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German Pages 465 [468] Year 2016
CASSIR ER-FORSCHUNGEN
CASSIR ER-FORSCHUNGEN
Band 16
FELIX MEINER VER LAG HAMBURG
Arno Schubbach
Die Genese des Symbolischen Zu den Anfängen von Ernst Cassirers Kulturphilosophie
FELIX MEINER VER LAG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2814-7 ISBN eBook: 978-3-7873-2815-4
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Die Anfänge eines Werks Cassirers Disposition der »Philosophie des Symbolischen« von 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Der Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Der Auftakt der Disposition: Die Frage nach dem »›Bestand‹ des Psychischen selbst«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Bewusstsein und Erkenntnis in Substanzbegriff und Funktionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Die »Psychologie des Symbolischen« diesseits der Erkenntnis . . . . . . 63 Der Anstoß zur systematischen Erweiterung: Cassirers Geschichte der Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Die »Logik des Symbolischen«: Die spezifische Form des logischen Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Besonderungen des Begriffs: Die Forderung Richard Hönigswalds . . . 82 Das »System der exakten Wissenschaften«: Die Spezifikation der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Weitere Ausführungen der Spezifikation: Die Ästhetik und die Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Die »Metaphysik des Symbolischen«: Symbol- und Kulturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Hinwendungen zur Welt: Ein kurzer Vergleich von Cassirer und Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die empirische Transformation des Transzendentalen Kants dritte Kritik und Cassirers Anschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Der wissenschaftstheoretische Hintergrund von Kants Kritik der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
6 Inhalt
Die reflektierende Urteilskraft und die zwei Naturen der Dinge . . . . . 157 Die reflektierende Urteilskraft und ihre Annahmen nach der »Ersten Einleitung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Systematizität und Besonderheit der Erfahrung in der Tätigkeit von Urteilskraft und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Die Revisionen der Kritik der Urteilskraft und ihr wissenschaftshistorischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Die empirische Transformation des Transzendentalen . . . . . . . . . . . . . 187 Kants ästhetische Antwort auf die Frage nach dem Allgemeinen für das Besondere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Cassirers Anschlüsse: Spezifikation und Systematizität des Symbolischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Die Genese des Symbolischen und Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . 239 Der objektive Geist objektiviert: Cassirers Rezeption der Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Die Genese des Symbolischen: Wilhelm Wundts Theorie der Gebärden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Wundts ›hinweisende Gebärde‹: Natürliche Bedingungen des Symbolischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Bestimmungen des Symbolischen im Allgemeinen: Reflexion und Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Die Differenzierung der symbolischen Reflexion: Logik und Kunst, Begriff und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Die Genese von Logik und Kunst: Wundts ›hinweisende‹ und ›nachbildende Gebärde‹ . . . . . . . . . . . . . . 285 Umprägungen: Wundts naturalistische Genese und Cassirers Genese des Symbolischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Die Sprache, Gebärde und Laut: Von Wundt zu Humboldt. . . . . . . . . 301 Cassirers Rezeption von Humboldts Sprachforschung: Ein kurzer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Humboldts Analyse der Flexion und die historische Deutung der Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
Inhalt 7
Sprache, Stoff und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Die Vielfalt der Sprache und die Vorbedingungen des Begriffs . . . . . . 348 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Anhang »›Philosophie des Symbolischen‹ (allg[emeine] Disposition)« . . . . . . 367 »Material und Vorarbeiten zur ›Philosophie des Symbolischen‹« Liste der Blätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
Einleitung
Der Gegenstand der Kulturphilosophie ist ein ungewöhnlicher. Kultur muss im Vergleich zu den anderen Themen der philosophischen Subdiszi plinen als ein geradezu junges Phänomen gelten und ist doch ebenso grundlegend wie umfassend. Von der Kultur auszugehen, heißt nicht nur, die tradierten Fragen von theoretischer und praktischer Philosophie auf eine neue Grundlage zu stellen. Zugleich wird sich die Kulturphilosophie auch eingestehen müssen, dass sie von ihrem ›Gegenstand‹ selbst umfasst wird: Philosophie ist ein Teil dessen, was wir Kultur nennen. Die kulturphilosophische Reflexion ist dem Feld der Phänomene, denen sie sich widmet, somit innerlich. Sie partizipiert an dem ›Gegenstand‹, den sie reflektiert, und nimmt Einfluss auf seine historische Entfaltung, was das Selbstverständnis der Philosophie kaum unberührt lassen kann. Es drängt sich daher auf, Kulturphilosophie systematisch als kulturelles Phänomen zu fassen und ihre Entstehung historisch als eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen.1 Nach vereinzelten früheren Erwähnungen wurde der philosophische Begriff der Kultur bekanntlich erst im 18. Jahrhundert terminologisch eingeführt und war schon damals verwoben mit der einsetzenden Modernisierung.2 Es ist daher auch keineswegs verwunderlich, dass es unterschiedlichste Reaktionen und Haltungen sind, die in den Kulturbegriff eingehen: Einerseits sah Rousseau in der Kultur die drohende Entfremdung des Menschen von seinen natürlichen Bedürfnissen; andererseits betonte Kant die Möglichkeiten zur moralischen
Vgl. zum Zusammenhang der Entstehung der Kulturphilosophie mit der Selbst reflexion der Kultur auch Ralf Konersmann, Kulturphilosophie zur Einführung, Hamburg 2003, 15 f. und 99 – 105, sowie ders., »Kultur als Metapher«, in: ders. (Hg.), Kulturphilosophie, Leipzig 1996, 327 – 354, hier 348 – 353. 2 Der Begriff der Kultur steht historisch wie systematisch insbesondere im Horizont des Vergleichs der verschiedensten regionalen oder sozialen Kulturen, vgl. dazu Hubertus Busche, »Was ist Kultur? Erster Teil: Die vier historischen Grundbedeutungen«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 1/2000, 69 – 9 0, hier 78 – 85. Vor dem Hintergrund des Kulturvergleichs sieht auch Niklas Luhmann den Begriff der Kultur im Kontext der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung seit dem 18. Jh., vgl. »Kultur als historischer Begriff«, in: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 4, Frankfurt a. M. 1999, 31 – 54, bes. 35 – 4 2 und 48 – 54. 1
10 Einleitung
Kultivierung der Menschen.3 Die bis heute prägende Konjunktur erlebte der Begriff der Kultur um 1900, als die Philosophie häufig mit dem Versprechen auftrat, auf den erneuten Schub der Modernisierung und die damit verbundenen Krisenerfahrungen philosophische Antworten parat zu haben. In Reaktion auf eine zunehmend komplexe und unübersichtliche Welt folgte sie jedoch meist einem rousseauistischen Impuls und beschwor nicht selten eine Ganzheit oder das Leben, die durch die Moderne in Gefahr geraten seien. 4 Solche Ansätze scheinen aus heutiger Sicht oft zu einfach und mitunter sogar gefährlich, insofern sie zur Erosion der politischen und intellektuellen Kultur der Weimarer Republik beigetragen haben. Sie können philosophisch gesehen aber vor allem weder den Gegenstand der Kulturphilosophie überzeugend bestimmen, noch nehmen sie die entscheidende Herausforderung überhaupt an. Sie überspringen diese Herausforderung vielmehr, wenn sie die Einheit der Kultur schlicht gegen deren Vielheit setzen oder die innerliche Kultivierung gegen die geschäftige Zivilisation ausspielen, die Vielfalt der wissenschaftlichen Disziplinen selbst als Symptome der Krise deuten und den eigenen Diskurs durch die überschwängliche Rhetorik des Zeitdiagnostikers nur scheinbar rechtfertigen. Ernst Cassirers Kulturphilosophie widersetzte sich solch pessimistischer Kulturkritik, die den Zeitgeist des beginnenden 20. Jahrhunderts prägte. Es geht ihr im Anschluss an Kants Vertrauen in die Kultivierung des Menschen Vgl. zu dieser exemplarischen Konstellation von Rousseau und Kant Birgit Recki, »Kultur«, in: Christian Bermes und Ulrich Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2010, 173 – 187, hier 174 – 178, und ausführlicher dies., »Kulturbejahung und Kulturverneinung«, in: Franz Josef Wetz (Hg.), Kolleg Praktische Philosophie, Band 1: Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft, Stuttgart 2008, 259 – 295, hier 269 – 285. Vgl. zur kulturkritischen Tradition, die die Kulturphilosophie seit ihren Anfängen begleitet, Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007, mit Bezug auf Rousseau bes. 22 – 76, und Ralf Konersmann, Kulturkritik, Frankfurt a. M. 2008, bes. 14 – 17; vgl. zu Kants Verständnis von Kultur Wolfgang Bartuschat, »Kultur als Verbindung von Natur und Sittlichkeit«, in: Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer (Hg.), Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt a. M. 1984, 69 – 93. Eine Geschichte des Begriffs ›Kultur‹ ist damit noch nicht einmal angedeutet, spielt im Folgenden aber auch keine entscheidende Rolle, vgl. dazu nochmals Busche, »Was ist Kultur?«, sowie Wilhelm Perpeet, »Kulturphilosophie«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), 42 – 99, dessen Ausführungen allerdings nicht nur mit Blick auf den vermeintlichen »szientistischen Einschlag« (ebd., 53) von Cassirers Kulturphilosophie durchaus problematisch erscheinen. 4 Vgl. zu Kultur- und Lebensphilosophie um 1900 bis in die Weimarer Republik Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, 199 – 232, und unter Einbeziehung Cassirers Konersmann, Kulturphilosophie zur Einführung, 66 – 81, und ders., »Aspekte der Kulturphilosophie«, in: ders. (Hg.), Kulturphilosophie, Leipzig 1996, 9 – 24. 3
Einleitung 11
vielmehr um die grundlegend emanzipatorische Kraft der Kultur. Als Cassirer – wie die vorliegende Studie noch ausführlich belegen wird – im Juni 1917 die Grundrisse seines neuen, kulturphilosophischen Projekts skizziert, entwirft er mitten im Ersten Weltkrieg eine Philosophie der Kultur, die die Chancen der kulturellen Emanzipation des Menschen ins Zentrum stellt und sich trotz aller technischen Kriegsmaschinerien auf die wissenschaft liche Erkenntnis als ihr Paradigma bezieht. Tagsüber damit beschäftigt, im Kriegspresseamt ausländische Tageszeitungen zu zensieren, bis sie der deutschen Propaganda zupass kamen,5 hält Cassirer den Nöten der Zeit einen geradezu unzeitgemäßen Optimismus entgegen, statt sie wie viele andere auf die Spitze zu treiben. Dieses Unterfangen könnte geradezu den Eindruck erwecken, als mache sich Cassirer daran, eine Behauptung zu bewahrheiten, die Hermann Bahr einen Monat später, im Juli 1917, in der Neuen Rund schau formuliert. Bahr beharrt nämlich darauf, dass die Deutschen nicht nur »das Phänomen des allumfassenden Mannes entbehren«, sondern dass gerade Ernst Cassirer zu dieser Aufgabe berufen sei. Denn Cassirers Arbeiten ließen, so Bahr, nicht nur den »Chorgesang der neuen Wahrheit«, sondern auch den »der deutschen Freiheit« erklingen. 6 Falls Cassirer diese Zeilen zur Kenntnis genommen haben sollte, dürfte er sie mit Verwunderung gelesen haben, zu fremd wird ihm Bahrs überschwängliche Rhetorik vorgekommen sein. Bahrs Text ist dennoch aufschlussreich, da er den unzeitgemäßen Optimismus von Cassirers Philosophie im Kontext des Ersten Weltkriegs als entschiedene Parteinahme eines engagierten Intellektuellen versteht und nicht als Ausdruck des abgehobenen Olympiers Cassirer, der nach dem Zweiten Weltkrieg rasch zum wohlvertrauten Klischee geronnen ist.7 Das politische Engagement Cassi5 Vgl. Toni Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg 2003, 129, und dazu Gregory B. Moynahan, Ernst Cassirer and the Critical Science of Germany, 1899 – 1919, London u.a. 2013, 36 f. 6 Hermann Bahr, »Über Ernst Cassirer«, in: Die neue Rundschau 28 (1917), 1483 – 1499, hier 1485 und 1488. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Moynahan, Cassirer, xvii-xxii. Mit der zweiten Formulierung bezieht sich Bahr auf Cassirers ideengeschichtliche Studie Freiheit und Form von 1916, die häufig als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg gesehen und als Ausdruck von Cassirers politischem Denken gedeutet wurde, vgl. z. B. David R. Lipton, Ernst Cassirer: The dilemma of a liberal intellectual in Germany, 1914 – 1933, Toronto 1978, 42 – 69, und jüngst Moynahan, Cassirer, 159 – 192. Ernst Wolfgang Orth spricht von »einer Art kulturpolitischen Applikation seiner [Cassirers, A. S.] philosophischen rationalen Ideale« (Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 2., erw. Auflage, Würzburg 2004, 13). 7 Seit Lipton, Cassirer, haben sich weitere Texte dem politischen Intellektuellen Cassirer gewidmet, was umso wichtiger ist, als Liptons Deutungen von Cassirers Philosophie nicht immer zuverlässig sind; vgl. neben Moynahan, Cassirer, auch Barbara Vogel,
12 Einleitung
rers beweist sich nicht allein darin, dass er – anders als seine akademischen Lehrer – bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu den wenigen Hellsichtigen gehörte, die sich der nationalen Euphorie entziehen konnten und die Katastrophe kommen sahen. 8 Und es beschränkt sich ebenso wenig darauf, dass Cassirer später zu den wenigen Intellektuellen gehörte, die die Weimarer Republik gegen ihre Feinde zu verteidigen suchten. Cassirers politisches Denken ist seiner Kulturphilosophie seit ihren Anfängen systematisch eingeschrieben, da er sie während des Ersten Weltkriegs entwirft und entschieden auf das emanzipatorische Potential der Kultur ausrichtet.9 Die Anfänge von Cassirers Kulturphilosophie sind allerdings nicht nur mit Bezug auf die Krisenerfahrung des Ersten Weltkriegs zu kontextualisieren. Die vorliegende Studie wird vielmehr ins Zentrum stellen, dass Cassirers kulturphilosophisches Projekt zugleich auf eine weitere Krise reagiert, die für die Situation der Philosophie im 20. Jahrhundert charakteristisch ist: Da sich im Laufe des 19. Jahrhunderts nach den Natur- auch die Geistesund Kulturwissenschaften zunehmend von der Philosophie emanzipiert hatten, vermochte die Philosophie immer weniger, sich wie noch Hegel für die umfassende Ordnung des Wissens für zuständig zu behaupten oder sich auch nur einen Bereich eigener Erkenntnisgegenstände zu bewahren. Selbst das neukantianische Vorhaben, durch die erkenntnis- oder wissenschaftstheoretische Reflexion am Erfolg der empirischen Wissenschaften teilzuhaben, stieß an seine Grenzen, da sich die natur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen weder bei der Erschließung ihrer Gegenstände noch in der methodischen Selbstreflexion des philosophischen Beistands bedürftig empfanden. Nach Herbert Schnädelbachs Urteil von 1983 befindet sich die deutsche Philosophie deshalb in einer »andauernden nachidealistischen »Philosoph und liberaler Demokrat. Ernst Cassirer und die Hamburger Universität 1919 bis 1933«, in: Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, hg. von Dorothea Frede und Reinold Schmücker, Darmstadt 1997, 185 – 214. In dieser Hinsicht aufschlussreich sind die Texte, die im neunten Band der von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer verantworteten Ausgabe Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte versammelt wurden. Diese Ausgabe wird im Folgenden über das übliche Kürzel ECN zitiert, die bibliographischen Angaben finden sich zu Beginn des Literaturverzeichnisses. 8 Vgl. Lipton, Cassirer, 36 – 38, und zur Rolle der Philosophie in den nationalistischen Wirren des Ersten Weltkriegs Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000, mit Blick auf Cohen und Natorp bes. 308 – 328. Auf die Distanz Cassirers geht Flasch leider nicht ein. 9 Mit Bezug auf den Freiheitsbegriff hat dies vor allem Birgit Recki herausgearbeitet, vgl. dies., Cassirer, Stuttgart 2013, 73 – 93. Moynahan, Cassirer, 3 – 43 und 121 – 156, erläutert zudem auf erhellende Weise, dass auch die Wissenschaftstheorie Cassirers wie schon die seines Lehrers Hermann Cohen im Zusammenhang politischer und sozialer Diskussionen zu sehen ist.
Einleitung 13
Identitätskrise«10 . Auch heute noch ist dieser Einschätzung nur schwer zu widersprechen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers ist als eine Antwort auf die Herausforderungen dieser ›nachidealistischen Identitätskrise‹ der Philosophie zu verstehen. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie radikale Konsequenzen aus der nachhegelianischen Situation zieht und für die Auseinandersetzung mit den empirischen Kulturwissenschaften plädiert.11 Für Cassirer, dessen erste Monographie sich Leibniz widmete,12 war evident, dass sich Kultur gerade in ihrer Einheit in erster Linie durch ihre Vielfalt auszeichnen müsse. Er entwickelt sein kulturphilosophisches Projekt daher in einer pluralistischen Perspektive, um einer differenzierten und in sich komplexen Welt soweit möglich gerecht zu werden. Eine solche vielfältige Welt ist aber nicht ohne weiteres zugänglich, zumal eine eigenständige Beschreibung der Kultur durch die Philosophie stets droht, eine bestimmte kulturelle Perspektive einzunehmen und deren Beschränkung nicht selbst reflektieren zu können. Um einen angemessenen Zugriff auf eine in sich differenzierte Welt zu gewährleisten, wendet sich Cassirer daher den Kulturwissenschaften zu und bezieht deren umfangreiches empirisches Wissen ebenso in seine philosophischen Überlegungen ein wie ihre verschiedenen disziplinären Blickpunkte. Er führt seine kulturphilosophische Reflexion so an den empirischen Tatsachen der Kultur entlang und stützt sich auf das differenzierte Wissen der Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt a. M. 1983, 11, sowie mit Blick auf das Verständnis von Wissenschaft, das sich unter dem Eindruck des Erfolgs empirischer Disziplinen zur Forschung hin verschiebe, ebd., 118 f. 11 Einblicke in das unübersichtliche Feld der Kulturwissenschaften um 1900 bieten Rüdiger vom Bruch, Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Wiesbaden 1989. Ich werde mich im Folgenden weder um einen Überblick über die damaligen Kulturwissenschaften noch um eine Definition dieser Ansätze bemühen. Wenn man will, kann man mit Max Weber unter Kulturwissenschaften alle Disziplinen verstehen, »welche die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten« (Max Weber, »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, 146 – 214, hier 165). Unter ›Kulturwissenschaften‹ werde ich im Folgenden aber im Grunde das gesamte Sammelsurium von Disziplinen verstehen, mit denen Cassirer sich während der Arbeit an seiner Symbolphilosophie beschäftigte, vor allem Sprachwissenschaft, Religions- und Kunstgeschichte. 12 Gemeint ist Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen von 1902. Cassirers Texte zitiere ich wie üblich unter dem Sigel ECW nach Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1998 ff. Die bibliographischen Angaben zu den einzelnen Bänden finden sich zu Beginn des Literaturverzeich nisses. 10
14 Einleitung
Kulturwissenschaften, um der Vielfalt der Kultur gerecht zu werden.13 Seine Bezugnahme auf die Kulturwissenschaften weicht somit von der neukantianischen Tradition und insbesondere dem Zugriff Heinrich Rickerts ab, da er nicht vorrangig eine Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie ausarbeitet, die nur auf ein geringes Interesse in den Kulturwissenschaften rechnen konnte.14 Stattdessen zielt Cassirer auf eine produktive Zusammenarbeit mit den Kulturwissenschaften ab, um der kulturphilosophischen Reflexion die Vielfalt der Kultur zugänglich zu machen und letzterer in einer pluralistischen Konzeption der Einheit von Kultur gerecht zu werden. Cassirers nachdrückliche Betonung der Einheit und Vielheit der Kultur entspricht der Ausdifferenzierung der kulturwissenschaftlichen Disziplinen und der Vielfalt der von ihnen behandelten kulturellen Phänomene. Cassirers kulturphilosophisches Projekt fügt sich daher Ralf Konersmanns Charakterisierung der Kulturphilosophie als Versuch eines »welthaltigen Denkens«15 ein. Denn es entfaltet seine philosophische Reflexion stets in großer Nähe zu den Kulturwissenschaften und verweigert sich dezidiert der Illusion, die Philosophie habe es allein mit Begriffen zu tun und könne es daher vermeiden, in eine allzu komplexe Wirklichkeit verwickelt zu werden. Eine solche Zuflucht zum reinen Begriff hat die Philosophie un Ich erlaube mir somit die Frage von Birgit Recki, »Ideen, Geschichte, Geist. Was die Kulturwissenschaft von Ernst Cassirer lernen könnte«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2007/1, 85 – 9 7, gleichsam umzudrehen, denn in der Genese von Cassirers Kulturphilosophie ist vor allem die Frage von Bedeutung, warum und was Cassirer eigentlich von den Kulturwissenschaften seiner Zeit zu lernen hoffte. 14 Vgl. Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Sechste und siebente durchgesehene und ergänzte Auflage, Tübingen 1926. Cassirer wird die Kulturwissenschaften erst sehr viel später in einer erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen Perspektive behandeln, vgl. vor allem »Zur Logik der Kulturwissenschaften« von 1942, in: ECW 24, 355 – 486, sowie den Vortrag aus dem Jahr zuvor »Zur Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften«, in: ECN 5, 201 – 250. Im Grunde liegt für die Geistes- und Kulturwissenschaften aber keine ausgearbeitete Theorie vor, wie auch Birgit Recki, »Wissenschaften als symbolische Form«, in: Potentiale der symbolischen Formen. Eine interdisziplinäre Einführung in Ernst Cassirers Denken, hg. von Urs Büttner u.a., Würzburg 2011, 29 – 4 0, hier 40, feststellt. Es handelt sich dennoch um keine Wende »Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie«, wie der Haupttitel von Ernst Wolfgang Orths erstmals 1996 und in überarbeiteter Auflage 2004 erneut erschienenen »Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen« suggeriert. Denn Cassirer wird weiter Arbeiten zur Erkenntnistheorie der Geistes- wie auch der Naturwissenschaften vorlegen. 15 Konersmann, Kulturphilosophie zur Einführung, 108. Diesen Ansatz hat Konersmann selbst in erster Linie mit der Konzeption der ›kulturellen Tatsache‹ weiterentwickelt, vgl. die ausgreifende Erörterung der historischen wie systematischen Tragweite dieses Begriffs in »Thesen zum fait culturel«, in: ders., Kulturelle Tatsachen, Frankfurt a. M. 2006, 13 – 69, mit Blick auf Cassirer bes. 56 – 59. 13
Einleitung 15
ter dem Eindruck der rasanten Entwicklung der Mathematik im 20. Jahrhundert häufig genommen und durch eine an der formalen Logik orientierte Begriffstheorie zu rechtfertigen gesucht. Sie unterbietet damit aber die Hegel’sche Einsicht, die für die Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts oft prägend war: Die Philosophie kann sich nicht auf scheinbar rein Begriff liches zurückziehen, weil sich Begriffe wesentlich in ihrer Entfaltung durch die Geschichte und ihre Manifestation in der Kultur bestimmen. Sie gewinnen ihren Sinn in Kontexten, die sie mit sich tragen und deren Reflexion sie deshalb erlauben. Denken und Begriffe sind immer schon ›welthaltig‹, bedingt durch Sprache und Sprachen, gesättigt von Phänomenen und Erfahrungen, durchdrungen von Geschichte und Traditionen, plausibilisiert durch Beispiele und Metaphern. Das »welthaltige Denken« der Kulturphilosophie ist daher nicht in der Weise zu verstehen, dass es sich zuallererst der Welt zuwenden müsste. Es weiß um seine Verschränktheit mit der Welt und versucht sie auf differenzierte Weise theoretisch zu reflektieren. Die besondere Aktualität von Cassirers Kulturphilosophie besteht nach der These der vorliegenden Studie jedoch in dem Versuch, ein solches ›welthaltiges Denken‹ durch die Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften zu entfalten. Auf den folgenden Seiten wird Cassirers Kulturphilosophie folglich in erster Linie mit Blick auf ihre Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften diskutiert und deren theoretische Begründung, praktische Durchführung und produktive Konsequenzen erörtert. Es wird dabei ganz gezielt nicht, wie es viele andere Arbeiten versuchen, die gesamte Philosophie Cassirers behandelt.16 Vielmehr steht die Entstehung von Cassirers Kulturphilosophie im Übergang von den frühen erkenntnistheoretischen Schriften zu den kulturphilosophischen Arbeiten im Zentrum. Die Frage, warum und wie Cassirer von einer Geschichte des ›Erkenntnisproblems‹ und einer Theorie des wissenschaftlichen Begriffs zu einer Philosophie der Kultur und des Symbols übergegangen ist, wurde in den letzten Jahren viel diskutiert und hat unterschiedlichste Antworten erfahren. Die vorliegende Studie kann die Genese von Cassirers Kulturphilosophie jedoch gestützt auf einen neuen Fund im Nachlass Cassirers behandeln. Wie ich bereits angedeutet habe und im ersten Kapitel ausführen werde, lässt sich ein Zusammenhang von unveröffentlichten und bislang nicht bekannten 16 Das Format der Gesamtdarstellung scheint für die Sekundärliteratur zu Cassirer nach wie vor maßgeblich. Vgl. für zwei jüngere lesenswerte Arbeiten Edward Skidelsky, Ernst Cassirer. The Last Philosopher of Culture, Princeton und Oxford 2008, und Guido Kreis, Cassirer und die Formen des Geistes, Frankfurt a. M. 2010. Während Skidelsky das Lebenswerk Cassirers gleichsam biographisch abschreitet, diskutiert Kreis es rein systematisch in »Form eines einzigen kontinuierlichen Argumentationsganges« (Kreis, Cassirer, 31).
16 Einleitung
Dispositionen, Notizen und Entwürfen rekonstruieren, die einer »Philosophie des Symbolischen« galten und aus den Jahren 1917 bis 1919 stammen.17 Cassirer skizziert sein symbolphilosophisches Projekt im Sommer 1917 ein erstes Mal in einer 32-seitigen Disposition, um danach eine Sammlung von über 240 durchnummerierten Blättern anzulegen, die ebenso der konzep tionellen Entwicklung des Projekts wie der Verarbeitung der rezipierten kulturwissenschaftlichen Studien dienen. Schließlich entsteht im Sommer 1919 das Manuskript eines Kapitels über die Sprache, das offenbar auf diesen Vorarbeiten basiert und zumindest teilweise in den ersten Band der Phi losophie der symbolischen Formen von 1923 eingegangen ist. Dieses Material eröffnet einzigartige Einblicke in die Genese eines Projekts, das ebenso sehr auf den erkenntniskritischen Schriften beruht, wie es deren philosophische Grundlagen erweitert und mit Blick auf eine umfassende Symbolphilosophie einer Revision unterzieht. Die Frage nach den philosophischen Gründen für Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften seiner Zeit und der Verflechtung seiner Überlegungen mit deren reichhaltigen Forschungen wurde durch diese Aufzeichnungen geweckt. Denn die Notizen und Entwürfe, die mitunter der eigenen Selbstverständigung dienten, geben in ihren ungeschützteren Formulierungen nicht nur manche Stoßrichtung und Motivation von Cassirers Kulturphilosophie markanter zu erkennen als die ausführlicheren und ausgewogeneren veröffentlichten Schriften. Sie führen insbesondere auch die enge Verflechtung der konzeptionellen Entwicklung der »Philosophie des Symbolischen« mit Cassirers Rezeption der Sprachwissenschaften, der Religionsgeschichte oder der Kunstgeschichte vor Augen. Cassirer ist in diesen Aufzeichnungen nicht zuletzt mit der Herstellung von Anschlüssen zwischen philosophischem Denken und kulturwissenschaftlichen Studien beschäftigt und stößt dabei immer wieder auf Probleme, die sich bisweilen als philosophisch produktiv erweisen, manchmal dagegen als Sackgasse. Das erste Kapitel wird sich weitgehend auf die Disposition der »Philosophie des Symbolischen« von 1917 beschränken und zur Erläuterung weitere Schriften Cassirers hinzuziehen. In einem ersten Schritt wird der Archivbefund beschrieben und im Folgenden die Disposition der »Philosophie des 17 Dieser Befund geht auf einen Aufenthalt an der Beinecke Rare Book and Manuscript Library in den Jahren 1999 und 2000 zurück, der dem detaillierten page census des gesamten Nachlasses für die Edition Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte diente. Er wurde ein erstes Mal publiziert in Arno Schubbach, »Die symbolische Form in der Zettelwirtschaft. Ernst Cassirers Notizen zur ›Philosophie des Symbolischen‹«, in: Christoph Hoffmann (Hg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich und Berlin, 2008, 103 – 127. Dieser Artikel stellt einen – zugegebenermaßen überholten – Ausgangspunkt der vorliegenden Studie dar.
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Symbolischen« schrittweise erläutert. Es wird zu zeigen sein, wie Cassirer seine Theorie des wissenschaftlichen Begriffs aus seinem erkenntniskritischen Hauptwerk Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 gleichsam als Vorlage für die symbolischen Leistungen von Sprache, Mythos und Ästhetik nutzt und aus der Verallgemeinerung des Begriffs die Konzeption des Symbolischen gewinnt. Anlass für diesen entscheidenden Schritt war wohl nicht zuletzt die ideengeschichtliche Studie Freiheit und Form von 1916. Denn durch die Beschäftigung mit der Entstehung der Ästhetik im 18. Jahrhundert hatte Cassirer offenbar das Vorhaben gefasst, seine Philosophie über die Frage der Erkenntnis hinaus zu erweitern, was notwendig eine Revision ihrer systematischen Grundlagen einschließen musste und den Übergang von der zentralen Konzeption des Begriffs zu der des Symbolischen motivierte. Es ist in den Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« aller dings auffällig, wie wenig sich Cassirer um eine präzisere Bestimmung des Begriffs des Symbolischen bemüht, was durchaus auch für die veröffentlichten Schriften gilt. Dieser Mangel an terminologischen Erklärungen zum zentralen Begriff von Cassirers Kulturphilosophie wurde oft moniert, hat jedoch philosophische Gründe, die bislang kaum beachtet und niemals herausgearbeitet wurden: Cassirers Begriff des Symbolischen ist – so die These der vorliegenden Studie – nicht rein begrifflich zu präzisieren, er erfährt seine Bestimmung durch die Spezifikation verschiedener symbolischer Formen und damit in seiner Entfaltung mit Hilfe der kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Sprache, Mythos und Ästhetik. Der »operative Sinn« der Begrifflichkeiten Cassirers, auf den Ernst Wolfgang Orth bereits 1988 nachdrücklich hinwies,18 hat hier eine ganz bestimmte Pointe: Die philosophische Generalisierung des Begriffs zum Symbolischen ist von vornherein auf die Erschließung des kulturwissenschaftlichen Materials ausgerichtet, das Auskunft gibt über die Respezifikationen des Symbolischen in verschiedenen Formen der Symbolisierung. Was das Symbolische ist, muss bestimmt werden anhand der Vielfalt von Sprache und Sprachen, Mythos und Mythen, Kunst und Künsten, über die sich die Philosophie durch die Kulturwissenschaften belehren lassen kann. Der Begriff des Symbolischen ist daher von Beginn an ebenso eng mit dem kulturwissenschaftlichen Wissen verbunden wie mit der philosophischen Reflexion. Seine Klärung ist so18 Vgl. Ernst Wolfgang Orth, »Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hg. von Hans-Jürg Braun, Helmut Holzhey und Ernst Wolfgang Orth, Frankfurt a. M. 1988, 45 – 74, hier insbesondere 45 – 48. Der Text wurde wieder aufgenommen in Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 100 – 128.
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wohl eine Frage der begrifflichen Präzisierung als auch Sache der materialen Explikation anhand einer Vielfalt von Formen der Symbolisierung. Das zweite Kapitel wird die daraus folgende, zentrale konzeptionelle Herausforderung von Cassirers kulturphilosophischem Projekt, das Verhältnis des Symbolischen im Allgemeinen zu den spezifischen Formen der Symbolisierung zu bestimmen, im größeren historischen Rahmen der Transzendentalphilosophie verorten und zugleich systematisch präzisieren. Cassirer beschäftigt sich in den Jahren vor 1917 erneut intensiv mit Kant, dessen Philosophie ihn seit seinem Studium im neukantianischen Umfeld der Universität Marburg maßgeblich geprägt hatte. Er befasst sich dabei eingehender mit der Kritik der Urteilskraft, die in den erkenntniskritischen Schriften bis 1910 kaum eine Rolle gespielt hatte, in der Gesamtdarstellung Kants Leben und Lehre von 1918 dagegen eine zentrale Position einnimmt. Wie das zweite Kapitel zeigen wird, ist die dritte Kritik Kants auch für die »Philosophie des Symbolischen« von zentraler Bedeutung. Sie stellt dabei nicht nur – als Ästhetik Kants gelesen – einen Beitrag zum Verständnis einer der Formen der Symbolisierung dar, die Cassirer zu interessieren begonnen hatten. Sie geht vor allem in die Konzeption der »Philosophie des Symbolischen« selbst ein, da Cassirer in der Bestimmung des Verhältnisses des Symbolischen im Allgemeinen zu den verschiedenen Formen der Symbolisierung im Besonderen auf Überlegungen Kants zurückgreift. Die erneute Lektüre von Kants dritter Kritik sollte wegweisend werden für Cassirers Kulturphilosophie und ihre enge Beziehung zu den damaligen Kulturwissenschaften. Denn Cassirers Konzeption des Symbolischen im Allgemeinen und seiner Spezifikation in besonderen Formen der Symbolisierung knüpft an eine Bestimmung des Verhältnisses von allgemeinen und besonderen Bedingungen an, der sich Kant mit Blick auf die verschiedenen Formen des Erkennens genähert hatte. Nachdem er in der Kritik der reinen Vernunft die Bedingungen der Erkenntnis überhaupt bestimmt, sich dabei aber am Paradigma der Newton’schen Physik orientiert hatte, sieht er sich sehr bald der Frage gegenüber, wie er den Bedingungen der biologischen Erkenntnis Rechnung tragen könnte, die offenbar bereits im Begriff des Lebens oder des Organismus über jede physikalische Mechanik hinausgehen. In der Kritik der Urteilskraft unterscheidet Kant daher mit Blick auf verschiedene, spezifische Formen des Erkennens besondere und allgemeine Bedingungen der Erkenntnis. Diese Unterscheidung hat nicht nur zur Konsequenz, dass das Allgemeine, das die Erkenntnisgegenstände bestimmt, in der Gestalt besonderer Bedingungen, Gesetze und Begriffe nicht von vornherein und a priori gegeben sein muss, sondern im Vollzug des Erkennens möglicherweise noch zu suchen ist, weshalb Kant neben der bestimmenden die reflektierende Urteilskraft einführt. Weitergehend führt Kant dadurch auch solche besonderen Bedingungen
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von spezifischen Formen der Erkenntnis ein, die nicht philosophisch deduziert werden können, aber doch vorausgesetzt werden müssen, um beispielsweise die Erkenntnisgegenstände der Biologie als solche zu qualifizieren. Diese Bedingungen müssen notwendig angenommen werden, um die Gegenstände spezifischer Formen der Erkenntnis als solche zu charakterisieren, sind diesen Gegenständen aber nicht a priori vorgeschrieben. Sie stehen vielmehr im Zusammenhang ihrer empirischen Anwendung und werden im Vollzug des Erkennens empirisch spezifiziert und fortwährend bestimmt. Die transzendentale Reflexion bezieht somit nun auch solche Bedingungen ein, die aus dem Fortgang des empirischen Erkennens nicht herauszulösen sind und daher spezifische Formen der Erkenntnis in ihrer Besonderheit charakterisieren können. Transzendentale Bedingungen des Erkennens sind nicht mehr allein oder primär allgemein und apriori, sie können ebenso spezifisch für besondere Erkenntnisformen sein und verschränkt mit dem empirischen Erkenntnisprozess. Diese Transformation des Transzendentalen findet ihren klarsten Ausdruck in Kants »Erster Einleitung« zur dritten Kritik, die in der heute bekannten Form erstmals 1914 in Cassirers Ausgabe von Kants Schriften veröffentlicht wurde.19 Es kann daher kaum überraschen, dass Cassirers Disposition einer »Philosophie des Symbolischen« von 1917 zur Konzeption des Verhältnisses des Symbolischen im Allgemeinen und der spezifischen Formen der Symbolisierung im Besonderen einen ähnlichen Weg einschlägt. ›Das‹ Symbolische ist in der Disposition, wie ich bereits kurz angedeutet habe, eng verknüpft mit der Frage nach dem Verhältnis der allgemeinsten Bedingungen der Kultur zu den konkreten Bedingungen von Sprache, Mythos, Erkenntnis oder Kunst. Auf diese Frage findet Cassirer eine Antwort, die an die skizzierte Transformation des Transzendentalen bei Kant anknüpft. Cassirer zufolge spezifizieren sich die allgemeinsten Bedingungen des Symbolischen in den konkreten Feldern der Symbolisierung zum einen in dem Sinne, dass sie verschiedene konkrete Formen annehmen. Sie erfahren diese konkrete Bestimmung aber zum anderen durch einen Prozess, der empirischen und historischen Charakters ist. Daher ist der Begriff des Symbolischen nicht rein terminologisch aufzuklären und sind die Formen der Symbolisierung in Sprache, Mythos, Erkenntnis und Kunst nicht aus allgemeinsten Bedingungen abzuleiten. Sie müssen anhand der konkreten Symbolisierungen untersucht werden und können nur ausgehend von empirischen Untersuchungen Gegenstand der philosophischen Reflexion sein. Vgl. Immanuel Kant, »Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft«, hg. von Otto Buek, in: Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen u. a. hg. von Ernst Cassirer, Bd. 5, Berlin 1914, 177 – 231. 19
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Cassirers »Philosophie des Symbolischen« knüpft so an einen Gedanken an, der Kant über hundert Jahre zuvor in einem ganz anderen Zusammenhang beschäftigt hatte, im Deutschen Idealismus aber weitgehend ohne Wirkung geblieben war. Daher unterscheidet sich seine kulturphilosophische Reflexion auf die allgemeinsten und spezifischen Bedingungen der Kultur sowie die Einheit des Symbolischen und die Vielheit der symbolischen Formen auch systematisch von den idealistischen Systemen und insbesondere dem mit dem Namen Hegels verbundenen Anspruch, am Begriff des Begriffs ansetzen und dessen historische Entfaltung in einem deduktiv operierenden System einholen zu können. Stattdessen nimmt Cassirer in kantischer Tradition einen dezidiert reflektierenden Standpunkt ein und geht unter Einbeziehung der Kulturwissenschaften von den kulturellen Gegebenheiten aus, um sie auf ihre Bedingungen in ihrem historischen Werden und in ihrer inhärenten Spezifizierung zu befragen. Cassirer mag der letzte Philosoph sein, der dabei die Kultur insgesamt zu umfassen versuchte und insbesondere eine Synthese der Natur- und Geisteswissenschaften zumindest glaubhaft anzustreben vermochte.20 Eine solche, oft in nostalgischem Unterton geäußerte Sicht auf Cassirer sollte aber keinesfalls verdecken, dass Cassirers kulturphilosophische Reflexion von vornherein auf die der Kultur inhärente Vielfalt abzielt, wie auch seine Theorie der Wissenschaften stets ein Gespür für die spezifischen Differenzen zwischen den Disziplinen innerhalb der Geistes- und Naturwissenschaften unter Beweis stellt. Im zweiten Kapitel steht so die philosophische Begründung im Zentrum, warum Cassirers Kulturphilosophie sich auf die Kulturwissenschaften einlässt. Wie diese Auseinandersetzung sich vollzieht und welche Herausforderungen sie mit sich bringt, wird im dritten Kapitel anhand zweier Autoren exemplarisch untersucht, denen die Aufzeichnungen und ersten Entwürfe zur »Philosophie des Symbolischen« von 1917 bis 1919 größere Aufmerksamkeit schenken: Die Völkerpsychologie Wilhelm Wundts und die Sprachforschung Wilhelm von Humboldts genießen eine herausgehobene Bedeutung in der Genese von Cassirers Kulturphilosophie. Cassirer konsultiert Humboldt wie Wundt sowohl mit Blick auf die empirische Spezifikation der Vielfalt der Sprachen als auch zur Präzisierung seines e igenen philosophischen Verständnisses von Sprache. Er liest Humboldt daher ebenso sehr als empirischen Sprachforscher wie als Sprachphilosophen und zieht Wundts zweiteiligen Band zur Sprache aus der Völkerpsychologie hinzu, um einen Überblick über jüngere sprachwissenschaftliche Diskussionen zu gewinnen und sich zugleich mit Wundts psychologisch-naturalistischem 20 Vgl. z. B. Steve G. Lofts, Ernst Cassirer. A »Repetition« of Modernity, forword by John Michael Krois, Albany, NY, 2000, 25 – 27.
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Verständnis der Sprachentwicklung auseinanderzusetzen. Es findet so eine Verschränkung der philosophischen Begriffs- und Theoriebildung mit der kulturwissenschaftlichen Forschung und deren eigenen methodologischen Diskussionen statt. Cassirers Auseinandersetzung mit Wundt und Humboldt werde ich in erster Linie am Leitfaden des Begriffs der Genese von Sprache erörtern. Denn Cassirer lässt in diesen Begriff ebenso Elemente seiner kritischen Auseinandersetzung mit Wundts naturalistischem Sprachverständnis eingehen, wie er mit ihm idealistische Motive aus Humboldts Sprachphilosophie und Sprachgeschichte fortführt. Der Begriff der Genese ist dabei von umso größerem Interesse, als er die Stoßrichtung von Cassirers eigener Sprach- und Kulturphilosophie zu erkennen gibt. Denn Cassirer spannt die Genese der Sprache von der einfachsten hinweisenden Gebärde, in der er sie mit Wundt ihren Anfang nehmen lässt, bis zur Emanzipation vom Sinnlichen auf, die sich in einer sich selbst bewussten Symbolisierung realisiert. Diese Emanzipation hat ihr Vorbild in Cassirers eigener Theorie des wissenschaftlichen Begriffs und soll nun in der Lautsprache nach dem Humboldt’schen Modell der flektierenden Sprache ihre sprachhistorische Grundlage haben. Gestützt auf Cassirers Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen«, die sich als ungefähr 240 durchnummerierte Blätter rekonstruieren lassen, sowie einen ersten Entwurf zur Sprache von 1919 werde ich seine Diskussion der Theorie der Gebärde bei Wundt und der Theorie des Lauts bei Humboldt erörtern und dabei zu zeigen versuchen, wie sich die kultur- und sprachphilosophische Diskussion mit konkreten empirischen und methodischen Fragen der Sprachforschung verbindet. Diese Zusammenhänge sind nicht leicht zu entwirren, sollen aber mit Blick auf die Schwierigkeiten und die Produktivität von Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften seiner Zeit exemplarisch entfaltet werden. Das letzte Kapitel wird anhand der Frage der Genese des Symbolischen somit Einblick nehmen in Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften zu Beginn des neuen kulturphilosophischen Projekts. Zugleich wird es dadurch einen Beitrag leisten zum besseren Verständnis des Begriffs der Genese, der als zentraler Terminus von Cassirers Sprach- und Kulturphilosophie gelten muss, in der Forschung aber trotz eines Hinweises durch Ernst Wolfgang Orth bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren hat.21 Darüber hinaus spielt die Frage nach der Genese für die vorliegende Studie aber auch eine methodische Rolle. Denn in den folgenden Kapiteln geht es um keinen vorgeblich abgeschlossenen Text oder gar um die scheinbar definitive Gestalt von Cassirers Kulturphilosophie. Es wird vielmehr der 21
Vgl. Orth, »Operative Begriffe«, 57 – 59.
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Arbeitsprozess in den Blick genommen, wie er sich in den Dispositionen, Aufzeichnungen und Entwürfen dokumentiert. Die Genese von Cassirers symbolphilosophischem Projekt zu betrachten, heißt zu verfolgen, warum Cassirer sich neuen, kulturphilosophischen Fragestellungen öffnet und wie er dazu die Grundlagen seiner wissenschaftstheoretischen Texte in Bewegung bringt (Kapitel 1); wie er sich einen Gedanken Kants aneignet, um das Verhältnis des Symbolischen zu seinen spezifischen Formen zu konzipieren und mit Blick auf die allgemeinen und spezifischen Bedingungen der Symbolisierung die zugleich transzendentale und empirische Einheit und Vielheit der Kultur zu betonen (Kapitel 2); und wie er schließlich sein philosophisches Vorhaben in der Auseinandersetzung mit den empirischen Kulturwissenschaften seiner Zeit entwickelt und dabei seine theoretischen Begrifflichkeiten mit empirischen Beobachtungen verbindet (Kapitel 3). Die folgenden Untersuchungen werden daher sowohl Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften als auch seine Bezugnahmen auf die philosophische Tradition und selbst seine eigenen Texte strikt vom Arbeitsprozess her fassen. Es wird folglich nicht beansprucht, die Konzeption der »Philosophie des Symbolischen« dadurch zu erklären, dass sie auf die erkenntniskritischen Schriften Cassirers, den Einfluss Kants oder die Rezeption Humboldts oder Wundts zurückgeführt wird. Stattdessen sollen alle diese Bezüge als Elemente eines produktiven Prozesses verstanden werden, als Durchgangspunkte eines Philosophierens, das auf die Grundlagen des eigenen Denkens zurückgekommen ist, sich auf die Denker der Tradition bezogen und sich auf die kulturwissenschaftliche Forschung eingelassen hat, weil es sich der kulturellen Welt zuzuwenden versuchte und zugleich um seine eigene Geschichtlichkeit wusste. Die Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften und der Philosophiegeschichte sind stets als ein Mittel und Medium des Denkens Cassirers zu verstehen.22 Für die produktive Entfaltung eines eigenen Denkens bedurfte es dabei der Freiheiten, die sich Cassirers Rezeption stets eingeräumt hat. Diese heuristische Prämisse ist für Cassirers Umgang mit den eigenen Texten und der philosophischen Tradition ebenso in Anschlag zu bringen 22 Auf die zentrale Bedeutung der Verknüpfung von Philosophiegeschichte und systematischem Philosophieren für Cassirers Denken hat früh hingewiesen John Michael Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven und London 1987, 1 f. Vgl. zur Verknüpfung von systematischem und historischem Philosophieren in neukantianischer Tradition Massimo Ferrari, »Genese und Struktur des Erkenntnisproblems«, in: ders., Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie. Von der Marburger Schule zur Kulturphilosophie, Hamburg 2003, 1 – 30, und Thomas Knoppe, Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Hamburg 1992, 49 – 61.
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wie für seine Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften. Angesichts der Diskussion Cassirers in der philosophischen Literatur ist ihre Tragweite aber vor allem hinsichtlich des zweiten Kapitels zu betonen. Wenn dort die Bedeutung Kants für die Genese der Philosophie der sym bolischen Formen herausgearbeitet wird, dann soll damit nicht behauptet werden, die Kulturphilosophie Cassirers sei im Grunde innerhalb der bekannten kantischen oder neukantianischen Tradition zu begreifen. Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, wie eine erneute Beschäftigung mit Kant gerade für das neukantianisch geprägte Denken Cassirers zu einem innovativen Moment werden kann, das ihn über die Grenzen seiner bisherigen Philosophie hinausführt. Eine neue Fokussierung seiner Kant-Lektüre, die stärkere Einbeziehung der Kritik der Urteilskraft und das größere Augenmerk auf die von ihm selbst neu herausgegebene »Erste Einleitung« lassen Cassirer auf Argumente stoßen, die er zur Konzeption seiner Kulturphilosophie aufgreift, um den philosophischen Herausforderungen zu begegnen, die er in seiner Gegenwart wahrnimmt. Kant bildet in der Genese der Phi losophie der symbolischen Formen folglich keinen festen, neukantianischen Rahmen von Cassirers Denken. Ebenso wenig ist er mit einer bestimmten, neukantianischen Lehrauffassung seiner Philosophie zu identifizieren. Kant stellt vielmehr eine unschätzbare Ressource des Denkens dar.23 Was Kant in der Genese von Cassirers kulturphilosophischem Projekt so produktiv werden lässt, geriete jedoch aus dem Blick in einer Geschichte traditionellen Formats, die mit Kants Kritiken beginnen, über die Diskussionen rund um Kant im 19. Jahrhundert führen und schließlich in die Kulturphilosophie Cassirers münden würde. Eine solche Geschichte erzählt das zweite Kapitel daher nicht, um stattdessen herauszuarbeiten, wie Cassirer erneut auf die kantische Tradition zurückgreift und sie sich im Zusammenhang seines kulturphilosophischen Projekts neu zu eigen macht. Was für Kants Rolle in der Genese von Cassirers Kulturphilosophie gilt, trifft ebenso auf viele andere systematische Bezugnahmen und philosophiehistorische Rekurse Cassirers zu. Ich werde daher aus methodischen Gründen nicht in die umfangreiche Diskussion eintreten, welche Denker auf Cas23 Dieser für die Genese von Cassirers Kulturphilosophie produktiven Relektüre Kants wird nicht gerecht, wer wie Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, bes. 9 f., die Modernität von Cassirers Kulturphilosophie allein in einer vermeintlichen Abwendung von Kant wie vom Neukantianismus sehen möchte. Vgl. dagegen zur funktionalen Rolle Kants im Neukantianismus wie auch zu Cassirers eigener Position die differenzierte Analyse von Massimo Ferrari, »Is Cassirer a Neo-Kantian Methodologically Speaking?«, in: Rudolf A. Makkreel und Sebastian Luft (Hg.), Neo-Kantianism in Contemporary Philosophy, Bloomington, IN, 2010, 293 – 314, bes. 293 – 295 und 306 f.
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sirers Kulturphilosophie einen oder gar den maßgeblichen Einfluss ausgeübt haben sollen. Es wurde nicht nur nachdrücklich auf die große Bedeutung Goethes hingewiesen. 24 Ebenso wurden zahlreiche weitere Philosophen, Wissenschaftler und Literaten ins Feld geführt.25 Dank der außerordentlich breiten Kenntnisse Cassirers und der ihm eigenen Verflechtung systematischen und historischen Philosophierens können viele dieser Vorschläge gute Gründe für sich verbuchen. Jedoch gilt es dabei wie im Falle Kants stets zu bedenken, dass Cassirer selten einen Gedanken oder einen Begriff in seine eigene Philosophie einfließen lässt, ohne sie unter seinen eigenen Voraussetzungen zu verstehen und sie seinen eigenen Absichten anzuverwandeln.26 Für sein neues Projekt einer »Philosophie des Symbolischen« wird er sich vieler solcher Rekurse bedienen, um seine philosophischen Ansätze in Bewegung zu versetzen und in vielleicht veränderter Form fortzuführen. Die Genese des neuen Projekts ist aber ebenso wenig auf einzelne entschei Vgl. schon Krois, Cassirer, 176 – 182, und ders., »Urworte: Cassirer als GoetheInterpret«, in: Kulturkritik nach Ernst Cassirer, hg. von Enno Rudolph und Bernd-Olaf Küppers, Hamburg 1995, 297 – 324, bes. 303 – 308, sowie die Aufsätze in Barbara Naumann und Birgit Recki (Hg.), Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophischliterarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002. 25 Ich führe nur einige wenige, exemplarische und geradezu klassische Arbeiten auf. Vgl. hinsichtlich Cassirers Neukantianismus Ursula Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg 2002 (= Cassirer-Forschungen, 8), bes. 70 – 87; vgl. zur Rolle von Leibniz Massimo Ferrari, »Symbol und Ausdruck. Die Leibnizschen Quellen der Philosophie der symbolischen Formen«, in: ders., Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie. Von der Marburger Schule zur Kulturphilosophie, Hamburg 2003 (= Cassirer-Forschungen, 11), 163 – 182; im Hinblick auf Hegel vgl. Donald Phillip Verene, »Kant, Hegel, and Cassirer: The Origins of the Philosophy of Symbolic Forms«, in: Journal of the History of Ideas 30 (1969), 33 – 4 6, und Christian Möckel, »Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ als Vorbild für Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, in: Andreas Arndt und Ernst Müller (Hg.), Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ heute, Berlin 2004 (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband, 8), 256 – 275; vgl. darüber hinaus zu Baumgarten Steffen W. Gross, »Felix Aestheticus und Animal Symbolicum. Alexander G. Baumgarten – die vierte ›Quelle‹ der Philosophie Ernst Cassirers?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), 275 – 298, sowie zu Duhem Massimo Ferrari, »Ernst Cassirer und Pierre Duhem«, in: Rudolph und Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, 177 – 196, bes. 184; vgl. zu Aufzählungen weiterer Einflüsse von Hertz und Humboldt bis Goethe und Vischer z. B. Andreas Graeser, Ernst Cassirer, München 1994 (= Beck’sche Reihe Denker, 527), 34 – 37, und Jean Seidengart, »Symbolische Konfiguration und Realität in der modernen Physik: ein Beitrag zur Philosophie Ernst Cassirers«, in: Rudolph und Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, 197 – 218, bes. 202 – 204. 26 Auch Renz, Die Rationalität der Kultur, 73, merkt an, dass sich jede Bestimmung eines Einflusses auch deshalb als problematisch erweist, weil bei Cassirer die aneignende Rezeption und philosophische Reflexion meist bruchlos ineinander übergehen. 24
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dende Einflüsse wie auf den vermeintlich unbeweglichen Neukantianismus zurückzuführen. Einfache Zuordnungen anzustreben, ist hier ein vergeb liches Unterfangen. Jeder Versuch, Cassirers Bezugnahmen zu verifizieren und seine Deutungen von Philosophen, Literaten oder Wissenschaftlern zu überprüfen (was insbesondere bei Hegel von großem Interesse wäre), lässt den produktiven Arbeitsprozess Cassirers aus dem Blick geraten. Daher wird in der vorliegenden Studie auf die von Cassirer hinzugezogenen Texte nur insofern zurückgegriffen, als es notwendig erscheint, um ihren Einsatz in Cassirers Arbeitsprozess herauszuarbeiten. Die vorliegende Studie wird somit die Aufmerksamkeit auf den Arbeitsprozess lenken und sich dabei vor allem auf Cassirers Arbeitsnotizen zur »Philosophie des Symbolischen« stützen. Sie orientiert sich in dieser Hinsicht an zahlreichen Arbeiten aus der Wissenschaftsforschung, die zeigen konnten, wie fruchtbar es auch im Falle der Geisteswissenschaften ist, die Vollzüge und Verfahren, das Vorgehen und die Hilfsmittel der wissenschaftlichen Praxis zu betrachten. 27 Diese Arbeiten eröffneten eine produktive Perspektive auf die Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen«, die Cassirer sowohl zur Konzeption des Projekts dienten als auch zur Rezeption umfangreicher kulturwissenschaftlicher Materialien zu Sprache, Mythos, Wissenschaft oder Kunst. Cassirers Arbeitsnotizen waren nicht zuletzt materielle, logistische Mittel eines philosophischen Denkens, das Erkenntnisse der Kulturwissenschaften zur Kenntnis nimmt, systematisch ordnet und sich verfügbar hält. Anhand der Arbeitsnotizen lässt sich so zwar zeigen, dass Cassirers Kulturphilosophie in einer ersten, auf den 13. Juni 1917 datierten Disposition allem Anschein nach ihren Anfang nahm. Sie geben aber keineswegs die eine Vgl. für einige innovative und maßgebliche Arbeiten zum note taking in den Wissenschaften Reworking the Bench. Research Notebooks in the History of Science, hg. v. Frederic L. Holmes, Jürgen Renn und Hans-Jörg Rheinberger, Dordrecht u.a. 2003 (= Archimedes: New Studies in the History and Philosophy of Science and Technology, 7), darin insbesondere Christoph Hoffmann, »The Pocket Schedule. Note-taking as a Research Technique: Ernst Mach’s Ballistic-Photographic Experiments«, 183 – 202, sowie Hans-Jörg Rheinberger, »Scrips and Scribbles«, in: MLN 118 (2003), 622 – 636, und ders., »Zettelwirtschaft«, in: ders., Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a. M. 2006, 350 – 361. In den letzten Jahren sind auch zunehmend die Arbeitsweisen der Geistes- und Kulturwissenschaftler beachtet worden, vgl. Christoph Hoffmann, »Festhalten, Bereitstellen. Verfahren der Aufzeichnung«, in: ders. (Hg.), Daten sichern, 7 – 20, und ders., »Schreiben als Verfahren der Forschung«, in: Michael Gamper (Hg.), Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, Göttingen 2010, 181 – 207, sowie Henning Trüper, »Das Klein-Klein der Arbeit: Die Notizführung des Historikers François Louis Ganshof«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 18 (2007), 82 – 104. 27
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entscheidende Einsicht zu erkennen, die die Form des später veröffentlichten Werks festlegen und gleichsam die Entschlüsselung des zentralen Motivs erlauben würde.28 Die Arbeitsnotizen zur »Philosophie des Symbolischen« lassen vielmehr mit der Notwendigkeit, Ungewissheit und Produktivität des Arbeitsprozesses zugleich die Unbestimmtheit, Unsicherheit und Offenheit des Beginns hervortreten. Cassirer brauchte tatsächlich Zeit, um anfänglich anvisierte Ziele zu verfolgen und sich ihrer unter Inkaufnahme von Umund Irrwegen sowie durch nötige Revisionen und Anpassungen zu vergewissern. Die vorliegenden Dispositionen, Notizen und Entwürfe aus den Jahren 1917 bis 1919 dokumentieren bloß die Anfänge eines langjährigen Arbeitsprozesses, der zunächst in Berlin zu einer umfangreichen Sammlung von Aufzeichnungen und einem ersten Entwurf zu einem Kapitel über die Sprache führt.29 In Hamburg, wo Cassirer ab Herbst 1919 Professor der neu gegründeten Universität ist, intensiviert er seine Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften auch dank der Kulturwissenschaftlichen Biblio thek Warburg, die er einige Jahre später kennenlernt. Es ist kaum anzunehmen, dass das Projekt in dieser Zeit keine Veränderungen erfahren hat. Insbesondere der dritte Band der Philosophie der symbolischen Formen, der erst 1929 erschien, deutet tatsächlich auf Erweiterungen des Projekts hin, die weitgehend jenseits des Horizonts der Disposition von 1917 und der Grenzen der vorliegenden Studie liegen. Er weist eine erstaunliche Eigenständigkeit gegenüber den beiden vorhergehenden Bänden auf und markiert doch auch keinen Abschluss des Projekts. Cassirer hatte nämlich wegen des erheblichen Umfangs des dritten Bandes auf einen abschließenden Teil verzichtet, obwohl seine Vorarbeiten bereits weit vorangeschritten waren. Diese Texte wurden schließlich 1995 als sogenannter ›vierter Band‹ aus dem Nachlass So spricht Dieter Henrich, Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten, München 2011, 81, mit Blick auf die großen, kanonischen Hauptwerke der Philosophiegeschichte davon, sie gingen »aus einer einzigen Entwurfsidee für ihre Gestaltung hervor«. Henrichs Betonung der Rolle der »inneren Genesis der Einsicht« (vgl. ebd., 105 ff.) rechtfertigt sich jedoch weniger durch die Untersuchung konkreter Arbeitsprozesse als in einer Philosophie der Subjektivität, die ihn in die Nähe des von ihm so kongenial untersuchten Deutschen Idealismus führt. 29 Die Unterscheidung der retrospektiven Dimension des Ursprungs und der pro spektiven des Anfangs, die Emil Angehrn mit Bezug auf die metaphysische Tradition des Ursprungsdenkens trifft, scheint mir in dieser Hinsicht instruktiv, um meine interpretatorische Prämisse dahingehend zu charakterisieren, dass es mir mit Blick auf die Genese von Cassirers Kulturphilosophie – wie auch Cassirers eigener Konzeption der Genese des Symbolischen – um die Anfänge und nicht die Ursprünge geht, vgl. Emil Angehrn, »Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik«, in: ders. (Hg.), Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft, Berlin und New York 2007 (= Colloquium Rauricum, 10), 247 – 274, hier 251 – 253. 28
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publiziert.30 Die Genese von Cassirers Kulturphilosophie ist daher in den ersten Aufzeichnungen des Sommers 1917 ebenso wenig festgelegt, wie sie in den vorliegenden Bänden der Philosophie der symbolischen Formen oder in dem posthum herausgegeben ›vierten Band‹ einen Abschluss findet. Statt eine definitive Gestalt anzunehmen, ging Cassirers kulturphilosophische Reflexion immer wieder über die gerade veröffentlichten Schriften hinaus.31 Die Genese eines philosophischen Projekts anhand von ersten Entwürfen und Notizen behandeln zu können, sollte folglich nicht zu der Hoffnung verleiten, bereits den Schlüssel für das Ganze in Händen zu haben. Ebenso wenig sollte man angesichts der handschriftlichen Aufzeichnungen der verführerischen Vorstellung verfallen, dem Philosophen gleichsam über die Schulter zu schauen, als er sich am 13. Juni 1917 vermutlich an seinen Schreibtisch setzte, und in den Blättern geradezu greifen zu können, was im neuen philosophischen Projekt in Bewegung gerät. Denn nicht alles, was in wissenschaftlichen Arbeitsprozessen eine Rolle spielt, ist am Papier selbst zu fassen oder zu beobachten, auch wenn manche Studien zur Zettelwirtschaft der Wissenschaften dies beiseiteschieben.32 Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Bedeutung von Aufzeichnungen wie denjenigen Cassirers sehr viel offener ist, als es deren materielle Versammlung suggeriert, und sie sich in vielfältigen Zusammenhängen entfaltet, die weit über den Schreibtisch des Philosophen hinausgreifen. Was auf diesen Seiten von Cassirers Entwürfen und Notizen von 1917 bis 1919 geschieht, lässt sich daher in verschiedenen Kontexten situieren und entfaltet in ihnen jeweils einen anderen Sinn, wie bereits angedeutet wurde. Zuallererst wäre die politische Situation des Jahres 1917 zu nennen. Mitten im sich vollziehenden Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs bringt der Philosoph die Disposition seines neuen Projekts zu Papier. Es erscheint daher kaum vorstellbar, dass dieser Entwurf und Cassirers kulturphilosophischer Optimismus sich nicht als Reaktion auf die Lage der Zeit verstehen lassen.33 Vgl. die entsprechenden Texte und »Editorischen Hinweise« in ECN 1. Schon anhand des Aufsatzes »Form und Technik« – vgl. ECW 17, 139 – 183 –, der ein Jahr nach dem dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen erscheint, wäre zu diskutieren, inwieweit er Veränderungen und Verschiebungen von Cassirers kulturphilosophischem Ansatz mit sich bringt. Anregende Aufschlüsse bietet in dieser Hinsicht Aud Sissel Hoel und Ingvild Folkvord (Hg.), Ernst Cassirer on Form and Technology. Contemporary Readings, Basingstoke 2012. 32 Vgl. für eine solche kritische Perspektive Lisa Garforth, »In/Visibilities of Research: Seeing and Knowing in STS«, in: Science, Technology and Human Values 37 (2012), 264 – 285. 33 Wie sehr der Ausbruch des Ersten Weltkriegs Cassirer persönlich ergriffen hat, berichtet Frederick Walter Lenz, »Erinnerungen an Ernst Cassirer«, in: Monatshefte. A Journal Devoted to the Study of German Language and Literature 40 (1948), 401 – 4 05. 30 31
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Wie sich diese Reaktion philosophisch artikuliert, wird aber nur verständlich, wenn der Zusammenhang von Cassirers individuellem Schaffen und der Übergang von seinen erkenntniskritischen Arbeiten zu einem neuen kulturphilosophischen Projekt einbezogen wird. Der Entwurf der »Philosophie des Symbolischen« von 1917 ist dabei insbesondere in Bezug zu setzen zu Cassirers Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte, die damals mit seiner Studie zur Entstehung der Ästhetik Freiheit und Form und in der Gesamtdarstellung von Kants Leben und Lehre zu beeindruckenden Ergebnissen führt. Die Genese des Projekts lässt sich daher ebenso wie im Kontext der politischen Situation auch im Zusammenhang des individuellen Schaffens Cassirers verorten. Wie das zweite Kapitel zeigt, steht sie darüber hinaus im Zusammenhang der Geschichte der Transzendentalphilosophie, da Cassirer sich in der erneuten Lektüre der Kritik der Urteilskraft einen Gedanken Kants aneignet, der für unser Verständnis der transzendentalen Reflexion von zentraler Bedeutung ist, aber lange Zeit vergessen schien. Es ist zunächst eine systematische Konsequenz dieses Gedankens, dass Cassirers Kulturphilosophie sich wesentlich auf die Kulturwissenschaften seiner Zeit stützen wird. Aber natürlich ist hierin zugleich eine Reaktion auf die kulturwissenschaftliche Disziplinbildung und die neue Situation der Philosophie innerhalb der Universitäten zu sehen, womit ein weiterer Kontext der Anfänge von Cassirers Kulturphilosophie angesprochen ist. Die Disposition der »Philosophie des Symbolischen« markiert folglich einen produktiven Moment im Denken Cassirers, der in unterschiedlichen Zusammenhängen zu situieren und zu entfalten ist. Diese Studie stellt somit die Genese von Cassirers Kulturphilosophie ins Zentrum, ohne dabei einen privilegierten Kontext anzunehmen, in dem dieses philosophische Projekt seinen eigentlichen Sinn gewinnt. Vielmehr sollen Cassirers Dispositionen, Notizen und Entwürfe aus methodischen Gründen auf vielfältige Weise kontextualisiert werden, damit sie in verschiedenen Hinsichten eine jeweils präzise, irreduzible Bedeutung entfalten, über die Argumentation hinaus weitere Ebenen des Philosophierens erschließen und jenseits des individuellen Denkens und selbst der Philosophiegeschichte eigene Zeithorizonte eröffnen. Die Disposition einer »Philosophie des Symbolischen« ist so im Kontext von Cassirers Werkgeschichte und der zeitgenössischen Philosophie zu verstehen und bemüht sich im Ausgang von Cassirers Theorie des wissenschaftlichen Begriffs um eine Philosophie der Kultur (Kapitel 1). Sie steht aber zugleich im größeren philosophiehistorischen Zusammenhang der Transzendentalphilosophie Auf diesen Text macht Krois, »Urworte«, 297 – 324, hier 315 f., Anm. 83, aufmerksam, dem ich auch die bibliographischen Angaben entnehme.
Einleitung 29
und knüpft in diesem Kontext an einen Gedanken Kants an, der seine Produktivität erst in Cassirers Kulturphilosophie erweisen wird (Kapitel 2). Systematisch begründet dieser Gedanke die Einbeziehung spezifischer und historischer Bedingungen in die transzendentale Reflexion und die enge Verknüpfung von Cassirers kulturphilosophischen Überlegungen mit dem empirischen und historischen Wissen der Kulturwissenschaften (Kapitel 3). Daher ist Cassirers philosophisches Projekt nicht nur allgemein im institutionellen Zusammenhang der Ausdifferenzierung der Disziplinen zu sehen, in dem Cassirer für die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Kulturphilosophie votiert. Es gilt darüber hinaus seine konkrete Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften zu untersuchen, der Cassirers Aufzeichnungen ganz wesentlich dienten, und zu betrachten, wie die kulturphilosophische Reflexion ihre Begriffe und Argumente mit den empirischen Materialien und Befunden verwebt, über die sie sich von den kulturwissenschaftlichen Disziplinen belehren lässt. In dieser Folge von Kapiteln wird die Nähe von Cassirers Kulturphilosophie zu den Kulturwissenschaften seiner Zeit somit auf verschiedenen Ebenen untersucht, in ihrer philosophischen Entstehung innerhalb des Schaffens Cassirers, in ihrer systematischen Begründung und Bedeutung im Rahmen transzendentalphilosophischer Ansätze sowie in ihrer praktischen Durchführung mit den Mitteln einer anspruchsvollen, geisteswissenschaftlichen Zettelwirtschaft und ihren produktiven Konsequenzen für eine Philosophie der Kultur. Die Bände der Philosophie des Symbolischen, die Cassirer ab 1923 veröffentlichte, breiten schließlich ein umfangreiches kulturhistorisches Material aus und verflechten es mit einer kulturphilosophischen Reflexion, die nirgends eine scheinbare begriffliche Reinheit vortäuscht. Es ist erstaunlich, dass dieser Umstand zumindest den philosophischen Lesern selten aufgefallen ist: So zahlreich die Darstellungen zur Sprachphilosophie Cassirers sind, so oft die Konzeption der symbolischen Formen erörtert und deren Bezüge untereinander diskutiert wurden, so selten wurde die Frage nach den systematischen Gründen für Cassirers extensives kulturwissenschaftliches Studium und nach der philosophischen Relevanz des großzügig ausgebreiteten Materials aufgeworfen. Die Beobachtung, dass Cassirers Reflexion beispielsweise von der Vielfalt der Sprachen ausgeht, um seine Philosophie der Sprache zu formulieren, drängt jedoch die Annahme auf, dass diese Philosophie ohne Bezug auf die Auseinandersetzung mit zahlreichen Studien über verschiedenste Sprachen kaum zu fassen ist. Und dennoch wurde Cassirers Rezeption der Kulturwissenschaften selten gewürdigt und wird sie bis heute kaum mehr als erwähnt.34 Eine Ausnahme stellt die geradezu legendäre Zu34
In seiner lesenswerten Darstellung »Der Begriff der Kulturphilosophie bei Ernst
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sammenarbeit mit Aby Warburg dar.35 Die verständliche Faszination für den Kreis um dessen Kulturwissenschaftliche Bibliothek hat jedoch zum einen dazu geführt, diesen Hamburger Zusammenhang als Indiz für die Modernität der Philosophie der symbolischen Formen zu sehen und ihn zugleich vom neukantianischen Hintergrund Cassirers abzuheben, der in der deutschsprachigen Nachkriegsphilosophie allzu lange dazu genutzt wurde, Cassirers Philosophie insgesamt zu diskreditieren. Dieser Zusammenhang hat zum anderen aber vor allem den frühen Beginn und die systematische Eigenständigkeit von Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften seiner Zeit in den Hintergrund treten lassen. Cassirers Verständnis des Philosophierens beruht wesentlich darauf, sich auf die Spezifizität der konkreten Phänomene einzulassen und zu diesem Zweck die Erkenntnisse zahlreicher Disziplinen einzubeziehen.36 Ohne auf die Eigenständigkeit der Philosophie und ihrer Perspektive zu verzichten, setzt sich Cassirer so intensiv mit den Wissenschaften auseinander, um nicht bloß von ›der Welt‹ zu reden, sondern einer in sich komplexen und differenzierten Welt gerecht zu werden. Cassirers Zugriff auf andere Disziplinen ist somit dadurch bestimmt, dass er sie für ihre Beschreibung der Welt in Anspruch nimmt und sie zugleich einer eigenständigen philosophischen Reflexion unterzieht. Dieses Verständnis von Philosophie hat bis heute seine Aktualität bewahrt. Es hat zur Pointe, Philosophieren selbst als eine Tätigkeit in einer komplexen Welt und einer disziplinär ausdifferenzierten Universität zu begreifen. Deshalb muss insbesondere die Genese der »Philosophie des Symbolischen« als ein vielschichtiger Arbeitsprozess Cassirer« weist Ernst Wolfgang Orth auf die konstitutive Zusammenarbeit von Cassirers Kulturphilosophie mit den Kulturwissenschaften in prägnanter Kürze hin, vgl. Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 191 – 224, hier 219. Diese enge Beziehung wurde von der Forschung jedoch weitgehend vernachlässigt. Vgl. für eine der wenigen mir bekannten Ausnahmen z. B. zu Cassirers Rezeption von Ludwig Noiré G ideon Freudenthal, »The Missing Core of Cassirer’s Philosophy: Homo Faber in Thin Air«, in: Cyrus Hamlin und John Michael Krois (Hg.), Symbolic Forms and Cultural Studies. Ernst Cassirer’s Theory of Culture, New Haven und London 2004, 203 – 226, hier 213 – 218. 35 Vgl. exemplarisch die Einleitung des Bandes von Hamlin und Krois (Hg.), Symbolic Forms and Cultural Studies, xi – x xviii, hier xii – x vi. 36 Dieser ›interdisziplinäre‹ Grundzug von Cassirers Philosophie wird selten gesehen, vgl. als Ausnahme Martina Plümacher, »Ernst Cassirer als interdisziplinärer Denker«, in: Potentiale der symbolischen Formen. Eine interdisziplinäre Einführung in Ernst Cassirers Denken, hg. von Urs Büttner u.a., Würzburg 2011, 41 – 51. Sie stellt einen Bezug zum heutigen Verständnis von Interdisziplinarität her, bezieht sich dabei aber weniger auf die enge Verbindung von Cassirers Kulturphilosophie und den Kulturwissenschaften als auf die Nähe seiner Wissenschaftstheorie zu den Naturwissenschaften und deren methodologischen Diskussionen.
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verstanden werden, der die Ressourcen der Zettelwirtschaft ebenso nutzt wie die Erkenntnisse der Wissenschaften, um die philosophische Reflexion der Welt in ihrer Vielfalt zuzuwenden. Dies scheint bis heute ein vielversprechendes Vorhaben für eine Philosophie, die sich ihrer interdisziplinären Situation nicht verweigert, sondern die wissenschaftlichen Chancen und zugleich Herausforderungen dieser Situation annimmt. Die vorliegende Studie hat selbst eine anhaltende und verzweigte Genese hinter sich. Der im Zentrum stehende Archivbefund ist ein Beifang eines neunmonatigen Aufenthalts an der Beinecke Rare Book and Manuscript Library von 1999 bis 2000, der dazu diente, für die Edition Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte, an der ich als studentische Hilfskraft beteiligt war, einen page census des gesamten Nachlasses Cassirers zu erstellen. Ohne die Initiative und die Unterstützung der Herausgeber Oswald Schwemmer, Klaus Christian Köhnke und vor allem John Michael Krois wäre diese Erfassung noch nicht einmal denkbar geworden. Für die Finanzierung des Aufenthalts sei Yale University Press gedankt. Der Beine cke Rare Book and Manuscript Library bin ich für die traumhaften Arbeitsbedingungen und die Gewährung des »Frederick A. and Marion S. Pottle Fellowship« zu Dank verpflichtet, das mir erlaubte, im Januar 2010 den Nachlass Cassirers erneut zu konsultieren und schließlich den Entschluss zu fassen, eine Studie zur Genese der Philosophie der symbolischen Formen zu schreiben. Es wäre dazu allerdings wohl niemals gekommen ohne die intellektuelle Anregung seitens der wissenschaftshistorischen Forschung zu Laborbüchern in den Naturwissenschaften und der Zettelwirtschaft der Geistesund Kulturwissenschaftler. Mein Dank gilt insbesondere Michael Hagner und seinen MitarbeiterInnen an der ETH Zürich, an deren Diskussionen ich seit 2005 teilzunehmen das Vergnügen habe. Den Anstoß haben schließlich Gespräche mit Christoph Hoffmann gegeben, der mir dankenswerter Weise die Augen für die Welt der Arbeitsnotizen geöffnet hat. Dass die vorliegende Studie philosophischer geworden ist, als ihm lieb sein dürfte, ist meiner déformation professionelle geschuldet. Dem Philosophischen Semi nar der Universität Basel und seinen Studierenden danke ich dafür, dass ich dieser déformation auch in der Lehre nachgehen und dabei so manche Idee zur Diskussion stellen konnte. Die vorliegende Studie hätte ohne die nötige Zeit aber nicht tatsächlich geschrieben werden können. Diese Zeit verdanke ich eikones, dem Natio nalen Forschungsschwerpunkt »Bildkritik« an der Universität Basel, an dem ich nicht nur Jahre der anregenden Diskussionen rund um die Frage des Bildes genoss, sondern dank der Leitung durch Gottfried Boehm und Ralph
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Ubl auch die Freiheit, eine Monographie zu Cassirers Kulturphilosophie zu verfassen, die nicht aus Artikeln kompiliert wurde. Nicht minder bin ich allen MitarbeiterInnen von eikones und insbesondere des eikones-Graduiertenkollegs dankbar für die zahllosen Anregungen aus gemeinsamer Arbeit und Diskussion. Zudem gilt mein Dank Michael Friedman, der mir 2011 einen dreimonatigen Schreibaufenthalt an der Stanford University ermöglicht und sich selbst die Zeit genommen hat, Auszüge aus meiner Arbeit zu diskutieren. Das vorliegende Buch geht auf meine Habilitation an der Universität Ba sel zurück, die ohne die Unterstützung von Emil Angehrn wohl nicht möglich geworden wäre. Ich danke ebenso Gottfried Boehm, Michael Hampe und Gerald Hartung, die sich bereit erklärt haben, im Habilitationsverfahren als Gutachter zu fungieren, sowie Thomas Brandstetter, Thomas Khurana und Susanne Reichlin für die vorgängige Lektüre einzelner Kapitel. Dem Felix Meiner Verlag und Marcel Simon-Gadhof danke ich für die bereitwillige Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Cassirer-Forschungen und das sorgfältige Lektorat der überarbeiteten Fassung sowie dem Förde rungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort für die finanzielle Unterstützung der vorliegenden Publikation. Nicht zuletzt schulde ich meinen Dank der Yale University Press und der Beinecke Rare Books and Manuscript Library dafür, dass sie ihr Einverständnis gegeben haben, die Disposition Cassirers im Anhang dieser Arbeit erstmals zu dokumentieren und in dieser Gestalt der Forschung zugänglich zu machen. Für die Beschreibung der Blätter zu Beginn des Abdrucks im Anhang war schließlich ihre erneute Inaugenscheinnahme und präzise Vermessung durch Christian Möckel eine großzügige Hilfe, für die ich ihm zu Dank verpflichtet bin.
Die Anfänge eines Werks Cassirers Disposition der »Philosophie des Symbolischen« von 1917 Die Anfänge der Philosophie der symbolischen Formen sind mit schönen, ja allzu schönen Legenden verbunden. Dimitry Gawronsky berichtet in seiner einschlägigen biographischen Skizze aus dem Jahre 1949 von einem Einfall in der Straßenbahn: »Cassirer once told how in 1917, just as he entered a street car to ride home, the conception of the symbolic forms flashed upon him; a few minutes later, when he reached his home, the whole plan of his new voluminous work was ready in his mind, in essentially the form in which it was carried out in the course of the subsequent ten years.«1 Diese Anekdote bezieht sich genauer besehen nicht nur auf den Einfall, sondern konzentriert die gesamte Arbeit der Konzeption eines mehrbändigen Werks auf die wenigen Minuten einer Straßenbahnfahrt, in denen Cassirer weder die Zeit noch die Gelegenheit gehabt haben dürfte, seine Gedanken festzuhalten. Die wesentliche Arbeit hätte allein im Kopf stattgefunden, alles danach wäre bloß Ausführung eines bereits gedanklich gefassten Plans gewesen. Auch in Toni Cassirers Erinnerungen, die sie nach dem Tod ihres Mannes 1945 zu verfassen begann und bis 1948 abgeschlossen hatte, ist die Entstehung der Philosophie der symbolischen Formen mit der Straßenbahn verknüpft. Anders als Gawronsky bezieht sich Toni Cassirer jedoch nicht auf einen plötzlichen Einfall, sondern auf die kontinuierliche Arbeit in der Straßenbahn. Sie berichtet nämlich, dass ihr Mann auf dem täglichen Arbeitsweg zum Kriegspresseamt im Sommer 1917 die Konzeption und die Vorstudien konzentriert vorangetrieben hätte: Er »stand dort [am oberen Ende des Wagens, A. S.] auf einem minimalen Raum beengt, mit der einen Hand nach einer Stütze greifend, und in der anderen Hand das Buch haltend, in dem er las. Lärm, Gedränge, elende Beleuchtung, schlechte Luft – dies alles bildete kein Hindernis. Auf diese Weise ist der Plan der drei Bände der ›Symbolischen Formen‹ ausgearbeitet worden.«2 Angesichts der ungeheuren Materialmassen, die in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen eingegangen sind, mag diese Schilderung einer unablässigen und beharrlichen Lektüre durchaus eine gewisse Plausibilität 1 Dimitry Gawronsky, »Ernst Cassirer: His Life and His Work«, in: The Philosophy of Ernst Cassirer, hg. von Paul Arthur Schilpp, Evanston, IL , 1949 (= The Library of Living Philosophers, 6), 3 – 37, hier 25. 2 Toni Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg 2003, 120.
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Erstes Kapitel
haben. Jedoch scheint es kaum glaubhaft, dass Cassirer einen Plan für die drei Bände des Werks von 1923, 1925 und 1929 während der Straßenbahnfahrten im Sommer 1917 allein im Kopf entworfen oder gar ausgearbeitet hatte. Die Eingebung in einer Straßenbahn mag ohne jede Aufzeichnung ausgekommen sein. Ein Plan für die kommenden Bände dürfte dagegen kaum ohne Notizen, Skizzen und ähnliches mehr Gestalt angenommen haben. Die Schilderungen Toni Cassirers und Gawronskys stellen offenbar Idealisierungen des konkreten Arbeitsprozesses des Philosophen dar. Nichtsdestotrotz sind sie bedeutsame Indizien für den Beginn der Arbeit an der Philosophie der symbolischen Formen bereits im Jahre 1917. Die Cassirer-Forschung hat diesen Berichten über die ersten Anfänge von Cassirers Kulturphilosophie – so die Einschätzung von Massimo Ferrari – wenig Glauben geschenkt und hatte dafür gute Gründe.3 Der anekdotische Charakter und die zeitliche Verspätung dieser Berichte um mehr als 30 Jahre lässt sie kaum vertrauenswürdig erscheinen. Es kommt hinzu, dass sie kaum nachzuprüfen sind. Beide Berichte geben insbesondere keinerlei Hinweise auf mögliche Spuren von Cassirers Arbeit am kulturphilosophischen Hauptwerk, die den frühen Beginn belegen könnten. Und doch erstaunt es, dass die Cassirer-Forschung nicht nach der Existenz von Entwürfen und Vorarbeiten zu einer Philosophie der symbolischen Formen gefahndet hat. Es liegen im Nachlass Cassirers schließlich 46 Bibliotheksmappen an Aufzeichnungen vor, die bei der Arbeit an diesem Werk entstanden sind und bei der archivarischen Erfassung unter dem summarischen Titel der research notes katalogisiert wurden. 4 Cassirer hat keineswegs nur Bücher ge Vgl. Massimo Ferrari, Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie. Von der Marburger Schule zur Kulturphilosophie, Hamburg 2003, 163. Vgl. bspw. eher kritisch, aber dennoch dankbar für jenen »zeitlichen Hinweis« auf das Jahr 1917 Andreas Graeser, Ernst Cassirer, München 1994, 11. Vgl. dagegen die eher affirmativen Bezüge auf Gawronsky von Heinz Paetzold, Ernst Cassirer – Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995, 45 und 84, sowie John Michael Krois, »Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen«, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hg. von HansJürg Braun, Helmut Holzhey und Ernst Wolfgang Orth, Frankfurt a. M. 1988, 15 – 4 4, hier 17. Orth bezieht sich zwar durchaus distanziert auf die Anekdote, stützt mit ihr aber wohl doch seine These, dass die Philosophie der symbolischen Formen »offensichtlich zwischen 1911 und 1918/20 entsteht«, vgl. Ernst Wolfgang Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 2., erw. Auflage, Würzburg 2004, 80. 4 Der Nachlass wird von der Beinecke Rare Book and Manuscript Library an der Yale University in New Haven (USA) unter der Archivnummer GEN MSS 98 verwahrt und ist in 54 boxes und 1083 folder eingeteilt. Bei der Erfassung des Nachlasses wurden die research notes zur Philosophie der symbolischen Formen den einzelnen Bänden zugeordnet. Sie befinden sich in Box 23, Folder 424 - Box 24, Folder 447 (Band 1); Box 26, Folder 3
Die Anfänge eines Werks
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schrieben, er hat von Beginn an mit Papier gearbeitet, was trotz aller Legenden von Cassirers phänomenalem Gedächtnis schon deshalb notwendig scheint, weil seine Texte eine beeindruckende Fülle von Autoren nahezu aus der gesamten Geschichte der Philosophie und vielen Natur- und Geisteswissenschaften herbeizitieren.5 Dass die Hinweise auf einen Beginn der Arbeiten an der Philosophie der symbolischen Formen im Jahr 1917 nicht anhand des Nachlasses nachgeprüft wurden, kann aber noch einen anderen Grund haben: Es wurde einem alternativen, mutmaßlich attraktiveren Entstehungskontext der Vorzug gegeben. Denn schon Gawronsky berichtet davon, wie Cassirer nach der Berufung an die Hamburger Universität spätestens 1920 die Bibliothek von Aby Warburg kennenlernte und in deren systematischer Ordnung seine eigenen Gedanken zum Ausdruck gekommen sah: »Many times Cassirer expressed his positive amazement at the fact that the selection of materials and the whole inward structure of this library suggested the idea that its founder must have more or less anticipated his theory of symbolic forms«. 6 Cassirers Nähe zur Bibliothek Warburg wurde auf ähnliche Weise auch von Fritz Saxl betont und in der Folge auch in der Sekundärliteratur immer wieder hervorgehoben.7 Die Attraktivität dieser Verbindung ist leicht auszumachen. Die Wiederentdeckung Cassirers seit den 1980er Jahren ging damit einher, nicht nur seine philosophiegeschichtliche Bedeutung, sondern auch seine gegenwärtige Aktualität zu betonen. 8 Die Verbindung zur Kulturwis senschaftlichen Bibliothek Warburg kommt diesem Interesse sehr gelegen, scheint sie Cassirer doch geradezu zum Zeitgenossen des heutigen Lesers 491 - Box 26, Folder 501 (Band 2) und Box 28, Folder 538 - Box 29, Folder 548 (Band 3). Vgl. zur Geschichte des Nachlasses Vincent Giroud, »How the Cassirer Papers Came to Yale«, in: Cyrus Hamlin und John Michael Krois (Hg.), Symbolic Forms and Cultural Studies. Ernst Cassirer’s Theory of Culture, New Haven und London 2004, 263 – 2 69. 5 Vgl. für einige Anekdoten zu Cassirers phänomenalem Gedächtnis Arno Schubbach, »Die symbolische Form in der Zettelwirtschaft. Ernst Cassirers Notizen zur ›Philosophie des Symbolischen‹«, in: Christoph Hoffmann (Hg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich und Berlin 2008, 103 – 127, bes. 103 – 108. 6 Gawronsky, »Ernst Cassirer«, 26. 7 Vgl. Fritz Saxl, »Ernst Cassirer«, in: Schilpp (Hg.), The Philosophy of Ernst Cassirer, 47 – 51, und Martin Jesinghausen-Lauster, Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden 1985 (= Saecula Spiritalia, 13), 148 f. 8 Vgl. zur Rezeption bis in die 80er Jahre John Michael Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven und London 1987, 6 ff., und ders., »Einleitung«, in: Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927 – 1933, hg. v. Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois unter Mitw. von Josef M. Werle, Hamburg 1985, XI – X XXII, hier XXVII – X XXI .
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und seines kulturwissenschaftlichen Umfelds zu machen. Dagegen wirkt das neukantianische Erbe Cassirers wie eine Altlast.9 Der Marburger Neukantianismus scheint längst von ausschließlich philosophiehistorischem Interesse und wurde bereits in der Weimarer Republik zunehmend als traditionell und überholt diskreditiert, wie an der Davoser Debatte zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger geradezu emblematisch deutlich wird.10 Der gut gemeinte Versuch, die Aktualität Cassirers hervorzukehren, indem seine Verbindung zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in den Vordergrund gerückt wird, droht damit jedoch eine geistesgeschichtliche Opposition der Weimarer Republik fortleben zu lassen, die zuallererst zu reflektieren wäre – und in Cassirer sicher keinen Fürsprecher gefunden hätte.11 Cassirers eigene Äußerungen, aber auch Zeugnisse aus seinem Hamburger Umfeld geben wenig Anlass, die Zusammenarbeit Cassirers mit der Kul turwissenschaftlichen Bibliothek gegen sein neukantianisches Herkommen auszuspielen. Vielmehr finden sich Hinweise, dass die Philosophie der sym bolischen Formen eigene und frühere Ausgangspunkte hatte, die in Hamburg schließlich zur Entfaltung gekommen sind. Bereits Saxl deutete an, dass Cassirers gedankliche Entwicklung nicht nur im Allgemeinen durchaus eigenständig war.12 Auch die Konzeption des kulturphilosophischen Hauptwerks war Saxl zufolge bereits im Entstehen begriffen, als Cassirer die Bibliothek von Aby Warburg kennenlernte: »At the time of Cassirer’s Vgl. exemplarisch Isabella Woldt, »Cassirer und die Bibliothek Warburg«, in: Handbuch Kulturphilosophie, hg. v. Ralf Konersmann, Stuttgart und Weimar 2012, 119 – 124, und Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 221 f. 10 Vgl. zur Davoser Disputation in historischer Hinsicht Karlfried Gründer, »Cassirer und Heidegger in Davos 1929«, in: Braun et al. (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 290 – 302; sowie die Aufsätze in Dominic Kaegi und Enno Rudolph (Hg.), Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002 (= Cassirer-Forschungen, 9); Michael Friedman, Carnap, Cassirer, Heidegger. Geteilte Wege, Frankfurt a. M. 2004; und Peter E. Gordon, Continental Divide. Heidegger, Cassirer, Davos, Cambridge, Mass., u.a. 2010. 11 Diese Konstellation hat gerade mit Verweis auf die bekannte, gegenseitige persön liche Wertschätzung von Cassirer und Warburg zudem die differenzierte Herausarbeitung der keineswegs so harmonischen Positionen und Denkweisen der beiden Wissenschaftler behindert. Vgl. für einen ersten Versuch Arno Schubbach, »Das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen. Cassirers und Warburgs kulturphilosophische Anthropologie«, in: Anne Eusterschulte u.a. (Hg.), Zur-Erscheinung-Kommen. Bildlichkeit als theoretischer Prozess (= Sonderheft der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft), im Erscheinen. 12 »The character of Cassirer’s scholarship, however, was such that, though enriched and extended, its intrinsic direction was never changed by his co-operation with Warburg.« (Saxl, »Ernst Cassirer«, 50) 9
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first visit, Die Philosophie der symbolischen Formen was just taking shape in Cassirer’s mind.«13 Zudem gibt es zumindest vage Hinweise auf eine keineswegs nur geistige Arbeit am künftigen Werk. Denn Gawronsky berichtet mit Bezug auf das sicherlich in Erinnerung gebliebene Wiedertreffen kurz nach dem Ersten Weltkrieg, Cassirer sei zu diesem Zeitpunkt »absorbiert« gewesen von seiner neuen Arbeit.14 Es scheint kaum vorstellbar, dass diese Absorption nicht mit der Produktion von Notizen, Skizzen und Entwürfen einhergegangen ist. Cassirer selbst gibt verschiedentlich Auskunft über die Genese der Phi losophie der symbolischen Formen. Im Vorwort des zweiten Bandes von 1925 erinnert er sich: »Die Entwürfe und Vorarbeiten für diesen Band waren bereits weit fortgeschritten, als ich durch meine Berufung nach Hamburg in nähere Berührung mit der Bibliothek Warburg kam.«15 Und in der Einleitung der veröffentlichten Fassung seines in der Bibliothek gehaltenen Vortrags »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« von 1923 berichtet er von dem »persönlichen Eindruck«, den er »bei der ersten genaueren Bekanntschaft mit der Bibliothek Warburg empfangen habe«, und führt weiter aus: »Die Fragen, die ich in diesem Vortrag im knappsten Umriß vor Ihnen behandeln möchte, hatten mich damals seit langem beschäftigt: Aber nun schienen sie gleichsam verkörpert vor mir zu stehen.«16 Auch diese Auskünfte legen den Schluss nah, dass die Anfänge der Philosophie der symbolischen Formen vor den Umzug nach Hamburg im Herbst 1919 und damit in Cassirers Berliner Zeit zurückreichen. Cassirer hatte das neue Projekt einer Symbolphilosophie tatsächlich schon während des Ersten Weltkriegs in Berlin zu konzipieren begonnen und in offenbar intensiver Arbeit bereits eine umfangreiche Sammlung von Dispositionen, Notizen und Entwürfen angelegt. Im Nachlass Cassirers lässt sich, wie ich auf den folgenden Seiten zeigen werde, die Disposition einer »Philosophie des Symbolischen« vom 13. Juni 1917 rekonstruieren sowie eine durchnummerierte, fast vollständig erhaltene Sammlung von 241 Blättern, die eine erste Phase von Cassirers Arbeitsprozess dokumentieren. Diese Blätter, die von Cassirers eigener Hand mit dem Titel »Material und Vorarbeiten zur ›Philosophie des Symbolischen‹« versehen wurden, entstanden zwischen Sommer 1917 und Sommer 1918. Sie bildeten wiederum Saxl, »Ernst Cassirer«, 49. »When the author of this article again met Cassirer, shortly after the termination of World War I, Cassirer was already quite absorbed in his new work.« (Gawronsky, »Ernst Cassirer«, 25) Auch Toni Cassirer berichtet von einem solchen Wiedersehen »[w]enige Tage nach Kriegsende« (Cassirer, Mein Leben, 121). 15 ECW 12, XV. 16 ECW 16, 75. 13 14
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die Grundlage für den Entwurf eines Kapitels über die Sprache, den Cassirer im Sommer 1919 verfasst und später teilweise in den ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen von 1923 einarbeitet. Die anekdotischen Berichte Toni Cassirers und Gawronskys zu den Anfängen der Philosophie der symbolischen Formen lassen sich folglich dahingehend bestätigen, dass Cassirer die Arbeit an diesem neuen Projekt tatsächlich im Sommer 1917 aufgenommen hat. Die Aufzeichnungen Cassirers geben aber darüber hinaus Einblick in einen aufwendigen Arbeitsprozess, der in den anekdotischen Berichten keinen Platz findet. Die tastenden Skizzen und Entwürfe belegen, dass auch Cassirer der Notizen und Blätter bedurfte, um die systematischen Grundlinien seines symbolphilosophischen Projekts zu entwerfen. Die zahlreichen Aufzeichnungen zur kulturwissenschaftlichen Literatur zeigen darüber hinaus, welch eine Herausforderung es darstellte, das umfangreiche Material zu sichten, zu ordnen und philosophisch zu deuten. Scheinbar ist damit eine Entscheidung zwischen den verschiedenen Entstehungskontexten der Philosophie der symbolischen Formen zu Ungunsten des Hamburger Kreises um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg herbeigeführt. Jedoch täuscht dieser Eindruck, da allein die Rhetorik der plötzlichen Eingebung und ursprünglichen Konzeption des Werks suggeriert, es gäbe nur einen Moment und Ort der Entstehung. Ein Werk wie die Philosophie der symbolischen Formen hat jedoch viele wiederholte Anfänge und entsteht ebenso in Momenten der plötzlichen Eingebung wie in ausgedehnten Phasen der Kenntnisnahme, Verarbeitung und Strukturierung von Materialien oder der Erkundung, Entfaltung und Schärfung der Argumentation und schließlich in der Synthese des Ganzen im Schreiben. Ohne eine Bibliothek wie diejenige Warburgs wäre es kaum möglich gewesen, ein derart umfangreiches kulturwissenschaftliches Material zu sichten, wie es Cassirer in sein Werk eingearbeitet hat; ohne vorgängige systematische Voraussetzungen und eine eigene Konzeption eines symbolphilosophischen Projekts wäre ein Werk mit stringenter Durcharbeitung und materialreicher Entwicklung aber ebenso wenig zu Stande gekommen.17 Wenn die vorlie17 Vgl. für eine ausgewogene Einschätzung des Verhältnisses von Cassirers eigenen Ansätzen und der Anregung durch die Bibliothek Warburgs bspw. Ferrari, Cassirer, 207 – 247. Demnach hat »Cassirer eine Art Integration des eigenen theoretischen Ausgangspunktes und der charakteristischen Forschungen des Hamburger Umfeldes [angestrebt]« (ebd., 230). Auch Habermas geht von einer Koinzidenz der Ansätze aus, wenn er formuliert, dass »das Interesse, das beide, Warburg wie Cassirer, am symbolischen Medium geistiger Ausdrucksformen nahmen, […] ihre Kongenialität [begründete, A. S.]«, vgl. Jürgen Habermas, »Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg«, in: Ernst Cassirers Werk und
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gende Studie die Genese der Philosophie der symbolischen Formen allein in ihren Berliner Anfängen behandeln, den weiteren Verlauf des Projekts in Hamburg dagegen aus pragmatischen Gründen ausblenden wird, dann ist mitnichten beabsichtigt, die Bedeutung der Kulturwissenschaftlichen Biblio thek Warburg für die Entstehung des Werks zu schmälern, was umso mehr gilt, als Cassirer stets die Konvergenz mit der systematischen Fragestellung der Bibliothek betont hat. In diesem ersten Kapitel soll zunächst der Archivbefund geschildert und die Datierung der Disposition, Notizen und Entwürfe begründet werden. Im Anschluss wird die Disposition der »Philosophie des Symbolischen« ausführlich erörtert und der Übergang von Cassirers Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zur Symbol- und Kulturphilosophie der 1920er Jahre diskutiert. Es wird sich dabei zeigen, wie Cassirer seine Theorie des wissenschaftlichen Begriffs zu einem Begriff des Symbolischen verallgemeinert, der die verschiedenen Formen der Symbolisierung umfassen soll. Er bemüht sich dabei nicht in erster Linie um eine scharfe theoretische Bestimmung des Begriffs des Symbolischen. Vielmehr nutzt Cassirer ihn dazu, das kulturwissenschaftliche Material zu Sprache, Mythos und Kunst, aber auch seine eigenen Arbeiten zur wissenschaftlichen Erkenntnis in eine gemeinsame systematische Perspektive zu rücken. Diese Perspektive fokussiert zugleich die spezifischen Differenzen der konkreten Formen der Symbolisierung wie auch ihre weitergehende interne Gliederung in Sprachen, Mythen und Religionen, Künste und Disziplinen. Die Allgemeinheit des Begriffs des Symbolischen ist somit von vornherein zu beziehen auf seine Spezifizierung für verschiedene Formen der Symbolisierung. Die systematische Herausforderung, das Symbolische in seiner Allgemeinheit zu begreifen und es zugleich in seinen spezifischen Formen zu fassen, begründet darüber hinaus, warum Cassirers Kulturphilosophie sich so intensiv wie extensiv auf die Kulturwissenschaften seiner Zeit bezieht. Denn die Spezifikation des Symbolischen ist nach Cassirers Auffassung keine rein philosophische Angelegenheit, sondern immer auch eine Frage der empirischen Befunde. Allein der »Reichtum des empirisch-wissenschaftlichen Forschungsmaterials«18 soll es der Philosophie daher erlauben, sich eine in sich komplexe und vielfältige Welt des Symbolischen zu erschließen. Dieser systematische Ansatz ist zu verstehen als Cassirers produktive Wirkung. Kultur und Philosophie, hg. von Dorothea Frede und Reinold Schmücker, Darmstadt 1997, 79 – 104, hier 80. Die Bibliothek hätte Cassirer, so Habermas weiter, breites »historisches Material« geboten wie auch die Gelegenheit zur »Vertiefung einer Konzeption, die auf Cassirers genuin sprachphilosophische Einsichten zurückging«, vgl. ebd., 83 und 89. 18 ECW 11, X .
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Antwort auf die Herausforderung der Philosophie durch die Entwicklung der sich ausdifferenzierenden Geistes- und Kulturwissenschaften, wie eine abschließende Diskussion von Wilhelm Diltheys Bestimmungen der nachhegelschen Situation der Philosophie zeigen wird. Der Befund Die »Disposition« einer »Philosophie des Symbolischen« befindet sich heute in einem Teil des Nachlasses Ernst Cassirers, der die sogenannten research notes zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen versammelt.19 Die erste Seite eines ungebundenen Heftchens aus ineinander gelegten gefalteten Bögen trägt den Titel »Philosophie des Symbolischen (allg. Disposition)« und wurde von Cassirers eigener Hand auf den »13. VI. 17« datiert (s. Abb. im Anhang, S. 370). Die vorliegenden acht beschriebenen Seiten hat Cassirer mit blauem Buntstift sorgfältig paginiert. Zudem wurden einige Blätter eingelegt, die nach vereinzelten Datierungen ungefähr zur selben Zeit entstanden sind, im Folgenden aber nicht weiter berücksichtigt werden, da der inhaltliche und formale Zusammenhang nicht gesichert erscheint.20 Die Bezeichnung »Disposition« auf der ersten Seite wurde rot unterstrichen wie auch die Hinzufügung »Blatt I« eine Zeile darunter. Es ist nicht schwer, die Fortführung dieser Disposition in weiteren Aufzeichnungen zu identifizieren, die sich in derselben und der folgenden Bibliotheksmappe des Nachlasses befinden. Ein Blatt ist wiederum als »Allgemeine Disposition« betitelt und – erneut mit rotem Buntstift un Die Disposition befindet sich genauer in GEN MSS 98, Box 24, Folder 440, der Beinecke Rare Book and Manuscript Library. Vgl. für genauere Angaben die einleitenden Bemerkungen zur Transkription im Anhang des vorliegenden Bandes. 20 In dem besagten gefalteten Heftchen sind zunächst zwei weitere, quer beschriebene Notizen zu nennen: Das erste Blatt trägt im Titel das Datum »16.VI .17« sowie die Überschrift: »Zum Begriff des ›Intentionalen‹ – / das Psychische als Intentionales« und wendet sich gegen das Schema von ›Innen‹ und ›Außen‹ als Grundlage zur Deutung der Intentionalität. Das zweite Blatt trägt im Titel allein das Datum »30.VI .17« und diskutiert das Verhältnis von »›Symbolik‹« und »›Semiotik‹«, zwischen der ›Repräsentation‹ in der Erfahrung und der Bezeichnung durch äußere Zeichen. Ein weiteres, ähnlich beschriftetes Blatt zur ›Deiktischen Funktion‹ führt diesen Gedanken in einem Schema weiter aus. Daneben ist noch eine Notiz zur »Metaphysik des Symbol.« eingelegt, die sich auf die Blätter bezieht, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde, aber nicht zu ihnen gehört. Da diese Notizen zumindest formal allesamt in keinem eindeutigen Verhältnis zur Disposition und den im Folgenden rekonstruierten Blättern stehen, werde ich mich im Folgenden nicht auf sie stützen. 19
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terstrichen – als »Blatt II a)« bezeichnet.21 Es schließt augenscheinlich an »Blatt I« an, indem es gleich in der ersten Zeile den Stichpunkt wiederholt, dem das erste Blatt über acht Seiten nachgeht: »I) Die Psychologie des Symbolischen / (siehe Blatt I)«. Diese Wiederholung hat offenbar den alleinigen Zweck, die inhaltliche Gliederung des ersten Blatts aufzunehmen und sofort durch »II) Die Logik des Symbolischen« fortzusetzen. Diesem Muster folgen weitere gefaltete Bögen, die durch die Hinzufügung von »II b)« bis »II f« geordnet und zudem mit der Bezeichnung »Allg. Dispos.« versehen wurden.22 Der formale Zusammenhang ist eindeutig und auch in sachlicher Hinsicht liegt diese »Disposition« einer »Philosophie des Symbolischen« offenbar vollständig vor. Sie wird im Anhang der vorliegenden Studie sowohl durch die Reproduktion der Manuskriptseiten als auch als transkribierter Text erstmals zugänglich gemacht.23 Aus den research notes zur Philosophie der symbolischen Formen kann darüber hinaus eine größere Gruppe von Aufzeichnungen ausgegliedert werden, die im engen Zusammenhang mit der Disposition von 1917 stehen. Bei der Durchsicht des zunächst heterogen wirkenden Materials herrschen auf den ersten Blick Gruppen von Notizen vor, die denselben Titel tragen und durchnummeriert wurden. Da die Titel meist recht spezifisch sind – wie z. B. »Satz, Satzbau« –, umfassen sie nur wenige Notizen und ihre Nummerierung wird selten zweistellig. Eine Ausnahme bildet eine umfangreichere Gruppe von Aufzeichnungen, die sich in einigen wenigen Bibliotheksordnern häufen und durch eine augenfällige Gemeinsamkeit hervorstechen: Die ungefähr DIN A5-großen Blätter sind zum einen – wie teilweise auch die Disposition – am Rand mit Buntstiften verschiedener Farbe nummeriert (rot, blau und grün, seltener auch mit Tinte oder Bleistift), was deshalb auffällt, weil Cassirer ausgesprochen selten Buntstifte benutzt; zum anderen reicht die Nummerierung dieser Blätter von 1 bis 241 (für die ersten dreißig Nummern in römischen, später in arabischen Ziffern), was in Cassirers Nachlass eine außergewöhnlich umfangreiche Gruppe an durchnummerierten Aufzeichnungen darstellt. Es drängt sich daher die Vermutung auf, dass Dieses Blatt befindet sich in GEN MSS 98, Box 24, Folder 441. »II b)« bis »II d)« befinden sich in GEN MSS 98, Box 24, Folder 441, »II e« und »II f« dagegen wie »Blatt I« in Box 24, Folder 440. 23 Diese »Disposition« zitiere ich im Folgenden unter dem Kürzel ›Disposition 1917‹ mit Angabe einer Seitenzahl, die auf den ersten acht Seiten Cassirers eigenhändiger Nummerierung entspricht und sie wie im editorischen Anhang entsprechend der eindeutigen Abfolge der Blätter fortsetzt. In den Zitationen im fortlaufenden Text sind die Anführungszeichen aus typographischen Gründen vereinheitlicht, da Cassirer, wie auch Schwemmer, Cassirer, 16 f., beobachtet, die verschiedenen Typen von Anführungszeichen nicht konsistent gebraucht. Ebenso werden die Zeilenumbrüche aufgelöst und durch Schrägstriche markiert, um den Fließtext nicht zu oft unterbrechen zu müssen. 21
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hier eine geschlossene Sammlung von Notizen vorliegt, die zudem nahezu vollständig rekonstruiert werden kann, da ein Großteil der 241 Blätter im Nachlass erhalten sind.24 Diese Vermutung, eine größere Sammlung von Notizen vor sich zu haben, ist zunächst oberflächlich in dem konkreten Sinn, dass sie sich in erster Linie auf den auffälligen Gebrauch von Buntstiften und die umfängliche Nummerierung stützt. Sie lässt sich durch eine eingehende und ausführ liche Musterung der Blätter aber schnell bestätigen, da die Notizen auch in formaler Hinsicht einen Zusammenhang bilden. Ein erster Beleg ist in der Bezeichnung zu sehen: Die ersten Notizen werden vor ihrer Nummerierung als »Blatt« bezeichnet, die folgenden tragen bis ungefähr zur Nummer 25 noch das Kürzel »Bl.«, während Blätter von höherer Nummerierung keine solche Bezeichnung mehr aufweisen. Diese im Nachlass seltene Bezeichnung dient Cassirer dazu, mittels des Kürzels »Bl.« und einer Nummer auf das jeweilige Blatt zu verweisen, wodurch sich auch formal ein Zusammenhang herausbildet, der aus den restlichen research notes auszugliedern ist. Denn folgt man Cassirers Verweisen auf eigene Notizen, so benutzen sie fast ausschließlich das auch zur Nummerierung eingesetzte Kürzel »Bl. […]« und führen in den hier rekonstruierten Zusammenhang von 241 Blättern zurück. Ebenso können die wenigen Verweise mittels Titel bzw. Begriffen mit großer Wahrscheinlichkeit anderen Blättern dieser Notizensammlung zugeordnet werden, auch wenn nicht endgültig zu klären ist, wohin alle Verweise führen sollten. 25 Nichtsdestotrotz spricht alles dafür, dass diese 24 Vgl. die Auflistung der noch auffindbaren Blätter im Anhang des vorliegenden Bandes. Ich beziehe mich auf diese Aufzeichnungen im Folgenden über ›Blatt n‹, wobei ›n‹ die Nummerierung Cassirers benennt, sie aber in arabischen Ziffern vereinheitlicht. Die Angabe von Stellen erfolgt über die Angabe der Seite, die in Ermangelung einer Nummerierung von Cassirers Hand entsprechend der Folge der Seiten bestimmt wurde und in der Regel eine zweifelsfreie Identifikation der Stelle erlaubt. Wie im Falle der Disposition habe ich die Anführungszeichen vereinheitlicht. Um den Charakter der Arbeitsnotizen zumindest ein Stück weit zu bewahren, nehme ich jedoch keine Korrekturen vor und ergänze ebenso wenig die gekürzten, meist aber verständlichen Schreibweisen Cassirers. 25 Es sind folgende fünf Verweise, die sich obigem Schema nicht fügen: 1. Blatt 7, 1, am Rand: »zur Ergänz. s. / Metaphys. des Symbolprobl. / u. XXII, 2.«; 2. Blatt 17, 4, am Rand: »Bes. zur Metaphys / d. symbol. Funkt. / am Schluß des / Ganzen !«; 3. Blatt 83, 2: »s. Ztt. Transszendentalpsychol.«; 4. Blatt 173, 2: »Durchzuführen für verschied. Gebiete: / Sprache – Kunst – Mythos! – Erkenntnis) / vgl. Symbolbegr. Allgem.«; 5. Blatt 237, 1, offenbar eingefügt, auf den Rand ausgreifend: »auch Lebenszusammenhang s. S. 2«. In diesen Fällen scheint Cassirer auf andere Notizen mittels der Überschrift zu verweisen, was er in vielen Arbeitsnotizen gewohnheitsmäßig tut, wobei der zweite und der fünfte Verweis unter Umständen eher als Heraushebungen am Rand der Notizen im Hinblick auf einen zu verfassenden Text aufzufassen sind. Alle Verweise führen aber ohne weiteres zu anderen Blättern dieser Notizen: Die ersten beiden Verweise können
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241 Blätter einen geschlossenen Zusammenhang bilden und eine Phase von Cassirers Arbeit an einer »Philosophie des Symbolischen« dokumentieren. Es handelt sich genauer um eine erste Arbeitsphase im Anschluss an die Disposition der »Philosophie des Symbolischen«, wie die Datierung der Blätter zeigt. Den entscheidenden Hinweis liefert ein gefalteter Bogen, der in der Bibliotheksmappe 429 einen Stapel der Blätter umfasst. Im heutigen Zustand ist auf der Vorderseite in Cassirers Handschrift mittig zu lesen: »Philosophie des Symbol. / Vorarbeiten Sprache«. Auf der Rückseite ist dagegen eine auf dem Kopf stehende, zentrierte Aufschrift von Cassirers Hand zu finden. Ohne Verbesserungen oder Hinzufügungen in schwarzer Tinte geschrieben scheint sie sich auf das gesamte Projekt zu beziehen: »Material und Vorarbeiten zur / »Philosophie des Symbolischen« / Blatt 101 – 191 / [Blatt 1–100 liegt im Safe in der / Commerz- und Disconto Bank.] / 27. 7. 1918.« (vgl. Abb. S. 44) Es ist ausgeschlossen, dass hiermit andere Notizen gemeint sein könnten als die oben rekonstruierte Sammlung. Denn wie die Bezeichnung »Blatt« sind auch die Geschlossenheit sowie der Umfang der Nummerierung innerhalb von Cassirers Nachlass einzigartig. Zwar gibt es im Zusammenhang der Arbeitsnotizen Cassirers für die Philosophie der symbolischen Formen eine Vielzahl von nummerierten Blättern. Deren Nummerierungen gehen aber weder bis zur Zahl 191, noch sind sie als Blätter gekennzeichnet oder wird auf sie als solche verwiesen. Außerdem bezeichnet diese Aufschrift – anders als die vermutlich jüngere auf der heutigen Vorderseite, wo von »Vorarbeiten Sprache« die Rede ist – gänzlich unspezifisch »Material« und »Vorarbeiten« für die gesamte auf zahlreiche Blätter zur Metaphysik des Symbolischen, der Symbolformen oder des Zeichens verweisen, denn folgende Blätter tragen in ihrem Titel das Wort Metaphysik: Blatt 13, 17, 25, 43, 62, 88, 91, 115 und 229. Der erste Verweis führt wahrscheinlich zu Blatt 15, dessen Titel selbst wiederum auf Blatt 7 verweist und auch in dem heute vorliegenden Zustand des Nachlasses noch direkt neben Blatt 7 in Box 29, Folder 548, zu finden ist; darüber hinaus ist in seinem Titel vom »Symbolprobl.« die Rede – eine von Cassirer selten benutzte Formulierung. Falls der zweite Verweis überhaupt ein solcher ist, ist jedoch nicht zu klären, worauf er sich genau bezieht, da keine Notiz zur Metaphysik der Symbolfunktion aufzufinden ist. Der dritte Verweis auf eine von Cassirer mit »Ztt. Transzendentalpsychol.« spezifizierte Notiz könnte der Überschrift nach zu den Blättern 89, 90 und 100 führen, wobei die ersten beiden in Box 24, Folder 442 direkt auf Blatt 83 folgen und Blatt 100 einige Blätter davor im selben Folder zu finden ist. Der vierte Hinweis – auf »Symbolbegr. Allg.« auf Blatt 173 – würde u.a. zu Blatt 171 oder 179, die der Nummerierung nach in nächster Nähe liegen, passen, aber auch zu allerlei anderen Notizen mit derselben Überschrift, nämlich Blatt 32, 38, 89, 90, 91, 100, 115, 128, 137, 145, 156, 162, 190 sowie 229. Der fünfte Verweis führt vermutlich zur zweiten Seite des Blattes 237, wo am Rand eine Hinzufügung mit den Worten beginnt: »Zu erört. unter ›Lebenszusammenh.‹– «. Diese Worte sind ebenso wie der fünfte Verweis mit einem grünen Buntstift unterstrichen.
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Abb.: Ausschnitt der Rückseite eines gefalteten Bogens, in dem ein Teil der Notizen zur »Philosophie des Symbolischen« eingelegt ist (Cassirer Papers, GEN MSS 98, Box 23, Folder 429)
»Philosophie des Symbolischen«. Diesen allgemeinen Titel von Aufzeichnungen gibt es in den research notes ansonsten nicht, da die Notizen stets einzelnen Themen der Philosophie der symbolischen Formen zugeordnet sind und ihre Nummerierung daher auch keine Zahlen der hier vorliegenden Größenordnung erreichen. Offenbar hat Cassirer dieser Sammlung von Notizen einen nicht unerheblichen Wert beigemessen, wenn er die ersten hundert Blätter einem Banksafe anvertraute. Wichtiger aber ist die Aufschrift dieses Bogens, der einst wohl »Blatt 101 – 191« umfasst hat, für die Datierung, denn demnach sind zumindest die Blätter bis zur Nummer 191 bis Mitte 1918 entstanden. Diese Datierung wird dadurch unterstützt, dass die auf allen Blättern genannte Literatur nicht jünger als 1918 ist.26 Auch Cassirers Verweise auf die eigenen Schriften fügen sich in dieses Bild.27 Schließlich sind alle notierten 26 Zu präzisieren wäre, dass keine der angeführten und identifizierbaren Veröffentlichungen jünger als 1917 ist, außer Heft Nr. 4/5 der Deutschen Literaturzeitung vom 2. 2. 1918, auf das sich ein Verweis von Blatt 116 bezieht, nämlich auf Eugen Fehrles Besprechung von Paul Ehrenreichs Die Sonne im Mythos von 1915. 27 Unter den Verweisen auf Cassirers eigene Schriften finden sich fünf, die für die Datierungsfrage von Interesse sind und aus den Verweisen v. a. auf Substanzbegriff und Funktionsbegriff herausstechen: Auf Blatt 6, 22, und Blatt 8, 8, verweist Cassirer auf die »Kant=Schrift« bzw. das »Kant-Buch«, womit er sich vermutlich auf Kants Leben und Lehre bezieht, das 1918 als letzter Band der von ihm herausgegebenen Werke Kants erschien; auf Blatt 89, 12, findet sich in Klammern der Verweis »cf. Erkprobl. III!«, womit sicherlich der dritte Band von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit gemeint ist, an dem die Arbeit 1919 abgeschlossen wurde und der 1920
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Signaturen mit denjenigen des Katalogs der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin zu identifizieren. Naheliegender Weise hat Cassirer in seiner Berliner Zeit dort seine Recherchen betrieben. Die letzteren Beobachtungen nähren die Vermutung, dass auch die Blätter 192 bis 241 nicht sehr viel später und jedenfalls vor Herbst 1919 entstanden sein dürften, als Cassirer nach Hamburg umzog und an der neu gegründeten Universität eine Professur antrat. Die Blätter lassen bei einer ersten Durchsicht relativ schnell verschiedene Aspekte von Cassirers Arbeit erkennen. Es deutet zunächst einiges darauf hin, dass sie ungefähr in der Reihenfolge entstanden sind, in der sie nummeriert wurden. Die ersten zehn, zwanzig Blätter tragen meist recht allgemein gehaltene Überschriften und entwickeln oft über mehrere Seiten eigenständige konzeptionelle Überlegungen, wie z. B. »Sprache« (Blatt 2, 3, 5), »Zum Fortschritt der Symbolik von der ein- / fachsten ›sinnlichen‹ bis zur höchsten / ›geistigen‹ Stufe‹« (Blatt 4), »Symbol. Funktion (Allgemeines)« (Blatt 6) oder »Allgemeines zum ›Symbolproblem‹« (Blatt 7). Auch auf den folgenden Blättern entwirft Cassirer meist in ausformulierten Sätzen seine Herangehensweise oder die Strukturierung des Projekts. In den höheren Nummern werden Notizen und Titel dagegen zunehmend spezifischer, wobei die prägenden Themen der Philosophie der symbolischen Formen vorherrschen, vor allem Sprache, Mythos und Religion. Diese Themen wechseln mitunter in lockerer Folge einander ab, sie werden manchmal aber auch über mehrere Blätter kontinuierlich verfolgt sowie durch Schlagworte wie z. B. »Satz« (Blatt 50 und 170) und »Suffixe« (Blatt 66) spezifiziert. Entsprechend finden sich hier kurze Exzerpte zu einem Buch oder Artikel, vielleicht aber auch nur einiges Wissenswertes oder ein interessantes Zitat aus einem kulturwissenschaftlichen Text. Zunehmend werden bereits in der Überschrift Texte anderer Autoren angeführt, zu denen Exzerpte und Erörterungen folgen. Eine numerisch aufsteigende Liste aller Blätter zeigt zudem, dass Exzerpte zu bestimmten Büchern oder Themen oft über mehrere, aufeinander folgende Blätter verfolgt werden. Auch die verschiedenfarbigen Buntstifte der Nummerierung sowie die Tinten von unterschiedlicher Farbe wurden jeweils über mehrere Blätter beibehalten, was nahelegt, dass diese oft in einem Zug entstanden erschienen ist; da es sich um einen Verweis ohne Seitenzahlen handelt, scheint er mir der hier vorgeschlagenen Datierung nicht zu widersprechen; schließlich verweist Cassirer in Disposition 1917, 27, mit »cf. Platon = Colleg!!« vermutlich auf die »Vorlesungen und Seminare« zu Platon, die er nach Paetzold 1995, 24, in den Sommersemestern der Jahre 1914, 1915 und 1916 als Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin durchgeführt hat.
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sind. 28 Die Auseinandersetzung mit kulturwissenschaftlicher Literatur verbindet sich auf Blättern mit hoher Nummerierung immer wieder mit Verallgemeinerungen, worauf im Titel mitunter auch das Stichwort »Symbolbegriff« hinweist.29 Bisweilen wird auch im Untertitel eine Verallgemeinerung angekündigt, wie z. B. in »Mythos / Allgemein. zur Symbolform« (Blatt 219). In welcher Reihenfolge diese Blätter entstanden sind, wird letztlich stets Spekulation bleiben müssen. In der Reihenfolge ihrer Nummerierung betrachtet erwecken sie jedoch den Eindruck, dass sich in ihnen der Fortschritt eines Projekts dokumentiert, wobei sich die Präzisierung der Konzeption, die sich vertiefende Rezeption der kulturwissenschaftlichen Literatur und die Bemühung um eine philosophisch anschlussfähige Ordnung des Materials wechselseitig durchdringen. Diese »Vorarbeiten zur / »Philosophie des Symbolischen« haben darü ber hinaus zu einem ersten Textentwurf geführt, den Cassirer noch vor seinem Wechsel nach Hamburg verfasst hat. Das Manuskript basiert allem Anschein nach auf der ersten Sammlung von Blättern, wurde am Rand der ersten Seite auf den »11.VII.19« datiert und trägt am Ende das Datum des »19. 8. 19«.30 Es umfasst 241 beschriebene Seiten, von denen einige bei Umarbeitungen gestrichen wurden, so dass der fortlaufende Text lediglich aus 231 Seiten besteht.31 Die Nummerierung von Cassirers eigener Hand beginnt bei 1 und reicht – wegen einiger Sprünge in der Zahlenfolge – bis 234.32 Der Text trägt keine Überschrift, gliedert sich aber in drei wie folgt betitelte Abschnitte: »Die physischen Grundlagen der Sprachbildung. – Gebärdensprache / und Lautsprache« (S. 1 – 58); »2. / Die Modalität der sprachlichen Form« (S. 58 – 138); »3. Die Sprache und der Aufbau des / ›subjektiven‹ und des ›objektiven‹ Seins« (S. 139 – 234).33 Es handelt sich um schwarze, braune und grüne Tinten, bei Hinzufügungen seltener um blaue und lilafarbene; außerdem des Öfteren um eine schwarz-grüne Mischung, die schwer zu klassifizieren ist. 29 Vgl. exemplarisch Blatt 32, 38, 89–91, 115, 128, 145, 171, 179, 229. 30 Das Manuskript befindet sich in GEN MSS 98, Box 25, Folder 476 bis 480. 31 Neben den gestrichenen und herausgefallen Seiten habe ich dabei die Fortsetzung der Anm. von S. 185 (nach Cassirers Paginierung) auf dem benachbarten Blatt nicht gezählt. 32 Es sind folgende Sprünge in der Folge der natürlichen Zahlen festzuhalten: S. 44, eingefügt: S. 44a, S. 45; S. 99, eingefügt: S. 99a, S. 100; auf S. 139 folgt S. 147, wobei die Auslassung jeweils am Rand markiert ist: »es folgt / S. 147 / 140 – 146 fallen / fort!]« (S. 139) bzw. »[folgt auf S. 139!]« (S. 147); S. 211, eingefügt: S. 211a und 211b, S. 212. 33 Dieses Manuskript zitiere ich in der vorliegenden Studie mit dem Kürzel ›Manuskript 1919‹. Entsprechend des Fließtextcharakters dieses Entwurfs verzichte ich bei der Zitation auf eine Markierung der Zeilenwechsel, die hier von keiner Bedeutung sein dürften. Anführungszeichen werden auch in diesem Fall vereinheitlicht. 28
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In welchem Zusammenhang dieses Manuskript aus dem Sommer 1919 hätte zu stehen kommen sollen, ist in Ermangelung einer übergreifenden Überschrift oder anderer Hinweise nicht stichhaltig zu rekonstruieren. Lediglich einige Vor- und Rückverweise in den Anmerkungen deuten darauf hin, dass es sich um den Entwurf eines Kapitels zur sprachlichen Symbolisierung handelt, das an ein grundlegendes Kapitel zur Rolle von Repräsentation und Symbolisierung für das Bewusstsein anschließen 34 und einem weiteren Kapitel zum Mythos vorangehen sollte35 . Es scheint sich so um ein Kapitel eines frühen, einbändigen Entwurfs einer »Philosophie des Symbolischen« zu handeln, was mangels weiterer Belege jedoch Spekulation bleiben muss. Festzustellen bleibt dagegen, dass Teile dieses Manuskripts von 1919 offenbar in den ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen eingegangen sind oder ihm zumindest als Vorlage gedient haben.36 Diese Verarbeitung vorliegender Entwürfe in den publizierten Text soll im Folgenden nicht en detail rekonstruiert werden, weil es nicht das Ziel der vorliegenden Studie ist, die Genese der Philosophie der symbolischen Formen auf dieser textuellen Ebene Schritt für Schritt zu verfolgen. Das Manuskript wird jedoch immer wieder wertvolle Einblicke bieten in die Entwicklung von Cassirers Positionen von den ersten Aufzeichnungen bis hin zur Philo sophie der symbolischen Formen. Es wird vor allem im dritten Kapitel hinzugezogen werden, das Cassirers Rezeption der Kulturwissenschaften anhand seiner Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundt und Wilhelm von Humboldt exemplarisch diskutieren wird. Zusammenfassend lässt sich somit ein recht präzises Bild der Anfänge von Cassirers Symbolphilosophie skizzieren. Nach den Berichten Dimitry 34 Manuskript 1919, 65, Anm., fügt hinsichtlich der Rolle der Repräsentation für das Bewusstsein den Verweis ein: »Vgl. ob. Cap. I, bes. S. – und S. – ff.« Hinsichtlich der Unterscheidung der »spezifisch-eigentümlichen Modalität«, die den »Begriffen verschiedener Wissenschaften« eigen ist, verweist Cassirer im Manuskript 1919, 105, in einer Anmerkung erneut auf das erste Kapitel zurück: »Näheres hierüber s. ob. Cap. 1, S. –ff.; vgl. bes. die eingehendere Darlegung u. Begründung in m. Schrift ›Substanzbegriff und Funktionsbegriff[‹], Cap. 1.« Schließlich verweist Cassirer ebd., 221, den Leser hinsichtlich der Behauptung, dass die »Möglichkeit jeder ›symbolischen Formung‹« auf der »Wechselbeziehung« von ›Allgemeinem‹ und ›Individuellem‹ beruht, in einer Anmerkung auf: »S. ob. Cap. 1., S. –ff.« 35 Manuskript 1919, 82, Anm., bringt folgenden Verweis: »Näheres über diese Form des mythisch-magischen Denkens s. im Cap. 3«. 36 Die Reihenfolge spielt dabei keine Rolle: So steht die Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundts Theorie der Gebärde fast am Beginn des Manuskripts, vgl. Manuskript 1919, 17 ff., findet sich im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen aber erst im zweiten Kapitel, vgl. ECW 11, 122 ff.; dagegen stellt das Ende von Manuskript 1919, 221 – 234, offenbar eine Vorstufe für das Ende des ersten, historischen Kapitels des ersten Bandes dar, vgl. ECW 11, 112 ff.
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Gawronskys und Toni Cassirers liegen diese Anfänge im Sommer 1917, was sich durch die »Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« vom 13. Juni 1917 bestätigen lässt. Diese Disposition nimmt in keiner Weise auf die Blätter 1 bis 241 Bezug, die aber ihrerseits inhaltlich stimmig an sie anschließen. Die Disposition ist daher vermutlich tatsächlich vor den Blättern entstanden und markiert den Auftakt zu Cassirers neuem Projekt. Der Titel einer »Philosophie des Symbolischen« wird nun in der Aufschrift des Bogens aufgenommen, der Blatt 101 bis 191 mit »Material und Vorarbeiten zur ›Philosophie des Symbolischen‹« umfasst hat und auf den 27. 7. 1918 datiert ist. Folglich sind zumindest große Teile der Sammlung von 241 Blättern sehr bald nach der Disposition entstanden, so dass Cassirer sie nach einer ersten, ungefähr einjährigen Arbeitsphase im Juli 1918 zusammenfasst, um sie als Grundlage für die nächsten Arbeitsschritte nutzen zu können. Offenbar dienten sie Cassirers Entwurf eines Kapitels über die Sprache von 1919 zur Grundlage, der später teils auch in den ersten Band der Philoso phie der symbolischen Formen eingegangen ist. Die Disposition von 1917, die Sammlung der Blätter und das Manuskript von 1919 belegen damit nicht nur den frühen Beginn von Cassirers Arbeit an dem neuen Projekt, das zur Philosophie der symbolischen Formen führen sollte. Sie dokumentieren auch die Entwicklung des Projekts und den Arbeitsstand vor Cassirers Umzug nach Hamburg im Herbst 1919. In Hamburg setzte Cassirer die Arbeit fort und lernte die Kulturwissen schaftliche Bibliothek Warburg kennen, die zu einer Ausdehnung der kulturwissenschaftlichen Recherche anregte. Dies machte eine neue, kleinteiligere und thematische Gruppierung der Aufzeichnungen erforderlich, der die meisten Notizen in den research notes zur Philosophie der symbolischen For men entsprechen. Die Blätter 1 bis 241 sind dagegen primär numerisch und nicht sachlich geordnet und dokumentieren wohl auch in dieser vermeint lichen Äußerlichkeit einen frühen Arbeitsstand: Sie explorierten ein offenes Feld von Problemen und Phänomenen, das sich erst noch systematisch strukturieren musste. So sehr die Blätter auf der Ebene ihrer wechselseitigen Verweise einen formal geschlossenen Zusammenhang bilden, so wenig stellen sie inhaltlich eine geordnete und abgeschlossene Einheit dar. Es finden sich so mitunter vorgesehene, aber offen gebliebene Verweise der Form »Bl. …«, die ebenso als Indizien für jene formale Geschlossenheit zu deuten sind wie als Zeichen für Cassirers Suche nach einer sachlichen Ordnung. Vereinzelt finden sich daher auch Aufzeichnungen, die im formalen Sinne nicht zu der Sammlung von Blättern gehören, offenbar aber eine provisorische Ordnung der Blätter herstellen sollten.37 Durch den weiteren Fortschritt der Arbeit 37
Eine exemplarische Notiz aus Box 24, Folder 440, führt diese Ordnungsbemühun-
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in Hamburg, so lässt sich vermuten, gelang es dagegen zunehmend, eine Ordnung herzustellen, in denen die Themen der späteren Bände der Philo sophie der symbolischen Formen weiter differenziert und entfaltet wurden. Die sachliche Ordnung dominierte nun, da nur noch die Notizen zu sehr spezifischen Themen durchnummeriert sind, wobei nur kleine zweistellige Zahlen erreicht werden. Dieser neuen Gruppierung fügte Cassirer die alten Blätter zumindest teilweise ein: Sie erhielten zusätzliche Nummerierungen und Überschriften oder wurden am Rand mit weiteren Schlagworten versehen.38 Es hatte sich eine sachliche Ordnung ergeben, nach der die Aufzeichnungen endlich auch systematisch gruppiert werden konnten. Diese Dominanz der thematischen gegenüber der numerischen Ordnung spiegelt daher einen fortgeschrittenen Stand von Cassirers Arbeit wider. In diesem ersten Kapitel soll zunächst anhand der Disposition von 1917 gezeigt werden, wie Cassirer eine »Philosophie des Symbolischen« entwirft und dazu die Grundlagen seiner erkenntniskritischen Schriften einer Revision unterzieht. Diesen Wandel des Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretikers zum Symbol- und Kulturphilosophen werde ich erörtern, indem ich den Überlegungen der Disposition folge und sie Abschnitt für Abschnitt erschließe sowie, wo nötig, Cassirers Schriften um 1917 hinzuziehe. Es wird gen besonders ausführlich vor. Sie gehört zwar nicht zu dem engeren Zusammenhang der nummerierten Blätter, wird aber mit ihnen und insbesondere dem zur Datierung herangezogenen Bogen aufbewahrt. Sie dürfte zudem bei der Durchsicht der vorhandenen Blätter entstanden sein, denn neben der Überschrift »I) Das Problem (Allgem.)« auf der ersten von 14 Seiten hat Cassirer in eckigen Klammern notiert: »–89 durchges«. Auf den folgenden Seiten finden sich entsprechend nur einzelne ausformulierte Sätze, dafür aber zahlreiche Verweise auf Blätter, die mit erläuternden Stichworten versehen sind. Die Ordnung der Verweise wird vor allem durch die Seitenüberschriften vorgegeben, die zentrale Fragen von Cassirers damaliger Arbeit benennen: »Psycholog. – Die Zeichen und der Aufbau des Bewusstseins«, »Logik«, »Exakte Wissenschaft«, »Metaphysik des Symbolischen«, »Aesthetik«, »Subjekt und Objekt«, »Mythos«, »Sprache« und »Zeichen Allgem. Modalität«. Offenbar hat Cassirer eine nachträgliche Strukturierung vorgenommen und teils auch noch zu einem späteren Zeitpunkt Verweise auf höhere Blattnummern eingefügt, um das erarbeitete Material zu gliedern und den fortgeschrittenen Arbeitsstand zu reflektieren. Solche Notizen dokumentieren ebenso wie die Exzerpte und auch die eher geschlossenen Skizzen einen zwar von vornherein ausgerichteten, aber doch zugleich tastenden Denk- und Klärungsprozess, in dem die Fixierung von Einfällen eine nicht minder tragende Rolle spielt als die Verarbeitung von Material, dessen Einarbeitung in den Aufbau der Disposition oder, falls nötig, deren etwaige Anpassung. 38 Vor allem in die Arbeitsnotizen zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen scheinen mir die Blätter sorgfältig eingearbeitet worden zu sein, wobei sie ihre eigene Ordnung verloren. Die research notes in Folder 433 bis 439 in Box 23 geben hiervon einen guten Eindruck. Vgl. z. B. die Notizen zur Onomatopoiie in Folder 435, in die mittels erneuter Nummerierung und teils Hinzufügung des neuen Schlagworts Blatt 20, 47, 48, 65 und 177 eingeordnet wurden.
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sich dabei zeigen, wie Cassirer seine Theorie des wissenschaftlichen Begriffs zu einer Konzeption des Symbolischen verallgemeinert, die für verschiedene Felder der Symbolisierung wiederum zu spezifizieren ist. Cassirers operativer Gebrauch des Begriffs des Symbolischen ist deshalb von vornherein auf die Notwendigkeit der Respezifizierung zu beziehen und steht unter den Vorzeichen einer in sich differenzierten Kultur. Eine zentrale Pointe dieser Erweiterung ist, dass der wissenschaftliche Begriff einer Vielfalt von Symbolisierungen eingeordnet wird und dadurch seine Bedingungen im Zusammenhang der Kultur und insbesondere der Sprache mitreflektiert werden können. Der Auftakt der Disposition: Die Frage nach dem »›Bestand‹ des Psychischen selbst« Die Disposition der »Philosophie des Symbolischen« vom 13. Juni 1917 ist bereits ein komplizierter Text und entspricht so gar nicht dem gewohnten Stil von Cassirers Werken mit ihren souveränen und rhetorisch ausgefeilten, bisweilen länglichen und wenig pointierten Darlegungen.39 Zwar ist die Reihenfolge der Seiten ohne weiteres rekonstruierbar und entfaltet sich auf ihnen schrittweise eine Gliederung, die dem Ganzen auf formaler Ebene eine geschlossene Form gibt. Gedankengang und Fluchtpunkt aber lassen sich nicht so leicht erkennen. Kein Wunder, handelt es sich doch um ein brain storming, das ein noch unbestimmtes Projekt zu umreißen helfen sollte und nicht zur Veröffentlichung gedacht war. Ein Verständnis der Disposition wird zudem dadurch erschwert, dass sie zum einen durchzogen ist von Rückbezügen auf die vorangehenden Schriften Cassirers, die ihr Autor in der Kürze von knappen Andeutungen und Verweisen belassen kann. Zum anderen skizziert sie ein Projekt, das wesentlich über die Grenzen der bisherigen Schriften Cassirers hinausgeht, was sowohl die betrachteten Gegenstände als auch die grundlegenden Konzeptionen angeht. Die Disposition ist ein Entwurf, der im impliziten Rückgriff auf vertraute Elemente ein neues Projekt in den Blick zu nehmen sucht und dazu nicht zuletzt auch 39 Barbara Naumanns Eindruck, dass Cassirer »im Schreiben eine stets gleichmäßig ruhige, reflexive Position einzunehmen« imstande gewesen sei, gleichgültig ob es sich um veröffentlichte Schriften handle oder die »handschriftlichen Manuskripte seiner Aufsätze und Bücher, aber auch die Exzerpte und verstreuten Notizen« oder gar Cassirers »Handschrift« und »Schriftbild«, scheint mir allzu sehr einem verbreiteten Klischee zu folgen und dadurch zahlreiche interessante Aspekte von Cassirers Arbeitsweise zu verdecken, vgl. Barbara Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998, 25.
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die Grundlagen des Cassirer’schen Philosophierens in Bewegung versetzen muss. Im Folgenden sollen die Anfänge von Cassirers Kulturphilosophie anhand der Disposition und im Zusammenhang seiner Schriften erörtert werden. Die Gliederung der Disposition lässt sich rasch überblicken. Alle acht Seiten von »Blatt I« sind dem Punkt »I) Die Psychologie des Symbolischen« gewidmet, der zu Beginn von »Blatt II a)« nochmals im Rückverweis auf »Blatt I« wiederholt wird, um sofort mit »II) Die Logik des Symbolischen« fortgesetzt zu werden. Danach schließen sich in rascherer Folge an: »III) Die Zahlfunktion (N)«, »IV) Allgemeine Erkenntnislehre« und »V) Die Grundprobleme der Aesthetik«, bevor ein wiederum längerer Abschnitt »VI) Die Metaphysik des Symbolischen« die Disposition beschließt. Auf den ersten Blick fällt auf, dass die Themen der einzelnen Bände der Philosophie der symbolischen Formen nicht genannt sind, denn weder die Sprache noch der Mythos sind in die Gliederung aufgenommen worden. Es fehlt zudem nicht nur das reiche Material, das die beiden Bände später ausbreiten werden, von Mythos und Sprache ist zunächst gar nicht die Rede. Erst unter dem Gliederungspunkt »VI) Die Metaphysik des Symbolischen« werden sie auf den letzten zwei, drei Seiten der Disposition neben anderen möglichen Gegenstandsbereichen erwähnt. Erkenntnis und Wissenschaft spielen in der Gliederung zwar eine gewichtige Rolle, sind aber noch primär im Rückbezug auf Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 zu verstehen, auf das die Stichpunkte wiederholt verweisen. 40 Die Gliederung der Disposition greift somit nicht der Ordnung der Bände der Philosophie der symbolischen Formen vor. Stattdessen gibt sie viel eher Cassirers Ausgangspunkte zu erkennen. In dieser Hinsicht ist vor allem von Bedeutung, dass im Unterschied zu Sprache und Mythos die »Aesthe tik« neben der »Erkenntnislehre« einen eigenen Gliederungspunkt erhält. Dies ist als Indiz dafür zu werten, dass Freiheit und Form von 1916 in der Genese des symbolphilosophischen Projekts eine zentrale Rolle gespielt hat, ist es doch dieses Werk, in der die Ästhetik innerhalb von Cassirers Schaffen erstmals im Zentrum steht. 41 Die Gliederung der Disposition lässt so in Wissenschaft und Kunst die inhaltlichen Ausgangspunkte erkennen, von denen aus sich Cassirer einen Weg zu einer »Philosophie des Symbo Vgl. Disposition 1917, 1, am Rand, 11 und 20, am Rand. Auf die wesentliche Rolle dieses Werks für die Entstehung der Philosophie der sym bolischen Formen hat wiederholt Ernst Wolfgang Orth hingewiesen, vgl. z. B. »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, in: ders., Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 26 – 43, hier 34 f. 40 41
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lischen« und Phänomenen wie Sprache und Mythos gebahnt hat. Deshalb kann die Disposition des neuen Projekts mitsamt ihrer Kontinuitäten und Diskontinuitäten gegenüber dem bisherigen Schaffen Cassirers nur im Rekurs auf die beiden früheren Schriften Substanzbegriff und Funktionsbegriff und Freiheit und Form herausgearbeitet werden. 42 Der erste Abschnitt der Disposition der »Philosophie des Symbolischen« setzt ebenso knapp wie bestimmt ein: »Das Problem des ›Ausdrucks‹ – Das ›Innere‹ / und das ›Äussere‹ – Der falsche Dualismus / zwischen Innen und Aussen: die Ausdrucksfunktion / als notwendige Funktion; als konstitutiv für / den ›Bestand‹ des Psychischen selbst.«43 Die Prominenz des Begriffs des ›Ausdrucks‹ ist gegenüber den früheren Schriften Cassirers durchaus auffällig. Dieser Begriff lässt jedoch wie auch die sonstigen Formulierungen vielfältige Assoziationen zu, die sich Cassirer ebenso wenig einzuschränken wie in terminologische Präzision zu überführen bemüht. In einigen wenigen markanten Setzungen expliziert Cassirer seinen Ausgangspunkt aber doch recht deutlich: Die »Psychologie des Symbolischen«, der er sich zu nähern versucht, verknüpft mit dem »Problem des ›Ausdrucks‹« die These, dass es ein ›Inneres‹ nur in Verbindung mit einem ›Äußeren‹ geben kann. Nach einer kurz angedeuteten »Kritik des psycho- / physischen Parallelismus‹«, der nach Cassirers Ansicht noch allzu sehr auf der Gegebenheit eines psychischen ›Inneren‹ aufbaue, 44 expliziert Cassirer seine »entgegengesetzte Ansicht«, die ein Inneres, das unabhängig wäre vom Äußeren, strikt ausschließt: »Das Innere und das Äußere nicht bloss additiv, / komplementär – sondern korrelativ.«45 Diese erste Annäherung an eine »Psychologie des Symbolischen«, die alles ›Psychische‹ offenbar im Zusammenhang seines äußeren Ausdrucks fassen soll, stellt innerhalb der Schriften Cassirers eine auffällige Gemengelage von neuen Fragestellungen und bekannten Argumenten dar. Die resultierenden Spannungen zeigen sich bereits an der Formulierung vom »›Bestand‹ des Psychischen selbst«. Die Rede von ›Bestand‹ entstammt nämlich einer erkenntnistheoretischen Diskussion, deren enge Schranken Cassirer durch das neue symbolphilosophische Projekt und mit zunächst eher vagen Bezeichnungen wie dem Ausdruck überwinden will. Auf Blatt 13 mit dem 42 Ich lasse das nicht minder bedeutsame Kants Leben und Lehre hier zunächst beiseite, da ich auf die Bedeutung von Cassirers erneuter Lektüre von Kant um 1917 im zweiten Kapitel eingehe. 43 Disposition 1917, 1. 44 »Falsche Fragestellung in diesem ›Parallelismus[‹]; legt / die Ansicht nahe, als sei erst ein Inneres da, / das sich nachträglich und zufällig veräusserte, / veräusserlichte – « (Disposition 1917, 1). 45 Disposition 1917, 1.
