aus der Akademie, dessen Körperformen am konsequentesten und am differenziertesten durchgestaltet worden sind.

b   Best i m mu ngen Atel ierh i l f sm it tel o der Ku n st k a m mer st üc k? Keine weiteren bis heute bekannten Gliederpuppen weisen dieselbe minutiöse Ausarbeitung wie die Gliederfiguren des Monogrammisten IP aus dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts auf. Wenngleich der Grad naturnaher Körpergestaltung innerhalb der Werkgruppe differiert, offenbaren die Statuetten ein distinktes einheitliches Körperverständnis, das auch bei anderen kleinplastischen Arbeiten des Schnitzers zutage tritt.46 Am ehesten vergleichbar scheinen sie hinsichtlich ihrer kontinuierlichen, das Gliederungssystem überspielenden Passgenauigkeit mit den drei Gliederpuppen aus dem frühen 17. Jahrhundert (Bild 206a–b, 207). Die kleinen, wirklichkeitsgetreuen Gliederfigurinen IPs sind hingegen kaum mit bildlichen Darstellungen von Gliederpuppen vergleichbar, allenfalls mit den zeitgleich entstandenen Federzeichnungen Dürers, der das konstruierte Bild  eines jungen Mannes mit einem Kugelgelenk als Hals ausgestattet hatte. Der Vergleich der Aktfiguren Dürers (Bild 164–167) mit dem Innsbrucker Gliedermann verführt indes zu voreiligen Analogien bezüglich der Figurenkonstruktionen. Obwohl alle Gliederpuppen des Monogrammisten IP dem Vitruvschen Körpermaß von acht Kopflängen annähernd folgen,47 sind sie 46

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Reisinger-Weber sieht die Körperauffassung des Schnitzers IP reziprok durch die Gliederpuppen beeinflusst: „Bemerkenswert ist die Betonung der Gelenke, so die der breiten Schultern und der Knie, die auch bei den Gliederpuppen […] festzustellen ist. […] Auffällig ist die Bildung der Kniepartie, bei der die Kniescheibe aus zwei unterschiedlich großen abgeflachten Knochenplatten gebildet wird. Dies ist durch den Gebrauch der Gliederpuppen als Modell in bezug auf das Standmotiv zu klären, da aufgrund des Kugelgelenks bei diesen die Kniescheibe geteilt ist.“ ReisingerWeber: Der Monogrammist IP, S.  34. Die Autorin nimmt für die Figur des Hl. Sebastian (Bode-Museum Berlin) eine Gliederpuppe als Modell an (ebd., S. 130), ebenso für den Sündenfall von 1521 aus der Österreichischen Galerie, Wien (ebd., S. 19) und die Beweinung, heute in der Eremitage, St. Petersburg (ebd., S. 30). Gleichzeitig betont sie, dass „bis heute die Funktion der Puppen […] ungeklärt“ ist und diese „wohl nicht für den Werkstattgebrauch geschnitzt“ wurden. Ebd., S. 56. Die Körperlänge der Berliner Gliederpuppe entspricht genau ihrer achtfachen Kopflänge. Viele andere der Vitruvschen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Körpers, etwa, dass die Distanz zwischen Brustmitte und Scheitel einem Viertel der Gesamt-

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Bild 223  Gegenüberstellung einer weiblichen Gliederpuppe des Monogrammisten IP (Bode-Museum, Berlin) mit Albrecht Dürers Proportionsdarstellung einer Frau von acht Kopflängen.

deutlich schlanker als die Figuren desselben Maßverhältnisses bei Dürer, wie eine Gegenüberstellung der Berliner Puppe mit einer Körperstudie aus Dürers Proportionslehre zeigt (Bild  223). Unterschiede sind insbesondere in Beckenund Brustbereich auszumachen, wodurch gleichermaßen sichtbar wird, dass die schlankere Gestalt der Statuette nicht allein durch die Kugelgelenke bedingt ist. Zudem sind ihre Beine etwas länger, der Oberkörper kürzer als bei Dürers Proportionsfigur. Gleichwohl scheint die Werkgruppe von den Figurenkonstruktionen Dürers beeinflusst. länge entspricht, sind hingegen nicht präzise umgesetzt. Zu Vitruvs Proportionslehre in der Renaissance vgl. Frank Zöllner: Vitruvs Proportionsfigur. Quellenkritische Studien zur Kunstliteratur im 15. und 16. Jahrhundert, Worms 1987.

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II  Kunst

Ein umfassender Abgleich der Maßverhältnisse der Dürerschen Proportionen mit den Ausmaßen der Gliederpuppen wird derzeit von Elisabeth Weymann vorgenommen.48 Untersucht werden die Statuetten dabei vor dem Hintergrund von Dürers ‚Messstabverfahren‘, mit welchem er die Proportionen seiner Konstruktionsfiguren zu erkunden suchte, und das er aus der von Alberti in De Statua beschriebenen ‚Hexempeda‘-Messung entwickelte.49 Während der Hamburger Gliedermann in vielen Maßverhältnissen mit denen des Schlanken Mannes aus Dürers Proportionslehre übereinstimmt, scheren die Leipziger und die Berliner Gliederpuppe wiederholt leicht aus dem vorgegebenen Schema aus.50 In Hinblick auf ihre teils überlängten Arme streben sie offensichtlich zum Ideal des homo ad circulum. Insbesondere die Madrider Gliederpuppe kann Weymann zufolge als unmittelbare Umsetzung der Dürerschen Proportionslehre bestimmt werden, sodass diese im Umkehrschluss gewissermaßen als ‚Bauanleitung‘ der Gliederfiguren IPs fungiert haben könnte.51 Damit erweisen sich die variablen Statuetten als weiterentwickelte Verkörperungen eines reflektierten zeitgenössischen Körperideals. Bei Gliederpuppen aus späterer Zeit tritt neben ihren gröberen, schematisierten Formen der jeweilige Konstruktionsmechanismus teilweise auffallend zutage, der umso stabiler verwirklicht sein musste, je intensiver der Einsatz im Atelier von statten gehen sollte. Den schriftlichen Quellen zufolge waren auch die vorausgehenden Gliederpuppen der italienischen Renaissance, in deren technischer Tradition die Werkgruppe steht, als größere und einfacher konstruierte Atelierhilfsmittel angelegt.52 Wenngleich für den Monogrammisten IP die Kenntnis derartiger Modellfiguren angenommen werden muss, widersprechen seine kleinplastischen Gliederpuppen aufgrund ihrer Größe und Gestalt der bei

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Elisabeth Weymann: „Meister IP“ (zugeschrieben): Gliederpuppe einer Frau, Gliederpuppe eines Mannes, in: Ausst. Kat.: Dürer. Kunst – Künstler – Kontext, hg. v. Jochen Sander, Frankfurt a. M. 2013, S. 164–165. Elisabeth Weymann sei an dieser Stelle für die Diskussionen und die Einsicht in ihre bislang nur teilweise publizierten Forschungen herzlich gedankt. Vgl. Leone Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hg. v. Oskar Bätschmann u. a., Darmstadt 2000, S. 169–179, Kap. 17 f. Dürer teilte den Messstab (1:6) in zehn „Zall“ (1:60), diese in zehn „Teil“ (1:600) und schließlich jedes Teil in drei „Trümlein“ (1:1800), um mit diesem fein aufgefächerten Messsystem die Körpermaße miteinander in Verhältnis zu setzen. Vgl. Weymann: „Meister IP“, S. 164. Ebd. Elisabeth Weymann: Die Gliederpuppen des Meisters IP – ein skulpturales Erbe der Dürerschen Proportionslehre, in: Ji rˇ í Fajt/Susanne Jaeger (Hg.): Das Expressive in der Kunst 1500–1550. Albrecht Altdorfer und seine Zeitgenossen, Berlin 2017 (im Erscheinen; Dank an Elisabeth Weymann für die ermöglichte Einsichtnahme in das Manuskript). Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 54.

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Filarete und Vasari beschriebenen Aufgabe des Draperiestudiums. Für das Erfassen des Faltenwurfs, das genuin mit der Entwicklung des Ateliersmodells in Zusammenhang steht, sind diese Gliederpuppen ungeeignet. Zwar haben die inneren Schnüre im Laufe der Jahrhunderte an Spannkraft verloren, doch selbst bei einem ursprünglich fester gezogenen Schnursystem erscheint ein Behängen der Gliederfiguren mit unterschiedlichen Stoffen als abwegig.53 Die Entstehung der Werkgruppe des Monogrammisten IP fällt genau in die Zeit einer durch die Reformation ausgelösten Periode der Depression religiöser Auftragswerke. Das Auskommen der Künstler musste zunehmend durch profane Aufträge gesichert werden.54 Dies begünstigte eine Blüte der Kleinplastik, die wiederum eng mit der Geschichte des Sammelwesens verknüpft ist.55 Das für Kenner angefertigte kleinformatige Werk verschaffte ästhetischen Genuss durch Betrachten und Betasten desselben.56 Die wie ein Handschmeichler glatt polierten, leichten und beweglichen Statuetten, die umso faszinierender sind, je mehr man sich ihnen annähert, entsprechen diesen Anforderungen in besonderem Maße. Der Ausdrucks- und Variantenreichtum, sei es hinsichtlich der Körperfülle, des Kopfschmucks oder des Alters der Puppen, lässt sich schlüssig durch Auftraggeberwünsche erklären. Diese bei jeder einzelnen Puppe eigentümlichen Besonderheiten und der zeitintensive und damit kostspielige Herstellungsprozess jeder einzelnen Statuette legen vielmehr eine Bestellungssituation als eine Anfertigung aus Eigeninitiative nahe, weshalb anzunehmen ist, dass die Gliederpuppen des Schnitzers IP für die Sammlungen kundiger Kenner bestimmt waren.57 53

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In diesem Sinne bestritt auch Weixelgärtner vehement den ‚klassischen‘ Einsatz dieser Gliederpuppen: „schlichte, ehrliche Arbeitsbehelfe, Lehrmittel waren sie nicht! Dazu waren sie zu heikel und zu kostspielig.“ Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 54. Vgl. Christine Göttler, Peter Jezler: Das Erlöschen des Fegefeuers und der Zusammenbruch der Auftraggeberschaft für sakrale Kunst, in: Christopher Dohmen/ Thomas Sternberg (Hg.): …kein Bildnis machen: Kunst und Theologie im Gespräch, Würzburg 1987, S. 119–148. So stellt Jörg Rasmussen fest: „Plastische Gebilde kleinen Formats hat es natürlich zu allen Zeiten gegeben; der Begriff der Kleinplastik sollte aber, streng genommen, erst bei solchen Bildwerken Anwendung finden, die für Sammler und Kenner bestimmt waren. […] Im Vordergrund steht das Motiv des ästhetischen Genusses, den das ausdrücklich als selbständiges Kunstwerk verstandene Objekt seinem Besitzer verschafft.“ Jörg Rasmussen: Deutsche Kleinplastik der Renaissance und des Barock, Bildhefte des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, Bd. 12, Hamburg 1975, S. 5. Ebd. Aus ihrer Bestimmung als Sammlerstücke leitet Carlos Obergruber-Boerner auch die Zuschreibung aller Statuetten an ein und denselben Schnitzer ab: „Dort [in e. Sammlung] könnte das erste dieser Paare Besuchern gezeigt worden sein, die dann aus derselben Hand etwas Gleichartiges zu besitzen wünschten. Dies wird wohl

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II  Kunst

Im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert am französischen Hof Charles VI. (1368–1422) und des Herzogs Jean de Berry (1340–1416) sind die ersten Anzeichen eines modernen Sammlungsverständnisses auszumachen,58 indem sich die Privatsammlung aus der mittelalterlichen Schatzkammer herauszubilden begann. Neben vielen bedeutenden Sammlern südlich der Alpen, wie Lorenzo de‘ Medici (1449–1492) oder Isabella d’Este (1474–1539), sind Mäzene und Auftraggeber auch nördlich der Alpen auszumachen. Hier zeichnet sich im 16. Jahrhundert, sowohl beim Adelsstand als auch beim aufstrebenden Bürgertum, eine vergleichbar gezielte Sammeltätigkeit ab, welche in Kunst- und Wunderkammern in Nürnberg, Innsbruck, München, Augsburg oder Basel münden sollte.59 In der Entstehungsregion der Gliederpuppen des IP waren es namentlich Willibald Pirckheimer (1470–1530), dessen Sammlung später an den Nürnberger Patrizier Willibald Imhoff (1519–1580) überging und von diesem erheblich erweitert wurde, sowie Paulus Praun (1548–1616), die als Protagonisten bürgerlichen Sammelwesens Bekanntheit erlangten. Diese Kunstkammern des 16. Jahrhunderts bargen neben mineralischen, vegetabilen und animalischen Sammlungsstücken (naturalia) Werke aller Kunstgattungen, darunter auch hölzerne Statuetten,60 und außergewöhnliche kunstgewerbliche Objekte (artificialia) sowie technische Gerätschaften (scientifica). In den Gliederpuppen des Monogrammisten IP scheinen sich Facetten aus all diesen Sammlungsbereichen zu spiegeln. Sie erfüllen, wie Sabine Epple präzisiert, „die Ansprüche der meist hochgebildeten Sammler in vielerlei Hinsicht: Sie verkörpern perfektes Handwerk und präzise Technik, verbunden mit künstlerischem, naturwissenschaftlichem

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auch die Ursache dafür sein, dass sich die erhaltenen Paare einzig auf ein und denselben Künstler zurückführen lassen.“ Carlos Obergruber-Boerner: Menschenpaare, in: Ausst. Kat.: Nackt. Die Ästhetik der Blöße, hg. v. Wilhelm Hornbostel/Nils Jockel, München u. a. 2002, S. 35–44, hier S. 41. Dagmar Eichberger: Leben mit Kunst. Wirken durch Kunst. Sammelwesen und Hofkunst unter Margarete von Österreich, Regentin der Niederlande, Turnhout 2002, S. 11 f. Vgl. ebd., S. 12 f. Die Kunst- und Wunderkammer des Erzherzogs von Tirol (1529–1595) auf Schloss Ambras bei Innsbruck war in einem erstmals eigens für eine Sammlung errichteten Trakt in 20 Schränken untergebracht. Unter den Exponaten fanden sich auch „Spielzeug und Wachsplastiken; Statuetten und Reliefs aus Holz.“ Rasmussen: Deutsche Kleinplastik, S.  9. Wie Bredekamp ausführt, kann eine die Exponate historisch gliedernde Viererkette „Natur-Antike-Kunstwerk-Maschine“ als „ideale Ordnung jenes Sammlungstyps […] der zwischen ca. 1540 und 1740 vorherrschenden, enzyklopädisch angelegten Kunstkammer“ gelten. Vgl. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, S. 33.

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

und nicht zuletzt spielerischem Aspekt.“61 Die mit einem besonders aufwendigen Fertigungsprozess verbundene Kleinteiligkeit der Gliederpuppen als einen Hinweis auf ihre Bestimmung als Sammlerstück in einer Kunstkammer zu werten ist plausibel, wurde doch die besondere Kunstfertigkeit durch die verminderte Größe gesteigert.62 Insgesamt offenbaren sich in den Gliederpuppen schließlich die Virtuosität und das Künstlerwissen der Frühen Neuzeit.63 IP bediente mit den gegliederten Kleinplastiken das anschwellende, sowohl künstlerisch als auch naturwissenschaftlich geprägte Sammlerinteresse, welches an den Höfen in Nürnberg, Prag und insbesondere Passau im 16. Jahrhundert allgegenwärtig war. Wie Jiˇrí Fajt jüngst annahm, kann für den Monogrammisten IP das gelehrte humanistische Umfeld am Hofe des Herzogs Ernst von Bayern (1500–1560) als zentrale Wirkungsstätte angenommen werden.64 Die Gliederpuppen verweisen insofern auf einen hochinformierten, seine Kunstfertigkeit unter Beweis stellenden Schnitzer, der sich, um einen derart komplexen und dabei variablen Leib zu schaffen, nicht allein anatomisches und physikalisches, sondern auch kunsttechnologisches Wissen aneignen musste – ohne die Invention der gedrechselten Kugelgelenke wäre ein derartiges Höchstmaß an Flexibilität kaum zu erreichen gewesen.65 Hinweise auf Gliederpuppen in Kunstkammerinventaren belegen, dass diese Modelle durchaus Einlass in derartige Sammlungen erhalten haben, doch scheint keines der über Inventare bekannten Stücke mit einer Statuette des IP übereinzustimmen.66 Zumindest ab 1725 war die Leipziger Gliederpuppe im 61 62 63

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Sabine Epple: Die Leipziger Gliederpuppe, Informationsblatt des Grassimuseums Leipzig, Grumbach 1993, S. 6. Eichberger: Leben mit Kunst, S. 410. Zum Begriff der Virtuosität vgl. Andreas Beyer: Virtuosität. Anmerkungen zur Vorgeschichte des Begriffs in der Bildenden Kunst, in: Hans-Georg von Arburg (Hg.): Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in der Literatur und Kunst der Moderne, Göttingen 2006, S. 35–43. Vgl. Ji rˇ í Fajt: Zum Erfolg eines Passauer Hofkünstlers – Der Monogrammist I.P. alias Hanslis und seine Bildsprache, Vortrag im Rahmen der Tagung Expressionismus um 1500, Leipzig, 25.–27. September 2013. Vgl. Rath: Creatio ex ligno. Das Inventar der herzoglichen Kunstkammer in München von 1598 verzeichnet sechs Gliederpuppen, sowohl weibliche als auch männliche. Vgl. Johann Baptist Fickler: Das Inventar der Münchner herzoglichen Kunstkammer von 1598, hg. von Peter Diemer, München 2004, Inv.-Nr. 354, 388, 1738 sowie 1968. In Bezugnahme auf die Berliner Gliederpuppe verweist Bange generalisierend auf die „große Beliebtheit derartiger Figuren […], die in keiner der großen Sammlungen, über die wir Inventare besitzen (z. B. Inventar der Margarete von Österreich), gefehlt haben.“ Bange: Die Bildwerke in Holz, Stein und Ton, S. 40; wie Weixlgärtner jedoch aufzeigt, ist Banges Angabe, dass mit den im Inventar der Margarethe von Österreich von 1524 benannten ‚manequin[s]’ Gliederpuppen gemeint sind, irreführend: „dort

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II  Kunst

Ratsschatz der Stadt aufbewahrt und damit spätestens seit diesem Zeitpunkt in eine Kunstkammer-ähnliche Sammlung integriert worden.67 Das einst mit der Statuette aus Madrid erhaltene Kästchen könnte sich indes als eine wohl ehemals allen Figuren zugedachte Aufbewahrungsform erweisen.68 Bei keiner der Gliederpuppen haben sich indes Kleidungsstücke erhalten. Dass sie eigens hergestellte Kleidung trugen, gleich den Kinderpuppen oder Prozessionsfiguren derselben Epoche, ist deshalb nicht sehr wahrscheinlich, da bekleidende Textilien die feine Ausarbeitung der Holzkörper, ein zentrales Merkmal für die Qualität der Statuetten, verdeckt hätten. Als miniaturisierte Menschenfiguren, die durch ihre Variabilität den Anschein potentieller Lebendigkeit in sich bergen, sind die Gliederpuppen zunächst als wertvoller Ausweis eines Natur, Kultur und Menschengestalt umfassenden Sammlungsverständnisses zu werten.

„Ga l a nte s Spiel z e u g“ Das Gliederpuppenpaar aus Innsbruck, das einst in der Berliner Akademie verwahrte Paar und die möglicherweise zusammengehörigen Gliederpuppen aus Hamburg und Leipzig lassen vermuten, dass der überwiegende Teil der bis heute bekannten Statuetten paarweise realisiert und aufbewahrt wurde. Diese Tatsache und die augenscheinliche Ausformung der Geschlechtsmerkmale – insbesondere diejenige der weiblichen Exemplare, mit kugelig aufgesetzten Brüsten, fein gelocktem Schamhaar sowie gewölbter Gesäß- und Bauchpartie – ließen Ernst Friedrich Bange zu dem Schluss gelangen, dass es sich bei den Statuetten um „galantes Spielzeug“ handeln könnte.69

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bedeutet es beide Male nichts anderes als Statuette.“ Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S.  55 u. Anm. 4, ebenso Sánchez Cantón: Un maniquí del siglo XVI, S. 106 u. Anm. 12. Epple: Die Leipziger Gliederpuppe, S. 1. Möglich ist allerdings, dass die Gliederpuppen des Schnitzers IP als preziöse Sammlungsstücke von Künstlerkollegen bestellt und aufbewahrt wurden. Eine Gliederpuppe im Nachlass des Malers Daniel Soreau (um 1560–1619) wurde in seinem Sammlungsinventar als „1 geschnitzt bildt, dz alle bewegung hatt“ beschrieben. Vgl. Rasmussen: Kleinplastik, S.  10. Auch der Madrider Gliedermann hatte sich vor seinem Erwerb durch den Prado und nach einer Zwischenstation in der Sammlung des Instituto Valencia de Don Juan wohl einst in der Sammlung eines spanischen Bildhauers befunden. Vgl. Michel: Deux Mannequins en bois du XVIe siècle, S. 136. Vgl. Herbert Beck: Von der Kunstkammer zum bürgerlichen Wohnzimmer, in: Ausst. Kat.: Natur und Antike in der Renaissance, hg. v. dems./Peter C. Bol, Frankfurt a. M. 1985, S. 282–304, hier S. 291. „[B]ei der Frage nach dem eigentlichen Sinn dieser seltsamen Geschöpfe, vielleicht auch gerade darum, dass sie paarweise auftreten, [wird man] den Gedanken nicht abweisen dürfen, dass es sich um galantes Spielzeug handeln mag, das dem Charakter und der Gesinnung der Zeit durchaus entsprechen würde.“ Vgl. Ernst Friedrich

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

Bange konkretisierte diese Annahme mit dem Zusatz, dass es sich auch deshalb um erotische, an einen Kreis erwachsener Kenner gerichtete Unterhaltungsmittel handeln müsse, da „die weibliche Figur in Leipzig einen schief über den Kopf gelegten Kranz, die Frau in der Berliner Akademie ein Diadem mit einem flammenden, von einer Säge zerteilten Herz trägt – wobei es sich keinesfalls nur um Zufälligkeiten handeln kann.“70 Weixlgärtner übernahm diese Ansicht, mit dem Hinweis, „dass in späterer, prüderer Zeit – und das ist das Ausschlaggebende – dreimal die Hinzufügung von Feigenblättern (am Paar in Innsbruck und an der Posonyi-Frau in Berlin) und einmal sogar eine barbarische Verstümmelung (am Mann aus dem steirischen Kloster) für notwendig erachtet worden ist.“71 Das paarweise Auftreten, die explizite Nacktheit, die Kopfbedeckungen zweier weiblicher Gliederpuppen und die ‚bildstürmerischen‘ Akte der Abtrennung des Geschlechts, beziehungsweise die spätere Anbringung der Feigenblätter, als Belege für eine ursprüngliche Zweckbestimmung der Gliederpuppen als erotische Erwachsenenspielzeuge wird den vielschichtigen Bedeutungsimplikationen jedoch nicht gerecht. Zwar zeugen die teilweise deftigen Darstellungen körperlicher Liebe aus dem späten Mittelalter, Szenen im Jungbrunnen, im Bad oder Bordell, von den offenherzigen Galanterien der Gesellschaft und wanderten auch in das frühneuzeitliche Kunsthandwerk als sinnliche Bildfindungen ein.72 Sollte der Auftrag an den Schnitzer jedoch vorgesehen haben, ein eindeutig erotisches Spielzeug herzustellen, so bricht sich dies auffallend an der Physiognomie der Statuetten. Die Gesichtsausdrücke der Gliederpuppen zeugen keineswegs von einem erotisierten Zustand. Außer einem angedeuteten Lächeln der Berliner Statuette sind alle anderen Physiognomien der Werkgruppe als neutral oder sogar als ernst zu beschreiben.73 Die Blicke der Figuren scheinen in sich gekehrt, insbesondere den weiblichen Statuetten fehlt der animierende

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Bange: Die Kleinplastik der deutschen Renaissance in Holz und Stein, Leipzig 1928, S. 49. Bange: Die Bildwerke in Holz, Stein und Ton, S. 41. Weixlgärtner: Von der Gliederpuppe, S. 54. Auch beim Madrider und beim Hamburger Gliedermann ist das Geschlecht ganz beziehungsweise teilweise abgebrochen. Ob es sich dabei jedoch um eine gezielte Abtrennung handelt kann aus heutiger Sicht nicht eindeutig bestimmt werden. Die Zweckbestimmung der Puppen als „galantes Spielzeug“ wurde vielfach in der Forschung übernommen. Vgl. Beck: Von der Kunstkammer zum bürgerlichen Wohnzimmer, S. 291. Vgl. allg. Gabriele Bartz, Alfred Karnein, Claudio Lange: Liebesfreuden im Mittelalter. Kulturgeschichte der Erotik und Sexualität in Bildern und Dokumenten, Stuttgart/Zürich 1994. Im Gesicht des Hamburger Gliedermanns beobachtet Rasmussen gar „scharf-bli­ ckende […] Augen und de[n] Ausdruck kühler Beherrschtheit“. Rasmussen: Deutsche Kleinplastik, S. 85, Kat. 6. Auch für Obergruber-Boerner ist der neutrale Ausdruck bei den Gliederpuppen aus Hamburg und Leipzig ausschlaggebend dafür,

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II  Kunst

Bild 224  Meister IR: Lebensalterdarstellung einer Zwanzigjährigen, Holzschnitt, Kupferstichkabinett, Berlin.

Impetus, welcher dem Betrachter eine sinnliche Schau auf erotische Frauendarstellungen der deutschen Malerei des 16. Jahrhunderts erst ermöglichte.74 Auch das schräg aufsitzende Blumenkränzchen der Leipziger Gliederpuppe, welches als Zeichen für deren verlorene Jungfräulichkeit beziehungsweise als moralische Anspielung gedeutet wurde,75 kann durch zeitgleiche, gewiss nicht primär erotisch konnotierte Beispiele entkräftet werden. Der Holzschnitt einer Zwanzigjährigen des Monogrammisten IR zeigt das generalisierende Bild einer jungen Frau, die schräg auf dem Kopf einen Blütenkranz trägt

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„dass die Annahme ihrer Verwendung zur Nachstellung erotischer Posen abwegig erscheint“. Vgl. Obergruber-Boerner: Menschenpaare, S. 40. Vgl. Robert W. Scribner: Vom Sakralbild zur sinnlichen Schau. Sinnliche Wahrnehmung und das Visuelle bei der Objektivierung des Frauenkörpers in Deutschland im 16. Jahrhundert, in: Klaus Schreiner/Norbert Schnitzler (Hg.): Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992, S. 309–330. „Angesichts des herabgleitenden Kränzchens auf der Haube der Frau aus Leipzig […] möchte man fast vermuten, daß auch eine sittlich-moralische Mahnung mit dem ‚nackendt weibspildt‘ ausgesprochen werden soll.“ Theuerkauff: Gliederpuppe, S. 170.

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Bild 225  Hans Bolsterer: Medaille der Ursula Gräfin zu Solms, 1546, Silber, ø 4,9 cm, Inv. Nr. 4863bß, Münzkabinett, Kunsthistorisches Museum, Wien.

(Bild 224). Auch die siebzehnjährige Ursula Gräfin zu Solms wurde auf einer Medaille des Nürnberger Bildschnitzers Hans Bolsterer (vor 1540–1573) mit Haube und schrägem Blumenkränzchen verewigt (Bild 225).76 Blumenkränze dienten als Kopfschmuck unverheirateter Mädchen, Hauben hingegegn wurden vor allem von verheirateten Frauen angelegt.77 Das herabgleitende Blütengebinde könnte insofern als Zeichen für das Entwachsen junger Frauen aus dem Mädchenalter gelesen werden und weniger die verlorene Jungfräulichkeit oder moralisch fragwürdiges Handeln junger Damen bedeuten. Die Leipziger Gliederpuppe erhielt damit eine zusätzliche Altersangabe für eine junge Frau in heiratsfähigem Alter. Eine ähnliche ikonographische Besonderheit, die auf den gezielten Wunsch seitens des Auftraggebers zurückgeführt werden kann, zeigt der Hamburger 76

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Ihre acht Jahre jüngere Schwester wurde mit denselben Attributen porträtiert. Zu den Bildnismedaillen vgl. Ernstotto zu Solms: Solmser Medaillen des 16. Jahrhunderts, Laubach 1956, S. 16 mit Abb. Vgl. Lexikon des Mittelalters, hg. v. Norbert Angermann, München 1995, Bd. 5, S. 1475; Zander-Seidel: Textiler Hausrat, S. 106.

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II  Kunst

Gliedermann, der sich als einzige männliche Gliederpuppe durch einen Kranz aus Lorbeerzweigen auf dem Haupt ausweist. Dieses antike Ehrenzeichen des Siegers, das gemeinhin Herrschern vorbehalten war, wurde für christlich-allegorische Darstellungen häufig übernommen.78 Als herrschaftliches Symbol zierten Lorbeerkränze auch zahlreiche zeitgenössische Häupter, wie Medaillen von Johannes Stabius (1462–1522) oder Maximilian II. (1527–1576) belegen.79 Weniger als ein bewusstes Brechungsmotiv, das sich aus den unerregten Physiognomien angesichts einer „offensiven“ Leibesentblößung ergäbe, scheinen die Gliederpuppen vielmehr als vollständig dem Leben nachempfundene Geschöpfe konsequenterweise auch die Geschlechtsmerkmale zu umfassen. Im Gegensatz zu den nur unwesentlich größeren Gliederpuppen aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, die aufgrund der expliziten Betonung der Geschlechtsmerkmale als ‚Erwachsenenspielzeug‘ gedeutet werden konnten (Bild 138),80 sind die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale der Gliederpuppen mit geradezu ‚klinischem Blick‘ im selben Maße wie die Muskulatur und die Adern als naturgegebene anthropomorphe Merkmale verwirklicht. Die von Weixlgärtner ins Feld geführte Verstümmelung der Geschlechter und die Anbringung von bedeckenden Feigenblättern können schließlich kaum sinnvoll für eine genuine Bestimmung als „galantes Spielzeug“ ausschlaggebend sein, da es sich bei diesen Vorgängen, ebenso wie bei der Aushöhlung und magentaroten Fassung der Scham der Berliner Gliederpuppe (Bild  208a), stets um nachträgliche, durch fremde Hände vorgenommene Veränderungen handelt. Die ‚bildstürmerischen‘ Akte der Abtrennung des Geschlechts, respektive die Versuche der Sakralisierung der Gliederpuppen zu Adam- und Evafiguren durch spätere Anbringung der Feigenblätter, können gewiss als Hinweise nachfolgender Bestimmungen und Deutungen der Werkgruppe dienen. Allgemein zeugen diese Eingriffe unverkennbar vom betörenden Potential dieser kleinformatigen Gliederpuppen auf spätere Betrachter. Das Fehlen einer genuinen Zweckzuweisung begünstigte indes, die anthropomorphen gegliederten Statuetten in das enge Deutungskorsett des „galanten Spielzeugs“ einzu­schnüren.

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Vgl. Lemma Lorbeer, in: Lexikon der christlichen Ikonographie (LCI), hg. v. Engelbert Kirschbaum, Freiburg i. Br. u. a. 1994, Bd. 3, Sp. 106–107. Die Rezeption antiker Symbolik, zum einen durch den transalpinen Austausch der Künstler, zum anderen durch regionale Antikenfunde begünstigt, lässt sich für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts beispielhaft in Sammlung und Werk des Allgemeingelehrten Konrad Peutinger (1465–1547) fassen, um den sich archäologisch interessierte Humanisten scharten und der Künstler wie Lucas Cranach oder Hans Burgkmair beriet. Vgl. Christian Theuerkauff: Bildnis des Rechtsgelehrten und Humanisten Dr. Konrad Peutinger (1465–1547), in: Ausst. Kat.: Der Mensch um 1500, hg. v. Hanna Gagel, Berlin 1977, S. 99–103, Kat. 15. Zu diesen Puppen des erwachsenen Spiels s. o., Kap. I.3.c).

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

c   Sc höpf u ng D ie Gl ie der p up p e a l s G e s c höpf Die Menschenmodelle im Atelier der Renaissance, die aus Ton, Wachs oder wie die Gliederpuppen aus Holz gestaltet waren, rufen in besonderem Maße Assoziationen zu überlieferten Schöpfungsmythen hervor. Dass auch Menschen ursprünglich aus Lehm und Wasser geknetet wurden, ist antike,81 wie biblische Vorstellung,82 zu der sich im Mittelalter Legenden über künstliche Kreaturen wie Golems oder Homunkuli gesellten.83 Die Verlebendigung von Skulpturen ist wiederum im Pygmalion-Mythos bei Ovid (43 v.–17 n. Chr) eindringlich geschildert.84 Immer wieder aufs Neue verblüffen die Gliederpuppen des Schnitzers IP durch ihre trotz der Kleinteiligkeit erreichte menschengetreue Gestaltung. Dabei liegt eine besondere Kunstfertigkeit im harmonischen Zusammenspiel aller Einzelteile: alle Körperglieder wurden individuell und den Proportionen des Körpers entsprechend bemessen und schließlich zu einem geschmeidig-kontinuierlichen Körper zusammengefügt. Auch auf das bei allen Gliederpuppen graduell unterschiedlich realisierte Maß an körperlicher Ausgestaltung hatte jedes Einzelteil abgestimmt zu sein, sodass hier ein jugendlich sehniger, dort ein reiferer weiblicher Körper zutage tritt. Doch nicht nur ihrem Äußeren nach sind die Gliederpuppen des Monogrammisten IP den unterschiedlichen Menschentypen gemäß gestaltet. Das im Innern dieser Statuetten verborgene, ausgeklügelte und nur durch eine kaum wahrnehmbare Öffnung im Kopf zugängliche Saitensystem sowie die zahlreichen Gelenke lassen die Figuren menschliche

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In den ‚Nomoi‘ beschreibt Platon das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern als Spiel, in dem die Menschen das Spielzeug der Götter (thauma, 644d7) darstellen. Vgl. Eugen Fink: Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960, bes. S. 93ff; Matthias Frenzel legt dar, dass es sich dabei allerdings um Spielzeug im Sinne von Automaten handeln könnte und Platon den Begriff thauma auch für ‚Kunststück’ verwendet (in Politeiea 514b7). Matthias Frenzel: Die Moralphilosophie von Platons Nomoi, Diss. Hamburg 2000, S. 56 ff. Vgl. Horst Albert Glaser: Prometheus’ Wanderung aus der Antike in die Renaissance – und weiter, in: Ausst. Kat.: Die Geschöpfe des Prometheus. Der künstliche Mensch von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Rudolf Drux, Bielefeld 1994, S. 26–35, hier S. 25. In der Genesis wird die Erschaffung der Menschen und Landtiere aus Ton beschrieben (1. Mose 2,7–21). Vgl. Klaus Völker: Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, lebende Statuen und Androiden, München 1994. Vgl. die Aufsatzsammlung von Mathias Mayer/Gerhard Neumann (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg i. Br. 1997 sowie zuletzt umfassend Victor I. Stoichita: Der Pygmalion-Effekt. Trugbilder von Ovid bis Hitchcock, Paderborn 2011.

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II  Kunst

Bild 226  Gliederpuppe des Monogrammisten IP (Grassimuseum, Leipzig), Schnur- und Kanalsystem des Inneren, 3D-Mikro-CTAufnahme, Universität Leipzig/Grassimuseum Leipzig. (Farb­tafel 25)

Bewegungen ausführen, wodurch sie gleichsam das Vermögen der Eigenbewegt­ heit zu besitzen scheinen. Die jüngste Untersuchungskampagne der Gliederpuppen durch das Grassimuseum und die Universität Leipzig erbrachte hochauflösende 3D-MikroCT-Aufnahmen, die das Innenleben in neuer Form vor Augen stellen (Bild 226): Die Bündelung aller Schnürchen im Kopf zeigt Parallelen zu verzweigten Systemen des menschlichen Körpers wie etwa dem Nervensystem auf, dessen Zentrum sich ebenfalls im Kopf befindet. Die extreme Elastizität der Verbindungsschnüre, die Spannung, mit welcher sie die Gliederpuppen zusammenhalten, wecken darüber hinaus Bezüge zu Überlegungen Leonardos zur Lebenskraft,

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

der forza.85 Indem er eine dem Menschen getreue Schöpfung vollbringt, zeigt sich der Erschaffer der Gliederpuppen, Kunst und Technik vereinend, als homo secundus deus.86 Die Kunstfertigkeit Gottes wird dabei selbst in Form kunstvoller beweglicher Skulpturen nachvollzogen, sodass diese als „natürliche Artefakte“ gelten können.87 Mit seiner Paradiesszene im Sündenfall-Relief aus Gotha (Bild 227a–b) lieferte der Monogrammist IP selbst einen impliziten Hinweis auf dieses Selbstverständnis künstlerischer Produktion. Rechterhand der leicht nach links verschobenen Hauptszene des Sündenfalls ist in anachronistischer Nebeneinanderstellung die vorausgegangene Schöpfung im Gange. Während eine Gottesgestalt Eva zu menschlicher Form verhilft, liegt Adam in gliederpuppenhafter Erschlaffung neben dem Schöpfer. In seiner Haltung und Gestaltung treten offensichtliche Bezüge zu den Statuetten, insbesondere zum Innsbrucker Gliedermann, zutage: Gott schafft hier Menschen, die gliederpuppengleich verbildlicht werden. Indem der Schnitzer IP in neuplatonischem Selbstverständnis den mikrokosmischen Menschen in Form seiner Gliederpuppen erschuf, beging er einen entsprechenden kunstvollen Schöpfungsakt.

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Die forza, jene Kraft, die alle Lebenwesen zu ständigem Wandel antreibt, kann als innere, langsam freiwerdende Spannung, gleich einer aufgezogenen Feder, gedeutet werden. Vgl. Horst Bredekamp: Überlegungen zur Unausweichlichkeit der Automaten, in: Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten – Phantasmen der Moderne, hg. v. Pia Müller-Tamm/Katharina Sykora, Köln 1999, S. 94–105, bes. S. 95 ff. Vgl. Vinzenz Rufner: Homo secundus Deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum, in: Philosophisches Jahrbuch 63 (1955), S.  248–291 sowie: Horst Bredekamp: Der Mensch als „zweiter Gott“. Motive der Wiederkehr eines kunsttheoretischen Topos im Zeitalter der Bildsimulation, in: ders.: Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel. Aufsätze und Reden, hg. v. Jörg Probst, Berlin 2007, S. 106–120. Rath: Creatio ex ligno. Vgl. hierzu auch Horst Bredekamp: Spätgotik in Salzburg. Skulptur und Kunstgewerbe 1400–1530. Zur Ausstellung im Museum Carolino Augusteum und im neuen Haus und im Bürgerspital in Salzburg Juni/Oktober 1976, in: Kunstchronik 30/3 (1977), S. 142–162, insb. S. 161. Wie Bazon Brock darlegt, wandelt sich „der Schöpfungsbegriff seit dem Mittelalter von der Schöpfung per analogiam naturae zur creatio ex nihilo; er nähert sich ausdrücklich dem religionsgeschichtlich ausgewiesenen göttlichen Schöpfungsakt an – so weitgehend, dass sich jeder […] schöpferische Künstler als eine Miniaturausgabe des Schöpfergottes persönlich ansehen konnte.“ Bazon Brock: Jungfrauenzeugung und Junggesellenmaschine. Von der Gottwerdung des Menschen und der Menschwerdung Gottes, in: Hans Ulrich Reck/Harald Szeemann: Junggesellenmaschinen, Wien/New York 1999, S. 133–141, hier S. 133. Eva Meyer-Drawe relativiert diesbezüglich, dass dem Künstler eine endgültige creatio ex nihilo verwehrt ist, „er auf sekundäre Kausalitäten verwiesen“ bliebe, wobei er durch seine technischen Möglichkeiten dennoch zumindest zum „Assistenten Gottes“ aufsteigen könne. Eva Meyer-Drawe: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen, München 1996, S. 46.

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II  Kunst

Bild 227a–b  Monogrammist IP: Sündenfall, um 1525, Birnbaumholz, 62,5 × 46,5 cm, Inv. Nr. 1204/P29, Schlossmuseum Friedensstein, Gotha.

Immer dann, wenn die kleinplastischen Gliederpuppen verstellt werden, verändert sich ihr Aussehen und ihre Wirkung.88 In ihnen sind gleichsam unendlich viele Skulpturen vereint. Durch den Austritt aus den Bindungen eines Hilfsmittels und den Eintritt in das Feld der Kunst eignet den Gliederpuppen des Monogrammisten IP dabei ein emanzipatorischer Zug, der mit den Mitteln der Kleinplastik eine kaum wieder erreichte Blüte der Gattung zu erzeugen vermochte. Die Ausmaße der menschlichen Miniaturgestalten scheinen der Hand unmittelbar angepasst. Dort, wo der Tastsinn des Menschen am höchsten ausgebildet ist, so an Händen, Füßen, an Geschlechtsorganen und im Gesicht, sind auch die Gliederpuppen am feinsten ausgearbeitet. Indem sich der autonome Gliederpuppenkörper unter der formenden Hand des Besitzers in immer neue, individuell wählbare Figurationen bringen lässt, hebt er den Manipulierenden selbst in den Rang des (um-)bildenden Künstlers. Durch die anthropomorphe Ausformung einer mit bloßem Auge kaum observierbaren Detailtreue offerierte der Schnitzer dem gebildeten Auftraggeber eine Gliederpuppe, in der 88

Dieses Phänoment trifft grundsätztlich für Gliederpuppen aller Größen zu, ist indes bei den kleinplastischen Statuetten des IP in besonderem Maße durch die höchstmögliche Variabilität aller Körperglieder potenziert.