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Titel »Zur Metaphysik des Symbolischen« stellt Cassirer selbst fest, wie fragwürdig der Begriff des Bestands vor diesem Hintergrund ist. Er verortet diesen Begriff zunächst im Gebiet der Logik: »Die ganze Entwicklung der ›reinen Logik‹ / führt dazu, gegenüber dem Psychologischen einen / abgelösten Bestand des Logischen, ein reines Sein / der logischen ›Gegenstände‹, unabhängig von den / Vorgängen, in denen sie den einzeln. Individuen / zum Bewussts. kommen festzustellen.«46 Die Rede von Bestand ist also eng verknüpft mit der »Entwicklung des Begriffs der Geltung« in Unterscheidung zum Sein, worin sich in erster Linie der auch von Cassirer genannte Hermann Lotze als ausgesprochen einflussreich erwiesen hatte. 47 Cassirer hält diese Position »innerhalb des logischen Bereichs« für »unanfechtbar; aber es gilt einzusehen, / daß dieser Begriff des ›Bestandes‹ eben auch / nichts weiter als das höchste logische Symbol / ist.«48 Der Tendenz der »log. Grundfunktion[,] ihrer Natur nach alles / in ›Bestand‹ und ›Geltung‹« zu verwandeln, setzt Cassirer nun aber den Mythos entgegen, der »seiner Funktion nach alles / in Leben verwandelt«. Mythos wie Logos bilden Cassirer zufolge daher eine »Antinomie«, denn sie haben jeweils eigene, aber einander widersprechende Gesetzlichkeiten: »beide Standpunkte sind nicht absolut; / keiner von ihnen giebt ›das‹ Wesen schlechthin, / sondern nur einen spezifischen Blickpunkt, / unter dem es von uns betrachtet wird – «. Der Begriff des Bestands hat seinen Ort somit im Zusammenhang der Logik und kann jenseits ihres ›Blickpunkts‹ lediglich als eine fragwürdige und unrechtmäßige Übertragung gelten: »Auch der Begriff des ›Bestands‹ ist – nur / ein Gleichnis! / Auf diese Weise löst sich für uns auch der / Streit zwischen Logizismus und Psychologismus«. 49 Mit diesen Überlegungen plädiert Cassirer im Nachgang des Psychologismus-Streits für eine kritische Unterscheidung von Logik und Psycho 46 Blatt 13, 1. Dieses Blatt wurde in der »Beilage« von ECN 1, 269 – 271, abgedruckt und ist daher leicht zugänglich. Die Datierung der Herausgeber auf ca. 1921 – 1927 muss jedoch zugunsten von 1917 bis 1918 korrigiert werden. 47 Vgl. Blatt 13, 1, und zum historischen Zusammenhang Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt a. M. 1983, 201 und 215 – 218. 48 Blatt 13, 2, vgl. auch die folgenden Zitate ebd., 2 f. 49 Blatt 13, 3. Diese Beschränkung von ›Bestand‹ und ›Geltung‹ auf das Feld der Logik unterscheidet sich mithin von der Lösung, die Cassirer in »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« von 1912 mit Blick auf dessen System von Theorie, Ethik und Ästhetik wie folgt charakterisiert: »Die übergreifende Idee der Gel tung spezifiziert sich innerhalb dieser Einheit in ihre verschiedenen Unterarten. Diese Doppelwendung war es, die der vorkritische Idealismus nicht erreichte; denn für ihn verschmolz die Welt in eine unterschiedslose Geltungseinheit.« (ECW 9, 138) Auf die damit verknüpfte Deutung Kants und die Ansprüche auf ein System der Philosophie werde ich im zweiten Kapitel zu sprechen kommen.
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logie, um ihre ›Blickpunkte‹ zu differenzieren und ihre jeweilige Berechtigung gegen jeden Reduktionismus zu verteidigen. Er scheint aber selbst über das Gebot dieser kritischen Unterscheidung hinwegzusehen, wenn er gleich zu Beginn der Disposition unter dem Titel der »Psychologie des Symbolischen« nach dem »›Bestand‹ des Psychischen selbst« fragt. Diese Nachlässigkeit ist wohl als Indiz dafür zu werten, dass Cassirer seine neue Fragestellung im Ausgang von Substanzbegriff und Funktionsbegriff zu fassen und zugleich dessen konzeptionelle Grundlagen zu erweitern sucht. Denn es ist zunächst unmissverständlich festzustellen, dass die Frage nach dem »›Bestand‹ des Psychischen selbst« in seinen Schriften zuvor nicht zu finden ist. Sie wurde dort nicht als solche formuliert, stellte sich aber durchaus, wie gleich zu zeigen sein wird. In den erkenntniskritischen Schriften stellt sich die Frage des Bewusstseins nämlich gerade im Bezug auf den Bestand und die Geltung von Erkenntnis. Es ist offenbar diese erkenntniskritische Konstellation, die noch in die Disposition des symbolphilosophischen Projekts hinein fortwirkt, nun aber mit einem Neueinsatz verbunden wird, der sich vertrauter begrifflicher Mittel bedient, um einen entschiedenen Schritt über die Grenzen von Cassirers erkenntniskritischen Schriften hinaus zu tun. Deshalb muss auf Cassirers frühere Konzeption des Bewusstseins zurückgegangen werden, um den Neuansatz der Frage nach dem »›Bestand‹ des Psychischen selbst« genauer zu profilieren und sie zudem als Reaktion auf systematische Probleme von Cassirers Erkenntniskritik verstehen zu können. Bewusstsein und Erkenntnis in Substanzbegriff und Funktionsbegriff Die Frage nach dem Bewusstsein oder dem Psychischen ist Substanzbegriff und Funktionsbegriff keineswegs vollkommen fremd.50 Denn im letzten Kapitel des Werks »Zur Psychologie der Relationen« setzt sich Cassirer mit der Psychologie seiner Zeit auseinander, woran die Disposition mit ihrem ersten Gliederungspunkt »Die Psychologie des Symbolischen« bereits in der Formulierung anzuschließen scheint.51 Im Zentrum des Kapitels steht vor allem die Kritik an Theorien der Erkenntnis, die von einem Bewusstsein, seinen Vermögen und Vorstellungen ausgehen und sich dabei auf psycholo50 Dies gilt bereits für Cohen und Natorp, vgl. zur neukantianischen Diskussion der ›transzendentalen Psychologie‹ auch Thomas Knoppe, Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Hamburg 1992, 63 – 79. 51 Vgl. ECW 6, 353 – 374.
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gisch-empiristische Theorien stützen. Ebenso wendet sich Cassirer bereits in dieser Schrift entschieden gegen jede »Zerlegung des Seins in eine Innenund Außenwelt«52 , was er zu Beginn der Disposition von 1917 erneut tut und sich dazu des Begriffs des Ausdrucks bedient. Dreh- und Angelpunkt von Cassirers Argumentation in Substanzbegriff und Funktionsbegriff sind allerdings weder der Ausdruck noch das Symbolische, sondern die Erkenntnis und der Begriff. Entsprechend steht die Korrelation von ›Innen‹ und ›Außen‹ hier unter dem Vorzeichen der Objektivität einer Erkenntnis, die Bewusstsein und psychische Tätigkeit nur insofern einbezieht, als sie sich von allen bloß subjektiven Aspekten und individuell-kontingenten Voll zügen lösen lassen.53 Das ›Psychische‹ hat schon in Cassirers erkenntniskritischer Schrift ›Bestand‹ – dieser Bestand hat sein Maß jedoch ausschließlich in der logischen Geltung der Erkenntnis. Um diesen Zusammenhang des Bestands des Bewusstseins und der Geltung von Erkenntnis zu erläutern, muss kurz auf die Theorie des relational-funktionalen Begriffs zurückgegangen werden. Cassirer fragt in Sub stanzbegriff und Funktionsbegriff in neukantianischer Tradition nach den notwendigen Bedingungen der Geltung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und diskutiert im ersten Teil des Buchs zunächst die jüngere Entwicklung vor allem der Mathematik und der exakten Wissenschaften. Das zentrale Motiv seiner Theorie des wissenschaftlichen Begriffs ist darin zu sehen, dass die Erkenntnis von wesentlich begrifflich-relationaler Struktur ist, was sowohl für den Gegenstand wie den Vollzug des Erkennens gilt. Auf der Seite des Gegenstands entwickelt Cassirer seine Theorie des Begriffs vor allem am Paradigma der Zahlbegriffe. Zahlen sind durch eine Relation, die sie ihrer Größe nach hervorbringt und zugleich in ihrer Reihenfolge ordnet, definiert und bestimmt: Jede Zahl hat in der relationalen Ordnung genau eine Stelle inne und ist als mathematisches Gebilde nichts anderes als die Bestimmtheit dieser Stelle innerhalb der Reihe aller Zahlen.54 »Das ›Gebilde‹ soll seinen gesamten Bestand aus den Relationen erhalten, die es erfüllt«, wie Cassirer mit Bezug auf Freges, aber in Übereinstimmung mit seiner eigenen Auffassung der Zahl formuliert.55
ECW 6, 295, vgl. die ganze Passage ebd., 292 – 301. Auf der ersten Seite des Kapitels zur »Psychologie der Relationen« hält Cassirer diese Prämisse fest: »Die Frage, wie dieses Ganze [der möglichen Erkenntnis, A. S.] selbst in den erkennenden Individuen sich verwirklicht, kann und muß zurücktreten, solange es sich darum handelt, den reinen Begründungszusammenhang selbst zu verstehen und in seiner Wahrheit abzuleiten.« (ECW 6, 353) 54 Vgl. dazu ECW 6, 60 – 6 4. 55 ECW 6, 47, vgl. auch ebd., 39 – 41. 52 53
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Es ist diese Form der relationalen Bestimmung, die Cassirer zufolge für jede wissenschaftliche Erkenntnis maßgebend ist. Die empirischen Wissenschaften verfahren so zwar nicht wie die Mathematik rein konstruktiv, versuchen jedoch in Kontinuität zum mathematischen Begriff, »das ›Gege bene‹ in Reihen zu fassen und ihm innerhalb dieser Reihen seine feste Stelle anzuweisen«56 . Unter Voraussetzung mathematischer Strukturen wird so auch in der Physik der Gegenstand rein relational gefasst: »Die sinnlich dingliche Qualität wird zum physikalischen Gegenstand, indem sie sich in eine reihenförmige Bestimmtheit umsetzt.«57 Durch diese »Einstellung des Tatsächlichen in Reihen«58 mathematischer Provenienz wird jeder Gegenstand der Erkenntnis wie die mathematischen Gebilde zum »Träger und Ausgangspunkt bestimmter Urteile, als Inbegriff möglicher Relationen«59. Die Funktion des wissenschaftlichen Begriffs ist es, Systeme von Relationen aufzubauen, die das Gegebene in gesetzliche Zusammenhänge einzuordnen und aus ihnen zu erklären erlauben. Cassirer wendet sich damit gegen jede Auffassung des Begriffs, die ihn in Aristotelischer Tradition als eine Ab straktion von gemeinsamen Merkmalen empirisch gegebener Gegenstände versteht. 60 Die Theorie des relational-funktionalen Begriffs hat aus Cassirers Sicht nicht nur Konsequenzen für unser Verständnis des Gegenstands, sondern auch des Vollzugs der Erkenntnis: Der Erkenntnisprozess muss ebenso relational verfasst sein wie seine Gegenstände, um diese erkennen zu können. Aus dieser Forderung schließt Cassirer zunächst in kritischer Absicht, dass Erkenntnis niemals auf isolierbare Gegebenheiten zurückzuführen ist und insbesondere eine empiristische Psychologie der Empfindung und Assoziation versagen muss. 61 In positiver Hinsicht erwächst hieraus das Ideal einer Erkenntnis, in dem Gegenstand und Vollzug des Erkennens nicht nur beide wesentlich relational bestimmt, sondern ihre Strukturen eng miteinander gekoppelt sind: Erkenntnis fände genau dann statt, wenn der Vollzug des Erkennens die Relationen, die den Gegenstand bestimmen, selbst in der Zeit realisiert. Unter dieser Voraussetzung kann Cassirer die These vertreten, dass selbst im Bereich der Mathematik der logische »Bestand« des Gegenstands nicht unabhängig vom Denken ist. Er kann und muss vielmehr im Erkennen gedacht werden, wobei die relationalen Gesetzlichkeiten sowohl den Gegenstand als auch den Vollzug des Erkennens bestimmen und ECW 6, 160, vgl. dazu auch in Auseinandersetzung mit Rickert ebd., 244 f. ECW 6, 161. 58 ECW 6, 162. 59 ECW 6, 33, vgl. zum »Inbegriff« auch ebd., 22 f. und 267 f. 60 Vgl. ECW 6, 2 – 20. 61 Vgl. ECW 6, 264 – 268. 56 57
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dadurch gewährleisten, dass die Denkvollzüge in ihrem zeitlichen Ablauf dem logischen Aufbau des mathematischen Gebildes entsprechen: »Der gesetzmäßige Fortschritt im Urteil ist das Korrelat des gesetzmäßigen Zusammenhangs der Beziehungen, die sich im Begriff des Erkenntnisobjekts zur Einheit zusammenschließen.«62 Diese Korrelation erklärt auf der einen Seite, wie der Bestand des Logischen gedacht werden kann und muss, ohne ihn schlicht in zeitliche Denkvollzüge mitsamt ihren kontingenten Aspekten aufzulösen. Zum anderen bestimmt diese Korrelation im Gegenzug auch das Denken: Wäre es nicht durch den logischen Aufbau und Bestand seines Gegenstandes gebunden, würde es selbst jede Struktur und jede Beständigkeit verlieren. Die Theorie des Erkennens stellt in Substanzbegriff und Funktionsbegriff folglich den Rahmen dar, innerhalb dessen die Frage nach dem Psychischen überhaupt formuliert werden kann. Eine mögliche Antwort müsste daher die Konsequenzen aus Cassirers Theorie des Begriffs ziehen und deshalb das Bewusstsein, erstens, als wesentlich relational verfasst begreifen und es, zweitens, ausgehend von jener Korrelation des Vollzugs und des Gegenstands des Erkennens konzipieren. Es sind genau diese beiden Aspekte, die Cassirer in seinen knappen Ausführungen zur »Psychologie der Relationen« hervorhebt. Damit das psychische Dasein dem begrifflich-relationalen Aufbau der Gegenstände der Erkenntnis prinzipiell gewachsen sein kann, konzipiert er es als eine Verknüpfung von Erlebnissen, die jeweils im Bezug auf das Ganze des Bewusstseins einen bestimmten Sinn gewinnen. Schon die einfachste Erfahrung soll sich ihre Gegenstände zugänglich machen, indem sie diese in vorgängige Relationen einordnet und im Zusammenhang der gesamten Erfahrung bestimmt: »Alles Bewußtsein verlangt irgendeine Art der Verknüpfung: und jede Form der Verknüpfung setzt eine Relation des Einzelnen zu einem umfassenden Ganzen, setzt eine Einordnung des individuellen Inhalts in irgendeinen Gesamtzusammenhang voraus. So primitiv und unentwickelt dieser Zusammenhang auch gedacht werden mag: er läßt sich dennoch niemals gänzlich aufheben, ohne den einzelnen Inhalt selbst zu zerstören.«63 Um seine zentrale Intention, das Bewusstsein anders als die empiristisch-psychologischen Theorien grundsätzlich relational und holistisch zu konzipieren, auf den Punkt zu bringen, führt Cassirer den Begriff der Repräsentation ein: »Versteht man daher die Repräsentation als 62 ECW 6, 340, vgl. die dortigen Ausführungen insgesamt bis ebd., 343. Einige Seiten später pointiert Cassirer nochmals sein Argument: »Der reale Inhalt des Gedachten, zu dem die Erkenntnis durchdringt, entspricht daher in der Tat genau der aktiven Form des Denkens überhaupt. Im Bereich der rationalen, wie im Bereich der empirischen Erkenntnis ist es die gleiche Aufgabe, die hier gestellt ist.« (Ebd., 349) 63 ECW 6, 320.
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Ausdruck einer ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt, so haben wir es in ihr mit keiner nachträglichen Bestimmung, sondern mit einer konstitutiven Bedingung alles Erfahrungsinhalts zu tun.«64 Es ist diese Perspektive auf das Bewusstsein, die Cassirer im letzten Kapitel von Substanzbegriff und Funktionsbegriff verfolgt. Seine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie verbleibt angesichts der damali gen Dominanz der Theorie der Assoziation aber wesentlich kritisch und muss sich trotz des ein oder anderen positiv gewürdigten Ansatzes letztlich mit der »Forderung einer Psychologie der Relationen« begnügen, die zu einer »Umbildung der psychologischen Methode überhaupt«65 führen soll. Die zweite Konsequenz von Cassirers erkenntniskritischer Perspektive auf das Bewusstsein betrifft die Verknüpfung von ›Innen‹ und ›Außen‹. Denn das Bewusstsein kann im Erkennen nur insofern Repräsentationen zustande bringen, als es relationale Strukturen vollzieht, die in einem begrifflich bestimmten Gegenstand ihre Entsprechung finden. Es setzt somit in jeder seiner Repräsentationen voraus, was Cassirer als genuine Leistung des Begriffs – und nicht subjektiver Vermögen – bestimmt hatte: »Nicht nur, wenn wir die sinnlichen Phänomene, wenn wir die Farben und Töne, die Gerüche und Geschmäcke, sondern auch, wenn wir jene ›metaphänomenalen‹ Gegenstände, wie Vielheit und Zahl, Identität und Verschieden64 ECW 6, 306, vgl. zur Repräsentation die ganze Passage ebd., 303 – 309. Vgl. zu Cassirers Analyse von Repräsentation und Bewusstsein auch Guido Kreis, Cassirer und die Formen des Geistes, Frankfurt a. M. 2010, 213 – 256. Kreis’ systematische Deutung unterscheidet jedoch nicht zwischen den erkenntniskritischen und symbolphilosophischen Texten Cassirers. 65 ECW 6, 353. Positiv würdigt Cassirer vor allem, vgl. ebd., 359 f., den Aufsatz, der heute als Auftakt der Gestaltpsychologie gilt, nämlich Christian von Ehrenfels, »Über Gestaltqualitäten«, in: Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie 14 (1890), 249 – 292, oder in: ders., Psychologie, Ethik, Erkenntnistheorie, München, Wien 1988 (= Philosophische Schriften, hg. von Reinhard Fabian, 3), 128 – 167. Cassirers Erörterungen der ›Psychologie der Relationen‹ dürften aber auch jenseits seines Bezugs auf Ehrenfels’ bahnbrechenden Aufsatz eng verstrickt sein mit den Diskussionen seiner Zeit, worauf bereits Stefano Poggi, »Cassirers Auseinandersetzung mit dem gestaltpsychologischen Ansatz«, in: Enno Rudolph und Bernd-Olaf Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995 (= Cassirer-Forschungen, 1), 237 – 254, hier 237 – 239, hingewiesen hat. Ins Zentrum seines Aufsatzes rückt Poggi jedoch das enge Verhältnis von Cassirers späteren kulturphilosophischen Texten zur Gestaltpsychologie, das vollkommen zu Recht einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, vgl. Martina Plümacher, »Gestaltpsychologie und Wahrnehmungstheorie bei Ernst Cassirer«, in: Enno Rudolph und Ion O. Stamatescu (Hg.), Von der Philosophie zur Wissenschaft, Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg 1997 (= Cassirer-Forschungen, 3), 171 – 207. Dagegen sind die Bezüge von Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff zur psychologischen Diskussion vor der Gestaltpsychologie meines Wissens kaum aufgearbeitet.
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heit, aufgehoben denken, wäre das Bewußtsein als Bewußtsein ausgelöscht. Sein Bestand wurzelt lediglich in der gegenseitigen Zusammengehörigkeit der beiden Momente, deren keines daher als ›erstes‹ und ursprüngliches dem anderen voranzustellen ist.«66 Ohne die Funktion des Begriffs und ohne »logische Grundsätze«67 wäre das Bewusstsein demnach nicht denkbar. Denn es gewinnt nur Beständigkeit in der Korrelation mit Gegenständen, deren eigener Bestand wiederum auf ihrer begrifflichen Bestimmung beruht. Das Bewusstsein hat seinen »Bestand« daher gleichsam vom Begriff geliehen, da es ohne den logischen Aufbau des Gedachten selbst nur ein unbeständiges und heilloses Chaos wäre. Positiv gewendet ist das Bewusstsein in dieser Abhängigkeit vom Begriff bis in sein ›Innerstes‹ hinein konstitutiv mit einem ›Äußeren‹ verbunden: Da es vom logischen »Bestand« der Erkenntnis abhängt, ist es nicht ohne das gleichursprüngliche, ›äußere‹ Erkannte zu denken. 68 Es ist von diesem »›transsubjektiven‹ Moment«69 des Begriffs gleichsam beseelt. Der »falsche Dualismus zwischen Innen und Aussen«, gegen den sich Cassirer in den ersten Zeilen der Disposition von 1917 wendet, ist somit bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff grundsätzlich in Frage gestellt. Die Parallele ist deutlich zu erkennen: Wie das Bewusstsein im erkenntniskritischen Werk keine immanente Sphäre ausbilden kann, weil es als Erkennendes die Funktion des Begriffs und den Bestand des Erkannten annehmen muss, ist die Psyche in der Disposition mit einem ›Außen‹ im Bunde, weil sie des Ausdrucks bedarf und dabei die »Symbolfunktion als ›Übergang‹ vom / ›Inneren‹ zum ›Äusseren‹« voraussetzen muss.70 Der Ausdruck tritt so an die Stelle der Erkenntnis, das Symbolische an die Stelle des Begriffs. Diese Parallele stiftet einige wichtige begriffliche Kontinuitäten, der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass die Abhängigkeit des Bewusstseins von einem ›Äußeren‹ in Substanzbegriff und Funktionsbegriff unter den Vorzeichen der wissenschaftlichen Erkenntnis ECW 6, 368. »Ohne logische Grundsätze, die über den Inhalt der jeweilig gegebenen Eindrücke hinausgreifen, gibt es für ihn [den kritischen Idealismus, A. S.] so wenig ein Ichbewußtsein, als es ein Gegenstandsbewußtsein gibt.« (ECW 6, 318 f.) Vgl. eine ähnliche Stelle ebd., 334 f. 68 Diese Argumentation bewegt sich natürlich, so sei zumindest am Rand angemerkt, auf den Spuren von Kants »Widerlegung des Idealismus« in der zweiten Auflage der Kri tik der reinen Vernunft, vgl. KrV, B 274 – 279, auf die sich Cassirer in den Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« wiederholt auch explizit bezieht, vgl. z. B. Blatt 8, 2, am Rand, und Blatt 18, 6. 69 ECW 6, 320. 70 Disposition 1917, 8. Vgl. für eine Erläuterung von Cassirers Begriff der Funktion und seines Verständnisses des Begriffs als Funktion auch Kreis, Cassirer, 60 – 90. 66 67
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steht. Der »Bestand« des Bewusstseins ist hier nicht wie in der Disposition von 1917 im Sinne von Blatt 13 allenfalls als »Gleichnis« zu verstehen, sondern bezieht sich auf den strikten Sinn der logisch-objektiven Geltung.71 Nicht nur das Erkennen, sondern auch das Bewusstsein insgesamt ist daher abhängig von der Objektivität der Erkenntnis. Das Bewusstsein ist im Rahmen von Cassirers Erkenntniskritik daher alles anderes als bloß subjektiv im umgangssprachlichen Sinne, es fungiert vielmehr geradezu als Medium der objektiven Erkenntnis. Seine Aufgabe ist es nämlich, im fortwährenden Prozess der Objektivierung alles bloß Subjektive der Erfahrung zunehmend abzuscheiden.72 Denn die Gesetzmäßigkeit, dank deren Erkennen und Erkanntes einander korrelieren, ist nicht von vornherein gegeben. Sie ist das vorläufige Ergebnis des Erkenntnisprozesses selbst, in dem der Vollzug wie der Gegenstand des Erkennens in einer Hinsicht bestimmt und normiert, während alle anderen, bloß subjektiven Aspekte sowohl auf Seiten des Bewusstseins als auch auf Seiten des Gegenstands ausgesondert werden. Im Kapitel zum »Begriff der Wirklichkeit« geht Cassirer so von einer »unmittelbaren Erfahrung« aus, der »der Gegensatz des ›Subjektiven‹ und ›Objektiven‹ noch völlig fremd ist«73 . Diese beiden Pole der Erfahrung werden in der Folge aber dahingehend voneinander differenziert, dass die sich wandelnden und nur begrenzt geltenden Aspekte der Erfahrung von den beharrenden und möglichst umfänglich zutreffenden Aspekten unterschieden werden.74 ›Objektiv‹ und ›subjektiv‹ bezeichnen in dieser Perspektive unterschiedliche Grade der Geltung von Erfahrungsurteilen, wie an Cassirers klassischem Beispiel der sekundären 71
Cassirer präzisiert seine Verwendung des Begriffs des Bestands beispielsweise in
ECW 6, 96. Es sei an dieser Stelle zumindest angemerkt, dass Martin Heidegger in einem
Aufsatz von 1953 die Technik in Anspielung auf diese logisch-mathematische Tradition des Begriffs mit Bezug auf den ›Bestand‹ charakterisiert, vgl. Martin Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1959, 13 – 4 4, bes. 24 f. 72 Vgl. ECW 6, 327 f. 73 ECW 6, 293. 74 »Wir finden Zusammenhänge, die sich in jeder ferneren experimentellen Prüfung und durch alle scheinbaren Gegeninstanzen hindurch behaupten, die somit im Flusse der Erfahrung beharren, während andere wiederum zerfließen und sich verflüchtigen. Die ersteren sind es, die wir im prägnanten Sinne ›objektiv‹ nennen, während wir die letzteren mit dem Ausdruck des ›Subjektiven‹ bezeichnen. Objektiv heißen uns zuletzt diejenigen Elemente der Erfahrung, auf denen ihr unwandelbarer Bestand beruht, die sich also in allem Wechsel des Hier und Jetzt erhalten; während wir dasjenige, was diesem Wechsel selbst angehört, was also nur eine Bestimmung des individuellen, einmaligen Hier und Jetzt ausdrückt, dem Kreise der Subjektivität zugerechnet wird. Aus dieser Ableitung des Grundunterschiedes aber ergibt sich sogleich, daß er lediglich relative Bedeutung besitzt.« (ECW 6, 294)
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Qualitäten deutlich wird: Die Wahrnehmung von Farben ist ›subjektiver‹ im Vergleich zur ›objektiven‹ Erklärung der Gegenstände durch die Physik.75 Wenn Erfahrung ›subjektiv‹ ist, dann also nicht im Sinne einer immanenten Sphäre von Vorstellungen, die den äußeren Dingen entgegengesetzt wären. Sie ist auf der »Stufenfolge in den Graden der Objektivität«76 vielmehr früh ausgesondert und einem weniger umfassenden Geltungskreis von Erkenntnissen zugeordnet worden. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass das Bewusstsein zwar nicht im Zentrum von Cassirers Theorie der Erkenntnis steht und noch weniger ihre Grundlage darstellt. Es wird von ihr aber ganz entschieden in Anspruch genommen. Es kann nicht nur jede eigene Beständigkeit allein durch den Bestand der Erkenntnis und damit unter Voraussetzung des wissenschaftlichen Begriffs begründen. Es ist damit auch von vornherein durch die Korrelation von ›Innen‹ und ›Außen‹ gekennzeichnet, die sich in Substanzbegriff und Funktionsbegriff auf der objektiven Geltung der Erkenntnis und Gesetzmäßigkeit des Erkennens begründet. Das Bewusstsein ist deshalb konstitutiv in einen Prozess der Objektivierung eingebunden, der auf eine umfassende ›Objektivität‹ abzielt und dazu mehr oder weniger beschränkte Geltungskreise des ›bloß Subjektiven‹ aussondert. Wenn Cassirer im Kapitel »Zur Psychologie der Relationen« das Bewusstsein dadurch charakterisiert, dass es in seiner Erfahrung eine »Einordnung des individuellen Inhalts in irgendeinen Gesamtzusammenhang« vornehme, »[s]o primitiv und unentwickelt dieser Zusammenhang auch gedacht werden mag«, dann sät er damit in die einfachsten Formen der Erfahrung die Keime einer Objektivierung, die erst in den Wissenschaften vollkommen entfaltet wird.77 Das Bewusstsein wird so einer Teleologie der objektiven Erkenntnis eingeschrieben, bis es in letzter Konsequenz selbst als Ausdruck der logisch-begrifflichen Gesetzlichkeit der Erkenntnis aufgefasst werden kann, die von Beginn an die Beziehung auf die Gegenstände der Erfahrung gewährleistet hat und schließlich mit der Objektivität der wissenschaft Vgl. zum Beispiel der sekundären Qualitäten die ganze Passage ECW 6, 295 – 298. ECW 6, 296. 77 Vgl. nochmals die bereits zitierte Passage in ECW 6, 320. Cassirer spricht so vom »lückenlosen Fortgang, der von den ersten Stufen der Objektivierung bis zu ihrer vollendeten wissenschaftlichen Gestalt hinführt« (ebd., 298), wobei ihm in dieser Passage ein »einfacher sinnlicher Eindruck« und das Urteil, dass wir etwas Rotes sehen, als Ausgangspunkt dieser Entwicklung zur Wissenschaft dient. In derselben Perspektive bewegt sich auch Cassirers faszinierender Ansatz aus den 1940er Jahren, die sinnliche Wahrnehmung im Rekurs auf die mathematische Gruppentheorie zu beschreiben, vgl. Ernst Cassirer, »The Concept of Group and the Theory of Perception«, in: ECW 24, 209 – 250, sowie ders., »Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie«, in: ECN 8, 135 – 180, und ders., »[The Concept of Group]«, in: ECN 8, 181 – 201. 75 76
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lichen Erkenntnis zusammenfallen muss. In diesem Sinne identifiziert Cassirer in Kants Leben und Lehre die ›Subjektivität‹ selbst mit der Gesetzlichkeit des Erkennens: Da sich die Geltung und Notwendigkeit des Urteils nach der »Revolution der Denkart« nur im Rückgang auf das Subjekt des Erkennens aufklären lassen soll, muss »der Begriff des Subjektiven stets der Ausdruck für die Gegründetheit in einem notwendigen Verfahren und in einem allgemeinen Gesetz der Vernunft«78 sein. Vom Bewusstsein kann in Substanzbegriff und Funktionsbegriff daher nur insoweit die Rede sein, als es sich von der objektiven Erkenntnis in Dienst nehmen lässt. Alle anderen Aspekte des Bewusstseins und seiner Erfahrung können lediglich negativ charakterisiert werden, als ›bloß subjektiv‹ im Sinne einer beschränkten und mangelhaften Form der Objektivierung ohne ECW 8, 147. Cassirer betont gleich mehrmals, dass damit die Assoziation des Begriffs der Subjektivität mit dem »Schein des Individuellen und Willkürlichen« (ebd.) oder auch mit »der ›menschlichen Natur‹, wie Locke und Hume sie verstanden« (ebd., 148), aufgelöst werden soll: »Eine Verwechslung dieser Subjektivität der ›Vernunft‹ mit der Subjektivität der Willkür oder der psychisch-physischen ›Organisation‹ ist nicht mehr möglich: Denn eben um diese aufzuheben, wird jene angenommen und aufgezeigt.« (Ebd., 147) Und noch deutlicher: »Die ›Subjektivität‹, von welcher die transzen dentale Betrachtung ihren Ausgang nahm, hat sich uns bisher in einem genau bestimmten, terminologisch abgegrenzten Sinne dargestellt. Sie bedeutete in keiner Weise das Ausgehen von der Organisation des erkennenden Individuums noch von den psychologischen Prozessen, in denen für dieses die Welt der Empfindungen, der Vorstellungen und Vorstellungsverknüpfungen entsteht. Nur dieses wurde vielmehr in ihr festgehalten: daß aller Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes die Bestimmung der reinen Erkenntnisform vorangehen muß. Indem wir den ›Raum‹ als einheitliches synthetisches Verfahren begreifen, erschließt sich uns damit die Gesetzlichkeit der geometrischen und der geometrisch-physikalischen Gebilde; indem wir die Methodik des Experiments analysieren und in ihr die reinen Begriffe von Größe und Maß, die allgemeinen Voraussetzungen der Beharrlichkeit und der kausalen Abhängigkeit aufweisen, haben wir damit die Allgemeinheit und die objektive Gültigkeit der Erfahrungsurteile in ihrem eigentlichen Ursprung erkannt. Das ›Subjekt‹, von dem hier überall die Rede ist, ist daher kein anderes als die ›Vernunft‹ selbst in ihren allgemeinen und ihren besonderen Grundfunktionen.« (Ebd., 187) Anschließend hebt Cassirer dann dazu an, das individuelle und empirische Bewusstsein als Korrelat der solcherart verstanden Objektivität zu beschreiben: »Jetzt erst ist das Verhältnis zwischen der inneren und der äußeren Erfahrung, zwischen dem ›Selbstbewußtsein‹ und dem ›Gegenstandsbewußtsein‹ geklärt. Beide bilden keine für sich bestehenden, gegeneinander selbständigen ›Hälften‹ der Gesamterfahrung; sondern sie sind an denselben Inbegriff allgemeingültiger und notwendiger logischer Voraussetzungen geknüpft und durch diesen Inbegriff hindurch aufeinander unlöslich bezogen. Wir fragen jetzt nicht mehr, wie das Ich zu den absoluten Dingen komme, noch wie die absoluten Dinge es anfangen, sich dem Ich mitzuteilen: Denn beides, das ›Selbst‹ wie der ›Gegenstand‹, ist für uns nunmehr der Ausdruck ein und derselben, im Begriff der transzendentalen Apperzeption bezeichneten Grundgesetzlichkeit der ›Erfahrung überhaupt‹, durch deren Vermittlung es für uns allein Inhalte irgendwelcher Art, sei es des inneren, sei es des äußeren Sinnes, gibt.« (Ebd., 192) 78
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eigene Struktur und eigenes Recht.79 Kaum überraschend für eine Theo rie der Erkenntnis gerät damit das individuelle Bewusstsein aus dem Blick. Schwerer wiegt jedoch, dass auch jeder Weg verschlossen scheint, nach solchen Bedingungen der Erkenntnis zu fragen, die nicht selbst Teil der wissenschaftlichen Erkenntnis und des Prozesses der Objektivierung sind. Die »Psychologie des Symbolischen« diesseits der Erkenntnis Vor diesem Hintergrund lassen sich nun die neuen Akzente der »Psychologie des Symbolischen« aus der Disposition von 1917 herausarbeiten, ohne die Kontinuität in der argumentativen Konstellation und den zentralen Begrifflichkeiten leugnen zu müssen. Denn die Stichpunkte setzen mit der Frage nach dem »›Bestand‹ des Psychischen selbst« ein und markieren damit ebenso Kontinuitäten wie Diskontinuitäten. Die Rede von ›Bestand‹ erinnert einerseits an den skizzierten Zusammenhang der erkenntniskritischen Diskussionen. Andererseits zielt Cassirer mit diesem Begriff, wie mit Bezug auf die Exposition seines ursprünglich logischen Charakters auf Blatt 13 deutlich wurde, nun über das Feld der Erkenntnis hinaus. Diese Absicht zeigt sich an der Einführung des offen gehaltenen Begriffs des Ausdrucks, der ein weiteres Feld der Erfahrung jenseits oder diesseits der Erkenntnis assoziieren lässt. Es ist aber vor allem das erste Beispiel für das wechselseitige Verhältnis von ›Innen‹ und ›Außen‹ im Ausdruck, das über die Strukturierung der Erfahrung in der objektiven Erkenntnis hinausweist oder genauer auf basalere, strukturierende Zusammenhänge der Erfahrung zurückweist. Cassirer bezieht sich nämlich auf die Leiblichkeit, wenn er sich auf den ersten beiden Seiten gegen den »psycho- / physischen ›Parallelismus‹« des Psychologen Wilhelm Wundt wendet, der die »Ansicht nahe [lege, A. S.], als sei erst ein Inneres da, / das sich nachträglich und zufällig veräusserte, / veräusserlichte«80 . Stattdessen, so Cassirer, sei von einer »Korrelations-Einheit« im »Verhältnis von Seele und Leib« auszugehen, das er in Absetzung von jedem »Okkasionalismus« als ein »symbolisches« versteht, womit er diesen Begriff in der Disposition – abgesehen von den Überschriften – erstmals benutzt: »Das Verhältnis von Seele und Leib ist aus / einem ›allegorischen‹ in ein ›symbolisches‹ / Verhältnis umzusetzen: / die verknüpfte ›Andersheit‹ in eine doppel- / bezügliche Einheit«. Der Versuch, die symbolische Beziehung durch das Paradigma des ›Verhältnisses von Seele und Leib‹ zu erläutern, ist aus Cassirers Schriften be79
Vgl. ECW 6, 300 und 318 f. Disposition 1917, 1, vgl. dort auch das folgende Zitat.
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kannt. Und zwar formuliert er dieses Paradigma nicht erst in der bekannten Passage aus dem dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen. 81 Bereits in Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen von 1902 geht er auf Leibniz’ Verschränkung von Körper und Bewusstsein ein und bezeichnet sie dabei eher beiläufig als ein symbolisches Verhältnis. 82 In Freiheit und Form kommt er auf diese Verschränkung des »körperlichen« und des »geistigen Geschehens« bei Leibniz zurück: »das eine ist von Anfang an nur mit dem andern und als Ausdruck des anderen zu denken. Alles Innere ist ein Äußeres, wie alles Äußere ein Inneres ist.«83 Er stellt diesen Gedanken nun jedoch in den Kontext der Ästhetik des 18. Jahrhunderts und der Emanzipation der Sinnlichkeit, was sich auch an der Rede vom ›Ausdruck‹ andeutet. Die Disposition von 1917 schließt an diese Redeweise und die in Freiheit und Form verhandelte ästhetische Tradition an, wie der folgende Abschnitt noch ausführlicher zeigen wird. Sie expliziert das ›Verhältnis von Seele und Leib‹ aber kaum über das Gesagte hinaus und auch die etwas ausführlichere Erörterung dieses Verhältnisses auf Blatt 30 bewegt sich in großer Nähe zu Freiheit und Form. 84 Diese Rekurse auf das ›Verhältnis von Seele und Leib‹ sind nichtsdestotrotz aufschlussreich hinsichtlich der systematischen Bedeutung dieses Paradigmas der symbolischen Beziehung. Cassirer kommt es nicht nur darauf an, mit dem Begriff des Symbolischen die wechselseitige Verschränkung von Innerem und Äußerem zu betonen. Zugleich zielt er dabei im Anschluss an die ästhetische Tradition offenbar auch auf Ebenen der Erfahrung ab, die der Erkenntnis voraufgehen und sich nicht in sie auflösen lassen. Er versucht damit die Grenzen der erkenntniskritischen Untersuchung Substanzbegriff und Funktionsbegriff zu überwinden, die insofern mit der Erkenntnis sowohl beginnt als auch endet, als sie die Erkenntnis nicht nur voraussetzt, sondern auch das Bewusstsein selbst dort, wo es um die Strukturierung der Wahrnehmung geht, letztlich allein im Bezug auf die fortwährende Objektivierung betrachtet. Die Disposition von 1917 eröffnet dagegen im Anschluss an Freiheit und Form die Möglichkeit, den Erkenntnisprozess in 81 Vgl. ECW 13, 113: »Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt.« 82 Vgl. ECW 1, 363 – 365. 83 ECW 7, 87, vgl. die ganze Passage ebd., 87 – 92. 84 Cassirer formuliert mit Bezug auf die Raumwahrnehmung und gegen die »Theorie der unbewussten Schlüsse«: »Wir ›versetzen‹ nicht erst das Innere in das ›Äußere‹ / wir ›haben‹ nicht erst die Eindrücke als / unräumlich / u. schließen dann von ihnen auf eine Raum- / welt … / sondern beides ist in Eins, ist ›zumal‹ / (Das Innere ›ist‹ das Äussere, das Äussere das / Innere[)] / Beide das ›Zeichen‹ u. seine ›Bedeutung‹ verhalten / sich wie Leib und Seele, die untrennbar auf / einander bezogen.« (Blatt 30, 8)
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einem größeren Zusammenhang betrachten zu können. Diesseits des Horizonts der Erkenntnis sollen vorgängige und eigenständige Strukturierungen der Erfahrung und Formen der Korrelation von ›Innen‹ und ›Außen‹ ins Auge gefasst werden, die im Verhältnis von Seele und Leib sowie mit dem Begriff des Ausdrucks angesprochen sind. Eine ähnliche Verschiebung lässt sich an der Erläuterung der »›Reprae sentation als psychisch- / konstitutives Grundelement‹«85 erkennen, die bereits im abschließenden Kapitel von Substanzbegriff und Funktionsbegriff eine wichtige Rolle innehatte und ebenso einen Schwerpunkt der Notizen zur »Psychologie des Symbolischen« bildet. Cassirer führt sie wie die Korrelation von ›Innerem‹ und ›Äußerem‹ über die Grenzen des erkenntniskritischen Werks und der Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis hinaus. Er geht vom »Charakter des Psychischen überhaupt« aus und kennzeichnet es im Unterschied zum »Physischen« dadurch, »daß es nicht nur ›ist‹, sondern / über sich selbst als blosse Zuständlichkeit hinaus- / geht; ein anderes (zweites) und schliesslich / eine ganze Reihe anderer ›bedeutet‹ und ›meint‹«. Cassirer betont im nächsten Schritt, dass eine Vorstellung, die etwas bedeutet oder meint, »nur möglich« ist »durch / diese repraesentative; besser ursprünglich / praesentative Funktion«. Eine ähnliche Behauptung findet sich bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Cassirer hatte dort die Repräsentation als konstitutive Verschränkung von einzelnem Erlebnis und dem Gesamtzusammenhang der Erfahrung dahingehend beschrieben, dass sie die notwendige Bedingung für jeden dem Bewußtsein ›präsenten Inhalt‹ bezeichnet: »Ohne diese scheinbare Repräsentation gäbe es auch keinen ›präsenten‹, keinen unmittelbar gegenwärtigen Inhalt; denn auch dieser besteht für die Erkenntnis nur, sofern er einbezogen ist in ein System von Relationen, die ihm erst seine örtliche und zeitliche wie seine begriffl iche Bestimmtheit geben.«86 Cassirer baut in der Disposition von 1917 offenbar auf diesen Gedanken auf, der zumindest in der Retrospektion bereits an die ›symbolische Prägnanz‹ erinnert, die Cassirer erst im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen ausarbeiten wird. 87 Was im Vergleich jedoch zuallererst auffällt, ist, dass diese Verknüpfung der Repräsentation mit einer »ursprünglich / praesentativen Funktion«, die Substanzbegriff und Funktionsbegriff meines Wissens nur an einer Stelle erwähnt, in der Disposition ins Zentrum des Interesses rückt und auf das Psychische im All Disposition 1917, 3, vgl. dort auch die folgenden Zitate. ECW 6, 306. 87 Vgl. ECW 13, 218 – 233, sowie die dazugehörigen Arbeitsnotizen, die mittlerweile in ECN 4, 3 – 8 4, zugänglich gemacht wurden; vgl. zur Erläuterung Krois, Cassirer, 52 – 57, und Schwemmer, Cassirer, 69 ff. 85
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gemeinen bezogen wird: »Dies das Geheimnis des Vorstellungsbewusst- / seins überhaupt, sodaß ohne diese angebliche / Repraesentation eben keine Praesentation möglich – «88 . Es geht Cassirer somit offenbar nicht mehr vorrangig um das Bewusstsein als Medium der Erkenntnis, sondern um das ›Vorstellungsbewusstsein überhaupt‹, wobei er sich auch auf die phänomenologische »Theorie des Intentionalen u. der intentionalen Akte« bezieht. 89 Mit der Frage nach dem »›Bestand‹ des Psychischen selbst« rückt offenbar die Struktur der Erfahrung als solche und damit auch unabhängig von der Frage der Erkenntnis in den Fokus Cassirers. Diese These wird durch die anschließende »(Kurze) Analyse des Zeit bewusstseins«90 bestätigt. Sie baut nämlich auf die Konzeption der Repräsentation auf, fügt ihr aber wesentliche Charakterisierungen hinzu. Cassirer wendet sich gegen ein Verständnis der Zeit als Anschauungsform im Sinne Kants: »Nicht ›die‹ Zeit ist die Form des inneren Sinns, / aber dieses re praesentat. Grundmoment ist gleich- / zeitig Vorbedingung ›der‹ Zeit und des ›Bewußtseins / überhaupt‹«. Denn Zeitbewusstsein wie Bewusstsein überhaupt gründen letztlich in der »Funktion, durch die das ›Element‹ / die Totalität der Reihe darstellt die allgemeine / Reihenfunktion R«. Sie ist die »Beding. sowohl des Bewussts. der Koexistenz, als / des Bewussts. der Succession«. Cassirer greift hier offenbar auf Begriffe aus seiner früheren erkenntniskritischen Schrift zurück und wendet sie erneut gegen die Psychologie der Assoziation, die die synthetische Grundlage des Bewusstseins, die Cassirer nun als ›Reihenfunktion‹ fasst, nicht erklären könne.91 Die anschließende Beschreibung geht aber bereits in i hren Ansätzen über die aus dem erkenntniskritischen Werk vertraute Konzeption der Repräsentation entschieden hinaus. Denn jetzt begreift Cassirer das Verhältnis von Ganzem und Einzelnem, das die Repräsentation wesentlich charakterisiert, als ein zeitliches Verhältnis, das nur als solches Psyche und Erfahrung beschreibt: »Darstellung des Nicht-Jetzt im Jetzt / Dies das Geheimnis des Vorstellungsbewusst- / seins überhaupt, sodaß ohne diese angebliche / Repraesentation eben keine Praesentation möglich – «92 . Und er führt weiter aus, Disposition 1917, 4. Hinsichtlich der Intentionalität verweist Cassirer auf »Litteratur s. Brentano, Psychologie / Uphues, / Husserl, Log. Untersuchungen / Scholast. Theorie des Intentionalen« (Disposition 1917, 3). 90 Disposition 1917, 4, vgl. für die folgenden Zitate ebd., 4 f. 91 Dabei parallelisiert er diese psychologische Funktion mit Kants Argumentation gegen Humes Kritik an der Kausalität: Ohne die Annahme einer ursprünglichen Verknüpfung ließe sich demnach in beiden Fällen nicht erklären, wie ein Element zum anderen führen könne. 92 Disposition 1917, 4. 88 89
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dass diese zeitlichen Verhältnisse gerichtet sind und verschiedene Zeithorizonte implizieren. Zum einen hat es die Zeitlichkeit der Repräsentation mit der Vergangenheit und Erinnerung zu tun: »Zeit bedingt durch das stets schwindende / und stets sich erhaltende Moment / Dies Verfliessen und Bleiben in Eins gedacht / macht erst den Begriff und das Phaenomen / der Zeit aus«93 . Zum anderen ist es aber nicht weniger bedeutsam, dass die Zeit von Psyche und Erfahrung auf die Zukunft gerichtet ist und insofern ebenso stets Antizipationen einschließt: »Aber dies ›repraesentative‹ Moment genügt / nicht für die Einheit und für das Phaenomen / des Bewusstseins überhaupt, sondern zu ihm / tritt nun ein anderes. ›Bewusstsein‹ heisst / nicht nur Rückblick, sondern Vorausblick; / nicht nur Repraesentation, sondern Anticipation. / Das tritt besonders in Wille und Trieb hervor; / aber es ist ein Grundcharakter der ›Vorstellung‹ / überhaupt. Vorstellung heisst nicht nur / das Bild von etwas (= von etwas her), sondern / die Richtung auf etwas (= auf etwas hin).«94 Um diese Behauptung phänomenal zu unterstützen, bezieht sich Cassirer auf die »Bewegungsvorstellung«, die er »als integrierendes / Moment der Bewegung selbst« begreift: »Die ›vorgestellte‹ / Beweg. ist schon ein Moment der ›ausgeführten‹ / Beweg.; beide nur in und miteinander verständlich«95 . Die Gegenwart des Bewusstseins schließt somit die Horizonte der Vergangenheit und der Zukunft konstitutiv ein: »Wiederum an der Zeit betrachtet: im Gegenwärtigen / wird nicht nur das Vergangene, sondern auch / das Zukünftige vor-gestellt (= in der / produktiven Phantasie vorgebildet)«96 . Diese Erörterungen der Zeitlichkeit des Bewusstseins greifen auf vertraute Begriffe aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff zurück und sind zudem wie so oft bei Cassirer durchsetzt von Referenzen auf Kant, unter anderem auf die Theorie der »Synthesis der Reproduktion und Rekognition«97 oder der produktiven Einbildungskraft. Cassirers Erörterungen gehen über die ältere erkenntniskritische Studie daher weniger konzeptionell als deskriptiv hinaus, da sie einem Interesse für die Strukturen der Erfahrung folgen, das in der erkenntniskritischen Schrift so nicht zu finden ist.98 Disposition 1917, 4. Disposition 1917, 6. 95 Disposition 1917, 7. 96 Disposition 1917, 6. 97 Disposition 1917, 3. 98 Dies gilt nach der wohl zutreffenden Einschätzung von Ernst Wolfgang Orth auch für die ersten kulturphilosophischen Schriften: »Eine urspüngliche, philosophisch systematische Analyse der Zeit erfolgt erst im dritten Band [der Philosophie der symbolischen Formen, A. S.], in dessen Zentrum Cassirers Bewußtseinsphilosophie steht« (Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 139). Es bestätigt sich damit ein Eindruck, den die vorangehenden Seiten mehrmals evoziert haben: Cassirers Notizen zur »Psycho93
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Wo Substanzbegriff und Funktionsbegriff ähnliche Fragestellungen streift, werden sie nur am Rande von Cassirers Argumentation angerissen.99 Denn es ging dort in erster Linie um den Nachweis, dass sich der logisch-begriffliche Aufbau des Gedachten im hochgradig strukturierten Vollzug des Denkens abbildet. Begriffe wie Bestand, Funktion und Reihe tragen diesen älteren Horizont in sich, in dem das Bewusstsein vor allem als eine Art Medium des Erkennens in Anspruch genommen wurde. Sie werden nun aber von Cassirer genutzt, um zu beschreiben, was diesseits des erkenntniskritischen Horizonts und der Teleologie der Objektivierung liegt –: der »›Bestand‹ des Psychischen selbst« in der ihm eigenen Zeitlichkeit. Die »Psychologie des Symbolischen« steht folglich nicht mehr unter strikt logischen Vorzeichen, wenn sie das Bewusstsein und seine Erfahrung als genuin zeitlich fasst. Dass diese Beschreibungen aber wiederum konzeptionelle Erweiterungen mit sich bringen können, zeigt sich an Cassirers enger Verknüpfung der Antizipation mit »Wille« und »Trieb«, die den theoretischen Aspekt der Erkenntnis um einen praktischen Aspekt des Bewusstseinslebens erweitern: »Die ›Gegenwart‹ des Bewusstseins, sein Dasein / ist also nur als Ineinander dieser Beziehungen / auf das Vergangene u. auf das Künftige : - / der (theoretischen) ›Wahrnehmungen‹ und der / (praktischen) Bewegungstendenzen. / Aber ›Theoretisches‹ und ›Praktisches‹ ist hier / in dieser Urform des Bewusstseins noch gar / nicht zu trennen!«100 Cassirer führt diese Beschreibungen nicht weiter aus. Dennoch dokumentieren bereits diese Andeutungen, dass die Strukturen der Erfahrung nicht mehr vorrangig in ihrem Bezug auf die Erkenntnis betrachtet, sondern auf Formen des Bewusstseins diesseits der Erkenntnis bezogen werden. Die Analyse der ›Repraesentation als psychisch-konstitutives Grundelement‹ sowie der ihr eigenen Zeitlichkeit lässt jedoch über mehrere Seiten unerwähnt, wovon die Stichpunkte zur ›Psychologie des Symbolischen‹ ausgegangen waren, die Verschränkung des ›Inneren‹ und des ›Äußeren‹ im Register des Symbolischen. Daher kann diese ›Analyse des Zeitbewusstseins‹ vorübergehend auch den irrtümlichen Eindruck erwecken, Cassirer ginge es wie Husserl um eine Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, die zuallererst die Möglichkeit einer intentionalen Erfahrung der Welt belogie des Symbolischen« scheinen mitunter auf den dritten Band von 1929 vorzugreifen, so dass die Entwicklung von Cassirers Denken nach den Aufzeichnungen beurteilt durchaus nicht denselben Verlauf wie in den Veröffentlichungen zu nehmen scheint. Eine solche These wirft jedoch methodische Fragen auf, die an dieser Stelle nicht erörtert werden können. 99 Vgl. ECW 6, 287 – 289, wo es Cassirer aber letztlich um die historische Entwicklung und den Fortschritt der Wissenschaft selbst geht. 100 Disposition 1917, 7.
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gründen soll.101 Ganz im Gegenteil steht Cassirers Analyse jedoch unter dem Vorzeichen des Symbolischen und weist daher in die entgegengesetzte Richtung. Sie wird somit nicht nur in einem weiteren Schritt zu ergänzen sein, wie Cassirers Bemerkung im Anschluss nahelegt: »Erst hieran anschliessend zu erörtern: / die Symbolfunktion als ›Übergang‹ vom / ›Inne ren‹ zum ›Äusseren‹ / (bisher rein am ›Inneren‹ erörtert)«102 . Cassirer ermahnt sich auf der letzten Seite seiner Stichpunkte zur »Psychologie des Symbolischen« vielmehr, von vornherein die Verschränkung von ›Innen‹ und ›Außen‹ »[n]äher zu entwickeln – jede Ausdrucksfunktion / ist schon ein Innerlich-Äusserliches – ›bedeutet‹ / nicht nur ein solches«. Cassirers Analyse der repräsentativen und zeitlichen Dimension des Bewusstseins steht folglich von vornherein unter der Voraussetzung der ›Symbolfunktion als ›Übergang‹ vom ›Inneren‹ zum ›Äusseren‹‹. ›Das Symbolische‹ tritt somit an die Stelle des Begriffs und erbt allgemein dessen Aufgabe, die Korrelation von subjektivem Prozess und objektivem Gegenstand der Erfahrung herzustellen, wobei es die engen Grenzen der Erkenntnis im Hinblick auf andere Formen der Erfahrung überwinden soll.103 Es liegt dabei nah, dass ›das Symbolische‹ gewisse formale Aspekte des logisch-funktionalen Begriffs aus den erkenntniskritischen Schriften in sich aufnehmen wird. Cassirer charakterisiert es so mit Hilfe von Begriffen, die wie ›Repräsentation‹, ›Reihe‹ oder ›Funktion‹ im Zusammenhang von Substanzbegriff und Funktionsbegriff ausgearbeitet wurden.104 Insbesondere wird die »Symbolfunktion« eng verknüpft mit der Verschränkung von Element und Ganzem, die die Repräsentation der Erkenntnis gekennzeichnet hatte und in diesem Zusammenhang auch bereits als »symbolische Bedeutung« bezeichnet wurde.105 Tatsächlich führt der Begriff des Symbolischen 101 Vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893 – 1917), hg. von Rudolf Boehm, Haag 1966 (= Husserliana, X), bes. 4 – 10 und 24 – 27. 102 Disposition 1917, 8, vgl. dort auch das folgende Zitat. 103 Wie eng die Konzeption des Symbolischen der Philosophie der symbolischen For men an die des wissenschaftlichen Begriffs in Substanzbegriff und Funktionsbegriff anschließt, zeigt auch Birgit Recki, »Ernst Cassirers Theorie des Begriffs als Nukleus zu einer Theorie der symbolischen Formen«, in: Gegenständlichkeit und Objektivität, hg. von David Espinet u.a., Tübingen 2011, 139 – 159, bes. 146 – 149 und 151 – 158. Sie betont dabei vorrangig die »Kontinuität« (ebd., 141) der »Ausdehnung des Begriffs vom Begriff auf den Begriff des Symbols, durch die sich der Fokus auf die Funktionsbestimmung der Konstitution von Wirklichkeit nicht ändert« (ebd., 151). 104 Vgl. dazu auch Steve G. Lofts, Ernst Cassirer. A »Repetition« of Modernity, forword by John Michael Krois, Albany, NY, 2000, 35 – 4 2. 105 »Nur wenn wir uns alle Glieder des Geschehens durch notwendige Relationen verknüpft denken, können wir irgendeine einzelne Phase, die wir herausheben, als Darstellung und Symbol des Gesamtprozesses und seiner durchgehenden Regel brauchen.
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dieses Grundmotiv von Cassirers holistischer Sinntheorie weiter. Trotz aller Momente der Kontinuität stellt die Einführung des Symbolischen aber zugleich eine entscheidende Diskontinuität dar. Der Begriff des Symbolischen hat zunächst den eigentümlichen Vorzug, unbestimmt genug zu sein, um jenseits der Erkenntnis andere Formen der Erfahrung einzuschließen und die Erkenntnis als eine seiner Spezifikationen unter sich zu begreifen. Die Philosophie Cassirers öffnet sich so Erfahrungen diesseits der Erkenntnis, die vorgängige Bedingungen der Erkenntnis entwickeln oder eigenständige, von der Frage der Erkenntnis unabhängige Formen der Erfahrung ausbilden können. Cassirers Analyse der Repräsentation und Zeitlichkeit des Bewusstseins setzt somit einen neuen Akzent, da sie inhärente Strukturen der Erfahrung recht ausführlich beschreibt, ohne diese von vornherein auf das Telos der Erkenntnis zu beziehen. Der Anstoß zur systematischen Erweiterung: Cassirers Geschichte der Ästhetik Die systematische Öffnung von Cassirers Philosophie war keineswegs ohne Anlass. Vielmehr sprechen viele Gründe dafür, dass es Freiheit und Form von 1916 war, von dem ein wesentlicher Impuls ausging.106 Denn diese ideengeschichtliche Studie erschließt unter anderem anhand der Geschichte der Entstehung der Ästhetik zumindest mittelbar ein Feld von Phänomenen, das Cassirers erkenntniskritischen Arbeiten weitgehend fremd gegenüberzustehen scheint und daher eine systematische Erweiterung erforderlich machte. Dabei bewegt sich Cassirers historische Studie konzeptionell noch weitgehend im gedanklichen Horizont von Substanzbegriff und Diese symbolische Bedeutung aber ist es, die jeder Induktionsschluß für sich in Anspruch nimmt: Die einzelne Bestimmung selbst, die der sinnliche Eindruck darbietet, wird ihm zur Norm, die in dem gedanklichen Aufbau der empirischen Wirklichkeit als dauernder Grundzug erhalten bleiben muß.« (ECW 6, 266) Ähnlich wird »der einzelne gegebene Eindruck« durch die Erkenntnis »zum Symbol der durchgehenden systematischen Verfassung, innerhalb deren er steht und an welcher er in bestimmtem Maße teil hat« (ebd., 303). Und nochmals ähnlich: »Jedes Einzelglied der Erfahrung besitzt insofern symbolischen Charakter, als in ihm das Gesamtgesetz, das die Allheit der Glieder umschließt, mitgesetzt und mitgemeint ist. Das Besondere erscheint als Differential, das ohne den Hinweis auf sein Integral nicht völlig bestimmt und verständlich ist.« (Ebd., 324) 106 Vgl. zum Folgenden den außerordentlich lesenswerten Aufsatz von Fabien Capeillères, »Postface«, in: Ernst Cassirer, Écrits sur l’art. Éditions et Postface par Fabien Capeillères, Présentation par John M. Krois, Paris 1995, 193 – 253, bes. 205 f., sowie vor allem mit Blick auf die Rolle Goethes Edward Skidelsky, Ernst Cassirer. The Last Philosopher of Culture, Princeton und Oxford 2008, 76 – 78.
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Funktionsbegriff. Denn bereits im titelgebenden Verhältnis von Freiheit und Form wird der Bestand des Subjekts zum einen auf dessen spontane Tätigkeit zurückgeführt, zum anderen aber zugleich mit dem objektiven Bestand seiner Erzeugnisse vermittelt und in ihnen gleichsam verankert. Demzufolge setzt Freiheit nicht nur voraus, dass ein ›Inneres‹, das als frei gelten kann, sich prinzipiell auch ›äußern‹ muss. Freiheit definiert sich vielmehr dadurch, dass ein ›Inneres‹ seinen Bestand in einem ›Äußeren‹ erlangt, das es selbst schafft und in dem es sich zugleich selbst bindet: »der Gegensatz des ›Äußeren‹ und ›Inneren‹ ist in eine reine Korrelation aufgelöst«107. Freiheit und Form spricht systematisch – trotz der stärkeren Betonung der subjektiven Spontaneität und der ganz anderen, geistesgeschichtlichen Thematik – durchaus noch dieselbe Sprache wie Substanzbegriff und Funktions begriff: »Der schematische Gegensatz zwischen dem bloß Innerlichen und dem bloß Äußerlichen ist damit aufgehoben. Alles bloß ›Subjektive‹, in der reinen Innerlichkeit Beschlossene, gewinnt die Sicherheit seines eigenen Bestandes nur, indem es diesen Bestand objektiviert und gleichsam aus sich selbst heraussetzt.«108 Die Durchführung dieses Grundgedankens geht aber einen entscheidenden Schritt über die erkenntniskritischen Schriften hinaus, weil sich Cassirers »Studien zur deutschen Geistesgeschichte«, so der Untertitel von Freiheit und Form, nicht auf das ›Erkenntnisproblem‹ beschränken.109 Sie beziehen unterschiedliche kulturelle Felder in die Darstellung ein, um nachzuweisen, dass das im Zentrum stehende Freiheitsverständnis »eines der allgemeinsten Motive der deutschen Geistesgeschichte« ist. Es besteht in aller Allgemeinheit darin, auf eine freie und produktive Subjektivität zurückzugehen, um sie »als Träger eines neuen, wahrhaft objektiven Gehalts«110 ECW 7, 92. ECW 7, 132 f. 109 Diese Öffnung der Thematik ist, wie an dieser Stelle klargestellt werden muss, aber auch den ersten beiden Bänden von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wis senschaft der neueren Zeit von 1906/07 keineswegs völlig fremd, da Cassirer die Frage der Erkenntnis immer wieder in den breiteren Zusammenhängen der Kultur verortet. Vgl. exemplarisch das Kapitel zu Montaigne in ECW 2, 143 ff. 110 Im Zusammenhang zitiert: »In Lessings Lehre vom Genie prägt sich wiederum eins der allgemeinsten Motive der deutschen Geistesgeschichte aus. Die Betrachtung geht von dem bloßen Werk zum Ursprung des Werks und zum ›Werkmeister‹ zurück. Wieder scheinen wir damit in den Kern der reinen Subjektivität zurückgeführt zu sein: Aber wieder erweist sich diese Subjektivität vielmehr als Träger eines neuen, wahrhaft objektiven Gehalts. Die Wendung zum Subjekt ist daher bei Lessing alles andere als die Wendung zu irgendeiner Form des ›Subjektivismus‹; denn was ihn treibt, vom ›Äußern‹ in das ›Innere‹ zurückzugehen; das ›Schicksal‹ im ›Charakter‹, die Regel im Genie zu gründen, ist seine Forderung einer durchgängigen, aller bloßen Laune und allem Zufall entzogenen Bestimmtheit im Geschehen und Schaffen. Auch hier wird die konventionelle 107 108
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aufzufassen. Dieses Motiv diskutiert Cassirer in so verschiedenen Feldern wie der Philosophie von Leibniz bis zum Deutschen Idealismus,111 der Lite ratur von Lessing über Goethe bis Schiller112 und der Staatstheorie vom Spätmittelalter bis zu Hegel.113 Die Begriffe des ›Inneren‹ und ›Äußeren‹ sowie des sie vermittelnden spontanen Akts erfahren dabei unterschiedliche und über die Erkenntnis weit hinausgehende Konkretisierungen: von Leibniz’ Ausdruck einer individuell bestimmten Substanz in konkreten Phänomenen oder seine ontologische Bestimmung des Verhältnisses von Leib und Seele114; über Kants Auffassung der Objektivität des Gegenstands der Erkenntnis als Ausdruck der Notwendigkeit gedanklicher Verknüpfungen und die Bindung des freien Willens durch die Form des selbstgesetzten Gesetzes in der praktischen Philosophie;115 bis hin zu Herders Konzeption einer lautsprachlichen und zeichenhaften Äußerung, durch die die Empfindung wie ihr Gegenstand festgelegt wird116 , oder Goethes Verständnis der »Form seines Lebens, […] der Form seiner Lyrik, und […] der Form seiner Naturbetrachtung und seiner objektiven Naturforschung«, in denen sein Schaffen einen objektiven Ausdruck findet und sich auf diesem Wege selbst reflektiert117. Es ist somit eine recht disparate Vielfalt von Phänomenen, die in Cassirers geistesgeschichtlicher Studie nach den Maßgaben einer an Substanz begriff und Funktionsbegriff angelehnten Heuristik erschlossen werden. Religion, Philosophie, Literatur und politisches Denken – die nebenbei ganz im Stile von Substanzbegriff und Funktionsbegriff auch als »Reihen« bezeichnet werden118 – sollen in ihrer je eigenständigen und spezifischen EntForm zerschlagen, um die echte und tiefere, in der Freiheit gegründete Form hervorgehen zu lassen.« (ECW 7, 110 f.) 111 Vgl. mit Bezug auf Leibniz ECW 7, 42 und 52 f., anhand von Kant ebd., 159 und 170 f., sowie bezüglich Fichte ebd., 357 – 359. 112 Vgl. hinsichtlich Lessing ECW 7, 109, mit Bezug auf Goethe ebd., 195 und 199, sowie zu Schiller ebd., 306. 113 Vgl. das ganze letzte Kapitel »Freiheitsidee und Staatsidee« in ECW 7, 319 ff. 114 Vgl. ECW 7, 53 und 86 f. 115 Vgl. ECW 7, 159 f., 170 f. und 176. 116 Vgl. ECW 7, 132 – 135. 117 Vgl. ECW 7, 185 f. 118 »Denn hier handelte es sich nicht um die Durchführung eines abstrakten geschichtsphilosophischen Satzes, der erst nachträglich an den besonderen Tatsachen geprüft werden sollte, sondern um die konkrete Anschauung dieser Tatsachen selbst und ihres geistigen Zusammenhangs. Wie die Grundmotive, die in der deutschen Religionsgeschichte und in der deutschen Philosophiegeschichte, in der Geschichte der deutschen Dichtung und in der des Staatsgedankens heraustreten und die zunächst rein in dieser Ablösung wirksam zu sein scheinen, sich miteinander verknüpfen – ob zwischen ihnen irgendeine übergreifende Einheit anzunehmen ist oder ob jede dieser Reihen für sich steht
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faltung betrachtet werden und zugleich den mehr oder minder kohärenten Zusammenhang einer ›deutschen Geistesgeschichte‹ bilden. Der Herausforderung, eine einheitliche historische Entwicklung zu beschreiben und zugleich die Vielfalt der betrachteten Felder zu erhalten, widmet Cassirer in der »Einleitung« von Freiheit und Form eine kurze methodische Erörterung. Die beiden titelgebenden Begriffe bilden Cassirer zufolge gleichsam eine vermittelnde Ebene, die es erlauben soll, die verschiedenen kulturellen Felder aufeinander zu beziehen und zugleich ihre jeweilige Spezifik herauszustellen: »Durch diese Kategorien [von Freiheit und Form, A. S.] sollte gleichsam eine gemeinsame Beziehungsfläche bestimmt werden, auf welche die religiöse, die philosophische, die literarische Entwicklung gleichmäßig projiziert wurden, um damit ebensowohl das Spezifische ihrer eigentümlichen Gesetze wie den universellen Zusammenhang, in welchem sie stehen, hervortreten zu lassen.«119 Cassirer geht aber noch einen Schritt weiter, wenn er in diesem Zusammenspiel von universeller Geistesgeschichte und der Entwicklung der spezifischen Felder nicht nur ein methodisches Problem der Geschichtsschreibung ausmacht, sondern ein wesentliches Bewegungsmoment der Geschichte selbst. Dass jedes kulturelle Feld seinen eigenen Gesetzen gehorcht, führt Cassirer zufolge nicht zu einer losgelösten Autarkie oder einer einseitigen Dominanz eines einzelnen Feldes. Vielmehr befördert dies die historische Entfaltung der »relativen Einheit jenes Ganzen, das wir als die moderne Geisteskultur bezeichnen«, weil jedes kulturelle Feld seine Autonomie im kulturellen Zusammenhang ausübt und damit zur Bildung der kulturellen Einheit in ihrer Vielfalt beiträgt.120 Cassirer sieht in dieser Entwicklung ein Charakteristikum der Moderne und schließt und lediglich aus sich zu begreifen ist: das ist das Problem, das hier vor allem zur Entscheidung stand.« (ECW 7, 390) Vgl. eine parallele Stelle mit Bezug auf die wissenschaftliche Entwicklung in ECW 6, 287 – 289. 119 ECW 7, 390. 120 »Denn ebendies ist das Gesetz, unter dem die geschichtliche Entwicklung steht, daß der Gedanke der Autonomie des Geistigen, sofern er in ihr überhaupt erfaßt wird, sich zunächst nur innerhalb eines bestimmten und eingeschränkten Einzelkreises betätigen und verwirklichen kann. Indem eine einzelne Sphäre, wie etwa die des Religiösen, sich zum Bewußtsein ihrer Selbständigkeit erhebt, nimmt sie für sich zugleich allumfassende und absolute Geltung in Anspruch, schließt aber eben damit all das, was außerhalb ihrer selbst liegt, von diesem Prozeß der Selbstbefreiung aus. Jede positive Bestimmung schließt demnach, in dieser realen geschichtlichen Entwicklung, zugleich eine negative in sich; jede Lösung spricht sich zugleich als eine neue Bindung aus. Erst indem die Grundforderung der Autonomie sich aus dieser Beschränkung wieder in ihrer Totalität herstellt, indem sie innerhalb jedes Sondergebiets von neuem gestellt und durchgefochten wird, ergibt sich aus dem Gegeneinander dieser Bewegungen die relative Einheit jenes Ganzen, das wir als die moderne Geisteskultur bezeichnen. Wie dieser Kampf sich in der deutschen Geistesgeschichte äußert und widerspiegelt, wie hier die Kräfte, die in ihm wirksam
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sich damit verbreiteten Differenzierungstheorien an, wobei er wie diese eine allzu simple Vorstellung vom hierarchischen Weltbild und gesellschaftlichen Strukturen des Mittelalters in Kauf nimmt. Für den hier verfolgten Gedankengang ist jedoch von größerer Bedeutung, wie Cassirer die ›Kategorien‹ Freiheit und Form methodisch rechtfertigt. Sie sollen es erlauben, in der Darstellung von den verschiedenen Entwicklungen in Religion, Philosophie, Literatur und politischem Denken zugleich »das Spezifische ihrer eigentümlichen Gesetze wie den universellen Zusammenhang, in welchem sie stehen, hervortreten zu lassen«.121 Die Einführung des Symbolischen in der Disposition von 1917 verfolgt in systematischer Hinsicht ein ähnliches Ziel. Denn auch ›das Symbolische‹ fungiert als eine solche ›Kategorie‹, die zuallererst den Zweck hat, die verschiedenen kulturellen Felder jenseits der Erkenntnis auf ihre allgemeinen und gemeinsamen Bedingungen zu beziehen und doch zugleich ihre jeweilige und irreduzible Spezifik zu bewahren. Der Begriff des Symbolischen schien Cassirer vielleicht gerade deshalb geeignet, weil er relativ unbestimmt ist und daher verschiedene Phänomene einbegreifen kann, ohne ihre Spezifik auf gemeinsame Strukturen zu reduzieren. Der Begriff des Symbolischen stellt demnach eine konzeptionelle Antwort auf die methodischen Herausforderungen dar, die Cassirers Freiheit und Form vor allem durch seine Materialfülle mit sich brachte. Sollten die Phänomene, die in dieser historischen Studie erschlossen wurden, in die Philosophie Cassirers auch systematisch einbezogen werden, war zunächst die Infragestellung des erkenntniskritischen Primats des wissenschaftlichen Begriffs unvermeidlich. Sodann drängte sich die Frage auf, wie die behandelten erkenntnistheoretischen, ästhetisch-literarischen und ethisch-religiö sen Phänomene sowohl in ihrer Vielfalt als auch in ihrem wechselseitigen Zusammenhang, ebenso in ihrer jeweiligen Spezifik wie in ihren gemeinsind, nach und nach erkannt und zum klaren Bewußtsein ihrer selbst erhoben werden, sucht diese Schrift im einzelnen zu schildern.« (ECW 7, 392 f.) 121 Wie im ersten Kapitel des Bandes deutlich wird, kann für diesen Ansatz – wie so oft bei Cassirer – durchaus Leibniz Pate gestanden haben: »Leibniz hingegen bewährt in seinem Entwurf der ›Scientia generalis‹, der seine Philosophie von Anfang bis zum Ende begleitet, den Gedanken, der seinem System eigentümlich und wesentlich ist. Dies Allgemeine, das er sucht, soll das Besondere nicht zum Verschwinden bringen, sondern es in seiner selbständigen Bedeutung bestehenlassen und begründen. Die Einheit des Wissens fordert die Entfaltung in eine Fülle und Mannigfaltigkeit wissenschaftlicher Formen, deren jede einem spezifischen Gesetz untersteht.« (ECW 7, 26) Vgl. zu diesem Verhältnis Massimo Ferrari, »Symbol und Ausdruck. Die Leibnizschen Quellen der Philosophie der symbolischen Formen«, in: Ferrari, Cassirer, 163 – 182. Allerdings erscheint Kant in einer ähnlichen Perspektive, vgl. ECW 7, 152 und 160, worauf ich im zweiten Kapitel zurückkommen werde.
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samen Charakteristika zu fassen wären. Es ist wohl diese methodische Herausforderung, die Cassirer im Ausgang von den vertrauten Begriffen nach neuen, umfassenderen Konzeptionen suchen und ihn auf die zunächst recht unbestimmte, der Spezifikation aber zugängliche und der Heuristik zuträgliche Kategorie des Symbolischen zurückgreifen lässt. Mit Blick auf die erste Disposition der »Philosophie des Symbolischen« lassen sich daher die Beobachtungen aus Ernst Wolfgang Orths nach wie vor maßgeblichem Aufsatz zum operativen Einsatz der Begriffe in Cassirers Kulturphilosophie nur bestätigen. Denn der Begriff des Symbolischen ist, wie Orth an den veröffentlichten Schriften belegt, nicht zuallererst oder vorwiegend Gegenstand der philosophischen Reflexion. Er fungiert eher operativ und entspricht den verfolgten »sachlichen Erfordernissen«: »Diese Philosophie will die Vielfalt kultureller Erscheinungen, unter denen die unterschiedlichsten Wissenschaften eine große Rolle spielen, sowohl re spektieren als auch den Sinn kultureller Einheit verständlich machen.«122 Es ist der operative Begriff des Symbolischen, der diesem Vorhaben Rechnung tragen und damit konzeptionelle Konsequenzen aus Freiheit und Form ziehen soll. Die historische Studie hatte aufgrund ihres Materialreichtums nicht nur den Blick auf andere und neue Phänomene gelenkt. Sie hatte auch eine Revision der Grundlagen von Cassirers Philosophie erforderlich gemacht, deren neuer, weiterer Horizont durch den nur selten thematischen und eher vagen Begriff des Symbolischen provisorisch entworfen wird. Die »Logik des Symbolischen«: Die spezifische Form des logischen Begriffs In den vorangehenden Abschnitten wurde gezeigt, wie Cassirer die Grundzüge seiner Theorie des wissenschaftlichen Begriffs in der Konzeption des Symbolischen verallgemeinert. Der Begriff gab das Vorbild für das Symbolische ab und findet sich in der Konsequenz als eine Form der Symbolisierung unter anderen wieder.123 Die Stichpunkte zur »Logik des Symbolischen« 122 Ernst Wolfgang Orth, »Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hg. von Hans-Jürg Braun, Helmut Holzhey und Ernst Wolfgang Orth, Frankfurt a. M. 1988, 45 – 74, hier 48. 123 Gut zehn Jahre später wird Cassirer diese enge Beziehung des Symbolischen zum Begriff explizit benennen: Der Begriff hat sich, so Cassirer in Entgegnung auf eine Kritik an seiner Theorie des Begriffs, als Teil des weiteren »allgemeinen Bedeutungsproblems« der Philosophie der symbolischen Formen erwiesen, aber auch als »besondere Provinz innerhalb der Region der theoretischen Bedeutung« nehmen die »›exakten‹ Begriffe« die
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eröffnen damit eine Folge von Abschnitten, die unter Annahme eines allgemeinen, selbst kaum thematischen Symbolbegriffs konkrete Spezifikationen des Symbolischen charakterisieren sollen. Naheliegenderweise wählt Cassirer dabei solche Felder, die ihm zum einen aus seinen früheren Arbeiten vertraut sind und die daher zum anderen ohne weitere Vorarbeiten im Hori zont des neuen Projekts probeweise erneut verhandelt werden können: Es sind zum einen die Theorie des wissenschaftlichen Begriffs und die Ana lysen der exakten Wissenschaften aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff, die im Rahmen des symbolphilosophischen Projekts nochmals betrachtet werden; zum anderen sind es die Ästhetik und die Künste, denen sich bereits Freiheit und Form historisch gewidmet hatte, die nun als konkrete Formen des Symbolischen auch systematisch neu diskutiert werden. Dem Abschnitt zur »Logik des Symbolischen« und knappen Stichpunkten zum »System der exakten Wissenschaften« sowie zur »Allgemeinen Erkenntnislehre« folgt so ein Abschnitt zur Ästhetik und den Künsten. In den Stichpunkten zur »Logik des Symbolischen« bemüht sich Cassirer zuallererst um eine Klärung des Status dieser ›Logik‹. Gleich zu Beginn des Abschnitts setzt er sie deshalb von der »symbolischen Logik« ab: Es handle sich hier nicht um eine mathematische Logik und ihren Gebrauch von Zeichen, sondern um eine philosophische Lehre vom Begriff, die von jener schon vorausgesetzt werden müsse. Diese Abgrenzung schließt kaum überraschend an ein Verständnis von Logik an, das bei Cassirer wie seinen Lehrern an der »Transzendentalen Logik« in Kants Kritik der reinen Ver nunft orientiert ist und die Korrelation des Erkennens und des Erkannten ins Zentrum rückt.124 Die eigentliche Pointe Cassirers ist aber, dass diese Korrelation in letzter Instanz nicht mehr, wie Kant und seine eigenen erkenntniskritischen Schriften annahmen, durch die Funktion des Begriffs gewährleistet wird, sondern zuallererst als eine Leistung des Symbolischen zu begreifen ist. Es gilt daher, so Cassirer, »das ›symbolische‹ Moment als Kon- / stituens des Logischen selbst, also als Moment / der Begriffsfunktion selbst als solcher einzusehen!«125 Anders gesagt handelt es sich bei der »Logik des Symbolischen« um eine Theorie des wissenschaftlichen Begriffs, die ihn ausgehend vom Symbolischen konzipiert. Cassirer stellt so in einer Parenthese fest: »Genau analog, wie zuvor im Psychologischen: / nicht die Rolle des Symbolischen im / Seelenleben, sondern als Bedingung maßgebliche Rolle des »Paradigmas« für das umfassende »Ganze des Sinns überhaupt« ein, vgl. Ernst Cassirer, »Zur Theorie des Begriffs. Bemerkungen zu dem Aufsatz von Georg Heymanns«, in: ECW 17, 83 – 91, hier 84. 124 Vgl. KrV, A 57/B 81 f., und ECW 8, 166 – 169. 125 Disposition 1917, 10, vgl. auch die folgenden Zitate ebd., 10 f.
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des ›Seelischen‹ / als ein Definitionsmoment von ihm – / ebenso nicht das Symbolische, sein Gebrauch / und seine Fruchtbarkeit in der Logik, sondern / als fundamental für Problem u. Aufgabe der / Logik selbst«. Folglich gilt es zum einen zu zeigen, dass der wissenschaftliche Begriff im Symbolischen seine allgemeine Bedingung hat, und zum anderen auszuführen, wie der logische Begriff als eine spezifische Form der Symbolisierung zu charakterisieren ist. Die erste Aufgabe geht Cassirer an, indem er auf die Konzeption der Repräsentation zurückgreift, die er einst am mathematischen Begriff entwickelt hatte. Diese Repräsentation erläutert er unter dem Zwischentitel »a) Das Begriffsproblem« daher auch im Rekurs auf die altbekannte »konstitutive Reihenfunktion, der Inbegriff / der Beziehung von Glied zu Glied«, ohne den Verweis auf seine maßgebliche und in diesen Zeilen gegenwärtige erkenntniskritische Schrift zu vergessen: »Allgemeine Begriffstheorie (vgl. Substanzbegriff u. / Funktionsbegriff!)«. Der Begriff begründet folglich nach wie vor Repräsentationen – die Repräsentation versteht Cassirer nun aber als Leistung des Symbolischen und als Charakteristikum des Psychischen im Allgemeinen, wie er im vorangehenden Abschnitt der Disposition ausgeführt hatte. Daher muss sich der Begriff gerade in seiner vertrauten Funktion, Repräsentationen zu begründen, nun als abhängig vom Symbolischen erweisen, das für die Repräsentation im Allgemeinen verantwortlich zeichnet. Diese Argumentation basiert wesentlich auf einer systematischen Deutung der Entwicklung der Konzeption des Symbolischen aus der des Begriffs: Weil Cassirer das Symbolische als eine Verallgemeinerung des Begriffs konzipiert, muss der Begriff als eine Form des Symbolischen verstanden werden.126 Als größere Herausforderung erweist es sich, den Begriff in der Logik nicht nur als eine Form der Repräsentation oder des Symbolischen überhaupt zu verstehen, sondern ihn als eine ihrer spezifischen Formen konkret zu charakterisieren. Diese Aufgabe ist wiederum eine systematische Konsequenz der Einführung des Symbolischen, muss aber zugleich als Ausdruck einer veränderten Perspektive auf den Begriff verstanden werden. In 126 Zur Charakterisierung der Repräsentation mit Blick auf die ›Logik‹ führt Cassirer einen weiteren Begriff ein, der traditioneller Weise mit dem Begriff der Repräsentation, aber auch mit der Bedeutung des Symbolischen verbunden ist: das Zeichen. Cassirer legt dabei größten Wert darauf, dass es mit dem Begriff des Zeichens nicht um eine bloße Bezeichnung eines unabhängig vom Zeichen Gegebenen geht, was er zuvor Leibniz und Lambert entgegenhielt: »Selbst Leibniz[’] Entwurf der allgemeinen Charak- / teristik oder Lamberts Semiotik scheint hierüber / nicht hinaus zu gehen. / Beides sind Entwürfe zu einer Zeichensprache, / wenn die Begriffe schon anderweitig gegeben, / bekannt sind« (Disposition 1917, 9). Dagegen fordert Cassirer: »die objektivierende Funktion und Bedeutung des / ›Zeichens‹ muss erkannt sein!« (Ebd., 11) Ich lasse diesen neuen Aspekt an dieser Stelle einer geordneten Entfaltung des Gedankengangs halber aus.
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Substanzbegriff und Funktionsbegriff hatte Cassirer in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen immer wieder zu zeigen versucht, dass die jeweils zentralen Begriffe als Reihen- und Funktionsbegriffe zu verstehen sind, ohne sich für ihre spezifischen Unterschiede zu interessieren.127 In der »Logik des Symbolischen« erscheint der logische Begriff dagegen selbst als eine Form der Symbolisierung neben anderen. Cassirer arbeitet zudem heraus, wie unterschiedliche Begriffe zwar prinzipiell auf dieselbe Weise, aber auf unterschiedlichen Relationen aufgebaut werden. Da das »›Reihenprinzip‹, auf welchem der Begriff beruht, / an und für sich von ganz verschiedener Art / sein kann«128 , treten die spezifischen Differenzen zwischen unterschiedlichen Begriffen in den Fokus. Cassirer nennt unter dem Zwischentitel »b) Die Logik der Subsumtion« unter anderem »Dingbegriffe und Tätigkeitsbegriffe / Gegenstandsbegriffe u. Zahlbegriffe« als Beispiele, um auf ihr jeweils eigenes »spezifisches Aufbaugesetz« hinzuweisen: Dingbegriffe entstehen so aus der »Substanz-Kategorie« (etwas hat eine Eigenschaft), Zahlbegriffe aus der »Ordnungskategorie« (etwas folgt etwas anderem). Cassirer folgert: »Die so entstandenen Begriffsgruppen sind also zunächst auseinanderliegend, ›heterogen‹.« Diese prinzipielle ›Heterogenität‹ der Begriffe eröffnet gegenüber Cassirers erkenntniskritischer Theorie eine neue Perspektive, die nicht allein auf die Funktion des wissenschaft lichen Begriffs überhaupt, sondern auf seine spezifischen, unterschiedlichen Formen abstellt. Diese ›Heterogenität‹ der Begriffe bildet nun den Hintergrund, um die spezifische Leistung logischer Begriffe zu charakterisieren. Wie Cassirer mit Blick auf simple, dem Alltag entnommene Beispiele wie das Zählen, in dem unterschiedlichste Dinge aufeinander bezogen werden müssen, ausführt, macht die formale Logik Begriffe nämlich vergleichbar, indem sie sie auf »ein ursprünglich-Homogenes« bezieht.129 Sie bedient sich dazu der »An- / schauung des Raumes«130 , um alle Begriffe auf ihre bloße Extension Es erscheint mir daher auch durchaus fragwürdig, mit Blick auf Substanzbegriff und Funktionsbegriff von einem »Systemprogramm« (Kreis, Cassirer, 110) zu sprechen. Ein solcher Eindruck entsteht in Kreis’ Darstellung in erster Linie dadurch, dass er das frühere erkenntniskritische Werk retrospektiv als ein »Systemteil der Philosophie der symbolischen Formen« (ebd., 98) auffasst. 128 Disposition 1917, 12, vgl. die folgenden Zitate in diesem Absatz ebd., 12 – 14. 129 »Aber da es sich ständig um ihre wechselseitige Beziehung / handelt (da z. B. ›Dinge‹ - ›gezählt‹ / werden, also Dingbegriffe u. Zahlbegriffe synthetisch / aufeinander bezogen werden) so stellt sich / damit für die Logik das Bedürfnis heraus, / diese Hetero genität zu überwinden, indem wir / sie auf ein ursprünglich-Homogenes / beziehen.« (Disposition 1917, 13 f.) 130 Disposition 1917, 14. Bezüglich der Beschaffenheit dieses Raumes wirkt Cassirers Argumentation durchaus tastend. Zum einen hebt er ihn als »metrischen Raum« 127
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zurückzuführen: »Hieraus erklärt sich, daß von den Begriffen / – abgesehen von aller Verschiedenheit ihres ›Ursprungs‹ / ihrer ›Bedeutung‹ und ihrem erzeugenden Gesichts- / punkt (erzeug. Kategorie) – nur ihr Umfang / (also ihr reines Grössenverhältnis) festgehalten / wird«.131 Cassirer schreibt der formalen Logik somit die Leistung zu, eine »›Homogenität‹ der / Begriffe«132 herzustellen, ohne die schon das einfachste Zählen nicht erklärbar wäre. Diese Leistung der formalen Logik könnte angesichts von Cassirers neuer Betonung der unterschiedlichen »Form des spezifischen Zuordnungs- / gesetzes« der Begriffe problematisch erscheinen. Cassirer geht es jedoch nicht darum, die Rückführung heterogener Begriffe auf prinzipiell vergleichbare Extensionen beispielsweise als eine problematische Abstraktion zu kritisieren. Vielmehr kommt es ihm darauf an, die formale Logik selbst durch ihr spezifisches Formgesetz zu fassen und damit den Gedanken der konkreten Spezifikation der Begriffe konsequent durchzuführen. Die Abstraktion von der spezifischen Erzeugung der Begriffe begreift Cassirer deshalb gerade als die spezifische ›Form‹ der formalen Logik und der ihr eigenen Begriffe: »Bei diesem blossen Abstraktionsmoment bleibt / die sogenannte ›formale‹ Logik stehen: ihre / ›Form‹ besteht eben darin, daß sie von der / spezifischen Form der Begriffe abstrahiert (wie / die Zahl sich nicht um das ›Gezählte‹ kümmert)«. Diese Beschreibung lässt die neue Perspektive auf die »Logik des Symbolischen« deutlich hervortreten: Erstens akzentuiert Cassirer auf der Grundlage der Begriffstheorie von Substanzbegriff und Funktionsbegriff die konkrete Vielfalt der Begriffe; zweitens rückt er damit deren jeweilige ›spezifische Form‹ ins Zentrum, die in der Entstehung der Begriffe durch verschiedene ›Reihenprinzipien‹ und ›erzeugende Relationen‹ begründet vom »qualitativ-differenzierten ›psychologischen‹ Raum« (ebd.) ab, zum anderen beschränkt er diesen metrischen Raum auf »das Grösser und Kleiner, In- und Auseinander überhaupt« (ebd., 15), das alle genaueren Verhältnisse, die eine Metrik auszeichnen, außer acht lässt und letztlich eher auf mengentheoretische Relationen hinauszulaufen scheint. Cassirers Ausführungen bleiben in dieser Hinsicht auffällig unpräzise. 131 Disposition 1917, 14. Diese Beschreibung setzt natürlich voraus, dass »Begriffsform« und »Raumform« unterschiedliche und spezifische Formen sind, und geht darin bereits über Substanzbegriff und Funktionsbegriff hinaus. Dort hatte Cassirer aus der relationalen Verfasstheit des Raums – retrospektiv gesehen in Ermangelung der gerade dargestellten Differenzierungen – dagegen gefolgert, dass auch der Raum von logischbegrifflicher Struktur sei. In der Disposition von 1917 kann er den Raum in seiner rela tionalen Verfasstheit dagegen von der Form des wissenschaftlichen Begriffs absetzen, weil es verschiedene Relationen sind, die Raum und Begriff erzeugen und ihre Heterogenität begründen. Ich werde auf diesen Aspekt nochmals ausführlicher zu sprechen kommen. 132 Disposition 1917, 15, vgl. dort auch die folgenden Zitate.
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liegt; drittens beschreibt er die formale Logik selbst als eine ›Form‹, die gerade durch die Abstraktion von der spezifischen Form der Begriffe zugunsten der Betrachtung ihres bloßen Umfangs charakterisiert ist. Es ist diese Form der Logik, die Cassirer nun nicht nur explizit als symbolisch bezeichnet: »Die Logik erreicht somit die ›Homogenität‹ der / Begriffe, durch die symbolische Darstellung aller / Begriffsverhältnisse in reinen Raumverhältnissen«.133 Cassirer begreift sie auch als eine »spezielle Anwendung / des Symbolischen (die durch Beziehung der ›Begriffsform‹ / auf die ›Raumform‹, also durch eine spezifische / Zuordnung zu Stande kommt).«134 Eine solche ›Darstellung‹ mag auf einer ›höheren‹ Ebene operieren als die spezifischen Formen der Begriffe, von denen sie abstrahiert.135 Sie erweist sich aber selbst als eine spezifische Form, die darin besteht, spezifische Begriffe auf ihre Extension zu reduzieren. Cassirers neues Interesse an den verschiedenen Spezifikationen des Symbolischen schärft somit auch das Gespür für die spezifische Charakteristik von Begriffen und verbindet sich in den Stichpunkten zur »Logik des Symbolischen« mit der Rede von ›Form‹, die an frühere, wenn auch oft eher beiläufige Formulierungen anknüpft. In Substanzbegriff und Funk tionsbegriff spielt das Wort sicherlich keine terminologische Rolle, dennoch spricht Cassirer gelegentlich von der »Reihenform«136 , wo er sich auf die allgemeinen strukturellen Bedingungen des Erkennens wie des Erkannten bezieht. In ähnlicher systematischer Perspektive sind Wortbildungen wie »Formbegriffe«137 oder »Begriffsform«138 zu sehen, die mitunter Anleihe nehmen bei Kants Begriff der Form.139 In Freiheit und Form erfahren diese Disposition 1917, 15. Wohl mit Bezug auf die spezifischen Unterschiede der Begriffe und ihre Reduktion auf vergleichbare Umfänge charakterisiert Cassirer diese »symbolische Darstellung« auch als ›nur-symbolisch‹: »Das Raumbild ist das völlig genügende / Symbol für alle Verhältnisse, die hier in / Betracht kommen, aber es ist freilich nur- / Symbol !« (Disposition 1917, 16) 134 Disposition 1917, 17. 135 »Für uns drängt / sich hier die allgemeine Betrachtung auf, daß die / Symbolfunktion uns in ganz verschiedenen Phasen / (und sozusagen in verschiedenen ›Höhenlagen‹) ent- / gegentreten kann.« (Disposition 1917, 17) 136 Vgl. ECW 6, 25 f., sowie zur »Systemform« ebd., 41. 137 »Der Versuch, das Ganze der Erkenntnis in systematischer Einheit darzustellen, endet in letzten Formbegriffen, die die möglichen Weisen der Beziehung zwischen Inhalten überhaupt zum Ausdruck bringen.« (ECW 9, 151) 138 »[…] eben darin liegt das eigentliche Problem, daß die Mathematik keineswegs ein ›logisches Unikum‹ ist und bleibt, sondern daß sie mit der ihr eigentümlichen Begriffsform fortschreitend auch die ›besonderen‹ Naturwissenschaften erfüllt.« (ECW 6, 250 f., Anm. 234) 139 So spricht Cassirer in Kants Leben und Lehre vom »transzendentalen Begriff der Form« und bezieht sich damit sowohl auf die »›Formen‹ der reinen Anschauung« als 133
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Wortbildungen eine ungeheure Vermehrung, aber auch eine sachliche Ausweitung. Denn sie bezeichnen nun in verschiedensten Feldern der Kultur ebenso ubiquitär wie unscharf alle möglichen formalen Bestimmungen von etwas, das von ihnen bestimmt wird oder sich durch sie bestimmt. Das auto nom gesetzte Gesetz in Kants praktischer Philosophie wird so als »Form des Willens« verstanden, die Natur in seiner theoretischen Philosophie im Sinne der Erscheinung als »Form des Objekts«; die Person Goethes vereint dagegen eine »Form der künstlerischen Gestaltung« mit einer »neuen Form des geistigen Daseins überhaupt«, während sich ein ›Volk‹ dem politischen Denken des Deutschen Idealismus zufolge in der »Form des Staates« wiederfinden soll.140 In Freiheit und Form zieht Cassirer den Formbegriff somit heran, um die verschiedensten Möglichkeiten der Sinnbildung zu bezeichnen, in denen ein spontanes Bilden sich auf spezifische Weise in einem Gebilde äußert und reflektiert. Was in den erkenntniskritischen Schriften nur der Begriff zu leisten imstande schien, wird jetzt auf verschiedenen Ebenen diversen spezifischen Formen zugetraut. Der Begriff der Form erfuhr dadurch eine Ausweitung, die ihn zugleich mit der konkreten Vielfalt der vorfindlichen Formen verknüpft. An diese sprachliche wie konzeptionelle Entwicklung schließt die Disposition von 1917 offenbar an. Wie die obigen Zitate belegen, nutzt Cassirer in der »Logik des Symbolischen« den Begriff der Form, um die Vielfalt der spezifischen Begriffe zu bezeichnen und insbesondere den logischen Begriff als eine Form zu charakterisieren, die von den verschiedenen Formen der Begriffe absieht. Als Formen begreift Cassirer aber nicht nur die verschiedenen Begriffe, sondern auch die unterschiedlichen Spezifikationen des Symbolischen, die ›symbolischen Formen‹ und ›Symbolformen‹ jenseits der Erkenntnis.141 Die Rede von Form durchzieht so die gesamte »Philosophie des Symbolischen«, weil der allgemeine Begriff des Symbolischen von vornherein im Zusammenhang seiner notwendigen Spezifikation für und in verschiedenen Feldern der Symbolisierung steht.
auch auf die »›Formen‹ der reinen Verstandeserkenntnis« (ECW 8, 230 f.). 140 Vgl. diese exemplarischen Formulierungen in ECW 7, 166, 175, 184 und 377. 141 Vgl. exemplarisch zu ›symbolischer Form‹ Blatt 10, 1, oder Blatt 15, 2 f., sowie zur ›Symbolform‹ Blatt 8, 5, Blatt 18, 7, oder Blatt 24, 3. Beide Bezeichnungen benutzt Cassirer synonym.
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Besonderungen des Begriffs: Die Forderung Richard Hönigswalds Die Stichpunkte in »II) Die Logik des Symbolischen« sowie in den anschließenden Abschnitten »III) Die Zahlfunktion (N)« und »IV) Allgemeine Erkenntnislehre« beschränken sich auf die Erkenntnistheorie und entfalten die Spezifikation des Symbolischen in erster Linie mit Bezug auf die ›spezifische Form der Begriffe‹ in den Wissenschaften. Dieser Ansatz ist als eine systematische Konsequenz aus der Annahme eines allgemeinen Begriffs des Symbolischen und seiner notwendigen Spezifizierung für die Formen der Symbolisierung bis in deren eigene Differenzierung hinein zu verstehen. Er kann aber zugleich als Reaktion auf eine Kritik an Cassirers Theorie des Begriffs aufgefasst werden. Richard Hönigswald hatte nämlich in einer Rezension von 1912 Substanzbegriff und Funktionsbegriff nicht nur positiv gewürdigt, sondern auch einige scharfsinnige Einwände erhoben.142 Im Zentrum von Hönigswalds Kritik steht Cassirers Versuch, den mathematischen Begriff als Vorbild für die Begriffsbildung überhaupt zu verstehen und alle wissenschaftlichen Begriffe aus ihm hervorgehen zu lassen. Hönigswald zielt damit auf die zentrale Prämisse der Erkenntniskritik des Marburger Neukantianismus ab, derzufolge die naturwissenschaftliche Erkenntnis in Kontinuität zu den mathematisch-konstruktiven Verfahren zu betrachten und ihre Begriffe als »Erweiterung und Fortsetzung des ma thematischen Begriffs«143 zu verstehen sind. Diese Kritik verfällt dennoch 142 Richard Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Kritische Betrachtungen zu Ernst Cassirers gleichnamigem Werk«, in: Deutsche Literaturzeitung 33 (1912), 2821 – 2843 und 2885 – 2902. Diese Debatte wurde in der Sekundärliteratur nur selten gewürdigt, vgl. die eher knappen Erwähnungen in Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 153 und 182, Kreis, Cassirer, 162 und 368, sowie Massimo Ferrari, »Begriffslehre und mythisches Denken bei Ernst Cassirer«, in: Die Stellung des Menschen in der Kultur. Festschrift für Ernst Wolfgang Orth zum 65. Geburtstag, hg. von Christian Bermes u.a., Würzburg 2002, 197 – 212, hier 204 – 207. Hönigswalds Rezension und insbesondere seine Frage nach der ›Besonderung‹ des Begriffs sind in ihrer systematischen Bedeutung für die Genese der Philosophie der symbolischen Formen bis heute weitgehend unterschätzt. Vgl. allgemein zur produktiven Beziehung zwischen Hönigswald und Cassirer Orths lesenswerten Aufsatz »Die anthropologische Wende im Neukantianismus. Ernst Cassirer und Richard Hönigswald«, in: Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 253 – 277. 143 ECW 6, 159. Dieser Gedanke ist letztlich konstitutiv für den Ersten Teil von Sub stanzbegriff und Funktionsbegriff und durchzieht daher das ganze Buch, vgl. auch ebd., 20, 160 – 163 und 179 f. Für diesen Gedanken war Hermann Cohens Deutung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Infinitesimalrechnung entscheidend, vgl. ders., Das Princip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, Berlin 1883 (= Werke, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv unter der Leitung von Helmut Holzhey, 5, I), 125 – 134, bes. 131 ff.
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nicht in Schulstreitigkeiten, weil Hönigswald diese Position nicht einfach zu widerlegen oder ihr eine alternative Theorie des Begriffs schlicht entgegenzusetzen versucht. Vielmehr billigt er Cassirers Ansatz zunächst eine allgemeine Richtigkeit zu, um dann spezifische Differenzen einzuklagen, die in den Anwendungen der Begriffe begründet liegen und Diskontinuitäten zum mathematischen Begriff nach sich ziehen.144 Naturwissenschaft liche Begriffe beschränken sich demnach anders als mathematische Begriffe nicht auf die Konstruktion ihrer Gegenstände in einem geschlossenen idealen Gefüge. Sie müssen das zu Begreifende zuallererst subsumieren und sich im Wechselspiel mit ihm bestimmen.145 Aber auch im engeren Feld der mathematischen Begriffe sieht Hönigswald »eine Gliederung nach eigenartigen materialen Gesichtspunkten zugrunde«146 liegen: Die Begriffe werden in Abhängigkeit von ihren Gegenständen spezifiziert, so dass z. B. die »Geometrie der Lage« in ihrem Begriff des Raums eine ihr eigene und sie auszeichnende Grundlage hat.147 Es ist, so Hönigswalds zentraler Einwand, eines, »einen gegebenen Begriff auf die Bedingungen des Begriffs überhaupt, und wieder ein anderes, ihn auf diejenigen seiner eigenen und speziellen Funktion hin zu untersuchen«148 . Hönigswald geht in seiner Rezension daher von der allgemeinen Theorie des Begriffs von Substanzbegriff und Funktionsbegriff aus, um ein ganzes Spektrum verschiedener Formen von wissenschaftlichen Begriffen zu entwerfen. Die eigentliche Pointe seiner Kritik ist aber, dass er im allgemeinen 144 »So wahr es ist, daß die Naturwissenschaft nur einen ›gedanklichen Prozess fortsetzt, der bereits innerhalb der mathematischen Erkenntnis wirksam ist‹, ebenso unbestimmt bleibt dadurch der Begriff und das Prinzip solcher ›Fortsetzung‹. Hier stößt man auf eine Lücke der Argumentation, die nur durch die kritische Herausstellung der un terscheidenden Relationen zwischen Mathematik und Naturforschung beseitigt werden kann.« (Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2889) 145 Vgl. Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2886 – 2 888, sowie zur Charakterisierung wesentlicher Unterschiede der mathematischen und der naturwissenschaftlichen Begriffe ebd., 2891 – 2893. 146 Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2894. Hönigswald verweist darüber hinaus auf geschichtliche Begriffe, die es mit ›Individuellem‹ zu tun haben, was hier aber nur am Rande vermerkt sei, vgl. ebd., 2893 f. 147 »Es ist die Einführung des spezifischen, von der Anschauung der Sinne wie von den Reihengesetzlichkeiten der Zahl und von der urteilsmäßigken Verknüpfung gleichermaßen unterschiedenen Prinzips einer Ordnung des ›Beisammen‹, was dieser mathematischen Disziplin zur Grundlage dient. D. h. es ist die Funktion eines eigenartigen, in seiner Struktur genau zu bestimmenden und in seinen Erkenntnisansprüchen klar zu rechtfertigenden materialen Faktors, die hier im Rahmen der Mathematik entscheidend in den Vordergrund tritt.« (Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2895) 148 Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2889.
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Begriff Cassirers eine unausgewiesene und unsachgemäße Verallgemeinerung einer Form des mathematischen Begriffs sieht, die alle spezifischen Differenzen zu nivellieren sucht: »Im Geiste dieser Forschungen [der Marburger Schule, A. S.] engt Cassirer den Begriff der Denkgemäßheit auf ganz bestimmte, erkenntnistheoretisch freilich im höchsten Grade bedeutsame Sonderformen des wissenschaftlichen Denkens ein: er ist geneigt, überall die logische Form des mathematischen Denkens mit den Bedingungen aller wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt zu identifizieren.«149 Dieser fragwürdigen Verallgemeinerung hält er die Forderung nach einer »Erkenntnistheorie« entgegen, »die sich bewußt bleibt, überall auch an die Tatsache und das Problem der Differenzierung der wissenschaftlichen Begriffsbildung anknüpfen zu müssen«150 . Nur so könne gelingen, was sich der »Kritizismus« nach Hönigswalds Darstellung zur Aufgabe genommen hat: »die Bedingungen möglicher Erkenntnis überhaupt in der Mannigfaltigkeit der Wissenschaften aufweisen und rechtfertigen.«151 Es ist durchaus bemerkenswert, dass Cassirer ein Jahr später in der Sammelrezension »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik« auf diese Kritik reagiert.152 Seine eigene Rezension eines Aufsatzes von Hönigswald153 beschränkt sich weitgehend darauf zu betonen, dass dieser die einheitliche Aufgabe des Begriffs, den Gegenstand der Erkenntnis zu bestimmen, nicht abstreite, auch wenn er die Vielfalt der wissenschaftlichen Methoden betone und den Begriff daher auf einen »materialen Faktor« beziehe.154 Cassirer sieht darin zunächst ein Einlenken Hönigswalds gegenüber seiner eigenen früheren Kritik, weil dieser Faktor nun als eine Modifikation des Begriffs verstanden werde und nicht mehr auf ein dem Begriff fremdes materiales Element der Erkenntnis verweise.155 Trotz dieser mutmaßlichen Konvergenz versucht Cassirer jedoch, seine Theorie des Begriffs in einer Fußnote gegen Hönigswalds Kritik zu verteidigen. Er zieht sich dazu zunächst auf die Position zurück, dass Substanzbegriff und Funktions begriff lediglich die allgemeinen Züge des Begriffs nachzuweisen versucht Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2891. Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2894 f. 151 Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2822. 152 Vgl. Ernst Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik«, in: ECW 9, 139 – 200. 153 Richard Hönigswald, »Zur Wissenschaftstheorie und -systematik. Mit besonderer Berücksichtigung auf Heinrich Rickerts ›Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft‹«, in: Kant-Studien 17 (1912), 28 – 8 4. 154 Vgl. ECW 9, 155 – 159. 155 Vgl. Cassirers Rezension von Hönigswalds Beitraege zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre von 1906 in Kant-Studien 14 (1909), 91 – 98, wieder abgedruckt in ECW 9, 447 – 459, bes. 452 – 458. 149 150
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habe: »Die Einheit ›des‹ Begriffs, d. h. der Begriffsfunktion als solcher, sollte gegenüber allen Besonderungen, die diese Funktion nachträglich durch die Anwendung auf bestimmte Einzelprobleme erfährt, herausgestellt und betont werden.«156 Zugleich gesteht er aber zu, dass diese Besonderungen im Anschluss genauer zu erörtern wären: »Daß, nachdem einmal das leitende Prinzip gewonnen, dieses Prinzip weitere Unterschiede und Determinationen zuläßt und fordert, sollte nicht bestritten werden: Die mathematische und naturwissenschaftliche Begriffsbildung wurde lediglich als Paradigma des allgemeinen ›Reihenbegriffs‹, nicht aber als erschöpfender Ausdruck seiner Leistung und Bedeutung angesehen.« Diese Sätze legen die Forderung nahe, Cassirer möchte seine Theorie des wissenschaftlichen Begriffs zum Ausgangspunkt nehmen und sie in die Vielfalt der spezifischen Begriffe ausdifferenzieren. Und Cassirer selbst scheint dieses Vorhaben im abschließenden Satz seiner Fußnote zu Hönigswalds Kritik durchaus für ein sinnvolles Unterfangen zu halten: »Wieweit die Grundauffassung des Begriffs, die hierdurch bezeichnet ist, sich über die Grenzen der Mathematik und Physik hinaus bewährt und welche näheren Bestimmungen und Modifikationen sie hierbei erfährt, vermöchte nur ihre Durchführung durch die speziellen Problemgebiete zu zeigen.« Cassirer kann sich auf diese Herausforderung in seiner Sammelrezension aber kaum einlassen und begnügt sich mit vereinzelten Hinweisen zu verschiedenen Disziplinen.157 In der Disposition von 1917 spielt die »Differenzierung der wissenschaftlichen Begriffsbildung«158 dagegen eine tragende Rolle. Cassirer untersucht die Begriffe nun vorrangig mit Blick auf ihre ›spezifische Form‹ und macht sich damit allem Anschein nach die Forderung Hönigswalds zu eigen. Er stellt die Differenzierung der wissenschaftlichen Begriffe aber zugleich in den Horizont des systematischen Ansatzes seiner »Philosophie des Symbolischen«, indem er sie als Fortsetzung der Spezifikation des Symbolischen in die interne Differenzierung der Formen der Symbolisierung betrachtet. Auf diese Weise gelingt es ihm, sowohl seine Theorie des Begriffs weiter zu entfalten, als auch sie in die »Philosophie des Symbolischen« stimmig einzufügen. Angeregt von Hönigswalds Kritik zieht Cassirer aber eine weitere, komplementäre Konsequenz: Von der Heterogenität der Begriffe und ihrer spezifischen Genesen auszugehen, heißt zugleich, sich nicht mit ihrem gleichgültigen Nebeneinander zufriedenzugeben, sondern ihren systematischen Zusammenhang aufzuweisen. Anders gesagt müssen die Begriffe verschiedener Disziplinen gerade deshalb systematisch geordnet werden, weil Vgl. für dieses und die folgenden Zitate ECW 8, 158, Fn. 22. Vgl. ECW 9, 139 f. und 155. 158 Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2895. 156 157
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sie sich voneinander differenzieren. An dieses Unterfangen wagt sich Cassirer im folgenden Abschnitt der Disposition – und scheint damit erneut einer Kritik Hönigswalds Rechnung zu tragen, der in seiner Rezension von Substanzbegriff und Funktionsbegriff behauptet hatte, »den Voraussetzungen des Cassirerschen Werks [sei, A. S.] das gewaltige methodologische Problem eines Systems der Wissenschaften, sofern es das Problem ihrer Mannigfaltigkeit bedeutet, fremd«159. Der »Philosophie des Symbolischen« ist dieses Problem dagegen ebenso wenig fremd wie die Differenzierung der wissenschaftlichen Begriffe: Cassirer entwirft nun ein »System der exakten / Wissenschaften«160 – und stößt dabei auf Probleme, die dazu beitragen, die Systematik der wissenschaftlichen Begriffe und die Spezifikation der Formen des Symbolischen nochmals zu überdenken und präziser zu konzipieren. Das »System der exakten Wissenschaften«: Die Spezifikation der Begriffe Nachdem Cassirer die spezifische Form logischer Begriffe herausgearbeitet hat, versucht er also, ein ›System der exakten Wissenschaften‹ zu entwerfen. Er geht dabei wie in seinen früheren erkenntniskritischen Studien zua llererst von der Mathematik aus, um die Grundbegriffe verschiedener mathematischer Felder zu spezifizieren und zugleich ihre systematische Einheit zu skizzieren. Kaum überraschend haben diese Notizen zumindest inhaltlich wenig Neues zu bieten, denn sie stützen sich auf den ersten Teil von Substanzbegriff und Funktionsbegriff und greifen fast ausschließlich auf bekanntes Material zurück. Ohne diese älteren Analysen der wissenschaft lichen Erkenntnis und des mathematischen Begriffs erneut auszubreiten, was für Cassirer nicht minder redundant wäre als für den mit seinen Schriften vertrauten Leser, nimmt er auf sie in aller Kürze Bezug, um sie jedoch nicht bloß zu wiederholen, sondern sie in die neue Perspektive der »Philosophie des Symbolischen« zu rücken. Der dritte Abschnitt der Disposition führt so die bisherigen Erörterungen fort: »An die Entwicklung der logischen Funktion / als ἀπόδειξις reiht sich für uns / III) Die Zahlfunktion (N) / aus der wiederum das gesamte System der exakten / Wissenschaften hervorgeht.«161 Cassirer spitzt seine These, dass alle Erkenntnis von der Funktion des Symbolischen abhängt, folglich dahingehend zu, dass zumindest die ›exakten Wissenschaften‹ Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2894. Disposition 1917, 18. 161 Dieses Zitat wie die folgenden in Disposition 1917, 18 –19 159
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konkret aus der »Zahlfunktion« ›hervorgehen‹: Die Vielfalt der Disziplinen und ihr ›gesamtes System‹ sollen sich ausgehend vom mathematischen Begriff der Zahl begreifen lassen. Dass dieser Begriff zwar sehr allgemein, aber doch auch ein spezifischer und besonderer Begriff ist, wird Cassirer allerdings schon bald vor erhebliche Probleme stellen. Die philosophische These findet ihren Ausdruck in der graphischen Form der Aufzeichnung. Hält sich Cassirer normalerweise an die Horizontale des Fließtextes, entwickelt er hier aus dem Zwischentitel »Zahlfunktion« eine diagrammatische Darstellung, die sich schließlich über eine Doppelseite erstreckt (s. Abb. im Anhang, S. 404 f.). Das »System der exakten Wissenschaften« entfaltet sich so vermittelt über ein ›nämlich‹ in seine vielfältigen Glieder, wobei mit »a) Begriff der Mathesis universalis als Wissenschaft von Ordnung und Maß« zuallererst eine Auffassung von Mathematik zitiert wird, die seit Descartes eine nachhaltige Wirkung ausgeübt hat und die Beschränkung auf Quantitäten nach sich zieht.162 Die Bezeichnung dieses Ausgangspunktes als »a)« verweist zwar implizit auf weitere Felder der Mathematik. Die Aufzählung wird auf dieser Ordnungsebene jedoch nicht fortgeführt, so dass offen bleibt, welche Felder hier zu ergänzen wären. Stattdessen wird die ›mathesis universalis‹ durch drei Linien in Teilgebiete untergliedert, die aus der »Zahlfunktion« ›hervorgehen‹ sollen. Cassirer führt »a) Arithmetik« und »b) Algebra« an und unterscheidet damit zunächst zwei Stufen der Zahl: Die erstere definiert die Zahlen auf der Grundlage einer »fundamentalen Ordnungsfunktion (ω)« in »einem / symbolischen Ausdruck erster Stufe (σ)« und verfügt über »›Zahlzeichen‹ und ›Operationszeichen‹«; die Algebra führt »in einem symbol. / Ausdruck zweiter Stufe« Buchstabensymbole a, b, c und »allgemeine / Operationszeichen« ein, um ungeachtet der konkreten Zahl in Gleichungen rechnen zu können, wie in der binomischen Formel »(a+b)² = a² + 2ab + b²«, die Cassirer als Beispiel gibt. In einem dritten Schritt fügt Cassirer »c) Analysis« hinzu, in der es um Funktionen geht, die Zahlen auf Zahlen abbilden. Cassirer notiert: »Der Zahlbegriff ergänzt durch den Reihenbegriff und Funktionsbegriff. ›Veränderliche Zahl‹«. Diese Aufzählung wirft im Detail vielerlei Fragen auf, die sich im Rekurs auf Substanzbegriff und Funktionsbegriff wohl mehr oder minder klären ließen. Mit Blick auf die vorliegende Disposition fällt jedoch zunächst einmal auf, dass Cassirer die zweidimensionale Fläche des Blattes nur zöger162 Vgl. die Charakterisierung der ›mathesis universalis‹ in der vierten Regel von René Descartes, Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Kritisch revidiert, übersetzt und herausgegeben von Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe und Hans Günter Zekl, Hamburg 1993, 172 – 175.
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lich nutzt. Die drei Linien, die von »Ordnung und Maß« ausgehen, scheinen drei Gliederungspunkte nebeneinander vorzusehen und tatsächlich ist der Unterpunkt a) auch gegenüber dem Text leicht nach links verschoben. Die anschließenden Ausführungen füllen dann aber fast die gesamte Breite der Seite, so dass Cassirer die mittlere, vertikale Linie verlängert hat und der zweite Stichpunkt »Algebra« darunter, noch etwas mittiger zu stehen kommt. Erst die dritte Linie eröffnet der Abfolge von »a) Arithmetik«, »b) Algebra« und »c) Analysis« die ganze Breite des Bogens, da sie wegen der bereits beschriebenen Seite weiter ausweichen muss und auf die rechte Seite des gefalteten Bogens hinüberführt. Es ist kaum mit Sicherheit präzise zu rekonstruieren, in welcher Reihenfolge dieses Diagramm gezeichnet wurde. Dennoch liegt aufgrund der Anordnung auf dem Blatt und der Ökonomie der begrenzten Fläche die Annahme nahe, dass Cassirer es wie geschildert gleichsam aus dem Text heraus entwickelt hat. Die weiteren Züge stoßen aber weiter ins Ungefähre vor, was für Cassirers Diagramm ebenso gilt wie für das ›System der exakten Wissenschaften‹, das aus der Zahl hervorgehen soll. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Cassirer zunächst die Analysis weiter entfalten wollte. Da sie sich mit Funktionen beschäftigt, steht sie im Zusammenhang mit einer »Allg. Funktionentheorie«. Insofern Funktionen eine »wechselweise Zuordnung von Reihen« vornehmen, was von Cassirer selbst gestrichen wurde, können sie angewandt werden auf »kontinuierliche Reihen« oder auf das »Verh[ältnis] von Raum und Zahl«, wodurch die »Infinitesimal-Analysis« und die »analyt. Geometrie« entstehen. Spätestens hier stößt Cassirer aber auf ein Problem. Denn die Geometrie setzt den Begriff des Raums voraus, der sich mitsamt der ihm eigenen Charakteristika einer ›spezifischen Erzeugung‹ verdankt. Folglich kann er nicht aus der Zahl abgeleitet und an dieser Stelle von Cassirers Diagramm vorausgesetzt werden. Cassirer hat in seinem Diagramm allem Anschein nach zwei Konsequenzen gezogen. Er hat erstens den letzten Schritt der Ableitung aufgegeben, indem er dessen Ausgangspunkt, die »Zuordnung von Reihen«, durchstreicht. Und er hat zweitens den Raum als eine weitere Voraussetzung des ›Systems der exakten Wissenschaften‹ eingeführt, da er ihn als heterogen gegenüber der Zahl betrachtet und daher nicht als mit ihr gegeben annehmen kann. Die mathesis universalis muss als »Wissenschaft von Ordnung und Maß« auch den Raum voraussetzen. Cassirer zeichnet einen aufsteigenden, gerichteten Pfeil zur »Raumfunktion«, deren Einführung er aber zugleich erläutert und rechtfertigt: »Dies zurückweisend auf die Raumfunktion, die als ein Selbständiges / neben der Zahlfunktion steht«. Cassirer lässt es sich nicht nehmen, aus dem Raum sogleich auch die »Reine (projektive) Geometrie« und aus seiner Kombination mit der
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Zahl die »Geometrie des Maßes« abzuleiten. Umso mehr herrscht nun jedoch eine gewisse Unordnung unter den Pfeilen, die mal auf ihre Voraussetzungen zurückweisen, mal auf abgeleitete Begrifflichkeiten vorausweisen und insgesamt nur schwerlich ein System erkennen lassen. Cassirers Annahme des Primats der »Zahlfunktion«, die vielleicht dem Bemühen um ein System geschuldet ist, und die Einführung der »Raumfunktion«, die sich während des diagrammatischen Aufbaus des Systems ergibt, durchkreuzen die Ordnung auf dem Blatt fast buchstäblich. Das Diagramm hat in seiner baumartigen Anlage von Beginn an das ›System der exakten Wissenschaften‹ aus einem einheitlichen Prinzip abzuleiten versucht, zugleich aber in seiner Konsequenz dazu genötigt, schließlich neue und weitere Voraussetzungen einzuführen. Dies ist durchaus als Ergebnis zu deuten: Aus der Zahlfunktion allein gehen nicht einmal die Gebiete der Mathematik hervor. An die Stelle des angestrebten Systems tritt so die Unordnung des Diagramms, die sich auch andernorts daran zeigt, dass die Bedeutung der verbindenden Linien zunehmend unklar wird. So hat Cassirer mit der Analysis eine »Allgemeine Mannigfaltigkeitslehre« verbunden, womit er sich auf die bahnbrechenden Arbeiten Georg Cantors und die Entwicklung der Mengenlehre bezieht.163 Sie scheint hier als eine Folge aus der »Analysis« begriffen zu sein, denn Cassirer führt sie über die Frage der Mächtigkeit von Mengen ein, die wesentlich anhand von bestimmten Abbildungen zwischen Mengen und Reihen verhandelt wird: »›Abbildung‹ von Reihen in einander / Mächtigkeitsprobleme etc. / Wechselweise ›Zuordnung‹ nicht von Einheiten in einer / Reihe, sondern von Gesamtheiten.« Andererseits kann Cantors »Mannigfaltigkeitslehre« kaum als eine Folge oder Anwendung der Analysis begriffen werden, beansprucht sie doch mit dem Begriff der Menge eine Grundlage für den gesamten Bereich der mathematischen Gegenstände bereitzustellen. Sie liegt in dieser Hinsicht insbesondere der Theorie der Zahlen zu Grunde, die sich am Ausgangspunkt von Cassirers Diagramm befindet, aber auch dem Begriff der Zuordnung und der Funktion, die im Zentrum der Analysis stehen. Was hier woraus hervorgehen soll, erscheint äußerst fragwürdig. Der Ort der »Mannigfaltigkeitslehre« bleibt daher auch auffällig unbestimmt: Weder erhält sie eine Nummerierung, noch zeigt die Verbindungslinie zur Analysis an, welche Abhängigkeiten hier vorliegen.
Wie in ECW 6, 64 – 70, sind hier Georg Cantors Grundlagen einer allgemeinen Mannig faltigkeitslehre. Ein mathematisch-philosophischer Versuch in der Lehre des Un endlichen von 1883 gemeint. 163
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Cassirers erster Versuch, sein neues Interesse an der spezifischen Form wissenschaftlicher Begriffe mit dem Entwurf eines ›Systems der exakten Wissenschaften‹ zu ergänzen, scheitert. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Cassirer daraus keine produktiven Schlüsse ziehen und keine neuen Erkenntnisse gewinnen würde. Denn dieses Scheitern wird Cassirer insbesondere dazu zwingen, seine Perspektive auf die spezifische Form der Begriffe auszuführen und das Verhältnis zwischen den allgemeinen und den besonderen Formen des Begriffs konzeptionell zu präzisieren. Das Diagramm belegt zunächst nochmals in aller Deutlichkeit, wie sehr sich Cassirers Perspektive auf den wissenschaftlichen Begriff gegenüber seinen früheren erkenntniskritischen Schriften verschoben hat. Denn das entscheidende Problem kommt in dem Moment auf, als Cassirer auf den Raum stößt, den er wie die Zahl als spezifischen und heterogenen Begriff betrachtet und daher nicht aus der ›Zahlfunktion‹ ableiten kann. Dieses Problem setzt die Einbeziehung der spezifischen Form von Begriffen voraus und ist Substanzbegriff und Funk tionsbegriff daher noch völlig unbekannt, das wie bei allen anderen wissenschaftlichen Begriffen allein auf die »Einfügung der Raumbegriffe in das Schema der reinen Reihenbegriffe«164 abzielte. Es ging also allein darum zu zeigen, dass dieses ›Schema‹ die Funktion aller wissenschaftlichen Begriffe zu begründen erlaubt. Diesem allgemeinen Anspruch, dass Begriffe auf Reihen aufbauen und wesentlich als Funktionen zu fassen sind, schienen die spezifischen Differenzen insbesondere im Falle des Raums sogar im Wege zu stehen. Denn der Raum war in der kantischen Tradition mit der Anschauung assoziiert, die für die Marburger Schule keine eigenständige Rolle in der Begründung von Erkenntnis einnehmen durfte und daher als ein mögliches Widerlager von Cassirers Theorie des Begriffs in Frage kam.165 Deshalb versteht Cassirer die ›Einfügung der Raumbegriffe in das Schema der reinen Reihenbegriffe‹ programmatisch auch als »Auflösung der Raumbegriffe in Reihenbegriffe«166 . Der spezifischen Form der Raumbegriffe misst Cassirer dabei keinerlei Bedeutung zu. Nicht anders ergeht es der Zahl, auch wenn sie in Substanzbegriff und Funktionsbegriff eine ganz andere Rolle einnimmt als der Raum. Sie kann geradezu als das Paradigma von Cassirers Theorie des Begriffs verstanden werden, was aber wiederum bedeutet, dass ihre spezifische Form nicht von Interesse ist.167 Die Zahl verkörpert gleichsam Cassirers These, dass Begriffe nicht ECW 6, 92. In dieser Traditionslinie steht denn auch Cassirers Behauptung, der Raum der projektiven Geometrie sei als begriffene Anschauung zu verstehen, vgl. ECW 6, 97. 166 ECW 6, 77. 167 Cassirer bemerkt so zwar nur beiläufig, dass »der Zahlbegriff uns hier nicht um seiner selbst willen, sondern nur als Beispiel für die Gestaltung der reinen ›Funktional164 165
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durch Abstraktion im Ausgang von einzelnen Gegenständen entstehen, sondern auf der Basis von Relationen ihre Gegenstände zuallererst bestimmen: Eine natürliche Zahl wie die Drei entsteht nicht durch Abstraktion ausgehend von Mengen, die alle drei Elemente enthalten; sie ist vielmehr definiert durch die schrittweise Erzeugung der natürlichen Zahlen und die zugleich gegebene Relation des Kleiner und Größer.168 In diesem Sinne steht die Zahl in Substanzbegriff und Funktionsbegriff für die funktional-relationale Bestimmung der mathematischen Begriffsbildung im Allgemeinen, ohne dass ihren spezifischen Eigenschaften im Vergleich zu anderen Grundbegriffen der Mathematik besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Vor diesem Hintergrund ist nachzuvollziehen, warum Cassirer die »Zahlfunktion (N)« an den Ausgangspunkt seines Diagramms eines ›Systems der exakten Wissenschaften‹ setzt. Er scheint damit nämlich sein altes Paradigma des wissenschaftlichen Begriffs im Allgemeinen zu zitieren, das in seinen erkenntniskritischen Schriften gleichsam über den kleinteiligen Differenzen der konkreten und spezifischen Begriffe schwebte und daher im Prinzip jede Sinnbildung von der Wahrnehmung an einschließen sollte, um letztlich nicht nur für den wissenschaftlichen Begriff, sondern sogar für das Symbolische überhaupt als paradigmatisch gelten zu können. Im Zusammenhang der Disposition von 1917, die verschiedene Formen der kulturellen Symbolisierung und ihre interne Differenzierung ins Auge fasst, ist der ›Zahlfunktion‹ dagegen eine spezifischere Charakteristik zu eigen. Sie ist von vornherein bezogen auf die exakten Wissenschaften und steht für eine bestimmte Form der mathematischen Begriffsbildung. Deshalb geht Cassirer in einem ersten Schritt auch zur »Mathesis universalis als / Wissenschaft von Ordnung und Maß« über, die selbst die Mathematik nur unzureichend und unvollständig umreißt. Denn Cassirer selbst wendet sich bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff gegen die traditionelle Konzeption der »mathesis universalis«, der Vorstellung der Mathematik unter der Maßgabe von »Ordnung und Maß«.169 Die Mathematik sei nicht als Wissenschaft des Quantitativen zu verstehen, da sie je nach den Relationen, von denen sie ausgeht und auf deren Grundlage sie ihre Gegenstände bebegriffe‹ interessiert« (ECW 6, 37). Vgl. ähnlich ebd., 27 und 63 f. Er bezeichnet damit aber recht präzise die paradigmatische Bedeutung seiner Analyse der Zahl für die zentrale These vom funktional-relationalen Charakter des wissenschaftlichen Begriffs ungeachtet spezifischer Unterschiede der Begriffsbildung in verschiedenen Disziplinen. Es ist so ›die Zahl‹, die in verschiedenen Gebieten wie der Geometrie, der Physik oder der Chemie wiederholt mit der Durchsetzung der Funktions- gegen die Substanzbegriffe verbunden wird, vgl. z. B. ebd., 73 – 80, 92 f., 152 f., 206 f. und 235 f. 168 Vgl. exemplarisch ECW 6, 36 ff. 169 ECW 6, 101, vgl. zum Folgenden den gesamten Abschnitt ebd., 97 – 103.
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stimmt, ebenso Qualitäten wie Quantitäten betrachten kann.170 Mathematik sei »reine Beziehungslehre«171, womit Cassirer eine Charakterisierung des Mathematikers David Hilbert aufnimmt, in der er gleichsam die Erfüllung der Leibniz’schen Vorlage sieht, die bereits den entscheidenden Schritt über Descartes’ Auffassung der mathesis universalis getan habe. Demnach kann die Zahl in ihrer spezifischen Form betrachtet nur einen kleinen Teil der mathematischen Begriffsbildung erfassen. Selbst innerhalb des Felds der ›mathesis universalis‹ wirft jedoch der Versuch, ausgehend von der spezifischen Form der Zahl weitere relevante Begriffsbildungen zu spezifizieren, sehr rasch Probleme auf. Indem Cassirer sich durch die Form des Diagramms zu einer konsequenten Ableitung der verschiedenen Grundbegriffe aus der ›Zahlfunktion‹ zwingt, stößt er im Raum bald auf eine andere, heterogene und nicht ableitbare Form des mathematischen Begriffs. In diesem Moment verstrickt sich das Paradigma des funktionalen Begriffs nicht nur in die Kleinteiligkeit der differenzierten mathematischen Begriffsbildungen und deutet sich die große Kluft an zwischen der Forderung nach einem ›System der exakten Wissenschaften‹ und dessen Ausführung im Detail. Vielmehr führt dieses Scheitern die entscheidende konzeptionelle Herausforderung vor Augen, nämlich über einen Begriff zu verfügen, der so spezifisch ist, dass er die wissenschaftliche Begriffsbildung charakterisieren, und zugleich so allgemein, dass er die verschiedenen Begriffe der exakten Wissenschaften umfassen kann. Unter der Annahme, das angestrebte ›System der exakten Wissenschaften‹ sei aus einer spezifischen Form des Begriffs abzuleiten, bleibt Cassirer daher gar nichts anderes übrig, als das Verhältnis zwischen der Allgemeinheit des Begriffs, aus dem dieses System hervorgehen soll, und der Spezifik der Elemente, die es umfassen muss, neu zu justieren. Cassirer zieht daher die Konsequenz, den Ausgangsbegriff der exakten Wissenschaften allgemeiner zu fassen, um die hinzugekommenen spezifischen Begriffsbildungen der Mathematik subsumieren zu können. Er fügt einen weiteren Pfeil hinzu, der vom Zwischentitel dieses Abschnitts der Disposition »Zahlfunktion« zum oberen Rand führt, wo er festhält: »richtiger wohl als übergeordnet / Die ›Reihenordnungsfunktion‹ / und zwar / a) als Funktion der einfachen / Reihenordnung (›Zahl‹) b) als Reihenzuordnung / (Mannigfaltigkeitslehre) / c) als Ordnung des Beisammen / 170 »Wieder ist es die Leibniz’sche Grundkonzeption der Mathematik, zu der wir uns hierbei zurückgeführt sehen. Die Mathematik ist danach nicht die allgemeine Wissenschaft der Größe, sondern der Form, nicht der Quantität, sondern der Qualität.« (ECW 6, 98) 171 ECW 6, 100.
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›Raum‹«.172 Diese ›Reihenordnungsfunktion‹ soll somit eine Wurzel darstellen, aus der sowohl die Zahl und der Raum als auch die Mannigfaltigkeitslehre entspringen. Was unter dieser ›Funktion‹ genauer zu verstehen sei, führt Cassirer nicht aus. Stattdessen wagt er einen zweiten Anlauf zu einem ›System der exakten Wissenschaften‹ und verweist am rechten oberen Rand auf ein weiteres Blatt: »s. hierüber Ausführ. auf / besonderem Blatt! (Exakte Wissenschaft)«. Dieses Blatt mit dem Titel »Exakte Wissenschaft« ist bis heute an der entsprechenden Stelle in die Disposition eingelegt.173 Auf der Vorderseite des gefalteten Bogens (s. Abb. S. 94) schließt Cassirer unmittelbar an die zitierte Anweisung an, ein ›System der exakten Wissenschaften‹ ausgehend von einer ›Reihenordnungsfunktion‹ zu entwickeln. Er widmet sich aber nicht unmittelbar einem erneuten Versuch, sondern versichert sich zuvor nochmals seines Vorhabens. Daher weist er in einem kleinen Schema zum einen der postulierten »Ordnungs- und Zuordnungsfunktion« einen Platz in der Disposition zu und verortet so das angestrebte System erneut im Zusammenhang des neuen Projekts.174 Zum anderen stellt er in einem zweiten Schema unter dem Titel »Ordnungs- und Zuordnungsfunktion (Funktion ω)« diejenigen spezifischen Begriffe, die sich im ersten Anlauf zu einer diagrammatischen Ordnung der Mathematik als notwendig erwiesen haben, neben einander dar. Cassirer begreift dabei Zahl, Raum und Mannigfaltigkeit offenbar als Strukturen verschiedener Dimensionalität: Alle Zahlen von den natürlichen bis zu den irrationalen gehören zur »Bildung der einfachen geordneten Grundreihe«, der dreidimensionale Raum dagegen geht aus der »mehrfach geordneten Reihe« hervor, wobei die gewisser Disposition 1917, 18 f., wie auch das folgende Zitat. Ich beziehe mich auf dieses vierseitige Blatt als Disposition 1917, Ex. Wiss., unter Angabe der Seite. Vgl. für die folgenden Zitate also Disposition 1917, Ex. Wiss., 1. 174 In einem kleinen »Schema« im oberen Drittel der Seite wird eine »Deiktische Funktion« weiter unterteilt in die »Psychol. Funktion ρ«, das »Endeiktische / Ausdrucksbew.«, die »Logische F. / ἀπόδειξις« und schließlich die »Ordnungs- und Zuordnungsfunktion«. Unter der Annahme, dass hier die bereits entfalteten Teile der Disposition resümiert sind, wird der postulierten Wurzel der exakten Wissenschaften nochmals die ihr zukommende Stelle bezeichnet. An die Stelle des ›Symbolischen‹ tritt allerdings eine ›Deiktische Funktion‹, was sich vermutlich dadurch erklären lässt, dass Cassirer auf den ersten Blättern der Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« in Anlehnung an Wilhelm Wundts Völkerpsychologie die These verfolgt, dass das Symbolische seine Anfänge in der ›hinweisenden‹ Gebärde hat, worauf das dritte Kapitel der vorliegenden Studie ausführlicher eingehen wird. Die Rede von ›deiktischer Funktion‹ findet sich auch auf einigen der Zettel, die wohl ebenso im Sommer 1917 entstanden sind und in die Disposition eingelegt wurden, vgl. nochmals oben S. 40, Anmerkung 20. Ich verzichte darauf, sie hinzuzuziehen, um die Diskussion der Aufzeichnungen und ihrer systematischen Ansätze nicht allzu sehr zu verzetteln. 172 173
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Abb.: Vorderseite des in die Disposition der »Philosophie des Symbolischen« eingelegten Doppelbogens zur »Exakten Wissenschaft«
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maßen zweidimensionalen komplexen Zahlen das »Mittelglied« darstellen sollen.175 Der ganz an den Rand gedrängten »Allg. / Mannig- / faltig- / keitslehre« weist Cassirer schließlich die »Beliebige Zuordnung komplexer Reihen« zu. Cassirer scheint sich hier dessen zu vergewissern, was unter der postulierten »Ordnungs- und Zuordnungsfunktion« zu verstehen ist, indem er den inneren Aufbau von der Zahl über den Raum bis zur Mannigfaltigkeit expliziert. Er verknüpft dabei die Mannigfaltigkeitslehre mit dem mathematischen Funktionsbegriff, wenn er ihr die »Beliebige Zuordnung komplexer Reihen« subsumiert. Dieser Schritt scheint keineswegs banal, soll an dieser Stelle jedoch nicht detailliert diskutiert werden. Nach diesen Vorbereitungen unternimmt Cassirer auf der inneren Doppelseite des gefalteten Bogens (s. Abb. S. 96 f.) unter der Überschrift »Ordnungs- und Zuordnungsfunktion (ω)« nun einen zweiten Versuch, die exakten Wissenschaften insgesamt und zunächst die Felder der Mathematik in eine diagrammatische Ordnung zu bringen.176 Wie sich zeigen wird, steht dabei jedoch nicht nur das ›System der exakten Wissenschaften‹ auf dem Spiel, sondern auch die für das Projekt der »Philosophie des Symbolischen« zentrale Frage, wie das Verhältnis zwischen den allgemeinen Bedingungen des Symbolischen und ihrer Spezifizierung zu verschiedenen Formen der Symbolisierung sowie deren inhärenter Differenzierung zu konzipieren ist. Anfangs lässt sich das neue Diagramm mit Hilfe der aus dem ersten Versuch bekannten Elemente leicht erschließen. Erstens werden aus der »1) Zahl« – wie zuvor aus dem »Begriff der Mathesis universalis« – die Felder der »Arithmetik« und »Algebra« entwickelt, wobei Cassirer die »Zahlen theorie« hinzufügt. Zweitens scheint sich nach der Ergänzung des Grundbegriffs des »2) Raums« die »Reine (projektive) Geometrie« zwanglos aus ihm zu ergeben, während er zusammen mit der »1) Zahl« die »Elementare (metrische) Geometrie« bildet, die Cassirer im ersten Diagramm »Geometrie des Maßes« genannt hatte. Drittens geht aus der Kombination von »1) Zahl« und »3) Zuordnung von Mannigfaltigk. überhaupt«, in der die »Mannigfaltigkeitslehre« in neuer Deutung wiederkehrt, der »Allg. Funktionsbegriff« hervor bzw. in weiterer Untergliederung die »1) Allg. Funktionstheorie« und die »2) Analysis«. Viertens bildet der »Funktions begriff« zusammen mit dem »2) Raum« wiederum die sogenannte »Analyt. Geometrie«, die Cassirer am unteren Rand des Blattes definiert als »Funktionsbegriff« »angewandt auf Verh. von ›Raum‹ und ›Zahl‹«. 175 Die komplexen Zahlen traten bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff an der Scharnierstelle zwischen der Folge der Zahlen und der Ordnung des Raums auf, vgl. ECW 6, 69 f. 176 Vgl. für die folgenden Zitate Disposition 1917, Ex. Wiss., 2 – 3.
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Abb.: Innere Doppelseite des in die Disposition der »Philosophie des Symbolischen« eingelegten Bogens zur »Exakten Wissenschaft«
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Dieser zweite Versuch, ein ›System der exakten Wissenschaften‹ darzustellen, erscheint durchaus erfolgreicher als Cassirers erster Anlauf. Einige weitere Details werfen jedoch wiederum weitreichende Fragen auf. Cassirer fügt so neben Zahl, Raum und Zuordnung von Mannigfaltigkeiten einen vierten Punkt hinzu: Abgetrennt durch einen Querstrich und eng an den rechten Rand gedrängt findet sich dort »4) Zeit«. Und Cassirer markiert die Notwendigkeit dieser Ergänzung erneut durch eine korrigierende Bemerkung: »Richtiger wohl: 1) Zahl 2) Zeit 3) Raum 4) Mannigfalt. überhaupt«. Aus dem Diagramm scheint sich diese Notwendigkeit nicht ohne weiteres zu ergeben, was sich auch graphisch daran zeigt, dass Cassirer die hinzugefügte Zeit durch einen Strich vom Rest abgetrennt hat. Systematisch begründet sich diese Hinzufügung jedoch darin, dass die Zeit für Cassirer nicht wie bei Kant der Folge der Zahlen zugrunde liegt und daher anders als alle bisher betrachteten Begriffe keine mathematische Kategorie ist.177 Sie kommt deshalb erst insofern ins Spiel, als auch naturwissenschaftliche Disziplinen und insbesondere die Physik einbezogen werden, die ja auch zum ›System der exakten Wissenschaften‹ gehören sollten. Aller Wahrscheinlichkeit nach fügt Cassirer die Zeit somit zwecks der Erweiterung um die Physik hinzu. Diese These belegt die Rückseite des eingelegten Blattes, wo Cassirer sein Diagramm fortsetzt, indem er gleichsam einen Ausschnitt entwirft (s. Abb. S. 99). Zwischen den erneut neben einander gestellten »a) Zahl«, »b) Zeit«, »c) Raum« und »d) Mannigf. überhaupt« verfolgt er nämlich nur, was aus Zeit und Raum hervorgeht, nämlich die »Bewegung« resp. die »Physik«.178 Statt die folgenden Stichpunkte zur Vgl. zur Unabhängigkeit der Folge der Zahlen von der Zeit ECW 6, 40 f. und 69; vgl. zum Verständnis der Arithmetik bei Kant besonders Charles Parsons, »Kant’s Philosophy of Arithmetic«, in: Sidney Morgenbesser, Patrick Suppes und Morton White (Hg.), Philosophy, Science, and Method. Essays in Honor of Ernest Nagel, New York 1969, 568 – 594, und Michael Friedman, Kant and the Exact Sciences, Cambridge, Mass., u.a. 1992, 104 – 129. 178 Die Zeit wird bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff über die Konzeption der Bewegung und ihre zentrale Rolle in der physikalischen Mechanik eingeführt, vgl. ECW 6, 127 f. Cassirer führt in Disposition 1917, Ex. Wiss., 4, weiter aus: »Die Methode der Physik – ›Beschreibung‹ / und Erklärung / Sinn der ›Beschreibung‹ / Die Theorie der physikal. Hypothese / Die Hypothese als Zuordnungsversuch«. Dass Cassirer hier auf die Begriffe der Beschreibung und Erklärung zugleich zurückgreift, kann zunächst überraschen, da er sie gerade in Substanzbegriff und Funktionsbegriff kontrastierend benutzt: Beschreibend würden konkrete Charakteristika eines empirisch beobachtbaren Prozesses zu erfassen versucht, erklärend dagegen durch die mathematische Formalisierung ein logischer Zusammenhang gebildet, in dem möglichst viele Phänomene auf möglichst wenige Grundgesetze reduziert werden können, vgl. exemplarisch zur Beschreibung ECW 6, 124 ff., 131 f. und 149, sowie zum Erklären ebd., 152. In der zitierten Passage aus der Disposition von 1917 bewegt sich Cassirer dagegen nicht in dieser Tradition der 177
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Abb.: Rückseite des in die Disposition der »Philosophie des Symbolischen« eingelegten Doppelbogens zur »Exakten Wissenschaft«
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Charakterisierung der Physik weiter zu verfolgen, möchte ich die Aufmerksamkeit erneut auf den rechten Rand des Blattes lenken, wo – wie schon zuvor die Zeit – erneut unvermittelt auftaucht, was sich aus dem bisherigen Diagramm nicht ableiten lässt: Die »Chemie« geht sicherlich noch weniger als die Physik aus mathematischen Kategorien hervor, ebenso wenig lässt sie sich aber auf einen Begriff der Bewegung reduzieren, mit dem Cassirer die Physik resp. Mechanik auf den Spuren Kants bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff eng verknüpft hatte. Cassirer begnügt sich damit, die Chemie als eine »Sonderung und Zuordnung der ›Stoffe‹« unter Voraussetzung quantitativer oder qualitativer Kriterien zu charakterisieren. In der Wortwahl wird so vielleicht noch eine bestimmte Nähe zu den anderen Disziplinen nahegelegt, dies kann jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Chemie sich diesem ›System der exakten Wissenschaften‹ nicht wirklich einfügt. In der Folge der Diagramme betrachtet scheint sie vielmehr für das Unableitbare zu stehen, auf das Cassirer immer wieder stößt bei seinem Versuch, ein ›System der exakten Wissenschaften‹ zu skizzieren. Cassirers diagrammatische Bemühungen um eine Ordnung der Wissenschaften und ihrer Grundbegriffe werfen so ein scharfes Schlaglicht auf grundlegende konzeptionelle Fragen und zentrale systematische Herausforderungen der »Philosophie des Symbolischen«. Sie belegen erstens, dass Cassirer auf Hönigswalds Kritik reagiert und über eine allgemeine Theorie des Begriffs hinausgeht, indem er die spezifischen Differenzen zwischen den Grundbegriffen verschiedener Felder der Mathematik und anderer Disziplinen ins Auge fasst und zugleich ihr System zu entwerfen sucht. Die auftretenden Schwierigkeiten zeigen aber zweitens, dass das Verhältnis des Begriffs im Allgemeinen zu seinen Besonderungen und damit letztlich das Verhältnis zwischen der allgemeinen Bestimmung des Symbolischen und den spezifischen Formen der Symbolisierung noch nicht hinreichend bestimmt ist. Das erste Diagramm weckt nicht nur sprachlich mit der Rede vom ›Hervorgehen‹, sondern auch graphisch mit den sich gabelnden Linien die Vor nterscheidung von beschreibenden und erklärenden Wissenschaften. Stattdessen beU zieht er sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Konzeption der ›Beschreibung‹ durch John Keill, der in diesem Begriff die methodischen Maßgaben der Physik seines Lehrers Newton bündelte. ›Beschreibung‹ bedeutet in dieser Hinsicht vor allem, auf eine spekulative Bestimmung des Wesens und der Ursachen der Erscheinungen zu verzichten, um stattdessen die immanenten Gesetzlichkeiten der Phänomene aufzuweisen. Cassirer bezieht sich daher gerne auf ihn, wo es um die Kritik an der Abbildtheorie der Erkenntnis geht; vgl. dazu schon ECW 3, 336 – 3 42, bes. 339 – 3 41, und ähnlich in ECN 8, 18 – 22, sowie im Zusammenhang seiner Deutung der Relativitätstheorie ECW 10, 61 – 6 4, und ECN 8, 36 – 38.
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stellung, das System der Wissenschaften entspringe einer gemeinsamen Wurzel. Cassirer würde demzufolge annehmen, dass die Spezifikationen der wissenschaftlichen Begriffe bis in ihre Besonderungen hinein aus einem einzigen Grundbegriff abzuleiten wären. Ein solcher Anspruch wird auf diesen Seiten zwar nicht explizit formuliert und scheint daher vielleicht weit hergeholt, liegt Cassirer aber nicht notwendiger Weise fern. Schließlich hatte er bereits in seiner Theorie des wissenschaftlichen Begriffs die These vertreten, dass Begriffe genau in dem Sinne allgemein sind, dass sie das Besondere einbegreifen und aus sich hervorgehen lassen.179 Es geht im System der Wissenschaften nach der Unterscheidung Hönigswalds jedoch nicht mehr um das Besondere, das unter einen Begriff subsumiert wird, sondern um die Besonderung, die ein Begriff in seiner Spezifikation erfährt. An der systematischen Herausforderung, die spezifischen Grundbegriffe der exakten Wissenschaften und ihrer besonderen Felder aus einem Begriff abzuleiten, scheitert Cassirer jedoch, wenn er wiederholt auf unableitbare Begriffe stößt und sie als weitere Grundbegriffe voraussetzen muss. Die Zahl, von der Cassirer im ersten Diagramm ausgeht, muss so durch den Raum als eigene, spezifische Form des mathematischen Begriffs ergänzt werden. Aber auch die Physik sowie die Chemie beruhen auf spezifischen begrifflichen Voraussetzungen, die sich nicht aus den mathematischen Begriffen ableiten lassen. Im zweiten Diagramm führen mehrere Linien daher nicht vom allgemeineren Begriff zu seinen Spezifikationen, sondern verweisen von einem wissenschaftlichen Gebiet auf weitere begriffliche Voraussetzungen zurück. Dadurch dominieren nicht mehr wie im ersten Diagramm Λ-förmige Gabelungen, sondern V-artige Liniengefüge. In diesem graphischen Umschlag von Λ- zu V-Formen wird das Modell des ›Hervorgehens‹ der wissenschaftlichen Gebiete aus einer Wurzel außer Kraft gesetzt, zumal die »Ordnungsund Zuordnungsfunktion (ω)« im zweiten Diagramm in den Titel gerückt wurde und daher gar nicht mehr als Wurzel des Systems dargestellt ist. Die Folge der Diagramme macht so sichtbar, dass das ›System der exakten Wissenschaften‹ und ihrer spezifischen Grundbegriffe nicht aus einem einzigen Grundbegriff abzuleiten ist. Die V-artigen Gefüge des zweiten Diagramms legen schon eher die Vorstellung nahe, dass die verschiedenen Felder der Mathematik aus einer Kombinatorik von vorgängigen Grundbegriffen wie Zahl, Raum und Zeit hervorgehen würden, wobei allerdings zu klären wäre, worin sich wiederum diese Grundbegriffe begründen. Daher drängt sich ein anderes Verständnis des Verhältnisses der spezifischen Gebiete und der Grundbegriffe der Wissenschaften auf: Statt eine Konzeption des wissen179
Vgl. ECW 6, 18 f.
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schaftlichen Begriffs oder eine kleine Menge von Grundbegriffen als Grundlage anzunehmen, um die wissenschaftlichen Gebiete zu spezifizieren und ihre systematische Ordnung zu begründen, ist von diesen sich historisch entwickelnden Gebieten auszugehen, um auf ihre jeweiligen begrifflichen Voraussetzungen zu reflektieren. An die Stelle der Ableitung eines Systems, das auf dem Begriff gründet und ihn Schritt für Schritt entfaltet, tritt eine Reflexion, die von der historischen Gegebenheit der Wissenschaften ausgeht, um ihre sich ausdifferenzierenden Grundbegriffe soweit möglich zu systematisieren. In den Diagrammen eines ›Systems der exakten Wissenschaften‹ und dem graphischen Umschlag von Λ- zu V-Formen deutet sich daher eine methodische Entscheidung an, die für das gesamte Projekt der »Philosophie des Symbolischen« von entscheidender Bedeutung und in der vorliegenden Studie noch eingehender zu erörtern sein wird: Statt den Begriff des Symbolischen nach dem wirkmächtigen, aber vereinseitigten Vorbild Hegels zum Ausgangspunkt einer Deduktion und Begründung zu nehmen, besinnt sich Cassirer auf einen reflektierenden Zugang im Sinne der kantischen Tradition zurück. Er wird das Modell der transzendentalen Reflexion auf die notwendigen Bedingungen der Erkenntnis und ihrer Gegenstände dabei weiterentwickeln und vor allem mit Bezug auf die historische Entfaltung und empirische Vielfalt der Formen der Symbolisierung den Anforderungen seines kulturphilosophischen Projekts anpassen. Diese These lässt sich nicht allein anhand der diskutierten Diagramme belegen und wird im zweiten Kapitel mit Bezug auf Cassirers Relektüre von Kants Kritik der Urteilskraft weiter dargelegt werden müssen. Es spricht aber bereits im Rückblick auf die erkenntniskritischen Schriften einiges dafür, dass Cassirer eine dezidiert reflektierende Haltung einnimmt. Ganz allgemein ist davon auszugehen, dass sein Philosophieren von Kants kritischer Philosophie und der transzendentalen Reflexion geprägt ist. In dem hier exponierten Kontext ist aber von größerem Interesse, dass Cassirers Reflexion auf die Bedingungen der Erkenntnis stets von den Wissenschaften als historischen Gegebenheiten ausgeht. Seine Bemühungen um ein ›System der exakten Wissenschaften‹ sind daher stets im Zusammenhang dessen zu sehen, was man die erkenntniskritische ›Empirie‹ Cassirers nennen könnte: Die Grundbegriffe der Mathematik wurden so bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff nicht allein von der Philosophie her begründet, sondern zuallererst in einer ebenso kenntnisreichen wie sorgfältigen Auseinandersetzung mit der Entwicklung und dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung herausgearbeitet. Die philosophische Analyse der Wissenschaften und ihrer Begriffe bleibt so stets auch an deren historische Entwicklung geknüpft – alle Grundbegriffe, die die Philosophie ihr abzuringen vermag,
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müssen deshalb selbst als historische verstanden werden.180 Zudem bildet das erste große systematische Werk Cassirers einen engen Zusammenhang mit seiner historischen Studie Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit von 1906/07, die neben Philosophie- und Wissenschafts- oft auch die allgemeine Kulturgeschichte einbezieht. Cassirers erkenntniskritische Reflexion ist somit stets im engen Bezug auf die geschichtliche Entwicklung zu sehen und setzt letztlich die Gegebenheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Disziplinen voraus, was Cassirer in der posthum veröffentlichten Studie Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis von 1936/37 so explizit wie programmatisch formulieren wird.181 Die große Bedeutung, die Cassirer der historischen Entfaltung der Wissenschaften beimisst, und die enorme Arbeit, die er in das Studium der verschiedenen Disziplinen investiert hat, sind nicht minder wertvolle Indizien dafür, dass sein ›System der exakten Wissenschaften‹ stets im Horizont einer Reflexion zu sehen ist, die von der Geschichte der modernen Wissenschaft und ihrer disziplinären Ausdifferenzierung ausgeht.
Im Hintergrund dieses philosophischen Selbstverständnisses von Cassirers erkenntniskritischen Schriften steht die Transformation des Apriori, wie sie der Marburger Neukantianismus vorgenommen hat, an die Cassirer auch in Substanzbegriff und Funk tionsbegriff anschließt, vgl. ECW 6, 289 f. Ich werde im zweiten Kapitel auf diese Thematik zurückkommen. 181 »Nur ein vollständiger Überblick über das Tun der Wissenschaft selbst, über die Probleme, auf die sie in ihrem Gange geführt wird, und über die Mittel, die sie zu ihrer Lösung benutzt, kann hier die Entscheidung bringen. Ehe wir die einzelnen Ansätze, die hier möglich sind, anerkennen oder verwerfen, ehe wir über ihren logischen Wert oder Unwert urteilen, müssen wir versuchen, sie vollständig kennen zu lernen. Auf eine solche Kenntnisnahme, der die Entscheidung der Rechts- und Geltungsfrage, die Frage nach dem ›quid juris‹ nicht vorangehen, sondern auf die sie erst folgen kann, sind die folgenden Untersuchungen gerichtet. Wir versuchen somit keine Interpretation der verschiedenen Formen der Wirklichkeitserkenntnis von oben her und von aussen her – wir wollen vielmehr alle diese Formen gewissermassen sich selbst auslegen lassen, indem sie sich vor uns entfalten und uns in dieser Entfaltung, ihre Artikulation, ihren Zusammenhang wie ihre Besonderung, deutlich machen. Auch die Frage nach der ›Ursache‹ dieser Gliederung kann und soll uns hier im Anfang noch nich beschäftigen. Statt nach dem ›Warum‹ fragen wir zunächst lediglich nach dem ›Was‹ und ›Wie‹. Denn es scheint, daß die Warum-Frage, wenn sie zu früh einsetzt und wenn sie einseitig in einer bestimmten Richtung verfolgt wird, den freien Überblick über die Mannigfaltigkeit der hier vorliegenden Probleme und Phaenomene eher hemmt, als fördert.« (ECN 2, 7) 180
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Weitere Ausführungen der Spezifikation: Die Ästhetik und die Künste In den letzten Abschnitten wurde die konzeptionelle Bewegung verfolgt, die die »Philosophie des Symbolischen« prägt. Die Verallgemeinerung des wissenschaftlichen Begriffs zum Symbolischen, erstens, zieht eine Reihe von Konsequenzen nach sich. Sie erfordert zweitens, die Respezifikation des Symbolischen für die einzelnen Formen der Symbolisierung. Diese Respezifikation skizziert Cassirer, drittens, versuchsweise für den wissenschaft lichen Begriff selbst. Viertens führt er sie bis auf die Ebene der spezifischen Begriffe einzelner Disziplinen und wissenschaftlicher Arbeitsfelder durch. Hierbei erwies es sich zuletzt, fünftens, als zumindest wahrscheinlich, dass Cassirer kein deduktives, sondern ein reflektierendes Vorgehen verfolgt. Deshalb verknüpft sich die Aufgabe der Spezifikation des Symbolischen, sechstens, mit der notwendigen Vertrautheit oder Kenntnis der Gegebenheiten. Schließlich ist die symbolphilosophische Reflexion somit, siebtens, nicht ohne eine historische oder empirische Beschreibung dieser Gegebenheiten zu fassen, die sich entsprechend des Grundgedankens der Spezifikation als in sich vielfältige und differenzierte Sachlagen darstellen. Der Fortgang der Disposition wird diese Analyse weiter bestätigen. Nachdem der nur knapp einseitige Abschnitt »IV) Allgemeine Erkenntnislehre« eine »›Erkenntnistheorie des Symbolischen‹« umrissen und dabei im Wesentlichen auf zentrale Gedanken aus Substanzbegriff und Funktions begriff verwiesen hat,182 belegt der Abschnitt »V) Die Grundprobleme der Aesthetik«183 die wesentliche Bedeutung der Spezifikation auf der Ebene der ›Symbolformen‹. Cassirer betont nämlich zum einen mit Blick auf die Künste – wie zuvor hinsichtlich »Psychologie« und »Logik des Symbolischen« –, dass ›das Symbolische‹ nicht als ein Phänomen innerhalb der Kunst, sondern als ihre wesentliche Bedingung zu denken sein wird; zum anderen fragt er damit aber zugleich nach der Eigenständigkeit und Differenzierung des Ästhetischen: »Wiederum zunächst nicht zu fragen nach der / Rolle des Symbolischen in der Aesthetik / (so die Frage fast ausschliesslich gestellt!) / sondern nach der konstituierenden Rolle des / ›Symbolischen‹ in der Abgrenzung des aesthet. ›Gesichts- / punkts‹, des aestheti182 Die Stichpunkte zitieren in erster Linie zwei argumentative Komplexe aus dem älteren Werk an: das Verhältnis von »Allgemeinem« und »Besonderem« sowie das »Problem der ›empirischen Realität‹« (Disposition 1917, 20). Ich gehe allerdings nicht auf die Anmerkungen am unteren Rand der Seite ein, die sich auf den Unterschied von »empirischer Wissenschaft« und »Geschichtswissenschaft« beziehen. Sie sind wohl später hinzugefügt worden, wie die gedrungenen Zeilen vermuten lassen. 183 Disposition 1917, 21, wie auch das folgende Zitat.
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schen ›Gebiets‹! / Also ganz analog wie oben beim Logischen! / [cf Allg. Dispos. Blatt II a!]« Das Symbolische der Kunst soll offenbar zugleich ihre allgemeinen Bedingungen wie ihre spezifische Charakteristik zu begreifen helfen, wobei sie gleichberechtigt neben andere Formen der Symbolisierung wie den wissenschaftlichen Begriff tritt. In systematischer Hinsicht greift Cassirer hier auf, was er in Freiheit und Form bereits historisch entwickelt hatte, nämlich die »Entdeckung der ästhetischen Formwelt«184 . Um die spezifische Form der künstlerischen Symbolisierung zu charakterisieren, bedarf es aus Cassirers Sicht zunächst einer systematischen Bedingung. Sie muss nämlich überhaupt als eine Form der Symbolisierung anerkannt werden, weshalb sich Cassirer wie schon in seiner ideengeschichtlichen Studie gegen die Auffassung wendet, die Künste hätten sich nach dem »Maßstab der absoluten Realität« zu richten, der anderweitig gegeben wäre.185 In der Vorstellung der Nachahmung oder Mimesis verfehlen, so Cassirer, idealistische wie empiristische Ästhetiken eine angemessene Charakterisierung der Kunst und ihrer eigenen Gesetze: »Wir setzen nicht eine Stufe als ›die‹ schlecht- / hin wirkliche – sondern wir fragen: welche / positive, qualitativ bestimmte Gestaltungs- / form entspricht der aesthetischen ›Auffassung‹«186 . Aber auch Theorien der Kunst als Schein, Illusion oder Spiel bleiben jenem Maßstab in einer bloß negativen Charakterisierung noch verhaftet. Cassirer plädiert daher für eine konzeptionelle Umdisposition, die an die Stelle einer ästhetischen Theorie der Mimesis und des Abbilds eine Konzeption der Gestaltung und »spezifischen Bildungsweise«187 treten lässt. Wie diese ›Bildungsweise‹ zu fassen wäre, deutet Cassirer lediglich in einer kurzen Notiz zu Lessings Laokoon an, die eine ähnliche Passage aus Freiheit und Form aufgreift und eine Charakterisierung einzelner Künste mit Blick auf die jeweils benutzten »spezifischen ›Zeichen‹« anreißt.188 Die Spezifizierung der ›Symbolform‹ wird somit auch im Ästhetischen bis in seine internen Differenzierungen hinein fortgeführt: »Diese Vertiefung in die ›Zeichen‹ führt zu einer / tieferen Erfassung der aesthet. Ausdrucksform (als positiv spezifischer, von ihr selbst nicht / vom Gegen So der Titel des zweiten Kapitels in ECW 7, 66 – 148, wobei in der dritten Auflage, nach der sich ECW 7 richtet, an die Stelle der ›Entdeckung‹ die ›Entstehung‹ getreten ist. 185 Disposition 1917, 21. Ebd., 23, heißt es weiter: »Der positive Sinn der aesthet. Funktion als / solcher; der Kern ihrer eigentüml. Symbolik / ist hier überall wieder durch den Begriff der / ›Nachahmung‹ und eines Nachzuahmenden verdunkelt«. 186 Disposition 1917, 22. 187 »Schillers Schein- und Spieltheorie daher viel- / mehr umzuformen in die positive ›Bildtheorie‹ / des Aesthet. als spezifische Bildungsweise.« (Disposition 1917, 22) 188 Vgl. ECW 7, 93 f. 184
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stand aus gesehen) überhaupt. Die spezif. aesthet. ›Gebiete‹ unter dem Aesthet. als Gesamtgebiet.«189 Die Stichpunkte zur Ästhetik gehen nicht wesentlich über diese Andeutungen hinaus. Cassirer hat mit seiner Forderung nach einer Betrachtung der ›spezifischen Bildungsweise‹ der Kunst aber einen Zugang zum Feld des Ästhetischen gefunden, der sich dem Ansatz seines symbolphilosophischen Projekts einfügt: In der Ästhetik tritt wie in der Theorie der Erkenntnis an die Stelle des Abbilds einer gegebenen Wirklichkeit der Prozess des Bildens zur Wirklichkeit hin, so dass die Kunst als eine spezifische Form des Symbolischen zu begreifen ist. Die wesentliche, die gesamte Disposition von 1917 durchdringende konzeptionelle Innovation ist dabei, dass das Symbolische zugleich allgemein und spezifisch ist, dass es alle Formen der Symbolisierung umfasst und sich zugleich nur in diesen konkreten Spezifikationen realisiert. Um diese Spezifikationen zu beschreiben und ihren Zusammenhang zu reflektieren, bedarf es jedoch ihrer genauen Kenntnis. Erst nach einer umfassenderen Recherche zur Ästhetik, allein auf der noch zu schaffenden Grundlage einer sorgfältigeren ›Empirie‹ glaubt Cassirer daher die philosophische Reflexion auf die ›spezifische Bildungsweise‹ der Kunst und der Künste weiterführen zu können. Die Disposition der »Philosophie des Symbolischen« von 1917 konzipiert somit nicht nur das neue Projekt, sie zeichnet auch die Felder konkreter, materialer Studien vor. Statt weiterer Ausführungen lässt Cassirer daher eine Literaturliste folgen, die auch als Verweis auf künftige, in diesem Feld notwendige Recherchen zu verstehen ist. Die »Metaphysik des Symbolischen«: Symbol- und Kulturphilosophie Die Disposition hat sich in den vorangehenden Abschnitten den verschiedenen Spezifikationen des Symbolischen gewidmet, indem sie die ältere Theorie des wissenschaftlichen Begriffs dem neuen symbolphilosophischen Ansatz einordnete und ihr sogleich das Feld des Ästhetischen programmatisch zur Seite stellte. Nachdem also die Differenzierung der Symbolformen im Zentrum stand, bezieht sich der letzte Abschnitt der Disposition »VI) Die Metaphysik des Symbolischen«190 erneut auf die Leistungen des Symbolischen im Allgemeinen: Wie die am Anfang stehende »Psychologie« die symbolischen Bedingungen des Psychischen behandelte, wird es auf den folgenden Seiten komplementär um dieselben symbolischen Bedingungen der Wirklichkeit gehen. Die Stichpunkte zur »Metaphysik des Symbolischen« 189
Disposition 1917, 24. Disposition 1917, 25.
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knüpfen dabei an die Problematik der Spezifikation des Symbolischen an und geben mit der Akzentuierung der Einheit und Vielfalt der Symbolformen die systematische Ausrichtung des symbolphilosophischen Projekts Cassirers zu erkennen. Vorweg muss jedoch der für Kenner von Cassirers Philosophie zunächst überraschende Titel des letzten Abschnitts der Disposition erläutert werden. Der Titel einer »Metaphysik des Symbolischen« überrascht vor allem vor dem Hintergrund von Cassirers früheren erkenntniskritischen Schriften. Das Wort ›Metaphysik‹ hatte Cassirer dort entweder zur Bezeichnung historischer Positionen benutzt – wie z. B. der ›Aristotelischen Metaphysik‹ – oder zur Kennzeichnung von systematischen Gegenpositionen zu Kants erkenntnistheoretischer Reflexion. Unter Metaphysik fällt in dieser systematischen Hinsicht vor allem die Annahme an sich existierender Dinge, die in der Erkenntnis gleichsam widerzuspiegeln wären, wohingegen Cassirer sie in kantischer Tradition als Resultate eines Objektivierungsprozesses begreift, der auf den Bedingungen von Erfahrung und Erkenntnis beruht: »All das, was die Metaphysik den Dingen an und für sich als Eigenschaft beilegt, erweist sich jetzt als ein notwendiges Moment im Prozeß der Objektivierung.«191 Das eigene Philosophieren verstand Cassirer daher im Einklang mit seinen Marburger Lehrern als eine Kritik der Metaphysik (wie auch des Empirismus).192 Dass er die Disposition seines neuen Projekts nun mit einer »Metaphysik des Symbolischen« beschließt, wirft vor diesem Hintergrund die Frage nach dem grundlegenden Selbstverständnis von Cassirers »Philosophie des Symbolischen« auf.193 Cassirers Überlegungen zu einer »Metaphysik des Symbolischen« sind aber keinesfalls mit einer Abwendung von der neukantianischen Reflexion verbunden, wie sich in der Disposition sehr schnell zeigt. Denn Cassirer führt mitnichten die Annahme einer an sich seienden Wirklichkeit ein, wenn er von einer »Metaphysik des Symbolischen« spricht. Ebenso wenig bezieht er sich damit auf eine historische Position, die es mit Blick auf eine solche Annahme wiederzubeleben gälte. Vielmehr greift Cassirer auf den Begriff der Metaphysik zurück, weil er deren ›Grundproblem‹ in aller 191 ECW 6, 328. Vgl. auch ebd., 255: »Das Grundmotiv, das aller Metaphysik der Er kenntnis eigen ist, tritt hier wiederum deutlich hervor. Was im Erkenntnisprozeß selbst als unlösliche Einheit von Bedingungen erscheint und wirksam ist, das wird in der Betrachtungsweise der Metaphysik zu einem Widerstreit von Dingen hypostasiert.« 192 Vgl. Paul Natorp, »Kant und die Marburger Schule«, in: Kant-Studien 17 (1912), 193 – 221, hier 196 – 198 und 201 f. 193 Diese veränderte Einstellung zur Metaphysik hat Carl. H. Hamburg sehr früh bemerkt, vgl. »Cassirer’s Conception of Philosophy«, in: Schilpp (Hg.), The Philosophy of Ernst Cassirer, 73 – 119, hier 116 f.
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Allgemeinheit wieder aufgreifen und neu verhandeln will. Bereits in der ersten Zeile der Stichpunkte zur »Metaphysik des Symbolischen« hält er fest: »Wir gehen aus von dem Grundproblem der Me- / taphysik – dem Verhältnis von Wahrheit und / Wirklichkeit – «194 . Dieser Ansatz stellt zumindest für den Fall der Erkenntnis innerhalb von Cassirers Texten keine Neuheit dar. Insbesondere im Kapitel »Der Begriff der Wirklichkeit« von Substanzbegriff und Funktionsbegriff argumentierte Cassirer klassisch neukantianisch, die ›Transzendenz‹ der Wirklichkeit entspringe dem Bestand oder der Wahrheit von Urteilen.195 Wahrheit und Wirklichkeit sind daher letztlich als Korrelate im Erkenntnisprozess zu begreifen wie auch Denken und Sein oder Subjekt und Objekt. Sie werden aus Cassirers Sicht allein von ›der Metaphysik‹ voneinander getrennt, verräumlicht und substantialisiert, so dass sie schließlich nicht mehr miteinander zu vermitteln sind und stattdessen gegeneinander ausgespielt werden.196 Es ist somit zwar überraschend, dass Cassirer seinen symbolphilosophischen Ansatz mit dem Titel der Metaphysik verbindet. Er bezieht sich damit aber auf ein ›Grundproblem‹, dessen kantische Auflösung er in Substanzbegriff und Funktionsbegriff bereits vorgezeichnet hatte: Jedes Objekt steht unter den Bedingungen seiner subjektiven Erkenntnis, jedes Sein ist prinzipiell als Resultat einer Synthese im Denken zu fassen und alle objektive Wirklichkeit kann nur im Modus des Urteils und seiner Wahrheit gegeben sein. Vor diesem Hintergrund steht zu vermuten, dass Cassirer auch in der Disposition von 1917 auf das ›Grundproblem der Metaphysik‹ zurückgeht, um es einer neukantianischen Lösung zuzuführen. Diese Vermutung wird bestätigt durch den historischen Rekurs, den Cassirer wie so oft zunächst folgen lässt. Er setzt in erster Linie bei Parmenides und Descartes ein und Disposition 1917, 25. »Allgemein zeigt es sich jetzt, daß das Problem der Wirklichkeit, je weiter man zu seinen einzelnen Bedingungen vordringt, um so deutlicher wiederum in das Problem der Wahrheit einmündet. Ist einmal begriffen, wie die Erkenntnis zu einer Konstanz bestimmter Prädikate, zu einer gesetzlichen Festigung von Urteilszusammenhängen gelangt, so bietet die ›Transzendenz‹, die dem Gegenstand gegenüber der bloßen Vorstellung zuzusprechen ist, keine neue prinzipielle Schwierigkeit mehr dar.« (ECW 6, 308) 196 »Das charakteristische Verfahren der Metaphysik besteht nicht darin, daß sie das Gebiet der Erkenntnis überhaupt überschreitet – denn außerhalb dieses Gebiets gäbe es für sie nicht einmal mehr Stoff zu möglichen Fragestellungen – [sic!] sondern daß sie, im Gebiet der Erkenntnis selbst, zusammengehörige Gesichtspunkte, die nur in bezug aufeinander bestimmt sind, voneinander abtrennt und somit das Logisch-Korrelative in ein Dinglich-Gegensätzliches umdeutet. […] An keiner Stelle tritt dieser Zug so deutlich hervor und an keiner Stelle ist er so bedeutsam und folgenreich wie in der alten Grundfrage nach dem Verhältnis des Denkens und Seins, des Subjekts und Objekts der Erkenntnis.« (ECW 6, 292) 194 195
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wendet sich vor allem gegen ein traditionelles Verständnis des Erkennens als ›Abbilden‹ einer an sich existierenden Wirklichkeit: Ob die Vorstellungen als ›Abbilder‹ der Gegenstände, die sie verursachen, erklärt werden sollen wie in einer Tradition, die er von Aristoteles über die mittelalterliche species-Theorie bis hin zum Empirismus aufspannt, oder die Gegenstände als Abbilder der Ideen, wofür er paradigmatisch Platon nennt, stets sieht Cassirer »die Notwendigkeit, / Unaufheblichk. des Symbolischen«197 nicht hinreichend reflektiert, da unvermittelt vom Abbild auf das ›Urbild‹, die Wirklichkeit selbst, ob nun empiristisch oder idealistisch verstanden, zurückgegangen wird. Auf diesem Wege tritt der produktive Charakter der Vermittlung von Wahrheit und Wirklichkeit in den Hintergrund. Durch die Frage nach dem Symbolischen soll dagegen genau diese Leistung ins Zentrum der philosophischen Reflexion rücken.198 In dieser Perspektive geht Cassirer das ›Grundproblem der Metaphysik‹ an und versucht die Konsequenzen des neukantianischen Ansatzes auf voller Breite zu ziehen. Im historischen Rekurs der Disposition zeigt sich dieser Ausgangspunkt im Bezug auf die »Überwindung der Abbildtheorie / in der ›Copernikanischen Drehung‹«, die vielleicht als das zentrale Motiv des Marburger Neukantianismus gelten kann, sich aber zuallererst auf die »positiv-spezifische Charakteristik der Erkenntnis- / funktion« bezog.199 Die Frage der Erkenntnis sieht Cassirer daher zum einen als maßgebliches Paradigma der kopernikanischen Drehung und der durch sie ins Zentrum rückenden Leistung des Symbolischen: »Damit erst ist die Nachahmungsidee überwunden: / die Allegorie ist in das positive ›Symbol‹ / übergegangen …«200 Zum anderen stellt die Erkenntnis nun aber lediglich eine Form der Symbolisierung dar, so dass die kopernikanische Drehung auch für die anderen Formen durchzuführen ist: »Neues Verhältnis von Wahrheit und Wirklich- / keit ! / Positive Durchführung dieses Verhältnisses«.201 Disposition 1917, 28. In Disposition 1917, 17, stellt Cassirer so auch fest: »Auch die ›Gegenstands erkenntnis‹ bleibt ja – symbolisch, / sofern sie nicht das ›Ding an sich‹ gibt«. 199 Disposition 1917, 28 f. Im Anschluss an die zitierte Formulierung führt Cassirer aus: »diese Funktion bildet den / Gegenstand nicht nach, sondern sie kon- / stituiert diesen Gegenstand – ja sie ›ist‹ / – der Gegenstand selbst. / Insofern das Gesetz des Logischen der – ›Urheber / der Natur‹ !« Mit der Formulierung vom ›Urheber der Natur‹ greift Cassirer wie beispielsweise auch in ECW 4, 350, oder Blatt 8, 7 eine kantische Formulierung aus KU, A 460/B 466, auf. Sie führt ins Zentrum der Problematik der reflektierenden Urteilskraft, der das zweite Kapitel der vorliegenden Studie gewidmet ist. 200 Disposition 1917, 29. 201 Disposition 1917, 30. Das Schlagwort von der ›Copernikanischen Drehung‹ durchzieht daher auch kaum überraschend die Aufzeichnungen, vgl. Blatt 8, 7 (Seite zu »4) Logik, Wissenschaft«), Blatt 10, 3, und Blatt 25, 1. Vgl. auch in der Einleitung zu ECW 11, 197 198
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Cassirers »Metaphysik des Symbolischen« geht daher insofern über seine erkenntniskritischen Schriften hinaus, als die neukantianische Reflexion unsere Auffassung der Wirklichkeit nun in all ihren Formen einbeziehen und für die jeweils spezifischen Bedingungen der Symbolisierung ausgeführt werden soll. Wie Cassirer die Grundzüge seines neuen Projekts zuallererst durch die Erweiterung seiner erkenntniskritischen Ansätze vorzeichnet, zeigt auch Blatt 7 aus seinen Arbeitsnotizen. Unter dem Titel »Allgemeines zum ›Symbolproblem‹« behandelt Cassirer erneut die beabsichtigte Erweiterung der »Copernikanischen Drehung« über die »isolierte logische Funktion« hinaus: »wir suchen alle die verschiedenen / Formen der Weltansicht u. des Weltverständnisses / in gleicher Weise zu umfassen«202 . Er beruft sich mit seinem Vorhaben somit auf Kants Theorie der Erkenntnis und legt dabei eine methodische Kontinuität nah: »In diesem Sinne weitet sich / uns die Aufgabe der blossen Vernunftkritik / zur Kritik der geistigen Symbole überhaupt –/ die Kritik des ›Verstandes‹ zu der des ›Ver- / ständnisses‹. Alle Mittel des Weltverständnisses / gehören gleichzeitig zu ihr: und um sie drehen wir / kopernikanisch den Gegenstand – die Welt.«203 Die »Metaphysik des Symbolischen« stellt somit eine Erweiterung und zugleich eine differenzierte Durchführung von Kants erkenntnistheoretischem Ansatz dar. Sie sollte deshalb aber keinesfalls als starres Beharren auf vertraute Grundlagen missverstanden werden. Denn in der zitierten Formulierung von Blatt 7 klingt bereits die bekannte Stelle aus der Einleitung des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen an, die programmatisch eine grundlegende Transformation der kantischen Kritik ankündigt: »Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur«204 . Offenbar hat die Durchführung von Kants Reflexion für neue Gebiete des Wirklichkeitsverständnisses im Laufe der Arbeit methodische Anpassungen erfordert. Der neukantianische Ansatz darf daher von vornherein nicht als Programm aufgefasst werden, das ungeachtet der Gegenstände abgearbeitet wird. Er sollte mit Blick auf Cassirers neues kulturphilosophisches Projekt schon zu interpretativen Zwecken als eine heuristische Anordnung gesehen werden, deren Durchführung an den Gegenständen wesentlich offen ist.205 7 – 9, sowie ECW 12, 35. Die ersten Entwürfe bestätigen so die treffenden Beobachtungen zur engen Verknüpfung der kopernikanischen Drehung und der »Entdeckung des Symbols« von Ursula Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg 2002, 82 – 87. 202 Blatt 7, 1. 203 Blatt 7, 2. 204 ECW 11, 9. 205 Vgl. insbesondere mit Bezug auf die Rolle der ›transzendentalen Methode‹ im
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Dass Cassirer die kantische Philosophie und die kopernikanische Drehung nicht als feststehende Programme betrachtet, sondern eher als eine Aufgabe, die immer auch die Möglichkeit von inhaltlichen Erweiterungen und methodischen Anpassungen einschließt, lässt sich anhand seiner Gesamtdarstellung von Kants Leben und Lehre belegen. In der 1918 veröffentlichten, aber bereits 1916 im Manuskript ausgearbeiteten Schrift stellt Cassirer die kopernikanische Drehung nämlich nicht nur als Resultat der Bemühungen des ›vorkritischen Kant‹ dar, sondern in erster Linie als eine neue philosophische Aufgabe. 206 Sie ist nämlich insofern als Aufgabe zu begreifen, als in ihr vielfältige fruchtbare Konsequenzen, Fortführungen und Umwandlungen angelegt, aber noch keineswegs entfaltet sind. Diese Perspektive eröffnet in Cassirers Darstellung zunächst den Blick auf Kants weiteres Philosophieren und bezieht die erste Kritik auf die folgenden Kritiken, die ebenso ›Erweiterungen‹ wie ›Berichtigungen‹ vornehmen. 207 Aber auch über Kant hinaus bleibt die kopernikanische Drehung aus Cassirers Sicht eine der »fortdauernden Aufgaben der Philosophie selbst«208 . Die »Philosophie des Symbolischen« stellt sich in den Stichpunkten zur »Metaphysik« in den Horizont genau dieser Aufgabe. Es ist daher auch alles andere als zufällig, dass sich in Cassirers Darstellung der kopernikanischen Drehung innerhalb von Kants Leben und Lehre wohl der erste, aber kaum gewürdigte Vorgriff auf das spätere kulturphilosophische Projekt findet. In Anspielung auf die kantische Transformation der ›Metaphysik‹, die die formativen Bedingungen der Gegenstände unserer Erfahrung ins Zentrum rückt, formuliert Cassirer: »›Metaphysik‹ muß Metaphysik der Wissenschaften, muß Prinzipienlehre der Mathematik und Naturerkenntnis, oder aber sie muß Metaphysik der Sittlichkeit, des Rechts, der Religion, der Geschichte sein, wenn sie überhaupt einen bestimmten Gehalt für sich in Anspruch nimmt. Sie faßt diese mannigfachen Neukantianismus auch Fabien Capeillères, »Sur le néo-kantisme de E. Cassirer«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 97 (1992), 517 – 546, bes. 518 – 525. 206 Vgl. zum Folgenden die ganze Passage ECW 8, 140 – 150. Ebd., VIII, gibt Cassirer selbst die Auskunft, dass das Manuskript »schon im Frühjahr 1916 druckfertig« vorlag. 207 Mit Bezug auf die Kritik der Urteilskraft formuliert Cassirer: »Es entsteht die Aufgabe, im Einzelnen zu betrachten, wie weit durch diese Umbildung die früheren Fundamente bestätigt und wie weit sie dadurch erweitert und berichtigt werden.« (ECW 8, 276) Cassirer deutet die drei Kritiken daher als die Entfaltung eines dreiteiligen Systems von Erkenntnis, Ethik und Ästhetik, bei dem die Kritik der reinen Vernunft noch keineswegs angelangt war, ja das sich in ihr noch nicht einmal abzeichnete, vgl. ebd., 208 f. Wie Cassirer betont, sind es dabei die systematischen Herausforderungen und nicht etwa Kants zwanghafte Systematik, die Kant von Kritik zu Kritik führen, vgl. ebd., 262 – 265. 208 ECW 8, IX , mit Bezug auf Hermann Cohen, der diese Aufgabe bereits mit Bezug auf die »Grundprobleme des deutschen Geisteslebens« (ebd.) angenommen habe.
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objektiv-geistigen Richtungen und Betätigungen zur Einheit eines Problems zusammen – nicht um sie in dieser Einheit zum Verschwinden zu bringen, sondern um jede von ihnen in ihrer charakteristischen Besonderung und in ihrer eigentümlichen Bedingtheit ans Licht zu stellen. Damit bleibt die Philosophie auf das gegebene Ganze der geistigen Kultur als notwendigen Ausgangspunkt hingewiesen; aber sie will es nicht mehr als gegeben hinnehmen, sondern sich seinen Aufbau und die allgemeingültigen Normen, die ihn beherrschen und leiten, verständlich machen.«209 Die kopernikanische Drehung wird hier somit auf das ›gegebene Ganze der geistigen Kultur‹ bezogen, um in der transzendentalen Reflexion letztlich eine Philosophie der Kultur zu entwerfen. Dieser programmatische Entwurf zeigt zum einen, wie wenig die Berufung auf Kant es aus Cassirers Sicht ausschließt, über Kant hinauszugehen, setzt er hier doch wie später in der Einleitung der Phi losophie der symbolischen Formen umstandslos den kantischen Verstand mit der Kultur in eins.210 Zum anderen weist dieser Entwurf einige aufschlussreiche Parallelen zur »Philosophie des Symbolischen« aus der Disposition von 1917 auf und belegt so nicht nur erneut, dass das neue Projekt einer Symbolphilosophie im Horizont von Kants kopernikanischer Drehung zu sehen ist, sondern liefert auch eine erste Antwort auf die Frage, warum der letzte Abschnitt der Disposition gerade den Titel einer »Metaphysik des Symbolischen« trägt: Da Cassirer auf das ›Grundproblem‹ der Metaphysik zurückgeht, um die Konsequenzen von Kants kopernikanischer Drehung auf der ganzen Breite unserer Wirklichkeitsverständnisse zu ziehen, kann er sich durchaus auf Kant selbst berufen, der die kritische Reflexion stets als notwendige Vorarbeit zu einer wohl begründeten Metaphysik ansah.211 Ein solcher Rekurs auf Kants Verständnis von Metaphysik würde wiederum sowohl eine Berufung auf die kantische Tradition als auch ihre entschlossene Weiterentwicklung darstellen. Cassirers Rede von einer »Metaphysik des Symbolischen« dürfte aller dings mehr noch mit dem zeitgenössischen Kontext zu tun haben. In den Jahren um 1917 war die Metaphysik zum Schlagwort diverser philosophischer Strömungen geworden, die sich gegen den Neukantianismus und seine angebliche erkenntnistheoretische Verengung der Philosophie wandten. In der Sammelrezension »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik ECW 8, 149 f. »Jetzt erst begreift man ganz das Kantische Wort, daß die Fackel der Vernunftkritik nicht die uns unbekannten Gegenden jenseits der Sinnenwelt, sondern den dunklen Raum unseres eigenen Verstandes erleuchten solle. Der ›Verstand‹ ist hier in keiner Weise im empirischen Sinne als die psychologische Denkkraft des Menschen, sondern im rein transzendentalen Sinne als das Ganze der geistigen Kultur zu verstehen.« (ECW 8, 150) 211 Vgl. dazu die »Vorrede« zur ersten Auflage in KrV, A VII-XXII . 209 210
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und Denkpsychologie« von 1927 ruft Cassirer selbst mit Bezug auf Nico lai Hartmanns Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis von 1921 in Erinnerung: »Als dieses Werk zuerst erschien, da wurde es von vielen, die des ›kritizistischen Denkzwanges‹ überdrüssig waren, als eine ›Wiedergeburt der Metaphysik‹ begrüßt.«212 Auch nach der Einschätzung Herbert Schnädelbachs formierten sich nach der Jahrhundertwende unter der »Parole« der Metaphysik zahlreiche Kritiker des Neukantianismus, die sich gegen die vermeintliche Reduktion der Wirklichkeit auf die Gegenstände der Erkenntnis richteten und vielfältige Gestalten einer »als Ontologie wiedererwachenden Metaphysik«213 ausbildeten. Wie Cassirer in seiner Rezension deutlich macht, stößt er sich genau daran, dass die zeitgenössische Metaphysik sich umstandslos als eine Ontologie versteht. So verwirft er mit Blick auf Hartmann jeden Versuch, der »Analysis […] des Seinsbegriffs« keine »Analysis des Erkenntnisbegriffs […] voraufgehen« zu lassen und damit wiederum »den Primat der Ontologie vor der bloßen ›Gnoseologie‹ [zu] behaupten«214 . Cassirer richtet sich hier wie in der Disposition von 1917 und ihrer kritischen Erörterung des Abbilds somit gegen eine »ontologische Metaphysik«215 . Die »Metaphysik des Symbolischen« ist in diesem Zusammenhang als Gegenentwurf zu verstehen, der am ›Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit‹ ansetzt, die Konsequenzen aus Kants kopernikanischer Drehung zieht und sie in der Vielfalt der symbolischen Vermittlungen durchführt. Cassirer scheint so die Kritik am Neukantianismus aufnehmen und zugleich in die Bahnen des eigenen Projekts lenken zu wollen, indem er über die Frage der Erkenntnis entschlossen hinausgeht und dabei zugleich auf die kantische Reflexion zurückgreift. Das Stichwort der Metaphysik lässt so einen durchaus polemischen Unterton anklingen.216 Cassirers Stichpunkte zu einer »Metaphysik des Symbolischen« lassen trotz dieser polemischen Konstellation aber ebenso Gemeinsamkeiten mit 212 Ernst Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, in: ECW 17, 13 – 81, hier 79. 213 Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 233; vgl. das ganze Kapitel »Sein« ebd., 232 – 262. 214 ECW 17, 67. 215 ECW 17, 14. 216 Mit Blick auf den Nachlassband und die Überschrift ›Metaphysik der symbolischen Formen‹ spricht Orth von einem »ironischen Titel«, vgl. Ernst Wolfgang Orth, »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, in: Ernst Cassirer, Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, hg. von Ernst Wolfgang Orth, Leipzig 1993, 9 – 30, hier 11. Ich wähle für die frühere Disposition dagegen eine Formulierung, die weniger an eine ironisch-distanzierende Haltung denken lässt und stattdessen Cassirers Bereitschaft betont, sich auf Diskussionen einzulassen und dabei klar Position zu beziehen.
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dem Zeitgeist erkennen. Im unmittelbaren Anschluss an die zitierten programmatischen Formulierungen greift Cassirer so auf damals weit verbreitete Topoi zurück, wenn er die Vielfalt unseres Wirklichkeitsverständnisses als konkreten Ausdruck des ›Lebens‹ versteht. Das Sein wird verknüpft mit dem Leben, an die Seite Kants tritt Goethe: »Das Goethesche Wort: ›Das Wahre in den Dingen / werden wir gewahr als unbegreifliches Leben‹ / Dieses für sich, losgelöst ›unbegreifliche‹ / Leben schauen wir an in den verschiedenen / Symbolstufen / Erkenntnis, Kunst, Philosophie, Religion«217. Die Metaphysik des Symbolischen soll den Gedanken der symbolischen Vermittlung des Seins somit nicht nur in verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit durchführen. Sie soll diese Vermittlung als einen ebenso produktiven wie vielfältigen und letztlich lebendigen Prozess begreifen. Das Symbolische ist nicht nur produktiv, insofern es uns Wirklichkeit zugänglich macht, es ›lebt‹, insofern es sich wandelt und entfaltet: »Das Symbol in diesem Sinne – dies immer / gleiche ›Eins‹ im andern und immer wieder / andern – das ist vielleicht die letzte Form / der uns möglichen Metaphysik! / Nicht das Ziel, sondern die Reihe selbst ist es, / was diese Metaphysik feststellt; denn das Ziel wäre / der – Tod; nur die Reihe selbst ist das Leben!«218 Es sind Vielheit und Einheit, die Konkretion und der Wandel der behandelten Phänomene, die Cassirer mit Hilfe des Lebensbegriffs und im Rekurs auf Goethe als Zentrum einer »Metaphysik des Symbolischen« darstellt.219 Diese Konstellation von Begriffen, Semantiken und Referenzen ist um 1900 alles andere als singulär. Goethe, dessen besondere Bedeutung für Cassirers Philosophie John Michael Krois früh hervorgehoben hat,220 spielt für viele andere Denker der Zeit eine zentrale Rolle und galt als Vertreter einer Auffassung von Wirklichkeit, die diese als lebendig und dynamisch, Disposition 1917, 30. Disposition 1917, 32. Das ›dies‹ im ersten Satz ist wegen einer Korrektur nicht sauber zu lesen. 219 Diese Verknüpfung lässt insbesondere Blatt 43 scharf hervortreten, das in ECN 1, 264, abgedruckt ist. 220 Vgl. Krois, Cassirer, 176 – 182, und den wegweisenden Aufsatz John Michael Krois, »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret«, in: Rudolph und Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, 297 – 324, bes. 303 – 308, sowie ders, »Die Goethischen Elemente in Cassirers Philosophie«, in: Barbara Naumann und Birgit Recki (Hg.), Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002, 159 – 172. Vgl. aber auch schon Harry Slochower, »Ernst Cassirer’s Functional Approach to Art and Literature«, in: Schilpp (Hg.), The Philosophy of Ernst Cassirer, 631 – 659, hier 647 ff., sowie für jüngere Arbeiten zur Bedeutung Goethes für das Denken Cassirers z. B. Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols, bes. 71 – 105, und Skidelsky, Cassirer, 75 – 89. Die Wichtigkeit von Cassirers Goethe-Rezeption wurde durch die Edition weiterer Texte aus dem Nachlass nachhaltig unterstrichen, vgl. bes. ECN 10 und ECN 11. 217
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konkret und anschaulich begreift 221. Diesem Versprechen scheinen auch Cassirers Stichpunkte zur »Metaphysik des Symbolischen« zu folgen, was sie unweigerlich in die Nähe der damaligen Lebensphilosophie rückt. 222 Wie Christian Möckel in einer maßgeblichen Studie zudem gezeigt hat, setzt sich Cassirer bereits in seinen frühen Schriften und insbesondere in Freiheit und Form, aber auch in Kants Leben und Lehre intensiv, wenn auch eher beiläufig mit dem Lebensbegriff auseinander. 223 Er greift gerne und häufig auf ihn zurück, um ganz allgemein den Wandel der diskutierten Gegenstände zu unterstreichen und insbesondere die Entsprechung des subjektiven Erlebens und seines objektiven Ausdrucks zu betonen. Cassirer setzt sich im Gebrauch des Lebensbegriffs aber zugleich von zentralen Annahmen lebensphilosophischer Positionen ab und vertritt insbesondere die These, dass das Leben in keinem Erleben unmittelbar zugänglich sei, sondern nur in der Symbolisierung erfahrbar werde.224 Die Symbolisierung findet daher keinen Halt in einer Wirklichkeit des Lebens diesseits oder jenseits ihrer symbolischen Vermittlung, im rein innerlichen Erleben oder in einer postulierten lebendigen Wirklichkeit an sich: »Wir kennen dieses ›Leben‹ nur in seinen ›Äusserungen‹«, so Cassirer.225 Die Symboli sierung bildet daher keinen Gegensatz zu einer lebendigen und dynamischen Wirklichkeit, sondern ist als deren adäquater Ausdruck und sogar als ihre Steigerung zu verstehen. Auf Blatt 13 mit dem Titel »Zur Metaphysik des Symbolischen« macht Cassirer so deutlich, dass es allein der Wandel des 221 Vgl. Christian Möckel, Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebens begriff, Hamburg 2005, 74 f., und ausführlicher ders., Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung. Beiträge aus Lebensphilosophie, Phänomenologie und symbolischem Idealismus zu einer Goetheschen Fragestellung, Berlin 2003, mit Bezug auf Cassirer bes. 155 ff. 222 Dies gilt auch mit Blick auf die evozierte Anschaulichkeit des Symbolischen, wie z. B. Stephensons Kritik an Naumanns eher modernisierender und Anschlüsse an die heutige Zeichentheorie suchenden Interpretation deutlich macht, vgl. R. H. Stephenson, »›Eine zarte Differenz‹: Cassirer on Goethe on the Symbol«, in: Hamlin und Krois (Hg.), Symbolic Forms and Cultural Studies, 157 – 184, hier 164 – 170. Er arbeitet u. a. mit Bezug auf Goethes, von Cassirer oft aufgegriffener Wendung, alles Faktische sei schon Theorie, heraus, dass im ›Symbolischen‹ nicht nur Allgemeines und Besonderes zusammenkommen, und zwar in dem Sinne dass das Allgemeine das Besondere bestimmt und es zugleich doch nur ausgehend vom Besonderen zu fassen ist. Er betont auch, dass sich dieses Verhältnis im symbolischen Phänomen selbst zeigt und es mit ihm in die (ästhetische) Wahrnehmung eingeht. 223 Vgl. Möckel, Das Urphänomen des Lebens, 15 f., wo die zentrale These formuliert ist, sowie die reichhaltigen ersten beiden Kapitel zu Cassirers Rekursen auf den Begriff des Lebens in den Texten bis 1921 ebd., 25 – 140. 224 Vgl. nochmals Möckel, Das Urphänomen des Lebens, 43 – 55. 225 Disposition 1917, 32.
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Symbolischen ist, durch den eine Erfahrung oder eine ›Teilhabe‹ an einem solchen Leben überhaupt möglich wird: »aber wir können darum nicht auf den Begriff / des Lebens verzichten ! Im Gegenteil: er ist / der letzte – ein Leben selbst, an dem wir / in wandelbaren Symbolen ›teilhaben‹ !«226 Das Leben findet sich demnach allein im Symbolischen und zeigt sich im vielfältigen Wandel der Symbolisierungen. Es sind hier zumindest im Ansatz diejenigen Argumente formuliert, die Cassirer in der Einleitung des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen erstmals vorbringen,227 in den Notizen zum geplanten vierten Band der Philosophie der sym bolischen Formen um 1928 weiter ausarbeiten 228 und in seiner Kritik an lebensphilosophischen Positionen in »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philo sophie der Gegenwart« von 1930 schließlich entfalten wird 229. Um die argumentative Entfaltung des Lebensbegriffs in den Stichpunkten zur »Metaphysik des Symbolischen« präziser zu fassen, ist es notwendig, der Bedeutung eines weiteren Denkers für die Genese von Cassirers symbolphilosophischem Projekt Rechnung zu tragen.230 Denn Cassirers Argument, das Leben müsse sich notwendiger Weise ›äussern‹, knüpft nicht nur an Motive an, die bereits zu Beginn der Disposition in der »Psychologie des Symbolischen« mit Bezug auf die Psyche eingeführt wurden. Es lässt bis in die Formulierung hinein vielmehr die Nähe zu Hegels Phäno menologie des Geistes aufscheinen, die sich bereits gegen den romantischen Lebensbegriff gewandt und mit Bezug auf die Wirklichkeit die begriffliche Äußerung oder Vermittlung für notwendig erklärt hatte: Wie im Falle des Blatt 13, 3. Vgl. ECW 11, 46 – 49. 228 Vgl. Ernst Cassirer, »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, in: ECN 1, 3 – 109, bes. 8 – 5 4, und ders., »Symbolische Formen. Zu Band IV«, in: ebd., 199 – 258, bes. 207 – 229 und 238 – 251. Cassirer diskutiert unter dem Schlagwort der Lebensphilosophie ebenso die metaphysisch-spekulativen Überlegungen Klages, Simmels, Bergsons und Heideggers wie auch die anthropologischen, sich mit der Biologie auseinandersetzenden Texte Schelers und Plessners. 229 Vgl. Ernst Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, in: ECW 17, 185 – 205. 230 Ich konzentriere mich im Folgenden auf wenige, für den hier verfolgten Gedankengang zentrale Aspekte, die Cassirers Symbolphilosophie von Hegels Idealismus unterscheiden und zur nachhegelianischen Herausforderung der Philosophie hinführen. Zur Ergänzung verweise auf den lesenswerten Aufsatz von Christian Möckel, »Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ als Vorbild für Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, in: Andreas Arndt und Ernst Müller (Hg.), Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ heute, Berlin 2004, 256 – 275. Möckel betont eher die Nähen Cassirers zu Hegel, dagegen hebt Ferrari die Differenzen hervor, vgl. Massimo Ferrari, »Natur- und Kulturwissenschaften. Cassirer, Hegel und der Neukantianismus«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2007, 67 – 78, bes. 69 – 7 7. 226 227
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Bewusstseins kein ›Inneres‹ ohne ›Äußeres‹ zu denken ist, verfügt auch kein Gegenstand der Erfahrung über ein ›inneres Wesen‹, ohne sich in Symbolisierungen zu ›äußern‹: »aber eben dies ist die Quintessenz unserer ganzen voran- / gehenden Betrachtung, daß die ›Äusserung‹ nichts / Zufälliges, Unwesentliches, ›Äusserliches‹ / ist, sondern daß sie die notwendige, die wahre / und einzige Offenbarung des ›Innen‹ und des / Wesens selbst ist.«231 Diese Behauptung greift Argumentationen Hegels auf, die Cassirer ungefähr zur selben Zeit für seine historische Studie zu den »nachkantischen Systemen« bearbeitet haben dürfte. Im dritten Band der Schrift Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, an dem Cassirer vermutlich bereits 1917 arbeitet, der aber erst 1920 erscheinen wird, ist das vierte Kapitel Hegel gewidmet.232 Es erörtert insbesondere das »wesentliche Verhältnis«, das bei Hegel zwischen »Wesen« und »Erscheinung« waltet und sich, so Cassirer, »in allgemeinster Fassung, in der Wechselbestimmung des ›Innern‹ und ›Äußern‹« auspräge: »Der vollendete Zusammenschluß all dieser Gegensätze, kraft dessen jeder von ihnen sich im andern adäquat darstellt, und somit zwischen dem Bestande der Innerlichkeit und ihrer Offenbarung im Äußern keine Differenz mehr zurückbleibt, ist durch den Begriff der Wirklichkeit zu bezeichnen.«233 Diese Bestimmung der Wirklichkeit weist offenbar große Parallelen zur Annahme der »Metaphysik des Symbolischen« auf, dass die Wirklichkeit nur in ihrer symbolischen Vermittlung oder Äußerung erfahrbar ist. Von den weitreichenden Konsequenzen, die Cassirer wie Hegel daraus ziehen, seien an dieser Stelle nur drei genannt. Erstens ist die Entäußerung, Vermittlung oder Symbolisierung in dem Sinne zentral, dass sich in ihr gleichzeitig die objektive Welt wie ihre subjektive Erfahrung darstellt. Cassirer wie Hegel gehen somit davon aus, dass der Entfaltung der Wirklichkeit in ihren Äusserungen die Entwicklung des Bewusstseins und seiner Erfahrung entspricht, weshalb das eigentliche Subjekt dieses historischen Prozesses der Subjekt wie Objekt umfassende ›Geist‹ ist, von dem Cassirer nach dem Vorbild Hegels in der Philosophie der symbolischen Formen 231 Disposition 1917, 32. Vgl. auch die historische Darstellung in ECW 4, 290 – 292, sowie den systematischen Rekurs auf Hegel in ECW 17, 201 f. 232 Dem zeitlichen wie systematischen Zusammenhang von Cassirers zunächst historischer Auseinandersetzung mit Hegel im dritten Band des Erkenntnisproblems und der Konzeption der Philosophie der symbolischen Formen ist bereits Möckel, »Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹«, 258 f., nachgegangen; vgl. ergänzend auch ders., Das Urphänomen des Lebens, 125 – 129. Cassirer hatte darüber hinaus einen kürzeren Abschnitt zu Hegels Staatslehre in Freiheit und Form aufgenommen, das im Manuskript 1916 abgeschlossen wurde, was also auch dafür spricht, dass Cassirer sich um 1917 mit Hegel beschäftigt, vgl. ECW 7, 375 – 387. 233 ECW 4, 336, vgl. auch ebd., 306.
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gerne spricht. 234 Diese These führt in veränderter Form zugleich die kantische Konzeption der Korrelation von Subjekt und Objekt fort, öffnet sie aber zweitens der Geschichtlichkeit der Wirklichkeit und ihrer Erfahrung. Die Philosophie selbst kann von dieser Geschichtlichkeit, drittens, nicht absehen und muss sie in ihre eigene Darstellung oder, in Cassirers Worten, ihre eigene »Ausführung«235 wesentlich einschließen: »Diese Reihe zu durchschreiten, nicht am / leeren ›Innern‹ kleben zu bleiben, sondern es / in der Folge seiner ›Äusserungen‹ darzustellen / ist, wie Hegel treffend erkannt hat, notwendig. / vgl. Vorrede zur Phaenomenologie des Geistes.«236 Cassirers »Metaphysik des Symbolischen« wird sich daher insofern in den Spuren von Hegels Philosophie bewegen, als sie das »geistige Leben« – so Cassirers Reformulierung – von vorhinein auf die »allgemeinen Formen des Geistes […], wie sie sich in Recht und Staat, in Sittlichkeit und Kunst, in Philosophie und Religion darstellen«237, beziehen und damit in seiner geschichtlichen Entwicklung konkretisieren wird. Cassirer greift so Argumente Hegels auf, um sich gegen die lebensphilosophische Hoffnung auf eine unmittelbare, jeder Symbolisierung vorhergehende Anschauung einer dynamischen, lebendigen Wirklichkeit zu wenden. Zugleich bringt er den Lebensbegriff aber in Stellung gegen Hegels Anspruch, das Leben des Geistes beziehungsweise die Geschichte der Bestimmung der Wirklichkeit und der Bildung des Bewusstseins als dialektische Entfaltung des Begriffs rekonstruieren und dadurch in einer strengen philosophischen Systematik fassen zu können. Dieser Anspruch scheint Cassirer nicht geeignet, die Vielfalt unserer Weltverständnisse und der Formen des Symbolischen philosophisch zur Geltung zu bringen: »Aber die echte Meta physik wird eben dieses / Ganze nicht, wie Hegel, bloss dialektisch / denken wollen u. dürfen – / denn damit stünden wir bereits wieder bei / einem blossen abstrakten Einzelsymbol / sondern in der Fülle und im Zusammenhang / in der Besonderheit der spezifisch-verschiedenen / Symbol-Äusserungen liegt für uns die Einheit / u. die Fülle der Welt, der Wirklichkeit – / von der primitivsten Äusserung: von der / Gebärde über den Sprachlaut zum ›Begriff‹ / zur aesthet. Gestalt, zur religiös. Idee, zum / Mythos führt Vgl. dazu auch die interessante Aufzeichnung in ECN 1, 266 f. ECW 4, 348. 236 Blatt 7, 5. Und Cassirer fügt eine stichwortartige Zitatsammlung aus Hegels Vorrede an: »›Wie es aber eine leere Breite giebt etc. Die / Kraft des Geistes ist nur so groß, als ihre / Äusserung, seine Tiefe nur so tief, als er / in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich / zu verlieren getraut. / Der Mangel ist nur, daß Hegel diese ›Auslegung‹ schließlich doch einseitig logisch-dialektisch / fasst (s. vor. Seite!)« Vgl. die Stelle in Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1993 (= Werke in zwanzig Bänden, 3), 17 f. Cassirer bezieht sich z. B. auch in ECN 2, 20 f., auf diese Passage. 237 ECW 4, 282. 234 235
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hier Ein zusammenhängender / Weg, Ein stetiger ›Aufbau‹ – / in ihm und an ihm haben wir das Leben – / eben nicht als ein Jenseitiges, worauf dieser / Prozess nur ›hinweist‹, sondern als konkrete / Fülle des Verschiedenen selbst! / Sprache, Kunst, Begriff Mythos / in Eins gefasst – jedes sich wechselseit. erhellend – / sich spiegelnd – das ist der höchste Punkt, bis zu / dem auch unsere ›Reflexion‹ vordringen kann.«238 Cassirers Kritik an Hegel folgt einer weit verbreiteten Auffassung von Hegels Philosophie, deren Berechtigung durchaus kritisch zu diskutieren wäre.239 Hier soll diese Diskussion jedoch nicht geführt werden, weil es der vorliegenden Studie vorrangig um die Genese von Cassirers symbolphilosophischem Projekt geht. In dieser Hinsicht erweist sich die Hegel-Kritik unabhängig von ihrer Berechtigung insofern als produktiv, als sie Cassirer zu präzisieren hilft, wie das Symbolische als geschichtlich konzipiert und zugleich seine irreduzible Vielfalt bewahrt werden kann. Dazu gilt es aus Cassirers Sicht, der Hegel’schen Versuchung zu widerstehen, den philosophischen Nachvollzug der historischen Differenzierung kultureller Sphären als He rausarbeitung ihrer systematischen Logik zu begreifen und so die geschicht liche Entfaltung des Symbolischen als logisch-dialektische Entwicklung darzustellen.240 Es ist die »vollendete Ausführung dieser Systematik«241, gegen die sich Cassirer auch im dritten Band des Erkenntnisproblems wendet, weil sie die »Eigengesetzlichkeit der geistigen Kulturgebiete«242 letztlich dem Primat der Logik opfere. Cassirers »Metaphysik des Symbolischen« bedient sich nun des Begriffs des Lebens, um zu betonen, dass die Vielfalt der Symbolisierungen nur insofern als lebendiger und konkreter Ausdruck der Entfaltung des Symbolischen verstanden wird, als sie sich einer solchen philosophischen Systematik und ihrer logischen Entwicklung entzieht. Das Vorhaben, die Vielfalt des Symbolischen aus einem Prinzip abzuleiten, hatte sich in der Disposition bereits als grundlegend problematisch erwiesen, als Cassirer ein ›System der exakten Wissenschaften‹ zu skizzieren versuchte. In der »Metaphysik des Symbolischen« begreift er ein solches Vorhaben in Abgrenzung zu Hegel nun programmatisch als Verarmung der »konkreten Fülle des Verschiedenen selbst«, die seine »Philosophie des Symbolischen« gerade zur Geltung bringen soll. Disposition 1917, 31. Vgl. für eine sachorientierte, differenziertere Einführung in Hegels Geschichtsphilosophie und ihre Problemlagen z. B. Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie. Eine Einführung. Basel 2012, 91 – 104. 240 Vgl. ECW 4, 295 – 297, und ebd., 297: »Die Form des geschichtlichen Werdens ist die Erfüllung und das vollendete Paradigma der logischen Form.« 241 ECW 4, 300. 242 ECW 4, 362, vgl. auch ebd., 354. 238 239
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Im Singular des Lebens spitzt Cassirers »Metaphysik des Symbolischen« somit eine Pluralität der Formen der Symbolisierung zu, die in keinem begrifflichen System und keiner logischen Entwicklung zu bändigen ist. Anders gesagt stellt sich die Wirklichkeit deshalb als lebendig dar, weil sie sich in einer geschichtlichen Vielfalt von Weltverständnissen in Erkenntnis, Sprache, Kunst und Mythos erfahren lässt, ohne sich in einem eindimen sionalen historischen Prozess zu entwickeln. Denn die Entfaltung des Symbolischen in seine verschiedenen Formen fügt sich, so macht Cassirer wiederum in Abgrenzung von einer verbreiteten Auffassung von Hegels Philosophie deutlich, ebenso wenig der Vorstellung einer simplen Abfolge der Formen wie der Figur ihrer Aufhebung in höhere Entwicklungsstufen. Cassirer führt so am Rand von Blatt 7 aus: »Das Einzelne kommt nicht / wie bei Hegel auf den / höheren Stufen nur als / aufgehobenes Moment / zur Geltg, sondern wir / suchen es in seiner / konkreten Totalität! / festzuhalten / (Sprache, Mythos, Kunst / werden nicht über- / wunden u. ausgeschaltet / sondern spezifisch / erhalten. […])«.243 Am Beispiel des Mythos wird besonders deutlich, worauf Cassirer mit diesem Argument abzielt: »es kann keine Rede davon sein, / auf eine dieser Ausdrucksformen zu verzichten / (auch nicht auf die ›mythische‹; unser ganzes / ›Weltbild‹ ist davon durchtränkt!)«244 . Der Mythos ist demnach nicht zu identifizieren mit einer Epoche des Symbolischen am Ursprung der Geschichte, die durch den wissenschaftlichen Begriff, die ästhetische Reflexion, aber auch seine innere Entwicklung zur Religion hin abgelöst und aufgehoben würde. Er ist vielmehr und zugleich als eine ›Ausdrucksform‹ oder Form der Symbolisierung zu begreifen, die auch dann noch möglich bleibt und für unser Verständnis der Welt sogar unverzichtbar ist, wenn sie nicht mehr dominant sein mag und unser Verständnis des Symbolischen längst von den reflektierteren wissenschaftlichen oder ästhetischen Formen der Symbolisierung geprägt wird. Die historische Entfaltung des Symbolischen ist somit nicht nur insofern unabschließbar, als sie Cassirer zufolge wie alles Leben statt eines einzelnen 243 Blatt 7, 4. Systematisch wäre hier die Unterscheidung von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung einzubringen, um den angedeuteten Zusammenhang zu erörtern, vgl. ECW 17, 260 ff., und mit Bezug auf das ›Fortleben‹ des Mythischen vor allem ECN 1, 234. Diese Unterscheidung ist in den Aufzeichnungen, die ich behandle, noch nicht ausgeprägt und führte mich auch von dem Problem ab, um das es mir im Folgenden geht. Ich verzichte somit darauf, diese Unterscheidung einzuführen. 244 Blatt 7, 4. So wird der Mythos nicht einfach durch andere Formen des Symbolischen ersetzt, vgl. Blatt 10, 2, und die unmittelbare Anschauung ebenso wenig durch das wissenschaftliche Begreifen völlig verdrängt, vgl. Blatt 15, 2 f. Vgl. zum »eigentüm lichen Fortleben mythischer Grund- und Urmotive« auch später in ECW 16, 180 f., sowie ECW 12, 17 f.
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Ziels eine offene Zukunft hat.245 Sie ist es auch deshalb, weil sie nicht mit ihrer Vergangenheit abschließt und dadurch die Formen des Symbolischen bewahrt, wodurch sie diese in ihrer Vielfalt auszubilden vermag. Cassirers Kritik an einem philosophischen System nach Hegels Vorbild und sein Einsatz des Lebensbegriffs machen somit deutlich, dass die »Metaphysik des Symbolischen« der Vielfalt der spezifischen Formen der Symbolisierung gerecht zu werden versucht. Er lehnt es daher ab, die ›konkrete Fülle des Verschiedenen selbst‹ aus einem Prinzip abzuleiten und begrifflich zu systematisieren, 246 und beansprucht nicht mehr, über einen theoretischen Rahmen zu verfügen, der von der Vielfalt der Symbolisierungen unberührt bliebe und deren einsinnige Entwicklung zu begründen vermöchte.247 Positiv gewendet ist diese Kritik ganz an dem Ziel ausgerichtet, »in der Fülle und im Zusammenhang / in der Besonderheit der spezifischverschiedenen / Symbol-Äusserungen […] die Einheit / u. die Fülle der Welt, der Wirklichkeit«248 aufzuweisen. Cassirers »Philosophie des Symbolischen« bewegt sich somit von vornherein auf dem schmalen Grat zwischen der Argumentation mit Bezug auf das Symbolische im Allgemeinen auf der einen Seite und dem Aufweis der konkreten Vielfalt der spezifischen Symbolisierungen auf der anderen Seite. Diese Gratwanderung droht anders gesagt ebenso an der Aufhebung dieser Vielfalt in ein einheitliches, logisches System zu scheitern wie an einem bloßen Nebeneinander von vollkommen unabhängigen Symbolformen, wie Cassirer gerade auch im Rekurs auf die Tradition der Metaphysik deutlich macht. Denn Cassirer richtet seine ›Metaphysik‹ zwar an dem Ziel aus, die ›konkrete Fülle des Verschiedenen selbst‹ in der ihr eigenen Heterogenität zu bewahren, und bezieht sie daher auf die »verschiedenen / Symbolstufen / Erkenntnis, Kunst, Philosophie, Religion«, in denen sich das Symbolische realisiert. Er betont auf Blatt 13 seiner Aufzeichnungen aber 245 »[D]er Weg durch diese Symbolstufen / ist uns mit dem Ziel gleichbedeutend. / Ein anderes Ziel, ein Ziel als absoluten / Endpunkt kennen wir nicht, sofern es uns / eben um den Prozess des sich erneuernden, sich / steigernden Lebens selbst zu tun ist.« (Disposition 1917, 30) 246 Vgl. Cassirers Profilierung des »kritischen« gegenüber dem »absoluten Idealismus« in ECW 4, 348 ff. Möckel, »Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹«, 269 – 272, scheint mir die Philosophie der symbolischen Formen zu eng an Hegels Dialektik heranzurücken, auch wenn er feststellt, Cassirer lehne »eine systematische Deduzierbarkeit seiner symbolischen Formen aus irgendeinem Anfangsbegriff grundsätzlich« (ebd., 271) ab. 247 Vgl. für eine ähnliche Schlussfolgerung mit Bezug auf Cassirers philosophiehistorische Studie zur Aufklärung Ursula Renz, »Cassirers Idee der Aufklärung«, in: Thomas Leinkauf (Hg.), Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistesund Kulturgeschichte, Hamburg 2003, 109 – 125, bes. 115 f. und 124 f. 248 Disposition 1917, 31.
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zugleich, dass sein Verständnis einer »Metaphysik des Symbolischen« wie im Falle ›des Logischen‹ den Anspruch jeder Symbolform ›relativiert‹, also ins Verhältnis zu den anderen Formen setzt und in diesem Zusammenhang einschränkt: »Wie diese Metaphysik – in unserer Auffassung – / alle vorhergehenden Symbolstufen (Sprache, / Mythos, Kunst, Wissenschaft) zugleich begreift / und begründet und auf der anderen Seite / doch auch wieder relativiert, – das tritt am / deutlichsten vielleicht an ihrer Stellung zum / Logischen hervor.«249 Die »Metaphysik des Symbolischen« wird somit die Formen der Symbolisierung in ihrer Vielfalt herausarbeiten und sie zugleich in ihrem Zusammenhang betrachten. Sie wird sie sogar, wie Cassirer auf Blatt 7 erklärt, auf ihre ›Totalität‹ hin befragen, wobei sie die Grenzen zwischen den verschiedenen Symbolisierungen erhalten und bewahren muss: »Demgegenüber versuchen wir hier die immanente / Kritik: die positive Bestimmung des Spezifischen / jeder Verständnis-, Lebens- und Ausdrucksform / und wie sie einander zur Totalität ergänzen!«250 Und nach einer dünnen horizontalen Trennlinie fährt er fort: »Diese ›Metaphysik des Symbolischen‹ würde so gleich- / sam die allgemeine Grammatik des Symbolischen / Ausdrucks bilden – während in den Sonderaus- / drücken (Kunst, Mythos, Wissenschaft) nur die / besonderen Idiome zu sehen wären. / Das relative Recht dieser Idiome u. jedes einzelnen / von ihnen stellt die ›Philosophie des Symbolischen‹ / sicher; aber sie will zugleich das wahllose Über- / greifen von einem Idiom ins andere (z. B. von / der Sprache der Wissensch. in die des Mythos) ver- / hindern. / Insofern wollen die ›Grenzen‹ kritisch gezogen / werden«251. Cassirer setzt sich folglich sowohl in der Betonung der ›Besonderheit der spezifisch-verschiedenen Symbol-Äusserungen‹ als auch mit seiner Auffassung der durch sie gebildeten, gegliederten ›Totalität‹ von den idea listischen Systemen ab. Denn er bezieht sich durch sein Beharren auf die ›kritische‹ Grenzziehung zwischen den Formen der Symbolisierung und die Notwendigkeit ihrer ›immanenten Kritik‹ erneut auf die kantische Tradition. Cassirers Überlegungen zu einer »Metaphysik des Symbolischen« bekräftigen so die These, die ich bereits anhand von Cassirers Bemühungen um ein ›System der exakten Wissenschaften‹ formuliert hatte: Der Begriff des Symbolischen wie auch das System der Formen der Symbolisierung ist im Horizont eines reflektierenden und nicht deduktiven Vorgehens zu sehen. Es wird im Kontext der »Metaphysik des Symbolischen« nun aber noch deutlicher, dass Cassirers Reflexion auf das Symbolische und die Viel Blatt 13, 1. Blatt 7, 3. 251 Blatt 7, 4. 249 250
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falt seiner Formen in der kantischen Tradition deshalb auch von der komplexen, historischen Gegebenheit der vielfältigen Formen spezifischer Symbolisierungen ausgehen muss. Auf Blatt 39 mit der Überschrift »Symbolformen (Allgem.)« beharrt Cassirer so nicht nur darauf, dass die geschichtliche Genese des Symbolischen nicht als eindimensionaler Fortschritt zu begreifen ist, der sich aus dem Begriff des Symbolischen ableiten ließe. Er folgert daraus auch die Notwendigkeit, die Gegebenheit der Vielfalt konkreter Symbolisierungen faktisch hinzunehmen und sich mit der Aufgabe ihrer Reflexion zu begnügen, die zudem mit einer Beschreibung der Phänomene einhergehen muss. Ich zitiere das Blatt vollständig: »Diese Formen bilden für uns hier keine / dialektische Reihe, sodaß wir sie aus einander / deduktiv nach einem bestimmten begriffl. / Prinzip abzuleiten unternähmen … / Wo dies geschieht, wie bei Hegel, da ist / bereits eine charakteristische Symbolform / (die Form der Apodeixis, der ›Logik‹) / einseitig zur Norm des Ganzen gemacht. / Soll dies vermieden werden, so bleibt nichts / übrig als die Formen, wie dies ohnehin / geschehen muss, zunächst in ihrer rein / faktischen Gegebenheit hinzunehmen u. sie / dann ›transzendental‹ zu analysieren. / Wir deduzieren nicht die eine aus der / andern; aber wir suchen deskriptiv / ihre Einheit, ihren Zusammenhang, ihren Fortschritt u. ihren Widerstreit festzustellen. / Hierzu wenden wir uns an die Geschichte / des Geistes: in der Kunst, der Religion, der / Sprache, dem Mythos, der Wissenschaft«.252 An die Stelle der Hegel’schen ›Deduktion‹ lässt Cassirer somit die ›Reflexion‹ treten, die die Formen »zunächst in ihrer rein / faktischen Gegebenheit hinzunehmen u. sie / dann ›transzendental‹ zu analysieren« hat. Wie Cassirer die philosophische Reflexion an die faktische Gegebenheit zurückbindet, erinnert erneut an die Vorgaben von Kants kritischer Philosophie. Die transzendentale Reflexion erfährt im Zusammenhang von Cassirers symbolphilosophischem Projekt aber eine neue Wendung, weil sie sich nicht mehr auf das Feld der Erkenntnis beschränken wird und sich nicht mit der Voraussetzung einiger gesicherter, allgemeingültiger Erkenntnisse begnügen kann.253 Vielmehr soll die »Philosophie des Symbolischen« mit und über Hegel hinaus die historische Vielfalt des Symbolischen behandeln, so dass sie nichts weniger voraussetzen muss als den kulturgeschichtlichen Reichtum der Erfahrung von Wirklichkeit in all ihren Formen. Dieser Blatt 39, 1. Vgl. KrV, B 12 – 21, und Immanuel Kant, »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«, in: ders., Schriften zur Metaphysik und Logik, Darmstadt 1983 (= Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, 5), 113 – 264, hier – nach der Originalpaginierung – A 39 – 41 und 46 – 50. 252 253
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Reichtum ist selbstredend nicht ohne weiteres gegeben, er muss zuallererst erforscht und beschrieben werden. Die philosophische Reflexion kommt in diesem Sinne nicht mehr ohne Deskription aus, woraus Cassirer einen Schluss ziehen wird, der seine Arbeit am symbolphilosophischen Projekt und seine kulturphilosophischen Publikationen maßgeblich prägen wird: Die Deskription der Vielfalt der Symbolisierungen kann die Philosophie nicht alleine vornehmen, sie muss sich dazu auf die Kulturwissenschaften stützen, die die Geschichte der Auffassungen von Wirklichkeit in Wissenschaft und Kunst, Mythos und Sprache empirisch erforschen. Der Kulturphilosophie Cassirers ist daher ein antiidealistischer Impuls durchaus nicht fremd, wenn sie sich den Kulturwissenschaften zuwendet und ihre philosophische Reflexion auf deren historische und empirische Erkenntnisse stützt, ohne sie auch nur dem Anspruch nach einem rein begrifflich-deduktiven System einzuschreiben. Diese Nähe von Cassirers »Philosophie des Symbolischen« zu den Kulturwissenschaften bringt jedoch erhebliche Herausforderungen mit sich.254 Es seien an dieser Stelle nur zwei genannt, die sich auf den letzten Seiten bereits angedeutet haben und in den beiden folgenden Kapiteln ausführ licher zu erörtern sein werden. Zum einen wird die verallgemeinerte Anordnung und spezifischere Durchführung der kantischen Reflexion ausgehend von den empirischen Forschungen der Kulturwissenschaften kaum umhinkommen, das Modell der transzendentalen Reflexion mit Blick auf das Verhältnis von allgemeinen und spezifischen, apriorischen und empirischen Bedingungen weiter zu entwickeln. In der Konsequenz wirft dieser Ansatz Fragen nach dem Selbstverständnis einer philosophischen Begriffsbildung auf, die sich wesentlich auf die kulturwissenschaftliche Forschung und ihre empirischen Befunde stützt, um an die Stelle der Deduktion ein Zusammenspiel von ›Deskription‹ und ›Reflexion‹ zu setzen. Zum anderen wird sich Cassirers »Philosophie des Symbolischen« auf eine Vielfalt an Symbolisierungen beziehen, deren Gegebenheit nicht ungefragt vorausgesetzt werden kann, sondern stets auf die empirischen Beschreibungen durch die verschiedenen Kulturwissenschaften zurückgeht. Die philosophische Reflexion sieht sich daher der praktischen Herausforderung gegenüber, die Gegebenheiten, von denen sie ausgeht, in Kenntnis der kulturwissenschaftlichen Forschung und unter Einbeziehung von oft kontroversen Forschungsdiskussionen zu rechtfertigen. 254 Diese Nähe wurde systematisch kaum gewürdigt und noch seltener als Ausdruck von Cassirers philosophischer Programmatik gesehen, vgl. als Ausnahme die Andeutungen von Ernst Wolfgang Orth, »Ernst Cassirer as a Cultural Scientist«, in: Synthese 179 (2011), 115 – 134, hier 121.
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Die Stichpunkte zur »Metaphysik des Symbolischen« führen Cassirer somit ins Zentrum der systematischen und methodischen Herausforderungen seiner zukünftigen Kulturphilosophie. Umso erstaunlicher ist es jedoch, dass Cassirer diesen Titel einer »Metaphysik des Symbolischen« alsbald aufgeben wird. Er führt ihn so in den veröffentlichten Schriften nach 1917 gar nicht mehr ein, wo stattdessen der kritische Gebrauch des Wortes mit Bezug auf die ›ontologische‹ oder »realistische Metaphysik«255 weiter vorherrscht. Die Herausgeber der Entwürfe zum sogenannten vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen, die unter dem Titel Zur Metaphy sik der symbolischen Formen 1995 erschienen sind, hatten daher auch gute Gründe anzunehmen, dass eine »Philosophie der symbolischen Formen […] explizit der Gegensatz aller Metaphysik« ist und Cassirer erst »später auch zu einem positiven Begriff der Metaphysik gekommen ist«256 . Mit Blick auf die Aufzeichnungen zeigt sich dagegen, dass der Titel der Metaphysik nicht mit Cassirers nachträglicher Reflexion auf die Grundlagen der Kulturphilosophie Ende der 1920er Jahre aufkommt. Vielmehr war das Projekt einer »Philosophie des Symbolischen« in seinen ersten Anfängen mit einer »Metaphysik« verbunden, da sie alle Formen der Wirklichkeit in ihrer konstitutiven Vermittlung begreifen und damit die verschiedenen Formen der Wahrheit auch jenseits der Erkenntnis umfassen sollte. Es zeigt sich daran, dass den Arbeitsaufzeichnungen durchaus eine Eigenständigkeit zukommt, da sie nicht notwendig in die veröffentlichten Texte führen. Sie wagen mitunter Vorstöße, die vielleicht nie oder erst viel später zur Veröffentlichung kommen. Und sie verorten sich mitunter geradliniger und polemischer, als es Cassirers Denken und Arbeiten meist zugetraut wird. Warum Cassirer die Bezeichnung einer »Metaphysik des Symbolischen« aufgegeben hat, ist ohne Spekulation kaum zu beantworten. Vielleicht hat sich im Fortgang des Projekts herausgestellt, dass der pluralistische Einsatz der »Philosophie des Symbolischen« doch allzu sehr gegenläufig ist zu einer traditionellen Bestimmung einer Metaphysik im Allgemeinen, an die Cassirer im letzten Abschnitt der Disposition noch anschließt.257 Und nicht ECW 17, 201. »Editorische Hinweise«, in: ECN 1, 279 – 308, hier 299, mit exemplarischem Verweis auf ECW 13, 106. Wegen dieser Annahme und gestützt auf die entsprechenden Titel haben die Herausgeber daher auch die Blätter 13, 43, 91 und 229 – vgl. ECN 1, 261 – 265 und 269 – 271, sowie den Archivbefund ebd., 295 f. – und damit Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« von 1917 oder 1918 in den Zusammenhang der Notizen zum geplanten ›vierten Band‹ gestellt. 257 Wie sehr der traditionelle Titel der Metaphysik auch Cassirer dazu verführt, die Allgemeinheit und einheitliche Leistung des Symbolischen zu betonen, wird exemplarisch deutlich auf Blatt 34 mit dem Titel »Symbolik (Allgemeines)«: »Metaphysik der Symbolformen – Begründg des Titels – wie / früher die Metaphys. die Lehre vom Sei255
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minder plausibel scheint die Vermutung, dass der Begriff der Metaphysik in dem Maße an Bedeutung für Cassirers symbolphilosophisches Projekt verloren hat, wie ein anderer Begriff wichtiger wird, dessen Abwesenheit vielen heutigen Lesern von Cassirers Aufzeichnungen auffallen dürfte. Cassirers symbolphilosophisches Unterfangen steht nämlich nicht unter dem Stichwort, das in der heutigen Diskussion mit seiner oft als Hauptwerk betrachteten Philosophie der symbolischen Formen untrennbar verbunden ist: Von Kulturphilosophie ist in der Disposition wie auf den Blättern nicht die Rede, und das Stichwort ›Kultur‹ findet, wenn überhaupt, nur beiläufig Erwähnung.258 Das wäre bereits 1917 ohne weiteres möglich gewesen. Das Schlagwort ›Kultur‹ war längst in aller Munde, hatte eine enorme Verbreitung gefunden und war unter anderem durch Georg Simmel, Cassirers erstem ›Lehrer‹, einschlägig geworden. 259 Zugleich hatte das Programm einer ›Kulturphilosophie‹ bereits seine ungeheure Karriere begonnen, so dass Paul Natorp schon einige Jahre zuvor in der Entgegnung auf entsprechende Forderungen behauptete, der Marburger Neukantianismus wäre seit seinen Anfängen ein kulturphilosophisches Unternehmen gewesen.260 Casenden schlechthin, vom / ὀν ᾗ ὄν sein sollte, so soll sie es hier von der Symbolform / schlechthin, nicht von dieser oder jener sein (Auseinanders. von Ich u. / Wirklichkeit!)« (Blatt 34, 4). 258 Die einzige Erwähnung des Stichworts Kultur, die mir aufgefallen ist, lautet: »Charakter der menschl. Kultur besteht / allgemein darin, daß die physische Aussenwelt / in ein Organ des Willens u. der geistigen Äusserung / verwandelt wird.« (Blatt 34, 3) Im Anschluss geht Cassirer auf den Werkzeuggebrauch ein und bezieht sich schließlich auf Ludwig Noirés Das Werkzeug und seine Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit von 1880. 259 Vgl. zur Begriffsgeschichte von Kultur, Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft Wilhelm Perpeet, »Kulturphilosophie«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), 42 – 99, bes. 44 – 49, sowie die ergänzende Schilderung in ders., »Kulturphilosophie um die Jahrhundertwende«, in: Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer (Hg.), Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt a. M. 1984, 364 – 4 08, bes. 378 – 385. Die Darstellung Perpeets und vor allem seine Deutung von Cassirers Kulturphilosophie, der er passend zu den üblichen Klischees vom Neukantianismus einen »szientistischen Einschlag« diagnostiziert, scheinen mir tendenziös, vgl. zu Cassirer »Kulturphilosophie«, 53 – 56, sowie schließlich ausgewogener ders., »Ernst Cassirers Kulturphilosophie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 36 (1982), 252 – 262. 260 »Wenn man also, als eine gewichtige neue Forderung, die einer ›Kulturphiloso phie‹ uns entgegenhält, so können wir nur antworten: Wir haben die Philosophie Kants und haben erst recht die Philosophie der transzendentalen Methodik, wie wir sie, von Kant ausgehend, nur strenger und folgerichtiger durchzuführen bemüht sind, von Anfang an so, als Kulturphilosophie, verstanden und ausdrücklich so bezeichnet. Wir denken aber diese Kulturphilosophie in keinem Gegensatz sei es zur Naturphilosophie oder zur Naturwissenschaft.« (Natorp, »Kant und die Marburger Schule«, 218 f.) Die aus-
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sirer greift dieses Schlagwort in der Arbeit an seinem neuen Projekt dagegen nicht auf und fokussiert stattdessen die Korrelation von Subjekt und Objekt, die »Auseinanders. von Ich u. / Wirklichkeit«, die ihre Bedingungen im Symbolischen hat. 261 Helmut Kuhn hat daher bereits 1949 in Abrede gestellt, dass es sich bei der Philosophie der symbolischen Formen tatsächlich um eine Kulturphilosophie im dezidierten Sinne handle262 – ein Einwand, der gerade auch mit Bezug auf die Disposition von 1917 neu zu diskutieren wäre. Die aufgewiesene Nähe der »Philosophie des Symbolischen« zu den Kulturwissenschaften legt aber eine weniger weitgreifende These nahe: Cassirer nimmt beim Begriff der Kultur Zuflucht, wo er die transzendentale Reflexion Kants von den subjektiven Bedingungen löst und gestützt auf die Erkenntnisse der Kulturwissenschaften zugleich die Vielfalt der äußerlichen, historischen und empirischen Vermittlungsformen jener ›Auseinandersetzung von Ich und Wirklichkeit‹ betont. Den Begriff der Kultur würde er so zwar in der Perspektive einer »Metaphysik des Symbolischen« einführen. Er würde aber vor allem deshalb von Kultur reden, weil es der philosophischen Reflexion unvermeidbar wird, sich auf die Kulturwissendrückliche Bezeichnung ›Kulturphilosophie‹ findet sich bei Natorp und Cohen nach Renz, Die Rationalität der Kultur, 67 f., jedoch zumindest ausdrücklich keineswegs früher. 261 Blatt 34, 4. Dieses Motiv der ›Auseinandersetzung von Ich und Wirklichkeit‹ findet sich auch in späteren Texten, vgl. Ernst Cassirer, »Form und Technik«, in: ECW 17, 139 – 183, hier 153 und 156, und ECN 1, 58 – 6 0. Es bestätigt sich, so Guido Kreis’ Befund, dass die »Leitfrage der Philosophie der symbolischen Formen« auf die »Formen der Vermittlung und Erschließung von ›Wirklichkeit‹« (Kreis, Cassirer, 172) gerichtet sei, vgl. ausführlich zur »Welterschließung« ebd., 201 – 207. In ihrer Studie zur Kulturphilosophie der Marburger Schule lässt auch Ursula Renz das von Cassirer »als Wechselwirkung gedachte Verhältnis von Mensch und Welt« hervortreten und weist dabei Kontinuitäten zu Cohen und Natorp auf, vgl. Renz, Die Rationalität der Kultur, 216 – 221, bes. 220. Trotz dieser Kontinuität übernimmt sie aber die allgemeine Ansicht, dass dieses Verhältnis erst durch die nachträgliche Reflexion auf die Grundlagen der Kulturphilosophie in den Blick gerückt sei: »Strenggenommen ist daher die Rückführung der PsF auf eine Theorie des Verhältnisses des Menschen zur Welt eine Explikation, die sich erst vom dritten und vierten Band des Werks her rechtfertigen läßt« (ebd., 250). Im Lichte der Disposition von 1917 ist diese Einschätzung zu revidieren: Offenbar stand dieses Verhältnis vielmehr, wenn auch sicherlich nicht unter anthropologischen Vorzeichen, am Anfang der »Philosophie des Symbolischen«. 262 Kuhn vertritt in »Ernst Cassirer’s Philosophy of Culture«, in: Schilpp (Hg.), The Philosophy of Ernst Cassirer, 545 – 574, nämlich die interessante These, dass es Cassirer gar nicht um eine Philosophie der Kultur gehe, sondern eher um eine erste Philosophie, um das Sein als Sein, vgl. 547 – 9 und 564. Zumindest mit Bezug auf die »Metaphysik des Symbolischen« in den frühen Aufzeichnungen von 1917 und 1918 gewinnt diese These eine gewisse Plausibilität.
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schaften und ihre empirischen Befunde zu stützen. Ohne die kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Deskriptionen wäre der Philosophie nämlich die »Einheit / u. die Fülle der Welt, der Wirklichkeit«263 kaum zugänglich und ermangelte die Reflexion auf die allgemeinen Bedingungen des Symbolischen und die spezifischen Bedingungen der Symbolisierungen eines angemessenen Ausgangspunkts. Diese systematische Nähe zu den Kulturwissenschaften klingt, so lässt sich spekulieren, auch im programmatischen Selbstverständnis der Philosophie der symbolischen Formen als einer Kulturphilosophie an. Den Titel einer »Metaphysik des Symbolischen« hat Cassirer dagegen sehr bald aufgegeben. Hinwendungen zur Welt: Ein kurzer Vergleich von Cassirer und Dilthey Im Durchgang durch die Disposition der »Philosophie des Symbolischen« und insbesondere in der Erörterung der sie abschließenden »Metaphysik« hat sich bestätigt, was Ralf Konersmann für die Konjunktur der Kulturphilosophie um 1900 und insbesondere für Cassirers Philosophie gezeigt hat: Die Abwendung von Hegels Philosophie hat die Hinwendung zur kulturellen Welt, zu den vielfältigen Symbolen und Gegenständen in der ihnen eigenen Bedeutsamkeit zum Ziel.264 Nur durch die Überwindung des Hegel’schen Systems kommt »die von hierarchischen Ableitungen freie Vielfalt der Kultur«265 in den Blick, wie Birgit Recki formuliert, beziehungsweise »die Einheit u. die Fülle der Welt« oder die »konkrete Fülle des Verschiedenen selbst«, von der Cassirers Disposition spricht. Ein solcher Ansatz prägt die Konjunktur der Kulturphilosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so dass sich leicht Parallelen zu anderen Philosophen der Zeit nachzeichnen ließen. Georg Simmel bezieht sich im Kontext einer Hegel-Kritik ähnlich auf »die Fülle der Erscheinung«266 , aber auch Wil Disposition 1917, 31. Vgl. Ralf Konersmann, »Aktualität als philosophisches Problem«, in ders., Kulturelle Tatsachen, Frankfurt a. M. 2006, 128 – 148, bes. 138 – 147. 265 Birgit Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004 (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband, 6), 70. 266 Mit dieser Formulierung wendet sich auch Georg Simmel in seinen Hauptproble men der Philosophie von 1910 gegen Hegels »Formel von Thesis, Antithesis, Synthesis«: »Abgesehen indes von dem Tiefsinn der Spekulation, der sich gerade an dieser Tendenz entfaltet, ist jene Formel als Weltgesetz doch von einer indiskutablen Armseligkeit. Sie ist einerseits zu allgemein und zu dünn, andrerseits doch schon zu eng und zu diktatorisch, um die Fülle der Erscheinung in sich zu fassen.« (Georg Simmel, Hauptprobleme der 263
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helm Dilthey führt gelegentlich die »individuelle Fülle der Welt«267 oder die »Fülle des Lebens«268 ins Feld, wenn er sich von den Konstruktionen der metaphysischen Tradition und Hegels Geschichtsphilosophie abzusetzen sucht. Die Frage, ob diese Kritik Hegels Philosophie gerecht wird, kann hier ebenso dahingestellt bleiben wie die, ob tatsächlich ein Bruch herbeigeführt wird oder nicht doch eine untergründige Kontinuität vorherrscht.269 Es kommt an dieser Stelle in erster Linie darauf an, dass Cassirer sich durchaus im Einklang mit einem verbreiteten zeitgenössischen Trend befindet, wenn er sich von Hegels Geschichtsphilosophie abwendet, um eine Hinwendung zur Welt in der ihr eigenen Vielfalt und Konkretion zu vollziehen. Cassirer verleiht der »Einheit u. […] Fülle der Welt« jedoch eine besondere Gestalt, weil er sich nicht nur auf die Vielfalt der Weltverständnisse und Symbolisierungen bezieht, sondern sich dabei auch auf die empirische kulturwissenschaftliche Forschung stützen wird. Ein kurzer Vergleich mit Wilhelm Diltheys Philosophie, die Cassirer aller Wahrscheinlichkeit nach schon länger vertraut war, ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich.270 Dilthey nahm die nachhegelsche Situation der Philosophie früher wahr als andere und machte sie zum Ausgangspunkt seines Denkens, das mit dem Begriff des Lebens auf maßgebliche Weise das Versprechen größerer philosophischer Konkretion verband. Er geht dabei wesentlich von dem Befund aus, dass sich die Entwicklung der Wissenschaften nicht mehr den Ansprüchen der idealistischen Philosophie und vor allem nicht mehr dem Hegel’schen System füge. Seine Einleitung in die Philosophie. Philosophische Kultur, hg. von Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1996 (= Gesamtausgabe, 14), 77) 267 So Dilthey in einem Tagebucheintrag von 1861, den Matthias Jung, Dilthey zur Einführung, Hamburg 1996, 20, zitiert, vgl. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852 – 1870, zusammengestellt von Clara Misch geb. Dilthey, Leipzig und Berlin 1933, 153. 268 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 8., unveränderte Auflage, Stuttgart und Göttingen 1992 (= Gesammelte Schriften, 7), 147. Im Folgenden zitiert als Dilthey, GS 7. Die hier und im Folgenden zitierten Passagen gehören zu den bereits 1910 veröffentlichten Teilen des Bandes. 269 Dass die Kritik an Hegel weder bei Dilthey noch bei Cassirer einen Bruch bedeutet, ist die These von Gunter Scholtz, »Dilthey, Cassirer und die Geschichtsphilosophie«, in: Thomas Leinkauf (Hg.), Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte, Hamburg 2003, 127 – 148. 270 Vgl. Möckel, Das Urphänomen des Lebens, 25 und 35 – 4 2, sowie über die im Folgenden fokussierten Gesichtspunkte hinaus Thomas Leinkauf, »Zur Einführung«, in: ders. (Hg.), Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte, Hamburg 2003, 7 – 20, bes. 7 – 17, und Heiko Schmitz, Von der »Kritik der historischen Vernunft« zur »Kritik der Kultur«. Über die Nähe der Projekte von Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer, Würzburg 2006.
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Geisteswissenschaften von 1883 ist geprägt vom Eindruck des Erfolgs und der »Emanzipation«271 der Naturwissenschaften, die ihre methodische Reflexion in die eigene Hand genommen hatten und sich einer philosophischen Begründung längst nicht mehr als bedürftig empfanden. Dilthey bestimmt diese Entwicklung historisch durch den Bruch mit der Epoche der ›Metaphysik‹, die seit der Antike beansprucht hatte, unter Voraussetzung abstrakter Gewissheiten das Wissen von der Welt zu organisieren und die verschiedenen materialen Zugänge durch die Ableitung aus höchsten Prinzipien zu begründen. 272 Dieses Modell von Philosophie ist aus Diltheys Sicht insbesondere mit der Etablierung, der methodischen Eigenständigkeit und zunehmenden Differenzierung der »Einzelwissenschaften des Geistes«273 an ein Ende gekommen. Die schiere Vielfalt selbst nur der geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die sich wie insbesondere die Geschichte nicht mehr den philosophischen Vorgaben unterordnen wollten, ließ sich kaum noch in die übersichtliche Ordnung idealistischer Systeme zwängen. 274 Es war im 19. Jahrhundert eine disziplinäre Vielfalt entstanden, der sich die Philosophie nicht mehr vorordnen konnte, wie es noch Hegel beanspruchte. Diese Entwicklung mündete, wie Herbert Schnädelbach 1983 schrieb, daher in eine »bis heute andauernde nachidealistische Identitätskrise«275 der Philosophie, die unterschiedlichste Reaktionen und neuartige Konzeptionen hervorgerufen hat – darunter verschiedene Formen der Hinwendung zur Welt. Diese Hinwendung zur Welt, die viele philosophische Neuansätze um 1900 charakterisiert, steht daher nicht nur unter dem Eindruck der sich zunehmend differenzierenden ›geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit‹, sondern im Zusammenhang ausdifferenzierter geistes- oder kulturwissen271 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte. Erster Band, 5., unveränderte Auflage, Stuttgart und Göttingen 1962 (= Gesammelte Schriften, 1), XV. Im Folgenden zitiert als Dilthey, GS 1. 272 »Versuche, […] die Gesamtgliederung der Wissenschaften zu entdecken, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zum Gegenstande haben, sind von der Philosophie ausgegangen. Sofern sie von metaphysischen Prinzipien her diesen Zusammenhang abzuleiten versuchten, sind sie dem Schicksal aller Metaphysik anheimgefallen.« (Dilthey, GS 1, 22) Vgl. auch ebd., 127 ff. und 224. 273 Dilthey, GS 1, 113. 274 Vgl. zur Emanzipation der Disziplinen und dem sich verändernden Verständnis von Wissenschaft Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 88 – 119, bes. 88 f., sowie zur Rolle der Geschichte und der Abwendung von der Geschichtsphilosophie Hegels ebd., 49 – 87. 275 Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 11, sowie mit Blick auf das Verständnis von Wissenschaft, das sich unter dem Eindruck des Erfolgs empirischer Disziplinen zur Forschung hin verschiebe, ebd., 118 f.
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schaftlicher Disziplinen. Für die Philosophie ist in dieser Lage zuallererst eine Herausforderung zu sehen.276 Diltheys Einleitung wirft jedoch zugleich ein positives Licht auf die Ausdifferenzierung der Wissenschaften, das durchaus auch Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften zu erhellen erlaubt. Dilthey hat zwar zuallererst zum Ziel, die Geisteswissenschaften gegen voreilige methodische Angleichungen an die Naturwissenschaften unter dem Zeichen des Positivismus zu bewahren, 277 versucht sich daher an einer Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen 278 und trägt dadurch unter anderem zur Durchsetzung der Bezeichnung der ›Geisteswissenschaften‹ bei. 279 Er betont aber darüber hinaus die Bedeutung der Differenzierung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen untereinander: Allein durch ihre Ausdifferenzierung ist es den Geisteswissenschaften nämlich möglich, die vielfältige Realität der modernen Gesellschaft zu erfassen. Denn diese ist ihrerseits durch einen »Differenzierungsprozeß«280 gekennzeichnet, der jede »Erkenntnis des konkreten Totalzusammenhangs der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit«281 unmöglich macht. Eine in sich komplexe und vielfältige Wirklichkeit kann nur im gesamten Zusammenhang der »Einzelwissenschaften«282 behandelt werden. Vgl. Ralf Konersmann, »Die kulturwissenschaftliche Herausforderung«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 34 (2009), 137 – 147. 277 Vgl. Dilthey, GS 1, XV-XVIII. Vgl. dazu einleitend Manfred Riedel, »Einleitung«, in: Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1970, 9 – 79, hier 13 – 22. 278 Dilthey fordert in eigenen Worten, dass »die Aufgabe gelöst werden muß: durch eine Erkenntnistheorie die Geisteswissenschaften zu begründen, ihre selbständige Gestaltung zu rechtfertigen und zu stützen sowie die Unterordnung ihrer Prinzipien wie ihrer Methoden unter die der Naturwissenschaften definitiv zu beseitigen.« (GS 1, 109) Dieses erkenntnistheoretische Programm verfolgt Dilthey auch noch in Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften von 1910, vgl. Dilthey, GS 7, 117 und 120 f. 279 Vgl. Dilthey, GS 1, 4 – 6 . Vgl. zu Rickerts Votum für die alternative Bezeichnung ›Kulturwissenschaften‹ Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 78 f., und zu Diltheys Gegenargumentation Rudolf A. Makkreel, »Wilhelm Dilthey and the Neo-Kantians: The Distinction of the Geisteswissenschaften and the Kulturwissenschaf ten«, in: Journal of the History of Philosophy 7 (1969), 423 – 4 40, hier 423 – 431. 280 Dilthey, GS 1, 39. Vgl. zum Einsetzen dieses Prozesses in der Frühen Neuzeit ebd., 351 – 359. Dilthey entfaltet hier ein wirkungsmächtiges Narrativ von Modernisierung und Differenzierung, das eng verbunden ist mit der Entstehung der Soziologie und in Niklas Luhmanns Systemtheorie einer der avanciertesten Ausarbeitungen erfahren hat, vgl. dazu Alois Hahn, Die Systemtheorie Wilhelm Diltheys, in: Berliner Journal für Soziologie 9 (1999), 5 – 24, hier 12 – 18. 281 Dilthey, GS 1, 113. 282 Dilthey, GS 1, XV, vgl. auch ebd., 113 – 116 und 123 – 126. 276
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Diese These eröffnet einen erhellenden Blick auf Cassirers »Philosophie des Symbolischen«. Wie gezeigt wurde, geht Cassirer davon aus, dass die Vielfalt der Symbolisierungen nur dann fassbar wird, wenn der Versuch aufgegeben wird, sie nach dem Vorbild Hegels aus einem grundlegenden Begriff systematisch abzuleiten. Seine Annahme, dass diese Vielfalt der Philosophie nur insofern zugänglich ist, als sie sich auf die Beschreibungen durch die empirische Forschung der Kulturwissenschaften stützen kann, lässt sich mit Hilfe von Diltheys Überlegungen nun zudem dadurch rechtfertigen, dass die Vielfalt und Komplexität differenzierter Weltverständnisse nur in Zusammenarbeit mit verschiedenen geistes- oder kulturwissenschaftlichen Disziplinen angemessen zu behandeln ist. Cassirers programmatische Antwort auf die Herausforderungen der nachhegelschen Situation der Philosophie und insbesondere der Kulturwissenschaften besteht also darin, die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit verschiedenen Disziplinen zu suchen und sich deren empirische Forschung zu Nutze zu machen: Die empirischen Deskriptionen der Kulturwissenschaften sollen den Ausgangspunkt der philosophischen Reflexion darstellen, um der Komplexität einer in sich vielfältigen Welt soweit möglich gerecht zu werden. Es ist dieser deskriptive Nutzen der Kultur- und Geisteswissenschaften, den Cassirer auch der empirischen Psychologie zubilligt, sofern sie ihre erkenntnistheoretischen Ansprüche aufgibt und stattdessen unsere Erfahrung zu beschreiben versucht. Aufgrund der neukantianischen Annahme der Korrelation von Subjekt und Objekt hatte Cassirer so bereits in Sub stanzbegriff und Funktionsbegriff nach einer »Psychologie der Relationen« Ausschau gehalten, die die Strukturen des Erkannten im Prozess des Erkennens wiederfinden würde. Die Disposition von 1917 beginnt ähnlich mit einer »Psychologie des Symbolischen«, die sich zuallererst für die Rolle des Symbolischen und der Repräsentation für den Aufbau des Bewusstseinslebens interessierte. Hier steht wie zuvor die Assoziationspsychologie im Zentrum von Cassirers Kritik, zugleich lässt sich aber das Interesse an einer beschreibenden statt reduktionistisch erklärenden Psychologie deutlich erkennen. Cassirer wird sich deshalb im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen ausführlich auf die Gestaltpsychologie stützen283 und in seinen Entwurf »Über Basisphänomene« auch darüber hinaus Schnittstellen mit der Psychologie suchen, wobei er in diesem Zusammenhang auch Diltheys Theorie des Erlebnisses und des Ausdrucks würdigt284 . Wie wichtig die Beschreibungen der Psychologie aus Cassirers Sicht sind, formuliert er Vgl. zu Cassirers Rezeption der Gestaltpsychologie nochmals die oben auf S. 58 in Anm. 65 angeführte Sekundärliteratur. 284 Vgl. ECN 1, 138 – 150, und insbesondere zu Dilthey ebd., 159 – 161. 283
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in einem Grußwort zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie von 1931, in dem er zunächst an den Psychologismusstreit erinnert und dann neue, produktive Beziehungen zwischen »Psychologie und Philosophie« andeutet, die in der Fluchtlinie der »Psychologie des Symbolischen« liegen: »Die Systematik des ›objektiven Geistes‹, deren Entwicklung zu den Grund- und Hauptaufgaben der Philosophie gehört, verlangt fort und fort den Hinblick auf jene Probleme des ›subjektiven Geistes‹, von denen die Psychologie handelt.«285 Und er führt aus: »eine Philosophie, die ihrerseits das Band, das sie mit der Psychologie verknüpft, gewaltsam zerschneiden wollte, geriete damit immer in Gefahr, gewissermaßen zu einer ›Philosophie ohne Körper‹ zu werden. Sie würde sich zuletzt in abstrakten Spekulationen verlieren und den Blick für die unmittelbare phänomenale Wirklichkeit verlieren.«286 Dieses Grußwort sollte in seiner systematischen Bedeutung vielleicht nicht überschätzt werden, es bringt jedoch auf den Punkt, dass Cassirer eine Zusammenarbeit mit der Psychologie für notwendig und fruchtbar hält, wo sie ihre Ansprüche auf psychologistische Erklärungen aufgibt und sich der Beschreibung des Bewusstseinslebens und seiner Strukturen im Zusammenhang der kulturellen Wirklichkeit zuwendet.287 Diltheys Verhältnis zur Psychologie unterscheidet sich von Cassirers Bezugnahme auf die Psychologie unter strikt deskriptiven Vorzeichen, aber keineswegs so markant, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dilthey sucht seine eigene philosophische Antwort auf die nachhegelsche Herausforderung der Philosophie zuallererst in der erkenntnistheoretischen Reflexion dieser Entwicklung und führt sie als eine psychologische Deskription tatsächlicher Erkenntnisprozesse aus. An die Seite der ›Selbstbesinnung‹ auf die historische Entwicklung der Wissenschaften und der Philosophie in der Einleitung in die Geisteswissenschaften288 tritt so eine komplementäre erkenntnistheoretische Reflexion und »das Studium der Arbeit des Erkennens, welche unter den Bedingungen der besonderen Aufgabe der Geisteswissenschaften steht«289. Dilthey versucht dabei die tatsächlichen Erkenntnisprozesse in den Geisteswissenschaften zu beschreiben und beansprucht gegenüber der bloßen Übertragung naturwissenschaftlicher Maß Ernst Cassirer, »Psychologie und Philosophie«, in: ECW 18, 149 – 151, hier 150. ECW 18, 150 f. 287 Vgl. für ähnlich programmatische Bekenntnisse zur Zusammenarbeit von Philosophie und Psychologie ECW 18, 115 – 122 und 290, sowie ECN 8, 180. 288 Vgl. programmatisch Dilthey, GS 1, XIX f., und zur Durchführung »Zweites Buch: Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften, ihre Herrschaft und ihr Verfall« ebd., 121 ff. 289 Dilthey, GS 1, 46. 285
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gaben durch den Positivismus für sich den »Standpunkt der Erfahrung, der unbefangenen Empirie auch gegenüber dem Empirismus«.290 Diltheys Psychologie ist dabei differenziert zu betrachten und schließt den kulturellen und sozialen Zusammenhang keineswegs schroff aus. Sie versteht sich zum einen als ›deskriptive Psychologie‹,291 die das Subjekt als dies »wollend fühlend vorstellende Wesen« fasst, das der »ganze Mensch«292 darstellt. Sie bleibt sich zum anderen aber des Umstands bewusst, dass sie allein »das Individuum, welches aus dem lebendigen Zusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesondert ist«, 293 betrachtet. Ihr Gegenstand stellt somit eine methodische Abstraktion dar, denn den »Menschen, wie er, abgesehen von der Wechselwirkung in der Gesellschaft, gleichsam vor ihr ist, findet sie weder in der Erfahrung, noch vermag sie ihn zu erschließen«.294 Dilthey strebt daher keine reduktionistische Fundierung des Erkennens und der Gesellschaft in einer Individualpsychologie an, sondern bezieht die allgemeinen und »gleichförmigen Bedingungen«, die er in der psychischen Natur des Menschen begründet sieht, stets auf die »besonderen Bedingungen«, die in der geschichtlich-gesellschaftlichen Situation gegeben sind.295
Dilthey, GS 1, 81. Ebd., 5, formuliert Dilthey: »Die empirische Methode fordert, daß an diesem Bestande der Wissenschaften [des Menschen, der Geschichte, der Gesellschaft, A. S.] selber der Wert der einzelnen Verfahrungsweisen, deren das Denken sich hier zur Lösung seiner Aufgaben bedient, historisch-kritisch entwickelt, daß an der Anschauung dieses großen Vorgangs, dessen Subjekt die Menschheit selber ist, die Natur des Wissens und Erkennens auf diesem Gebiet aufgeklärt werde.« 291 Vgl. Dilthey, GS 1, 32 f., sowie zur Tradition der ›erklärenden Psychologie‹, von der sich Dilthey absetzt, ebd., 375 – 378, sowie ders., »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie«, in ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Leipzig und Berlin 1924 (= Gesammelte Schriften, 5), 139 – 240. 292 Dilthey, GS 1, XVIII . 293 Dilthey, GS 1, 30. 294 Ebd. Vgl. dazu auch Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaf ten in Dilthey, GS 7, 134 f. 295 Wilhelm Dilthey, »Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik«, in ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik, Leipzig und Berlin 1924 (= Gesammelte Schriften, 6), 103 – 241, hier 126. Im Folgenden zitiert als Dilthey, GS 6. Die zitierten Formulierungen beziehen sich hier zunächst auf die Bedingungen des Geschmacksurteils, sollen darüber hinaus aber offenbar auch das »allgemeine Verhältnis zwischen dem Psychologischen und dem Geschichtlichen« (ebd.) charakterisieren. Entsprechend ergänzt Dilthey seine zunächst psychologische »Grundlegung der Poetik« mit einer »literarhistorischen Empirie« (ebd., 197). Vgl. dazu auch ebd., 201 – 203, sowie mit Kritik an Hegel ebd., 228 ff. 290
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Zudem verschieben sich im Laufe der Jahre Diltheys Schwerpunkte und Akzentuierungen von einer Psychologie des Erlebnisses und der inneren Erfahrung hin zu einer Theorie des individuellen Ausdrucks und der kulturellen Erzeugnisse, wie Cassirer selbst schon Ende der 1920er Jahre treffend beobachtet hat.296 Angeregt wurde diese Neuakzentuierung wohl ähnlich wie bei Cassirer durch ästhetische Studien, in denen sich Dilthey unter anderem mit Schillers und Goethes Auffassung des poetischen Ausdrucks als Symbol und Gestalt beschäftigte.297 Er geht daher zunehmend wie Cassirers Symbolphilosophie von der Notwendigkeit der Äußerung oder des Ausdrucks des inneren Erlebnisses aus und dringt schließlich vor zu einer Konzeption des ›objektiven Geistes‹, die für die entstehende Kulturphilosophie von zentraler Bedeutung war. 298 Er entwendete dieses Schlagwort einer nach hegelschen Philosophie gerade Hegels Geschichtsphilosophie, 299 wobei er zumindest implizit die Entwicklung eines »nichthegelschen Begriffs des ›objektiven‹ Geistes«300 in der frühen Völkerpsychologie von Moritz Lazarus und Heyman Steinthal aufgreift.301 Es handelte sich dabei um einen of296 Vgl. Ernst Cassirer, »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs«, in: ECW 17, 342 – 359, hier 349 f., sowie ders., »Über Basisphänomene«, in: ECN 1, 113 – 195, hier 159 – 162. Vgl. zur nun zentralen Trias von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen exemplarisch Dilthey, GS 7, 86 f., und ausführlicher zu dieser Entwicklung Jung, Dilthey, 87 – 9 0 und 97 – 100. Es kann hier dahingestellt bleiben, wie diese Verschiebung genauer zu deuten ist. Gegen die simple These einer zunehmenden Abwendung von der Psychologie spricht nicht nur, dass sich Dilthey bereits in der Einleitung gelegentlich auf die »Erzeugnisse« (GS 1, 52) und die »objektiven Tatsachen« bezieht, die der »menschliche Geist […] gestaltet« (ebd., 60) hat. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 157 – 160, hat zudem eingewandt, dass Diltheys veränderte Haltung zur Psychologie weniger in der Verschiebung der eigenen Position als in der gleichzeitigen Entwicklung der Dominanz der erklärenden Psychologie begründet liegen könnte. 297 Vgl. Dilthey, GS 6, 116 f. und 187. Dies betont auch Schmitz, Von der »Kritik der historischen Vernunft« zur »Kritik der Kultur«, 72 – 7 7, vgl. mit Blick auf die Bedeutung Goethes sowohl für Dilthey als auch für Cassirer auch ebd., 302 – 316. 298 Vgl. Dilthey, GS 7, 146 – 152, und zur Erläuterung Jung, Dilthey, 138 – 156, sowie Schmitz, Von der »Kritik der historischen Vernunft« zur »Kritik der Kultur«, 82 – 91. 299 Vgl. Dilthey GS 7, 148 – 152. 300 Klaus Christian Köhnke, »Einleitung«, in: Moritz Lazarus, Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, hg., mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Klaus Christian Köhnke, Hamburg 2003, IX – X LII, hier XV. 301 Vgl. Hans-Urich Lessing, »Dilthey und Lazarus«, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 3 (1985), 57 – 82, bes. 67 – 82, der allerdings vor allem Diltheys Distanzierung vom präsumierten Erklärungsanspruch der frühen Völkerpsychologie betont und dabei die zugleich gegebenen Nähen in den Hintergrund treten lässt. Er erwähnt erst am Ende, dass Dilthey mit der Rede vom ›objektiven Geist‹ wohl Lazarus’ Prägung folgt, dass er diesen Anschluss aber nicht markiert. In Reaktion auf Dilthey wurde jedoch schon früh an die völkerpsychologische Prägung des
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fenen Suchbegriff, unter dem die gesamte Fülle der kulturellen Erzeugnisse und ihrer Überlieferung versammelt wurde, die man nur jenseits oder diesseits von Hegels Idealismus hinaus bewahren zu können glaubte: »Hegel konstruiert metaphysisch; wir analysieren das Gegebene.«302 Was dabei vorrangig als gegeben betrachtet wird, war damit noch nicht entschieden, und gerade Diltheys Hermeneutik und Cassirers Philosophie der symbolischen Formen wählten hier unterschiedliche Möglichkeiten.303 Sie teilen jedoch den methodischen Ausgangspunkt, dass der Mensch und seine Erlebnisse im Zusammenhang seiner Äußerungen und Objektivationen in all ihrem Reichtum gefasst werden müssen. Es wäre daher durchaus möglich, Diltheys deskriptive Psychologie, insoweit sie mit einer hermeneutischen Theorie der objektiven Kultur einhergeht, mit Cassirers »Philosophie des Symbolischen«, insofern sie eine »Psychologie« zum notwendigen Bestandteil hat, in dieser Hinsicht ins Gespräch zu bringen. Die entscheidende Differenz zwischen Diltheys und Cassirers Ansatz liegt für die Argumentation der vorliegenden Studie somit nicht in ihrem unterschiedlichen Verhältnis zur Psychologie, zumal beide die Psychologie im Zusammenhang der Differenzierung der modernen Welt und der sie erforschenden Geisteswissenschaften sehen. Dilthey und Cassirer bestimmen jedoch die Rolle der Philosophie mit Bezug auf die neuen ausdifferenzierten Disziplinen und die Konsequenzen aus dem Scheitern des philosophischen Systemanspruchs im Sinne Hegels unterschiedlich. Dilthey sucht eine Antwort zuallererst auf dem Weg einer erkenntnistheoretischen Reflexion. Er konzipiert mit der »Kritik der historischen Vernunft« im Anschluss an Kant eine Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften und verknüpft sie mit einer Neubestimmung des historischen Charakters der Begriffs erinnert, vgl. Julius Frankenberger, »Objektiver Geist und Völkerpsychologie. Eine Studie zum Verständnis der alten Völkerpsychologen«, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 154 (1914), 68 – 83 und 151 – 168, hier bes. 68 f. Vgl. auch die Übersicht über die zeitgenössische Diskussion der frühen Völkerpsychologie im zweiten Teil des Aufsatzes. 302 Dilthey, GS 7, 150. 303 Vgl. dazu Rudolf A. Makkreel, »Cassirer zwischen Kant und Dilthey«, in: Dorothea Frede und Reinhold Schmücker (Hg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997, 145 – 162. Makkreel begründet seine Beobachtungen damit, dass »Dilthey primär die reflektierende, deskriptive, Cassirer dagegen primär die regulative, erklärende Betrachtungsweise« (ebd., 150) von Kants Zweckmäßigkeit und der Tätigkeit der Urteilskraft weiter entwickelten. Er bezieht diese Unterscheidung vor allem auf die Bestimmtheit der kulturellen Erzeugnisse und nicht, wie ich es im folgenden Kapitel tun werde, auf das Selbstverständnis der philosophischen Reflexion im Zusammenhang der Kulturwissenschaften. Dennoch scheint mir das Argument mit Blick auf Cassirer durchaus fragwürdig.
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Vernunft.304 Cassirer rückt die Geistes- und Kulturwissenschaften in der »Philosophie des Symbolischen« dagegen nicht in eine wissenschaftstheoretische Perspektive.305 Vielmehr bezieht er sich wie in der späteren Philoso phie der symbolischen Formen auf die Kulturwissenschaften, um die Vielfalt der Symbolisierungen und deren konkrete Spezifikationen einzubeziehen, über die zum Beispiel sprach-, religions- oder kunstwissenschaftliche Forschungen Auskunft geben.306 Er sucht die Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften, weil sie in ihrer disziplinären Differenzierung Zugänge zur ›konkreten Fülle des Verschiedenen selbst‹ gewähren und die Vielfalt des Symbolischen deskriptiv verfügbar machen.307 Cassirers Antwort auf die kulturwissenschaftliche Herausforderung der Philosophie setzt daher anders an als diejenige Diltheys. Statt eine Theorie der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis auszuarbeiten, macht er sich die Ausdifferenzierung der Kulturwissenschaften zu Nutze, um vermittels ihrer deskriptiven Vielfalt auf die vielfältigen symbolischen Bedingungen in sich komplexer und differenzierter Weltverständnisse reflektieren zu können. Diese Verknüpfung kulturphilosophischer Reflexion und kulturwissenschaftlicher Deskription kann als charakteristisch gelten für Cassirers Versuch eines welthaltigen Denkens.308 Sie stellt jedoch keineswegs eine Vgl. die berühmte Stelle in Dilthey, GS 1, 116. So mit Bezug auf spätere Texte und zur Unterscheidung von den Ansätzen Rickerts oder Windelbands auch Orth, »Cassirer as a Cultural Scientist«, 123 f. 306 Sehr deutlich benennt Cassirer diese Verschiebung in den ersten Zeilen der Phi losophie der symbolischen Formen: »Die Schrift, deren ersten Band ich hier vorlege, geht in ihrem ersten Entwurf auf die Untersuchungen zurück, die in meinem Buche ›Sub stanzbegriff und Funktionsbegriff‹ (Berlin 1910) zusammengefaßt sind. Bei dem Bemühen, das Ergebnis dieser Untersuchungen, die sich im Wesentlichen auf die Struktur des mathematischen und des naturwissenschaftlichen Denkens bezogen, für die Behandlung geisteswissenschaftlicher Probleme fruchtbar zu machen, stellte sich mir immer deutlicher heraus, daß die allgemeine Erkenntnistheorie in ihrer herkömmlichen Auffassung und Begrenzung für eine methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften nicht ausreicht. Sollte eine solche Grundlegung gewonnen werden, so schien der Plan dieser Erkenntnistheorie einer prinzipiellen Erweiterung zu bedürfen. Statt lediglich die allgemeinen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Erkennens der Welt zu untersuchen, mußte dazu übergegangen werden, die verschiedenen Grundformen des ›Verstehens‹ der Welt bestimmt gegeneinander abzugrenzen und jede von ihnen so scharf als möglich in ihrer eigentümlichen Tendenz und ihrer eigentümlichen geistigen Form zu erfassen. Erst wenn eine solche ›Formenlehre‹ des Geistes wenigstens im allgemeinen Umriß feststand, ließ sich hoffen, daß auch für die einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ein klarer methodischer Überblick und ein sicheres Prinzip der Begründung gefunden werden könne.« (ECW 11, VII) 307 Vgl. die programmatische Erklärung in ECN 2, 12 f., und den Vortrag »Die Einheit der Wissenschaft« von 1931 in ECN 8, 117 – 134, bes. den Schluss ebd., 132 – 134. 308 Es ist entscheidend, dass sich diese Verknüpfung von transzendentaler Reflexion 304 305
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Methode sicher, die es nur noch zu befolgen gälte. Vielmehr dürfen die systematischen Herausforderungen dieses Herangehens nicht unterschätzt werden, was vor allem auch mit Blick auf die Rede von Reflexion gilt. Bislang habe ich diesen Begriff mehr oder minder explizit an der transzendentalen Reflexion im Sinne Kants ausgerichtet, die zumindest ihrer neukantianischen Darstellung zufolge von einer Gegebenheit ausgeht. Im Falle von Cassirers symbolphilosophischem Projekt handelt es sich jedoch um keine einfache Gegebenheit, sondern um die Vielfalt und Einheit des Symbolischen, die sich nur mit Hilfe der verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen fassen lässt und in einer differenzierten empirischen Forschung entfaltet wird. Eine philosophische Reflexion, die dieser Sachlage Rechnung trägt, wird nicht mehr von vornherein auf eine homogene Menge von Bedingungen abzielen können. Sie muss vielmehr mit allgemeinen und spezifischen Bedingungen rechnen, um die Vielheit und Spezifizität der Gegebenheiten, von denen sie ausgeht, zu bewahren und zu betonen. Es steht somit in Frage, wie die transzendentale Reflexion in den Spuren Kants so weiter zu entwickeln ist, dass sie mit dem Gedanken vereinbart werden kann, der die Disposition der »Philosophie des Symbolischen« und empirischer Deskription von derjenigen der Husserl’schen Phänomenologie unterscheidet. Denn Cassirer bezieht sich auf die kulturwissenschaftliche Deskription, weil er die Bedingungen der Erfahrung sich in der kulturellen Welt entfalten sieht und ihr Subjekt daher von vornherein Teil einer in sich vielfältigen und differenzierten Welt ist. Beides ist bei Husserl nicht der Fall, weil er auf ein intentionales Subjekt zurückgeht, um dann in der Perspektive des immanenten Vollzugs der intentionalen Erfahrung die Bezüge zur Welt und ihre Strukturen zu beschreiben. Diese Beschreibung setzt sich jedem wissenschaftlichen Wissen entgegen, weil das Subjekt in diesem Sinne zwar konstitutiv auf Welt bezogen, aber nicht eingebettet ist in eine, ihm vorgängige Welt. Vgl. zur Differenz von Cassirers Kulturphilosophie und phänomenologischer Deskription des Gegebenen auch Reto Luzius Fetz, »Ernst Cassirer und der strukturgenetische Ansatz«, in: Braun et al. (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 156 – 190, hier 170 f., sowie Skidelsky, Cassirer, 102. Es scheint mir in der Konsequenz nicht präzise, Cassirers Symbolphilosophie als »Kulturphänomenologie« zu charakterisieren, vgl. Renz, Die Rationalität der Kultur, 203 f. und 209. Ursula Renz lässt dennoch die Verbindung von Cassirers Rezeption der Kulturwissenschaften mit der bereits bei Cohen und Natorp aufkommenden Frage deutlich werden, von welchem Faktum eine Kulturphilosophie in transzendentaler Absicht ausgehen kann, vgl. ebd., 53 – 62. Meines Erachtens unterschätzt sie jedoch den Anspruch von Cassirers Ausgangspunkt: »Viel banaler als Cohen sieht er die Fakta der Kultur schlicht im vorgegebenen Material geisteswissenschaftlicher Studien versammelt.« (ebd., 60, Fn. ausgelassen) Auch Ernst Wolfgang Orth scheint mir Cassirers Absetzung von der phänomenologischen Beschreibung nicht deutlich genug herauszuarbeiten, vgl. Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 305 f. Zugleich belässt Orth daher auch die philosophische Bedeutsamkeit von Cassirers Rezeption der Kulturwissenschaften und ihr Verhältnis zu seiner eigenen Philosophie im Vagen, vgl. ebd., 146 f., Fn. 17, 219 f. und 355 f.
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durchzieht und im Zentrum dieses ersten Kapitels stand. Wie ist also eine Reflexion zu konzipieren, die sowohl der Allgemeinheit des Symbolischen als auch seiner Spezifizierung in symbolische Formen und deren weiterer interner Differenzierung gilt? Ich möchte im folgenden Kapitel zu zeigen versuchen, dass Cassirer diese Frage im Rekurs auf ein zentrales Problem von Kants Kritik der Urteilskraft beantwortet, die er in den Jahren vor 1917 nochmals genauer gelesen hat. Während er in philosophiehistorischen Studien verfolgte, wie Kants kritische Philosophie im Deutschen Idealismus erstaunlicher Weise zu einer erneuten Konjunktur der Metaphysik führte, gewinnt er aus Kants dritter Kritik die Argumente, mit denen er seine Antwort auf die nachhegelschen Herausforderungen der Philosophie formuliert.309 Das Scheitern einer Deduktion im Sinne Hegels verarbeitet Cassirer derart, dass er zur Präzisierung des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem und in der Frage nach der Quelle der Spezifizierung auf Motive von Kant zurückgreift, die im vorhinein an Stelle der logischen die empirische und historische Entfaltung der Bedingungen des Symbolischen akzentuieren. Cassirer wiederholt damit die Geste einer Rückbesinnung auf Kant, die bereits der frühe Neukantianismus unter dem Eindruck des Scheiterns des Idealismus betrieben hatte.310 Allerdings führt ihn dies nicht in eine erneuerte erkenntnistheoretische Verbindung mit den Naturwissenschaften, sondern in eine kulturphilosophische Auseinandersetzung mit der Empirie der Kulturwissenschaften.
309 Das Hegel-Kapitel im dritten Band des Erkenntnisproblems beginnt so kaum zufällig: »Es war das geschichtliche Schicksal der Kantischen Philosophie, daß sie in der Absicht und Meinung, die Metaphysik kritisch zu beschränken, in Wahrheit den letzten geistigen Grundmotiven der Metaphysik eine neue Kraft und eine neue Resonanz verlieh.« (ECW 4, 274) 310 So Cassirer selbst in seinem Artikel »Neo-Kantianism« aus der Encyclopedia Bri tannica von 1929, in: ECW 17, 308 – 315, hier 310, mit Bezug auf Eduard Zeller: »Hegel’s ›Wissenschaft der Logik‹ and his ›Phänomenologie des Geistes‹ had been the last grandiose attempts to comprise the whole of knowledge in its content and to develop it constructively from one unifying idea. Zeller tries to show that the attempt did not reach its goal and could not reach it, ›because it overlooks the conditions of human knowledge, for it purports to grasp with one swoop from above the ideal of knowledge which, in reality, we can approach only gradually through complicated labour from below.‹« Das folgende Kapitel wird zeigen, wie gut das Zitat aus einem Vortrag Zellers von 1862 auf Cassirers Relektüre von Kants dritter Kritik passt.
Die empirische Transformation des Transzendentalen Kants dritte Kritik und Cassirers Anschlüsse
Cassirers Disposition der »Philosophie des Symbolischen« von 1917 umreißt ein Projekt, das auf die Voraussetzungen seiner Philosophie zurückgeht, um sie zu einer Philosophie der Kultur im umfassenden Sinne zu erweitern. Cassirer zielt unter dem Titel des Symbolischen auf die Bedingungen von kulturellem Sinn im Allgemeinen ab und geht dabei zwangsläufig von seinen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Studien aus. Er nimmt nämlich die Bedingungen der Erkenntnis und damit den wissenschaftlichen Begriff, der stets im Zentrum seines Interesses gestanden hatte, zum Modell für ein Symbolisches, das als Bedingung von kulturellem Sinn als solchem fungiert und daher Sprache und Mythos ebenso wie Kunst und Wissenschaft umfassen soll. Der wissenschaftliche Begriff gibt so das Vorbild für ein Symbolisches ab, das aus seiner Verallgemeinerung entsteht, muss sich nun aber als eine der Realisierungen des Symbolischen verstehen lassen und wird einer Reihe von Formen des Symbolischen eingeordnet.1 Der Begriff des Symbolischen wird in der Disposition dabei kaum selbst zum Gegenstand der philosophischen Erörterung, sondern dient Cassirer eher als ein konzeptionelles Instrument, um diese zu Beginn noch recht unbestimmte Revision der Grundlagen seiner Philosophie vorzuzeichnen. Der Bezug des Symbolischen als allgemeine Bedingung kulturellen Sinns zu den konkreten kulturellen Feldern wie Wissenschaft und Ästhetik wirft aber grundsätzliche Fragen auf. Das Symbolische muss nun so allgemein gefasst werden, dass es die vielfältigen Phänomene der Kultur insgesamt ermöglicht. Zugleich realisiert es sich stets in konkreten kulturellen Feldern wie den Wissenschaften oder den Künsten und ist dann nicht in seiner Allgemeinheit, sondern in seinen empirischen Spezifikationen gegeben. Das Symbolische ist daher von einer Differenz gekennzeichnet, die sich zwischen den allgemeinsten Bedingungen des kulturellem Sinns und seinen stets konkreten Realisierungen auftut. In dieser Ausgangslage ist nicht nur eine produktive Dynamik angelegt, die sich im Anschluss an die Disposition in Cassirers kulturphilosophischen Studien entfalten wird. Es ist hier zumindest in Ansätzen auch die Frage nach dem Begriff der Bedingung aufgeworfen, Vgl. für eine ergänzende, von Cassirers Rezeption der mathematischen Gruppentheo rie ausgehende Perspektive auf das Symbolische und seine Spezifikationen die erhellende Studie von Jean Lassègue, Ernst Cassirer. Du transcendental au sémiotique, Paris 2015. 1
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Zweites Kapitel
die eng verknüpft ist mit der neukantianischen Erbschaft Cassirers und seiner erneuten Auseinandersetzung mit Kant in den Jahren vor 1917. Im Zusammenhang seiner Beschäftigung mit der Ästhetik im 18. Jahrhundert konnte Cassirer so in der Kritik der Urteilskraft ein systematisches Problem mit dem Begriff der Bedingung diskutiert finden, das grundlegende Ähnlichkeiten aufwies zur Frage nach ›dem‹ Symbolischen als Bedingung von kulturellem Sinn überhaupt und seiner Spezifikation für verschiedene Formen der Symbolisierung. Kant behandelt in der dritten Kritik neben der ästhetischen Erfahrung die biologische Erkenntnis und diskutiert dabei die Frage, wie sich deren Bedingungen zu den Bedingungen der Erfahrung verhalten, die er in der Kritik der reinen Vernunft in aller Allgemeinheit bestimmt, aber doch zugleich dem Paradigma der physikalischen Erkenntnis nachgebildet hatte. Diese Bedingungen erweisen sich daher bald als untauglich, um andere, nicht-physikalische Formen des empirischen Wissens wie die biologische Erkenntnis und die ihnen eigenen Prinzipien, Annahmen und Begriffe zu fassen. Nachdem Kant insbesondere die Biologie2 zunächst schlicht aus dem engsten Kreis der Wissenschaften ausgeschlossen hatte, sah er sich in der Kritik der Urteilskraft schließlich gezwungen festzustellen, dass die allgemeinsten Bedingungen jeglicher Erkenntnis keine hinreichende Begründung mehr darstellen, »wo die Erfahrung eine Gesetzmäßigkeit an Dingen aufstellt, welche zu verstehen oder zu erklären der allgemeine Verstandesbegriff vom Sinnlichen nicht mehr zulangt«3 . Seine Erörterung der biologischen Erkenntnis, aber auch der ästhetischen Erfahrung steht im Zusammenhang dieses besorgniserregenden Befunds. Kant versucht sich daher an einer differenzierteren Lösung, indem er sich die Frage stellt, wie die allgemeinen Bedingungen der Erfahrung überhaupt, die er in der Kritik der reinen Vernunft formuliert hatte, auf die konkreten Formen der Erfahrung und die spezifischen Ordnungen ihrer Gegenstände bezogen sind, die er in der Kritik der Urteilskraft diskutiert. Die allgemeinen, transzendentalen und apriorischen Bedingungen der Erfahrung aus der Kritik der reinen Vernunft lässt er dabei zwar unangetastet. Zugleich führt er nun aber Bedingungen der empirischen Erkenntnis ein, die notwendigerweise angenommen werden müssen und insofern transzendental, aber ebenso wenig apriorisch wie rein empirisch sind. Die Bedingungen der empirischen Erkenntnis sind damit von doppelter Natur: Sie mögen zuletzt in allgemeinsten apriorischen Bedingungen gründen, realisieren sich aber Die Bezeichnung »Biologie« bürgert sich allerdings erst einige Jahre später ein, ich werde mit Bezug auf Kant dennoch von Biologie sprechen, was gestattet sein mag, da die folgende Diskussion keine primär historische Absicht verfolgt. 3 KU, A/B VIII . 2
Die empirische Transformation des Transzendentalen
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stets in ihrer empirischen Spezifikation in konkreten Formen der Erkenntnis und spezifischen Ordnungen ihrer Gegenstände. Es tut sich für Kant so eine Kluft auf zwischen der Allgemeinheit der transzendentalen und apriorischen Bedingungen, die alle mögliche Erfahrung überhaupt umfassen, und den notwendigen und spezifischen Bedingungen, die konkrete Formen der empirischen Erkenntnis und die Ordnungen ihrer Gegenstände charakterisieren. Diese Kluft ist es, deretwegen Kant die reflektierende Urteilskraft einführt und die ihr eigenen Prinzipien von der Ästhetik bis zur Teleologie untersucht. Zugleich strapaziert er dabei aber die Konzeption seiner transzendentalen Reflexion dahingehend, dass die formalen Bedingungen der empirischen Erfahrung nicht mehr rein apriorisch und allgemein zu fassen sind, sondern ihre empirischen und spezifischen Realisierungen einbezogen werden müssen. Mit dieser veritablen Verschiebung der transzendentalen Reflexion und deren Öffnung gegenüber spezifischen, teils empirischen Bedingungen der Erfahrung bekommt es Cassirer zu tun, als er sich für seine ideen geschichtliche Studie zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts insbesondere mit der Kritik der Urteilskraft beschäftigt und sich die Frage nach einer möglichen Einbeziehung von ästhetischen Fragestellungen in seine Philosophie stellt. Diese Beschäftigung führt ihn daher nicht nur zur inhaltlichen Erweiterung seiner Philosophie und damit über die engen Grenzen seiner erkenntniskritischen Schriften hinaus. Und ihre systematische Tragweite beschränkt sich ebenso wenig auf die verbreitete und durchaus berechtigte Einschätzung, dass Kants dritte Kritik einen bedeutenden Einfluss auf die Cassirer’sche Theorie des Symbols ausgeübt hat. 4 Vielmehr werden Einfluss und Bedeutung der erneuten Lektüre von Kants dritter Kritik erst deutlich, wenn unter Einbeziehung des erkenntnistheoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrunds die sich in ihr vollziehende Verschiebung der philosophischen Reflexion und die gleichzeitige Transformation des Begriffs der Bedingung herausgearbeitet wird. Wie bei Kant die Bedingungen der konkreten Formen der empirischen Erfahrung weder rein apriorisch noch bloß empirisch sein konnten und sie sich mit der empirischen Charakteristik und spezifischen Ordnung der Gegenstände der Erfahrung verschränken mussten, kam Cassirer nicht umhin, ›das‹ Symbolische zugleich 4 Vgl. dazu z. B. die lesenswerte Arbeit von Marion Lauschke, Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007, bes. 1 – 114. Sie liest die Kritik der Urteils kraft im Rahmen ihrer Fragestellung plausibler Weise als Ästhetik, womit die theoretische Sprengkraft der dritten Kritik und ihre systematische Bedeutung für die Genese der Philosophie der symbolischen Formen allerdings nicht ausgeschöpft ist. Auf diesen Aspekt konzentrieren sich die Ausführungen des vorliegenden Kapitels.
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Zweites Kapitel
als allgemeinste transzendentale Bedingung kulturellen Sinns zu begreifen und es zugleich auf die Notwendigkeit seiner Spezifikation in vielfältigen konkreten, empirischen und historischen Formen der kulturellen Symbolisierung zu beziehen. Er knüpft daher an Kants Verständnis des Bezugs der allgemeinen transzendentalen Bedingungen zu den spezifischen Bedingungen der empirischen Erfahrung, ihrer jeweiligen Begriffe und Gegenstände an und verwebt nach diesem Vorbild die transzendentale Ordnung des Symbolischen im Allgemeinen mit der empirischen Ordnung der vielfältigen Formen der kulturellen Symbolisierung.5 Kants Ausweitung der Bedingungen, die die philosophische Reflexion einbezieht, und seine Erörterung ihres Bezugs zur Wirklichkeit, als deren Bedingungen sie nur in ihrer konkreten Spezifikation fungieren können, eröffnet Cassirer somit eine Möglichkeit zur Erweiterung, aber auch ein verändertes Selbstverständnis seiner eigenen Philosophie. Insbesondere schärfen sich in der Relektüre Kants die systematischen Umrisse von Cassirers ›kulturphilosophischer Empirie‹, die er in seiner extensiven wie intensiven Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Kulturwissenschaften verfolgen wird. Dass Cassirer die intrikaten konzeptionellen Entwicklungen und philosophischen Potentiale der dritten Kritik vertraut waren, liegt zunächst aufgrund seiner intimen Kenntnis von Kants Philosophie nahe. Es kann aber konkreter und präziser dadurch begründet werden, dass Cassirer die entscheidenden Texte Kants in den Jahren vor 1917 sicherlich einer genaueren Lektüre unterzogen hat. Offenbar hatte er sich intensiv mit der Kritik der Urteilskraft beschäftigt, wie ein umfangreiches Kapitel in seiner Gesamtdarstellung von Kants Leben und Lehre belegt, auf das er in Freiheit und Form dann lediglich nochmals verweist. 6 Dass Kant in der Kritik der Urteilskraft wesentliche Annahmen und Probleme seiner kritischen Philosophie erneut einer Prüfung unterzieht und manche innovative und alternative Lösung ins Auge fasst, ist Cassirers kundigem Blick nicht entgangen. Darüber hinaus Ernst Wolfgang Orth weist in »Die Bedeutung der ›Kritik der Urteilskraft‹ für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen« zwar über den ästhetischen Horizont hinaus, arbeitet im Rahmen dieses Aufsatzes die der Kritik der Urteilskraft eigene Problematik, die bei Cassirer auf ungeheuer fruchtbaren Boden fiel, jedoch kaum heraus, vgl. ders., Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 2. erw. Aufl., Würzburg 2004, 176 – 189, hier 183 – 186. Auf die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft hat Orth des Öfteren und bereits früher hingewiesen, vgl. z. B. »Zur Konzeption der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen«, in: Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927 – 1933, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg 1985, 165 – 201, hier 177 – 179. Dieser Text wurde wieder aufgenommen in Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 68 – 99, hier 79 f. 6 Vgl. den Verweis in ECW 7, 179, und das entsprechende Kapitel in ECW 8, 261 – 3 46. 5
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hat seine Auseinandersetzung mit dem eigenen kantischen Erbe aber von einem kleineren Text Kants profitiert, der den erkenntnistheoretischen Hintergrund und die philosophische Virulenz der dritten Kritik besonders deutlich erkennen lässt. Die sogenannte »Erste Einleitung« in die Kritik der Ur teilskraft ging sicherlich wiederholt über den Schreibtisch Cassirers, weil ihre Publikationsgeschichte eng mit seiner Herausgebertätigkeit verknüpft ist. Cassirer hat sich in diesen Jahren nämlich nicht allein wegen der ideengeschichtlichen Untersuchung Freiheit und Form mit Kants dritter Kritik beschäftigt, sondern zugleich auch die Werke Kants herausgegeben, wo die »Erste Einleitung« erstmals in vollständiger Form und unter diesem Titel erschien.7 Der Text hatte damals bereits eine bewegte Geschichte hinter sich. Er entstand anders als die veröffentlichte Einleitung noch während der Arbeit am Haupttext der Kritik der Urteilskraft, wurde von Kant bei der Veröffentlichung der Schrift jedoch verworfen. 8 Eine Abschrift seines Manuskripts hatte er stattdessen seinem Schüler Johann Sigismund Beck zur Verfügung gestellt, der gerade an einer Gesamtdarstellung von Kants Denken arbeitete und in deren Rahmen eine gekürzte Fassung abdruckte.9 Der Text war über das gesamte 19. Jahrhundert nur in dieser Gestalt und aufgrund späterer Ausgaben auch unter dem skurrilen Titel »Über Philosophie überhaupt« bekannt, bis kein Geringerer als Wilhelm Dilthey die Abschrift wiederentdeckte und in zwei Texten von 1889 auf sie aufmerksam machte.10 Schließlich wurde der Text auf dieser Grundlage von Otto Buek 7 Vgl. Immanuel Kant, »Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft«, hg. von Otto Buek, in: Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen u. a. hg. von Ernst Cassirer, Bd. 5, Berlin 1914, 177 – 231. 8 Vgl. zur Geschichte des Textes die »Lesarten« des Herausgebers in Kant, »Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft«, 569 – 639, hier 581 – 590; sowie Gerhard Lehmann, »Zur Einführung«, in: Immanuel Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, nach der Handschrift herausgegeben und mit Einführung und Anmerkungen versehen von Gerhard Lehmann, Leipzig 1927, III–VIII, enthalten auch in der zweiten und dritten Auflage des Bandes Hamburg 1970 und 1977; Norbert Hinske, »Zur Geschichte des Textes«, in: Immanuel Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. Faksimile und Transkription, hrsg. von Norbert Hinske u.a., Stuttgart und Bad Cannstatt 1965, III-XII; und zu den philologischen Problemen und Fragen der Datierung Helga Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung in Kants Kritik der Urteilskraft. Zur systematischen Funktion der Kritik der Urteilskraft für das System der Vernunftkritik, München 1975 (= Epimelia. Beiträge zur Philosophie, 25), bes. 235 – 252. 9 Vgl. Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Herrn Prof. Kant auf Anrathen desselben von M. Jacob Sigismund Beck. Zweyter Band, welcher die Critik der Urtheilskraft und die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft enthält, Riga 1794, 541 – 590. Diese Angaben entnehme ich Hinske, »Zur Geschichte des Textes«. 10 Vgl. Wilhelm Dilthey, »Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 2 (1889),
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neu ediert und erschien 1914 im fünften Band der sogenannten CassirerAusgabe von Kants Werken.11 Diese Ausgabe wurde schließlich 1918 durch Cassirers Gesamtdarstellung von Kants Leben und Lehre ergänzt. Die »Erste Einleitung« in die Kritik der Urteilskraft kreuzte somit den Weg Cassirers zu der Zeit, als er die Grenzen seiner erkenntniskritischen Schriften hinter sich zu lassen begann und sein neues Projekt einer »Philosophie des Symbolischen« entwarf. In dieser Situation des Übergangs stieß er auf einen Text, der seinerseits einen Übergang anvisiert und dokumentiert. Im folgenden Abschnitt soll daher anhand der Kritik der Urteilskraft und vor allem gestützt auf ihre »Erste Einleitung« dieser Übergang Kants verfolgt werden, der von der Einsicht in die Grenzen der Bestimmungen der Kritik der reinen Vernunft ausging. Sie zog eine Transformation des Tran szendentalen nach sich, die Cassirer sich zu Nutze zu machen wusste, als er sich mit Blick auf die Ästhetik gezwungen sah, seine eigene Philosophie zu erweitern und ihre Grundlagen umzuarbeiten.12 343 – 367, hier 358 f., und »Die Rostocker Kanthandschriften«, in: ebd., 592 – 650, hier 593 f. Die Texte sind aufgenommen in ders., Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus, Stuttgart 1959 (= Gesammelte Schriften, 4), 555 – 575, hier 567 f., und 310 – 353, wobei der zweite Text den neuen Titel »Briefe Kants an Beck« erhalten hat und mit der einleitenden Passage auch um die Erwähnung des Manuskripts der »Ersten Einleitung« gekürzt wurde. Dilthey dokumentiert in diesem Text auch die Schreiben zwischen Beck und Kant, die die Übersendung des Manuskripts betreffen, vgl. Dilthey, »Die Rostocker Kanthandschriften«, 632 – 637, bzw. ders., Die Jugendgeschichte Hegels, 339 – 3 43. Die Frage, inwiefern die »Einleitung« in die Kritik der Urteilskraft auf Dilthey selbst einen Einfluss ausgeübt hat, kann an dieser Stelle offen bleiben. Rudolf A. Makkreel, »Wilhelm Dilthey and the Neo-Kantians: The Distinction of the Geisteswissenschaften and the Kulturwissenschaften«, in: Journal of the History of Philosophy 7 (1969), 423 – 4 40, hier 429 – 431, behauptet einen solchen Einfluss, sowohl seine Argumentation als auch seine Verweise scheinen aber recht unspezifisch. 11 Es folgten weitere Editionen unter anderem von Gerhard Lehmann, der dann 1942 auch die Edition im Rahmen der Akademie-Ausgabe besorgte, vgl. Kants Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 20, Abt. 3: Handschriftlicher Nachlaß, Bd. 7: Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Rostocker Kantnachlass, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, Berlin 1942, 193 – 251. 12 Es sei am Rande angemerkt, dass ich mich mit der Rede von ›Transformation‹ nicht auf Karl-Otto Apels einst geläufiges Programm der semiotischen Transformation der Philosophie stütze. Apel hat sich selten und ebenso kritisch wie unpräzise auf Cassirer bezogen, vgl. Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. I und II, Frankfurt a. M. 1973, hier Bd. II, 188 f. und 353 f. Eine Verbindung zwischen Apels und Cassirers Fortführung der kantischen Philosophie sieht dagegen Heinz Paetzold, »Ernst Cassirer und die Idee einer transformierten Transzendentalphilosophie«, in: Wolfgang Kuhlmann und Dietrich Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 1982, 124 – 156, bes. 124 – 147.