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3.  die Kleinplastiken des I.P.

sich Reflexionsprozesse über das Kunstschaffen mit Fragen des Weltbegreifens verbinden, um durch die variable Figur Geist und Hand miteinander zu verknüpfen. Diese veränderlichen Statuetten der nordalpinen Renaissance beziehen somit eine frühe Gegenposition zum Verständnis einer generell dienenden Funktion der Gliederpuppe. Sie bilden gleichsam Abschluss und Übergang der im Feld der Kunst verankerten Ausprägungsformen der Gattung, um zugleich eine frühe konzeptionelle Dimension des beweglichen Denkmodells zu verkörpern.

1 .   D ie G liederpuppe als variabler Bildkörper

a   Auge u nd Ha nd D a s Kon z e p t de s r i l i e v o Ein Merkmal der sich wandelnden Bildgenese in der Renaissance ist der sich zunehmend verbreitende Modellgebrauch, die besondere Bedeutung körperhafter Vorlagen.1 Bereits vor über einhundert Jahren zog Julius von Schlosser ein prägnantes Resümee über Natur und Bedeutung dieser Modellformen: „Eine eigene Gruppe für sich bilden endlich die Hilfsmodelle, die Plastiker für Maler oder diese selbst für den eigenen Bedarf anfertigen. Dieses Ineinanderarbeiten der beiden Schwesterkünste ist namentlich seit dem XVI. Jahrhundert eine stehende Übung des italienischen Ateliers geworden. […] Modelle dieser Art dienten namentlich dazu, bei figurenreichen Kompositionen das der Renaissance so wichtige ‚rilievo‘, die klare körperliche Wirkung zu erhalten, schwierige Verkürzungen in Gruppen zu bewältigen und die Stellung einzelner Figuren zueinander im Sinne deutlicher Raumwirkung zu regeln, wo das lebende Modell wie bei der Ansicht ‚di sotto in su‘ nicht gut in den Dienst gestellt werden kann.“2 Als Beispiele hierfür nennt von Schlosser die von Hand geformten Modelle aus Wachs, wie sie von Campi ausführlich beschrieben wurden, hölzerne Propor­ tionsfiguren und Gliederpuppen.3 1 2 3

Fusco: The Use of Sculptural Models; Myssok: Bildhauerische Konzeption; Rath: Manipulationen. Vgl. von Schlosser: Aus der Bildnerwerkstatt der Renaissance, S. 111. Von Schlosser nimmt dabei unter anderem an, dass die von Weixlgärter erstmals umfänglich publizierten Gliederpuppen des IP als Hilfsmittel des Künstlerateliers zu werten seien. Vgl. ebd.

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III  Konzept

Als entscheidender Bildwert forderte der rilievo eine neu konzipierte Bildgenese, durch die visuelle Zeichen als plastische Werte ins Bild gelangen sollten.4 Jene bei von Schlosser in einem Atemzug genannten plastischen Modelle aus Wachs, Ton aber auch Gips dienten ebenso wie die Gliederpuppe der Erkundung der anthropomorphen Gestalt in unterschiedlichen Haltungen. In den theoretischen Traktaten der Renaissance sollten Gliederpuppen generell als ein entscheidendes Hilfsmittel für langwierige Haltungen und insbesondere für den Faltenwurf beschrieben werden. Leonardos bereits zitierter Anspruch, dass hierbei „die Gewänder, mit welchen die Figuren bekleidet sind, zeigen müssen, dass sie von eben diesen Figuren bewohnt werden“,5 kann folgerichtig als paradigmatischer Topos einer in die Kunst der Renaissance eingeflossenen Forderung nach einer körperlich in Erscheinung tretenden Bildfigur gelten. Leonardos Sentenz ist insofern von besonderer Bedeutung, als sie am alltäglichen Beispiel einer einfachen Draperiestudie einen bemerkenswerten Hinweis auf deren zweifache Vermittlungsstruktur gibt: ein Gewand, das einen Körper verhüllt, soll diesen als bildgewordenes Motiv in seiner belebten, greifbaren Form hindurchscheinen lassen oder sogar hervorbringen. Die beiden zentralen Bildeigenschaften einer solchen Darstellung sind der gelungene Entwurf (disegno) sowie die körperliche Plastizität, welche durch den bildlichen rilievo beschrieben wird. In Cenninis Libro dell’arte erscheinen die beiden Begriffe zum ersten Mal als theoretisch erörterte Komplexe zusammen mit der Kunst der Farbgebung (colorire).6 Der Autor beginnt mit dem grundlegenden Verfahren des Zeichnens auf vorbereitetem Grund (Kap. V–VIII), um nach wenigen Hinweisen zur Verteilung von Licht und Schatten zu gelangen (Kap. IX). Anhand der Freskotechnik wird hernach die stufenhaft im Bild entwickelte malerische Plastizität durch das Modellieren der Körper in drei tonal abgestuften Farben beschrieben. In diesem Herausarbeiten der Gegenstände aus dem Bildgrund liegt eine zentrale Fähigkeit der Malerei, wie Cennini in seinem Traktat einleitend darlegt: „[Und] dies ist eine Kunst, die sich Malen nennt, für die es der Fantasie und Ausführung mit der Hand bedarf, um nie ge­ sehene Dinge zu finden, die sich verbergen im Schatten der natürlichen [Dinge], und sie mit der Hand festzuhalten, indem jenes gezeigt wird, was nicht ist.“7 4 5 6

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Vgl. auch Rath: Die Haptik der Bilder. „I panni che vestono le figure debbono mostrare di essere abitati da esse figure“. Zit. n. Pedretti: „Bewohntes Tuch“, S. 19. „El fondamento dell‘arte, e di tutti questi lavorii di mano principio, è il disegno e ‚l colorire.“ Vgl. Cennini: Il libro dell’arte, Kap. IV: „Come ti dimostra la regola in quante parti e membri s‘appartengon l‘arti. “ „ […] e quest’e un’arte chessi chiama dipingere, che conviene avere fantasia e hoperazione di mano, di trovare cose non vedute, chacciandosi sotto ombra di naturali, e fermarle con la mano, dando a dimonstrare quello che nonne sia.“ Cennini: Libro dell’arte, Kap. I, übers. n. Wolf-Dietrich Löhr: Dantes Täfelchen, Cenninis Zeichen-

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

Fantasie und (geübte) Hand stellen für Cennini die entscheidenden Grundparameter erfolgreichen künstlerischen Schaffens dar, wobei erst die ‚richtige‘ Farbbehandlung zu einer plastischen Bildanlage gereicht. Insofern scheint es nur konsequent, wenn zwei Generationen später Filarete seine Hinweise zur Farbgebung ebenfalls mit dem Begriff des rilievo verhandelt. Dabei spricht er nicht Empfehlungen, sondern vielmehr ein Verbot dahingehend aus, sich bei der Ausführung bildlicher Plastizität die körperlichen Werte durch einen tatsächlichen Materialauftrag zu erschleichen.8 Vielmehr soll diese Wirkung über das von Cennini beschriebene Farbmodellieren erzeugt werden: „Bei den körperlich-erhabenen Dingen [cose rilevate] die du zu malen hast, trage diese niemals in Form plastischer Schichten auf, sei es aus Stuck oder aus einem anderen Stoff, da du mithilfe der Farben die zu realisierenden körperlich-erhabenen Partien nachmachen musst. Verfahre also nicht wie viele andere, die, wenn sie ein Pferdegeschirr zu malen haben, tatsächliche Metallblechauflagen aufsetzen, genauso, als ob das Pferd lebendig wäre [come se fusse vivo]. In diesem Sinne sollen auch alle anderen plastischen Erhebungen nicht derart, sondern wie ich gesagt habe, mithilfe der Farben gemacht als plastisch erscheinen.“9 Für diese malerische Lösung bei komplexeren erhabenen Strukturen wird Filarete im selben Kapitel wenige Augenblicke später erstmals ein folgenreiches Hilfsmittel vorstellen – die Gliederpuppe. Für die Aufgabe des ‚nach der Natur‘ zu veranschaulichenden Faltenwurfes bringt die Gliederpuppe eine neue kon-

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kiste. Ritratto, disegno und fantasia als Instrumente der Bilderzeugung im Trecento, in: Das Mittelalter 13 (2008), S. 148–179, hier S. 165. Bei Cennini werden indes realiter auf den Bildgrund gesetzte Auflagen ebenso mit dem Begriff des rilievo besetzt. Vgl. Kap. CII „Come dei rilevare una diadema di chalcina, in muro“, Kap. CXXVI „Come si de’ smaltar ciaschun rilievi di muro“, Kap. CXXIX „Come si puo rilevare in muro con vernice“, Kap. CXXX „Come si puo rilevare in muro con ciera“. Siehe dazu: Wang-Hua: ‚Rilievo‘ in Malerei und Bildhauerkunst der Frühneuzeit, S.  21 (Die Ko-existenz der „mixed media“); Löhr: Dantes Täfelchen, S.  175 u. Anm. 119; Andrea Niehaus: Florentiner Reliefkunst von Brunelleschi bis Michelangelo, München 1998, S. 19 f. Im Laufe des Quattrocento entwickelte sich aus der Kombination von Reliefauflage und Malerei eine hybride Sonderform intermediärer Altarbilder aus Malerei und Skulptur bzw. Halbrelief. Vgl. dazu grundlegend Wenderholm: Bild und Berührung. „Di cose rilevate che avessi a dipignere, non gli mettere mai cosa rilevata, né di stucco, né d‘altra cosa abbi, per via di colori contrafa‘ quegli cotali rilievi che a fare avessi; e non fare come molti fanno, che, se hanno a dipignere uno fornimento di cavallo, vi mettono su le borghie di ferro stagnato, rilevate come se fusse vivo il cavallo. E così d‘altri rilievi non si dee fare così: anzi contrafargli, come ho detto, coi colori che paino rilevati.“ Filarete: Trattato di Architettura, Cod. Mag., fol. 182v; Finoli/Grassi: Filarete. Trattato di Architettura, S. 670.

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III  Konzept

zeptuelle Komponente ins Spiel, indem sie, wie Filarete darlegt, nunmehr behandelt werden kann, als handele es sich bei ihr um ein lebendiges Gegenüber (come se fussino d’uno vivo), das jedwede gewünschte Haltung einzunehmen vermag (mettigliele indosso in quello atto che tu vuoi ch‘egli stia).10 Bereits in dieser ersten Textquelle zum Gliederpuppengebrauch im Künstleratelier werden ihre Lebensnähe sowie ihre Variabilität gerühmt. In dem Zeitraum zwischen Cenninis Ausführungen zum rilievo und Filaretes Vorstellung eines für die Umsetzung desselben in höchstem Maße geeigneten Modells entsteht Albertis Della pittura, ein Traktat, das theoretische wie praktische Grundlagen der Malerei in einzigartiger Weise versammelt. Die Lehre des Sehens und der Perspektive des ersten Teils wird im zweiten und dritten Teil um verfahrenstechnische Handlungsanweisungen ergänzt. Als grundlegendes Paradigma gilt auch für Alberti das richtige Zusammenspiel von disegno und colore zur Gewinnung eines körperlichen rilievo: „Ich glaube, die Aufgabe des Malers bestehe darin, auf irgendeiner ihm gegebenen Tafel oder entsprechenden Wand die sichtbaren Flächen jedes beliebigen Körpers in der Weise mit Linien zu umreißen und mit Farben zu versehen, dass sie [d.h. die Flächen] aus einem bestimmten Abstand und mit einer bestimmten Stellung des Zentralstrahls als plastische Formen erscheinen [paiano rilevate] und die Körper große Ähnlichkeit [mit der Wirklichkeit] haben.“11 Wie Cennini erkennt Alberti zudem in der korrekten Umsetzung der Licht- und Schattenwerte einen Schlüssel für die körperlich aus dem Bild heraustretenden Motive: „Denn so, wie Licht und Schatten die Dinge plastisch erscheinen lassen [fare parere le cose rilevate], bewirken Weiß und Schwarz die Erscheinung der Dinge im gemalten Relief […].“12 In der Formulierung des „fare parere le cose rilevate“ zeigt sich indes eine Reflektion über die optischen Erfahrungswerte, welche der Autor für die malerische Erzeugung von Körperlichkeit nutzbar machen will. Ebenso wie bei Cennini, der im stufenweisen farbigen Modellieren auf dem Bildgrund ein Gesicht heraustreten lässt, wobei die Leibwerdung des Motivs als Prozess der fleischlichen Verkörperung – incarnazione – verhandelt

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Vgl. ausführlich o. Kap. II.1.a). „Dico l’officio del pittore essere così descrivere con linee e tignere con colori in qual sia datoli tavola o parete simile vedute superficie di qualunque corpo, che quelle ad una certa distanza e ad una certa posizione di centro paiano rilevate e molto simili avere i corpi.“ Alberti: Della Pittura, S. 148 f. „Però che il lume e l‘ombra fanno parere le cose rilevate, così il bianco e ’l nero fa le cose dipinte parere rilevate […].“ Alberti: Della Pittura, S. 140 f. Vgl. Wang-Hua: ‚Rilievo‘ in Malerei und Bildhauerkunst, S. 27.

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

wird,13 steht für Alberti die plastische Erscheinung, ein körperliches Heraustreten der Figur aus dem Bildgrund, im Zentrum seiner Forderung, die hinsichtlich ihrer Eindeutigkeit auch vom Dilettanten nachvollziehbar sei: „Zusammen mit Gelehrten und Ungelehrten werde ich jene Gesichter loben, die aus der Tafel hervorzutreten scheinen wie in Stein gehauen, und ich werde jene Gesichter bemängeln, in denen keine andere Kunst außer vielleicht in der Zeichnung zu sehen ist.“14 Diese Anweisungen sind auch für den lernenden Schüler von entscheidender Bedeutung. Hinsichtlich der im Quattrocento bekannten unterschiedlichen Studienverfahren hat Albertis Appell entscheidende Auswirkungen auf die Wahl der Hilfsmittel und Studienobjekte: „[…] falls es dir trotzdem gefällt, Werke eines anderen nachzubilden, vielleicht weil diese mehr Geduld für dich aufbringen als lebendige Dinge, so rate ich eher dazu, dass eine mittelmäßige Skulptur als ein hervorragendes Gemälde nachgebildet wird, denn von den gemalten Dingen erwirbst du nichts anderes als die Kenntnis der Ähnlichkeit, während du von den skulptierten Dingen sowohl die Ähnlichkeit lernen als auch die Kenntnis und Nachbildung von Licht [und Schatten] erwerben kannst. […] Und vielleicht wird es nützlicher sein sich im Relief als im Zeichnen zu üben. Denn falls ich mich nicht irre, ist die Bildhauerei [darin] ihrer Sache gewisser als die Malkunst; denn selten wird es jemanden geben, der einen Gegenstand richtig zu malen versteht, von dem er nicht alle Wölbungen [rilievo] kennt; die Wölbungen aber lassen sich leichter beim plastischen Bilden als beim Malen aufspüren.“15

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Cennini beschreibt dies in Kap. LXXVII „Il modo e ordine a lavorare in muro, cioè in fresco, e di colorire o incarnare viso giovenile“ sowie in Kap. CXLVII „In qual modo si coloriscono i visi, le mani, i piedi, e tutte le incarnazioni“. Anhand zeitgenössischer Dichtung zeigt Christiane Kruse, dass „incarna/incarno in der Bedeutung von ‚Verkörperung, Vermenschlichung, Vergegenwärtigung und Verlebendigung‘ verwendet werden“. Kruse: Fleisch werden – Fleisch malen, S. 322. „Io, coi dotti e non dotti, loderò quelli visi quali come scolpiti parranno uscire fuori della tavola, e biasimerò quelli visi in quali vegga arte niuna altra che solo forse nel disegno.“ Alberti: Della Pittura, S.  142 f. Vgl. hierzu auch das Lemma Illusion (ästhetische), in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2011, S. 201–204 (Frank Büttner). „E se pure ti piace ritrarre opere d’altrui, perché elle più teco hanno pazienza che le cose vive, più mi piace a ritrarre una mediocre scultura che una ottima dipintura, però che dalle cose dipinte nulla più acquisti che solo sapere asimigliarteli, ma dalle cose scolpite impari asimigliarti, e impari conoscere e ritrarre i lumi. […] E forse più sarà utile essercitarsi al rilievo che al disegno. E s’io non erro, la scultura più sta certa che la pittura; e raro sarà chi possa bene dipignere quella cosa della quale elli non conosca ogni suo rilievo; e più facile si truova il rilievo scolpendo che dipignendo.“ Alberti: Della Pittura, S. 160 f.

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III  Konzept

Anhand von dreidimensionalen Studienobjekten, besser jedoch im eigens erfahrenen plastischen Prozess liegt für Alberti demnach der Schlüssel zur eingeforderten bildlichen Körperlichkeit. Durch das sehende Auge und die formende Hand gelangen die Erkenntnisse von räumlichen Ausdehnungen und stofflichen Strukturen, welche für den bildlichen rilievo elementar sind, in das Bild. Im Sinne der von Alberti betonten skulpturalen Präsenz der Bildfigur sollte in der Folge auch Leonardo skulpturale Werke als Träger affektiver Körperlichkeit bestimmen: Der Maler habe „immer die Skulptur im Sinn zu haben, also das Natürliche, welches rilievo besitzt, das aus sich heraus Licht und Schatten und Verkürzungen erzeugt“.16 Durch die Generierung des rilievo im flächigen Bildraum lag für ihn insofern eine Superiorität der Malerei gegenüber der Bildhauerei begründet.17 Aus der natürlichen Körperlichkeit, wie sie bei plastischen Modellen oder der Gliederpuppe als rilievo naturale zutage tritt, obliegt es dem Maler, den höherwertigen rilievo finto bildlich zu generieren.18 Er sei es, welcher der Malerei ihre Seele verleihe: „il quale rilievo è l‘importanza e l’anima della pittura.“19 Die Verbindung von Auge und Hand im manipulierbaren Modell sollte in den Schriften der Renaissance insbesondere im Zusammenhang mit den Vorlagen aus Wachs beschrieben werden.20 Prominentester Protagonist derartiger Wachsmodelle war für Vasari bekanntlich Michelangelo, welcher gleichsam im 16

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„Ma il dipintore ha di bisogno d’intendere sempre la scultura, cioè il naturale, che ha il rilievo che per sè genera chiaro e scuro et scorto.“ Leonardo da Vinci: Libro di Pittura, zit. n.: Claire Farago: Leonardo da Vinci’s ‚Paragone‘. A Critical Interpretation with a new edition and English translation of the text in CU 1270, Leiden 1992, Kap. XXXVIV, S. 270. „La pittura è di magiore discorso mentale e di magior artificio e maraviglia che la scultura, con ciò sia ché necessità costringie la mente del pittore a trasmuttarsi nella propria mente di natura, et sia interprete infra essa natura et l’arte.“ Ebd., Kap. XL, S. 272. Dass diese (in späterer Zeit zugespitzte) Position nicht überbewertet werden darf und Leonardo vielmehr als Schüler Verrocchios den Einsatz von bildhauerischen und plastischen Objekten schätzte, wurde in den vergangen Jahren mehrfach betont. Vgl. zusammenfassend: Nova: Paragone-Debatte und gemalte Theorie, S. 183 f. Vgl. Niehaus: Florentiner Reliefkunst, S. 36 f. Leonardo da Vinci: Libro di Pittura, zit. n.: Claire Farago: Leonardo da Vinci‘s ‚Para­ gone‘, Parte Seconda, Kap. CXXI, S. 83. Dass sich im Wachs, dem „plastischen Material schlechthin“, eine jener Substanzen verbirgt, deren stoffliche Qualität bereits den Schaffensakt per se inkorporiert, hebt Georges Didi-Hubermann hervor: „‚Bildende Künste‘, das bedeutet zunächst Plastizität des Materials: das bedeutet zunächst, daß der Stoff beliebig geschmeidig, biegsam, modellierbar, bearbeitbar ist. Mit anderen Worten, daß er sich bescheiden der Möglichkeit hingibt, geöffnet, bearbeitet, verarbeitet in eine Form gebracht zu werden.“ Georges Didi-Huberman: Die Ordnung des Materials. Plastizität, Unbehagen, Nachleben, in: ders.: Die Ordnung des Materials, Berlin 1999, S. 1–29, hier S. 5.

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

bildhauerischen Verfahren die Vorlagen für seine Zeichnungen schuf, um mithilfe dieser Modelle Körperkonturen und Volumina zu erfassen.21 Das Modell sollte mit prüfendem Auge und geschulten Händen geschaffen werden, denen Vasari zufolge in diesem Prozess eine der Urteilskraft (giudizio) gleichrangige Bedeutung zukam: „Aber um zur Bearbeitung des Wachses zurückzukehren: aus der Mischung, die vorbereitet, geschmolzen und wieder erkaltet ist, nimmt man kleine Stücke der Masse, die durch die Wärme der Hände wie Teig knetbar werden, und mit diesen formt man nun eine sitzende, stehende oder beliebig gestaltete Figur, die innerlich durch eine Armierung in der gewünschten Haltung verbleibt, sei es aus Holz oder aus Metalldrähten, ganz nach den Wünschen des Künstlers […] und Stück für Stück fügt man unter Einsatz von Urteilskraft und Händen Materie hinzu […].“22 Die von der zunehmenden Wachsschicht überformte Armierung, welche die Figur in der gewünschten Position belassen soll, ist selbst aus Holzteilen oder biegbaren Eisendrähten derart gebildet, dass die Figur gleich einer Gliederpuppe in der anvisierten Stellung verharrt. Als Sonderform der zahlreichen plastischen Vorlagen erscheint die Gliederpuppe in der Neuzeit wiederholt als ein für den Studienprozess besonders geeignetes, wenn nicht vehement gefordertes Modell, das den Körper in seiner natürlichen Anlage und Ausdehnung im Raum vor Augen zu stellen vermag – die Gliederpuppe diente konzeptuell als Ersatz der von Leonardo beschriebenen, per se raumgreifenden Natur.23 Analog sind die Äußerungen Vasaris über den Gliederpuppengebrauch des Fra Bartolomeo zu werten, wenn dieser „in seinem Werk alle Dinge nach dem Leben wiedergab“ und sich deshalb eine Gliederpuppe anfertigen ließ, die „in allen Gliedern verstellbar war, und welche er mit gewöhnlichen Gewändern bekleidete“.24 Dieses stets verfügbare Modell war genuin als variable körperhafte Bildgestalt konzipiert. 21 22

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Vasari: Le vite, Bd. I, S. 122. „Ma per tornare al modo di fare la cera: acconcia questa mistura e insieme fonduta, fredda ch‘ella è, se ne fa i pastelli, i quali nel maneggiarli dalla caldezza delle mani si fanno come pasta, e con essa si crea una figura a sedere, ritta o come si vuole, la quale abbia sotto un‘armadura per reggerla in se stessa o di legni o di fili di ferro, secondo la volontà dell‘artefice […] et a poco a poco col giudicio e le mani lavorando, crescendo la materia […].“ Vasari: Le vite, Bd. I, S. 88. Michael W. Kwakkelstein legte überzeugend dar, inwieweit plastische Modelle, und mithin die Gliederpuppe, im Atelier Leonardos zum Einsatz gelangt sein könnten: Kwakkelstein: The Use of Sculptural Models. „quando lavorava, tenere le cose vive innanzi, […] un modello di legno grande quanto il vivo che si snodava nelle congenture, e quello vestiva con panni naturali.“ Vasari: Le vite, Bd. IV, S. 101.

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III  Konzept

Auch Gerard de Lairesse sollte mit dieser Argumentationsstrategie für den obligatorischen Einsatz der Gliederpuppe streiten. Seine provokante Geste, den Gliedermann jedem Gemälde eines Renaissancemeisters vorzuziehen, gründet in der von Alberti beschriebenen Bedeutsamkeit plastischer Bildwerte, die schlechterdings kaum durch das Kopieren von Bildern, sondern vielmehr durch aktives Modellieren verinnerlicht werden können. Konsequenterweise insistiert de Lairesse darauf, dass ein Studium nach der Natur von keinem rein geistigen Prozess ersetzt werden kann, und damit auch die körperliche Stofflichkeit der Falten und ihrer unterschiedlichen Materialien nur anhand der Gliederpuppe erkundbar seien.25

b   Va r iabi l it ät u nd St i l lst a nd Fig u r at ione n de s b o z z a re Gliederpuppen und Modelle aus formbaren Materialien nahmen seit der Frühen Neuzeit sowohl für den Bildhauer als auch für den Maler eine entscheidende konzeptuelle Stufe im Werkentstehungsprozess ein, indem sich an ihnen der „natürliche“ rilievo observieren, im Modellieren manuell nachspüren und zu Bildwerten transformieren ließ.26 Doch neben seiner realkörperlichen Ausdehnung kam dem Einstellungsprozess der Gliederpuppe, dem Formungsprozess plastischer Modelle vergleichbar, selbst eine besondere Bedeutung zu. Für den Formprozess von Figuren aus Ton oder Wachs, die als Modelle oder Werkvorlagen dienen, ist eine berühmte, von Filippo Baldinucci (1625–1697) überlieferte Anekdote aus dem Leben des Giambologna (1529–1608) in ihrer Prägnanz kaum zu überbieten: Als der junge Künstler dem demütig verehrten Michelangelo eine Arbeitsprobe in Form eines kleinen, bereits bis ins Feinste vollendeten Tonmodells vorzeigte, habe dieser es in einer Bewegung mit der Hand zerstört und gleich darauf in neuer Gestalt remodelliert. Dem verblüfften Giambologna riet er, sich erst im Formen und danach im Vollenden zu üben: „Or va prima ad imparare a bozzare e poi a finire.“27 25

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„Het is myn vast gevoelen dat de Oeffening der plooijen niet volkomen geleerd kan worden, zonder de Leeman te gebruiken; Want wat baat het dat men zich uitmergeld met kleêren uit de Geest te Teikenen als wy ‘t leeven voor ons kunnen hebben, zonder welke het onmogelyk is de natuur der Stofte te doorgronden […].“ Gerard de Lairesse: Grondlegginge ter Teekenkonst, Fol 93. Vgl. Kap. II.2.b). Zum weitreichenden Begriff des Modells vgl. Bernd Mahr: Modellieren. Beobachtungen und Gedanken zur Geschichte des Modellbegriffs, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild – Schrift – Zahl, München 2003, S. 59–86. Filippo Baldinucci: Notizie de‘ professori del disegno da Cimabue in qua, Florenz 1688, S. 121. Vgl. hierzu Myssok: Bildhauerische Konzeption, S. 18 sowie ausführlich van Gastel: Michelangelo’s Lesson.

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

Michelangelo erarbeitete seine Werke im suchenden Formen anstelle einer getreuen Umsetzung des vorgefertigten Entwurfs.28 Desgleichen sollte Benvenuto Cellini dem manuell geformten Modell eine eminente Bedeutung zusprechen. Ganz im Sinne einer prozessual entwickelten Komposition verstand er den modellierten Bozzetto als ‚Denkapparat‘.29 Es ist insofern bezeichnend, dass sich Cellini vom Ideal eines disegno-Begriffs Vasarischer Prägung entfernen und später den rilievo als Ursprung der Künste erklären sollte.30 Indem die Gliederpuppe als verstellbare Figur ein genuin unabschließbares Figurationspotential in sich birgt, war sie in besonderem Maße für einen derart begriffenen künstlerischen Arbeitsprozess geeignet. Sukzessive in variantenreiche neue Posen gebracht, könnte die Gliederpuppe damit programmatisch als eine fortentwickelte, verstetigte Schwester des bozzetto gelten. Im Bilden, Festhalten und Umbilden liegt ihr Potential. Dieses nutzte Fra Bartolomeo, in den Worten Vasaris, um damit „wunderbare Arbeiten auszuführen, da er sie in gewünschter Haltung ruhig festhalten konnte, bis er sein Werk mit Bravour ausgeführt hatte.“31 In Ergänzung zu den plastischen Modellen, die Licht- und Schattenwirkung verdeutlichten, schrieb Varsari Garofalo „eine hölzerne Figur aus Holz“ zu, „welche er in die verschiedensten Stellungen bringen und mit der er Gewänder in vielen Haltungen wiedergeben konnte.“32 Es sei an 28

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Besonders deutlich sollte diese Vorgehensweise etwa in seinen Entwürfen für das Julius-Grabmal zutage treten. Vgl. jüngst Johannes Myssok: Bildhauerisches Denken und haptische Bilder, in: Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (Hg.): Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit, Berlin 2013, S. 185– 207, insb. S. 192–200. Vgl. Myssok: Bildhauerische Konzeption, S. 60: „Cellini beschreibt hierdurch nicht nur die arbeitstechnische Notwendigkeit, sondern auch die konzeptionelle Bedeutung des Bozzetto, der damit zum Instrument bildhauerischen Denkens wird.“ Dass Cellini, der im plastischen Modell wie im zeichnerischen Entwurf gleichsam den disegno verkörpert sah, in der Verbindung von Geist und Hand den Ursprung allen menschlichen Schaffens erkannte, wurde am Beispiel seiner Akademiesiegel verdeutlicht. Vgl. grundlegend Wolfgang Kemp: Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19 (1974), S. 219–240. Vgl. Daniela Bohde: Der Schatten des disegno. Benvenuto Cellinis Siegelentwürfe und Tizians Zweifel, in: Alessandro Nova/Anna Schreurs (Hg.): Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, Weimar/Köln 2003, S. 99–122, hier S. 99, Anm. 1. „dove egli fece di bellissime cose, potendo egli a beneplacito suo tenerle ferme fino che egli avesse condotto l‘opera sua a perfezzione […].“ Vgl. Vasari: Le vite, Bd. I, S. 88. „Ma egli è ben vero che, in facendo quest‘opera, fece Benvenuto quello che insin allora non era mai stato usato in Lombardia, cioè fece modelli di terra per veder meglio l‘ombre et i lumi, e si servì d‘un modello di figura fatto di legname, gangherato in modo che si snodava per tutte le bande, et il quale accomodava a suo modo con panni adosso et in varie attitudini.“ Vasari: Le vite, Bd. V, S. 412.

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III  Konzept

Bild 228a–b  Gustave Moreau: Salomé tanzt vor Herodes, 1874–1876, Öl/Lw., 143,5 × 104, 3 cm, Hammer Museum, Los Angeles.

dieser Stelle daran erinnert, dass auch Crispijn van de Passe in seinem Zeichenbuch die gleichzeitige Verwirklichung von Variabilität und Stillstand zum konzeptuellen Kern der Gliederpuppe erklärt hatte.33 Dass diese hybride Natur der Gliederpuppe noch im 19. Jahrhundert hochgeschätzt wurde, bezeugt eines der bekanntesten Werke des Symbolismus:

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„Es wird ein Mensch in die länge müde/ wem er lange für dem Model stehen/ und sich darbey bewegen sol: deswegen so haben die fürtrefflichen Italiänische Meister/ durch ein wohl-bedachtes mittel/ eine viel leichtere und gewissere weise gefunden/ wie man nach dem leben/ allerley gewanthe ab=mahlen könne/ nemlich durch einen hölzernen Lehmann/ auff daß/ wan man denselben mit einigem gewanthe behänget hat/ die falten desto besser auff einem platze bei ein ander bleiben mögen, dan dieselbe kann man durch gewisse gefügete glieder in gewerbe legen/ und dieselbe biegen gleich einem lebendigen menschen […].“ van de Passe: ’t Light der Teken en Schilderkonst, o. S. (S. 4).

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

Gustave Moreaus (1826–1898) Salomé tanzt vor Herodes (Bild 228).34 Die obskure Szenerie zeigt das Innere eines tempelartigen, diffus beleuchteten Palastes.35 Der überbordende gold- und edelsteingeschmückte Dekor erzeugt eine flirrende Atmosphäre, die das Betrachterauge in Unruhe versetzt. Das zentrale Motiv der tanzenden Salomé inszeniert Moreau theatralisch durch das schräg einfallende Licht auf einem bühnenhaften, blumenbestreuten Vordergrund. Die Bildprotagonistin erweist sich als höchst ambivalente Gestalt. Ihre tänzelnde

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Diese berühmteste Salomé-Version Moreaus, die im Pariser Salon von 1876 für Aufruhr sorgte, wurde im Rahmen der monographischen Ausstellung A Strange Magic. Gustave Moreau’s Salome im Jahr 2012 als das wohl wichtigste Werk des Künstlers bestimmt. Vgl. Ausst. Kat.: A Strange Magic. Gustave Moreau‘s Salome, hg. v. Cyntia Burlingham, Hammer Museum, München 2012. Dessen Arkadenarchitektur wurde – ebenso wie die reichen, orientalisch anmutenden Ornamente – aus etruskischen, römischen, ägyptischen, indischen und chinesischen Elementen kombiniert. Vgl. Julius Kaplan: The Art of Gustave Moreau. Theory, Style, and Content, Ann Arbor 1982, S. 55–67.

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III  Konzept

Haltung schwingt zwischen sprunghafter Bewegung und überzeitlicher Statik: während die reich bestickten Gewänder als bewegtes Beiwerk weit ausschwingen, erweist sich ihre Körperhaltung als stillgestellter Zehenstand. Beinahe scheint sie zu schweben. Die Tanzhaltung vereint vergeistigte Innerlichkeit und exaltierte Geste, tänzerische Dynamis und bildlich gebannte Katalepsie.36 In einer der am häufigsten diskutierten Ekphraseis dieses Gemäldes bezeichnete Joris-Karl Huysmans Moreaus Salomé ganz in diesem Sinne als „Schlafwandlerin“37. Die Entwicklung dieser enigmatischen Bildgestalt kann anhand zahlreicher vorbereitender Skizzen nachvollzogen werden. Wie in der oberen rechten Ecke einer Aktstudie für die zentrale Bildfigur vermerkt, stand Moreau hier eine gewisse Marie Guy aus der Rue Nollet 18 Modell (Bild 229). Den Vorstellungen des Künstlers entsprechend, hält sie ihre rechte Hand dicht vor ihr Gesicht, während der linke Arm weit ausgestreckt wie auf ein fernes Ziel verweist. Dennoch unterscheidet sich die blattfüllende Zeichnung in ihrer Anmutung signifikant von der ausgeführten Tänzerin des Gemäldes: nicht schwebende Leichtigkeit, sondern körperliche Standfestigkeit vermittelt die ruhige, aufrechte Pose des Modells. In einer weiteren, scheinbar frei entwickelten Skizze werden diesbezüglich zwei entscheidende Prozesse greifbar. In dieser Federzeichnung hat sich Moreau offensichtlich vom Lebendmodell gelöst, um die Idealform der Tänzerin zu bannen (Bild 230). In der Balletthaltung des en pointe, also im Spitzentanz auf den Zehenkuppen stehend, wird die Körperdynamik allein durch die angedeuteten wehenden Haare und den ausgestreckten Arm vermittelt, der hier wie in suchender Bewegung in zwei Haltungsvarianten erscheint. Diese Gestalt wurde indes nur scheinbar aus dem Kopf gezeichnet. Schwebende en pointeHaltung und Armvariabilität wurden durch den Einsatz einer Gliederpuppe vermittelt. Die dabei eingesetzte Modellfigur hat sich bis heute erhalten, misst 42,8 cm und wurde gewiss für eine Vielzahl von Studien verwendet, bevor Moreau mit ihr die Gestalt der Salomé entwickelte (Bild 231). Er überzog sie dabei auch modellierend mit einer Wachsschicht, um sie der Bildgestalt immer weiter anzunähern. In diesem Zustand verblieb die Gliederpuppe bis zum heu-

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In seinen Eigenen Aufzeichnungen äusserte sich Moreau wiederholt zur ambivalenten Erscheinung, die er seiner Salomé verleihen wollte: „Ainsi, dans ma Salomé, je voulais rendre une figure de sibylle et d’enchanteresse religieuse avec un caractère de mystère.“ Gustave Moreau: Éctits sur l’art, hg. v. Peter Cooke, Fontefroide 2002, S. 99. Joris-Karl Huysmans: À rebours (1884), hg. v. Karl-Maria Guth, Berlin 2015, S. 53: „Concentrée, les yeux fixes, semblable à une somnambule, elle ne voit ni le Tétrarque qui frémit, ni sa mère, la féroce Hérodias, qui la surveille […].“

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

Bild 229  Aktstudie für Salomé, Schwarze Kreide auf gelbem Papier, 37,4 × 22,1 cm, Inv. Nr. Des.2298, Musée Gustave Moreau, Paris.

Bild 230  Studie für Salomé, Federzeichnung, 19,2 × 14,1 cm, Inv. Nr. Des.2349, Musée Gustave Moreau, Paris.

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III  Konzept

Bild 231  Gustave Moreau: Salomé, Gliederpuppe mit Wachsschichten und Textilauflagen, Höhe 48,2 cm, Inv. Nr. 14138, Musée Gustave Moreau, Paris.

Bild 232  Schauvitrine mit Salomé zwischen Wachsmodellen Gustave Moreaus, Musée Gustave Moreau.

tigen Tag und wird, als Salomé betitelt, im Musée Gustave Moreau in Paris ausgestellt (Bild 232). Durch die aufmodellierten Wachsschichten, die noch heute Moreaus Fingerabdrücke tragen, nähert sich diese Modellfigur all jenen Objekten an, die mit Ton oder Wachs auf eine Armierung aus Holz oder Draht plastisch aufgeformt wurden. Formbares Material und verstellbare Gliederpuppe vereinen sich in diesem Modell. Damit erweist sich die Gliederfigur Moreaus als entscheidende Zeugin einer verbindenden Modellauffassung, die Gliederpuppen und Wachs- oder Tonmodelle im selben Arbeits- und Denkprozess des bozzare verortet. Auch letztere Modelle kamen in Moreaus Atelier zahlreich zum Einsatz, wie die noch heute in der Schauvitrine versammelten Wachsplastiken

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

Bild 233  Studie für Salomé, Bleistiftzeichnung, 27,2 × 23,4 cm, Inv. Nr. Des.2307, Musée Gustave Moreau, Paris.

bezeugen, die – geradezu mahnend – den lange Zeit verkannten bildhauerischen Aspekt in seinem Schaffen herausstellen.38 Die Gliederpuppe half dem Maler indes nicht allein bei der Entwicklung der charakteristischen Tanzfiguration der Salomé. Auch die aufwendigen Studien zu den prachtvollen Gewändern konnte Moreau mithilfe der Gliederpuppe bewerkstelligen. Es zeugt von Moreaus geradezu manischem Dokumentationswillen, dass der Künstler wiederholt die Umstände der Studiensituation notierte: Am unteren Blattrand einer solchen Gewandstudie hat er nicht nur seine 38

Erst 2010 wurde mit der grundlegenden Ausstellung Gustave Moreau. L’homme aux figures de cire diesem Desideratum begegnet. Vgl. Ausst. Kat.: Gustave Moreau. L’homme aux figures de cire, hg. v. Marie-Cécile Forest, Paris 2010.

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III  Konzept

Signatur hinterlassen, sondern auch den Hinweis: „Draperie – d’après le mannequin – Salomé“ (Bild 233). Im Prozess dieser Werkentstehung treten anhand der Gliederpuppe Moreaus die beiden tradierten Aufgabenfelder dieses speziellen Ateliermodells erneut zutage: Durch ihren variablen anthropomorphen Gliederkörper stellte sie eine manipulierbare, dienende und zugleich eigenständige Form dar, die gemäß des kontinuierlichen bozzare in unterschiedlichste Figurationen gebracht werden konnte. Zugleich bot sie sich, in ihrer Zwitternatur zwischen dynamischer Formgebung und verharrender Statik, als nimmermüdes Studienobjekt an, mit welchem langwierige Haltungs- und Draperiestudien bewerkstelligt werden konnten. In diesem Sinne sind Gliederpuppen als konzeptueller Gestaltapparat begreifbar.39 Aufgrund ihrer potentiellen Figurationsänderung stehen sie zwischen zwei benachbarten Gattungen: der unbeweglichen Skulptur und der Automate.40 Von der Gattung der Skulptur hebt sie sich insofern ab, als sie keiner endgültigen Haltung verhaftet bleibt. Im Gegensatz zu eigenbeweglichen Androiden, denen eigenständige Bewegungs- oder Sprechfähigkeit verliehen wurde,41 vollführen Gliederpuppen indes keine autonomen Bewegungen – für die Veränderung ihrer Gestalt benötigen sie stets eine formgebende Hand. Am Beginn ihres modellbezogenen Einsatzes steht demnach der Einstellungsbeziehungsweise Formprozess: der Künstler stellt sich die Gliederpuppe in seinem Sinne ein, wobei dieses Einstellen gleichsam Denkprozess und vorausgenommene Bildgestaltung darstellt. Einerseits suchend-spielerisch, andererseits bereits im Kopf geschaffene Bilder verwirklichend, unternimmt der Künstler eine gestalterische, formgebende Handlung. Mit ‚denkender Hand‘ generiert er

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Zum Begriff des kreativen, Bilder-generierenden Apparats vgl. Bernd Hüppauf: Maschine-Mensch-Apparat, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 14 (2005), Heft 2, S. 259–282, hier S. 270 f. Aus der Fülle der Forschungen zu diesem Komplex vgl. insbesondere: Annette Beyer: Faszinierende Welt der Automaten. Uhren, Puppen, Spielereien, München 1983; Völker: Künstliche Menschen; Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben; Gisela Febel/Cerstin Bauer-Funke (Hg.): Menschenkonstruktionen. Künstliche Menschen in Literatur, Film, Theater und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2004; Marlen Jank: Der homme machine des 21. Jahrhunderts. Von lebendigen Maschinen im 18. Jahrhundert zur humanoiden Robotik der Gegenwart, Paderborn 2014. Wie Heribert Schulz beschreibt, agieren heutige humanoide Roboter als autark handelnde Gliederpuppen. Vgl. Heribert Schulz: Die Geometrie des humanoiden Roboters, in: Heribert Schulz: Die Geometrie des humanoiden Roboters, in: Ausst. Kat.: Geometrie der Figur. Luca Cambiaso und die moderne Kunst, hg. v. dems., Osnabrück 2007, S. 206–213.