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Der wissenschaftstheoretische Hintergrund von Kants Kritik der Urteilskraft Der Ausgangspunkt von Kants Philosophie ist geprägt von seinem Verständnis der zeitgenössischen Wissenschaften. Bereits in der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schildert Kant die berühmte »Revolution der Denkart«, die auch für die Philosophie als Maßstab gelten müsse: Statt sich nach den gegebenen Gegenständen zu richten, schreibt das wissenschaftliche Vorgehen ihnen die Bedingungen vor, um der Natur ganz bestimmte Fragen zu stellen und ihr eindeutige Antworten abzuringen.13 Die zentrale Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori erweist sich als ebenso eng auf die wissenschaftliche Erkenntnis bezogen: Diese Frage ist Kant zufolge nämlich überhaupt nur sinnvoll, weil in den mathematischen Erkenntnissen synthetische Urteile a priori vorliegen und solche auch in den Naturwissenschaften »als Prinzipien«14 enthalten sind. Wie die Metaphysik, die nach Kants Vorhaben den Weg einer Wissenschaft einschlagen soll, möglicherweise aussehen kann, wird sich daher auch nach der zu beschreibenden Genese und Struktur der Erkenntnisse der Wissenschaften zu richten haben. Damit ist lediglich der Ausgangspunkt von Kants umfangreichem Argumentationsgang angedeutet, der auf der Grundlage der apriorischen Formen von Anschauung und Verstand den gegliederten Aufbau einer Erkenntnis aus dem empirisch Gegebenen entwickelt und dabei von der transzendentalen Ästhetik und ihrer Erörterung von Raum und Zeit über die Deduktion der Verstandesbegriffe bis hin zum Schematismus und dem System der Grundsätze in der transzendentalen Logik reicht. Bereits im Ausgangspunkt ist jedoch eine Verquickung der Argumentation mit dem Paradigma der wissenschaftlichen Erkenntnis angelegt, die tief in die philosophische Begriffsbildung Kants hineinreichen wird. Dies gilt nicht nur für die Annahme faktisch vorliegender wissenschaftlicher Erkenntnisse überhaupt, sondern auch für deren konkrete Formen und spezifische Disziplinen, die in der Kritik der reinen Vernunft die maßgeblichen Beispiele abgeben. Es gehen in Kants philosophische Bestimmungen apriorischer Bedingungen der Erkenntnis so nicht nur allgemein logische, sondern auch spezifische Begriffe vor allem aus der Euklidischen Geometrie und der mathematischen Physik ein (z. B. Raum und Kausalität).15 Indem Kant Konzeptionen aus den Vgl. KrV, B XII–XIV. KrV, B 17, vgl. die ganze Passage ebd., B 12 – 21. 15 Es ist darüber hinaus bekannt, dass der Grundgedanke der Kritik der reinen Ver nunft sich wesentlich Kants Auseinandersetzung mit Newtons und Leibniz’ Konzeptio 13 14
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exakten Wissenschaften in die Bedingungen der Erfahrung überhaupt zurückverlegt, scheint ihm zum einen ein entscheidender Schritt zur Begründung der wissenschaftlichen Erkenntnis zu gelingen. Zum anderen gerät seine Argumentation aber zugleich in Abhängigkeit von einzelnen exakten Naturwissenschaften und ihrem damaligen Erkenntnisstand, was Kant zu einem äußerst faszinierenden Gegenstand der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte macht und ebenso ein Anlass zur Historisierung wie zur Infragestellung seines Anspruchs auf eine transzendentale Begründung der wissenschaftlichen Erkenntnis sein kann.16 Im Folgenden werde ich die enge Verbindung von Kants Philosophie mit den Wissenschaften seiner Zeit dagegen in ihrer inneren, philosophischen Dynamik verfolgen und mit Blick auf die Frage nach den spezifischen Bedingungen empirischen Wissens diskutieren. Denn das skizzierte Bild ist zu vereinfacht, um Kants fortgesetztes Ringen um die Begründung wissenschaftlicher Erkenntnis und vor allem seine zunehmend differenzierte Argumentation darstellen zu können. Es ist so trotz aller Nähen zur Mathematik und Physik keineswegs erwiesen, dass die Kritik der reinen Vernunft schon als Begründung dieser Disziplinen gelten kann, arbeitet dieses Werk doch die Bedingungen der möglichen Erfahrung und ihrer Gegenständlichkeit im Allgemeinen heraus, ohne den unterschiedlichen Verfahren und charakteristischen Gegenständen einzelner Disziplinen Rechnung zu tragen. Letztlich bleibt die Frage zu stellen, wie sich Kants Reflexion zu den einzelnen Disziplinen verhält: Ist sie so eng verbunden mit Physik und Mathematik, dass die schließlich herausgearbeiteten apriorischen Bedingungen deren nen des Raums verdankt, vgl. zu den Grundzügen bereits Erich Adickes, Kant als Naturforscher, Band 1 und 2, Berlin 1924 – 1925, hier Bd. 1, 233 – 240; differenzierter und ausführlicher Karen Gloy, »Die Kantische Differenz von Begriff und Anschauung und ihre Begründung«, in: Kant-Studien 75 (1984), 1 – 37, hier 7 – 9, und, mitunter etwas eigenwillig interpretierend, Friedrich Kaulbach, Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und Kant, Köln 1960 (= Kantstudien, Ergänzungshefte, 79), bes. 24 – 33 und 90 – 98. 16 Zahlreiche Arbeiten haben diese ›Abhängigkeit‹ Kants von den zeitgenössischen Wissenschaften nachgewiesen und verständlich gemacht, wobei zunächst und durchaus zu Recht meist die exakten Wissenschaften und vor allem die mathematische Physik im Vordergrund standen, vgl. die exemplarischen und maßgeblichen Studien von Peter Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft. Eine Untersuchung zur Vorrede von Kants »Meta physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft«, Göttingen 1965, und M ichael Friedman, Kant and the Exact Sciences, Cambridge, Mass., u.a. 1992. Es ist in historischer Hinsicht dabei zu berücksichtigen, dass die Physik des 18. Jahrhunderts nicht mit der heutigen Disziplin gleichzusetzen ist, die maßgeblich durch die Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert entstand und ihr disziplinäres Profil vor allem durch die Ausbildung einer eigenständigen Mathematik und Chemie gewann, vgl. dazu Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740 – 1890, Frankfurt a. M. 1984, hier 94 – 251.
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Erkenntnisse unmittelbar begründen, aber nicht die Erkenntnisse anderer Disziplinen? Oder sind diese Bedingungen so allgemein, dass sie die wissenschaftliche Erkenntnis zwar im Allgemeinen begründen, sie aber zugleich für die konkreten Formen der empirischen Erkenntnis zu spezifizieren sind, was in der Folge aber wohl auch insbesondere für die Physik gelten müsste?17 In den Texten nach der Kritik der reinen Vernunft zeigt sich, wie sehr Kants Argumentation geprägt ist von seiner Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Wissenschaften und wie tief durchzogen von einem spannungsvollen Verhältnis zwischen ihrer beanspruchten Allgemeinheit und den paradigmatischen Beispielen. Kant lässt sich nämlich nicht nur in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften detaillierter auf die Physik ein. In späteren Werken bezieht er darüber hinaus Disziplinen in die erkenntnistheoretische Reflexion ein, denen er wegen seiner Orientierung an der Physik wenige Jahre zuvor noch jede Wissenschaftlichkeit abgesprochen hatte. Seine Versuche, auch die Biologie oder die Chemie zu begründen, führen Kant aber nicht nur dazu, sich auf deren konzeptionelle Eigentümlichkeiten einzulassen, sondern auch andere Formen der Erkenntnis und ihrer Begründung in Betracht zu ziehen. Kants philosophische Begrifflichkeiten und die Form seiner Reflexionen sind von den spezifischen Differenzen zwischen den einzelnen Disziplinen von Anfang an nicht unberührt und werden in seiner andauernden intensiven Auseinandersetzung mit den Wissenschaften weiter entwickelt und, wo nötig, angepasst. Es sollen deshalb im Folgenden die Modelle der Begründung, Erklärung und Beschreibung von wissenschaftlicher Erkenntnis und die Frage nach ihrem Bezug auf die spezifischen Bedingungen des Vorgehens wie der Gegenstände einzelner konkreter Wissenschaften im Zentrum stehen. Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft von 1786 belegen zunächst die enge Verbindung mit der zeitgenössischen mathematischen Physik. Denn Kant postuliert in der Vorrede nicht nur, dass sich die Wissenschaftlichkeit von Erkenntnis allein daran bemessen soll, inwiefern deren Gesetze a priori sind: »Eine rationale Naturlehre verdient also den Namen einer Naturwissenschaft nur alsdenn, wenn die Naturgesetze, die in ihr zum 17 Diese Frage hat beispielsweise Gerd Buchdahl hinsichtlich der Newton’schen Physik mit einem entschlossenen ›Ja‹ beantwortet, vgl. »Der Begriff der Gesetzmäßigkeit in Kants Philosophie der Naturwissenschaft«, in: Peter Heintel und Ludwig Nagl (Hg.), Zur Kantforschung der Gegenwart, Darmstadt 1981, 90 – 121, hier 90 – 93. Seine Erörterung der »Notwendigkeit einer speziellen Grundlegung« (ebd., 97) der »Naturwissenschaft« – wohl gemerkt im Singular – bleibt aber unscharf, da sie sich auf Textstellen stützt, die nach Belieben aus dem gesamten kantischen Werk zusammengetragen werden. Dadurch entgeht Buchdahl aber vor allem auch die im Folgenden diskutierte Entwicklung von Kants Denken.
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Grunde liegen, a priori erkannt werden, und nicht bloße Erfahrungsgesetze sind.«18 Er legt zugleich die Konvergenz dieser apriorischen Gesetze mit der Anwendung mathematischer Verfahren nahe, wenn seiner bekannten Formulierung zufolge »in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist«19. Die naturwissenschaftliche Erkenntnis hat ihren Maßstab in der Mathematik, und die Physik scheint sich auf deren Anwendung im Feld der empirisch-exakten Erkenntnis zu beschränken. Allerdings geben die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissen schaft nicht nur den Einfluss von Mathematik und Physik auf Kants Philosophie zu erkennen, sie stellen auch einen Versuch dar, sich über die Kritik der reinen Vernunft hinaus der konkreten Form physikalischer Erkenntnis und der Spezifik ihrer Gegenstände zu nähern. Die apriorischen Gesetze, über die eine Naturwissenschaft verfügt, müssen so zwar auf den transzenden talen Bedingungen der Erfahrung beruhen, um den »reinen Teil« einer »eigentlichen Naturwissenschaft« zu bilden, »auf dem sich die apodiktische Gewißheit, die die Vernunft in ihr sucht, gründen könne«20 . Sie reduzieren sich aber ebenso wenig auf diese allgemeinsten apriorischen Bedingungen wie auf die Anwendung von per se apriorischen mathematischen Verfahren, denn der spezifisch naturwissenschaftliche Bezug auf die Gegenstände der Erkenntnis geht über die Mathematik hinaus. Wie Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft betont hatte, zeichnet sich die Mathematik – vor allem gegenüber der Philosophie – nämlich dadurch aus, dass sie ihre Gegenstände in der Anschauung a priori konstruiert.21 Sie genießt so zwar einerseits den Vorzug, anders als jede Naturwissenschaft vollständig a priori zu sein. Sie zahlt dafür aber andererseits den Preis, streng genommen gar keine Gegenstände von objektiver Realität zu haben, denn diese sind Kant zufolge per definitionem empirische.22 Die Naturwissenschaften dagegen beziehen sich 18 MANW, A VI . Vgl. zum argumentativen Zusammenhang dieses und des folgenden Zitats die ausführlichere Rekonstruktion von Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft, 35 – 82. Es sei auch an dieser Stelle hervorgehoben, dass der Rekurs auf die Mathematik bei Kant keinesfalls nach den Maßgaben rein axiomatisch-deduktiver Begründung von Erkenntnis missverstanden werden darf, vgl. ebd., 40 f., und vor allem Friedman, Kant and the Exact Sciences, 55 – 95. Die Axiomatisierung der Mathematik setzt erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. 19 MANW, A VIII . Vgl. zum historischen Kontext dieser These Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen, 180 – 188. 20 MANW, A VIIf. 21 Vgl. KrV, A 713 f./B 741 f. 22 Vgl. KrV, B 146 f., und ausführlicher ebd., A 155 – 158/B 194 – 197; vgl. zur Erläuterung auch Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft, 61 f., und Friedman, Kant and the Exact Sciences, 94 und 98 – 102.
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auf solche Gegenstände, die in der äußeren Erfahrung gegeben werden müssen und somit Zeit und Raum unterworfen sind.23 Das entscheidende Argument der Metaphysischen Anfangsgründe der Na turwissenschaft ist nun darin zu sehen, dass sich die Erkenntnis dieser äußeren Gegenstände keineswegs auf die Anwendung mathematischer Mittel auf die empirische Anschauung reduzieren lässt. Vielmehr schließt sie insofern spezifische apriorische Bedingungen ein, als die besonderen Charakteristika dieser empirischen Gegenstände in Zeit und Raum von vornherein in sich spezifizierte apriorische Bedingungen enthalten.24 Wie bereits Peter Plaaß gezeigt hat, arbeitet Kant daher unter Voraussetzung des empirischen Begriffs der Materie die apriorischen Bestimmungen heraus, die in diesem Begriff durch die reinen Verstandesbegriffe zugleich mitgesetzt sind. 25 Kant fragt somit nicht wie in der Kritik der reinen Vernunft »unbestimmt in Ansehung der Natur dieses oder jenes Dinges der Sinnenwelt« allein nach dem allgemeinsten »transzendentalen Teil der Metaphysik der Natur«, er legt vielmehr »den empirischen Begriff einer Materie […] zum Grunde, und sucht den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist«26 , nachzuzeichnen. Kant geht damit über die Frage der Kritik der reinen Vernunft nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt metho23 Neben den äußeren seien an dieser Stelle auch die komplementären inneren Gegenstände genannt – die Frage der Möglichkeit der »Seelenlehre« (MANW, A IV) ist für den hier verfolgten Gedankengang aber von keiner größeren Bedeutung, zumal Kant sie der Wissenschaftlichkeit letztlich nicht für fähig hält, vgl. ebd., A X f. 24 Vgl. MANW, A VIIf. und XII . 25 Vgl. insbes. Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft, 74 – 78, sowie mit wichtigen Ergänzungen und Korrekturen Michael Friedman, »Matter and Motion in the Metaphysical Foundations and the first Critique: The Empirical Concept of Matter and the Categories«, in: Hans Friedrich Fulda und Jürgen Stolzenberg (Hg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg 2001, 328 – 3 45, und ders., »Regulative and Constitutive«, in: The Southern Journal of Philosophy 30 (1992), Suppl., 73 – 102, hier 80 – 83. Adickes, Kant als Naturforscher, Bd. 1, 247 – 271, fasst die Argumentation der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft zusammen, ohne deren innovative Fragestellung in den Blick zu bekommen. Er kritisiert daher Kants Anspruch auf ein apriorisches Wissen über die Materie im Rekurs auf die Kritik der reinen Vernunft, wobei er alle formalen Bedingungen auf die dort festgelegten apriorischen Kategorien reduziert und alle in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft verhandelten Probleme als »materiale Bedingungen« fasst, um sie so der Empirie zuzuschlagen: »Besondere formale Voraussetzungen für einzelne Erfahrungsgegenstände gibt es nicht, sie können also auch durch die transzendentale Methode nicht aufgefunden werden.« (Ebd., 280) Vgl. auch ebd., 263 f., und dasselbe Argument nochmals ausführlicher ebd., 367 – 371. Kants Frage nach den besonderen Gesetzen der Natur und ihren formalen wie spezifischen, transzendentalen wie empirischen Bedingungen entgeht Adickes deshalb. 26 MANW, A VIII .
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disch hinaus, 27 indem er sie unter Voraussetzung des empirischen Begriffs der Materie spezifiziert und dadurch eine »besondere metaphysische Naturwissenschaft«28 in Angriff nimmt, die die »Bestimmungen des allgemeinen Begriffs einer Materie überhaupt, mithin auch alles, was a priori von ihr gedacht«29 werden mag, umfassen soll. Statt die transzendentale Reflexion auf apriorische Bedingungen von Erfahrung an die scharfe Grenze eines unableitbaren und hinzunehmenden Empirischen stoßen zu lassen, dehnt Kant diese Grenze somit noch ein Stück aus, um einen reinen »Teil abgesondert, und von dem andern [empirischen, A. S.] ganz unbemengt, so viel möglich in seiner ganzen Vollständigkeit vorzutragen, damit man genau bestimmen könne, was die Vernunft für sich zu leisten vermag, und wo ihr Vermögen anhebt, der Beihülfe der Erfahrungsprinzipien nötig zu haben«.30 Diese »Absonderung«31 der apriorischen Prinzipien der naturwissenschaftlichen Erkenntnis basiert aber auf deren Spezifikation hinsichtlich der besonderen und empirischen Charakteristik der materiellen Gegenstände der äußeren Erfahrung. Es ist die Physik, die in dieser Spezifikation naturwissenschaftlicher Gegenstände und der Form ihrer Darstellung die entscheidende Rolle spielt. Denn Kant definiert in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwis senschaft die Materie als »das Bewegliche im Raume«32 und spezifiziert ihre apriorischen Bestimmungen am physikalischen Begriff der Bewegung, wie er sich von Galileis Fallgesetzen über Keplers Gesetze der Elliptik der Planetenbahnen bis hin zu Newtons Bewegungsgesetzen entwickelt hatte.33 Genauer gesagt versucht er zentrale Teile dieser Gesetze a priori zu beweisen Kant reflektiert selbst diesen Schritt, wenn er in den Metaphysischen Anfangsgrün den der Naturwissenschaft erklärt, dass deren zentraler und vorausgesetzter empirischer Begriff der Bewegung in der Kritik der reinen Vernunft eben nicht unter den Kategorien vorkommen durfte, weil diese rein a priori gehalten werden mussten, vgl. MANW, A 4. 28 MANW, A VIII . 29 MANW, A XVII f. 30 MANW, A. VII. In MANW, A 104, heißt es: »Und so ist Nachforschung der Meta physik, hinter dem, was dem empirischen Begriffe der Materie zum Grunde liegt, nur zu der Absicht nützlich, die Naturphilosophie, so weit als es immer möglich ist, auf die Erforschung der dynamischen Erklärungsgründe zu leiten, weil diese allein bestimmte Gesetze, folglich wahren Vernunftzusammenhang der Erklärungen, hoffen lassen.« 31 MANW, A XIV 32 MANW, A 1. 33 Vgl. auch MANW, A XX f., sowie für einen hilfreichen Überblick mit zahlreichen Nachweisen Heinz Heimsoeth, »Kants Erfahrung mit den Erfahrungswissenschaften. Hypothese, Analogie und Induktion, System und Einteilung als Forschungsaufgabe«, in ders., Studien zur Philosophie Immanuel Kants II . Methodenbegriffe der Erfahrungswissenschaften und Gegensätzlichkeiten spekulativer Weltkonzeption (= Kantstudien, Ergänzungshefte, 100), Bonn 1970, 1 – 85, hier 10 – 35. 27
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und als wesentlichen Bestandteil des ›reinen Teils‹ der Naturwissenschaften zu etablieren. Dieser Teil basiert so auf mathematischen Bedingungen, geht aber entscheidend über die Mathematik wie über jede einfache Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf das in der Anschauung Gegebene hinaus, da er wesentlich die Bewegungsgesetze der Physik beinhaltet und sich maßgeblich auf deren Theorie der Bezugssysteme der Bewegung begründet.34 Im Rückblick auf die Kritik der reinen Vernunft ist so zu Recht davon zu sprechen, dass »Kant seine Theorie der Naturwissenschaft einen Schritt weiter ins Konkrete treibt«35 . Dieses Konkrete wird aber, so gilt es sogleich zu betonen, von einer einzigen Naturwissenschaft, der Physik, aus gefasst, da die apriorischen Gesetze der Bewegung für alle materiellen Gegenstände der Erkenntnis überhaupt gelten sollen. Alle anderen Disziplinen und insbesondere die nicht exakten Naturwissenschaften geraten dagegen in Begründungsnot. Denn die ihnen eigenen, spezifischen Bedingungen können nur noch als empirisch klassifiziert werden, wo sie nicht mit denjenigen der mathematischen Physik und ihrem rein apriorischen Teil an Prinzipien übereinstimmen. Im Falle der Chemie erscheinen Kant daher selbst die Zusammenhänge und Gesetze, die als Bedingungen angenommen werden müssen, um den charakteristischen Gegenstand ihrer Erkenntnis überhaupt als einen solchen zu fassen, bloß empirisch. Er begreift sie als »zufällige Gesetze, die bloß Erfahrung gelehrt hat«36 , und ihre Erkenntnis als von lediglich »empirischer Gewißheit«37, um schließlich die Konsequenz zu ziehen, dass die Chemie nicht als Wissenschaft gelten kann.38 Dabei ist nicht allein entscheidend, dass die Chemie jedenfalls zur Zeit Kants kaum mathematisierbar war, denn ebenso wenig zeichnete sich ab, wie sich die von ihr Vgl. zum Schritt über die Mathematik hinaus die prägnante Erklärung in MANW, A 104 f. Friedman, Kant and the Exact Sciences, 136 – 164, zeigt, wie sehr beispielsweise Kants Erörterung von der physikalischen Diskussion hinsichtlich der Bezugssysteme der Bewegung durchdrungen ist. 35 Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft, 127. 36 MANW, A VI . 37 MANW, A V. 38 Denn für die Chemie trifft nicht nur die allgemeine Behauptung zu: »Erkenntnis, die bloß empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wis sen.« (MANW, A V) Sie wird von Kant auch explizit aus den Wissenschaften entfernt: »Wenn aber diese Gründe oder Prinzipien in ihr, wie z. B. in der Chemie, doch zuletzt bloß empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebenen Facta durch die Vernunft erklärt werden, bloß Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein Bewußtsein ihrer Not wendigkeit bei sich (sind nicht apodiktisch-gewiß) und alsdenn verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft, und Chymie sollte daher eher systematische Kunst, als Wissenschaft heißen.« (Ebd.) Vgl. auch MANW, A X. 34
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analysierten Prozesse in Analogie zur Physik auf die Bewegung materieller Gegenstände und auf die Wirkungen physikalischer Kräfte zurückführen lassen sollten.39 »Naturbeschreibung« oder »Naturgeschichte«40 , die der Biologie zuzuordnen wären, kommen in Kants Einschätzung keinen Deut besser weg. Auch diesen Formen der Erkenntnis eröffnet er in den Metaphy sischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft nur insofern eine Möglichkeit zur Begründung, als sie sich dem reinen Teil der Naturwissenschaften und damit den der Physik entlehnten apriorischen Gesetzen anzunähern vermögen. 41 Kants Versuch zur näheren Begründung der Physik offenbart so die besondere Problemlage seiner Wissenschaftsphilosophie. Sie orientiert sich an einer einzelnen Disziplin und stützt sich auf die Bewegungsgesetze der Physik, um über den empirischen Begriff der Materie den maßgeblichen, transzendentalen und apriorischen Rahmen der Darstellung aller empirischen Gegenstände abzuleiten. 42 Alle anderen Disziplinen müssen hinsichtlich ihres Erkenntniswerts demgegenüber ins Hintertreffen geraten, insofern sie sich nicht auf diese physikalische Bestimmung ihres Gegenstands einlassen können. Dieses Problem entsteht wesentlich durch die Spezifikation der apriorischen Bedingungen der Erkenntnis überhaupt mit Blick auf die Physik, wirft daher aber auch die Frage nach dem Verhältnis dieser Spezifikation zu den allgemeinsten Bedingungen der Erfahrung auf. Denn anscheinend sind diese Bedingungen zugleich zu allgemein und zu spezifisch: Einerseits wurden sie in der Kritik der reinen Vernunft in Orientierung an der Physik formuliert, um zumindest deren reinen apriorischen Teil begründen zu können, so dass sie von vornherein kaum geeignet scheinen, um auch anderen Disziplinen und ihrer Darstellung von Gegenständen Rechnung tragen zu können; andererseits sind sie aber doch auch zu allgemein, um auch nur die Physik unmittelbar begründen zu können, weshalb Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft auf die empirische Spezifikation ihrer Gegenstände durch den Begriff der Materie zurückgreifen muss. Die philosophische Reflexion auf die apriorischen Bedingun39 Vgl. diesen reduktionistischen Anspruch in MANW, A 83 – 85, und mit Bezug auf die Chemie ebd., A X. 40 MANW, A IVf. 41 So muss, Kant zufolge, »nach Foderungen der Vernunft, jede Naturlehre, zuletzt auf Naturwissenschaft hinausgehen und darin sich endigen […], weil jene Notwendigkeit der Gesetze dem Begriffe der Natur unzertrennlich anhängt und daher durchaus eingesehen sein will« (MANW, A VI). 42 Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft, 62, spricht daher mit Blick auf Kant durchaus zu Recht von der »fundamentalen Stellung der Physik unter den Naturwissenschaften«, unterschätzt aber die darin gegebene Problematik und die sich daraus in den späteren Schriften Kants entfaltende Dynamik.
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gen empirischer Erkenntnis bringt nicht unmittelbar deren Begründung mit sich, sondern führt eine Differenz zwischen allgemeinen Bedingungen und empirischer Spezifikation der Wissenschaften ein, die Kants Wissenschaftsphilosophie auch noch über die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft hinaus umtreiben wird. Kant wird seine Orientierung am Beispiel der Physik allerdings keineswegs in expliziter Form in Frage stellen. Fortschritte in der Biologie und der Chemie, die von Kant aufmerksam verfolgt wurden, haben die bloße Diskreditierung dieser Disziplinen als ›unwissenschaftlich‹ aber bald unbefriedigend erscheinen lassen. Sie haben Kant, so Michael Friedman, neuen Optimismus eingeflößt, auch diese Wissenschaften in seine Überlegungen einzubeziehen und ihre philosophische Begründung in Angriff zu nehmen. 43 In der Kritik der Urteilskraft scheint es Kant so mit Blick auf die biologische Erkenntnis und ihre Gegenstände darum zu gehen, »gleichsam auf Wunsch eines einzelnen Phänomens, die Grenzen der mechanistischen Erklärungsweise von innen abzustecken«, wie Peter McLaughlin formuliert. 44 Das prominenteste und für die Kritik der Ur teilskraft zentrale Phänomen ist dabei der Organismus, denn dessen innere, zweckmäßige Organisation und seine eigenständige Bewegung ließen sich kaum auf einer physikalischen Grundlage erklären. 45 Die kantische Naturwissenschaft konnte von Organismen schon deshalb nicht handeln, weil sie die Materie als »leblos« in dem Sinne definiert hatte, dass diese sich in Entsprechung zum physikalischen Trägheitssatz nicht selbst »zur Bewegung 43 Vgl. Friedman, Kant and the Exact Sciences, 264 – 290, der die Chemie aber mit Blick auf die spätere Entstehung des sogenannten Opus postumum diskutiert, vgl. auch ebd., 213 – 220 und 237 – 242. Vgl. zu Kants konzeptionellen und methodischen Anleihen bei der Chemie seiner Zeit auch Bernadette Bensaude-Vincent und Mai Lequan, »Chimie et philosophie au 18e siècle«, in: Dix-Huitième Siècle 42 (2010), 401 – 416, hier 410 – 412. Die Sekundärliteratur zur Rolle der Biologie wird im weiteren Verlauf der Diskussion angeführt. 44 Peter McLaughlin, Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn 1989, 38. 45 Vgl. zu Kants Beziehung zur zeitgenössischen Biologie und insbesondere zur Frage des Organismus Reinhard Löw, Philosophie des Lebendigen. Der Begriff des Organischen bei Kant, sein Grund und seine Aktualität, Frankfurt a. M. 1980, bes. 138 – 191; McLaughlin, Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 9 – 48; sowie James L. Larson, The Science of Living Form from Linnaeus to Kant, Baltimore und London 1994, bes. 170 – 182. Auch Max Horkheimer skizziert in seiner Dissertation Zur Antinomie der te leologischen Urteilskraft von 1922 diese Problemlage in wenigen markanten Zügen, jedoch misst er die Frage der biologischen Erkenntnis an den Maßstäben der Objektivität aus der Kritik der reinen Vernunft und reduziert die Kritik der Urteilskraft daher fälschlich auf eine mechanistische Position, vgl. ders., Philosophische Frühschriften 1922 – 1932 (= Gesammelte Schriften, 2), hg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1987, 13 – 72, bes. 24 – 47.
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oder Ruhe, als Veränderung ihres Zustands, zu bestimmen«46 vermochte. Nicht minder grundlegende Probleme warf die taxonomische Ordnung der lebendigen Natur auf, wie sie seit Jahrhunderten entwickelt worden war und durch Linnés Arbeiten ab den 1730er Jahren erhebliche Fortschritte erfahren hatte, aber zugleich vor allem durch Buffon einer grundsätzlichen Kritik unterzogen worden war. 47 Kant hatte diese »Naturbeschreibung« und »ihr Klassensystem […] nach Ähnlichkeiten«48 in den Metaphysischen Anfangs gründen der Naturwissenschaft noch mit Skepsis erwogen und letztlich nicht als Wissenschaft im eigentlichen Sinne betrachtet. 49 Wenige Jahre später geht er in der Kritik der Urteilskraft jedoch erneut auf diese Probleme ein und nimmt die philosophische Herausforderung einer möglichen Begründung der biologischen Erkenntnis an. Kant billigt der Biologie daher nun eine eigene, nicht auf die Physik zu reduzierende Erkenntnisform zu und begreift sie als ein eigenständiges philosophisches Problem. Er ergreift damit im zeitgenössischen Streit zwischen mechanistisch-reduktionistischen und teleologisch-vitalistischen Auffassungen des Lebendigen zumindest unter Vorbehalten Partei und fragt mit Bezug auf die Ordnung des Lebendigen und die Organisation des Organismus nach den spezifischen Voraussetzungen der biologischen Gegenstände. Dadurch stößt er auf einen neuen Typ von Bedingungen, denn die biologische Erkenntnis muss nach Kants Analyse Annahmen über ihre Gegenstände treffen, die – selbst unter Voraussetzung eines empirischen Begriffs – nicht a priori begründet werden können. Die Erweiterung der philosophischen Reflexion auf die biologische Erkenntnis und die ihr eigenen Bedingungen beschränkt sich deshalb mitnichten darauf, »die Grenzen der mechanistischen Erklärungsweise von innen abzustecken«50 . Sie stellt den bisherigen Rahmen der transzendentalen Reflexion auf die Bedingungen der Erkenntnis insofern in Frage, als sie notwendige und spezifische, aber nicht deduzierbare Annahmen und damit neuartige Bedingungen der empirischen Erkenntnis einführt. Ich werde diese neuartigen, spezifi MANW, A 120 f. Vgl. zur historischen Entwicklung des Problems der Klassifikation bei Linné, aber auch zu seiner Vorgeschichte James L. Larson, Reason and Experience. The Representation of Natural Order in the Work of Carl von Linné, Berkeley u.a. 1971, 6 – 121, sowie zu Buffons Kritik Philipp R. Sloan, »The Buffon-Linnaeus Controversy«, in: Isis 67 (1976), 356 – 375. 48 MANW, A V f. 49 Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft, 41 f., deutet diese Erwähnung in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft im Sinne der Forderung einer teleologischen Angleichung aller Disziplinen an die Maßstäbe der Physik nach MANW, A VI . 50 Wie schon zitiert: McLaughlin, Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 38. 46 47
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schen Bedingungen im Folgenden zum einen aufgrund ihrer Notwendigkeit als transzendentale Bedingungen verstehen (auch wenn dieses Attribut im strengen kantischen Sinne die Form der Reflexion selbst bezeichnet, die von den angedeuteten Verschiebungen jedoch kaum unberührt bleiben wird).51 Ich werde diese notwendigen, transzendentalen Bedingungen zum anderen aber von den apriorischen Bedingungen im engeren Sinne unterscheiden, die Kant zufolge a priori zu deduzieren und als solche allgemein sind. In der Folge gilt es genauer zu erörtern, wie die Bedingungen der Erkenntnis umfassend sowohl in ihrer Allgemeinheit als auch in ihren Spezifikationen, ebenso in ihren apriorischen wie in ihren empirischen Aspekten zu konzipieren sind. Zu diesem Zweck werde ich die wissenschaftsphilosophische Dynamik dieser Fragestellung ins Zentrum stellen und nicht den historischen Zusammenhang von Kants Philosophie en detail entfalten. Ich werde mich dabei an der exemplarischen Frage nach der Ordnung des Lebendigen orientieren, da dieses Beispiel zum einen Aspekte von Kants Fragestellung in den Vordergrund treten lässt, die jenseits der spezialisierten Sekundärliteratur bislang weniger beachtet wurden, und das Problem des Organismus zum anderen in der Sekundärliteratur zur Kritik der Urteils kraft und vor allem zu ihrem zweiten Teil, der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«, bereits ausführlich behandelt worden ist. Die reflektierende Urteilskraft und die zwei Naturen der Dinge Der Neuansatz der Kritik der Urteilskraft lässt sich anhand einer Tätigkeitsform des titelgebenden Erkenntnisvermögens entwickeln, die Kant in dieser Schrift neu einführt. Die Urteilskraft ist zunächst allgemein wie in der Kritik der reinen Vernunft bestimmt als das »Vermögen, unter Regeln zu subsumieren«52 , bzw. als »das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken«53 . Während dies in der Kritik der rei nen Vernunft per definitionem heißt, »zu unterscheiden, ob etwas zu einer gegebenen Regel (causus datae legis) stehe, oder nicht«54 , geht die Kritik der Urteilskraft nicht davon aus, dass das Allgemeine, unter das das Besondere zu fassen ist, prinzipiell durch den Verstand gegeben ist. Stattdessen unter51 Vgl. zu Kants Verständnis der »transzendentalen Reflexion« KrV, A 260 – 263/B 316 – 319. In die angedeutete Richtung einer Veränderung der Form dieser Reflexion weist auch die Deutung von Löw, Philosophie des Lebendigen, 191 f. 52 KrV, A 132/B 171. 53 KU, A XXIII/B XXV. 54 KrV, A 132/B 171.
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scheidet sie die Tätigkeit der »bestimmenden Urteilskraft«, bei der dies der Fall ist, von der »reflektierenden Urteilskraft« genau dadurch, dass diese das Allgemeine zum Besonderen selbst ausfindig machen muss.55 Sie hilft so dem Verstand bei seinem »notwendigen Geschäfte: zum Besonderen, welches ihm die Wahrnehmung bietet, das Allgemeine […] zu finden«56 . Diese Reflexion auf das Allgemeine anhand des Besonderen und die ihr eigenen Prinzipien stehen im Zentrum der neuen, dritten Kritik. Die reflektierende Urteilskraft hat folglich genau insofern eine eigene Aufgabe, als viele Aspekte an den »besonderen Naturwesen«57 und »verschiedenen Naturformen«58 noch zu bestimmen sind, obwohl die bestimmende Urteilskraft diese Gegenstände durch die apriorischen Kategorien, damit jedoch lediglich auf allgemeinster Ebene bestimmt hat. Die Kategorien legen nämlich nur fest, was die Gegenstände der Erfahrung überhaupt definiert, während sie insofern »unbestimmt«59 bleiben, als die spezifischen Gesetze oder Begriffe, die sie beispielsweise als konkrete Gegenstände der Biologie auszeichnen, nicht von apriorischem Status im Sinne der Kritik der reinen Vernunft sind. 60 Diese ›Unbestimmtheit‹ markiert demnach insofern ein ›Aussetzen‹ der bestimmenden Urteilskraft, als sie in ihrem eigenen Bereich, dem Feld der Erscheinungen, inhärente Grenzen hat, da nicht alle erscheinende Bestimmtheit auf die Kategorien zurückgeht, die ihr durch den Verstand gegeben sind und die sie für alle möglichen Gegenstände der Erfahrung schematisiert. ›Unbestimmtheit‹ meint somit keine vollkommene Unbestimmtheit, denn die Erscheinungen sind den Kategorien sehr wohl unterworfen und durch sie bestimmt. Sie bezeichnet vielmehr eine Bestimmtheit der ›Naturformen‹, die sich nicht dem Verstand und seinen apriorischen Kategorien verdankt und nur in dieser Hinsicht als ›unbestimmt‹ zu charakterisieren ist. Kants privative Charakterisierung macht so zum einen deutlich, dass er wie in der Kritik der reinen Vernunft von der Schematisierung der Verstandesbegriffe durch die bestimmende Urteilskraft ausgeht und die Bestimmtheit der Gegenstände auf sie zu begründen versucht. Sie zeigt aber auch, dass Vgl. zum Folgenden auch EE , H 16 – 19. KU, A XXXV/B XXXVII . 57 KU, A XXXI/B XXXIII . 58 EE , H 18. 59 KU, A XXIV/B XXVI . 60 Vgl. zur Bestimmtheit und Unbestimmtheit der empirischen Gegenstände und Gesetze der Erfahrung schon Konrad Marc-Wogau, Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, Uppsala und Leipzig 1938 (= Uppsala Universitets Årsskrift 2 (1938)), bes. 4 – 14. Sein Absehen auf dialektische Begriffsverhältnisse lässt Marc-Wogau allerdings mitunter Vereinfachungen des kantischen Textes in Kauf nehmen. 55
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Kant zum anderen die Grenzen der Bestimmung der Gegenstände durch die apriorischen Kategorien des Verstandes ins Auge fasst, die sich letztlich ebenso als Grenzen seiner eigenen Begründung von Erkenntnis auf der Basis apriorischer Verstandesbegriffe erweisen müssen. Dieses ›Scheitern‹ eines simplen Apriorismus erlaubt es aber zugleich, den empirischen Aspekten des Erkennens Rechnung zu tragen. Denn nicht nur verweist die a priori ›unbestimmte Bestimmung‹ auf genuin empirische Quellen der Erkenntnis und ihrer Gegenstände. Sie bietet auch Raum für spezifische Erkenntnisformen wie die Biologie, deren eigene Begrifflichkeiten und besondere Verfahren ebenso wenig wie die charakteristische Spezifik ihrer Gegenstände auf die allgemeinsten Bedingungen aller Gegenstände der Erfahrung überhaupt zurückzuführen sind, selbst wenn diese nicht durch ihren paradigmatischen Bezug auf die Newton’sche Physik geprägt wären. Die reflektierende Urteilskraft findet ihr Tätigkeitsfeld somit zwischen apriorischen und empirischen Quellen der gegenständlichen Bestimmung der Erkenntnis und im Spannungsfeld zwischen allgemeinsten Bedingungen und ihren konkreten Spezifikationen. Dieses Feld war der Kritik der reinen Vernunft noch weitgehend unbekannt, wenn auch vielleicht nicht vollkommen fremd. 61 Seine Charakterisierung hat daher einige auffällige begriffliche Verschiebungen zur Folge, was besonders deutlich wird anhand des Begriffs der Natur. 62 Sie war in der ersten Kritik definiert als der »Inbegriff der Erscheinungen, so fern diese, vermöge eines innern Prinzips der Kausalität, durchgängig zusammenhängen«, und bezeichnete damit ein »bestehendes Ganzes«63 , in dem alle einzelnen Gegenstände der Erfahrung durch Kausalgesetze bestimmt sind. 64 Dies begründet Kant damit, dass diese Gegenstände und also die Natur unter den Bedingungen der Anschauung und des Verstandes stehen, weshalb sie insbesondere der Kausalität unterworfen sind und durch ihre Stelle im kausalen Zusammenhang bestimmt werden. Auch in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1786 definiert Kant die Natur noch in enger Anlehnung an das Paradigma der mathematisch-physikalischen Erkenntnis als »Inbegriff aller Dinge, so fern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können, worunter also das Ganze 61 Ich benutze ›Feld‹ hier nicht im Sinne von Kants Definition in KU, A XVI f./ B XVI f. Dann wäre eher von »Aufenthalt (domicilium)« im Unterschied zum »Gebiet (ditio)« zu sprechen, da die reflektierende Urteilskraft nicht apriorisch gesetzgebend ist, sondern Gesetze empirisch bilden und diese soweit möglich zu einem System ordnen muss, wie noch zu erörtern sein wird. 62 Vgl. zum Folgenden auch Löw, Philosophie des Lebendigen, 129 – 137. 63 KrV, A 419/B 446, Anm. 64 Vgl. auch KrV, A 216/B 263.
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aller Erscheinungen […] verstanden wird«65 . Wie er in den hervorgehobenen Worten andeutet, geht er dort aber zugleich vom empirischen Begriff der Materie aus, um die allgemeinsten apriorischen Gesetze des Verstandes für die Gegenstände äußerer Erfahrung zu spezifizieren, unter der Maßgabe jener Gesetze den apriorischen Gehalt dieser empirischen Spezifizierung herauszuschälen und damit ein apriorisches Wissen im empirischen Begriff der Bewegung zu begründen. In der Kritik der Urteilskraft steht ein solcher Versuch zur Begründung des ›Apriorischen im Empirischen‹ nicht mehr im Zentrum. 66 Denn Kant lässt sich nun auch auf Charakteristika der Erkenntnis und ihrer Gegenstände ein, die sich selbst unter Voraussetzung eines empirischen Begriffs nicht als dessen mitgesetzter apriorischer Gehalt ableiten lassen. Sie bestimmen die Gegenstände der Erkenntnis nicht mehr konstitutiv und implizieren kein apriorisches Wissen, auch wenn sie Annahmen darstellen, die das Erkennen in seinem Vollzug notwendig voraussetzen muss. Die Kritik der Urteilskraft dehnt den Begriff der Natur daher über den reinen Teil der Naturwissenschaft aus, indem sie die apriorischen Gesetze als Grundlage für ihre konkrete Spezifizierung in empirische Gesetze begreift, was sich zunächst einmal in eine Unterteilung der Natur hinsichtlich ihrer transzendentalen Allgemeinheit und empirischen Spezifik niederschlägt: »Allein es sind so mannigfaltige Formen der Natur, gleichsam so viele Modifikationen der allgemeinen transzendentalen Naturbegriffe, die durch jene Gesetze, welche der reine Verstand a priori gibt, weil dieselben nur auf die Möglichkeit einer Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt gehen, unbestimmt gelassen werden, daß dafür doch auch Gesetze sein müssen, die zwar, als empirische, nach unserer Verstandeseinsicht zufällig sein mögen, die aber doch, wenn sie Gesetze heißen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur fordert), aus einem, wenn gleich uns unbekannten, Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen, als notwendig angesehen werden müssen.«67 Die transzendentalen Bedingungen der »Möglichkeit einer Natur« definieren nun also nicht mehr ohne weiteres die möglichen Gegenstände der Erkenntnis – und zwar selbst dann nicht, wenn sie wie in den Metaphysi schen Anfangsgründen der Naturwissenschaft als apriorischer Anteil der empirischen Gegenstände spezifiziert sind, wie Kant mit der Formulierung von der »Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt« andeutet. Vielmehr stellen die »allgemeinen transzendentalen Naturbegriffe« nun lediglich die MANW, A III . Dieser Neuansatz der Kritik der Urteilskraft, der im Folgenden im Zentrum stehen soll, wird für gewöhnlich systematisch unterschätzt, wenn von der Kritik der reinen Ver nunft oder den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft ausgegangen wird, vgl. exemplarisch Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft, 120 und 128 f. 67 KU, A XXIV/B XXVI . 65
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notwendige und gemeinsame Grundlage ihrer notwendigen »Modifikatio nen« dar, durch die die »mannigfaltigen Formen der Natur« zuallererst als solche charakterisiert werden. Dieser Unterscheidung entspricht diejenige von »besonderen« und »allgemeinen Gesetzen«: Während die allgemeinen Gesetze den Erscheinungen überhaupt durch den Verstand vorgeschrieben werden oder genauer als apriorische Gesetze die Gegenstände der Erfahrung im Allgemeinen bestimmen, spezifizieren die besonderen Gesetze die Gegenstände der Erfahrung innerhalb dieses Rahmens, aber auch über die allgemeinen Gesetze hinaus auf irreduzibel empirische und mithin unableitbare Weise. 68 Demnach operiert die bestimmende Urteilskraft, indem sie die ihr gegebenen reinen Verstandesbegriffe schematisiert bzw. auf die gegebenen Erscheinungen anwendet, so dass diese Begriffe a priori für jeden einzelnen Gegenstand gelten: Dieser apriorische Rahmen der Erkenntnis ist notwendig und deshalb objektiv, weil er zuallererst festlegt, was als ein Objekt des Erkennens gelten kann. 69 Die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft ist dagegen gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie darüber hinaus auf Gesetze abzielt, die die konkreten Gegenstände der Erfahrung beherrschen, ohne dass sie ihnen durch apriorische Bedingungen des Erkennens notwendig vorgeschrieben wären. Sie sind in diesem Sinne nicht abzuleiten und werden von Kant in der Kritik der Urteilskraft wie schon in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft daher als »zufällig« bezeichnet.70 Zumindest an einer Stelle der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist bereits von »besonderen Gesetzen« die Rede, die Kant aber beiseite lässt, weil sie nicht für »Erfahrung […] überhaupt« gelten: »Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letztere überhaupt kennen zu lernen; von Erfahrung aber überhaupt, und dem, was als ein Gegenstand derselben erkannt werden kann, geben allein jene Gesetze a priori die Belehrung.« (KrV, B 165) Es lässt sich trefflich streiten, ob Kant hier eher auf den Beweisgang der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft anspielt, die ja vor der zweiten Auflage erschienen sind, oder sich hier doch die konzeptionellen Innovationen abzeichnen, die in der drei Jahre später erscheinenden Kritik der Urteilskraft ausgearbeitet werden. Eine Parallelstelle der ersten Ausgabe ist jedenfalls noch sehr viel undifferenzierter, wenn sie umstandslos formuliert: »Aber alle empirische Gesetze sind nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes, unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich sind […].« (KrV, A 128 f.) Das Problem der »besonderen Gesetze« gewinnt offenbar nur allmählich an systematischer Kontur. 69 Vgl. zur Begründung der Objektivität in den Notwendigkeiten des Erkennens KrV, A 106 und A 191/B 236. 70 Vgl. zu dieser Bezeichnung im Vergleich zur Kritik der reinen Vernunft die präg68
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Diese erneut rein privative Charakterisierung sollte jedoch ebenso wenig wie im Falle der oben angesprochenen ›Unbestimmtheit‹ darüber hinwegtäuschen, dass ihr eine positive Charakteristik empirischer Erkenntnis entspricht. Denn die Gesetze, auf die die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft abzielt, sind von einer eigenen Notwendigkeit, sind sie es doch, die die Erscheinungen zuallererst als konkrete und spezifische Gegenstände der empirischen Erkenntnis zu fassen erlauben. Es ist eines der Hauptziele der Kritik der Urteilskraft, diese eigentümliche Notwendigkeit der besonderen Gesetze zu charakterisieren und, soweit möglich, auch zu begründen. Mit diesen Gesetzen nimmt Kant nun aber mit Blick auf die Biologie zugleich Bedingungen an, die sich nicht durch eine transzendentale Reflexion im Sinne der Kritik der reinen Vernunft erfassen und ebenso wenig auf die fixierten apriorischen Bedingungen begründen lassen, seien sie auch nach dem Muster der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft unter Voraussetzung eines empirischen Begriffs für bestimmte Gegenstände spezifiziert. Diese neuartigen Bedingungen, die das Erkennen annimmt, um von den Gegenständen etwas Spezifisches vorauszusetzen, was diese keineswegs konstitutiv erfüllen müssen, rücken näher an den empirischen Aspekt der Erfahrung heran. Um sie in den Blick zu nehmen, wird Kant nicht umhinkommen, die Form seiner eigenen Reflexion anzupassen, auch wenn die privativen Charakterisierungen des ›Unbestimmten‹ und der ›zufälligen‹ Gesetze sein Bemühen verraten, an dem vertrauten Vorgehen festzuhalten. Dieses Ausgangsproblem der Kritik der Urteilskraft wird in der »Ersten Einleitung« besonders deutlich, weshalb sich die folgende Diskussion vor allem auf diesen Text stützen wird. Die reflektierende Urteilskraft und ihre Annahmen nach der »Ersten Einleitung« Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, der ein solches eigenes Prinzip überhaupt nur zukommt, weil sie nicht wie die bestimmende an die Vorgaben des Verstandes gebunden ist, steht im Zentrum der Kritik der Urteilskraft und ihrer »Ersten Einleitung«.71 Es besteht ganz allgemein nanten Erläuterungen von Ingrid Bauer-Drevermann, »Der Begriff der Zufälligkeit in der Kritik der Urteilskraft«, in: Kant-Studien 56 (1966), 497 – 504, bes. 501: »Zufällig ist nicht das, für das es kein Gesetz gibt, sondern das, was durch das bekannte Gesetz des Verstandes nicht ausreichend bestimmt ist.« 71 Vgl. zur »Ersten Einleitung« allgemein den schrittweisen Nachvollzug der Argumentation in Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung, der sich allerdings immer wieder als problematisch erweist, was ich mitunter anmerken werde.
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darin, dass die reflektierende Urteilskraft den Gegenständen der empirischen Erkenntnis besondere, unableitbare und mithin ›zufällige‹ Gesetze unterstellen muss, um sie diesen subsumieren und sie so erkennen zu können. Dieses Prinzip versteht Kant zunächst insofern als ›subjektiv‹, als das Bestehen dieser Gesetze nicht a priori zu begründen ist, handelt es sich doch gerade um solche Gesetze, die über die apriorischen Kategorien des Verstandes hinaus angenommen werden müssen, um der Bestimmtheit der Gegenstände unserer Erkenntnis Rechnung zu tragen. Nichtsdestotrotz muss die Annahme solcher Gesetze nach der »Ersten Einleitung« der Kritik der Urteilskraft schon deshalb als »subjektiv-notwendige transzendentale Voraussetzung«72 gelten, weil die Urteilskraft ihre reflektierende Tätigkeit nur aufnehmen kann, wenn sie zumindest präsumtiv über ein Allgemeines zu verfügen beansprucht, unter das sie das Besondere subsumieren kann, um es dem Verstand verständlich zu machen.73 Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft wäre mit Kant eine »Maxime«74 zu nennen, insofern Maximen der Kritik der reinen Vernunft zufolge nichts anderes darstellen als »subjektive Grundsätze, die nicht von der Beschaffenheit des Objekts […] hergenommen sind«75 . Die ›Annahme‹ einer zwar »objektiv zufälligen, subjektiv aber (für unser Erkenntnisvermögen) notwendigen Gesetzmäßigkeit«76 bezeichnet somit eine Voraussetzung der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft, aber keine Bedingung ihrer Gegenstände, was die Kritik der reinen Vernunft in ihrer Begründungsstrategie stets gleichgesetzt hat.77 Denn die ›Gesetz mäßigkeit‹, die die reflektierende Urteilskraft annehmen muss, entfaltet sich letztlich in besonderen und spezifischen Gesetzen, die sie ihren Gegenständen unterstellen muss, um sie einem Allgemeinen subsumieren zu können. Diese Gesetze sind in ihrer konkreten Gestalt jedoch keineswegs objektiv notwendig. Denn Sie gehören nicht zu den apriorischen Bedingungen des Verstandes und werden daher nicht durch die bestimmende Urteilskraft auf die Erscheinungen angewandt. Sie gelten folglich nicht wie die apriorischen Gesetze, die auf diese Weise der Objektivität von Gegenstän EE , H 14. »Auf Rechnung der Erfahrung kann man ein solches Prinzip auch keineswegs schreiben, weil nur unter Voraussetzung desselben es möglich ist, Erfahrungen auf systematische Art anzustellen.« (EE , H 16) 74 EE , H 9. 75 KrV, A 666/B 694. 76 EE , H 55. 77 Vgl. z. B. die prägnante Feststellung KrV, A 158/B 197, ausgeführt findet sich das Argument vor allem in der »Transzendentalen Deduktion« in KrV, A 106 – 111 und B 159 – 161. 72 73
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den der Erkenntnis zugrunde gelegt sind, von vornherein und notwendiger Weise objektiv. Der Behauptung, die Annahme der besonderen Gesetze sei rein subjektiv, ist, obwohl Kants Formulierungen dies mitunter nahelegen, dennoch nur bedingt zuzustimmen. Denn auch diese besonderen Gesetze müssen als »subjektiv-notwendige transzendentale Voraussetzung« der reflektierenden Urteilskraft sowohl die Tätigkeit des Erkennens als auch deren Gegenstände charakterisieren, sofern sie der grundlegenden Definition des Transzendentalen entsprechen.78 Allerdings unterscheiden sie sich Kant zufolge als Voraussetzung von einer transzendentalen Bedingung, die unabhängig vom empirischen Gegenstand a priori gegeben ist und von der bestimmenden Urteilskraft auf die Erscheinungen angewandt wird, um die Gegenstände der Erkenntnis zuallererst objektiv zu bestimmen. Im Falle der reflektierenden Urteilskraft wird die Erscheinung zwar auch einem Gesetz subsumiert, dieses Gesetz muss aber anhand des Gegenstands gefunden und überprüft werden. Es wird, genauer gesagt, im konkreten Vollzug der reflektierenden Urteilskraft angenommen, um es empirisch auf die Probe zu stellen. Es stellt daher eine nur angenommene, »zufällige Gesetzmäßigkeit«79 dar, die den Gegenstand nicht objektiv bestimmt, ihn aber doch zumindest heuristisch als einen konkreten Gegenstand von spezifischer Verfasstheit charakterisiert. Eine solche empirische Gesetzmäßigkeit, die der Voraussetzung nach existiert, »qualifiziert« somit eine Erscheinung, wie Kant in erster Linie in der »Ersten Einleitung« formuliert, als Gegenstand einer spezifischen Form empirischer Erkenntnis. 80 Als Beispiel bietet sich Kants Behandlung des Organismus an. Denn dieser Gegenstand biologischer Erkenntnis setzt Bedingungen voraus, die über die apriorischen Verstandesbegriffe selbst dann hinausgehen, wenn sie wie in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft unter Voraussetzung des empirischen Begriffs der Materie spezifiziert würden. Kant erklärt daher, dass wir der inneren Organisation des Organismus »den Begriff eines Zwecks zum Grunde legen müssen, wenn wir auch nur Erfahrung, d. i. Beobachtung nach einem ihrer inneren Möglichkeit angemessenen Prinzip,
78 Dass die reflektierende Urteilskraft auch einen Bezug auf ihre Gegenstände impliziert, ist ein Leitgedanke der Deutung von Marc-Wogau, Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, bes. 17 – 21. Allerdings gleicht er die empirische Qualifikation des Gegenstands der reflektierenden Urteilskraft und die objektive Bestimmung unter Voraussetzung der Kategorien des Verstandes einander an, um so eine dialektische Spannung zu konstruieren, die mehr seine eigene Lektüre kennzeichnet als Kants Bestimmungen. 79 EE , H 9. 80 Vgl. z. B. EE , H 14 f. und 19. Zitate mit dieser Formulierung folgen auch auf den folg. Seiten des Haupttexts.
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anstellen wollen«. 81 Dies bedeutet aber nicht, dass der Gegenstand dadurch objektiv bestimmt wäre, mit Bezug auf einen realen Zweck hervorgebracht worden zu sein. Denn der Zweck gehört nicht zu den Kategorien des Verstandes und geht daher nicht in die konstitutive Bestimmung des Gegenstands ein. 82 Er ist und bleibt eine Annahme der reflektierenden Urteilskraft, durch die der Gegenstand nicht objektiv als Organismus bestimmt, sondern unter Maßgabe eines »heuristischen Prinzips in Beurteilung«83 der Natur als ein solcher betrachtet wird. Er wird nicht erklärt im Sinne einer Rückführung seiner Bestimmtheit auf die apriorischen und notwendigen Bestimmungen von Erfahrung überhaupt, er wird im Bezug auf bloß angenommene heuristische Gesetze beurteilt. Diese Unterscheidung zweier Modi des Bezugs des Gegenstands zu seinen objektiv bestimmenden oder empirisch qualifizierenden Gesetzen und zu den Vermögen der bestimmenden oder reflektierenden Urteilskraft führt Kant an einer Stelle der »Ersten Einleitung« terminologisch ein, ohne sie allerdings zu einer durchgängigen, trennscharfen Terminologie auszubilden. 84 81 Im Zusammenhang zitiert: »Nun finden wir aber unter den Produkten der Natur besondere und sehr ausgebreitete Gattungen, die eine solche Verbindung der wirkenden Ursachen in sich selbst enthalten, der wir den Begriff eines Zwecks zum Grunde legen müssen, wenn wir auch nur Erfahrung, d. i. Beobachtung nach einem ihrer inneren Möglichkeit angemessenen Prinzip, anstellen wollen. Wollten wir ihre Form und die Möglichkeit derselben bloß nach mechanischen Gesetzen, bei welchem die Idee der Wirkung nicht zum Grunde der Möglichkeit ihrer Ursache, sondern umgekehrt genommen werden muß, beurteilen, so wäre es unmöglich, von der spezifischen Form dieser Naturdinge auch nur einen Erfahrungsbegriff zu bekommen, der uns in den Stand setzte, aus der innern Anlage derselben als Ursache auf die Wirkung zu kommen, weil die Teile dieser Maschinen, nicht so fern ein jeder für sich einen abgesonderten, sondern nur alle zusammen einen gemeinschaftlichen Grund ihrer Möglichkeit haben, Ursache von der an ihnen sichtbaren Wirkung sein.« (EE , H 42 f.) »Ich verstehe daher unter einer absoluten Zweckmäßigkeit der Naturformen diejenige äußere Gestalt, oder auch den inneren Bau derselben, die so beschaffen sind, daß ihrer Möglichkeit eine Idee von denselben in unserer Urteilskraft zum Grunde gelegt werden muß. Denn Zweckmäßigkeit ist eine Gesetzmäßigkeit des Zufälligen als eines solchen.« (EE , H 22 f.) 82 »Der Begriff der Zweckmäßigkeit ist gar kein konstitutiver Begriff der Erfahrung, keine Bestimmung einer Erscheinung, zu einem empirischen Begriffe vom Objekte gehörig; denn er ist keine Kategorie.« (EE , H 25) 83 EE , H 9. 84 »Der Unterschied dieser beiderlei Arten, die Naturwesen zu beurteilen [mechanisch oder technisch, A. S.] wird bloß durch die reflektierende Urteilskraft gemacht, die es ganz wohl kann und vielleicht auch muß geschehen lassen, was die bestimmende (unter Prinzipien der Vernunft) ihr, in Ansehung der Möglichkeit der Objekte selbst, nicht einräumte und vielleicht alles auf mechanische Erklärungsart zurückgeführt wissen möchte; denn es kann gar wohl neben einander bestehen, daß die Erklärung einer Erscheinung, die ein Geschäft der Vernunft nach objektiven Prinzipien ist, mechanisch, die Regel der
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Die von Kant angerissene Unterscheidung von ›Erklärung‹ und ›Beurteilung‹ zeigt aber nichtsdestotrotz, dass die ›subjektive Notwendigkeit‹ einer Annahme ›objektiv zufälliger‹ Gesetze nicht allein die subjektive Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft bedingt, sondern diese auch auf den Gegenstand des Erkennens bezieht. Sie koppelt beide aber nicht so eng aneinander wie die apriorischen und daher zugleich objektiv und subjektiv notwendigen Gesetze, die die Vorstellung und den Gegenstand in einer objektiven Realität übereinstimmen lassen. Im Falle der besonderen empirischen Gesetze ist zwar deren Annahme notwendig, ihre Gültigkeit und ihr Bestand dagegen ist nicht a priori gewährleistet. Worin einerseits eine Lücke der apriorischen Begründung gesehen werden kann, ist andererseits ein Spielraum gegeben, in dem die empirischen Aspekte des Erkennens zur Geltung kommen können. Denn im empirischen Erkennen wird zwar stets vorausgesetzt, dass die getroffenen, aber unbeweisbaren Annahmen zutreffen. Sie müssen sich jedoch an den Gegenständen bewähren. Ob dies gelingt, hängt aber von den empirischen Gegenständen ab, die den Annahmen entsprechen oder sich ihnen versagen können. Im Falle einer Bewährung der subjektiven Annahmen spricht Kant von der »Zweckmäßigkeit der Natur zum Behuf unseres Vermögens […], sie zu erkennen, so fern dazu erfodert wird, daß wir das Besondere als unter dem Allgemeinen enthalten beurteilen und es unter den Begriff einer Natur subsumieren können«. 85 Beurteilung aber desselben Gegenstands, nach subjektiven Prinzipien der Reflexion über denselben, technisch sei.« (EE , H 23) Wenn hier der ›Mechanismus‹ einmal der Beurteilung und der reflektierenden Urteilskraft, das andere Mal aber der Erklärung und bestimmenden Urteilskraft zugesellt wird, dann weisen diese Unschärfen bereits darauf hin, welch grundlegende Verschiebungen sich in der Kritik der Urteilskraft vollziehen. Ich komme darauf zum Ende der Erörterungen zu Kant nochmals zu sprechen. Vgl. zum ›Beurteilen‹ z. B. auch EE , H 6 und H 39, sowie entsprechende Stellen in KU, A XXXVIII/B XL , A XLVII f./ B XLIX f., A 29/B 29, A 55 f./B 55 f. u. ö. Vgl. zum terminologischen Sinn von »Erklärung« als Zurückführung auf Gesetze KrV, A 484/B 512, und GMS , A/B 120: »Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann.« Vgl. zur Grundlage der »physischen Erklärungen« in der Kausalität KrV, A 544 f./B 572 f. Vor allem den Begriff der Erklärung benutzt Kant aber oft nicht streng terminologisch, wie auch Reinhard Löw beobachtet, vgl. Löw, Philosophie des Lebendigen, 130 f., inkl. der dazugehörigen Anm. 24, und 192. 85 EE , H 8. Der Teilsatz zuvor lautet: »Sollte also ein Begriff oder Regel, die ursprünglich aus der Urteilskraft entsprängen, statt finden, so müßte es ein Begriff von Dingen der Natur sein, so fern diese sich nach unserer Urteilskraft richtet, und also von einer solchen Beschaffenheit der Natur, von welcher man sich sonst gar keinen Begriff machen kann, als nur daß sich ihre Einrichtung nach unserem Vermögen richte, die besondern gegebenen Gesetze unter allgemeinere, die doch nicht gegeben sind, zu subsumieren; mit anderen Worten, es müßte der Begriff von einer Zweckmäßigkeit der Natur […].« (EE , H 8)
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Dass dieser Begriff der Zweckmäßigkeit, auf den ich später nochmals zurückkommen werde, in der Kritik der Urteilskraft eingeführt wird, ist ein unverkennbares Indiz für eine Verschiebung des Transzendentalen. Mit der »subjektiv-notwendigen transzendentalen Voraussetzung« der reflektierenden Urteilskraft wird erstens die Identifikation transzendentaler und apriorischer Bedingungen gelockert, was letztlich die Frage nach den empirischen Seiten der transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis und ihrer Gegenstände aufwerfen muss. 86 Zweitens ist damit ein wichtiger Schritt getan, um die Rückführung aller Naturwissenschaften auf den »reinen Teil« der mathematischen Physik aufzulösen und stattdessen den jeweils spezifischen Formen der Erkenntnis, d.h. den verschiedenen Disziplinen, ihren charakteristischen Verfahren und konkret qualifizierten Gegenständen Rechnung zu tragen. Drittens wird sich diese Öffnung des Transzendentalen auf empirische und spezifische Aspekte naturwissenschaftlicher Erkenntnis hin nicht auf die aus der Kritik der reinen Vernunft vertraute Vorstellung beschränken, dass ein empirischer Inhalt den apriorischen Formen der Verstandesbegriffe oder der Anschauung unterworfen wird. 87 Denn die subjektiv-notwendige Voraussetzung der reflektierenden Urteilskraft bezieht sich auf empirische Gesetze, die die Erscheinungen, die sie zu begreifen sucht, auch in ihrer konkreten Form charakterisieren sollen. 88 Es kommt daher nun auch auf der Ebene der Form die empirische Seite des Erkennens ins Spiel, da die transzendentalen Bedingungen selbst in ihrem formalen Charakter auf die empirisch spezifizierte Erfahrung verwiesen sein können. Um diese sich abzeichnende Transformation des Transzendentalen in Kants Kritik der Urteilskraft präzise zu fassen, reichen diese wenigen Züge zur Charakterisierung ihres Ausgangspunkts nicht aus. Vielmehr muss geklärt werden, was die reflektierende Urteilskraft mit den besonderen Gesetzen genau voraussetzt und wie sich dadurch der Bezug des empirischen Erkennens auf seine spezifischen Gegenstände verändert. Es muss dazu der Gang von Kants Argumentation in der »Ersten Einleitung« einige Schritte weiter verfolgt und der systematische Charakter der Erfahrung in die Diskussion einbezogen werden.
Vgl. für eine nach wie vor lesenswerte Erörterung des Begriffs der Zweckmäßigkeit Marc- Wogau, Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, 44 – 89. 86 Vgl. zur engen Verknüpfung der Transzendentalität und Apriorität der Bedingungen in der Kritik der reinen Vernunft exemplarisch KrV, A 56 f./B 80 f. 87 Vgl. KrV A 127 f., B 164 und A 266 – 268/B 322 – 324. 88 Diese Konsequenz scheint Kant im »Anhang zur Transzendentalen Dialektik«, auf den ich gleich zu sprechen kommen werde, noch zu vermeiden, vgl. KrV, A 653 f./B 681 f.
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Systematizität und Besonderheit der Erfahrung in der Tätigkeit von Urteilskraft und Vernunft Die Annahme besonderer Gesetze für die spezifischen Gegenstände der reflektierenden Urteilskraft muss zunächst vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass sich Kant zufolge jede gegenständliche Erkenntnis wesentlich auf einen gesetzlichen Zusammenhang bezieht, in dem der Gegenstand steht und als solcher bestimmt wird. In Ermangelung eines solchen Zusammenhangs würde der Gegenstand insofern unbestimmt bleiben, als er dem beliebigen Wandel des Vorstellungslebens ausgeliefert wäre, ohne dass sich seine Eigenschaften in ihrer zeitlichen Veränderung auf seine durchgängige und objektive Identität beziehen ließen. Dieser Gedankengang setzt aber voraus, dass die Gesetze, die den Gegenstand bestimmen, einen einheit lichen, kohärenten Zusammenhang oder nach Kants Bezeichnung ein System bilden. 89 In der Kritik der Urteilskraft und insbesondere in der »Ersten Einleitung« wird diese Frage der »Erfahrung als System«90 aufgegriffen, aber nicht vorrangig auf die apriorischen Gesetze der Kritik der reinen Ver nunft bezogen, die Kant zufolge schon aus analytischen Gründen ein System bilden.91 Vielmehr wird sie nun an die empirischen Gesetze gerichtet, die der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft entspringen, und damit als Frage nach der »Erfahrung als Systems nach empirischen Gesetzen« gefasst.92 Diese Doppelung der Frage des Systems der Gesetze entspricht zum einen den oben angesprochenen zwei Naturen der Gegenstände des Erkennens, nämlich hinsichtlich ihrer allgemeinsten und notwendigen Bestimmung im Sinne der transzendentalen Natur und mit Bezug auf ihre konkrete und a priori unbestimmte empirische Bestimmung im Rahmen einer spezifi89 Vgl. zum Begriff des Systems bei Kant KrV, A 645 – 6 47/B 673 – 675, A 680 – 682/B 708 – 710 und A832 f./B 860 f. 90 EE , H 15. 91 »Diese empirische Erkenntnisse nun machen nach dem, was sie notwendiger weise gemein haben (nämlich jene transzendentale Gesetze der Natur), eine analytische Einheit aller Erfahrung aber nicht diejenige synthetische Einheit der Erfahrung als eines Systems aus, welche die empirische Gesetze auch nach dem, was sie Verschiedenes haben (und wo die Mannigfaltigkeit derselben ins Unendliche gehen kann) unter einem Prinzip verbindet.« (EE , H 8, Anm.) 92 EE , H 8. Auch Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung, 75, begreift den Ansatz bei diesem System als »Zentralgedanken« der gesamten »Ersten Einleitung«. Leider unterlässt sie es, die Differenz von Form und Inhalt in ihrem Bezug zur Unterscheidung von Transzendentalem und Empirischem hinreichend zu reflektieren, und deutet stattdessen die spezifische Natur der Dinge unkritisch und voreilig schlicht realistisch, vgl. ebd., 75 – 83 und 90 – 93. Die produktiven Konsequenzen von Kants Neuansatz können dann nur noch negativ als »Schwanken zwischen Subjektivität und Objektivität« (ebd., 92) erscheinen.
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zierten Natur.93 Die Frage nach dem »System nach empirischen Gesetzen« bringt aber zum anderen einen neuen Aspekt der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft zum Vorschein: Letztere muss nicht nur spezifische und empirische Gesetze finden, unter die sich der konkrete Gegenstand und seine Erfahrung subsumieren lassen, sondern zugleich ihren systematischen Zusammenhang herzustellen versuchen. Die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft schließt folglich zwei eng zusammenhängende, aber doch zu unterscheidende Aufgaben ein. Diese beiden Aufgaben unterscheiden sich nämlich dahingehend, dass es zum einen die »besonderen Erfahrungen«94 sind, die den Ausgangspunkt darstellen, um die ihnen angemessenen empirischen Gesetze zu suchen, zum anderen aber bereits solche Gesetze gegeben sind und zu einem kohärenten Ganzen vereint werden sollen. Kant selbst deutet wiederholt an, dass diese beiden Aspekte der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft auseinanderzuhalten sind95 und stellt sie jeweils in einem eigenen Abschnitt der »Ersten Einleitung« in den Vordergrund.96 Allerdings bringen seine Formulierungen diese beiden zu unterscheidenden Aufgaben auch wiederholt auf verwirrende Weise zusammen.97 Dies hat seinen Grund darin, dass der systematische Zusammenhang der empirischen Gesetze zum Zweck hat, die Gegenstände der Erkenntnis möglichst durchgängig zu bestimmen, um so das Besondere zu begreifen, wovon die Reflexion der Urteilskraft ausgeht. Die reflektierende Urteilskraft zirkuliert so zwischen dieser »besonderen Erfahrung«, die ihre Tätigkeit erfordert, und der »Erfahrung als Systems nach empirischen Gesetzen«, in dem jene begriffen werden soll. Sie trägt dabei eine Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem aus, die Folgen haben wird für die Transformation des Transzendentalen in der Kritik der Urteilskraft. Vgl. die äußerst erhellenden Absätze in EE , H 13 f. EE , H 18. 95 »Denn durch Herumtappen unter Naturformen, deren Übereinstimmung unter einander, zu gemeinschaftlichen empirischen aber höheren Gesetzen, die Urteilskraft gleichwohl als ganz zufällig ansähe, würde es noch zufälliger sein, wenn sich besondere Wahrnehmungen einmal glücklicher Weise zu einem empirischen Gesetze qualifizierten; viel mehr aber, daß mannigfaltige empirische Gesetze sich zur systematischen Einheit der Naturerkenntnis in einer möglichen Erfahrung in ihrem ganzen Zusammenhange schickten, ohne durch ein Prinzip a priori eine solche Form in der Natur vorauszusetzen.« (EE , H 15) 96 Gemeint sind die Abschnitte »IV: Von der Erfahrung als einem System für die Urteilskraft« und »V. Von der reflektierenden Urteilskraft«. 97 So auch Henry E. Allison, »Is the Critique of Judgment ›Post-Critical‹?«, in: Sally Sedgwick (Hg.), The Reception of Kant’s Critical Philosophy. Fichte, Schelling, and Hegel, Cambridge u.a. 2000, 78 – 92, hier 83. 93
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Den systematischen Charakter der Erfahrung führt Kant in der »Ersten Einleitung« der Kritik der Urteilskraft durch die Diskussion der »logischen Form eines Systems« aus, das er in wenigen Zügen als eine »Klassifikation« in »Gattungen« und »Arten«98 skizziert. Eine solche Klassifikation beruht, so Kant, auf der »Vergleichung empirischer Vorstellungen, um empirische Gesetze und diesen gemäße spezifische, durch dieser ihre Vergleiche aber mit andern auch generisch-übereinstimmende Formen an Naturdingen zu erkennen«99. Offenbar hat er dabei die Aufgabe der Naturbeschreibung und insbesondere das Linné’sche System der Natur im Sinn, das hier – anders als an vielen anderen Stellen, wo es als maßgebliches Beispiel im Hintergrund steht – zumindest in einer handschriftlichen Anmerkung genannt wird.100 Die systematische Einheit einer solchen Klassifikation besteht, wie Kant im Zitat andeutet, wesentlich in einer Verschachtelung der hierarchisch gestuf EE , H 19. EE , H 18. 100 »NB Konnte wohl Linnäus hoffen, ein System der Natur zu entwerfen, wenn er hätte besorgen müssen, daß, wenn [sic! ] ein Stein fand, den er Granit nannte, dieser von jedem anderen, der doch eben so aussahe, seiner inneren Beschaffenheit [sic!] unterschieden sein dürfte und er also immer nur einzelne für den Verstand gleichsam isolierte Dinge nie aber eine Klasse derselben, die unter Gattungs- und Artsbegriffe [sic!] gebracht werden könnten, anzutreffen hoffen dürfe.« (EE , H 21) Wie dieses Zitat belegt, müssen sich Begriffe wie Art und Gattung nicht »primär auf Biologisches beziehen«, wie Heimsoeth, »Kants Erfahrung mit den Erfahrungswissenschaften«, 20, Anm. 53, feststellt. An dieser Stelle ist es jedoch wichtiger, dass Kant sich auf Klassifikationen der Naturbeschreibung im Sinne Linnés bezieht, die für die »Erste Einleitung« wohl das maßgebliche Beispiel sein dürfte. Auf diesen Text stützt sich deshalb auch Larson, The Science of Living Form, 172 ff., in seiner Darstellung von Kants Rolle in der Entwicklung des Wissens über lebende Formen im 18. Jahrhundert. Auch der Herausgeber des Textes, Gerhard Lehmann, betont: »In der ersten Einleitung tritt das Klassifikationsproblem als solches schärfer hervor […]; die Berufung auf Linné macht deutlich, daß Kant an Linnés Systema naturae dachte.« (Gerhard Lehmann, »Einleitung zur zweiten Auflage«, in: Immanuel Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, nach der Handschrift herausgegeben von Gerhard Lehmann, 3., durchgesehene Aufl., Hamburg 1977, XIII–XXI, hier XIX) Umso erboster zeigt er sich angesichts dessen, dass Otto Buek, dem Editor des Textes im Rahmen von Cassirers Ausgabe von Kants Werken, hier ein kurioser Fehler unterlaufen ist: »Bringt er [Buek, A. S.] es doch fertig [!] das Wort ›Linnäus‹ der Anmerkung S. 22 als ›Timäus‹ zu lesen!« (Lehmann, »Zur Einführung«, IX , Anm.) Vgl. weitere Nennungen Linnés z. B. in KU, A 378 f./B 383, und Kant, »Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie«, A 40 f. und A 44 f., Anm., in: ders., Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, Darmstadt 1983 (= Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, 8), 139 – 170 – im Folgenden zitiert über den Kurztitel – und die Nachweise in Kants Spätwerk in Heinz Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Dritter Teil, Berlin 1969, 589, Anm. 260. 98
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ten Begriffe: Jeder Begriff ist einem höheren Begriff zugeordnet, teilt dessen Charakteristik mit allen anderen von ihm abhängigen Begriffen und unterscheidet sich von ihnen mindestens durch ein hinzukommendes Attribut. Eine solche Vorstellung der Klassifikation lebender Formen hat bis zu Aristoteles zurückreichende philosophische Wurzeln, worauf Kant in einer Anmerkung kurz verweist,101 und diese Aristotelische Tradition war es wohl auch, die den konzeptionellen Hintergrund der Bemühungen um eine Klassifikation der ›Naturformen‹ bis hin zu Linné bildete.102 Kant interessiert sich nun weder am konkreten Beispiel von Linnés System der Natur noch in systematischer Hinsicht für die praktischen Schwierigkeiten eines solchen Vorhabens, die sich unter anderem an der Bestimmung der Merkmale, die eine stimmige Klassifikation im Einklang mit den Beobachtungen überhaupt erlauben, zeigen ließen.103 Stattdessen stellt er die Frage nach der Begründung einer solchen Klassifikation ins Zentrum seiner Bemühungen. Vor dem Hintergrund der Kritik der reinen Vernunft ist dabei zunächst einmal zu akzeptieren, dass die Möglichkeit einer solchen Klassifikation in Ansehung der Vielfalt der Natur nicht a priori begründet werden kann. Vielmehr stellt sie eine für die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft und die empirische Erkenntnis unverzichtbare Annahme dar. Diese Annahme kann, muss aber keineswegs gewährleistet sein, »wenn nämlich, wie es doch an sich möglich ist (wenigstens so viel der Verstand a priori ausmachen kann), die Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit dieser Gesetze, imgleichen der ihnen gemäßen Naturformen, unendlich groß, uns an diesen ein rohes chaotisches Aggregat und nicht die mindeste Spur eines Systems darlegte, ob wir gleich ein solches nach transzendentalen Gesetzen voraussetzen müssen«.104 Unter ›transzendentalem Gesetz‹ ist hier, wie Kant im 101 Vgl. EE , H 20. Kant nennt neben der »aristotelischen Schule« aber auch die »Rechtslehrer« – dem wäre weiter nachzugehen. 102 Vgl. nochmals Larson, Reason and Experience, 20 – 25 und 46 – 49, sowie mit Bezug auf Linné vor allem ebd., 143 – 151. 103 Einen aufschlussreichen Einblick in die praktischen Schwierigkeiten der Klassifikation lebendiger Formen im 18. Jh. gibt Larson, The Science of Living Form, 28 – 60. 104 EE , H 14 f. An anderer Stelle heißt es: »Denn obzwar diese [Erfahrung als System nach empirischen Gesetzen, A. S.] nach transzendentalen Gesetzen, welche die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt enthalten, ein System ausmacht: so ist doch von empirischen Gesetzen eine so unendliche Mannig faltigkeit und eine so große Heterogene ität der Formen der Natur, die zur besonderen Erfahrung gehören würden, möglich, daß der Begriff von einem System nach diesen (empirischen) Gesetzen dem Verstande ganz fremd sein muß, und weder die Möglichkeit, noch weniger aber die Notwendigkeit eines solchen Ganzen begriffen werden kann. Gleichwohl aber bedarf die besondere, durchgehends nach beständigen Prinzipien zusammenhängende Erfahrung auch diesen systematischen Zusammenhang empirischer Gesetze, damit es für die Urteilskraft möglich werde, das Besondere unter das Allgemeine, wie wohl immer noch empirische und so fort
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unmittelbaren Anschluss aufklärt, wiederum allein »eine subjektiv-notwendige transzendentale Voraussetzung« zu verstehen, derzufolge nämlich »jene besorgliche grenzenlose Ungleichartigkeit empirischer Gesetze und die Heterogeneität der Naturformen der Natur nicht zukomme, vielmehr sie sich, durch die Affinität der besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfahrung, als einem empirischen System, qualifiziere«105 . Die reflektierende Urteilskraft wird unter Voraussetzung eines solchen systematischen Zusammenhangs der Erfahrung zugleich die besondere Erfahrung unter ihr eigene empirische Gesetze zu subsumieren und diese »unter höhere, obgleich immer noch empirische Gesetze«106 zusammenzuführen versuchen. Eine Passage aus der »Ersten Einleitung« führt dieses Bemühen des »logischen Gebrauchs der Urteilskraft« auf der Grundlage ihres »transzendentalen Prinzips«, »die Natur a priori als qualifiziert zu einem logischen System ihrer Mannigfaltigkeit unter empirischen Gesetzen anzusehen«107, besonders deutlich vor Augen und lässt vor allem auch die Spezifik dieser Aufgabe erkennen. Bereits am Ausgangspunkt dieser Schilderung einer Systematisierung des Besonderen deutet sich an, dass dieses Bemühen der reflektierenden Urteilskraft zugleich in zwei komplementäre Richtungen prozessiert. Zum einen spricht Kant von der »Klassifikation« als »Einteilung gegebener allgemeiner Begriffe« – worunter er insbesondere den einer »Natur überhaupt« zählt –, wodurch »man sich das Besondere (hier das Empirische) mit seiner Verschiedenheit, als unter dem Allgemeinen enthalten, nach einem gewissen Prinzip denkt«. Zum anderen deutet Kant an, wie die reflektierende Urteilskraft in ihrer Tätigkeit »empirisch verfährt und vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigt«, wobei die »Vergleichung« von Klassen gleichen Ranges und ihre »Subsumtion« unter höhere Klassen als elementare Operationen genannt werden.108 Diese beiden an, bis zu den obersten empirischen Gesetzen und denen ihnen gemäßen Naturformen zu subsumieren, mithin das Aggregat besonderer Erfahrungen als System derselben zu betrachten; denn ohne diese Voraussetzung kann kein durchgängig gesetzmäßiger Zusammenhang, d. i. empirische Einheit derselben statt finden.« (EE , H 8 f.) Vgl. auch die ähnliche Stelle KU, A XXXIV f./B XXXVI f. 105 EE , H 14 f. 106 EE , H 15. 107 EE , H 19. 108 Ich gebe diese Stelle nochmals im Zusammenhang wieder: »Die logische Form eines Systems besteht bloß in der Einteilung gegebener allgemeiner Begriffe (dergleichen hier der einer Natur überhaupt ist) dadurch daß man sich das Besondere (hier das Empirische) mit seiner Verschiedenheit, als unter dem Allgemeinen enthalten, nach einem gewissen Prinzip denkt. Hierzu gehört nun, wenn man empirisch verfährt und vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigt, eine Klassifikation des Mannigfaltigen, d. i. eine Vergleichung mehrerer Klassen, deren jede unter einem bestimmten Begriffe steht, un-
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Bewegungen des Aufsteigens und Absteigens in der begrifflichen Hierarchie scheinen sich zu ergänzen, um in einer »Einteilung der […] Begriffe« nichts anderes als »das Besondere (hier das Empirische)« zu erfassen. Die Frage, wie dieser Bezug von allgemeinen Begriffen und besonderen empirischen Gegenständen genau zu fassen ist, ist damit aber durchaus noch nicht beantwortet. Nachdem Kant den Aufstieg vom Besonderen kurz charakterisiert hat, legt er in den folgenden Zeilen den Akzent auf die komplementäre Bewegung und charakterisiert den Versuch, sich das Besondere »als unter dem Allgemeinen enthalten« zu ›denken‹, als Operation der »Spezifikation«: »Fängt man dagegen vom allgemeinen Begriff an, um zu dem besondern durch vollständige Einteilung herabzugehen, so heißt die Handlung die Spezifikation des Mannigfaltigen unter einem gegebenen Begriffe, da von der obersten Gattung zu niedrigen (Untergattungen oder Arten) und von Arten zu Unterarten fortgeschritten wird. Man drückt sich richtiger aus, wenn man, anstatt (wie im gemeinen Redegebrauch) zu sagen, man müsse das Besondere, welches unter einem Allgemeinen steht, spezifizieren, lieber sagt, man spezifiziere den allgemeinen Begriff, indem man das Mannigfaltige unter ihm anführt. Denn die Gattung ist (logisch betrachtet) gleichsam die Materie, oder das rohe Substrat, welches die Natur durch mehrere Bestimmung zu besonderen Arten und Unterarten verarbeitet, und so kann man sagen, die Natur spezifiziere sich selbst nach einem gewissen Prinzip (oder der Idee eines Systems) […].«109 Diese Charakterisierung der Spezifikation betont aufgrund ihres Ausgangs vom »allgemeinen Begriff« und der angezeigten Richtung, »zu dem besondern durch vollständige Einteilung herabzugehen«, zunächst einmal, dass diese Operation von Begriff zu Begriff führt, nämlich vom allgemeineren und umfassenderen zum engeren, aber auch konkreteren und inhaltsreicheren Begriff. Diese Operation geht so ebenso wenig von einem Besonderen aus, das es zu spezifizieren gälte, wie es gewährleistet ist, dass sie letztlich zu einem Besonderen führt. Insofern das Besondere aber zu »besonderen Arten und Unterarten verarbeitet« ist, erscheint es in der »logischen Form eines Systems«110 der Erfahrung begriffen. Und »so kann man sagen, die Natur spezifiziere sich selbst nach einem gewissen Prinzip (oder der Idee eines Systems)«111. Mit dieser »Idee eines Systems« ist aber allein die Annahme formuliert, die die tereinander, und, wenn jene nach dem gemeinschaftlichen Merkmal vollständig sind, ihre Subsumtion unter höhere Klassen (Gattungen), bis man zu dem Begriffe gelangt, der das Prinzip der ganzen Klassifikation in sich enthält (und die oberste Gattung) ausmacht.« (EE , H 19 f.) 109 EE , H 20. 110 EE , H 19. 111 EE , H 20.
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reflektierende Urteilskraft voraussetzen muss und die ihre Tätigkeit auf ein Ziel ausrichtet. Deshalb mündet die hier betrachtete Passage auch in die Formulierung des heuristischen Prinzips der reflektierenden Urteilskraft, die es nämlich noch nicht einmal »unternehmen könne, die ganze Natur nach ihren empirischen Verschiedenheiten zu klassifizieren, wenn sie nicht voraussetzt, die Natur spezifiziere selbst ihre transzendentale Gesetze nach irgend einem Prinzip«.112 Diese und ähnliche Formulierungen des »eigentümlichen Prinzips der Urteilskraft«113 kennzeichnen vor allem deren notwendige Annahme und nicht so sehr die ihr eigene Tätigkeit. Denn diese »Idee eines Systems« lässt einen Aspekt, die Spezifikation des allgemeinen Begriffs, in den Vordergrund treten, während der zweite Aspekt, die Reflexion auf den Begriff im Ausgang vom Besonderen, gleichsam in der Vorwegnahme des Ziels der reflektierenden Tätigkeit der Urteilskraft ausgeblendet scheint. Diese Fehlinterpretation ist noch dadurch erleichtert worden, dass Kant in dem verfolgten Argumentationsgang auf das Modell des »hypothetischen Gebrauchs der Vernunft« aus dem »Anhang zur transzendentalen Dialektik« der Kritik der reinen Vernunft zurückzugreifen scheint.114 Der hypothetische Gebrauch der Vernunft wurde daher oft als ›Vorläufer‹ der reflektierenden Urteilskraft betrachtet oder gar mit ihr identifiziert, so dass die wesentlichen systematischen Innovationen der Kritik der Urteilskraft aus dem Blick geraten.115 Die Tätigkeiten der reflektierenden Urteilskraft und des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft lassen sich bei genauerer Betrachtung jedoch durchaus scharf unterscheiden.116 112 EE , H 20. Zu Beginn des folgenden Abschnitts der »Ersten Einleitung« wiederholt Kant nochmals: »Daß die Natur in ihren empirischen Gesetzen sich selbst so spezifiziere, als es zu einer möglichen Erfahrung, als einem System empirisches [sic!] Erkenntnis, erforderlich ist, diese Form der Natur enthält eine logische Zweckmäßigkeit, nämlich ihrer Übereinstimmung zu den subjektiven Bedingungen der Urteilskraft in Ansehung des möglichen Zusammenhangs empirischer Begriffe in dem Ganzen einer Erfahrung.« (EE , H 22) Vgl. daneben EE , H 55. 113 EE , H 21. Kant reformuliert dieses Prinzip hier wie folgt: »die Natur spezifiziert ihre allgemeinen Gesetze zu empirischen, gemäß der Form eines logischen Systems, zum Behuf der Urteilskraft«. 114 Vgl. KrV, A 642 – 668/B 670 – 696, die zitierte Formulierung ebd., A 647/B 675. 115 So klassisch August Stadler, Kants Teleologie und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung, Berlin 1874, 35 – 43, aber auch Buchdahl, »Der Begriff der Gesetzmäßigkeit«, 101, sowie Friedman, Kant and the Exact Sciences, 243 f. und 251 – 253. 116 Vgl. zum Folgenden auch die lesenswerte vergleichende Lektüre von Paul Guyer, »Reason and Reflective Judgment: Kant on the Significance of Systematicity«, in: Noûs 24 (1990), 17 – 43, die sich im Wesentlichen auf dieselben Texte stützt, aber andere Akzente setzt und so Aspekte ergänzt. Guyer diskutiert in erster Linie, ob Kant die Systema-
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Vorderhand sind aber zunächst die Parallelen unverkennbar. Nachdem Kant in der »Transzendentalen Dialektik« all die unfruchtbaren Probleme diskutiert hat, in die das Erkennen durch die Ideen der Vernunft geführt wurde, widmet er sich im »Anhang« einem »guten und folglich imma nenten Gebrauch«117 der Ideen. Dieser Gebrauch hängt von der Einsicht ab, dass die Vernunft sich niemals selbst auf Gegenstände zu beziehen oder solche gar zu bestimmen vermag, sondern allein auf den Verstand Einfluss nehmen und auf diesem Wege zur Erkenntnis beitragen kann.118 Ziel eines solchen »regulativen Gebrauchs«119 der Ideen ist es, die Tätigkeit des Verstandes und den Bestand seiner Erkenntnis auf das »Systematische der Erkenntnis« auszurichten, »d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip«.120 Die Vernunft definiert Kant daher auch als »ein Vermögen […], das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten«, wobei er in Analogie zur Differenzierung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft zwei Aufgaben unterscheidet, nämlich den »apodiktischen Gebrauch der Vernunft«, wenn »das Allgemeine schon an sich gewiß und gegeben« ist, und ihren »hypothetischen Gebrauch«121, wenn dies nicht der Fall ist. Die Parallelen des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft zur Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft sind deutlich und gehen über diese Grundbestimmungen noch hinaus.122 Nicht nur ist dieser Gebrauch mit Bezug auf die Dinge »nicht konstitutiv«123 und folgt allein »heuristischen Grundsätzen«124 , die Kant wie später in der »Ersten Einleitung« als allein tizität der empirischen Gesetze als eine transzendentale Bedingung für die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt betrachtet. 117 KrV, A 643/B 671. 118 Vgl. KrV, A 643 f./B 671 f. 119 KrV, A 644/B 672. 120 KrV, A 645/B 673. Weiter heißt es: »Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen. Diese Idee postuliert demnach vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis, wodurch diese nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhangendes System wird.« 121 KrV, A 646 f./B 674 f. 122 In der Kritik der reinen Vernunft ist die Urteilskraft allerdings nur als bestimmende bekannt, wie gerade die hier zu Rate gezogene Passage deutlich macht, wenn sie allein auf der Seite des apodiktischen Gebrauchs der Vernunft zum Zuge kommt: »Wenn die Vernunft ein Vermögen ist, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten, so ist entweder das Allgemeine schon an sich gewiß und gegeben, und alsdenn erfodert es nur Urteilskraft zur Subsumtion, und das Besondere wird dadurch notwendig bestimmt.« (KrV, A 646/B 674) 123 KrV, A 647/B 675. 124 KrV, A 663/B 691.
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»subjektive Grundsätze« kennzeichnet und deshalb »Maximen« nennt.125 Die konkrete Form, die das angestrebte System der Erfahrung annimmt, ist wiederum die Klassifikation, die Kant als philosophische »Schulregel oder logisches Prinzip« bezeichnet, »ohne welches kein Gebrauch der Vernunft stattfände, weil wir nur so fern vom Allgemeinen aufs Besondere schließen können, als allgemeine Eigenschaften der Dinge zum Grunde gelegt werden, unter denen die besonderen stehen«126 . Dieses ›logische Prinzip‹ ist zudem sehr eng auf die empirische Erkenntnis der »Naturforscher«127 bezogen und damit auf das Ausgangsproblem der Kritik der Urteilskraft, wie an den zahlreichen Beispielen aus den Naturwissenschaften128 , aber auch anhand der paradigmatischen Begrifflichkeiten der Klassifikation deutlich wird.129 Wie eine systematische Klassifikation vorzustellen ist, beschreibt Kant dabei ausführlicher als in der Kritik der Urteilskraft und ihrer »Ersten Einleitung«. Er sieht sie als ein in sich möglichst artikuliertes, d. h. zugleich differenziertes und einheitliches System des empirischen Wissens nach Maßgabe der »Idee des Maximum der Abteilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntnis in einem Prinzip«130 . Sie kommt nach Kants Analyse durch zwei verschiedene, einander entgegengesetzte Tendenzen der Vernunft zu Stande, die einerseits gemäß dem »logischen Prinzip der Gattungen« auf die »Gleichartigkeit« des Besonderen aus ist und zum Allgemeinen aufsteigt, andererseits aber zugleich nach dem Prinzip »der Arten« auf die »Varietät des Gleichartigen«131 abzielt und die spezifischen Unterschiede 125 KrV, A 666/B 694. Vgl. auch schon zu Beginn der »Transzendentalen Dialektik« in KrV, A 297/B 353. Allerdings ist Kant in der Kritik der reinen Vernunft noch weniger klar, was den objektiven Anspruch subjektiver Grundsätze angeht, wenn er die »subjektiv-notwendige Annahme« mit einer fragwürdigen »objektiven, aber unbestimmten Gültigkeit« zusammenbringt, die im mittelbaren Bezug der Vernunft auf die Gegenstände der Erkenntnis über den Verstand gründen soll, so KrV, A 663 – 666/B 691 – 694, vgl. auch ebd., A 650 f./B 678 f. und A 654/B 682. 126 KrV, A 652/B 680. 127 KrV, A 655/B 683. 128 Vgl. zur Chemie KrV, A 646/B 674, A 652 f/B 680 f., A 657/B 685; zur Biologie ebd., A 667 f./B 695 f.; und zur Physik ebd., A 662 f./B 690 f.; sowie zur »systematischen Vorstellung einer Mannigfaltigkeit von Kräften« durch die hypothetische Annahme einer »einzigen radikalen, d. i. absoluten Grundkraft« ebd., A 648 – 651/B 676 – 679, aber auch Kants Ausführungen zur Frage der Teleologie ebd., A 686 – 694/B 714 – 722. Vgl. zur Erläuterung der Beispiele Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 560 – 564, 570 – 575, 588 – 592 und 597 – 601. 129 So auch Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 588 f., mit Verweis auf das »nächstliegende Beispiel in Kants Sinn«, nämlich dem »Einteilungssystem der Naturforscher von Linnés Art«. 130 KrV, A 665/B 694. 131 KrV, A 654/B 682 und A 657/B 685.
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abzuleiten versucht.132 Diesen Prinzipien einer systematischen Ordnung der Begriffe entspricht dabei stets die Annahme der korrelativen Verfasstheit der Gegenstände der Erfahrung, nämlich das »Gesetz der Spezifikation«133 und das »Gesetz der Homogenität«134 ihrer Formen. Diese Beschreibung drängt dem Leser bis in ihre Begrifflichkeit hinein den Eindruck auf, es mit einem Vorgriff auf die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft zu tun zu haben. Dennoch gilt es, die Differenzen festzuhalten. Zunächst ist es wesentlich, dass die Urteilskraft und die Vernunft in Kants Topologie der Vermögen sehr unterschiedliche Stellen einnehmen. In der Kritik der reinen Vernunft bilden Anschauung, Verstand und Vernunft eine Reihe, in der auf die anschauliche Vorstellung eines einzelnen Gegenstandes die begriffliche Synthese durch den Verstand und die vernünftige Ordnung von dessen Erkenntnissen aufbauen.135 Daher bezieht sich die Vernunft niemals auf Gegenstände, sondern ruht auf der gegenständlichen Erkenntnis auf, die der Verstand bereits zu Stande gebracht hat.136 Ihre Aufgabe ist es, diese Verstandeserkenntnisse zu ordnen und ihrem weiteren Verlauf eine Richtung zu geben. Die Urteilskraft vermittelt dagegen bereits in der Kritik der reinen Vernunft zwischen der Anschauung einzelner Gegenstände und den allgemeinen Begriffen des Verstandes, indem sie diese Begriffe schematisiert und ihnen die Anschauungen subsumiert.137 Während die Vernunft es also nur mit Gegenständen zu tun hat, insoweit sie bereits unter Begriffen »[…] die Vernunft zeigt hier ein doppeltes einander widerstreitendes Interesse, einerseits das Interesse des Umfanges (der Allgemeinheit) in Ansehung der Gattungen, andererseits des Inhalts (der Bestimmtheit) in Absicht auf die Mannigfaltigkeit der Arten, weil der Verstand im ersteren Fall zwar viel unter seinen Begriffen, im zweiten aber desto mehr in denselben denkt.« (KrV, A 654/B 682) Während die Vernunft beide widerstreitenden Tendenzen vereint, scheinen die »Naturforscher« stets vor allem eine verkörpern zu müssen, um entweder »vorzüglich spekulativ« oder eben »empirische Köpfe« zu sein, wie Kant unmittelbar im Anschluss erwägt. Ähnliches gilt für die »Vernünftler«, vgl. ebd., A 666 f./B 694 f. Vgl. darüber hinaus Kants ausführliche Analyse der beiden Tendenzen, insbesondere mit Blick auf die in meiner Darstellung ausgesparte »Affinität aller Begriffe« bzw. die »Kontinuität der Formen« ebd., A 651 – 661/B 679 – 689. 133 KrV, A 656/B 684. 134 KrV, A 659/B 687. 135 »So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen, und endigt mit Ideen.« (KrV, A 702/B 730) 136 Vgl. z. B. KrV, A 302/B 359, A 305 – 307/B 362 – 364 und A 680/B 708. 137 Zum anderen vermittelt die Urteilskraft aber auch zwischen Verstand und Vernunft, indem sie die Begriffe und Erkenntnisse unter die Regeln des Verstandes sowie ihre Bedingungen subsumiert und dadurch die Schlüsse der Vernunft vorbereitet, vgl. z. B. KrV, A 304 f./B 360 f. und A 330/B 386 f. Ich lasse diesen Aspekt der Einfachheit halber im Folgenden außen vor. 132
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stehen, und sie sich daher allein in der begrifflichen Ordnung der Schlüsse und Ableitungen bewegt,138 bezieht die Urteilskraft Begriffe auf einzelne Anschauungen, um durch deren Subsumtionen eine Beziehung zwischen diesen beiden eigenständigen Quellen der Erfahrung zuallererst herzustellen. Letztere Aufgabe stand in der Kritik der reinen Vernunft stets unter Vorgabe eines durch den Verstand gegebenen apriorischen Begriffs, der auf eine Anschauung angewandt werden sollte oder dem es eine solche zu verschaffen galt, wohingegen die Kritik der Urteilskraft in den Vordergrund rückt, dass zu einer a priori unbestimmten Bestimmung der Gegenstände ein empirischer Begriff zu finden ist. Die Urteilskraft hat es so mit der Synthese von Begriff und Anschauung zu tun und folglich mit der Herstellung von Erkenntnis. Die Einführung ihrer reflektierenden Tätigkeit trägt darüber hinaus der spezifischen Form biologischer Erkenntnis Rechnung, weshalb sie sich von der bestimmenden Urteilskraft und ihrem Paradigma der physikalischen Erkenntnis unterscheidet. Dagegen stellt die Vernunft keine eigene Form von Erkenntnis dar, denn sie hat keinerlei direkten und eigenständigen Bezug auf die Gegenstände, deren systematische Einheit sie bilden soll.139 Vernunft und Urteilskraft haben es folglich mit Besonderem und Allgemeinem auf je eigene Weise zu tun, da sie entweder in Begriffen schließen oder Begriffe auf Anschauungen beziehen. Kant unterscheidet daher in der »Ersten Einleitung« die Urteilskraft als das »Vermögen der Subsumtion des Besondern unter das Allgemeine« von der Vernunft als das »Vermögen der Bestimmung des Besondern durch das Allgemeine (der Ableitung von Prinzipien)«.140 Wie diese begriffliche Differenzierung zwischen Subsumtion und Ableitung andeutet, muss auch ›das Besondere‹ für beide Vermögen unterschieden werden. Für die Vernunft kann das Besondere nur ein Vgl. zur Ableitung durch die Vernunft bspw. KrV, A 651 f./B 679 f. Zu einer ähnlichen Einschätzung der systematischen Unterscheidung des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft und der reflektierenden Tätigkeit der Urteilskraft in der Kritik der Urteilskraft kommt Philippe Huneman, »Reflexive Judgment and Wolffian Embryology: Kant’s Shift between the First and the Third Critiques«, in: ders. (Hg.), Understanding Purpose. Kant and the Philosophy of Biology, Rochester, NY, 2007, 75 – 100, bes. 87 f. und 90 f. Seine wissenschaftshistorische Erörterung billigt der zeitgenössischen Entwicklung der Biologie den entscheidenden Einfluss für diese systematische Verschiebung zu, da insbesondere die gegen Hallers Präformationslehre gerichteten Arbeiten Caspar Wolffs zur Entstehung des Hühnerembryos Kant einen Weg aus seinen bis in die vorkritische Phase zurückreichenden Schwierigkeiten mit dem Begriff des Zwecks aufgezeigt hätten. 140 EE , H 7. Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass der Verstand entsprechend als »Vermögen der Erkenntnis des Allgemeinen (der Regeln)« definiert wird, vgl. auch EE , H 14. 138 139
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solches sein, insofern es bereits begrifflich gefasst ist und sich durch Schlüsse aus höheren Gesetzen ableiten lässt, ob diese nun angenommen oder gegeben sind.141 Dieses Besondere muss also selbst ein begriffliches sein, denn jede »Spezifikation«, so erklärt Kant im »Anhang der Transzendentalen Dialektik«, führt zu begrifflichen Arten, Unterarten und Unterunterarten und so weiter – aber niemals zu einem »durchgängig bestimmten« Begriff, der sich ausschließlich auf ein »Individuum« beziehen würde.142 In der »Ersten Einleitung« setzt Kant dagegen einen anderen Akzent, wenn er klarstellt, es werde strenggenommen nicht »das Besondere, welches unter einem Allgemeinen steht«, spezifiziert, sondern der »allgemeine Be griff, indem man das Mannigfaltige unter ihm anführt«143 . Denn damit ist nicht nur die Spezifikation von der Subsumtion abgesetzt, sondern mit dem »Mannigfaltigen« auch auf die »besonderen Wahrnehmungen« verwiesen, von der die reflektierende Urteilskraft ausgeht und zu der sie einen angemessenen Begriff zu finden sucht, stets unter der Voraussetzung, dass diese Wahrnehmungen sich »glücklicher Weise zu einem empirischen Gesetze qualifizierten«144 . Die reflektierende Urteilskraft kennt daher ein anderes Besonderes als die Vernunft, das nämlich in der Anschauung gegeben ist und per definitionem ein Einzelnes vorstellt.145 Diese feine Differenz zwischen dem Besonderen, das aus einem Prinzip abgeleitet wird und begrifflich strukturiert ist, und dem Besonderen, das in der Anschauung gegeben und einem Begriff zu subsumieren ist, muss beachtet werden, wenn die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft beschrieben werden soll. Denn ihr Besonderes ist nicht auf die Spezifikation eines Begriffs zu reduzieren, weil sie auf die Anschauung bezogen ist und diese zuallererst auf einen Begriff zu beziehen versucht. Es gilt daher zu vermeiden, im Rückgriff auf den hypothetischen Gebrauch der Vernunft diese Besonderheit zugunsten ihrer Ableitung aus Prinzipien zu idealisieren und damit die innovative Verschiebung hin zur empirischen Erkenntnis zu verkennen, die die Einführung der reflektierenden Tätigkeit in der Kritik der Urteilskraft bedeutet. Zugleich ist aber in die Erwägung einzubeziehen, dass die reflektierende Urteilskraft in ihrer Aufgabe, die systematische Ord141 So bereits in Kants Definition der Vernunft als »Vermögen […], das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten« (KrV, A 646/B 674), vgl. ebd. auch die folgenden Absätze. 142 KrV, A 655 f./B 683 f., vgl. auch KrV, A 658 f./B 686 f. 143 EE , H 20. 144 EE , H 15. 145 Vgl. KrV, A 320/B 376 f., sowie die klassische Definition der Anschauung als »einzelne Vorstellung (repraesentatio singularis)« aus der sog. ›Jäsche-Logik‹ in: Immanuel Kant, Schriften zur Metaphysik und Logik, Darmstadt 1983 (= Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, 5), 419 – 582, hier 521.
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nung der empirischen Begriffe und Gesetze herzustellen, eine gewisse Verwandtschaft zum hypothetischen Gebrauch der Vernunft aufweist und auch mit der begrifflichen Spezifikation eines Besonderen zu tun hat, das dem empirischen Gegenstand angemessen wäre. Das Besondere, das sie wie die Vernunft aus einem höchsten Prinzip ableiten kann, und das Besondere in der Wahrnehmung, zu dem sie ein empirisches Gesetz finden soll, beschreiben demnach die beiden Pole, zwischen denen die reflektierende Urteilskraft in ihrer Tätigkeit hin und her pendelt, um sie einander anzunähern. Sie wird sie jedoch niemals miteinander identifizieren können, da Kant die Möglichkeit eines ›durchgängig bestimmten‹ Begriffs ablehnt und daher kein Begriff ein in der Wahrnehmung gegebenes Besonderes erfassen kann. Für das Verständnis der reflektierenden Urteilskraft bleibt daher der Unterschied zwischen dem Besonderen, von dem sie anhand der Anschauung ausgeht, und dem Besonderen, das sie wie die Vernunft aus Begriffen zu spezifizieren versucht, relevant. Dieser Unterschied sei daher nochmals an Kants auffälligem Gebrauch zweier Präpositionen dargelegt. Die Vernunft bezieht sich nie, wie bereits festgestellt, direkt auf Gegenstände, sofern sie, aufgeklärt von Kants Kritik, darauf verzichtet, sich transzendente und scheinbare Gegenstände jenseits der Erfahrung – wie Ich, Welt und Gott – zu erdichten. Die positive Aufgabe dieser Ideen der Vernunft sieht Kant allerdings darin, sie als »regulative Prinzipien« zu nutzen, um die Verstandeserkenntnisse in eine systematische Ordnung zu bringen.146 Dieser regulative Gebrauch der Ideen sieht demnach davon ab, Ich, Gott und Welt als an sich seiende existierende Gegenstände zu denken. Sie werden stattdessen als »Gegenstand in der Idee und nicht in der Realität«147 gefasst, als »ein bloßes Etwas in der Idee, wovon wir, was es an sich sei, keinen Begriff haben«148 . Dieser »immanente Gebrauch« macht somit zunächst aus dem transzendenten Gegenstand eine bloße Idee, modifiziert aber zugleich den Bezug auf die Gegenstände der empirischen Erfahrung. Die Vernunft ist in ihrem Geschäft, die systematische Einheit der Erkenntnisse des Verstandes zu gewährleisten, zunächst vermittels des Verstandes auf die Gegenstände seiner Erkenntnisse bezogen, in denen die Anschauung bereits begrifflich synthetisiert wurde. Sie stellt sie nun aber unter »Voraussetzung eines solchen Gegenstandes in der Idee«149 in einer durch diese Idee anvisierten syste146 Vgl. zum Folgenden »Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft« in KrV, A 699 ff./B 697 ff. 147 KrV, A 697 f./B 725 f. 148 KrV, A 679/B 707. 149 KrV, A 671/B 699.
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matischen Einheit vor. Anders gesagt stellt sie insofern auch den durch den Verstand gegebenen ›Gegenstand in der Idee‹ dar, als sie ihn als besonderen aus dem höchsten Prinzip dieser systematischen Einheit ableitet. Diese zweite Deutung von Kants Formulierung dürfte, wie ich keineswegs verhehlen möchte, kaum seine Intention wiedergeben, sie trifft aber durchaus die Pointe seiner Argumentation.150 Denn der regulative Gebrauch der Idee geht in doppelter Hinsicht damit einher, dass ein ›Gegenstand in der Idee‹ gefasst wird: Der transzendente Gegenstand wird zur bloßen Idee modifiziert; zugleich werden aber auch alle empirischen Gegenstände insofern in diese Idee versetzt, als sie innerhalb der systematischen Einheit betrachtet werden, die zu liefern die jeweilige Idee der Vernunft verspricht.151 Die Ideen von Ich, Welt und vor allem Gott werden somit immanent mit Bezug auf den Verstand gebraucht, indem alle empirischen Gegenstände im Lichte der Vernunfteinheit betrachtet werden und damit eine »Erfahrung als System« geschaffen wird, in der alles Besondere als begrifflich Spezifiziertes eingeschlossen wäre. Es handelt sich um, wenn auch hypothetische, »Erkenntnisse aus Prinzipien«, da »ich das Besondre im Allgemeinen 150 Dies lässt sich vor allem anhand der regulativen Idee eines »göttlichen Wesens« ausführen. So spricht Kant hinsichtlich des regulativen Gebrauchs der Idee eines »göttlichen Wesens« durch die Vernunft auch davon, »daß ihr spekulatives Interesse und nicht ihre Einsicht sie berechtige, von einem Punkte, der so weit über ihrer Sphäre liegt, auszugehen, um daraus ihre Gegenstände in einem vollständigen Ganzen zu betrachten« (KrV, A 676/B 704). Einige Seiten später formuliert Kant denselben Sachverhalt wie folgt: »Die Vernunft kann aber diese systematische Einheit nicht anders denken, als daß sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand gibt, der aber durch keine Erfahrung gegeben werden kann; denn Erfahrung gibt niemals ein Beispiel vollkommener systematischer Einheit. Dieses Vernunftwesen (ens rationis ratiocinatae) ist nun zwar eine bloße Idee, und wird also nicht schlechthin und an sich selbst als etwas Wirkliches angenommen, sondern nur problematisch zum Grunde gelegt (weil wir es durch keine Verstandesbegriffe erreichen können, um alle Verknüpfung der Dinge der Sinnenwelt so anzusehen, als ob sie in diesem Vernunftwesen ihren Grund hätten, lediglich aber in der Absicht, um darauf die systematische Einheit zu gründen, die der Vernunft unentbehrlich, der empirischen Verstandeserkenntnis aber auf alle Weise beförderlich und ihr gleichwohl niemals hinderlich sein kann.« (KrV, A 680/B 708) 151 »Es ist ein großer Unterschied, ob etwas meiner Vernunft als ein Gegenstand schlechthin, oder nur als ein Gegenstand in der Idee gegeben wird. In dem ersteren Falle gehen meine Begriffe dahin, den Gegenstand zu bestimmen; im zweiten ist es wirklich nur ein Schema, dem direkt kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstände, vermittelst der Beziehung auf diese Idee, nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt uns vorzustellen.« (KrV, A 670/B 698) Kant beschreibt diese Funktion der Idee in Analogie zum Schematismus der Verstandesbegriffe, was an dieser Stelle noch zu diskutieren wäre, im vorliegenden Zusammenhang aber zu weit führen würde, vgl. KrV, A 664 – 666/B 692 – 694.
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durch Begriffe erkenne«152 . Für den regulativen Gebrauch der Vernunft ist somit die Präposition ›in‹ insofern charakteristisch, als sie das Besondere von vornherein unter Maßgabe des Allgemeinen betrachtet und es als dessen Spezifikation in ein hypothetisches System des Begriffs einschreibt. Die reflektierende Tätigkeit der Urteilskraft scheint in der »Ersten Einleitung« zwar ein ähnliches Telos zu verfolgen, wenn sie annimmt, »die Natur spezi fiziere sich selbst nach einem gewissen Prinzip (oder der Idee eines Systems)«. Ihr Ausgangspunkt ist jedoch durch die Wahrnehmung gegeben, so dass es überhaupt ein Allgemeines zu finden gilt, ein empirisches Gesetz, das dieses Besondere zusammen mit anderen einbegreift. Das Besondere ist für die reflektierende Urteilskraft daher nicht in der Idee des Allgemeinen eingefasst, sie muss das Allgemeine am Besonderen zu fassen versuchen. Kant variiert daher in der »Ersten Einleitung« immer wieder Formulierungen, denen zufolge sich das Allgemeine in Form des empirischen Gesetzes allein am Gegenstand erkennen lässt.153 Das Besondere, von dem die reflektierende Urteilskraft ausgeht und das ihre Suche nach einem Allgemeinen zuallererst KrV, A 300/B 357, Hervorhebung A. S. Die reflektierende Urteilskraft hat so im Allgemeinen zum Ziel, »spezifische, durch dieser ihrer Vergleichung aber mit andern auch generisch-übereinstimmende Formen an Naturdingen zu erkennen« (EE , H 18). Insbesondere ihr teleologisches Urteil gilt aber der »Zweckmäßigkeit an Dingen der Natur« (EE , H 38) bzw. »beobachtet« die »objektive Zweckmäßigkeit an Dingen der Natur […] (vornehmlich an organisierten Wesen)« (ebd., H 35). Diese reflektierende Tätigkeit »macht es […] allererst möglich, ja notwendig, außer der mechanischen Naturnotwendigkeit sich an ihr auch eine Zweckmäßigkeit zu denken« (EE , H 24). Diese Formulierungen halten sich auch in der Kritik der Urteils kraft durch, vgl. z. B. KU, A VIII/B VIII, A XLVI/B XLVIII, A 33 f./B 33 f. u.ö. Insbesondere klärt dort eine Stelle darüber auf, wie das »Prinzip der Beurteilung« im terminologischen Sinne nur »an der Form eines Dinges« zu fassen ist: »Der transzendentale Grundsatz aber, sich eine Zweckmäßigkeit der Natur in subjektiver Beziehung auf unser Erkenntnisvermögen an der Form eines Dinges als ein Prinzip der Beurteilung derselben vorzustellen, läßt es gänzlich unbestimmt, wo und in welchen Fällen ich die Beurteilung, als die eines Produkts nach einem Prinzip der Zweckmäßigkeit, und nicht vielmehr bloß nach allgemeinen Naturgesetzen anzustellen habe, und überläßt es der ästhetischen Urteilskraft, im Geschmacke die Angemessenheit desselben (seiner Form) zu unseren Erkenntnisvermögen (sofern diese nicht durch Übereinstimmung mit Begriffen, sondern durch das Gefühl entscheidet) auszumachen. Dagegen gibt die teleologisch-gebrauchte Urteilskraft die Bedingungen bestimmt an, unter denen etwas (z. B. ein organisierter Körper) nach der Idee eines Zwecks der Natur zu beurteilen sei; kann aber keinen Grundsatz aus dem Begriffe der Natur, als Gegenstandes der Erfahrung, für die Befugnis anführen, ihr eine Beziehung auf Zwecke a priori beizulegen, und auch nur unbestimmt dergleichen von der wirklichen Erfahrung an solchen Produkten anzunehmen: wovon der Grund ist, daß viele besondere Erfahrungen angestellt und unter der Einheit ihres Prinzips betrachtet werden müssen, um eine objektive Zweckmäßigkeit an einem gewissen Gegenstande nur empirisch erkennen zu können.« (KU, A XLIX f./B LIf.) 152 153
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erfordert, ist daher nicht in der Idee einzubegreifen, wie es die Vernunft versucht, sondern eröffnet den Bezug zu einem Allgemeinen, das nicht a priori vorgegeben und dennoch anzunehmen ist, um das Besondere heuristisch zu begreifen. Das Problem des »Allgemeinen« zu einem »Besonderen« wird somit nicht in die Spezifikation eines angenommenen Prinzips zu den letzten »besonderen Erfahrungen« aufgelöst. Die Revisionen der Kritik der Urteilskraft und ihr wissenschaftshistorischer Hintergrund Diese Unterschiede zwischen dem Bezug von Allgemeinem und Besonderem nach dem Modell des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft und der Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft haben, so lässt sich mit guten Gründen vermuten, einen konkreten wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund. Denn in der Kritik der reinen Vernunft steht Kant wie in den Meta physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft unter dem Eindruck einer Entwicklung, die die Physik von Galilei über Kepler bis Newton genommen hatte. Kant hat sie als eine paradigmatische Systematisierung des physikalischen Wissens verstanden, denn Newtons Principia führt die Galilei’schen Fallgesetze und die Kepler’schen Gesetze der Planetenbewegung nicht nur in mathematischer Form zusammen. Sie erlaubt auch ihre Ableitung aus der Grundkraft der Gravitation, wobei Galileis Mathematisierung der Bewegung in Form einer Gleichung, die eine Punktkurve beschreibt, vorausgesetzt ist.154 Auf eine solche Systematisierung in Gestalt der Ableitung aus einem Prinzip stützen sich auch die Metaphysischen Anfangsgründe der Na turwissenschaft, wobei Kant den philosophisch-metaphysischen Ansichten Newtons keineswegs folgt.155 In der Kritik der Urteilskraft wird der systematisierende Charakter empirischen Wissens dagegen vor allem am Beispiel der Klassifikation im Bereich der ›Naturformen‹ und insbesondere gestützt auf Linnés Taxonomien abgehandelt.156 Die praktische wie konzeptionelle Problemlage dieser Syste154 Vgl. nochmals KrV, A 662 f./B 690 f., und dazu Heimsoeth, »Kants Erfahrung mit den Erfahrungswissenschaften«, 10 – 35, bes. 30 f., mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 155 Wie Kants strikte Orientierung am Vorbild von Newtons Physik damit einhergeht, sie unter den eigenen Prämissen philosophisch neu zu fassen, zeigt beispielhaft Michael Friedman, »Kant and Newton: Why Gravity Is Essential to Matter«, in: Phillipp Bricker und R. I. G. Hughes (Hg.), Philosophical Perspectives on Newtonian Science, Cambridge u. a. 1990, 185 – 202, bes. 197 – 202. 156 Vgl. Heimsoeth, »Kants Erfahrung mit den Erfahrungswissenschaften«, 77 – 79, der auf die hier skizzierten systematischen Unterschiede jedoch nicht eingeht.
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matisierung ist aber durchaus anders gelagert. Denn in diesem Fall geht es zuerst darum, Merkmale zu wählen, die an einzelnen empirischen Naturformen stets eindeutig zu bestimmen sind und ihre Zuordnung zu Gattungen und Arten erlauben. Dadurch sollte eine Klassifikation möglich sein, die ein gestuftes und kohärentes System der Ordnungen, Klassen, Gattungen, Arten und Varietäten bildet, wobei sich auf jeder Ebene unterschiedliche Probleme stellten.157 Erster Ausgangspunkt wie letzter Maßstab dieser Bemühungen ist aber die Bestimmtheit der individuellen Naturformen: Sie erschien von vornherein gegeben und sollte auf angemessene Weise erfasst werden. Die Klassifikation ist daher auch in ihrem technischen Charakter stets im Bezug auf die Erscheinung der Naturformen und im Falle von Linnés System der Pflanzen mit Blick auf deren Habitus zu denken.158 Diese Ausgangslage der Klassifikation war Kant durchaus vertraut, auch wenn er sich mit den praktischen Schwierigkeiten der Klassifikation kaum befasste. Er griff dagegen in die Diskussion um die objektive Bestimmung und den epistemologischen Status der biologischen Gattungen und Arten ein, die sich im Anschluss an kritische Einwände seitens Georges-Louis Leclerc de Buffon entsponnen hatte. Buffon hatte nämlich mit Bezug auf die Klassifikationen Linnés die Frage aufgeworfen, inwieweit die Einteilung der Gattungen und Arten rein logisch-begrifflichen und mithin künstlichen Charakters ist oder ob ihr eine natürliche Ordnung des Lebendigen selbst zu Grunde liegt.159 In seinen eigenen kleineren Texten unterscheidet Kant zunächst unter dem Einfluss Buffons die Naturgeschichte von der Naturbeschreibung im Sinne Linnés160 und begründet die biologisch-begrifflichen Einteilungen auf der Reproduktionsfähigkeit der Lebewesen und damit auf Vgl. dazu nochmals ausführlich Larson, Reason and Experience, 50 – 121. Vgl. dazu Larson, Reason and Experience, 62 – 65 und 71 – 75. Eine ähnliche Beobachtung findet sich auch bei Vesa Oittinen, »Linné zwischen Wolff und Kant. Zu einigen Kantischen Motiven in Linnés biologischer Klassifikation«, in: Ernst-Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur. Ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin u. a. 2009, 51 – 7 7, hier 59 – 61 und 75 f. Statt die Logik der biologischen Systematisierung von derjenigen der Physik abzuheben und ihre philosophische Diskussion bei Kant herauszuarbeiten, versteift sich Oittinen aber auf ihr Bemühen, Linnés empirische Arbeit gegen zweifelhafte Vorwürfe eines überkommenen Aristotelismus zu verteidigen, und zeigt dabei wenig Gespür für Kants eigene Ansätze. 159 Vgl. die systematischen Beobachtungen in der Überblicksdarstellung von Walter Baron, »Methodologische Probleme der Begriffe Klassifikation und Systematik sowie Entwicklung und Entstehung in der Biologie«, in: Alwin Diemer (Hg.), System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation, Meisenheim am Glan 1968, 15 – 31, bes. 16 – 20. 160 Vgl. Immanuel Kant, »Von den verschiedenen Rassen der Menschen«, B 140 f., Anm., in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1983 (= Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, 9), 9 – 30, 157
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ihrer naturgeschichtlichen Genese.161 Indem Kant die deskriptive Klassifikation so auf die Naturgeschichte der Gattungen und Arten zurückverweist, betreibt er eine grundlegende konzeptionelle Verschiebung. Denn Begriffe wie Gattung und Art weisen seit Aristoteles eine doppelte, sowohl logische als auch biologische Bedeutung auf, da sie sowohl die biologischen Gattungen als auch die begriffliche Klassifizierung bezeichneten, um beide letztlich in der Annahme einer natürlichen Ordnung übereinstimmen zu sehen.162 Die naturgeschichtliche Perspektive Kants setzt dagegen wie Buffon und anders als Linné an der historischen Genese der individuellen Lebensformen an.163 Daraus folgert Kant aber keineswegs wie Buffon, dass Linnés System der Natur eine bloß künstliche und willkürliche Einteilung vornehme, die in der biologischen Wirklichkeit keine Entsprechung hat. hier 18, und ders., »Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie«, bes. A 108 und 124 f. 161 Ich beziehe mich hiermit neben den bereits angeführten »Von den verschiedenen Rassen der Menschen« (1775) und »Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie« (1788) auf »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse« (1785), in: Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 65 – 82. Vgl. zur Erläuterung der sogenannten ›Rasse-Aufsätze‹ Adickes, Kant als Naturforscher, Bd. 2, 406 – 4 25, Heimsoeth, »Kants Erfahrung mit den Erfahrungswissenschaften«, 76 – 81, Philipp R. Sloan, »Buffon, German Biology, and the Historical Interpretation of Biological Species«, in: The British Journal for the History of Science 12 (1979), 109 – 153, hier 127 – 134, und Larson, The Science of Living Form, 85 – 91, wobei vor allem Kants Aufsätze, mitunter aber auch ihre Erläuterungen sich als politisch und ethisch äußerst problematisch erweisen. Vgl. zu Buffons Kritik an einer rationalistischbegrifflichen Klassifikation und der von ihm beanspruchten Begründung der Klassifikation durch die Untersuchung der biologischen Reproduktion der Lebensformen Sloan, »The Buffon-Linnaeus Controversy«, 358 – 361 und 369 – 371. Vgl. zu Kants Rezeption Buffons nochmals Sloan, »Buffon, German Biology«, 125 – 129 und 137 – 145, sowie Mark Fisher, »Kant’s Explanatory Natural History. Generation and Classification of Organisms in Kant’s Natural Philosophy«, in: Philippe Huneman (Hg.), Understanding Purpose. Kant and the Philosophy of Biology, Rochester, NY, 2007, 101 – 121, und für einen ersten Überblick auch Jean Ferrari, »Kant, lecteur du Buffon«, in: Jean-Claude Beaune u.a. (Hg.), Buffon 88, Paris 1992, 155 – 163, bes. 158 – 161. 162 Allerdings erweist sich der Zusammenhang dieser beiden Aspekte bereits bei Aristoteles als problematisch, folgt man D. M. Balme, »ΓΕΝΟΣ and ΕΙΔΟΣ in Aristotle’s Biology«, in: The Classical Quarterly, N. S. 12 (1962), 81 – 98, bes. 97 f. 163 Ich folge hier den überzeugenden Ausführungen in Phillip R. Sloan, »From Logical Universals to Historical Individuals: Buffon’s Idea of Biological Species«, in: Scott Atran u.a. (Hg.), Histoire du concept d’espèce dans les sciences de la vie, Paris 1987, 101 – 140, bes. 102 – 105 mit Bezug auf Aristoteles und ebd., 118 – 126, zu Buffons Begriff der Spezies. Sloan ergänzt damit Buffons historischen Hintergrund, den er bereits in Sloan, »The Buffon-Linnaeus Controversy«, 361 – 369, mit der Diskussion von Buffons Verhältnis zu den Wahrheitsbegriffen von Locke und Leibniz ausgeführt hatte, vgl. dazu auch Sloan, »Buffon, German Biology«, 112 – 120.
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Vielmehr betrachtet er Naturgeschichte und Naturbeschreibung zum einen als heuristische Maximen, die sich keineswegs gegenseitig ausschließen müssen.164 Zum anderen rückt er die begriffliche Ordnung der Gattungen in eine naturgeschichtliche Dimension ein, der sie ihr Entstehen verdankt, ohne ihr dadurch – wie im Rekurs auf eine vorgeblich natürliche Ordnung – eine Begründung in der Wirklichkeit zu verleihen oder sie ihr – wie im Verweis auf eine sich dem Begriff entziehende Naturgeschichte – prinzipiell vorzuenthalten.165 An dieser Diskussion ist für das Verständnis der Kritik der Urteilskraft in erster Linie von Bedeutung, dass Kant nicht nur über ein grundlegendes Verständnis der Schwierigkeiten der biologischen Systematisierung verfügte, sondern in seiner Diskussion von Naturbeschreibung und Naturgeschichte auch den engen Bezug auf die Bestimmtheit individueller und historischer Lebensformen hervorhebt. Voraussetzung der begrifflichen Klassifikation war stets die gegebene Vielfalt von Lebensformen und diese bildete zugleich den Maßstab für die praktische Bestimmung und jede praktikable Nomen164 Natürlich sahen dies die Biologen, die sich auf Kant beriefen, durchaus anders. Vor allem Blumenbach hat sich so in seinen Bezugnahmen auf Kant nicht weniger dessen bedient, wie es Kant mit Blumenbach getan hat. Es erscheint daher durchaus fragwürdig, Kants berühmte Charakterisierung seiner kritischen Schriften in einem der Biologie entlehnten Vokabular, vgl. KrV, B 167, als biologische Begründung philosophischer Argumentation zu deuten, wozu Philipp R. Sloan in seiner ansonsten erhellenden Erläuterung dieser Stellen zu neigen scheint, vgl. »Preforming the Categories: Eighteenth-Century Generation Theory and the Biological Roots of Kant’s A Priori«, in: Journal of the History of Philosophy 40 (2002), 229 – 253. Mit kritischem Bezug auf Larson und Lenoir hat Robert J. Richards die Mißverständnisse, die in der realistischen oder heuristischen Auffassung des Blumenbachschen Begriffs des »Bildungstriebs« angelegt waren, hervorgehoben, vgl. »Kant and Blumenbach on the Bildungstrieb: A Historical Misunderstanding«, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 31 (2000), 11 – 32, hier 23 – 32. Eine ähnliche Einschätzung hat auch Philipp R. Sloan, »Kant on the History of Nature: The Ambiguous Heritage of the Critical Philosophy for Natural History«, in: Studies in the History and Philosophy of Biological and Biomedical Science 37 (2006), 627 – 6 48, bes. 629 und 643 f., zuletzt vertreten. Die Deutung von Kants Rolle in der entstehenden Biologie des 18. und 19. Jahrhunderts und seiner Haltung gegenüber Naturgeschichte oder -beschreibung scheint nicht unwesentlich davon abzuhängen, ob die kleineren, oft naturgeschichtlichen Texte herangezogen oder die drei, methodisch strengeren Kritiken zum Maßstab genommen werden. 165 Kant trägt historisch gesehen zur weiteren Verbreitung einer naturgeschichtlichen Perspektive in der entstehenden Biologie bei und erweist sich darin nach der Einschätzung von James Larson für die Entwicklung im 18. Jahrhundert und darüber hinaus als ebenso repräsentativ wie wegweisend, vgl. Larson, The Science of Living Form, 96 – 98 und 183 – 189, sowie Timothy Lenoir, »Kant, Blumenbach, and Vital Materialism in German Biology«, in: Isis 71 (1980), 90 – 108, der mit Blick auf Blumenbach, dessen Schüler und darüber hinaus Kants bedeutenden Einfluss auf die Biologie im 19. Jahrhundert betont.
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klatur.166 Kant versuchte dieser methodischen Eigenart der im Entstehen begriffenen Biologie philosophisch Rechnung zu tragen, indem er die reflektierende Tätigkeit der Urteilskraft einführte. Diese räumt den Klassifi kationen der Biologie nicht nur einen Ort innerhalb der philosophischen Systematik ein. Sie trägt auch der Eigenart der Klassifikation zumindest insofern Rechnung, als der Ausgang der reflektierenden Urteilskraft von »besonderen Wahrnehmungen« und ihr spannungsvoller Bezug zur begrifflichen Spezifikation des Besonderen die Aufgabe umreißt, einer anschaulichen Bestimmung von lebenden Formen gerecht zu werden, die per se nicht aus fundamentalen Gesetzen abzuleiten und in keiner natürlichen Ordnung gegeben ist. Das Problem, jeder einzelnen lebenden Form einen angemessenen Ort zuzuweisen in einem System der Natur, das sie zugleich begrifflich und empirisch zuallererst bestimmt und spezifiziert, ist hier in seiner Dringlichkeit gesehen. Die empirische Transformation des Transzendentalen Auch der wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund spricht folglich dafür, die in den kantischen Kritiken behandelten Formen der Systematisierung von Erfahrung auseinander zu halten. Der Herstellung eines Systems der Erfahrung nach empirischen Gesetzen, die der reflektierenden Urteilskraft in der Kritik der Urteilskraft obliegt, ist zwar eine gewisse Verwandtschaft mit dem hypothetischen Gebrauch der Vernunft zu eigen, wie ihn die Kritik der reinen Vernunft geschildert hatte. Es kommt aber darauf an, dem neuen Aspekt der reflektierenden Tätigkeit den ihm angemessenen Platz zuzuweisen, indem die Bildung des Systems der empirischen Gesetze zurückbezogen wird auf die Aufgabe, zu den »besonderen Wahrnehmungen« ein Allgemeines zu finden, unter das der einzelne wahrgenommene Gegenstand zu subsumieren ist. Anders als die Vereinheitlichung der Physik der Bewegung durch die Ableitung aus Newtons Theorie der Gravitation, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft als Ideal vor Augen stand, haben Naturbeschreibung und -geschichte, die den Hintergrund der Kritik der Urteilskraft bilden, die Bestimmtheit der konkreten Lebensformen zum Maßstab.167 So 166 Vgl. zur Definition der biologischen Nomenklatur durch Linné Larson, Reason and Experience, 122 – 142. Die Nomenklatur war zur Zeit Kants wie für die entstehende Biologie auch für die Chemie nach Lavoisier eine drängende Aufgabe, vgl. Elisabeth Ströker, Theoriewandel in der Wissenschaftsgeschichte. Chemie im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1982, 272 – 276. 167 Deutungen, die die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft und den hypothetischen Gebrauch der Vernunft ebenso wenig differenzieren wie ihre wissenschaftshisto-
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arbeiten zwar reflektierende Urteilskraft und Vernunft an der Herstellung eines Systems empirischer Erfahrung. Während sich die Vernunft aber auf die begriffliche Erkenntnis des Verstandes stützt und sie in den »Vernunftzusammenhang der Erklärungen«168 einzuordnen sucht, um das Besondere als begrifflich Spezifiziertes aus dem Allgemeinen abzuleiten, geht die Urteilskraft vom Besonderen der Anschauung aus, um es auf die Ordnung des Begrifflichen zu beziehen und zu einer heuristischen Beurteilung zu gelangen. Die charakteristische Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, zur »besonderen Erfahrung« überhaupt ein besonderes, als solches aber eben doch auch allgemeines Gesetz zu finden, ist somit nicht zu reduzieren auf die ihr ebenso obliegende Herstellung des systematischen Zusammenhangs der empirischen Gesetze. Die auffallenden Gemeinsamkeiten des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft und der reflektierenden Tätigkeit der Urteilskraft sind daher in unterschiedlichem Licht zu sehen. Dies gilt unter anderem für den Befund, dass das anvisierte System der Erfahrung auf der Grundlage der gegebenen Erfahrungen nur extrapoliert werden und daher allein als »projektierte Einheit« gelten kann, »die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß«169. Denn diese »projektierte Einheit« hat für Vernunft und Urteilskraft keineswegs denselben Bezug zu den Gegenständen der Erfahrung. Im Falle der Vernunft ruht sie bereits auf den gegebenen Verstandeserkenntnissen auf, die sie lediglich systematisch zu ordnen versucht.170 Die reflektierende Urteilskraft geht dagegen von »besonderen Erfahrungen« aus, um die besonderen empirischen Gesetze zu erkennen, die ihr nicht von vornherein gegeben sind und doch zugleich die Gegenstände jener Erfahrung als konkrete Gegenstände qualifizieren sollen. Das Verhältrischen Bezugspunkte und dadurch vom physikalischen Modell der Vereinheitlichung ausgehen, verkennen dann auch die unterschiedlichen Bezüge auf einzelne und besondere Gegenstände und geraten des Öfteren auch darüber hinaus in Schieflage, vgl. z. B. Robert E. Butts, »Teleology and Scientific Method in Kant’s Critique of Judgment«, in: Noûs 24 (1990), 1 – 16, bes. 6 – 9. 168 MANW, A 104. 169 KrV, A 647/B 675, vgl. auch KrV, A 663/B 691. 170 Auch Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 557 f., deutet an, dass »der Gedanke des Systems« mit Bezug auf die »besonderen Gesetze« oder »im Rahmen der Dialektik« eine »ganz andere Bedeutung« habe, wobei er sich im Rahmen dieses Kommentars der »Transzendentalen Dialektik« mit der ersteren Formulierung auf eine Stelle in der Kritik der reinen Vernunft und nicht in der Kritik der Urteilskraft bezieht. Daher sieht er den Unterschied auch allein darin, dass die Vernunft das System der Erfahrung ›projektiert‹, während die reflektierenden Urteilskraft es in ihrer Naturbeschreibung den Dingen ›ablese‹. Mit Bezug auf die Kritik der Urteilskraft stellt sich die reflektierende Tätigkeit aber durchaus als komplexer heraus.
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nis zwischen den einzelnen empirischen Gegenständen und den in ihnen vorausgesetzten besonderen Gesetzen erweist sich deshalb als komplex. Die reflektierende Urteilskraft beschränkt sich nämlich weder wie die Vernunft darauf, die Erkenntnisse des Verstandes zu ordnen, ohne deren Gegenstände unter Annahme einer spezifischen Form von Erfahrung zu bestimmen; noch setzt sie wie die bestimmende Urteilskraft apriorische Gesetze voraus, die sie ihren Gegenständen konstitutiv vorschreiben könnte. Vielmehr bewegt sie sich zwischen dem angenommenen, aber zu bestimmenden Zusammenhang der besonderen Gesetze, durch die ein empirischer Gegenstand als solcher qualifiziert wird, und den empirischen Gegenständen, an denen sich solche Gesetze überhaupt nur aufzeigen lassen und bewahrheiten können, gleichsam hin und her. Die reflektierende Urteilskraft muss im wechselseitigen Bezug zugleich die empirischen Gegenstände qualifizieren und ihre besonderen Gesetze bestimmen, ohne dass sie an einer dieser beiden Seiten der empirischen Erkenntnis festen Halt gewinnen könnte.171 Diese Charakteristik der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft eröffnet einen eigentümlichen ›Zirkel‹: Die empirischen Gesetze vermag sie allein an den Gegenständen der empirischen Erfahrung zu erkennen, diese Gegenstände kann sie aber nur unter Annahme jenes gesetzlichen Zusammenhangs überhaupt als konkrete Gegenstände der empirischen Erkenntnis qualifizieren. Die Aufgabe der Urteilskraft, »zu besondern Erfahrungen die allgemeinen Gesetze zu suchen, nach welchem wir sie anzustellen haben, um jene systematische Verknüpfung heraus zu bringen, die zu einer zusammenhängenden Erfahrung notwendig ist«, ist demnach ›zirkulär‹, und zwar umso grundlegender, als wir »diese systematische Verknüpfung« »a priori anzunehmen Ursache haben«.172 Ein solcher ›Zirkel‹ stellt jedoch keinen 171 Dagegen hat Michael Friedman, »Causal Laws and the Foundations of Natural Science«, in: Paul Guyer (Hg.), The Cambridge Companion to Kant, Cambridge u.a. 1992, 161 – 199, bes. 174 – 180, mit Blick auf die Texte von der ersten bis zur dritten Kritik vorgeschlagen, in Newtons Vereinheitlichung der Physik das Paradigma zu sehen für eine Begründung empirischer Gesetze, die diese als Instantiierungen und Spezifizierungen der apriorischen Gesetze begreift, sie in diesem Sinne ableitet und mit Notwendigkeit versieht, ohne ihren empirischen Charakter gänzlich aufzuheben. Vgl. auch Friedman, »Regulative and Constitutive«, 83 – 90, sowie kritisch dazu Henry E. Allison, »Causality and Causal Laws in Kant: A Critique of Michael Friedman«, in: Paolo Parrini (Hg.), Kant and Contemporary Epistemology, Dordrecht u.a. 1994, 291 – 307. Friedmans interessantes Modell einer Rückversicherung der empirischen Erfahrung in apriorischen und empirisch zu spezifizierenden Bedingungen wäre hier ausführlicher zu diskutieren, akzentuiert jedoch nicht den spezifischen Zug der Kritik der Urteilskraft, der meines Erachtens für Cassirers Anschluss entscheidend ist. Mit Blick auf Cassirer und die dritte Kritik werde ich daher einen anderen Aspekt herausarbeiten. 172 EE , H 9. Nochmals im Zusammenhang zitiert: »Diese an sich (nach allen Verstandesbegriffen) zufällige Gesetzmäßigkeit, welche die Urteilskraft (nur ihr selbst zu Guns-
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logisch-deduktiven Fehlschluss dar, sondern kennzeichnet die notwendige und wesentliche ›Empirie‹ der Urteilskraft: Statt allgemeinste Erklärungen des Verstandes zu begründen, indem apriorische Gesetze als Bedingungen des Erkennens und seiner Gegenstände im Allgemeinen aufgewiesen werden, beschreibt Kant einen den Beurteilungen der reflektierenden Urteilskraft inhärierenden wechselseitigen Bezug zwischen Annahmen und Gegenständen des Erkennens, der die Erkenntnis mitsamt ihrer spezifischen Bedingungen als wesentlich empirisch ausweist und sie ihrem praktischen Fortgang überantwortet.173 Kants Konzeption der reflektierenden Urteilskraft beinhaltet so eine Theorie des empirischen Erkennens, das seine Gegenstände unter Annahme heuristischer Prinzipien und empirischer Gesetze, wenn nicht bestimmt, so doch qualifiziert, um dieselben Annahmen an diesen Gegenständen zugleich empirisch zu prüfen und sie, falls nötig, der Revision zu unterziehen. Empirisches Erkennen eröffnet und bewegt sich damit in einem Spielraum, in dem sich seine notwendigen, aber vorläufigen Annahmen und die Bestimmtheit der empirischen Gegenstände fortschreitend verschränken sollen, indem jene Annahmen empirisch bewahrheitet oder revidiert werden. Eine »subjektiv-notwendige transzendentale Voraussetzung«174 bezeichnet somit eine Bedingung, die das Erkennen auf seinen eigenen empirischen Fortgang hin öffnet und die sich selbst ebenso wie die begreifbare Bestimmtheit der Gegenstände in diesen Fortgang einschreibt. Es handelt ten) von der Natur präsumiert und an ihr voraussetzt, ist eine formale Zweckmäßigkeit der Natur, die wir an ihr schlechterdings annehmen, wodurch aber weder ein theoretisches Erkenntnis der Natur, noch ein praktisches Prinzip der Freiheit gegründet, gleichwohl aber doch für die Beurteilung und Nachforschung der Natur ein Prinzip gegeben wird, um zu besondern Erfahrungen die allgemeinen Gesetze zu suchen, nach welchem wir sie anzustellen haben, um jene systematische Verknüpfung heraus zu bringen, die zu einer zusammenhängenden Erfahrung notwendig ist, und die wir a priori anzunehmen Ursache haben.« 173 Vor dem Hintergrund der die Forschungspraxis untersuchenden Wissenschaftsforschung hat Joan Steigerwald eine solche ›pragmatische‹ Interpretation der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft sowie des Verhältnisses zwischen Prinzipien und Gegenständen der empirischen Erfahrung vorgelegt, vgl. »Instruments of Judgment: Inscribing Organic Processes in Late Eighteenth-Century Germany«, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 33 (2002), 79 – 131, bes. 79 – 101. Kants Konzeption der reflektierenden Urteilskraft billigt so nicht nur dem Experiment die Rolle zu, die ihm tatsächlich gebührt, sie erscheint als eine Reflexion der konkreten Experimentierpraxis Wolffs und Blumenbachs und der heuristisch-instrumentellen Funktion ihrer Konzeptualisierungen. Dieser anregende Ansatz wird leider dadurch getrübt, dass Steigerwalds Ausführungen allzu weit ausgreifen und doch holzschnittartig bleiben, ihre Deutung Kants erscheint zudem mitunter ungenau. 174 EE , H 14.
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sich um eine neue, genuin empirische Situation der Erkenntnis und einen anderen Bezug auf deren spezifische Gegenstände, da dieses Erkennen nicht nur seinem Gehalt nach von empirischer Provenienz ist, sondern es mit den ihm eigenen transzendentalen, aber revidierbaren Bedingungen auch seine konkrete Form an den spezifischen Gegenständen und ihrer empirischen Ordnung bewähren muss. Diese Theorie empirischer Erkenntnis setzt sich einer idealistischen Lektüre Kants entgegen, die die dritte Kritik von vornherein unter die Vorzeichen ihrer Wirkung im Deutschen Idealismus stellt.175 Denn die neue Situation des Erkennens reduziert sich nicht auf die allgemeinsten apriorischen Bedingungen von Erfahrung und ihrer Gegenstände überhaupt, sondern schließt die verschiedenen Formen des empirischen Erkennens mit ihren spezifischen Bedingungen ein. Dieser Ansatz ergibt sich, wie gezeigt wurde, zunächst aus Kants Diskussion der biologischen Erkenntnis, zieht nun aber die Frage nach sich, ob damit nicht eine Perspektive auf die empirische Erkenntnis überhaupt entworfen ist, die insbesondere auch die Physik einbeziehen muss. Es drängt sich rückwirkend nämlich folgende Alternative auf: Entweder genießt die physikalische Erkenntnis, folgt man einer verbreiteten Interpretation der Kritik der reinen Vernunft, das exklusive Privileg, anders als die biologische und andere Formen der empirischen Erkenntnis ihre Gegenstände durch die bestimmende Urteilskraft und die Schematisierung der reinen Verstandesbegriffe direkt zu bestimmen, oder auch sie hat es – wie die dargelegte Deutung der Kritik der Urteilskraft nahelegt – mit einer der »mannigfaltigen Formen der Natur« und ihren »besonderen Gesetzen« zu tun, statt sich unmittelbar in »allgemeinen transzendentalen Natur begriffen« und ihren allgemeinen Gesetzen, die »nur auf die Möglichkeit einer Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt gehen«, begründen zu können. Es geht somit um die Frage, inwieweit der Geltungsanspruch der biologischen und physikalischen Erkenntnis wesentlich voneinander unterschieden ist, wie ein direkter Vergleich der beiden Kritiken zu ergeben scheint, oder ob beide der empirischen Erkenntnis angehören, die in ihnen zwar sehr verschiedene Formen annimmt, aber stets nur von heuristischreflektierter Gewissheit sein kann. Aus Kants Behandlung der Biologie Konsequenzen auch für unser Verständnis der Physik zu ziehen, hätte den Vorteil, eine naive Lektüre der Kritik der reinen Vernunft zu vermeiden, der am Anfang des vorliegenden Kapitels zunächst gefolgt wurde. Es wurde dort nämlich suggeriert, dass die Vgl. für eine solche Lektüre und damit idealistische Geschichte der Entwicklung von der ersten zur dritten Kritik Eckart Förster, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 2012, bes. 161 ff. 175
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apriorischen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung auch unmittelbar als Bedingungen der physikalischen Erkenntnis aufzufassen sind. Allerdings haben die Diskussionen der letzten Jahre unter anderem gezeigt, dass die Kategorie der Kausalität noch sehr weit von jedem Kausalgesetz der Physik entfernt ist und keineswegs umstandslos ein solches begründet.176 Ein solcher Befund drängt in Übereinstimmung mit der hier verfolgten Lektüre des Ausgangsproblems der Kritik der Urteilskraft die Folgerung auf, die apriorischen Bedingungen der Kritik der reinen Vernunft so allgemein zu fassen, dass sie keine einzige Form empirischer Erkenntnis mit ihren spezifischen transzendentalen, aber nicht apriorischen Bedingungen begründen, sondern mit der Physik und Biologie alle Formen gleichermaßen umfassen. Die Erklärungen der Physik wären dann in ihrer Begründung nicht mehr wesentlich unterschieden von den heuristisch-reflektierten Beurteilungen der Biologie. Vielmehr teilten beide dasselbe Maß an Gewissheit, das empirischer Erkenntnis zukommt, und stünden ihre »teleologische« und »physisch-mechanische Erklärungsart« als empirisch-heuristische Maximen gleichrangig nebeneinander.177 Durchaus in diesem Sinne verknüpft Kant die Physik in der Kritik der Urteilskraft mit dem »Mechanismus« und begreift diesen wie die »Teleologie« der Biologie als ein heuristisches Prinzip.178 Die Physik wäre demzufolge ebenso der Dienste der reflektierenden Urteilskraft bedürftig und Für diese Diskussion zentral sind natürlich Kants Ausführungen zu den »Grundsätzen des reinen Verstandes« und insbesondere zur »zweiten Analogie« beziehungsweise dem »Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität« in KrV, A 189 – 211/B 232 – 256. Vgl. für einen guten Einblick in diese umfangreiche Diskussion, die viele der in diesem Abschnitt besprochenen Fragen berührt, Gerd Buchdahl, »Causality, Causal Laws and Scientific Theory in the Philosophy of Kant«, in: The British Journal for the Philosophy of Science 16 (1965), 187 – 208, Friedman, »Regulative and Constitutive«, und Allison, »Causality and Causal Laws in Kant«. 177 So Kant in »Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie« von 1788, A 127 f. 178 Auch Bauer-Drevermann, »Der Begriff der Zufälligkeit«, 502, hat bereits geschlossen, dass »der Mechanismus nicht einfach die Konkretisierung des transzendentalen Grundsatzes der Kausalität bilden kann, sondern eine konkrete Spezialisierung von ihm. Als solche ist er aber abhängig von empirischen Gegebenheiten und kann zu den Gesetzen gerechnet werden, die die Vorstellung des Besonderen regeln und die nach den Ergebnissen der Kritik der Urteilskraft zufällig sind«. Mit Blick auf das Verhältnis des Begriffs von Wissenschaft überhaupt zum Beispiel einer konkreten einzelnen Wissenschaft verhandelt dieses Problem auch Josef Simon, »Begriff und Beispiel. Zur Aporie einer Philosophie und Systematik der Wissenschaften dargestellt am Wissenschaftsbegriff Kants«, in: Kant-Studien 62 (1971), 269 – 297, bes. 278 – 286 und 294 – 297. Es geht ihm auf der Ebene der Theoriebildung aber vorrangig um die Abhängigkeit des Wissenschaftsbegriffs von einem konkreten historischen Paradigma. 176
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müsste auf eine rein objektive Bestimmung ihrer Gegenstände im Sinne der Kritik der reinen Vernunft verzichten. Sie wäre vielmehr wie jede empirische Erkenntnis darauf verwiesen, sich bis in die Bestimmung ihrer eigenen spezifischen Bedingungen und der ihr eigenen besonderen Gesetze hinein ihren konkreten Gegenständen anzumessen. Unter der Prämisse des Mechanismus würde sie auch alle komplexen Zusammenhänge als Wirkung aus elementaren Ursachen zu erklären versuchen, während die biologische Erkenntnis im Sinne der Teleologie sich auf Zusammenhänge beziehen würde, deren Teile sich wechselseitig bedingen und unter Voraussetzung eines Zwecks oder einer Funktion organisiert scheinen.179 Es spricht einiges für die These, dass es unter anderem diese Fragen waren, die Kant auch nach der Kritik der Urteilskraft noch umtrieben, bis sich sein Denken schließlich in den zahlreichen Entwürfen und Zetteln des sogenannten Opus postumum allmählich verliert. Aufgrund der Textlage ist jedoch kaum zu entscheiden, welche Entwicklung Kants Argumentation tatsächlich genommen hat, auch wenn manche detaillierteren Interpretationen dafür zu sprechen scheinen, dass Kant die Physik schließlich wie die Biologie als eine spezifische empirische Erkenntnisform betrachtet hat, die wesentlich auf die reflektierende Urteilskraft angewiesen ist und anders als in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft daher nur noch eine beschränkte Geltung beanspruchen kann. Mit Blick auf die Genese von Cassirers »Philosophie des Symbolischen« kann diese Frage jedoch dahingestellt bleiben. Denn zum einen spielt das Opus postumum für Cassirers Verständnis von Kant weder zur Zeit um 1917 noch später eine Rolle.180 So auch Löw, Philosophie des Lebendigen, 180 – 182 und 204 – 214. Mit Blick auf das Opus postumum entwickelt er daraus jedoch eine weiter reichende und fragwürdige These. Er verfolgt nämlich nicht nur Kants Weg von der Dominanz der bestimmenden Urteilskraft in der Kritik der reinen Vernunft über die Einführung der reflektierenden Urteilskraft in der Kritik der Urteilskraft, wo das teleologische Urteil dem Erkenntnisurteil noch untergeordnet ist, bis hin zur Dominanz der reflektierenden Urteilskraft, sobald Mechanismus und Teleologie gleichberechtigte Prinzipien der Beurteilung durch die Urteilskraft sind. Er sieht die Kulmination dieses Denkwegs darüber hinaus im Opus postumum und dessen »aristotelischer Wende«, die die transzendentale Deduktion an den Körper des Subjekts, seine Existenz und sein Handeln in einer Welt der Zwecke zurückbindet, vgl. ebd., 138, 214 – 216 und vor allem 227 – 229. Das Opus postumum, das alles andere als ein Werk ist, wie McLaughlin, Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 131, im kritischen Bezug auf Löw einwendet, kann eine solch weitreichende These schwerlich belegen. 180 Cassirer zitiert die erstmalige und unvollständige Publikation dessen, was später Opus postumum genannt wurde, in der Altpreußischen Monatsschrift von 1882 – 1884 durch Rudolf Reicke meines Wissens lediglich in ECW 8, 391 – 393, bes. 393, Anm. 63, vgl. dort auch die genauen bibliographischen Angaben. Dieses vermeintliche Werk wertet Cassirer als philosophisch kaum belastbares Dokument der nachlassenden Geisteskräfte 179
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Zum anderen kommt es hier nur auf die Verschiebungen in der Systematik Kants an, die sich in der Kritik der Urteilskraft und ihrer »Ersten Einleitung« vorzeichnen.181 Cassirer hatte diese Texte wegen seiner Beschäftigung mit der Ästhetik im 18. Jahrhundert und seiner Ausgabe von Kants Werken sicherlich nochmals bearbeitet, bevor er 1917 sein neues Projekt einer »Philosophie des Symbolischen« entwirft. Und er hat ihnen, so meine These, Anregungen dazu entnommen, wie er seine eigenen systematischen Ansätze derart umarbeiten könnte, dass sie den Fragen der Ästhetik ebenso Raum geben wie dem bislang im Zentrum stehenden ›Erkenntnisproblem‹. Im ersten Kapitel wurde anhand der Disposition der »Philosophie des Symbolischen« aufgezeigt, wie Cassirer seine Theorie des wissenschaftlichen Begriffs in der Konzeption des Symbolischen verallgemeinert und sich dabei das Verhältnis dieser allgemeinsten Bedingungen des kulturellen Sinns zur Vielfalt der historisch-empirischen Spezifikationen der Symbolisierung als zentrale Herausforderung des gesamten Projekts erweist. Um die eigene Philosophie über die Erkenntnis hinaus zu erweitern und unter der Leitidee des Symbolischen sowohl die Einheit als auch die Vielfalt des kulturellen Sinns zu behandeln, fand Cassirer aber in Kants Überlegungen zu den allgemeinen und besonderen, apriorischen und empirischen Bedingungen des Erkennens aus der Kritik der Urteilskraft und ihrer »Ersten Einleitung« hilfreiche konzeptionelle Mittel. Die Relektüre Kants hat auf diesem Wege eine zentrale Bedeutung für Cassirers Konzeption der »Philosophie des Symbolischen« gewonnen, was im letzten Abschnitt des vorliegenden Kapitels detaillierter nachzuweisen sein wird. Zuvor soll jedoch Kants Argumentation zumindest bis zu einem vorläufigen Abschluss weiter verfolgt werden, indem seine Antwort auf die dargelegte wissenschaftstheoretische Herausforderung kurz erläutert und damit auch der Übergang in den Themenkreis angesprochen wird, der Cassirer wie viele andere Interpreten in der Ansicht bestärkt hat, in der Kritik der Urteilskraft Kants Ästhetik vor sich zu haben.
des greisen Kant. Eine ähnliche Einschätzung findet sich in Cassirers Rezension von Albert Görlands Werk Aristoteles und Kant von 1911, vgl. ECW 9, 468 – 483, hier 479. Eine vollständige Edition des Opus postumum erfolgte erst 1936 und 1938 im Rahmen der sogenannten Akademie-Ausgabe. 181 Vgl. für eine Erörterung des hier exponierten Zusammenhangs mit dem Projekt des Opus postumum Friedman, Kant and the Exact Sciences, 242 – 264, der die Innovation der Kritik der Urteilskraft jedoch eher als gering veranschlagt.
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Kants ästhetische Antwort auf die Frage nach dem Allgemeinen für das Besondere Die vorangehende Erörterung der Transformation des Transzendentalen in Kants Kritik der Urteilskraft ließ die Frage, von der sie ausgegangen war, im Wesentlichen unbeantwortet: Warum sollte es überhaupt möglich sein, ein besonderes, als solches aber doch allgemeines und begriffliches Gesetz zu dem Besonderen zu finden, das uns in der Anschauung gegeben ist? Die »subjektiv-notwendige transzendentale Voraussetzung«182 der reflektierenden Urteilskraft stellt daher ebenso wie die Ausformulierung ihres »Prinzips« nach wie vor ein offenes Problem dar: »Das Prinzip der Reflexion über gegebene Gegenstände der Natur ist: daß sich zu allen Naturdingen empirisch bestimmte Begriffe finden lassen, welches eben so viel sagen will, als daß man allemal an ihren Produkten eine Form voraussetzen kann, die nach allgemeinen, für uns erkennbaren Gesetzen möglich ist.«183 Die bisherigen Erörterungen haben lediglich gezeigt, dass dieses Prinzip nicht objektiv gilt, weil es nicht wie die apriorischen Bedingungen die Gegenstände als solche bestimmt, sondern es lediglich einen heuristischen Zugang zu den ›Naturformen‹ eröffnet. Die reflektierende Urteilskraft kann die ihr unverzichtbaren Annahmen nicht selbst gewährleisten, so dass es der Natur anheimgestellt bleibt, sich in die versuchten Klassifikationen in Gattungen und Arten zu schicken oder sich dem Bemühen der reflektierenden Urteilskraft zu entziehen.184 Die philosophischen Begründungen stoßen hier an eine Grenze, und als einzige Ausflucht scheint sich der Verweis auf die praktische Bewährung anzubieten: Im Fortgang der Forschung wird sich die Annahme der reflektierenden Urteilskraft, die Natur als ein System fassen zu können, entweder als erfolgreich erweisen und einen fortwährenden Anschluss gewährleisten oder sich als eitle Hoffnung herausstellen und zu einem grundsätzlichen Scheitern des Bemühens um empirische Erkenntnis führen. EE , H 14. EE , H 17. 184 In einer Anmerkung Kants scheint es so die Natur und nicht das Vermögen, die die Klassifikation ›ermöglicht‹: »[…] allein die Urteilskraft, die auch zu empirischen Vorstellungen, als solchen, Begriffe sucht (die reflektierende), muß noch überdem zu diesem Behuf annehmen, daß die Natur in ihrer grenzenlosen Mannigfaltigkeit eine solche Einteilung derselben in Gattungen und Arten getroffen habe, die es unserer Urteilskraft möglich macht, in der Vergleichung der Naturformen Einhelligkeit anzutreffen und zu empirischen Begriffen, und dem Zusammenhange derselben untereinander, durch Aufsteigen zu allgemeinern gleichfalls empirischen Begriffen zu gelangen: d. i. die Urteilskraft setzt ein System der Natur auch nach empirischen Gesetzen voraus und dieses a priori, folglich durch ein transzendentales Prinzip.« (EE , H 17, Anm.) 182 183
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Der Philosoph Kant gibt sich damit jedoch nicht zufrieden, sondern besinnt sich auf die Modalitäten einer möglichen Antwort. In der Kritik der reinen Vernunft hatte er noch versucht, die Geltung der regulativen Prinzipien der Vernunft nach dem Vorbild der »Transzendentalen Analytik« zu fassen. Sie sind demnach zwar ebenso wenig wie das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft einer Deduktion fähig, die wie für die Kategorien des Verstandes zeigen müsste, dass diese Prinzipien die Objekte konstitutiv als solche bestimmen. Dennoch kennzeichnete Kant die regulativen Prinzipien als »objektiv, aber auf unbestimmte Art (principium vagum)«185 , wobei die oft unscharfen und teils widersprüchlich wirkenden Ausführungen kaum erkennen lassen, wie diese unbestimmte Art der Objektivität präzise zu fassen wäre.186 In der Kritik der Urteilskraft und der »Ersten Einleitung« verwirft Kant dagegen jede Antwort, die sich eine noch so unbestimmte Begründung aus den apriorischen Bedingungen des Erkennens zum Maßstab macht. Die Frage, warum die Vielfalt der ›Naturformen‹ trotz aller möglichen Heterogenität als ein System der Natur darstellbar sein soll, begreift Kant in diesem Sinne nun als theoretisch unbeantwortbar. Er setzt deshalb zu einer Antwort an, die das Prinzip der Urteilskraft nicht mehr aus den notwendigen Bedingungen von Objektivität überhaupt abzuleiten versucht, sondern sich auf unsere tatsächliche und exemplarische Erfahrung stützt, dass Begriff und Anschauung doch prinzipiell vereinbar scheinen.187 Kant führt dabei nicht so sehr die Erfahrung an, dass sich die Bedingungen der reflektierenden Urteilskraft im Erkenntnisprozess oftmals praktisch bewährt haben. Vielmehr gibt er insofern eine ästhetische Antwort, als er in der ästhetischen Erfahrung die Annahme der reflektierenden Urteilskraft, dass sich zum Besonderen in der Wahrnehmung ein Begriff finden lasse, zwar nicht in theoretischer Manier objektiv bewiesen, aber in der Empfindung subjektiv bekräftigt sieht.188 KrV, A 680/B 708. Vgl. vor allem KrV, A 650 – 657/B 678 – 685, A 663 – 670/B 691 – 698 und A 679 – 682/B 707 – 710, sowie dazu recht nachsichtig Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 593 f. 187 Weil Guyer in seinem Vergleich der reflektierenden Urteilskraft und des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft die Systematizität der empirischen Begriffe und nicht deren Bezug auf die konkreten Gegenstände der Anschauung fokussiert, fasst er zwar die innovative Frage der Kritik der Urteilskraft ins Auge, die ästhetische Antwort gerät ihm aber aus dem Blick. Er kommt so zu dem skeptischen Schluss, die Äußerungen Kants kämen: »pretty close to the surrender of such a metaphysical model of our relation to reality« (Guyer, »Reason and Reflective Judgment«, 42). 188 Kants ästhetische Antwort auf das erkenntnistheoretische Problem der Existenz eines Allgemeinen zum in der Anschauung gegebenen Besonderen entgeht auch MarcWogau, Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, 36 – 4 0, weil er »logische« und 185
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Es ist wiederum die »Erste Einleitung«, in der Kant diesen Gedanken entwickelt. In dem Abschnitt »Von der Technik der Urteilskraft als dem Grunde der Idee einer Technik der Natur« erörtert er erneut das »subjektive Prinzip der Einteilung und Spezifikation der Natur«189 und beschreibt diese notwendige Annahme der Urteilskraft nochmals mit neuen Begriffen. Eine Vorstellung der Natur, die dem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft entspricht, charakterisiert Kant nun mit Hilfe der von ihm synonym benutzten Begriffe von Technik und Kunst: Ein Gegenstand wird demzufolge unter dem Aspekt der Kunst oder Technik betrachtet, wenn er nur insofern als möglich erscheint, als er durch die Beziehung auf einen vorgestellten Zweck hervorgebracht wurde.190 Entsprechend bezeichnet die »Technik der Natur« die Vorstellung, dass die Natur selbst die ›Naturformen‹ unter Voraussetzung bestimmter Zwecke geschaffen habe.191 Kant geht davon aus, dass eine solcherart hervorgebrachte Natur auch begrifflich geordnet wäre, dass also die reflektierende Urteilskraft zu jedem Besonderen ein Allgemeines finden und die besonderen Gesetze zu einem System vereinheitlichen könnte. Denn die Naturformen wären im Bezug auf »Zwecke« gleichsam wie von einem »Verstand (wenn gleich nicht der unsrige)«192 geordnet und sollten sich daher auch für unsere Erkenntnisvermögen als ›zweckmäßig‹ »ästhetische Zweckmäßigkeit« zwar unterscheidet, aber doch nur nebeneinander stellt, statt die Vorstellung einer ästhetischen, »empfindbaren Bedingung« des logischen Gebrauchs der Urteilskraft einzubeziehen, was ich noch genauer ausführen werde. Es erweist sich hier meines Erachtens als folgenreich, dass Marc-Wogau ebd., 23 – 28, die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft in Parallele zum hypothetischen Gebrauch der Vernunft analysiert und daher das Problem der Existenz des Allgemeinen zum Besonderen der Anschauung erst gar nicht recht hervortritt. Aber genau dieses Problem ist es, das die reflektierende Urteilskraft auszeichnet und die Transformation des Transzendentalen auslöst, die Marc-Wogau nicht realisiert, wie sich z. B. in seiner Analyse des Begriffs des Schönen zeigt, vgl. ebd., 124 – 135. 189 EE , H 24. 190 »Der ursprünglich aus der Urteilskraft entspringende und ihr eigentümliche Begriff ist also der von der Natur als Kunst, mit anderen Worten der Technik der Natur in Ansehung ihrer besonderen Gesetze, welcher Begriff keine Theorie begründet […], sondern nur zum Fortgang nach Erfahrungsgesetzen, dadurch die Nachforschung der Natur möglich wird, ein Prinzip gibt.« (EE , H 9) Vgl. zum begrifflichen Verhältnis von Technik und Kunst auch EE , H 6, sowie zur philosophischen Erläuterung von Kants Formulierung ›Technik der Natur‹ Ulrike Santozki, »Kants ›Technik der Natur‹ in der Kritik der Urteilskraft«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 47 (2005), 89 – 121, bes. 94 – 99. 191 Vgl. EE , H 25 f., und zur Erläuterung Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung, 115 – 118, die aber auch hier der fragwürdigen realistischen Tendenz ihrer Deutung folgt, wenn sie letztlich der »Technik der Urteilskraft« eine »Naturtechnik« im Sinne einer »Natur in ihrer ansichseienden Struktur« vorordnet, vgl. ebd., 123 f. 192 KU, A XXV/B XXVII .
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erweisen.193 Sie sind zweckmäßig für die reflektierende Urteilskraft, weil sie betrachtet und beurteilt werden können, als ob die Natur sie nach Zwecken hervorgebracht hat und sie sich selbst dadurch als ein System spezifiziert.194 Diese »Vorstellung der Natur als Kunst«195 ist damit als gegenständliche Entsprechung des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft zu verstehen, denn es ist letztlich sie, die ihrem Prinzip folgend »technisch« und »künst lich« »verfährt« und sich dadurch die Natur als durch »Technik« oder »Kunst« hervorgebracht vorstellt.196 Die entscheidende Frage, die dieses erkenntnistheoretische Problem in ein ästhetisches im Sinne Kants überführt, ist nun die folgende: »Wie 193 Die hier zitierte Stelle spielt zusammen mit den dazugehörigen Paragraphen 76 und 77 der Kritik der Urteilskraft eine zentrale Rolle in der Diskussion über das, was man den impliziten Hegelianismus des späten Kant nennen könnte. Die Annahme eines gesetzgebenden ›Verstandes‹, die Kant in den folgenden Zeilen nochmals deutlich als ein »Prinzip« fasst, das »zum Reflektieren, nicht zum Bestimmen« dient, wäre demnach nicht Einsatzpunkt von Hegels aneignender Lektüre, sondern Zeichen für Kants eigene Entwicklung zur spekulativen Philosophie hin, vgl. Burkhard Tuschling, »The System of Transcendental Idealism: Questions Raised and Left Open in the Kritik der Urteils kraft«, in: Southern Journal of Philosophy 30 (1992), Suppl., 109 – 127, und die Kritik dazu bei Allison, »Is the Critique of Judgment ›Post-Critical‹?«. Der Klarheit halber sei hier festgestellt, dass sich diese Sicht weder mit der vorgelegten Deutung der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft und ihrer Bedingungen verträgt noch mit der folgenden Deutung des Einsatzes von Kants Analytik des Schönen. 194 Vgl. EE , H 20 f. 195 EE , H 9. 196 »Die reflektierende Urteilskraft verfährt also mit gegebenen Erscheinungen, um sie unter empirische Begriffe von bestimmten Naturdingen zu bringen, nicht schematisch, sondern technisch, nicht gleichsam mechanisch, wie [sic!] Instrument, unter der Leitung des Verstandes und der Sinne, sondern künstlich, nach dem allgemeinen, aber zugleich unbestimmten Prinzip einer zweckmäßigen Anordnung der Natur in einem System, gleichsam zu Gunsten unserer Urteilskraft, in der Angemessenheit ihrer besondern Gesetze (über die der Verstand nichts sagt) zu der Möglichkeit der Erfahrung als eines Systems, ohne welche Voraussetzung wir nicht hoffen können, uns in einem Labyrinth der Mannigfaltigkeit möglicher besonderer Gesetze zurechte zu finden.« (EE , H 18 f.) »Wir werden uns künftig des Ausdrucks der Technik auch bedienen, wo Gegenstände der Natur bisweilen bloß nur so beurteilt werden, als ob ihre Möglichkeit sich auf Kunst gründe, in welchen Fällen die Urteile weder theoretisch noch praktisch […] sind, indem sie nichts von der Beschaffenheit des Objekts, noch der Art, es hervorzubringen, bestimmen, sondern wodurch die Natur selbst, aber bloß nach der Analogie mit einer Kunst, und zwar in subjektiver Beziehung auf unser Erkenntnisvermögen nicht in objektiver auf die Gegenstände beurteilt wird. Hier werden wir nun die Urteile selbst zwar nicht technisch, aber doch die Urteilskraft, auf deren Gesetze sie sich gründen, und ihr gemäß auch die Natur, technisch nennen […].« (EE , H 6) »Also ist die Urteilskraft eigentlich technisch; die Natur wird nur als technisch vorgestellt, so fern sie zu jenem Verfahren derselben zusammenstimmt und es notwendig macht.« (EE , H 25)
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läßt sich die Technik der Natur an ihren Produkten wahrnehmen?«197 Das im Original gesperrt gedruckte ›Wahrnehmen‹ kann sich nicht, wie sich Kant beeilt zu erklären, allein auf eine gegenständliche Bestimmung beziehen, weil die Zweckmäßigkeit der Natur deren Verhältnis zum subjektiven Vermögen charakterisiert. Die Wahrnehmung der Zweckmäßigkeit eines Gegenstands muss daher letztlich dieses Verhältnis erfahrbar machen. Daher geht sie zwar von einer empirischen ›Naturform‹ aus, die aber nicht bloß als Gegenstand der Wahrnehmung bestimmt wird, sondern auch den Anlass darstellt für die »bloße Reflexion über eine Wahrnehmung«198 . Diese Reflexion vollzieht sich demnach insofern an diesem Gegenstand, als es seine Wahrnehmung ist, von der sie ausgeht. Sie unterscheidet sich als ›bloße Reflexion‹ aber vom Bemühen der reflektierenden Urteilskraft, den Gegenstand vermittels besonderer empirische Gesetze objektiv zu bestimmen. Stattdessen wendet sie sich auf die Erkenntnisvermögen zurück, deren Tätigkeit ihren Anlass in der Wahrnehmung hat, und stellt dabei insbesondere das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand ins Zentrum, das reibungslos vonstatten gehen muss, damit die reflektierende Urteilskraft zum Besonderen in der Anschauung einen allgemeinen Begriff finden kann. Die Zweckmäßigkeit des Gegenstands zeigt sich somit daran, dass anschauliche und begriffliche Synthese im Einklang stehen, wenn sich also ein Zusammenspiel ergibt zwischen der »Auffassung […] des Mannigfaltigen der Anschauung« und der »Zusammenfassung, d. i. die synthetische Einheit des Bewußtseins dieses Mannigfaltigen in dem Begriffe eines Objekts«. Nur dann kann die Tätigkeit der Urteilskraft erfolgreich sein und die »Darstellung […] des diesem Begriff korrespondierenden Gegenstandes in der Anschauung«199 bewerkstelligen. Die »innere Wahrnehmung einer Zweckmäßigkeit der Vorstellungen«200 beruht somit auf dem Erlebnis, dass sich die Bedingung, die die reflektierende Urteilskraft in ihrer Tätigkeit an jedem Gegenstand voraussetzten muss, an diesem einzelnen Gegenstand bewahrheitet. Eine solche exempla rische Bestätigung der Annahme der Urteilskraft ist aber keineswegs mit einer simplen Beobachtung des tatsächlichen Zustands der Erkenntnisver-
EE , H 25. EE , H 26. 199 EE , H 25 f. 200 EE , H 26. Eine Seite zuvor führt Kant aus: »In unserer Urteilskraft nehmen wir die Zweckmäßigkeit wahr, so fern sie über ein gegebenes Objekt bloß reflektiert, es sei über die empirische Anschauung desselben, um sie auf irgend einen Begriff (unbestimmt welchen) zu bringen, oder über den Erfahrungsbegriff selbst, um die Gesetze, die er enthält, auf gemeinschaftliche Prinzipien zu bringen.« 197 198
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mögen zu verwechseln.201 Sie beruht vielmehr darauf, dass die tatsächliche Tätigkeit der Erkenntnisvermögen mit dem Zustand, der für die reflektierende Tätigkeit der Urteilskraft gewährleistet sein muss, in Beziehung gesetzt und verglichen wird. Jene ›innere Wahrnehmung‹ muss deshalb damit einhergehen, dass in einem »bloß reflektierenden Urteile Einbildungskraft und Verstand in dem Verhältnisse, in welchem sie in der Urteilskraft überhaupt gegen einander stehen müssen, mit dem Verhältnisse, in welchem sie bei einer gegebenen Wahrnehmung wirklich stehen, verglichen, betrachtet werden«202 . Ein solches ›reflektierendes Urteil‹ bezieht das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand daher gleich in zweierlei Hinsicht ein, als tatsächlichen Zustand dieser Erkenntnisvermögen und als erforderlichen Zustand für die erfolgreiche Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft. Die Zweckmäßigkeit wird dann an einem Gegenstand erfahrbar, wenn die derart »reflektierte Wahrnehmung«203 ein reibungsloses Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand offenbart, so dass gewährleistet ist, dass die Urteilskraft zum Besonderen in der Anschauung einen allgemeinen Begriff zu finden vermag. Damit ist die Antwort auf Kants Frage, wie sich die Zweckmäßigkeit bzw. »die Technik der Natur an ihren Produkten wahr nehmen« lasse, formuliert: Wir nehmen an einem Gegenstand Zweck mäßigkeit wahr, wenn seine Wahrnehmung Anlass für eine Reflexion ist, in der ein Urteil das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand, wie es sich tatsächlich ergibt, mit demjenigen identifiziert, wie es die reflektierende Urteilskraft für jeden empirischen Gegenstand voraussetzen muss.204 Im »ästhetischen Reflexions-Urteil«205 erweist sich der Gegenstand somit als prinzipiell geeignet für den Verstand und seine Begriffe. Als ›ReflexionsUrteil‹ ist es aber ein Ausdruck des Zusammenspiels der Erkenntnisvermögen und bestimmt nicht wie das Erkenntnisurteil den wahrgenommenen 201 Vgl. zum Folgenden mit Blick auf die normative und intersubjektive Dimension des Geschmacksurteils auch Robert Pippin, »The Significance of Taste. Kant, Aesthetic and Reflective Judgment«, in: Journal of the History of Philosophy 34 (1996), 549 – 569, bes. 557 – 566. 202 EE , H 26. 203 KU, A XLIV/B XLVI . 204 »Wenn denn die Form eines gegebenen Objekts in der empirischen Anschauung so beschaffen ist, daß die Auffassung des Mannigfaltigen desselben in der Einbildungskraft mit der Darstellung eines Begriffs des Verstandes (unbestimmt welches Begriffs) übereinkommt, so stimmen in der bloßen Reflexion Verstand und Einbildungskraft wechselseitig zur Beförderung ihres Geschäfts zusammen, und der Gegenstand wird als zweckmäßig, bloß für die Urteilskraft, wahrgenommen, mithin die Zweckmäßigkeit selbst bloß als subjektiv betrachtet; wie denn auch dazu gar kein bestimmter Begriff vom Objekte erfordert noch dadurch erzeugt wird, und das Urteil selbst kein Erkenntnisurteil ist.« (EE , H 26) 205 EE , H 26.
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Gegenstand. Wenn wir einen Gegenstand als schön erleben, dann geht es nicht vorrangig um diesen Gegenstand, sondern um die »Belebung beider Vermögen (der Einbildungskraft und des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch, vermittelst des Anlasses der gegebenen Vorstellung, einhelliger Tätigkeit, derjenigen nämlich, die zu einem Erkenntnis überhaupt gehört«.206 Die Wahrnehmung, von der die ästhetische Erfahrung ausgeht, kommt dem Begriff demnach gleichsam entgegen, indem sie »zweckmäßige Gestalten« präsentiert, »d.i. die Form, an deren Vorstellung Einbildungskraft und Verstand wechselseitig miteinander zur Möglichkeit eines Begriffs von selbst zusammenstimmen«. 207 Die Erfahrung wird so in einen spezifisch ästhetischen Modus versetzt, in dem die Vermögen der Erkenntnis und in erster Linie Verstand und Einbildungskraft in ein produktives Zusammenspiel eintreten, das in jeder objektiven Erkenntnis vorausgesetzt ist. Dieses Zusammenspiel ist in der ästhetischen Erfahrung jedoch nicht durch den Begriff des Gegenstands gebunden und auf seine objektive Bestimmung ausgerichtet. Worauf es ankommt, ist allein, dass sich im Schönen erfahren lässt, wie die Erkenntnisvermögen ›zur Möglichkeit eines Begriffs von selbst zusammenstimmen‹, ohne dass der Gegenstand wie in der Erkenntnis auf den Begriff gebracht wird: »Das Wohlgefallen am Schönen muß von der Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgend einem Begriffe (unbestimmt welchem) führt, abhängen«.208 Das Zusammenspiel ist in diesem Sinne frei und zugleich mit der Empfindung der Belebung und Lebendigkeit der Vermögen verbunden. Es weist die Voraussetzungen der reflektierenden Urteilskraft und der empirischen Erkenntnis daher nicht nur exemplarisch auf, sondern bekräftigt die Annahme der Zweckmäßigkeit der Gegenstände für unsere Erkenntnisvermögen auch durch die Lebendigkeit der ästhetischen Erfahrung.209 Es ist dieser Umstand, dass sich die subjektiv, aber nicht objektiv notwendige Bedingung der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft am schönen Gegenstand bewahrheitet, der nicht nur die »Bewunderung« hervorruft, zu der »schwerlich jemand anders als 206 KU, A 31/B 31. Nur weil das ästhetische Urteil damit auf die Bedingungen der Erkenntnis überhaupt bezogen ist, kann es, wenn nicht objektiv, da auf keinen Gegenstand bezogen, so doch subjektiv allgemein sein, weil diese Bedingungen von Erkenntnis von allen erkenntnisfähigen Subjekten geteilt werden, vgl. KU, A 17 – 26/B 17 – 26, und dazu Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung, 179 – 181. 207 EE , H 38, vgl. auch ebd., H 17, 37 und 40. 208 KU, A 11/B 11. Vgl. zur Beziehung des Schönen zur Zweckmäßigkeit auch KU, A XLIIf./B XLIVf. und A XLVIIf./B XLIX f. 209 Vgl. dazu auch Wolfgang Wieland, »Die Erfahrung des Urteils. Warum Kant keine Ästhetik begründet hat«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), 604 – 623, bes. 620 f.
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etwa ein Transzendental-Philosoph fähig sein«210 kann, sondern auch bei jedermann die Empfindung der Lust erregt, die dem ästhetischen Urteil zu Grunde liegt.211 Im Zentrum dieser Analyse der ästhetischen Erfahrung steht somit keine Begründung, aber doch die Bekräftigung der Annahme der reflektierenden Urteilskraft, zum Besonderen ein Allgemeines finden zu können.212 Diese subjektiv-notwendige Annahme ist deshalb auch als eine »subjektive bloß empfindbare Bedingung des objektiven Gebrauchs der Urteilskraft« zu verstehen. 213 Anders als in Baumgartens oder Hegels Ästhetiken stehen am Beginn der Kritik der Urteilskraft somit nicht Fragen der bildenden Kunst oder eine Charakteristik der Kunsterfahrung, weshalb es auch zumindest irreführend ist, sie als ›Kants Ästhetik‹ zu bezeichnen. 214 Denn Kants »bloß reflektierendes Urteil« bezieht sich gleich in verschiedener Hinsicht auf keinen ästhetischen Gegenstand. Wie bereits gesagt wurde, bezieht es sich ganz allgemein nicht vorrangig auf den Gegenstand, dessen Anschauung allein als Anlass für eine ›reflektierte Wahrnehmung‹ fungiert. Deshalb kritisiert Kant auch Baumgarten, der den Begriff der Ästhetik in die Philosophie eingeführt und eng mit der Bestimmung des ästhetischen Ge EE , H 21. »Eben so wird das ästhetische Reflexionsurteil uns in seiner Auflösung den in ihr enthaltenen auf einem Prinzip a priori beruhenden Begriff der formalen aber subjektiven Zweckmäßigkeit der Objekte darlegen, der mit dem Gefühle der Lust im Grunde einerlei ist, aber aus keinen Begriffen abgeleitet werden kann; auf deren Möglichkeit überhaupt gleichwohl die Vorstellungskraft Beziehung nimmt, wenn sie das Gemüt, in der Reflexion über einen Gegenstand, affiziert.« (EE , H 37). Vgl. auch KU, A XXXVII – X XXIX / B XXXIX – X LI . 212 Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung, 102, Fn. 10, spricht so mit Blick auf das »Problem des Schönen« und die »Erfahrungslogik« vollkommen zu Recht von einer »Problemverschlingung« in der »Ersten Einleitung«. 213 EE , H 30. Kant führt aus: »Ein ästhetisches Urteil im allgemeinen kann also für dasjenige Urteil erklärt werden, dessen Prädikat niemals Erkenntnis (Begriff von einem Objekte) sein kann (ob es gleich die subjektive Bedingungen zu einem Erkenntnis überhaupt enthalten mag).« Deshalb gehört Kant zufolge das ästhetische Urteil »seinen Prinzipien« nach »zum obern Erkenntnisvermögen und zwar zur Urteilskraft, unter deren subjektive und doch dabei allgemeine Bedingungen die Vorstellung des Gegenstandes subsumiert wird« (EE , H 31). Vgl. auch die enge Verknüpfung der Prinzipien der ästhetischen Reflexionsurteile und der empirischen Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft in EE , H 38 f. 214 Dies ist auch durchaus wörtlich zu nehmen, denn zu Beginn der Vorrede ruft Kant genau den rekonstruierten Zusammenhang der konstitutiven Begriffe des Verstandes, des regulativen Gebrauchs der Vernunft sowie der Frage nach den Bedingungen und Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft auf, vgl. KU, A III–V/B III–V. Die verbreitete Auffassung der Kritik der Urteilskraft als ›Kants Ästhetik‹ wurde kritisch hinterfragt von Wieland, »Die Erfahrung des Urteils«, 604 – 610. 210 211
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genstands und seiner Vollkommenheit verknüpft hatte.215 Kant kommt es zudem nicht auf den ästhetischen Reichtum des sinnlichen Gegenstands und seiner konkreten Attribute an, der wie bei Baumgarten in Spannung stünde zur Klarheit und den wenigen Merkmalen eines Begriffs, weshalb die ästhetische Darstellung einen ausgewogenen, harmonischen Kompromiss zwischen diesen beiden Polen anstreben muss. Vielmehr erweist sich der Gegenstand des ästhetischen Urteils als zweckmäßig für die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft und damit insbesondere als geeignet für die begriffliche Erkenntnis. Schließlich sieht Kant aufgrund des erkenntnistheoretischen Hintergrunds seiner Überlegungen Kunstwerke noch nicht einmal als taugliche Anlässe für das ›ästhetische Reflexions-Urteil‹. Denn die Annahme der reflektierenden Urteilskraft, dass die Gegenstände unserer Wahrnehmung zweckmäßig für unsere Erkenntnisvermögen sind, kann in der Wahrnehmung von Kunstwerken keine Bestätigung erfahren: Von Kunstwerken wissen wir nämlich, dass sie von einem Menschen unter Verfolgung eines Zwecks hervorgebracht wurden, so dass ihre Zweckmäßig keit schlicht notwendig scheint. 216 Die eigentliche Bewährungsprobe des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft ist daher nicht an menschlichen Produkten zu suchen, sondern an ›Naturformen‹. Das ästhetische Urteil geht so in seiner Reflexion von ›Naturformen‹ wie der »Wildblume« aus, bei denen wir von einem vorgängigen Zweck nichts wissen können. 217 Sie können uns aber gerade deshalb erfahren lassen, dass sich die unbeweisbare Annahme der reflektierenden Urteilskraft zumindest im Einzelfall bewahrheitet. Die »Zweckmäßigkeit«, die die reflektierende Urteilskraft Vgl. zur subjektiven, nicht objektiven Bestimmung des ästhetischen Urteils EE , H 27 – 31, und zu der daraus folgenden Kritik an Baumgarten EE , H 33 – 37, und KU, 215
A 43 – 48/B 44 – 48. Vgl. zur Vollkommenheit bei diesem selbst Alexander G. Baumgarten, Ästhetik, übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, Lateinisch-deutsch, Band 1 und 2, Hamburg 2007, hier Bd. 1, Abschnitt XXIV: »Das absolute ästhetische Streben nach Wahrheit«, 532 – 545 (§§555 – 565). Vgl. X zur Erläuterung des vielschichtigen Begriffs der perfectio die »Einführung« der Herausgeberin ebd., XV – L XXX , hier LIII – L XV. 216 Vgl. EE , H 41, 49 f. und 68 f., sowie KU, A 165 – 178/B 167 – 180. 217 »Allein, daß man sie [menschliche Produkte, von denen wir den Zweck nicht kennen, A. S.] für ein Kunstwerk ansieht, ist schon genug, um gestehen zu müssen, daß man ihre Figur auf irgend eine Absicht und einen bestimmten Zweck bezieht. Daher auch gar kein unmittelbares Wohlgefallen an ihrer Anschauung. Eine Blume hingegen, z. B. eine Tulpe, wird für schön gehalten, weil eine gewisse Zweckmäßigkeit, die so, wie wir sie beurteilen, auf gar keinen Zweck bezogen wird, in ihrer Wahrnehmung angetroffen wird.« (KU, A 60 f./B 61, Anm.) Vgl. zur »Blume« als paradigmatisches Beispiel auch folgende Stellen KU, A 11 f./B 11 f., A 24/B 24, A 48/B 49, sowie allgemein zu den Beispielen in Kants Theorie des Schönen und Erhabenen Gernot Böhme, Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, Frankfurt a. M. 1999, 19 – 29 und 83 – 107.
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und alle empirische Erkenntnis überhaupt stets voraussetzt, kann somit nur anhand von solchen »besonderen Naturformen jederzeit empirisch gegeben werden«218 . Kants Analyse der Erfahrung der Zweckmäßigkeit am schönen Gegenstand stellt somit eine Antwort auf das erkenntnistheoretische Ausgangsproblem der Kritik der Urteilskraft dar.219 Es stellt sich abschließend jedoch umso mehr die Frage, warum Kant das ›bloß reflektierende Urteil‹ als ästhetisch bezeichnet. Der Grund liegt genau darin, dass es keinen Gegenstand bestimmt, sondern sich zuallererst auf das Subjekt bezieht, so dass es sich im strengen Sinne auch um gar kein Urteil handelt. 220 Die ›zweck mäßige Gestalt‹ eines schönen Gegenstands erregt die Tätigkeit der Erkenntnisvermögen und die Lust an ihrem produktiven Zusammenspiel, die als rein subjektive Empfindung in gar keiner Weise auf einen Gegenstand zu beziehen ist.221 Es ist dieser rein reflexive Bezug auf das Subjekt und die Empfindung seiner Lust, der für Kant begründet, warum das »bloß reflektierende Urteil« ästhetisch zu nennen ist. In der ästhetischen Erfahrung geht es nichtsdestotrotz keineswegs allein um eine bloß subjektive Empfindung. Denn diese Empfindung stellt zugleich eine Bekräftigung der subjektiv-notwendigen Annahme der reflektierenden Urteilskraft dar und damit der spezifischen Bedingung genuin empirischer Erkenntnis. Sie nährt so in der Erfahrung des Schönen die Hoffnung auf eine »Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen«222 , die in keiner Weise auf die apriorischen Bedingungen des Erkennens zu begrün EE , H 55. So stellt auch Klaus J. Schmidt, »Die Begründung einer Theologie in Kants Kritik der Urteilskraft«, in: Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, 137 – 169, hier 141, fest: »Der ästhetische Zugang avanciert damit zum eigentlichen Fundament der Theorie der besonderen Erfahrung – der empirischen Naturforschung –, denn ohne die ›ästhetische Urteilskraft‹, d.h. ohne ihr Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit, ›könnte‹ sich der Verstand ›in sie [d.i. die Natur] nicht finden‹.« Es sei diesem zutreffenden Befund lediglich die Frage angefügt, inwieweit hier von ›Fundament‹ die Rede sein kann. Diese systematische Funktion des ästhetischen Urteils verkennt Hannah Ginsborg, »Reflective Judgment and Taste«, in: Noûs 24 (1990), 63 – 78, bes. 75 f., wenn sie es in ihrer lesenswerten Erörterung mit dem reflektiven Erkenntnisurteil auf das »principle of the systematicity of nature« verwiesen glaubt. 220 Vgl. auch in Abhebung von der »Transzendentalen Ästhetik« der Kritik der reinen Vernunft EE , H 27 – 31 und 61 f., sowie KU, A 3 – 5/B 3 – 5. 221 Vgl. KU, A XIf./B XLIIf., und zur Erläuterung Wieland, »Die Erfahrung des Urteils«, 614 – 618. Die angeführte Bestimmung der Lust schließt das »Sinnenurteil« aus, das dem Angenehmen gilt und sich dabei auf eine Empfindung bezieht, die unmittelbar vom Gegenstand der Wahrnehmung und nicht vom Zusammenspiel der subjektiven Vermögen hervorgerufen wird, vgl. dazu EE , H 30 f., und KU, A 7 – 10/B 7 – 10. 222 KU, A XXXIV/B XXXVI . 218 219
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den ist.223 Ungeschützter und freimütiger formuliert Kant diesen Gedanken in einer Reflexion aus dem Nachlass: »Die Schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme.«224 Dieser systematische Einsatz ist in der Kritik der Urteilskraft wie in ihrer »Ersten Einleitung« zu erkennen, 225 wenngleich Kant in der veröffentlichten Fassung der Einleitung wiederum stärker dazu neigt, hinsichtlich der subjektiv-notwendigen Annahmen der reflektierenden Urteilskraft von einem »bloß subjektiven a priori«226 zu sprechen und damit die empirische Seite der Bedingungen der reflektierenden Urteilskraft in den Hintergrund zu spielen.227 Dennoch bleibt unverkennbar, wie sich der Begriff des Transzendentalen transformiert und sich das Verhältnis des Subjekts zur Welt gewandelt hat. Denn die Bedingungen der reflektierenden Urteilskraft lassen sich nicht mehr a priori begründen, sondern nur in der empirischen Erkenntnis an den Gegenständen bewahrheiten oder in der Lust am Schönen empfinden. Die transzendentale Reflexion, die es seit der Kritik der reinen Vernunft allein auf apriorische Bedingungen abgesehen hatte, muss dadurch aber ihre Form verändern.228 Sie stößt auf die Grenzen des Ansatzes der Kri 223 »Eine Vorstellung, die, als einzeln und ohne Vergleichung mit andern, dennoch eine Zusammenstimmung zu den Bedingungen der Allgemeinheit hat, welche das Geschäft des Verstandes überhaupt ausmacht, bringt die Erkenntnisvermögen in die proportionierte Stimmung, die wir zu allem Erkenntnisse fordern, und daher auch für jedermann, der durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urteilen bestimmt ist (für jeden Menschen), gültig halten.« (KU, A 31 f./B 31 f.) Vgl. zu dieser »Zusammenstimmung« auch KU, A XLIII/B XLV, sowie EE , H 17 und 39. 224 Kants Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 16, Abt. 3: Handschriftlicher Nachlaß, Bd. 3: Logik, Berlin 1914, 127. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich einem Teilnehmer meiner Seminare an der Universität Basel, Dominique Laleg. 225 Die hier ins Zentrum gestellte Problemstellung der »Ersten Einleitung« wäre neben den bereits angeführten Stellen und Zitaten vor allem auch anhand Abschnitt »V. Das Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit der Natur ist ein transzendentales Prinzip der Urteilskraft« in KU, A XXVII – X XXVI/B XXIX – X XXVIII, nachzuvollziehen. 226 KU, A XXI/B XXI . 227 Nach KU, A XXIX/B XXXI, soll so in »einer transzendentalen Deduktion« »der Grund, so zu urteilen, in den Erkenntnisquellen a priori aufgesucht werden«. 228 »Die Überlegung (reflexio) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu tun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen, sondern ist der Zustand des Gemüts, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können. Sie ist das Bewußtsein des Verhältnisses gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnisquellen, durch welches allein ihr Verhältnis unter einander richtig bestimmt werden kann.« (KrV, A 260/B 316)
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tik der reinen Vernunft, »daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten«229, weil nur von den allgemeinsten und apriorischen Bedingungen der Erkenntnis gilt, dass wir sie den Gegenständen unserer Erkenntnis vorschreiben können. Für die empirische Erfahrung und ihre spezifischen Bedingungen gilt dagegen, dass wir uns nach den besonderen Gegenständen und der konkreten Natur ›richten‹ müssen: »Ein solches transzendentales Prinzip kann also die reflektierende Urteilskraft sich nur selbst als Gesetz geben, nicht anderwärts hernehmen (weil sie sonst bestimmende Urteilskraft sein würde), noch der Natur vorschreiben; weil die Reflexion über die Gesetze der Natur sich nach der Natur, und diese nicht nach den Bedingungen richtet, nach welchen wir einen in Ansehung dieser ganz zufälligen Begriff von ihr zu erwerben trachten.«230 Die Transformation des Transzendentalen und die Erweiterung der transzendentalen Reflexion um subjektiv, aber nicht objektiv notwendige Bedingungen unserer Erfahrung fasst damit auch ein anderes Verhältnis zur Welt ins Auge, als es die Kritik der reinen Vernunft getan hatte. Dieses neue Verhältnis bildet den Spielraum, in dem die ästhetische Erfahrung der Kritik der Urteilskraft ihren Ort hat. Denn sie lässt uns exemplarisch erfahren, dass die Gegenstände den subjektiv-notwendigen Bedingungen der Urteilskraft entgegenkommen, wo dies objektiv keineswegs notwendig ist, und bestärkt damit zugleich unsere Hoffnung auf eine ›Zusammenstimmung‹ mit der Natur, die wir selbst nicht gewährleisten können.231 229 KrV, B XVI . Vgl. eine ähnliche Formulierung in der »Transzendentalen Deduktion« in KrV, B 163. 230 KU, A XXV/B XXVII . 231 Wie eng die Kritik der Urteilskraft mit der Erweiterung und Transformation der Bedingungen der Erfahrung verbunden ist, zeigt sich auch an der Entwicklung des Begriffs der Darstellung, der für Kants Denken von zunehmend zentraler Bedeutung ist. Von ›Darstellen‹ spricht Kant in der Kritik der reinen Vernunft zunächst ausschließlich im Falle der mathematischen Erkenntnis und der Konstruktion einer geometrischen Figur, vgl. Arno Schubbach, »Von den Gründen des Triangels bei Kant«, in: Gottfried Boehm und Matteo Burioni (Hg.), Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München 2012, 361 – 386, und ders., »Kants Konzeption der geometrischen Darstellung. Zum mathematischen Gebrauch der Anschauung«, in: Kant-Studien, im Erscheinen. Der Begriff wird bis zur Kritik der Urteilskraft sodann dahingehend ausgeweitet, dass jeder und nicht allein der konstruktive Bezug des Begriffs auf eine Anschauung des Gegenstands und damit letztlich jede Form von Erkenntnis als ›Darstellung‹ begriffen wird, vgl. Arno Schubbach, »Darstellung und Ereignis. Gadamers Bildbegriff zwischen Platon und Kant«, in: Dominic Delarue u. a. (Hg.), Das Bild als Ereignis. Zur Lesbarkeit spätmittelalterlicher Kunst mit Hans-Georg Gadamer, Heidelberg 2012, 103 – 126. Erkennbarkeit heißt demnach Darstellbarkeit, aber genau diese Darstellbarkeit hat sich im empirischen Fall und im Ausgang von der Gegebenheit konkreter Gegenstände als eine problematische Annahme der reflektierenden Erkenntnis erwiesen, da sie nicht allein apriorische, sondern
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Cassirers Anschlüsse: Spezifikation und Systematizität des Symbolischen Der erkenntnistheoretische Hintergrund der Kritik der Urteilskraft wurde in den vorangehenden Abschnitten gesondert dargelegt, um der Komplexität der kantischen Fragestellung soweit möglich gerecht zu werden. Im Folgenden soll auf dieser Grundlage nun gezeigt werden, wie Cassirer daran anschließt, um seiner Philosophie einen Weg über die Grenzen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie hinaus zu bahnen.232 Ich werde daher Cassirers Deutung von Kant und seine systematischen Anschlüsse in der Theorie des wissenschaftlichen Begriffs und der Konzeption der »Philosophie des Symbolischen« im wechselseitigen Bezug aufeinander erläutern. Es wird sich zeigen, dass die Kritik der Urteilskraft und ihre »Erste Einleitung« schon bald nach deren erstmaligem Erscheinen im Jahr 1914 sowohl in interpretatorischer als auch systematischer Hinsicht ins Zentrum von Cassirers Interesse gerückt waren. Er arbeitet so nicht nur in seiner Deutung von Kant heraus, wie Kant das Verhältnis von allgemeinen und spezifischen, apriorischen und empirischen Bedingungen der Erkenntnis behandelt, sondern schließt an diese Erörterung auch systematisch an, um seine Philosophie über die Erkenntniskritik hinaus zu erweitern und eine umfassende »Philosophie des Symbolischen« zu konzipieren. Cassirers Deutung von Kant um 1917 ist vor allem in Kants Leben und Lehre, das 1918 als »Abschluß« der von Cassirer verantworteten Ausgabe von Kants Werken erschien, in aller Ausführlichkeit dokumentiert. Das auch in der Empirie zu bewährende Bedingungen voraussetzen muss. Diese Entwicklung des Darstellungsbegriffs scheint mir eng verbunden mit wissenschaftsgeschichtlichen und literatur- wie kunsthistorischen Entwicklungen der Zeit, wie ich in einem neuen Projekt zu zeigen versuche. Vgl. zur bisherigen Diskussion des Darstellungsbegriffs die wichtigen Artikel von Winfried Menninghaus, »›Darstellung‹. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt »Darstellen«?, Frankfurt a. M. 1994, 205 – 226, und Thomas Sören Hoffmann, »›Darstellung des Begriffs‹. Zu einem Grundmotiv neueren Philosophierens im Ausgang von Kant«, in: Hubertus Busche und Anton Schmitt (Hg.), Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens, Würzburg 2011, 101 – 118. Vgl. darüber hinaus mit Blick auf Cassirers Verständnis der Darstellung Barbara Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998, 52 – 65. 232 Vgl. zu Cassirer und Kant auch die erhellende Studie von Christiane Schmitz- Rigal, Die Kunst offenen Wissens. Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik, Hamburg 2002 (= Cassirer-Forschungen, 7). Sie wählt einen anderen methodischen Zugang, indem sie Cassirers Deutung von Kant und seine Wissenschaftstheorie nicht in der Fluchtlinie einer produktiven Problemlage Kants fasst, sondern sie von einer klassischeren Auffassung der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Ur teilskraft abhebt, vgl. ebd., 24 – 50.
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»Manuskript« lag nach der Auskunft des Vorworts »schon im Frühjahr 1916 druckfertig«233 vor und wurde demnach noch vor der Disposition der »Philosophie des Symbolischen« verfasst. Das umfangreiche Kapitel zur Kritik der Urteilskraft zeigt nicht nur, dass Cassirer diesem Werk nun einen höheren Stellenwert zumisst als beispielsweise noch im zweiten Band von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit von 1907.234 Es belegt auch, wie zentral die »Erste Einleitung« für Cassirers Deutung der dritten Kritik geworden war. Denn Cassirer billigt ihr nicht nur die »zugleich tiefste und umfassendste Darstellung der Grundfrage« der Kritik der Urteilskraft zu. Er stützt auf sie auch die These »einer Veränderung in der wechselseitigen systematischen Stellung aller bisher gewonnenen und festgesetzten kritischen Grundbegriffe«235 . Cassirer beschränkt sich offenbar nicht darauf, die Kritik der Urteilskraft als eine Ästhetik im nachhegelschen Sinne zu verbuchen oder sie als systematischen Schlussstein der kritischen Philosophie zu verstehen. Er sieht Kant nicht als den zwanghaften ›architektonischen Geist‹, als der er oft gesehen wurde, sondern als einen Philosophen, der mit den Problemen auch dann noch gerungen hat, als sie für manchen Kantianer längst gelöst zu sein schienen.236 Cassirer arbeitet so anhand der »Ersten Einleitung« das sachliche Problem heraus, das Kant überhaupt dazu veranlasste, seinen zwei Kritiken eine dritte hinzuzufügen, und wird aus diesem historischen Unterfangen für seine eigene Philosophie systematischen Nutzen ziehen.237 Nachdem Cassirer in Kants Leben und Lehre die Unterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft eingeführt hat, kommt er sogleich auf das grundlegende »Problem der Begriffsbildung«238 zu sprechen und lässt einen nicht untypischen philosophiegeschichtlichen Rückblick folgen, der mit Sokrates, Platon und Aristoteles einsetzt. Dieser Rück ECW 8, VIII . Das letzte Kapitel des Bandes ist Kant und der Kritik der reinen Vernunft gewidmet, wobei zum Abschluss die Perspektive auf die Ethik eröffnet wurde, vgl. ECW 3, 635 – 638. Dieser Schluss wurde anscheinend unverändert aus der ersten Auflage von 1907 übernommen. »Kants Aesthetik« wird dabei nur einmal erwähnt, unter dem sehr traditionellen Gesichtspunkt ihrer »systematischen Verknüpfung« von Freiheit und Kausalität. Die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft für die Frage der Erkenntnis ist hier noch nicht gesehen. 235 ECW 8, 276. 236 Gegen das Klischee von Kants ›systematischem Geist‹, das wohl wesentlich auf Erich Adickes zurückgeht und interpretatorisch nur wenig Nutzen stiftet, hat sich vehe ment bereits McLaughlin, Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 132 – 135, ge wendet. 237 Vgl. ECW 8, 261 – 263 und 283, sowie ECW 9, 211 f. 238 ECW 8, 265. 233
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blick hat vor allem zur Aufgabe, die gemeinsame Behandlung der Begriffe des Zwecks und des Schönen in der Kritik der Urteilskraft zu rechtfertigen, indem ihre traditionelle Verknüpfung in einigen wenigen, eiligen Schritten nachvollzogen wird. Cassirer rückt dabei immer wieder das »Verhältnis des Besonderen und des Allgemeinen ins Zentrum, das durch den Begriff ausgedrückt wird«.239 Die »spekulative Metaphysik« versuche dieses problematische Verhältnis durch die Annahme aufzuklären, dass die »Geformtheit, die das Wirkliche im Ganzen wie in seinen einzelnen Teilen im Allgemeinen und Besonderen aufweist«, durch einen »höchsten, absoluten Verstand« gewährleistet werde: »Das Wirkliche ist Form und hat Form, weil hinter ihm eine bildende Intelligenz und ein oberster Formwille stehen.«240 Diese »metaphysisch-spekulative Entwicklung des Formproblems« bereitet nach Cassirers Darstellung nicht nur die bekannte kantische Unterscheidung des ›intellectus archetypus‹ und des ›intellectus ectypus‹ vor, die Cassirer am Ende des Kapitels nochmals aufnimmt.241 Sie greift vor allem, wie Cassirer über Spinoza eiligen Schrittes bis ins 18. Jahrhundert verfolgt, auf die »transzendentale Voraussetzung« der reflektierenden Urteilskraft vor.242 Denn in der Perspektive der kritischen Philosophie werde der »Standpunkt des unbedingten und schöpferischen Intellekts« an die »empirische Betrachtungsweise« der Klassifikation zurückgebunden, die das Einzelne nur unter der Annahme einer durchgängigen Geformtheit der Welt unter allgemeine Begriffe zu bringen und in seiner spezifischen Ordnung zu fassen vermag.243 Cassirer entwickelt seine Sicht auf die Kritik der Urteilskraft somit vor dem Hintergrund dessen, was in den vorangehenden Abschnitten als ihr ECW 8, 265. ECW 8, 268 f. 241 Vgl. ECW 8, 336 – 3 41. 242 Vgl. ECW 8, 288 – 290. 243 »Für die empirische Betrachtungsweise, die von den Einzeldingen ausgeht und die in der Vergleichung und Zusammenfassung des Einzelnen befangen bleibt, gibt es keinen anderen Weg, zur Gesetzlichkeit des Wirklichen vorzudringen, als auf die Übereinstimmungen und Unterschiede des Besonderen zu merken und es dadurch in Klassen und Arten, in empirische ›Begriffe‹ zu vereinen. Aber wie wäre selbst diese empirische Begriffsform, als eine Verknüpfung der Besonderheiten in Raum und Zeit zu logischen Gattungen, möglich, wenn nicht tatsächlich das Wirkliche so geordnet wäre, daß es zur Form eines Gedankensystems tauglich und geschickt wäre? Überall dort, wo wir scheinbar nur Einzelheit an Einzelheit aneinanderreihen, um vom besonderen Fall zur Gattung überzugehen und diese wieder in Arten zu sondern, waltet daher implizit bereits eine tiefere Voraussetzung. Ohne die Annahme, daß die Welt als Gesamtheit eine durchgreifende, alles umfassende logische Struktur besitzt, so daß kein Element in ihr gefunden werden kann, das gänzlich außerhalb des Zusammenhangs mit allen übrigen liegt, würde auch die bloße empirische Vergleichung und Klassifikation jeglichen Halt verlieren.« (ECW 8, 269) 239
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erkenntn istheoretisches Ausgangsproblem rekonstruiert wurde. Kant führte die reflektierende Urteilskraft und ihre Annahme spezifischer Gesetze ein, um über die Physik hinaus, die das Paradigma der Erkenntnis in der Kritik der reinen Vernunft dargestellt hatte, auch der Biologie und der Chemie, der Eigenart ihres empirischen Wissens und ihrer methodischen Annahmen Rechnung zu tragen. Cassirer verfolgt diesen Rückgang Kants auf die Prämissen seiner Philosophie sehr genau und arbeitet dabei die konzeptionelle Herausforderung der empirischen Erkenntnis für die kritische Philosophie heraus. Er erläutert das praktische Vorgehen und die Schwierigkeiten der empirischen Forschung nicht nur anhand von Physik und Biologie.244 Er billigt der Biologie darüber hinaus ein eigenes Recht und eine eigene Form des Wissens zu, so dass er schließlich die Frage erörtert, inwieweit die Physik und die Kausalität mit der Biologie und ihrer Teleologie in Widerstreit geraten. Wie es bis heute diskutiert wird, argumentiert Cassirer dabei, dass beider Prinzipien – Mechanismus und Teleologie – von heuristischem Charakter sind und sie somit als sich ergänzende Maximen der reflektierenden Urteilskraft begriffen werden können.245 Wenn Cassirer diesen scheinbar bloß historischen, aber systematisch äußerst folgenreichen Zusammenhang in Kants Leben und Lehre mit großer Aufmerksamkeit nachvollzieht, dann muss er diese Erörterung zugleich auch als eine Infragestellung der grundlegenden Annahmen seiner eigenen Theorie des wissenschaftlichen Begriffs verstehen. Das Verhältnis von Physik und Biologie ist so für Cassirer wie schon für Kant nicht nur ein Beispiel in einer gut begründeten und entfalteten philosophischen Argumentation. Es stellt vielmehr erneut eine Herausforderung dar und wird Cassirer dazu zwingen, auf die bisherigen Überlegungen zu den Bedingungen der Erkenntnis und die Aufgabe der philosophischen Reflexion zurückzugehen, um sie erneut auf die Probe zu stellen. Denn Cassirer hatte sich wie Kant, aber auch sein Lehrer Cohen zunächst eng an den exakten Wissenschaften orientiert und an ihnen seine Theorie des funktionalen Begriffs ausgearbeitet. Diese Theorie sollte für alle Formen der Erkenntnis gelten und verlegte die Anfänge der wissenschaftlichen Erkenntnis bereits in die einfache Wahrnehmung. Doch zugleich blieb sie unverkennbar von der mathematischen Physik geprägt und tat sich daher auffällig schwer mit anderen Disziplinen. In Substanzbegriff und Funktionsbegriff wurden die »beschreibend-klassifikatorischen Wissenschaften« so mit der Aristotelisch-empiristischen Theorie des Begriffs Er belegt sie zunächst an der Physik von Galilei bis Newton, um sie dann aber an der Biologie und in anderen »beschreibend-klassifikatorischen Wissenschaften« in voller Schärfe hervortreten zu lassen, vgl. ECW 8, 279 – 282. 245 Vgl. ECW 8, 327 – 336, bes. 332 f. 244
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assoziiert, gegen die Cassirer sich in erster Linie kritisch wenden wollte.246 Und die Chemie erlangte einen auffälligen Sonderstatus, der sie von den anderen behandelten Disziplinen deutlich abhob.247 So fern es Cassirer zunächst lag, Biologie und Chemie als erkenntnistheoretische Herausforderungen ernst zu nehmen, so sehr musste er die durch sie motivierte kantische Revision der Grundlagen der kritischen Philosophie als Rückfrage auch an die eigene Philosophie verstehen. Die Lektüre der »Ersten Einleitung« stellt so zunächst für Cassirers Theorie des Begriffs einen Einschnitt dar, da sie deren Voraussetzungen teilweise in Frage stellte. Diese These wird besonders nachdrücklich belegt durch den Aufsatz »Die Grundprobleme der Kantischen Methodik und ihr Verhältnis zur nachkantischen Spekulation« von 1914, der noch ganz unter dem Eindruck der »Ersten Einleitung« der Kritik der Urteilskraft steht.248 Cassirer hebt in diesem Aufsatz nicht nur Kants Revision der Grundlagen der kritischen Philosophie hervor, er berührt auch die Konsequenzen für seine eigene Philosophie. Die Kritik der reinen Vernunft erscheint nun geradezu als ein erster Anlauf, die Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem Vgl. ECW 6, 10 f. und 285 f. Cassirer scheint in Substanzbegriff und Funktionsbegriff so mitunter anzunehmen, die Chemie würde sich über die Zahl der Mathematik angleichen, vgl. ECW 6, 222 f. und 235 – 240; mitunter unterscheiden sich ihre Begriffe nach Cassirers Analyse aber wesentlich von anderen wissenschaftlichen Grundbegriffen. Den chemischen Begriff des Atoms versteht Cassirer z. B. als Idee im Sinne Kants, so dass das eher substantiale Verständnis seitens der Chemiker in Konflikt gerät zur erkenntniskritischen Analyse, vgl. ebd., 228 – 230. Diese Analyse unterscheidet sich frappant von Cassirers Zugriff auf die Physik, bleibt jedoch letztlich recht unklar. Auch Hermann Cohen hatte zunächst gehofft, dass sich Biologie und Chemie in Mathematik auflösen ließen, vgl. exemplarisch Cohen, Das Princip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, Berlin 1883 (= Werke, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv unter der Leitung von Helmut Holzhey, 5, I), 143 f., und ders., Einleitung mit kritischem Nachtrag zur neunten Auflage der »Geschichte des Materialismus« von Friedrich Albert Lange in dritter, erw. Auflage, Leipzig 1914 (= Werke, 5, II), 70 f. Später hat er diese Hoffnung allerdings aufgegeben und Biologie und Chemie in sein System zu integrieren versucht, vgl. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, zweite neubearbeitete Auflage, Berlin 1885, 56 – 59 und 508 – 516. Meines Wissens wird Cassirer die Eigenständigkeit des chemischen ›Gegenstands‹ erstmals 1920 in Zur Einsteinschen Re lativitätstheorie unumwunden feststellen, vgl. ECW 10, 112 f., als er seine Konsequenzen aus der Kritik der Urteilskraft längst gezogen hatte und die Arbeit an der »Philosophie des Symbolischen« bereits fortgeschritten war. 248 Vgl. Ernst Cassirer, »Die Grundprobleme der Kantischen Methodik und ihr Verhältnis zur nachkantischen Spekulation«, in: ECW 9, 201 – 216. Cassirer nennt die »Erste Einleitung« 1914 allerdings nicht explizit, ein solcher Verweis findet sich erst im Wiederabdruck des Textes für die Einleitung des dritten Bandes von Das Erkenntnis problem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit von 1920, vgl. ECW 4, 13, Fn. 5. 246 247
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und Besonderem zu formulieren, was aber erst der Kritik der Urteilskraft befriedigend gelingt: Statt die Differenz des Allgemeinen und Besonderen mit der Unterscheidung von Form und Materie und von Begriff und Anschauung unreflektiert gleichzusetzen und damit letztlich jede Spezifizierung von Gesetzen nur als ihre Schematisierung für eine Anschauung verstehen zu können, führt die dritte Kritik – und es klingt hier vor allem auch ihre »Erste Einleitung« an – erstmals die unterschiedlichen Ebenen der Allgemeinheit und der Besonderung ein, indem sie nach den spezifischen Gesetzen fragt, die der Biologie wie der Physik eigentümlich sind: »In der ersten Fassung der Frage fällt die Allgemeinheit im wesentlichen mit der Verstandesregel, die Besonderheit mit dem Datum der sinnlichen Anschauung zusammen. Die ›Kritik der Urteilskraft‹ hebt demgegenüber das Problem sogleich auf einen höheren Standpunkt, indem sie nach dem Grund und dem transzendentalen Recht der Besonderung der Verstandes gesetze selbst fragt.«249 Diese Feststellung könnte harmloser wirken, als sie tatsächlich ist, wenn nicht daran erinnert wird, wie zentral jene »erste Fassung der Frage« für Substanzbegriff und Funktionsbegriff war. Denn Cassirer hatte es nicht nur als den »eigentlichen Ertrag der methodischen Analyse der naturwissenschaftlichen Erkenntnis« im ersten Teil verstanden, dem »Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen seine metaphysische Schärfe« zu nehmen.250 Die Leistung des Begriffs bestand gerade darin, alles Besondere als Fall eines Gesetzes unter sich zu begreifen und daher im Besonderen bereits vorausgesetzt zu sein. Alles Besondere kann demnach allein unter Voraussetzung von per se allgemeinen Gesetzen und Begriffen gedacht werden. Es ist die von Cassirer oft vorgebrachte Untrennbarkeit von Form und Inhalt, aus der er folgert, dass alles Besondere allein den Inhalt, aber nicht die Form betrifft. In einer diese Thematik behandelnden Passage aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff spricht Cassirer so zwar tatsächlich einmal von der »Besonderung eines Gesetzes«, will darunter aber ausschließlich die »materiale Besonderung der empirischen Inhalte«, also deren Bestimmung durch die Form statt deren eigene Spezifizierung verstanden wissen.251 Diese ›Be ECW 9, 212 f. ECW 6, 255. Er setzt fort: »Das Gesetz und die Tatsache erscheinen nun nicht mehr als die beiden für immer getrennten Gegenpole des Wissens; sondern sie stehen in lebendigem funktionalen Zusammenhang, indem sie sich zueinander wie Mittel und Zweck verhalten. Es gibt kein empirisches Gesetz, das nicht auf die Verknüpfung der gegebenen, wie auf die Erschließung nicht gegebener Gruppen von Tatsachen ginge; wie auf der anderen Seite jede ›Tatsache‹ bereits im Hinblick auf ein hypothetisches Gesetz festgestellt ist und durch diese Rücksicht erst ihre Bestimmtheit erhält.« 251 »Denn die Besonderung eines Gesetzes setzt doch eben dieses Gesetz selbst voraus 249 250
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sonderung eines Gesetzes‹ bewegt sich auf der Ebene seiner Schematisierung für den Einzelfall, eine Vorstellung, die Cassirer in seinem Aufsatz von 1914 bereits durch die Kritik der Urteilskraft überwunden sah. Er musste damit aber auch seine eigene Theorie des Begriffs als überholt wahrnehmen. Sie bedurfte einer Erweiterung hinsichtlich der ›Besonderung‹ der Begriffe selbst. Wie das erste Kapitel gezeigt hat, wurde diese systematische Forderung auch in Richard Hönigswalds Rezension von Substanzbegriff und Funk tionsbegriff aus dem Jahr 1912 erhoben.252 Hönigswald hatte nämlich mit Bezug auf die gerade angeführte Überlegung Cassirers zur »Besonderung eines Gesetzes« eingewandt, dass dennoch zwei Aufgaben zu unterscheiden wären: zum einen »›die Besonderung‹ eines Gesetzes auf alle Fälle« und zum anderen »dessen ›Besonderung‹« selbst, die verschiedene Methoden und Disziplinen charakterisieren würde.253 Ein Jahr später, 1913, stellte sich Cassirer noch ganz auf den Boden von Substanzbegriff und Funktionsbegriff und verteidigte dessen Parallelisierung der Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem mit derjenigen von Gesetz resp. Begriff und Einzelfall bzw. Anschauung. Die »durchgängige Besonderung, in der für uns alles Erfahrungswissen steht und besteht,« sollte sich – so Cassirer nach wie vor, in der Erwiderung auf Hönigswalds Kritik aber expliziter – in dem Sinne verstehen lassen, dass ein Begriff oder ein Gesetz alles Besondere beund ist nur in Beziehung darauf verständlich: der einzelne fixierte Größenwert bleibt also stets in dem Umkreis desjenigen Seinsbegriffs, der durch die allgemeinen Grundsätze der Mathematik bezeichnet und umgrenzt wird. Diese Begrenzung aber ist es, die seine wahrhafte ›Idealität‹ ausmacht […].« (ECW 6, 336) Vgl. für ein ähnliche Auffassung der »Besonderungen, die die allgemeine Regel erfährt«, auch ECW 9, 278. 252 Richard Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Kritische Betrachtungen zu Ernst Cassirers gleichnamigem Werk«, in: Deutsche Literaturzeitung 33 (1912), Nr. 45 vom 9. Nov. 1912, 2821 – 2843, und Nr. 46 vom 16. Nov. 1912, 2885 – 2902. Vgl. zu dieser Kontroverse auch den Abschnitt »Besonderungen des Begriffs: Die Forderung Richard Hönigswalds« im ersten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 82 ff. 253 »Es ist ohne Zweifel richtig, daß ›die Besonderung‹ eines Gesetzes auf alle Fälle ›eben dieses Gesetz selbst voraussetze‹. Aber niemals folgt daraus, daß nur das ›Gesetz‹ und nicht auch dessen ›Besonderung‹ zum Objekt besonderer wissenschaftlichen Forschungen gemacht werden könne. Es gibt in Beziehung auf dieses Problem zwei und nur zwei Möglichkeiten. Entweder es wird die mögliche Differenzierung des Inhaltes, also der besonderen Erkenntnisfunktion des Begriffs als selbständige Aufgabe erkenntnistheoretischer Erwägungen überhaupt geleugnet und die tatsächlich vorhandenen Verschiedenheiten aus der allgemeinen Erkennnisfunktion des Begriffs überhaupt deduziert; oder aber jene inhaltliche Verschiedenheit wird, unabhängig von der allgemeinen Erkenntnisfunktion des Begriffs, wenngleich in steter Beziehung auf sie, zu einem selbständigen wissenschaftstheoretischen Problem.« (Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2889)
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stimmt. Er spitzt seine These sogar zu, wenn er Stellung bezieht zugunsten einer »Fassung des Idealismus, die diese Besonderung in sein Prinzip selbst aufgenommen hat«254 . Es ist allem Anschein nach die Lektüre von Kants Kritik der Urteils kraft und ihrer »Ersten Einleitung«, die Cassirer dagegen überzeugt, dass die Frage nach der »Besonderung« der Gesetze selbst ein eigenständiges Problem darstellt. In der Kant-Deutung wird so die Annahme der Biologie, die Natur lasse sich in Gattungen und Arten klassifizieren, nicht mehr als Ausdruck einer Auffassung des Begriffs verstanden, die aus philosophischen Gründen zu verwerfen ist. Sie gilt Cassirer nun vielmehr als Annahme, die für »die gesamte Form der beschreibend-klassifikatorischen Wissenschaften« charakteristisch ist und daher eine ernstzunehmende philosophische Herausforderung darstellt. Er nimmt daher die verschiedenen »Erkenntnisfunktionen«255 und »Erkenntnisformen«256 , durch die Erfahrung und Gegenstand korrelativ, aber auf je eigene Weise aufeinander bezogen werden, schärfer in den Blick. Diese Sicht auf die besonderen Gesetze der verschiedenen Disziplinen und der spezifischen Ordnungen ihrer Gegenstände übernimmt Cassirer aber auch in systematischer Hinsicht und reinterpretiert auf dieser Grundlage seine eigene Theorie des Begriffs neu. Wie das erste Kapitel gezeigt hat, herrscht so bereits in der Disposition von 1917 das Interesse an der Besonderung der Grundbegriffe von verschiedenen mathematischen Feldern und disziplinären Formen des Wissens vor.257 Cassirer betont dabei nicht nur die ›spezifischen Aufbaugesetze‹ oder Formen einzelner wissenschaftlicher Begriffe, er versucht vielmehr, ihre Spezifik auch im wechselseitigen, systematischen Zusammenhang der Grund begriffe der exakten Wissenschaften zu charakterisieren. Die Frage nach dem Verhältnis von allgemeinen und besonderen Gesetzen, die eine der entscheidenden Innovationen von Kants »Erster Einleitung« darstellt, nimmt Cassirer somit auf, um seine eigene Theorie des wissenschaftlichen Begriffs neu zu deuten und fortzuentwickeln. Dadurch ECW 9, 165. »Die ›Drehung des Zuschauers‹, wie sie hier verstanden wird, wird darin bestehen, daß wir das Ganze der Erkenntnisfunktionen, über die die ›Vernunft‹ überhaupt verfügt, vor uns vorüberziehen lassen und jede einzelne in ihrer notwendigen, aber auch in ihrer charakteristisch bestimmten und begrenzten Geltungsart uns vergegenwärtigen.« (ECW 8, 144) 256 »Auch die Transzendentalphilosophie will und muß von den verschiedenen Formen der Gegenständlichkeit handeln; aber jede gegenständliche Form ist ihr erst durch die Vermittlung einer bestimmten Erkenntnisform faßbar und zugänglich.« (ECW 8, 149) 257 Vgl. im ersten Kapitel der vorliegenden Studie vor allem den Abschnitt »Die ›Logik des Symbolischen‹: Die spezifische Form des logischen Begriffs« oben auf S. 75 ff 254 255
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eröffnet sich aber zugleich eine umfassendere Perspektive auf die Allgemeinheit und Spezifikation von Formen der Erfahrung, in die Cassirer das Gesamtwerk Kants rückt und in der er darüber hinaus seine »Philosophie des Symbolischen« konzipieren wird. In der Deutung Kants bestimmt er zum einen das Urteil als diejenige allgemeinste apriorische Struktur, die jegliche Erfahrung als eine Korrelation von Subjekt und Objekt charakterisiert. 258 Dieses Apriori bezieht er aber zum anderen auf seine unterschiedlichen Formen »in der spezifischen Geltung und Eigenart bestimmter Urteile«259. Diese Formen sind Cassirer zufolge durch die drei Kritiken vorgegeben: Im theoretischen, im praktischen und im ästhetischen Urteil zeigt sich demnach ein allgemeinstes Apriori der Korrelation von Erfahrung und Gegenstand in »der strengen Besonderung seiner spezifischen Anwendungen«260 . Der Begriff des Urteils wird so über die Erkenntnis hinaus verallgemeinert und zugleich auf die Notwendigkeit seiner Spezifizierung bezogen. Es ist diese Bewegung, die Cassirer als Bedingung für die ›Ästhetik Kants‹ begreift, auf die er in Kants Leben und Lehre erst sehr spät, nämlich im vierten Abschnitt des Kapitels zur Kritik der Urteilskraft, zu sprechen kommt: »Eine Erweiterung und Vertiefung des Aprioritätsbegriffs der Theorie ermöglicht erst das Apriori der Ästhetik und weist seiner Bestimmung und Ausgestaltung den Weg.«261 258 Im Kapitel zur Kritik der reinen Vernunft finden sich die in dieser Hinsicht entscheidenden Bestimmungen des Urteils. Cassirer stellt dort zur Charakterisierung von Kants »Revolution der Denkart« zunächst die Logik im transzendentalen Sinne ins Zentrum und lässt die Notwendigkeit des begrifflichen Urteils zum Dreh- und Angelpunkt seiner Deutung werden. In dieser Notwendigkeit gründet nämlich die Objektivität des Wissens sowohl im Sinne seiner objektiven Geltung als auch in der Form seines Bezugs auf die erkannten Gegenstände, vgl. ECW 8, 142 – 144 und 167. 259 ECW 8, 274. Eine ähnliche Perspektive deutet sich im Ausblick am Ende des ersten Teils von Substanzbegriff und Funktionsbegriff an, bleibt aber, soweit ich sehe, ohne systematische Folgen, vgl. ECW 6, 254. 260 ECW 8, 311. Cassirer sieht so in der zweiten und dritten Kritik jeweils andere »eigentümliche Prinzipien der Gestaltung« am Werk, womit er sich auf das »›Reich der Zwecke‹, dessen Bild die Ethik entwirft«, und »das Reich der reinen Gestalten und Formen, das sich uns in der Kunst erschließt«, bezieht, vgl. ebd., 145. Die drei Kritiken bilden so »objektiv-geistige Richtungen […] in ihrer charakteristischen Besonderung und in ihrer eigentümlichen Bedingtheit« (ebd., 150) ab. 261 Cassirer führt diesen Übergang im folgenden Satz aus: »Weil sich gezeigt hat, daß für die vollständige Form der Erfahrung die Bedingung der allgemeinen Verstandes gesetze zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist – weil eine eigene Form und eine eigene zweckmäßige Verbindung des Besonderen entdeckt wurde, die ihrerseits erst den systematischen Begriff der Erfahrung vollendet: Darum wird auch im Bewußtsein nach einem Moment gesucht, in welchem sich die Gesetzlichkeit des Besonderen und des ›Zufälligen‹ ausprägt.« (ECW 8, 293) Vgl. auch ebd., 295 und 305.
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Die Gesamtheit der drei Kritiken deutet Cassirer folglich als systematische Entfaltung ein und derselben Struktur des Urteils und damit des Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität, um eine Erweiterung des kritischen Projekts auf das »Ganze der geistigen Kultur«262 ins Auge zu fassen. Es kann daher auch kaum überraschen, dass diese systematisierende Deutung von Kants Kritiken eng mit der systematischen Entwicklung von Cassirers eigener Philosophie verwoben ist. Eine solche These liegt nicht nur deshalb nahe, weil sich Cassirer stets zur Verknüpfung der systematischen und historischen Arbeit bekannte, die für den Marburger Neukantianismus zentral war. 263 Was Cassirer als Kants Entwicklung eines Systems deutet, entspricht darüber hinaus ziemlich genau seinem eigenen Vorgehen auf dem Weg zu einer »Philosophie des Symbolischen«. Wie das erste Kapitel der vorliegenden Studie anhand der Disposition von 1917 zeigen konnte, hatte Cassirer seine Theorie des Begriffs aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff nicht nur mit Blick auf die Besonderung der Begriffe weiter entwickelt, sondern auch eine entscheidende Generalisierung der konzeptionellen Grundlagen seiner erkenntniskritischen Schriften vorgenommen und sie zugleich mit der Respezifizierung für die verschiedenen Felder der Kultur verbunden: Wie die Erweiterung des Urteils über den Bereich der Erkenntnis hinaus bei Kant schließlich in ein Apriori des Urteils im Allgemeinen und ein System seiner Besonderungen mündete, ist ›das Symbolische‹ an die Stelle des ECW 8, 150. Vgl. ECW 2, IX f. Diese Passage ist Teil der »Vorrede zur ersten Auflage« des ersten Bands des Erkenntnisproblems von 1906. Cassirer folgt in der Verflechtung der systematischen Fragestellung des ›Erkenntnisproblems‹ mit der Rückbesinnung auf seine Geschichte den Vorgaben Cohens, der seine Systematik stets mit der Geschichte der Philosophie verband, wie auch Cassirer hervorhebt, vgl. »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie«, in: ECW 9, 119 – 138, hier 119 f. Bereits Cohen hatte dadurch nicht nur die Philosophie in den engsten Zusammenhang mit der Geschichte der mathematischen Naturwissenschaft stellen, sondern sie auch an einer idealistischen Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis ausrichten wollen, die in Platon ihren Anfang nahm, in Kant ihre entscheidende Fortführung fand und im »erkenntniskritischen Idealismus« Cohens ihre notwendige Klärung. Paradigmatisch dafür ist Cohen, Das Princip der Infinitesimal-Methode, bes. III f. und 11 f. Vgl. ausführlicher und zur Rolle Platons Cohen, Einleitung, 7 – 28, bes. 13 – 27, sowie 58 f., und den historischen Teil in Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, 1 – 79. Cassirer stellt dieses Geschichtsbild meines Wissens nirgends direkt in Frage; seine philosophiehistorischen Arbeiten lassen Cohens Vorstellung, Kant sei ein »Gipfel des Höhenzugs, der von Platon ausgeht und unter den Neueren über Descartes und Leibniz hinführt« (Cohen, Einleitung, 58), aber zumindest in praxi und bereits früh fragwürdig erscheinen. Vgl. zum Verhältnis von Systematik und Geschichte der Philosophie bei den Marburgern auch Ursula Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg 2002 (= Cassirer-Forschungen, 8), 118 – 128. 262 263
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funktional-relationalen Begriffs getreten, um einige seiner allgemeinsten Charakteristika in sich zu fassen und sie zugleich auf die verschiedenen For men der kulturellen Symbolisierung zu beziehen.264 Wie Kant nach Cassirers Deutung nimmt auch Cassirer selbst eine ›Erweiterung und Vertiefung des Aprioritätsbegriffs der Theorie‹ vor, um an seine erkenntniskritische Theorie des Begriffs anzuschließen und sie zugleich zu einer kulturphilosophischen Konzeption des Symbols auszubauen.265 Wie eng der systematische Neuansatz Cassirers mit seiner Relektüre Kants unter den Vorzeichen der »Ersten Einleitung« verknüpft ist, zeigt sich besonders prägnant an dem neukantianischen Motiv der kopernikanischen Drehung, auf das sich Cassirer im Abschnitt zur »Metaphysik des Symbolischen« aus der Disposition von 1917 ebenso wie in der »Einleitung und Problemstellung« des ersten Bands der Philosophie der symbolischen Formen von 1923 programmatisch beruft. 266 In der bekannten »Einleitung« charakterisiert Cassirer zunächst die »›Revolution der Denkart‹, die Kant innerhalb der theoretischen Philosophie durchführt«, um sogleich nochmals explizit zu betonen, dass diese zunächst ausschließlich den »rein logisch bestimmten Gegenstand« einbeziehe. Ein derart begriffener Gegenstand erweise sich aber »schon für Kant selbst, sobald er dazu fortschreitet, in dem Ganzen der drei Kritiken das wahrhafte ›System der reinen Vernunft‹ zu entwickeln, als zu eng«. Daher erweitere und vertiefe sich der Einen ähnlichen Anschluss der eigenen philosophischen Systematik an die Systematisierung von Kants Philosophie hatte auch schon Cohen vorgenommen. Cohen hielt in seinem System der Philosophie aber deutlicher als Cassirer am Primat der Logik fest, indem er auf den Begriff des Gesetzes aufbaute und ihn als einen Begriff von logischer Provenienz verstand, der in der Ethik und Ästhetik lediglich Anwendung findet, vgl. Cohen, Einleitung, 43 – 45. In der Würdigung von Cohens Schaffen aus dem Jahre 1912 referiert Cassirer diese Zusammenhänge, stellt allerdings nicht die Allgemeinheit und Spezifik der Gesetze ins Zentrum seiner Reflexion, vgl. ECW 9, 122 f. und 128 – 134. Und doch scheint sich aus retrospektiver Sicht Cassirers spätere Perspektive zumindest an einer Stelle anzudeuten: »Die übergreifende Idee der Geltung spezifiziert sich innerhalb dieser Einheit [der systematischen Einheit der Erzeugungsweisen des Bewusstseins, A. S.] in ihre verschiedenen Unterarten.« (Ebd., 138) 265 Dies ließe sich detaillierter an den bekannten programmatischen Passagen von »Goethe und die mathematische Physik« von 1920 belegen, in: ECW 9, 268 – 315, hier 301 – 304, wo Cassirer seine Perspektive auf Kant mit Hilfe von Humboldt rasch auf die Sprache ausdehnt. Vgl. zu diesem Aufsatz auch die Deutung von Yoshihito Mori, »Goethe und die mathematische Physik. Zur Tragweite der Cassirerschen Kulturphilosophie«, in: Enno Rudolph and Bernd-Olaf Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995 (=Cassirer-Forschungen, 1), 393 – 4 08. 266 Vgl. zur »Metaphysik des Symbolischen« den entsprechenden Abschnitt im ersten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 106 ff. und für die folgenden Zitate aus der Philosophie der symbolischen Formen ECW 11, 8. 264
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Gegenstandsbegriff, indem sich jene »Revolution« konsequent entfalte und auch andere Formen von Gegenständen einschließe: Die »Kopernikanische Drehung […] bezieht sich nicht allein auf die logische Urteilsfunktion, sondern greift mit gleichem Grund und Recht auf jede Richtung und auf jedes Prinzip geistiger Grundhaltung über. […] Denn das Grundprinzip des kritischen Denkens, das Prinzip des ›Primats‹ der Funktion vor dem Gegenstand, nimmt in jedem Sondergebiet eine neue Gestalt an und verlangt eine neue selbständige Begründung.«267 Cassirer zieht die Konsequenz aus seiner Deutung von Kants Kritiken in der berühmten programmatischen Formulierung: »Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur.«268 Dieser Programmatik ging aber eine sorgfältige Relektüre Kants voraus, die alles andere als selbstverständlich ist und in dieser Formulierung aufs Äußerste kondensiert wurde. Die Konzeption von Cassirers kulturphilosophischem Projekt ist somit stets im Zusammenhang der Deutung von Kants Kritik der Urteilskraft und der »Ersten Einleitung« zu sehen. In der Konsequenz ist für Cassirers Kulturphilosophie wie für seine eigene Begriffstheorie aber das Verhältnis des ›Allgemeinen‹ und ›Besonderen‹ zentral und muss insbesondere die Frage nach dem Verhältnis des Symbolischen und den spezifischen Formen der Symbolisierung gestellt werden. Die entscheidende Weichenstellung ist darin zu sehen, dass Cassirer auf den Spuren von Kants Kritik der Urteils kraft die Spezifikation des Symbolischen nicht aus einem vorgängigen philosophischen Begriff abzuleiten versucht, sondern als Entfaltung in einem irreduzibel empirischen und historischen Prozess versteht. Für das Selbstverständnis seiner philosophischen Reflexion, den Status seiner eigenen 267 Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich an dieser Stelle auch die ausgelassenen Sätze anführen: »Immer liegt die entscheidende Frage darin, ob wir die Funktion aus dem Gebilde oder das Gebilde aus der Funktion zu verstehen suchen, ob wir diese in jenem oder jenes in dieser ›begründet‹ sein lassen. Diese Frage bildet das geistige Band, das die verschiedenen Problemgebiete miteinander verknüpft: – sie stellt deren innere methodische Einheit dar, ohne sie jemals in eine sachliche Einerleiheit zusammenfallen zu lassen.« Wiederum nimmt Cassirer mit dieser Deutung die drei Kritiken Kants als einheitliche und systematische Entfaltung der Wirklichkeit im Ganzen: »Diese allmähliche Entfaltung des kritisch-idealistischen Begriffs der Wirklichkeit und des kritisch-idealistischen Begriffs des Geistes gehört zu den eigentümlichsten Zügen des Kantischen Denkens und ist geradezu in einer Art Stilgesetz dieses Denkens begründet. Die echte, die konkrete Totalität des Geistes soll nicht von Anfang an in einer einfachen Formel bezeichnet und gleichsam fertig hingegeben werden, sondern sie entwickelt, sie findet sich erst in dem stetig weiterschreitenden Fortgang der kritischen Analyse selbst. Der Umfang des geistigen Seins kann nicht anders bezeichnet und bestimmt werden als dadurch, daß er in diesem Fortgang abgeschritten wird.« (ECW 11, 8) 268 ECW 11, 9.
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Begrifflichkeit und die Frage der Systematik der »Philosophie des Symbolischen« ist dieser Anschluss von entscheidender Bedeutung, was zum Abschluss dieses Kapitels herausgearbeitet werden soll. Die vorangehende Deutung von Kants dritter Kritik hat gezeigt, wie die Einführung der reflektierenden Urteilskraft und ihrer besonderen Bedingungen eng damit verknüpft ist, dass der empirische Charakter der Erkenntnis nicht allein die einzelnen Inhalte, sondern auch die spezifische Form dieser Erkenntnis betrifft. Denn Kant hatte am Beispiel der Biologie erörtert, dass sie ihre spezifischen Bedingungen den Gegenständen nicht schlicht vorschreiben kann, sondern sie an ihnen ausweisen muss, um ihre Annahmen entweder zu bewähren oder gegebenenfalls zu revidieren. Der Gedanke der spezifischeren, allerdings nicht mehr deduzierbaren Annahmen der reflektierenden Urteilskraft ist daher eng verbunden mit dem empirischen Charakter der Forschung, der nicht allein deren Gegenstände im Sinne der Inhalte betrifft, sondern auch ihre formalen Bedingungen und ihr methodisches Vorgehen. Cassirer hebt in Kants Leben und Lehre ebenso hervor: »Denn hier wird nicht aus dem Allgemeinen das Besondere abgeleitet, sondern am Besonderen selbst wird durch fortschreitende Betrachtung der Beziehungen, die es in sich schließt, und der Ähnlichkeiten und Unterschiede, die seine einzelnen Glieder untereinander aufweisen, ein Zusammenhang zu entdecken gesucht, der sich in Begriffen und Regeln immer umfassenderer Art aussprechen lässt.«269 Demnach ist es für die empirische Forschung gerade charakteristisch, dass das Allgemeine nicht als Apriori vorausgesetzt werden kann, um das empirische Besondere zu bestimmen. Vielmehr muss zuallererst am empirischen Gegenstand ein Zusammenhang entdeckt werden, durch den ein Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem und damit also der Begriff festgelegt wird, durch den der Gegenstand zumindest vorläufig gefasst werden kann. Tatsächlich wird hier der Begriff als Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen in Abhängigkeit von den empirischen Quellen der Erkenntnis spezifiziert. Diese metaphorische Rede von ›Quellen der Erkenntnis‹ ist zunächst einmal Ausdruck einer theoretischen Verlegenheit angesichts der Schwierigkeiten, unter den gegebenen Voraussetzungen eine angemessenere Bezeichnung zu finden. Die empirischen Aspekte des Erkennens können sich für Cassirer jedenfalls nicht auf die Anschauung beschränken, die er in der Tradition des Marburger Neukantianismus nicht als eigenständige Dimension der Erfahrung betrachtet. 270 Ebenso wenig dürfte ihn Hönigswalds ECW 8, 282. Dass die Anschauung nicht mehr als »selbständiger und eigentümlicher Quell der Gewißheit« gelten kann, ist eine zentrale Pointe von Cassirers Theorie des 269 270
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Rekurs auf einen »materialen Faktor« der Erfahrung, der »in Biologie oder Geschichte […] in handgreiflicher Selbständigkeit hervortritt«271, zufriedengestellt haben. Denn die apriorischen und empirischen Bestandteile der Erkenntnis lassen sich im Rekurs auf die Differenzen von Form und Inhalt, Allgemeinem und Besonderem, Gesetz und Einzelfall ebenso wenig analytisch unterscheiden, wie sie sich nach Cassirer als zwei ›Quellen‹ der Erkenntnis voneinander trennen lassen. Anders herum formuliert bedeutet dies aber, dass jede Reflexion auf die Form, das Allgemeine und das Gesetz der Erkenntnis zum einen vom Inhalt, Besonderen und Einzelnen ausgehen muss, wie Cassirer unterstreicht: »Nirgends anders als am Besonderen ist, wie sich jetzt zeigt, die Funktion des ›Allgemeinen‹ darstellbar. In dieser Hinsicht hat der Gedanke, auf den die Lehre vom Schematismus hinzielt, seine entscheidende Ergänzung und Erfüllung erst in der ›Kritik der Ur teilskraft‹ gefunden.«272 Daraus folgt aber zum anderen, dass die Reflexion keine prinzipielle Unterscheidung des Apriorischen vom Empirischen mehr herbeiführen kann, wenn sie mit dem Inhalt, dem Besonderen und Einzelnen stets schon an eine empirische Spezifikation von dessen formalen, allgemeinen und gesetzlichen Voraussetzungen gebunden ist. Diese Reflexion übersteigt daher die empirische Erfahrung nicht wie in der Kritik der reinen Vernunft umstandslos auf ihr vorgängige, allgemeinste Bedingungen. Sie hat es mit den spezifischen und besonderen Gesetzen des empirischen Erkennens zu tun, die keineswegs unabhängig von der konkreten Erfahrung und ihrem empirischen Vorgehen sind.273 Denn Form, Begriff und Gesetz werden überhaupt erst in der empirischen Erkenntnis so spezifiziert, dass sie die Gegenstände als Inhalt, Besonderes und Einzelnes zu begreifen helfen. In Zur Einsteinschen Relativitätstheorie von 1920 formuliert Cassirer diese Pointe vielleicht am deutlichsten. Bei der »Aufgabe«, »das Reich der ›Formen‹ fortschreitend auf die Data der empirischen Beobachtung, und umgekehrt diese auf jene zu beziehen«, darf »die ›Form‹, eben weil sie das aktive mathematischen Begriffs, die er im Einklang mit der »immanenten Fortbildung der Kan tischen Lehre« sieht, vgl. »Kant und die moderne Mathematik« von 1907, in: ECW 9, 37 – 82, bes. 61 – 69, hier 65. Cassirer verweist auf Cohens Logik der reinen Erkenntnis, dieser bringt die »Kollision zwischen Anschauung und Denken« aber auch in Cohen, Einleitung, 59 – 68 und 87 – 92, auf den Punkt, wo er die wesentlichen Züge seiner früheren Schrift Das Princip der Infinitesimal-Methode nachzeichnet. 271 Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2894. 272 ECW 9, 211. 273 In einer Anverwandlung ›Marburger‹ Formulierungen hatte Hönigswald ähn liches gefordert: »es ist nicht bezweifelt worden, daß das ›Gegebensein‹ stets ein ›Aufgegebensein‹ bedeute; es wird vielmehr implicite behauptet, daß jedes ›Aufgegebensein‹ das System von Relationen voraussetzt, das in dem Begriff des ›Gegebenseins‹ enthalten ist.« (Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2901)
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und gestaltende, das eigentlich schöpferische Moment darstellt, nicht als starre, sondern sie muß als lebendige und bewegliche Form gefaßt werden. Immer mehr begreift der Gedanke, daß sie ihm in ihrer Besonderung nicht mit einem Schlage gegeben werden kann, sondern daß ihr Bestand sich nur in ihrem Werden und im Gesetz dieses Werdens für ihn enthüllt. Die Geschichte der Physik stellt auf diese Weise nicht die Geschichte der Entdeckung einer einfachen Reihe von ›Tatsachen‹, sondern der Entdeckung immer neuer spezieller Denkmittel dar.«274 Die ›Besonderung‹ der Form oder des Begriffs resultiert somit in einem Prozess, in dem die besonderen Gegenstände unter der Annahme jener Form oder jenes Begriffs provisorisch bestimmt werden, um gegebenenfalls eine Revision erforderlich zu machen. Allgemeines und Besonderes sind wechselseitig aufeinander bezogen, so dass die besonderen Gegenstände ebenso empirisch bestimmt, wie zugleich ihre Bedingungen spezifiziert werden. In der Deutung Kants wie in seinen wissenschaftstheoretischen Schriften der 1920er Jahre betont Cassirer somit nicht nur, dass die philosophische Reflexion von konkreten Gegebenheiten ausgehen muss, sondern unterstreicht auch konsequent, dass sie es somit stets mit empirisch spezifizierten Verhältnissen des Besonderen und des Allgemeinen zu tun hat: Sie verfügt über keinen unmittelbaren Zugriff auf die allgemeinen Bedingungen und reflektiert auf diese Bedingungen stets anhand ihrer Spezifikationen in dem Besonderen, von dem sie ausgeht. Was sich zunächst in dem Charakter der empirischen Erkenntnis begründet, dass sie ihre konkreten ›Denkmittel‹ und Bedingungen selbst empirisch spezifiziert, wird auch die methodische Prämisse von Cassirers kulturphilosophischer Reflexion sein und sein Verständnis des Verhältnisses von Symbolischem und Symbolformen prägen. Besonders deutlich tritt diese Pointe in dem Aufsatz »Zur ›Philosophie der Mythologie‹« von 1924 hervor.275 Denn Cassirer kritisiert dort nicht nur Schellings Versuch, den Mythos aus einem »Einheitsbegriff des Absoluten« abzuleiten, weil die »Fülle der konkreten, besonderen Unterschiede von ihm zuletzt aufgesogen und unkenntlich gemacht« würden.276 Er zeigt ECW 10, 82 f. In: ECW 16, 165 – 195. 276 Ich zitiere nochmals im Zusammenhang: »Der charakteristische Vorzug und die charakteristischen Schranken des Schellingschen Idealismus treten an dieser Stelle deutlich hervor. Der Einheitsbegriff des Absoluten ist es, der auch das menschliche Bewußtsein erst wahrhaft und endgültig seiner absoluten Einheit versichert, indem er alles, was in ihm als besondere Leistung, als eine bestimmte Richtung des geistigen Tuns hervortritt, aus einem gemeinsamen letzten Ursprung ableitet. Aber zugleich schließt freilich dieser Einheitsbegriff die Gefahr in sich, daß die Fülle der konkreten, besonderen Unterschiede von ihm zuletzt aufgesogen und unkenntlich gemacht wird.« (ECW 16, 175) 274
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auch seinen Weg auf, dieser Gefahr zu begegnen, indem er die Frage des Mythos auf »den Boden der kritischen Philosophie zu versetzen« sucht und zugleich den »Begriff des ›Transzendentalen‹«277 erweitert. Die »Methodik der kritischen Analyse« muss, so Cassirer, wie im klassischen Fall der objektiven Erkenntnis »überall vom ›Gegebenen‹, von den empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewußtseins ausgehen; aber sie kann bei ihnen als einem bloß Gegebenen nicht stehenbleiben. Sie fragt von der Wirklichkeit des Faktums nach den ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹ zurück. In ihnen sucht sie einen bestimmten Stufenbau, eine Überund Unterordnung der Strukturgesetze des betreffenden Gebiets, einen Zusammenhang und eine wechselseitige Bestimmung der einzelnen gestaltenden Momente aufzuweisen.«278 Der Fluchtpunkt dieses Unterfangens bildet die »Einheit des geistigen Prinzips […], von dem alle seine besonderen Gestaltungen, in all ihrer Verschiedenheit und in ihrer unübersehbaren empirischen Fülle, sich zuletzt beherrscht zeigen.«279 Dieses ›Prinzip‹ ist somit nicht transzendent und kann nicht als Ausgangspunkt zur Ableitung der Vielfalt empirischer Phänomene dienen. Es ist den Phänomenen abgelesen und soll das »Subjekt des Kulturprozesses, […] den ›Geist‹ lediglich in seiner reinen Aktualität, in der Mannigfaltigkeit seiner reinen Gestaltungsweisen zu erfassen und die immanente Norm, der jede von ihnen folgt, zu bestimmen suchen.«280 Diese Norm ist immanent und steht daher wie jenes Prinzip im strikten Wechselverhältnis zu den konkreten, empirischen Phänomenen, von denen die philosophische Reflexion ausgeht. Cassirer begreift damit das Verhältnis der allgemeinen Bedingungen zu ihren empirischen Spezifikationen im Anschluss an Kants »Erste Einleitung« als stets auch empirische und historische Frage und überträgt diesen systematischen Ansatz auf die »Philosophie des Symbolischen« und die Spezifikation verschiedener Formen der Symbolisierung. Neben Schellings Idealismus grenzt sich Cassirer zugleich von psychologischen Theorien des Mythos wie der Völkerpsychologie ab. Diesen Aspekt lasse ich der Klarheit halber an dieser Stelle aus, um dann im dritten Kapitel auf das Verhältnis von Cassirers Kulturphilosophie zu Wilhelm Wundts Völkerpsychologie zu sprechen zu kommen. 277 ECW 16, 176. 278 ECW 16, 177 f. Dabei sind die »empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewußtseins« als Ergebnisse kulturwissenschaftlicher Forschung zu verstehen, wie Cassirer alsbald präzisiert: »Der Nachweis dieses Verhältnisses [vom Abbild und Bilden des Mythos, A. S.] kann freilich nicht von oben her, in rein konstruktivem Aufbau versucht werden, sondern er setzt die Tatsachen des mythischen Bewußtseins, er setzt das empirische Material der vergleichenden Mythenforschung und der vergleichenden Religionsgeschichte voraus« (ebd., 181). 279 ECW 16, 178. 280 ECW 16, 179 f.
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Cassirers Kulturphilosophie macht sich damit einen Ansatz Kants zu Nutze, der trotz der nachhaltigen Wirkung der Kritik der Urteilskraft über 100 Jahre weitgehend folgenlos geblieben war, und setzt sich insbesondere vom Deutschen Idealismus ab, der ganz anders an Kants dritte Kritik angeknüpft hatte. Im dritten, 1920 erscheinenden Band von Das Erkenntnis problem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, in dem der bereits angeführte Text »Die Grundprobleme der Kantischen Methodik und ihr Verhältnis zur nachkantischen Spekulation« als Einleitung Wiederverwendung fand, schreibt Cassirer seine Geschichte der ›nachkantischen Systeme‹ und hebt dabei immer wieder die Schwierigkeiten des Vorhabens hervor, das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem aufzuheben, indem dem Anspruch nach das Besondere aus einem Allgemeinen oder einem Absoluten, das allem Einzelnen vorgeordnet wäre, ›abgeleitet‹ oder ›deduziert‹ wird.281 Cassirer hält ein solches Vorhaben für gescheitert, wie besonders im Kapitel zu Hegel im dritten Band des Erkenntnisproblems deutlich wird. Cassirer charakterisiert dort Hegels »absoluten Idealismus«, indem er auf Kants Unterscheidung von ›intellectus archetypus‹ und ›ectypus‹ zurückgreift und Hegel die Anmaßung auf die Perspektive des ersteren, intuitiven Verstandes, der alles Einzelne aus sich schafft und in sich begreift, unterstellt. 282 Demgegenüber bescheidet sich der »kritische Idealismus«, zu dem sich Cassirer bekennt, mit der Reflexion des diskursiven Verstandes, der das Gegebene zu begreifen versucht und auf seine Bedingungen zu reflektieren vermag. Dieses Herangehen schließt einen Verzicht auf ein »systematisches Ableitungsprinzip«, aber keineswegs auf jegliche »Syste matik der Grundbegriffe«283 ein. Sie basiert nun allerdings auf der Reflexion und setzt mit dem »Faktum der Wissenschaft« nichts weniger voraus als die »reine Mannigfaltigkeit der Grundformen der Erkenntnis, die nur als einfache Tatsächlichkeit aufgewiesen werden kann«284 . 281 Vgl. bezüglich Reinhold ECW 4, 54 f.; zu Fichte ebd., 191 f. und 198 – 201; hinsichtlich Schelling ebd., 244 – 2 64, bes. 263 f., in Auseinandersetzung mit Hegel ebd., 348 – 363. Vor allem der letztere Abschnitt »Kritischer und absoluter Idealismus« gibt durch die Kritik an Hegel ex negativo Grundlinien von Cassirers kulturphilosophischem Projekt zu erkennen, was an dieser Stelle jedoch nicht ausgeführt werden kann. Den Gedanken der Kritik der Urteilskraft, dass nicht alles Besondere abgeleitet werden kann und es in diesem Sinne also Spezifisches gibt, verbindet Cassirer dagegen mit dem Namen Salomon Maimons, dessen Philosophie er im Vergleich zu den anderen nachkantischen Denkern eine auffällig positive Würdigung erweist, vgl. ebd., 77 – 120, bes. 86 – 103 und 116 – 120. Allerdings blieb Maimons Werk, wie Cassirer betont, weitgehend ohne Wirkung, vgl. ebd., 77 f. – wie die »Erste Einleitung«, so möchte ich hinzufügen. 282 Vgl. ECW 4, 349 f. 283 ECW 4, 355. 284 ECW 4, 356.
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Cassirers Kulturphilosophie folgt somit einem reflektierenden Vorgehen, das eng verbunden ist mit der Transformation des Transzendentalen in Kants »Erster Einleitung«. Es sind daher auch die ›empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewußtseins‹, von denen Cassirers philosophische Reflexion auf das Symbolische ausgehen wird, statt sich einen Begriff des Symbolischen zu Grunde zu legen, aus dem die Vielfalt jener Formen systematisch abzuleiten wäre. 285 Dieses Vorgehen motiviert sich aber nicht nur in einem antiidealistischen Impuls, der charakteristisch ist für eine neukantianische Position. Es impliziert darüber hinaus auch ein besonderes Selbstverständnis der philosophischen Begrifflichkeit, die nun auch dem Anspruch nach nicht mehr für sich allein geschärft werden und der theoretischen Argumentation als sicheres Fundament dienen kann. Insbesondere am Begriff des Symbolischen zeigt sich so, warum Cassirers Versuche um direkte begriffliche Definitionen und terminologische Klärungen – wie oft bemerkt und moniert – rar sind und der Begriff stattdessen im Durchgang durch die gegebenen Phänomene spezifiziert werden soll.286 In dem Aufsatz »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« von 1927 bezeichnet Cassirer den positiven Grundzug dieser Arbeit mit Begriffen explizit und deutlich wie selten zuvor. 287 Er betont nicht nur, die Einheit des Begriffs des Symbolischen nicht unmittelbar durch eine Definition erzwingen, sondern sie anhand seiner wechselhaften Geschichte herausarbeiten zu wollen.288 In der anschließenden Diskussion beharrt er auch gegen die vorgeschlagenen »terminologischen Festsetzungen« und die eingeforderte »klare Einheit eines abgeschlossenen Begriffs« auf der »latenten Einheit eines Problems«289, die sich im vielfältigen Wan285 Jeder Versuch einer Ableitung des Systems der symbolischen Formen scheint daher insofern verfehlt, als es den empirisch-interdisziplinären Charakter von Cassirers Kulturphilosophie verkennt, vgl. dagegen exemplarisch Steve G. Lofts, Ernst Cassirer. A »Repe tition« of Modernity, forword by John Michael Krois, Albany, NY, 2000, 56 – 59. 286 Vgl. für einen der wenigen, aber viel beachteten definitorisch anmutenden Passagen Ernst Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften«, in: ECW 16, 75 – 104, hier 79. 287 Vgl. den Aufsatz in ECW 17, 253 – 282. 288 »Birgt der Name des Symbols, so wie er heute in der Religionsphilosophie, in der Ästhetik, in der Logik und in der Wissenschaftstheorie gebraucht wird, noch irgendeinen einheitlichen Gehalt – bezieht er sich auf eine allumfassende geistige Funktion, die in ihren Grundzügen sich gleich bleibt, wenngleich sie in jeder ihrer Auswirkungen eine neue, spezifisch eigentümliche Gestalt annimmt? Und wenn dem so ist: Wo finden wir das einigende Band, das die Fülle und Mannigfaltigkeit der Bedeutungen, die der Symbolbegriff allmählich in seiner eigenen immanenten Entwicklung angenommen hat, miteinander verknüpft?« (ECW 17, 256) 289 »Aber sollten nicht alle diese verschiedenen Verwendungen des Wortes ›Symbol‹, wie wir sie heute in der Ästhetik und in der Wissenschaftslehre antreffen, doch zuletzt
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del der Bedeutung und des Gebrauchs äußert. Aus einer solchen ›latenten Einheit des Problems‹ gilt es einen einheitlichen Begriff herauszuarbeiten, der sich keiner terminologischen Setzung der Philosophie, sondern dem Aufweis an den verschiedenen Formen der Symbolisierung in ihrer Vielfalt wie in ihrer Einheit verdankt: »So außerordentlich groß die Spannweite der Bedeutungen ist, die das Symbolische umschließt: die Einheit seines Begriffs bricht darum nicht auseinander. Mir erscheint es gerade als die wesentliche Aufgabe einer Philosophie der symbolischen Formen, auf diese Einheit, auf die Eigenart der symbolischen Funktion als solcher, hinzuweisen, ohne sie dabei in eine bloß abstrakte Einfachheit aufgehen zu lassen. Nur auf diese Weise dürfen wir hoffen, der Sprache wie dem Mythos, der Kunst und der theoretischen Erkenntnis in ihrer konkreten Besonderung gerecht zu werden, ohne doch, vom Standpunkt der theoretischen Philosophie, alle diese Besonderungen als bloße Einzelheiten, als disjecta membra, nebeneinander stehenlassen zu müssen.«290 Den Begriff des Symbolischen auf gewisse Weise offen zu halten, ist somit eine systematische Notwendigkeit von Cassirers Versuch, einerseits »das Problem des Symbolischen so umfassend [zu nehmen, A. S.], daß es keinem einzelnen Gebiet des Geistigen ausschließlich angehört, sondern daß es zu einem systematischen Zentrum wird, auf das alle Grunddisziplinen der Philosophie […] in gleicher Weise hinzielen«291, und andererseits von der Vielfalt der tatsächlichen Formen der Symbolisierung auszugehen und sie selbst in der Reflexion auf die Einheit des Symbolischen zu erhalten. Der Begriff des Symbolischen erfährt seine Bestimmung somit nicht definitorisch, sondern in seiner Spezifikation und der Reflexion anhand der vielfältigen Phänomene. Cassirer beschränkt sich dabei nicht mehr auf die Erkenntnis, sondern bezieht alle Formen der Symbolisierung ein. Daher widmet er sich nach der Disposition seiner »Philosophie des Symbolischen« vor allem der Aufgabe, sich mit den verschiedenen Formen der Erfahrung unter dem Gesichtspunkt der Symbolisierung vertraut zu machen. Jedes verfügbare empirische Wissen über Kunst, Sprache und Mythos, die in der Disposition kaum mehr als genannt wurden, ist dabei von philosoin eine Einheit zusammengehen – die freilich heute noch weniger als die klare Einheit eines abgeschlossenen Begriffs denn als die latente Einheit eines Problems erscheint? Das eine möchte ich jedenfalls hervorheben, daß alle Begrenzungen, wie sie hier im Laufe der Diskussion vorgeschlagen worden sind, nicht geeignet scheinen, das Ganze der Anwendungen des Symbolbegriffs, wie sie sich in den verschiedenen Gebieten des Geistes und der systematischen Philosophie durchgesetzt haben, wirklich zu umspannen.« (ECW 17, 280 f.) 290 ECW 17, 281. 291 ECW 17, 253.
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phischer Relevanz, weil diese Formen letztlich ›das Symbolische‹ empirisch spezifizieren, das den vorrangigen Gegenstand der philosophischen Reflexion bilden soll. Die »Philosophie des Symbolischen« geht daher von der Aufgabe aus, die verschiedenen Formen der Symbolisierung in Erfahrung zu bringen, und sucht die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Kulturwissenschaften. Die Kulturwissenschaften sind bei Cassirer deshalb nicht bloß in wissenschaftstheoretischer Perspektive von Interesse. 292 Sie sind vielmehr ›Gesprächspartner‹ einer Kulturphilosophie, die auf ihr Wissen über die Vielfalt der kulturellen Phänomene angewiesen ist und sich auf ein umfangreiches kulturhistorisches Material stützen muss. Die philosophische Reflexion versucht so mit Hilfe der Kulturwissenschaften einer in sich komplexen Wirklichkeit habhaft zu werden, in der sich das Symbolische auf vielfältige Weise spezifiziert und entfaltet. Den »kritischen Apriorismus« hebt Cassirer daher auch von »romantisch-spekulativen Fortbildungen« Kants dahingehend ab, »daß das Apriori hier nicht auf eine einzige metaphysische Grundkraft des Bewußtseins zurückgeleitet, sondern daß es in der strengen Besonderung seiner spezifischen Anwendungen festgehalten wird.«293 Diese Absage kann nicht nur auf die »Grundkraft des Bewußtseins« bezogen werden, sondern auf jeden »Rückgang« auf einen »ursprünglichen Quellgrund«, wie ihn Martin Heidegger in seinen Lektüren von Kant verfolgt hat.294 Cassirers Kulturphilosophie schlägt geradezu die Gegenrichtung ein, 292 Vgl. für eine solche Perspektive auf Cassirers vorgebliche Bemühungen um eine »Grundlegung der Geisteswissenschaften« in neukantianischer Tradition exemplarisch Massimo Ferrari, »Das Problem der Geisteswissenschaften in den Schriften Cassirers für die Bibliothek Warburg (1921 – 1923). Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Philo sophie der symbolischen Formen«, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hg. von Hans-Jürg Braun, Helmut Holzhey und Ernst Wolfgang Orth, Frankfurt a. M. 1988, 114 – 133, hier 118 – 128. 293 ECW 8, 311. 294 Vgl. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 1998, 19 und 196. Dorothea Frede rekonstruiert Heideggers Rückgang auf die ›Einheit des Seins‹ in ähnlicher Entgegensetzung zu Cassirers Frage nach der Vielfalt der Wirklichkeit und sieht darin insbesondere einen möglichen Grund für das Scheitern von Sein und Zeit, vgl. Dorothea Frede, »Die Einheit des Seins. Heidegger in Davos – Kritische Überlegungen«, in: Dominic Kaegi und Enno Rudolph (Hg.), Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002 (= Cassirer-Forschungen, 9), 156 – 182, bes. 177 – 181. Heidegger erscheint hier Cohens Theorie des Ursprungs, der Cassirer in der Transformation des Transzendentalen längst eine andere, ja entgegengesetzte Richtung gegeben hat, näher, als ihm lieb sein dürfte, vgl. zu Cassirer und Cohen Helmut Kuhn, »Ernst Cassirer’s Philosophy of Culture«, in: The Philosophy of Ernst Cassirer, hg. von Paul Arthur Schilpp, Evanston, IL , 1949 (= The Library of Living Philosophers, 6), 545 – 574, hier 556 f.
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wenn sie ›das‹ Symbolische als Apriori, damit aber im empirischen und historischen Zusammenhang seiner ›Besonderungen‹ und ›Anwendungen‹ fasst, um einer vielfältigen Wirklichkeit Rechnung zu tragen.295 Die kulturphilosophischen Schriften Cassirers breiten daher oft eine ungeheure Masse an Materialien aus, bis sich der Faden der philosophischen Argumentation mitunter zu verlieren und der Text über lange Passagen hinweg kaum mehr in die philosophische Reflexion zurückzufinden scheint. Diese Eigenart von Cassirers Texten wurde selten explizit gemacht und kaum einmal Gegenstand der philosophischen Diskussion. Wenn diese Eigenart überhaupt einer Erwähnung für wert befunden wurde, dann meist in kritischer Absicht. Exemplarisch dringt wiederum Heidegger in seiner Rezension des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen darauf, dass »die Grundbegriffe dieser Systematik [der symbolischen Formen, A. S.] eindringlich ausgearbeitet und auf ihre letzten Fundamente gebracht«296 werden. Er zieht schließlich das Fazit, dass »eine noch so reiche und dem herrschenden Bewußtsein entgegenkommende Darstellung der Phänomene des Geistes nie schon die Philosophie selbst ist«, und behält daher wohl seiner eigenen Philosophie die Aufgabe vor, die »seit der Antike unbewältigten, elementaren Grundprobleme erneut« zu ergreifen. Die Philosophie fände demnach in der »Darstellung der Phänomene des Geistes« und der Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften geradezu ihr Anderes.297 295 Später formuliert Cassirer: »Erst wenn wir der Versuchung widerstehen, die Gesamtheit der Formen, die sich uns hier ergibt, in eine letzte metaphysische Einheit, in die Einheit und Einfachheit eines absoluten ›Weltgrundes‹ zusammenzudrängen und aus ihm ableiten zu wollen, erschließt sich uns ihr wahrhafter konkreter Gehalt und ihre konkrete Fülle.« (ECW 10, 113) 296 Martin Heidegger, Rezension von »Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 2. Teil: Das mythische Denken. Berlin 1925«, in: ders., Kant und das Problem der Metaphysik, 255 – 270, hier 269 f. 297 Heideggers Invektive ist hier nur als ein Beispiel für viele ähnliche Bemerkungen genannt, die auch vor dem Hintergrund anderer Auffassungen von Philosophie einen ähnlichen Konflikt zwischen Cassirers materialnaher Darstellung und dem philosophischen Charakter seiner Texte annehmen. Edward Skidelsky deutet in einer jüngeren Gesamtdarstellung von Cassirers Philosophie in ihrer Zeit dagegen an, dass hierin auch ein genuin eigenes Verständnis von Philosophie seinen Ort hat: »I now saw that the problems facing Cassirer’s enterprise were far more serious than I had initially supposed. It was not just that many individual aspects of his system had fallen into disrepair, but that the whole thing was no longer obviously philosophy at all. Cassirer’s thought is inductive, not deductive in its method. Setting from the variety of human culture, it attempts to comprehend it as an organic whole. But most twentieth-century philosophy, analytic and continental, has sought a standpoint beyond the variety of culture […].« (Edward Skidelsky, Ernst Cassirer. The Last Philosopher of Culture, Princeton und Oxford 2008, 5 f.) Mit Bezug auf Heideggers Rezension des zweiten Bandes und die oben zitierte Passage präzisiert Skidelsky: »Here is the same foundationalist conception of philosophy encountered
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Martin Jesinghausen-Lauster spielt dagegen Systematik und Geschichte gegeneinander aus, wenn er die Meinung vertritt, es seien ungelöste philosophisch-systematische Probleme gewesen, die Cassirer zu einem »Abdriften in Empirie« verleitetet und ihn in einer »historischen Wende« in den 1920er Jahren zur Aufgabe jeden systematischen Anspruchs geführt hätten.298 Cassirer ist dagegen wie bereits seine Lehrer davon ausgegangen, dass Systematik und Geschichte keinen Widerspruch, sondern komplementäre Aspekte des Philosophierens bilden, und hat bereits in seinen früheren Werken mitunter darauf bestanden, dass manche philosophische Thesen nicht argumentativ zu begründen, sondern nur in ihrer materialen Durchführung aufzuweisen sind. Daher zeichnen sich sowohl seine erkenntniskritischen als auch seine philosophiehistorischen Texte dadurch aus, dass sie ihre Thesen am Material zu belegen und durchzuführen suchen.299 Mit der »Philosophie des Symbolischen« zieht Cassirer darüber hinaus eine weitere, folgenreiche Konsequenz aus seiner Relektüre Kants, derzufolge die Bedingungen nicht mehr in ihrer ursprünglichen Unabhängigkeit von den ermöglichten Phänomenen, sondern allein ausgehend von diesen ›Besonderungen‹ und also im Zusammenhang ihrer ›Anwendung‹ philosophisch zu reflektieren sind. Eine wesentliche Innovation von Cassirers Kulturphilosophie ist daher, dass die Philosophie nicht mehr ohne eine ›Empirie‹ auskommt, die sie wesentlich in der Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften betreibt.300 earlier in the writings of Wittgenstein and his logical positivst followers. For all their differences, Schlick and Carnap might have agreed with Heidegger that Cassirer’s investigation into the forms of human culture was not yet philosophy« (ebd., 207). 298 Martin Jesinghausen-Lauster, Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden 1985, 79 und 58 f. 299 Hönigswald würdigt so in seiner bereits mehrmals hinzugezogenen Kritik die »Darlegungen Cassirers«, weil sie »hinabgestiegen [seien, A. S.] in das ›fruchtbare Bathos‹ der Auseinandersetzung mit der Einzelarbeit der besonderen Wissenschaften. Aber nur um so gebieterischer fordert das Problem dieser Einzelarbeit als solches sein logisches Recht; um so unabweisbarer wird damit freilich auch die Pflicht, es durch die ganze Tiefe des Wissenschaftsbetriebs hindurch zu verfolgen. Diese Pflicht anzuerkennen aber heißt zugleich die theoretischen Voraussetzungen revidieren, auf welchen das Cassirersche Werk ruht.« (Hönigswald, »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«, 2901) Wenn dieses »logische Recht« der Empirie darin bestehen soll, die Begriffsbildung nicht allein vom Begriff her, sondern stets auch im Bezug auf dessen Gegenstände zu fassen, dann hätte Cassirer diese Konsequenz wohl spätestens in der Arbeit an der »Philosophie des Symbolischen« gezogen. 300 Auf dieses wesentliche Charakteristikum wurde gelegentlich zumindest hingewiesen, vgl. z. B. schon Susanne K. Langer, »On Cassirer’s Theory of Language and Myth«, in: Schilpp (Hg.), The Philosophy of Ernst Cassirer, 379- 400, hier 393, und Wilbur M. Urban, »Cassirer’s Philosophy of Language«, in: Schilpp (Hg.), The Philosophy of Ernst Cassirer, 401 – 4 41, hier 408. Anhand von Cassirers Entgegnung auf Konrad Marc- Wogaus Kritik beobachtet Carl H. Hamburg, dass Cassirer sich nicht auf eine rein argu-
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Sie folgt dabei nicht nur einem antiidealistischen Impuls, sondern bemüht sich auch um eine Antwort auf die posthegelianische Herausforderung der Philosophie, die die Ausdifferenzierung und Eigenständigkeit der geistesund kulturwissenschaftlichen Disziplinen mit sich brachte.301 Die vermeintliche Schwäche von Cassirers Philosophie, sich im angehäuften Material zu verlieren, statt begriffliche Klärungen zu liefern, muss deshalb keineswegs rundum bestritten werden, um einwenden zu können, dass sie Folge eines starken philosophischen Arguments in den Spuren Kants und eines neuen Kontexts des Philosophierens ist: Es ist unvermeidlich geworden, die philosophische Reflexion im Ausgang von konkreten, kulturellen und historischen Phänomenen zu betreiben und sich dazu auf das empirische Wissen der verschiedenen Kultur- und Geisteswissenschaften zu stützen. Cassirer versteht so die kulturphilosophische Reflexion im Zusammenhang des Wissens der Kulturwissenschaften und verwebt seine philosophische Begrifflichkeit eng mit den empirischen Befunden aus der Kulturgeschichte. Dadurch wird aber nicht nur der Status dieser Begrifflichkeit neu definiert, sondern auch der Anspruch auf eine philosophische Systematik problematisch. Cassirer ist sich dieser Konsequenz seines reflektierenden Vorgehens durchaus bewusst, wie wiederum anhand der Deutung Kants, ihren Folgen für die Theorie des Begriffs und der auf sie aufbauenden »Philosophie des Symbolischen« deutlich wird. In der Deutung von Kants Kritik der Urteilskraft in Kants Leben und Lehre bildet diese Fragestellung ein Zentrum der Theorie der Erkenntnis. Erkenntnis, so Cassirers Ausgangsunkt, gründet wesentlich in der »Systematik dieser Begriffe [unserer Begriffe vom Wirklichen, A. S.]«302 . Im Falle der deduktiven Disziplinen wie der Mathematik ergibt sich diese Systematik durch die Ableitung aller Begriffe aus einem Prinzip.303 Im Falle der empirischen Erkenntnis muss diese Systematik aber auch die »Wahrnehmung« und die »Empfindung« einbeziehen können. Cassirer beeilt sich klarzustellen, dass diese erkenntnistheoretische Problemlage keineswegs identisch ist mit derjenigen, von der die Kritik der reinen Vernunft ausgegangen war.304 Denn nicht nur lässt sich das geforderte mentative Ebene reduzieren lässt, sondern seine Thesen durch Bezugnahme auf die Wissenschaften zu stützen sucht, was aber, wie Hamburg feststellt, nicht unproblematisch ist, vgl. »Cassirer’s Conception of Philosophy«, in: Schilpp (Hg.), The Philosophy of Ernst Cassirer, 73 – 119, hier 88 f. 301 Vgl. dazu den Abschnitt »Hinwendungen zur Welt: Ein kurzer Vergleich von Cassirer und Dilthey« im ersten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 128 ff. 302 ECW 8, 277. 303 Vgl. ECW 8, 277 – 279. 304 »Ein völlig andrer Sachverhalt aber und damit ein gänzlich neues Problem bietet sich uns dar, sobald wir es statt mit einer mathematischen Mannigfaltigkeit (wie es die des reinen Raumes ist) mit einer empirischen Mannigfaltigkeit zu tun haben. Eben dies
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»Ineinandergreifen besonderer Gesetze« keineswegs aus der »Gesetzlichkeit des Geschehens schlechthin«305 begründen. Es wäre auch möglich, so Cassirer im Rekurs auf Kant, dass das Gegenteil der Fall wäre und sich unsere Erkenntnisbemühungen als ein eitles Unterfangen erweisen würden.306 Cassirer nähert sich so dem Ausgangsproblem der Kritik der Urteilskraft ganz im Sinne der Rekonstruktion im vorliegenden Kapitel und führt die Frage nach der »Erfahrung als System nach empirischen Gesetzen« und der Annahme einer »Technik der Natur« durch die reflektierende Urteilskraft anhand der »Ersten Einleitung« weiter aus.307 Dasselbe Problem stellt sich aber Cassirers eigener Theorie des Begriffs, sobald sie dessen »Besonderung« vor dem Hintergrund von Kants dritter Kritik als ein eigenständiges Problem annimmt. Der »Versuch der kontinuierlichen Vermittlung des Einzelnen mit dem Besonderen und Allgemeinen«308 , von dem Cassirer mit Bezug auf Kant spricht, bezieht sich ist die Voraussetzung, die wir in jeglicher empirischen Forschung machen: daß nicht nur das Gesamtgebiet der ›reinen Anschauungen‹, sondern auch das Gebiet der Empfindun gen und Wahrnehmungen selbst sich einem System einfügen lasse, das demjenigen der Geometrie analog und vergleichbar ist. Kepler sinnt nicht nur dem Zusammenhang der Kegelschnitte als willkürlich erzeugter geometrischer Gebilde nach, sondern er hält daran fest, in diesen Gebilden das Modell und den Schlüssel für das Verständnis und die Darstellung der Bewegung der Himmelskörper zu besitzen.« (ECW 8, 279) 305 ECW 8, 280: »Der konkrete Aufbau der empirischen Wissenschaft aber stellt uns zugleich vor eine andere Aufgabe […]. Denn hier finden wir nicht nur eine Gesetzlichkeit des Geschehens schlechthin, sondern eine derartige Verknüpfung und ein solches Ineinandergreifen besonderer Gesetze, daß dadurch das Ganze eines bestimmten Erscheinungskomplexes in einer festen Stufenfolge, in einem Fortgang vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Leichteren zum Schwereren sich für unser Denken fortschreitend aufbaut und gliedert.« 306 »Eine solche Faßlichkeit aber läßt sich aus reinen Verstandesgesetzen allein nicht a priori als notwendig erweisen und einsehen. Nach diesen Gesetzen ließe es sich vielmehr denken, daß das empirisch Wirkliche zwar dem allgemeinen Grundsatz der Kausalität gehorchte, daß aber die verschiedenen ursächlichen Reihen, die in seiner Gestaltung sich durchdringen, in ihm schließlich eine solche Verwicklung bedingten, daß es für uns unmöglich wäre, aus dem ganzen vielverschlungenen Gewirr des Wirklichen die einzelnen Fäden herauszulösen und gesondert zu verfolgen. Auch in diesem Falle wäre es uns unmöglich, das Gegebene in diejenige charakteristische Ordnungsform zu fassen, auf welcher die Eigenart unserer empirischen Wissenschaft beruht.« (ECW 8, 281) 307 Vgl. ECW 8, 283 – 295, bes. 286 – 288. 308 ECW 8, 290. Im Kapitel zur Kritik der Urteilskraft charakterisiert Cassirer so die der empirischen Erkenntnis eigene Herausforderung: »Der empirische Begriff muß das Gegebene dadurch zur Bestimmung bringen, daß er es fortschreitend mit dem Allgemeinen vermittelt, indem er es durch eine kontinuierliche Folge gedanklicher Zwischenstufen darauf bezieht. Die obersten und höchsten Gesetze selbst müssen sich, indem sie sich wechselweise durchdringen, zu den Besonderungen der Einzelgesetze und Einzelfälle ›spezifizieren‹ – wie diese letzteren umgekehrt, rein indem sie sich aneinanderreihen
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dann weder allein noch vorrangig auf das Verhältnis zwischen Begriff und Einzelfall, sondern in erster Linie auf das Verhältnis ›des Begriffs‹ zu seinen ›Besonderungen‹. Da Cassirer von den ›Besonderungen‹ des Begriffs ausgeht, um auf ›den Begriff‹ als vorgängige Bedingung seiner ›Besonderungen‹ zu reflektieren, ist jedoch eine Frage aufzuwerfen, die sich bereits in Cassirers Entgegnung auf Hönigswalds Kritik an Substanzbegriff und Funktionsbegriff abzeichnet. Denn er billigt dort zwar zu, dass die »Einheit ›des‹ Begriffs« in sich selbst »weitere Unterschiede und Determinationen zuläßt und fordert«. Die »Besonderungen, die diese Funktion nachträglich durch die Anwendung auf bestimmte Einzelprobleme erfährt«, kann jedoch durchaus Zweifel gegenüber Cassirers Annahme aufkommen lassen, dass sich diese »Besonderungen« zu jener »Einheit ›des‹ Begriffs« zusammenfügen. Warum sollte eine solche ›Einheit‹ überhaupt existieren? Diese Frage, die sich vor dem Hintergrund von Kants Kritik der Urteils kraft kaum mehr vermeiden lässt, wird für Cassirer umso mehr zum Pro blem, als er mit der Transformation des Transzendentalen ernst macht und daher eine entscheidende Rückversicherung Kants nicht mehr in Anspruch nehmen kann. Kant ging von der Annahme aus, dass die allgemeinsten Bedingungen der Erkenntnis, die die Kritik der reinen Vernunft festgestellt hatte, nach wie vor Bestand haben, auch wenn sie die Gesetze der Physik vielleicht nicht direkt begründen können. Der ›Mechanismus‹ kann in der Folge wie die ›Teleologie‹ der Biologie als lediglich heuristische Maxime der reflektierenden Urteilskraft begriffen werden, ohne die Annahme allgemeinster Bedingungen der Erkenntnis, die durch die bestimmende Urteilskraft notwendig angewandt werden, anzurühren. Die Einführung der besonderen Gesetze und spezifischen Bedingungen, auf die es die reflektierende Urteilskraft absieht, muss jenen apriorischen Rahmen der Erkenntnis bei Kant folglich keineswegs in Frage stellen. Dieser Rahmen ist aus Cassirers Sicht dagegen nicht ohne weiteres gegeben. Denn die Unterscheidung zwischen deduzierbaren und notwendigen Bedingungen aller Erkenntnis und den heuristischen und historischen Prämissen spezifischer Formen der Erkenntnis spielt für ihn keine zentrale Rolle.309 In Kants Leben und Lehre lässt es Cassirer so mit Blick auf Physik und Biologie dahingestellt, ob eine Annahme in letzter Instanz »als ein Notwendiges aus logischen Obersätund sich gegenseitig beleuchten, die allgemeinen Zusammenhänge, in welchen sie stehen, hervortreten lassen müssen. Dann erst erhalten wir jene konkrete Verknüpfung und Darstellung des Faktischen, wie unser Gedanke sie sucht und fordert.« (ECW 8, 281) 309 Vgl. zu Cassirers ›funktionalem Apriori‹ ausführlicher Schmitz-Rigal, Die Kunst offenen Wissens, 50 – 58, sowie zur Historizität des Apriori exemplarisch ECW 2, 3 – 5. Diese Passage wurde allem Anschein nach unverändert aus der ersten Auflage des Werks von 1906 übernommen.