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

in einem ersten dynamischen Schaffensprozess eine vor-bildliche Figuration.42 Auch der Zeichner ist damit zuerst formender Bildhauer seines Modells. Die im Formprozess der plastischen Modelle und dem Einstellungsprozess der Gliederpuppe bestehende Verknüpfung von Auge und Hand spreizt den Wahrnehmungsfokus des Handelnden insofern auf, als nunmehr dem Tastsinn eine besondere, gleichgeordnete Rolle zukommt. Diesem Sinn, der in den vergangenen Jahren sowohl aus evolutionstechnischer, wahrnehmungspsychologischer, kulturhistorischer und neurowissenschaftlicher Sicht eine Konjunktur erlebte,43 bietet sich die Gliederpuppe stets als etwas potentiell Gestaltbares an.44

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Der von Denis de Rougemont noch als emblematischer Entwurf für praktische Partizipation in der Gesellschaft eingeführte Begriff des „penser avec les mains“ folgt hier epistemologisch dem Begriff der ‚denkenden Hand des zeichnenden Künstlers und Wissenschaftlers’ im Sinne Bredekamps, wobei dieses Prinzip für die denkende Hand des formenden Künstlers hier erweitert werden soll. Siehe dazu: Horst Bredekamp: Denkende Hände. Überlegungen zur Bildkunst der Naturwissenschaft, in: Von der Wahrnehmung zur Erkenntnis – From Perception to Understanding, Symposion der Schering Forschungsgesellschaft zu Ehren von Prof. Dr. Dr. h.c. Günter Stock im Februar 2004, hg. v. Monika Lessel/Jürgen Mittelstraß, Berlin/Heidelberg 2005, S. 109–132. Bereits bei Aristoteles findet sich der Hinweis einer durch den Tastsinn bedingten kognitiven Evolution des Menschen: „In den anderen Sinnen bleibt er zwar hinter vielen Lebewesen zurück doch im Tastsinn übertrifft er die anderen um vieles an Genauigkeit. Daher ist er auch das klügste von den Lebewesen.“ Aristoteles: De anima. Über die Seele, hg. v. Horst Seidl, Hamburg 1995, S. 115, 421a. Zur Rolle der Hand für die Evolution vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1988. Zur wahrnehmungspsychologischen Forschung vgl. Yvette Hatwell/Arlette Streri/ Edouard Gentaz (Hg.): Touching for knowing. Cognitive psychologie of haptic manual perception, Amsterdam/Philadelphia 2003. Für autoreflexive Wahrnehmungsprozesse werden Gliederpuppen heute auch in der Blindenpädagogik eingesetzt, vgl. Christine Pluhar: Bilder im Unterricht der Blindenschulen, in: Klaus Spitzer/Magarethe Lange (Hg.): Tasten und Gestalten. Kunst und Kunsterziehung bei Blinden, Hannover 1988, S.  506–522. Bezüglich neurowissenschaftlicher Erkenntnisse vgl. Rolf Pfeifer, Josh C. Bongard: How the body shapes the way we think. A new view of intelligence, Cambridge 2007. Vgl. hierzu die Vorschläge zu einer Phänomenologie der Gliederpuppe im Sinne der Affordance-Theorie in Kap. III.3.c)

468  

III  Konzept

c   Den k f ig u r Gl ieder pupp e D ie Gl ie der p up p e a l s bi ld l ic he Kub e n f ig u r – Luc a C a mbi a s o Ebenso wie die technisch-anthropomorphen Figurationen Leonardos bietet etwa die Proportionslehre Dürers Hinweise und Ansatzpunkte für eine ideelle Transformation der Gliederpuppe. Auch die sich bei Erhard Schön manifestierenden Mechanismen der bildlichen Entwicklung des Menschen aus einer schematisierten Grundfigur scheinen von einer Gliederpuppenerfahrung geleitet.45 Eine derartige Übersetzung der Gliederpuppe in eine bildliche Denkfigur kulminiert schließlich in Zeichnungen des manieristischen Malers Luca Cambiaso (1527–1585).46 Über die Ursprünge von Cambiasos zeichnerischer Technik sind sich die Zeitgenossen uneins. Anders als Lomazzo, welcher Cambiasos Zeichentechnik aus der lombardischen Tradition entwickelt, indem er von Vincenzo Foppa (1427/ 1430–1515/1516) ausgehend über Bramante (1444–1514), Raffael und andere Künstler zu Luca Cambiaso gelangt,47 insistiert Raffaele Soprani (1612–1672) darauf, die Ursprünge der ‚maniera cubica‘ in den künstlerischen Wurzeln und dem Ausbildungsverfahren der Familie des Künstlers zu verorten. Giovanni Cambiaso habe seinen Sohn Luca in die Geheimnisse dieser von ihm erfunde45

46

47

Vgl. hiezu Kap. II.2.a) Dürers Nachfolger – Erhard Schön; zudem Rathgeber: Strichfiguren; Pirkko Rathgeber u. a. (Hg.): BildBewegungen. ImageMovements, Paderborn 2013. Pirkko Rathgeber sei für den Austausch zu diesem Themenkomplex vielmals gedankt. Vgl. Ausst. Kat.: Luca Cambiaso. Un maestro del Cinquecento europeo, hg. v. Piero Boccardo, Cinisello Balsamo 2007; Ausst. Kat.: Geometrie der Figur. Luca Cambiaso und die moderne Kunst, hg. v. Heribert Schulz, Osnabrück 2007; vgl. zuletzt Rath: Manipulationen. Dabei sind neben den Ölgemälden und den großformatigen Fresken insbesondere seine Zeichnungen ins Zentrum der Untersuchungen gestellt worden. Vgl. Jonathan Bober: I disegni di Luca Cambiaso, in: Ausst. Kat. Luca Cambiaso: un maestro del Cinquecento europeo, hg. v. Piero Boccardo, Cinisello Balsamo 2007, S.  63–83; Lauro Magnani: ‚Den menschlichen Körper mittels Kuben zeichnen‘. Luca Cambiaso und die ‚quadratischen Figuren‘, in: Ausst. Kat.: Geometrie der Figur. Luca Cambiaso und die moderne Kunst, hg. v. Heribert Schulz, Osnabrück 2007, S. 34–53. Im 14. Kapitel seines Trattato dell’arte della pittura, in welchem Lomazzo die Proportion nach Augenmaß bespricht („Strada di monstrar le proporzioni naturai secondo il veder dell’occhio“), beschreibt er: „Or quanto alle figure quadrate ne disegnò assai Vincenzo Foppa, il qualeforse doveva aver letto di quelle che in tal modo squadrava Lisippo statuario antico, con quella simmetria, che in latino non ha nome alcuno. E seguendo lui ne disegnò poi Bramante un libro, da cui Raffaello, Polidoro, e Gaudenzio ne cavarono grandissimo giovamento; e secondo che si dice è pervenuto poi nelle mani di Luca Cambiaso.“ Lomazzo: Trattato dell’arte della pittua, scoltura et architettura, Vol. II, Lib. 6, S. 139 f.

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

Bild 234  Luca Cambiaso: Figurenstudie, Mitte 16. Jh., Federzeichnung, Inv. Nr. 13736 F, Gabinetto Disegni e Stampe, Uffizien, Florenz.

nen geometrischen Proportionszeichnung eingeführt: „Giovanni war in der Zeichenkunst so erfolgreich, da er eines Tages ganz allein die geistreiche Regel ersann, den menschlichen Körper durch Kuben wiederzugeben“48, wobei dies vom Sohn dann perfektioniert worden sei: „Jener machte sich daran, die von seinem Vater bereits ersonnene Regel, den Körper des Menschen mittels Kuben zu zeichnen, zu perfektionieren, und dies gelang ihm wunderbar.“49 48

49

„Fece Giovanni tal riuscita nell’arte del disegno, che da se solo arrivò un giorno ad inventare l’ingegnosissima regola di delinare il corpo umano per la via di cubi.“ Raffaele Soprani: Le vite de’ pittori, scultori, ed architetti genovesi e de’ Forestieri che in Genova operando (1674), hg. v. Carlo Giuseppe Ratti, Genua 1768, S. 34. „Egli si diede a perfezionare la regola già ritrovata da suo Padre di disegnareil corpo umano per la via di cubi; e meravigliosamente vi riusciti.“ Soprani: Le vite, S. 83 f.

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III  Konzept

Eine Zeichnung aus den Uffizien veranschaulicht diesen bildnerischen Prozess (Bild 234): Sieben Kubenfiguren bilden eine ineinander verschachtelte Menschenpyramide. Über eine auf dem Boden liegende, aufgestützte Gestalt beugt sich von hinten eine zweite, welche ihr unterstützend unter die Arme greift, um ihr aufzuhelfen. Das Paar ist zwischen zwei stehenden Kreaturen angeordnet, die diese Szene beobachten. Die vordere Figur stützt sich in einer Vorwärtsbewegung mit der linken Hand auf eine massive vertikale Platte und weist mit der Rechten in präsentierender Geste auf das Geschehen vor ihr. Die hintere Figur schlägt beide Hände scheinbar ungläubig über dem Kopf zusammen, nachdenklich in gespannter Haltung verharrend. Eine dritte Gestalt, die auf Kopfhöhe links neben der Figur im Vordergrund herabstürzt, wendet sich in ihrer Bewegung in bizarrer Weise auch der liegenden im Zentrum des Blattes zu. Über diesen fünf Figuren bilden zwei weitere die Spitze der Pyramide. Unvermittelt in der Luft stehend, trägt eine gebeugte Gestalt auf ungewöhnliche Weise eine andere. Diese lagert kopfüber, ihre Gliedmaßen von sich spreizend, mit der ganzen Breite ihres Rückens auf dem Rücken der Tragenden. Um die akrobatische Haltung zu stabilisieren, ist der oberen Figur um das Becken ein Band geschlungen, dessen Enden das tragende Geschöpf mit festem Griff umklammert. Dieses Paar, welches in einer anderen Raumebene angeordnet wurde, durchbricht am deutlichsten die Einheit der Komposition. In einer Zeichnung aus dem Berliner Kupferstichkabinett (Bild 235) sind nunmehr derartige Figuren in Form von Einzelstudien klarer voneinander abgesetzt. Die Posen dieser Kubengestalten, so Heribert Schulz, sind als Studien elementarer Bewegungsformen auszulegen: „Oben erkennt man Darstellungen von ‚Bücken‘, ‚Knien‘ und ‚Werfen‘, in der Mitte und unten ‚Stürzen‘ und ‚Fallen‘ in unterschiedlichen Perspektiven und Haltungen.“50 In beiden Zeichnungen ist in Vollendung die Metamorphose der menschlichen Figur in gegliederte Kubengestalten zu beobachten. Ansätze dieser Geometrisierung und Vereinfachung der Figuren finden sich etwa ab 1560 im Werk des Malers. Hier wird Cambiasos Bemühen deutlich, die durch ihre Bewegung verkürzten Figuren dem sie umgebenden Raum perspektivisch adäquat einzupassen. Er glaubt, den menschlichen Körper in eine ‚lineare Figur‘ übertragen zu können, die aus Punkten und Linien besteht, indem er sie in dreidimensionale geometrische Formen übersetzt, die in den Raum einzufügen und im Raum wiederum zu studieren sind. Dies geschieht in der festen Überzeugung, ausgehend von der Idee bis zu der abschließenden Realisierung

50

Er verweist dabei auf Lomazzo, welcher diese Technik bereits ohne triftigen Grund Bramante zuschreiben wollte. Ebd., S. 84. Heribert Schulz: Luca Cambiaso: La maniera cubica, in: Ausst. Kat.: Geometrie der Figur. Luca Cambiaso und die moderne Kunst, hg. v. dems., Osnabrück 2007, S. 55–121, hier S. 56.

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

Bild 235  Luca Cambiaso: Bewegungsstudie von Figuren, Mitte 16. Jh., Federzeichnung, 27,5 × 20,2 cm, Inv. Nr. KdZ 15207, Kupferstichkabinett, Berlin.

des Werks mit einem einzigen formgebenden Kriterium verfahren zu können. Es handelt sich um eine symmetrische Konstruktion des Körpers und seiner Teile innerhalb des Vitruvschen Konzepts von Übereinstimmung zwischen dem Ganzen und seiner Teile. Die Figuren werden als geometrische Elemente verstanden und kombiniert und fügen sich in die Homogenität des Raumes ein.51 51

Vgl. ebd.

472  

III  Konzept

Die Rolle der Gliederpuppe in der Entwicklung von Cambiasos Zeichentechnik ist nicht abschließend ergründbar. Den Körpern der Studie aus den Uffizien, wie auch denjenigen des Berliner Blatts, scheinen Gliederpuppen zugrunde gelegt. Ihre wässrig-lasierte Schattenbildung unterstreicht das blockhafte Volumen, wodurch der Eindruck plastischer Modelle verstärkt wird. Ganz im Sinne Dürers könnte Cambiaso in der beweglichen Gliederpuppe einen Idealtypus für diese geometrisch artikulierten Formen erkannt haben, auch wenn er seine Erkenntnisse nicht über die Vermessung des Körpers erhalten hatte. Vergleichbar mit Dürer und gegensätzlich zu Schön folgte sein Verfahren jedoch einer Entwicklung ausgehend von der natürlichen Gestalt als Prozess zunehmender Schematisierung. Ob Cambiaso seine Bewegungsmuster mithilfe von Gliederpuppen entwickelte, ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Die von Alberti eingeforderten Erfahrungswerte anhand plastischer Modelle verinnerlichte er indes ausführlich während der Lehrjahre bei seinem Vater, wie Soprani darlegt: „Jener bediente sich nun der Kunst der Plastik, die er auch mit großer Aufmerksamkeit seinem Sohn Luca lehrte, indem er ihn bereits in jungen Jahren daran gewöhnte Tonmodelle anzufertigen, denn (wie er sagte) ein perfekter Maler könne nur Erfolg haben, wenn er sich zuerst im plastischen Formen geübt habe.“52 Selbst wenn Cambiasos Figuren im Einzelnen nicht anhand von Gliederpuppen konstruiert worden sind, so hatte der Künstler doch die variablen Modelle vor Augen, aus denen sich, wie Magnani betont, „die Vertrautheit und Neigung zu einer stereometrischen Sicht auf die Natur“53 entwickelt hatte: „Vorstellbar ist ein praktisches Experimentieren mit dem dreidimensionalen Manichino. Haltungen und Verkürzungen, die er dort einmal feststellte oder die er durch korrekte perspektivische Methoden oder auch praktische stereometrische Vereinfachungen konstruierte, wusste er sich graphisch anzueignen. Somit wurden sie Teil seiner Praxis.“54 52

53 54

„Egli inoltre impiegossì nell‘artificio della Plastica, che anche insegnò con gran premura a Luca suo figlio, avvezzandolo da giovanetto a far modelli di terra; poichè (conforme diceva) perfetto Pittore non può mai riuscire colui, che prima nella Plastica non si sia esercitato.“ Soprani: Le vite, S. 35. Magnani: „Den menschlichen Körper mittels Kuben zeichnen“, S. 46. Ebd. Magnani beschreibt außerdem jüngere virtuelle Experimente, bei denen die gegliederten Figuren im virtuellen Raum rekonstruiert werden, insbesondere die der Figurenstudie aus den Uffizien. Das Projekt 3D Rendering of Luca Cambiaso’s (1527-1585) „Cubist Figures“ wurde erstmals im Rahmen der ‚EVA-2004 London Conference’ vorgestellt. Magnanis Deutung gingen die Erkenntnisse Giorgio Fubinis voraus, der die lebendigen Bewegungsfiguren als Derivate sowohl der Gliederpuppe als auch des natürlichen Modells bestimmt hatte: „Sono tavolta di manichini,

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1. Die Gliederpuppe als variabler Bildkörper

Dementsprechend konnte Cambiaso eine mithilfe der Gliederpuppe angeeignete kubische Systematisierung der menschlichen Gestalt während des zeichnerischen Entwurfsprozesses innerhalb des Blattes weiterentwickeln, die transzendierte Modellfigur im Kopf und während des Zeichnens ‚einstellen‘.55 Er offenbart damit ein konzeptuell geprägtes, adaptives Verständnis der Gliederpuppe, indem er sie als bildlich eingesetzte Denkfigur systematisch in das sie umgebende lineare Raumgefüge einspannte. Auch nach Cambiaso wurde die gliederpuppenhafte Kubengestalt in zahlreichen Traktaten, Lehr- und Zeichenbüchern vorgestellt, so etwa in Jacques-Nicolas Paillot de Montaberts (1771–1849) Traité complète de la peinture (1829). Die konsequente, konzeptuell zu begreifende Entwicklung des plastischen Modells als variabel einsetzbare bildgewordene Gliedergestalt manifestierte sich indes erstmals im Schaffen des Luca Cambiaso.

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tavolta sono delle persone, ma sempre vivono, sempre rappresentano un pensiero anche se fugace d’un pittore che è un grande artista, forse uno die più grandi disegnatori del suo tempo.“ Giorgio Fubini: Disegni inediti di Luca Cambiaso e Alessandro Magnasco all‘Ambrosiana, in: Studi in onore di Carlo Castiglioni, o. Hg., Mailand 1957, S. 331–336. Dass in der Folge von Cambiaso sich jene Kubenwesen in den „Bizzarrie“ des Giovanni Battista Braccelli (um 1600–1650) verselbständigten, zeigte Gustav René Hocke auf. Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 143 ff.

2 .   D er S tatuswandel der G liederpuppe

Der konzeptuelle Gestaltwandel der Gliederpuppe ist im Modell bereits intrinsisch als Ambivalenz angelegt. Um verschiedenste Haltungen einzunehmen, benötigt sie stets die gestaltende Hand. Dennoch erscheint sie insofern nicht als ein rein passives Objekt, als ihre Gelenkigkeit ein fortwährendes Variationsangebot an den Betrachter darstellt und jede Gestaltveränderung zugleich eine Aktualisierung der Figur beinhaltet. Hinsichtlich ihrer konzeptuellen Aufladung lässt sich feststellen, dass der Gliederpuppe seit der intensiv geführten Debatte der Académie Royale das negativ konnotierte Bild des passiven, unzureichenden Atelierhilfsmittels anzuhaften scheint. War sie zuvor geschätzt, jedoch entweder durch sprezzatura überspielt, oder en passant mit der Gefahr einer zu steifen Figurenanlage in Verbindung gebracht worden,1 wird sich das einst positive Verständnis im 18. Jahrhundert zunehmend verdüstern. Für eine erste Überprüfung dieser These ist der Vergleich des Begriffs „mannequin“ in historischen Nachschlagewerken dienlich. Da sich die Debatte in Frankreich entspinnt, soll der Blick auf die sich vom 17. bis zum 20. Jahrhundert ausdifferenzierenden Bedeutungsschichten der Gliederpuppe im Dictionnaire de l’Académie française gerichtet werden. Während Jean Nicot (1530–1604) im posthum veröffentlichten Thresor de la langue françoyse von 1606 unter dem Lemma „mannequin“ lediglich auf den marktüblichen Weidenrutenkorb verweist,2 wird der Begriff in der 1694 erschienenen Ausgabe des von der französischen Akademie herausgegebenen Dictionnaire um einen zweiten Verweis erweitert: „eine hölzerne Figur, die in allen Gelenken der Gliedmaßen biegbar ist, und welche die Maler und Bildhauer einstellen, wie es ihnen beliebt, um die Draperien nach denjenigen Haltungen 1 2

Vgl. hierzu Kap. II.1. Jean Nicot: Thresor de la langue françoyse, tant ancienne que moderne, Paris 1606, S. 393.

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III  Konzept

vor Augen zu führen, die sie malen wollen.“3 Hier beschreibt „mannequin“ neutral die Gliederpuppe im Sinne ihrer generellen Anwendung als Atelier­ modell. In der Ausgabe von 1762 hatte sich dieses Verständnis erweitert und dabei einen pejorativen Zug angenommen. Neben dem Weidenkorb und der bekannten Beschreibung als Künstlerhilfsmittel werden nun auch zwei geläufige Redewendungen angegeben: „Man sagt: Dieser Figur merkt man die Gliederpuppe an, um zu sagen, dass sie nicht nach der Natur studiert wurde. Man sagt desweiteren: Gliederpuppenhaft. Diese Faltenwürfe sind gliederpuppenhaft, um zu sagen, dass sie in ihrer Anordnung geziert erscheinen.“4 In der folgenden Auflage aus dem Jahr 1798 hat sich der Begriff in seinen bisherigen Verwendungen erhalten, neu ist indes ein sinnbildlicher Bedeutungszuwachs: „Man sagt im übertragenen Sinne: Das ist eine wahre Gliederpuppe, fast gleichbedeutend, wie wenn man sagt: Das ist ein Strohmann, um zu sagen, dass es sich um einen zwielichtigen Menschen handelt, ein nichtsnutziger Mensch ohne Charakter, den man nach Belieben in jede Richtung bewegen kann.“5 Die Eigenschaften des anthropomorphen Modells wurden hinsichtlich ihrer passiven Artifizialität reziprok auf den Menschen zurückgeworfen. Mit dieser neuartigen Bedeutungsebene erhielt die Gliederpuppe eine über ihre Natur des dienenden Künstlerhilfsmittels hinausgehende Konnotation als konzeptuelle Negativgestalt. Zwar sollten in den Ausgaben von 1832–1835 und 1932–1935 weitere Objekte unter dem Begriff „mannequin“ versammelt werden, doch betrafen sie veranschaulichende Präsentationsformen und keine weiteren allegorischen Aufladungen.6 Der hier zusammengeführte Bedeutungswandel steht symptomatisch für die differierenden konzeptuellen Impli3

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5

6

„MANNEQUIN. Est aussi une figure de bois qui se plie dans toutes les jointures des membres, & que les Peintres & les Sculpteurs accomodent comme il leur plaist, pour disposer des draperies, suivant les diverses attitudes des figures qu’ils veulent peindre.“ Dictionnaire de L’Académie françoise, Paris 1694, Bd. II, S. 21. „On dit, Cette figure sent le mannequin, pour dire, qu’Elle n’a pas été étudiée sur la nature. On dit aussi, Mannequiné. Ces draperies sont mannequinées, pour dire, qu’Elles sont disposées avec affectation.“ Dictionnaire de L’Académie françoise, Paris 1762, Bd. II, S. 88 (Hervorhebung im Original). „On dit figurément d‘un homme, C’est un vrai mannequin, presque au même sens qu’on dit, C’est un homme de paille, pour dire, que C’est une fausse apparence d’homme, un homme nul et sans caractère, que l’on fait mouvoir comme on veut.“ Dictionnaire de L’Académie françoise, Paris 1798, Bd. II, S. 66 (Hervorhebung im Original). In der Ausgabe von 1832–1835 kommt als neue Bedeutung das medizinische Modell hinzu: „Mannequin se dit également des figures imitant le corps humain, sur lesquelles les chirurgiens s‘exercent à l‘application des bandages et à la manoeuvre des accouchements“ (Dictionnaire de L‘Académie française, Paris 1832 ff., Bd. II, S. 161), während die Ausgabe von 1932–1935 unter dem Begriff auch die Kleiderpuppe und schließlich die lebenden Kleidermodelle fasst: „Mannequin. Par extension, en termes de Modes, il se dit des Jeunes femmes auxquelles les couturiers font porter

477  

2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

kationen der Gliederpuppe – als praktisches, lebensnahes Modell und Referenz­ figur des passiv Unbelebten. Dieser historisch nachvollziehbare Zuwachs an sinnbildlicher Aufladung sollte schließlich im 20. Jahrhundert zu einer bildlichen Omnipräsenz der Gliederpuppe führen: als Menschenmetapher im Bild, als manipulierbarer Fetisch des Künstlers und als Idealtypus der Avantgarde.7

a   L eb endes Mo del l D a s geg l ie der te G ege nüb er „Come se fussino d’uno vivo“ – „als ob es sich um einen Lebenden handelt“ lautete Filarete Anleitung zur Indienstnahme der Gliederpuppe in ihrer ersten quellenbezeugten Nennung. Das gegliederte Modell wurde hier als Substitut des lebenden Menschen erkannt, mit dem Vorteil, dass es geduldiger, jedoch mit demselben Haltungsrepertoire eines wahrhaftigen Gegenübers verwendet werden kann. Im selben Maße hatte Vasari die Vorzüge der Gliederpuppe in den Vite gepriesen, indem die Gliederpuppe als ingeniöse Entwicklung gewürdigt wurde, mithilfe derer ein anthropomorpher Leib für das Faltenstudium und diverse Figurationen bereitstehe. Wenngleich sie sicherlich nicht als Atelierhilfsmittel ihre Bestimmung finden sollten, scheinen die ältesten Gliederpuppen der Frühen Neuzeit, die der Hand des Monogrammisten IP entstammen, diesen Impetus an Lebendigkeit besonders zu verkörpern.8 Auch die graduell und erheblich schematischeren Gliederpuppen, die in den Atelierbildern zutage treten, sind immer wieder als lebendig bewegte Figuren inszeniert – so assimilieren sich der Bildschnitzer und seine Gliederpuppe im Porträt van den Valckerts nicht allein durch die Übereinstimmung der Antlitze, sondern auch durch die zirkuläre Geste (Bild 176). Die scheinbar aus dem Bild eilende Gliederpuppe im Atelier van Ostades (Bild 180) könnte ebenso wie die schematische Gliedergestalt in der Werkstattszene van der Vinnes (Bild 181) als unverkennbar dynamisch aufgefasste Bildfigur gelesen werden. Doch nicht allein über die Vehemenz der körperlichen Geste, bereits durch ihre anthropomorphe Gestalt kommt der Gliederpuppe eine Lebensnähe zu. Die erste Beweisführung für dieses Beziehungsgeflecht hatte van de Passe in seinem Zeichenbuch präsentiert, indem er aus der demonstrativ in ihrer Kon-

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8

leurs modèles pour les présenter.“ (Dictionnaire de L‘Académie française, Paris 1932 ff., Bd. II, S. 154). Jane Munro bringt den Statuswandel des Künstlermannequins auf die prägnante Formel „From function to fetish“. Vgl. Ausst. Kat.: Silent Partners. Artist and Mannequin from Function to Fetish. Vgl. hierzu Kap. II.3.c).

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III  Konzept

Bild 236  Benjamin Giese: Allegorie der Malerei, 1746/1747, vergoldetes Bronzerelief, Südostwand d. Bibliothek, Schloss Sanssouci, Potsdam.

struktionsweise eingeführten Gliederpuppe sukzessive eine „natürliche“ Gestalt bildlich entstehen lässt (Bild 182, 184).9 Als van de Passes Gefolgsmann überführte der Metallbildhauer Benjamin Giese (1705–1755) dieses Menschenmodell nun ganz in das Sinnbild der Malerei. In seinem Zyklus der Künste bestehend aus vier ovalen Flachreliefs aus feuervergoldeter Bronze in der Bibliothek des Schlosses Sanssouci von 1746/1747 bildet eine Gliederpuppe die Allegorie der Malkunst (Bild 236).10 Inmitten einer Gartenlandschaft, die links von einer antikischen Statue vor einem Monopteros und rechts von einem Tizianesken Laubbaum begrenzt wird, tummeln sich sieben Putten, die in unterschiedlichen Stadien des künstlerischen Studiums gezeigt sind. Das Zentrum bildet eine große, durch Kugelgelenke bewegliche Gliederpuppe mit weiblicher Brust und puppenhaftem Gesicht, welche auf einem massiven Sockel sitzt. Mit überkreuzten Beinen stützt sie sich auf ihren linken Arm, während die rechte Hand an ihrem Gewand zupft. Sie wird im nächsten Augenblick von einem Putto in die richtige Position gebracht, um zusammen mit einer anderen Kindergestalt die weiten Stoffbahnen um sich herum zu drapieren. Noch ist die Gliederpuppe in ihrer konstruktiven Anlage gezeigt, doch wird das Tuch, welches über dem Kopf 9 10

Vgl. hierzu Kap II.2.a). Gieses Bildprogramm zeigt als weitere Allegorien Bildhauerei, Astronomie und Musik (Apoll mit den Musen).

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 237  John Ferguson Weir: His Favourite Model, um 1885, Öl/Lw., Yale University Art Gallery, New Haven.

bereits die Form eines kleidsamen Umhangs annimmt, bald ihre artifizielle Natur verschleiert haben. Die sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auch außerhalb der Académie Royale, etwa im deutschen Sprachraum, immer wieder bildlich manifestierende Ambivalenz der Gliederpuppe ist in Bezug zu den leidenschaftlichen Bekenntnissen ihrer überzeugten Anhänger zu setzen. So erklärt der englische Aktmaler William Etty (1787–1849), dass er während seines Aufenthaltes 1824 in Paris unter allen Umständen eine Gliederpuppe von einem bestimmten Hersteller – hier könnte der berühmte Gliederpuppenmacher Huot gemeint sein – erstehen müsse.11 Diese sei für ihn ein unabdingbares Hilfsmittel: 11

Alexander Gilchrist: Life of William Etty, R. A., London 1855, S. 204. Zu den Gliederpuppen Huots vgl. Kap. II.2.c) Historische Exemplare.

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III  Konzept

„A Lay-Figure, you know, is a figure for Drapery. If I have one, it may be the means of my painting fewer naked figures in my pictures, which some (already) say, is to be desired. It has all the actions of the human figure, and the power to keep in any. Much clever mechanism is therefore requisite in its internal construction. It is the dearest, most difficult to be procured of the materiel of a painter; but essential to me.“12 Wenngleich sich bis zum Ende dieses Jahrhunderts und darüber hinaus die Gliederpuppe europaweit hinsichtlich ihrer vielfältigen Einschreibungen zu einem Symbol des Leblosen entwickeln sollte, kann die quasi-lebendige Inszenierung des geschätzten Modells weiterverfolgt werden. Etwa in John Ferguson Weirs (1841–1926) Atelierszene mit Gliederpuppe, das den sprechenden Titel His favourite Model trägt (Bild 237): Hand in Hand mit der lebensgroßen weiblichen Gliederpuppe wird der enge Bund zwischen Künstler und künstlichem Modell bekräftigt.13 Als derart geschätztes, gar gleichberechtigtes Modell sollte die Gliederpuppe schließlich auch in der Rolle einer Komparsin in Erscheinung treten.

D ie Gl ie der p up p e a l s Komp a r si n Der französisch-amerikanische Maler André Castaigne (1861–1929) hatte eine akademische Ausbildung an der Académie Royale genossen, bevor er 1890 in die Vereinigten Staaten übersiedelte.14 In seinem um 1900 entstandenen Atelierbild tritt eine satirische Note deutlich zutage: Gebückt hinter seiner Staffelei im ärmlichen, unaufgeräumten Atelier sitzend, studiert der Maler das groteske Paar eines aufrecht stehenden, mit Büchse und Lorbeerkranz ausgestatteten Gliedermannes, vor welchem ein Mann mit nacktem Oberkörper niederkniet, um ihm den Ehrenerweis des demütigen Handkusses zu übermitteln (Bild 238). In der Rollenverteilung wird eine karnevaleske Umkehr der Modellhierarchien vollzogen, indem die herrschaftliche Gliederpuppe über das männliche Modell dominiert. Die Szene, welche Castaignes Illustratorentätigkeit in Erinnerung ruft, trägt mit dem Titel Working for the Prix the Rome bereits den Hinweis der anvisierten Spitze in sich – um als Künstler im akademischen Wettbewerb zu reüssieren, muss dem gegliederten Modell gehuldigt werden. Weniger als das 12 13

14

Vgl. Gilchrist: Life of William Etty, S. 204; Woodcock: Posing, Reposing, Decomposing, S. 461. Wenngleich es sich hier offenbar nicht um ein Selbstporträt Weirs handelt, ist dennoch seine aktive Gliederpuppenverwendung bekannt. Vgl. Ausst. Kat.: Silent Part­ ners, S. 132 f. Vgl. zur wenig erforschten Biographie: Dictionnaire des artistes de langue française en Amérique du Nord, hg. v. David Karel, Montréal 1992, S. 151 f.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 238  André Castaigne: Working for the Prix de Rome, um 1900, Öl/Lw., Inv. Nr. DLC/PP-1935:0022, Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington, DC. (Farb­tafel 26)

Karikaturhafte dieser Ateliersituation scheint indes die hierbei observierbare parallele Verwendung von lebendem und künstlichem Modell. Dieser Einsatz der Gliederpuppe, die als gleichberechtigtes Gegenüber des lebenden Modells inszeniert wird, vermittelt sich eindrucksvoll durch eine Reihe von Atelierfotografien aus dem 19. Jahrhundert. Wie André Castaigne hatte auch der Maler François Brunery (1849– 1926) bei Jean-Léon Gérôme (1824–1904) an der École des Beaux-Arts studiert.15 Von Brunery verwahrt das Musée d’Orsay seit wenigen Jahren eine bemerkenswerte Sammlung von vierundzwanzig Fotografien aus dem Atelier des Malers, 15

Vgl. hierzu ausführlicher: Rath: Gliederpuppenpositionen, S. 117–122.

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III  Konzept

Bild 239  François Brunery: Atelieraufnahme mit Glieder­ puppe, 1890–1900, Silberabzug, 18,1 × 12,1 cm, Musée d’Orsay, Paris.

in welchen sporadisch und in vergleichbarer Weise wie bei Castaigne, Mensch und Modellpuppe in einer bedeutsamen Motivkombination inszeniert werden.16 Brunery zeigt in diesen zwischen 1890 und 1910 entstandenen Aufnahmen weibliche und männliche Modelle in unterschiedlichen historischen Kostümen – als Priester und weißbezopfter hônnete homme, als noble Dame und geschwätzige Haushälterin – die unmittelbar mit einer Gliederpuppe interagieren, durch welche erst eine erzählerisch vollständige Szene entsteht (Bild 239). Neben diesen mehrfigurigen Kompositionen sind auch Einzelfiguren in historischer Kleidung sowie Kostümdetails fotografisch festgehalten. In Verbindung mit den offensichtlichen Atelierspuren sowie den Perforationen in einigen Abzügen können 16

Der Erwerb erfolgte 2007. Vgl. Dominique de Font-Réaulx: Francesco Bruneri, dit aussi François Brunery, in: La revue du Musée d‘Orsay 25 (Automne 2007), S. 74 f. sowie zu den Fotografien jüngst Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 145 ff.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 240,241  Edward Linley Sambourne: Zwei lebende Modelle mit Gliederpuppe, 1899, Cyanotypien, The Royal Borogh af Kensington and Chelsea London.

die Bilder einerseits als dokumentarische beispielhafte Haltungsstudien begriffen werden, andererseits als Medien, die dem Maler einzelne Modellsitzung zu verlängern halfen.17 Bemerkenswert bleibt, dass Brunery, obgleich er auf lebende Modelle beiderlei Geschlechts zurückgreifen konnte, die Gestalt der Gliederpuppe als Widerpart bevorzugte. Auch vom gleichaltrigen Edward Linley Sambourne (1844–1910), der als Karikaturist der englischen Satirezeitung Punch zu großer Bekanntheit gelangte, sind unzählige als Vorlagen verwendete Fotografien erhalten.18 Ein besonders sprechendes Beispiel zeigt wiederum lebende Modelle zusammen mit einem Gliederpuppenkomparsen: In einen kuriosen Kampf verwickelt, streiten ein englischer Polizist, ein amerikanischer Cowboy und ein als deutscher Michel Verkleideter mit einem Gliedermann (Bild 240, 241). Unklar bleibt, ob die im Vordergrund positionierte Flinte der schematischen hölzernen Modellfigur als 17 18

Vgl. Font-Réaulx: Francesco Bruneri. Während Sally Woodcock von rund 35.000 Abzügen ausgeht, verweist Jane Munro auf eine etwa 12.000 Fotografien umfassende Sammlung aus dem Besitz Sambournes. Vgl. Woodcock: Posing, Reposing, Decomposing, S. 448; Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 100 f.

484  

III  Konzept

Bild 242  Edward Linley Sambourne: The Tug of Peace, Punch vom 26. April 1899.

Verteidigung dient oder einem ihrer Kontrahenten während der Handgreiflichkeiten abhandengekommen ist. Die ausgeführte Karikatur mit dem Titel The Tug of – Peace, welche am 26. April 1899 in The Punch veröffentlicht wurde, löst die verwirrende Szene schließlich auf, indem Sambourne aus der Gliederpuppe die – weibliche – Allegorie der Inselgruppe Samoa entwickelt hatte, um welche sich die Personifikationen der drei Nationalstaaten streiten (Bild 242).19 Die ab Mitte des 19. Jahrhunderts rasant voranschreitende Entwicklung der Fotografie erweiterte die im Atelier verwendeten Motivvorlagen, die traditionell von der Skizze über den Gipsabguss bis zur Gliederpuppe und dem Aktmodell reichten, um ein völlig neuartiges Medium.20 Diese Fotografien entstanden aus dem Wunsch heraus, eine größere Vielfalt musterhafter Vorlagen zu generieren. Gleichwohl war der „fotografische Akt“21 insbesondere aufgrund 19 20

21

Vgl. Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 101. Kwakernaak: Van hout, van stof, van vlees en bloed, hier besonders S. 160 ff. Es gibt aus jener Epoche am Übergang zum 20. Jahrhundert eine Vielzahl von Fotografien, die eine Komposition aus z. T. auch unbekleideten Modellen mit Gliederpuppen zeigen. Vgl. etwa die Aufnahme des Comte Jacques de Lalaing im Rijksmuseum Amsterdam (ca. 1885–1893), Ausst. Kat.: Mythen van het atelier. De werkplaats en schilderpraktijk van de negentiende-eeuwse Nederlandse kunstenaar, hg. v. Mayken Jonkman/Eva Geudeker, Den Haag 2010, S. 150. Vgl. Philippe Dubois: Der fotografische Akt, hg. v. Herta Wolf, Amsterdam/Dresden 1998.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

des belebten Modells vonnöten: er bannte dessen Augenblicksgestalt, während der Gliederpuppe per se das Konzept des variablen Stillstands eingeschrieben war. Die bei Brunery und Sambourne gezeigten Figurenkompositionen rufen zudem eine über Jahrhunderte tradierte, performativ inszenierte Gattung in Erinnerung – jene der tableaux vivants.22 In ihrer fotografisch fixierten Fassung gerinnt indes der Verblüffungsmoment dieser stillgestellten Lebendbilder. Indem belebte und unbelebte Figuren gleichrangig agieren, wird die Gliederpuppe zu einer gleichberechtigten Gestalt der Bildvorlage. Lebendes und lebloses Modell werden im Medium der Fotografie assimiliert.

b   Sy mb ol des Seelen losen D ie Gl ie der p up p e a l s Re a l it ät s a l legor ie Wenngleich sich die Gliederpuppe in ihren fotografischen Inszenierungen dem lebenden Modell anglich, in ihrem Bildgehalt ebenso wertvoll wie der Mensch erschien, bleibt eine immer wieder zum Vorschein tretende satirische Komponente nicht verborgen. Hatte Sambourne die Vorlagen für seine gesellschaftskritischen Karikaturen eingesetzt, so waren auch Brunerys anhand der Vorlagen entwickelte galante Genreszenen keineswegs frei von spöttischem Blick. Dass die Gliederpuppe im 19. Jahrhundert als konzeptuell eingesetztes Motiv eine ungekannte Konjunktur erlebte, ist noch heute durch eine Vielzahl von Karikaturen nachzuvollziehen.23 Allein die Wochenzeitschrift Fliegende Blätter, die durch Karikaturen, Gedichte und zugespitzte Äußerungen die bürgerliche Meinung reizte, nahm sich mehrfach der Gliederpuppe als Spottfigur an: Das harmlosere der beiden wiederkehrenden Motive stellte der Komplex von Täuschung und Ent-Täuschung dar, der im Fall der anthropomorphen Gestalt der Gliederpuppe stets virulent ist. So verwechselt in einer durch Bild und Text vermittelten Kurzgeschichte der junge Schwärmer das hölzerne Modell des Malers mit einem weiblichen Modell aus Fleisch und Blut (Bild 243).24 Im selben Sinn grüßen unachtsame Atelierbesucher die Gliederpuppe oder verwechseln eine allzu gezierte Dame mit einer solchen. Heinrich von Rustige (1810–1900), 22

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24

Speziell sei hier an die spätmittelalterliche Form hybrider tableaux vivants im Fall der beweglichen Christusfiguren erinnert, die aus einer lebenden Mariendarstellerin und einer Gliederpuppe in Gestalt des Gekreuzigten bestand. Vgl. hierzu Kap. I.2.a) Pietà-Typus. Vgl. die auf die ambivalente Gestalt der Gliederpuppe als Modemannequin anspielenden Karikaturen in Granvilles (Jean Ignace Isidore Gérard, 1803–1847) Un autre monde (1843/1844), hier etwa die Zusammenkunft der Flaneure als Kleiderständer in Le voyage d’avril. Vgl. Evans: The Ontology of the Fashion Model, S. 62; vgl. allg. David: Cutting a Figure. Fliegende Blätter 23/547 f. (1856), S. 156.

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III  Konzept

Bild 243  Eine kurzsichtige erste Liebe, Fliegende Blätter, 23 (1856), Nr. 548.

der wie Hasenclever an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte, gestaltete die in den humoristischen Zeitschriften wiederkehrende Verwechslungsszene in ambivalenter Zuspitzung malerisch aus (Bild 244): Ein Landmann, der mit seinem Sohn Reisig für den Ofen in ein verlebtes Maleratelier liefert, findet dieses nur von der Gliederpuppe bewohnt vor, indes ohne diese als künstliches Modell zu erkennen. Angetan im militärischen Paradegewand, thront sie vor einem bekritzelten Paravent auf einer Holzkiste, die wiederum auf einem rollbaren Rundpodest steht. 25 Der Reflex zivilen Gehorsams lässt den Mann vor der vermeintlichen Amtsperson den Hut ziehen, während das Kind bereits den zu Boden gefallenen Kopfaufsatz entdeckt und sich angstvoll an den Vater klammert. Allein der Hund scheint von alledem unbeeindruckt und schnüffelt neugierig am Gliederpuppenhaupt.26 Als satirische Belustigung über bäuerliche Naivität entwickelt das Bild eine tiefere Bedeutungsschicht, indem hier die Täuschung des Betrachters selbst durch die vielfach ins (Historien-)Bild gesetzte Gliederpuppe aufscheint.27 25 26 27

Die Buchstaben KV, welche auf der Kiste prangen, verweisen möglicherweise auf die Zugehörigkeit zum Bestand des Düsseldorfer Kunstvereins. Zum Bild vgl. zuletzt Ausst. Kat.: Silent partners, S. 97 ff. Darüber, dass auch in der Gattung des Porträts die Gliederpuppe im 19. Jahrhundert weiterhin ein probates Mittel darstellt, klärt, mit unübersehbar tendenziösem Einschlag, eine Sentenz in Anselm Feuerbachs (1829–1880) Lebensaufzeichnungen

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 244  Heinrich von Rustige: Bauer im Atelier, um 1840, Öl/Lw., Stiftung Sammlung Volmer, Wuppertal..

Das zweite mithilfe des Motivs der Gliederpuppe kommentierte Feld ist jenes der Gesellschaftskritik, die den Einzelnen, aber auch Körperschaften, als willen- oder seelenlose Wesen vorstellt. Für ein Gedicht mit dem Titel Der Gliedermann lieferte der Maler, Zeichner und Radierer Hermann Dyck (1812–1874) die bildliche Darstellung (Bild 245). Umringt von den Wappentieren der Föderalstaaten kann sich der einknickende Gliedermann ihrer Angebote – seien es Krücken oder Opium – kaum erwehren. Im begleitenden Text wird seine Rolle auf: „Eine löblich posamentierte Goldtapete als Hintergrund, ein mit rotem Samt gepolsterter Renaissancestuhl, ein graues Seidenkleid in Lebensgröße nach der Gliederpuppe, ein falsch modellierter Kopf und schlechte Hände: Dies ungefähr kennzeichnet das gewöhnliche Salondamenporträt des neunzehnten Jahrhunderts.“ Anselm Feuerbach: Ein Vermächtnis, hg. v. Henriette Feuerbach, Berlin 1920, S. 177 f.

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III  Konzept

Bild 245  Hermann Dyck: Der Gliedermann, Kupferstich, in Fliegende Blätter, 8 (1848), Nr. 179.

verdeutlicht: mit dem Sinnbild der sich in ihre Einzelteile auflösenden Gliederpuppe verbindet sich das auseinandergefallene Staatsgefüge, das schließlich von seinem Erschaffer, dem „Zauberer“, wieder zusammengefügt wird „als sei’s die deutsche Einheit“.28 Indes will der zergliederte Staat nicht pygmaliongleich mit Blut sich füllen, sondern bleibt, wie am Ende angedeutet wird, eine hölzernes Konstrukt: „Es klippt und klappt der edle Mann/ Noch heut am hellen Tage.“29 In Frankreich spielte sich eine ähnliche motivische Vereinnahmung ab, die auch im deutschen Sprachraum wahrgenommen wurde. 1837 druckte das Berliner Magazin für die Literatur des Auslandes eine Übersetzung des Artikels Die Gliederpuppen der Französischen Gesellschaft ab, in welchem der konzeptuelle Gehalt der Kunstfigur auf ein realgesellschaftliches Phänomen übertragen wurde: „Es gibt auf der Welt eine Menge bloß leidender Wesen, die bloß dazu da zu sein scheinen, um sich von gescheidten Leuten benutzen zu lassen. Solche Personen, die sich nur durch Andere bewegen, sind die sogenannten Gliederpuppen; sie sind die Drehpunkte, die geheimen oder scheinbaren Agenten in allen Verhältnissen.“30

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Fliegende Blätter 8/179 (1848), S. 85. Vgl. ebd. Die Gliederpuppen der Französischen Gesellschaft (Journ. Fr.), in: Magazin für die Literatur des Auslandes 88 (24.7.1837), Berlin 1837, S. 351. Es handelt sich um eine

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 246  Gustave Courbet: L‘atelier du peintre (Detail), 1855, Öl/Lw., 359 × 598 cm, Musée d‘Orsay, Paris.

Als diesen Menschenschlag der Gliederpuppen bestimmt der Autor alle fanatischen Schwärmer, aber auch die geistig und körperlich von Höhergestellten Ausgebeuteten, welche eine ihnen zugetragene gesellschaftliche Rolle quasi unreflektiert annehmen. Als persönliche Reflexion dieser Verhältnisse – und zugleich als Entscheidungsbild für die konzeptuelle Ausgestaltung der Gliederpuppe – kann eines der Schlüsselwerke des Realismus gelten: Gustave Courbets (1819–1877) monumentales Gemälde L’atélier du peintre (Bild 246).31 Der mit Courbet befreundete

31

vergleichbare sinnbildliche Bedeutung, wie sie bereits in der Encyclopédie von 1798 zutage getreten ist. Das 361 x 598 cm große Gemälde aus dem Musée d’Orsay trägt den vollständigen Titel L’atelier du peintre, allégorie réelle déterminant une phase de sept années de ma vie artistique et morale. Vgl. Hélène Toussaint: Le dossier de „L’Atelier“ de Courbet, in: Ausst. Kat.: Gustave Courbet (1819–1877), hg. v. ders., Paris 1977, S. 241–277; Michael Fried: Courbet’s Realism, Chicago/London 1990, bes. S. 155 ff. sowie Ausst. Kat.: Gustave Courbet, hg. v. Tas Skorpua/Dominique de Font-Réaulx, Ostfildern 2008, S. 220–225, Kat. 74 sowie Werner Hofmann: Das Atelier. Courbets

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III  Konzept

Kunstkritiker Jules Champfleury (1821–1889) wurde bereits im Vorfeld über den Bildbestand informiert, der im Gewand einer Ateliersituation den ‚allegorisch-realen‘ Querschnitt der zentralen Lebensbereiche des an seiner Staffelei sitzenden Künstlers liefern sollte. Während er Freunde und Förderer auf der Seite hinter sich formiert habe, so Courbet, habe er hinter der Leinwand die sozialen Schichten der Hauptstadt, mit ihren jeweiligen Interessen, Leidenschaften und Eigenheiten versammelt: „Es ist die Gesellschaft, ihre Höhe, ihre Tiefe und ihre Mitte. Kurzum ist dies meine Art, die Gesellschaft, ihre Interessen und Leidenschaften zu sehen. […] Links das Jenseits des trivialen Lebens, das Volk, das Elend, die Armut, der Reichtum, die Ausgebeuteten, die Ausbeuter, die Menschen, die vom Tode leben.“32 Gleichsam als Auftakt dieser „trivialen“ Gesellschaft prangt im Schatten der gezeigten Leinwand ein Gliedermann in artifizieller Pose.33 Wenngleich in Hals und Schultern Kugelgelenke angedeutet sind, scheint es sich bei der lebensgroßen Modellfigur eher um den modernen Typus der von Stoff überzogenen Gliederpuppe zu handeln, wie er seit dem 18. Jahrhundert Verbreitung gefunden hatte.34 Eine historische Aufnahme Jacques-Eugène Feyens (1815–1908) von Courbets Atelier bezeugt, dass der Maler eine lebensgroße Gliederpuppe besaß, allerdings mit weiblicher Anatomie und deutlich sichtbaren Gelenken (Bild 247). Die anatomische Durchbildung der im Gemälde dargestellten Gliederpuppe ist indes männlich und weist eine kontinuierliche, die Gelenkverbindungen überspielende Gestalt auf, mit einem behaarten Kopf, der unnatürlich nach vorne kippt. Nur teilweise durch ein Tuch verhüllt, erinnert die Haltung des Modells an die Gestalt beweglicher Christusfiguren. Der Totenkopf auf einer Zeitung zu Füßen der Gliederpuppe verweist zusätzlich auf die Schädelstätte Adams.35 Als Antipode des natürlichen weiblichen Aktmodells, welches dem Maler über die

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Jahrhundertbild, München 2010 mit ausführlicher Literatur. Vgl. hierzu auch Rath: Gliederpuppenpositionen. „C‘est la société dans son haut, dans son bas, dans son milieu. En un mot c‘est ma manière de voir la société dans ses intérêts et ses passions. […] A gauche, l’autre monde de la vie triviale, le peuple, la misère, la pauvreté, la richesse, les exploités, les exploiteurs, les gens qui vivent de la mort.“ Zit. n.: Toussaint: Le dossier, S. 246 (dort vollst. abgedruckt). Die Aufzählung des linken Bildpersonals endet bei der Gliederpuppe: „[…] un croque-mort, une tête de mort dans un journal, une Irlandaise allaitant un enfant, un mannequin.“ Zit. n. ebd. Vgl. Bernd Müllerschön, Thomas Maier: Die Maler der Schule von Barbizon. Wegbereiter des Impressionismus, Stuttgart 2002, S. 146; Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 82 f. Zu motivischen Implikationen vgl. Tussaint: Le dossier, S.  266; Fried: Courbet’s Realism, S. 159; Nefzger: Gliederpuppen-Kunst, S. 81–90.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 247  Jacques-Eugène Feyen: Fotografie des Ateliers von Gustave Courbet in Ornans (Ausschnitt), 1864, Institut Gustave Courbet, Ornans.

Schulter blickt, wird die variable Gliedergestalt zu einer bildlichen Metapher für die von äußeren Welteinflüssen gelenkten, am geistigen Leben nur passiv teilnehmenden Wesen.

D a s abgeleg te Mo del l Die bei Courbet mit der gesellschaftlichen Gemengelage sozialer Zustände verbundene Gliederpuppe war bereits vor der Jahrhunderthälfte in Misskredit geraten, als obsoletes Modell, das für die proklamierte Form naturnaher Gestaltung kaum dienlich, und daher nie im Einsatz erschien. Diese Ablehnung der Gliederpuppe sollte sich als Motiv verstetigen. Im selben Alter wie Courbet hatte auch Adolph Menzel (1815–1905) seine Malerei einem Realitätsbezug ver-

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III  Konzept

Bild 248  Adolph Menzel: Kronprinz Friedrich besucht Antoine Pesne auf dem Malgerüst in Rheinsberg, 1861, Gouache/Papier, 24 × 32 cm, Inv. Nr. 10563, Alte Nationalgalerie, Berlin. (Farb­tafel 21)

pflichtet. In diesem Sinne dienten Lebendabgüsse und Leichen ebenso als Studienmotive wie die hölzerne Gliederpuppe, die in der 1861 entstandenen Gouache Kronprinz Friedrich besucht Antoine Pesne auf dem Malgerüst in Rheinsberg prominent in Erscheinung tritt (Bild 248).36 Als historisierendes Genrebild zeigt Menzel Friedrich II. bei einem Besuch seines Hofmalers Antoine Pesne (1683– 1757), der in die Arbeit an seinem Deckengemälde im Großen Saal des Schlosses vertieft ist. Als Modell und Muse dient ihm, nur lose in ein rotes Gewand gehüllt, eine Frau mittleren Alters, die sich belustigt den Annäherungen des Malers zu erwehren sucht und dabei ein Glas mit Pinseln umstößt. In der Etage unter diesem Paar sind ein Gehilfe sowie ein Bratschenspieler derart in ihre Tätig36

Zum Bezug zwischen Courbets und Menzels Atelierbild vgl. Matthias Winner: Der Pinsel als „Allégorie réelle“ in Menzels Bild „Kronprinz Friedrich besucht Pesne auf dem Malgerüst in Rheinsberg“, in: Jahrbuch der Berliner Museen, N.F. 45 (2003/2004), S. 91–130; zur heute im Kupferstichkabinett Berlin bewahrten Vorzeichnung Vgl. ebd., S. 129. Zur Gegenüberstellung der Bilder vgl. auch Michael Fried: Menzel’s Realism. Art and Embodiment in Nineteenth-Century Berlin, New Haven/London 2002, Kap. 12 (Menzels „Real Allegory“) sowie Claude Keisch: Kronprinz Friedrich besucht Pesne auf dem Malgerüst in Rheinsberg, in: Ausst. Kat.: Adolph Menzel 1815–1905. Das Labyrinth der Wirklichkeit, hg. v. Claude Keisch/Ursula Riemann-Reyher, Köln 1996, S. 202 ff.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 249  Edgar Degas: Henri Michel-Lévy im Atelier, 1878/1879, Öl/Lw., 40 × 28 cm, Inv. Nr. 420, Museu Calouste Gulbenkian, Lissabon.

keiten versunken, dass sie den hinterrücks die Treppen hinaufsteigenden hohen Besuch, angeführt vom Kronprinzen, noch nicht wahrgenommen haben. In ähnlicher Weise wie Courbet inszeniert Menzel nun eine Gliederpuppe als sinnfällige Kontrastfigur zum weiblichen Modell. Es ist ungewiss, ob er selbst nach Gliederpuppen zu zeichnen pflegte, für die Gliederfigur der Gouache hat er jedoch offensichtlich ein derartiges Modell verwendet,37 um es wie ein nahe an den Betrachterraum herangerücktes trompe-l’œil zwischen den Bild37

Zudem kannte Menzel die Malerei-Allegorie von Benjamin Giese in Gestalt einer Gliederpuppe aus der Bibliothek von Schloss Sanssouci: Menzels Holzstich des Raumes leitet das 42. Kapitel der Geschichte Friedrichs des Großen von Franz Kugler ein. Vgl. Ausst. Kat.: Menzel der Beobachter, hg. v. Werner Hofmann, München 1982, Kat. 5, S. 47 f.

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III  Konzept

ebenen – aber auch zwischen den zeitlichen Ebenen unterschiedlicher Modellverwendung – vermitteln zu lassen.38 Auf dem verlängerten Holzboden in bewegungsloser Haltung bäuchlings neben ihrem Ständer liegend, kontrastiert sie schroff mit den Augenblickreizen des Bildes.39 Als stilllebenhaft in ihrer schematisch-verdrehten Gestalt eingefangen, steht Menzels Gliederpuppe mehr noch als jene Courbets für die nature morte. Im 1879 entstandenen Bildnis seines Malerkollegen Henri Michel-Lévy (1844–1914) sollte auch Edgar Degas (1834–1917) die Gliederpuppe prominent ins Bild setzen und zugleich, jedoch weniger gewaltsam, als abgelegtes Modell inszenieren (Bild 249). Die kleinformatige Darstellung zeigt den befreundeten Maler in einer Atelierecke neben einer großformatigen Leinwand gegen ein Bild gelehnt. Rechts neben ihm liegt, in ein roséfarbenes Kleid gehüllt und mit Strohhut auf dem Kopf, eine Gliederpuppe in verdrehter Haltung auf dem Boden. Vor dieses Paar ist ein kleiner aufklappbarer Künstlerkasten geschoben, auf welchem Palette und Pinsel liegen.40 Schnell zeigt sich, dass die weibliche Figur in der riesigen, vom linken Bildrand stark beschnittenen Landschaftsszene nach der Gliederpuppe angelegt worden ist – neben der schematischen Darstellung stehen Kleid und Hut unzweifelhaft mit der Modellpuppe in Verbindung. Die auf den ersten Blick als gewöhnliche Atelierszene deutbare Situation vermittelt indes eine beunruhigende Passivität: im Gegensatz zu herkömmlichen Künstlerdarstellungen ist der Maler nicht während der Arbeit oder mit seinem vollendeten Werk wiedergegeben, sondern passiv, mit halb verschattetem Gesicht, die Hände in den Hosentaschen.41 Die Gliederpuppe selbst ist durch ihre Bekleidung zwar als kürzlich verwendetes Modell ausgewiesen, in ihrer Haltung zu Füßen des Malers und durch ihren einäugigen, ungerichteten Blick indes als unmittelbar von ihm abhängiges Wesen deklariert. Wie Palette und Pinsel hat der Maler die Gliederpuppe in resignierender Geste abgelegt. Sie bleibt eine täuschende Instanz, die auch als Bildgestalt allein durch die Kunst der Malerei, wie sie Degas hier vorführt, verlebendigt werden kann.

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Vgl. Rath: Gliederpuppenpositionen, S. 128–131. Neben ihrer Bedeutung als kulturpolitische Allegorie deutet Peter-Klaus Schuster die Gouache auch als Fünf-Sinne-Bild. Vgl. Peter-Klaus Schuster: Menzels Stuhl und Magrittes Pfeife, in: Jahrbuch der Berliner Museen, N.F. 45 (2003/2004), S. 53–62. Vgl. Theodore Reff: Degas. The Artist’s Mind, New York 1971, S.  125–130. Der Künstler im Bild wurde lange Zeit für Cézanne gehalten, der sich durch ähnliche Landschaftskompositionen auszeichnete und zudem auch mithilfe der Gliederpuppe studierte. Vgl. ebd., S. 125 f. Noch heute ist in Cézannes Atelier eine, wenn auch kleinere Gliederpuppe erhalten, die nach (unüberprüfbarer) Auskunft der Kuratorin als original verwendetes Modell deklariert wird. Vgl. Költzsch: Maler Modell.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 250  Max Liebermann: Einladung zur Ausstellung der XI, 1896, Lithographie.

Die vornübergefallene Gliederpuppe Menzels scheint durch ihre Lage leblos, wenngleich sich ihre zuckende linke Hand wie tastend gebärt.42 In plakativer Form sollte das Motiv der gestürzten Gliederpuppe schließlich in einer Einladung der Gruppe der XI wieder aufscheinen (Bild 250).43 Ihr Entwurf stammt von Max Liebermann (1847–1935), der sich intensiv mit dem Schaffen Menzels auseinandergesetzt hatte.44 Wenngleich nicht bekannt ist, ob Lieber42 43

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Winner: Der Pinsel, S. 97; Rath: Gliederpuppenpositionen, S. 131. Vgl. Sabine Meister: Die Vereinigung der XI. Die Künstlergruppe als Keimzelle der organisierten Moderne in Berlin, Diss. Univ. Freiburg 2006, unter: http://www. freidok.uni-freiburg.de/volltexte/2769/ [1.12.2011]. Vgl. Jenns E. Howoldt: Max Liebermann und Adolph Menzel – Dialog und Konflikt, in: Jahrbuch der Berliner Museen N.F. 45 (2003/2004), S. 289–293, hier S. 291.

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III  Konzept

mann die gefallene Gliederpuppe in dessen Gouache gesehen hat, erinnert neben Material und Größe insbesondere die prekäre Lage der Kunstfigur auf bestechende Weise an das Holzmodell aus Menzels Bild. Dem Historiengenre zugeeignete Atelierrequisiten wie Palmwedel, Lanze und ein eiserner Handschuh ergänzen das Inventar eines Ateliers, das eine skurrile Raumverknüpfung offenbart: Ein rückwärtig zur Seite geschobener Vorhang gibt den Blick in eine weite Auenlandschaft frei. In gleißendes Sonnenlicht getaucht, flieht die mit Malpalette und Pinsel ausgestattete Allegorie der Pictura geblendet von ihrem zentral ins Bild gesetzten Thron. Wie die Schäferlandschaft wird nun auch die Künstlerwerkstatt von den Strahlen der aufgehenden „Sonne der Wahrheit“ erfasst.45 Auf den Vorhang hat Liebermann den Anlass der Karte appliziert. Die Worte „Einladung zur Austellung [sic!] der XI“ werden mit den römischen Zahlen hier selbst zu den Strahlen des erhellenden Lichts. Traditionellen akademischen Verfahren und Sujets entgegentretend, verstanden sich die Mitglieder der XI als progressive Streiter für eine naturnahe, zukunftsweisende Kunst, in welcher ein artifizielles Atelierhilfsmittel wie die Gliederpuppe ausgedient hatte.

E nt s e elte Gl ie derge st a lte n Der Untergang der Gliederpuppe als Künstlermodell gegen Ende des 19. Jahrhunderts wäre verständlich und konsequent. Avantgardistische Strömungen widmeten sich schlechterdings kaum der aufwendigen Konzeption von Historien und dem langwierigen Studium des Faltenwurfes. Weniger ihr praktischer Gebrauch denn ihr Bildgehalt als konstruierter menschlicher Gliederleib sollte in der Folge ihre wirksame Präsenz begründen. In Courbets Atelierdarstellung zum Sinnbild einer passiv gelenkten Gesellschaft erklärt, überdauerte die Gliederpuppe nunmehr durch ihre konzeptuelle Prägung. Als referentielle Form wurde sie nach der Jahrhundertwende zur besonderen Reizfigur auserkoren.46 Die menschliche Gestalt trat in der kubistischen Motivsprache von Zersplitterung und kompilierten Modulen immer wieder als Gliederfigur auf, wie etwa Fernand Légers (1881–1955) Frau im Lehnstuhl aus der Fondation Beyeler eindrucksvoll exemplifiziert (Bild 251). Hier entwickelt sich, durch den Einsatz 45

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Peter-Klaus Schuster: Max Liebermann – Jahrhundertwende, in: Ausst. Kat.: Max Liebermann. Jahrhundertwende, hg. v. Angelika Westerburg, Berlin 1997, S. 43–58, hier S. 50. Zur Gliederpuppe in der Moderne siehe allg.: Laurence Delsaux: Le mannequin: thématique de l’art moderne, in: Revue des archéologues et historiens d’art de Louvrain XXIV (1991), S.  141–150; Ausst. Kat.: MaschinenMenschen, hg. v. Lucie Schauer, Berlin 1989 sowie Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten; Ausst. Kat.: Silent Partners.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 251  Fernand Léger: Frau im Lehnstuhl, 1913, Öl/Lw., 130,5 × 97,5 cm, Fondation Beyeler Riehen/Basel.

roter und blauer Farbflächen, aus einer in schwarze Linien aufgelösten Sitzfigur eine Kubengestalt, die sich, einer metallenen Rüstung gleich, als abstrakter, aus aneinandergefügten Baugliedern bestehender Leib im Lehnstuhl lesen lässt. Dabei sind derartige kubistische Figurationen dem stilimmanenten Prozess der Zergliederung und Schichtung entsprungen und evozieren nur die Gestalt des tradierten Modells statt es zu thematisieren. Mit dem Werk Giorgio de Chiricos (1888–1978) sollte die Gliederpuppe ab 1914 als konzeptuelle Protagonistin Einlass in die Kunst der Moderne erhalten und fortan die Bildwelt der Pittura metafisica bevölkern.47 Neben vielen profa­ nen Gegenständen des Alltags, wie Handschuh oder Zwirnrolle, steht sie in leeren 47

Vgl. zum Gliederpuppenmotiv bei de Chirico und in der Pittura metafisica Maria Elena Gutiérrez: Umano, troppo umano anzi, meccanico: i manichini fra Savinio e de Chirico, in: Claudio Crescentini (Hg.): G. De Chirico. Nulla sine tragoedia gloria. Atti del Convegno Europeo di Studi, Rom 2002, S. 226–239; Peppel: Der Manichino; Laura Poletto: Dalla Metafisica a Novecento. Manichini, modelle, archetipi e

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III  Konzept

Bild 252  Giorgio de Chirico: Il trovatore, 1917, Öl/Lw., 91 × 57 cm, Privatbesitz.

Städten und auf verlassenen Bühnen. Während der sich künstlerisch zeitgleich formierende Futurismus eine künstlerische Umsetzung der fortschrittsbedingten Dynamisierung proklamierte, setzte de Chirico auf eine Bildsprache des zeitentbundenen Raumes. Seine Kunstgestalten sind dabei unterschiedlichster Natur, reichen von einfachen Rumpfgestellen bis zur vollständigen Gliederpuppe.48 Il trovatore (1917) erweist sich etwa als armloser Gliedermann mit weißem Eierkopf, dessen leuchtend bunte Einzelglieder, ebenso wie geome­trische Applikationen, durch Nägel und Fäden zusammengehalten werden (Bild 252).49 Im

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idoli, in: Ausst. Kat.: Il pittore e la modella. Da Canova a Picasso, hg. v. Nico Stringa, Treviso 2010, S. 45–66. Claudia Peppel unterscheidet folgende fünf Varianten: 1. Die schematisierte Figur, 2. Der gepolsterte Manichino, 3. Das Armatura-Modell, 4. Sockelfiguren, 5. Perü­ ckenstockmodelle. Vgl. Peppel: Der Manichino, S. 37–40. In seinem Essay „Estetica metafisica“ von 1919 beschreibt Giorgio de Chirico derartige Dreiecke und Reißschienen als magische Zeichen und „Symbole einer höhe-

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 253  Carlo Carrà: Madre e figlio, Öl/Lw., 90 × 59,5 cm, Pinacoteca di Brera Mailand.

Kontrapost vor einer Säulenkonstruktion stehend, kann diese, im Verbund mit dem Standbrett, als eine Reminiszenz an den üblichen Modellständer gedeutet werden. Den torsierten Troubadour umgibt eine öde Wüstenebene, die links durch eine vom Bildrand beschnittene rote Kirche, rechts in der Ferne von einem blanken Felsen eingefasst wird. Der Gliedermann ist nicht allein: ein menschlicher Schatten, der sowohl als belebender Zeuge als auch als unbelebte Statue gedeutet werden kann, ragt links ins Bild hinein. Dass die gegliederte Bildgestalt wiederum selbst zum Modell werden sollte, belegt de Chiricos wohl berühmteste Bildfindung desselben Jahres, Ettore e Andromaca.50

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ren Wirklichkeit“. Zit. n. Günter Metken: Rudolf Schlichter – Blinde Macht. Eine Allegorie der Zerstörung, Frankfurt a. M. 1990, S. 26 f. Das Bild sollte zu einer derartigen Popularität gelangen, dass selbst Andy Warhol das Motiv verarbeitete. Vgl. Ausst. Kat.: Warhol verso de Chirico, hg. v. Marisa del Re, Mailand 1982, S. 43.

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III  Konzept

Die sich in diesen Gliederpuppen de Chiricos überblendenden Formenmuster aus Kleiderpuppe, Schaufenstermannequin und Ateliermodell51 sind in Carlo Carràs (1881–1966) Madre e figlio von 1917 in ihrer genealogischen Verwandtschaft in einem kahlen Bretterraum zusammengeführt (Bild 253). Eine Schneiderpuppe aus bunten Flicken steht eng neben einer sie überragenden Gestalt in weißem Matrosenanzug, deren runder Standsockel ebenso wie ihr kopfloser Keulenhals auf das tradierte gegliederte Ateliermodell verweist. Ball und Würfel zu Füßen der Puppe deuten, im Verbund mit der grotesk bezifferten Messlatte auf einer Stellwand im Raumhintergrund, auf kindliches Spiel und Entwicklung hin. Ergänzt werden die Erscheinungsbilder derartiger schematischer Menschensubstitute durch weitere künstliche Modelle, etwa in Rudolf Schlichters vier Jahre später entstandenen geisterhaften DA-DA-Dachatelier (Bild 254).52 Hier gesellen sich zu den drei lebenden weiblichen Figuren – einer Frau im roten Kleid, einer amazonenhaften Tänzerin sowie einem wiederum in Matrosenmontur gekleideten Mädchen – bizarre Puppenwesen und eine anatomische Lehrfigur. Auf einem Podest im rechten Vordergrund, auf dem die junge Amazone im Turnkleid strammstehend gestikuliert, sitzt eine Gliederfrau mit genähtem Ballonkopf; die Füße stecken in grazilen Lackstiefeln, doch fehlen ihr die Unterarme. Um den Tisch sitzen männliche Figuren, teils mit Zylinder, teils vermummt, welche sich durch Kugelköpfe und künstliche Handgelenke als Kunstgestalten zu erkennen geben. Schlichters Dachatelier wird damit zu einem Olymp von durch die moderne Zivilisation chiffrierten, gliederpuppenhaften „Prothesengöttern“53. 51

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Claudia Peppel: Warenkörper und Kunstfigur. Der Manichino als ästhetisches Phänomen, in: Gisela Febel/Cerstin Bauer-Funke (Hg.): Menschenkonstruktionen. Künstliche Menschen in Literatur, Film, Theater und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2004, S. 93–106. Vgl. Andreas Kühne: Dada-Dachatelier, in: Ausst. Kat.: Rudolf Schlichter. Gemälde. Aquarelle. Zeichnungen, hg. v. Götz Adriani, München 1997, Kat. 29, S. 96–99, hier S. 98. Vgl. Kühne, S. 98. Mit seiner 1930 erschienenen Schrift Über das Unbehagen der Kultur prägte Sigmund Freud den Begriff des ‚Prothesengottes‘: „Es klingt nicht nur wie ein Märchen, es ist die direkte Erfüllung aller – nein der meisten – Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde angestellt hat […]. Er hat sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. […] Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. [...] Nicht vollständig, in einigen Stücken gar nicht, in anderen nur halbwegs. Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.“ Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Gesammelte Werke aus den Jahren 1925–1931, Bd. 14, Frankfurt a. M. 71991, S. 421–506, hier S. 451.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 254  Rudolf Schlichter: DADA-Dachatelier, um 1920, Aquarell, 45,8 × 63,8 cm, Berlinische Galerie. (Farb­tafel 27)

Ausgehend von den Kunstfiguren de Chiricos und Carràs sollte die Gliederpuppe zum omnipräsenten „Symbol des mechanischen Menschen“54 in einer durch Technisierung und Weltkriegserfahrung anonymisierten und desorientierten Welt erkoren werden.55 Dennoch ergibt sich kein homogenes Bild einer standardisierten Gliederpuppenmetapher. Das Motiv des zergliederten und passiv ertragenden Wesens wurde durch George Grosz (1893–1959) in sozialkritischem Duktus umgelenkt, indem zwar auch er den Menschen als Gliederpuppe der Gesellschaft thematisiert, diesen jedoch für seine Verwandlung selbst in die Verantwortung nimmt. In einer ähnlich verlassenen Geisterstadt, wie jene, über der Schlichters Dachatelier thront, irren zwei versehrte Gliedermänner in feinem Zwirn durch die Straßen (Bild 255). Während der Melonenmann mit Holzbein ein Deutschlandfähnchen schwingt, entweicht aus dem geöffneten hirnlo54

55

Eberhard Roters: Mechanomorphosen, Mechanomannequins, Metamaschine, in: Ausst. Kat.: Tendenzen der 20er Jahre, hg. v. Stephan Waetzhold/Verena Haas, Berlin 1977, S. 3/42–3/49, hier S. 3/43. Doris Krystof bezeichnet das Gliederpuppenmotiv der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert prägnant „als standardisierter Typus, der Normierung und Vermassung thematisiert.“ Vgl. Doris Krystof: Die Gliederpuppe, in: Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten – Phantasmen der Moderne, hg. v. Pia Müller-Tamm/Katharina Sykora, Köln 1999, S. 291.

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III  Konzept

Bild 255  George Grosz: Republikanische Automaten, 1920, Gouache/Papier, 60 × 47,3 cm, Inv. Nr. 120.1946, The Museum of Modern Art, New York.

sen Haupt des armlos jubelnden Smokingträgers mit Eisernem Kreuz der Schriftzug „1, 2, 3 HURRA“. Ein von unten ins Bild ragendes Räderwerk klärt über die denaturierten Gliedergestalten auf – es handelt sich um Republikanische Automaten.56 56

Der Automat selbst wurde, wie Karoline Hille auch unter Bezugnahme auf dieses Bild verdeutlicht, „zur negativen Metapher für Staat und Bürokratie, zum Schimpfwort für Untertanengeist und Obrigkeitshörigkeit.“ Karoline Hille: „… über den Grenzen, Mitten in Nüchternheit“. Prothesenkörper, Maschinenherzen, Automatenhirne, in: Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten – Phantasmen der Moderne, hg. v. Pia Müller-Tamm/Katharina Sykora, Köln 1999, S. 140–159, hier S. 142. Grosz sollte allerdings in seinen Aquarellen des Neuen Menschen (1921) oder des Sportlers (1922) den gesichtslosen Gliedermann auch positiv als dynamischen Standardbürger zwischen Freizeit und Arbeit darstellen. Vgl. ebd., S.  153 sowie Michael Mackenzie: The Athlete as a Machine. A Figure of Modernity in Weimar Germany,

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 256  Richard Müller: Zeichenklasse der Akademie, 1920, Öl/Lw., 120 × 90,5 cm, Inv. Nr. 1139.3141, Gemäldegalerie Neue Meister, Dresden.

In all diesen innerhalb von wenigen Jahren entstandenen Werken wird die Entseelung der Figuren insbesondere durch den gesichtslosen Gliederleib verbildlicht. Mit fehlendem, geschrumpftem, als Ei oder Kugel aufgeblasenem oder auch verhülltem Kopf wurde die Anonymität der Figuren noch weiter­ getrieben.57 Auch in den Folgejahren gewann das Gliederpuppenmotiv als symptomatische Metapher in den Werken der Dadaisten und Surrealisten – in La casa

57

in: Michael Cowan/Kai Marcel Sicks (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld 2005, S. 48–62, hier S. 48 ff. Monika Wagner sei für diesen Hinweis sowie die ergiebige Diskussion gedankt. Bei der Gliederpuppe in de Chiricos Atelier, welche Herbert List (1903–1975) freilich erst im Jahr 1951 fotografierte, handelt es sich indes um eine handelsübliche, lebensgroße Modellfigur aus Holz, beweglich bis in die Fingerspitzen und mit ausgeformtem Gesicht. Vgl. Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt, S. 287.

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III  Konzept

Bild 257  Otto Dix: Stillleben im Atelier, 1924, Öl u. Tempera/Lw., 146 × 100 cm, Inv. Nr. 0-990, Galerie der Stadt Stuttgart. (Farb­tafel 28)

del mago von Fortunato Depero (1892–1960) ebenso wie in Max Ernsts (1891– 1976) Fiat modes – perets ars, von Raoul Hausmanns (1886–1976) Mechanischem Kopf (Der Geist unserer Zeit) bis Sándor Bortnyiks Evokation der Neuen Eva – eine geradezu manische Präsenz. Es scheint beinahe, als ob das über Jahrhunderte verheimlichte Modell mit der Moderne an die Bildoberfläche gespült worden war. Nun wird die Gliederpuppe auch im Rahmen des akademischen Studiums dargestellt, etwa in Richard Müllers (1874–1954) Gemälde der Zeichenklasse in der Akademie, das 1920 in Dresden entstanden ist (Bild 256).58 Vom Skelett über den Antikenabguss und die Gliederpuppe bis zum männlichen Akt 58

Vgl. zu Werk und Wirkungsstätte: Rolf Günther: Richard Müller. Leben und Werk, Dresden 1998; Hochschule für Bildende Künste Dresden (Hg.): Von der königlichen

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

sind die wichtigsten Modelle der neuzeitlichen Künstlerausbildung vor Augen geführt, wenngleich in zweifach gebrochener Form: Einerseits wird der Blick durch die Gebeine des Knochenmannes geführt, der in seiner Vorwärtsbewegung über dem Geschehen eine bedrohliche danse macabre aufzuführen scheint. Andererseits findet kein einziges der verschiedenartigen Modelle vonseiten der Kunststudenten Beachtung, weder der einsame Akt, noch der unmittelbar neben einem Maler in weißem Kittel postierte kahlköpfige Gliedermann. An Aufmerksamkeit und Bedeutung verloren, scheint dieser sogar die Kraft seiner einst gelobten Haltungstreue verloren zu haben – wie ausgekugelt hängt sein linker Arm seitlich herab. Als unmittelbare Antwort auf Müllers Zeichenklasse könnte eine nur vier Jahre später entstandene Atelierszene von Otto Dix (1891–1969) gelten, der ebenfalls an der Dresdner Akademie das Kunststudium aufgenommen hatte. Mit sezierendem Blick lässt er darin die Gliederpuppe gegen das traditionell hierarchisch höher gestellte Aktmodell antreten (Bild 257): Weit in die Ecke des Ateliers gedrängt, kippt hinter einer leinwandlosen Staffelei die – wiederum kopflose – weibliche Stoffgliederpuppe auf einem hölzernen Schemel zurück. Dahinter steht ein weibliches Modell mit aufgestütztem Oberschenkel, der vom dunklen Tuch und Kniestrumpf wie amputiert erscheint, aufrecht an der Wand. Ihrer Aktschlinge bereits entledigt, hält die beleibte Frau die angeordnete Haltung paralysiert ein. Als lebensgesättigte Kontrastfigur zur mottenzerfressenen Gliederpuppe strotzen die schwer hängenden Brüste und der aufgeblähte Leib jedoch nur scheinbar vor Leben: mit aufgerissenen Augen und einem hocherhobenen rechten Arm verharrt sie in einer der Todesstarre ähnlichen Verkrampfung. Die Gliederpuppe erweist sich indes, aufgrund ihrer prekären Position und ihrer spastisch zuckenden Hände, als ungewöhnlich animiert. In eine Pattsituation eingespannt, pendeln die Modelle in Dix Stillleben im Atelier zwischen Leben und Tod.59

59

Kunstakademie zur Hochschule für Bildende Künste (1764–1989). Die Geschichte einer Institution, Dresden 1990; Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt, S. 268 f. Vgl. Fritz Löffler: Otto Dix. Œuvre der Gemälde, Recklinghausen 1981, Kat. 1924/1; Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten, S. 292 f.

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III  Konzept

Bild 258: Obermusikdada Gerhard Preiss beim Morgentraining, Fotografie, Der dADa 3. April 1920.

c   For t leb en der b e weg ten For m D er Gl ie der p up p e n kör p er a l s Ide a l for m Nachdem die kleinplastischen Gliederpuppen des Monogrammisten IP eine geradezu organische Idealform angenommen hatten, blieb die Gestaltentwicklung der Gliederpuppe in der Folge hinter einem derartigen Anspruch zurück. Wenngleich die moderneren, hochtechnisierten Modelle der stoffbezogenen Eisengestelle eine lebensnahe Aura entwickeln konnten, wie sie der Londoner Porträtmaler Alan Beeton (1880–1942) mehrfach malerisch einzufangen suchte,60 so blieben die charakteristischen Eigenschaften der Gliederpuppe einerseits ihre normierte anthropomorphe Gestalt sowie andererseits eine bis ins Unmenschliche reichende, passive Flexibilität. Doch waren es gerade diese beiden funktionalen Konzepte, welche der Gliederpuppe, neben ihrer metaphorischen Entseelung, zu einer zweiten Karriere als Idealform für die Kunst des Dadaismus, des Surrealismus und des Bauhauses verhelfen sollten.61

60 61

Vgl. zu Beetons Mannequin sowie zu seinen malerischen Umsetzungen ausführlich Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 103–105. Vgl. zuletzt die umfangreiche Monografie zur Avantgarde von Serge Fauchereau: Avant-gardes du XXe siècle. Arts littérature 1905–1930, Paris 2010; darin zum Dadaismus und Surrealismus Kap. X, S. 316–363.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 259  DADA-TROTT: Der dadaistische Holzpuppentanz, vorgeführt von Musikdada Preiss, Fotografien, Der dADa 3. April 1920.

In seiner dritten Ausgabe, die im April 1920 im Malik Verlag erschien, präsentierte Der Dada, das Öffentlichkeits- und Kunstorgan der Berliner Dadaisten, vier Fotografien des bereits jung verstorbenen Obermusikdada ­Gerhard Preiss (1899–1919).62 Umrahmt von der surrealen Beschreibung einer dadaistischen Performance, wird der Künstler zunächst Beim Morgentraining, das heißt bei der Huldigung einer lebensgroßen Gliederpuppe festgehalten (Bild 258). Das „unheimliche Paar“ 63 zeigt insofern eine bedeutsame Wendung, als der Künstler sich dem Modell unterordnet – jedoch nicht im Sinne einer szenischen Vorlage, wie bei Castaigne, oder in fotografischer Form bei Brunery, sondern als vollgültige Kunstaktion. Wenige Seiten später offenbart sich, weshalb Preiss in der Gliederpuppe seine Idealform gefunden hat, dient sie ihm doch als Vorbild für seinen in drei Fotografien vorgeführten Gliederpuppentanz namens DADATROTT, in dessen Rahmen die Stellungen des hölzernen Gelenkkörpers in rhythmischen Schemata vorgetanzt wurden (Bild 259).64 Die vermenschlichte Glie62

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64

Vgl. Hanne Bergius: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen, Gießen 1989, S.  224 ff.; Emily Hage: Der Dada, in: The Dada Reader. A Critical Anthology, hg. v. Dawn Ades, London 2006, S. 82. Vgl. die grundlegende Untersuchung zum Puppenmotiv in der Fotografie des 20. Jahrhunderts von Katharina Sykora: Unheimliche Paarungen. Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie, Köln 1999. Im „Dadaco“ von 1919 präsentierte Preiss bereits 26 unterschiedliche Positionen des Holzpuppentanzes: vgl. Bergius: Das Lachen DADA’s, S. 227.