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Zweites Kapitel
zen deduziert« werden kann oder eine »Forderung an die Erfahrung« ist, »zu deren Erfüllung diese in keiner Weise verpflichtet scheint«.310 Eine solche Forderung mag uns zwar »nicht gebietend, sondern fragend und forschend an das empirische Material« herantreten lassen, sie wird aber im empirischen Erkennen nichtsdestotrotz »am Gegebenen sogleich zur Durchführung«311 gebracht. Cassirer geht daher umstandslos davon aus, dass auch die Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft apriorische Bedingungen darstellen, da sie sowohl das empirische Erkennen anleiten, als auch dessen Objekte konkret qualifizieren. Für Cassirers Verständnis des Apriori ist es nämlich allein entscheidend, dass es eine Voraussetzung sowohl der Tätigkeit des Erkennens als auch seiner Gegenstände darstellt: »Denn um ein apriorisches Prinzip handelt es sich auch hier, da diese Abstufung und diese formale ›Einfachheit‹ der Naturgesetze nicht aus Einzelerfahrungen abgelesen werden kann, sondern die Voraussetzung bildet, auf Grund deren es uns allein möglich ist, Erfahrungen auf systematische Art anzustellen.«312 Für ein solches Verständnis des Apriori bedeutet die Einführung der spezifischen Gesetze in der Kritik der Urteilskraft jedoch durchaus eine Herausforderung, weil nicht wie bei Kant notwendige und konstitutive Bedingungen gegeben sind, denen sich die bloß subjektiv-notwendigen und heuristischen Annahmen der reflektierenden Urteilskraft einordnen müssten. Für die Kulturphilosophie resultiert daraus jedoch eine gewaltige Heraus forderung. Sie begreift das Symbolische als ebenso allgemeine wie spezi fische, als transzendentale wie empirische und historische Bedingung a ller Kultur. Ausgehend vom kulturwissenschaftlichen Wissen um Sprache, Kunst, M ythos oder Erkenntnis betrachtet sie eine Vielfalt von symboli310 »Und damit haben wir nun auch eine neue transzendentale Einsicht von wesentlicher Bedeutung gewonnen: Denn ›transzendental‹ muß jede Bestimmung heißen, die nicht unmittelbar auf die Gegenstände selbst, sondern auf die Art des Wissens von Gegenständen geht. Auch dasjenige, was wir die ›Verwandtschaft‹ der Arten und der Naturformen nennen, finden wir in der Natur nur darum, weil wir es nach einem Prinzip unserer Urteilskraft in ihr suchen müssen.« (ECW 8, 282) Dieses Verständnis des Apriori akzentuiert einen Aspekt der apriorischen Bedingungen bei Kant, nämlich ihre Aufgabe, die Gegenstände der Erkenntnis zu ermöglichen oder zu konstituieren; dagegen läßt sie den Aspekt der Notwendigkeit oder Deduzierbarkeit der Bedingungen an den Rand treten. Diese Aspekte unterscheidet besonders deutlich Michael Friedman, Dynamics of Reasons. The 1999 Kant Lectures at Stanford University, Stanford, CA , 2001, 30 f. und 71 – 73, wobei er sich aber vorrangig auf den logischen Empirismus bezieht. 311 Wie die vorangehenden Zitate in ECW 8, 282 f. 312 ECW 8, 288. Cassirer nennt die Annahme der reflektierenden Urteilskraft daher anders als Kant auch ohne Umstände »›objektiv‹ in dem Sinne, daß auf ihr nichts Geringeres als der Bestand der empirischen Wissenschaft und die Richtung der empirischen Forschung selbst beruht.« (Ebd., 283)
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schen Formen, um deren systematischen Zusammenhang herauszuarbeiten. Die Annahme eines Systems der symbolischen Formen ist daher nichts anderes als eine methodische Forderung einer philosophischen Reflexion, die sich auf die Vielfalt der Wirklichkeit einlässt, wie sie sich in den verschiedenen Gebieten der Kultur darstellt.313 Sie ist nicht die Grundlage eines deduktiv-beweisenden Anspruchs, sondern das Ziel der philosophischen Bewältigung der empirischen und historischen Wirklichkeit der Kultur. Das Postulat einer solchen Systematik ist dabei zugleich als Komplement eines Verständnisses der Bedingungen von Kultur zu begreifen, das diese mit ihrer empirischen und historischen ›Besonderung‹ verschränkt. Seit den ersten programmatischen Äußerungen zu einer Philosophie der symbolischen Formen von 1920 steht die Annahme einer Systematik des Symbolischen daher stets unter der Prämisse, die ›Besonderungen‹ der Symbolisierungen zu akzentuieren und zu bewahren.314 Es bleibt in der Konsequenz jedoch die Frage bestehen, warum es ein solches System überhaupt geben soll. Zum einen wäre zu zeigen, warum eine allgemeine Struktur, die allen Formen der Symbolisierung gemeinsam ist, überhaupt existiert, da Cassirer aufgrund seines Begriffs des Apriori eine solche notwendige und allgemeinste 313 Guido Kreis hat in seiner Deutung von Cassirers Philosophie den Systembegriff ins Zentrum gerückt und seine konzeptionelle Bedeutung unterstrichen. Weil er die systematische Rolle der Kritik der Urteilskraft für die Genese von Cassirers Symbolphilosophie nicht berücksichtigt, hält er jedoch an einer unreflektierten und traditionellen Auffassung des Transzendentalen fest. In der Konsequenz unterschätzt er die Schwierigkeiten der materialen ›Besonderung‹ und die Komplexität von Verallgemeinerungen und Systematisierung, aber auch die Bedeutung von Cassirers Rezeption der Kulturwissenschaften, vgl Guido Kreis, Cassirer und die Formen des Geistes, Frankfurt a. M. 2010, 459 – 4 69, sowie darauf hinleitend 169 – 183 und 377 – 392. 314 Ich beziehe mich hier natürlich auf die viel diskutierten Stellen in »Goethe und die mathematische Physik«, vgl. ECW 9, 301 – 307 und 314 f., und Zur Einsteinschen Re lativitätstheorie, vgl. ECW 10, 112 – 114. Es ist in beiden Texten schön zu sehen, wie die Akzentuierung des Spezifischen eine Vielfalt erschließen hilft, die andererseits wieder die Frage nach deren systematischer Einheit aufwirft. Im programmatischen Aufsatz »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« von 1923 wird es schließlich heißen: »Wir haben bisher die Kraft des inneren Bildens, die sich in der Erzeugung der Welt der Kunst und der Welt der Erkenntnis, in der Erzeugung der mythischen und der sprachlichen Welt beweist, im wesentlichen als eine Einheit betrachtet; wir haben eine durchgehende Form des Aufbaus, gleichsam eine allgemeine Typik, in ihr herauszustellen gesucht. Aber das wahre Verhältnis der Einzelformen tritt erst zutage, wenn wir nun innerhalb dieser Typik die besonderen und spezifischen Züge jeder einzelnen Grundrichtung zu bestimmen und gegeneinander abzugrenzen versuchen. Die Funktion der Bildgestaltung überhaupt mag immerhin als eine letzte übergreifende Einheit gedacht werden können; aber die Verschiedenheit der Formen tritt sofort wieder hervor, sobald man auf das verschiedene Verhältnis reflektiert, das der Geist in jeder von ihnen zu der von ihm erzeugten Welt der Bilder und Gestalten sich gibt.« (ECW 16, 91)
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Zweites Kapitel
Bedingung nicht umstandslos voraussetzen kann; zum anderen müsste er aufweisen, dass alle Formen der Symbolisierung als Spezifikationen dieses Symbolischen zu begreifen sind und auf diese Weise ein einheitliches wie artikuliertes System bilden. Warum das Verhältnis des Symbolischen und seiner Spezifikationen in den Formen der Symbolisierung sich als systematischer Zusammenhang darstellt – auf diese Frage gibt Cassirer jedoch keine befriedigende Antwort. Dass er keine theoretische Antwort gibt und keinen Beweis der Existenz eines solchen Systems unternimmt, liegt schon deshalb nahe, weil er sein Philosophieren im Zusammenhang mit den Kulturwissenschaften selbst als eine reflektierende Tätigkeit begreift und Kant schon argumentiert hatte, dass die notwendigen Annahmen der reflektierenden Urteilskraft prinzipiell nicht theoretisch zu begründen sind. Kant hatte deshalb eine ästhetische Antwort zu geben versucht, indem er das Schöne als ein reflexives Urteil konzipiert, durch das die Annahme der reflektierenden Urteilskraft zumindest am Einzelfall bekräftigt wird. Auf diese Antwort kann Cassirer jedoch nicht zurückgreifen, weil er die Ästhetik anders verortet: Dem ästhetischen Urteil schreibt er anders als Kant einen gegenständlichen Bezug zu und nutzt daher die Konzeption des Schönen zur Spezifizierung der Symbolisierung im Feld der Künste.315 Cassirer zieht eine andere Konsequenz: Die Systematik des Symbolischen und seiner spezifischen Formen ist – ganz wie in der empirischen Forschung – eine methodische Annahme und kann sich letztlich nur in der Durchführung bestätigen. Es handelt sich um das Postulat einer »Philosophie des Symbolischen«, deren Reflexion von den ›Besonderungen‹ der Symbolisierungen ausgeht und sie in ihrem systematischen Zusammenhang zu fassen sucht. In der Folge ist Cassirer in seinem Projekt einer Kulturphilosophie daher all den Problemen ausgesetzt, mit denen es die reflektierende Urteilskraft bei Kant zu tun bekam. Diese Fragen sind nun aber nicht mehr bloß theoretisch, sondern betreffen das Philosophieren und die Durchführung 315 Cassirer versteht das ästhetische Urteil anders als Kant in Korrelation zum Gegenstand und damit im Bezug auf »ein Reich reiner Gestalten, deren jede in sich selbst beschlossen ist und einen eigenen individuellen Mittelpunkt besitzt« (ECW 8, 295), vgl. auch die ausführlichere Charakterisierung ebd., 295 – 300. Es stellt so einen spezifischen Fall des Urteils dar, das als solches zuallererst durch die Korrelation der Erfahrung und ihres Gegenstands ausgezeichnet ist. Diese Korrelation gründet im systematischen Zusammenhang der Erfahrung, weshalb Cassirer unter der Zweckmäßigkeit letztlich diesen systematischen Charakter versteht. Zweckmäßigkeit, so Cassirer, charakterisiert ein »Ganzes« als ein »geschlossenes System, in welchem jedes Glied seine eigentümliche Funktion besitzt, alle diese Funktionen aber derart miteinander in Einklang stehen, daß sie sich sämtlich zu einer einheitlichen Gesamtleistung und Gesamtbedeutung zusammenfassen« (ebd., 277).
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des Projekts selbst. Welch große Herausforderungen insbesondere mit dem Postulat einer Systematik der Symbolisierungen gegeben sind, zeigte sich im ersten Kapitel der vorliegenden Studie bereits im kleineren Maßstab des wissenschaftlichen Begriffs und Cassirers Bemühungen um ein »System der exakten Wissenschaften« in der Disposition von 1917. Cassirer scheiterte daran, einen allgemeinsten Begriff für die ›Besonderungen‹ der Grundbegriffe in den verschiedenen Disziplinen zu bestimmen, und sah sich in seinen wiederholten Anläufen daher gezwungen, das Verhältnis zwischen der Allgemeinheit der Bedingungen und der Spezifik der zu begründenden Grundbegriffe der Wissenschaften immer wieder neu zu justieren. Sobald er auf einen Begriff stieß, der sich nicht auf die angenommenen Bedingungen zurückführen ließ, verallgemeinerte er diese Bedingungen, um auch jenen Begriff einschließen zu können. Die notwendigen Bedingungen wurden so zum einen immer allgemeiner, was wiederum fraglich erscheinen lässt, ob sie spezifisch genug sind, um überhaupt begründen zu können, was sie begründen sollen. Zum anderen stießen sie nichtsdestotrotz wiederholt an die Grenzen ihrer Allgemeinheit, was insbesondere am Übergang der rein mathematischen zu den empirischen Begriffen der Physik und Chemie offenbar wurde. Die Tragweite dieses Versuchs sollte nicht unterschätzt werden. Cassirer führt hier nicht nur unwillkürlich die Schwierigkeiten vor Augen, die mit der doppelten Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft im Sinne Kants verbunden sind, nämlich zum einen vom Besonderen aus auf das Allgemeine zu reflektieren und zum anderen vom Allgemeinen aus das Besondere zu spezifizieren.316 Er führt am wissenschaftlichen Begriff darüber hinaus vor, was für das neue Projekt einer »Philosophie des Symbolischen« methodisch charakteristisch ist: der Versuch, den verschiedenen Formen des Begriffs oder des Symbolischen in ihrer Spezifik und Vielfalt Rechnung zu tragen, ohne die gemeinsamen strukturellen Charakteristika all dieser Formen aus den Augen zu verlieren. Es ist daher auch kein Zufall, dass Cassirer das Verhältnis zwischen der einheitlichen Bestimmung des Symbolischen und den vielfältigen spezifischen Formen und insbesondere das damit anvisierte »System der ›symbolischen Formen‹« kaum weniger Probleme bereiten wird.317 316 Der kantische Gedanke findet sich daher auch kaum zufällig in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie wieder, einem der ersten publizierten Texte, die das neue Projekt Cassirers umreißen, vgl. ECW 10, 109 f. 317 ECW 24, 374. Vgl. ähnliche Formulierungen in ECW 16, 78 und 189, sowie für die Diskussion in der Sekundärliteratur bereits John Michael Krois, »Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen«, in: Braun u.a. (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 15 – 4 4, hier 18 – 20, und vor allem Fabien Capeillères, »Philosophy as Science: ›Function‹ and
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Zweites Kapitel
Ein System, das zur Bewältigung der empirischen Vielfalt und damit zu heuristischen Zwecken herangezogen wird, bewegt sich in der Spannung zwischen dem projektierten System, in dem das Einzelne aufgehoben und abgeleitet wäre, und der Besonderheit des Einzelnen, an dem sich das System ablesen lassen und bewähren muss.318 Es gilt daher auch für Cassirers eigene Bemühungen um ein System, was er zu Beginn seines Aufsatzes »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie«319 von 1923 mit Blick auf das System der drei Kritiken sagt: Dieser »Gesamtaufbau des Wissens in seiner Ganzheit und in seiner Besonderheit ist freilich nur ein Ideal, das die kritische Philosophie aufstellt.«320 Er ist von historischen Gegebenheiten und Entwicklungen abhängig, so dass jede versuchte »Feststellung« notwendig »gewisse provisorische und hypothetische Züge« trage.321 Cassirer führt damit offenbar auf Humboldts Sprachphilosophie hin, die er als eine fruchtbare Weiterentwicklung der kritischen Philosophie darstellt.322 Doch gilt seine Bemerkung zum ›provisorischen und hypothetischen‹ Charakter jedes systematischen Unterfangens sicherlich auch für sein eigenes kulturphilosophisches Projekt. In der Auseinandersetzung mit den kulturhistorischen und kulturwissenschaftlichen Studien zur Sprache, zum Mythos, zur Kunst oder zur Erkenntnis kehrt das Problem ›Energy‹ in Cassirer’s ›Complex System‹ of Symbolic Forms«, in: The Review of Metaphysics 61 (2007), 317 – 377, bes. 325 – 336. Capeillères rückt die Systematizität meines Erachtens jedoch zu nah an die Wissenschaftlichkeit der Philosophie heran, sowohl durch die Annäherung von Cassirers systematischem Anspruch an den Deutschen Idealismus, als auch mit einem mathematischen Modell des Systems der symbolischen Formen, vgl. ebd., 349 – 356. 318 Von der »heuristischen Funktion des Systemgedankens« bei Cassirer spricht auch Renz, Die Rationalität der Kultur, 172, allerdings weder mit Bezug auf Cassirers Relektüre der Kritik der Urteilskraft noch hinsichtlich seiner Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften. Sie arbeitet dagegen lesenswert die Differenzen und Ähnlichkeiten vor allem zu Cohens Konzeption des Systems heraus, vgl. ebd., 161 – 174. Vgl. für ähnlich ›deeskalierende‹ Einschätzungen von Cassirers Anspruch auf eine Systematik der Philosophie Ernst Wolfgang Orth, »Geschichte und Literatur als Orientierungsdimensionen in der Philosophie Ernst Cassirers«, in: Enno Rudolph und Bernd-Olaf Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 105 – 127, hier 105 f. (wieder aufgenommen in Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 44 – 66, hier 44 f.). 319 In: ECW 16, 105 – 133. 320 ECW 16, 106. 321 Im direkten Anschluss an das vorangehende Zitat heißt es: »Die Ausführung und Durchführung dieses Ideals kann sich nur im stetigen Fortgang der Wissenschaft selbst ergeben, nicht aber ein für allemal in einem abstrakten Entwurf vorweggenommen und für immer festgestellt werden. Wo dennoch eine solche Feststellung versucht wird, da trägt sie notwendig, neben ihren allgemeingültigen Bestimmungen, gewisse provisorische und hypothetische Züge« (ebd.). 322 Vgl. ECW 16, 109.
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vielleicht sogar unter verschärften Bedingungen wieder, weil die Vielfalt des Materials hier von weit größerer Disparatheit und Komplexität ist. Cassirer hat an dieser Stelle keine theoretische Lösung und das in Aussicht gestellte System findet sich nirgends in seinen Schriften. Er hat jedoch gute philosophische Gründe dafür, warum es hier keine theoretische Lösung gibt: Im Anschluss an Kants Transformation des Transzendentalen in der Kritik der Urteilskraft kann die Forderung eines Systems nur das Postulat einer philosophischen Arbeit sein, die von den konkreten Phänomenen und ihrer spezifischen Ordnung ausgeht. Cassirer geht daher an die Arbeit. Er setzt sich in den Monaten und Jahren nach dem Entwurf der Disposition der »Philosophie des Symbolischen« eingehend mit den Kulturwissenschaften auseinander und schreitet »am Gegebenen sogleich zur Durchführung«323 seiner philosophischen Reflexion. Jede philosophische Reflexion, die sich ohne diesen konstitutiven Umweg durch die Empirie auf allgemeine Bedingungen und Begriffe zu berufen können glaubt, gibt demgegenüber allzu leicht scheinbar simplen Lösungen nach.
323
ECW 8, 282.
Die Genese des Symbolischen und Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften Die ersten beiden Kapitel dieser Studie haben die Genese der »Philosophie des Symbolischen« zunächst im Zusammenhang des Schaffens Cassirers und sodann im weiteren Rahmen der kantischen Tradition des Philosophierens verortet. Im ersten Kapitel erwies sich die Hinwendung zu einer komplexen, in sich differenzierten Welt als zentrales Motiv von Cassirers Konzeption einer Symbolphilosophie. Um der empirischen Vielfalt der Kultur gerecht zu werden, nimmt Cassirer zum einen allgemein ein Symbolisches an, das alle Formen des gleichzeitigen »Aufbaus« der subjektiven Erfahrung und der objektiven Wirklichkeit über das Feld der Erkenntnis hinaus umfasst.1 Zum anderen bezieht er dieses Symbolische von vornherein auf die notwendige Spezifizierung in konkreten symbolischen Formen wie der Sprache oder dem Mythos. Die philosophische Reflexion hat es folglich zugleich mit der Allgemeinheit des Symbolischen und seiner Spezifikation für verschiedene Symbolisierungen zu tun und muss mit einer Gemengelage von allgemeinen und besonderen Bedingungen operieren, um der Vielfalt und Komplexität der kulturellen Wirklichkeit Rechnung tragen zu können. Ralf Konersmanns Befund, die Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts habe eine Wendung zum »welthaltigen Denken«2 vorgenommen, bestätigt sich somit bereits für Cassirers ersten Entwurf einer »Philosophie des Symbolischen«. Cassirers Ansatz gibt dieser Wendung aber einen besonderen Dreh, indem er die Welthaltigkeit der Philosophie auf spezifische Weise fasst und sich dabei Überlegungen aus der Kritik der Urteilskraft zu Nutze macht, wie das zweite Kapitel ausgeführt hat. Kant hatte mit Bezug auf die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft die Konzeption des Transzendentalen um solche Bedingungen erweitert, die den Gegenständen, die sie ermöglichen, nicht notwendig vorgeschrieben werden können und nicht unabhängig von ihnen gegeben sind, sondern im Erkenntnisprozess zwar zwangsläufig anzunehmen, aber zugleich an den Gegenständen zu überprü1 Der hier aufgenommene operative Begriff des »Aufbaus« durchzieht das ganze Werk Cassirers, vgl. exemplarisch ECW 2, 5 f., ECW 6, 336, und Ernst Cassirer, »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, in: ECW 18, 111 – 126, bes. 111 – 113. Der korrelative Aspekt des Aufbaus kommt besonders gut in der Überschrift des dritten Abschnitts im Manuskript 1919, 139, zum Ausdruck: »Die Sprache und der Aufbau des ›subjektiven‹ und des ›objektiven‹ Seins«. 2 Vgl. Ralf Konersmann, Kulturphilosophie zur Einführung, Hamburg 2003, 108.
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Drittes Kapitel
fen und gegebenenfalls zu revidieren sind. Im Anschluss an Kants Transformation des Transzendentalen verortet Cassirer die Welthaltigkeit der kulturphilosophischen Reflexion daher präzise in der genuin empirischen und historischen Spezifikation der formalen Bedingungen der Erfahrung und ihrer Gegenstände. Sie zeigt sich in der unauflösbaren Verschränkung der Formen der Erfahrung mit ihren empirischen und historischen Inhalten und in der Verflechtung der allgemeinen Bedingungen des Symbolischen mit ihrer vielfältigen Realität in den Formen der Symbolisierung. Cassirers Verständnis eines ›welthaltigen Denkens‹ unterscheidet sich daher markant von anderen zeitgenössischen Versuchen, die Philosophie der Welt zuzuwenden. Denn die Welt kommt bei Cassirer nicht allein durch die mannigfachen materialen Gehalte und vielfältigen Inhalte der Erfahrung oder des Erlebens ins Spiel.3 Eine solche These liegt Cassirer schon wegen 3 Es scheint mir hier eine wesentliche Unterscheidung zu zwei Denkern begründet zu liegen, die sich ebenso einem ›welthaltigen‹ Philosophieren verschrieben haben: Edmund Husserl und Georg Simmel. Erstens hat Cassirer vor allem in Texten aus den 1920er Jahren wiederholt moniert, dass sich Husserl auf die Unterscheidung der materialen Aspekte der Erfahrung von ihren formalen Bedingungen stützt, wenn er auf ein transzendentales Bewusstsein reflektiert, dessen intentionale Strukturen die Grundlage seiner Bezüge zur Welt darstellen sollen, vgl. ECW 13, 223 – 228, und Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, in: ECW 17, 253 – 282, hier 258 f., sowie allgemein zum Zusammenhang von formalen und materialen Elementen der Erfahrung ECW 11, 35 – 39 und 147. Zweitens hält auch Georg Simmel hinsichtlich der Beschreibung der Verfasstheit des objektiven Geistes an der Differenz von Inhalt und Form fest. Besonders deutlich zeigt sich dies in seiner kulturphilosophischen Verallgemeinerung der drei Kritiken Kants in einer Schrift von 1910, vgl. Georg Simmel, »Hauptprobleme der Philosophie«, in ders.: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur, hg. von Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1996 (= Gesamtausgabe, 14), 7 – 157, bes. 19 – 25. Aus Kants Theorie der Erkenntnis entwickelt Simmel nämlich den Gedanken, dass neben der Wissenschaft auch Kunst und Religion solch »große Formen« seien, die »aus der Gesamtheit der Inhalte je eine ganze Welt aufzubauen« (ebd., 21) vermögen. Unter Voraussetzung einer gegebenen Form muss daher die »Welt als Inhalt« erscheinen: »Es gibt einige wenige, das Weltmaterial zu einer Welt bildende Formen, die sich einer Unendlichkeit mannigfaltiger Inhalte darbieten« (ebd., 24). Simmel hält dabei die altbekannte Differenz für unvermeidbar: »Es gibt vielleicht keine Notwendigkeit des Denkens, deren wir uns – obgleich sie weder logischen Zwang noch den der fühlbar gegebenen Tatsächlichkeit enthält – so wenig entschlagen können, als der Zerlegung der Dinge in Inhalt und Form.« (Ebd., 19) Die Auffassung von Erkenntnis, Kunst und Religion als allgemeine Formen und der Welt als deren konkrete, zu formende und geformte Inhalte lässt sich so auch unabhängig von und ohne Nennung Kants in Simmels eigenen Beschreibungen der Kultur bzw. des ›objektiven Geistes‹ finden, vgl. Georg Simmel, »Philosophische Kultur«, in ders., Hauptprobleme der Philosophie, 159 – 459, hier 447 f. Es ist charakteristisch für Simmels Kulturphilosophie, dass er den kulturellen Objektivationen, in denen er bestimmte, weltliche Inhalte durch vorgängige Formen fixiert sieht, schließlich die Wirklichkeit dynamisch-lebendiger Prozesse entgegensetzt.
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seiner alten – bereits von seinen neukantianischen Lehrern geteilten – Annahme fern, derzufolge die materialen Aspekte der Erfahrung von ihren formalen Bedingungen nicht zu trennen sind. 4 Diese allgemeine Annahme verband sich in seinen erkenntniskritischen Schriften noch mit einem Idea lismus, der alle Inhalte des Erkennens auf der Grundlage von apriorischen Bedingungen konstruiert sieht. Im Anschluss an die kantische Transformation der transzendentalen Bedingungen hat sie nun jedoch zur Konsequenz, dass die Cassirer’sche Kulturphilosophie ihre Welthaltigkeit in der empirischen Spezifikation und historischen Entfaltung der Formen sowohl der Erfahrung als auch der Wirklichkeit selbst verorten muss. Diese programmatische Bestimmung einer welthaltigen »Philosophie des Symbolischen« ist weiter zu schärfen, indem sie nicht nur im Anschluss an Kants Transformation des Transzendentalen betrachtet, sondern auch von den Systemen des Deutschen Idealismus unterschieden wird. Denn Cassirer folgert aus der Verschränkung des Symbolischen als Bedingung aller Kultur mit seinen empirischen Spezifikationen in der Vielfalt der symbolischen Formen nicht zuletzt, dass die Vielfalt von Sprachen und Künsten, Mythen und Erkenntnissen in keinem System zu fassen ist, das sich aus seinen Anfängen gemäß einer einsichtigen Logik notwendig entwickeln würde. Stattdessen geht er von einem genuin historischen Prozess der Entfaltung des Symbolischen aus und reflektiert auf dessen Bedingungen im Ausgang von konkreten Phänomenen der Symbolisierung. Dass allgemeine Bedingungen der Kultur überhaupt existieren, sie sich in symbolische Formen differenFür Cassirer wird das Leben, wie sich bereits in den Stichpunkten zur »Metaphysik des Symbolischen« aus der Disposition von 1917 gezeigt hat, dagegen stets in der Verschränkung, Entfaltung und Spezifikation von Formen und Inhalten bestehen. Diese Differenz zeigt sich sehr schön an Cassirers und Simmels Verständnis der Goetheschen Formulierung von der »Geprägten Form, die lebend sich entwickelt«, vgl. Georg Simmel, »Goethe«, in: ders., Goethe. Deutschlands innere Wandlung. Das Problem der historischen Zeit. Rembrandt, hg. von Uta Kösser, Hans-Martin Kruckis und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 2003 (= Gesamtausgabe, 15), 7 – 270, hier 91 f., und Ernst Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken«, in: ECW 16, 3 – 73, hier 42. Cassirer fügt Goethes Formulierung mit ähnlicher, allerdings weniger expliziter Intention ohne Zitation bereits in ECW 7, 262, ein und spielt häufig mit der verkürzten Formel von der ›geprägten Form‹ auf sie an, vgl. z. B. ECN 5, 128, und dazu Massimo Ferrari, Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie, Meiner 2003, 62 f., insbesondere die weiteren Nachweise der Goethe’schen Formulierung bei Cassirer ebd., Anm. 120. 4 Cassirer nimmt auch in den Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« diesen zentralen Punkt der Kant-Deutung nochmals auf: »Es gelingt daher auch niemals, diese / Formen aus einem subjektiven und objektiven / Bestandteil, aus ›Form‹ und ›Materie‹ / zusammenzusetzen (die falsche Kantauffassung!)« (Blatt 9, 4). Seine richtige ›Kantauffassung‹ hindert Cassirer aber nicht daran, Kant mitunter einer Inkonsequenz in dieser Hinsicht zu bezichtigen, vgl. z. B. ECN 1, 200, oder ECW 13, 220 – 223.
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Drittes Kapitel
zieren und diese wiederum ein gegliedertes System bilden, lässt sich dabei nicht mehr aus einem zugrundeliegenden Begriff ableiten, sondern stellt die notwendige Annahme einer Kulturphilosophie dar, die auf den Spuren von Kants dritter Kritik kein deduktives, sondern ein reflektierendes Vorgehen verfolgt: Sie hat den Versuch aufgegeben, den kulturellen Phänomenen Bedingungen vorzuordnen und ihrer Vielfalt zu Grunde zu legen, um stattdessen von der Vielfalt der Phänomene ausgehend auf Gemengelagen von allgemeinen und spezifischen Bedingungen zu reflektieren, die die empirischen und historischen Besonderungen der Kultur zu begreifen erlauben und zugleich auf ihre systematische Ordnung hin zu befragen sind. Cassirers Kulturphilosophie geht somit von der konkreten Vielfalt der Symbolisierungen in der Geschichte der menschlichen Kultur aus, um auf ihre allgemeinen und spezifischen Bedingungen zu reflektieren und idealiter zugleich die Einheit und Vielfalt der Symbolisierung in Sprache, Mythos, Kunst und Erkenntnis herauszuschälen. Sie nimmt dabei auch insofern die nachhegelschen Herausforderungen der Philosophie an, als sie sich dezidiert auf empirische und historische Tatsachen stützt, aber nicht beansprucht, über solche Tatsachen selbst zu verfügen. Stattdessen greift sie auf das reichhaltige kulturwissenschaftliche Wissen zurück und verknüpft die philosophische Reflexion mit der kulturwissenschaftlichen Deskription der empirischen und historischen Phänomene. Die Welthaltigkeit von Cassirers Symbolphilosophie speist sich folglich nicht einfach daraus, dass sie sich mit den Äußerungen oder Objektivationen der menschlichen Kultur befasst. Sie greift auf diese Sphäre vielmehr mit Hilfe der Kulturwissenschaften und ihres dem Anspruch nach objektivierenden Diskurses zu, da die Frage nach den Bedingungen der Symbolisierung nur anhand ihrer empirischen und historischen Entfaltung zu erörtern ist und allein die umfangreichen Forschungen der kulturwissenschaftlichen Disziplinen versprechen, der menschlichen Kultur in der Differenzierung und Komplexität ihrer historischen Objektivationen Rechnung zu tragen. Der objektive Geist, der die frühe Kulturphilosophie so sehr umtrieb, kommt Cassirer folglich zuallererst als kulturwissenschaftlich objektivierter in den Blick. Cassirers Kulturphilosophie geht in der Konsequenz ein enges Verhältnis mit den Kulturwissenschaften ein und steht damit prinzipiell in einer neukantianischen Tradition, die sich stets auf die Wissenschaften bezogen und ihnen ein hohes Reflexionspotential zugetraut hat, so dass sich die philosophische Begriffsbildung insbesondere an deren methodische Diskussionen anschloss.5 Die Bezugnahme auf die Wissenschaften hat sich aber doch um 5 Die Kontinuität von Cassirers Bezugnahme auf die Kulturwissenschaften gegenüber Cohens und Natorps Verhältnis zu den Naturwissenschaften betont Helmut Holzhey,
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einiges verschoben, weil sich Cassirer nicht mehr auf eine erkenntnistheoretische Perspektive beschränkt, wie bereits im letzten Abschnitt des ersten Kapitels diskutiert wurde. 6 Die »Philosophie des Symbolischen« stützt sich stattdessen auf die kulturwissenschaftliche Forschung, um die kulturellen Phänomene in ihrer inhärenten Vielfalt und Komplexität fassen und die spezifischen Ordnungen des Symbolischen sowie die Besonderungen seiner Bedingungen behandeln zu können. Die Philosophie der symbolischen Formen wählt somit, wie Cassirer rückblickend im Entwurf des geplanten vierten Bandes formuliert, »den Weg, der durch die konkreten Gebilde des Geistes hindurchführt«7. Dass dieser Weg für den Philosophen aber nur mit Hilfe der Materialien und Deskriptionen der Kulturwissenschaften gangbar ist, präzisiert Cassirer in der »Einleitung« des zweiten Bandes mit Blick auf die »Methodik der kritischen Analyse«: Sie steht »zwischen der metaphysisch-deduktiven und der psychologisch-induktiven Methodik« und muss »gleich dieser letzteren, überall vom ›Gegebenen‹, von den empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewusstseins ausgehen«, um aber anders als die Psychologie auf Grundlage dieser »Wirklichkeit des Faktums nach den ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹«8 zurückzufragen. In seltener Direktheit stellt Cassirer die resultierende enge Verbindung der »Problemstellung der Philos[ophie] d[er] symbol[ischen] F[ormen]« mit der »Versenkung in das empirische Material« in dem Entwurf »Über Basisphänomene« von unge»Cassirers Kritik des mythischen Bewußtseins«, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hg. von Hans-Jürg Braun, Helmut Holzhey und Ernst Wolfgang Orth, Frankfurt a. M. 1988, 191- 205, hier 194 – 197, wobei er m. E. Diskontinuitäten ebenso unterschätzt wie die systematischen Differenzen zur phänomenologischen Deskription. Auch Massimo Ferrari, »Das Problem der Geisteswissenschaften in den Schriften Cassirers für die Bibliothek Warburg (1921 – 1923). Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Philosophie der symbolischen Formen«, in Braun et al. (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 114 – 133, hebt in erster Linie neukantianische Kontinuitäten hervor, vgl. bes. ebd., 121. Er verengt seine Sicht auf Cassirers Verhältnis zu den Geisteswissenschaften dadurch aber allzu sehr auf das Problem ihrer »Grundlegung« und setzt dabei letztlich eine unveränderte, neukantianische »transzendentale Methode« voraus, vgl. ebd., 125 – 127. 6 Vgl. dazu nochmals den Abschnitt »Hinwendungen zur Welt: Ein kurzer Vergleich von Cassirer und Dilthey« im ersten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 128 ff. 7 ECN 1, 27. 8 ECW 12, 13 f. Ebd., 18, wiederholt Cassirer diese Forderung: »Der Nachweis dieses Verhältnisses [zwischen dem ›Abbild eines gegebenen Daseins‹ und der ›eigenen typischen Weise des Bildes selbst‹ des Mythos, A. S.] kann freilich nicht von oben her, in rein konstruktivem Aufbau, versucht werden, sondern er setzt die Tatsachen des mythischen Bewußtseins, er setzt das empirische Material der vergleichenden Mythenforschung und der vergleichenden Religionsgeschichte voraus.«
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fähr 1940 fest: »Sprachgeschichte, Mythengeschichte, Religionsgeschichte, Kunstgeschichte, Wissenschaftsgeschichte[:] sie bilden die ›Materie‹ der Ph[ilosophie] d[er] symb[olischen] F[ormen,] und ohne diese Materie, die sie den besonderen Wissenschaften zu verdanken hat, vermöchte sie nicht einen Schritt vorwärts tun – aber nun vollzieht sie ihre Wendung ins Allgemeine – die sie weder zu psychologischen Allgemeinheiten (Grundkräften der ›Seele‹) hinführt, noch zu metaphysischen Allgemeinheiten (›Phänomenologie des Geistes‹ im Hegelschen Sinne als Aufweis der dialektischen Stufen seiner Entwicklung und Selbstentfaltung)[,] wohl aber zu einer allgemeinen Auffassung ›der‹ Sprache überhaupt – ihrer ›inneren Form‹[,] des Mythos überhaupt[,] der Naturerkenntnis, der Mathematik überhaupt – «.9 Die »Philosophie des Symbolischen« nimmt selbst aber keineswegs eine objektivierende Perspektive ein. Die »Versenkung in das empirische Material« hat, wie das vorangehende Zitat andeutet, keineswegs zum Ziel, das Symbolische in seinen einzelnen empirischen Spezifikationen zu betrachten. Vielmehr wird das folgende Kapitel zeigen, wie Cassirer die Bedingungen des Symbolischen und seiner spezifischen Formen in die Kulturgeschichte einlässt, um sie letztlich im Lichte der Entfaltung des Symbolischen zu begreifen, also hinsichtlich der Realisierung des Potentials, die Wirklichkeit nicht nur in vielfältigen Formen zu symbolisieren, sondern sich zugleich des symbolischen Charakters dieser Wirklichkeiten bewusst zu werden. Das Symbolische ist folglich ebenso Teil der kulturellen Wirklichkeit, wie es in seiner historischen Entfaltung zugleich die Möglichkeit eröffnet, die Wirklichkeit in ihrem symbolischen Charakter zu begreifen. Cassirer folgt so zwar einerseits einem antiidealistischen Motiv, wenn er an Kants Transformation des Transzendentalen anschließt und Kulturphilosophie deshalb stets unter Einbeziehung der empirischen Befunde der Kulturwissenschaften betreibt. Andererseits sucht er dabei aber ein eigenes Telos oder eine inhärente Norm des Symbolischen und seiner Entfaltung zur Geltung zu bringen, die in Gestalt einer selbstbewussten Einsicht in die symbolische Aktivität des Menschen in der Darstellung seiner Wirklichkeit durchaus an Motive des Deutschen Idealismus anknüpft. Cassirers Kulturphilosophie bewegt sich so zwar in großer Nähe zu den Kulturwissenschaften und stützt sich wesentlich auf deren empirische Erkenntnisse, sie übernimmt aber nicht deren objektivierenden Blick, sondern erweitert ihn um ein Sensorium für die normativen Aspekte der Kultur. Die angerissenen Bestimmungen des Symbolischen verknüpft Cassirer vor allem mit dem Begriff der Genese, auf dessen systematische Bedeutung und operative Dimension in Cassirers Schriften Ernst Wolfgang Orth schon 9
ECN 1, 163 f.
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früh hingewiesen hat.10 Das vorliegende Kapitel wird nun anhand der Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« zeigen, wie Cassirer den Begriff wesentlich in der Auseinandersetzung mit der Sprachforschung Wilhelm Wundts und Wilhelm von Humboldts entwickelt. Cassirer lässt sich mit Hilfe dieser beiden Autoren nämlich nicht nur erstmals auf eine spezifische Form der Symbolisierung jenseits der Erkenntnis ein und verflicht die Besonderungen des Symbolischen so mit der historischen Wirklichkeit von Sprache und Sprachen. Es geht ihm auch darum, das Potential der Sprachen zu untersuchen, die Welt nicht nur auf ihre jeweils spezifische Weise zu symbolisieren, sondern auch die Einsicht zu befördern, wie die sprachlichen Strukturen die symbolisierte Welt konkret bestimmen. Bei Cassirer hat die Genese der Sprache somit zugleich die Entfaltung der sprachlichen Strukturen und die Einsicht in die spezifische, sprachlich-symbolische Genese der Welt zum Maßstab. Sie ist daher eng verbunden mit Cassirers älterer Theorie des wissenschaftlichen Begriffs, der nun in der Sprache seine Basis und in ihrer Entfaltung seine Vorgeschichte hat. Cassirer fixiert diese Auffassung der Genese des Symbolischen jedoch weder in einem klar definierten Begriff, noch expliziert er sie in der Form einer rein philosophischen Argumentation. Er entwickelt sie vielmehr in einer Auseinandersetzung mit der Sprachforschung Humboldts und Wundts, auf deren empirische Erkenntnisse er sich bezieht und deren methodische Zugänge und theoretische Deutungen er diskutiert. Auf den folgenden Seiten kann daher exemplarisch verfolgt werden, wie Cassirer sich die kulturwissenschaftliche Forschung zu eigen macht und zugleich seine philosophische Reflexion und Terminologie herausbildet. Die philosophische Begründung, warum sich Cassirers Kulturphilosophie auf die kulturwissenschaftliche Empirie stützt, wird so zugleich ergänzt durch einen detaillierteren Blick auf die konkrete Praxis von Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften.
Vgl. Ernst Wolfgang Orth, »Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Braun et al. (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 45 – 74, hier 57 – 59. 10
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Der objektive Geist objektiviert: Cassirers Rezeption der Kulturwissenschaften Dem Leser der Philosophie der symbolischen Formen ist Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften seiner Zeit allein im Ergebnis vertraut. Cassirer legt schon im ersten Band mit einiger Begeisterung und langem Atem ein umfangreiches Wissen über die Vielfalt der Sprachen und ihre Strukturen, über die sprachlichen Schematisierungen von Raum und Zeit, über die Zahlworte und Vorstellungen vom Ich dar, nicht ohne die relevante kulturwissenschaftliche Literatur umfangreich zu zitieren. Was hier in beeindruckender Fülle ausgebreitet ist, musste allerdings zuvor rezipiert, gesammelt, geordnet und philosophisch gedeutet werden. Welch große Herausforderung die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Kulturwissenschaften und den von ihnen untersuchten Phänomenen darstellte, wird bei einem Blick ins Vorwort des ersten Bandes deutlich. Cassirer schildert dort recht freimütig die praktischen Herausforderungen seiner Arbeit: »Die philosophische Betrachtung wird freilich gerade durch diesen Reichtum des empirisch-wissenschaftlichen Forschungsmaterials vor eine kaum zu überwindende Schwierigkeit gestellt. Denn sie kann ebenso wenig auf dieses Detail verzichten, wie sie sich ihm, wenn sie ihrer eigenen Absicht und Aufgabe getreu bleiben will, ganz gefangen geben darf.«11 Auf einer ganz pragmatischen Ebene stellte sich Cassirer somit die Aufgabe, zwischen der Vielzahl der empirischen Beobachtungen und den philosophischen Fragen eine Verknüpfung zu finden, die weder die Fülle der Details einer begrifflichen Konstruktion opfert, noch den Blick auf die allgemeineren Fragen der philosophischen Reflexion verliert. Es bedurfte dabei schon größter Anstrengungen, sich auch nur einen Überblick über die Vielfalt der sprachlichen Phänomene und die dazugehörige Forschungsliteratur zu verschaffen: »Es mußte versucht werden, einen möglichst weiten Überblick nicht nur über die Erscheinungen eines einzelnen Sprachkreises, sondern über die Struktur verschiedener und in ihrem gedanklichen Grundtypus weit voneinander abweichenden Sprachkreise zu gewinnen. Der Kreis der sprachwissenschaftlichen Literatur, die bei der Durcharbeitung der Probleme beständig zu Rate gezogen werden mußte, erfuhr hierdurch freilich eine so große Erweiterung, daß das Ziel, das diese Untersuchung sich anfangs gesteckt hatte, immer weiter in die Ferne rückte, ja daß ich mich immer von neuem vor die Frage gestellt sah, ob dieses Ziel für mich überhaupt erreichbar sei.« In ungewohnt persönlichem Ton berichtet Cassirer sogar einige Zeilen später, er sei sich »bei der Arbeit an dieser Schrift 11
ECW 11, X , wie auch die folgenden Zitate in diesem Absatz.
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der Schwierigkeit des Gegenstandes und der Grenzen meiner Arbeitskraft […] bewußt geworden«. Der aufmerksame Leser kann diese Erfahrung vielleicht besser nachvollziehen, als er Cassirers Schilderung des glücklichen Auswegs Glauben schenken mag: »Wenn ich trotzdem auf dem einmal beschrittenen Wege weiter ging, so geschah es, weil ich, je mehr sich mir ein Einblick in die Mannigfaltigkeit der Spracherscheinungen erschloß, um so deutlicher wahrzunehmen glaubte, wie auch hier alles Einzelne sich wechselseitig erhellt und wie es sich gleichsam von selbst einem allgemeinen Zusammenhang einfügt. Auf die Herausarbeitung und Verdeutlichung dieses Zusammenhangs, nicht auf die Betrachtung irgendwelcher Einzelerscheinungen sind die folgenden Untersuchungen gerichtet.« Wie auch immer Cassirers Schilderung, dass die Details der Sprachforschung sich gleichsam von selbst zu einem großen Ganzen ordnen, zu bewerten ist – ohne eine erhebliche Papierarbeit zum Zweck der Rezeption und Sammlung, Ordnung und Deutung des kulturwissenschaftlichen Materials hätte sich dieser Eindruck wohl kaum eingestellt. Die Aufzeichnungen, die Cassirer nach der Disposition der »Philosophie des Symbolischen« vom Sommer 1917 anfertigt, spiegeln so die Herausforderungen wieder, denen er sich praktisch wie methodisch in der Auseinandersetzung mit der Sprachforschung gegenübersah. Cassirer legt eine Sammlung von Arbeitsnotizen an, die bereits im Sommer 1918 ungefähr die 241 Blätter umfasst haben dürfte, die heute noch fast vollständig rekonstruiert werden können.12 Sie dienen offenbar dem Entwurf eines Kapitels über die Sprache aus dem Sommer 1919 zur Grundlage, sind aber auch unabhängig davon einen eigenen Blick wert: Sie erlauben nicht nur konkrete und detaillierte Einblicke in Cassirers Rezeption der Kulturwissenschaften und deren Wechselwirkung mit der kulturphilosophischen Reflexion, sondern führen auch die praktischen Möglichkeiten und epistemischen Ressourcen vor Augen, die simple papierne Notizen dem Kulturphilosophen an die Hand geben. Die 240 Blätter, die im Anschluss an die Disposition des Projekts entstehen, folgen keinem festgelegten Verfahren, nutzen aber doch durchgängig die spezifischen Eigenschaften einer Sammlung loser Blätter, die sich insbesondere im Laufe der Arbeit den sich verändernden Problemlagen anpassen kann. Ihre Einheit und Ordnung ist zunächst durch die Nummerierung gewährleistet, die jedes einzelne Blatt dieser losen Sammlung zu identifizieren erlaubt. Diese Ordnung ist rein formal und setzt keinerlei systematische Ordnung der Inhalte voraus, was sie vielleicht besonders geeignet erscheinen ließ für die erste, explorative Recherche. Sie ermöglicht zugleich Verweise 12 Vgl. zum Archivbefund sowie zu Fragen der Datierung nochmals den Abschnitt »Der Befund« im ersten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 40 ff.
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auf die Blattnummern, um inhaltliche Verbindungen herzustellen und idealiter systematische Verknüpfungen in den Blick zu bekommen. Dabei ist entscheidend, dass sich die numerische Ordnung mit den inhaltlichen Gesichtspunkten überlagert, da Cassirer in Titeln wie Untertiteln meist den wissenschaftlichen Gegenstand bezeichnet13 oder die bibliographischen Angaben des Textes benennt14 , dem die Notizen sich widmen. Durch die numerische Identifikation, ihre Zuordnung zu einem Autor oder Text sowie ihre thematische Einordnung ermöglichen die Blätter eine Aufarbeitung der kulturwissenschaftlichen Literatur und sollen sie zugleich eine systematische Ordnung herausbilden, auf die sich die philosophische Reflexion stützen kann. Der Rand, den Cassirer durch eine Faltung mehr tast- als sichtbar markiert und bei der ersten Beschriftung stets frei hält, spielt dabei eine nicht zu vernachlässigende Rolle, da er für die weitere Ausarbeitung Platz bereitstellt und Hinzufügungen erlaubt, die Wissen anreichern, auf andere Blätter verweisen oder auch nötige Revisionen bemerken.15 Der leere Rand scheint die Zukunft gleichsam als Ressource vorzuhalten. Es sei hier nur ein Beispiel genannt, auf das ich zurückkommen werde: Blatt 46 mit dem Titel »Sprache / Zur Frage der Wurzeln«, das sich einer Passage aus Wundts Völ kerpsychologie widmet. 14 Wiederum ein Beispiel aus den später besprochenen Blättern: Blatt 44 mit dem Titel »Sprache / Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde. / Krit. Bemerk. zu Wilh. Wundts Sprachpsycho- / logie, Heidelberg 1902.« 15 Ein Beispiel findet sich bereits auf der ersten Seite von Blatt 1. Wo Cassirer vermerkt hatte – worauf ich noch zurückkommen werde –, dass nach Wundt die ›hinweisende Gebärde‹ »nichts anderes als die bis zur Andeutung abgeschwächte Greifbewegung« ist, fügt er am Rand eine ähnliche Formulierung hinzu, die ihm offenbar bei seiner Recherche aufgefallen war: »So auch Jäger / (Steinthal Urspr. 231) / Das Deuten mit der / Hand ›ist nichts an- / deres, als ein Greifen / in die Ferne‹. / (s.d.)«. Cassirer bezieht sich hier auf Heymann Steinthal, Der Ursprung der Sprache im Zusammenhange mit den letzten Fragen alles Wissens. Eine Darstellung, Kritik und Fortentwicklung der vorzüglichsten Ansichten, vierte, abermals erweiterte Auflage, Berlin 1888, der an der angeführten Stelle wiederum eine Formulierung des Zoologen Gustav Jäger erwähnt, vgl. dessen »Über den Ursprung der menschlichen Sprache«, in: Das Ausland 40 (1867), Nr. 42, 985 – 989, Nr. 44, 1046 – 1051, und Nr. 47, 1118 – 1121, hier 1048. Die Formulierung passte Cassirer allzu gut zu seinem Anschluss an Wundts Theorie der Gebärde, so dass er sie seinen Aufzeichnungen hinzufügte. Auf diesem Wege hat sie es sogar bis in den veröffentlichten Text der Philosophie der symbolischen Formen geschafft: »Das ›Greifen in die Ferne‹, wie man das Deuten mit der Hand genannt hat, ist auch bei den höchstentwickelten Tieren über erste und unvollkommene Ansätze nicht hinausgelangt.« (ECW 11, 126) Der Rand erlaubte so eine Akkumulation von Lesefrüchten, die sich im veröffentlichten Text schließlich in einem Zug präsentiert. Allerdings auch ohne die Spuren des Arbeitsprozesses, denn Cassirer verzichtet nicht nur darauf, den Urheber der Formulierung zu nennen, er spart auch das vermittelnde Werk Steinthals aus, das sich meines Wissens auch in keinem anderen seiner Texte angeführt findet. 13
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Die numerische Ordnung der Blätter stellt als solche kein Indiz dar für ihre chronologische Entstehung, zumal die Ziffern anders als die Notizen meist mit Buntstift geschrieben und daher möglicherweise später hinzugefügt wurden. Bei längerem Studium der Aufzeichnungen stellt sich nichtsdestotrotz der Eindruck ein, dass die Arbeit mit steigenden Zahlen voranschreitet, was aber letztlich eine spekulative Deutung bleiben muss. Die Titel der Aufzeichnungen zur Sprache bezeichnen mehr und mehr vorrangig die Phänomene, auf die sich die nun meist kürzeren Blätter beziehen, und nähern sich zusehends einer Verschlagwortung, die eine Ordnung der Phänomene zumindest in Ansätzen erkennen lässt.16 Die Aufzeichnungen scheinen von eher naheliegenden Überblickswerken fortzugehen zur Fachliteratur im engeren Sinne, die sich differenzierter einzelnen speziellen Phänomenen widmet. Sie wirken dabei zunehmend informierter, so dass es anscheinend praktikabel wurde, im Titel das Thema präziser zu benennen, die Position des Autors in der Fachdiskussion zu verorten, das interessierende Material in einigen wenigen Zeilen festzuhalten und über etwaige Verweise auf andere Blätter Verbindungen herzustellen. Es scheint sich im Laufe einer intensiven Literaturrecherche zumindest im Falle der Sprache tatsächlich eine systematische Ordnung der Phänomene herausgebildet zu haben. Sie gewann schließlich die Überhand, denn Cassirer löste die numerische Ordnung der Blätter auf und ordnete sie teilweise – nötigenfalls durch Hinzufügung von Schlagworten am Rand – den neuen Aufzeichnungen ein, die allein nach Stichpunkten geordnet sind. In diesen Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« zeichnet sich dabei das Bemühen um eine systematische Konzeption des Projekts ebenso ab wie ihre Verknüpfung mit der Rezeption kulturwissenschaft lichen Wissens. Die Schwerpunkte von Cassirers Arbeit verschieben sich dabei offensichtlich, wie sich an den unterschiedlichen Formen der Aufzeichnungen dokumentiert. Hält man sich an Cassirers numerische Ordnung, dann ist festzustellen, dass ungefähr die ersten vierzig bis fünfzig Blätter meist umfangreichere Entwürfe darstellen und einen Gedanken oder eine Perspektive über einige Seiten entwickeln. Es handelt sich dabei vor allem zu Beginn um konzeptionelle Perspektiven, wobei sich Cassirer insbesondere an der genetischen Dimension der Bedingungen des Symbolischen und ihrer Spezifikation in konkreten Formen der Symbolisierung abarbeitet. Zunehmend geht es aber auch um systematische Grundfragen der Kulturwissenschaften und die Aufarbeitung ihres reichhaltigen Materials. Zunächst ordnen sich die Verweise auf die Literatur noch der eigenstän16 Vgl. für einen ersten Eindruck die Liste der Blätter und ihrer Titel im Anhang unten S. 435 ff.
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digen Entwicklung des Gedankens ein. Erst auf den Blättern mit höherer Nummer herrschen dagegen Exzerpte vor, die oft schon im Titel sehr viel spezifischere Fragen aus dem kulturwissenschaftlichen Material benennen, gleich im Anschluss eine bibliographische Angabe anführen und schließlich einige Stichpunkte und Seitenangaben vermerken. Diese Blätter sind im Gegensatz zur ersten Gruppe nur selten länger als ein oder zwei Seiten und dienen weniger der konzeptionellen Entwicklung des Projekts oder der Ordnung des kulturwissenschaftlichen Materials als dazu, einen Nachweis oder ein Zitat aus der Forschungsliteratur für die spätere Verwendung festzuhalten. Wie groß die Herausforderung ist, sich einen Überblick über das kulturwissenschaftliche Wissen zu erarbeiten, ohne die relevanten Details aus den Augen zu verlieren, und zugleich die philosophische Reflexion und Konzeption voranzutreiben, wird beim Studium vor allem der früheren Aufzeichnungen sehr deutlich. Es müssen zum einen profunde Kenntnisse der spezifischen Phänomene erarbeitet und zum anderen die philosophischen Begriffe am kulturwissenschaftlichen Wissen geschärft werden. Darüber hinaus bemüht sich Cassirer aber auch um Grundbegriffe, die jene Phänomene im größeren Zusammenhang der Kultur und zugleich in der ihnen eigenen Spezifik zuallererst zu begreifen erlauben. Wir haben es daher insofern mit einem ›Zirkel‹ zu tun, als von jenen Begriffen wiederum Verständnis und Deutung der relevanten kulturellen Phänomene abhängen. Dieser ›Zirkel‹ bewegt sich allerdings nicht in der logischen Sphäre und bezeichnet daher auch keinen Fehlschluss. Er charakterisiert einen Prozess der Reflexion, in dem Begriffe und Phänomene wechselseitig aufeinander bezogen sind und gerade durch dieses Abarbeiten aneinander schärfer bestimmt und genauer gefasst werden können. Ein solcher ›Zirkel‹ beschreibt nichts anderes als die Produktivität eines materialnahen Philosophierens – wie auch genuin empirische Formen der Erkenntnis, die ihre Begriffe nach den Gegenständen einrichten müssen.17 Im Falle von Cassirers »Philosophie des Symbolischen« sind in diesem Zirkel – ganz im Sinne der Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft nach Kant – Allgemeines und Besonderes wechselseitig aufeinander bezogen. Es ergibt sich dadurch ein Auf und Ab, da die philosophische Reflexion zum einen vom Besonderen ausgeht, um zum Allgemeinen aufzusteigen, und zum anderen ein Allgemeines annimmt, als dessen Spezifikation sich das Besondere begreifen lassen soll. Die philosophische Reflexion versucht so die Phänomene zu deuten, indem sie an ihnen ihre möglichen, allgemeinen Bedingungen abliest, und diese Bedingungen auf 17 Vgl. dazu den Abschnitt »Die empirische Transformation des Transzendentalen« im zweiten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 187 ff.
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die Probe zu stellen, indem sie sie für die Phänomene spezifiziert und sie an ihnen überprüft. In diesem Prozess sind somit philosophische Begriffsbildung und empi risches Material wechselseitig aufeinander bezogen, wobei die Deutung des kulturwissenschaftlichen Wissens und die Prüfung der Begriffe an den Phänomenen Hand in Hand gehen. Diese enge Bindung an das ›empirische Material‹ aus der kulturwissenschaftlichen Forschung hat weitreichende Folgen für das Selbstverständnis von Cassirers Philosophie und den Status ihrer Begrifflichkeiten. Denn eine begriffliche Reflexion auf Bedingungen, die sich in den kulturellen Phänomenen erst entfalten und differenzieren, kann nur provisorisch sein und wird sich eine gewisse Offenheit bewahren müssen. Sie wird sich zudem darauf einlassen müssen, dass die Bestimmung der gesuchten Bedingungen, aber auch die angemessene philosophische Begrifflichkeit wesentlich von den kulturwissenschaftlichen Materialien abhängt. Es hat daher seinen guten Grund, dass Cassirers symbolphilosophisches Projekt seine Grundbegriffe nicht gleich zu Beginn zu definieren versucht und sich auch später nicht vorrangig ihrer Klärung widmet. Diese Eigenart der Cassirer’schen Kulturphilosophie hat verschiedene, sich durchaus nicht widersprechende Begründungen erfahren. Es mag sich um ein Spezifikum von Cassirers ›Stil‹ handeln, der mit seinem Verständnis der symbolischen Formung einhergeht, wie Barbara Naumann vorgeschlagen hat.18 Man kann zudem wie Oswald Schwemmer mit guten Gründen auf Cassirers holistische Theorie des relationalen Begriffs verweisen, um die ›Genauigkeit‹ von Cassirers Begriffsgebrauch – statt in den kaum vorhandenen expliziten Definitionen – im Verweben des Ganzen mit einzelnen, oft zugleich formelhaften und variierten Begriffen zu sehen.19 Ebenso wäre zu argumentieren, dass die Definition philosophischer Begriffe nicht am Anfang stehen kann, weil sie vom Gedankengang und der Entfaltung der Argumentation abhängen, was bereits Kant als Charakteristikum der Philosophie ansah und Cassirer wiederum als eine Eigenart des kantischen Philosophierens versteht.20 Ein entscheidender und bislang weitgehend vernachlässigter Grund tritt dagegen erst mit Bezug auf das kulturphilosophische Vorhaben Cassirers hervor. Seine Begriffe sollen eine Vielfalt von kulturellen Phänomenen umfassen, deren Besonderung, Ordnung und Struktur nur durch die umfangreiche kulturwissenschaftliche Forschung zugänglich 18 Vgl. Barbara Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols: Cassirer und Goethe, München 1998, 21 – 54. 19 Vgl. Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 12 f. 20 Vgl. KrV, A 726 – 731/B 754 – 759, und ECW 8, 137 – 139.
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wird. Deshalb können und dürfen diese Begriffe und ihre Definition aber weder am Beginn noch im Zentrum dieses philosophischen Projekts stehen. Sie müssen in einer sorgfältigen Kenntnisnahme der kulturwissenschaft lichen Forschungen entwickelt und gerechtfertigt sowie an der Vielfalt der kulturellen Phänomene ausgewiesen werden. Die Bestimmung kulturphilosophischer Begriffe, die Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften und die Arbeit an den kulturellen Phänomenen sind hier wechselseitig aufeinander bezogen und zielen dabei auf eine Gemengelage von allgemeinen und spezifischen Bedingungen ab, die eine Vielfalt kultureller Phänomene sowohl in ihrer jeweiligen Besonderung als auch in ihrer übergreifenden Ordnung begreifbar machen. Es darf mit Blick auf Cassirers Auseinandersetzung mit der kulturwissenschaftlichen Forschung schließlich nicht vernachlässigt werden, dass es Cassirer mit einem Wissen zu tun bekommt, das der Deutung bedarf, um für die philosophische Reflexion überhaupt anschlussfähig zu werden. 21 Zwar ist eine solche Deutung stets schon ein integrales Moment der empi rischen Forschung und der sie begleitenden methodologischen Diskurse. Der Philosoph findet in den Kulturwissenschaften aber umso weniger eine Menge unverrückbarer Erkenntnisse vor. Er trifft ganz praktisch gesehen zuallererst auf wissenschaftliche Fragestellungen und Behauptungen, die ebenso unübersichtlich wie umstritten sind, und bekommt es mit Diskussionen zu tun, in denen empirisches Wissen, methodologische Dispute und spekulative Thesen oft kaum zu trennen sind. Der produktive Vorgang der Rezeption ist daher niemals zu vernachlässigen, da es auszuwählen gilt, woran angeknüpft wird, und Stellung zu beziehen ist, wo Deutungen unvermeidlich sind. Die philosophische Rezeption der Kulturwissenschaften ist daher stets unter Berücksichtigung der Deutungen zu verstehen, die sie zwangsläufig vornimmt, aber nicht notwendig ausweist. Eine solche Prämisse stellt natürlich keine unerhebliche Schwierigkeit für das Verständnis von Cassirers Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften und seiner Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« dar. Dennoch ist sie unabdingbar, um der Komplexität der philosophischen Rezeption gerecht zu werden. Und insbesondere im Falle Cassirers ist sie unverzichtbar, um einer stilistischen und denkerischen Eigenart Rechnung zu tragen, die sowohl Cassirers veröffentlichte Texte als auch seine Arbeits notizen charakterisiert. Wie im letzten Kapitel anhand der Deutung von Daher dürfte sich auch Cassirers Hoffnung, dass »die Fragen, mit denen hier an die Sprachforschung herangetreten wurde, zwar in systematischer Allgemeinheit zu formulieren, die Antwort auf diese Fragen aber in jedem einzelnen Falle aus der empirischen Forschung selbst zu gewinnen« (ECW 11, X) sei, als fragwürdig erweisen. 21
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Kant bereits deutlich geworden sein sollte und auch in der Sekundärliteratur verschiedentlich betont und teils exemplarisch herausgearbeitet wurde, entwickelt Cassirer seine Argumentation meist in der Auseinandersetzung mit ihm vertrauten Autoren und lässt dabei oft die eigene und die fremde Position ineinander übergehen. 22 In Cassirers Einsatz von Zitaten, Paraphrasen und Begriffen sind daher Rekonstruktion, Anverwandlung und Aneignung meist nur schwer zu unterscheiden, zumal er sich dabei auf Autoren und Texte bezieht, deren Deutung meist umstritten ist. Die Erörterung von Cassirers Aufzeichnungen muss daher dem Umstand Rechnung tragen, dass sie nicht nur historische und systematische Ebenen der Philosophie sowie die philosophischen Begriffe mit dem kulturwissenschaftlichen Material verflechten, sondern die Rezeption der kulturwissenschaftlichen Arbeiten notwendig auch ihre philosophische Deutung impliziert. Aus dem Umstand, dass die kulturwissenschaftliche Forschung zwangsläufig zu deuten ist, folgt aber keineswegs, dass die Philosophie beliebig über die kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse verfügen könnte.23 Zwar wird sich an Cassirers Rezeption von Wundts und Humboldts Sprachforschung zeigen, wie sie nicht nur aus den kulturwissenschaftlichen Materialien auswählt und zwischen den betrachteten Phänomenen Gewichtungen vornimmt, sondern sich auch mitunter über Erkenntnisse und Evidenzen hinwegsetzt. Letztlich wird aber ein anderer Aspekt schärfer hervortreten: Die kulturphilosophische Reflexion lässt sich in ihrer Rezeption auf fachspezifische Diskussionszusammenhänge ein, die sie mitunter dazu zwingen, nicht nur immer wieder die eigene Rezeption zu überprüfen, sondern Diese Eigenart Cassirers wurde allerdings weit seltener zum Gegenstand der systematischen Diskussion oder detaillierten Exegese genommen, als sie es verdient hätte. Wichtige Hinweise hat bereits Orth, »Operative Begriffe«, 45 – 74, gegeben. Vgl. darüber hinaus am Beispiel des Rückgriffs auf Goethes Stilbegriff in Cassirers »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« die Deutung von Barbara Naumann, »Styles of Change: Ernst Cassirer’s Philosophical Writing«, in: Cyrus Hamlin und John Michael Krois (Hg.), Symbolic Forms and Cultural Studies. Ernst Cassirer’s Theory of Culture, New Haven und London 2004, 78 – 95, hier 78 – 84 und 90 – 92, sowie ausführlicher zur Rolle des Stils und seines Begriffs bei Cassirer Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols, 21 – 54. Naumann erinnert zudem an Walter M. Solmitz’ nach wie vor lesenswerte exemplarische Studie »Cassirer on Galileo: An Example of Cassirer’s Way of Thought«, in: The Philosophy of Ernst Cassirer, hg. von Paul Arthur Schilpp, Evanston, IL , 1949 (= The Library of Living Philosophers, 6), 731 – 756. 23 Heinz Paetzolds Diagnose, Cassirer mache die »Forschungen« der »Sprachwissenschaften seiner Zeit« letztlich »dem philosophischen Begriff dienstbar«, scheint mir gerade für seine Rezeption von Humboldt und der an ihn anschließenden kritischen Debatten nicht zuzutreffen oder zumindest einseitig zu sein, wie im Verlaufe des Kapitels noch deutlich werden wird, vgl. Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994, hier 28. 22
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auch die philosophischen Wünschbarkeiten einer Probe zu unterziehen und möglicherweise die eigenen Prämissen zu revidieren. Wo sie sich auf die kulturwissenschaftliche Forschung beruft, muss die kulturphilosophische Reflexion somit stets bereit sein, aus dem Verlauf der fachspezifischen Debatten auch selbst Konsequenzen zu ziehen. Sie gewinnt so vermittels der Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften Reibungsflächen mit der Empirie und damit Möglichkeiten und Notwendigkeiten zur Präzisierung oder Korrektur ihrer eigenen Ansätze und Begriffe. Ihre Autonomie verliert sie deshalb keineswegs, da sie die Maßstäbe ihrer eigenen Argumentation nach wie vor selbst bestimmen kann. Nachdem die Problemlagen einer philosophischen Rezeption der kulturwissenschaftlichen Forschung vorbereitend skizziert wurden, soll im Folgenden ein ›Weg durch die konkreten Gebilde des Geistes‹ verfolgt werden, der für die Entwicklung von Cassirers Verständnis der Genese des Symbolischen und damit für das Projekt der »Philosophie des Symbolischen« von zentraler Bedeutung ist: Cassirers Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundts und Wilhelm von Humboldts Sprachforschung. Die Genese des Symbolischen: Wilhelm Wundts Theorie der Gebärden Die Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« halten gleich zu Beginn eine Überraschung bereit. Die ersten Blätter gehen nämlich von einem Forscher aus, der in der Sekundärliteratur zu Cassirers Symbol- und Kulturphilosophie kaum beachtet wurde, obwohl er im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Cassirer würdigt bereits im Vorwort Wilhelm »Wundts großes Werk über die Sprache, das nach langer Zeit wieder den Versuch unternahm, die Gesamtheit der Spracherscheinungen zu umfassen und einer bestimmten geistigen Deutung zu unterwerfen«24 . Er bezieht sich damit auf den ersten Band von Wundts umfangreicher Völkerpsychologie, jedoch nicht ohne seine kritische Haltung gegenüber der dort vertretenen »Überzeugung« anzudeuten, dass »eine philosophische Grundlegung der Sprache, wenn überhaupt, so nur mit den Mitteln der psychologischen Forschung zu gewinnen sei«. Wenn sich Cassirer nach dem Überblick über »Das Sprachproblem in der Geschichte der Philosophie« im ersten Kapitel seinem Gegenstand schließlich direkt zuwendet, ist Wundt wiederum nicht fern. Mit Blick auf »Die Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks« führt Cassirer ihn nicht 24
ECW 11, VIII, wie auch die folgenden zitierten Formulierungen.
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nur als Kronzeugen einer »Psychologie der Ausdrucksbewegungen« an, der Cassirer keineswegs allein kritisch gegenübersteht.25 Er zieht auch die »psychologische Theorie der Gebärdensprache« hinzu und diskutiert Wundt im Kapitel zum mimischen Ausdruck ausführlicher als jeden anderen Autor, wobei die Entstehung der Sprache aus der Hemmung der Tätigkeit und ihrer Umwandlung in Gebärden im Zentrum steht.26 Auch im Vorwort des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen wird – wenn auch ohne Nennung von Wundts Namen – der Ansatz der »allgemeinen Völkerpsychologie« eingeführt und ihre Bestimmung der »Herkunft« des Mythos »aus bestimmten Grundanlagen der ›menschlichen Natur‹«27 wiederum mit kritischem Unterton gewürdigt. Selbst im Entwurf für den vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen kommt Cassirer in seiner kritischen Diskussion mit der Anthropologie anscheinend nicht ohne Wundt aus, der nun nach Darwin als zweites Beispiel für all die »Versuche« herhalten muss, »reine Sinngehalte dadurch zu verstehen, daß man sie aus dem natürlichen Dasein entstehen lässt«28 . Dagegen frage die »Analyse der einzelnen symbolischen Formen«, so Cassirer im Rückblick auf die Bände zur Sprache, zum Mythos und zur Erkenntnis, »nicht nach der Entstehung dieser Formen, sondern nach ihrem Bestand; sie war auch dort, wo sie diesen Bestand selbst zu zerlegen, wo sie verschiedene ›Schichten‹ in ihm zu sondern suchte, nicht von einem genetisch-historischen, sondern von einem rein phaenomenologischen Interesse beherrscht.«29 Diese Diskussion zielt offenbar auf Grundlegendes und nimmt ihren Anfang in den ersten Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen«. Der Name Wilhelm Wundts verknüpft sich immer wieder mit dem Beginn, dem Auftakt der Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen«, den wiederholten Anläufen des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen und der Frage nach der Entstehung, der Genese und dem Bestand der Sprache Vgl. ECW 11, 124, und den Verweis in der dazugehörigen Anmerkung. Vgl. ECW 11, 125 – 130. Ich beziehe mich also hauptsächlich auf den ersten Abschnitt des Kapitels, der in der Sekundärliteratur zwar behandelt, aber meist aus Cassirers Rezeption der Kulturwissenschaften herausgelöst wird, vgl. exemplarisch Peter Müller, Ernst Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen«, Darmstadt 2010, 25 – 28. Müller führt mit Gebärde und Lautlichkeit nahezu alle entscheidenden Momente ein, lässt sie aber ohne Nennung Wundts und ohne Bezug auf Humboldts Theorie der Lautlichkeit als rein philosophische Überlegung Cassirers erscheinen. Im zweiten Abschnitt des Kapitels behandelt Cassirer bereits die Grenzen der Ähnlichkeit in der Sprachtheorie und damit den Übergang zum analogischen Sprachstadium, vgl. ECW 11, 133 – 146, bes. 141 f. 27 ECW 12, X, vgl. nochmals ähnlich mit Rekurs auf den »empirischen Entwicklungsbegriff« der Völkerpsychologie ebd., 12. 28 ECN 1, 38. 29 ECN 1, 39. 25
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sowie des Symbolischen überhaupt. Da Cassirers erste Aufzeichnungen zu Wundt dabei eine Vielfalt von Fragestellungen erkunden, die in den veröffentlichten Texten kaum mehr zu erkennen sind, und sie insbesondere die Genese des Symbolischen erhellen, der sich Cassirer zunächst in der Kritik an Wundt nähert, sollen diese wenigen Seiten einer ausführlicheren Betrachtung unterworfen werden. Es sind vor allem die 44 beschriebenen Seiten von Blatt 1 bis 5 der Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen«, aber auch noch folgende Blätter, die sich nahezu ausschließlich auf Wilhelm Wundts Völkerpsycho logie: eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte stützen.30 Zwischen 1900 und 1920 waren die 10 Bände des Werks in rascher Folge erschienen, die im Grunde die Kultur in ihrer ganzen Breite auf psychologischer Grundlage behandelten. 1916 lagen die sechs Bände zu »Sprache«, »Kunst« sowie »Mythus und Religion« bereits in zweiter Auflage vor, die auch Cassirer herangezogen hat.31 Die übrigen vier Bände zu »Gesellschaft«, »Recht« sowie »Kultur und Geschichte« wurden erst 1917, 1918 und 1920 gedruckt und finden bei Cassirer keine Erwähnung. Die Blätter 1 bis 5 entfalten eigenständige Überlegungen Cassirers, nehmen aber wiederholt Bezug auf den ersten Band von Wundts Werk, wobei die Verweise meist mit steigenden Seitenzahlen aufeinander folgen. Auf dem Rand hat Cassirer des Öfteren Verweise auf dazugehörige Passagen in den Folgebänden von Wundts Werk hinzugefügt. Es entsteht so der Eindruck, als habe Cassirer seine Ansätze und Gedanken entworfen, während er die Bände von Wundts Werk durchgegangen ist. Er bezieht sich dabei allerdings nur sehr selektiv auf Wundts umfangreiche Ausführungen und notiert nur für einige wenige Passagen häufigere Verweise. Dass Cassirer bei der Arbeit an seinem symbolphilosophischen Projekt zu Wundts Völkerpsychologie greift, mag auf den ersten Blick erstaunen. Wundt gilt heute in erster Linie als einer der einflussreichsten Protagonisten der experimentellen Psychologie, die sich aus der Philosophie heraus entwickelte und systematisch wie institutionell in Konkurrenz zu den traditionellen Philosophen getreten war, die ihre Fragestellungen nicht für experimentell 30 Um genau zu sein: Blatt 1: 13 Seiten, Blatt 2: 10 Seiten, Blatt 3: 4 Seiten, Blatt 4: 6 Seiten und Blatt 5: 11 Seiten. Vgl. für weitere Aufzeichnungen zu Wundt exemplarisch die allgemeine Charakteristik des Mythos auf Blatt 22 sowie die Notizen zu Wundts Kritik am Wurzelbegriff auf Blatt 56, auf die ich später zurückkommen werde. 31 Diese zweite Auflage der ersten drei Teile von Wundts Völkerpsychologie zitiert Cassirer auch in der Philosophie der symbolischen Formen. Ich werde mich daher auf diese Ausgabe stützen und Stellen mittels Kurztitel sowie Angabe des Bands und Teilbands nachweisen. Entsprechend dem systematischen Schwerpunkt der folgenden Erörterungen beschränke ich mich zudem auf den ersten Band zur Sprache und seine beiden Teilbände.
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beantwortbar hielten.32 Nur wenige Jahre zuvor konnte so die Wieder besetzung des Magdeburger Lehrstuhls von Cassirers Lehrer Hermann Cohen zum Anlass für einen erbitterten Streit um die disziplinäre Stellung der Psychologie werden.33 Es überrascht daher auch kaum, dass Cassirer sich bereits auf der ersten Seite der Disposition kritisch auf Wundts bekannte These von einem zugleich parallelen und voneinander unabhängigen Verlauf psychischer und physiologischer Prozesse bezieht.34 Ohne Wundt zu nennen, was aber an späterer Stelle der Disposition erfolgt,35 hält Cassirer fest: »Kritik des psycho- / physischen ›Parallelismus‹ / Falsche Fragestellung in diesem ›Parallelismus‹; legt / die Ansicht nahe, als sei erst ein Inneres da, / das sich nachträglich und zufällig veräusserte, /veräusserlichte – «36 . Wundts Psychologie war demnach gänzlich ungeeignet, einen Ausdruck zu konzipieren, der den systematischen Anforderungen von Cassirers symbolphilosophischem Ansatz hätte genügen können. Denn Cassirer hatte den Ausdruck als vorgängig zu jeder Trennung von Innen und Außen und letztlich als produktives Zentrum ihrer korrelativen Entstehung verstanden.37 Offensichtlich hält die Kritik an Wundts experimenteller Psychologie Cassirer aber keineswegs davon ab, zu Wundts Völkerpsychologie zu greifen, als er sein neues symbolphilosophisches Projekt auszuarbeiten beginnt. Ein möglicher Grund könnte darin gelegen haben, dass Wundts materialreiches Werk einen Überblick über die Felder der Kultur bietet, für die sich auch Vgl. zu dieser klassischen Sicht auf Wundt exemplarisch Robert W. Rieber und David K. Robinson (Hg.), Wilhelm Wundt in History. The Making of a Scientific Psychology, New York u.a. 2001. 33 Vgl. zu diesem Zusammenhang Mitchell G. Ash, »Wilhelm Wundt and Oswald Külpe on the Institutional Status of Psychology: An Academic Controversy in Historical Context«, in: Wilhelm Wundt. A Centennial Collection, hg. von Wolfgang G. Bringman u.a., Toronto 1980, 396 – 4 21, bes. 406 – 4 09. Auch Cassirer hatte die ›Erklärung‹ von 1913 unterschrieben, die forderte, philosophische Lehrstühle nicht an rein experimentell arbeitende Psychologen zu vergeben. Wie Ash zeigt, bezieht Wundt in diesem Streit eine Mittelstellung: Nicht nur sieht er die Psychologie als Teil der Philosophie; sie soll zudem neben der experimentellen Psychologie auch die eher geistes- oder kulturwissenschaftliche Völkerpsychologie einschließen, vgl. ebd., 409 – 413, und ergänzend Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890 – 1967. Holism and the Quest for Objectivity, Cambridge 1998, 22 – 27 und 42 – 50. 34 Vgl. zur Erläuterung von Wundts These eines psychophysischen Parallelismus Christina M. Schneider, Wilhelm Wundts Völkerpsychologie. Entstehung und Entwicklung eines in Vergessenheit geratenen, wissenschaftshistorisch relevanten Fachgebiets, Bonn 1990, 71 – 7 7. 35 Vgl. Disposition 1917, 8. 36 Disposition 1917, 1, vgl. auch Manuskript 1919, 10 – 14. 37 Vgl. dazu den Abschnitt »Der Auftakt der Disposition: Die Frage nach dem ››Bestand‹ des Psychischen selbst‹« im ersten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 50 ff. 32
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Cassirer zu interessieren begann, und er sich so trotz aller systematischen Differenzen ganz pragmatisch einen Überblick und Einstieg in die weitere Recherche zu verschaffen hoffte.38 Auf den zweiten Blick ergeben sich aber durchaus bedeutendere und sachhaltige Gründe. Denn Wundt konzipiert die Völkerpsychologie als komplementäre Ergänzung der experimentellen Psychologie des Individuums, was zunächst heißt, dass sie sich den höheren psychischen Erlebnissen widmet, die von der Vergesellschaftung des Individuums abhängig sind und einer eigenen historischen Entwicklung unterliegen.39 Sie behandelt diese Erlebnisse zudem nicht unmittelbar, sondern geht vielmehr von den »Erzeugnissen des menschlichen Gesamtgeistes«40 oder den »Erzeugnissen gemeinsamer Kultur«41 aus und vollzieht deshalb gegenüber der experimentellen Psychologie des Individuums auch eine entscheidende methodische Transformation. Sie orientiert sich nämlich nicht an den experimentellen Methoden der Naturwissenschaften, sondern an dem Vorgehen der Geisteswissenschaften, um z. B. danach zu fragen, »wie Religion im objektiven Sinne entsteht, und welche die subjektiven Momente sind, auf die ihre objektiven Schöpfungen zurückfragen lassen«. 42 Sie be38 Vgl. für einen Überblick über Wundts Behandlung der verschiedenen Felder der Kultur aus heutiger Sicht die entsprechenden Aufsätze in Gerd Jüttemann (Hg.), Wilhelm Wundts anderes Erbe. Ein Missverständnis löst sich auf, Göttingen 2006, 144 ff. 39 Vgl. zu Wundts Charakterisierung der Völkerpsychologie ders., Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte. Erster Band: Die Sprache, zweite, umgearbeitete Auflage, Erster Teil, Leipzig 1904, 1 – 13 und 27 – 29, im Folgenden zitiert als Wundt, Völkerpsychologie, I, 1. Die Rezeption Wundts hat dieses Werk lange Zeit in den Hintergrund treten lassen und ihn allein als den Wegbereiter der experimentellen Psychologie gesehen, vgl. zu den möglichen Gründen Gerd Jüttemann, »Wilhelm Wundt – der missverstandene Geisteswissenschaftler«, in: Jüttemann (Hg.), Wilhelm Wundts anderes Erbe, 13 – 29; Wolfgang Mack, »Wundts programmatisches Erbe«, in: Jüttemann (Hg.), Wilhelm Wundts anderes Erbe, 232 – 243; und Berthold Oelze, Wilhelm Wundt. Die Konzeption der Völkerpsychologie, Münster und New York 1991, 3 – 6. Oelzes Arbeit gibt einen hilfreichen Überblick über diejenigen Texte Wundts, die für die Entwicklung der Konzeption der Völkerpsychologie relevant sind. 40 Wilhelm Wundt, »Ziele und Wege der Völkerpsychologie«, in: ders., Probleme der Völkerpsychologie, Leipzig 1911, 1 – 35, hier 32, vgl. auch 24 – 26. 41 Wilhelm Wundt, »Der Einzelne und die Volksgemeinschaft«, in: ders., Probleme der Völkerpsychologie, 51 – 83, hier 65. 42 Wilhelm Wundt, »Pragmatische und genetische Religionspsychologie«, in: ders., Probleme der Völkerpsychologie, 84 – 120, hier 115. Vgl. zur Rolle der »Geisteserzeugnisse von allgemeingültigem Werte« auch Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 28 und 4. Georg Eckardt, »Einleitung in die historischen Texte«, in: ders. (Hg.), Völkerpsychologie – Versuch einer Neuentdeckung. Texte von Lazarus, Steinthal und Wundt, Weinheim 1997, 7 – 123, hier 96 – 100, betont diese Orientierung an den Objektivationen in kritischer Absicht, weil dadurch zum einen der Weg zur ›Sozialpsychologie‹ versperrt werde und
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steht also wesentlich in dem Vorhaben, »die objektiv in der Sprache, dem Mythos, der Sitte uns entgegentretenden Gesetze hier psychologisch«43 zu untersuchen. Wundts Völkerpsychologie zielt so zwar auf die Gesetze des psychischen Lebens vergesellschafteter Individuen ab, ist aber zuallererst mit den Objektivationen der menschlichen Kultur wie Sprache, Mythos und Religion sowie Sitte befasst. Trotz aller Differenzen hinsichtlich der Ansprüche der Psychologie erweist sich Wundts Völkerpsychologie daher für Cassirers Symbolphilosophie als anschlussfähig. Sie verfolgt zwar ein anderes Ziel, wenn sie letztlich psychologische Gesetze herausarbeiten soll, weist aber zumindest aus der Ferne besehen doch gewisse Parallelen im Vorgehen auf. Erstens ist Wundts Zugriff auf die behandelten Felder der Kultur wie Cassirers symbolphilosophisches Vorhaben geprägt von einer kulturhistorischen Perspektive und bezieht reichhaltiges kulturwissenschaftliches Material aus den Sprachwissenschaften, der Ethnologie, der Religionsgeschichte usw. ein. 44 Er steht dabei in der Tradition der Völkerpsychologie des 19. Jahrhunderts sowie ihrer beiden Gründer Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, die bereits programmatisch den Anspruch formuliert hatten, dass »die Völkerpsycho logie nur von den Thatsachen des Völkerlebens ausgehen kann«45 und sich dazum anderen die Rekonstruktion der »psychischen Funktionen« aus den vorliegenden »Objektivationen« kaum lösbare methodische Probleme aufwerfe. Diese Einwände begründen sich aus einem psychologischen Interesse – und können unter Voraussetzung einer kulturhistorischen Perspektive dagegen zugleich Vorzüge bezeichnen. 43 Wundt, »Der Einzelne und die Volksgemeinschaft«, 67. Ausführlicher ebd., 67 f.: »Vielmehr sucht sie [die Völkerpsychologie, A. S.] die in den Erscheinungen des gemeinsamen Lebens objektiv hervortretenden Gesetze auf der Grundlage gewisser allgemeingültiger psychischer Motive, die sie dem individuellen Seelenleben entnimmt, und der besonderen Bedingungen, unter denen diese Motive auf den verschiedenen Stufen der Kultur wirken, psychologisch zu interpretieren.« 44 Vgl. dazu, unter kritischen Vorzeichen, Oelze, Wundt, 31 f. und 152 f. 45 So in »Ueber den Begriff und die Möglichkeit einer Völkerpsychologie« von 1851 in Moritz Lazarus, Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, hg., mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Klaus Christian Köhnke, Hamburg 2003, 3 – 25, hier 8. Ebd., 7 f., heißt es ausführlicher. »Eigentliche Materialien, welche unmittelbar den Stoff der Bearbeitung abgeben, werden wir gleichfalls in reichem Maße finden bei den geistvollen Historikern, Ethnographen und Ethnologen. Desgleichen bieten die sprachwissenschaftlichen Werke Wilh[elm] v. Humboldt’s und nach ihm Steinthal’s – und von einer andern Seite Grimm’s und seiner Genossen, durch die etymologischen Studien, ebenso Böckh namentlich durch seine Charakteristik und Entwicklungsgeschichte der griechischen Stämme – unschätzbare Beiträge. Nicht minder lehrreich sind die Werke Alex[ander] v. Humboldt’s, Ritter’s u. A. – Alle diese können uns freilich nur die concreten Erscheinungen des innern und äußern Lebens der Völker, einzelner oder mehrerer zugleich, also die Thatsachen, in denen die Volksgeister sich manifestiren, und die histo rische Entfaltung darlegen. Der Völkerpsychologie fällt nun die Aufgabe zu, aus diesen
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mit auf »Materialien« aus Disziplinen wie der Geschichte, der Ethnologie und der Sprachwissenschaft stützen muss. 46 Diese kollektive und objektive Ebene der Kultur bezeichnet Wundt wie Cassirer als ›Geist oder ›Geistiges‹ und greift damit auf die frühe Völkerpsychologie und ihre eigenständige Anverwandlung eines Hegel’schen Terminus zurück, die auch Cassirer vertraut war. 47 Zweitens führt Wundt diesen Ansatz in seinem ungeheuer materialreichen, zehnbändigen Werk aus, wobei der erhobene Anspruch auf die Federführung der Psychologie zwar die Absicht der Texte beschreibt, aber keineswegs immer die materialreichen Darstellungen beherrscht. Die Völkerpsychologie ähnelt gerade wegen ihres engen Bezugs auf die kulturellen Objektivationen und das kulturwissenschaftliche Material mitunter weniger einer Psychologie im konventionellen Sinne als – mit Wundts Formulierung – einer »Psychologie der Kultur«48 oder – nach einer jüngeren Reformulierung – einer »psychologischen Kulturtheorie«. 49 Sie reduziert concreten Erscheinungen heraus auf wissenschaftliche Weise und in wissenschaftlicher Form die Gesetze zu finden, nach denen sie sich erzeugt haben.« Nicht zuletzt wegen dieses empirischen Aspekts wurde die Völkerpsychologie auch in die ›Vorgeschichte‹ der Kulturwissenschaft eingereiht, vgl. Hartmut Böhme, Peter Matussek, Lothar Müller, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg 2000, 36 – 4 4, bes. 39, oder auch der cultural anthropology im Sinne von Franz Boas, vgl. Ivan Kalmar, »The Völkerpsychologie of Lazarus and Steinthal and the Modern Concept of Culture«, in: Journal of the History of Ideas 48 (1987), 671 – 690, bes. 671 – 679. 46 Vgl. zu Wundts Werk in der Tradition der Völkerpsychologie bereits Julius Frankenberger, »Objektiver Geist und Völkerpsychologie. Eine Studie zum Verständnis der alten Völkerpsychologen«, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 154 (1914), 68 – 83 und 151 – 168, hier 156 – 160, und Karl Bühler, Die Krise der Psychologie, Weilerswist 2000 (= Werke, hg. von Achim Eschbach und Jens Kapitzky, 4), 43. Vgl. für jüngere Arbeiten Eckardt, »Einleitung in die historischen Texte«, und den historischen Überblick bei Egbert Klautke, The Mind of the Nation. Völkerpsychologie in Germany, 1851 – 1955, New York 2013, bes. 59 ff. 47 Vgl. Wundt, »Der Einzelne und die Volksgemeinschaft«, 55 – 61. Cassirers Rekurs auf die frühe Völkerpsychologie ist weniger einschlägig, wurde aber eindrucksvoll nachgezeichnet von Gerald Hartung, Sprach-Kritik. Sprach- und kulturtheoretische Reflexio nen im deutsch-jüdischen Kontext, Weilerswist 2012, hier 179 – 184. 48 Vgl. Günter Aschenbach, »Wilhelm Wundt: Vater der experimentellen Psychologie? Kulturwissenschaftliche Aspekte in Wilhelm Wundts Psychologieverständnis«, in: Gerd Jüttemann (Hg.), Wegbereiter der Historischen Psychologie, München und Weinheim 1988, 230 – 244, und die zitierte Selbstcharakterisierung Wundts ebd., 233. Leider bleiben der Begriff der Kultur und der Bezug auf die Fakta der Kulturwissenschaften recht unbestimmt. 49 Ich greife hier eine Formulierung von Christa Schneider auf, die leider ohne Begründung bleibt und daher auch keinen präzisen Sinn gewinnt, vgl. »Einleitung zu Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie«, in: Christa Schneider (Hg.), Wilhelm Wundt – Völkerpsychologie. Ein Reader, Göttingen 2008, 13 – 39, hier 13. Diese Kennzeichnung setzt aber jedenfalls einen Gegenakzent zur lange verbreiteten und meist enttäuschten
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die kulturellen Objektivationen nicht auf das Individuum, sondern bezieht sie auf dessen psychisches Leben, um seine höheren, von der Gesellschaft und deren Entwicklung abhängigen Leistungen zu fassen zu kriegen. Die Parallele zu Cassirers symbolphilosophischem Projekt ist erkennbar, sobald man Wundts wissenschaftspolitische Rhetorik in den Hintergrund treten lässt. Denn auch Cassirer geht von der objektivierten Kultur aus, um auf die spezifischen Formen des Symbolischen zu reflektieren und also die historischen, kulturellen und kollektiven Bedingungen der subjektiven Erfahrung wie ihrer Gegenstände herauszuarbeiten. Cassirers Entwurf einer Symbolphilosophie beinhaltet daher nicht nur eine »Metaphysik des Symbolischen«, sondern auch eine »Psychologie des Symbolischen«, da sie sowohl die subjektive als auch die objektive Wirklichkeit unter den Vorzeichen i hrer symbolischen Vermittlung betrachtet. Diese Parallelen sollten selbstredend nicht dazu führen, die zahlreichen Differenzen zu vernachlässigen, wobei vor allem heraussticht, dass Cassirer das Psychische selbst in seinen basalsten Prozessen niemals vom Symbolischen loslöst, während Wundt aufgrund seiner experimentellen Psychologie des Individuums ein davon unabhängiges psychisch-physiologisches Fundament des Ausdrucks annimmt. Schon dreißig Jahre später wirkt diese Annahme – wie der Kritik Karl Bühlers zu entnehmen ist – überholt.50 Sie harmoniert zudem, so Bühler, kaum mit dem Ansatz, das gesellschaftliche Zusammenleben und die intersubjektiven Interaktionen ins Zentrum zu rücken und sie als Bedingungen höherer psychologischer Erlebnisse und Handlungen zu begreifen.51 Wundts Völkerpsychologie ist vermutlich wegen dieser Annahme eines psychophysischen Fundaments, die Cassirer wie Bühler mit Blick auf das Verständnis des Ausdrucks als Bewegung von Innen nach Außen kritisiert,52 zumindest im geistes- und kulturwissenschaftlichen Kontext weitgehend dem Vergessen anheim gefallen.
Erwartung, in Wundts Völkerpsychologie eine Sozialpsychologie oder Soziologie sehen zu wollen, vgl. Oelze, Wundt, oder Eckardt, »Einleitung in die historischen Texte«. Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass Wundts eigener, keineswegs zentraler Kulturbegriff von sehr simplem und konventionellem Zuschnitt ist, vgl. exemplarisch Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 484 – 488. 50 Vgl. Karl Bühler, Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt, Jena 1933, 131 f. und 145 – 151. 51 Vgl. Bühler, Ausdruckstheorie, 130 f. Diese Kritik kann gegenüber derjenigen aus Die Krise der Psychologie von 1927 durchaus als wohlwollende Differenzierung erscheinen. Denn dort hatte Bühler auch mit Blick auf Wundts Sprachauffassung das Fehlen jeder der »Kundgabe« korrespondierenden »Kundnahme« kritisiert, vgl. Bühler, Die Krise der Psychologie, 50 – 53. 52 Vgl. Bühler, Ausdruckstheorie, 132 – 134.
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Wenn die Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« sich Überlegungen Wundts zu eigen machen und produktiv weiterführen, setzen sie daher an anderen Punkten und vor allem an der Genese der Sprache und des Symbolischen an. Wundt konzipiert diese Genese gemäß seinem naturalistischen Ansatz zwar in einer evolutionären Perspektive auf die Entwicklung des Menschen, was auf Cassirers Kritik stoßen wird. Dennoch schließt Cassirer vor allem auf Blatt 1 an Wundts Überlegungen zur Entstehung der Sprache aus der Gebärde an und entwickelt in der kritischen Auseinandersetzung zugleich eine genetische Perspektive auf das Symbolische, die systematische Züge und zentrale Motive seines symbolphilosophischen Vorhabens zu erkennen gibt. Die folgende Erörterung wird sich daher auf die Frage der Genese des Symbolischen zwischen Wundts Naturalismus und Cassirers Symbolphilosophie konzentrieren und sich dabei vorwiegend auf Blatt 1 stützen. Cassirer entfaltet die Genese des Symbolischen in mehreren Schritten, indem er die Stichpunkte mehrmals durch eine horizontale Trennlinie unterbricht und daraufhin erneut ansetzt. Er greift so, erstens, eine Bemerkung Wundts auf, derzufolge die ›hinweisende Gebärde‹ aus der Hemmung des Greifens entstanden ist, um darin einen ersten Schritt in der Entwicklung des Symbo lischen zu verorten, die bis zum wissenschaftlichen Begriff führen soll. Zweitens geht er auf eine grundlegende und allgemeine Bestimmung zurück, die Begriff wie Gebärde zukommen soll, nämlich die Loslösung vom unmittelbar Gegebenen und der Gewinn des Spielraums zur Reflexion. Drittens wird diese Grundlage nun mit Blick auf die Entwicklung des Begriffs aus der hinweisenden Gebärde expliziert, um mit Rekurs auf Wundts ›nach ahmende Gebärde‹, viertens, analog die Entwicklung des Ästhetischen aus der Gebärde zu beschreiben und damit die Differenzierung des Symbolischen in verschiedene Formen der Symbolisierung einzuführen. Schließlich kommt Cassirer, fünftens, auf die allgemeine Charakteristik der Symbolisierung zu sprechen. Ich werde diesen Gedankengang Schritt für Schritt verfolgen und dabei ebenso Cassirers Auseinandersetzung mit Wundts Theorie der Gebärde wie seine wegweisenden konzeptionellen Entscheidungen ins Zentrum rücken.
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Wundts ›hinweisende Gebärde‹: Natürliche Bedingungen des Symbolischen Dass Cassirers Notizen zu Wundt zu Beginn der Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« den Charakter eines fortlaufenden Textes haben, zeigt sich bereits am Titel von Blatt 1. Die zweizeilige Überschrift ist zwar graphisch abgesetzt und teilweise durch Unterstreichung hervorgehoben. Sie führt aber direkt in einen Satz über, der sich zentral auf Wundts Konzeption der ›hinweisenden Gebärde‹ bezieht: »Zum Fortschritt von der ›sinnlichen Symbolik‹ / zur ›begrifflichen Symbolik‹ / kann eine Bemerkung Wundts herangezogen werden, / der Völkerpsychologie I, 128 ff. ausführt, daß / die hinweisenden Ausdrucksbewegungen ursprünglich / aus Greifbewegungen entstanden, sich aus ihnen genetisch / entwickelt haben. Die hinweisende Gebärde ist [›]genetisch / betrachtet nichts anderes als die bis zur Andeutung abgeschwächte Greifbewegung‹.«53 Cassirer setzt mit diesem Zitat vom Ende des ersten Kapitels des ersten Bandes der Völkerpsy chologie, das auch Bühler noch mit Zustimmung anführen wird,54 an der genetischen Perspektive von Wundts Völkerpsychologie an und versucht dem Werden des Symbolischen in der Folge eine Wendung zu geben, die seinem eigenen systematischen Anliegen entspricht. Cassirer zieht jedoch tatsächlich kaum mehr als eine ›Bemerkung‹ heran, da er den gesamten Kontext von Wundts Überlegungen außer Acht lässt. Wundt führt die ›hinweisende Gebärde‹ ein, nachdem er auf den mehr als hundert Seiten zuvor nicht nur eine Konzeption des Ausdrucks eingeführt hat, die Inneres und Äußeres deutlicher unterscheidet, als es Cassirer nach seiner Disposition anstrebt.55 Er hat auch kritisch Stellung bezogen gegen diverse Versuche, den Ausdruck als symbolisch zu charakterisieren.56 Vor allem aber versteht Wundt den Ausdruck entsprechend seiner These eines physisch-physiologischen Parallelismus als zugleich physische und psychische Bewegung, was er anhand der Affekte und des mimischen Muskelspiels zu zeigen versucht.57 Mit Blick auf die Gebärdensprache, der 53 Blatt 1, 1. Das bei Cassirer nicht zu findende Anführungszeichen zu Beginn des Wundt-Zitats habe ich ergänzt, vgl. für die entsprechende Stelle in Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 129. 54 Vgl. Bühler, Ausdruckstheorie, 136 f. 55 Vgl. zur Unterscheidung der diversen Gebärden Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 128 – 130, und zum Begriff des Ausdrucks ebd., 37 f. 56 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 85 – 88. Den Begriff des Symbols versteht er als ästhetische Kategorie, die den physiologischen Aspekt des Ausdrucks ausblende. 57 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 88 – 9 0, und zur Problematik dieser Übernahme von Voraussetzungen aus der Individual- in die Völkerpsychologie insbesondere Siegfried Bushuven, Ausdruck und Objekt. Wilhelm Wundts Theorie der Sprache und
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das zweite Kapitel gewidmet ist, führt er schließlich neben den mimischen die »pantomimischen Bewegungen« ein, die sich zuallererst durch die Beteiligung verschiedener Muskeln unterscheiden, denn sie involvieren statt der Gesichtsmuskeln das »Bewegungssystem der Arme und Hände«58 . Welche Muskeln beteiligt sind, ist aus Sicht Wundts keinesfalls ohne Bedeutung für den Sinn der Ausdrucksbewegung. Er hatte bereits im Falle des mimischen Ausdrucks argumentiert, dass durch die Nähe zu den Sinnesorganen bestimmt wird, welche Gesichtsmuskeln am Ausdruck beteiligt sind, und versteht ebenso die Spezifik der ›pantomimischen Bewegungen‹ mit Rekurs auf die beteiligten Muskeln. Da die Arme und Hände zuallererst die Funktion des Greifens hätten, schließt Wundt, dass sie auch zum Ausdruck unserer Beziehung zu den »Gegenständen der uns umgebenden Außenwelt«59 dienen. In diesem Zusammenhang fällt die ›Bemerkung‹, auf die sich Cassirer bezieht. Wundts Erörterungen bewegen sich erkennbar im Horizont eines Begriffs der Entwicklung, der im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielte, durch Darwin umso mehr ins Zentrum vielfältiger Diskussionen rückte und ebenso oft Konsens wie Dissens verdichtete. 60 Wundt bezeichnet seine Völkerpsychologie so schon im Untertitel als eine »Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte« und bezieht sich kaum überraschend insbesondere auf Darwins The Expression of the Emotions in Man and Animals von 1872. 61 Seine Darstellung erscheint aus heutiger Sicht häufig überschwänglich naturalistisch und gerade deshalb oft spekulativ, wenn sie die höheren psychischen Leistungen im Zusammenhang seine philosophische Konzeption ursprünglicher Erfahrung, Münster und New York 1993, 26 – 47, sowie zur Gebärde innerhalb von Wundts Argumentation ebd., 48 – 57. 58 Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 126. 59 Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 129. 60 Vgl. dazu anhand der »neukantianischen Theoriebildung zwischen Apriorismus und Entwicklungsdenken« Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M. 1993, 345 – 366, und im engeren Bezug auf die Völkerpsychologie und das Problem der Sprache Hartung, Sprach-Kritik, 41 – 51, sowie zur Diskussion nach Darwin Gerald Hartung, »Darwin und die Philosophen. Eine Studie zur Darwin-Rezeption im 19. Jh.«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2003, 169 – 189. 61 Vgl. zu Darwin Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 78 – 85, und zur Rolle des Entwicklungsgedankens in der Konzeption der Völkerpsychologie Wundt, »Ziele und Wege der Völkerpsychologie«, 15 – 19. Vgl. zur Erläuterung Eckardt, »Einleitung in die historischen Texte«, 86 – 90, Wolfgang Mack, Regina A. Kressley-Mba und Monika Knopf, »Zum Begriff der Entwicklung in Wundts Psychologie«, in: Jüttemann (Hg.), Wilhelm Wundts anderes Erbe, 69 – 80, bes. 77 f., sowie zur Prägung des Wundtschen Entwicklungsbegriffs durch die Biologie und insbesondere den Darwinismus Oelze, Wundt, 19 f., und Schneider, »Einleitung zu Wilhelm Wundt«, 14 – 19.
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der evolutionären Entwicklung fasst und insbesondere die Ausdrucksbewegung im Übergang vom Tier zum Menschen betrachtet. Die menschliche Sprachkompetenz soll aus ihren natürlichen Bedingungen im tierischen Ausdrucksverhalten entstehen und dabei eine graduelle Entwicklung vollziehen: »Jede Stufe dieser Entwicklung ist im Keime schon in der vorangegangenen enthalten und ist doch ihr gegenüber ein Neues.«62 Wundts Verständnis von Entwicklung schließt demnach ein, dass aus gegebenen Bedingungen etwas genuin Neues entstehen kann. Es soll sich jedoch zugleich aus diesen Bedingungen erklären lassen und muss insofern in ihnen enthalten sein. Diese wenn nicht widersprüchlichen, so doch spannungsvollen Anforderungen sollen in der Metapher des Keims wohl versöhnt werden, die allerdings selbst eher unwillkürlich andeutet, dass diese naturalistische Erklärung der menschlichen Sprache und Kultur aus ihren natürlichen Bedingungen nicht ohne Vorgriff auf den zu erklärenden Gegenstand auskommt. Sie läuft daher Gefahr, der betrachteten Entwicklung implizit eine teleologische Annahme zu unterlegen und so dem eigenen Anspruch, das Entstandene aus seinen Bedingungen erklären zu können, zuwider zu handeln. Es ist diese Problemlage, an der Cassirers Notizen zu Wundt ansetzen. Auf den ersten Blick kann dabei der Eindruck entstehen, als würde die Konzeption des Symbolischen der Perspektive einer schrittweisen Entwicklung der Sprache im Sinne Wundts gleichsam eingebettet werden. Cassirer hätte demnach aus den ausführlichen und mitunter ermüdenden Erörterungen zur psychisch-physiologischen Ausdrucksbewegung unvermittelt eine ›Bemerkung‹ Wundts herausgegriffen, weil er hier alle Bedingungen erreicht sah, die das Symbolische im Allgemeinen charakterisieren sollen und seine weitere eigenständige Entwicklung eröffnen. Cassirer hätte so dem Symbolischen eine phylogenetische Grundlage gegeben, statt dessen Leistung – wie in den erkenntnistheoretischen Schriften den Begriff – schlicht als notwendige Bedingung der Kultur vorauszusetzen. Dieser Eindruck, dass dem Symbolischen hier gleichsam ein Ort in der Geschichte der mensch62 Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 246. Ich zitiere nochmals im Zusammenhang: »Das Grundgesetz aller geistigen Entwicklung, wonach das Folgende ganz und gar aus dem Vorangegangenen entsteht und dennoch ihm gegenüber als eine neue Schöpfung erscheint, dieses Gesetz der ›psychischen Resultanten‹ oder der ›schöpferischen Synthese‹ bewährt sich auch Schritt für Schritt in der Aufeinanderfolge der seelischen Vorgänge, aus denen sich die Entwicklung der Gebärdensprache zusammensetzt. Jede Stufe dieser Entwicklung ist im Keime schon in der vorangegangenen enthalten und ist doch ihr gegenüber ein Neues.« Vgl. zur kontinuierlichen Entwicklung der Sprache auch Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte. Erster Band: Die Sprache, zweite, umgearbeitete Auflage, Zweiter Teil, Leipzig 1904, 635. Dieser Teil wird im Folgenden zitiert als Wundt, Völkerpsychologie, I, 2.
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lichen Gattung zugewiesen wird, ist nicht gänzlich abzustreiten und stellt einen nicht zu vernachlässigenden, aber eher suggestiven Mehrwert selbst der entsprechenden Passage im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen dar. 63 Dennoch trifft eine solche Beschreibung klarerweise weder die zitierte Notiz noch den veröffentlichten Text, weil Cassirer den naturalistischen Rahmen der Wundt’schen Behauptung einer Entwicklung der Gebärde aus dem gehemmten Greifen keineswegs unhinterfragt bestehen lässt. Vielmehr schärft er in dieser kritischen Auseinandersetzung sein Verständnis der Genese des Symbolischen. Ein erstes bedeutsames Anzeichen für Cassirers eigene Auffassung der Genese des Symbolischen ist seine gewagte Extrapolation der Entstehung der Gebärde aus dem gehemmten Greifen bis hin zum Begreifen. Das kaum überraschende Wortspiel zwischen Greifen und Begreifen mag ein Anlass gewesen sein, warum Cassirer gerade diese Bemerkung Wundts herausgegriffen und festgehalten hat: »Das Kind greift nach / allen Gegenständen, will sie unmittelbar gleichs. in seine / Gewalt ziehen; später wird hieraus der bloß deutende / ›Hinweis‹. Ist dies richtig, so kann man in der / Tat sagen, daß vom ›Greifen‹ zum ›Begreifen‹ / eine kontinuierliche Skala führt, die durch / die Abstufung innerhalb der symbolischen Funktion / bezeichnet wird.«64 Wundt hatte dagegen das genetische Potential der ›hinweisenden Gebärde‹ lediglich bis zur »Deutebewegung«65 des Kindes verfolgt und die Aufgabe des Begreifens mit keinem Wort erwähnt. Cassirer verlängert aber auch diese Entwicklung um den für ihn entscheidenden Schritt: »Das / ›Greifen wird zum ›Deuten‹: und auf demselben / Wege wird das ›Deuten‹ zum ›Bedeuten‹.«66 Diese Formulierungen scheinen die Entwicklung von der Hemmung des Greifens zur hinweisenden Gebärde lediglich bis zum Begreifen zu verlängern, bieten in der Tat aber Anzeichen für die Wendung, die Cassirer der Konzeption der Entwicklung gibt, statt sie von Wundt zu übernehmen. Bei Wundt ist von einer Genese der hinweisenden Gebärde aus der Hemmung des Greifens zunächst in dem Sinne zu sprechen, dass bestimmt wird, w oraus jene Gebärde entstanden ist, dass, so nochmals Cassirers Reformulierung, »die hinweisenden Ausdrucksbewegungen ursprünglich / aus Greifbewe gungen entstanden, sich aus ihnen genetisch / entwickelt haben.« Es ist aber nicht diese Entwicklung aus mutmaßlich einfacheren und zuvor vorhandenen Elementen, die auf Cassirers Interesse trifft. Vielmehr lehnt er eine solche Vgl. ECW 11, 123 – 127. Blatt 1, 1. 65 Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 130. 66 Blatt 1, 1. 63
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Form der »psychologischen Genese«67 oder »genetischen ›Erklärung‹«68 hier wie in der Philosophie der symbolischen Formen ab und wendet den Blick geradezu um: Statt die Entwicklung des Symbolischen darauf zu beziehen, woraus es entstanden ist, fokussiert er das Entwicklungspotential, das mit dem Symbolischen gegeben ist und das es über die ersten Anfänge hinaustreiben wird. Cassirer identifiziert die ›hinweisende Gebärde‹ daher nicht wie Wundt mit der »abgeschwächten Greifbewegung«, aus der sie in gradueller Entwicklung entstanden sein soll. Er sieht in ihr das ganze Potential des Symbolischen angelegt, das sich im Begriff paradigmatisch realisiert. Cassirer kommt es somit nicht wie Wundt vorrangig auf die vorgängigen natürlichen Bedingungen, sondern die weitere Entfaltung des Symbolischen an. Er nimmt damit aber zugleich eine einschneidende Veränderung der Konzeption der Genese vor, die für sein symbolphilosophisches Projekt von zentraler Bedeutung ist. Cassirer zielt mit der Konzeption der Genese nicht wie Wundt auf die Erklärung der Kultur aus ihren natürlichen Bedingungen ab, sondern auf das Potential des Symbolischen zur weiteren Entfaltung, das bereits in seinen ersten Anfängen gegeben ist. Diese Umwendung der retrospektiven Sicht der naturalistischen Erklärung in die prospektive Sicht auf die kulturelle Entfaltung des Symbolischen legt wie auch manche Formulierungen Cassirers jedoch die Konsequenz nahe, dass Cassirer die Genese des Symbolischen als eine teleologische Entwicklung versteht und insbesondere auf den wissenschaftlichen Begriff ausrichtet. Bereits im Titel des ersten Blattes »Zum Fortschritt von der ›sinnlichen Symbolik‹ zur ›begrifflichen Symbolik‹« klingt eine solche teleologische Perspektive an und erscheint der Begriff als das alleinige und vorbestimmte Ziel der Entwicklung des Symbolischen. Alle Formen der Symbolisierung, von denen auf diesen Seiten nicht explizit die Rede ist, würden sich demnach konvergent auf das Telos des wissenschaftlichen Begriffs hin entwickeln. Cassirer selbst schreckt vor dem Begriff der Teleologie, der aus heutiger Sicht allzu verfänglich wirkt, keineswegs zurück. In dem Aufsatz »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen« von 1925 spricht er so von einer »›teleologischen‹ Fügung der Sprachbegriffe«69, um eine doppelte argumentative Bewegung zu pointieren: Einerseits hat der theoretische Begriff, den Cassirer So mit Bezug auf Wundt ECW 11, 125. Ich greife hier eine Formulierung auf, die sich erst im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen findet und sich dort auf eine physiologische Theorie des Sehens bezieht, vgl. ECW 13, 150. Wundt spricht von »genetischer Erklärung« im Unterschied zur »sorgfältigen Beschreibung« z. B. in Völkerpsychologie, I, 1, 126. 69 Ernst Cassirer, »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen«, in: ECW 16, 227 – 311, hier 263, Fn. 41. 67
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in Substanzbegriff und Funktionsbegriff analysiert hatte, seine Grundlage in der »Schicht der Sprachbegriffe«70 , aus denen er sich entwickeln konnte; andererseits weisen damit aber bereits selbst die einfachsten »mythischen und die sprachlichen Begriffe«71 über sich auf den theoretischen Begriff hinaus, den zu realisieren sie letztlich bestimmt wären. Aus Cassirers Betonung des Entfaltungspotentials des Symbolischen folgt aber keineswegs notwendig eine solch simple teleologische Perspektive. Zwar sprechen die gerade zitierten Überlegungen Cassirers wie auch die Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« dafür, dass die Genese des Symbolischen durchaus mit einem Telos verbunden ist, an dem der wissenschaftliche Begriff einen wesentlichen Anteil hat. Damit ist aber mitnichten gesagt, dass dieses Telos mit dem Begriff schlechthin zu identifizieren ist. Es spricht vielmehr einiges gegen diese allzu einfache Deutung. Ein erster Einwand besteht darin, dass es ein wesentliches Motiv und eine methodische Vorgabe der »Philosophie des Symbolischen« ist, die verschiedenen Formen zwar unter dem Begriff des Symbolischen zu vereinen, die Spezifik seiner verschiedenen Besonderungen aber zu erhalten.72 Es würde diesem Ansatz grundlegend widersprechen, die Entfaltung des Symbolischen allein am Telos des wissenschaftlichen Begriffs zu messen. Cassirer würde darüber hinaus den Vorwurf auf sich ziehen, mit dem er sich selbst von Hegels System abzusetzen versuchte, nämlich die Vielfalt der Symbolisierung letztlich einer einheitlichen Logik und dem wissenschaftlichen Begriff zu opfern. Ein zweiter Einwand ist weniger zwingend, aber nicht minder bedenkenswert. Viele Formulierungen Cassirers, die den wissenschaftlichen Begriff scheinbar als alleiniges Telos der Entfaltung des Symbolischen fixieren, sind gekennzeichnet von einer charakteristischen Ambivalenz der Rede von Begriff, was sich darin begründet, wie Cassirer die »Philosophie des Symbolischen« konzipiert. Wie das erste Kapitel gezeigt hat, entwirft Cassirer dieses Projekt durch die Verallgemeinerung des Begriffs zum Symbolischen, das dann neben dem Begriff noch zahlreiche andere Formen als mögliche Spezifizierungen umfasst. Aufgrund dieses Gedankengangs bezieht sich Cassirer mit dem Begriff aber nicht nur trennscharf auf diese konkrete Form der Symbolisierung, sondern gelegentlich auch allgemein auf das Paradigma des Symbolischen und dessen Leistungen. Cassirers Rede vom ›Fortschritt zur begrifflichen Symbolik‹ schürt so zwar die Erwartung, dass Cassirer eine notwendige teleologische Entwick ECW 16, 253, vgl. die ganze Passage ebd., 247 – 266. ECW 16, 256. 72 Vgl. dazu nochmals den Abschnitt »Die ›Metaphysik des Symbolischen‹: Symbolund Kulturphilosophie« im ersten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 106 ff. 70 71
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lung des Symbolischen zum wissenschaftlichen Begriff postuliert. Er kann damit aber durchaus auch nur eine mögliche Entfaltung des Symbolischen bezeichnen, die in einem ganzen Spektrum gleichrangiger Alternativen zu verorten wäre, oder wiederum betonen, dass schon in den einfachsten Symbolisierungen das Potential des Symbolischen in vollem Umfang vorhanden ist und es selbst die Möglichkeiten der höchstentwickelten Formen umfasst. Aus der Umwendung der retrospektiven Sicht Wundts, der die Entwicklung der Kultur aus den ihr vorangehenden natürlichen Bedingungen rekonstruiert, folgt daher nicht zwingend, dass Cassirer auf die Anfänge des Symbolischen zurückgeht, um in einer prognostischen Sicht dessen zukünftige, notwendige Entwicklung zum Begriff zu behaupten. Wenn er die Entwicklung vom instinktiven Greifen des Tiers zur hinweisenden Gebärde bis zum Begreifen des Menschen verlängert, dann geht es ihm gar nicht in erster Linie um die zukünftige Entwicklung des Symbolischen. Vielmehr kommt es ihm darauf an, dass mit dem Symbolischen etwas grundlegend Neues aufkommt und bereits in dessen ersten Anfängen das irreduzible und umfängliche Potential seiner Entfaltung gegeben ist. Der naturalistische ›Keim‹ Wundts, der alles Kulturelle auf seine natürlichen Bedingungen zurückführen und auf diese Weise evolutionär erklären sollte, wird in Cassirers Notizen somit zum Einsatz eines neuen, eigenständigen Potentials des Symbolischen: »die ›hin- / weisende Gebärde‹ ist eben der primitive Keim / der symbolischen Funktion überhaupt«73 . Demzufolge kennt die Genese des Symbolischen zum einen zwar insofern ein Telos, als das Symbolische zuallererst als Potential seiner Entfaltung zu begreifen ist, zum anderen aber keine Teleologie in dem Sinne, dass eine bestimmte zukünftige Entwicklung oder gar ein notwendiges Ziel vorweggenommen würde. Das Telos der Genese des Symbolischen behauptet keine zukünftige Entwicklung, sondern das von Anfang an vorhandene Potential zur weiteren Entfaltung. Diese These kann noch nicht als hinreichend belegt gelten, wird aber durch Cassirers weitere Auseinandersetzung mit Wundt bekräftigt. Wie gesehen lehnt Cassirer Wundts naturalistischen Anspruch ab, die Entstehung des Symbolischen aus seinen natürlichen Bedingungen zu erklären. Das Symbolische betrachtet er aber keineswegs als völlig unabhängig oder 73 Blatt 1, 3. Auf die Bedeutung der Metapher des Keims schon bei Wundt scheint Cassirer selbst hinweisen zu wollen, wenn er sie auch im Vorwort des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen aufgreift und den Ansatz von »Entwicklungspsychologie« und »allgemeiner Völkerpsychologie« wie folgt charakterisiert: »Der Mythos gilt als ›begriffen‹, wenn es gelingt, seine Herkunft aus bestimmten Grundanlagen der ›menschlichen Natur‹ verständlich zu machen und die psychologischen Regeln aufzuweisen, denen er in seiner Entfaltung aus diesem ursprünglichem [sic!] Keim folgt.« (ECW 12, X)
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autonom gegenüber den natürlichen Bedingungen, was für seine Auffassung der Entfaltung und des Telos des Symbolischen von entscheidender Bedeutung ist. Die Losung »vom ›Greifen‹ zum ›Begreifen‹« betont so in erneuter Nähe zu Wundt die Kontinuität zweier Momente, die sich doch wesentlich unterscheiden müssten. Denn erstens bezieht sich die Unterscheidung zwischen dem Greifen als »unmittelbarem ›Fassen‹« in seiner »physisch-materialen Gewalt«74 und dem Hinweis als »mittelbarem ›Erfassen‹« letztlich auf die Entstehung des Symbolischen überhaupt und bezeichnet insofern auch das Moment der Anthropogenese, als die hinweisende Gebärde ein »Privileg des höher entwickelten, geistig-menschl. Bewusstseins«75 darstellt. Zweitens setzt der Übergang vom »mittelbaren ›Erfassen‹ zu der höheren ›geistigen‹ Auffassung« dagegen das Symbolische bereits voraus und beschreibt seine weitere Entfaltung in einem kulturgeschichtlichen Horizont. Trotz dieses wesentlichen Unterschieds zwischen der Entstehung des Symbolischen überhaupt und seiner weiteren Entfaltung scheint Cassirer jedoch eine einheitliche und durchgängige Entwicklung »vom ›Greifen‹ zum ›Begreifen‹« anzunehmen: »Vom unmittelbaren ›Fassen‹ des Gegenstandes selbst (ἀπριξ τοῖν χεροῖν) führt der Weg durch das mittelbare ›Erfassen‹ zu der höheren ›geistigen‹ Auffassung.«76 Diese Betonung der Kontinuität zwischen der Entstehung des Symbolischen und seiner fortgesetzten Entfaltung wirkt auf den ersten Blick wie eine argumentative Ungenauigkeit Cassirers. Bei genauerer Überlegung hat sie aber zur Pointe, dass das Symbolische sich weder aus seinen natürlichen Bedingungen erklären lässt, noch vollkommen unabhängig von ihnen zu fassen ist. Cassirer geht nicht von einem Bruch des Symbolischen mit der Natur in dem Sinne aus, dass das Symbolische von Anfang an per definitionem vollkommen autonom wäre, sondern sieht seine Genese und Entfaltung im Zusammenhang seiner natürlichen Bedingungen. Das Symbolische ist demzufolge kein Zustand, der mit seiner Entstehung erreicht und von da an gewährleistet wäre. Es besteht vielmehr von Anfang an in dem Potential, sich nicht von dem Zusammenhang der natürlichen Bedingungen bestim Blatt 1, 1. Ich zitiere hier etwas ungenau, bezieht sich diese Formulierung doch auf die »sogen. ›Reflexion‹«, auf die ich noch zu sprechen komme. Dieser Wechsel des Bezugs wird aber gerechtfertigt durch Cassirers Begründung dieses Privilegs im Rekurs auf Wundt: »Wundt betont (a. a. O. S. 130) / daß kein Tier, auch der Affe nicht, zu ›hinweisenden / Gebärden‹ aus Greifbeweg. vorgeschritten ist.« (Blatt 1, 3) In »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« von 1930, in: ECW 17, 185 – 205, hier 200, wird Cassirer schärfer den »Greif- und Wirkraum« des Tieres vom »Anschauungs- und Denkraum« des Menschen unterscheiden. 76 Blatt 1, 1. Das griechische Zitat entstammt Platons Theaitetos, 155e, und wird ganz ähnlich in ECW 11, 126, angeführt. 74
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men zu lassen, in denen der Mensch und das Symbolische stehen. Cassirer geht es darum, dem Symbolischen einen Ort im Leben des Menschen zu geben, der keineswegs von vornherein vollständige Autonomie gegenüber der animalischen Basis gewährleistet, aber gerade das neue Potential und die eigene Dimension eröffnet, dass der Mensch sich in der Entfaltung des Symbolischen von seinen natürlichen Gegebenheiten zu lösen vermag: »In der Tat: die ›hin- / weisende Gebärde‹ ist eben der primitive Keim / der symbolischen Funktion überhaupt u. diese / schliesst die erste Form der Abhängigkeit vom / material-Gegenständlichen (des Reizes und des / Bedürfnisses) in sich.«77 Das Symbolische ist niemals frei von dieser ›Abhängigkeit‹, eröffnet aber gerade den Horizont der Unabhängigkeit vom material Gegenständlichen und damit das Telos der Genese und der Entfaltung des Symbolischen. Cassirer nimmt gegenüber Wundt somit einen Perspektivwechsel vor, um nicht mehr nach der ursprünglichen Entstehung des Symbolischen aus ihm vorgängigen natürlichen Bedingungen zu fragen, sondern sein Potential zur fortwährenden Entfaltung in den Blick zu nehmen und sein Telos durch die »Emanzipation von der sinnlichen Un- / mittelbarkeit«78 zu bestimmen. Im Zentrum von Cassirers Symbolphilosophie steht folglich das Symbolische mitsamt seinen natürlichen Bedingungen und vor allem seine weitere Entfaltung in der fortschreitenden ›Emanzipation‹ von diesen Bedingungen. Diese Deutung bestätigt sich auf Blatt 20 mit dem Titel: »Sprache / Onomatopoiie«, wo Cassirer auf das Verhältnis der »Spontaneität des sprachl. Bewusstseins« zu ihrer »materialen Vorbedingung« eingeht, die er hier im Rekurs auf Wundt als »Zusammenh. mit den Ausdrucksbewegungen« und mit Bezug auf »Steinthals ›Lautreflex‹« bestimmt, um schließlich einzuwenden: »Aber das ist nicht der / formal-konstitutive Grund der Sprache; es ist / nur der Boden, von dem aus sie erwächst, um / sich allmähl. zu freierer Aktivität zu erheben.«79 Die Unterscheidung von ›Boden‹ und ›Grund‹ bezieht die Bedingungen der Symbolisierung auf ihre natürlichen, ›materialen Vorbedingungen‹, auf denen sie aufruht, ohne sie auf diese zu reduzieren. Das Symbolische lässt sich nicht naturalistisch erklären, sondern
Blatt 1, 3. Blatt 1, 2. 79 Blatt 20, 5. Die Stelle lautet ausführlicher: »Diese Spontaneität [des sprachl. Bewusstseins«, A. S.] wird von Wundt viel zu / wenig gewürdigt. Insofern bestehen Martys Ein- / wände gegen ihn zu Recht; wenngleich wir als / materiale Vorbedingung den Zusammenh. mit den / Ausdrucksbewegungen (Steinthals ›Lautreflex‹) durchaus / zugeben und festhalten. Aber das ist nicht der / formal-konstitutive Grund der Sprache; es ist / nur der Boden, von dem aus sie erwächst, um / sich allmähl. zu freierer Aktivität zu erheben.« 77 78
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eröffnet einen Prozess der Loslösung von seinen ›Vorbedingungen‹. Dieser fortwährende kulturelle Prozess besteht in der Entfaltung des Potentials, das dem Symbolischen eigen ist, und bezieht das Bewusstsein ein, ohne allein im oder durch das Bewusstsein stattzufinden. Cassirer setzt fort: »Hier erweist sich die Aktivität des Zeichens / überhaupt […] / Das Bewusstsein dieser Aktivität ist erst die / Geburtsstunde des ›Geistes‹, des Ich sowohl, wie der Sprache / in ihrer spezifischen Bedeutungsfunktion.«80 Das Symbolische ist demnach in das natürlich-sinnliche Dasein des Menschen eingelassen und erlaubt es ihm gerade deshalb, sich durch die kulturelle Entfaltung des dem Symbolischen eigenen Potentials von der sinnlichen Unmittelbarkeit zu emanzipieren. 81 In der Philosophie der symbolischen Formen spricht Cassirer ganz in diesem Sinne von dem »dialektischen Prinzip des Fortschritts: je tiefer die Sprache in ihrer Entfaltung in dem Ausdruck des Sinnlichen versenkt scheint, um so mehr wird sie damit zum Mittel des geistigen Befreiungsprozesses für das Sinnliche selbst.«82 Dieser Gedanke ist charakteristisch für Cassirers symbolphilosophischen Ansatz und findet sich in dieser oder ähnlicher Form immer wieder in seinen Schriften. Er bezieht sich innerhalb der Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« und den drei Bänden der Philosophie der symbolischen Formen aber nicht vorrangig auf eine anthropologische Fragestellung, der sich Cassirer erst in späteren Jahren in extenso widmen wird. 83 Vielmehr charakterisiert er in diesem kulturphilosophischen Zusammenhang zuallererst die Funktion des Symbolischen im Allgemeinen und die Stellung des Mythos im Besonderen. Denn die ›Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹ nimmt nun die konkretere Form der »Herausarbeitung aus der Sphäre der mythischen Unmittelbarkeit«84 an. An die Stelle eines natürlich-sinnlichen Daseins, das die Auseinandersetzung mit Wundt evoziert, tritt damit der Mythos als Blatt 20, 5 f. Ausgelassen ist der Verweis: »vgl. die Ausführ. auf Blatt XVII!« Es ist folglich Hartung, Sprach-Kritik, 198, zuzustimmen: »Es kommt Cassirer darauf an, den Darwinschen Entwicklungsgedanken im Medium der Sprache zu bannen. Sprachentwicklung meint dann nicht die einfache Fortsetzung von Prozessen in der organischen Welt, sondern die voranschreitende Versprachlichung der Natur. Versprachlichung ist Humanisierung – das ist eine These, die seit Steinthal nachdrücklich vertreten wird und auch bei Cassirer im Zentrum seiner Entwürfe steht.« 82 ECW 11, 185. 83 Vgl. zur Anthropologie Cassirers zuallererst den maßgeblichen Primärtext ECW 23 sowie die mittlerweile edierten Vorlesungen zur Anthropologie in ECN 6. Der Herausgeber des Bandes hat auch die maßgebliche Studie zum Thema vorgelegt, vgl. Gerald Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003. 84 ECW 12, XIII . 80 81
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»Mutterboden«85 aller Formen, insofern seine Überwindung von Beginn an in ihm angelegt ist und also »die Religion mit einer ihrer Grundwurzeln in den Mutterboden des Mythos sich herabsenkt«86 . Die Grundbestimmungen des Symbolischen bleiben trotz dieser Verschiebungen jedoch erhalten: Das Symbolische ist nicht auf seine natürlichen Vorbedingungen zu reduzieren, ohne sich von ihnen gänzlich lossagen zu können, so dass es sich stets im Zustand seiner Entfaltung befindet und selbst in seinen einfachsten Formen das Potential zur ›Selbstbefreiung‹ des Geistes von der Sinnlichkeit und ihrer Unmittelbarkeit birgt. 87 Bestimmungen des Symbolischen im Allgemeinen: Reflexion und Emanzipation Cassirers antinaturalistische Pointe in der Auseinandersetzung mit Wundt ist wegweisend für sein Verständnis des Symbolischen, wie sich im vorangehenden Abschnitt bereits angedeutet hat, aber noch weiter auszuführen ist. Cassirer schließt an die Kontinuität zwischen Natur und Kultur an, die Wundt annimmt, um die Kultur aus der Natur zu erklären. Er lässt jedoch andersherum das Symbolische in die menschliche Natur ein, um die kulturelle Entfaltung des Potentials der Symbolisierungen von vornherein auf die Emanzipation von den natürlichen Gegebenheiten zu beziehen: »Das / ›Greifen‹ wird zum ›Deuten‹: und auf demselben / Wege wird das ›Deuten‹ zum ›Bedeuten‹. / Denn ebenso wie im ersten Falle nicht mehr der / Gegenstand in unsere physisch-materiale Gewalt / gebracht, sondern auf ihn durch die Ausdrucks- / bewegung gedeutet, hingewiesen wird, so eman- / zipieren wir uns weiterhin von dem blossen / Aufzeigen des Sinnesgegenstandes als einzelnen, / konkret-wahrnehmbaren zu immer weiter- / gehender abstrakt-mittelbarer [aber der / sinnlichen ›Zeichen‹ als solcher im ECW 12, 1, sowie ECW 16, 266, und ECW 18, 261. ECW 18, 261 – diese Formulierung findet sich allerdings erst in Cassirers Aufsatz »Hermann Cohens Philosophie der Religion und ihr Verhältnis zum Judentum« von 1933. Der Sache nach trifft sie allerdings schon den früheren Zugang zum Mythos, vgl. den Abschnitt »Die Dialektik des mythischen Bewusstseins« in: ECW 12, 275 – 306, bes. 275 – 280. 87 Es ist außerordentlich interessant, dass sich die hier exponierte Gedankenfigur in Cassirers Interpretation der Renaissance und, genauer, seiner Deutung von Cusanus’ Philosophie wiederfinden lässt: »Der menschliche Geist – in diesem prägnanten Symbol faßt sich für Cusanus das Ganze dieser Gedanken zusammen –, ist ein göttlicher Same, der in seiner einfachen Wesenheit die Gesamtheit alles überhaupt Wissbaren in sich faßt; aber damit dieser Same aufgehen und Frucht tragen kann, muß er in das Erdreich des Sinn lichen versenkt werden.« (ECW 14, 53) 85
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mer bedürftiger] / Bestimmung. Die blosse Funktion des ›Das-da‹ / (τοδε τι) wird immer mehr symbolisch / ersetzt und gereinigt: und damit wird das / Einzelne, ›Individuelle‹ mehr und mehr zum / ›Allgemeinen‹. (zum Eidos).«88 Das gemeinsame Moment, das die Hemmung der Greifbewegung und die Ausbildung der hinweisenden Gebärde, aber auch die weitere Entwicklung bis hin zum wissenschaftlichen Begriff umfassen soll, ist somit die Loslösung von der Gegebenheit des ›einzelnen, konkret-wahrnehmbaren Sinnesgegenstandes‹ durch seine zunehmend ›abstrakt-mittelbare Bestimmung‹ im symbolischen Zusammenhang. Dieses Moment ist für die Konzeption der »Philosophie des Symbolischen« wesentlich: Der menschliche Bezug zur Welt ist nicht von der Gegebenheit der Einzeldinge her zu fassen, sondern durch symbolische Zusammenhänge zu charakterisieren, in denen die Dinge bestimmt und erfahren werden. Diese Leistung des Symbolischen soll bereits die ›hinweisende Gebärde‹ Wundts zumindest in rudimentärer Form vollbringen, birgt aber ein weit größeres Potential und findet daher im wissenschaftlichen Begriff sein Paradigma. Wir ›emanzipieren‹ uns somit insofern von der isolierten Gegebenheit der einzelnen Dinge, als es gelingt, uns vom einzelnen Gegenstand oder Eindruck zu lösen und Einsicht in die Zusammenhänge seiner symbolischen Bestimmung zu gewinnen. Diese Bewegung kennzeichnet Cassirer als Reflexion: »Diese Emanzipation von der sinnlichen Un- / mittelbarkeit – sowohl des Objekts als des Bildes – ist der entscheidende Charakter aller / sogen. ›Reflexion‹; u. diese wiederum ein / Privileg des höher entwickelten, geistig-menschl. Bewusstseins.«89 Mit dieser Reflexion greift Cassirer ein zentrales Motiv von Herders bekannter Abhandlung über den Ursprung der Sprache auf, die er bereits in Freiheit und Form behandelt hatte.90 Die Reflexion knüpft aber zugleich an wesentliche Aspekte von Kants kopernikanischer Drehung an, ist es doch ihr Ziel, die einzelnen, mutmaßlich realen Gegenstände nicht als isolierte Gegebenheiten zu betrachten, sondern auf die Prozesse ihrer Bestimmung und Erfahrung zurückzubeziehen. Anders als Kant verengt Cassirer diese Reflexion aber nicht mehr auf die Vermögen des Bewusstseins. In den Spuren Herders lässt er sie vielmehr auf das Sym Blatt 1, 1 f. Blatt 1, 2 f. 90 Vgl. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, hg. von Hans Dietrich Irmscher, Stuttgart 1997, 24 – 43 (Erster Teil, zweiter Abschnitt), wobei Herder meist die synonyme ›Besonnenheit‹ der lateinischen ›Reflexion‹ vorzieht. Vgl. dazu ECW 16, 115 – 118, und ECW 7, 132 – 135. Rekurse auf das Motiv der ›Besonnenheit‹ oder der ›Reflexion‹ bei Herder finden sich auch immer wieder in den Aufzeichnungen. Besonders prominent ist Herder aber am Ende des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, vgl. ECW 11, 299 f. 88 89
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bolische zurückgehen, soll die Bestimmung der Gegenstände wie auch die Möglichkeit dieser Reflexion und der Vernunft allgemein doch auf den Leistungen der Symbolisierung beruhen: »Die ›Reflexion‹ charakterisiert nach alter Auf- / fassung die ›Vernunft‹: aber hier sieht man wie / die Vernunft unmittelbar und zwingend mit / der symbol. Funktion zusammenhängt«.91 Die Reflexion auf die symbolische Bestimmung der Welt schließt somit das Bewusstsein ein, wird aber ermöglicht durch das Symbolische und hängt wesentlich von dessen Entfaltung ab. Es ist dieses emanzipative Potential des Symbolischen, das in einer Reihe von Blättern weiter entwickelt wird. Blatt 128 »Symbolbegriff (Allg).« führt so aus, wie die Reflexion – die hier selbst allerdings nicht genannt wird – mit der Abkehr von der unmittelbaren Hinnahme des Eindrucks nicht nur die Einsicht in die symbolischen Bestimmung der Gegenstände ermöglicht, sondern auch in die symbolische Tätigkeit des erfahrenden Subjekts. Die Gegenstände werden dann nicht mehr als isolierte ›Eindrücke‹ erfahren, sondern als ›Ausdruck‹ der symbolischen Tätigkeit verstanden: »Auf allen Stufen des Symbolischen finden wir ein / durchgehendes Moment, das die Gesamtentwick- / lung bezeichnet: der Fortgang von der passiven / ›Aufnahme‹ der Welt zur tätigen Weltge- / staltung, vom blossen ›Eindruck‹ der Sinne / zum symbolischen ›Ausdruck‹ / Dieses Gesetz können wir ebensowohl an der / Sprache, wie am Mythos, an der Religion, wie / an der Kunst, an Wissenschaft u. Philosophie studieren! / Die anfängliche ›Nachahmung‹ des Wirklichen / wandelt sich in freie ›Darstellung‹ (vgl. Bl. …)«.92 Diese Bewegung führt somit ein anderes Verhältnis zur Welt herbei, indem sie die symbolische Tätigkeit hervortreten lässt, die in jeder Erfahrung involviert ist. Sie überführt die Welt, die zunächst gegeben war, in den Gegenstand und das Produkt einer Symbolisierung, an der das Subjekt Anteil hat. Dieses Telos des Symbolischen charakterisiert Cassirer im unmittelbaren Anschluss wie folgt: »So stellt sich uns, wenn wir diese Gesamt- / entwicklung durchlaufen haben und wenn wir / auf ihrer höchsten Stufe angelangt sind, die / Welt, die ›Wirklichkeit‹ als solche nicht / mehr als eine Summe von ›Eindrücken‹, nicht / mehr überhaupt als ein ›bestehendes‹ Ganzes, als / ein ruhendes ›Dasein‹ dar, das wir sprachlich, / mythisch, aesthetisch, logisch ›abzubilden‹ hätten – / sie wird uns vielmehr zum systematischen / Ausdruck eines Inbegriffs geistiger Energien, / geis91 Blatt 1, 4. Cassirer setzt im unmittelbaren Anschluss fort: »(Zu eng, wenn diese Funktion, wie gewöhnlich, / auf die Laut-Sprache eingeschränkt wird; diese ist nur eine ihrer Äusserungen. Nicht ›Vernunft‹ / und ›Sprache‹ fallen zusammen; sondern Sprache nur / eines ihrer ›Symptome‹)«. Auf den hier angedeuteten Zusammenhang von Vernunft, Sprache und Lautlichkeit werde ich weiter unten ausführlich zu sprechen kommen. 92 Blatt 128, 1.
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tiger Tätigkeiten – «.93 In ebenderselben Weise formuliert Cassirer in der programmatischen Einleitung des ersten Bandes der Philosophie der symbo lischen Formen, »das eine Ziel« aller dieser Formen sei, »die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden«94 . Die Wandlung der Welt vom ›bloßen Eindruck‹ zum ›geistigen Ausdruck‹ wird von Cassirer häufig auch durch den Übergang vom ›Bild‹ zum ›Bilden‹ formuliert, wobei er wie so oft verschiedene philosophiehistorische Anleihen einflicht.95 Der Begriff des ›Bildes‹ bezeichnet zunächst die sinnliche Gegebenheit, die den Ausgangspunkt ihrer symbolischen Bestimmung und Idealisierung zum Erzeugnis der Symbolisierung darstellt. Ich zitiere nochmals Blatt 1: »Diese Emanzipation von der sinnlichen Un- / mittelbarkeit – sowohl des Objektes als des / Bildes – ist der entscheidende Charakter aller / sogen. ›Reflexion‹«.96 Die symbolische Durchbildung des gegebenen ›Bildes‹ beschreibt Cassirer mitunter auch als seine ›Überwindung‹ oder gar ›Vernichtung‹. Ganz allgemein spricht Cassirer so auf Blatt 8 von der »Dialekt. des Symbolbegriffs: lebt vom Bild u. vernichtet das Bild!«97 In solchen und ähnlichen Formulierungen zeigt sich in erster Linie, dass Cassirer den Begriff des Bildes mit der gegebenen und einzelnen Anschauung Blatt 128, 1 f. Cassirer führt auf der folgenden Seite weiter aus: »Die ›Welt‹ ist jetzt aus einer Summe blosser / Eindrücke, was sie anfangs war, zu einem / Ganzen, zu einem geordneten und von innen / her gestalteten Inbegriff geistiger ›Formen‹ / (Ausdrücke) geworden … das ist die / höchste Entwicklung, die uns möglich ist, – / die Verwandlung, die wir vollziehen / müssen, um das Sein zu ›verstehen‹. Einen / anderen Weg, die Wirklichkeit zu begreifen, / zum Begriff zu erheben, giebt es nicht.« (Blatt 128, 2) 94 ECW 11, 10. 95 Die operative Begrifflichkeit des Bildes reicht letztlich so weit zurück wie die Philosophie selbst, vgl. für einen ersten Überblick Johannes Grave und Arno Schubbach (Hg.), Denken mit dem Bild. Philosophische Einsätze des Bildbegriffs von Platon bis Hegel, München 2010. Dass ich auf die Semantik von Bild, Bilden und Gebilde im Cassirer’schen Text aufmerksam wurde, verdankt sich in erster Linie Gottfried Boehm, »Die Wiederkehr der Bilder«, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1995, 11 – 38. Ich führe diesen Text hier stellvertretend für viele Texte Gottfried Boehms an, von denen ich in den letzten Jahren gelernt habe. 96 Blatt 1, 2 f. 97 Blatt 8, i, 2. Diese ›dialektische‹ Bewegung sieht Cassirer auch paradigmatisch in der Entwicklung von Mythos und Religion entfaltet, vgl. Blatt 75, 1, sowie ECW 12, 275 ff. Eine solche »Dialektik« (Blatt 38, 5) oder »Antithetik / der symbol. F.« (ebd., am Rand) kann aber ebenso als allgemeine Charakteristik aller Formen der Symbolisierung begriffen werden, da die Genese des Symbolischen zwar nicht zum Ziel haben kann, die Symbolisierungen zugunsten einer unvermittelten Realität aufzugeben, sie aber als Mittel einer vermittelten Symbolisierung zu begreifen, vgl. zu dieser »Selbstbefreiung vom Zeichen« ohne Aufgabe der Zeichen Blatt 38 mit dem Titel »Symbolbegriff (Allgemeines)«. 93
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assoziiert und es deshalb dem aktiven Akzent der Symbolisierung entgegensetzt. Nach dem Vorbild des Schematismus-Kapitels aus Kants Kritik der reinen Vernunft soll an die Stelle dieses gegebenen Bildes »eine rein / geistige Funktion (›Schema‹)«98 treten, die Cassirer in Anlehnung an Fichte mitunter auch als ein aktivisch akzentuiertes ›Bilden‹ bezeichnet.99 Das Bild wird so zurückbezogen auf ein ›Bilden‹, als dessen »Gebilde«100 es sich schließlich erweisen soll. Es ist diese Verknüpfung von ›Bild‹, ›Bilden‹ und ›Gebilde‹, die der ›Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹ eine gewisse rhetorische Plausibilität verleiht und im Rückgriff auf eine idealistische Semantik ein Leitmotiv der programmatischen Einleitung zur Phi losophie der symbolischen Formen darstellen wird.101 Trotz Cassirers scharfer Betonung der »ursprünglich-bildenden, nicht bloß […] nachbildenden Kraft«102 der Symbolisierung bleibt jedoch stets 98 Die Formulierung bezieht sich auf die Entwicklung der eidola- und species-Theorie bis hin zur ›assimilatio‹ bei Cusanus: »Das ›Bild‹ wird immer mehr zu einer rein / geistigen Funktion (›Schema‹) für die / adaequatio rei et intellectus.« (Blatt 1, 9) In eine ähnliche Richtung weist auch Blatt 16, 2, 3: »Es [das Zeichen, A. S.] ist in diesem Sinne, mit einem Ausdruck / bezeichnet, Konzentration: intensive Erfüllung / bei extensiver Zusammenziehung. Je mehr es / als Bild (Anschauungsgehalt) verliert, um so mehr gewinnt es / an Bedeutung (Sinngehalt, Relationsgehalt)«. ›(Anschauungsgehalt)‹ hat Cassirer zwischen den Zeilen hinzugefügt. 99 Mit Bezug auf das Zeichen spricht Cassirer so davon, es handle sich »niemals / um einen Abdruck der Gegenstände schlechthin / (wie auch die Sprache kein solcher ist) – sondern / immer nur um eine eigentüml. red. Auffassung / einer Richtung der ›Apperzeption‹, die in ihm / fixiert u festgehalten ist; sodaß also die / Objektivit. in ihm immer nur bedingt u ver- / mittelt durch die Subjektivit. erscheint. / Diese freie (unendl.) Thätigkeit wird in / ihm sich selbst sichtbar; begrenzt sich, nicht / im Ding (an sich), sondern im ›Bilde‹ (der / Einbildungskraft) (cf. Fichte!)« (Blatt 23, 5, die Lesung von ›red.‹ ist unsicher). Vgl. für einen kurzen Nachvollzug der semantischen Entwicklung vom ›Bild‹ zum ›Bilden‹ von Kant zu Fichte und Cassirer auch Arno Schubbach, »Das Bilden der Bilder. Zur Theorie der Welterzeugung und ihrer bildtheoretischen Verpflichtung«, in: Soziale Systeme 18 (2012), 69 – 93, hier 76 – 81, sowie für eine aufschlussreiche Darstellung der Diskussion um den Bildbegriff zwischen Kant, Fichte und Jacobi Birgit Sandkaulen, »›Bilder sind‹. Zur Ontologie des Bildes im Diskurs um 1800«, in: Grave und Schubbach (Hg.), Denken mit dem Bild, 131 – 151. 100 Blatt 128, 2. 101 Vgl. insbesondere ECW 11, 18 f., wo es von ›Bildwelten‹, ›Gebilden‹ und ›freiem Bilden‹, den ›Fundamentalgesetzen des Bildens‹ und der ›ursprünglichen Bildkraft‹ nur so wimmelt; vgl. aber auch – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – ebd., 21, 24 f., 41 und 48 f. Vgl. darüber hinaus ECW 12, 18. In ECN 1, 256, formuliert Cassirer ähnlich: »Nur die Aktion führt zur Objektivation – nur im freien Gestalten, im Bilden entsteht dem Menschen ein ›Bild‹ der Dinge.« Wie eng insbesondere in der Kunst Aktivität, Gegenstand und Reflexion zusammenzudenken sind, zeigt sich ebd., 258: »das Bilden um des Bildens willen enthüllt die innere Gesetzlichkeit des ›Gebildes‹.« 102 ECW 11, 7.
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daran zu erinnern, dass dieser Prozess seinen Ausgangspunkt in einem sinnlichen Gegebenen hat, das allein nachträglich und idealiter in einen symbolisch bestimmten Gegenstand transformiert wird. Die Symbolisierung ist daher allein als eine Emanzipation vom Sinnlichen innerhalb des Sinnlichen zu verstehen und ihre idealistischen Züge bezeichnen nicht weniger und nicht mehr als das Telos dieses Prozesses, das die Dynamik und das Potential der symbolischen Durchbildung oder Darstellung der Wirklichkeit, aber keinen erreichbaren Zustand beschreibt. Auf Blatt 128 hält Cassirer daher in Anspielung an Kants Polemik gegen Platons Idealismus fest: »Die Grenze des objektiv-Bildhaften schiebt sich / immer weiter hinaus: aber sie ist niemals völlig / aufzuheben. An diesem Widerstreit erst offenbaren u. ent- / falten sich die Kräfte des Geistes. Ihn darf man daher / nicht aufgehoben denken … Die ›leichte Taube‹ etc.«103 Kant hatte Platons Idealismus kritisiert, weil dieser wie die Taube, die in ihrem »freien Fluge« zu glauben beginnt, »daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde«, die »Sinnenwelt« verlassen und damit jeden »Widerhalt« verloren habe, »worauf er sich steifen, und woran er seine Kräfte anwenden konnte, um den Verstand von der Stelle zu bringen«104 . Cassirer beruft sich auf diese Stelle, um für die Symbolisierung zu betonen, dass die Sinnlichkeit in Gestalt des gegebenen ›Bildes‹ nicht nur als der notwendige Ausgangspunkt, sondern auch als der unauflösbare und notwendige ›Widerhalt‹ des ›Bildens‹ zu begreifen ist, das alles Gegebene durch seine symbolischen Durchbildung und Darstellung in ein eigenes ›Gebilde‹ zu verwandeln sucht. Cassirers Formulierungen im Wortfeld des ›Bildes‹ und des ›Bildens‹ werden in den Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« ebenso wenig terminologisch fixiert wie in den publizierten Texten und bewahren umso mehr eine gewisse Unruhe, als Cassirer von ›Bild‹ auch im Feld der Ästhetik spricht und es dann in einem spezifischeren Sinne auffasst. An dieser Stelle ist jedoch zunächst festzuhalten, dass Cassirers ›kritischer Idealismus‹ den Abstand zwischen dem gegebenen ›Bild‹ und dem ›Gebilde‹, zu dem es die Symbolisierung nachträglich und idealiter ›bildet‹, als wesentliches Moment des Prozesses der Symbolisierung aufrecht erhält. Cassirers Bestimmung des Telos des Symbolischen weist so zwar bis in die Formulierungen hinein offensichtlich große Affinitäten zur idealistischen Tradition auf, der sich Cassirer stets zugehörig gefühlt hat, und insbesondere zu Hegel, auf den sich Cassirer in diesem Zusammenhang nochmals bezieht.105 Er versteht das gegebene Sinnliche, das sich mehr und Blatt 128, 4. KrV, A 5/B 8 f. 105 »Die ›Rekognition‹ der Welt als ein Gebilde / des ›Geistes‹ wird so zum höchs103
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mehr als Resultat der symbolischen Tätigkeit begreifen lassen soll, jedoch nicht nur als Ausgangspunkt seiner symbolischen Durchbildung und Idealisierung, sondern sogar als deren ›Basis‹: »Und doch kann u. soll das Bild, das sinnliche / Moment, niemals völlig ausgetilgt, in das / abstraktGeistige aufgelöst werden … denn / dann würde auch das Geistige selbst seiner eigent- / lichen ›Basis‹ verlustig gehen – / es handelt sich also nicht um eine Vernichtung / des einen Moment, sondern um einen unendlichen / Process auf das Geistige hin.«106 Das Telos der Symbolisierung bezeichnet keinen Zustand, sondern die Dynamik einer Bewegung, die als symbolische Durcharbeitung und unerreichbare Idealisierung des sinnlich Gegebenen zu begreifen ist und sich dennoch niemals der Sinnlichkeit entledigen darf. Cassirer begreift die Sinnlichkeit somit zugleich als Anfang und als Basis ihrer symbolischen Durchbildung und beansprucht bereits auf Blatt 1 dadurch die systematische Opposition zwischen Sensualismus und Rationalismus ›aufzuheben‹: »In dieser kontinuierlichen Stufenfolge von / der einfach ›hinweisenden‹ und ›nachahmenden‹ / Gebärde bis zu den reinen Formen des / begrifflichen Denkens und der ›Reflexion über- / haupt‹ erkennt man übrigens, daß der / falsche Dualismus der ›sensualistischen‹ / und ›rationalistischen‹ Erkenntnistheorie in / der allgemeinen SymboloLogic aufgehoben / wird. / Einmal nämlich wirkt die Eigenart der sym- / bolischen Funktion bis in die höchste Be- / griffsverhältnisse fort – dann aber liegt / schon im einfachsten sinnlichen Zeichen, ja in / der blossen Gebärde des Hinweisens der Anteil / der ›Vernunft‹.«107 Cassirers Begriff des Symbolischen geht so zwar prinzipiell davon aus, dass sich die »Maxime des Rationalismus: / daß wir nur das begreifen, was wir machen«108 , bestätigt. Diese Maxime impliziert aber erstens kein Primat des Begriffs, sondern charakterisiert jede Form der Symbolisierung. Darin zeigt sich zweitens, dass die symbolische Genese der Welt ihren Sitz zuallererst in der Sinnlichkeit hat, von deren scheinbar unmittelbarer Gegebenheit sich zu emanzipieren die Reflexion gerade erlauben soll. Auf der letzten Seite von Blatt 1 formuliert Cassirer nochmals pointiert: »Dies schöpferische Element auch in jeder primitivsten / Form der Nachbildung anzuerkennen; aber / es zeigt auch hier eine fortschreitende Entwicklung / vom Sinnlichen bis zu den höchsten ten Resultat. / Einem gelang es: er hob den Schleier der Göttin / Aber er sah, Wunder des Wunders, sich selbst! / In seiner eigenen Aktivität findet das Ich / das ›Wesen‹ der Realität wieder! / (die ›Substanz‹ erweist sich als ›Subjekt‹ / (Hegel)!)« (Blatt 128, 2) Vgl. ähnliche Bezugnahmen auf Hegel in ECW 12, XIIf. und 251 f., und Cassirers allgemeineres Bekenntnis zum Idealismus im Manuskript 1919, 218 – 221. 106 Blatt 128, 4. 107 Blatt 1, 10. 108 Blatt 1, 8.
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Sphären / des Ideellen, Geistigen. / Freilich: wäre diese Autonomie nicht schon / in jeder primitiven ›Äusserung‹ angelegt, so / könnte sie auch im Geistigen und Geistigsten nicht / zu Tage treten«109. Dass Cassirer die Differenz zwischen Bild und Bilden, zwischen sinnlicher Gegebenheit und ihrer symbolischen Durchbildung nicht einfach einebnet oder zugunsten eines symbolischen Konstruktivismus aufgibt, erweist sich auch deshalb als entscheidend, weil so die produktive Differenz bezeichnet ist, in der sich die Bedingungen der Symbolisierung mit der Symbolisierung der Phänomene verschränken. Die fortwährende Entfaltung des Symbolischen und die fortgesetzte Bestimmung der Phänomene bedingen sich wechselseitig: Das Symbolische, das die Bestimmung des Gegebenen zuallererst ermöglicht, fungiert nicht als eine gegebene Voraussetzung, sondern entfaltet sich in diesem Prozess, um letztlich nicht von der ›sinnlichen Unmittelbarkeit‹ bestimmt zu werden, sondern sie ihrerseits zu bestimmen. Seine Autonomie ist nicht von Beginn an gegeben, sondern wird erst in dem Maße herausgebildet, wie das sinnlich Gegebene nicht hingenommen, sondern symbolisch bestimmt wird. Cassirer führt aus: »Das Problem der Autonomie – aber es ist als / solches weder auf die Ethik, noch auf die / Logik eingeschränkt, sondern stellt sich in / jeder geistigen Form überhaupt dar – / es bedeutet in Sprache, Religion, Mythos, / Kunst immer u. überall die immer tiefere / Erfassung u. damit die immer vollkommenere / Herrschaft, die das spezifische Formgesetz in / ihnen allen erlangt – / Nicht von Anfang an ist dieses Formgesetz / als solches anerkannt u. bewusst – aber in / dem Maße, als es tiefer durchschaut wird, ent- / faltet es auch immer stärkere und reinere / Wirksamkeit – / Das Ganze lässt sich auch bezeichnen als / Übergang vom ›Bild‹ zur ›Funktion‹; als / fortschreitende Emanzipation vom ›Bild‹.«110 Diese wechselseitige Bedingtheit des symbolischen ›Bildens‹ und der zunächst gegebenen ›Bilder‹ gilt insbesondere mit Blick auf die Realisierung des Potentials des Symbolischen zur symbolischen Durchdringung der Welt: Die fortgesetzte Entfaltung und zunehmende Autonomie des Symbolischen auf der einen und die zunehmende Überführung des ›Bildes‹ in ein symbolisches ›Gebilde‹ und seine weitergehende symbolische Bestimmung auf der anderen Seite gehen Hand in Hand. Das Symbolische ist von seiner Grundbestimmung her vorrangig ein Werdendes und wird nur im Vollzug der Symbolisierung der Welt. Im Zuge seiner Entfaltung und seiner zunehmenden Autonomie räumt es den Subjekten einen Spielraum zur Reflexion, ›zur Emanzipation von der sinn Blatt 1, 13. Blatt 128, 3. Vgl. zur »logischen Autonomie des Begriffs«, die durch die Sprache vorbereitet, aber erst in der Wissenschaft erreicht wird, auch Manuskript 1919, 200. 109 110
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lichen Unmittelbarkeit‹ und zur ›freien ›Darstellung‹‹ der Welt ein. Daher ist dem Begriff des Symbolischen in seinen konzeptionellen Grundzügen ein ethischer Grundton zu eigen, den Cassirer allerdings nirgends expliziert und selten überhaupt nur anspricht. Auf Blatt 17: »Allgem. zur symbol. Funktion«111 formuliert er daher wohl auch kaum zufällig lediglich fragend: »Wir reissen uns durch das ›Symbol‹ vom / unmittelbaren Zwang der ›Dinge‹ los, werden / ›frei‹ – aber eben dadurch ordnen wir uns / jetzt die ›Dingwelt‹ unter, beherrschen sie / [ethisches Moment des Symbols? es gäbe / für uns auch kein aktives Ich, kein Selbst / im Unterschied von den dinglichen Eindrücken ohne / diese Vermittlung durch die Form des Symbolischen]«112 . Diese Zeilen ordnen sich in eine ganze Reihe von Stellen ein, die die symbolische Durchbildung des Gegebenen zugleich als ›Befreiung‹ des Geistes und als ›Beherrschung‹ der Welt schildern.113 Es ist hier meines Wissens aber das einzige Mal vom Ethischen die Rede innerhalb der Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen«. Diese Beobachtung weist zumindest in die Richtung von Birgit Reckis Analyse, Cassirer habe auf der Basis der Philosophie der symbolischen Formen gerade deshalb keine eigenständige Ethik ausgebildet, weil sein Begriff der Kultur von grund legend ethischer Dimension sei.114
111 Über der Überschrift ist eine zweite hinzugefügt: »S. 4/5 Zur Metaphys. der symbol. Funktion«. 112 Blatt 17, 3. 113 Cassirer spricht so vom »Befreiungsprozess« (Blatt 17, 4) und »geistiger Selbst befreiung« (Blatt 18, 7) oder vom »Weg zur ›Freiheit‹« (Blatt 20, 6), auf der anderen Seite aber auch vom Zeichen als »Organ der aktiven Beherrschung der Wirklichkeit« (Blatt 17, 2) oder vom »physischen Sprachlaut« als »Instru- / ment, mit dem wir eine Welt von Objekten / geistig aufbauen, uns aneignen, in / unsere Welt verwandeln, die geistige / Herrschaft, die Sphäre des Ich unermesslich / erweitern« (Blatt 34, 3 f.). Diese Korrelation von ›Selbstbefreiung‹ und ›Beherrschung der Wirklichkeit‹ erscheint aus heutiger Sicht durchaus problematisch. 114 Vgl. Birgit Recki, »Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben konnte«, in: Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, hg. von Dorothea Frede und Reinhold Schmücker, Darmstadt 1997, 58 – 78, bes. 72 – 75 und 78. Einen möglichen Weg, der Ethik Cassirers ausgehend vom Formbegriff schärfere Konturen zu verliehen, hat Schwemmer, Cassirer, 127 – 195, bes. 153 – 161, aufgezeigt. Auch er zielt jedoch nicht auf eine Ethik im Sinne einer Morallehre ab, sondern eher auf die ethische Dimension der Kulturphilosophie Cassirers, vgl. ebd., 172 – 177. Ein Verdienst dieses Beitrags ist es, auf die systematische Bedeutung von Cassirers »Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart« von 1939, in: ECW 21, 1 – 116, hingewiesen zu haben.
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Die Differenzierung der symbolischen Reflexion: Logik und Kunst, Begriff und Form Cassirers Auffassung der Genese des Symbolischen wendet Wundts naturalistische Perspektive auf die Entstehung der Kultur aus ihren natürlichen Bedingungen um, indem sie die Potentiale zur Entfaltung des Symbolischen betont und als ›Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹ bestimmt. Entsprechend wendet sich Cassirer in den Stichpunkten von Blatt 1 nun der Entfaltung des Symbolischen zu, statt den Zusammenhang von Reflexion und Emanzipation in seine Grundlagen zurückzuverfolgen. Die Entfaltung des Symbolischen schließt, wie zu zeigen sein wird, die Differenzierung in spezifische Formen der Symbolisierung ein, so dass auch die Reflexion und Emanzipation durch das Symbolische verschiedene Formen annehmen kann. Cassirer kommt auf Blatt 1 auf die Ästhetik zu sprechen, die nach dem ersten Kapitel der vorliegenden Studie ein wesentlicher Anstoß für die Revision von Cassirers Philosophie war.115 Das emanzipative Moment der Symbolisierung ist nicht allein dem Begriff, sondern auch der »aesthetischen ›Reflexion‹« zu eigen: »Diese Freiheit der ›Betrachtung‹ in 2 Hauptformen: / in der gedanklichen ›Reflexion‹, die durch den / ›Begriff‹ vermittelt wird / und in der aesthetischen ›Reflexion‹, die im / ›Bild‹ beharrt, aber das Bild als reines ›Scheinbild‹ / nimmt, von seiner physischen Existenz absieht, / insofern ›interesselos‹ ist./ Man sieht hier, wie diese zwei so heterogenen / Bedeutungen der Reflexion innerlich zu- / sammenhängen und zwar durch das Medium / der symbolischen Funktion, die sich gleichsam in / 2 verschiedene Richtungen spaltet!«116 Diese ›Spaltung‹ – ein für Cassirer auffallend scharfer Ausdruck – ist an dieser Stelle von größerem Interesse als die angedeutete Auffassung des Ästhetischen, die auf Kants ›interesseloses Wohlgefallen‹ ebenso wie auf die Theorie des schönen Scheins anspielt und damit implizit auf die Dar legungen in Freiheit und Form zurückgreift.117 Die ›Spaltung‹ der ›symbolischen Funktion‹ in ›2 verschiedene Richtungen‹ stellt eine wesentliche konzeptionelle Innovation dar, die gewissermaßen ernst macht mit der Unterscheidung des Symbolischen im Allgemeinen und dem wissenschaft lichen Begriff, der nach den Analysen des ersten Kapitels zwar das Vorbild der Verallgemeinerung des Symbolischen war, sich in der Folge aber Vgl. den Abschnitt »Der Anstoß zur systematischen Erweiterung: Cassirers Geschichte der Ästhetik« im ersten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 70 ff. 116 Blatt 1, 3. 117 Vgl. nur zur Kulmination dieser Bestimmungen bei Schiller ECW 7, 311 – 318. 115
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als eine spezifische Form der Symbolisierung unter anderen einordnen muss. Die Entfaltung des Symbolischen schließt in seiner Spezifikation daher auch notwendig seine Differenzierung in verschiedene Formen ein. Es kann in der Folge neben dem Begriff weitere und gleichwertige Formen der symbolischen ›Reflexion‹ und ›Emanzipation‹ geben. Cassirer votiert entschieden für diese Möglichkeit und führt dadurch konsequent die Vielfalt des Telos des Symbolischen ein: »Reine Skala der symbolischen Funktion / vom Sinnlichen bis zum höchsten Geistigen / Gebärde – Logik (Begriff) Sprache / Das Aesthetische bildet neben dem Logi Form (Kunst) schen die / höchste Stufe.«118 Die auf den ersten Blick paradoxal wirkende Formulierung Cassirers, derzufolge es eine ›Skala der symbolischen Funktion‹ gibt, aber zwei ›höchste Stufen‹, erweist sich als prägnant und treffend, wenn unterschieden wird zwischen, erstens, der Entfaltung des Potentials zur symbolischen Reflexion bzw. zur Emanzipation vom bestimmten Gegebenen im Allgemeinen und, zweitens, ihrer konkreten Realisierung in einer spezifischen Form der Symbolisierung, in der Logik oder Kunst, in wissenschaftlichem Begriff oder ästhetischer Form. Diese Unterscheidung ist letztlich eine Konsequenz des Umstands, dass die Genese des Symbolischen auf die Entfaltung der Reflexion im Allgemeinen bezogen ist, aber zugleich die Spezifizierung und Differenzierung verschiedener Formen der Symbolisierung einschließt. Das zentrale Motiv von Cassirers symbolphilosophischem Vorhaben ist daher ein doppeltes: Zum einen soll das Symbolische unser Weltverständnis insgesamt umfassen und auf das ihm eigene Potential zur Reflexion beziehen; zum anderen ›spaltet‹ sich diese ›Skala der symbolischen Funktion vom Sinnlichen bis zum höchsten Geistigen‹ in verschiedene spezifische Formen und ›höchste Stufen‹ der Symbolisierung. Die Emanzipation vom ›Sinnlichen‹ im Begriff ist nur eine spezifische Möglichkeit der symbolischen Reflexion und bezeichnet daher auch nur einen Weg des ›Fortschritts‹ der ›Emanzipation‹ neben anderen innerhalb ein und desselben Horizonts des Telos des Symbolischen.119 Diese Konsequenz zieht Cassirer deutlicher als zuvor auf Blatt 4. Bereits im Titel bezieht sich das Blatt in der Formulierung wie auch durch Blatt 1, 4. Später wird Cassirer so auch den Begriff der Kultur mit einer ihr eigenen »Aufklärungstendenz« verknüpfen, womit er gerade auch hinsichtlich der Vielfalt der Formen der Emanzipation an Cohen anschließt und zugleich über dessen Trias der Logik, der Ästhetik und der Ethik hinausgeht, wie Ursula Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg 2002 (= Cassirer-Forschungen, 8), 161 – 221, ausführt. 118 119
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einen expliziten Verweis auf Blatt 1, fasst dessen ›Fortschritt zur ›begrifflichen Symbolik‹‹ nun aber allgemeiner: »Zum Fortschritt der Symbolik von der ein- / fachsten ›sinnlichen‹ bis zur höchsten / ›geistigen‹ Stufe (vgl. Blatt I)«. Die Rede vom ›Geistigen‹ soll offenbar die Entfaltung des Symbolischen sowohl in der logischen als auch in der ästhetischen Reflexion umfassen und greift zudem auf Bestimmungen der Reflexion im Allgemeinen von Blatt 1 zurück. Dort wurde bereits das emanzipative Moment des Symbolischen gegenüber dem bestimmten Gegebenen durch seine ›Geistigkeit‹ gekennzeichnet: »Das Wesentliche liegt in der Fähigkeit des sich / Losreissens vom rein Inhaltlichen des Eindrucks, seinem blossen ›Dasein‹; dieses Losreissen / führt zur Betrachtung der ›Form‹ – (als / ›Relation‹) und damit zur Geistigkeit überhaupt.«120 Das entscheidende Kriterium des »höchsten Geistigen« wäre demnach im logischen wie ästhetischen Fall, kein einzelnes Gegebenes hinzunehmen, sondern es mit Blick auf die Relationen zu betrachten, die es bestimmen. Diese Relationalität hat ihr Vorbild im logischen Begriff, sie kann sich aber ebenso in der ästhetischen ›Form‹ realisieren, insofern sie im Hinblick auf die sie bestimmenden Beziehungen betrachtet wird. Es führen mehrere Wege zur »höchsten ›geistigen‹ Stufe« des Symbolischen, zum »höchsten ›geistigen‹ Ausdruck sowohl im Logischen als im Aesthetischen«121. Daher ist es Cassirer wichtig, auf Blatt 4 »noch zu bemerken, daß dieser Fortschritt keines- / wegs in einer einzigen Richtung erfolgt, sodaß / also etwa von den primitiven Stufen zu den / komplexeren einsinnig und gleichmässig im Sinne / der fortschreitenden ›Objektivierung‹ weitergegangen / würde. Eine solche einfache Reihe lässt sich / nicht bilden.«122 Cassirer versteht hier ›Objektivierung‹ offenbar im Sinne des logischen Begriffs und wissenschaftlicher Erkenntnis, um sogleich den erweiterten Begriff der Objektivierung anzureissen, der für das Projekt der »Philosophie des Symbolischen« konstitutiv ist und eben ganz allgemein jede Form der Symbolisierung einbegreift: »Zwar sind alle symbolischen Funktionen / – von der Sprache angefangen bis zur Logik und / Wissenschaft und zur bildenden (aesthetischen) Funktion – / insofern ›objektivierend‹, als sie / eine Entfernung von der blossen materialen Un- / mittelbarkeit des Sinneseindrucks in sich schliessen. / Sie sind ja ›Äusserungen‹ des unmittelbaren / ›subjektiven‹ Zustands und insofern Gestaltungen, ›Formungen‹ von ihm. Aber diese Gestaltung kann sich in ganz verschiedener Richtung bewegen.«123 Scharf und deutlich zeichnet sich hier Blatt 1, 4. Blatt 2, 7. 122 Blatt 4, 1, vgl. dort auch das folgende Zitat. 123 Zwei Streichungen Cassirers wurden bei diesem Zitat ausgespart. 120 121
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ab, dass das Telos des Symbolischen zwar allgemein als Emanzipation vom unmittelbar sinnlich Gegebenen zu bestimmen ist, es sich aufgrund der Differenzierung der spezifischen Formen der Symbolisierung aber ebenso in der ästhetischen Form wie im wissenschaftlichen Begriff realisieren kann. In der Konsequenz ist prinzipiell von der Annahme auszugehen, dass jede symbolische Form das Telos des Symbolischen auf eigene Weise spezifizieren kann, wozu sich Cassirer zumindest in den Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« aber nicht ausführlich erklärt. Die Genese von Logik und Kunst: Wundts ›hinweisende‹ und ›nachbildende Gebärde‹ Nachdem Cassirer die Entfaltung des Symbolischen für Logik und Kunst differenziert und die Vielgestaltigkeit des Telos in logischer und ästhetischer Reflexion skizziert hat, unterbricht er die Überlegungen von Blatt 1 durch eine den Text unterteilende horizontale Linie und setzt danach erneut an der genetischen Dimension an. Da er zu Beginn an Wundts Überlegungen zur Entstehung der hinweisenden Gebärde aus der Hemmung des Greifens angeknüpft und hier den Anfang und das Potential zum Begreifen ausgemacht hatte, scheint es nun naheliegend, auch nach den Anfängen der ästhetischen Reflexion zu fragen. Gerade mit Wundt beschäftigt greift Cassirer wiederum auf dessen Theorie der Gebärde zurück, um die Spezifizierung des Symbolischen bereits in seinen Anfängen zu differenzieren. Es ist jedoch durchaus typisch für Cassirer, dass er zunächst das bereits Erreichte absichert, bevor er den nächsten Schritt wagt. In wenigen Stichpunkten deutet er daher nochmals die Entfaltung des Logischen aus der ›hinweisenden Gebärde‹ an, wobei sich die »Stufenfolge vom Greifen zum Hinweisen, von / diesem zum Begreifen« unter anderem in der »doppelten Rolle der ›Demonstration‹ als sinnliche / und logische, als ›Weisen‹ und ›Beweisen‹« bestätigen soll.124 Da sich auch die höchsten Entfaltungen des Symbolischen nicht von ihren sinnlichen Anfängen lösen, betont Cassirer nun auch nochmals für die logische Reflexion, dass sie Elemente des ›Hinweisens‹ auf sinnliche Phänomene bewahrt, in dem sie ihren Anfang genommen hat. Selbst im logischen Urteil lassen sich demnach Rudimente der 124 Blatt 1, 4. Cassirer setzt im anschließenden Satz fort: »Denn das Beweisen ist in der / That nichts anderes als ein zu höchster Reinheit / und Schärfe entwickeltes, durch und durch ver- / mitteltes ›Weisen‹ / es führt auf Anschauung (intuitive Gewissheit) / zurück, ist aber niemals blosse, sondern / eben symbolisch-vermittelte Anschauung. / Dies gilt selbst von den logischen Schlussformen / […] / aber in höchster symbolischer Reinheit!« (Blatt 1, 4 f.)
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›hinweisenden Gebärde‹ aufweisen, was Cassirer anhand von »Impersonalien« wie dem Ausruf »Feuer!« oder der Feststellung »es donnert« plausibel zu machen sucht.125 Es bedarf der Unterbrechung durch eine erneute horizontale Linie, damit sich Cassirer der Frage nach der Spezifizierung der Genese des Ästhetischen schließlich nähert, indem er auf einen zweiten Typ der Gebärde aus Wundts Völkerpsychologie zu sprechen kommt: »Neben der ›hinweisenden Gebärde‹ werden von / Wundt als zweite Klasse die ›nachahmenden / Gebärden‹ (S. 155 ff.) herausgehoben. / Dies führt auf die Frage: kommt auch / der nachahmenden Funktion eine allgemeine / symbolo-logische Bedeutung zu und welches / ist diese Bedeutung? – «126 Cassirer greift mit der ›nachahmenden Gebärde‹ wiederum ein zentrales Element aus Wundts Theorie der Gebärde heraus, die ihm reichlich Stoff darbietet. Wundt hatte die ›hinweisende Bewegung‹, die bislang isoliert diskutiert wurde, mit Blick auf die Gebärdensprache eingeführt und sie sogleich von der ›nachahmenden Bewegung‹ unterschieden. Diese Unterscheidung greift er im zweiten Kapitel zur Gebärdensprache auf, die Wundt als eine Art von »Ursprache« auffasst. Denn in der Gebärdensprache sei »die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem, was es bezeichnet, eine unmittelbar anschauliche«127, die erst durch die historische Überlieferung und Wandlung aufgelockert und schließlich in eine konventionelle Beziehung überführt werde. Diese unmittelbar anschauliche Beziehung nimmt zum einen die Formen des Hinweisens und Deutens an, zum anderen aber 125 »Und nun eine zweite logische Betrachtung, / die zeigt, wie jene erste Bedeutung des Hinweisens, / die schon in der hinweisenden Gebärde enthalten ist, als Vorstufe des ›Begreifens‹ auch noch im ausgebildeten / Denken sichtbar wird. Als elementare Ausprägung dieses / ›Denkens‹ wird in der Logik herkömmlicher- / weise das Urteil gefasst, dessen Grundform man / in dem Subjekt-Prädikat-Urteil :[S / ist P] zu finden pflegt. Aber hier zeigt / sich nun schon für die traditionelle Behandlung / jene Schwierigkeit, die in den sogen. ›Imper- / sonalien‹ enthalten ist / (Ausserordentl. Mühe, die man sich mit diesem / Problem gegeben hat cf. Sigwart, Die Impers.) / Die Imperson. sind aber nichts anderes, als der / logische Ausdruck der ursprüngl.-demonstra- / tiven Funktion, die der eigentl. Urteilsfunktion / als Verbindung von Subjekt und Prädikat voraus- / geht. / [Schief ist es, sie, wie es vielfach geschieht, / als ›Benennungsurteile‹ zu bezeichnen. / Feuer! – d.h. nicht: dies Ding da heisst Feuer, / fällt unter einen Begriff; sondern es ist der / Ausdruck des einfachen Hinweisungsaktes – / In anderen Impersonalien (es donnert, es blitzt) dies / vermittelter; aber immer deutlich erkennbar.« (Blatt 1, 5 f.) 126 Blatt 1, 6 f. 127 Der Satz lautet vollständig: »Dieser Tatsache kann aber, wenn sie keinen andern Nutzen hätte, mindestens der nicht bestritten werden, daß sie die Notwendigkeit der Annahme einer Ursprache in diesem psychologischen Sinne beweist: die Notwendigkeit nämlich, daß es für jede Art natürlich entstandener Sprache einmal eine Zeit gegeben haben muß, in der die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem, was es bezeichnet, eine unmittelbar anschauliche war.« (Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 155).
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die des Nachahmens.128 Das Nachahmen entwickelt sich dabei aus dem Hinweisen und löst sich zunehmend von der Anwesenheit des Gegenstands, die die hinweisende Gebärde voraussetzt. Es können sich Gebärden entwickeln, die sich mehr Freiheiten gegenüber dem Gegenstand nehmen oder rein konventioneller Natur sind. Wundt spricht von »darstellenden Gebärden«129, die sich nicht auf bloße Nachahmung reduzieren lassen. Er spezifiziert diese wiederum in »nachbildende« und »mitbezeichnende« Gebärden, die sich in der Rolle der Phantasie gegenüber dem Gegenstand unterscheiden: Bei der ›Nachbildung‹ rückt die Freiheit der »Umbildung« in den Vordergrund, erst bei der ›Mitbezeichnung‹ hängt die Beziehung zum Gegenstand aber gänzlich von der Phantasie ab.130 Als dritte Klasse führt Wundt darüber hinaus die »symbolischen Gebärden« ein, die durch eine Übertragung zwischen verschiedenen »Anschauungsgebieten«, vom Zeitlichen ins Räumliche oder vom Abstrakten ins Sinnliche, gekennzeichnet und daher rein konventionellen Charakters sind.131 Cassirers Anschluss ist erneut ausgesprochen selektiv. Er interessiert sich offenbar ebenso wenig für Wundts konventionell zu nennende Auffassung des Symbolischen wie für viele andere Aspekte von Wundts Erörterung. Es geht ihm dagegen vor allem um die ›nachahmende Gebärde‹, weil sie neben dem Hinweis, der auf den logischen Begriff hinführen soll, einen zweiten Anfang des Symbolischen bietet, der in sich das Potential der ästhetischen Reflexion zu erkennen gibt. Die Spezifikation des Symbolischen und die ›Spaltung‹ seiner Reflexion finden so ihre Entsprechung in einem doppelten Anfang. Cassirers Prämisse für diesen Anschluss muss jedoch sein, dass die ›Nachahmung‹ nicht als passives Abbilden, sondern als aktives ›Nachbilden‹ zu verstehen ist. Cassirer zeigt sich daher empfänglich 128 Dieses Nachahmen erläutert Wundt zunächst vor allem durch das Imitationsverhalten von Tieren und Kindern, das sich meist auf Ausdruck und Handlungen anderer bezieht, vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 130 – 133. 129 Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 156. 130 »Unter ihnen [den darstellenden Gebärden, A. S.] stehen die nachbildenden, wie ihr Name schon andeutet, der bloßen Nachahmung am nächsten, und sie fallen in den einfachsten Fällen ohne weiteres mit ihr zusammen. Aber im ganzen treffen wir doch schon bei ihnen die Nachbildung gewissermaßen auf einer höheren Stufe, da die Umbildungen, die der Gegenstand in der Phantasie des Beschauers erfährt, ehe er nachgebildet wird, hierbei eine Rolle spielen. Die Nachbildung gestaltet also das Bild eines Gegenstandes in einem ähnlichen Sinne freier, wie es die bildende Kunst gegenüber der bloß nachahmenden Technik tut. In diesem Verhältnis liegt denn auch der Grund, daß sich aus der nachbildenden die mitbezeichnende Gebärde aussondert, bei der die Beziehung zwischen dem Zeichen und seinem Gegenstand erst durch die mithelfende und ergänzende Funktion der Phantasie zustande kommt.« (Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 156) 131 Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 156 f. und 174 f.; vgl. für eine Rekapitulation dieser Unterscheidungen in genetischer Perspektive auch ebd., 222 – 226.
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für die von Wundt verfolgte Ablösung der Nachahmung vom Anwesenden sowie der freieren ›Darstellung‹ durch die Phantasie, begreift sie aber anders als Wundt letztlich als Bedingung der Nachahmung als solcher: »Es kommt zunächst darauf an, den Begriff der / Nachahmung selbst schärfer zu umgrenzen. Daß / er nicht einfach und eindeutig ist, macht sich / sogar schon in der Behandlung der Gebärdensprache / geltend. Ein Hinweis darauf findet sich bei / Wundt selbst. Er unterscheidet einfach-nachahmende / und darstellende Gebärden: und betont, daß in / letzteren die Nachbildung gewisserm. auf einer höheren / Stufe, da die Umbild., die der Gegenst. in der / Phantasie erfährt, hierbei bereits eine Rolle / spielt.« Und Cassirer zitiert den in diesem Zusammenhang zentralen Satz Wundts: »Die Nachbildung gestaltet also das Bild eines Gegenstandes in einem ähnlichen Sinne freier, wie es die bildende Kunst gegenüber der bloß nachahmenden Technik tut.«132 Es ist dieser Spielraum der ›Nachbildung‹, der es Cassirer erlaubt, die ›nachahmende Gebärde‹ mit der Genese des Symbolischen zu verknüpfen und in ihr von Anfang an das Potential zur ästhetischen Reflexion angelegt zu sehen. Denn die ›Nachbildung‹ erweist sich nun im Ästhetischen als Analogon der symbolischen Bestimmung des Gegebenen zum ›Gebilde‹ der symbolisierenden Tätigkeit, die das Telos des Symbolischen darstellt. Diese grundlegende Annahme seiner Symbolphilosophie versucht Cassirer nochmals für die ›Nachbildung‹ und gegen das Verständnis der ästhetischen ›Nachahmung‹ als bloßer ›Abbildung‹ zu bekräftigen: »In der Tat ist darauf hinzuweisen, daß selbst / die primitive Nachahmung schon einen aktivistischen / Zug in sich schliesst. In der Nachahmung baut / unsere Phantasie einen Gegenstand oder eine / Handlung auf; lässt ihn vor sich entstehen / macht ihn sich damit nicht bloss in seinem Sein / sondern in seiner Struktur klar. In diesem Sinne / ist die Nachahmung eine Form des ›genetischen / Denkens‹ oder der konstruktiven Phantasie.«133 Diese Zeilen sind aus mehrer Hinsicht außerordentlich aufschlussreich. Erstens stellt Cassirer im Gegenzug zu ästhetischen Theorien der Nach ahmung nochmals in aller Deutlichkeit einen Grundzug des Symbolischen fest: Die ›Nachahmung‹ ›baut‹ wie jede Symbolisierung, wenn auch auf eigene Weise »einen Gegenstand oder eine / Handlung auf; lässt ihn vor sich entstehen / macht ihn sich damit nicht bloss in seinem Sein / sondern in seiner Struktur klar.«134 Was in diesem Fall gegen etwaige Missverständnisse Blatt 1, 7, und Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 156. Ich lasse die Kürzungen Cassirers hier aus und folge der Druckfassung von Wundts Text. 133 Blatt 1, 7. 134 »Dieses aktivistische Element / der ›Nachahmung‹ macht erst ihre weitere / Ent132
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festgestellt werden muss, versteht sich bei Cassirer für den logischen Begriff von selbst. Das Symbolische ist ganz allgemein produktiven Charakters und die ›Nachahmung‹ daher nur »eine Form des ›genetischen Denkens‹ oder der konstruktiven Phantasie«.135 Dieser Aspekt wird zweitens dadurch unterstrichen, dass Cassirer sowohl die ›hinweisende‹ als auch die ›nachbildende Gebärde‹ als Grundakte einer aktiven und konstitutiven »Apperzeption« versteht. Er greift damit zwar wiederum ein Stichwort Wundts auf,136 stützt sich aber nicht auf dessen psychologische Bestimmung, sondern auf die idealistische Tradition von Platon über Leibniz bis Kant: »jede solche ›Gebärde‹ schliesst einen apper- / zeptiven Grundakt der Einssetzung und der / Unterscheidung in sich.«137 Durch diese Umdeutung der Apperzeption wird die nachahmende wie zuvor die hinweisende Gebärde nicht mehr durch den Rückgang auf ein psychologisches Vermögen naturalistisch erklärt, sondern in den Horizont der kulturellen Entfaltung des immanenten Potentials des Symbolischen gerückt. Drittens weisen so alle von Cassirer skizzierten »logischen und […] metaphysischen Verzweigungen / dieses einfachen Nachahmungsproblems«138 in die Richtung seines kritischen Idealismus. Wie in der Theorie der Wahrnehmung vom aristotelischen eidolon über die mittelalterliche species bis hin zur »rein / geistigen Funktion (›Schema)« bei Kant oder beim »Problem der Beschreibung« der »Naturvorgänge« in den Naturwissenschaften sollen schließlich auch »in der wicklung – jene Entwicklung, die dem Tiere / versagt ist – verständlich! / (vgl. hierzu die guten Ausführ. von Wundt, / Völkerpsychol. I, 229 ff.: die Nachahmung ist / vielmehr ›Skizze‹; Entwurf als ›Vorwurf‹ / hierin liegt schon der Anfang der bildenden / Kunst! (231))« (Blatt 1, 12). 135 Im Falle der Erkenntnis wäre die Phantasie dabei natürlich als produktive Einbildungskraft zu verstehen. 136 Einen ersten Überblick über die Rolle der Apperzeption in Wundts Auffassung von Gebärde und Sprache bietet das ausführliche Register und die dort aufgeführten Stellen, vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 2, 650 f. 137 Blatt 1, 10. Cassirer erläutert diesen ›apperzeptiven Grundakt der Einssetzung und der Unterscheidung‹ im Folgenden mit Bezug auf »den einfachsten Akt des ›Hinweisens‹ / auf einen sinnlich gegebenen Gegenstand« (ebd.) und greift dabei auf Platonische Begrifflichkeiten zurück. Die Apperzeption wäre demnach als Übergang vom »ἄπειρον zum πέρας« zu begreifen oder, »wenn / es sich nicht mehr um räumlich-anwesende, / ›greifbare‹ Dinge handelt« (ebd., 11), als ein »συλλαβεῖν εἰς ἕν – diese συμπλοκή / und dieser διορισμός geradezu als Grundtypus des Denkens überhaupt« (ebd.). Im Manuskript 1919, 25 – 28, geht Cassirer direkt nach der Diskussion von Wundts Theorie der Gebärde auf die Apperzeption ein und versteht sie mit Blick auf Herders Theorie des Sprachursprungs zugleich als Reflexion. Auf Blatt 2, 8, verbindet er die Apperzeption mit der »Lautartikulation« in der Dichtung und bringt sie so auch im Feld der Ästhetik zur Geltung. 138 Blatt 1, 8, vgl. ebd., 8 f. auch die folgenden Zitate.
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Aesthetik: die / Schwierigkeiten des Nachahmungsbegriffs / (μίμησις) von Aristoteles bis Batteux« in die Einsicht münden, dass es sich um eine aktive Bewegung der Konstruktion und Gestaltung handeln müsse: »Auch hier Lösg in der positiv-gestaltenden / Funktion der sogen. Nachahmung selbst«. Der konstruktive Charakter tritt somit auch in der Nachahmung hervor und kann in der fortschreitenden Entfaltung ihres symbolischen Potentials graduell zunehmen: »Dieses Moment / steigert sich in den freieren Formen der ›Nachbildung‹ immer mehr. Sie wächst immer / weiter über den blossen Abdruck – die / ›Copie‹ hinaus und wird zur Darstellung [= genetischen Konstruktion] des Dinges. – « Cassirers beiläufige Bezeichnung der Nachahmung als eine ›Darstellung‹ im Sinne einer »genetischen Konstruktion« oder als eine »Form des ›genetischen Denkens‹« lässt nun aber eine weitere, idealistische Verknüpfung des Symbolischen mit dem Begriff der Genese hervortreten. Im Zuge der Entfaltung des Symbolischen setzt sich die symbolische Gestaltung der Wirklichkeit durch. Die Genese des Symbolischen hat, anders gesagt, die symbolische Genese der Welt zum Telos. Es ist dabei jedoch stets in Erinne rung zu behalten, dass die symbolische Durchdringung des Gegebenen stets mit Bezug auf ihren Ausgangspunkt zu verstehen ist. Die aktive Nachbildung und Gestaltung arbeitet sich ebenso wie der logische Begriff an der zunächst gegebenen, unmittelbar erscheinenden sinnlichen Anschauung ab. Sie verwandelt sie dadurch zumindest idealiter und ad infinitum in den Gegenstand der eigenen Gestaltung, bleibt aber gerade in dieser emanzipativen Bewegung an die ursprüngliche Gegebenheit gebunden. Cassirer hat so im Falle des Begriffs auch in fortgeschrittenen logischen Formen noch den Hinweis auf eine Anschauung ausgemacht, wie sie in der ›hinweisenden Gebärde‹ angelegt ist. Beide Gebärden sind daher zwar aktiven Charakters, sie sind deshalb aber nicht rein konstruktiven Charakters, weil sie von einem wesentlich sinnlichen Moment der Anschauung ausgehen und sich erst als konstruktive Gestaltungen der Welt entfalten müssen. ›Hinweisende‹ und ›nachahmende Gebärde‹, logischer Begriff und ästhetische Form sind nur möglich aufgrund des Symbolischen und hängen daher in ihrer konkreten Form von der Entfaltung der Formen der Symbolisierung ab. Cassirers Verständnis der ›ästhetischen Reflexion‹ zeichnet sich auch in seinen Überlegungen zu ihrer Genese aus der nachahmenden Gebärde nur in wenigen, recht groben Grundzügen ab und wird innerhalb der Aufzeichnung zur »Philosophie des Symbolischen« lediglich in Ansätzen entworfen. Die kärglichen Andeutungen lassen aber doch erkennen, dass Cassirer hier eine ›Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹ ins Auge fasst, die sich durch eine Gestaltung des sinnlichen Materials und damit deutlicher als ihre anderen Formen im Sinnlichen selbst vollzieht. Er
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spricht so – wie bereits zitiert – von »der aesthetischen ›Reflexion‹, die im / ›Bild‹ beharrt, aber das Bild als reines ›Scheinbild‹ / nimmt, von seiner physischen Existenz absieht, / insofern ›interesselos‹ ist.«139 Dieses ›Bild‹ ist daher ebenso scharf vom ›Bild‹ im Sinne der sinnlich unmittelbaren Gegebenheit, von der sich jede Reflexion absetzen muss, zu unterscheiden wie von einer ›Abbildung‹ eines an sich seienden Gegenstands, die – nach einem früher verbreiteten, aber heute überholten Verständnis – wie eine Fotografie gleichsam vom realen Gegenstand selbst hervorgebracht würde: »die anfängl. empir. / Anschauung wird auch von der aesthet. vernichtigt, auf- / gesogen – das ›Bild‹ ist nicht Photographie!«140 Die ästhetische Reflexion überwindet also nicht notwendig ›das Bild‹, sondern die sinnliche Unmittelbarkeit und ihr ›abbildliches‹ Verständnis. Sie vollzieht sich wesentlich im Sinnlichen und überführt die ›anfängliche Anschauung‹ in ein ›Bild‹ anderer Art, das Cassirer in den veröffentlichten Schriften mitunter auch ein ›reines Bild‹ nennen wird.141 In den Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« kann aber kaum davon gesprochen werden, dass sich diese Redeweise klären und zur Terminologie ausbilden würde. Cassirer entwickelt keinen Begriff des Bildes, der seinem Verständnis der ästhetischen Reflexion entsprechen würde – weil er ihn vermutlich trotz aller ästhetischen Reflexion und symbolischen Durchbildung des Sinnlichen, in deren Hinsicht er zu explizieren wäre, in allzu großer und gefährlicher Nähe zur sinnlichen Gegebenheit sieht. Dass Cassirer den Begriff des Bildes nicht dazu nutzt, die Konzeption der ästhetischen Reflexion zu vertiefen, dürfte jedoch noch einen anderen, weniger spekulativen Grund haben: Cassirer verknüpft die Ästhetik eher mit Literatur denn mit bildender Kunst. Auf Blatt 2 betrachtet er so nach dem »logischen Moment der ›Artikulation‹« das »aesthetische« Potential der Sprache und verweist dabei sofort auf das »Moment / des Rhythmus u. der ›Tongestaltung‹«142 . Die ästhetische Reflexion wird in der Folge im exemplarischen Bezug auf die Lyrik verhandelt, wobei Cassirer sich kaum Blatt 1, 3. Blatt 16, 2, 18, vertikal am Rand hinzugefügt. Die Lesung von ›vernichtigt‹ ist unsicher. 141 Vgl. ECW 17, 195. Das Attribut ›rein‹ bezieht sich dabei zuallererst darauf, dass der Zusammenhang des praktischen Wirkens ausgesetzt ist, worin eine genuine Möglichkeit des Symbolischen zu sehen ist und sich Cassirer zugleich auf den Begriff des Spiels aus Schillers Ästhetik bezieht, vgl. die ganze Passage ebd., 195 – 198, sowie ähnlich anhand der »reinen Darstellung« ebd., 422 f. Bereits auf Blatt 17, 4, verallgemeinert Cassirer in dieser Weise Schillers Bestimmung des Ästhetischen auf das Symbolische: »In diesem Sinne ist Schillers Definition / der Kunst zu weit – / was er von der Kunst sagt, gilt vom / Symbolischen überhaupt«. Vgl. dazu auch Blatt 38, 1 f. 142 Blatt 2, 7 f. 139
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überraschend auf das Beispiel Goethes stützt. Seine ersten Bestimmungen des »Grundzugs alles Dichterischen« beschränken sich nahezu auf die Anführung einiger Verse Goethes.143 Cassirer sieht in ihnen offenbar ebenso sehr Beispiele wie Reflexionen der ästhetischen Gestaltung der Sprache, die er wesentlich als eine Gliederung des Klangs und Tons betrachtet. Die »Überwindung des Materialen durch die Form«144 , die Cassirer zunächst dem wissenschaftlichen Begriff zugeschrieben hatte, vollzieht sich daher wohl auch in der ästhetischen »Lautform«,145 die als ein gegliederter Verlauf des Klangs in der Zeit zu begreifen ist. Am Rand bringt Cassirer seine These auf den Punkt: »Auch hier macht sich jetzt / die primitive Grund- / funktion der ›Begrenzung‹ / (πέρας) geltend! Grund- / bedingung aller ›Form‹ jetzt / am zeitlichen Verlauf – / Die Zeit ›verläuft‹ nicht / mehr schlechthin, sondern / differenzierend / festgehalten und / gegliedert!«146 Diese im Laut gestaltete Form der Zeit liegt dem Leser Goethes vermutlich näher als das Bild. Sie scheint Cassirer aber wohl auch deshalb theoretisch attraktiver, weil sie von vornherein kaum unmittelbar gegeben ist und vor allem auch jeder mimetischen Abbildung fernsteht. Die Ästhetik, die Cassirer von Beginn an als eine Form der Symbolisierung neben Sprache, Mythos und Religion sowie Erkenntnis nennt und die nach der Analyse des ersten Kapitels wohl auch eine initiale Rolle für die Erweiterung der Cassirer’schen Philosophie spielte, nimmt in den Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« nur eine marginale Rolle ein. In den konzeptionellen Überlegungen wie in den materialen Literatur recherchen ist weniger als im Falle der Sprache und des Mythos eine intensive Auseinandersetzung oder ein wirklicher Fortschritt erkennbar. Cassirers Ästhetik blieb schließlich bis auf einige kleinere Texte ungeschrieben – den Die Passage lautet ausführlich: »Für den Rhythmus: Wer teilt die fliessend immer / gleiche Reihe belebend ab, daß sie sich rhythmisch / regt. / Das ist ein Grundzug alles Dichterischen, der / aber seine Wurzel, wie sich zeigt, schon im einfachen / Sprachlaut hat! / (Hamann: Poesie ist die Muttersprache des menschl. / Geschlechts … / Nüchterner: hier liegt eine Urfunktion, die / gleich sehr in der primitiven Sprachäusserung, wie / in den höchsten dichter. Äusserungen waltet!) / Und weiterhin: ›jeder hört gern den Schall an, der / zum Ton sich rundet.‹ / Dieses ›sich-Runden‹ des Schalls ist schon in / der ersten Lautartikulation, die zur Sprache / hinführt, wirksam.« (Blatt 2, 8, die Lesung von ›sehr‹ ist unsicher) 144 Blatt 2, 4. 145 »Der einheitliche Hauch, die Bewegung differenz- / ziert sich; scheidet sich in verschiedene Artikulationen / und ›Phasen‹ / der unbestimmte Schrei bestimmt sich zum / Ton, zur Lautform. / Hier ist eine fast unbegrenzte qualitative Differen- / zierung möglich, namentlich durch Benutzung / der Verbindung im Nacheinander« (Blatt 2, 8 f.). 146 Blatt 2, 8. 143
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viel diskutierten möglichen Gründen lässt sich aber auch gestützt auf die Aufzeichnungen von 1917 und 1918 kaum ein weiterer hinzufügen.147 Umprägungen: Wundts naturalistische Genese und Cassirers Genese des Symbolischen Das erste Blatt der Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« wurde recht ausführlich erörtert, weil es grundlegende konzeptionelle Perspektiven des neuen Projekts entwickelt und dabei entscheidende Weichen stellt. Die Rezeption Cassirers erwies sich als hochgradig selektiv und verfolgte offenbar zuallererst den Zweck, das Symbolische mit der Genese der menschlichen Kultur zu verknüpfen. Diese Genese versteht Cassirer allerdings nicht wie Wundt im naturalistischen Sinne der Entstehung und Erklärung des Symbolischen aus seinen natürlichen Bedingungen. Vielmehr deutet er sie im Rekurs auf eine idealistische Tradition von Platon bis Hegel mit Blick auf eine ›Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹ durch deren aktive symbolische Bestimmung um. Cassirers Manöver zwischen Wundts Naturalismus und seinem eigenen kritischen Idealismus hat sich immer wieder beiläufig des doppeldeutigen Adjektivs ›genetisch‹ bedient. Es soll daher im Folgenden versucht werden, einige Punkte im Begriff der Genese zusammenzuführen, auch wenn sich Cassirer selbst kaum um eine terminologische Festlegung bemüht. Abschließend wird auf die aufschlussreiche Diskussion der Genese im Manuskript von 1919 einzugehen sein. Wie zentral die Frage der Genese ist, lässt sich an Formulierungen festmachen, die im Zusammenhang von Cassirers Wundt-Rezeption stehen und das Spektrum zwischen einer naturalistischen und einer transzendentalen Konzeption der Genese aufspannen. Auf der einen Seite wendet sich Cassirer mit Bezug auf Wundt gegen eine »psychologische Genese«148 oder eine »genetisch-kausale«149 Erklärung des Symbolischen. Auf der anderen 147 Vgl. zur Ästhetik Cassirers den maßgeblichen Aufsatz von Fabien Capeillères, »Postface«, in: Ernst Cassirer, Écrits sur l’art. Éditions et Postface par Fabien Capeillères, Présentation par John M. Krois, Paris 1995, 193 – 253, bes. 226 ff., sowie Marion Lauschke, Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007. 148 ECW 11, 125. 149 ECW 12, 25, und ECW 16, 188. Vgl. mit kritischem Bezug auf die »empirischgenetische Frage« der ›Völkerpsychologie‹ auch ECW 16, 176 f., oder allgemein die »genetisch-psychologisch orientierte Fragestellung« in ECW 12, 14 f., Anm. 12. Cassirer benutzt auch das einfache Attribut ›genetisch‹ immer wieder in dieser kritischen Wendung, vgl. exemplarisch ECW 11, 1, 136 und 166; ECW 12, XI, 19 und 251, sowie ECW 13, 124. Es wurde mit diesen Nachweisen nicht auf Vollständigkeit abgezielt.
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Seite charakterisiert er auch die ›konstruktive‹ Symbolisierung der Wirklichkeit als ›genetisch‹. Er setzt, wie bereits zitiert, nicht nur die symbolische ›Darstellung [= genetische Konstruktion] des Dinges‹ gleich, sondern auch ›genetisches Denken‹ und ›konstruktive Phantasie‹.150 Zudem spielt er dabei auf die sogenannten ›genetischen Definitionen‹ an, die vor allem in der Mathematik definieren, indem sie ein Verfahren zur Konstruktion festlegen.151 Gestützt auf diese Formulierungen habe ich oben von der sym bolischen Genese der Welt gesprochen, die in der neukantianischen Tradition der Idee einer transzendentalen Erzeugung steht. Die Pointe von Cassirers Verständnis der Genese besteht darin, diese beiden unvereinbaren Konzeptionen der Genese miteinander in Bezug zu setzen. Er bestreitet so zum einen, dass das Symbolische aus ihm vorgängigen Elementen entstehen und auf diese Weise naturalistisch erklärt werden könnte, setzt aber zum anderen keine vollkommene Autonomie des Symbolischen voraus, das gänzlich unabhängig wäre von seinen natürlichen Bedingungen und einer einseitigen symbolischen Konstruktion der Welt zu Grunde liegen könnte. Das Symbolische birgt aber das Potential zur Autonomie, insofern es sich in der Symbolisierung des Gegebenen zunehmend entfaltet und mit der Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit zugleich die Reflexion auf die symbolische Darstellung der Welt ermöglicht. In der Konsequenz ist das Symbolische aber genauso wenig unabhängig von seiner Entfaltung am Gegebenen, wie die Welt unabhängig vom Symbolischen gegeben ist. Das Symbolische hat im Wechselspiel mit den Phänomenen, die es ebenso bestimmt, wie es sich in ihnen spezifiziert, sein eigenes Werden und seine eigene Genese. Die genetische Betrachtung schließt somit sowohl die Reflexion auf die symbolische Genese einer Welt ein, in der sich die Erfahrung von der sinnlichen Unmittelbarkeit emanzipiert, als auch die Reflexion auf die Genese des Symbolischen, das sich in der Bestimmung der Wirklichkeit des Menschen entfaltet. Im ersten Abschnitt des Manuskripts von 1919 mit dem Titel »Die physischen Grundlagen der Sprachbildung. – Gebärdensprache und Lautsprache« führt Cassirer dieses Verständnis der Genese des Symbolischen aus. Wie in den bereits diskutierten Aufzeichnungen greift er auf Wundts Theorie der Gebärde zurück, geht recht ausführlich auf die hinweisende Gebärde Vgl. nochmals die beiden Stellen auf Blatt 1, 7 f. In diesem Sinne charakterisiert Cassirer in ECW 12, 40, den »ständigen Kreislauf des Erfahrungsdenkens« auch dahingehend, dass »es die besonderen Inhalte in ihre konstitutiven Faktoren zerlegt, um sie aus ihnen als ihren Voraussetzungen wieder ›genetisch‹ zu erzeugen.« 151 Vgl. exemplarisch ECW 6, 11, und ECW 11, 268 f. Es kommt bei dieser Redeweise hinzu, dass Cassirer sich auch gerne auf Humboldts ›genetische Definition‹ der Sprache bezieht. Darauf wird später einzugehen sein. 150
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ein und skizziert ihre Entwicklung bis zum Begriff: »So scheint, genetisch und sachlich, in der Tat ein gerader Weg vom ›Greifen‹ zum ›Begreifen‹ zu führen.«152 Schließlich führt Cassirer auch hier die nachahmende Gebärde ein. Bemerkenswert ist jedoch vor allem, dass er den systematischen Sinn dieses Rückgriffs auf die ›Anfänge‹ und ›Ursprünge‹ des Symbolischen ausführlich begründet und auf die Genese des Symbolischen in Wundts psychologischer Theorie und seiner eigenen symbolphilosophischen Reflexion eingeht. Cassirer rahmt seine Diskussion von Wundts Theorie der Gebärde von vornherein durch eine Aporie, die jedes Verständnis der Genese als Erklärung oder Entwicklung aus vorgängigen Bedingungen außer Kraft und an ihre Stelle den Gedanken der Entfaltung des Symbolischen setzen soll. Er betrachtet das Verhältnis von Sprache und Vernunft und argumentiert, dass sie sich letztlich wechselseitig voraussetzen müssen. Ohne Sprache, so lässt sich zusammenfassen, gäbe es keinen logischen Begriff – damit sich ein solcher aus ihr entwickeln kann, muss die Sprache jedoch in den ›sprachlichen Begriffen‹ die Anfänge des logischen Begriffs und damit der Vernunft bereits enthalten.153 An die Stelle einer Erklärung des einen durch das andere tritt ein Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit, in dem sich sowohl Sprache als auch Vernunft gegenseitig bestimmen und fortwährend entfalten können. Vor diesem Hintergrund transformiert sich die überkommene Frage nach der Erklärung der Vernunft aus der Sprache oder der Entwicklung der Sprache aus einem vorgeblich natürlichen, vorkulturellen Zustand in einen heuristischen Rekurs auf die einfachsten Anfänge von Sprache oder Vernunft: »Will man dieser Schwierigkeit entgehen, so bleibt kein anderer Ausweg, als das Problem des ›Ursprungs der Sprache‹ – sofern dieses Problem überhaupt vom kritischen Standpunkt aus mit Recht gestellt werden kann – bis zu einem Punkte zurückzuverfolgen, der zwar nicht vor der Vernunft, sondern ganz innerhalb ihrer liegt, aber der andererseits noch nicht ihrer ausgebildeten begrifflichen Gestalt angehört.«154 Wenn Cassirer auf die Anfänge von Sprache und Vernunft Manuskript 1919, 25. Vgl. die ganze Passage ebd., 21 – 27, sowie zur nachahmenden Gebärde ebd., 30 – 33. Hervorzuheben ist auch Cassirers Rekurs auf Herders Konzeption der »Besonnenheit« ebd., 28 f. 153 »Aber indem man nun daran geht, diesen Ursprung der Vernunft aus der Sprache im einzelnen darzulegen und theoretisch zu erweisen, muß man hierbei die Vernunft und ihre Grundbegriffe zum mindesten als allgemeine ›Potenz‹ und Anlage, durchweg voraussetzen und ihrem wesentlichen Bestand nach vorwegnehmen. Der ›sprachliche‹ Begriff scheint ebensowohl die Praemisse wie die Konsequenz des ›logischen‹ Begriffs, ebensowohl seine Bedingung wie sein Ergebnis zu bedeuten.« (Manuskript 1919, 8) 154 Manuskript 1919, 8 f. 152
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zurückgeht, dann versucht er sie besser zu verstehen, indem er ihre elementaren Bedingungen betrachtet und zugleich das Potential herausarbeitet, diese einfachsten Anfänge zu überwinden und das Symbolische weiter zu entfalten.155 Es ist dieser Zusammenhang, in dem Cassirer auf Wundts Theorie der Gebärde und ihren Zugang zur Sprache zu sprechen kommt: »Das durchaus sinnliche, das mimisch-physiognomische Ganze der einfachen Ausdrucksbewegungen birgt in sich bereits den Keim, aus dem sich die Vernunft und der eigentümliche ›Logos‹ der Sprache entfaltet.«156 Cassirer lässt es sich wie in der Philosophie der symbolischen Formen nicht nehmen, Wundts Völkerpsychologie positiv zu würdigen, markiert aber wiederum sogleich seine systematische Differenz zu ihrer »genetisch-psychologischen Betrachtung«157: »Die Elemente des sprachlichen Bewusstseins lassen sich ebensowenig wie die des logischen oder aesthetischen Bewusstseins, kraft eines genetisch-psychologischen Verfahrens jemals zureichend und wahrhaft ›erklären‹ – sofern Erklärung bedeuten soll, daß wir sie aus einer indifferenten psychologischen Urform, die selbst weder logisch, noch aesthetisch, noch sprachlich bestimmt wäre, ableiten und sie damit gleichsam aus dem Nichts hervorbringen sollten. Nur darin kann die Aufgabe bestehen, sie als Elemente, in ihrer eigentümlichen Bedeutung und Geltung, aufzuzeigen und sie als Bedingungen nicht nur des entwickelten Bewusstseins, sondern des einfachsten Bewusstseinsbestandes, zu dem die Zergliederung 155 »Auch die Sprache wird in ihrer wahrhaften und reinen Geistigkeit nur dann ergriffen, wenn sie, statt einseitig auf die logisch-abstrakte Vernunftform und auf den logisch-abstrakten ›Begriff‹ bezogen zu werden, in stetigem Zusammenhang mit dem Problem des sinnlichen Ausdrucks erhalten wird. Sie erscheint anfänglich als nichts anderes, denn als eine Weise und eine besondere Modalität eben dieses sinnlichen Ausdrucks selbst – aber freilich als eine solche, in der bereits eine über diesen Kreis hinausweisende Tendenz erkennbar wird. Für die kritische Betrachtung, die es, hier wie überall, nicht sowohl mit der Entstehung, als vielmehr mit dem Bestand, nicht mit der Feststellung zeitlich-psychologischer Anfänge, sondern überzeitlicher Bedeutungs- und Geltungsmomente zu tun hat, gilt es hier, Anfang und Ende der Betrachtung in einen Begriff und ein Problem zusammenzufassen. Sie muß das Denken der Sprache als ein durch die Sinnlichkeit; durch die sinnliche Empfindung und durch den sinnlichen Affekt, bestimmtes Denken erweisen, und zugleich darthun, wie in der Kraft und Fähigkeit zur sprachlichen Äusserung das Sinnliche selbst die Schranke, die ihm zunächst gesetzt schien, durchbricht und eine umfassendere und tiefere ideelle Bedeutung gewinnt.« (Manuskript 1919, 9 f.) 156 Manuskript 1919, 17. Cassirer versteht die Gebärde im Folgenden sehr basal als unmittelbaren Ausdruck der Erregung und geradezu als Reflex, vgl. ebd., 19 f., betont aber sogleich, dass jede »Reaktion« schon die Wendung zur »Aktion« (ebd., 21) enthält. 157 Manuskript 1919, 17. Zwischen ›genetisch-psychologischen‹ und ›Betrachtung‹ wurde ›entwicklungsgeschichtlichen‹ gestrichen.
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zurückdringen kann, nachzuweisen. ›Erklärung‹ in diesem Sinne heisst nichts anderes als die Herstellung der Kontinuität zwischen der einfachsten und komplexesten, zwischen den zeitlich-frühesten und zeitlich-spätesten Bewusstseinsinhalten und Bewusstseinsphasen – wobei jedoch diejenigen allgemeinen Formmomente, auf denen die Möglichkeit dieser Kontinuität selbst beruht und in denen sich die ›Einheit des Bewusstseins‹ nach ihren verschiedenen Grundrichtungen ausprägt, immer schon ihrem Sinn und ihrer Gültigkeit nach vorausgesetzt werden müssen. Mit dieser methodischen Einschränkung können wir, um die allgemeinsten Momente der sprach lichen Form zu bestimmen, noch hinter die Ausbildung der Lautsprache und bis zur einfachen Gebärdensprache zurückgehen.«158 Cassirer lehnt somit nicht nur eine Erklärung von Sprache und Vernunft und letztlich des Symbolischen ab, insofern sie eine Reduktion auf Bedingungen darstellt, die selbst nicht schon Sprache, Vernunft und Symbolisierung in sich tragen.159 Er transformiert dieses Modell einer reduktionistischen ›genetischen Erklärung‹, indem er die Annahme einer Kontinuität zwischen den zu erklärenden Phänomen und ihren Bedingungen umdeutet. Wundt hatte eine Kontinuität zwischen den kulturellen Phänomenen und ihren natürlichen Bedingungen angenommen, um letztlich die Kultur aus ihren natürlichen Grundlagen erklären zu können. Cassirer dagegen behauptet insofern eine Kontinuität innerhalb der Kultur, als die Bedingungen der kulturellen Phänomene notwendigerweise bereits kulturellen Charakters sein müssen. Diese Kontinuität hat daher zunächst den Sinn, dass die Bedingungen im Falle von Sprache und Vernunft nicht außerhalb von Sprache und Vernunft liegen können und sie insofern bereits an ihnen Anteil haben müssen. Sodann ist mit dieser Kontinuität aber ein zweiter Sinn verbunden, dass die Kultur nämlich keinen stabilen Zustand bildet, sondern sich in einem kontinuierlichen Wandel befindet. Sie ist der fortwährende Prozess der Entfaltung des Potentials, das bereits in den ersten und einfachsten Anfängen der Symbolisierung vorhanden ist, wie insbesondere die Sprache »im stetigen Fortgang aus dieser Funktion [des Hinweisens, A. S.] entspringt«160 . Aufgrund dieser Kontinuität ist es nur konsequent, wenn Cassirer an die Seite der Betrachtung der einfachen Anfänge gleichermaßen Manuskript 1919, 18 f. Und dies gilt, wie Manuskript 1919, 73, mit Bezug auf die angebliche Erklärung der »Bedeutungslaute« aus »Empfindungslauten« präzisiert, »so viel zeitliche Mittelglieder man zwischen die verschiedenen Stufen auch einschieben mag«: »Der Sprung von einer Form [des Bewusstseins, A. S.] zur andern bleibt schliesslich derselbe und bleibt ebenso unvermittelt, ob man nun vom ersten oder letzten Glied der genetischen Reihe ausgeht.« 160 Manuskript 1919, 29. 158 159
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die Untersuchung der fortgeschrittenen Entfaltung des Symbolischen stellt. Er argumentiert nämlich, dass es »für die Erklärung des ›Ursprungs‹, d.h. des Gehalts der sprachlichen Begriffe zuletzt gleichviel [gilt, A. S.], ob wir mit ihrem ›Anfang‹ oder ihrem ›Ende‹, mit ihren Ausgangs- oder Zielpunkt beginnen.«161 Er sieht hier sogar einen Vorzug darin, mit dem »Ziel« oder »Telos« zu beginnen, weil hier – anders als bei den im »Dunkel der Urgeschichte« liegenden Anfängen – »das, was die Sprache und der sprachliche Begriff in ihrer vollendeten Ausprägung wollen und leisten, unzweideutig zu Tage liegt und der methodischen Analyse in allen Hauptbestimmungen zugänglich ist.«162 Die Auseinandersetzung mit Wundt geht so mit einer Klärung der syste matischen Relevanz der entwicklungsgeschichtlichen Zugänge einher. Deren Rückgang auf die Anfänge der Sprache erlaubt demnach keine naturalistische Erklärung, erscheint aber auch in deskriptiver Hinsicht nur von geringem Nutzen.163 Zugleich formuliert Cassirer mit dem Postulat der Kontinuität jedoch eine theoretische Annahme, die zentral ist für sein Verständnis der Genese des Symbolischen. Es ist dabei entscheidend, nicht dem Missverständnis zu verfallen, diese Kontinuität würde Veränderungen ausschließen und einen stabilen Zustand bezeichnen. Denn sie ist vielmehr die Voraussetzung, ohne die Veränderung nicht zu fassen ist, da eine Diskontinuität ganz im Gegenteil nicht die Veränderung, sondern die Ersetzung alter durch neue Zustände impliziert. Cassirer kommt es jedoch präzise darauf an, dass die Genese des Symbolischen kein ursprüngliches Ereignis bezeichnet, das einen stabilen Zustand etabliert, sondern die permanente Entfaltung des Potentials charakterisiert, das seit den einfachsten Anfängen des Symbolischen vorhanden ist. Das Symbolische kennt somit nur insofern einen ›Zustand‹, als es sich um denjenigen seines kontinuierlichen Werdens handelt. Die Kontinuität kennzeichnet das Symbolische aber noch in einer weiteren Hinsicht. Cassirer sperrt sich gegen die Reduktion des Symbolischen auf seine mutmaßlich natürlichen Bedingungen und sieht es stattdessen als Bedingung der symbolischen Durchbildung der sinnlich gegebenen Phänomene. In diesem kulturellen Prozess verändern sich aber nicht nur die Phänomene, die mehr und mehr als Gegenstände unserer symbolischen Ebd., 99a. Ebd., 100. 163 Anders als im veröffentlichten Text expliziert Cassirer im Manuskript von 1919 genauer, was er jenseits der kritisierten reduktionistischen Erklärungen dem Werk Wundts zu entnehmen hofft: »Die Ergebnisse dieser Untersuchung kommen vielmehr nur insoweit in Frage, als sie mittelbar der rein deskriptiven Darstellung und Analyse der sprachlichen Phaenomene dienen und deren Stellung im Ganzen des geistigen Lebens näher beleuchten.« (Manuskript 1919, 18) 161
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Tätigkeit erscheinen. Zugleich entfaltet das Symbolische sein Potential zur ›Emanzipation vom sinnlich Unmittelbaren‹ gerade dadurch, dass es sich am zunächst sinnlich Gegebenen abarbeitet. Seine Entfaltung ist damit aber nicht unabhängig von den Phänomenen, sondern vollzieht sich gerade in ihrer Symbolisierung. Die Kontinuität, von der Cassirer spricht, kennzeichnet somit zum einen die fortwährende und unablässige Entfaltung des Symbolischen seit seinen ersten Anfängen und charakterisiert sie zum anderen durch ihre wechselseitige Verschränkung mit den sinnlich-empirischen Phänomenen, die idealiter in Gegenstände unserer symbolischen Tätigkeit überführt werden. Das Symbolische bildet insofern mit den empirisch-sinnli chen Phänomenen eine Kontinuität, als es seine Bedingungen und sein Poten tial nur in der symbolischen Durchbildung dieser Phänomene entfalten kann. In den veröffentlichten Texten sind diese gedanklichen Zusammenhänge nur noch bruchstückhaft vorhanden und lassen sich an Cassirers vielfältiger Rede vom ›Genetischen‹ lediglich erahnen. Im ersten Band der Philo sophie der symbolischen Formen ist die hier verfolgte Auseinandersetzung mit Wundts Entwicklungsgeschichte zwar noch insofern präsent, als er im zweiten Kapitel, wie bereits angeführt, an Wundts Theorie der Gebärde anschließt. Obwohl die Parallelen zwischen den Texten so groß sind, dass sich die Annahme aufdrängt, Cassirer habe bei der Verfassung des ersten Bandes auf das Manuskript von 1919 zurückgegriffen, ist jedoch gerade die methodische Diskussion mit Wundt nahezu gänzlich ausgelassen. Insbesondere die Argumentation für die Kontinuität der Genese, die eine nicht unerhebliche Rolle bei der Schärfung von Cassirers Konzeption des Symbolischen spielt, fand keine Aufnahme in den veröffentlichten Text. Ich möchte abschließend kurz beide Passagen vergleichen, um einige weitere, kleinere Verschiebungen zu markieren. Zu Beginn des zweiten Kapitels im ersten Band der Philosophie der sym bolischen Formen führt Cassirer seine transzendentale Perspektive auf die Sprache ein und fokussiert damit sogleich die Differenz von innerer oder psychischer und äußerer oder physischer Wirklichkeit, die nicht vorausgesetzt werden könne, da ihre Genese aus der »wechselseitigen Durchdringung« von »seelischem Inhalt« und »sinnlichem Ausdruck« zu begründen sei.164 Sodann kommt Cassirer ganz ähnlich und in teils identischen Formulierungen wie im Manuskript von 1919 auf die »Sprachpsychologie« zu sprechen, der er zubilligt, das »Problem der Sprache mit Recht dem Problem einer allgemeinen Psychologie der Ausdrucksbewegungen eingeordnet«165 zu ECW 11, 123. ECW 11, 124. In Manuskript 1919, 15, heißt es: »In diesem Sinne hat die moderne psychologische Betrachtung mit Recht das Problem der Sprachpsychologie dem allgemei164 165
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haben, wobei er sich wie im Manuskript, wenn auch mit präziseren Angaben, auf Wundts Völkerpsychologie bezieht.166 Erneut in enger Parallele zwischen dem ersten Band und dem Manuskript fordert Cassirer dabei, dass eine solche Psychologie nicht von Zuständen und Gegebenem, sondern von »Prozessen und Veränderungen«167 auszugehen habe, was er aber offenbar weniger der »traditionellen sensualistischen Psychologie«168 als der »Psychologie Hermann Cohens«169 zutraut. Im Anschluss weichen die Texte voneinander ab, denn Cassirer erörtert im Manuskript von 1919 nun kritisch den Anspruch von Wundts naturalistischen Erklärungen und entwickelt im Gegenzug den Gedanken der Kontinuität der Genese170; im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen kommt er dagegen über eine kurze Schilderung der »mimischen Bewegung«171 direkt auf eine bekanntere »biologische Theorie der Ausdrucksbewegungen«172 zu sprechen, nämlich Darwins Schrift The Expression of the Emotions in Man and Ani mals, die im Manuskript erst nach der methodischen Auseinandersetzung mit Wundt behandelt wird. Es ist daher nun die Ausdrucksbewegung in Darwins Schrift, der Cassirer die entscheidende Wendung der Genese des Symbolischen, den »Übergang vom bloß ›Pragmatischen‹ zum ›Theoreti schen‹, von dem physischen zum ideellen Tun«173 zuschreibt. Im Manunen Problem einer Psychologie der Ausdrucksbewegungen eingeordnet.« Die anschließende Anmerkung mit Verweis auf die ersten beiden Bände der Völkerpsychologie Wundts habe ich ausgelassen. 166 ECW 11, 124, Anm. 1, nennt darüber hinaus Johann Jakob Engels Schrift Ideen zu einer Mimik von 1785, die von Wundt angeführt wird – vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 126 f. –, in Cassirers Aufzeichnungen von 1917 und 1918 sowie im Manuskript von 1919 dagegen keine Erwähnung findet. 167 ECW 11, 124 – in Manuskript 1919, 16, bezieht sich Cassirer an der entsprechenden Stelle auf das »unmittelbare Bewusstsein seelischer Veränderungen und seelischer Prozesse«. 168 ECW 11, 124, und Manuskript 1919, 15. 169 ECW 11, 124, Anm. 2, mit Verweis auf Hermann Cohens »Ästhetik des reinen Gefühls, Bd. 1, S. 143 ff.« In Manuskript 1919, 17, Anm. 1, wird in ähnlichen Formulierungen dasselbe Werk genannt, allerdings ist die Seitenzahl – wie meist in diesem Entwurf – offen gelassen. 170 Vgl. Manuskript 1919, 17 – 19. 171 ECW 11, 124. 172 ECW 11, 125, und Manuskript 1919, 20, hier ist ›biologische‹ unterstrichen. 173 ECW 11, 125: »Jede elementare Ausdrucksbewegung bildet in der Tat insofern eine erste Grenzscheide der geistigen Entwicklung, als sie noch völlig in der Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens steht und doch andererseits über diese bereits hinausgeht. Sie schließt in sich, daß der sinnliche Trieb, statt direkt gegen sein Objekt vorzudringen und sich in ihm zu befriedigen und zu verlieren, eine Art Hemmung und Rückwendung erfährt, in der nun eine neue Bewusstheit eben dieses Triebes erwacht. In diesem Sinne bereitet gerade die Reaktion, die in der Ausdrucksbewegung enthalten ist, eine höhere
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skript von 1919 hatte er sich mit Blick auf Darwin dagegen mit der wenig programmatischen Schlussfolgerung begnügt: »Die ›Reaktion‹ der sinnlichen Ausdrucksbewegung stellt den ersten und primitivsten Ansatz zur ›Aktion‹ des Bewusstseins überhaupt dar.«174 Durch die Auslassung der methodischen Auseinandersetzung mit Wundt erscheint die Bedeutung von Wundts Völkerpsychologie für die Konzeption des Symbolischen gegenüber den Arbeitsaufzeichnungen deutlich verringert. Die ungleich prominentere Theorie Darwins tritt ins Zentrum und erscheint von vornherein im Lichte der antinaturalistischen Pointe, die Cassirer in den Aufzeichnungen zuallererst in Auseinandersetzung mit Wundt entwickelt und geschärft hatte. Die darauf folgenden Ausführungen zu dessen Theorie der hinweisenden und nachahmenden Gebärden sowie zur Entwicklung »vom ›Greifen‹ zum ›Begreifen‹«175 und von der »Wiederholung eines äußerlich Gegebenen« zum »freien geistigen Entwurf«176 in der Kunst weisen so zwar große Parallelen zum Manuskript auf und gehen offenbar bis auf Blatt 1 zurück, scheinen aber die antinaturalistische Argumentation Cassirers vorauszusetzen und lassen daher ihren systematischen Stellenwert kaum mehr erkennen. Die Genese des Symbolischen und ihre Kontinuität im Werden wie mit der Welt sind in der Konsequenz kaum mehr scharf zu fassen, so dass Cassirers Rede von Genese den veröffentlichten Text mehrdeutig und vielschichtig durchzieht. Die Sprache, Gebärde und Laut: Von Wundt zu Humboldt Die letzten Abschnitte haben gezeigt, wie Cassirer in seiner Auseinandersetzung mit Wundts naturalistischer Auffassung der Entstehung der Sprache seine Konzeption der Genese des Symbolischen schärft. Es ist diese Kongeistige Stufe der Aktion vor. Indem die Aktion sich gleichsam aus der unmittelbaren Form des Wirkens zurückzieht, gewinnt sie damit bereits an dem Übergang vom bloß ›Pragmatischen‹ zum ›Theoretischen‹, von dem physischen zum ideellen Tun. – « 174 Manuskript 1919, 21. 175 ECW 11, 127, vgl. die ganze Passage ebd., 125 – 127, und nahezu wortgleich in Manuskript 1919, 21 – 26. 176 ECW 11, 129, vgl. die ganze Passage ebd., 127 – 130, und Manuskript 1919, 30 – 33. Diese Passage scheint im Vergleich zu den Seiten zur ›hinweisenden Gebärde‹ etwas stärker überarbeitet und wurde vor allem mit einigen Ergänzungen versehen. Im Manuskript ist zudem dazwischen – ebd., 27 – 30 – eine Passage zu finden, die die Leistung der ›hinweisenden Gebärde‹ zum einen mit Herders Begriff der Reflexion charakterisiert und in ihr zugleich das sprachliche Paradigma der Flexion angelegt sieht. Ich werde darauf zurückkommen.
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zeption, die aber auch den Horizont der weiteren Rezeption der Kulturwissenschaften und insbesondere der Sprachforschung aufspannt und Cassirer die nötige praktische Orientierung bietet, um Schwerpunkte zu setzen oder kritisch Stellung zu beziehen. Diese Auseinandersetzung findet aber nicht mehr auf rein philosophischem Gebiet statt. Cassirer verknüpft seine philosophische Reflexion nun enger mit der kulturwissenschaftlichen Empirie und kommt nicht umhin, die philosophischen Argumente zu revidieren, wo die kulturwissenschaftlichen Evidenzen kaum zu bezweifeln sind, oder sich im Zweifelsfall um alternative, unterstützende Befunde zu bemühen, wenn er an seinen Argumenten festhalten will. In den folgenden Abschnitten sollen daher Wechselwirkungen von Cassirers philosophischer Reflexion und der rezipierten kulturwissenschaft lichen Forschung betrachtet werden. Ich werde dazu aus mehreren Gründen die Lautlichkeit der Sprache erörtern. Sie schließt, erstens, sehr eng an die bisherigen Erörterungen an, weil Cassirer den Laut im Unterschied zur Gebärde als geeignet ansieht, das emanzipative Potential des Symbolischen zu entfalten. Die Lautlichkeit der Sprache steht damit, zweitens, im Horizont des Telos des Symbolischen und verknüpft sich mit den sprachlichen Bedingungen des Begriffs. Sie charakterisiert für Cassirer zudem, drittens, die Sprache als spezifische Symbolisierung und ist, viertens, zugleich Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Forschung. Die Lautlichkeit der Sprache verknüpft viele der bislang eher abstrakt gehaltenen Konzeptionen im Feld der Sprachwissenschaften, was uns schließlich zu Cassirers Rezeption von Wilhelm von Humboldts Sprachforschung führen wird. Bereits in Cassirers Aufzeichnungen und im Manuskript von 1919 wird deutlich, dass der Rekurs auf die Anfänge des Symbolischen in der Gebärde keineswegs mit einer Charakterisierung der Sprache verbunden ist. Cassirer betrachtet die Gebärde, wie zu zeigen sein wird, letztlich gar nicht als sprachfähig und privilegiert dagegen die ›Lautsprache‹, die er nicht nur im Ästhetischen als besonders geeignet ansieht, das emanzipative Potential des Symbolischen zu entfalten: »Wir haben indes die Gebärdensprache hier nicht um ihrer selbst willen betrachtet, sondern sie nur als Hinweis dafür benutzt, wie der Logos der Sprache, wie sich ihr geistig-gestaltendes Urmotiv bis in ihre ersten sinnlichen Anfänge hinein erstreckt. In seiner eigentlichen Freiheit und seiner charakteristischen Wesenheit aber tritt freilich dieser Logos erst in der Bildung der Lautsprache hervor.«177 Ebenso geht der erste Band der Philosophie des Symbolischen recht unvermittelt von Wundts Gebärden zum Laut über: »Aber in einer ganz neuen Freiheit und Tiefe, in einer neuen geistigen Aktualität tritt nun diese Funktion der Darstellung 177
Manuskript 1919, 33 f.
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heraus, indem sie statt der Gebärde den Laut als Mittel und als sinnliches Substrat benutzt.«178 Wie zu zeigen sein wird, widerspricht diese Privilegierung der Lautsprache vehement Wundts Theorie der Gebärdensprache und bezieht sich Cassirer dabei auf die Sprachforschung Wilhelm von Humboldts, die in den zitierten Passagen des Manuskripts wie des ersten Bands allerdings nicht genannt wird. Ihre Bedeutung für Cassirers Symbolphilosophie zeichnet sich dennoch gerade in der Konzeption der Lautlichkeit ab. Die Frage der Lautlichkeit ist bereits in Cassirers Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« eng mit der Spezifizierung und Entfaltung der Sprache verbunden. Nachdem die Sprache auf Blatt 1 kaum erwähnt wurde,179 sind ihr viele der folgenden Blätter gewidmet und markiert Blatt 2 mit dem Titel »Sprache« gleich zu Beginn den Einsatz der weiteren Erörterungen: »Es handelt sich zunächst darum, die rein formalen / Momente der sprachlichen Symbolik festzustellen.«180 Cassirer vertritt dabei wie auch im Manuskript von 1919 die These, dass Sprache vorrangig als »entwickelte Lautsprache«181 zu bestimmen sei. Diese Annahme ist vor dem Hintergrund von Cassirers Lektüre von Wundt alles andere als selbstverständlich. Denn Wundt billigt der Gebärde, an der Cassirer so sehr Interesse gefunden hatte, im ersten Band der Völkerpsychologie vor allem deshalb eine bedeutende Rolle zu, weil er in den hinweisenden, den nachahmenden und den symbolischen Gebärden naheliegender Weise nicht das Begreifen, sondern die Gebärdensprachen begründet sieht, wie sie von Taubstummen, aber auch im Alltag anderer Kulturen verwandt werden.182 Diese Gebärdensprachen sind, wie Wundt gestützt auf reichhaltiges Material und mit Blick auf ihre Grammatik und Syntax ausführlich begründet, in einem vollumfänglichen Sinne Sprachen.183 Diese Einsicht führt z. B. Karl Bühler noch 1933 mit großer Anerkennung an184 und steht allem Anschein nach ECW 11, 130. Es ist hier vor allem ein Rekurs auf Herders Sprachtheorie zu erwähnen, der offenbar Cassirers Postulat einer apperzeptiven »Grundfunktion des Sonderns und Identi- / fizierens« in jeder noch so einfachen Gebärde stützen soll: »Für die Sprache hat schon Herder diesen ur- / sprünglichen Apperzeptions- also Vernunftakt / in der ersten Laut äusserung betont – aber / er reicht wie man sieht noch weiter zurück!« (Blatt 1, 11) Cassirer nimmt hier an, dass sich Apperzeption, Vernunft und Denken primär im Laut realisieren, worauf ich gleich zurückkommen werde. 180 Blatt 2, 1. 181 Manuskript 1919, 29. 182 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 222 und 246. 183 Vgl. zur Frage der grammatischen Kategorien Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 191 ff., und zur Syntax der Gebärdensprache ebd., 208 ff. 184 Vgl. Bühler, Ausdruckstheorie, 128 f. 178
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auch im Einklang mit der heutigen Forschung.185 Es kann daher keinesfalls als evident gelten, warum Cassirer Wundts These von der Sprachfähigkeit der Gebärde verwirft. Cassirer expliziert seine Einwände auf Blatt 2 seiner Notizen und bezieht sich dabei zunächst auf die Ebene der grammatischen und syntaktischen Strukturen. Er versteht den Satz mit Wundt als charakteristische Leistung der Sprache186 , um der Gebärdensprache jedoch sogleich abzusprechen, Sätze in einem vollumfänglichen Sinn bilden zu können, da sie nur über eine »sehr / unvollkommene syntaktische Gliederung« verf üge.187 Ebenso wenig billigt er ihr eine eigene Grammatik zu, so dass den vielfältigen Strukturen von Lautsprachen, die hier mit Stichpunkten wie »Flexion« und »Wortklassen« angedeutet werden, eine äußerst arme Gebärdensprache gegenüber steht. Sie kann, so Cassirer, »im Grunde immer nur: / Ding, Ding, Ding, / oder Ding, sichtbare-Thätigkeit, Ding, sichtbare Eigensch, / Thätigkeit etc.«188 besagen. Diese Behauptung steht jedoch in deutlichem Kontrast zu Wundts Völkerpsychologie, mit der sich Cassirer auf Blatt 2 nach wie vor beschäftigt. Denn Wundt bemüht sich redlich um angemessene und eigenständige Kategorien für die Syntax und die Grammatik der Gebärdensprachen. Cassirer übergeht diese ausführlichen Erörterungen im zweiten Kapitel des ersten Bandes fast vollständig. Stattdessen bezieht er sich auf die ältere These Heymann Steinthals, die Gebärdensprache verfüge über keine Grammatik oder Syntax, die sich Wundt gerade zu widerlegen bemüht hatte.189 Cassirer vermerkt diese Diskussion am Rande und formuliert seine eigene Position: »Daß die Gebärden- / sprache aller grammat. / Kategorien entbehrt[,] ohne / Satz, also ohne Grammatik / sei, wird von Steinthal / behauptet (Wundt 191, 203 / Anm.) von Wundt zwar / eingeschränkt, aber das / für uns Wesentl. bleibt / auch in dieser Einschränk. / bestehen!«190 185 Vgl. Ludwig Jäger, »Sprachevolution. Neuere Befunde zur Audiovisualität des menschlichen Sprachvermögens«, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 4 (2008), 149 – 169, hier 153 – 155. Eine gekürzte Fassung ist online zugänglich unter http:/www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12740. 186 »Das Charakteristische / der Sprache aber tritt erst in jener neuen Synthese / hervor, die wir den sprachlichen Satz nennen« (Blatt 2, 5). Vgl. dazu auch die Notiz zum Satz, der »früher als das Wort« sei, auf Blatt 3, 4, mit Verweis auf Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 599 ff., sowie Blatt 14, 2: »Der ›Satz‹ als apperzeptive ›Gliederung‹ einer Gesamt- / vorstellung (Wundt, Völkerpsychol. II)«. 187 Blatt 2, 5. Cassirer verweist auf die Erörterungen zur »›Syntax‹ der Gebärdensprache vgl. Wundt, / I, 208 ff.« 188 Blatt 2, 6. 189 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 191 f. 190 Blatt 2, 5, am Rand, mit Verweis auf Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 191 und 203, die Lesung der letzten Zahl ist unsicher.
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Diese Rückbesinnung auf Steinthals ältere und von Wundt explizit kritisierte Argumentation erscheint ohne eine ausführliche Argumentation und überzeugende Evidenzen durchaus fragwürdig. Dies gilt umso mehr, als sich Cassirer anscheinend nicht um eine genauere Begründung bemüht hat. In der entsprechenden Passage des Manuskripts von 1919 wiederholt er die Beschreibung der ungenügenden Fähigkeiten der Gebärdensprache und beruft sich in einer Anmerkung dazu ausgerechnet auf einige Aspekte von Wundts Analysen, um letztlich Steinthal beizupflichten.191 Eine präzisere Argumentation oder ausführlichere Recherche zur Sprachlichkeit der Gebärde ist hier jedoch ebenso wenig wie in den Aufzeichnungen zu erkennen, allenfalls hätte sie keine Spuren hinterlassen.192 Die Behauptung, dass Gebärden keine vollständige und eigenständige Form der Sprache auszubilden vermögen, findet sich in der Philosophie der symbolischen Formen nicht mehr in dieser Ausdrücklichkeit. Der unbeirrte Übergang zur Lautlichkeit als eigentliches Medium der Sprache setzt diese Behauptung jedoch letztlich voraus und erscheint daher nach wie vor von einer gewissen Gewaltsamkeit.193 191 Die relevante Passage sei an dieser Stelle angeführt: »Was die Gebärde, als hinweisende und nachahmende, ausdrückt und wiedergibt, sind sinnlich wahrnehmbare Objekte, Handlungen und Vorgänge; aber für den bestimmten und scharfen Ausdruck von Beziehungen fehlt es ihr an jedem Mittel. Sie ist schon ihrem Grundcharakter nach auf die Heraushebung und Bezeichnung von Dingen und Eigenschaften, nicht auf die Erfassung allgemeiner Verhältnisse und Relationen gerichtet. Die blosse Aneinanderreihung der mimischen Ausdrücke für konkrete Dinge oder Beschaffenheiten ergiebt immer nur eine einförmige Wiederholung, eine blosse Addition von Zeichen, in denen die mannigfach-verschiedenen Komplexionsformen, auf denen schon der einfache Bestand der einzelnen psychologischen ›Vorstellung‹ selbst beruht, keinen Ausdruck finden.« (Manuskript 1919, 45 – 4 6) Die dazugehörige Anmerkung führt aus: »Während Steinthal der Gebärdensprache alle grammatischen Kategorien abspricht und betont, daß sie ›ohne Satz, also ohne Grammatik‹ sei, hat Wundt versucht, auch in ihr ein Analogon des logisch-grammatischen Aufbaus und eine bestimmte, ihr spezifisch eigentümliche Form der ›Syntax‹ nachzuweisen (a. a. O. I, 208 ff.) Doch hebt auch er die in ihr waltende Unbestimmtheit der [›]Begriffskategorien‹ und ihre Einschränkung auf [›]Gegenstands-[,] Eigenschafts- und Zustandsbegriffe[‹] hervor. Der Ausdruck sei hier auf einzelne anschauliche Vorstellungen beschränkt: in welchen logischen, räumlichen oder zeitlichen Beziehungen diese Vorstellungen zu einander stehen, werde dagegen durch ihn nicht erkannt. (a. a. O. S. 191 ff.)« (Ebd., 46 – 47) Auf das entscheidende Kriterium des ›bestimmten und scharfen Ausdrucks von Beziehungen‹ werde ich noch ausführlicher zu sprechen kommen. 192 Lediglich Blatt 159 scheint die Gebärde nochmals zum Thema zu haben, enthält aber nur zwei Verweise auf die Sekundärliteratur: »Zur Gebärdensprache z. B. der Cisterzienser-Mönche / vgl. auch Sayce II, 307 ff. / u. Kleinpaul, Zur Theorie der Gebärdensprache / in Ztschr. f. Völkerpsychol. VI , 352 – 75 / (zur Ergänzung der Wundt’schen Darst. als Cit!)« (Blatt 159, 1). Auch im Manuskript 1919, 22, Anm., verweist Cassirer auf diesen Titel von Kleinpaul. 193 Vgl. ECW 11, 130.
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Cassirers Zugang zur Sprache befindet sich nun jedoch insofern in einer gewissen Schieflage, als er die Sprache als wesentlich lautlich bestimmt und sie doch zugleich wie alles Symbolische ihren Anfang in der Gebärde nehmen soll.194 Wie in den entsprechenden Passagen des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen und im Manuskript von 1919 versucht Cassirer auf Blatt 2 daher eine Entwicklung von der Gebärde zum Laut plausibel zu machen, wobei er sich wiederum auf Wundts materialreiche Darstellung stützt. Er entwickelt so die Vorstellung, dass der »sprachliche Ausdruck / […] sich kontinuierlich aus den / natürlichen Ausdrucksbewegungen und aus der Gebär- / densprache entwickelt«.195 In den folgenden Sätzen schildert Cassirer in wenigen Worten die »Herauslösung« des Lauts aus dem ursprünglichen »mimisch-pantomimischen Ganzen«, die aber nicht als völlige Ablösung zu verstehen sei. Er betont vielmehr, dass »die Mitwirkung der anderen / mimischen Ausdrucksmittel auch auf den höheren / Stufen noch anzuerkennen ist, aber immer mehr / zurücktritt«.196 Zur Unterstützung bezieht sich Cassirer mehrere Male kurz auf Wundt, wobei er Beobachtungen aus dem dritten Kapitel »Die Sprachlaute« des ersten Bandes der Völkerpsychologie herausgreift, das die Entstehung der Lautsprache von den »Stimmlauten im Tierreich« über die »Sprachlaute des Kindes« bis hin zu »Naturlauten« und »Lautnachahmungen in der Sprache« verfolgt.197 Es geht Wundt dort allerdings nicht um den Übergang von der 194 Ich beziehe mich hiermit auf das argumentative Vorgehen Cassirers, nicht auf die tatsächliche Sachlage. Nach Jäger, »Sprachevolution«, 155 – 163, behielte Cassirer aus heutiger Sicht nämlich insofern Recht, als die Gebärdensprache phylogenetisch tatsächlich älter ist und die Grundlage für die Entwicklung der Lautsprachen abgab. Um diese Frage geht es mir im Folgenden nicht. 195 Blatt 2, 1, die Lesung von ›und‹ ist unsicher. Vgl. ECW 11, 130 – 132, und Manuskript 1919, 33 – 38. 196 Blatt 2, 1 f. Diese Stelle sei ausführlich wiedergegeben: »Zunächst nun bildet diese ›Äusserung‹ / ein einziges untrennbares mimisch-panto- / mimisches Ganze [sic!], in welchem ein lautlicher Faktor / vorkommen kann, aber nicht vorkommen muss. / Aber auch dort, wo er vorkommt, wirkt er zu- / nächst nicht vereinzelt, sondern als Moment / des ›mimischen Ganzen‹ (z. B. der hinweisenden / u. nachahmenden Gebärden u. s. f.) Auch in / der Entwicklung und Erlernung der Kinder- / sprache spielt dieses mimische / Ganze noch eine entscheidende Rolle: erst / allmählich lässt sich der lautliche Einzel/ faktor heraus (Näheres hierüber z. B. Wundt, / Völkerpsychol. I, 296 ff.) Indem aber diese / Herauslösung geschieht, – indem die ›Äusserung‹ / in eine rein-lautliche und spezifisch-lautliche / sich verwandelt (obwohl die Mitwirkung der andern / mimischen Ausdrucksmittel auch auf den höheren / Stufen noch anzuerkennen ist, aber immer mehr / zurücktritt) – haben sich damit zunächst die physischen Bedingungen des Ausdrucks / gewandelt.« (Die Streichung von ›Moment‹ zwischen ›dieses‹ und ›mimische Ganze‹ wurde ausgelassen.) 197 Das vierte Kapitel »Der Lautwandel« findet bei Cassirer keine Erwähnung, erst das fünfte »Die Wortbildung« ist wiederum auf sein Interesse gestoßen. Cassirer bezieht
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Gebärde zum Laut als vielmehr um die der Lautsprache eigenen Ursprünge. Die eigenmächtige Auswahl und Rekontextualisierung der Stellen, die Cassirer für seine eigene Argumentation nutzt, und die Auslassung vieler anderer relevanter Passagen, die seiner Argumentation widersprechen, lässt diese Rezeption recht willkürliche Züge annehmen. Angesichts dieses Befunds ist es entscheidend, nach den Gründen zu fragen, die Cassirers auffällig willkürliche Rezeption motivieren. Es zeigt sich auf den folgenden Seiten von Blatt 2 sehr bald, dass Cassirer hier so eindeutig Stellung bezieht, weil er nur im Laut »die physischen Bedingungen des Ausdrucks«198 , aber auch der sprachlichen Reflexion und des wissenschaftlichen Begriffs gegeben sieht. Nur der Laut soll demnach eine Artikulation ermöglichen, die es zumindest erlaubt oder sogar Anlass dazu gibt, auf unsere Symbolisierung der Welt sowie ihre spezifisch sprachlichen Formen zu reflektieren. Dafür ist es nach Cassirers Argumentation notwendig, dass die angenommene Bindung der Gebärde an einzelne sichtbare Dinge oder Tätigkeiten überwunden wird zugunsten eines gegliederten Zusammenhangs von Zeichen, die zuallererst durch ihre Beziehungen untereinander bestimmt sind: »Der ›Laut‹ besitzt den sonstigen / mimischen Ausdrucksmitteln gegenüber den / Vorzug, daß er in ganz anderer Weise als sie der fortschreitenden ›Gliederung‹ – der / Artikulation fähig ist. Dadurch tritt an Stelle des Einzellauts, als Ausdruck eines / einzelnen seelischen Zustands, […] ein abgestuftes / System gegliederter Lauteinheiten.«199 Schließlich ergebe sich »an Stelle des Einzelzeichens für den Einzelaffekt / ein ausserordentlich differenziertes und fein abge- / stuftes Gesamtsystem von ›Zeichen‹«. Im Laut soll sich so letztlich die Systematizität differentieller Zeichen realisieren, die nicht mehr unmittelbar an die bezeichneten Dinge zurückgebunden ist und insofern den Spielraum für die Reflexion auf die sprachliche Symbolisierung selbst eröffnet. Der Laut ist daher als »erste physische Bedingung der ›Reflexion‹!« zu begreifen und führt mit der »Hin- / wendung zu diesem mittelbaren Medium auch / zur Loslösung vom unmittelbar affektiven Ausdruck«, also zur ›Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹. sich, wie in der vorangehenden Anmerkung bereits zitiert, hinsichtlich der zunehmenden Herauslösung des Lauts auf Wundts Beobachtungen zur Kindersprache in »Wundt I, 1, S. 296 ff.« (Blatt 2, 2); hinsichtlich der »Interjektionen« als gleichsam »einfachsten sprach- / lichen Äusserungen überhaupt« fügt er am Rand den Verweis auf »Wundt, a. a. O. / I, S. 307 ff.« (ebd.) hinzu; außerdem notiert er sich den Verweis auf »Bücher Arbeit und Rhythmus, Wundt / a. a. O. I, 267« (Blatt 2, 3); schließlich stützt er sich mit Bezug auf die Mäßigung der Affekte in der Entwicklung der Lautsprache auf »Wundt, I, 274« (ebd.). 198 Blatt 2, 2. Im Manuskript 1919, 50, spricht Cassirer ähnlich von den »physischen Bedingungen und Grundlagen der Sprache«. 199 Blatt 2, 3, vgl. dort auch die folgenden Zitate.
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Diese Behauptung wird genauer zu beleuchten sein, doch zuvor soll im Vorgriff auf die letzten Abschnitte dieses Kapitels zumindest angedeutet werden, dass Cassirer die im Laut realisierte Systematizität der Zeichen zugleich als ›physische Bedingung‹ des wissenschaftlichen Begriffs versteht. Denn durch die Artikulation »entsteht […] allmählich über- / haupt eine ›Zuordnung‹ und ein ›System / von Zuordnungen‹ in material ganz un- / gleichartigen Gebieten.« Cassirer führt weiter aus: »Die unmittelbare ›Nachahmung‹ hört / auf und an ihre Stelle tritt ein / vermitteltes System der funktionalen ›Abbildung‹ / eines Systems F in einem System C«, wobei er sich in einer Klammer auf Dedekinds Theorie der Zahlen und damit auf sein Paradigma des relational-funktionalen Begriffs bezieht.200 Das Lautsystem soll sich vom »rationalen System des Ausdrucks (der Wissenschaft)« lediglich dadurch unterschieden, dass allein letzteres über eine »erzeugende Reihenform« verfüge und daher eine innere »Ableitbarkeit« ermögliche.201 Der Laut fungiert somit insofern als geeignete, ›physische Bedingung‹ des wissenschaftlichen Begriffs, als er ein System differentieller Zeichen zu realisieren vermag, das auf andere gegliederte Systeme funktional abzubilden ist und für die wissenschaftliche Erkenntnis lediglich der inneren, logischgesetzmäßigen Struktur ermangelt. Cassirers Diskussion von Laut- und Gebärdensprache steht folglich unter dem Vorzeichen der ›Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹, die das Telos des Symbolischen überhaupt darstellt und sich insbesondere im wissenschaftlichen Begriff realisieren kann. Die Frage, »worin der eigentümliche Vorzug / gerade dieser lautlichen Symbolik besteht u. worauf / er zurückzuführen ist«202 , ist zudem insofern beantwortet, als Cassirer allein dem Laut zubilligt, als ›physische Bedingung‹ der Reflexion zu fungieren. Er begründet diese Antwort wesentlich zeichentheoretisch, indem er alle Gebärden fest an die bezeichneten Gegenstände gebunden glaubt, während die Lautzeichen differentiell definiert werden und schließlich geschlossene und autonome Systeme bilden können. Selbst wenn man diese fragwürdige Annahme zugesteht, ist jedoch der zentrale argumentative Schritt noch nicht getan: Warum erlauben solche in der Lautsprache realisierten Zeichensysteme die Reflexion auf die sprachliche Symbolisierung? Wie bilden Vgl. ECW 6, 36 – 43. Blatt 2, 4 f. Vgl. dazu auch Blatt 42, 1 f. 202 Blatt 2, 1. Ausführlich heißt die Stelle nach dem bereits zitierten ersten Satz zu Beginn des Blattes: »Geht man davon aus, daß die ›Lautsprache‹ / nur ein spezieller Fall des sprachlichen Ausdrucks / überhaupt ist, der sich kontinuierlich aus den / natürlichen Ausdrucksbewegungen aus der Gebär- / densprache entwickelt (s. hierüber früher!), so drängt / sich die Frage auf, worin der eigentümliche Vorzug / gerade dieser lautlichen Symbolik besteht u. worauf / er zurückzuführen ist.« 200 201
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sie anders als Gebärdensprachen den Anstoß dafür, nicht nur die Welt zu symbolisieren, sondern zugleich auf die sprachlichen Beziehungen zu reflektieren, durch die das Symbolisierte überhaupt erst bestimmt wird? Ohne eine Antwort auf diese Fragen bleibt es rätselhaft, warum der Laut in der Sprache die ›physische Bedingung‹ der Entfaltung des Symbolischen bis zur Einsicht in die symbolische Genese der Welt darstellen soll. In einer zentralen Passage von Blatt 2 findet sich eine Antwort, die allerdings erneut Fragen aufwerfen wird. In einer kurzen vergleichenden Charakterisierung von Gebärde und Laut bezieht sich Cassirer erneut auf Wundt, wenn er zunächst behauptet: »Die Gebärde ›zeichnet‹ Dinge und Handlungen: / was ihr fehlt ist jeder Ausdruck der Beziehungen / Daher in ihr infolge der Forderung der unmittelbaren / Anschaulichkeit ein Überwiegen der Gegenstands- / vorstellung als solcher«203 . Demgegenüber erscheint es nun als Privileg der Lautsprache, Beziehungen zum Ausdruck zu bringen: »Mit der ›Ähnlichkeit‹ verzichtet die Lautsprache / auf unmittelbare Ähnlichkeit, wird aber eben / damit zum Ausdruck der Beziehungen in / weit vollkommenerer und reinerer Weise / fähig! / Die ›Artikulation‹ gelangt jetzt zur höheren / logischen Stufe: zur Gliederung nach gramma- / tischen Kategorien, die zugleich auf logische / Grundkategorien zurückgehen.«204 Der wesentliche Unterschied besteht demnach in der Möglichkeit des ›Ausdrucks der Beziehungen‹. Ob die Beziehungen, die die Symbolisierung bestimmen, zum Ausdruck kommen, soll aus Cassirers Sicht entscheiden, ob wir auf die symbolische Bestimmung der Welt reflektieren und wissenschaftliche Begriffe ausbilden können. Es stellt sich in der Konsequenz jedoch die Frage, warum der Laut anders als die Gebärde zum Ausdruck von Beziehungen geeignet sein soll. Cassirers Argumentation verknüpft in dieser Hinsicht zwei Ebenen, die es zu unterscheiden gilt. Auf der ersten Ebene werden Laut und Gebärde als Zeichen betrachtet, die eine unterschiedliche Beziehung zum Bezeichneten unterhalten. Cassirer schreibt der Gebärde zu, sich in der Ähnlichkeit zu begründen und daher auf die Anschauung von Gegenständen und Tätigkeiten bezogen zu sein. Sie liefert uns gleichsam den sinnlichen Gegebenheiten aus, von denen uns das Symbolische doch zu emanzipieren erlauben soll. Der Laut wäre dagegen im Umkehrschluss ein unmotiviertes und arbiträres 203 Blatt 2, 5 f. Cassirer fügt die Nachweise in Klammern an: »(cf. Wundt 219, wo / dies richtig hervorgehoben; sie [die Gebärde, A. S.] ist daher schon / ihrem Grundcharakter nach mehr ›substantia- / listisch‹ gerichtet!) 197 ff. Beschränk. auf / Gegenstands, Eigenschafts- u. Zustandsbegriffe – keine / Beziehungsbegriffe!« Vgl. dazu auch Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 221 f. 204 Blatt 2, 6. Am Rand fügte Cassirer hinzu: »Über diesen Zsh. z. B. / Trendelenburg, Die / Kategorien des Aristo- / teles.«
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Zeichen, das allein durch Differenzen bestimmt ist. Allerdings expliziert Cassirer diese Annahme nicht und noch weniger bedient er sich des strukturalistischen Vokabulars, auf das hier zurückgegriffen wurde. Eine zweite, sprachtheoretische Ebene betrifft die unterschiedlichen Möglichkeiten des ›Ausdrucks von Beziehungen‹ durch die Gebärden- oder Lautsprache. Cassirer legt die Behauptung nahe, dass wegen der Begründung der Gebärde in der Ähnlichkeit zum Bezeichneten alle gebärdensprachlichen Ausdrücke in eine unverbundene Folge von gegenständlichen Vorstellungen zerfallen, deren Beziehungen untereinander und deren innere Einheit in keiner Weise markiert werden. Dadurch dass der Laut auf der Ebene der Zeichen nicht auf Ähnlichkeiten beruht, scheint er dagegen in der Lage zu sein, grammatische Kategorien oder syntaktische Beziehungen zum Ausdruck zu bringen und also hörbar werden zu lassen: »Der Laut, der sich von dieser ›Unmittelbarkeit‹ über- / haupt befreit hat, aber kann nun in seiner / Differenzierung auch eine ganz andere Stufe / und Schicht rein mittelbarer Beziehungen / ausdrücken.«205 Cassirer scheint demnach der Ansicht, dass der sprachtheoretische Befund über die Fähigkeit, Beziehungen zum Ausdruck bringen zu können, als Konsequenz aus der zeichentheoretischen Unterscheidung von Gebärde und Laut zu begreifen ist. Diese Argumentation ist jedoch voraussetzungsvoller, als Cassirer in seiner Arbeitsnotiz, aber auch noch im ersten Band der Philosophie der symbo lischen Formen explizit macht.206 Die zeichentheoretische Unterscheidung 205 Blatt 2, 7. Ähnlich formuliert Manuskript 1919, 46: »Indem das Zeichen hier [in der Lautsprache, A. S.] auf jede mimische Übereinstimmung, auf jede sinnlich fassbare Gleichheit mit dem Bezeichneten verzichtet, wird es damit erst für die Erfassung und Bestimmung der verschiedenartigsten Verhältnisse – der anschaulichen sowohl wie der unanschaulichen – frei.« 206 »Wenn die Gebärde in ihrer plastisch-nachbildenden Art sich dem Charakter der ›Dinge‹ besser als das gleichsam körperlose Element des Lautes anzupassen scheint, so gewinnt der Laut gerade dadurch, daß in ihm diese Beziehung abgebrochen ist, daß er als ein bloßes Werden das Sein der Objekte nicht mehr unmittelbar wiederzugeben vermag, seine innere Freiheit. Nach der objektiven Seite hin wird er jetzt fähig, nicht nur als Ausdruck inhaltlicher Qualitäten, sondern vor allem als Ausdruck von Beziehungen und formalen Verhältnisbestimmungen zu dienen; nach der subjektiven Seite hin prägt sich in ihm die Dynamik des Gefühls und die Dynamik des Denkens aus.« (ECW 11, 131) Dieses Zitat scheint – wie die ganze Passage – gespickt mit Anleihen aus Humboldts Sprachphilosophie. In Cassirers »gleichsam körperlosen Element des Lautes« klingt so Humboldts These an, dass der Laut »nur so viel Körper enthält, als die äussere Wahrnehmung nicht zu entbehren vermag«, vgl. Wilhelm von Humboldt, »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts«, in: Wilhelm von Humboldts Werke, hg. von Albert Leitzmann, siebenter Band, erste Hälfte: Einleitung zum Kawiwerk, Berlin 1907 (= Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissen-
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von Laut und Gebärde scheint ebenso fragwürdig wie ihre vermeintliche Konsequenz für die Fähigkeit von Laut- und Gebärdensprache, nicht nur gegenständliche Vorstellungen, sondern auch die sie bestimmenden Beziehungen zum Ausdruck zu bringen. Darüber hinaus kann die Philosophie in beiderlei Hinsicht in der Sache nicht allein entscheiden, sondern muss sie die relevanten sprachwissenschaftlichen Forschungen zur Kenntnis nehmen. Ich möchte zuerst Cassirers zeichentheoretische Unterscheidung von Gebärde und Laut und anschließend ihre vermeintlichen sprachtheoretischen Konsequenzen problematisieren. Die Behauptung, dass Gebärden durch Ähnlichkeit zum Bezeichneten definiert sind, dürfte sich als hochgradig fragwürdig erweisen, wenn tatsächlich von einer Gebärdensprache ausgegangen wird, da eine solche – wie bereits Wundt trotz seiner Annahme einer ›ursprünglichen‹ Ähnlichkeit der Gebärde betont – hochgradig konventionellen Charakters ist. 207 Es kommt hinzu, dass Cassirer selbst im Falle der ›nachahmenden‹ oder ›nachbildenden Geste‹ auf Blatt 1 hervorgehoben hatte, dass es sich hier nicht um eine unmittelbare Abbildung, sondern um eine aktive Nachbildung handelt. Im Vergleich von Gebärde und Laut betrachtet Cassirer die ›Nachahmung‹ oder ›Nachbildung‹ dagegen durchgängig als Einfallstor der Ähnlichkeit, statt das genuine Potential, das in der ›darstellenden Gebärde‹ angelegt ist, herauszuarbeiten. Es wäre in dieser Hinsicht notwendig, sich genauer mit den Charakteristika der Gebärde auseinanderzusetzen. Nicht minder einseitig scheint die Annahme, dass Laute per se mit Ähnlichkeit nichts zu tun haben oder sich doch zumindest von ihr lösen. Zeichentheoretisch ist es heutzutage zwar geradezu state of the art, dass Laute wie Zeichen im Allgemeinen differentiell definiert sind. Angesichts des Umstands, dass Cassirer dieses Argument nicht für die Gebärde gelten lässt, scheint es aber durchaus fragwürdig, ob es für den Laut ohne weiteres vorauszusetzen ist. Zudem dringt auch Cassirers Annahme, dass der Laut nichts mit Ähnlichkeit zu tun habe, in das Gebiet der Sprachwissenschaften vor, so dass sie mit Bezug auf die Phänomene der Onomatopoiie oder Lautmalerei auszuweisen wäre. Cassirers Behauptung auf Blatt 2, dass die Theorien der Entstehung der Sprache aus der Onomatopoiie zum Scheitern verurteilt seien, wird zwar wenig Widerspruch erregen. 208 Seine zugleich schaften, Band VII, Erste Abteilung: Werke VII, Erste Hälfte), 1 – 3 44, hier 66. Im Folgenden zitiert als Humboldt, GS VII, 1. 207 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 155. 208 »Schon an diesem Umstand scheitern alle Ver- / suche, die Sprache aus Lautnachahmung im / gewöhnlichen Sinne, aus Onomatopoiie ab- / zuleiten – / Sprache ist vielmehr schon in ihren Uranfängen / eben gerade Überwindung der Onomatopoiie – /
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formulierte These, dass alle onomatopoietischen Elemente letztlich nur als aufzulösende Restbestände der Ähnlichkeit gelten können, erfordert dagegen wiederum einen empirischen Nachweis. Da es sich nicht um eine allein philosophische oder begriffliche, sondern auch empirische Frage handelt, versucht sich Cassirer auf Wundts Materialien zu stützen und notiert am Rand von Blatt 2: »Gegen die Nach- / ahmungstheorien / vgl. z. B. Wundt / a. a. O. II, am Schluss«209. Dieser Verweis zeugt aber nicht unbedingt von einer sorgfältigen Lektüre, da Wundt die vielfältigen Phänomene recht differenziert erörtert und für eine solche eindeutige Entscheidung der Sache kaum in Anspruch zu nehmen ist.210 Insbesondere wäre mit Wundt zu unterscheiden zwischen der These eines Ursprungs der Sprache in der Nachahmung von Lauten und einer rein deskriptiven Analyse onomatopoietischer Elemente der Sprache. Eine solche Analyse ist durchaus von sprachwissenschaftlichem Interesse und muss sich unvoreingenommen auf die Strukturen der jeweiligen Sprache einlassen. In diesem Fall steigt Cassirer in die ebenso alte wie verzweigte Diskussion ein und führt seine Recherchen auch in den folgenden Jahren weiter.211 Seine Position scheint sich aber kaum verändert zu haben, denn Cassirer wendet sich so durchgängig wie entschieden gegen die Onomatopoiie. Im Manuskript von 1919 stellt er so, nachdem er die These eines Ursprungs der Sprache in der Lautnachahmung verworfen hat, unumwunden fest: »Die sinnliche Nähe zum Eindruck, wie die onomatopoetischen Bildungen sie zeigen, muss überwunden werden, wenn die Sprache sich zum geistigen Ausdruck bilden soll. Erst in dieser Distanz vom sinnlich-Unmittelbaren stellt sich die selbständige Eigenart der Form heraus.«212 Diese Aussage beschränkt sich nicht auf den Rahmen der Sprachursprungsdiskussion, sondern charakterisiert Cassirers Sicht auf die Entfaltung des symbolischen Potentials Überwindung der Klangähnlichkeit durch eine / ganz andere Form der Entsprechung.« (Blatt 2, 4) 209 Blatt 2, 4. 210 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 317 – 359, bes. 354 – 359, sowie, worauf sich Cassirer wohl bezieht, Wundt, Völkerpsychologie, I, 2, 614 – 6 47, bes. 619 – 622 und 636 – 638. Ich verzichte hier darauf, Wundts Position zu rekonstruieren, da auch in dieser Hinsicht nicht nur erneut auf seine Auffassung von Gebärden- und Lautsprache, sondern auch auf seine Kritik an der Sprachursprungstheorie einzugehen wäre. 211 Vgl. Blatt 20, 47, 48, 65 und 177. Diese Blätter wurden vermutlich nach 1919 in einen Zusammenhang neuer Notizen zur Onomatopoiie eingeordnet. Sie tragen alle dieses, oft hinzugefügte Stichwort und wurden von 1 bis 12, teils also ein zweites Mal, nummeriert, vgl. die Blätter in GEN MSS 98, Box 23, Folder 435. 212 Manuskript 1919, 65 f., vgl. die ganze Passage ebd., 61 – 67. Cassirer handelt unter den Theorien der Entstehung der Sprache aus der Onomatopoiie nicht nur die Lautnachahmung, sondern auch die »Ableitung der Sprache aus dem Gefühlslaut« (ebd., 70) ab.
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der Sprache: Vermeintlich direkte, onomatopoietische Bezüge auf lautliche Phänomene sind als Widerstand zu begreifen, an dem sich das Symbolische abarbeitet und gegen den es seine Autonomie etablieren muss. Das zweite Kapitel des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen belegt, wie Cassirer die onomatopoietischen Elemente der Lautsprache in eine solche Perspektive der Entfaltung der Autonomie der Sprache einrückt. Denn die Diskussion der Onomatopoiie führt dort nicht zu einer Entscheidung der sprachwissenschaftlichen Frage. Sie mündet vielmehr in die Einführung der den Aufbau des Buchs durchziehenden »Stufenfolge« des »mimischen, des analogischen und des eigentlich symbolischen Ausdrucks«, die der Genese des Symbolischen ein spezifisches Telos einschreibt.213 Die Verknüpfung von Cassirers philosophischer Reflexion mit der empirischen Sprachforschung scheint im Feld der Onomatopoiie somit eine eher einseitige, philosophische Auflösung zu erfahren. Cassirer nimmt die empirischen Befunde zunächst zwar insoweit auf, als sie ältere spekulative Theorien des Ursprungs der Sprache in der Lautnachahmung zu verwerfen helfen. Aus dem Befund, dass es keine empirischen Belege für die tatsächliche Auflösung der Onomatopoiie gibt, schließt er jedoch nicht, dass die Onomatopoiie als sprachliches Phänomen ernst zu nehmen ist und ihre Beschreibung eine sprachwissenschaftliche Herausforderung darstellt. Stattdessen gibt er die empirisch sprachdeskriptive Frage auf und beharrt auf seiner philosophischen Perspektive der Entfaltung des symbolischen Potentials der Sprache. Daher begreift er alle onomatopoietischen Elemente als aufzulösenden, aber wohl auch notwendigen Widerstand gegenüber der Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit und führt das entsprechende Schema von mimisch, analogisch und symbolisch ein, das ihm nicht zuletzt hilft, die empirischen Befunde zu ordnen. Wie sich dieses Ordnungsschema und das in ihm artikulierte Telos des Symbolischen jedoch zur Sprachforschung und ihren empirischen Befunden verhält, das bleibt allem Anschein nach eine offene Frage. 214 Vgl. ECW 11, 133 – 146, und das Zitat ebd., 137. Cassirer erklärt sich zu dieser Frage nur in knappen Andeutungen, am deutlichsten vielleicht in ECW 11, 270, wo er ein strukturelles statt historisches Verständnis solcher Ordnungen vorschlägt: »Man kann versuchen, diese Gesichtspunkte [»nach denen die Sprache in ihren Klassifikationen und Zuordnungen verfährt«, A. S.] derart zu ordnen, daß man dabei jenen ständigen Fortgang vom ›Konkreten‹ zum ›Abstrakten‹, der die Richtung der Sprachentwicklung überhaupt bestimmt, als leitendes Prinzip benutzt: wobei man sich freilich gegenwärtig halten muß, daß es sich hier nicht um eine zeitliche, sondern um eine methodische Schichtung handelt und daß demnach in einer gegebenen historischen Gestalt der Sprache die Schichten, die wir hier gedanklich zu sondern versuchen, neben- und miteinander bestehen und sich in der mannigfachsten Weise übereinander lagern können.« 213 214
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Cassirers Argumentation für den ›Vorzug‹ des Lauts erweist sich somit bereits in seiner zeichentheoretischen Voraussetzung als brüchig. Dennoch möchte ich nochmals auf die Konsequenz zu sprechen kommen, die er aus dieser Voraussetzung zieht, dass nämlich allein die Lautsprache dazu in der Lage ist, nicht nur gegenständliche Vorstellungen, sondern auch die sie bestimmenden sprachlichen Beziehungen zum Ausdruck zu bringen. Denn dieser Schluss beruht auf weiteren, impliziten Voraussetzungen, die Cassirer wesentlich aus der Sprachforschung bezieht. Aus der zeichentheoretischen Annahme, dass die Laute unabhängig von aller Ähnlichkeit rein differentiell definiert sind, folgt zunächst nicht mehr, als dass die syntaktischen Beziehungen und grammatischen Kategorien zum Ausdruck gebracht werden können durch Laute, die selbst keine eigenständige, gegenständliche Bedeutung aufweisen: Sie bedeuten nichts in der Welt und können deshalb in die Bildung von Worten und Sätzen eingehen, um die ihnen inhärenten sprachlichen Beziehungen auszudrücken. Schon die einfache Überlegung, dass eine Lautsprache jedoch ebenso verfahren könnte wie eine Gebärdensprache nach Cassirers Beschreibung, um lediglich die gegenständlichen Vorstellungen von »Ding, Ding, Ding, / oder Ding, sichtbareThätigkeit, Ding, sichtbare Eigensch., / Thätigkeit etc.«215 aneinanderzureihen, macht jedoch deutlich, dass allein aus der differentiellen Definition der Laute nicht folgt, dass die Laute auch tatsächlich die syntaktischen und grammatischen Beziehungen ausdrücken, auf die es Cassirer ankommt.216 Es muss zur notwendigen Bedingung somit eine sprachtheoretische Voraussetzung betreffs des Aufbaus spezifischer Sprachen hinzukommen, damit Cassirers Argumentation an Plausibilität gewinnt. Sie setzt nämlich das Modell der flektierenden Sprachen voraus, in denen tatsächlich einzelne lautliche Bestandteile der Worte die syntaktische Gliederung und grammatischen Unterscheidungen markieren. Diese These bestätigt sich bereits auf Blatt 2, wo Cassirer ausführt: »Die ›Artikulation‹ gelangt jetzt zur höheren / logischen Stufe: zur Gliederung nach gramma- / tischen Kategorien, die zugleich auf logische / Grundkategorien zurückgehen. / Flexion und Flexionszeichen / Kennzeichen der Wortklassen als Ausdruck logischer / Verhältnisse (Hauptwort, Eigenschaftswort)«.217 Es ist somit der konkrete Sprachtypus der Flexion, in dem im Laut die Beziehungen zum sprachlichen Ausdruck kommen, durch die die gegenständlichen Vorstellungen bestimmt sind. Blatt 2, 6. So auch Manuskript 1919, 49: »Die lautliche ›Artikulation‹ bildet die erste Bedingung und Grundlage für alle höheren und weiter greifenden sprachlichen Gliederungen, wie sie sich z. B. im syntaktischen Bau des Satzes darstellen.« 217 Blatt 2, 6. 215
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Cassirers Argumentation für den Vorzug der Laut- gegenüber der Gebärdensprache und seinem Verständnis des Lauts als »erster physischer Bedingung der ›Reflexion‹!«218 liegt folglich ein spezifischer Sprachtypus zu Grunde. Genauer setzen sie die Deutung der Flexion voraus, die Wilhelm von Humboldt ausgearbeitet hatte. Die Humboldt’sche Sprachforschung ist es, auf die Cassirer die seine Sprachauffassung prägende Annahme stützt, dass die »Ablösung« von der Ähnlichkeit mit der »Überwindung des Materialen / durch die Form« einhergeht und dadurch im Laut und nicht in der Gebärde eine ›Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹ möglich wird.219 Der Laut wird so zu einem doppelgesichtigen Wesen, zu einer Figur zwischen philosophischer Reflexion und empirischer Sprachforschung. Bereits bei Humboldt gehen in das Modell der Flexion allerdings ebenso empirische Analysen des Sprachbaus spezifischer Sprachen wie problematische Spekulationen über die Rangordnung und historische Entwicklung von Sprachen ein. Cassirer wird in der Konsequenz nicht umhin kommen, sich mit der sprachwissenschaftlichen Kritik am Humboldtschen Erbe auseinanderzusetzen. Cassirers Rezeption von Humboldts Sprachforschung: Ein kurzer Überblick Im Folgenden kann und soll die Frage nach der Rolle Humboldts in der Genese von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen nicht in aller Allgemeinheit diskutiert werden. Bevor der folgende Abschnitt sich wieder der Flexion zuwendet und in die sprachwissenschaftliche Debatte einsteigt, muss jedoch Cassirers vielschichtige und folgenreiche Rezeption von Humboldt kurz überblickt werden. Die Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« von 1917 und 1918 dokumentieren eine eingehende Lektüre des berühmten Humboldt’schen Textes »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts«, den Cassirer wie üblich meist schlicht »Einleitung ins Kawiwerk« nennt.220 Er erarbeitet sich diesen Text, der in seinen Schriften Blatt 2, 3. Die Stelle lautet vollständig: »Weil jetzt eine Ähnlichkeit, wie sie im bestimmten / Grade noch in der Gebärde besteht, im allgemeinen / physisch gar nicht mehr möglich ist – da / der Laut sich zu ihr gar nicht mehr hergiebt – / so nimmt jetzt auch die ›Ab lösung‹ / immer weiter zu – Überwindung des Materialen / durch die Form« (Blatt 2, 4). 220 Ich zitiere den Text, wie bereits angeführt, nach der Akademie-Ausgabe der Ge sammelten Schriften Wilhelm von Humboldts unter dem Kürzel Humboldt, GS VII, 1. Vgl. zur Einführung in den Text Donatella Di Cesare, »Einleitung«, in: Wilhelm von 218 219
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zuvor nicht erwähnt wird, wahrscheinlich erstmals im Zusammenhang seiner Recherche zur Sprachforschung. Im Manuskript von 1919 stützt er sich dann ebenso prominent auf Humboldts »Einleitung« wie im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen.221 Cassirer selbst weist zudem im Vorwort zum zweiten Band auf Humboldts grundlegende Bedeutung für seine Überlegungen zur Sprache als symbolischer Form hin.222 Diese Bedeutung ist daher bekannt, allerdings hat sich die Diskussion bislang meist auf einige prominente, geradezu topische Verweise Cassirers auf Begrifflichkeiten Humboldts konzentriert, ohne ihnen genauer nachzugehen.223 Die Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« erlauben nun genauere Einblicke in die Bedeutung von Humboldts Sprachforschung für die Genese von Cassirers Symbolphilosophie. Sie bestätigen zunächst ganz allgemein die zentrale Rolle Humboldts, wobei allein das Studium der »Einleitung ins Kawiwerk« Spuren hinterlassen hat und es keine Anzeichen für eine darüber hinausgehende Lektüre von Humboldts Schriften gibt. Cassirers Aufzeichnungen erweisen es aber zudem als notwendig, die Bedeutung Humboldts in mehrere Hinsichten aufzufächern. Eine erste wichtige und bekannte Hinsicht ist Humboldts Rolle in der Fortentwicklung der kantischen Philosophie. Auf Blatt 24 kommt Humboldt wie in dem Aufsatz »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« von 1923 das Verdienst zu, der kantischen Philosophie das Feld der Sprache erschlossen zu haben, indem er sich ihres methodischen Ansatzes bediente, Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, hg. v. Donatella Di Cesare, Paderborn u.a. 1998, 11 – 131. 221 Vgl. die Passagen mit expliziten Verweisen auf Humboldts »Einleitung« im Manuskript 1919, 39 – 4 3, 50 – 52, 75 – 7 7, 113 f., 116 f., 151 – 163 und 185 f., sowie für die Philosophie der symbolischen Formen das Schriftenregister in ECW 11 und die dort aufgeführten Stellen. In den Veröffentlichungen wird der Text meines Wissens erstmals in »Goethe und die mathematische Physik« von 1921 erwähnt, vgl. ECW 9, 268 – 315, hier 302 f. Diese Edition folgt der zweiten Auflage von 1924, die Stelle ist aber auch in der ersten Auflage enthalten. 222 ECW 12, XV: »Wenn für die Sprache die systematische Betrachtung, wo nicht inhaltlich, so doch methodisch, überall an die grundlegenden Untersuchungen Wilhelm v. Humboldts anknüpfen konnte – so fehlte im Gebiet des mythischen Denkens jeder derartige methodische ›Leitfaden‹.« 223 Vgl. exemplarisch Heinz Paetzold, »Sprache als symbolische Form. Zur Sprachphilosophie Ernst Cassirers«, in: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981), 301 – 315, hier 306 – 311, der viele der im Folgenden diskutierten Punkte bereits anspricht. Keinerlei Aufschlüsse zu Humboldts Rolle in Cassirers Philosophie der Sprache lassen sich P. Caussat, »Entre Humboldt et le structuralisme: La philosophie du langage d’Ernst Cassirer«, in: Ernst Cassirer. De Marbourg à New York. L’itinéraire philosophique, hg. von Jean Seidengart, Paris 1990, 233 – 248, entnehmen.
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um die eigene Sprachphilosophie zu begründen.224 Humboldt »vollzog«, so Cassirer, »in der Sprachphilosophie die / ›Kopernikanische Drehung‹, die der Kantischen / ›Revolut. der Denkart‹ entsprach«: »Er ging nicht mehr vom ›Bezeichneten‹ u. seiner / Ähnlichkeit mit dem ›Zeichen‹ aus, sondern von / der Energie und der Weise des Bezeichnens selbst.«225 Es wäre in dieser Hinsicht durchaus möglich, dass Humboldt einen weiteren Anstoß für Cassirers Erweiterung und Vertiefung seiner eigenen Philosophie darstellte. Bereits in Freiheit und Form hatte Cassirer nämlich Humboldt behandelt, allerdings ausschließlich mit Blick auf den Staatsbegriff. Bei der vorangehenden Recherche dürfte er aber auch dessen Sprachphilosophie zumindest in Ansätzen kennen gelernt haben. 226 Die in der vorliegenden Studie betrachteten Aufzeichnungen liefern für diese These allerdings keine weiteren Evidenzen. Aus dieser ersten Hinsicht ergibt sich für Cassirer die außerordentlich produktive Konsequenz, dass die kantische Synthese des gegebenen Mannigfaltigen zu Gegenständen der Erfahrung zuallererst als eine Leistung der sprachlichen Bildung der Vorstellungen zu begreifen ist. Die Sprache behandelt Cassirer so auf Blatt 24 im Hinblick auf die »Bildung der Vorstellungs- / welt« und den »Übergang vom blossen sinnl. ›Eindruck‹ / zur gegliederten ›Vorstellung‹«227, also an Stelle der transzendentalen Logik Kants, in deren Perspektive Cassirer seit seinen erkenntniskritischen Schriften die mathematische Logik und die Leistung des wissenschaftlichen Be224 Vgl. Ernst Cassirer, »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie«, in: ECW 16, 105 – 133, vgl. zum Folgenden bes. ebd., 109 – 111 und 120 – 133. Auch in Manskript 1919, 76, präsentiert Cassirer Humboldt als »Schüler Kants, dessen wesentlichen kritischen Gesichtspunkt, dessen ›Copernikanische Drehung‹ er als erster mit vollem methodischen Bewusstsein in der Begründung der Sprachphilosophie zur Durchführung bringt«. Vgl. die ganze Passage ebd., 75 – 79. 225 Blatt 24, 1. 226 So zitiert Cassirer in ECW 7, 290 – 292, z. B. Humboldts Brief an Schiller vom September 1800, der nach dem Urteil von Di Cesare, »Einleitung«, 38, »in gewisser Hinsicht die Geburtsurkunde der Humboldtschen Sprachphilosophie darstellt«. Der Brief findet sich in: Friedrich Clemens Ebrard (Hg.), Neue Briefe Wilhelm von Humboldts an Schiller 1796 – 1803, Berlin 1911, 257 – 291, wobei Cassirer Passagen von den Seiten 273, 279 und 280 mittels Auslassungszeichen zusammenzieht und zu einer Charakteristik von Goethes und Schillers Schaffen verschmilzt. Vgl. die sprachphilosophisch zentralen Ausführungen ebd., 283 – 290. 227 Im Zusammenhang zitiert: »Wie im Logischen die ›Begriffe‹ nicht Bilder / vom Gegenstande, sondern ›Bedingungen der / Möglichkeit des Gegenstandes‹ – so fragen wir hier nicht: / was leistet die Sprache als Abdruck einer / schon vorhandenen Vorstellungswelt – / sondern inwiefern ist sie Vehikel und Bedingung zur Bildung der Vorstellungs- / welt / zum Übergang vom blossen sinnl. ›Eindruck‹ / zur gegliederten ›Vorstellung‹ / Dies ist für uns das Problem!« (Blatt 24, 2)
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griffs gerückt hatte. In dieser Hinsicht schließt er nun an Humboldt an, wenn er das kantische Urteil sich im Satz realisieren lässt und die Funktion des Reihenbegriffs, die bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff für die Strukturierung der sinnlichen Wahrnehmung verantwortlich sein sollte, zuallererst in der Sprache verortet: »Begriffsbildung durch / Reihenbildung / Vorläuf. Reihenbildung durch das ›Wort‹ der / Sprache / als erster Ansatz zur begriffl. Gliederung des Anschauungsganzen. / Im ›Zeichen‹ der Sprache wird erst diese Analyse und Synthese erreicht!«228 Diese sprachliche Prägung unserer Vorstellungswelt charakterisiert Cassirer gelegentlich mit Humboldt als die ›innere Form‹ der Sprache, allerdings wird die systematische Bedeutung dieses Begriffs bei Humboldt wie bei Cassirer, der seine Unklarheit moniert, wohl oft überschätzt.229 Entscheidend ist, dass Cassirer eine sprachliche Strukturierung der psychischen Prozesse der Wahrnehmung ins Auge fasst, die auf Blatt 24 von Humboldt aus entfaltet und von dem dort genannten Blatt 33 weiter entwickelt wird.230 Im ersten Band der Philoso phie der symbolischen Formen stehen dagegen in erster Linie die vielfältigen Strukturen der verschiedenen Sprachen im Zentrum, die komplementäre psychologische Seite dieser Vorstellungsbildung wird in der notwendigen Detailliertheit und Komplexität erst im dritten Band ausgeführt.231 Blatt 24, 4. In »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« heißt es dann prägnant: »Die Objektivierung in Gedanken muß durch die Objektivierung im Sprachlaut hindurchgehen.« (ECW 16, 121) Vgl. zu Satz und Urteil ebd., 121 – 123, und ECW 11, 293 ff. 229 Blatt 24, 1 f.: »Hier kommen wir zum Begriff der ›inneren / Sprachform‹, um dessen Feststellung Humboldt / sich bemüht. / Bei ihm selbst dieser Begriff nicht ganz / eindeutig bestimmt. – « Auch in ECW 11, 255, hebt Cassirer die Unklarheit des Begriffs hervor. Dennoch benutzt er den Begriff gelegentlich, vgl. exemplarisch Manuskript 1919, 52 und 113, ECW 11, 2 und 10, oder auch ECW 12, 15. Vgl. zum »schwer zu erklärenden Phänomen« der »Zentralstellung der ›inneren Sprachform‹ in der HumboldtForschung« Di Cesare, »Einleitung«, 85 – 89. Es steht zu vermuten, dass dieser Begriff Humboldts – wie viele andere – einflussreich durch Heyman Steinthal überliefert und auf diesem Wege auch von Cassirer wahrgenommen wurde. Auf Blatt 24 bezieht sich Cassirer wiederholt und, abgesehen vom anfänglichen Verweis auf Humboldt, ausschließlich auf Steinthals Schrift Der Ursprung der Sprache im Zusammenhange mit den letzten Fragen alles Wissens in der vierten Auflage von 1888, vgl. dort die Darstellung Humboldts auf den Seiten 58 – 81, allerdings ohne Nennung der inneren Form. Auf Blatt 20, 3, erwähnt Cassirer die innere Form mit Bezug auf Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, Berlin 1871, 431. Vgl. zur inneren Sprachform als Objektivierung des Mensch-Welt-Bezugs bei Steinthal auch Hartung, Sprach-Kritik, 37, und bei Lazarus verknüpft mit dem Moment der Emanzipation ebd., 65 – 67. 230 Vgl. zur sprachlichen »Gestaltung der Eindrücke zu Vorstellungen« auch ECW 11, 147 und 251 f. 231 Vgl. mit Bezug auf den dritten Band zur Philosophie der symbolischen Formen Schwemmer, Cassirer, 50 – 57 und 69 – 125. 228
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Eine zweite wichtige Verknüpfung von Cassirers symbolphilosophischem Projekt und seiner Rezeption von Humboldts Sprachforschung ist nicht minder grundlegend. Wie Blatt 24 geht auch Blatt 23 von Humboldt aus, um eine eher eigenständige Überlegung zu entfalten, die sich in diesem Falle auf die Rolle der Lautlichkeit der Sprache für das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität bezieht.232 Anhand der berühmten Passage aus der »Einleitung ins Kawiwerk«, die Cassirer auf der ersten Seite von Blatt 23 wie in der Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbo lischen Formen zitiert, 233 entwickelt Cassirer den Gedanken, dass es gerade die Erfahrung der lautlichen Äußerung ist, die als Anlass dazu dienen kann, das Gegebene allgemein als Gegenstand der eigenen, aktiven Bestimmung zu konzipieren. Denn ich erfahre meine Äußerung in der Objektivität eines Lauts, die mir zum einen als ein Fremdes und – wie im Mythos – als ein Beherrschendes gegenübertreten kann.234 Sie lässt sich aber zum anderen auch in ihrer objektiven Bestimmung auf meine eigene Aktivität zurückbeziehen und kann daher zum Anhaltspunkt der Einsicht in die Bestimmung der Welt durch die symbolisierende Tätigkeit werden.235 Die Äußerung und das 232 Bei Cassirer wird der von Humboldt mit der Lautlichkeit verknüpfte dialogische Charakter der Sprach- und Vorstellungsbildung in den Aufzeichnungen von 1917 und 1918 zwar mitunter genannt, vgl. exemplarisch Blatt 24, 4, steht aber kaum im Zentrum, vgl. mit Bezug auf Humboldt Di Cesare, »Einleitung«, 41 – 4 6. 233 Vgl. Humboldt, GS VII, 1, 53, und Blatt 23, 1, sowie ECW 11, 23. Auf Blatt 23, 2, bezieht Cassirer sich mit Blick auf Humboldts Gedanken, dass die Sprache »auch die Selbst- / tätigkeit des Menschen mit seiner Empfäng- / lichkeit« zusammenknüpfe, auch auf »Steinthal, Urspr. d. Spr., 4 S. 69 ff«. 234 Im Mythos unterwirft sich die schöpferische Tätigkeit gleichsam ihrer Äußerung, indem sie ihr Macht über sich selbst zuschreibt, vgl. Blatt 23, 3 f. Auf Blatt 34, 2, heißt es: »Der tiefere Grund ist überall der, den Humb. / für die Sprache darlegt: das Geäusserte gehört ganz der Sphäre der Erregung, des / Subjektiven an; aber es verharrt nicht in / dieser Sphäre – es ist als Geäussertes bereits / ein Äusseres geworden, dem wir gegenüberstehen,– / ein zugleich Spontanes u Rezeptives – / ein Gewirktes u. ein Werk, das unsere / freie Subjekt. bindet / So geht die Sprache von der blossen Interjektion / zur Ich u. Objekt anschauung / – das Subjekt wird zur Substanz / das Bewusstsein der Thätigkeit wandelt sich / in das Weltbewusstsein – die Produktivität / in die Anschauung des Produkts.« Anschließend folgt das Beispiel des Mythos. 235 Blatt 17, 2 f.: »Allmählich tritt der Mythos und die materielle / Kraft des Zeichens zurück – dann aber bewährt / sich um so mehr die ideelle – / es wird mittelbar beherrschend durch Gestaltung / unserer Vorstellung – / Durch diese ›Gestaltung‹, die wir im Zeichen / erreichen, greifen wir dann wieder in die / Wirklichkeit ein / (Mathematische Zeichen (rein ideell); mathemat. Physik, Technik!) / So bewährt sich auf höherer Stufe die Aktivität / des Zeichens – / am Zeichen entdecken wir sie – durch Ver- / mittlung des Zeichens können wir sie bis ins / höchste Geistige hinein allein bewähren. – / Wir reissen uns durch das ›Symbol‹ vom / unmittelbaren Zwang der ›Dinge‹ los, werden / ›frei‹ – aber dadurch ordnen wir uns / jetzt die ›Dingwelt‹ unter, beherrschen sie«.