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III  Konzept

derform ruft hier das von Heinrich von Kleist (1777–1811) in seinem Essay Über das Marionettentheater gut einhundert Jahre zuvor beschriebene Ideal eines unbewusst Agierenden in Erinnerung.65 Die verlebendigte Gliederpuppe verkörperte somit gleichsam das Idol dadaistischer Sinn- und Zweckentleerung. Kurz nachdem der Maler, Bildhauer und Choreograph Oskar Schlemmer (1888–1943) an das Bauhaus in Weimar berufen worden war, machte er mit dem am 30. September 1922 in Stuttgart uraufgeführten Triadischen Ballett seine Ästhetik eines geometrisierten Körpertheaters im Bühnenraum öffentlich.66 Wie er in einem vier Jahre später entstandenen Kostümprogramm darlegt, entstanden erste Überlegungen zu dem auf dem Dreiklang basierenden Konzept noch vor dem Jahr 1914 (Bild 260). Seine hier in zwölf unterschiedlichen Registern gruppierten Figuren erweisen sich als abstrahierte Raumgebilde zwischen Statik und bewegter Dynamik. Die hierfür geltenden Gesetzmäßigkeiten verdeutlichte Schlemmer 1925 in seiner Schrift Mensch und Kunstfigur. Sein Ansinnen bestand in einer Umwandlung des menschlichen Leibes in einen abstrakten Kunstkörper. Diesem liegen, so verdeutlicht Schlemmers Abhandlung, vier entscheidende Paradigmen zugrunde: das „Gesetz des umgebenden kubischen Raumes“67, also die räumliche Umwandlung des menschlichen Körpers in eine Kubengestalt, „Ergebnis: Wandelnde Architektur.“ Es folgen die „Funktionsgesetzte des menschlichen Körpers zum Raum“, wobei die Typisierung der Körperformen „die Eiform des Kopfes, die Vasenform des Leibes, die Keulenform der Arme und Beine, die Kugelform der Gelenke“ betrifft – „Ergebnis: Die Gliederpuppe“.68 Hieraus gehen die „Bewegungsgesetze des Körpers im Raum“ hervor, wobei die formalisierten Figurationen durch „Rotation, Richtung, Durchschneidung des Raumes“ bestimmt sind – „Ergebnis: Ein technischer Organismus“.69 Schließlich führt dieser zunehmende Abstraktionsprozess zu „metaphysischen Ausdrucksformen der Symbolisierung der Glieder des menschlichen Körpers […] Ergebnis: Entmateriali-

65 66

67 68

69

Vgl. hierzu Kap. III.3.b). Zu Schlemmers Triadischem Ballett und der zugrundeliegenden Ästhetik vgl. insbesondere Dirk Scheper: Oskar Schlemmer. Das Triadische Ballet und die Bauhausbühne, Berlin 1988; Andreas Hüneke: Oskar Schlemmer. Idealist der Form. Briefe, Tagebücher, Schriften, Leipzig 1989; Juliet Koss: Bauhaus Theater of Human Dolls, in: The Art Bulletin 85/4 (2003), S. 724–745; Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a. M. 22013, S. 390–399. Folgenden Zitate aus: Oskar Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, in: ders. u. a. (Hg.): Die Bühne am Bauhaus, München 1925, S. 7–43, hier S. 16 f. Ebd. Beachtenswert ist hierbei, dass Schlemmer erst im folgenden Schritt die Bewegungsgesetze hinzunimmt, sodass die Gliederpuppe durch eine schematisierte Form mit (passiver) Bewegungskompetenz charakterisiert wird, und nicht als eigenbeweglicher Automat zu werten ist. Ebd.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 260  Oskar Schlemmer: Figurenplan zum Triadischen Ballett, 1924/1926, Aquarell, Tusche, Deckweiß/Papier, Harvard University Art Museums, Cambridge, MA. (Farb­tafel 29)

Bild 261  Oskar Schlemmer: Die Gliederpuppe, 1924, Federzeichnung, 22,4 × 11,6 cm, Staatsgalerie Stuttgart. Bild 262  Alfred Eisenstaedt: Zeichenklasse mit Gliederpuppe, um 1932, Fotografie, Bauhaus-Archiv Berlin.

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III  Konzept

sierung“.70 Aus einem ersten, an die Kubengestalten Cambiasos erinnernden Würfelkörper entwickelt Schlemmer die organisch-raumgreifende Form der Gliederpuppe – mit typisierten Gliedmaßen und durch Kugelgelenke beweglich (Bild 261). Sie bildet die Ausgangsgestalt für die automatenhaft selbstbewegten und schließlich transzendierten Ausdrucksgebilde. Trotz ihres im Dialog zwischen Kunst und Theaterbühne modulierten Einsatzes dient die Gliederpuppe, als variable Modellgestalt, wiederum grundsätzlich der Verkörperung einer Gestalt im Raum. Den Kern potentiellen raumgreifenden Agierens bildet auch hier ihre variationsbefähigte Natur. Die auf Geometrie und Proportion basierende metaphysische Dimension des Menschenbildes sollte Schlemmer zufolge durch dieses Abstraktionsverfahren der organischen Form zutage treten.71 Als ein ideales Konstrukt präfigurierte dabei die aus geometrischen Körpern gebildete Gliederpuppe aufgrund ihrer schematisierten, normierten Gestalt die variable, jedoch nicht selbstbewegte anthropomorphe Grundform. Ihre ursprünglich zugedachte Funktion als Ateliermodell trat an Schlemmers Wirkungsstätte indes in subversiver Wendung erneut zum Vorschein: Eine Fotografie Alfred Eisenstaedts (1898–1995), welche die Studierenden der Zeichenklasse von um 1932 wiedergibt, kündet vom Klima der organisierten Avantgarde – statt des akademischen Aktmodells steht hier eine lebensgroße Gliederpuppe Modell (Bild 262). In jähem Kontrast zu Müllers Zeichenklasse der Dresdner Akademie gilt hier der agierenden, schematischen Kunstfigur die volle Aufmerksamkeit.

Bel l mer s P up p e n – Fe t i s c h u nd „G ele n k “ 7 2 Wohl kaum ein Künstler des 20. Jahrhunderts hat mit einer ähnlichen Obses­ sion die Gliederpuppe zum Ideal erklärt, wie Hans Bellmer (1902–1975). Der Fotografin Karin Székessy (*1938) gelang es, mit einer Porträtaufnahme einen Schlüsselmoment für das Verständnis seines Œuvres zu bannen (Bild 263). Die Aufnahme zeigt den im Kopf entwerfenden Künstler, angeregt durch sein beweg70 71

72

Ebd. Vgl. Pia Müller-Tamm, Katharina Sykora: Puppen Körper Automaten – Phantasmen der Moderne, in: Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten – Phantasmen der Moderne, hg. v. dens., Köln 1999, S. 65–93, S. 73. Die Forschungen zu Bellmers Gliederpuppen konnten erstmals 2010 im Rahmen des Warburg-Kollegs unter der Leitung von Uwe Fleckner, Iris Wenderholm und Hendrik Ziegler vorgestellt werden. Den Leitern wie auch allen Teilnehmern, insbesondere Anita-Maria Goda, sei für ihre konstruktiven Hinweise gedankt. Vgl. hierzu die leicht veränderte und erweiterte Version dieses Textes: Markus Rath: Im Bann der Gliederpuppe. Das Erweckungserlebnis Hans Bellmers, in: Uwe Fleckner/ Iris Wenderholm (Hg.): Magische Bilder. Techniken der Verzauberung in der Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Berlin 2016, S. 243–261 (im Druck).

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 263  Karin Székessy: Hans Bellmer mit seiner Puppe, um 1970, Silberabzug, 51 × 60 cm, Privatbesitz.

liches Gliederpuppenmodell. Noch ist die Zigarette nicht durch den Zeichenstift ersetzt: Es ist der Augenblick des unmittelbaren Austauschs zwischen Motiv und Schöpfer, der im haptisch-visuellen Studienprozess die Wandlungen seiner Puppe erforscht. Die Figur selbst erweist sich als nackter Torso einer unterleiblosen Adoleszenten, deren Körper im Schulterstand in die Vertikale gedreht wurde. In dieser Pose erlangt die wuchtige Bauchkugel – ins gleiche Licht wie das Haupt des Künstlers getaucht und mit einem Nabel versehen, der sowohl als blickendes Auge als auch als mundartige Öffnung lesbar wird – die Gestalt eines zweiten Kopfes. Dieses voluminöse Kugelgelenk ist das zentrale Konstruktionselement der Bellmerschen Puppe. Es ist gleichsam Ausgangs- wie Endpunkt ihrer bedrückenden Gestalt. Als paradoxes Phantom geistert die Puppe ab 1933 durch Bellmers obskure Fotografien oder dient als ideelle Urgestalt dem Entwurf seiner grotesken Grafiken.73 Nicht allein der monströs erweiterte Mädchenkörper ist für die fes73

Zuvor hatte der 1902 in Kattowitz geborene Künstler, dem despotischen Vater gehorchend, nach dem Abitur in einer Stahlhütte und einem Kohlebergwerk gearbeitet und ein Ingenieurstudium aufgenommen. Der Studienabbruch und die Konstruktion seiner ersten Puppe markieren sowohl Auflehnung gegen den Vater, als auch gegen das politische System. Zu Leben und Werk Bellmers vgl. zuletzt Ausst. Kat.: Hans Bellmer, hg. v. Michael Semff/Anthony Spira, Ostfildern-Ruit 2006; Ausst. Kat.: Double Sexus. Hans Bellmer – Louise Bourgeois, hg. v. Udo Kittelmann/

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III  Konzept

Bild 264  Hans Bellmer: Die Puppe – la pouppée, um 1933, Fotografie, 11,75 × 7,78 cm, Inv. Nr. SSG 16, Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin.

selnde Bildwirkung verantwortlich. Trotz seiner Erstarrung scheint das Geschöpf fähig zu agieren. Es wirkt, als könne es jederzeit, aufgrund seiner auf höchstmöglicher Variabilität beruhenden Körperkonstruktion, eine andere Haltung einnehmen. Die derart vielgestaltige Figur sollte in der Folge selbst Inspirationsquelle weiterer Künstler werden, Rezipienten zugleich anziehen und abstoßen. Kyllikki Zacharias, Berlin 2010. Zu Bellmers Fotografien: Birgit Käufer: Die Obsession der Puppe in der Fotografie. Hans Bellmer, Pierre Molinier, Cindy Sherman, Bielefeld 2006; Catherine Grant: Bellmer‘s Legs: Adolescent Pornography and Uncanny Eroticism in the Photographs of Hans Bellmer and Anna Gaskell, in: Papers of surrealism 8 (2010), 20 S., unter http://www.surrealismcentre.ac.uk/papersofsurrealism/journal8/index.htm [21.11.2014].

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 265  Hans Bellmer: Variations sur le montage d’une mineure articulée, Fotoserie, Minotaure, Dezember 1934.

Die Einflüsse, die zur ersten Puppe des Künstlers führten, sind facettenreich: ein Theaterbesuch von Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen, in denen die betörende Automate Olimpia auftritt; die Zusendung einer Kiste mit altem Spielzeug und Puppen; die Bekanntschaft mit der Künstlerin Lotte Pritzel (1887–1952), welche Wachspuppen herstellte sowie das Zusammentreffen mit seiner minderjährigen Cousine Ursula, die Subjekt seiner Phantasien wurde.74 In einer weiblichen Kunstfigur erkannte Bellmer die Möglichkeit, innere Pressionen eigener Begierden durch ein solches Reflexionsobjekt zu kompensieren.75 Aus Holz und Metall, Gips, Leim und Farbe fertigte Bellmer seine erste Puppe (Bild 264).76 Auf einem Konstruktionsgerüst aus Holz befestigte er Körperschalen aus Gips, die den Leib einer jungen Frau evozieren. Arme und Beine sind mittels Scharniergelenken beweglich und variabel montierbar. Ihre „Haut“ ist rau belassen, zeigt Kratzspuren des Werkzeugs und lässt die Struktur der gipsgetränkten Mullbinden durchscheinen. Sie besitzt den fragilen Körper einer Versehrten. Ihr Inneres sollte gar mit einem „Panorama“ ausgestattet werden, 74

75 76

Vgl. Sue Taylor: Hans Bellmer. The anatomy of anxiety, Cambridge 2000, Part I, S. 17–68. Wieland Schmied: Der Ingenieur des Eros. Erinnerung an Hans Bellmer, in: Ausst. Kat.: Hans Bellmer, hg. v. Michael Semff/Anthony Spira, Ostfildern-Ruit 2006, S. 13–34. Ebd., S. 18 f. Vgl. Peter Webb, Robert Short: Hans Bellmer, London 1985, S. 29–32.

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III  Konzept

eine Art beleuchtete Bilderfolge, die durch ein Guckloch im Nabel betrachtet werden kann.77 Diese erste Gliederpuppe wurde zum Subjekt Bellmers fotografischer Arrangements. Ein Artikel mit achtzehn Fotografien der Plastik, betitelt als Poupée, variations sur le montage d’une mineure articulée, erschien im Dezember 1934 in der Zeitschrift Minotaure (Bild 265):78 In achsensymmetrischer, präziser Anordnung zeigen die Aufnahmen Aufbau und verschiedene Aggregatzustände der Figur. Einzelglieder wurden ebenso wie der Torso in verschiedenen Kombinationen arrangiert. Zunächst lehnt sie stehend an der Wand; schemenhaft gesellt sich ihr Erschaffer hinzu. Sodann sind ihre Konstruktionsteile auf einem Bett wie auf einem Sektionstisch aufgebahrt, schließlich spielerisch zu verschiedenen Arrangements drapiert. Ihr Kopf, hier mit klinisch-glatter Kalotte, dort mit verführerisch langem Haar, wirkt im einen Bild leblos, um im nächsten verrucht über die Schulter zu blicken oder an einer Rose zu riechen. So oszillieren die Fotografien zwischen Aufnahmen aus der Werkstatt eines Menschenkonstrukteurs und dem Schauplatz eines Lustverbrechens. Indem die hier zerteilte Puppe dort agierend erscheint, beleben sich die Varianten des Wesens reziprok. Erst in der Zusammenschau der Bilder eröffnet sich der Bellmersche Kosmos. Der konstruktive Charakter der weiblichen Puppe, ihre hybride, zwischen Mensch und Maschine schwingende Natur, die durch ihre zergliederte Form zum dominierenden Merkmal wird, ermöglicht einen Einblick in die von den Untiefen des Eros dominierte Vorstellungswelt des Künstlers. Doch dessen Zufriedenheit über seine Kreatur schwand. Die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit der Puppe ließ nur eine bestimmte Anzahl von Variationen zu. Gerade in der Veränderbarkeit, dem spielerischen Zusammenfügen von immer neuen „Körperannagrammen“ sollte doch die gewünschte Bestimmung liegen.79 Dies bereitete das Feld für die Konstruktion eines zweiten Wesens, für welches eine der Renaissance-Gliederpuppen des Monogrammisten IP den entscheidenden Katalysator darstellen sollte. Die Berliner Gliederpuppe gelangte 1877 über Umwege nach Berlin und wurde ab 1904 im neu eröffneten Kaiser Friedrich-Museum ausgestellt (Bild 208a–

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79

Hans Bellmer: Die Puppe, Berlin 31983, S. 13 f. Minotaure 6 (1934/1935), S. 30 f. Der Artikel sollte Bellmer Einlass in die Kreise der Surrealisten verschaffen. Im darauffolgenden Jahr nahm er an einer ihrer Gruppenausstellungen in der Pariser Galerie des Quatre Chemins teil. Vgl. Webb, Short 1985, S. 33–39. Vgl. Sykora: Unheimliche Paarungen, Kap. III; Sigrid Weigel: Hans Bellmer – Unica Zürn. Junggesellenmaschinen und die Magie des Imaginären, in: dies./Inge Stephan (Hg.): Weiblichkeit und Avantgarde, Berlin/Hamburg 1987, S. 187–230. Vgl. zum Komplex des anagrammatischen Körpers Kap. III.3.b)

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 266  Hans Bellmer: La poupée – seconde partie, Holz, Gips, Pappmaché, Perücke, Baumwollsocken, Lackschuhe, 1935/1936, 61 × 170 × 51cm, Centre Georges Pompidou, Musée national d’art moderne, Paris. (Farb­tafel 29)

210).80 Auf Anraten der Künstlerin Lotte Pritzel besuchte Hans Bellmer die Sammlung im späten Frühjahr 1935.81 Die Konfrontation mit der Statuette erwies sich für ihn als Erweckungserlebnis, denn in der Entdeckung des jahrhundertealten Gliederpuppentypus sollte der Schlüssel zu Bellmers zweiter Puppe liegen. Sein Freund Constantin Jelenski berichtet über diese Begebenheit: „Da entdeckte Bellmer 1937 im Berliner Kaiser Friedrich-Museum zwei Puppen aus der Dürerschule, mit einer ‚Bauchkugel‘, welche sie beweglich macht. Doch obgleich diese alten Puppen dadurch nur umso ‚realer‘ werden, verwendet Bellmer dieselbe Art von Kugelgelenk bei der Konstruktion seiner zweiten Puppe.“82 Jelenskis Angaben sind insofern als unpräzise zu bewerten, als dieser Besuch bereits zwei Jahre zuvor stattgefunden haben muss, und im vormaligen Kaiser Friedrich-Museum wohl nur eine, nämlich die Berliner Gliederpuppe ausgestellt

80 81

82

Vgl. hierzu Kap. II.3.a). Zu Bellmers Biographie vgl. Agnès de la Beaumelle, Laure de Buzon-Vallet: Chronologie, in: Ausst. Kat.: Hans Bellmer, hg. v. Michael Semff/Anthony Spira, Ostfildern-Ruit 2006, S. 235–266. Constantin Jelenski: Die Zeichnungen von Hans Bellmer, Berlin 1966, S. 7.

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III  Konzept

war.83 Wie Jelenski beschreibt, war es das eigentümliche Element der „Bauchkugel“, welches Bellmer faszinierte. Um dieses Bauelement herum fügte er die Glieder seiner zweiten Kreatur. Die im Centre Pompidou ausgestellte Version La Poupée – Seconde partie (Bild 266) zeigt am zentralen Kugelgelenk zwei angegliederte, nackte Unterleiber mit verdrehten Beinpaaren. Die Bauchkugel füllt beide Unterkörper, deren Wölbungen des Gesäßes, der Hüften und des Schambereichs organisch in zwei halbrunden Stümpfen der Oberschenkel enden. Jene bilden die Gelenkköpfe für die sich anschließenden kräftigen Beine, die in den Knien wiederum durch ein Kugelgelenk zu den Unterschenkeln führen. Bis auf die vier Füße, mit weißen Strümpfen und feinen schwarzen Lederschuhen mit silberner Schnalle ausstaffiert, sind alle Körperpartien nackt. Das surreal-monströse Konstrukt wird durch den bloßen Oberkörper einer jungen Frau ergänzt, ein Bauteil zur variantenreichen Umgestaltung der Puppe. Das zottelig geschnittene, braune Haar wird im Nacken lose von einer schwarzen Schleife zusammengehalten. Aus ihrem schmalen Gesicht starren zwei unterschiedliche Augen, eines mit brauner Pupille, das andere tiefschwarz. Die vollen Lippen sind leicht geöffnet, der Mund wirkt starr. Der kleine Kopf sitzt auf einem langen, fleischigen Hals, welcher in den schmalen Oberkörper eingesetzt wurde. Die runden Brüste dringen bizarr aus zwei Öffnungen nach außen – es scheint, als ob der voluminöse Busen der Berliner Gliederpuppe übernommen wurde und nun durch Kugelgelenke drehbar geworden ist. Die Haut wirkt glatt und glänzend, wenngleich die Oberfläche aller aus Holz und Pappmaché geformten Teile nicht poliert, sondern in einer leicht rauen Struktur belassen ist. An den Gelenken und den Intimregionen ist das helle Inkarnat der Glieder leicht gerötet. Die zusammengefügten androiden Körperteile evozieren den bloßen Leib einer jungen Frau, um diese Erscheinung im selben Moment durch die monströse Erweiterung der Gliedmaßen zu durchbrechen. Mit dem zweiten Puppenwesen gestaltete Bellmer ein als lebendig empfundenes und doch künstliches Gegenüber, das seine Kunst und gleicherweise seinen Alltag inspirieren und ihn fortwährend reizen sollte.84 Vom intensiven 83

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Das verlorene Berliner Paar befand sich spätestens seit 1910 in der Bibliothek der Akademie der Künste. Vgl. Vöge: Die Deutschen Bildwerke, S. 92, Kat. 189. Demgemäß geht Sigrid Metken von der Berliner Gliederpuppe als Inspirationsquelle Bellmers aus: Vgl. Sigrid Metken: Kinderglück, Malerblick und verbotene Spiele. Puppen, unsere heimlichen Freunde, als Thema der modernen Kunst, in: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 25–46, S. 34. Dass Bellmer das verlorene Gliederpuppenpaar aus der Akademie der Künste gesehen hat, nehmen Sue Taylor und zuvor Peter Webb und Robert Short an, wenngleich ohne dies zu prüfen: Taylor 2000, S. 70 ff., Bild 4.1 u. Anm. 3; Webb u. Short, S. 57 u. Anm. 1. Schmied: Der Ingenieur des Eros, S. 18.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Austausch zwischen Bellmer und dem von ihm geschaffenen, variablen Frauenleib zeugen besonders minutiös arrangierte und von Hand kolorierte Fotografien.85 Verstörend wirkt die Mischung aus Unmensch und Unschuld, sadistischer Verstümmelung und expliziter Erotik, die dem jugendlichen, weiblichen Kunstleib eingeschrieben ist. Durch ihre prekäre Erscheinung zwischen entkleidetem Mädchen und posierendem Frauenakt erhält die Puppe den Charakter eines eigentätigen Fetischs. Es handelte sich dabei jedoch nicht um eine ‚Geliebte‘, wie jenes von Hermine Moos für Oskar Kokoschka gefertigte Geschöpf einer lebensgroßen Fellpuppe.86 Vielmehr erkannte Bellmer in der variablen Form den Schlüssel zu den verborgenen Orten menschlicher Begierden, die sich in seinem Œuvre auftun. Selten haben sich wohl die eigenen obszönen libidinösen Vorstellungen eines Künstlers in einem Werk derart konzentriert.87 Die von der Puppe ausströmende, verstörende Sexualität wurde vielfach erörtert, wobei der hier betrachtete Funktionsmechanismus der Beweglichkeit bislang nicht gebührend berücksichtigt wurde.88 Bei den Arrangements der ersten Puppe überwog der Eindruck des Passiven und des Fragmentarischen. Während bei ihr eine Verlebendigungspotenz erst durch die kaleidoskopische Synopsis der Bilder zustande kam, in denen sich konstruierte Körperglieder und ‚zurückblickendes‘ Mädchen reziprok beseelten, erlangt das zweite Geschöpf diese bereits durch ihre intrinsische Bewegungsfähigkeit. Die minderjährige Gliederpuppe [mineure articulée], als welche Bellmer sein erstes Wesen auftreten ließ, verwandelte sich in der zweiten Version zu einem hybriden Geschöpf, das selbst in kopflosem Zustand eine bedrückende Aktivität entwickelt. Durch ihre unbe85

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88

Zu den unterschiedlichen Verhältnisdimensionen von Künstler und Werk beziehungsweise Betrachter und Fotografie vgl. Marvin Altner: Hans Bellmer: Die Spiele der Puppe. Zu den Puppendarstellungen in der Bildenden Kunst 1914–1938, Diss. Freie Univ. Berlin, Weimar 2005. Vgl. Ausst. Kat.: Oskar Kokoschka und Alma Mahler; Peter Gorsen: Kokoschka und die Puppe. Mit poetisch-technizistischer Sprache beschreibt Bellmer in seiner Publikation „Die Puppe“ [1962] selbst die pygmalionistischen Visionen, die er mit seinem Kunstwesen verbindet. Zu den unterschiedlichen Deutungen aus psychoanalytischer Sicht vgl.: Hal Foster: Amor fou, in: October 56 (1991), S. 64–97; zur psychopathologischen Komponente vgl.: Céline Masson: La fabrique de l‘Œuvre (construction d’une poupée) chez Hans Bellmer dans ses rapports psychopathologiques et psychanalytiques. L’appareil psychique „en crise“ – Le faire-œuvre perversif –, Diss. Univ. Paris VII, Typoskript, Paris 1999; aus feministischer Sicht: Birgit Käufer: True Bodies? Von der Suche nach dem echten Körper und dem Finden der Kunstfigur, in: Menschenkonstruktionen. Künstliche Menschen in Literatur, Film, Theater und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. v. Gisela Febel/Cerstin Bauer-Funke, Göttingen 2004, S. 128– 147; zur Pornografiedebatte vgl. Anja Zimmermann: Skandalöse Bilder. Skandalöse Körper. Abject Art vom Surrealismus bis zu den Culture Wars, Berlin 2001. Einen Überblick m. weiterer Lit. bei Taylor: Hans Bellmer.

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III  Konzept

grenzte Variabilität überschreitet die nackte Puppe den Status einer allein erotischen oder pornographischen Darstellung. Neben den Fetischcharakter der künstlichen Frau tritt jene Schicht des durch seine formale Gestaltung den Betrachter affizierenden Kunstwerks. Durch Bellmers Einsatz der Kugelgelenke treten die verbundenen Partien aus dem fragmentierten Status der ersten Puppe. Die verknüpften Glieder der zweiten Puppe agieren als selbständige Gestalten: In dieser Version löst sich der Körper von der Herrschaft des Hauptes. Beine wachsen aus Beinen, Unterleib gebärt Unterleib, die Puppe begeht gleichsam Inzest mit sich selbst. Gliedmaßen und Geschlechter vereinigen sich mit ihresgleichen, werden selbst wesenhaft und treten in den Dialog mit dem Rezipienten. Das zentrale Drehelement des Bauches, das „an die Stelle des Panoramas der ersten Puppe tritt und um das die Gliedmaßen der Kunstfigur in unendlicher Variationsbreite zu kreisen vermögen“, könne, so Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora, als Nukleus dieses Prozesses verstanden werden: „Das Kugelgelenk erlaubt Bellmer, sich vom Oben und Unten des menschlichen Körpers zu lösen und führt zu kaleidos­ kopartigen Anlagerungen unterschiedlicher Körperteile um diese neue Mitte.“89 Mittels dieses Mechanismus übertrifft Bellmers Puppe die Bewegungspotentiale jener weiblichen, nackten Schaufensterpuppen, die in der Exposition internationale du Surréalisme 1938 als artifizielle Surrogate auftraten. Bellmers Beitrag bestand im Gegensatz zu dem vieler Künstlerkollegen nicht darin, eine der geliehenen Schaufensterpuppen mit einer ‚surrealen Maskerade‘ auszustaffieren. Vielmehr wurden Fotografien seiner zweiten Puppe, die Bellmer in seinem Haus und der unmittelbaren Umgebung aufgenommen hatte, am Anfang und am Ende der Ausstellung programmatisch neben den Kleidermannequins präsentiert (Bild 267).90 War bereits in den Schaufensterpuppen ein irritierendes Animierungspotential angelegt, lenkten die Fotografien Bellmers den Blick in eine scheinbar bekannte und dadurch noch stärker verstörende Welt. Das geringe Format der Bilder bedingte den voyeuristischen Besucherblick, der im vermeintlich die Realität bannenden Medium der Fotografie die monströsen Grotesken der Bellmerpuppe erspähte. Die Puppe trat dabei als vielgestaltige Akteurin in die Welt der Besucher, indem sie innerhalb der utopischen Ausstellungsinszenierung auf reale Orte wie Schlafzimmer, Treppenhaus oder Garten zurückverwies. Durch die Verdopplung ihrer Körperpartien wurde ein zentrales Merkmal surrealistischer Fotografie, jenes der verfremdenden Kombinatorik und Ver89

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Müller-Tamm, Sykora: Puppen Körper Automaten, S. 84. Zur Bedeutung der kompositorischen Mitte vgl. allg. Rudolf Arnheim: The Power of the Center. A Study of Composition in the Visual Arts, Berkeley u. Los Angeles 1982. Vgl. Annabelle Görgen: „Ein Paradies der Fallen“. Die internationale SurrealismusAusstellung 1938 und der Einsatz der Photographie, in: Ausst. Kat.: Begierde im Blick, hg. v. Uwe M. Schneede, Ostfildern-Ruit 2005, S. 33–41, hier S. 33.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 267  Denise Bellon: Exposition du Surréalisme, Puppe von Yves Tanguy, 1938, Fotografie.

vielfältigung, von Bellmers realer Kunstgestalt vorgeführt. Damit verkörperte sie zugleich das transitorische Prinzip der Ausstellung und der gesamten Kunstströmung.91 Die Künstler hatten durchaus mit einer als eigentätig empfundenen Wirkungsweise ihrer Werke gerechnet: Ein Hinweisschild mit der Mahnung „n’Oubliez pas l’Artiste“, das unter dem ersten Fotografieensemble Bellmers an der Wand lehnte, sollte die Besucher an das ‚Gemachtsein‘ der Kunst erinnern. 91

Zum Prinzip der Verdopplung vgl.: Rosalind Krauss: La photographie au service du surréalisme, in: Ausst. Kat.: Explosante-Fixe. Photographie & surréalisme, hg. v. ders./Jane Livingston/Dawn Ades, Paris 1985, S.  15–54; dies.: Die photographischen Bedingungen des Surrealismus, in: dies.: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998, S. 117. Zur surrealistischen Fotografie zuletzt: Ausst. Kat.: La subversion des images.

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III  Konzept

Als Bellmer den durch die frühneuzeitliche Gliederstatuette inspirierten ‚Schöpfungsprozess‘ der zweiten Puppe vollendet hatte, erkannte er ihre tiefgreifende Bildmacht: „In diesem Augenblick hatte ich das Unmögliche möglich gemacht. Was nun die Wirklichkeit, die ‚Seinsmöglichkeiten’ dieser Monstrosität anbelangt, so konnten nur mein eigenes Empfinden und das meines Publikums darüber urteilen. Aber angesichts der Heftigkeit des Schocks war es unmöglich, diese Wirkung auf eine rein zufällige Laune zurückzuführen; sie rührte an einen in jedem Menschen verborgenen Urgrund.“92 Durch das Oszillieren der „Seinsmöglichkeiten“ offenbarte sich Bellmers Puppe ihrem Erschaffer als ein unmittelbare Assoziationskaskaden auslösendes Organ, als jener stimulierende „Poesie-Erreger“, den der Künstler als Instrument der Phantasiebeflügelung begriff und den er mit dem Begriff „Gelenk“ versah: „Ob sie [die Puppe] auf den nahe liegenden oder auf den allerfernsten Schaukeln der Verwirrung Platz nimmt, die zwischen dem Belebten und dem Unbelebten hin und her schwingen, es wird sich wohl immer um das personifizierbare, bewegliche, passive und unvollkommene Ding handeln und letzten Endes […] um das GELENK.“93 Die Verbindung von Menschengestalt und Bewegungstechnik erzeugte ein Kunstwesen, das zugleich in seiner einfachen Konstruktion unmittelbar nachzu­ vollziehen ist, durch seine genuine Varianz jedoch unüberschaubare Möglichkeiten der Anordnung bietet, die in den Fotografien zutage treten. In ihnen inszenierte Bellmer seinen unabschließbaren Fetisch. Je nach Gruppierung ihrer Glieder erscheint die zweite Puppe als reales menschliches Gegenüber oder als monströse kopflose Kreatur. Die von Bellmer beschriebene Pendelbewegung erzeugt jene Verwirrung, mit der wandelbaren menschenförmigen Artefakten zumeist begegnet wird. Durch potentielle Bewegungsfähigkeit erfahren ihre gestalterischen Ausdrucksformen eine Steigerung, die den animierenden Status multipliziert. Je offensiver sich leblose Figuren als lebendig gerieren, desto leichter kommt es zum Umkehrpunkt, in ihnen das von Sigmund Freud beschriebene ‚Unheimliche‘ zu entdecken, das dieser, in Rückbezug auf Ernst Jentsch, gerade in „Wachsfiguren, kunstvollen Puppen und Automaten“ verkörpert sah.94 Das durch ein kostbares Kunstkammerstück ausgelöste Erweckungserlebnis ließ Bellmer selbst zum Erwecker einer unheim-

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Zit. n. Jelenski: Die Zeichnungen von Hans Bellmer, S. 8. Bellmer: Die Puppe, S. 29. Sigmund Freud: Das Unheimliche, in: ders.: Gesammelte Werke aus den Jahren 1917–1920, Bd. 12, Frankfurt a. M. 71978, S. 229–268, hier S. 237.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

lichen Gespielin werden. Einmal in die Welt seiner Kunst entlassen war nun sie es, die Bilder heraufbeschwor und damit neue, abgründige Räume erschloss.

Gl ie der p up p e n bi s z u r G ege nwa r t – von a lt me i sterl ic h bi s d ig it a l Die bezwingenden Effekte, welche Bellmers Gliederpuppe im Laufe einer Künstlergeneration entfaltete, sollte von Constantin Jelenski prägnant herausgestellt werden: „Unter den Phantasmen, die uns die zeitgenössische Kunst brachte und die längst ein Eigenleben führen, stets bereit, die Vorstellungswelt des Menschen aufs neue zu beleben, ist Bellmers Puppe eines der eindrucksvollsten, eines der überwältigendsten. Mehr als ein Abbild, mehr als ein Objekt ist sie ein Fetisch, ein Idol und hat sie ihre eigene Mythologie ins Leben gerufen.“95 Bellmers Körperkonstrukte haben bereits auf Zeitgenossen gravierenden Einfluss ausgeübt, indem sie Schaffenstrieb der Kunst und Lebenstrieb der Begierden in sich vereinen. Innerhalb des weiten Kreises der Surrealisten wurden sie als virulente Kulmination der entscheidenden Verbindung von Kunst und Eros wahrgenommen.96 Nach ihrer sporadischen Evokation im Künstleratelier, ihrer konzeptuellen Prägung als Adjutantin der Akademie und einer symbolischen Ineinssetzung mit dem entseelten Menschen der Moderne war im Anschluss an die Gliederpuppenphantasmagorien Bellmers und dem Schaulaufen der Mannequins in der Exposition internationale du Surréalisme der Weg frei, die Gliederpuppe in jeglichen Gattungen und Variationen – als bewegte, lebende Form oder seelenloses Geschöpf – zu inszenieren. In Malerei, Fotografie, Skulptur, den performativen Künsten und schließlich im animierten Film liegt das weite Feld der bis heute anhaltenden motivischen und praktischen Präsentation, bemächtigen sich Künstler ihres konzeptuellen Gehaltes. Aus diesen künstlerischen Gattungen helfen abschließend einige ausgewählte Werke, das gesamte Spektrum des konzeptuellen Einsatzes der Gliederpuppe bis heute zu fassen.97 95 96

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Jelenski: Die Zeichnungen von Hans Bellmer, S. 3. Vgl. Alyce Mahon: Surrealism and the Politics of Eros 1938–1968, New York 2005. Sie erkennt etwa einen früheren humoristischen Ausdruck in den von Man Ray (1890–1976) ab 1927 mithilfe von zwei Gliederpuppen nachgestellten und fotografisch dokumentierten Kopulationsszenen von Mr. and Mrs. Woodman. Vgl. hierzu insb. Sykora: Unheimliche Paarungen, S. 109–113. Für eine verbreiterte Darstellung vgl. Birgit Käufer: True Bodies?; dies.: Die Obsession der Puppe in der Fotografie; Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten; Sigrid Schade: Die Medien/Spiele der Puppe – Vom Mannequin zum Cyborg. Das Interesse aktueller Künstlerinnen und Künstler am Surrealismus, in: Nanette Rissler-

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III  Konzept

Während des Zweiten Weltkriegs scheint die Gliederpuppe zunächst wieder in ihrer bereits aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts bekannten Symbolform des entwurzelten aber auch bedrohten Menschen auf. Felix Nussbaums (1904–1944) gesichtslose Gliederpuppen sind jedoch weniger als anonyme Doubles denn als allegorische Selbstdarstellung zu lesen – entstanden 1943, kurz vor seiner Verhaftung, Deportierung und dem anschließendem Tod im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (Bild 268).98 In enger Anlehnung an die Bühnenprospekte der pittura metafisica sind alle Bildgestalten, wenngleich in eindeutigen Aktionen des Lesens, Beobachtens, Laufens oder Posierens begriffen, vollständig zu gesichtslosen hölzernen Puppen verwandelt. In einer Welt aus totem Holz wird der Mensch zwangsweise zur denaturierten Gliedergestalt. Der bei Nussbaum dargestellte Gliederpuppentyp zeigt die über Jahrhunderte tradierte Form, die im 20. Jahrhundert kaum noch mit fein ausgestaltetem Gesicht, sondern mit einem schematisierten eiförmigen Haupt produziert wurde. Es entspricht dem Modell, welches der zeitgenössische Maler, Zeichner und Grafiker Michael Triegel (*1968) zum wiederkehrenden Protagonisten seiner altmeisterlichen Gemälde erklärt. Seine Persephone im Hades ist nichts weiter als eine solche lebensgroße geschlechtsneutrale Modellfigur aus Holz mit rotem Umhang und weißem Überwurf (Bild 269).99 Die zwischen todesnaher Unterwelt und fruchtbarem Diesseits gefangene mythologische Gestalt erhält als Attribute beider Seinsbereiche einen Pferdeschädel sowie einen aufgebrochenen Granatapfel. In spannungsreichem Beziehungsgeflecht verwendet Triegel die Gliederpuppe einerseits streng in der Tradition des Faltenwurfstudiums, um dabei, wie etwa in seinem 2009 entstandenen Bild Am Grabe, einerseits die von Leonardo beschriebene Lebendigkeit des Gewandes in ihrer gliederpuppenvermittelten Reinform zu verbildlichen, und andererseits auf die Verheimli-

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Pipka/Michael Lommel/Justyna Cempel (Hg.): Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – Zwischen Kunst und Kommerz, Bielefeld 2010, S.  113–126. Weitere Hinweise auf Werke mit Gliederpuppensujets liefert Wipfler: Gliederpuppe, III. I. Vgl. zu Leben und Werk des Künstlers Rosamunde Neugebauer: Zeit im Blick. Felix Nussbaum und die Moderne, Bramsche 2004 sowie grundlegend Eva Berger: Felix Nussbaum. Verfemte Kunst, Exilkunst, Widerstandskunst, Bramsche 42007. Zur Deutung des Bildes als Selbstdarstellung mit seiner Frau Felka Platek vgl. Ausst. Kat.: Geometrie der Figur, S. 172. Triegel gelangte in den vergangenen Jahren insbesondere durch den offiziellen Auftrag eines Porträts Papst Benedikts XVI. in die Schlagzeilen. Als Monographie mit umfassendem Werkkatalog vgl. den Ausst. Kat.: Michael Triegel. Verwandlung der Götter, hg. v. Richard Hüttel, München 2010. Zur Deutung der Werke Triegels im Lichte eines neuen Manierismus vgl. Horst Bredekamp: Bilderwissen in Zeiten des Neomanierismus, in: ders./Wolfgang Schäffner (Hg.): Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren: Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung, Bielefeld 2015, S. 13–28.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 268  Felix Nussbaum: Gliederpuppen, 1943, Öl/Lw., 100 × 82 cm, Felix-Nussbaum-Haus, Osnabrück. (Farb­tafel 30)

chung des Modells in Darstellungen der Neuzeit anzuspielen.100 Die pathosvollen Bildtitel, welche immer wieder auf Mythologien der griechischen Antike anspielen, verweisen auf ein bewusst inszeniertes Spannungsgeflecht. In nüchternster Präzision lebende, hölzerne Bildgestalten kompilierend, kommt es zum reziproken Übertritt der Realitätsstufen: In Die schlafende Ariadne vereint der Maler Aktmodell und Gliedermann, der als Theseus die Träumende im Arm 100

Michael Triegel: Am Grabe, 2005, Acryl/Bütten, 195 x 106 cm, Privatbesitz, in: Ausst. Kat.: Michael Triegel. Verwandlung der Götter, hg. v. Richard Hüttel, München 2010, S. 142.

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III  Konzept

Bild 269  Michael Triegel: Persephone im Hades, 2009, Mischtechnik/Lw., 120 × 60 cm, Privatbesitz.

hält (Bild 270). Liegend, aber nicht wie bei Menzel oder Liebermann gestürzt, erhält die Gliederpuppe mit zart über die Haut streichenden Fingerspitzen jenen Impetus des Lebendigen, den der Schlaf dem weiblichen Modell entzogen hat. Wenn Triegel in seiner Studie zu „Aeneas“ (2005) nunmehr einen männlichen Akt, eine lebensgroße Gliederpuppe auf dem Rücken tragend, in einen rechteckigen Wandkasten verlegt, eröffnet er wiederum das Spiel der sich osmotisch durchdringenden Modell- und Darstellungstraditionen (Bild 271): als monochrome Grisaillegestalt steingeworden, nähert sich Aeneas dem ‚gelähmten‘ hölzernen Anchises in bestechender Form an. In Allusion an die um 1900 vermehrt als bildliche und fotografische Komparsen eingesetzten Gliederpuppen verbindet sich mit dieser gegenseitigen Annäherung der Realitätsgrade indes

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 270  Michael Triegel: Schlafende Ariadne, 2010, Mischtechnik/Lw., 130 × 90 cm, Privatbesitz. (Farb­tafel 31)

Bild 271  Michael Triegel: Studie zu „Aeneas“, 2005, Acryl/Pergament, 30,5 × 23,5 cm, Privatbesitz.

kaum Komik, sondern bedeutungsschwangere Klarheit. Die Gliederpuppen Triegels tragen schwer am Gewicht ihrer Rolle. Bellmers provozierend blickende Puppengestalten, die bei Triegel stets augenlos bleiben, sollten gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit den fotografischen Arrangements Cindy Shermans (*1954) die potentielle Abgründigkeit der Kunstfigur noch stärker forcieren. In ihren ab 1992 entworfenen Sex Pictures und den folgenden Horror Pictures inszeniert Sherman jedoch anstelle einer eigenen Schöpfung vorgefertigte Gliederpuppen, insbesondere in Form medizinischer Lehrpuppen (Bild 272, 273).101 In provozierenden Posen, durch Zergliederung und Kombination schafft Sherman in den Sex pictures Puppenassemblagen, die über anthropomorphe Figurationsangebote den Betrachterblick anlocken, um 101

Bei den medizinischen Anschauungspuppen handelt es sich im Fall von Untiteled #255 (1994) um die als ‚Patient Michael‘ vertriebene Lehrfigur; andere Arrangements sind teilweise durch anatomische Einzelglieder komponiert. Jene können, wie Hanne Loreck ausführt, „als ironischer Hinweis auf die kunstakademische wie naturwissenschaftliche Garantie der maßgeblichen menschlichen Proportionen und biologischen Funktionen gelesen werden.“ Vgl. Hanne Loreck: Geschlechterfiguren und Körpermodelle. Cindy Sherman, München 2002, S. 122. Zu Sherman vgl. Rosalind Krauss, Norman Bryson: Cindy Sherman. Arbeiten von 1975 bis 1993, München u. a. 1993; Käufer: Die Obsession der Puppe in der Fotografie sowie jüngst den Ausst. Kat.: Cindy Sherman. Untitled Horrors, red. v. Lena Essling, Oslo 2013.

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III  Konzept

ihn im nächsten Augenblick mit monströser Wucht zu treffen. Die Gliedergestalt wird zur Folie eines Körperarsenals, das, in seiner expliziten anatomischen Ausformung, Intimität in Gewalt umschlagen lässt. In einem Interview mit der Kunstkritikerin und Bellmerkennerin Therese Lichtenstein berichtet Sherman umfassend von der Wahl und dem Einsatz der Kunstgestalten, wobei der über die Gliederpuppen ausgelöste skandalisierte Blick eine der zentralen Intentionen der Serie darstellt.102 In ähnlicher Weise wie die Entwicklung, die Bellmer im Austausch mit seinem ersten Puppengeschöpf zeigte, war die Künstlerin zunächst von der anatomischen Gliederpuppe vereinnahmt, um in spielerischer Manipulation ohne feste Figuration im Kopf Varianten einzustellen, wobei sie schnell an die Grenzen der Variabilität stieß: „At first I was really excited to get all this stuff but also intimidated by it. […] I didn‘t have any expectations or plans about what I would do. It was really just through playing with these rubber things that I developed the work. I started out with obvious pornographic poses. In manipulating the mannequin to make other poses, I found out that since all the joints just work in one direction, it could only work in a limited number of poses. I would have to take apart the legs to spread them in a certain way, and do the same with the arms and head.“103 Der Wunsch des unabgeschlossenen Variierens begründet die Zergliederung und Rekonstruktion der Puppe: „I liked the limbless trunk of one of the mannequins, especially with one of the sex organs there. It‘s terrifying and it‘s also this weird object. I started out in more realistic terms in dealing with all the body parts. I liked when they moved toward abstraction, making the figures seem less realistic but not in such a hideous way that it looks severed.“104 Shermans Gliederpuppenverwendung birgt indes auch folgenreiche Hinweise für das Verständnis jener ihrer Werke, in welchen die künstlichen Modelle nicht im Bild erscheinen, aber mittelbar als Vorbilder gedient haben. Der starre Blick

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Therese Lichtenstein: „But don‘t you think that kind of reaction is in part one of the important aspects of what these images are about-having the viewer deal with feelings of discomfort?“ – Cindy Sherman: „Absolutely! I would hope that these images would make people confront their own feelings about sex, pornography, or erotic images and their own bodies.“ Therese Lichtenstein: [Interview mit] Cindy Sherman, in: Journal of Contemporary Art 5/2 (1992), S. 78–88, hier S. 82. Vgl. ebd., S. 84. Ebd. Zum künstlerischen Fragmentieren in der Kunst des 20. Jahrhunderts vgl. Sigrid Schade: Der Mythos des Ganzen Körpers. Das Fragmentarische in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion, in: Ilsebil Barta u. a. (Hg.), Frauen, Bilder, Männer, Mythen, Berlin 1987, S. 239–260.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 273  Cindy Sherman: Untitled #308, 1994, Farbfotografie, 176,5 × 119,5 cm. Bild 274  Elizabeth King: Pupil, 1987/1990, Installation, Gliederpuppe, Schaukasten. (Farb­tafel 31)

Bild 272  Cindy Sherman: Untitled #255, 1992, Farbfotografie, 117,5 × 176 cm.

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III  Konzept

in ihren fotografischen Selbstinszenierungen wird dabei zum Indiz eines Selbstverständnisses als rollenwandelndes Mannequin: [Lichtenstein:] „Some of the faces looked a lot like you. Was that intentional on your part?“ [Sherman:] „No! You know why I think that‘s true? I think it‘s that sort of blank stare the mannequin has that I had in a lot of my other works.“ [Lichtenstein:] „You used to mimic the look of a mannequin to capture the mass reproduction of stereotypes of femininity and the embalmed effects of such role-playing.“ [Sherman:] „Yes! I never realized why I had this stare on my face. It‘s sort of an ambiguous look. You don‘t really know if it‘s a gaze of terror or excitement. It’s like a blank expression.“105 Mit dem leeren Blick der Gliederpuppe erhielt das Gesicht eine anonymisierte Aura,106 doch barg damit die Bildgestalt zugleich jenen Angebotscharakter der artifiziellen Kunstfigur in sich, um eigene Emotionswerte des Betrachters aufzunehmen. In der Kombination aus einer spielerisch-suchenden, bildhauerischen Handlung107 und ihrer fotografischen Bannung überführte Sherman Bellmers Verfahren in eine zeitgenössische Bildform. Im Œuvre der amerikanischen Bildhauerin Elizabeth King (*1950) dienen Gliederpuppen zwar in einer vergleichbaren Weise wie die Arbeiten Shermans als Motiv und Modell, doch geht sie einen diametral entgegengesetzten Weg: statt eines abjekten Körpers präsentiert sie die Gliederpuppe als perfektionierten Kunstleib, etwa in ihrer Installation Pupil von 1987/1990 (Bild 274).108 In Fotografien, Installationen und Animationen inszeniert King selbstgefertigte Gliederpuppenvariationen – als fragmentierte Halbfiguren, hölzerne Gliederhände oder Metallskelette, die in ihrer minutiösen, glatten Gestalt eine quasi lebendige Anmut entfalten. Sie spielt mit den Maßstäben und Proportionen des Menschen, doch überspielen ihre Werke ihre technische Herstellung nicht, sondern machen diese zur verwirrenden Qualität der Lebensnähe. In ähnlicher Präzision wie die kleinplastischen Gliederpuppen der nordalpinen Renaissance sind bei den hölzernen Skulpturen von King einzelne Handlinien und Sehnen, schwellende Muskeln und Knochenstrukturen unter der Holzhaut erkennbar.

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Lichtenstein: [Interview mit] Cindy Sherman, S. 83. Hans Belting zufolge setzt Sherman in ihre History Portraits „[…] den eigenen Körper gleichsam als neue Effigies ein […].“ Vgl. Belting: Bild-Anthropologie, S. 112. [Sherman:] „It was like inventive play. It‘s very sculptural.“ Lichtenstein: [Interview mit] Cindy Sherman, S. 85. Zum Schaffen Kings vgl. zuletzt: Gregory Folk: Performing Sculpture. A Conversation with Elizabeth King, in: Sculpture 28/6 (2009), S. 32–39. Zum Begriff des Abjekten in der Kunst vgl. Zimmermann: Skandalöse Bilder, zu Sherman insb. S. 44–54.

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 275  Elizabeth King: Bartlett’s Hand, 2005, Gliederhand aus Holz, Spiegel, Blickrahmen.

Bild 276  Elisabet Stienstra: Het Sabijnse Poppenspel, 2012, Marmor, ca. 500 cm, Assumburg, Heemskerk. (Farb­tafel 31)

Bild 277  Elisabet Stienstra: Description of a Struggle, 2008, 160 × 140 × 90 cm.

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III  Konzept

Bild 278a–b  Antje Töpfer: PANDORA Frequenz. Eine szenische MenschenKörperCollage, Regie Florian Feisel, 2009/2010.

Dennoch sind auch Partien wie etwa die Kopfkalotte oder die Vorderseite des Rumpfes als glatte Flächen belassen und die Einzelglieder als solche stets in ihrem Zusammengefügtsein erkennbar. Durch die Technik der Stop-ActionAnimation werden Fotografien der sukzessive bewegten Einzelglieder und Puppenfragmente zusammengeschnitten, wodurch das Spiel der zum Leben erwachten Holzpuppe virtuell Wirklichkeit wird, wie etwa in Bartlett‘s Hands von 2005, eine Installation, in welcher die Gliederpuppenhand ihrem virtuell bewegten Bild begegnet (Bild 275).109 Gänzlich unbeweglich, wenngleich nicht unbewegt, sind hingegen die Gliederpuppenskulpturen der niederländischen Bildhauerin Elisabet Stienstra (*1967), die insbesondere seit 2012 durch die Enthüllung ihrer fünf Meter großen Monumentalskulptur Het Sabijnse Poppenspel im Park von Assumburg, Heemskerk (Noord-Holland) der Öffentlichkeit bekannt ist (Bild 276).110 Wie Triegel machte sich die Künstlerin neben des traditionellen Atelierhilsfmittels auch klassische Bildthemen zu eigen, wobei in diesem Fall die drei aus Giambolognas Raptusgruppe entlehnten Figuren zwar auch in eine gedrehte figura serpentinata eingespannt werden, indes in Form einer Gliederpuppenkaskade, die an die Figurationen Cambiasos erinnert. Durch ihre 2008 fertiggestellte

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Bartlett’s Hands, 2005, Installation aus Holzskulptur (Elizabeth King) und StopFrame Animation (Peter Dodd). Vgl. Elizabeth King u. a.: Notes from the Field. Anthropomorphism, in: The Art Bulletin 94/1 (2012), S. 10–31, hier S. 10–13 sowie die Dokumentation unter: http://www.elizabethkingstudio.com/ [22.11.2014]. Vgl. die Dokumentation unter: http://www.elisabetstienstra.com [22.11.2014].

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Skulptur Description of a Struggle werden Stienstras motivische Wurzeln, die sich unzweifelhaft aus der zweiten Bellmerpuppe speisen, offenbar: Als siamesische Zwillinge mit einem Unterleib über eine massive Bauchkugel verbunden, sind die Oberkörper zweier weibliche Adoleszenten in einen handgreiflichen Streit verwickelt (Bild 277). Während Bellmer zwei Unterkörper eines bloßen, nackten Mädchenleibes zusammenfügte, wählte Stienstra eine komplementäre Gliederpuppenvision aus Doppelrumpf und zwei Köpfen, deren gespaltene Persönlichkeit im blinden Handgemenge endet. Mit den abstoßenden Puppenassemblagen Shermans, den animierten, organisch-technischen Kunstgliedern Kings sowie den motivisch aus Renaissance und Moderne gespeisten Gliedergestalten Stienstras sind drei bildhauerische Positionen der zeitgenössischen Kunst versammelt, welche von einer ebenso kontinuierlichen wie diversifizierten Auseinandersetzung der Bildhauerei mit den konzeptuellen Potentialen des traditionellen Künstlermodells zeugen. Bis in die Gegenwart wirkt Bellmers Puppe schließlich auch im Film oder den performativen Künsten fort. Als Inspirationsquelle ihres Theaterstücks Die Pandora-Frequenz (2009/2010) zog die Performancekünstlerin Antje Töpfer (*1978) Bellmers Puppe heran (Bild 278a–b).111 Hier wird der Gliederpuppenkörper, ausgestattet mit magnetischen Kugelgelenken bis in die drehbaren Brüste, zum Prothesenarsenal, das die Grenzen zwischen natürlicher und künstlicher Bewegtgestalt verschwimmen lässt.

111

Vgl. Otto Karl Werckmeister: Die Demontage von Hans Bellmers Puppe, Berlin 2011. Die von ihm proklamierte These einer Auflösung, bzw. „Demontage“ der Wirkmächtigkeit von Bellmers Puppe in der Postmoderne kann indes durch die zahlreichen auf diese zurückführbaren Puppenvisionen kaum aufrechterhalten werden.

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III  Konzept

Bild 279: Kinoplakat zu Mamoru Oshii: Ghost in the Shell II, Innocence, 2004.

Der japanische Regisseur Mamoru Oshii (*1951) huldigte ebenfalls bei der Gestaltung der gegliederten Zeichentrickwesen in seinem 2004 erschienenen Animefilm Ghost in the Shell 2 – Innocence Bellmers zweiter Puppe (Bild 279). Wie er angibt, hatte ihn diese Kunstgestalt seit der ersten Konfrontation geradezu verzaubert.112 Die weiblichen Androiden des futuristischen Geschehens – jugendliche Roboterkonkubinen – sind nach Bellmers Vorbild verwirklicht. Im Intro des Filmes verfolgt der Zuschauer schrittweise die ‚Geburt‘ der Androiden. Eine organisch-maschinelle Zelle teilt sich, um sich zur zentralen Bauchkugel zu entwickeln. Wie bei Bellmers Kunstgestalt sind die Gelenke der Men112

Vgl. Steven T. Brown: Mechanic Desires: Hans Bellmer’s Dolls and the Technological Uncanny in Ghost in the Shell 2: Innocence, in: Mechademia 3. Limits of the Human, Minneapolis 2008, S.  222–253. Zu Bellmers und Oshiis Puppenwesen, unter besonderer Berücksichtigung von Bellmers Perversionsbegriff, vgl. Livia Monnet: Anatomy of Permutational Desire: Perversion in Hans Bellmer and Oshii Mamoru, in: Mechademia 5. Fanthropologies, Minneapolis 2010, S. 285–309. Im Film gibt es zahlreiche weitere Hinweise auf das Werk Bellmers: In der ersten Szene zerstört sich eine Androidin, indem sie sich – wie das Mädchen in Bellmers Graphik Rose ou verte la nuit or Ecorché (1948) – den Brustkorb aufreißt (4:55min); ein Protagonist des Films, der Cyborgcop Bato, ¯ findet auf der Suche nach Hinweisen in der Bibliothek eines Opfers eine englische Ausgabe von Bellmers Die Puppe (22:15min).

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2. Der Statuswandel der Gliederpuppe

Bild 280, 281a–b  Mamoru Oshii: Ghost in the Shell II, Innocence, 2004, Intro, Filmstills.

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III  Konzept

schenroboter bis in die Fingerspitzen durch Kugelgelenke beweglich und die Einzelteile genau ineinander gepasst; wie bei den Gliederpuppen des Monogrammisten IP sind die Körperteile durch feinste Fäden innerlich verbunden (Bild 280). Es entsteht der Leib der Bellmerpuppe, eine Bauchkugel mit zwei Unterleibern, aus der sich schließlich zwei Figuren lösen, die sich zu Androiden vervollständigen (Bild 281a–b). Jene wie eine Chromosomenteilung vorgeführte Aufspaltung des Doppelleibs ruft die pulsierende Potenz der Puppe erneut in Erinnerung, indem der Prozess physischer Duplizierung und beweglicher Variabilität als Prinzip allen – sogar des künstlichen – Lebens vorgeführt wird.

3 .   P hänomenologie der G liederpuppe

Eine Phänomenologie der Gliederpuppe muss sich zunächst den im beweglichen Kunstkörper selbst versammelten Eigenschaften zuwenden, bevor die hieraus sich ergebenden formalen, motivischen und metaphorischen Angebote beleuchtet werden können.1 Der hier vorgeschlagene Dreischritt bestimmt zunächst die Gliederpuppe hinsichtlich ihrer genuinen Variabilität, bevor mit ihrer sprachlich-philosophischen Vereinnahmung eine Metaebene in den Blick rückt, die mithilfe der Gliederfigur Phänomene der menschlichen Existenz, aber auch abstrakte sprachliche Denkprozesse zu umschreiben sucht. Auch hier bleibt der omnipräsente Angebotscharakter der Modellfigur erhalten, wodurch sich der dritte Untersuchungsrahmen eröffnet, der die mechanisch manipulierbare Figur als verdinglichte Denkfigur begreift, als Erweiterung des kreativen Geistes, der durch sie und mit ihr gestaltet und entwickelt.

a   Verkör p er u ngen Va r i abi l it ät a l s Kör p erkon z e p t Die Herstellung einer aus unterschiedlichen Bauelementen zu einem beweglichen Leib gefügten Figur bedeutet stets einen technisch anspruchsvollen Mehraufwand. In der Intention, eine Gliederpuppe zu schaffen, begründet sich ein besonderer Anspruch an das hergestellte Artefakt: dieses soll als beweglicher Bildkörper zu einer graduellen Figurationsänderung befähigt sein. In dieser Variabilität 1

Wichtige Ansätze zu einer phänomenologischen Bestimmung der Gliederpuppe bzw. der Puppe im Allgemeinen sowie der bewegten Skulptur lieferten bislang Nelson: The Secret Live of Puppets; Kenneth Gross: The Dream of the Moving Statue, University Park, PA 1992; Fooken: Puppen – heimliche Menschenflüsterer; Bredekamp: Theorie des Bildakts, Kap. III („Der schematische Bildakt: Lebendigkeit des Bildes“), S. 101–169.

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III  Konzept

einen sich alle Gliederpuppen, von der Antike bis zur Moderne, sie ist die erste und zugleich die entscheidende Eigenschaft der Gattung. Die bei der Gliederpuppe observierbare Transgression aus dem Feld der unbeweglichen Skulptur betrifft – bezüglich ihrer Frühformen – sowohl magisch handelnde Verkörperungen einer göttlichen Instanz als auch kultisch geprägtes, lehrreiches Spielzeug.2 Die Körperkonzepte im Ägypten des zweiten vorchristlichen Jahrtausends ähneln in bezwingender Weise dem homerischen Verständnis, indem sich die Körper aus Einzelgliedern zusammenfügen.3 Bereits bei den ersten gegliederten Figuren ist somit eine Parallele, wenn nicht ein Übersprung eines Körperverständnisses auf die artifizielle anthropomorphe Gestalt auszumachen. Die gegliederten Tänzerinnen der griechischen Antike erweisen sich dem grundlegenden Anliegen einer zweifachen Verbildlichung gesellschaftlicher Ideale geschuldet – dem der agilen Tänzerin und jenem der jungen parthenos, deren Lebenskraft sich in ausdauernder, leichter Beweglichkeit äußerte. Die griechische Gliederpuppe erscheint damit als dynamisierte Idealform. Durch die römischen Gliederfiguren manifestiert sich sowohl ein gestalterischer als auch ein materialbezogener Wandel: Wie die wertvolle Gliederpuppe, die einst Crepereia Tryphaena besessen hatte (Bild 42), sind diese Figuren der ersten Jahrhunderte nach Christus neutral als junge Frauen wiedergegeben,4 indes nicht aus Ton geformt, sondern aus Elfenbein geschnitzt. Die sich hier aufdrängende Korrelation liegt bekanntlich in Ovids Mythos des Bildhauers Pygmalion begründet (Metamorphosen X, 243–297), der sich aus weißem Elfenbein eine wie lebendig erscheinende Statue erschuf – „ars adeo latet arte sua“ (252).5 Die kunstvolle Schöpfung wird hinsichtlich ihrer Materialität zweideutig, wieder und wieder prüft der Erschaffer, ob sich die elfenbeinernen Glieder nicht doch als pulsierendes Fleisch erweisen. Den Geschenken, wie sie Pygmalion 2 3

4

5

Zum Verlebendigungspotential dieses Vorgangs vgl. allg. Fehrenbach: Kohäsion und Transgression. Zum ägyptischen Körperbild vgl. Brunner-Traut: Der menschliche Körper – eine Gliederpuppe; zum Körperbild bei Homer, welcher die als Zusammengfügung von gyia und melea begriffenen Körper durch unterschiedliche Kräfte bewegt sieht, Snell: Die Entdeckung des Geistes, S. 16ff: „Da treten, wo wir nach unserem Sprachgefühl einen Singular erwarten, Plurale auf. Statt „Körper“ heißt es „Glieder“; Gyia sind die Glieder, sofern sie durch Gelenke bewegt werden, Melea die Glieder, sofern sie durch Muskeln Kraft haben. […] Wie ernst dies homerische Vokabular zu nehmen ist, zeigt sich darin, daß die beiden Arten von „Gliedern“ verschieden funktionieren: Melea oder Gyia werden durch verschiedene Kräfte belebt.“; vgl. hierzu auch Kap. I.1.a) Das zergliederte Körperbild der Ägypter. Als ‚neutral‘ wird hier der Umstand beschrieben, dass die römische Gliederpuppe, im Gegensatz zu der Mehrzahl der griechischen Exemplare, nicht als Präfiguration einer gesellschaftlichen Rolle, wie etwa der Tänzerin oder des Soldaten, erscheint. Vgl. mit Bezug auf die römischen Gliederpuppen Stoichita: Der Pygmalion-Effekt, S. 17–22.

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3.  Phänomenologie der Gliederpuppe

seiner Elfenbeinfigur bereitete, ähneln die bis heute erhaltenen Ausstattungen der römischen Puppen wie Ringe, Ketten und Ohrringe. Als Venus schließlich ein Einsehen hat und die Skulptur des schwärmenden Künstlers verlebendigt, vollzieht sich dieser Prozess unter der tastenden Hand des Bildhauers: „Als er zurückkam, eilt er sogleich zu dem Bild seines Mädchens,/ Wirft sich aufs Lager und giebt ihr Küsse. Sie schien zu erwarmen./ Wieder nähert den Mund er, betastet die Brust mit der Hand, da/ Wird das betastete Elfenbein weich, verliert seine Starrheit,/ Gibt seinen Fingern nach und weicht, wie hymettisches Wachs im/ Strahl der Sonne erweicht, von den Fingern geknetet, zu vielen/ Formen sich fügt und, gerade genutzt, seinen Nutzen bekundet./ Während der Liebende staunt, sich zweifelnd freut, sich zu täuschen/ Fürchtet, prüft mit der Hand sein Verlangen wieder und wieder./ Fleisch ist’s und Bein! Es pochen vom Finger betastet die Adern.“6 Die sich unter den warmen Händen zu einer weichen, wie formbaren Figur wandelnde Elfenbeingestalt wird nicht vom Blick als lebendig erkannt, sondern insbesondere durch das wiederholte prüfende Tasten. Dieselben Verlebendigungsmechanismen finden auch im Falle der Figurine Crepereiae statt: unter den tastenden, formenden Händen der Spielenden verlebendigt sich die Gliederpuppe zu einem geliebten Gegenüber.7 Hier erweitert sich der phänomenologische Gehalt der Gliederpuppe entscheidend, indem sie durch intime ‚Manipulation‘ zum lebendigen, persönlichen Gegenüber wird.8 Dies zeichnet sie bis heute als Gefährtin des Spiels aus. Mehr noch wurde die Statuette aus Elfenbein, wie 6

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  8

„ut rediit, simulacra suae petit ille puellae incumbensque toro dedit oscula: visa tepere est; admovet os iterum, manibus quoque pectora temptat: temptatum mollescit ebur positoque rigore subsidit digitis ceditque, ut Hymettia sole cera remollescit tractataque pollice multas flectitur in facies ipsoque fit utilis usu. dum stupet et dubie gaudet fallique veretur, rursus amans rursusque manu sua vota retractat. corpus erat! saliunt temptatae pollice venae […]“ Ovid: Metamorphosen X, 280–289, zit. n. dems.: Metamorphosen, übers. v. Erich Rösch, München 1997, S. 260. Zu dieser Verbindung zwischen der Puppe der Crepereia Tryphaena und Ovid vgl. Paul Barolsky, Eve D‘Ambra: Pygmalion‘s Doll, in: Arion 17/1 (2009), S. 19–24. Sie betonen dabei die Erweiterung der Lesart von einer erotisch geprägten Verlebendigung zu einer spielerisch erzeugten Gefährtin: „The story of Pygmalion as Ovid tells it says something profound about the childlike sculptor playing with a figurine so lifelike that it seems a living being. For he captures the innocence of a child deep in a world of make-believe, lost in an illusion. The poet‘s story, which is most often read as a tale about the power of art and erotic desire, is no less a fable about the power of a child‘s imagination, which has everything to do with Pygmalion‘s and our own childlike capacity to fall under the spell of art‘s illusions.“ Ebd., S. 20, 23. Die Implikationen dieses haptischen Erkenntnisvorgangs sind ausgeführt bei George L. Hersey: Falling in Love with Statues. Artificial Humans from Pygmalion to the Present, Chicago/London 2009, S. 95 f.

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III  Konzept

andere zeitgenössische Gliederpuppen aus diesem Material, durch Wärmeeinwirkung rotbraun gefärbt.9 Ebenso wie sich die elfenbeinerne Skulptur des Pygmalion unter seinen Händen in eine blutdurchpulste lebendige Figur verwandelt, wurden diese Gliederpuppen durch ihre Bauweise und die Einfärbung in ähnlichem Maße verlebendigt. Die Gliederpuppen des christlichen und profanen Kultes agieren in einem Spannungsfeld zwischen unbelebtem und partizipierendem Herrscher. Am Beispiel der beweglichen Christusfiguren zeigt sich im zunächst stark eingeschränkten, gerichteten Bewegungspotential des Allgemeinen Kreuzabnahmetypus das Phänomen einer zugleich erweiterten wie verengten Figurationskompetenz: Indem die Arme dieser Gliederpuppen an den Körper gelegt werden konnten, wurden sie zu performativen, handelnden Bildwerken. Im Vergleich zu starren, fixierten Kruzifixen erweiterten sie grundsätzlich die Möglichkeiten einer performativen Glaubenspraxis. In ihrer allein auf die depositio ausgerichteten Gliederung liegt indes die Verengung begründet, da sich die möglichen Figurationen auf zwei Haltungen beschränken. Der am Kreuz leidende Leib wird damit zum greifbaren Bild des von fremder Hand bewegten Verstorbenen, das, wie Amy Knight Powell zuspitzt, „as moveable as it may be – […] is powerless to move itself.“10 Hier mündet die Beweglichkeit in einer umgekehrten Pendelbewegung nicht in haptische Lebendigkeit, sondern sichtbare Leblosigkeit. Die sich in den folgenden Typen der beweglichen Christusfiguren manifestierende, mit der zunehmenden Gliederung einhergehende Erweiterung der Figurationsmöglichkeiten zum Mirakelmann-Typus bedeuteten in letzter Konsequenz auch ihren Untergang, indem sie als gleichsam magische Bildwerke im Kirchenraum angeprangert wurden.11 Im Falle der Funeraleffigies, die in verschiedenen Stellungen liegend, sitzend oder kniend an den rites de passage partizipierten, wurde der Konflikt eines durch passives Bewegtwerden leblos erscheinenden Herrscherkörpers insofern aufgefangen, als weniger die Beweglichkeit selbst, sondern die staatstragenden Haltungen präsentiert werden sollten. So wurde die Effigies James I. bei Maximilian Colt bestellt „to be moved to several postures and for setting up the same in Westminster Abbey.“12 Doch war es eben jener Gehalt des manuell beweglichen Präsentationskörpers, welcher in der Folge die profanen Vertreter der Gattung Gliederpuppe auszeichnen sollte. Als bewegliche Modepuppen in   9 10 11 12

Degen: Römische Puppen, S. 21 Powell: Depositions, S. 81. Vgl. Kap. I.2.a) sowie I.2.c). „Paid to Maximilian Colt for making the body […] with several joynts in the armes legs and body to be moved to severall postures and for setting up the same in Westminster Abbey […]“. PRO LC 2/6, fol. 5v, zit. n. Harvey/Mortimer: The Funeral Effigies, S. 67. Vgl. Kap. I.3.a).

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3.  Phänomenologie der Gliederpuppe

unterschiedliche Haltungen zu versetzen, nehmen sie das Wechselverhältnis von Bewegtwerden und Verharren auf, wie es gleichermaßen für anthropomorphe Demonstrationsobjekte der Medizin zu konstatieren ist. Mit den Gliederpuppen der Wissenschaft, die als passiv-beweglicher Leib den Patienten substituieren, wird die Gliederpuppe wiederum als simulatives Demonstrationsobjekt dann besonders bedeutsam, wenn es in seiner Variabilität menschenähnliche Bewegungen oder gar Reaktionen vollziehen kann. Die in frühen Kulten verankerte und funktional ausdifferenzierte künstliche Menschengestalt der Gliederpuppe fördert noch vor ihrem Eintritt in den Bedeutungsrahmen der Kunst, in welchem sie vornehmlich betrachtet wird, entscheidende phänomenologische Grundparameter zutage: Als manipulierbarer vielgestaltiger Körper ist ihre Variabilität untrennbar mit ihrer jeweiligen Bestimmung verknüpft. Durch zunehmende Gelenkigkeit dehnten sich ihre Einsatzfelder nicht nur in praktischer, sondern auch in phänomenologischer Hinsicht aus. In ihrer grundlegenden Funktion als variable Form bedeutete der Einzug der Gliederpuppe in das Künstleratelier mehr als eine Erweiterung des Arsenals von Werkstattbehelfen.13 Als stets einsatzbereiter Ersatz für das lebende Modell war es ihre zweipolige Natur zwischen Bewegung und Verharren, die sie für langwierige Studien unentbehrlich machte.14 Entscheidend war indes, dass die Gliederpuppe als plastischer Leib jene haptischen Strukturen in visuelle Werte zu übertragen half, die gerade die anschauliche Körperlichkeit des Bildes bedingen; sie waren es, die Leonardo zufolge das Bild beseelen.15 Im Rahmen einer Verkörperungsstrategie der frühneuzeitlichen Malerei kam der Gliederpuppe und den mit ihr verwandten formbaren plastischen Modellen diese entscheidende Aufgabe zu, die Bildgestalt als greifbaren, belebten Körper ‚vorzustellen‘.16 Das Diktum nulla dies sine linea, welches als Motto van de Passes Zeichenbuch eröffnete, verweist auf den ständigen Prozess fortwährenden Übens.17 Für die 13

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15 16 17

Eine derartige Reduzierung der Gliederpuppe auf eine rein instrumentelle Nützlichkeit als Atelierutensil unternimmt Meder: Die Handzeichnung, S. 554f. Zu den künstlerischen Werkzeugen vgl. zuletzt umfassend Philippe Cordez/Matthias Krüger (Hg.): Werkzeuge und Instrumente, Berlin 2012. Vgl. Peppel: Der Manichino, S. 100ff. Noch im 20. Jahrhundert wurde an einigen deutschen Kunstakademien weiblichen Studierenden das Zeichenstudium vor dem lebenden Aktmodell verboten; an dessen Stelle sollte vielmehr die Gliederpuppe treten. Vgl. Anne-Kathrin Herber: Frauen an deutschen Kunstakademien im 20. Jahrhundert. Ausbildungsmöglichkeiten für Künstlerinnen ab 1919 unter besonderer Berücksichtigung der süddeutschen Kunstakademien, Diss. Univ. Heidelberg 2009, S. 74, unter: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/11048/ [1.9.2014]. Vgl. Kap. III.1.a). Ausführlich hierzu bereits Rath: Die Haptik der Bilder. Vgl. Oleg Nikitinski: Zum Ursprung des Diktums Nulla dies sine linea, in: Rheinisches Museum für Philologie 142/3/4 (1999), S. 430–431. Zur anthropologischen

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III  Konzept

ständige Weiterbildung der docta manus war das veränderliche Modell damit genuin geeignet; in ihm verkörperte sich ein unabschließbares Figurationsar­ senal. „Gebruickt den leeman en laet hem niet stille staen“ lautete die entsprechende Mahnung ter Borchs d. Ä.18 Die hier angesprochene Unabschließbarkeit der Gliederpuppe, ihre allein durch materielle Zerstörung beendbare Offenheit, kann als weitere phänomenologische Konstante betrachtet werden. In den Figurationen Dürers und Cambiasos trat diese hinsichtlich ihres theoretischen und bildlichen Grundpotentials zum Vorschein, während sie in den Gliederpuppen des Monogrammisten IP ihren greifbaren Ausdruck gefunden hat. Letztere erreichen nicht nur aufgrund ihrer verblüffenden, nur im armlangen Abstand noch erkennbaren Details, sondern gerade durch die ins Höchstmaß gesteigerte Beweglichkeit im Verbund mit dem aufwendig verborgenen Konstruktionsmechanismus den Anschein potentieller Eigenbeweglichkeit. Als Kunstwerke eigenen Ranges bilden sie die Antipoden der völlig abstrahierten Holzmodelle der Moderne. Während die kleinplastischen Gliederpuppen der Dürerzeit, als Verbindung von begreifendem Geist und gestaltender Hand, den Anschein des lebendigen Unheimlichen entwickeln, gerann die schematische Gliedergestalt zunehmend zur Kippfigur. Die Bedeutungsdimensionen der Gliederpuppe sollten mit der Aufklärung insofern erweitert werden, als sie nun auch außerhalb ihrer künstlerischen Verwendung hinsichtlich ihres konzeptuellen Gehaltes in Erscheinung trat. Zwar wurde dem gegliederten Modell vonseiten der Kunsthistoriographen seit dem 16. Jahrhundert sporadisch eine Steifheit bescheinigt, die mit ihr in das Bild gelangte. Dies erscheint für den folgenden grundlegenden phänomenologischen Zuwachs, der die Gliederpuppe als entseelten Parallelkörper des Menschen bestimmen sollte, indes kaum hinreichend. Eine entscheidende gedankliche Voraussetzung dieser Vorstellung liegt in den Meditationes de prima philosophia begründet, die René Descartes (1596– 1650) im Jahre 1641 der Öffentlichkeit vorstellte.19 In seinen Meditationen zu den epistemologischen Gewissheiten menschlicher Existenz untersucht er im zweiten Teil Über die Natur des menschlichen Geistes; dass er der Erkenntnis näher steht, als der Körper die Wahrheitsgehalte von Körper und Geist. Der

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Konstante des Übens vgl. die essayistische Untersuchung von Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, Berlin 2009. Vgl. zum zeichnerischen Ausbilden der docta manus, die als Ausdruck einer zunehmend vergeistigten Künstleraktivität zu werten ist, Martin Warnke: Der Kopf in der Hand, in: Ausst. Kat.: Zauber der Medusa. Europäische Manierismen, hg. v. Werner Hofmann, Wien 1987, S. 55–61. René Descartes: Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur, Paris 1641, zit. n. dems.: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, hg. v. Michael Holzinger, Berlin 2014.

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3.  Phänomenologie der Gliederpuppe

methodische Zweifel führt ihn dabei zur Erkenntnis, dass der menschliche Körper in seiner organischen Materialität nichts anderes ist, als ein lebloser Leichnam: „Also zuerst bemerkte ich, dass ich ein Gesicht, Hände, Arme und jene ganze Gliedermaschine [memborum machinam] hatte, wie man sie auch an einem Leichnam sieht, und die ich mit dem Namen „Körper“ bezeichnete.“20 Der als „Gliedermaschine“ entmenschlichte Körper besitzt jedoch nur scheinbar eigenbewegliche Kompetenz, wie Descartes annimmt: „Unter Körper verstehe ich Alles, was durch eine Gestalt begrenzt und örtlich umschrieben werden kann; was den Raum so erfüllt, dass es jeden anderen Körper davon ausschliesst; was durch Gefühl, Gesicht, Gehör, Geschmack oder Geruch wahrgenommen werden und sich auf verschiedene Weise bewegen kann; zwar nicht von selbst, aber von etwas Anderem, von dem es gestoßen wird. Denn ich nahm an, dass die Kraft, sich selbst zu bewegen, zu empfinden und zu denken, auf keine Weise zur Natur des Körpers gehöre.“21 Als fest umrissene, sinnlich wahrnehmbare und bewegliche Figur kann sich der Körper auf „verschiedene Weise bewegen [moveri pluribus modis]“, ist also durch Gestaltvariation ausgezeichnet. Seine Dynamik speist sich allerdings nicht von innen heraus [non quidem a se ipso], sondern wird von außen eingegeben, sodass Descartes mit diesem Schritt den Menschen als Gliederpuppe bestimmt.22 Die sich hierbei manifestierende Skepsis gegenüber dem Körper als alleinige Erkenntnisinstanz hat Methode, geht es Descartes doch um die gottvermittelte Erkenntnisleistung. Entscheidend ist allerdings, dass hier erstmals das Bild der unbeseelten menschlichen Kunstfigur auftritt, deren aus Einzelgliedern komponierter, mechanischer Körper durch äußere Einflüsse bewegt, mithin „gestoßen“ wird. Der sich damit eröffnende Bedeutungszuwachs der Gliederfigur als Sinnbild des entseelten Menschen kann bis in die Kunst der Gegenwart verfolgt werden, ebenso in seiner bildlichen Fassung wie als sinnbildliches Formular. Durch den von Descartes eingeführten Maschinen-Vergleich trat die Gliederpuppe in ihrer phänomenologischen Gestalt in die Öffentlichkeit, jedoch als Simulacrum des subalternen Menschen.23

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Descartes: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, S. 16. Ebd., S. 17. Zur Bestimmung der von Descartes beschriebenen Körperkonstruktion als Gliederpuppe vgl. auch Olaf Kaltenborn: Das künstliche Leben. Die Grundlagen der Dritten Kultur, München 2001, S. 247 f. Vgl. zu den Mechanismen der Sichtbarmachung durch das Simulacrum: Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, in: Das Kursbuch 5 (1966), S. 190–197.

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III  Konzept

b   For men-Sprac he D ie Gl ie der p up p e a l s l iter a r i s c he s u nd st r u k t u r a l i st i s c he s Mo t iv Seit Descartes Erklärungskonstrukt erlebte die Gliederpuppe als philosophisches wie als literarisches Konzept eine vermeintliche Konjunktur:24 Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) schien mit L‘homme machine (1748) die Ge­ schichte des Menschen als Gliederpuppe fortzuschreiben, wobei er vielmehr die Automaten des Jacques de Vaucason (1709–1782) im Sinn hatte. Die mechanische Gliederpuppe der Olimpia aus E. T. A. Hoffmanns (1776–1822) Novelle Der Sandmann (1816), die den Studenten Nathanael aufgrund ihrer leblosen Starre und anmutigen Bewegung verzaubert, wird bis heute, ebenso wie Auguste de Villiers de L’Isle-Adams (1838–1889) Roman L’Ève future (1886) mit der Androide Hadaly, als literarische Emanation der Gliederpuppe ins Feld geführt.25 Dabei erweisen sich diese und weitere Beispiele mitnichten als literarische Umsetzungen der phänomenologischen Gehalte von Gliederpuppen im Sinne einer variationsbefähigten und doch stets manuell bewegten Figur. Vielmehr stellen sich die mechanischen Puppen im Verlauf des Geschehens als eigenbewegliche Automaten heraus. Prägnantestes Beispiel bleibt die Holzpuppe Olimpia, welche gegen Ende der Novelle Hoffmanns auch für den Protagonisten als maschinelle Konstruktion erkennbar wird, woraufhin dieser zunächst in der Nervenklinik und schließlich im Suizid endet.26 24

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Zum literarischen Themenkomplex des künstlichen Menschen ist die Forschungslage erfreulich umfangreich: Völker: Künstliche Menschen; Herbert Heckmann: Die andere Schöpfung. Geschichte der frühen Automaten in Wirklichkeit und Dichtung, Frankfurt a. M. 1982; Rudolf Drux: Menschen aus Menschenhand. Zur Geschichte der Androiden. Texte von Homer bis Asimov, Stuttgart 1988; Frank Wittig: Maschinenmenschen: zur Geschichte eines literarischen Motivs im Kontext von Philosophie, Naturwissenschaft und Technik, Würzburg 1997. Zum Themenkomplex in der Literatur vgl. auch die umfangreiche Bibliographie von: Bernhard J. Dotzler, Peter Gendolla, Jörgen Schäfer: MaschinenMenschen. Eine Bibliographie, Frankfurt a. M. u. a. 1992 sowie in der Folge: Cerstin Bauer-Funke: Neue Forschungsliteratur zum Thema „Menschenkonstruktionen“, in: dies./Gisela Febel (Hg.): Menschenkonstruktionen. Künstliche Menschen in Literatur, Film, Theater und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2004, S. 249–271. Zu den angeblichen literarischen Umsetzungen der Gliederpuppe als literarisches Motiv vgl. Rudolf Drux: Die lebendige Puppe. Erzählungen aus der Zeit der Romantik, Frankfurt a. M. 1986; Ausst. Kat.: Silent Partners, S. 103–111. Nach dem Angriff auf ihren Erbauer, Professor Spalanzani, gelangt Nathanael in die Irrenanstalt, während der genesene Spalanzani die Stadt verlassen muss, „um der Kriminaluntersuchung wegen des der menschlichen Gesellschaft betrüglicherweise eingeschobenen Automats zu entgehen.“ E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. Das öde Haus, hg. v. Manfred Wacker, Stuttgart 1980, S. 90. Vgl. in prägnanter

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3.  Phänomenologie der Gliederpuppe

Hoffmann war selbst von den Automatenkonstruktionen fasziniert, wie seine 1814 erschienene Erzählung Die Automate verdeutlicht, für welche der sogenannte Schachtürcke, eine von Wolfgang von Kempelen (1734–1804) entwickelte halbautomatische Schachmaschine, Pate gestanden hatte. Nach dem Jahrhundert der Automatenbauer, mit den Flötenspielern und der mechanischen Ente des Jacques de Vaucason oder den schreibenden, musizierenden und zeichnenden Androiden der Jaquet-Droz, hatten die anthropomorphen Maschinen ihre ganz eigene Anziehungskraft entwickelt, hinter der die Faszination für die Gliederpuppe zurückstand.27 Diese gereichte vielmehr – auch in literarischer Form – als Identifikationsfigur des von fremder Hand gelenkten marionettenhaften Gliedermannes, etwa wenn Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in Die Leiden des jungen Werther den Protagonisten feststellen lässt: „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt wie eine Marionette und fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere zurück.“28 Zumindest in dieser weiterentwickelten Form, als fadenbewegte Marionette, erlangte die Gliedergestalt eine zeitweilige positiv konnotierte Popularität, insbesondere durch den allzu berühmt gewordenen Essay Über das Marionettentheater, den Heinrich von Kleist (1777–1811) in den Berliner Abendblättern im Dezember 1810 veröffentlichte.29 Darin weist er die unschuldige Grazie demjenigen zu, „der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h.

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Zusammenführung: Beate Söntgen: Täuschungsmanöver. Kunstpuppe – Weiblichkeit – Malerei, in: Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten – Phantasmen der Moderne, hg. v. Pia Müller-Tamm/Katharina Sykora, Köln 1999, S. 125–139. Vgl. Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben; Völker: Künstliche Menschen, S. 103 ff., S. 471 ff.; Jessica Ruskin: The Defecating Duck, or, The Ambiguous Origins of Artificial Life, in: Critical Inquiry 29/4 (2003), S. 599–633. Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 6, hg. v. Erich Trunz, Hamburg 1959/1960, S. 64. Auch der Protagonist in Wilhelm Meisters Wanderjahre (1828) modelliert Gliederfiguren für eine Puppenbühne. Stefan Keppler erkennt darin Goethes Verfahren, „die hohe Künstlichkeit, mithin die Gemachtheit seiner Spieler auszustellen: ihr Automatenhaftes anstelle ihrer Menschlichkeit.“ Stefan Keppler: Grenzen des Ich. Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen, Berlin/New York 2006, S. 68. Er entwickelt daraus drei Isotopien bzw. Motivkonfigurationen in Goethes Erzählwerk: Gliederpuppe, Schauspieltheater und Bilder. Vgl. ebd., S. 67. Wie Tagebucheinträge Goethes bezeugen, beschäftigte er sich im Austausch mit der befreundeten Malerin Louise Seidler (1786–1866) wiederholt mit der Gliederpuppe (10. sowie 18.4.1831; 18.6.1831). Vgl. aus der umfassenden Forschungsliteratur Paul de Man: Aesthetic Formalization. Kleist‘s Über das Marionettentheater, in: ders.: The Rhetoric of Romanticism, New York 1984, S. 263–290; Helmut Schneider: Deconstruction of the Hermeneu­ tical Body. Kleist and the Discourse of Classical Aesthetics, in: Veronica Kelly/ Dorothea E. von Mücke: Body and Text in the Eighteenth Century, Stanford 1994, S. 209–228; Ingeborg Scholz (Hg.): Heinrich von Kleist. Über das Marionettentheater. Analysen und Reflexionen, Hollfeld 2003.

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III  Konzept

[…] dem Gliedermann, oder […] dem Gott.“30 In seiner scheinbar unbewussten, nur mittelbar gelenkten Bewegungsgestalt der Marionette erreichte die Gliederpuppe eine positive Konnotation des quasi Übermenschlichen.31 In den ihr zugeeigneten phänomenologischen Parametern tritt die Gliederpuppe in der Literatur nur sporadisch zutage. In seiner 1789 verfassten Satire Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz die ich unlängst erfunden und geheirathet lässt Jean Paul (1763– 1825) einen jungen Mann von der Erschaffung einer hölzernen Kunstgestalt berichten, die er nach Belieben bewegen, in der neusten Mode bekleiden, in Form schnitzen und schminken kann, um damit das vermeintliche stumme Ebenbild seiner weiblichen Zeitgenossen zu evozieren.32 In Hoffmanns zwei Jahre vor dem Sandman entstandener Dichtung Der Magnetiseur wird die Holzpuppe nicht zur Automate, jedoch zur besitzergreifenden Körperkonstruktion für ihren Besitzer, den Maler Bickert: „Gott! was soll ich noch von manchen Höllenqualen meiner Träume sagen! […] Hat nicht ein anderer anatomischer Satan mich einmal zu seiner Lust wie eine Gliederpuppe auseinandergenommen und nun allerlei teuflische Versuche angestellt? – Z.B. wie es wohl aussehen würde, wenn mir aus dem Nacken ein Fuß wüchse oder der rechte Arm sich zum linken Bein gesellte?“33 In einer antizipatorischen Phantasmagorie wird hier die Zergliederung und Rekreation eines surrealen Puppenwesens durch die Gestalt der Gliederpuppe ausgelöst. Dabei bleiben die literarischen Motiventwicklungen der Gliederpuppe meist hinter ihrem Aktionspotential zurück. Adalbert Stifter (1805–1868) insze30

31

32 33

Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, in: ders.: Briefe und Werke, Bd.  III, hg. v. Peter Goldammer/Siegfried Streller, Berlin/Weimar 1978, S. 473– 480, hier S. 480. Hier tritt durch die Frage nach Bewusstsein und Anmut des menschlichen Verhaltens wiederum die seit Castiglione präsente Forderung nach einem ungezierten, quasi beiläufigen Gebaren zum Vorschein. Vgl. Kap. II.1.c). Die Gliedergestalt trat schließlich auch in Oper und Theater des 19. Jahrhunderts realiter auf. So etwa in Leo Delibes‘ (1836–1891) Ballet Coppélia ou La Fille aux yeux d‘émail (1870) oder Jacques Offenbachs (1819–1880) Oper Hoffmanns Erzählungen (1881). Vgl. Rudolf Drux: Die Gliederpuppe als ästhetisches Modell. Theaterkonzeptionen in der Romantik und im Fin-de-siècle, in: Hanno Möbius/Jörg Berns (Hg.): Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie, Marburg 1990, S. 149–156. Vgl. Elsbeth Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfe. Jean Pauls poetische Geschlechter-Werkstatt, Freiburg i. Br. 1999. E. T. A. Hoffmann: Der Magnetiseur, in: ders.: Poetische Werke in sechs Bänden, Bd. 1, o. Hg., Berlin 1963, S. 240f.

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3.  Phänomenologie der Gliederpuppe

niert sie in seiner erstmals 1844 veröffentlichten Erzählung Die Narrenburg dementsprechend als gleichsam untote Wächterin im Atelier: „Das Gemach war der im Sechseck gebaute Malersaal, in welchem die Bilder zum grünen Saale verfertigt zu werden pflegten. […] Eine lebensgroße Gliederpuppe saß da, und schwere, schön geordnete, grünseidene Draperie hing an ihr nieder, um auf das Bild gemalt zu werden; aber die scharfen Seidenfalten derselben lagen voll dichten, alten Staubes, und der Glanz des Stoffes war erblindet.“34 In diametralem Gegensatz zur selbstbewegten Automate wird die haltungstreue Gliederpuppe in ihrer Erstarrung zur unheimlichen, unbewegten Zeugin vergangener Zeiten. Gegen eine derartige Missachtung sollte schließlich Karl Gutzkow (1811– 1878) in seinem Monumentalroman von 1851 Die Ritter vom Geiste das einst wertgeschätzte und dann vernachlässigte Modell in einem letzten Furor aufbegehren und sich zur Automate wandeln lassen, ein Austritt aus ihrer Gattung, der unweigerlich zum ‚Selbstmord‘ führt: „Kennen Sie den Herrn? fragte er./ Der große Künstler Heinrichson! sagte Murray./ Wer ist denn aus dem Fenster gesprungen?/ Eine Gliederpuppe, die er malen wollte, sagte Murray seufzend. Habt doch schon so ein Ding bei den Malern gesehen?/ Freilich. Ich trage ja oft Billets zu dem Herrn. Da sitzt immer eine große Puppe mit Kleidern behängt. Daran studirt er…/ Den Faltenwurf, mein Sohn! Eine solche Puppe hatte er einmal vor Jahren. Sie war schön! Augen im Kopf wie lebendig und Gliedmaßen, schlank, wie ein englischer Renner. Die Puppe hat ihm mit einem male nicht mehr gefallen. Da wurde sie erst traurig, dann wild und zuletzt toll. Sie tanzte so lange, bis sie sich im Wirbel drehte, an ein Fenster kam und husch! im Grase lag sie mit ihren schönen gelenken Gliedern! Morgen früh begrab‘ ich das arme Ding.“35 Als Identifikationsfigur des passiv Gelenkten, als unheimliches Double,36 als stille Dulderin oder, im Übersprung der Gattungsgrenzen, als Automatenwesen gelangte die Gliederpuppe seit dem 18. Jahrhundert als Motiv in die Literatur. 34 35 36

Adelbert Stifter: Die Narrenburg, in: ders.: Gesammelte Werke in sechs Bänden, hg. v. Max Stefl, Wiesbaden 1959, S. 396. Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste, hg. v. Thomas Neumann, Frankfurt a. M. 1998, Bd. 6/13, S. 2285. Zum unheimlichen Puppenmotiv, das jedoch nur teilweise dem Bild der Gliederpuppe entspricht, vgl. den Aufsatz von Rainer Maria Rilke: Puppen. Zu den Wachs­ puppen von Lotte Pritzel, in: ders.: Werke, Bd. 4, hg. v. Manfred Engel/Ulrich Fülleborn, Darmstadt 1996, S. 685–692.

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III  Konzept

Neben ihren zusätzlich häufigen Vereinnahmungen in der humoristischen Publizistik und ihren filmischen Evokationen37 sollte sie im 20. Jahrhundert schließlich – aufgrund ihres kennzeichnenden phänomenologischen Gehaltes – auch als strukturalistisches Anschauungsmodell zum Einsatz gelangen. Für Hans Bellmer galt sein Puppenwesen nicht allein hinsichtlich der Funktion als haptisch-visueller Denkapparat im Sinne eines „Gelenkes“ neuartiger Gestaltungsprozesse als wichtiges Inspirationsmittel. Es verbildlichte in seiner austauschbaren und vervielfältigten Gliederung zugleich das für ihn mit seiner Lebensgefährtin Unica Zürn geteilte Spiel der anagrammatischen Dichtung:38 „Auch der Satz ist wie ein Körper, der uns einzuladen scheint, ihn zu zergliedern, damit sich in einer endlosen Reihe von Anagrammen aufs Neue fügt, was er in Wahrheit enthält.“39 In der Variation der Sprachglieder fand Bellmer die Entsprechung zu seinen bildlichen und bildhauerischen Körperartikulationen. Dieses bei Bellmer und Zürn aufscheinende Beziehungsgeflecht zwischen Sprachvariationen und variabler Bildform hatte bereits für Ferdinand de Saussure (1857–1913) bei der Entwicklung seiner strukturalistischen Methode zu einem einprägsamen metaphorischen Instrument geführt – jenem der Gliederpuppe.40 Für de Saussure ist die Sprache eine gegliederte, variable Einheit. Um am Beispiel antiker Dichtung die Buchstabenreihen zu strukturieren, bestimmt er innerhalb der Worte einen locus princeps, an welchem sich die für das Wort charakteristischen Silben, beziehungsweise Diphone, am Anfang und am Ende angliedern. Dieser Struktur verleiht er den Terminus „mannequin“ – Gliederpuppe.41 Bei den unterschiedlichen Wortfigurationen erscheint als „ideale Gliederpuppe“ das von zwei als Gelenke begriffenen Markierungen umschlossene Syllabogramm, „das heißt eine Gliederpuppe, die in ihren eigenen, vom Anfangund Endbuchstaben deutlich angegebenen Grenzen das vollständige Syllabogramm enthält.“42 Dieser Idealform können sich weitere Silben angliedern, 37 38

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42

Vgl. zu den filmischen Einsätzen Koss: Bauhaus Theater of Human Dolls, Anm. 27. Weigel: Hans Bellmer - Unica Zürn; Ute Baumgärtel: „… dein Ich ist ein Gramm Dichtung…“. Die Anagramme Unica Zürns, Wien 2000; Helga Lutz: Schriftbilder und Bilderschriften. Zum Verhältnis von Text, Zeichnung und Schrift bei Unica Zürn, Stuttgart 2003. Hans Bellmer: Kleine Anatomie des körperlichen Unbewußten, in: ders.: Die Puppe, Berlin 1962, S. 71–114, hier S. 95. Vgl. Jean Starobinski: Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, Frankfurt a. M. 1980, S. 34–43. Vgl. Starobinski: Wörter unter Wörtern, S. 38: „Saussure weist im Corpus der poetischen Rede begrenzte Gruppen von Wörtern nach, deren Anfang und Ende dem Anfang und Ende des thematischen Wortes entsprechen und sein Indiz ausmachen. Saussure greift zunächst auf den Begriff des locus princeps zurück; er wird ihm den Terminus Gliederpuppe (mannequin) hinzufügen, den er beibehält und im folgenden weiterhin benutzt.“ De Saussure, zit. n. Starobinski: Wörter unter Wörtern, S. 39.

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3.  Phänomenologie der Gliederpuppe

während sich die Gliederpuppen untereinander durch die poetische Dichtung verflechten. Mit dieser strukturalistischen Denkfigur erreicht die Gattung der Gliederpuppe ihre wohl transzendierteste Form. Als markierte Gelenkreihung sind die mit ihr beschriebenen Wörter zugleich intrinsisch mit dem phänomenologisch wichtigsten Gehalt der Gliedergestalt verbunden: jenem der Variabilität bei stabilisierter Figuration. Mit der Formel der Gliederpuppe wählte sich de Saussure nicht nur eine Metapher, sondern auch eine instrumentelle Begriffsform, die als Denkwerkzeug für die sprachliche Analyse konstitutiv wurde. Auch in diesem Sinne handelte er ähnlich wie beim Umgang mit einer realen Gliederpuppe, die als anthropomorpher beweglicher Körper zugleich eine externalisierte Bildform und einen erweiterten Denkapparat darstellt.

c   Med iu m des ‚E x tended M i nd‘ Als vorgeprägtes Lehrinstrument und bewegliche Kultgestalt sind den Frühformen der Gliederpuppe intentionale Verfahrensmechanismen und Wirkungsorte auferlegt. Die stetige Fortentwicklung ihrer Phänotypen zeugt indes vom bezeichnenden Bedeutungsüberschuss der Gattung, der sich bis heute in einer Ausdifferenzierung sowohl der Einsatzbereiche als auch der gestalterischen Form­prägung niederschlägt. Dieses intrinsische Surplus birgt das gestalterische Potential der Gliederpuppe. In ihrer vertrautesten Ausprägungsform, als variables Menschenmodell des Künstlers, kommt ihr nur auf den ersten Blick die Rolle eines profanen Draperiegestells zu. Vielmehr sind es die in den Haltungsvariationen inkorporierten Bildwerte des rilievo, die sie in ernste Konkurrenz zum Lebendmodell treten lassen.43 Als manipulierbares Ateliermodell und in besonderem Maße als preziös ausgeformtes Kunstkammerobjekt liegen die differierenden Wertigkeiten der Gliederpuppen in der Ausprägung ihrer Variabilität begründet. Der in der Gliederpuppe verkörperte Angebotscharakter ist das eigentliche Merkmal der Gattung. Die durch Gelenkigkeit potentiell zu erreichende Figurationsvarianz ist ihr Angebot an den Manipulator. Die Gliederpuppe lässt sich deshalb im Sinne aktueller kognitionswissenschaftlicher Ansätze des ausgedehnten Geistes (Extended Mind) im Allgemeinen, und der Affordance im Speziellen, als bewegliches Denkwerkzeug beschreiben.44

43 44

Vgl. hierzu bereits Rath: Die Haptik der Bilder. Vgl. Andy Clark: Supersizing the mind. Embodiment, Action, and Cognitive Extension, New York 2008; Emanuele Bardone: Seeking Chances. From Biased Rationality to Distributed Cognition, Berlin 2011.

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III  Konzept

Ap p er z e p t ion , Ap p e t it ion u nd A f for d a nc e Als Apperzeption wird die aktive Aufmerksamkeitszueignung, ein bewusstes Erfahrungs- und Aneignungsbestreben bezeichnet.45 Während Perzeption die passive Situationswahrnehmung beschreibt, zeichnet sich die Apperzeption durch ihre Gerichtetheit aus. Im Sinne der Verwendung eines Modells bedeutet dies, dass durch dessen Hinzunahme vom Künstler ein Möglichkeitsraum geschaffen wird, dem seine kognitive und manuelle Aufmerksamkeit gilt. Diese Fokussierung birgt indes auch Risiken. Modelle, die als Präsentationsobjekte verwendet werden, sind in der Lage, einen determinierenden, geradezu fesselnden Effekt zu entwickeln. Im Falle der Gliederpuppe bedeutet die Modellverwendung eine Möglichkeitsaufspreizung durch ein bewegliches, manipulierbares anthropomorphes Objekt, auf welches der Künstler im Formfindungsprozess seine Aufmerksamkeit richtet. Diese Aufmerksamkeitszueignung kann in einem zweiten Schritt als eine vom Künstler gegenüber seinem Modell empfundene Appetition bezeichnet werden. In seiner Monadologie bestimmte Leibniz den Komplex der Appetition als „den Vorgang des inneren Prinzips, das den Wandel oder die Veränderung einer Wahrnehmung hin zu einer weiteren bedingt.“46 Dieser kontinuierlich angestrebte Perspektivwechsel, das stets auf Veränderung ausgerichtete Handeln, erhält im Modell der Gliederpuppe eine kaum zu überbietende Reizfigur. Diese besticht in besonderem Maße durch ihren Angebotscharakter, der sich mithilfe der Affordance-Theorie genauer bestimmen lässt. In seinen Untersuchungen zu menschlichen Wahrnehmungsverfahren entwickelte der amerikanische Psychologe James J. Gibson (1904–1979) die ökologische Psychologie und im Rahmen dieser die Affordance-Theorie.47 Diese besagt, dass sich Mensch und Tier in einer Umwelt aus Gegenständen mit Angebotscharakter bewegen. Objekte werden nicht primär abstrakt in Zeit und Raum wahrgenommen, um durch einen weiteren Evaluationsprozess einen Gebrauchs45 46

47

Vgl. Lemma Apperception in: Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Leipzig 21904, S. 58–61. „L’action du principe interne qui fait le changement ou le passage d’une perception à une autre, peut être appelé Appétition […].“ Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, § 15, in: ders.: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Discours de métaphysique, La monadologie, Principes de la nature et de la graçe fondés en raison, hg. u. übers. v. Ulrich Johannes Schneider, Hamburg 2002, S. 116. James Jerome Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, New York 1986; ders.: The Theory of Affordances, in: Robert Shaw/John Bransford (Hg.): Perceiving, Acting, and Knowing, New York 1977, S. 67–82. Dieser Ansatz wurde von Donald A. Norman zum heutigen Bedeutungsspektrum im Sinne eines Angebotscharakters von (Alltags-)Gegenständen weiterentwickelt. Vgl. Donald Norman: The Design of Everyday Things, New York 2013.

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3.  Phänomenologie der Gliederpuppe

wert zu erhalten. Vielmehr werden die von der Umwelt offerierten Handlungsangebote unmittelbar im wahrgenommenen Gegenstand erkannt. Um diese Gebrauchsangebote in unserer Umwelt zu charakterisieren, prägte Gibson den Begriff „affordance“: „The affordances of the environment are what it offers the animal, what it provides or furnishes, either for good or ill. The verb to afford is found in the dictionary, but the noun affordance is not. I have made it up. I mean by it something that refers to both the environment and the animal in a way that no existing term does. It implies the complementarity of the animal and the environment.“48 Als Lebewesen interagiert der Mensch in diesem Sinn mit seiner Umwelt, in welcher ihm die für seine Spezies nutzbaren Gegenstände besonders attraktiv erscheinen, sodass etwa ein Baum dem einen als bekletterbar, dem anderen als zu umgehendes Hindernis und dem dritten als Baumaterial erscheint.49 Die Wahrnehmung ist durch die Handlungsangebote, welche die Umwelt entgegenbringt, intrinsisch strukturiert. Bezogen auf den hier umfassten allgemeinen Untersuchungsrahmen zu dreidimensionalen Bildwerken kann in einem ersten Schritt der Angebotscharakter der figurativen Skulptur per se in Betracht gezogen werden: Als materialisierte Gestalt entwickelt das bildhauerische Werk (aber, in differenzierter Form, auch alle anderen Artefakte) einen Aufforderungsimpuls an den Betrachter, dem es sich als Gegenüber darstellt. Bezogen auf den speziellen Untersuchungsrahmen der Gattung Gliederpuppe ergibt sich im zweiten Schritt ein differenziertes Bild: die sich durch ihren Gliederleib in ihrer Variationsdiversität offenbarende Figur bietet fortwährend ein gesteigertes Berührungs- und Gestaltgebungs(an)gebot. Als besonders prägnante Form erscheinen hier die Gliederpuppen des Monogrammisten IP, die in ihrer kaum steigerbaren Durchgliederung zusätzlich an die Proportionen der menschlichen Hand angepasst wurden. Mit der Gliederpuppe trat ein Hilfsmittel in die Werkstatt des frühneuzeitlichen Künstlers ein, das hinsichtlich seiner Angebotskompetenz die plastischen Modelle aus formbaren Materialien ergänzte, die dem spontanen, individualisierten Formprozess entspringen. Mit der Gliederpuppe wurde dem Künstler indes in einer vorgegebenen Modellgestalt ein verkörpertes Figurationsvermögen entgegengebracht, das er nach Belieben gestalten konnte. Die in diesem tasten-

48 49

Vgl. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, S. 127. Vgl. hierzu jüngst Joerg Fingerhut, Rebekka Hufendiek, Markus Wild: Einführung, in: dies. (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2013, S. 7­–102, hier S. 76ff.

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III  Konzept

den Formprozess eingeschriebene ‚leibliche Kognition‘ wurde von Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) hinsichtlich der reziproken Abhängigkeit von Handlungs- und Perzeptionsvermögen bestimmt.50 Seine Überlegungen zur synästhetischen Wahrnehmung beschreiben die konstitutive Verbindung etwa von visuellen mit taktilen oder propriozeptiven Daten. Durch diese Verbindung entwickelt sich ein Wahrnehmungswissen: Ein Stein kann als hart und ein Sofa als weich ‚gesehen werden‘, da in der visuellen Wahrnehmung Wissen über die taktile Beschaffenheit unmittelbar integriert ist. Dieses erweiterte Verständnis von kognitiven Vorgängen als körperlich-räumliche Prozesse begreift den Leib als „System von Bewegungs- und Wahrnehmungsvermögen“.51 Der sich in der Bewegungskompetenz der Gliederpuppe äußernde Angebotscharakter verweist im Sinne Merleau-Pontys auf eine fundamentale Verbindung aus körperlichem und geistigem Entwerfen: „Das Fundament der Einheit der Sinne ist die Bewegung, nicht die objektive Bewegung und Ortsveränderung, sondern der Bewegungsentwurf oder die ‚virtuelle Bewegung‘.“52 Als variables Modell dient die Gliederpuppe dem virtuell-körperlichen Vor-Stellen von Haltungen und Bewegungen. Der Vorgang der Manipulation bedeutet einen dynamischen Austausch zwischen Objekt und menschlicher Hand in wechselseitiger Bezogenheit. Denkund Gestaltungsprozesse werden in das gegliederte Modell hineinverlagert – oder vielmehr von diesem miterzeugt.

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51 52

„Ein menschlicher Leib ist vorhanden, wenn es zwischen Sehendem und Sichtbarem, zwischen Berührendem und Berührtem, zwischen dem einen Auge und dem anderen, zwischen einer Hand und der anderen zu einer Art Überkreuzung kommt, wenn der Funke des Empfindend-Empfundenen sich entzündet […].“ Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 281. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 184. Ebd., S. 273f.

S chluss

Für die 54. Biennale, die 2011 in Venedig stattfand, war dem Künstler Lee Yongbaek (*1966) die Gestaltung des koreanischen Pavillons übertragen worden. An der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste ausgebildet, hatte sich Yong­ baek zunächst kinetischer Kunst, Robotik sowie der Sound- und Videokunst zugewandt, bevor er Installationen und bildhauerische Werke schuf. Im Rahmen der Biennale präsentierte er aus dieser Werkgruppe die Plastiken der zweiteiligen Pietà-Serie: Je zwei riesenhafte Gliederpuppen aus Kunststoff, die sich als Gussform sowie als die daraus hervorgegangene Gliedergestalt erweisen, werden einerseits in heftigstem Kampf, andererseits als friedliche Pietà inszeniert (Bild 282, 283).1 Während das Gliederpuppenwesen in Pieta: Self-hatred die Modelform bekämpft, die es hervorbrachte, ist in Pieta: Self-death der auf einer Holzkiste sitzenden Negativform die in ihr gebildete Gliederpuppe in den Schoß gelegt. Die beiden Gliederpuppenpaare, die allgemein Fragen zu Modell und Original, zu Identifikation bis hin zu genealogischen Konflikten eröffnen, knüpfen zugleich ein dicht gewobenes Bezugsnetz zu den im Rahmen dieser Arbeit verhandelten Komplexen. In ihrem schematischen Anthropomorphismus erweisen sich die Figuren zugleich anonymisiert und vielgestaltig, bieten Abstraktions- wie Identifikationsmomente. Sie wirken als dynamische und zugleich erstarrte Körper. Durch die ikonographische Fassung als christliches Vesperbild erinnern sie an all jene kultischen Einsatzbereiche, in welchen mithilfe von Gliederfiguren das Glaubensgeschehen in Form eines hybriden tableau vivant inszeniert wurde. Als widerstreitende Aggregatszustände der aus sich selbst geformten Gliederpuppe verweisen die Figuren schließlich auf eine stets konfliktgeladene Modell1

Vgl. Yun Cheagab: The Love is gone but the Scear will heal. Lee Yongbaek, Dokumentation unter: http://www.korean-pavilion.or.kr/11pavilion/WORK%28S%29_ eng.html [22.11.2014].

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Schluss

Bild 282  Lee Yongbaek: Pieta: Self-hatred, 2011, 165 × 370 × 290 cm, Kunststoff, Installationsansicht im koreanischen Pavillon, 54. Biennale, 4.6.–27.11.2011, Venedig.

genealogie, die dem in die Öffentlichkeit entlassenen ‚Original‘ entgegentritt – das Werk wirkt umso ingeniöser, je weniger es auf den eigenen Schaffensprozess verweist. Die in diesem Band versammelten Untersuchungen zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen und Einsatzgebieten der Gliederpuppe, zu ihren praktischen wie ideellen Bedeutungen und Vereinnahmungen ergeben ein komplexes Gefüge. Gliederpuppen des Altertums waren ebenso wie die Kunstkammerstücke der Renaissance durch ihre geringe Größe der menschlichen Hand eingeschrieben, dienten als Lehr- und Denkmodelle. Durch ihre gegliederte Bauweise ermöglichten Gliederfiguren seit dem späten Hochmittelalter eine performative Inszenierung zentraler Glaubensinhalte sowie einen visuellhaptischen Glaubensvollzug. Gliederpuppen des weltlichen Kultes waren als belebt inszenierte Bildkörper in einem vergleichbaren Sinne auf eine öffentliche Vielgestaltigkeit hin ausgelegt. Intimität und Öffentlichkeit prägten auch die in der Folge betrachtete Kulturgeschichte der Gattung. Neben ihrer Funktion als Spielobjekt gelangte die Gliederpuppe durch weitere Ausdifferenzierung als variable Präsentationsform und Menschensubstitut in zentrale Gesellschaftsbereiche wie Medizin und Mode. Zwischen eigenständigem Kunstwerk und verheimlichtem Modell spannen sich die Einsatzfelder der Gliederpuppe im weiten Feld der Kunst. Seit der zweiten Hälfte des Quattrocento in Schriftquellen für das Draperiestudium

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Schluss

Bild 283  Lee Yongbaek: Pieta: Self-death, 2008, 400 × 340 × 320 cm, Kunststoff, Holzkiste, Installationsansicht im koreanischen Pavillon, 54. Biennale, 4.6.–27.11.2011, Venedig. (Farb­tafel 32)

empfohlen, wurde ihre Präsenz in bildlichen Darstellungen verschleiert. Erst mit Dürer beginnt ihre Verbreitung nördlich der Alpen, wobei sich ihre entscheidende bildliche wie schriftliche ‚Entdeckung‘ in den Niederlanden des 17. und 18. Jahrhunderts vollziehen sollte. Gelobt und umstritten, bildete die Gliederpuppe eine Reizfigur, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute motivisch verselbständigte. Als Mittlerin zwischen Körper und Bild, zwischen Auge und Hand schafft die Gliederpuppe einen Denkraum, der stets die Frage nach Abhängigkeit und Selbständigkeit des Modells eröffnet.

L iteratur

Pr i mä rl iterat u r Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hg. v. Oskar Bätschmann/Christoph Schäublin, Darmstadt 2000. Leon Battista Alberti: Della Pittura. Über die Malkunst, hg. v. Oskar Bätschmann/Sandra Gianfreda, Darmstadt 2002. Romano Alberti: Origine et progresso dell‘Accademia del disegno de‘ Pittori, Scultori et Architetti di Roma, Pavia 1604. Anthologia Graeca. Buch I–VI, gr.-dt. hg. v. Hermann Beckby, München 1957. Aristoteles: De anima. Über die Seele, hg. v. Horst Seidl, Hamburg 1995. Giovanni Battista Armenini: De veri precetti della pittura (1587), hg. v. Marina Gorreni, Turin 1988. Giovanni Battista Armenini: De veri precetti della pittura (1587), hg. v. Stefano Ticozzi, Mailand 1820. Filippo Baldinucci: Notizie de’ professori del disegno da Cimabue in qua, Florenz 1688. Hans Bellmer: Kleine Anatomie des körperlichen Unbewußten, in: ders.: Die Puppe, Berlin 1962, S. 71–114. Hans Bellmer: Die Puppe, Berlin 1983. Giovanni Pietro Bellori: Le vite de› pittori, scultori, ed architetti moderni, Rom 1672. Walter Benjamin: Lob der Puppe. Kritische Glossen zu Max v. Boehns „Puppen und Puppenspiele“, in ders.: Kritiken und Rezensionen. Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Berlin 1991, S. 213–218. Louis de Boullongne: La Vierge au lapin de Titien, 12 avril 1670, in: Jacqueline Lichtenstein/Christian Michel (Hg.): Conférences de l‘Académie Royale de Peinture et de Sculpture, Tome I, Vol. I, 1648–1681, Paris 2007, S. 359–367. Heinrich Bullinger: Werke. Abteilung 2. Briefwechsel, hg. v. Zwingliverein Zürich, Bd. 8, Briefe des Jahres 1538, bearb. v. Hans Ulrich Bächtold, Zürich 2000. Bernardino Campi: Parere sopra la pittura (1584), in: Giambattista Zaist: Notizie istoriche de‘ pittori, scultori, ed architetti cremonesi, Bd. II, Cremona 1774, S. 103–106. Vincente Carducho: Diálogos de la pintura. Su defensa, origen, essencia, definicion, modos y diferencias, Madrid (1633), hg. v. Francisco Calvo Serraller, Madrid 1979. Baldassare Castiglione: Il libro del cortegiano (1528). Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance, übers. v. Albert Wesselski, m. e. Vorw. v. Andreas Beyer, Berlin 32008. Benvenuto Cellini: Disputa infra la scultura e la pittura […], in: Paola Barocchi (Hg.): Scritti d’arte del Cinquecento, Bd. I, Turin 1977, S. 595–599.

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559  

Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

Ausst. Kat.: Mythen van het atelier. De werkplaats en schilderpraktijk van de negen­ tiende-eeuwse Nederlandse kunstenaar, hg. v. Mayken Jonkman/Eva Geudeker, Den Haag 2010. Ausst. Kat.: Oskar Kokoschka und Alma Mahler. Die Puppe. Epilog einer Passion, hg. v. Klaus Gallwitz, Frankfurt a. M. 1992. Ausst. Kat.: Pharaohs and Mortals. Egyptian Art in the Middle Kingdom, hg. v. Janine Bourriau, Cambridge 1988. Ausst. Kat.: Puppen Körper Automaten – Phantasmen der Moderne, hg. v. Pia MüllerTamm/Katharina Sykora, Köln 1999. Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, hg. v. Helmut Friedel, Köln 2001. Ausst. Kat.: Roma Capitale 1870–1911. Crepereia Tryphaena. Le scoperte archeologiche nell’area del Palazzo di Giustizia, hg. v. Anna Mura Sommella, Venedig 1983. Ausst. Kat.: Sculture „da vestire“. Nero Alberti da Sansepolcro e la produzione di manichini lignei in una bottega dell‘italia centrale alla metà del XVI secolo, hg. v. Cristina Galassi, Perugia 2005. Ausst. Kat.: Seelenkind. Verehrt. Verwöhnt. Verklärt. Das Jesuskind in Frauenklöstern, hg. v. Bernhard Haßlberger u. a., Regensburg 2013. Ausst. Kat.: Silent Partners. Artist and Mannequin from Function to Fetish, hg. v. Jane Munro, New Haven/London 2014. Ausst. Kat.: Spectacular Bodies. The Art and Science of the Human Body from Leonardo to Now, hg. v. Martin Kemp/Marina Wallace, London 2000. Ausst. Kat.: The Intimate Portrait. Drawings, miniatures and pastels from Ramsay to Lawrence, hg. v. Stephen Lloyd/Kim Sloan, London 2008. Ausst. Kat.: The Lost Prince. The Life & Death of Henry Stuart, hg. v. Catharine MacLeod, London 2013. Ausst. Kat.: The Sacred Made Real. Spanish Painting and Sculpture, 1600–1700, hg. v. Xavier Bray u. a., London 2009. Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991. Ausst. Kat.: Unter Minervas Schutz. Bildung durch Kunst in Joachim von Sandrarts Teutscher Academie, hg. v. Anna Schreurs u. a., Wolfenbüttel 2012. Ausst. Kat.: Warhol verso de Chirico, hg. v. Marisa del Re, Mailand 1982. Ausst. Kat.: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, hg. v. Ekkehard Mai/Kurt Wettengl, München 2002. Ausst. Kat.: Wilhelm Bendz 1804–1832. A Young Painter of the Danish Golden Age, bearb. v. Ejner Johannson, Kopenhagen 1996. Ausst. Kat.: Zeit und Ewigkeit. 128 Tage in St. Marienstern, hg. v. Judith Oexle/Markus Bauer/Marius Winzeler, Halle an der Saale 1998. Gerhard Baader: Anatomie, Konsilienliteratur und der neue Naturalismus in Italien im Spätmittelalter und Frühhumanismus, in: Andreas Beyer/Wolfram Prinz (Hg.): Die Kunst und das Studium der Natur vom 14. zum 16. Jahrhundert, Weinheim 1987, S. 127–139. Manfred Bachmann, Claus Hansmann: Das große Puppenbuch, Leipzig 1971. Stanley H. Backaitis, Harold J. Mertz: Hybrid III. The First Human-Like Crash Test Dummy, Warrendale, PA, 1994. Leo Baer: Vorwort, in: Erhard Schön. Unterweisung der Proportionen und Stellung der Possen, Nürnberg 1542, hg. v. dems., Frankfurt a. M. 1920. Jürgen Bärsch: Raum und Bewegung im mittelalterlichen Gottesdienst. Anmerkungen zur Prozessionsliturgie in der Essener Stiftskirche nach dem Zeugnis des Liber Ordinarius vom Ende des 14. Jahrhunderts, in: Franz Kohlschein/Peter Wünsche (Hg.): Architektur, Kunst und Liturgie in den mittelalterlichen Kathedralen und Stiftskirchen, Münster 1998, S. 163–186.

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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P ersonenregister

AD (Monogrammist) 429 Adam D (Monogrammist ) 429 Addison, Joseph 179 Aertsen, Pieter 358 Æthelwold I. 92 Alberti, Leon Battista 204 f., 270 f., 274, 292, 323, 432, 454–456, 458, 472 Alberti, Pietro Francesco 318, 323 Alberti, Romano 288 f., 318 Albertinelli, Mariotto 279, 294 Alderson, Samuel 201 Alt, Peter-André 164 Anderson, Thomas 173 Andres, Mirjam 46 Anne de Bretagne 177 Anne of Denmark 165–169, 174 Aristomache 43 Aristophanes 50 Aristoteles 48, 467 Armenini, Giovanni Battista 274, 283, 285 f., 293, 323 Assmann, Jan 71 Atget, Eugène 193 Baccio da Montelupo 122, 138 Baer, Leo 343, 345 Baglione, Giovanni 289 Baldinucci, Filippo 458 Balduccio, Giovanni di 86 f. Bambach Cappel, Carmen 301 f. Bandinelli, Baccio 282, 284, 308, 313–315 Bange, Ernst Friedrich 208, 415, 426, 435–437 Barbari, Jacopo de’ 326, 328 Barolsky, Paul 537

Basedow, Johann Bernhard 192, 383 f., 386, 392 Bassé, Jan d. Ä. 347 Bearzi, Bruno 292 Beckx, David 347 Beeton, Alan 506 Beham, Barthel 338 Beham, Hans Sebald 338 Belling, Rudolf 195 Bellini, Gentile 326 Bellmer, Hans 510–521, 525 f., 528, 531–534, 546 Bellori, Giovanni Pietro 339, 373 Belting, Hans 85, 94, 528 Benedikt XVI. 522 Bérain, Jean 187 Berensteyn, Arnoudt van 328 Beringh, Johan Hendrik 348 Berlichingen, Götz von 212 Bernhard von Clairvaux 119 f., 124, 136 f., 140 Berry, Jean de 434 Bettini, Maurizio 56 Beyer, Andreas 318 f., 378 Bicoli, Domenico 279 Biens, Cornelis Pietersz. 361 f., 364, 372, 381 Blanchot, Maurice 113 Blannbekin, Agnes 144 Böhm, Joseph Daniel 416 Boehn, Max von 180 Boel, Pieter 388 Bolsterer, Hans 439 Bonatti, Giovanni 290 Bonnet, Anne-Marie 328, 336

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Personenregister

Borch, Gerard ter d. Ä. 360, 540 Borch, Gerard ter d. J. 358, 360 Bortnyik, Sándor 504 Botticini, Francesco 308 Boullogne, Louis de 374 f. Braccelli, Giovanni Battista 473 Bramante, Donato 287, 468, 470 Bredekamp, Horst 48–50, 434, 467 Bredius, Abraham 347 f. Brock, Bazon 443 Bronzino, Agnolo 274 Brouwer, Adriaen 359 Brû, Léon Casimir 222 f. Brückner, Wolfgang 157 f., 175 Bruegel, Pieter d. Ä. 359 Brugghen, Gerard ter 361 Brunelleschi, Filippo 88 f. Brunery, François 481–483, 485, 507 Brunner-Traut, Emma 16, 28 Bruyn, Nicolas de 347 Bullinger, Heinrich 105, 107 Burger, Jörg 212 Burgkmair, Hans d. Ä. 440 Buytewech, Willem Pietersz. 358 Bychkova, Marina 228 Caesar 151 Cambiaso, Giovanni 468 f. Cambiaso, Luca 468–473, 510, 530, 540 Campi, Bernardino 274, 284 f., 451 Cardano, Girolamo 229 Carducho, Vicente 290 Cardi, Lodovico 205 Carlos IV. 226 Carrà, Carlo 500 f. Carré, François 347 Carter, Howard 176 Castaigne, André 480–482, 507 Castiglione, Baldassare 318–321, 324, 544 Cellini, Benvenuto 274 f., 459 Cennini, Cennino 273, 452–455 Ceruti, Stefano 402 Cespédes, Pablo de 291 Cézanne 494 Champfleury, Jules 490 Chapman, Harry 350 Charles I. 165, 175 Charles VI. 158, 176 f., 434 Chodowiecki, Daniel 192, 383–385 Christiansen, Keith 309 Ciocchi del Monte, Antonio Maria 322 Clari, Robert von 117

Clemens VII. 282 Codde, Pieter 354 Colombo, Giacomo 131 Colt, James 168 Colt, Maximilian 168 f., 538 Colzi, Carlo 279 Comenius, Johann Amos 386 Cooney, John D. 22 Cornwallis, Charles 171 Cort, Cornelis 317 Cosini, Silvio 284 Cossinia (Vestalin) 60 Courbet, Gustave 489–494, 496 Cousin, Jean d. J. 363 Coypel, Antoine 324, 376 f. Cranach, Lucas d. Ä. 219, 248, 440 Cranach, Lucas d. J. 182 Crepereia Tryphaena 55–59, 65, 69, 213, 536 f. Crepereio Euhodo 55 Cusanus, Nicolaus 350 D’Alembert, Jean le Rond 399 D’Ambra, Eve 537 Danhauser, Joseph 389 Daniele da Volterra 282 Daux, Georges 41 de Chirico, Giorgio 497–501, 503 Degas, Edgar 494 Degen, Rudolf 59 DeJean, Joan 179 Delibes, Leo 544 Dell’Aqua, Carlo 402 Depero, Fortunato 504 Descartes, René 540–542 Desiderio da Settignano 138 Dickmann, Jens-Arne 42 Diderot, Denis 378, 399 Didi-Hubermann, Georges 456 Dix, Otto 505 Dölger, Franz Josef 69 Donatello 88–90, 138, 292, 309 f. Doni, Anton Francesco 283 f. Donneau de Visé, Jean 187 Doort, Abraham van der 168 Dorsten, Matthijs van 348 Du Coudray, Angélique Marguerite Le Boursier 212 Dürer, Albrecht 287, 292, 325–339, 343, 345, 362 f., 381, 405, 414, 424, 428, 430–432, 468, 472, 515, 540, 553 Dufresnoy, Charles Alphonse 367, 377

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Personenregister

Duquesnoy, François 226 Dyck, Hermann 487 Ebner, Margareta 140 Edward I. 154 Edward II. 153–155 Edward III. 155, 157 f. Egger, Hermann 427 Egmont, Pieter Cornelisz. van 351, 353, 358 Ehem, Barbara 428 Ehlich, Volker 81 f. Eisenstaedt, Alfred 510 Eleonore von Kastilien 178 Elisabeth I. 161, 168, 170 Elizabeth of York 163 f. Embde, August 398 Epple, Sabine 434 Erhart, Gregor 141 Ernst, Max 504 Ernst von Bayern 435 Este, Ferrante d’ 178 Este, Isabella d’ 177, 434 Etty, Willam 479 Fajt, Jiˇrí 435 Fangaert, Symon 348 Farinati, Paolo 312 Faustina die Ältere 57 Fendi, Peter 389 Ferdinand II. von Aragón 114 Fernández González, Ruth 82, 90 f. Feuerbach, Anselm 486 f. Feyens, Jacques-Eugène 490 Ficino, Marsilio 283 Filarete, Antonio di Pietro Averlino 267–273, 278, 292 f., 309, 326, 372, 433, 453 f., 477 Filelfo, Francesco 268 Fiorillo, Johann Dominik 381 f. Fischer, Chris 293 f. Fittà, Marco 18, 47 Fluck, Cäcilia 17 Flühler-Kreis, Dione 77 Fontana, Felice 206 Fooken, Insa 222 Foppa, Vincenzo 468 Fra Bartolomeo 278 f., 282, 285, 292–299, 301 f., 308, 324, 326, 382, 457, 459 Francisco de Holanda 287 Francke, Christian August 348 François I. 156, 161, 175, 177 f.

François d’Orléans 158 Franz von Assisi 118, 136 Fraser, Antonia 177 Frauenholz, Johann Friedrich 416 Fredel, Jürgen 345 Freud, Sigmund 500, 520 Frey, Agnes 326 Friedrich II. 492 Friedrich Wilhelm II. 382 Fubini, Giorgio 472 f. Gainsborough, Thomas 379 Garofalo, Benvenuto Tisi 280, 282, 326, 459 Gauricus, Pomponius 274 Geiler, Johannes 141 Gelder, Arent de 359 Georg I. 180 Gérôme, Jean-Léon 481 Gertrud von Helfta 124 Geyser, Gottlieb 192 Gheeraerts d. J., Marcus 161, 168 Ghiberti, Lorenzo 274, 281 Ghirlandaio, Domenico 301–303 Giambologna 458, 530 Giambono, Michele 116 Gibbons, Rachel 177 Gibson, James J. 548 f. Giese, Benjamin 478, 493 Gittings, Claire 172 Gnirs, Andrea M. 19 Gödde, Susanne 48 Goeree, Willem 369 Goethe, Johann Wolfgang von 386, 543 Gonzaga, Elisabetta 318 Gonzaga, Federico I. 177 Goya, Francisco de 225 f. Granville (Jean Ignace Isidore Gérard) 485 Grinten, Evert Frans van der 358–360 Griswold,William M. 308 Grosz, George 501 f. Gurlitt, Cornelius 105 Gutzkow, Karl 545 Guy, Marie 462 Gwalther, Rudolf 107 Hahn, Johann Michael 210 Hamdorf, Friedrich Wilhelm 37 Hasenclever, Johann Peter 390, 392, 396, 486 Hausmann, Raoul 504 Haussmann, Georges-Eugène 192

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Personenregister

Hecht, Christian 116 Heinrich von Nördlingen 138 Helst, Batholomeus van der 347 Helst, Lodewyck van der 347 Hemessen, Jan van 358 Henry II. 153, 179 Henry III. 163 Henry V. 157 Henry VII. 107, 159 f., 164 Hermofilis 67–69 Herodot 66, 231 Herrad von Landsberg 231 Hille, Karoline 502 Hilsey, John 107 Hirsch, Alfred 152 Hirst, Michael 302 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 180, 513, 542–544 Hoker, John 107 Homer 30, 42, 174, 536 Hoogstraten, Samuel van 339 Hope, W. H. St. John 168 Horaz 231 Houbraken, Arnold 359 Houdon, Jean-Antoine 205 Hübner, Ulrich 37 Hütt, Wolfgang 390 Hulot, Anatole-Auguste 415 Huot, Paul 398, 401, 479 Huysmans, Joris-Karl 193, 462 Iglesia y Nikolaus, Anna-Laura de la 129 Imhoff, Willibald 434 IP (Monogrammist) 409, 429 f., 432–435, 441, 443 f., 477, 506, 514, 534, 540, 549 Isabeau de Bavière 177 Isabella I. von Kastilien 114, 177 f. Isabella von Frankreich 155 Isabelle de Valois 177 Jaquet-Droz, Pierre und Henri-Louis 543 James I. 155, 165 f., 168 f., 174 f. Janneck, Franz Christoph 386 Janson, Horst W. 89 Janssonius, Johannes 361 Jelenski, Constantin 515 f., 521 Jentsch, Ernst 520 Jezler, Peter 74, 114 Kantorowicz, Ernst 151–153 Karl der Große 151 Karl IX. von Schweden 181

Karlik, Doris 31, 67 Katharina von Schweden 181 Kaulbach, Wilhelm von 393–395 Keil, Robert 341 Kempelen, Wolfgang von 543 Kempen, Thomas von 141 Kentridge, William 232 Keppler, Stefan 543 Kick, Simon 353 King, Elizabeth 528–531 Kleist, Heinrich von 232, 508, 543 Kleopatra 268 Kokoschka, Oskar 228 f., 517 Koller, Manfred 101, 131 f. Kopania, Kamil 83 Kruse, Käthe 226 Krystof, Doris 501 Kügelgen, Wilhelm Georg Alexander von 388 Labe, Honorato 271 Lairesse, Gerard de 323, 367–374, 376 f., 388, 395, 458 Lalaing, Jacques de 484 Lamboley, Claude 26, 70 La Mettrie, Julien Offray de 542 Laue, Georg 407 Lautensack, Heinrich 345 Lavigne, Alexis 192 f. Le Brun, Charles 373, 376 f. Léger, Fernand 496 Leibniz, Gottfried Wilhelm 548 Leo X. 282, 322 Leonardo da Vinci 205, 269, 274, 281 f., 284, 286, 291, 302–308, 324, 330 f., 333, 371, 404, 442, 452, 456 f., 468, 522, 539 Leyden, Lucas van 381 Leyden, Nicolaus Gerhaert von 140 f. Lichtenau, Wilhelmine von 382 Lichtenstein, Therese 526, 528 Liebermann, Max 495 f., 524 Lippmann, Friedrich 415 f. Lisner, Magrit 79, 82 List, Herbert 503 Liverati, Carlo Ernesto 279 Livius 28 Lloyd, Stephen 379 Lomazzo, Giovanni Paolo 274, 286–288, 468, 470 Lombardi, Alfonso 282 Lonsdale, Steven 31 Loreck, Hanne 525

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Personenregister

Louden, Lynn M. 321 Louis XIII. 373 Ludolf von Sachsen 137 Ludwig I. von Bayern 393 Ludwig XIV. 187 Lukian von Samosata 66, 231 Magnani, Lauro 472 Mahler, Alma 229 Malke, Lutz 308, 311 Mander, Karel van 328, 361, 380 Man Ray 521 Manson, Michel 59, 63 f., 216 Mantegna, Andrea 287 Marco d’Agrate 205 Marek, Kristin 154 Margarete von Österreich 435 Maria (Frau des Honorius) 64 Maria Tudor 164 f. Maria von Sachsen 182 Martínez Montañés, Juan 125 Masaccio 309 Mascarino, Ottaviano 289 Masolino 268, 309 Maximilian I. 326, 328 Maximilian II. 440 Meder, Joseph 285, 293, 298, 301 Medici, Caterina de’ 178 Medici, Cosimo I. de’ 315 Medici, Lorenzo de’ 151, 434 Medici, Piero I. de’ 268 Meister von Irrsdorf 429 Melisto 43 Menenius Agrippa 28 Menzel, Adolph 491–496, 524 Mercier, Louis-Sébastien 180 Merleau-Ponty, Maurice 550 Metsu, Gabriel 354, 358 Metzger, Christof 140 f. Meyer-Drawe, Eva 443 Michelangelo Buonarroti 274, 276, 278, 282, 284, 286, 301 f., 308, 315, 322, 324, 337, 370, 456, 458 f. Michel-Lévy, Henri 494 Milanesi, Gaetano 279 Mochi, Francesco 289 Mohedano, Antonio 291 Molenaer, Jan Miense 359 Monstrelet, Enguerrand de 157 Montabert, Jacques-Nicolas Paillot de 473 Montijo, Eugénie de 192 Moos, Hermine 228 f., 517

Moreau, Gustave 461–466 Mortimer, Richard 155 Müller, Richard 504 f., 510 Müller-Tamm, Pia 518 Munnekus, Hendrick 347 Munro, Jane 292, 398, 477 Murray, David 170 Musscher, Michiel van 348 Myssok, Johannes 274, 280 f. Nefzger, Ulrich 360 Nero Alberti da Sansepolcro 126 Nicot, Jean 475 Nilson, Friedrich Christoph 394 Norris, Richard 167 Nussbaum, Felix 522 Obergruber-Boerner, Carlos 433 f., 437 f. Offenbach, Jacques 513, 544 Orlandi, Cristoforo 289 Oshii, Mamoru 532 Ostade, Adriaen van 355, 357, 477 Overbury, Thomas 179 Ovid 441, 536 f. Pacheco, Francisco 290 Palamedesz, Palamedes 355 Panofsky, Erwin 95, 332 f., 336 Pape, Abraham de 347 Parmigianino 308 Parrot, Nicole 194 Partridge, Nicholas 105 Paul, Jean 544 Peirce, Charles Sanders 153 Pentcheva, Bissera V. 149 Peppel, Claudia 215, 286, 498 Perugino, Pietro 282, 321 Pesne, Antoine 492 Petrie, William Matthew Flinders 13–15 Peutinger, Konrad 440 Philipp III. 290 Philipp IV. 290 Philippovich, Eugen von 208, 212 Pierini, Gisèle 19 Piero della Francesca 281, 310 Pinder, Wilhelm 137 Pino, Paolo 283 f. Pirckheimer, Willibald 328, 434 Pisano, Andrea 79, 87 Pisano, Nino 79–81, 97 Plangon 42 Platon 40, 48, 314, 441

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Personenregister

Platzer, Johann Georg 386, 388 Plinius d.Ä. 274 Pollaiuolo, Antonio 204, 327 Pollux 50 Pontormo, Jacopo da 274 Posonyi, Alexander 414–416, 437 Pot, Hendrik Gerritsz. 358 Poussin, Nicolas 337, 339, 345, 370, 372 f., 376 Powell, Amy Knight 538 Praun, Paulus 414 f., 434 Preiss, Gerhard 507 Prévost, Antoine-François 179 Prinz, Wolfram 293, 304, 309 f. Pritzel, Lotte 513, 515 Prucker, Niklas 381, 407 Pseudo-Bonaventura 136 f. Quintilian 270 Raffael 311 f., 321, 370 f., 376 f., 381, 468 Raimondi, Marcantonio 328 Rasmussen, Jörg 433 f., 436 f. Regis, Antonio 271 Reilly, Joan 43 Reisinger-Weber, Jutta 416, 422 f., 427, 430 Reiter, Johann Baptist 388 Ricci, Catarina de’ 99 Richard II. 177 Richelieu, Duc de (Armand-Jean du Plessis) 373 Ridolfi, Carlo 287 Riley, Rachele 197 Ritter, Eduard 392 Robbins, D.H. 202 Roberto da Lecce 96 Romanelli, Mariano d’Agnolo 129 Roubiliac, Louis-François 400 Rougemont, Denis de 467 Rousseau, Jean-Jacques 220 Rubens, Peter Paul 337 Ruffi, Claudio 271 Rupert von Deutz 124 Rupprich, Hans 329 Rustige, Heinrich von 485 Saint-George, Georges Guillet de 375 Salmasius, Claudius 41 Salviati, Francesco 292 Sambourne, Edward Linley 483–485 Sánchez Cantón, Francisco Javier 423

Sanderson, William 179 Sandrart, Jacob von 381 Sandrart, Joachim von 379–381, 407 Sangallo, Francesco da 274 Sansovino, Jacopo 282 Sarto, Andrea del 281 Saussure, Ferdinand de 546 f. Schadow, Johann Gottfried 382, 390 Schälicke, Bernd 119 Schlemmer, Oskar 5, 508–510 Schlichter, Rudolf 500 f. Schlosser, Julius von 451 f. Schmoll gen. Eisenwerth, J. Adolf 43 Schön, Erhard 338 f., 343, 345, 363, 468, 472 Schulz, Heribert 470 Schulz, Martin 172 Schulze, Andreas 104, 113 Schulze Altcappenberg, Hein-Theodor 313 Schwarzburg, Auguste Dorothea von 227 Schwarzburg-Sondershausen, Anton Günther II. von 227 Schwarzmaier, Agnes 46 Schwind, Moritz von 395 Scudéry, Madeleine de 180 Seuse, Heinrich von 138 Sforza, Francesco 267 f. Shakespeare, William 172 f. Sherman, Cindy 525–528, 531 Signorelli, Luca 310 Silveira, Benito 132 Simondi, Bernardino 271 f. Sitte, Camillo 395 Sloan, Kim 379 Snell, Bruno 536 Soggi, Niccolò 281, 310, 321 f., 375 Solms, Ursula Gräfin zu 439 Soprani, Raffaele 468 f., 472 Soreau, Daniel 436 Sotades 50 Sprengel, Peter Nathanael 385, 392 Springinklee, Hans 338 Stabius, Johannes 440 Starobinski, Jean 546 Steen, Jan 358 Steindorff, Georg 24 Stienstra, Elisabet 530 f. Stifter, Adalbert 544 Stockman, Frédéric 193 f. Stothard, Thomas 379 Straet, Jan van der 317 Stuart, Arabella 182, 218

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Personenregister

Stuart, Henry Frederick 165, 167, 170–172, 174 Sweerts, Michael 354 Sykora, Katharina 518 Székessy, Karin 510 Tacitus 150 Tarr, Roger 89 f. Tasso, Giovanni Battista del 274 Taubert, Johannes und Gesine 82, 85, 95 Teatts, Hannah 192 Tellgmann, Ferdinand 390 Tertullian 71 Testelin, Henri 374 f. Theuerkauff, Christian 438 Thieme, Ulrich 415 Tibull 320 Timarete 41 Tintoretto 312 f., 370 Tizian 287 f., 478 Töpfer, Antje 531 Tribolo, Niccolò 274, 281 f. Triegel, Michael 522, 524 f., 530 Tripps, Johannes 74, 104, 112, 137 Tutanchamun 176 Ucello, Paolo 310 Ulrich von Augsburg 76 Valckert, Werner Jacobsz. van den 348, 352, 355, 356, 358, 360, 372, 381, 477 Valkenberg, Dirk 348 van de Passe, Crispijn d. J. 362–364, 366, 369, 372, 460, 477 f., 539 Varchi, Benedetto 274–276, 283, 363 Vasari, Giorgio 88, 274, 276–284, 292 f., 302, 310, 321 f., 324, 326, 363, 375, 380, 382, 433, 456 f., 459, 477 Vaucason, Jacques de 542 f. Veillant, Wallerant 353 f., 358, 360 Velásquez, Diego 337 Veneziano, Agostino 313 Vermeer, Jan 359

Verrocchio, Andrea del 302, 309, 456 Verveer, Adriaen Huybertsz 350 Vesalius, Andreas 205 Vico, Enea 315 Viktor & Rolf 197 Villard de Honnecourt 146, 337 Villiers de L’Isle-Adams, Auguste de 542 Vinne, Vincent Laurensz. II. van der 357, 477 Vitruv 339, 341, 362, 430, 471 Vöge, Wilhelm 415 Vogtherr, Heinrich d.Ä. 337 Volmarijn, Crijn Hendricksz 347 Voort, Cornelis van der 347 Voort, Pieter van der 347 Vos, Jan IV. de 347 Vos, Johannes II. de 348 Warburg, Aby 48 Warmondt, Catharina van 218 Webster, John 173 f. Weir, John Ferguson 480 Weixlgärtner, Arpad 208, 280, 293, 298, 300, 310, 325, 330, 333, 336, 345, 413, 415 f., 419, 427, 433, 435–437, 440 Weymann, Elisabeth 432 Willeke, Heike 231 Winzinger, Franz 337 Wolgemut, Michael 326 Wyer, Peter 77 Yongbaek, Lee 551 Young, Karl 84 Zanardi, Bruno 271 Zick, Stephan 209 f. Zola, Émile 193 Zuccari, Federico 288–290, 318 Zürn, Unica 546 Zumbo, Gaetano 206

Bildnachweise

Bild 1: Universität Tübingen/Hildegard Jensen; Bild 2: Ausst. Kat.: Ice Age Art. The Arrival of the Modern Mind, hg. v. Jill Cock, London 2013, S. 100, Abb. 48; Bild 3: Harvard Art Museums/Arthur M. Sackler Museum, Gift of Nanette Rodney Kelekian; Bild 4: Brooklyn Museum, New York/Charles Edwin Wilbour Fund; Bild 5: Museum of Fine Arts, Boston/Harvard University–Boston Museum of Fine Arts Expedition; Bild 6: Glimpses of Ancient Egypt. Studies in Honour of H.W. Fairman, hg. v. John Ruffle/G.A. Gaballa/Kenneth A. Kitchen, Warminster 1979, S. 12; Bild 7: Museum of Archaeology and Anthropology, University of Pennsylvania; Bild 8: William Matthew Flinders Petrie: Objects of Daily Use, London 1927, Tafel LI; Bild 9: Museum of Archaeology and Anthropology, University of Pennsylvania; Bild 10: Metropolitan Museum of Art, New York/Rogers Fund, 1908; Bild 11: The National Museum of Scotland, Edinburgh; Bild 12: Rijksmuseum van Oudheden, Leiden/Archiv des Verfassers; Bild 13: Ludwig Borchardt: Statuen und Statuetten von Königen und Privatleuten im Museum von Kairo, Berlin 1930, Kat. 775, S. 86; Bild 14: The National Museum of Scotland, Edinburgh; Bild 15a–b: Musée du Louvre/C. Décamps; Bild 16a–b: The Manchester Museum, Manchester; Bild 17: Jan Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2003, S. 257, Abb. 35; Bild 18: Musée du Louvre/C. Décamps; Bild 19: Jacques Vandier: Le papyrus Jumilhac, Paris 1961, Tafel V; Bild 20: Musée du Louvre/RMN/Hervé Lewandowski; Bild 21a–b: Musée du Louvre ; Bild 22: Foto des Verfassers; Bild 23: British Museum, London/The Trustees of the British Museum; Bild 24: Foto des Verfassers; Bild 25: Bowdoin College Museum of Art, Brunswick, Maine; Bild 26a–b: Foto des Verfassers; Bild 27, 28: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 55, S. 51; Bild 29: Ausst. Kat.: Coming of Age in Ancient Greece. Images of Childhood from the Classical Past, hg. v. Jenifer Neils/ John H. Oakley, New Haven, CT, Fig. 8; Bild 30a–b: Foto des Verfassers; Bild 31a–b: Harvard Art Museums/Arthur M. Sackler Museum, Cambridge, MA; Bild 32: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 56; Bild 33 a–b: Ausst. Kat.: Von Göttern und Menschen. Bilder auf griechischen Vasen, hg. v. Staatliche Museen zu Berlin, Tübingen 2010; Bild 34–36: British Museum, London/The Trustees of the British Museum; Bild 37: Ausst. Kat.: Von Göttern und Menschen. Bilder auf griechischen Vasen, hg. v. Staatliche Museen zu Berlin, Tübingen 2010; Bild 38–40: Foto des Verfassers; Bild 41–44a–c: Ausst. Kat.: Roma Capitale 1870–1911. Crepereia Tryphaena. Le scoperte archeologiche nell’area del Palazzo di Giustizia, Venedig 1983, S. 31, S. 48, S. 49, S. 56; Bild 45a–b, 46a–b: Rudolf Degen: Römische Puppen aus Octodurus/Martigny VS. Gliederpuppen der römischen Antike, in: helvetia archaeologica 109/28 (1997), S. 27, S. 28; Bild 47, 48: Michel Manson: Le bambole romane antiche, in: La Ricerca Folklorica 16 (1987), S. 17,

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Bildnachweise

S. 24; Bild 49: Foto des Verfassers; Bild 50: Rudolf Degen: Römische Puppen aus Octodurus/Martigny VS. Gliederpuppen der römischen Antike, in: helvetia archaeologica 109/28 (1997), S. 21, Abb. 11; Bild 51: Museo Nazionale, Rom/Archiv des Verfassers; Bild 52a–b: Dione Flühler-Kreis/Peter Wyer (Hg.): Die Holzskulpturen des Mittelalters I. Katalog der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich. Einzelfiguren, Zürich 2007; Bild 53: Stephan Gasser/Katharina Simon-Muscheid/Alain Fretz: Die Freiburger Skulptur des 16. Jahrhunderts. Herstellung, Funktion und Auftraggeberschaft, Bd. 1, Petersberg 2011, S. 265; Bild 54, 55: Foto des Verfassers; Bild 56, 57: Volker Ehlich: Ergebnisse naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden. Grundlage der Restaurierung eines italienischen Holzkruzifixus des 14. Jahrhunderts, in: Forschungen und Berichte. Staatliche Museen zu Berlin 28 (1990), S. 191, S. 195; Bild 58: San Pedro Félix, Hospital de Incio, Lugo/Archiv des Verfassers; Bild 59a–b: Margrit Lisner: Holzkruzifixe in Florenz und in der Toskana von der Zeit um 1300 bis zum frühen Cinquecento, München 1970, Abb. 32, Abb. 33; Bild 60: Joachim Poeschke (Hg.): Die Skulptur der Renaissance in Italien, Bd. 1, München 1990, Taf. 40; Bild 61: Ruth Fernández González: Sistemas de articulación en Cristos del Descendimiento, Master en Conservacion y Restauracion de Bienes Culturales, Universita Politècnica de València 2011/Zusammenstellung des Verfassers; Bild 62: Staatliche Museen zu Berlin, Bode-Museum; Bild 63: Kunstsammlungen der Veste Coburg; Bild 64: Ausst. Kat.: In hoc signo. Il tesoro delle croci, hg. v. Paolo Goi, Mailand 2006; Bild 65: Lúcia Maria Cardoso Rosas: Cristo, in: Ausst. Kat.: Arte, Poder e Religião nos Tempos Medievais. A Identidade de Portugal em Construção, hg. v. Maria de Fátima Eusébio/João Soalheiro, Viseu 2009, S. 199 ; Bild 66a–b, 67: Manfred Koller: Gliederpuppe und Mirakelmann. Der spätgotische Schmerzensmann von Rattenberg in Tirol, in: Restauratorenblätter 26 (2007), S. 133, S. 134, S. 137; Bild 68a: Ausst. Kat.: Zeit und Ewigkeit. 128 Tage in St. Marienstern, hg. v. Judith Oexle/Markus Bauer/Marius Winzeler, Halle an der Saale 1998, S. 130; Bild 68b: Ausst. Kat.: Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle des Menschen, hg. v. Jan Gerchow, Ostfildern-Ruit 2002, S. 18; Bild 69a–b, 70: Dione Flühler-Kreis/Peter Wyer (Hg.): Die Holzskulpturen des Mittelalters I. Katalog der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich. Einzelfiguren, Zürich 2007, S. 198, S. 199; Bild 71: Foto des Verfassers; Bild 72, 73: Archiv des Verfassers; Bild 74: Metropolitan Museum of Art, New York/ Rogers Fund, 1906; Bild 75: Galerie Bruil & Brandsma Amsterdam; Bild 76: Joachim Poeschke (Hg.): Die Skulptur des Mittelalters in Italien. Romanik, Bd. 1, München 1998, Tf. 197; Bild 77: bpk/Staatsbibliothek zu Berlin; Bild 78: Foto: Sabine Wehking/Archiv des Verfassers; Bild 79a–b: Foto des Verfassers; Bild 80: Universidad de Sevilla/Archiv des Verfassers; Bild 81, 82: Valeria E. Genovese: Statue vestite e snodate. Un percorso, Pisa 2011, S. 488; Bild 83: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 108; Bild 84a–b: Foto des Verfassers; Bild 85, 86a–b: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 104, S. 102; Bild 87: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg; Bild 88a–b: Ausst. Kat.: Seelenkind. Verehrt. Verwöhnt. Verklärt. Das Jesuskind in Frauenklöstern, hg. v. Bernhard Haßlberger u. a., Regensburg 2013, S. 208, S. 209; Bild 89: Foto des Verfassers; Bild 90a–b: Gyöngyi Török: Die Madonna von Toppertz, um 1320-30, in der Ungarischen Nationalgalerie und das Phänomen der beweglichen Christkindköpfe, in: Annales de la Galerie Nationale Hongroise (2005/2007), S. 77, S. 79; Bild 91a–b: Alois Stocker: Das mechanische Ölbergspiel in der Pfarrkirche Reischach, in: Heimat an Rott und Inn (1976), S. 97, S. 98; Bild 92a–b: Foto des Verfassers; Bild 93: Anthony Harvey/Richard Mortimer (Hg.): The Funeral Effigies of Westminster Abbey, Woodbridge/Rochester 1994, S. 50; Bild 94: National Portrait Gallery, London; Bild 95a–b: Anthony Harvey/Richard Mortimer (Hg.): The Funeral Effigies of Westminster Abbey, Woodbridge/Rochester 1994, S. 44; Bild 96: Foto des Verfassers; Bild 97a–b: Kristin Marek: Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009, Abb. 8A, 8B; Bild 98: National Portrait Gallery, London; Bild 99: Undercroft Museum, London/Archiv des Verfassers; Bild 100: Kristin Marek: Die Körper des Königs. Effigies,

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Bildnachweise

Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009, Abb. 9; Bild 101: Anthony Harvey/Richard Mortimer (Hg.): The Funeral Effigies of Westminster Abbey, Woodbridge/Rochester 1994, Tafel VII; Bild 102: Kristin Marek: Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009, Abb. 4; Bild 103: Livrustkammaren, Stockholm; Bild 104: Hardwick Hall, Derbyshire, The National Trust; Bild 105, 106: Foto des Verfassers; Bild 107a: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 199; Bild 107b: Joan DeJean: Du Style. Comment les français ont inventé le haute couture, la grande cuisine, les cafés chic, le raffinement, et l’éléganceParis 2005, o. S. [S. 164]; Bild 108: Ausst. Kat.: Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle des Menschen, hg. v. Jan Gerchow, Ostfildern-Ruit 2002, Kat V/12; Bild 109: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 108; Bild 110a–b: Mercure Galant, Oktober 1678, o. S. [S. 372 verso, S. 376 verso]; Bild 111: Norah Waugh: Corsets and Crinolines, New York 22000, S. 63; Bild 112: Pelham Galleries, Paris, London/Archiv des Verfassers; Bild 113: Madeleine Delpierre: Se vêtir au XVIIIe siècle, Paris 1996, fig. 51; Bild 114: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 80; Bild 115a–b: Nicole Parrot: Mannequins, Bern 1982, S. 54; Bild 116: Barbican Centre, London/Archiv des Verfassers; Bild 117a–b: AP Images; Bild 118: LIFE Magazine 30. März 1953; Bild 119: Space Centre Alamogordo, New Mexico/Archiv des Verfassers; Bild 120: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 352; Bild 121: Archiv des Verfassers; Bild 122: Foto: Barbara Herrenkind; Bild 123: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 87; Bild 124a–b: Science Museum, London; Bild 125: Sammlung Richard und Ulla Dreyfus-Best, Basel/Foto des Verfassers; Bild 126: Geijutsu Shincho magazine, Juli 2001/Archiv des Verfassers; Bild 127: Simba Toys; Bild 128: Antonia Fraser: Puppen, Frankfurt a. M. 1963, S. 22; Bild 129: Museo Meermanno, Den Haag; Bild 130: Fries Museum, Leeuwarden; Bild 131: Museum Ghërdeina, St. Ulrich in Gröden; Bild 132, 133: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 225, S. 346; Bild 134: Mary Hillier: Puppen und Puppenmacher, Frankfurt a. M. 1968, S. 188; Bild 135, 136: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 207, S. 252; Bild 137: Museo del Prado, Madrid; Bild 138a–c: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 71; Bild 139: Marina Bychkova/Archiv des Verfassers; Bild 140: Menschenbild(n)er - Bildung oder Schöpfung, hg. v. Svenja Almann/Knut Berner/ Andreas Grohmann, Berlin 2015, S. 99; Bild 141: Foto: Stephan Gladieu/Getty Images; Bild 142: Encyclopédie Mondiale des Arts de la Marionette, hg. v. Henryk Jurkowski/Thieri Foulc, Montpellier 2009, S. 460; Bild 143: Heike Willeke: Ordo und Ethos im Hortus Deliciarum, Diss. Univ. Hamburg 2003, Bildband, Abb. 77; Bild 144: Ausst. Kat.: Fra Bartolommeo. Master Draughtsman of the High Renaissance. A Selection from the Rotterdam Albums and Landscape Drawings from various Collections, hg. v. Chris Fischer, Rotterdam 1990, S. 50; Bild 145: Gianni Carlo Sciolla: Il disegno dal manichino in legno e dal modello in terra e cera nella tradizione dal Quattrocento al Seicento. Appunti per una ricerca, in: Marina Regni/Piera Giovanna Tordella (Hg.): Conservazione dei materiali librari archivistici e grafici, Bd. 1, Turin 1996, S. 213; Bild 146: Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci. Die Gewandstudien, m. Texten v. Françoise Viatte, Carlo Pedretti u. André Chastel, München/ Paris/London 1990, S. 93; Bild 147: British Museum, London/The Trustees of the British Museum; Bild 148a–b: Metropolitan Museum of Art, New York/Robert Lehman Collection, 1975; Bild 149: Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Florenz; Bild 150: British Museum, London/The Trustees of the British Museum; Bild 151, 152a–b: Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci. Die Gewandstudien, m. Texten v. Françoise Viatte, Carlo Pedretti u. André Chastel, München/Paris/London 1990, S. 61, S. 18; Bild 153a–b: Martin Clayton: Leonardo da Vinci: The Divine and The Grotesque, London 2002, S. 17; Bild 154: Umberto Baldini/Ornella Casazza: La Cappella Brancacci, Mailand 1990, S. 38; Bild 155: Steffi Roettgen (Hg.): Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. Die Blütezeit 1470–1510, München 1997, S. 213, Tf. 220; Bild 156: Alexander Dückers (Hg.): Das Kupferstichkabi-

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Bildnachweise

nett. Ein Handbuch zur Sammlung, Berlin 1994, V.29, S. 267; Bild 157–159: British Museum, London/The Trustees of the British Museum; Bild 160: Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, hg. v. Helmut Friedel, Köln 2001, S. 95; Bild 161a–b: Ausst. Kat.: Dürers Mutter. Schönheit, Alter und Tod im Bild der Renaissance, hg. v. Michael Roth, Berlin 2006, S. 82, S. 83; Bild 162: Département des Arts graphiques du Louvre, Paris; Bild 163: Ausst. Kat.: Geometrie der Figur. Luca Cambiaso und die moderne Kunst, hg. v. Heribert Schulz, Osnabrück 2007, S. 26; Bild 164–167: British Museum, London/The Trustees of the British Museum; Bild 168–175: Erhard Schön: Underweissung der Proportzion unnd Stellung der Possen, Nürnberg 1540, o. S.; Bild 176: Ausst. Kat.: Silent Partners. Artist and Mannequin from Function to Fetish, hg. v. Jane Munro, New Haven/London 2014, S. 35; Bild 177: Privatbesitz/Archiv des Verfassers; Bild 178: National Gallery of Ireland, Dublin; Bild 179: Peter C. Sutton: Dutch & Flemish Seventeenth-century Paintings. The Harold Samuel Collection, London 1992, Cat. 72; Bild 180: Harald Marx (Hg.): Gemäldegalerie Alte Meister Dresden, Bd. I, , Köln 2005, S. 441; Bild 181: Rijksmuseum, Amsterdam; Bild 182–184: Crispijn van de Passe d. J.: ’t Light der Teken en Schilderkonst, Kap. IV, o. S.; Bild 185a–b: Historische Sammlungen der Universitäts-Bibliothek, Humboldt-Universität zu Berlin; Bild 186: Jasmin Schäfer: Das Bild als Erzieher, Frankfurt a. M. 2013, S. 296; Bild 187: Aukt. Kat. Hampel Kunstauktionen München, Große Juni-Auktion 24.6.2005, Los 392; Bild 188: Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, hg. v. Helmut Friedel, Köln 2001, S. 277; Bild 189: Ausst. Kat.: Bilder des Lebens. Johann Baptist Reiter und der Realismus des 19. Jahrhunderts, hg. v. Lothar Schultes, Linz 1990, Taf. 1; Bild 190: Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, hg. v. Helmut Friedel, Köln 2001, S. 169; Bild 191: Wolfgang Hütt: Die Düsseldorfer Malerschule 1819–1869, Leipzig 1995, Abb. 75; Bild 192: Ausst. Kat.: Bilder des Lebens. Johann Baptist Reiter und der Realismus des 19. Jahrhunderts, hg. v. Lothar Schultes, Linz 1990, Taf. 5; Bild 193: Christof Metzger: Wilhelm von Kaulbach. Die neuere Entwicklung der Kunst, in: Neue Pinakothek. Katalog der Gemälde und Skulpturen, München 2003, S. 176; Bild 194: Fliegende Blätter 4 /88 (1846), S. 125; Bild 195, 196: Archiv des Verfassers; Bild 197: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 77; Bild 198a–b–201a–b: Ausst. Kat.: Silent Partners. Artist and Mannequin from Function to Fetish, hg. v. Jane Munro, New Haven/London 2014, S. 47, S. 66, S. 48; Bild 202: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 86; Bild 203: Germanisches Museum, Nürnberg; Bild 204: Ausst. Kat.: Traumwelt der Puppen, hg. v. Barbara Krafft, München 1991, S. 87; Bild 205: Dänisches Nationalmuseum, Kopenhagen; Bild 206a–b: Kunstkammer Georg Laue; Bild 207: Drouot Richelieu, Paris/Archiv des Verfassers; Bild 208a–b–210: Foto: Barbara Herrenkind; Bild 211: Staatliche Museen zu Berlin, Bode-Museum; Bild 212a–b: Grassimuseum, Leipzig; Bild 213–219: Foto des Verfassers; Bild 220: Museo Nacional del Prado, Madrid; Bild 221a–b, 222a–b: Archiv der Akademie der Künste, Berlin; Bild 223: Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, bearb. v. Rainer Schoch/Matthias Mende/Anna Scherbaum, München 2004, S. 342 bzw. Staatliche Museen zu Berlin, Bode-Museum, Zusammenstellung vom Verfasser; Bild 224: Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett; Bild 225: Stephen K. Scher (Hg.): The currency of fame. Portrait medals of the renaissance, New York 1994, S. 261, Kat. 113; Bild 226: Universität Leipzig (K. Bente)/Grassimuseum, Leipzig (C. Jürgens); Bild 227a–b: Jutta Reisinger-Weber: Der Monogrammist IP und sein Umkreis, Passau 2007, S. 349; Bild 228a–b, 229: Ausst. Kat.: A Strange Magic. Gustave Moreau’s Salome, hg. v. Cyntia Burlingham, Hammer Museum, München 2012, S. 6, S. 20; Bild 230: Musée Gustave Moreau, Paris; Bild 231: Ausst. Kat.: Gustave Moreau. L’homme aux figures de cire, hg. v. Marie-Cécile Forest, Paris 2010, S. 115; Bild 232: Foto des Verfassers; Bild 233: Musée Gustave Moreau, Paris; Bild 234, 235: Ausst. Kat.: Geometrie der Figur. Luca Cambiaso und die moderne

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Bildnachweise

Kunst, hg. v. Heribert Schulz, Osnabrück 2007, S. 45, S. 56; Bild 236: Archiv des Verfassers; Bild 237: Ausst. Kat.: Silent Partners. Artist and Mannequin from Function to Fetish, hg. v. Jane Munro, New Haven/London 2014, S. 133; Bild 238: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington, DC; Bild 239: RMN/Musée d’Orsay, Paris; Bild 240– 242: Ausst. Kat.: Silent Partners. Artist and Mannequin from Function to Fetish, hg. v. Jane Munro, New Haven/London 2014, S. 101; Bild 243: Fliegende Blätter, 23. 1856, Nr. 548; Bild 244: Ausst. Kat.: Silent Partners. Artist and Mannequin from Function to Fetish, hg. v. Jane Munro, New Haven/London 2014, S. 97; Bild 245: Fliegende Blätter, 8. 1848, Nr. 179; Bild 246: Ausst. Kat.: Gustave Courbet, hg. v. Tas Skorpua/Dominique de Font-Réaulx, New York/Ostfildern 2008, S. 222; Bild 247: Ausst. Kat.: Silent Partners. Artist and Mannequin from Function to Fetish, hg. v. Jane Munro, New Haven/London 2014, S. 83; Bild 248: Michael Fried: Menzel’s Realism. Art and Embodiment in Nineteenth-Century Berlin, New Haven/London 2002, S. 188; Bild 249: Museu Calouste Gulbenkian, Lissabon; Bild 250: Ausst. Kat.: Max Liebermann. Jahrhundertwende, hg. v. Angelika Westerburg, Berlin 1997, S. 18; Bild 251: Ausst. Kat.: Fernand Léger. Paris – New York, hg. v. d. Fondation Beyeler, Ostfildern 2008, S. 28; Bild 252: Claudia Peppel: Der Manichino. Von der Gliederpuppe zum technisierten Kultobjekt. Körperimaginationen im Werk Giorgio de Chiricos, Weimar 2008, Taf. XIII; Bild 253: Pinacoteca di Brera. Guida ufficiale, hg. v. Luisa Arrigoni, Mailand 1998, S. 23; Bild 254: Ausst. Kat.: Rudolf Schlichter. Gemälde. Aquarelle. Zeichnungen, hg. v. Götz Adriani, München 1997, S. 96; Bild 255: The Museum of Modern Art, New York/Estate of George Grosz; Bild 256, 257: Ausst. Kat.: Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, hg. v. Helmut Friedel, Köln 2001, S. 268, S. 292; Bild 258, 259: Der dADa 3. April 1920. o. S.; Bild 260: Juliet Koss: Bauhaus Theater of Human Dolls, in: The Art Bulletin 85/4 (2003), S. 737; Bild 261: Ausst. Kat.: Oskar Schlemmer. Der Maler. Der Wandgestalter. Der Plastiker. Der Zeichner. Der Graphiker. Der Bühnengestalter. Der Lehrer, Stuttgart 1977, S. 225; Bild 262: Juliet Koss: Bauhaus Theater of Human Dolls, in: The Art Bulletin 85/4 (2003), S. 732; Bild 263: Aukt. Kat.: Bassenge, Photography Auction 94, 2. Dezember 2009, Berlin 2009, S. 220, Lot 4391; Bild 264: bpk/Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin; Bild 265: Minotaure, Dezember 1934, S. 30; Bild 266: Ausst. Kat.: Silent Partners. Artist and Mannequin from Function to Fetish, hg. v. Jane Munro, New Haven/London 2014, S. 214; Bild 267: Ausst. Kat. : Begierde im Blick. Surrealistische Photographie, hg. v. Uwe M. Schneede, Ostfildern 2005, S. 183; Bild 268: Ausst. Kat.: Geometrie der Figur. Luca Cambiaso und die moderne Kunst, hg. v. Heribert Schulz, Osnabrück 2007, S. 173; Bild 269–271: Ausst. Kat.: Michael Triegel. Verwandlung der Götter, hg. v. Richard Hüttel, München 2010, S. 9, S. 8, S. 50; Bild 272: Rosalind Krauss/Norman Bryson (Hg.): Cindy Sherman, 1975–1993, München 1993, S. 202; Bild 273: Ausst. Kat.: Cindy Sherman – Untitled Horrors, hg. v. Moderna Museet Stockholm, Ostfildern 2013, S. 186; Bild 274, 275: Ausst. Kat.: Elizabeth King. The Sizes of Things in the Mind’s Eye, hg. v. Ashley Kistler, Richmond 2007, S. 18, S. 13; Bild: 276, 277: Elisabet Stienstra/Archiv des Verfassers; Bild 278a–b: Antje Töpfer, Florian Feisel/Archiv des Verfassers; Bild 279–281a–b: Archiv des Verfassers; Bild 282, 283: Lee Yongbaek/Archiv des Verfassers.

Actus e t I m ag o Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant Bilder sind keine Abbilder, sondern erzeugen im Bildakt, was sie darstellen. Sie verfügen über eine handlungsstiftende Kraft und wirken selbst lebendig. Bildkompetenz lässt sich keineswegs ausschließlich aus der traditionell überbewerteten Visualität des Menschen ableiten: Menschen reagieren auch deshalb auf Bilder, weil ihr unbewusstes neurologisches Körperschema, das aus der Integration taktiler, propriozeptiver, vestibulärer, visueller und akustischer Informa­ tio­nen entsteht, durch Bildschemata affiziert wird. Diese neuere Erkenntnis der Kognitionswissenschaften entspricht älteren Vorgaben der Verkörperungsphilosophie, die eine genuine Tradition im europäischen Sprachraum hat. In den Studien der Reihe „Actus et Imago“ wird eine Bild- und Verkörpe­ rungstheorie entwickelt, die in der Lage ist, Bildproduktion, Bildverstehen und Bildakte zu erklären. Im Ausgang vom belebten Leib leisten sie einen Beitrag zum Verständnis des menschlichen Reflexionsvermögens, das sich in ikoni­schen wie sprachlichen Formen und Interaktionen verkörpert.

In der Reihe sind bereits erschienen: Band 1

Sehen und Handeln hrsg. von Horst Bredekamp und John M. Krois ISBN 978-3-05-005090-4

Band II

John Michael Krois. Bildkörper und Körperschema hrsg. von Horst Bredekamp und Marion Lauschke ISBN 978-3-05-005208-3

B a n d I I I Thomas Gilbhard Vicos Denkbild. Studien zur „Dipintura“ der „Scienza Nuova“ und der Lehre vom Ingenium ISBN 978-3-05-005209-0

B a n d I V Stefan Trinks Antike und Avantgarde. Skulptur am Jakobsweg im 11. Jahrhundert: Jaca – León – Santiago ISBN 978-3-05-005695-1

Band V

Das bildnerische Denken: Charles S. Peirce hrsg. von Franz Engel, Moritz Queisner und Tullio Viola ISBN 978-3-05-005696-8

B a n d V I Verkörperungen hrsg. von André L. Blum, John M. Krois und Hans-Jörg Rheinberger ISBN 978-3-05-005699-9

B a n d V I I Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit hrsg. von Markus Rath, Jörg Trempler und Iris Wenderholm ISBN 978-3-05-005765-1

Band VIII

John Bender und Michael Marrinan Kultur des Diagramms übers. von Veit Friemert

Band IX

Bodies in Action and Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie hrsg. von Horst Bredekamp, Marion Lauschke und Alex Arteaga



ISBN 978-3-05-006140-5

Band X

Ulrike Feist Sonne, Mond und Venus. Visualisierungen astronomischen Wissens im frühneuzeitlichen Rom



ISBN 978-3-05-006365-2

Band XI

Paragone als Mitstreit hrsg. von Joris van Gastel, Yannis Hadjinicolaou und Markus Rath



ISBN 978-3-05-006425-3

Band XII

Bildakt at the Warburg Institute hrsg. von Sabine Marienberg und Jürgen Trabant



ISBN 978-3-11-036463-7

978-3-05-005765-1

B a n d X I I I Robert Felfe Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts

ISBN 978-3-11-036455-2

B a n d X I V Carolin Behrmann Tyrann und Märtyrer. Bild und Ideengeschichte des Rechts um 1600

ISBN 978-3-11-036350-0

B a n d X V Das Entgegenkommende Denken hrsg. von Franz Engel und Sabine Marienberg ISBN 978-3-11-043956-4

B a n d X V I Formwerdung und Formentzug hrsg. von Franz Engel und Yannis Hadjinicolaou

ISBN 978-3-11-043847-5

B a n d X V I I Andreas Plackinger Violenza. Gewalt als Denkfigur im michelangelesken Kunstdiskurs ISBN 978-3-11-040346-6

B a n d X V I I I Yannis Hadjinicolaou Denkende Körper – Formende Hände. Handeling in Kunst und Kunsttheorie der Rembrandtisten

ISBN 978-3-11-0403885-7