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Zeichen erscheinen so als »Anfang jeder Idealisierung«236 und der ›Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹.237 Auf Blatt 18 »Momente des symbolischen Ausdrucks« stellt Cassirer daher unmissverständlich fest, dass »das Zeichen auch der erste notwendige / Durchgangspunkt jeglicher ›Reflexion‹ [ist, A. S.] (vgl. Bl. 1) /: des Bewusstseins nicht nur von den / Eindrücken, sondern über sie; Beginn der Aktivität u. Spontaneität, der geistigen / Selbstbefreiung«.238 Auf dieser sprachphilosophischen Ebene ließen sich weitere wichtige Anleihen Cassirers nennen. Es wäre die in der Literatur viel beachtete Losung von der Sprache als ›Energeia‹ statt als ›Ergon‹ zu diskutieren, die sich bei Humboldt findet und von Cassirer häufig und geradezu topisch aufgerufen wird. Ebenso wäre auf die Unterscheidung der Verhältnisse des bezeichnenden Lauts zum Bezeichneten als mimisch, analogisch oder symbolisch im engeren Sinne einzugehen, die wiederum in Humboldts »Einleitung ins Kawiwerk« zu finden ist und wohl als Vorbild für die gleichlautende und bereits erwähnte Unterscheidung aus der Philosophie der symbolischen Formen gelten muss.239 In der Übernahme dieser Differenzierung kommt letztlich zum Ausdruck, dass Cassirer ebenso wenig wie Humboldt davon 236 Im Zusammenhang zitiert: »Das Zeichen als Anfang jeder Idealisierung, des / Sich-Losreissens von der momentanen ›Wirklichkeit‹ / zur ›Bedeutung‹ – alles Zeichen ist in diesem Sinne / von der Erdenschwere gelöst, ist Form und / ›Spiel‹, ein blosses ›Bild‹ des Lebens, in dem / wir uns von ihm entfernen, um es wieder an / uns zu ziehen – « (Blatt 17, 3 f.). Direkt im Anschluss bezieht sich Cassirer auf Schillers Ästhetik und ihre Bedeutung für die Bestimmung des »Symbolischen überhaupt«. 237 Auf Blatt 62, 2, führt Cassirer mit Bezug auf »die Welt der Sprachlaute, / die Welt der künstlerischen Gestalten, des / Mythos u.s.f.« aus: »Hier ist ein rein sinnlich-Mannigfaltiges / (die Laute der Sprache, die Gestalten der bild. / Kunst), das doch von uns ›verfertigt‹, aufgebaut, / das, wie in der Sprache, ganz mit den reinen / Beziehungen des Denkens, oder wie in der Kunst / mit der reinen Subjektivität des Gefühls / durchdrungen ist; also ein Sinnliches, das der / Aktivität des Geistes nicht mehr als blosser / Stoff gegenübersteht, sondern sie selbst ›abspiegelt‹ / u. symbolisch zum Ausdruck bringt. / Die Laut-Mannigfaltigkeit ist ja von uns / nicht empfangen, wie die objektiven Geräusche, sondern sie ist durch uns nach bestimmten / Abstufungen, nach Kategorien u. Nuancen des / Denkens (vgl. Sprache, Lautsystem) erzeugt.« 238 Blatt 18, 7. 239 Dieser Anschluss lässt sich Schritt für Schritt nachverfolgen. Cassirer hält Humboldts Unterscheidung zum »Zusammenhang zwischen dem Laute und dessen Bedeutung« (Humboldt, GS VII, 1, 76) zunächst auf Blatt 56, 1, fest: »3 facher Gebrauch des Lautes von H. unterschieden / a) unmittelbar nachahmend (onomatopoet.) [S. 76 ff.] / b) symbolische Lautbeziehung (nach Gefühlsqualität) / stehen, stätig, starr – Eindruck des Festen / symbolische Lautbez. [Hinzufügung ausgelassen, A. S.] / c) Lautähnlichk. nach Verwandtschaft der / Begriffe (analogische Bedeutung des Lautes) / Abwandlung der Begriffe vermöge der Lautvariation«. In Manuskript 1919, 38 – 43, beruft sich Cassirer sodann explizit auf Humboldts Unterscheidung von analogischer und symbolischer Be-
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ausgeht, dass die Beziehung der Sprache zur Welt auf der Arbitrarität des Zeichens beruht. Vielmehr entwickelt diese sich in Wechselwirkung mit der sprachlichen Bestimmung der Welt graduell, was weiter oben bereits in der Diskussion um die Überwindung der onomatopoietischen Elemente der Sprache gestreift wurde, in der sich Cassirer ebenfalls auf Humboldt bezieht.240 In diesem Fall wäre – wie stets – danach zu fragen, wie Cassirer anschließt, indem er Humboldts Begriffe und Argumente verschiebt und sie sich in anderem Kontext anverwandelt. Dies ist umso mehr erforderlich, als Blatt 23 und 24 belegen, dass Cassirers Lektüre von Humboldt durch Steinthals Schriften beeinflusst ist, die das Bild Humboldts nachhaltig geprägt hatten. 241 Cassirers Rekurse evozieren eine Nähe zwischen seinem eigenen Denken und der Humboldt’schen Sprachphilosophie, die einer genaueren und kritischen Analyse bedürfte. Humboldts Sprachforschung hat schließlich in einer dritten Hinsicht eine grundlegende Bedeutung für Cassirers Symbolphilosophie. Cassirer liest allem Anschein nach zunächst nur die sprachphilosophische »Einleitung ins Kawiwerk« und folgt damit implizit einer Trennung von philosophischem und empirischem, im engeren Sinne sprachwissenschaftlichen Teil des Werks, die sich bereits damals eingebürgert hatte. 242 Für Cassirer ist dieser Text aber offenbar nicht allein aus sprachphilosophischer Sicht von Interesse, sondern auch mit Blick auf die empirischen Beobachtungen. Es finden sich so in den Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« neben den an Humboldt anschließenden philosophischen Überlegungen von Blatt 23 und 24 die kürzeren, meist ein- oder zweiseitigen Blätter 53 bis 61, die vorwiegend Erkenntnisse zu spezifischen sprachlichen Phänomenen aus der »Einleitung ins Kawiwerk« festhalten,243 wobei Cassirer mitzeichnung. Bei der Einführung dieser Unterscheidung in ECW 11, 137, findet sich dagegen kein expliziter Verweis auf Humboldt, vgl. diese Unterscheidung auch in ECW 12, 278 f. 240 Auf Blatt 36, 1, notiert Cassirer: »Abweisung der Onomatopoiie – / aktiver Aufbau der ›Welt‹ durch das / Sprachzeichen. (Humb.) s…«. Folgt man Di Cesare, »Einleitung«, 46 – 51, geht Humboldt nicht vom per se arbiträren, sondern eher ikonischen Charakter des Worts aus und begreift dessen Arbitrarität als Potential seiner Entfaltung. Vgl. zur »Zwischenstellung der Sprache zwischen Bild und Zeichen« aber vor allem Jürgen Trabant, Apeliotes oder Der Sinn der Sprache. Wilhelm von Humboldts Sprachbild, München 1986, bes. 71 – 90, und die zitierte Formulierung ebd., 81. Vgl. darüber hinaus zu Humboldts Kritik an der Arbitrarität des Zeichens nach Condillac ebd., 129 – 155. 241 Vgl. zur Vermittlerrolle Steinthals Di Cesare, »Einleitung«, 14 f. 242 Vgl. dazu bis in die Editionsgeschichte hinein Ulrike Buchholz, Das Kawi-Werk Wilhelm von Humboldts. Untersuchungen zur empirischen Sprachbeschreibung und vergleichenden Grammatikographie, Münster 1986, 1 – 6 . 243 Kurz zusammengefasst stellen sich die Themen wie folgt dar: »Determination – Reihenbildung« (Blatt 53), Stoff- und Formelemente der Sprache (Blatt 54), Verb und Satz (Blatt 55), das »Lautsystem der Sprache« (Blatt 56), »Genus, grammat. Ge-
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unter weitere Literatur hinzugezogen hat.244 Cassirer betont zudem bereits im Manuskript von 1919 Humboldts Übergang von der Sprachphilosophie zur empirischen Forschung 245 und streicht ebenso in »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« heraus, dass Humboldt »an die Mannigfaltigkeit des empirischen Materials, an die Fülle der sprachgeschichtlichen Tatsachen herantrat«246 . Cassirer versteht Humboldt somit als Sprachphilosoph und als Sprachwissenschaftler, was nach dem Urteil berufener Kritiker bis heute nicht als selbstverständlich gelten kann.247 schlecht« (Blatt 57), »Pronomen« (Blatt 59), Wurzeln (Blatt 60), »Innere Sprachform« (Blatt 61), Blatt 58 steht im engen systematischen Zusammenhang zu den Überlegungen von Blatt 24. 244 Es ist hier vor allem Georg von der Gabelentz, Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, Leipzig 1891, zu nennen, der fast auf jedem Blatt und mitunter am Rand erwähnt wird. 245 Manuskript 1919, 113 f.: »Von der Art dieser Bearbeitung [der »Welt von Gegenständen« durch die »Welt von Lauten«, nach dem vorangegangenen Zitat aus Humboldt, GS VII, 1, 60, Cassirer gibt irrtümlich Seite 61 an, A. S.], von ihrer Komplikation und Freiheit vermag freilich keine abstrakte Formel Rechenschaft zu geben. Um von diesem Prozess eine wenigstens mittelbare Anschauung zu gewinnen, scheint kein anderer Weg offen zu stehen, als sich mitten in ihn selbst, in die empirisch-geschichtliche Entwicklung der einzelnen Sprachen zu versetzen, um hier, am besonderen induktiven Material das nachfühlende Verständnis für die geistigen Tendenzen zu gewinnen, die im Aufbau jeder Sprache zusammenwirken. Nachdem Humboldt, dem ebensowohl die Gabe der feinsten psychologischen Einfühlung wie das Detail der sprachlichen Phaenomene, wie der Blick für die allgemeinsten spekulativen Zusammenhänge eigen war, diesen Weg für die Bestimmung der ›inneren Sprachform‹ beschritten hatte, ist ihm die empirische Sprachvergleichung mehr und mehr gefolgt.« 246 Der Satz lautet vollständig: »Indem Humboldt mit diesen beiden ideellen Voraussetzungen und Forderungen an die Mannigfaltigkeit des empirischen Materials, an die Fülle der sprachgeschichtlichen Tatsachen herantrat, erschloß sich ihm erst der innere Reichtum dieser Tatsachen wie die einheitliche geistige Form, die sie zusammenhält.« (ECW 16, 118) Im Manuskript 1909, 223, erwähnt Cassirer auch den »Widerspruch« Humboldts gegen den »›absoluten Idealismus‹ Hegels«. 247 So betont Di Cesare, »Einleitung«, 15, das »eigentümliche Ziel« des »Humboldtschen Projekts«, »eine Synthesis von philosophischer Reflexion und empirischer Sprachforschung zu leisten«, um letztlich zu dem Urteil zu kommen: »Humboldts Werk bleibt wie im vergangenen, so auch in unserem Jahrhundert in seinem inneren Zusammenhang unbekannt, und seine philosophische Reflexion wird weiterhin von der Sprachforschung ferngehalten. Humboldt erscheint, so betrachtet, als ein Sprachphilosoph, dessen sicherlich anregende Überlegungen dazu verurteilt sind, empirisch ungenutzt und unbenutzbar zu bleiben. [Anm. ausgelassen, A. S.]« (ebd., 18) Vgl. zum engen Zusammenhang der transzendentalen Reflexion auf die Sprache mit der empirischen Erforschung der Sprachen bei Humboldt ausführlicher ebd., 31 – 3 4 und 51 – 56, sowie Trabant, Apeliotes, 34 – 39, und ders., Traditionen Humboldts, Frankfurt a. M. 1990, 43 – 47 und 50 – 52. Diese ›Zweiseitigkeit‹ der Humboldt’schen Sprachforschung stellt Dorothea Jecht ins Zentrum ihrer Monographie und bestimmt sie als eine »Aporie«, nämlich als
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In Cassirers Aufzeichnungen erscheint Humboldt dagegen als Sprachforscher, der seine empirischen Studien ebenso wie die theoretische Reflexion als integralen Teil seiner Arbeit betrachtete. Humboldts Texte bieten Cassirers symbolphilosophischem Projekt somit nicht nur eine Vielfalt von sprachphilosophischen Anregungen, sondern auch einen geeigneten Einstieg in die empirischen Sprachwissenschaften. Für Cassirer wird sich jedoch so mancher zunächst naheliegende Anschluss an Humboldts Sprachforschung als verfänglich erweisen. Denn Humboldts Wirkung in den Sprachwissenschaften bestand nicht zuletzt darin, dass seine Arbeiten sowohl in den methodischen als auch in den empirischen Fragen bald dezidierter Kritik unterzogen wurden.248 Da Cassirer diese sprachwissenschaftlichen Debatten jedoch erst nach seiner Lektüre von Humboldt zur Kenntnis nimmt, bekommt er es selbst mit dieser Kritik zu tun: Wo er seine philosophische Reflexion voreilig auf Humboldts Sprachforschung zu stützen können glaubte, stellt deren Kritik auch Cassirers eigene philosophische Reflexion in Frage und zwingt ihn möglicherweise sogar zur Revision seiner Begrifflichkeiten und Argumentationen. Es ist diese Hinsicht, die für die in der vorliegenden Studie verfolgte Frage nach der Rolle der Kulturwissenschaften in der Genese von Cassirers Kulturphilosophie von besonderem Interesse ist. Es soll daher nicht die Nähe zwischen Cassirers philosophischem Zugang zur Sprache und Humboldts sprachphilosophischen Überlegungen ins Zentrum gerückt werden. Stattdessen wird Cassirers Rezeption von Humboldt im Folgenden dahingehend betrachtet, dass sie einen Einstieg in die Sprachforschung eröffnete und die philosophische Reflexion sich so mit durchaus empirischen Fragen der Sprachwissenschaften verwob. Im Zentrum wird dabei die Frage stehen, die in der Diskussion des ›Vorzugs‹ des Lauts gegenüber der Gebärde aufgekommen war, nämlich inwieweit die Behauptung des Ausdrucks der sprachlichen Beziehungen im Laut und die Möglichkeit zur Reflexion auf die symbolische Genese der Welt von Humboldts Analyse der spezifischen Funktion des Lauts in den flektierenden Sprachen abhängig ist. Diese Frage soll dabei allein anhand der »Einleitung ins Kawiwerk« verfolgt werden sowie der sprachwissenschaftlichen Texte, die von Cassirer hinzugezogen wurden und sich gegen Thesen Humboldts wenden. Dagegen bleibt der emdas »Unvermögen, zwischen (idealistischer) Theorie und (positivistischer) Forschung zu vermitteln« (Die Aporie Wilhelm von Humboldts. Sein Studien- und Sprachprojekt zwischen Empirie und Reflexion, Hildesheim u.a. 2003, 2). Nach Jecht spiegelt sich diese Aporie nicht nur in einer Spaltung der Sekundärliteratur zum Sprachdenker oder Sprachwissenschaftler Humboldt, vgl. ebd., 24 – 26, sondern auch in Humboldts mannigfachen Selbstbezeichnungen seiner Sprachforschung, vgl. ebd., 228 – 233 und 293 – 318. 248 Vgl. dazu nochmals Di Cesare, »Einleitung«, 13.
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pirische ›Hauptteil‹ des Kawiwerks außen vor, obwohl sich Cassirer auf ihn im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen ebenso stützt. 249 In der hier betrachteten Arbeitsphase von 1917 bis 1919 hat dessen Rezeption keine Spuren hinterlassen. Humboldts Analyse der Flexion und die historische Deutung der Wurzeln Wie sehr die Lautlichkeit der Sprache, die auf Blatt 24 von Humboldt aufgenommen wird und dort als Figur der philosophischen Sprachreflexion erscheint, zugleich als Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Forschung zu begreifen ist, zeigt sich auf Blatt 56 mit dem allgemein gehaltenen Titel »Sprache«. Cassirers Behauptung, die Lautlichkeit stelle das geeignete Medium zum Ausdruck von Beziehungen dar, verknüpft sich dort eng mit dem Paradigma der Flexion und führt in die sprachwissenschaftliche Debatte hinein. Die Stichpunkte nennen in der ersten Zeile das Stichwort »Lautsystem der Sprache«250 und setzen damit an einer Folge von Abschnitten aus Humboldts »Einleitung ins Kawiwerk« an, die es – allerdings mit dem Plural »Sprachen« – stets im Titel tragen und mit weiteren Schlagworten spezifizieren.251 Cassirer lässt Humboldts Erörterungen der differentiellen Definition der Laute und der elementaren lautlichen Einheit der Silbe im ersten Abschnitt beiseite und geht auf den Abschnitt »Lautsystem der Sprachen. Vertheilung der Laute unter die Begriffe« ein.252 Humboldt handelt dort von der Wortbildung aus Silben, durch die – so Humboldts Vorstellung – Begriffe sprachlich bezeichnet werden sollen. 253 Cassirer hält eine 249 Vgl. die Zusammenstellung der Verweise auf Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java im Schriftenregister von ECW 11. 250 Blatt 56, 1. Es folgt nach einem Semikolon: »Verknüpf. des Lauts mit / dem Begriff; ›Beziehung der Vorstellungs-Mannigf. / auf die Laut Mannigfaltigk.« Diesen Aspekt lasse ich aus, weil er die sprachliche Bildung der Vorstellungen betrifft, die ich hier nicht weiter behandeln werde. 251 Vgl. Humboldt, GS VII, 1, 65 – 85. Die Titel lauten ausführlich: »Lautsystem der Sprachen. Natur des articulierten Lautes«, »Lautsystem der Sprachen. Lautveränderungen«, »Lautsystem der Sprachen. Vertheilung der Laute unter die Begriffe«, »Lautsystem der Sprachen. Bezeichnung allgemeiner Beziehungen«, »Lautsystem der Sprachen. Lautform der Sprachen« sowie »Lautsystem der Sprachen. Technik derselben«. 252 Ausnahmen bilden eine Bemerkung, die sich auf den Unterschied des artikulierten Lauts vom tierischen »Geschrei« (Blatt 56, 1) bezieht und sich auf Humboldt, GS VII, 1, 65, stützt, und mit Bezug auf ebd., 82, eine Notiz zum »Widerstand« des Lauts gegenüber der »inneren Idee«, die in ihm zum Ausdruck kommen soll. 253 »Unter Wörtern versteht man die Zeichen der einzelnen Begriffe. Die Sylbe bildet eine Einheit des Lautes; sie wird aber erst zum Worte, wenn sie für sich Bedeutsamkeit
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zentrale These fest: »›Einbildg‹ des Gedankens in den Laut / Bezeichnung verwandter Begriffe mit verwandten Lauten (73)«.254 Dieser scheinbar simple Gedanke erweist sich als hochgradig voraussetzungsvoll, sobald nach den Kriterien für die Verwandtschaft von Begriffen oder Lauten gefragt wird. Geht man davon aus, dass die Begriffe nicht unabhängig von der Sprache gegeben sind, heißt dies, zuallererst benennen zu müssen, wie die Verwandtschaft der Laute zu verstehen ist und wie sie sich im Laut manifestiert. Es ist charakteristisch für Humboldts Ansatz, dass er sich dabei auf die Bildung der Worte bezieht, die verwandte Begriffe bezeichnen sollen, und ihre lautliche Verwandtschaft dadurch bestimmt, dass sie nach einem gemeinsamen Muster aufgebaut sind und daher gewisse lautliche Elemente gemein haben, während sie durch andere Elemente lautlich unterschieden werden. Seine These, dass »verwandte Begriffe mit verwandten Lauten« bezeichnet werden, reformuliert er nämlich dahingehend, dass die »Lautverwandtschaft« der Worte nur »daran sichtbar seyn [könne, A. S.], dass ein Theil des Wortes einen, gewissen Regeln unterworfenen Wechsel erfährt, ein anderer Theil dagegen ganz unverändert oder nur in leicht erkennbarer Veränderung bestehen bleibt. Diese festen Theile der Wörter und Wortformen nennt man die wurzelhaften und wenn sie abgesondert dargestellt werden, die Wurzeln der Sprache selbst. Diese Wurzeln erscheinen in ihrer nackten Gestalt in der zusammengefügten Rede in einigen Sprachen selten, in anderen gar nicht. Sondert man die Begriffe genau, so ist das letztere sogar immer der Fall. Denn so wie sie in die Rede eintreten, nehmen sie auch in Gedanken eine ihrer Verbindung entsprechende Kategorie an und enthalten daher nicht mehr den nackten und formlosen Wurzelbegriff.«255 Dieser Begriff der Wurzel ist systematisch offenbar im Hinblick auf die flektierenden Sprachen gebildet, wie auch Humboldts anschließender Bezug auf das Sanskrit und die »Indischen Grammatiker«256 zeigt, die das Paradigma der Flexion in der Geschichte der Sprachwissenschaften nachhaltig geprägt haben. Cassirer lässt den Wurzelbegriff auf Blatt 56 unerwähnt, widmet sich ihm aber auf Blatt 54 ausgehend von einer späteren Erörterung Humboldts und verknüpft ihn eng mit seinem philosophischen Zugriff auf die Sprache. Cassirers vierseitige Aufzeichnung setzt ein: »Humboldts Unterscheidung der objektiven u. subjektiven / Wurzeln (105) – Flexion / Sie ist der Anerhält, wozu oft eine Verbindung mehrerer gehört. Es kommt daher in dem Worte allemal eine doppelte Einheit, des Lautes und des Begriffes, zusammen.« (Humboldt, GS VII, 1, 72) 254 Blatt 56, 1. 255 Humboldt, GS VII, 1, 73. 256 Humboldt, GS VII, 1, 74.
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gelpunkt, um welchen sich die Voll- / kommenheit des Sprachorganismus dreht (109) / 2 Elemente a) Bezeichng des Begriffs u. b) Versetzg / desselben in eine best. Kategorie des Denkens«. 257 Diese wenigen Stichpunkte verknüpfen verschiedene gedankliche Fäden. Humboldt hatte in dem referierten Abschnitt den Wurzeln die Aufgabe zugeschrieben, zur Bezeichnung der Begriffe zwischen der »verschiedenartigen Natur des Begriffs und des Lautes«258 zu vermitteln. Er bestimmt sie in dieser Hinsicht als »wurzelhafte Anschauungen und Empfindungen«, »durch welche jede Sprache, nach dem sie beseelenden Genius, in ihren Wörtern den Laut mit dem Begriffe vermittelt.«259 Diese ›wurzelhaften Anschauungen‹ können der äußeren Anschauung oder der inneren Empfindung entstammen, weshalb Humboldt ›objektive‹ und ›subjektive Wurzeln‹ unterscheidet.260 Diese Bezeichnung eines Begriffs mit Hilfe der Wurzeln bildet nun aber einen unauflösbaren Zusammenhang mit der ›Versetzung desselben in eine bestimmte Kategorie des Denkens‹. Cassirer zitiert diese Formulierung wortwörtlich und bezieht sich damit auf eine Überlegung Humboldts, derzufolge bereits in der Wortbildung eine Zuordnung des Begriffs zu einer grammatischen Kategorie vorgenommen wird.261 Durch die zur Wurzel hinzukommende Silbe wird nämlich bestimmt, welcher grammatischen Kategorie das Wort angehört und welche syntaktische Stelle es im Satz einnehmen kann.262 Dieser Aspekt der Wortbildung kommt in verschiedenen Sprachtypen allerdings in unterschiedlichem Maße zum Ausdruck und realisiert sich in seiner ›Vollkommenheit‹ allein in den flektierenden Sprachen. 263 257 Blatt 54, 1. Die Seitenangabe ›(105)‹ sowie die Gliederung der beiden Aspekte in ›a)‹ und ›b)‹ hat Cassirer zwischen den Zeilen eingefügt. 258 Humboldt, GS VII, 1, 100. 259 Humboldt, GS VII, 1, 101. 260 Vgl. Humboldt, GS VII, 1, 103 – 105. 261 Vgl. die identische Formulierung bei Humboldt, GS VII, 1, 109. 262 »Es gesellt sich nemlich zu dem Acte der Bezeichnung des Begriffes selbst noch eine eigne, ihn in eine bestimmte Kategorie des Denkens oder Redens versetzende Arbeit des Geistes, und der volle Sinn des Wortes geht zugleich aus jenem Begriffsausdruck und dieser modificirenden Andeutung hervor. Diese beiden Elemente aber liegen in ganz verschiedenen Sphären. Die Bezeichnung des Begriffs gehört dem immer mehr objectiven Verfahren des Sprachsinnes an. Die Versetzung desselben in eine bestimmte Kategorie des Denkens ist ein neuer Act sprachlichen Selbstbewusstseyns, durch welchen der einzelne Fall, das individuelle Wort, auf die Gesammtheit der möglichen Fälle in der Sprache oder Rede bezogen wird.« (Humboldt, GS VII, 1, 109) 263 »Ich habe schon im Vorigen (S. 99, 108) die Aehnlichkeit des Falles erwähnt, wenn ein Wort durch die Hinzufügung eines allgemeinen, auf eine ganze Classe von Wörtern anwendbaren Begriffs aus der Wurzel abgeleitet und wenn dasselbe auf diese Weise, seiner Stellung in der Rede nach, bezeichnet wird. Die hier wirksame Eigenschaft der Sprachen ist nemlich die, welche man unter den Ausdrücken: Isolirung der Wörter,
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Humboldt unterscheidet dabei die »Grade, in welchen die verschiedenen Sprachen diesem Erfordernisse genügen«264 . Die »innere Veränderung« des einheitlichen, aber zusammengesetzten Worts in der Flexion und den »äusseren Zuwachs«265 zum Wort in den agglutinierenden Sprachen charakterisiert Humboldt dabei auch durch die Differenzierung von »mechanischer Anfügung«266 und »organischem Vorgang«267. Als Gegensatz zur Flexion können dagegen die sogenannten isolierenden Sprachen gelten, die unveränderte, isolierte Wurzeln aneinanderreihen und alle grammatischen Kategorien und syntaktischen Beziehungen allein durch die Wortstellung im Satz zum Ausdruck bringen. Als paradigmatisches Beispiel für diesen Sprachtyp muss bei Humboldt das Chinesische herhalten, das ihm gleichsam als Widerpart des Sanskrit, dem Paradigma der Flexion, dient.268 Diese Differenzen und Unterscheidungen sollen an dieser Stelle lediglich festgehalten, aber nicht weiter diskutiert werden. Diese kurze Darlegung sollte deutlich gemacht haben, wie der Laut in flektierenden Sprachen in der Lage ist, nicht nur die Begriffe und Gegenstände zu bezeichnen, sondern auch die sprachlichen kategorialen Beziehungen zum Ausdruck zu bringen, durch die Vorstellungen und Sachverhalte gegliedert und bestimmt werden. Es ist dieser für die Flexion spezifische Gebrauch des Lauts, der ihn aus Cassirers Sicht zur ›physischen Bedingung‹ der Reflexion auf die Symbolisierung macht: Da mit den flektierenden Silben die Beziehungen hörbar werden, durch die der Gegenstand der sprachlichen Symbolisierung bestimmt wird, wird die Einsicht befördert, dass die sprachliche Bezeichnung nicht isoliert gegebene, an sich seiende Dinge widerspiegelt, sondern als eine aktive Darstellung aufzufassen ist, die unter den spezifischen Bedingungen einer Form der Symbolisierung steht. Deshalb versteht Cassirer den Laut als ›physische Bedingung‹ der Reflexion auf die symbolische Genese der Welt und zugleich unserer ›Emanzipation Flexion und Agglutination zusammenzubegreifen pflegt. Sie ist der Angelpunkt, um welchen sich die Vollkommenheit des Sprachorganismus drehet […].« (Humboldt, GS VII, 1, 109) Vgl. zu Humboldts Sprachtypologie und dem Vorzug der Flexion auch Di Cesare, »Einleitung«, 114 – 124. 264 Humboldt, GS VII, 1, 109. 265 Humboldt, GS VII, 1, 111, vgl. die ganze Passage ebd., 111 – 117, und insbesondere zum Übergang durch »Anbildung« ebd., 112 f. 266 Humboldt, GS VII, 1, 113. 267 Humboldt, GS VII, 1, 114. Ebd., 110, führt Humboldt aus: »Was dagegen in der innerlichen Gestaltung dem Begriffe der Flexion entspricht, unterscheidet sich gerade dadurch, dass gar nicht zwei Elemente, sondern nur Eines, in eine bestimmte Kategorie versetztes das Doppelte ausmacht, von dem wir bei der Bestimmung des Begriffs aus giengen.« 268 Vgl. z. B. Humboldt, GS VII, 1, 26 f. und 74 f.
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von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹. Cassirers symbolphilosophisches Verständnis der Sprache erweist sich damit jedoch als abhängig von Humboldts Paradigma der Flexion sowie der Rolle des Lauts in der flektierenden Wortund Satzbildung. Die Nähe von Cassirers Verständnis der symbolischen Reflexion zum Humboldt’schen Sprachtyp der Flexion birgt jedoch die Gefahr in sich, auch die spekulativen Elemente zu übernehmen, die mit Humboldts Analyse eng verwoben sind. Als besonders fragil erweist sich die historische Deutung der Flexion, wie sie sich in der »Einleitung ins Kawiwerk« skizziert findet.269 Humboldt geht – zumindest nach einer einfachen und verbreiteten Deutung, die auch Cassirer offenbar keineswegs fremd ist – davon aus, dass die Sprachen sich zur Flexion entwickeln. Frühere und einfachere Sprachen hätten demnach ihre Worte nicht durch Zusammensetzung gebildet und stattdessen die isolierten Wurzelworte nach einer bestimmten Satzordnung schlicht aneinandergereiht. Aus solchen »formloseren«270 Sprachen und »formlosen Wurzelbegriffen«271 sollen sich die flektierenden Sprachen entwickelt haben, wie Humboldts Erörterung wiederholt nahelegt: Durch »Anbildung«272 konnten neben dem Stamm weitere Wurzeln in die Wortbildung eingehen, die ihren eigenen Sinn verloren, sich zu flektierenden Elementen entwickelten und ein System der Flexion ausbildeten.273 Humboldt verstand dies als eine Höherentwicklung oder vollkommenere Ausformung der Sprache, da die flektierenden Sprachen ihre Form durch die Wort- wie Satzbildung im Laut selbst zum Ausdruck bringen. Diese sprachhistorische These der Entwicklung von formloseren zu flektierenden Sprachen muss auf Cassirer außerordentlich verführerisch gewirkt haben, würde sie doch bedeuten, dass sich die Flexion und ihr Gebrauch des Lauts historisch durchsetzen würden und damit die ›physische Bedingung‹ der symbolischen Reflexion wie des wissenschaftlichen Begriffs früher oder später gegeben wäre. Allerdings ist damit auch die Gefahr gegeben, die Genese und das Telos des Symbolischen, die zuallererst das Potential des Symbolischen herausstellen sollen, ohne eine teleologische Entwicklung vorhersagen zu müssen, in Anlehnung an Humboldts spekulative historische Deutung der Wurzeln und der Entwicklung der Flexion als eine historische These misszuverstehen. Unter dem Eindruck der Lektüre von Humboldt scheint selbst Cassirer gegen ein solches Missverständnis nicht Vgl. zum Folgenden Humboldt, GS VII, 1, 72 – 75 und 97 – 118. Humboldt, GS VII, 1, 3 und 247. 271 Humboldt, GS VII, 1, 73. 272 Humboldt, GS VII, 1, 112. 273 Vgl. zu ›Anbildung‹ und Flexion Humboldt, GS VII, 1, 111 – 117. 269 270
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gefeit, allerdings wird ihn die sprachwissenschaftliche Kritik an Humboldts spekulativer Geschichte bald eines Besseren belehren. Cassirer hält die Grundzüge von Humboldts historischer Auffassung der Flexion und der Wurzeln auf Blatt 54 anhand einiger Zitate bloß fest, ohne seine eigene Haltung gegenüber dieser Auffassung erkennen zu lassen. Auf den Blättern 2 und 3 verknüpft er die Humboldt’sche Sprachteleologie jedoch mit seiner Auseinandersetzung mit Wundt und zentralen Motiven seiner Erörterung der Genese des Symbolischen. Die Aufzeichnungen von Blatt 3 gehen von einem Abschnitt aus dem letzten Kapitel des ersten Bandes der Völkerpsychologie mit dem Titel »Die Wortbildung« aus, der nach den »Psychophysischen Bedingungen der Wortbildung« und der »Psychologie der Wortvorstellungen« der »Stellung des Wortes in der Sprache« gewidmet ist.274 Wundt unterscheidet dort »Grundelemente« und »Beziehungselemente«, also solche Elemente eines Wortes, die durch seine verschiedenen Anwendungen hindurch konstant bleiben oder abhängig sind von der Einbettung des Wortes in den Satz.275 Es geht folglich erneut um die Flexion, die aber auf eine solche Weise reformuliert ist, dass sie zu Cassirers Auffassung des relationalen Begriffs in der Mathematik bestens passt.276 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 583 – 606. »Grundelemente nennen wir hier wieder diejenigen Lautbestandteile, die für den innerhalb einer bestimmten Wortgruppe konstant bleibenden Begriff charakteristisch sind, während die Beziehungselemente solche Bestandteile umfassen, durch die jener Begriff irgendwie modifiziert und dadurch zugleich zu andern in die Rede eingehenden Worten in Beziehung gebracht wird. Da diese Beziehungselemente mit ähnlich sinnmodifizierender Wirkung in den Abwandlungsformen anderer Wörter ebenfalls vorkommen, so besitzen auch sie eine relativ konstante Bedeutung. Nur besteht diese hier nicht in einem selbständig zu denkenden Begriff, sondern in einer begrifflichen Beziehung, die zu ihrer realen Vergegenwärtigung im Bewusstsein immer der Verbindung mit Grundelementen bedarf.« (Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 584) 276 Dabei scheint diese Aufzeichnung vor der Lektüre von Humboldts »Einleitung« angelegt worden zu sein. Denn Cassirer hält nicht nur die Begrifflichkeiten Wundts fest, sondern notiert neben der Unterscheidung verschiedener »Sprachtypen« und insbesondere »des / ›agglutinierenden‹ u. der ›flektierenden‹, – der / Stoff- u. Formsprachen)« auch mehr oder minder einschlägige Bezeichnungen der Wurzeln, die ihm – wie insbesondere Humboldts »›objektive‹ und ›subjektive‹ Wurzeln«, die Wundt nur in einer Fußnote nannte – zu diesem Zeitpunkt noch nicht vertraut zu sein scheinen: »Zur Unterscheidung der ›Grundelemente‹ und ›Be- / ziehungselemente‹, die im Aufbau der Sprache / einen der wichtigsten Schritte ausmacht, gleichsam / den ersten Schritt zur geistigen ›Artikulation‹ / (Unterscheidung von Sprachtypen hierin z. B. des / ›agglutinierenden‹ u. der ›flektierenden‹, – der / Stoff- u. Formsprachen) / ist die Unterscheid. von Curtius von Interesse. Er unterscheidet (cf. Wundt I, 587) prädikative / und demonstrative Wurzeln: die ersten bilden das / Grundmoment für die Grundelemente, die zweiten / für die Beziehungselemente. / [Nennwurzeln und Deutewurzeln; sonst / auch Stoffund Formwurzeln genannt, W. v. / Humboldt ›objektive‹ und ›subjektive‹ Wurzeln / 274
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Cassirer verbindet sie zugleich mit seinem Anschluss an Wundts Theorie der Gebärde, indem er die Unterscheidung von ›Grund-‹ und ›Beziehungselementen‹ auf diejenige von ›nachbildender‹ und ›hinweisender Gebärde‹ abbildet und sogleich mit ihrer Entfaltung in ästhetischer oder logischer Reflexion verbindet: »So ergiebt sich aus dem demonstrativ [sic!] (epideiktischen) / Element, das schon in der hinweisenden Gebärde / zu Tage tritt, das Beziehungs- (Flexions) Element / der Sprache / aus der Funktion der ›nachahmenden‹ Gebärde / (besser der bildenden, der mimetischen..) / dagegen das Grundelement / Dieses Flexionselement, das schon im einfachen / ›Hinweis‹ gegründet (Blatt I) entwickelt sich / dann weiter zu der geistigen ›Beziehungsform‹, / wie sie in Logik und Wissenschaft isoliert dar- / gestellt werden – / das ›mimetische‹ Element findet seinen höchsten / geistigen Ausdruck in der Kunst, die auf das / rein ›Gegenständliche‹ (von Beziehungen z. B. zeitlicher / ›kausaler‹ Art ›Abgelöste‹) gerichtet ist«.277 Es scheint so möglich, die Entfaltung des Potentials von Wundts hinweisender Gebärde bis zum wissenschaftlichen Begriff und der nachahmenden Gebärde bis zur ästhetischen Reflexion ohne größere Umstände mit der Entwicklung der Sprache zur Flexion zu parallelisieren. Zugleich gerät Cassirer Konzeption der G enese damit aber in die Nähe eines historisch-teleologischen Verständnisses der Entwicklung zur Flexion: »Die entwickelten Sprachen sind alle schon auf / dem Wege zur reichen Entfaltung der Beziehungs- / formen (›Flexionsformen‹ – [formales Moment / (Humboldt) gegenüber dem stofflichen überhaupt] – von hier aus zweigt der Weg ab zu der Formel des logischen u. mathematischen ›Calculs‹ / die ja gleichfalls eine Art Sprache!)«.278 Ein historisches Verständnis der Genese und des Telos des Symbolischen führt jedoch in die Irre, wie die weiteren Recherchen zur sprachwissenschaftlichen Diskussion der Flexion sehr bald zeigen. Denn an der sprachhistorischen Spekulation, die Humboldt in die Analyse der Flexion hineinwob und mit organischen Begriffen wie Wurzel und Wortstamm verknüpfte, hatte sich die sprachwissenschaftliche Diskussion schon lange weil die letzteren nicht von dem zu benenn. Objekt, sondern / vom subj. Standpunkt des Redenden bestimmt sind.]« (Blatt 3, 1) Cassirer bezieht sich hier im Wesentlichen auf Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 583 – 588. 277 Blatt 3, 1 f. Nochmals prägnanter: »Wir fassen also die endeiktische F überall als / Quell der Beziehungen / die mimetische als Quell der Substanz – Ding Vorstellung / erstere baut sich in Logik und Wissenschaft, / letztere in der Kunst weiter aus: die Sprache als solche hat aber natürlich an / beiden Teil, wie in ihr logische und aesthetische / Elemente gemischt sind.« (Blatt 3, 2 f.) Auch im Manuskript 1919, 29 f., sieht Cassirer nicht nur die Lautsprache, sondern auch die flektierenden Sprachen sich aus der Gebärde entwickeln. 278 Blatt 2, 3.
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entzündet. Cassirers etwaige Hoffnung auf eine Bestätigung des Telos des Symbolischen im spezifischen Feld der Sprachgeschichte hielt der Prüfung nicht stand und erforderte alsbald Anpassungen. Wie Cassirer auf Blatt 60 notiert, hat bereits Humboldt selbst auf die Kritik an einer Deutung der Wurzeln als urtümliche Worte einst existierender Sprachen verwiesen: »Wurzeln / waren schon von Bopp als grammatische Ab- / straktionen erklärt worden: eine Ansicht, der W. v. Humboldt (S. 73 – 75) nur mit gewissen / Einschränkungen zustimmt.«279 Es ist dieser kritische Ansatz, den Cassirer auch in Wundts Abschnitt zur »Wortbildung« expliziert fand. Die Erörterung Wundts führt nicht nur die Annahme von Sprachwurzeln ein, die seit den altindischen Grammatikern des Sanskrit bekannt ist, sowie die »Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie«280 , die eine historische Entwicklung der Sprachen beschreiben sollte (isolierender, agglutinierender, polysynthetischer und flektierender Typus). Er bezieht sich dabei auf Humboldts »Einleitung ins Kawiwerk« und Heymann Steinthals Die Klassifikation der Sprachen von 1850, um das dem »organischen Leben entnommene Begriffssystem«281 von Wurzeln und Stämmen ebenso wie die These einer historischen »Entwicklungsreihe«282 der Sprachtypen entschieden zu kritisieren.283 Den ›Sprachtypus‹ verwirft er kurzerhand als eine unzulässige Verallgemeinerung und den Begriff der Wurzel beschränkt er auf eine rein analytische Kategorie der Sprachwissenschaften. Die Wirklichkeit vergangener Sprachen, die Vielfalt ihrer strukturellen Gesetze zur Bildung von Worten und Sätzen sowie ihre komplexe historische Entwicklung sind nach Wundt weder durch ein historisches Verständnis der Sprachwurzeln als ursprünglicher Worte noch durch die fragwürdige Klassifikation von Sprachtypen zu erfassen.284 279 Blatt 60, 1. Der Rest des Blattes nach einer horizontalen Trennlinie lautet: »Zur Wurzeltheorie cf. v. d. Gabelentz S. 289 ff / nur relativer Wert: die ›Wurzel als die / Einheit genetisch zusammengehör. Wörter u. Formen / welche dem Sprachbildner bei der Schöpfung / in der Seele als Prototypen vorschwebten‹ / (Pott)«. 280 Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 587. 281 Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 586. 282 Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 588. 283 Es ist hier wie so oft auf diesen Seiten einzuräumen, dass die Darstellung Humboldts nicht scharf von seiner einflussreichen Deutung durch die sogenannten ›Humboldtianer‹ unterschieden wird, was im Zusammenhang der vorliegenden Studie insofern gerechtfertigt scheint, als Cassirers Lektüre sich genau in diesen Bahnen bewegen und insbesondere unter dem Einfluss Steinthals stehen dürfte. Vgl. insbesondere zur Ausprägung der Sprachtypologie nach Humboldt Trabant, Apeliotes, 181 – 188, und ders., Traditionen Humboldts, 63 f. 284 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 589 – 599. Eine ähnliche kritische Erörterung findet sich am Ende des zweiten Teilbandes zur Sprache, vgl. Wundt, Völkerpsychologie, I, 2, 631 – 633.
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Wundts Kritik von Humboldts Wurzelbegriff stellt somit grundlegend in Frage, dass der strukturellen Bedeutung der ›Wurzelelemente‹ in der Wort- und Satzbildung oder der Klassifikation von Sprachen eine historische Wirklichkeit zukommt. Hätten diese Einwände Bestand, wäre insbesondere der Annahme Humboldts, dass die historische Entwicklung ihren Anfang in den »formloseren«285 Sprachen und ihren »formlosen Wurzelbegriffen«286 nähme und zu den flektierenden Sprachen und damit zur lautlichen Artikulation der das Wort und den Satz bildenden Beziehungen führt, jede Grundlage entzogen. Die sprachhistorische Spekulation Humboldts erregte zunächst vielleicht Cassirers Hoffnung, im Feld der Sprache einen historischen Nachweis des Telos des Symbolischen zu finden. Diese Frage verbindet sich aber mit dem Begriff der Wurzel, über den die Philosophie nicht mehr allein verfügen kann. Sie hat die sprachwissenschaftlichen Anschlüsse gesucht und muss ihre Reflexion nun an den Diskussionen der Sprachforschung messen lassen. Auf Blatt 3 ließ Cassirer Wundts kritische methodologische Reflexion zunächst unerwähnt, obwohl er sich auf den entsprechenden Abschnitt der Völkerpsychologie bezieht. Er kommt jedoch auf Blatt 46 auf sie zurück, ohne eine Kenntnis der weiteren Literatur erkennen zu lassen. Im Titel deutet sich aber an, dass die Fragestellung spezifischer geworden ist und Cassirer sich auf die sprachlichen Phänomene und ihre fachwissenschaftliche Diskussio nen näher einzulassen beginnt: Das Stichwort »Sprache« wird gleich in der ersten, als Untertitel auftretenden, aber linksbündigen Zeile spezifiziert »Zur Frage der Wurzeln«, wobei in der nächsten Zeile noch der Bezugsautor festgehalten wird: »Wundts Auffass. s. I, 585 ff.« Was Cassirer im Folgenden notiert, wurde bereits erwähnt. Aus Wundts Sicht kann sich der Begriff der Wurzel allein auf eine strukturelle Charakterisierung von Sprachen beziehen, weshalb er sich weder zur Einteilung von Sprachtypen noch zur Beschreibung einer sprachgeschichtlichen Entwicklung eignet.287 Cassirer hält zentrale Pointen Wundts fest und folgert recht zutreffend: »Immer Humboldt, GS VII, 1, 3 und 247. Humboldt, GS VII, 1, 73. 287 »Wundt unterscheidet Grundelemente u. Beziehungselemente / (cf. S. 453, 584) leugnet aber, dass das Grundelement / jemals tatsächlich als reale Wurzel bestanden habe. / Diese Auffass. sei vielmehr ebenso wie die des goldenen / Zeitalters etc, ein Produkt der mythenbildenden Phantasie / (cf. S…[)] / keine reine Wurzelperiode der Sprachen (595); daher auch / die Einteilung der Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie / bekämpft, insbesondere gebe es keine formlosen / Sprachen (S. 592) / ›Verschämte Existenz‹ der Wurzeln in der jetzigen Sprach- / forschung; z. B. bei Brugmann (s. S. 595!) / Wurzelbegriff besteht nur noch als reiner Konstitutions- / begriff: als Ausdruck dafür, daß es Lautkomplexe / gibt, die unverändert durch eine Reihe von Wörtern / verfolgt werden können. (597)« (Blatt 46, 1). 285
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hin bleibt auch bei dieser Auffassung bestehen, / daß rein deskriptiv, ganz abgesehen von der / genetischen Frage, ein Unterschied zwischen Grund- / u. Beziehungselementen, oder zwischen Stoff- und Formelementen (Humboldt) / Nenn- u. Deutewurzeln (S. Curtius) [S. 587] / zu machen ist.«288 Diese Stichpunkte wirken gegenüber dem in dieser Sache entschiedenen Wundt zögerlich. Die These von der Entwicklung zur Flexion und damit des Ausdrucks grammatischer Kategorien und syntaktischer Beziehungen im Wort selbst scheint eine zu attraktive Bestätigung von Cassirers Auffassung der Entfaltung des Symbolischen zu sein, als dass er ohne weiteres bereit wäre, sie mit Wundt zu Grabe zu tragen. Es deuten sich aber zugleich weitere systematische Probleme und eine tiefere Recherche zur sprachwissenschaftlichen Literatur an: »Die ausgebildeten Sprachen sondern in grösserer / oder geringerer Klarheit diese Elemente; zeigen / ein fortschreitendes Bewusstsein dieses fun- / damentalen Unterschiedes / Durch ihn vollzieht sich erst die Gliederung / der Vorstellungsmassen, ihr Fassen unter sprachlich / -logische Kategorien. / (So wird der ›formale‹ Bestandteil von Humboldt gedeutet!) / Auch wenn es geschichtlich keine rein isolierenden, / keine rein flektierenden Sprachen giebt (das Chinesische / ist wahrsch. aus einer früheren flektierenden Epoche entstanden / (cf. Wundt S. 589 u. Delbrück, S. 47, 118 / mit Bezug auf / Jespersen, S. 112 ff.) / so bleibt doch dieser Gesichtspunkt als solcher bestehen.«289 Cassirer versucht offenbar trotz der sich abzeichnenden stichhaltigen Einwände insofern an Humboldts These festzuhalten, als die strukturelle Bestimmung der Flexion ein Potential des Symbolischen beschreibt, das alle Sprachen aufweisen und zu realisieren bestimmt sind. Gegenüber Wundts strikter Trennung der strukturellen Charakterisierung spezifischer Sprachen von den historisch-genetischen Fragen der Sprachentwicklung bleibt er eher zögerlich und ambivalent. Diese Frage ist aber keine rein philosophische Angelegenheit mehr, sie ist zum Gegenstand einer Sprachforschung geworden, die sich primär den empirischen Phänomenen widmet. Diese Forschung hat sich im 19. Jahrhundert zudem oft positivistisch geriert und in ihren methodologischen Selbstverständigungen gerne von den spekulativen Deutungen Humboldts abgesetzt, was nicht heißt, dass sie sich ihrerseits so sehr auf bloße Fakten beschränkt hätte, wie sie wohl behauptete. Cassirer hält es offenbar für unverzichtbar, die Diskussion um den Wurzelbegriff aufzuarbeiten und geht Blatt 46, 1. Blatt 46, 2. Das einschränkende ›wahrsch.‹ wurde zwischen den Zeilen hinzugefügt, die Angaben nach ›Wundt S. 589‹ enthalten zunächst ›v. d. Gabelentz‹, der allerdings gestrichen wurde, während die Verweise zu Delbrück und Jespersen in drei klein geschriebenen, an den Rand gedrängten Zeilen angefügt wurden. 288 289
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dabei weiter von Wundts Völkerpsychologie aus. In der gerade zitierten Notiz verweist er auf Berthold Delbrücks Grundfragen der Sprachforschung. Mit Rücksicht auf W. Wundts Sprachpsychologie erörtert von 1901. Auf Blatt 46 notiert Cassirer: »›Verschämte Existenz‹ der Wurzeln in der jetzigen Sprach- / forschung; z. B. bei Brugmann (s. S. 595 !)«290 und ergänzt am Rand einen Verweis auf weiterführende Literatur: »zum jetzigen Stand / der Forsch. in dieser / Frage vgl. auch / Delbrück, Prinzipien / S. 113 ff, Sütterlin / s. Bl. 44«.291 Die Verweise beziehen sich auf die bereits genannte Schrift Delbrücks292 sowie Ludwig Sütterlins Das Wesen der sprachlichen Gebilde. Kritische Bemerkungen zu Wilhelm Wundts Sprachpsychologie von 1902, die beide neben dem ersten Band von Karl Brugmanns Grundriß der verglei chenden Grammatik der indogermanischen Sprachen aus dem Jahr 1886 in der zweiten Auflage des ersten Bandes der Völkerpsychologie angeführt werden.293 Delbrück und Sütterlin beziehen sich ihrerseits schon im Titel ihrer Schriften auf »Wundts Sprachpsychologie« und versuchen die Theorie der Wurzel gegen die Kritik aus der ersten Ausgabe des ersten Bandes der Völ kerpsychologie von 1900 zu verteidigen, was Wundt in der besagten Fußnote dazu nutzt, seinerseits den Kritikern polemisch zu entgegnen. Cassirer scheint so auf Wundts Pfaden zu wandeln und diesen Hinweisen in seiner weiteren Recherche zu folgen. Delbrücks und Sütterlins Schriften widmet er einige Aufmerksamkeit, da sich nicht nur Blatt 44, auf das Blatt 46 verweist, Sütterlins Text widmet, sondern auch verschiedene Blätter einzelne Hinweise Delbrücks festhalten.294 Es ist daher wahrscheinlich, dass Cassirer auf die Bedeutung und das Problem des Wurzelbegriffs und der Sprachtypologie zuerst in Wundts Völkerpsychologie gestoßen und dessen Hinweisen weiter nachgegangen ist. Die Ergebnisse sind zunächst 290 Die Stelle lautet bei Wundt: »Da man sich allen diesen Bedenken wohl nicht ganz verschließen kann, so ist in der neueren Sprachwissenschaft allmählich ein zwiespältiger Zustand eingetreten. Die Wurzeln beginnen eine Art ›verschämter‹ Existenz zu führen, im starken Gegensatze zu den weitläufigen Erörterungen, die ihnen die vorausgegangene Zeit zu widmen pflegte.« (Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 595) 291 Blatt 46, 1. 292 Dass Cassirer sich hier auf »Delbrück, Prinzipien« bezieht, geht vielleicht auf eine Verwechslung mit Hermann Pauls Prinzipien der Sprachgeschichte von 1886 zurück. Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 597 f., Fn. 1, zitiert »Delbrück (Grundfragen der Sprachforschung, S. 113 f.)«, die Fußnote zuvor Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 595 f., Fn. 1, verweist auf »H. Pauls ›Prinzipien der Sprachgeschichte‹«. 293 Vgl. für den Verweis auf Brugmann Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 595 f., Fn. 1., sowie die Nachweise in der vorangehenden Anmerkung. 294 Vgl. Blatt 47 – 50. Die ersten beiden einseitigen Blätter betreffen die Frage der Onomatopoiie, das umfangreichere Blatt 49 die Kasusformen sowie Blatt 50 die »Ursprüngl. des Satzes vor dem Wort«. Die Blätter enthalten zudem Verweise und Notizen zu weiterer Literatur.
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unklar. Blatt 44 hält mit aufsteigenden Seitenangaben wichtige Punkte aus Sütterlins Das Wesen der sprachlichen Gebilde fest und berührt dabei unter anderem die Frage der Wurzeln. Cassirer notiert: »Wurzeln – Der Gedanke, dass einzelne der sog. ›Wurzeln‹ einmal als wirkliche / Wörter bestanden haben, nicht ohne weiteres abzuweisen cf. S. 33 / Einwände gegen Wundts Auffass. der ›Wurzeln‹ / s. auch S. 56 f – / auch die älteren Sprachforscher haben die Selbständigk. / des Wurzelkerns nicht ohne Einschränk. verkündet / so z. B. Curtius (58) / Max Müllers Theorie der Wurzelwörter als der letzten / sprachl. Tatsachen – Wissenschaft der Sprache, 2, 356«295 . Diese Aufzeichnung gilt nicht in erster Linie dem Gegenstand der Diskussion, sondern hält Sütterlins Stellungnahmen zu Wundts Position fest und eröffnet den Bezugsrahmen der Diskussion auch durch die Einführung von ›Max Müllers Theorie der Wurzelwörter‹, die sich wiederum auf Blatt 140 ausgeführt findet.296 Delbrücks Position findet sich auf den Blättern 69 und 70 mit den Titeln »Wurzel« und »Sprache / Flexion« festgehalten, wobei sich Cassirer allerdings nicht auf das bei Wundt erwähnte Buch, sondern auf die Einleitung in das Sprachstudium von 1880 bezieht. Beide Blätter behandeln mit den Fragen der Wurzeln und der Flexion verwandte Themen und nehmen zudem Delbrücks historischen Rückblick auf die Diskussion des Wurzelbegriffs und der Flexion zwischen Bopp, Schlegel und Humboldt auf. Schließlich verzeichnen aber beide Delbrücks Einschätzung des aktuellen Diskussionsstands: »Heutige Auffass. der ›Wurzel‹ s. ibid. S. 135 ff. / keinen Anspruch darauf, in ihnen Stücke ehemaliger / Wirkl. zu sehen. Sie sind grammatische Abstraktionen, / deren wir uns bedienen, um die Darstellung an- / schaulich zu machen‹ (136) / Wurzel Stamm u Suffix werden nur noch als grammatische Hilfsausdrücke verwandt. (174)«297 Auch Blatt 70 hält unter dem Schlagwort »Heutiger Stand der Frage« Delbrücks Einschätzung fest: »man sei gegen / die Frage des Ursprungs überh. gleichgültig geworden / (137)«.298 Eine ähnlich skeptische Bewertung der historischen Deutung der 295 Blatt 44, 1. Die Formulierung ›einzelne der‹ wurde über einer kurzen Streichung zwischen den Zeilen hinzugefügt. 296 Das Blatt mit dem Titel »Sprache« bezieht sich auf die deutsche Übersetzung von Max Müllers Das Denken im Lichte der Sprache aus dem Jahr 1888 und seine Auseinandersetzung mit Alfred Ludwigs Agglutination oder Adaptation? von 1873, das Cassirer selbst wohl nicht konsultiert hat. Nach Cassirers Stichpunkten hat Müller eine Zwischenposition bezogen: »Wahrh. liegt in der Mitte zwischen der extremen / Ansicht Ludwigs, daß die sogen. grammatischen / Elemente der Sprache überhaupt niemals eine gesonderte / Existenz geführt haben u. der entgegenges. Ansicht / de Saussures .. daß wir jede Form bis in ihre / kleinsten Compositionselemente analysieren können / (218)« (Blatt 140, 2). 297 Blatt 69, 1. 298 Blatt 70, 2.
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Wurzel notiert Cassirer auf Blatt 167 mit Bezug auf die Introduction to the science of language von Archibald Henry Sayce aus dem Jahr 1880.299 Angesichts der gewonnenen Übersicht über die sprachwissenschaftliche Diskussion konnte Cassirer kaum umhin, die historisch-genetische Deutung von Humboldts Begriff der Wurzel und jede sprachteleologische Spekulation über die Entwicklung von den formloseren zu den flektierenden Sprachen aufzugeben. Nicht nur Wundt hielt die Wurzeln für sprachwissenschaftliche Abstraktionen, denen keine historische Wirklichkeit entsprach. In dieser Kritik ging ihm bereits Franz Bopp voraus, wie Humboldt vermerkt und Cassirer notiert hat, aber auch August Friedrich Pott, wie Wundt anführte und Cassirer bei ihm lesen konnte.300 Vor allem aber hatte sich diese Ansicht offenbar durchgesetzt, wie die Recherche zur jüngeren Literatur ergab. Der Begriff der Wurzel war nicht nur hochgradig umstritten, es fand sich kaum ein anerkannter Sprachforscher, der eine historische Entwicklung von einstigen formlosen Wurzelsprachen zu den flektierenden Sprachen vertreten hätte. Es hatte sich als ein Irrweg herausgestellt, die Genese und das Telos des Symbolischen mit der sprachhistorischen Spekulation über die fortschreitende Durchsetzung der Beziehungs- gegenüber den Grundelementen zu verbinden. Es ergeben sich in diesem exemplarischen Fall aufschlussreiche Wechselwirkungen zwischen Cassirers philosophischem Ansatz und seiner Rezeption der sprachwissenschaftlichen Forschung. Cassirer versucht der aufgearbeiteten methodologischen Debatte aus den Sprachwissenschaften in einem ersten Schritt Rechnung zu tragen, indem er die kritische Pointe in einer ihm vertrauten wissenschaftstheoretischen Perspektive reformuliert und dabei auf seine erkenntniskritischen Arbeiten zurückgreift. Es scheint ihm nun ein geradezu klassisches realistisches Missverständnis von begrifflichen Mitteln der Erkenntnis, wenn die sogenannten Wurzeln, die als strukturelle Elemente der Analyse spezifischer Sprachen bestimmt sind, als tatsächlich existierende Elemente einer früheren Sprache verstanden werden. Diese 299 Das Blatt trägt den Titel »Sprache« und besteht aus der kurzen Notiz: »Wurzel nur als Abstraktion; letztes Element der Analysis; keine (monosyllabische) Wurzel- / Periode cf. Sayce II, 4 f. gegen Whitney / Die sogenannte arische Wurzelperiode bedeutet / in Wahrheit nur die Analyse des ältesten arischen / Wortschatzes (II, 10)«. Cassirer verweist hier wie in den Blättern allgemeinen lediglich auf »Sayce I« oder »Sayce II« – eine Überprüfung der nachgewiesenen Stellen bestätigt jedoch den Bezug auf das oben genannte Werk. 300 »Nicht unerwähnt darf übrigens bleiben, daß schon vor langer Zeit der alte Sprachmeister A. F. Pott trotz seines ›Wurzelwörterbuchs‹ die Auffassung vertreten hat, die Wurzeln seien bloße grammatische Abstraktionen, ohne dabei freilich der Annahme einer realen Bedeutung der Wurzeln ganz zu entsagen (Pott, Etymologische Forschungen, 2 II, 1, 1861, S. 193 ff.).« (Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 595 f., Fn. 1)
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Überlegung formuliert Cassirer auf Blatt 51 mit dem Titel »Sprache / Wurzel, Wurzeltheorie« in Analogie zu den ihm vertrauten Entwicklungen in den Naturwissenschaften: »Vor der speziellen Erörterung eine allgemeine methodolog. / Erwägung. – / Der Begriff der ›Wurzel‹ hat in der Sprachwissenschaft / eine ähnliche Entwicklung durchgemacht u. ein ähnliches / Schicksal gehabt, wie auf materiellem Gebiet etwa / der Begriff des Atoms – / Beide stammen ja aus derselben Denknotwendigkeit / aus der Forderung der αιτία – / Die griech. Grammatiker suchten im Einkl. mit den indischen / die ριζώματα der Worte, wie die griech. Physiker / die Wurzeln und ›Gründe‹, oder in der Atomistik die / einfachen ›Elemente‹ der Dinge suchten … / Die neuere Physik ist allmählich dazu gelangt, diese / Elemente ihres Dingcharakters zu entkleiden / (vgl. Substanzbegr. u. Funktionsbegriff) / So auch ganz allmählich in der Sprachwiss: die Wurzeln / nicht mehr als reale Urbestandteile, aber als / Ausdrücke für konstitutive Strukturbeziehungen.«301 Es kann kaum verwundern, dass Cassirer diese Einsicht später auch Humboldt selbst zuschreibt, um den für seinen Ansatz so bedeutsamen Autor nicht unnötig einer erwartbaren Kritik auszusetzen.302 Die Konsequenzen von Cassirers Rezeption der sprachwissenschaftlichen Debatte um die Wurzeln beschränken sich jedoch keineswegs auf eine solche wissenschaftstheoretische und erkenntniskritische Reflexion. Sie betreffen vielmehr auch die Konzeption der Genese des Symbolischen, die in der Frühphase von Cassirers Arbeit an der »Philosophie des Symbolischen« eine solch zentrale Rolle spielt. Wie sich bereits in der Auseinandersetzung mit Wundts naturalistischer Konzeption der Genese gezeigt hat, kann Cassirers Umwendung der Erklärung des Symbolischen aus seinen natürlichen Bedingungen hin zur Entfaltung seines von Anfang an gegebenen Potentials mitunter den Eindruck einer simplen Prognose einer teleologischen, historischen Entwicklung erwecken. Und dieser Eindruck wird durchaus bestärkt durch Cassirers kurzzeitigen Versuch, die Entfaltung des Symbolischen im Feld der Sprache mit der historischen Deutung der Wurzeln und der Entwicklung zur Flexion zu verknüpfen. Jedoch nötigt gerade dieser Versuch Cassirer schließlich dazu, sich nach der Rezeption der sprachwissenschaft lichen Debatte der Konzeption der Genese und des Telos auch philosophisch nochmals zu versichern: Die sprachwissenschaftliche Kritik an der historischen Deutung der Sprachtypologie gebietet, die Genese und das Telos des Symbolischen nicht als Beschreibungen einer historischen Entwicklung zu Blatt 51, 1. Vgl. ECW 16, 129 f., mit Verweis auf Humboldt, GS VII , 1, 105, und ECW 11, 233 f., ohne Beleg. Humboldt ist in dieser Sache allerdings nicht eindeutig, vgl. daher auch Humboldt, GS VII, 1, 73 – 75. 301
302
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verstehen, die durch empirische Befunde beispielsweise aus den Sprachwissenschaften zu belegen wäre. Vielmehr bestätigt sich, was sich weiter oben bereits in der Auseinandersetzung mit Wundt abgezeichnet hat: Die Konzeption der Genese des Symbolischen akzentuiert das Potential seiner Entfaltung und bestimmt sein Telos durch die ›Emanzipation von der sinn lichen Unmittelbarkeit‹. Sie nimmt aber weder eine bestimmte historische Entwicklung vorweg, noch bestimmt sie eine Form der Symbolisierung oder einen Sprachtypus als einziges Ziel. Das Symbolische entfaltet sich in einer Vielfalt von Formen und kennt daher auch nur ein vielgestaltiges Telos. In seiner methodologischen Überlegung auf Blatt 51 versucht Cassirer in diesem Sinne an die sprachwissenschaftliche Debatte um den Begriff der Wurzel anzuschließen. Er deutet die Wurzeln nun als ›Ausdrücke für konstitutive Strukturbeziehungen‹, die Aufschlüsse bieten hinsichtlich des sprachlichen Ausdrucks von Beziehungen: »Und in diesem Sinne genommen können sie uns in / der That auch hier leiten. – / Die Frage, ob sie einen selbständigen histor. Bestand / ausmachen, braucht uns nicht zu beirren; aber es / entdecken sich in den Wurzeln, wie sie z. B. / die etymolog. Wörterbücher darstellen, charak- / teristische Zusammenhänge der Bezeichn. u Bedeutung / Und nun lautet die philosophische Frage: / Lässt sich diesen besonderen Zusammenhängen ein Allgemeines entnehmen über Tendenz u. / Richtung der Sprachbildung; über die Art ihres / Fortschritts vom Allgem. zum Besonderen, über die / fortschreitende Gliederung, in der für uns die / ›Sprache‹ entsteht.«303 Diese ›philosophische Frage‹ löst sich von der sprachhistorischen Spekulation, die lange mit dem Wurzelbegriff verbunden worden war. Sie gibt aber keineswegs die Absicht auf, nach der ›Tendenz und Richtung der Sprachbildung‹ zu fragen, die Cassirers Perspektive auf die Genese des Symbolischen in den Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« prägt. Diese ›Tendenz‹ und ›Richtung‹ ist allerdings nicht mehr als eine simple historische Teleologie misszuverstehen, sondern kennzeichnet das stets gegebene Potential zur ›Emanzipation vom sinnlich Unmittelbaren‹ in der Vielfalt der symbolischen Formen. Die kurzzeitige Verknüpfung von Cassirers Auffassung der Genese des Symbolischen mit Humboldts sprachhistorischer Spekulation hat sich in dieser Hinsicht durchaus als produktiv erwiesen. Sie hat zumindest Verbindungen zur kulturwissenschaftlichen Forschung geschaffen, die eine gewisse Verbindlichkeit involvieren und die philosophische Reflexion nötigen, sich an den empirischen und historischen Befunden zu bewähren. Im Rahmen der Frage nach der philosophischen Bedeutsamkeit der kulturwissenschaftlichen Forschung kommt es nämlich zuallererst auf letzteres an – dass eine 303
Blatt 51, 1 f.
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Verbindung geschlagen wird, die sich insofern als produktiv erweist, als sie weitere Recherchen nach sich zieht, weitere Differenzierung erfordern und möglicherweise auch Revisionen erzwingen kann. Die kulturwissenschaftlichen Materialien dienen keineswegs allein als Belege einer völlig selbständigen philosophischen Reflexion. Sie bieten einen empirischen Widerhalt, an dem die philosophischen Begrifflichkeiten sich ausweisen, bewähren und schärfen müssen. Sprache, Stoff und Form Die sprachwissenschaftliche Debatte um die historische Deutung der Wurzeln hat aber nicht nur dazu beigetragen, dass Cassirer die Konzeption der Genese des Symbolischen schärfer konturiert, indem er sie deutlicher von der Vorstellung einer teleologischen historischen Entwicklung abrückt. Er sah sich zugleich gezwungen, das Telos des Symbolischen präziser zu fassen, indem er die Rolle der sogenannten stofflichen und formalen Aspekte in Humboldts Charakterisierung der Flexion überdenkt und das Verhältnis der Sprache zur Form neu fasst. Es ist die Bestimmung der dynamischen Form der Sprache, mit der Cassirer sich entscheidend von Humboldts Formbegriff löst und zugleich sein Verständnis des Potentials der Entfaltung des Symbolischen auf den Begriff bringt. Die Differenz von ›Stoff‹ und ›Form‹ ist eng mit Humboldts Diskussion der verschiedenen Sprachtypen verbunden, da er die ›Bezeichnung‹ eines Begriffs bzw. Gegenstands von seiner ›Versetzung‹ in eine ›bestimmte Kategorie des Denkens‹ oder der Sprache unterscheidet und jene als ein stoffliches sowie diese als ein formales Element der Sprache versteht. Dieses formale Element billigt er aber nicht allen Sprachen in gleichem Maße zu. Denn bei Humboldt hängt dieses formale Element wesentlich davon ab, ob die sprachlichen Kategorien in der Wort- und Satzbildung tatsächlich markiert werden und also zum lautlichen Ausdruck kommen. In der Konsequenz versteht er isolierende Sprachen wie das Chinesische als formlos, weil die grammatischen Kategorien und syntaktischen Beziehungen in der Wortund Satzbildung keine lautliche Entsprechung finden. Dagegen leisten die flektierenden Sprachen eine Vereinigung stofflicher und formaler Momente, indem sie diese Beziehungen in die lautliche Einheit von Wort oder Satz eingehen lassen, in der sie aber zugleich erkennbar unterschieden bleiben. Die Flexion ist so das Paradigma der Analyse und Synthese von Stoff- und Formelementen, wie auch Cassirer im Manuskript von 1919 den »eigentümlichen Vorzug der flektierenden Sprachen« bei Humboldt charakterisiert.304 304
Nachdem Cassirer Humboldts Unterscheidung von subjektiven und objektiven
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Mit der sprachwissenschaftlichen Kritik an der Sprachtypologie und der These einer Entwicklung von den ›formlosen‹ zu den flektierenden Sprachen erweist sich Humboldts Formbegriff jedoch als fragwürdig. In seinen Notizen registriert Cassirer nicht nur die Kritik an dessen »Wertskala« der Sprachen305 , sondern auch diejenige an der fragilen Differenzierung der Sprachtypen und insbesondere an der Annahme einer ›formlosen Sprache‹.306 Er wird daher auch nicht zögern, die Konsequenz zu ziehen, dass nicht zwischen ›formlosen‹ und geformten Sprachen zu unterscheiden, sondern Sprache prinzipiell als Form zu begreifen ist. Im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen folgert Cassirer diese These umstandslos aus der verbreiteten Ansicht, die Humboldt, aber auch Wundt teilen, dass die elementare sprachliche Einheit der Satz und nicht das Wort sei.307 Er sieht darin nämlich nicht nur das Primat des Ganzen vor den Teilen festgestellt, sowohl des Satzes vor dem Wort als auch der Sprache vor dem Satz, sondern folgert daraus auch unmittelbar die ›Geformtheit‹ alles Sprachlichen: »Die Sprache beweist sich auch hierin als ein Organismus, Wurzeln eingeführt hat, führt er so aus: »Es macht nach Humboldt den eigentümlichen Vorzug der flektierenden Sprachen aus, daß in ihnen diese beiden Akte des sprachlichen Bewusstseins [die ›Bezeichnung des Begriffs‹ und die ›Versetzung desselben in eine bestimmte Kategorie des Denkens‹, A. S.] sich auch nach aussen hin in deutlicher Sonderung darstellen, – daß sie sich von einander unterscheiden, andererseits jedoch nicht nur einfach neben einander stehen bleiben, sondern zu einem einheitlichen sprachlichen Gebilde, zur synthetischen Einheit des Wortes zusammengehen. In aller Flexion zeigt sich, wie ein bestimmter ›objektiver‹ Grundbestand der Bedeutung, der in der ›Stoffwurzel‹ ausgedrückt ist, festgehalten ist, wie er sich aber gleichzeitig je nach den besonderen Beziehungen, die durch die Pronominalwurzel bezeichnet wurde, modifiziert.« (Manuskript 1919, 152) 305 »Die moderne Sprachforschung hat diese Anschauungen Humboldts, im Einzelnen wie im Ganzen, vielfach modifiziert und sie hat vor allem auf die Aufstellung einer einheitlichen logischen Wertskala, in der sich die Sprache und ihre Grundtypen ordnen sollen mehr und mehr verzichtet.« (Manuskript 1919, 155) 306 »Die ältere Sprachtheorie nahm unter den verschiedenen Typen, die sie unterschied, noch einen rein isolierenden Typus an, der der ›reinen Wurzelsprache‹ noch unmittelbar nahe stehen sollte und für den insbesondere das Chinesische als konkretes historisches Beispiel angeführt zu werden pflegte. [Verweise in Anmerkung: Humboldt, GS VII, 1, 109, und Max Müller, Das Denken im Lichte der Sprache, Leipzig 1888, 385, A. S.] Aber wie überhaupt die scharfe Abgrenzung zwischen isolierenden, einverleibenden, flektierenden und agglutinierenden Sprachen der empirisch-historischen Forschung mehr und mehr unter den Händen zerrann, so musste auch der Gedanke einer schlechthin formlosen Sprache aufgegeben werden.« (Manuskript 1919, 158 f.) 307 Vgl. ECW 11, 280 f. Cassirer verweist explizit auf Humboldt, GS VII, 1, 72 f. und 143, und in einer Anmerkung auf Wundt, in diesem Fall allerdings ohne Angabe einer Stelle. Implizit dürfte er sich – wie auf Blatt 46, 4 – z. B. auf Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, 596 beziehen.
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in welchem, gemäß der bekannten Aristotelischen Definition, das Ganze früher als die Teile ist. Sie beginnt mit einem komplexen Gesamtausdruck, der sich erst nach und nach in Elemente, in relativ selbständige Untereinheiten zerlegt. So tritt sie uns, so weit wir sie auch zurückverfolgen mögen, immer schon als geformte Einheit entgegen. Keine ihrer Äußerungen kann als ein bloßes Beisammen einzelner materialer Bedeutungslaute verstanden werden, sondern in jeder treffen wir zugleich Bestimmungen, die rein dem Ausdruck der Beziehung zwischen den Einzelelementen dienen und diese Beziehung selbst in mannigfacher Weise gliedern und abstufen.«308 Diese Beschreibung ist ersichtlich an der Analyse der Flexion orientiert, die jedoch nur in einer Anmerkung explizit genannt wird.309 Sie bezieht sich jedoch auf Sprachen im Allgemeinen, weshalb Cassirer auch sofort auf den möglichen Einwand zu sprechen kommt, diese Beschreibung treffe für das tradierte Gegenmodell der isolierenden, nach Humboldt formlosen Sprachen nicht zu. Gestützt auf die jüngere sprachwissenschaftliche Literatur und ähnlich wie im Manuskript von 1919 führt er gegen diesen vorweggenommenen Einwand nicht nur prinzipielle Zweifel an der Typologie der Sprachen ins Feld.310 Vor allem zeigt er mit Bezug auf das Chinesische, dass sich gerade in der vermeintlichen »›Formlosigkeit‹«, in einem »scheinbar widerstrebenden Material, die Gewalt der Form noch aufs deutlichste und kräftigste ausprägen kann«, weil die grammatischen und syntaktischen Beziehungen zwar nicht durch Laute, aber durch eine strenge Wortstellung ausgedrückt sind.311 Wie in diesem Falle also die scheinbar reinen Stoffele ECW 11, 281. ECW 11, 281, Anm. 4: »Und selbst in Flexionssprachen begegnen überall Reste eines altertümlichen Sprachzustandes, in dem die Grenzen zwischen Satz und Wort noch durchaus fließend waren […]«. 310 ECW 11, 284, weist nicht nur auf die gravierenden Unterschiede innerhalb eines Sprachtypus hin, sondern – wie schon im Manuskript von 1919 – auch darauf, dass die Unterschiede zwischen den Typen »der empirisch-historischen Forschung mehr und mehr unter den Händen zerronnen« seien. 311 ECW 11, 283. An dieser Stelle bezieht sich Cassirer auf Humboldt, wodurch eine allzu schroffe und einseitige Kritik vermieden wird: »Denn die Isolierung der Worte gegeneinander hebt den Gehalt und den ideellen Sinn der Satzform keineswegs auf – sofern die verschiedenen logisch-grammatischen Verhältnisse der Einzelworte, auch ohne daß besondere Laute zu ihrem Ausdruck verwendet werden, in der Wortstellung aufs prägnanteste bezeichnet werden. Man könnte in diesem Mittel der Wortstellung, das das Chinesische zu höchster Konsequenz und Schärfe entwickelt hat, rein logisch betrachtet, sogar das eigentlich adäquate Mittel des Ausdrucks grammatischer Verhältnisse sehen. Denn eben als Verhältnisse, die selbst sozusagen kein eigenes Vorstellungssubstrat mehr besitzen, sondern in reinen Beziehungen aufgehen, scheinen sie bestimmter und deutlicher, als durch eigene Wort- und Lautfügungen, durch die bloße Relation derselben, die sich in der Stellung ausdrückt, bezeichnet werden zu können. In diesem Sinne hat schon Humboldt, dem im 308 309
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mente bereits mit Formelementen verbunden sind, sieht Cassirer aber auch die Formelemente der flektierenden Sprache verknüpft mit Stoffelementen, da die flektierenden Suffixe sprachgeschichtlich meist aus gegenständlichen Bezeichnungen entstanden seien.312 Stoff und Form sind folglich in keiner Sprache reinlich zu scheiden, sondern werden in allen Sprachen vereinigt.313 Im Satz sieht Cassirer daher per se eine Synthese dieser Elemente geleistet, wodurch nicht zuletzt der Gegenstand des Ausdrucks bestimmt wird. Konkrete Sprachen setzen diese beiden Aspekte der sprachlichen Symbolisierung jedoch auf je eigene Weise ins Verhältnis und prägen dabei, so Cassirer, eine jeweils spezifische »Form« aus.314 Die sprachwissenschaftliche Kritik an der vermeintlichen Formlosigkeit von Sprachen, die bloß aus »formlosen Wurzelbegriffen«315 bestünden, spielt in diesem Fall der sprach- und symbolphilosophischen Reflexion Cassirers in die Hände. Denn Cassirer hat sowohl in seiner Kant-Deutung als auch in seiner Theorie des Begriffs stets betont, dass Form und Stoff niemals zu trennen sind. Diese erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Position sollte aber eine symbol- und sprachphilosophische Entsprechung finden, weil Cassirer die Humboldt’sche Wortbildung in den flektierenden Sprachen letztlich als symbolphilosophische Fortbildung von Kants Konübrigen die Flexionssprachen als die Ausprägung der vollendeten, der ›rein gesetzmäßigen Form‹ der Sprache galten, vom Chinesischen gesagt, daß sein wesentlicher Vorzug eben in der Folgerichtigkeit bestehe, mit der hier das Prinzip der Flexionslosigkeit durchgeführt werde.« Cassirer verweist etwas später auf Humboldt, GS VII, 1, 271 ff. und 304 f. 312 Vgl. ECW 11, 284 – 286. 313 Das formale und das stoffliche Element sind, so Cassirer, nicht zu trennen, aber als ›Reihenglieder‹ und ›Reihenform‹ zu unterscheiden und lassen sich als ›objektive‹ Einordnung des Gegebenen oder ›subjektive‹ »Spontaneität« des ›denkenden Geistes‹ charakterisieren: »Absolut lässt sich natürlich beides nicht trennen: / denn schon in der Einzelanschauung (›Baum‹) liegen / ja die formalen Kategorien – selbst in einem so / ›materialen‹ Inhalt wie ›grün‹ ist Vergleichung u. / Unterscheidung (Reihenzuordnung ρ-Element) / gesetzt./ Immerhin aber können wir Reihenglieder von / Reihenform unterscheiden; das erste giebt Humboldt / als Bezeichng des Begriffs u. insofern als objektiv / das zweite als subjektiv [im Kant. Sinne der / Spontaneität! Einordnung in eine Klasse – Bezieh. / zum Ganzen des Denkens, zum denkenden Geist!] / Näheres hierz. s. die angestr. Stellen. S. 110 f«. (Blatt 54, 1) 314 »Jeder Satz, auch der sog. eingliedrige, stellt schon in seiner Form wenigstens die Möglichkeit einer inneren Gliederung dar und enthält die Forderung einer solchen Gliederung. Aber diese kann sich nun in sehr verschiedenen Graden und Stufen vollziehen. Bald kann die Kraft zur Synthese die der Analyse überwiegen – bald kann umgekehrt die analytische Kraft der Sonderung zu einer relativ hohen Ausbildung gelangt sein, ohne daß ihr eine gleich starke Kraft zur Zusammenfassung entspricht. In der dynamischen Wechselwirkung und in dem Wettstreit beider Kräfte entsteht das, was man die ›Form‹ jeder bestimmten Sprache nennt.« (ECW 11, 286 f.) 315 Humboldt, GS VII, 1, 73.
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zeption der gegenständlichen Vorstellung versteht.316 Die Synthese von formal-subjektiven und stofflich-materialen Elementen im Satz nimmt so die kantische Synthese im Urteil wieder auf, wobei nicht zuletzt der Rekurs auf Wundts Unterscheidung von sprachlichen ›Grund-‹ und Beziehungselementen‹ hilfreich ist.317 Was Cassirer auf Blatt 54 zunächst noch eng am Text Humboldts mit Bezug auf die ›Bezeichnung des Begriffs‹ und die ›Versetzung desselben in eine bestimmte Kategorie des Denkens‹ festhält, bezieht er so in einem Einschub auf das kantische Verhältnis von Anschauung und Kategorien des Verstandes: »a) – das σ-Element – stofflich / b) das ρ-Element – formal / Zu entwickeln wie hier Humboldt von / Kant abhängig a) material-gegenwärt. Anschauung (Eindruck) / b) formal-Einordnung, Formung durch Kategorie«.318 Diese Anverwandlung zeigt, wie Cassirer auf den Spuren Humboldts zum einen das kantische Modell der Erfahrung und Erkenntnis symbolphilosophisch transformiert. Zum anderen bedient er sich dazu Humboldts Analyse der Flexion und verwandelt sie zugleich in eine allgemeine symbolphilosophische Deutung der Sprache: Die Bezeichnung des Begriffs und seine Versetzung in eine grammatische Kategorie, aber auch in die syntaktische Stellung des Worts im Satz geben so das Vorbild ab für die symbolisierende Leistung der Sprache im Allgemeinen. Die Verallgemeinerung des Formbegriffs auf alle Sprachen, die auf jeweils spezifische Weise die untrennbaren, aber unterscheidbaren ›Stoff-‹ 316 »Jetzt erkennt man deutlicher, daß in der ganzen Bildung der Sprache der ›subjektive‹ Bestandteil nicht lediglich an den gegebenen ›objektiven‹ herantritt, daß die ›Form‹ zum Stoff nicht einfach hinzukommt, sondern daß sie für ihn und seine sprachliche Anschauung und Bezeichnung eine konstitutive Voraussetzung bildet. Jede Bezeichnung eines ›Objektiven‹ ist schon seine Versetzung in einen bestimmten kategorialen Zusammenhang. [Am Rand hinzugefügt.: »Abs!«, A. S.] Wie man sieht, handelt es sich hier um eine Wiederholung und Erneuerung jenes Grundverhältnisses von ›Stoff‹ und ›Form‹, das Kant für das Gesamtgebiet der Erkenntnis festgestellt hatte. Die Form wurzelt im Subjekt; aber das Subjekt selbst ist es, das kraft seiner Spontaneität alle Bestimmung des material-Gegebenen, alle seine Einordnung in feste Zusammenhänge und Ordnungen des Anschauens und Denkens und damit erst seine eigentlich ›gegenständliche‹ Bedeutung und Gültigkeit hervorbringt. So treffen wir nach Humboldt die Grundelemente des Gegenstandsbewusstseins in den Grundelementen des Sprachbewusstseins wieder.« (Manuskript 1919, 153 f.) 317 »Aber ganz abgesehen von solchen theoretischen Konstruktionen bleibt Humboldts Unterschied zwischen den Stoff- und Formelementen der Sprache seiner rein deskriptiven Bedeutung nach als ein durchgängiges Motiv der Sprachbildung bestehen. Es kehrt, in nur wenig veränderter Wendung, in der Unterscheidung wieder, die die Sprachpsychologie zwischen den Grund- und Beziehungselementen festsetzt […].« (Manuskript 1919, 155). 318 Blatt 54, 1. Diese kantische Fassung des Formbegriffs wird es Cassirer auch erlauben, Humboldts Konzeption der inneren Sprachform nach dem Vorbild von Kants Formbegriff zu verstehen, vgl. z. B. ECW 16, 126 f.
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und ›Formelemente‹ ins Verhältnis setzen, hat für den philosophischen Formbegriff aber zur Folge, dass er letztlich das Potential zu allen möglichen Formen sprachlicher Symbolisierung umfassen muss. Dieses vielgestaltige Potential der Sprache, sich in einer bestimmten Form zu gestalten, tritt in Cassirers Texten überall dort besonders hervor, wo der wiederholte Einspruch der Sprachwissenschaften dazu nötigt, jede allzu simple Teleologie aufzugeben und stattdessen gemäß der Konzeption der Genese das Potential zur Entfaltung des Symbolischen zu betonen. Die Sprache ist begriffen in einem Prozess der Formung. Daher umfasst ihre dynamische Form aber eine Vielzahl an Formen. Die Überlegung, dass die Form der Sprache als Potential der Entfaltung der Sprachen umfänglicher und insofern mächtiger, aber auch unbestimmter sein muss im Vergleich zu den verschiedenen konkreten Sprachen und ihren bestimmten Regeln, entwickelt Cassirer in einer Passage des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, die sich weitgehend parallel auch im Manuskript von 1919 findet.319 Im Kontext von Überlegungen zu den verschiedenen Formen der Repräsentation des »Ichbegriffs« geht Cassirer unter anderem auf das Verb ein, das das Ich insofern zu repräsentieren vermag, als es ein Geschehen als Tätigkeit eines Subjekts darstellt.320 Für diese Repräsentation des Ich zeigt sich Cassirer umso empfänglicher, als sie das tätige und involvierte Ich bezeichnet, was in der idealistischen Tradition, in der sich Cassirer verortet, überaus attraktiv erscheinen muss.321 Zugleich verknüpft sich diese Weise der Repräsentation des Ichbegriffs, die letztlich über die Sprache hinaus bis zum transzendentalen Ich Kants führen soll,322 mit dem ›Vorzug‹ einer Flexion, die nicht nur zwischen Verben und Nomina scharf unterscheiden, sondern über die Konjugation des Verbs und hinzukommende Pronomina eine »rein personale Gestaltung der verbalen Handlung« erreichen kann.323 Wiederum ist aber die Einsicht unvermeidlich, dass dies keineswegs notwendig ist, weil weder in den Anfängen noch in den Zielen der Sprachentwicklung die differenzierte Ausbildung des Vgl. ECW 11, 212 – 248, sowie Manuskript 1919, 165 – 168. Vgl. ECW 11, 214 f. und 232 ff. Es geht Cassirer dabei also nicht um die »korrelativen Anschauungskreise« bzw. »Bestimmung der Ichwelt« und »Welt der Gegenstände«, sondern um »eigene und selbständige Mittel, die rein der Erschließung und Gestaltung dieses anderen, ›subjektiven‹ Daseins dienen« (ebd., 212). 321 Allerdings verknüpft Cassirer diese idealistische Betonung der Aktivität mit Ludwig Noirés These von der Entstehung der Sprache aus der Erfahrung der eigenen Tätigkeit und gibt ihr damit – unter Absetzung von dem Rahmen der Sprachursprungsfrage – einen recht konkreten, pragmatischen Sinn, vgl. Manuskript 1919, 90 – 99, und ECW 11, 257 – 262. 322 Vgl. ECW 11, 233. 323 ECW 11, 247, vgl. die ganze Passage ebd., 247 f. 319
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Verbs oder gar sein Primat gegeben ist. Stattdessen gilt es einer vielschichtigen Gemengelage vielfältiger Phänomene und möglicher Entwicklungen zwischen Verba und Nomina Rechnung zu tragen, ohne dass auf eine einfache Ordnung oder eine simple Teleologie zu hoffen wäre.324 Mit Blick auf die Unterscheidung dominant verbaler oder nominaler Sprachtypen, die jeweils verbale und nominale Elemente enthalten, aber in ein gewichtetes Verhältnis setzen, folgert Cassirer: »Und es lässt sich von Anfang an erwarten, daß dieser Frage gegenüber eine schlechthin einfache apriorische Entscheidung nicht möglich sein wird. Wird die Sprache nicht mehr als das eindeutige Abbild einer eindeutig gegebenen Wirklichkeit, sondern wird sie als ein Vehikel in jenem großen Prozeß der ›Auseinandersetzung‹ zwischen Ich und Welt gefaßt, in dem die Grenzen beider sich erst bestimmt abscheiden, so ist ersichtlich, daß diese Aufgabe eine Fülle verschiedenartiger Lösungen in sich birgt. Denn das Medium, in dem die Vermittlung vor sich geht, besteht ja nicht von Anfang an in fertiger Bestimmtheit, sondern es ist und wirkt nur dadurch, daß es sich selbst gestaltet. Von einem Kategoriensystem der Sprache und von einer Ordnung und Abfolge der sprachlichen Kategorien in zeitlicher oder logischer Hinsicht kann daher nicht in dem Sinne gesprochen werden, daß darunter die Aufstellung einer Anzahl fester Formen verstanden wird, in denen, wie in einem vorgeschriebenen Geleise, alle Sprachentwicklung ein für allemal verläuft. Wie in der erkenntniskritischen Betrachtung, so kann vielmehr auch hier jede einzelne Kategorie, die wir aussondern und gegen die anderen abheben, immer nur als ein einzelnes Motiv gefasst und beurteilt werden, das sich, je nach den konkreten Einzelgestaltungen entfalten kann. Aus dem Ineinander dieser Motive und aus dem verschiedenen Verhältnis, in das sie zueinander treten, ergibt sich die ›Form‹ der Sprache, die jedoch nicht sowohl als Seinsform, als vielmehr als Bewegungsform, nicht als statische, sondern als dynamische Form zu fassen ist.«325 Diese Beschreibung ist in mehreren Hinsichten außerordentlich bemerkenswert. Cassirer reagiert auf die voraussehbare sprachwissenschaftliche Kritik an einem Modell für die Sprache im Allgemeinen, das bestimmte 324 Dabei nimmt Cassirer in dem alten Streit über das Primat des Verbums oder des Nomens eine »kritische Berichtigung der Fragestellung« vor, die er aus der oben diskutierten erkenntniskritischen Reflexion auf den Begriff der Wurzel entwickelt: Wie Ding und Eigenschaft in der Erkenntnis müssen Nomen und Verbum in der Sprache als korrelative Elemente begriffen werden, vgl. ECW 11, 233 – 237, und die zitierte Formulierung ebd., 236. Cassirer wendet sich mit seiner Argumentation sowohl gegen das sprachhistorische Primat des Verbums nach Noiré als auch gegen das sprachpsychologische Primat des Nomens nach Wundt. 325 ECW 11, 237 f.
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Sprachen zum Vorbild hat, mit dem Zugeständnis, dass die philosophische Reflexion über die empirischen Phänomene nichts zu entscheiden habe. Was auf den ersten Blick einem Rückzug aus den empirischen Gemengelagen der Sprachen in einen gleichsam apriorischen Rahmen der Sprache ähneln kann, läuft jedoch auf eine ganz andere Konsequenz hinaus. Denn Cassirer möchte sich keineswegs der Verbindlichkeit der empirischen Differenzierungen der Sprachwissenschaften entziehen, auch wenn sie sich allzu oft als ausgesprochen fragil erweisen. Zudem betont er hier nochmals, dass all diese Fragen zu Strukturen und Differenzen der Sprachen allein von ihrer empirischen Entfaltung her zu fassen sind und die philosophische Reflexion darin ihren Ausgangspunkt nehmen muss. Es ist jedoch entscheidend, dass die Genese der Sprache alle Möglichkeiten umfasst, die Sprachen in ihrer Entfaltung einschlagen können, so dass die philosophische Reflexion dieses Potential herausarbeiten und die Vielgestaltigkeit seiner Realisierungen betonen muss. Die Form von Sprache und Sprachen ist daher dynamisch. Sie bezeichnet wie die Genese des Symbolischen allgemein keinen Zustand und hat keine konkrete Form zum Telos, sondern befindet sich stets im Zustand ihres Werdens und entfaltet sich in vielerlei Gestalt. Sprachen sind Formen, insofern sie Form werden. Diese Argumentation ist vor einem Humboldt’schen Hintergrund zu verstehen, von dem sie sich zugleich entschieden ablöst. Die Entfaltung der Sprache konnte bei Humboldt zunächst nur eine Entwicklung von den formlosen zu den geformten Sprachen der Flexion sein – für Cassirer bildet aber jede Sprache eine Form aus, die sich aus Beziehungs- und Grundelementen zusammensetzt. Es geht ihm in der hier herangezogenen Passage der Philosophie der symbolischen Formen dabei hauptsächlich um die Differenzierung der Wortklassen. Selbst die Undifferenziertheit von Wortklassen wie Nomina und Verba versteht Cassirer jedoch nicht als ›Formlosigkeit‹, sondern als Potential zur Ausbildung einer ›Form‹: »Wenn wir geneigt sind, derartige Erscheinungen als Beweise der ›Formlosigkeit‹ einer Sprache aufzufassen, so sollten wir sie vielmehr als Belege des charakteristischen ›Werdens zur Form‹ betrachten. Denn gerade in der Unbestimmtheit, die der Sprache hier noch anhaftet, in der mangelnden Ausbildung und Trennung ihrer einzelnen Kategorien, liegt vielmehr ein Moment ihrer eigenen Bildsamkeit und ihrer wesentlichen inneren Bildungskraft.«326 Diese ›Bildsamkeit‹ der Sprache hat aber keinen einzelnen Sprachtypus wie die Flexion zum Telos. Sie umfasst die möglichen Entfaltungen der Sprache in all ihrer Mächtigkeit und beschreibt letztlich das Potential ihrer Entfaltungen als ungebunden durch eine gerichtete Entwicklung. Die Genese der Sprache ist 326
ECW 11, 240.
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als ›Werden zur Form‹ zwar als eine fortschreitende Differenzierung zu verstehen, die eine präzisere Bestimmtheit der sprachlichen Ausdrücke und ihrer Gegenstände ermöglicht.327 Je unbestimmter ein sprachlicher Ausdruck ist, desto mehr Möglichkeiten zu seiner weiteren Bestimmung und Entfaltung scheint er jedoch zu umfassen: »Der bestimmungslose Ausdruck enthält noch alle Möglichkeiten der Bestimmung in sich und überläßt es gleichsam der weiteren Entwicklung der besonderen Sprachen, für welche dieser Möglichkeiten sich jede von ihnen entscheiden will.«328 Diese These bezieht sich zunächst auf solche sprachliche Phänomene, die Cassirer wie den hinzugezogenen Sprachforschern als ›formlos‹ erscheinen und insbesondere im Vergleich mit den flektierenden Sprachen deren fortgeschrittene Differenzierung evozieren konnten. Sie ist jedoch insofern von größerer Tragweite, als alle Sprachen nichts anderes sind als dynamische Formen und wie die Genese des Symbolischen überhaupt allein im Zustand ihres Werdens und mit Bezug auf ihre weitere Entfaltung zu fassen sind. Bestimmtheit und Unbestimmtheit erscheinen daher kaum dazu geeignet, ›unentwickelte‹ von ›entwickelteren‹ Sprachen zu unterscheiden.329 Vielmehr charakterisieren sie ein ›Werden zur Form‹, das in der Entfaltung seiner Möglichkeiten weitere Differenzierungen vollzieht und zugleich andere Möglichkeiten verwirft und dadurch im Vergleich zu anderen Sprachen Entdifferenzierungen in Kauf nehmen muss. Die fortgesetzte Differenzierung, die Cassirer mit der Losung vom ›Werden zur Form‹ verbindet, hat so zwar die Entfaltung größerer Bestimmtheit zum Telos, das Cassirer mit der idealistischen Tradition teilt. Wenn der »Weg, den die Sprache geht, der Weg zur Bestimmung ist«330 , dann schließt er jenseits und diesseits der Flexion jedoch alle möglichen Gabelungen, Kreuzungen und Spaltungen der Sprachen ein. »Ist somit der Weg, den die Sprache geht, der Weg zur Bestimmung, so ist zu erwarten, daß diese sich allmählich und stetig aus einem Stadium relativer Unbestimmtheit herausarbeiten und gestalten wird.« (ECW 11, 238) Ebd., 238 – 240, führt Cassirer sprachgeschichtliche Belege für eine zunehmende Differenzierung der Wortarten, vor allem des Nomens und des Verbums, an. 328 ECW 11, 240. 329 Diese konzeptionelle Umdisposition ist mitzubedenken, wenn Cassirer zum Beispiel die problematische Differenz der »entwickelten Kultursprachen« und der »Sprachen der Naturvölker« (ECW 11, 262) aufgreift. Was uns heute befremdet, dürfte um 1920 eine gewöhnliche und gerade in der von Cassirer studierten Literatur verbreitete Redeweise gewesen sein. Entscheidend ist aber, dass Cassirer mit dieser Differenz keine Abwertung der ›Naturvölker‹ verbindet, sondern auch hier – wie stets – vielmehr das Potential der Entfaltung des Symbolischen betont, vgl. exemplarisch Cassirers Distanzierung gegenüber einer abwertenden »Darstellung des Zählverfahrens der Mande-Neger« bei Steinthal in ECW 11, 188. 330 ECW 11, 238. 327
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Die Vielfalt der Sprache und die Vorbedingungen des Begriffs Nach der Bestimmung der Genese der Sprache als Formwerdung, die keine bestimmte Form der Sprache zum Telos hat, liegt die Vermutung nahe, dass der Sprachtypus der Flexion in der Philosophie der symbolischen Formen jede herausgehobene Stellung verloren hätte. Jedoch stellt sich bei der Lektüre des Werks zweifelsfrei die Erkenntnis ein, dass die Flexion bei Cassirer zwar nicht mehr wie bei Humboldt den Vorzug genießt, insbesondere im Gegensatz zu den isolierenden Sprachen über eine Form zu verfügen, aber dennoch ihre bevorzugte Stellung gegenüber anderen Sprachen keineswegs vollkommen verliert. Vielmehr zeichnet sie sich nach Cassirers Verschiebung des Formbegriffs dadurch aus, dass sie nicht nur wie jede andere Sprache formale und stoffliche Elemente zusammenbringt, sondern sie auf eine besondere Weise synthetisiert. Wiederum in enger Anlehnung an Humboldt expliziert Cassirer im Manuskript von 1919 diesen »Vorzug der flektierenden Sprachen«331 wie folgt: »Keine Sprache kann eines dieser Elemente wahrhaft entbehren; aber die einzelnen Sprachgruppen unterscheiden sich in der Art, in der Festigkeit und Innigkeit, mit der sie die gegensätzlichen und doch auf einander notwendig bezogenen Faktoren in Eins bilden. Bei den isolierenden Sprachen herrscht hier noch ein ›Auseinander‹, bei den ›agglutinierenden‹ ein Nebeneinander, während erst bei der flektierenden das wahre Ineinander erreicht wird.«332 An dem anschließenden – Hum Manuskript 1919, 152. Manuskript 1919, 154. All dies findet sich auch bereits auf Blatt 54, 2 f.: »Sinn der Flexion: die substantiale ›Bedeutung‹ / der Zuthat, die ursprüngl. vorhanden ist, schwindet / allmähl; sie wird lediglich zum Träger, / blossem Zeichen der ›Kategorie‹ / cf. 112 f. / die Anbildung nicht mechanisch, sondern in- / Einander-aufgehen des Stoff- u Formelements: / dies erst ist wahre Flexion (113) / andere Sprachen verfahren mehr durch Zusammen / setzung (Agglutination) 114 ff., 118. / Anbildungssilben als Bezieh. auf die Kategorien / des Redens (116) / hier solle eine Geistesrichtung angedeutet, / nicht ein Begriff (Gegenstand, Ding) bezeichnet / werden (117) / Jetzt können wir auch den Satz in seine / Teile zerschlagen, da jedes Wort auch ver- / einzelt bereits seinen Stempel trägt, nicht / aus der Beziehung zu ihm herausfällt. Anders / ist es in den polysynthetischen Sprachen: sie / müssen ihn ängstlich schematisch zusammenhalten / (cf. S. 119.) – Näheres 143 ff! / Flexionsmethode als die höchste, als diejenige, / die allein dem Worte vor dem Geiste u. vor dem / Ohre die wahre innere Festigkeit verleiht / u. zugleich die Theile des Satzes mit Sicherheit / auseinanderwirft (162) / Das Chinesische entbehrt aller solcher Beziehungs- / zeichen (241) es deutet alle Form der Gramm. im weitesten Sinne durch / Stellung an (271), 272 [diese Zeile geht in Randbemerkungen über, die hier nicht zitiert sind, A. S.] / Die Flexionsmethode ist die relativ höchste, die / ›rein gesetzmäßige‹ Form s. S. 250 – 253, / sogar 254 die flektierende die ›allein richtige‹ / genannt cf. 256 f., 275 als die ›einzig gesetzmäßige‹ / Charakteristik der semitischen Sprachen 259 ff. / ausschließlich grammatischer Gebrauch der Vokale / in den semitischen Spachen (261) / 331
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boldt entlehnten – Beispiel aus dem Mexikanischen zeigt Cassirer daher, dass auch in dieser polysynthetischen Sprache Form und Stoff zusammenfinden, wenn auch nicht auf solch innigliche Weise wie in flektierenden Sprachen.333 Ein solcher ›Vorzug der flektierenden Sprachen‹ findet sich mit Bezug auf Humboldt auch in späteren Texten Cassirers formuliert und präzisiert.334 In der Philosophie der symbolischen Formen fügt Cassirer hinzu, dass die flektierenden Sprachen nicht nur eine besonders innigliche Einheit der formalen und stofflichen Elemente zustande bringen, sondern mit der Synthese zugleich die Analyse maximieren. Sie synthetisieren also die beiden Elemente in der Einheit des Wortes und des Satzes, erhalten und markieren aber zugleich ihre Differenz – wobei sie auch diese Eigenschaft noch unterschiedlich ausprägen können335 –: »Hier enthält schon die Worteinheit selbst gleichsam eine innere Spannung und die Ausgleichung und Überwindung derselben. Das Wort baut sich aus zwei deutlich getrennten, zugleich aber unlöslich miteinander verknüpften und aufeinander bezogenen Momenten auf. Einem Bestandteil, der rein der objektiven Bezeichnung des Begriffs dient, steht hier ein anderer gegenüber, der lediglich die Funktion erfüllt, das Wort in eine bestimmte Kategorie des Denkens zu versetzen, es als ›Substantivum‹, ›Adjektivum‹ oder ›Verbum‹ oder als ›Subjekt‹ oder näheres oder entfernteres Objekt zu kennzeichnen. Jetzt tritt der Beziehungsindex, kraft dessen das einzelne Wort mit der Gesamtheit des Satzes verknüpft wird, nicht mehr äußerlich an das Wort heran, sondern er verschmilzt mit ihm und wird zu einem seiner konstitutiven Elemente. [Anm. ausgelassen, A. S.] Die Differentiation zum Wort und die Integration zum Satz bilden korrelative Methoden, die sich zu einer einzigen streng einheitlichen Leistung zusammenschließen.«336 Die Nähe zu Humboldt ist in diesen Sätzen bis in die Formulierungen hinein zu erkennen. Mit dieser Charakterisierung der flektierenden Sprachen betont Cassirer im Einklang mit Humboldt, dass die ›formalen‹ und ›stofflichen Elemente‹ Hier also sehr merkwürdige Verteilung von / Stoff u Form, indem der Stoff ganz durch / Konsonanten, die Form rein durch Vokale / ausgedrückt wird (cf. 261 [Klammer nicht geschlossen, A. S.]«. 333 Vgl. Manuskript 1919, 161 – 165, mit Bezug auf Humboldt, GS VII, 1, 147 ff. Das Beispiel findet sich genauer ebd., 145. In ECW 11, 244 f., greift Cassirer dasselbe Beispiel, allerdings verkürzt, erneut auf und deutet es offenbar auf dieselbe Weise. 334 Vgl. neben den im Folgenden zitierten Passagen aus dem ersten Band der Philoso phie der symbolischen Formen auch ECW 16, 126 – 129. 335 So Cassirer in einer Anmerkung in ECW 11, 287 f., Anm. 16. 336 ECW 11, 287 f.
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hier nicht amalgamiert, sondern synthetisiert werden, ohne ihre Differenz einzuebnen. Genauer handelt es sich in diesem Sinne um eine artikulierte Synthese stofflicher und formaler Elemente, bei der die gegliederte Einheit auch tatsächlich in Wort und Satz zum sprachlichen, lautlichen Ausdruck kommt. Darin sieht Cassirer eine notwendige Bedingung für die Reflexion auf die Leistung der Symbolisierung und die sprachlichen Beziehungen, die dem Symbolisierten Sinn verleihen: »Die Entwicklung des sprachlichen Bewusstseins aber weist hier in die gleiche Richtung, wie die des logischen Bewusstseins. Je reicher und feiner die Sprache sich gestaltet, um so mehr erscheinen die reinen Beziehungselemente als die eigentlichen Träger ihrer charakteristischen Formgebung. Nicht einzelne gegenständliche Vorstellungen werden durch blosse Worte bezeichnet, sondern ein einheitlicher in blossen Vorstellungen gar nicht mehr fassbarer Sinn stellt sich im Satz, als einer Komplexion der verschiedenartigsten begrifflichen Beziehungen und Zuordnungen, dar.«337 In diesem Zitat wird deutlich, warum Cassirer nach wie vor ein solch großes Interesse an der Flexion hat: Er sieht eine ausgesprochen enge Verbindung zwischen der Synthese und Analyse von stofflichen und formalen Elementen in den flektierenden Sprachen und den Leistungen des wissenschaftlichen Begriffs nach seinen erkenntniskritischen Schriften.338 Die Entwicklung der Erkenntnis, wie er sie in Substanzbegriff und Funkti onsbegriff analysiert hatte, geht so mit der Entfaltung der Sprache parallel, wie Cassirer im Manuskript von 1919 – im Rückgriff auf Blatt 51 – ausführt: »Das Verhältnis des sprachlichen Elements zum sprachlichen Ganzen bestätigt, von welcher Seite man es auch betrachten mag, überall die allgemeine Beziehung, die die Logik und Erkenntniskritik zwischen dem vorfindet, was sie als Stoff- und Formelement bezeichnet. Wie hier der Stoff, wie die blosse ›Materie‹ der Erkenntnis niemals für sich, als ein absolut Anderes und Äußeres der Form gegenüber- und entgegensteht, sondern nur ein Grenzbegriff ist, den sich die Erkenntnis selbst schafft, um das letzte Bestimmbare zu bezeichnen, das aber schon die Forderung der Bestimmung und somit die Beziehung auf sie in sich schliesst – so giebt es im Sprachlichen, wie überhaupt in allen geistigen Formen, Bestimmtheit von Elemen Manuskript 1919, 157 f.; vgl. zum Satz als »Korrelat des Urteils« auch ebd., 212. Dieser Gedanke zieht sich von den ersten Blättern zum Projekt einer »Philosophie des Symbolischen« bis zur Publikation des Werks durch: Bereits auf Blatt 54, 2, vermerkt Cassirer mit Bezug auf Humboldt, GS VII, 1: »Sinn der Flexion: die substantiale ›Bedeutung‹ / der Zuthat, die ursprüngl. vorhanden ist, schwindet / allmähl; sie wird lediglich zum Träger, / blossem Zeichen der ›Kategorie‹ / cf. 112 f.« Und in ECW 11, 285, heißt es schließlich: »Erst durch diese Verwendung der Suffixe wird für die sprachliche Bezeichnung der reinen Relationsbegriffe der Boden bereitet.« 337
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ten nur dadurch, daß auch das Element eine spezifische ›Struktur‹, daß es die Form des Ganzen in sich bewahrt und repraesentiert.«339 Der ›Vorzug der flektierenden Sprachen‹ ist aus Cassirers Sicht folglich zuallererst durch ihre Nähe zum wissenschaftlichen Begriff bestimmt. Die sprachlichen Anfänge der Begriffsbildung schildert Cassirer sowohl im Manuskript von 1919 als auch im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen als Bildung von Wortreihen mittels gleichlautender Suffixe, wie bspw. bei den »indogermanischen Verwandtschaftsnamen« für Vater und Mutter, Bruder, Schwester und Tochter.340 Cassirer sieht darin das »Bestreben, Laut und Bedeutung dadurch in ein strengeres Verhältnis zu setzen, daß bestimmten begrifflichen Bedeutungsreihen bestimmten Lautreihen als ihre Entsprechung zugeordnet werden«341. Diese »Reihenbildungen der Sprache«342 vollziehen sich somit parallel in Wort- wie Begriffsbildung und beziehen Laut- wie Bedeutungsreihe aufeinander, ohne dadurch notwendig einen generischen Begriff – wie Verwandtschaft – zu bilden und das Gesetz dieser Reihe explizit zu machen. Cassirer verknüpft so seine Theorie des Reihenbegriffs mit dem Humboldt’schen Grundgedanken der »Bezeichnung verwandter Begriffe mit verwandten Lauten«343 und sieht in der Wortreihe den Anlass zur Frage nach dem sie bildenden Gesetz gegeben, was seit Sokrates’ τί ἔστι zur Ausbildung des reflektierten Begriffs geführt habe.344 Dieser wissenschaftliche und nicht mehr sprachliche Begriff stellt schließlich eine »›genetische Definition‹« dar, aus der die begrifflichen Zusammenhänge ›abgeleitet‹ oder ›konstruiert‹ werden können.345 Es wird damit auch nochmals deutlicher, warum Cassirer in Anlehnung an Humboldts Analyse der Flexion im Laut die ›physische Bedingung‹ des wissenschaftlichen Begriffs sieht: Da in der Bildung von Wortreihen nach einem Lautschema und ihrer Zuordnung zu einer Reihe von Bedeutungen in der lautlichen Struktur der Worte die Beziehungen realisiert werden, die zugleich die sprachliche Erschließung der Gegenstände bestimmen, nimmt hier die wissenschaftliche Begriffsbildung auf der Grundlage von Relationen und Reihen ihren Anfang. Das sinnliche ›Material‹ wird dabei – nach Manuskript 1919, 160. Vgl. ECW 11, 266 – 269, und weitgehend analog Manuskript 1919, 190 – 196. 341 ECW 11, 266. 342 ECW 11, 268. 343 Blatt 56, 1. 344 Vgl. ECW 11, 269. 345 »Die Analyse der Begriffszusammenhänge führt hier zuletzt auf ihre ›genetische Definition‹ zurück: auf die Angabe eines Prinzips, aus dem sie entspringen und aus welchem sie, als dessen Besonderungen abgeleitet werden können.« (Ebd.) Im Manuskript 1919, 191, spricht Cassirer hier vom »konstruktiven Moment«. 339
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Cassirers Beschreibungen, die bis in die Wortwahl hinein Nähen zu Humboldt zu erkennen geben – geradezu durchdrungen von den formalen Beziehungen der Sprache, die seinen Sinn zunehmend bestimmen sollen, bis es gleichsam in seiner symbolischen Funktion selbst aufgeht.346 So sollen beispielsweise die »Begriffe von Raum, Zeit und Zahl« Cassirer zufolge »das Sinnliche selbst fortschreitend mit geistigem Gehalt erfüllen und es zum Symbol des Geistigen gestalten«. 347 Eine solche »Umsetzung vom Sinnlichen ins Ideelle«348 , eine solche »›Entstofflichung‹«349 des Zeichens beruht zwar auf der ›physischen Bedingung‹ des Lauts, unterzieht sie aber einer Transformation, um sie zum »Träger« der sprachlichen Beziehungen zu machen, die den Sinn des Ausdrucks allein bestimmen. Dadurch wird vermittels der Funktionalisierung materieller Zeichen die ›Emanzipation vom sinnlich Unmittelbaren‹ möglich, die sich wesentlich in der Reflexion auf die symbolischen Beziehungen vollzieht, in denen symbolisch bestimmt und dargestellt wird, was zunächst unmittelbar gegeben schien. Der ›Vorzug der flektierenden Sprachen‹ hat sich somit von Humboldt zu Cassirer auf entscheidende Weise verschoben, da er nun nicht mehr eine bevorzugte Stellung innerhalb der Sprachen bezeichnet, sondern ihre besondere Rolle für die Entwicklung des wissenschaftlichen Begriffs und des ›beziehentlichen Denkens‹, wie in der Philosophie der symbolischen Formen nochmals in aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt: »Humboldt und die ältere Sprachphilosophie haben in diesem Sachverhalt den Beweis dafür gesehen, daß die echten Flexionssprachen den Gipfel der Sprachbildung überhaupt darstellen und daß sich in ihnen, und nur in ihnen, die ›rein gesetzmäßige Form‹ der Sprache in idealer Vollkommenheit auspräge. Aber auch wenn man sich gegen die Aufstellung derartiger absoluter Wertmaßstäbe zurückhaltender und skeptischer verhält, so ist doch unverkennbar, daß für die Ausbildung des rein beziehentlichen Denkens in den Flexionssprachen in der Tat ein außerordentlich wichtiges und wirksames Organ geschaffen Die »Kraft [der Sprache, A. S.] besteht eben darin, daß sie ein bestimmtes gegebenes Material in verschiedener Weise zu gestalten, daß sie es, ohne es zunächst inhaltlich zu verändern, in den Dienst einer anderen Aufgabe zu stellen und ihm damit eine neue geistige Form aufzuprägen vermag.« (ECW 11, 169) Diese Rede von ›Kraft‹ lässt sich unschwer als Wiederaufnahme Humboldtscher Redeweisen erkennen, vgl. exemplarisch Humboldt, GS VII, 1, 18 – 26. 347 ECW 11, 212. 348 ECW 11, 169. 349 Blatt 16, 17. Die Stelle lautet ausführlich: »Damit haben wir ein neues, sehr tiefes Moment / aller symbol. Funktion überhaupt gefunden: / alles Zeichen geht auf ›Entstofflichung‹ – u. / stellt dadurch eben immer reichere Beziehungs- / kreise, immer komplexere und subtiler Prozesse / dar, macht die Auffassung solcher Prozesse erst / möglich.« (Blatt 16, 17 f.) 346
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ist. Je mehr dieses Denken fortschreitet, um so bestimmter muß es auch die Gliederung der Rede nach sich gestalten, – wie andererseits eben diese Gliederung selbst wieder auf die Form des Denkens entscheidend zurückwirkt. – «350 Weil die flektierenden Sprachen die Reflexion auf die sinnverleihenden Beziehungen erlauben und befördern, versteht sie Cassirer als Vorbedingung des wissenschaftlichen Begriffs, dessen Bildung auf der Grundlage gesetzmäßiger Reihen sich der historischen Kontingenzen der Sprachen zu entledigen sucht und so die logische Gesetzmäßigkeit der objektiven Erkenntnis herausbilden kann. Für das Verständnis der Philosophie der symbolischen Formen ist es in der Konsequenz entscheidend, dass die Flexion eine Art Fluchtpunkt des ersten Bandes zur Sprache darstellt. Dieser behandelt zunächst »Die Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks« (Kapitel II) und gelangt über »Die Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks« (Kapitel III) schließlich zur »Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens« (Kapitel IV). Offenbar ist der Band nicht nur nach der Maßgabe des Telos der ›Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit‹ aufgebaut.351 Er richtet sich im ›Fortgang‹ von der vermeintlichen sinnlichen Unmittelbarkeit zu ihrer immer weitergehenden Durchdringung durch die sprachliche Symbolisierung auch deutlich an der zunehmenden Durchsetzung der ›Form-‹ oder ›Beziehungs-‹ gegenüber den ›Stoff-‹ oder ›Grundelementen‹ in der sprachlichen Form aus. Cassirer ordnet so das reichhaltige Material, das er aus den Sprachwissenschaften hinzuzieht, mit Blick auf die Flexion, die – abgesehen von einigen zerstreuten Erwähnungen – erst im letzten Kapitel »Die Sprache als Ausdruck der logischen Beziehungsformen. – Die Rela tionsbegriffe« (Kapitel V) behandelt wird.352 Es ist wie im Manuskript von 1919 der Übergang vom Wort zum Begriff, der Cassirer auf die Flexion zu sprechen kommen lässt und auf den die gesamte Behandlung der Sprache letztlich ausgerichtet ist. Nach der ausführlichen Erörterung der Genese des Symbolischen und der Formwerdung der Sprache in diesem Kapitel ist diese Struktur des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen und ihre Ausrichtung auf die Flexion nicht als eine historische Teleologie der Sprachentwicklung zu verstehen. Nicht zuletzt durch die Kenntnisnahme des vielfältigen und disparaten sprachwissenschaftlichen Materials sowie der kritischen Debatte ECW 11, 288. Das Motiv ist vor allem im dritten Kapitel wiederholt deutlich erkennbar, vgl. mit Bezug auf den Ausdruck des Raums ECW 11, 157 – 163, der Zeit ebd., 172 – 178, und der Zahl ebd., 189 – 191. 352 Zu einer der bemerkenswerteren früheren Erwähnungen der Flexion gehört ECW 11, 261 f., Anm. 13. 350 351
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über Humboldts sprachhistorische Spekulationen hat Cassirer eine solche Teleologie entschlossen verworfen und in der Philosophie der symbolischen Formen wie bereits im Manuskript von 1919 entschieden die irreduzible Vielgestaltigkeit der sprachlichen Ordnungen betont, die aus einer Theorie ebenso wenig abzuleiten wie in einer eindimensionalen historischen Entwicklung zu fassen sind.353 Dennoch hat Cassirer im ersten Band der Philo sophie der symbolischen Formen offenbar von der Genese des Symbolischen in der Gebärde über sein Verständnis der Lautlichkeit bis hin zur Entfaltung der sprachlichen Symbolisierungen in den folgenden Kapiteln von vornherein die Flexion im Blick. Dies ist wohl darin begründet, dass Cassirer von vornherein auf die sprachlichen Bedingungen der wissenschaftlichen Begriffsbildung reflektiert und daher die Entfaltung des Symbolischen in der Sprache in diese ganz bestimmte Perspektive rückt.354 Die privilegierte Rolle der Flexion wäre demnach dadurch gerechtfertigt, dass sie die Brücke von der Sprache zum Begriff zu schlagen erlaubt: Die Flexion realisiert die Vorbedingungen des wissenschaftlichen Begriffs in der Sprache. Es ist kein Zweifel, dass dieser Vorzug für Cassirer als einstigen Theoretiker des Begriffs keineswegs gering zu schätzen ist. Diese Begründung der Rolle der Flexion in der Philosophie der symboli schen Formen wirft nun aber eine neue Perspektive auf deren sprachphilo sophischen Band. Wenn Cassirers Anschluss an Humboldts Vorzug der flektierenden Sprachen dadurch motiviert ist, dass er auf die sprachlichen Vorbedingungen des wissenschaftlichen Begriffs reflektiert, dann passt dies sehr gut zur These des zweiten Kapitels der vorliegenden Studie, dass Cassirer kein deduktives, sondern ein reflektierendes Vorgehen verfolgt und auf den Spuren von Kants dritter Kritik die zugleich transzendentalen und empirischen Bedingungen des Symbolischen einbezieht. Entsprechend fragt der erste Band der Philosophie der symbolischen Formen unter Annahme 353 »Wie dieser Zusammenhang sich im Besonderen gestaltet und wie vielfältige Wege der Bestimmung des ›Stoffs‹ durch die ›Form‹ es giebt, davon mag freilich nur die ganze Mannigfaltigkeit der empirisch-geschichtlichen Anschauung ein Bild zu geben. Wenn die einen Sprachen das Verbum, die anderen das Nomen in den Mittelpunkt stellen, wenn die einen von der Anschauung des Tuns zu der des Seins, die anderen von der des Seins zu der des Tuns fortzuschreiten […] scheinen – so lassen sich alle diese Unterschiede, wenn überhaupt, so nur in der genauesten Vergleichung des Details der Einzelsprachen aufweisen und darlegen [Anm. ausgelassen, A. S.]. Innerhalb der Grenzen der abstrakten und allgemeinen Betrachtung kann nur die Notwendigkeit dieses Übergangs selbst eingesehen, nicht aber die Allheit der verschiedenen Richtungen bezeichnet werden, in denen er sich bewegt.« (Manuskript 1919, 165) 354 Wie Cassirer die wissenschaftliche aus der sprachlichen Begriffsbildung sich ent wickeln lässt, ist exemplarisch in Manuskript 1919, 187 – 200, zu verfolgen sowie mit Bezug auf den Zahlbegriff ebd., 201 – 211.
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des wissenschaftlichen Begriffs nicht nur nach dessen Bedingungen in der Sprache und also diesseits der Erkenntnis. Er begreift diese auch als zugleich transzendentale und historische Bedingungen, die sich in der Genese der Sprache und Sprachen entfalten müssen und daher an den Fakten der empirischen Forschung aus den Sprachwissenschaften aufzuweisen sind. In den flektierenden Sprachen wäre geradezu der empirische Beleg dafür zu sehen, wie sich die sprachlichen Bedingungen so weit entfalten können, dass sie gleichsam an der Schwelle stehen zur wissenschaftlichen Begriffsbildung. Indem Cassirer das Faktum des wissenschaftlichen Begriffs voraussetzt, um gestützt auf die Erkenntnisse der empirischen Kulturwissenschaften die Entfaltung der sprachlichen Bedingungen aufzuweisen, deren der Begriff bedarf, rückt er die Sprache aber von vornherein in eine theoretische Perspektive. Die Sprachphilosophie des ersten Bands erscheint gleichsam als sprachphilosophische Propädeutik der Theorie des Begriffs, weil sie zum einen dessen sprachliche Bedingungen einholt und zum anderen die theoretischen Potentiale der Sprache fokussiert. Der Begriff stellt aber nur eine Möglichkeit der sprachlichen Entfaltung dar – daneben wäre gestützt auf Cassirers Aufzeichnungen zur »Philosophie des Symbolischen« vor allem die ästhetische Reflexion zu nennen. Die Ästhetik war aller Wahrscheinlichkeit nach dasjenige kulturelle Feld, das Cassirer dazu geführt hat, über die Erkenntniskritik hinauszugehen, wie das erste Kapitel gezeigt hat. Sie wurde zudem in der Disposition vorgesehen und ihre Möglichkeit war seit den ersten Aufzeichnungen zu Wundt und in den entsprechenden Passagen im ersten Band durch die nachbildende Gebärde vorgezeichnet.355 Cassirer verfolgt diese Möglichkeit jedoch anscheinend nicht konsequent weiter, so dass die Kunst fast ausschließlich innerhalb der Aufzählungen von verschiedenen Formen genannt wird. Die Ästhetik stellt aber ebenso sehr eine Möglichkeit der Entfaltung der Sprache dar wie der logische Begriff, wie Cassirer durch die strukturelle Charakterisierung der Sprache deutlich macht. Die Sprache charakterisiert Cassirer nämlich immer wieder durch ihre Stellung zwischen Logik und Ästhetik, wie hier im Manuskript von 1919: Sie »steht in einem Mittelpunkt des geistigen Seins, in welchem sich Strahlen verschiedener Herkunft vereinen und von dem Richtlinien nach den verschiedensten Gebieten ausgehen. Das mythische und das logische Moment, – die Richtung der aesthetischen Intuition und die des diskursiven Denkens: dies alles ist in ihr beschlossen, ohne daß sie doch in einem von ihnen aufginge. So weist gerade die besondere Gesetzlichkeit, die sich in ihr ausdrückt, je schärfer sie hervortritt, um so klarer 355 Vgl. dazu nochmals den Abschnitt »Die Genese von Logik und Kunst: Wundts ›hinweisende‹ und ›nachbildende Gebärde‹« in diesem Kapitel oben S. 285 ff.
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wieder auf das Gesamtsystem der Bewusstseinsformen und auf die Einheit und Allgemeinheit der symbolischen Funktion als solcher zurück.«356 Dies ist der Schluss des Manuskripts von 1919, was der Betonung der ästhetischen wie logischen Möglichkeiten der Sprache umso mehr Gewicht verleiht. Nachdem Cassirer den Begriff zum Symbolischen verallgemeinert hatte, konzentrierte er sich im Feld der Sprache offenbar auf die Respezifikation zur begrifflichen Reflexion und arbeitete die sprachlichen Vorbedingungen des wissenschaftlichen Begriffs heraus. Er verfolgt damit aber bloß eine ›Richtung‹ der Entfaltung des Symbolischen in der Sprache, während er ›die Richtung der aesthetischen Intuition‹ offen lässt. Die Anschlüsse zur Entfaltung des ästhetischen Potentials liegen so zwar auch noch im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen bereit, markieren aber lediglich die Möglichkeit, auch die sprachlichen Vorbedingungen der ästhetischen Reflexion zu erörtern und damit die Formwerdung der Sprache unter dem Vorzeichen der Ästhetik zu entfalten. Der erste Band kann daher kaum als Cassirers ausgeführte Sprachphilosophie gelten, sondern lediglich als ein Teilband, dessen komplementärer ästhetischer Teil nicht ausgeliefert worden ist. Die Philosophie der symbolischen Formen zeigt daher schon in ihrer Behandlung der Sprache, welch große Herausforderung das kulturphilosophische Projekt für Cassirer darstellte. Die Ästhetik bildete einen wesentlichen Anstoß, über die Theorie des wissenschaftlichen Begriffs hinauszugehen und sich zunächst der Sprache zuzuwenden. Die Sprache gerät dadurch aber zugleich unter die Vorzeichen des Begriffs, da sich in ihr dessen sprachliche Vorbedingungen entfalten sollen. Es ist Cassirer damit ein Schritt über die Theorie des Begriffs hinaus gelungen, es ist aber nur ein erster Schritt, da das Telos der Sprache ein vielförmiges ist und auch andere Richtungen kennt. Cassirers Sprachphilosophie bleibt so zwar unvollständig, seine Konzeptionen der Genese des Symbolischen und der Formwerdung der Sprache markieren aber das darüber hinausgehende Potential des Symbolischen. Die Herausforderungen einer Kulturphilosophie in Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften werden Cassirer daher weiter antreiben und haben auch heute noch Bestand.
Manuskript 1919, 234. Ähnlich heißt es in ECW 11, 273: »Auch hier bewährt sich, daß die Sprache als geistige Gesamtform auf der Grenze zwischen Mythos und Logos steht, und daß sie andererseits die Mitte und Vermittlung zwischen der theoretischen und der ästhetischen Weltbetrachtung darstellt.« 356
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Die vorliegende Studie mündete im dritten Kapitel in ein scheinbar nega tives Ergebnis. Der erste Band der Philosophie der symbolischen Formen stellt demnach zum einen eine unvollständige Sprachphilosophie dar, denn Cassirer betrachtet die Sprache zwar als so mächtig, dass sie sich sowohl in eine logisch-begriffliche als auch eine ästhetische Richtung entfalten kann, entwickelt aber tatsächlich nur ihr logisch-begriffliches Potential. Zum anderen gelingt Cassirer damit nur ein erster Schritt von der erkenntniskritischen Theorie des Begriffs zur Philosophie der Kultur, da er nicht das vielfältige kulturelle Potential der Sprache herausstellt, sondern sie in die Perspektive des Begriffs rückt, um dessen sprachliche Vorbedingungen zu entfalten. Diese Grenzen des ersten Bands der Philosophie der symbolischen Formen wurden allerdings nicht aufgewiesen, um Cassirers Philosophie der Sprache in ihrem vorliegenden Bestand zu kritisieren. Vielmehr wurden sie nachgezeichnet, um das Potential des Ansatzes der »Philosophie des Symbolischen« herauszuarbeiten, das sich in der Ausführung nicht notwendigerweise auf jeder Seite zeigt. Die Frage der Kultur, die im Laufe des Projekts aufkommt, stellt eine Herausforderung dar, die auch in den vorliegenden Bänden der Philosophie der symbolischen Formen keine abschließende Behandlung erfährt. Einen bedeutsamen Anhaltspunkt stellt die Ästhetik dar, die Cassirer von der ersten Disposition des neuen Projekts an vorgesehen, jedoch niemals ausgeführt hat. Die Produktivität des Ansatzes der »Philosophie des Symbolischen« zeigt sich aber bereits in den Grenzen von Cassirers Behandlung der Sprache als Vorbedingung der wissenschaftlichen Begriffsbildung. Denn sie beruht auf einem Verständnis von Bedingungen, das sie deutlich unterscheidet von einer üblichen Auffassung transzendentaler Bedingungen. Cassirer selbst hatte in seinen älteren erkenntniskritischen Schriften zum Beispiel den Begriff schlicht als notwendige Bedingung der Erkenntnis postuliert und dabei wie seine neukantianischen Lehrer jeden Rekurs auf die kantischen Vermögen und ihre psychologisch-physiologische Deutungen strikt vermieden, so dass die Bedingungen der Erkenntnis seltsam ortlos blieben. Mit der »Philosophie des Symbolischen« wird der Begriff nun aber verortet, da sich seine Vorbedingungen in der Sprache realisieren. Sie nehmen in den syntaktisch-grammatischen Strukturen der flektierenden Sprachen konkrete Gestalt an und schließen auch den sinnlichen Laut als ›physische
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Bedingung‹ ein. Wie im dritten Kapitel gezeigt wurde, erweist sich Cassirers Anlehnung an Humboldts Analyse der Flexion zwar als zwiespältig, sie zeigt aber zugleich, wie Cassirers kulturphilosophische Reflexion die Bedingungen des wissenschaftlichen Begriffs aus der empirischen Beschreibung konkreter Sprachen herauszuarbeiten sucht und sie damit in der historischen Entfaltung der Sprache verortet. Dieses Verständnis der sprachlichen Vorbedingungen des Begriffs steht in der Tradition der transzendentalen Reflexion Kants, entwickelt diese Reflexion aber mit Bezug auf die Frage der Kultur entschieden weiter. Denn Cassirers kulturphilosophischer Reflexion geht es zwar ebenso um die Bedingungen unserer Erfahrung. Sie führt aber nicht mehr auf Bedingungen zurück, die unabhängig sind von dem, was wir erfahren können, und die wir daher allen Gegenständen, insofern wir sie erfahren, verbindlich vorschreiben können. Diese Auffassung der Bedingungen unserer Erfahrung als a priori und objektiv im Sinne der Kritik der reinen Vernunft hatte die neukantianische Tradition, von der Cassirer ausging, bereits dahingehend verschoben, dass sie alle Bedingungen funktional interpretierte und sie daher nicht als unveränderliches Fundament verstand, sondern sie in einem ideengeschichtlichen Rahmen sich entwickeln ließ. Cassirer geht jedoch einen Schritt weiter, indem er an die Erweiterung und Vertiefung des Verständnisses von Bedingungen anknüpft, die Kant nach den Ausführungen des zweiten Kapitels der vorliegenden Studie bereits in der Kritik der Ur teilskraft vorgezeichnet hatte. Denn mit der Einführung der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft mussten neuartige Bedingungen angenommen werden, die gleich in zweierlei Hinsicht über die apriorischen und objektiven Bedingungen aus der Kritik der reinen Vernunft hinausgingen. Sie sind erstens nicht unabhängig von den Gegenständen, die sich nach ihnen notwendig richten würden, sondern müssen sich nach ihren Gegenständen richten, ihnen gleichsam abgelesen und an ihnen überprüft werden. Dadurch können sich diese Bedingungen zweitens nicht nur wandeln, sondern sich auch für verschiedene Typen von Gegenständen spezifizieren. Die dritte Kritik und ihre »Erste Einleitung« sind daher eng verknüpft mit der Frage nach den besonderen Bedingungen, die eine spezifische Differenzierung der Erkenntnisformen (wie beispielsweise die Biologie) begründen und damit über die homogene Einheit der allgemeinsten Bedingungen der Erkenntnis hinausgehen. Diese transzendentale Reflexion bezieht somit auch solche Bedingungen ein, die vorausgesetzt werden, um sie an den Gegenständen zu erproben, und daher zugleich spezifische Formen genuin empirischer Erkenntnis charakterisieren. Es ist diese Erweiterung und Vertiefung der transzendentalen Reflexion, die Cassirer in seinen Studien zu Kant historisch behandelt und sich für
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seine »Philosophie des Symbolischen« zugleich systematisch zu Nutze macht. Denn Cassirer geht zum einen davon aus, dass die Bedingungen der Kultur ihren Ort in der Kultur selbst haben, statt sich ihrer empirischen Realität und ihrer Geschichte vorzuordnen. Die Bedingungen unserer Erfahrung haben ihre Wirklichkeit in der historischen Welt der kulturellen Objektivationen und der symbolischen Medien, in und mit denen sie sich wandeln und entfalten. Zum anderen ist die Kultur aus Cassirers Sicht durch ihre innere Vielfalt und Differenzierung gekennzeichnet, so dass die kulturphilosophische Reflexion mit einer Gemengelage von allgemeinen und besonderen Bedingungen operieren muss, um der Spezifik kultureller Phänomene soweit möglich gerecht zu werden. Wie das erste Kapitel gezeigt hat, ist hierin eine zentrale Errungenschaft der Disposition der »Philosophie des Symbolischen« zu sehen. Sie ist von der Unterscheidung symbolischer Formen – wie z. B. Sprache oder Erkenntnis – bis zu deren interner Differenzierung – der konkreten Sprachen oder der Grundbegriffe verschiedener Disziplinen – ausgerichtet auf die Spezifikation des Symbolischen. Cassirers Bemühen um die Einheit der Kultur sollte daher stets vor dem Hintergrund dieser entschiedenen Betonung der Spezifikation von symbolischen Formen und ihrer internen Differenzierung gesehen werden. Die Konzeption der kulturphilosophischen Reflexion hat weitreichende Folgen für Cassirers Projekt der »Philosophie des Symbolischen«. Diese bewegt sich nämlich selbst in der fragilen Situation der reflektierenden Urteilskraft im Sinne Kants. Cassirer formuliert so auch seine eigene methodische Maxime, wenn er Kants dritte Kritik rühmt: »Nirgends anders als am Besonderen ist, wie sich jetzt zeigt, die Funktion des ›Allgemeinen‹ darstellbar. In dieser Hinsicht hat der Gedanke, auf den die Lehre vom Schematismus hinzielt, seine entscheidende Ergänzung und Erfüllung erst in der ›Kritik der Urteilskraft‹ gefunden.«1 Folglich kann auch die kulturphilosophische Reflexion die einzelnen Phänomene nicht aus einem angenommenen Allgemeinen ableiten und ebenso wenig unmittelbar auf einen homogenen Rahmen allgemeinster Bedingungen schließen. Vielmehr muss sie anhand der konkreten Phänomene auf deren allgemeine wie spezifische Bedingungen reflektieren, die nicht unabhängig von diesen Phänomenen zu denken sind. Dadurch wird es zugleich möglich, Prozesse der konkreten Spezifizierung des Symbolischen und die wechselseitige Bestimmung der Bedingungen und Gegenstände der kulturellen Erfahrung in den Blick zu nehmen. Die Annahme, dass das Allgemeine nur am Besonderen zu fassen ist und die Bedingungen unserer Erfahrung daher an den empirischen und historischen kulturellen Phänomenen aufzuweisen sind, führt zudem dazu, dass 1
ECW 9, 211.
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Cassirer »überall vom ›Gegebenen‹, von den empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewusstseins« ausgeht, um nach ihren spezifischen Bedingungen zu fragen. 2 Diese »Tatsachen« sind aber nicht schlicht gegeben. Sie müssen eigens durch die Forschung festgestellt werden, was nicht der Philosophie obliegt, sondern den Geistes- und Kulturwissenschaften. Wenn Cassirers kulturphilosophische Reflexion von konkreten und besonderen, empirischen und faktischen Phänomenen ausgeht, dann stützt er sich somit auf die Beschreibung durch die kulturwissenschaft liche Forschung. Auf Blatt 39 spricht Cassirer diese Verschränkung von Reflexion und Deskription an: Es »bleibt nichts / übrig als die Formen, wie dies ohnehin / geschehen muss, zunächst in ihrer rein / faktischen Gegebenheit hinzunehmen u. sie / dann ›transzendental‹ zu analysieren. / Wir deduzieren nicht die eine aus der / andern; aber wir suchen deskriptiv / ihre Einheit, ihren Zusammenhang, ihren / Fortschritt u. ihren Widerstreit festzustellen. / Hierzu wenden wir uns an die Geschichte / des Geistes: in der Kunst, der Religion, der / Sprache, des Mythos, der Wissenschaft«3 . Cassirer skizziert hier programmatisch ein Zusammenspiel kulturphilosophischer Reflexion und kulturwissenschaftlicher Deskription: Er verknüpft die Beschreibung der gegebenen Phänomene mit der Frage nach ihren spezifischen Bedingungen, weil Bedingungen und Phänomene sich nur wechselseitig bestimmen und spezifizieren können. Die transzendentale Reflexion führt bei Cassirer deshalb nicht auf Bedingungen zurück, die unserer Erfahrung zugrunde liegen, aber keine eigene empirisch-historische Wirklichkeit haben. Stattdessen führt sie in die kulturelle Welt, ihre Faktizität und ihre Geschichte hinein. In dieser Verflechtung kulturphilosophischer Reflexion und kulturwissenschaftlicher Deskription hat Cassirers Versuch eines ›welthaltigen Denkens‹, das nach Ralf Konersmann die Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts insgesamt kennzeichnet, seine eigene Signatur. Cassirers Zusammenarbeit mit den Kulturwissenschaften verbindet sich darüber hinaus mit seiner entschiedenen Betonung der inhärenten Vielfalt der Kultur. Er geht nämlich davon aus, dass die Philosophie einer in sich vielfältigen Welt der Kultur und Kulturen, der Sprache und Sprachen, des Mythos und der Mythen, der Kunst und der Künste nur mit Hilfe der kulturwissenschaftlichen Forschung habhaft werden kann. Cassirer macht sich so methodisch die bereits von Dilthey vertretene Einsicht zu Nutze, dass die Vielfalt von geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen als eine Reaktion auf eine zunehmend differenzierte Welt zu sehen ist: Die Wissenschaft konnte dieser Entwicklung nur durch ihre eigene Ausdifferenzierung 2 3
ECW 12, 13 f. Blatt 39, 1.
Schlusswort 361
Rechnung tragen. Für die »philosophische Betrachtung« stellt der »Reichtum des empirisch-wissenschaftlichen Forschungsmaterials« so zwar eine kaum zu meisternde Herausforderung dar. 4 Es bietet ihr aber den einzigen Weg, die Komplexität der Kultur zu fassen zu bekommen. Cassirers kulturphilosophische Reflexion stellt somit die Vielfalt der Kultur ins Zentrum und unterscheidet sich darin trotz mancher Parallelen scharf von Hegels Philosophie. Denn es geht Cassirer zwar wie Hegel um Bedingungen der Erfahrung, die in den kulturellen Objektivationen des Geistes ihre Wirklichkeit haben und sich im wechselseitigen Zusammenhang mit der Bestimmung der Welt selbst entfalten. Er lehnt jedoch entschieden ab, die Entfaltung und Spezifikation des Symbolischen ausgehend von einer begrifflichen Logik zu begründen. In der Disposition von 1917 kritisiert er daher unter dem Titel der »Metaphysik des Symbolischen« die logische Geschlossenheit des Hegel’schen Systems und versucht dagegen die »konkrete / Fülle des Verschiedenen selbst«5 zur Geltung zu bringen. Die Entfaltung des Symbolischen fügt sich keiner begrifflichen Logik und resultiert nicht in einer einfachen, gerichteten Entwicklungsreihe. Sie lässt keine historischen Entwicklungsstufen aufeinander folgen, sondern bewahrt entfaltete Formen weiter als Möglichkeiten. Sie kennt viele Richtungen, wie in der vorliegenden Studie anhand der begrifflichen und ästhetischen Reflexion aufgewiesen wurde, und vermehrt ihren inneren Reichtum durch jede Spaltung in Spezifikationen und Differenzierungen. Die philosophische Kritik an Hegels System schließt für Cassirer aber keineswegs aus, dass der ›konkreten Fülle des Verschiedenen selbst‹ nur Rechnung getragen werden kann, indem die kulturphilosophische Reflexion die Einheit in der Vielfalt oder den »Zusammenhang / in der Besonderheit der spezifisch-verschiedenen / Symbol-Äusserungen« im Blick behält. Eine solche Systematisierung der Formen der Symbolisierung steht aber nicht mehr unter den Vorzeichen des philosophischen Begriffs, sondern geht von den Erkenntnissen der kulturwissenschaftlichen Forschung aus und bemüht sich in der Reflexion auf die allgemeinen und spezifischen Bedingungen des Symbolischen um eine stets heuristische und provisorische Ordnung der Kultur. Cassirer begreift sein Vorgehen somit als ein reflektierendes Vorgehen in kantischer Tradition und setzt es von einem deduktiven Anspruch im Sinne der nachkantischen Systeme ab. Er grenzt sich aber auch dahingehend von jeglichem Idealismus ab, dass er seine kulturphilosophische Reflexion mit der Empirie der kulturwissenschaftlichen Forschung eng verwebt. Wenn Cassirer auf seinem kritischen Idealismus beharrt und sich wie wenige an4 5
ECW 11, X. Disposition 1917, 31, vgl. dort auch das folgende Zitat.
362 Schlusswort
dere Philosophen auf die Kulturwissenschaften einlässt, dann ist darin eine dezidiert posthegelianische Programmatik zu sehen: Er gibt jeden Anspruch auf ein Primat der Philosophie auf und sucht die produktive Zusammen arbeit mit den Geistes- und Kulturwissenschaften, die nach Hegel entstanden waren und sich der Philosophie längst nicht mehr unterordneten. Die Nähe von Cassirers Kulturphilosophie zu den Kulturwissenschaften begründet sich daher nicht nur systematisch mit Bezug auf die Komplexität der kulturellen Welt und sein reflektierendes Vorgehen in kantischer Tradi tion. Sie resultiert auch aus der neuen historischen Situation der Philosophie an den Universitäten im 20. Jahrhundert, in der Cassirer offenbar die Chance sah, aus der Zusammenarbeit mit den Kulturwissenschaften philosophischen Nutzen zu ziehen – was in der Philosophie bis heute keineswegs selbstverständlich ist. In dieser Hinsicht ist es eine nach wie vor bedenkenswerte Innovation Cassirers, sich nicht auf Logik, Begriffe und Argumentationen zurückzuziehen, die unter dem Eindruck der Axiomatisierung der Mathematik um 1900 als unabhängig von der Empirie betrachtet werden und ihrer auch nicht bedürftig scheinen. Ein solcher Ansatz hätte sich Cassirer durchaus angeboten, entwickelte er seine frühe Theorie des Begriffs doch in großer Nähe und intensiver Beschäftigung mit eben dieser jüngsten Entwicklung von Logik und Mathematik. Stattdessen macht ihn die Kritik von Richard Hönigswald auf das Problem aufmerksam, dass der Rekurs auf die allgemeinsten Begriffe nicht ausreichend ist, da sie in ihren Anwendungen spezifiziert werden und daher ausgehend vom Zusammenhang der Anwendung zu bestimmen sind. Cassirer fragt darüber hinaus nach den Vorbedingungen des Begriffs und verortet sie im größeren Zusammenhang von Sprache und Kultur. Er gibt den philosophischen Primat einer scheinbar reinen Logik auf, um sich stattdessen der Empirie der Kulturwissenschaften und auf diesem Wege der Welt in der ihr eigenen Komplexität zuzuwenden. Die Aktualität dieses Ansatzes tritt umso schärfer hervor, als noch die heutige Philosophie des Öfteren zögert, die posthegelianische Herausforderung der Kulturwissenschaften anzunehmen und sich stattdessen auf scheinbar reine Begriffe und logische Argumentationen zurückzieht. Auf Seiten anderer Disziplinen stößt dies ebenso auf Gleichgültigkeit wie manche philosophische Einmischung vom hohen Ross der Logik herab. Die Aktualität von Cassirers Kulturphilosophie zu betonen, heißt natürlich nicht, diese charakteristische Verknüpfung von philosophischer Reflexion und empirischer Deskription als ein Patentrezept anzupreisen. Ein solches Versprechen erscheint zwar verführerisch angesichts der Situation der Philosophie, die heute nicht minder prekär scheint als damals. Jedoch bleibt nicht nur die Entwicklung der Kulturwissenschaften in den letzten Jahr-
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zehnten zu bedenken, die nicht ohne weiteres vergleichbar sind mit dem, was ich mit Bezug auf Cassirers Zeit heuristisch Geistes- und Kulturwissenschaften genannt habe. Darüber hinaus würde auch die wesentliche Aufgabe übersprungen werden, die systematische Stringenz und das heuristische Potential von Cassirers Ansatz ausführlich und detailliert zu diskutieren. Es verbietet sich ebenso, einen bloßen Rückgang auf Cassirers Philosophie zu predigen, wie sie wegen ihrer aus heutiger Sicht mitunter befremdlichen Aspekte kurzerhand als überholt zu verwerfen. Es gilt hier vor allem zwei Aspekte zu benennen. Ein erster Aspekt ist mit der verbreiteten Kritik verbunden, dass Cassirer keine scharfe Begrifflichkeit ausarbeitet und sich seine Argumentation in der Materialfülle der Texte verflüchtigt. Hierauf hat die vorliegende Studie eine Antwort zu geben versucht: Dieses Charakteristikum von Cassirers Philosophieren ist wesentlich dem Umstand geschuldet, dass er philosophische Theoriebildung und kulturwissenschaftliche Empirie verwebt und die Begriffe daher nicht für sich alleine, sondern mit Bezug auf das vorliegende Material schärft. Der Begriff der Genese des Symbolischen, der im Titel der vorliegenden Studie steht, stellt dafür ein paradigmatisches Beispiel dar: Er steht keineswegs im thematischen Zentrum von Cassirers Entwurf der »Philosophie des Symbolischen«, entfaltet sich aber in seiner Kritik an Wundts naturalistischer Konzeption der Genese ebenso wie im Anschluss an Humboldts Sprachforschung. Wenn Cassirer auf eine ausführliche Klärung des Begriffs der Genese weitestgehend verzichtet, dann kann ihm dies als ein philosophischer Mangel vorgehalten werden. Es kann aber auch als Ausdruck eines Denkens verstanden werden, das kulturphilosophische Reflexion und kulturwissenschaftliche Empirie verknüpft und darüber hinaus zu genau um seine eigene Historizität weiß, als dass es sich erlauben würde, in eine scheinbar rein begriffliche Erörterung zu flüchten. Ein zweiter Aspekt von Cassirers Kulturphilosophie dürfte dazu beitragen, dass ihre Aktualität nur selten in den Blick kommt. Sie teilt nämlich trotz aller Bemühungen, sich von den nachkantischen Systemen abzusetzen, ein wesentliches Movens mit dieser idealistischen Tradition. Cassirer verwebt seine philosophische Reflexion mit der empirischen Deskription nämlich nicht mit dem Ziel, die Kultur des Menschen gleichsam auf den positivistischen Boden der Tatsachen zurückzuholen. Vielmehr geht es ihm darum, den Menschen in den Horizont seiner Möglichkeiten zu stellen. Der erste Band der Philosophie der symbolischen Formen belegt diesen Zusammenhang schon in seinem Aufbau, der eine stufenweise »Emanzipation von der sinnlichen Un- / mittelbarkeit«6 vorsieht und damit das hegelianische
6
Blatt 1, 2.
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Motiv einer »geistigen / Selbstbefreiung« verfolgt.7 Wie das dritte Kapitel gezeigt hat, ist darin jedoch keine historische Behauptung zu sehen und der erste Band somit keineswegs als Schilderung einer geschichtlichen Entwicklung zu lesen. Vielmehr geht es Cassirer darum, das Potential des Symbolischen aufzuweisen, durch seine Entfaltung die ›Selbstbefreiung‹ des Menschen zu ermöglichen und dessen Einsicht in den eigenen Anteil an der Symbolisierung zu befördern. Cassirer argumentiert somit nicht wie Hegel, dass die Geschichte der Menschheit in die ›Selbstbefreiung‹ mündet, vielmehr weist er deren tatsächliche Möglichkeit auf, indem er das Potential des Symbolischen herausarbeitet und dessen Entfaltung letztlich als normatives Telos seiner Kulturphilosophie begreift. Eine solche Betonung der ›Selbstbefreiung‹ des Menschen trifft sicherlich weder den Ton der Philosophie der letzten Jahrzehnte noch den der Kulturwissenschaften und dürfte kaum zu Unrecht auch gewichtige systematische Einwände provozieren. Nichtsdestotrotz bleibt aus der Sicht der vorliegenden Studie anzuerkennen, dass die idealistische Pointe von Cassirers Kulturphilosophie alles andere ist als eine Spekulation im luftleeren Raum. Eine solche ›Selbstbefreiung‹ zielt, erstens, zwar auf eine Emanzipa tion von der sinnlichen Unmittelbarkeit ab, bedient sich jedoch bis in die ›physischen Bedingungen‹ der Sprache hinein sinnlich-materieller Mittel und muss letztlich ihre Basis in der Sinnlichkeit des Menschen und der Medialität des Symbolischen bewahren. Diese Emanzipation ist, zweitens, zwar mit der Einsicht in die eigene Aktivität der Symbolisierung verbunden, unterscheidet sich aber prinzipiell von jedem symbolischen Konstruktivismus. Denn die Symbolisierung bleibt stets an die sinnliche Gegebenheit zurückgebunden, die sie in letzter, aber unerreichbarer Instanz als ihr eigenes Gebilde sich anzuverwandeln sucht. Drittens postuliert Cassirer eine solche ›Selbstbefreiung‹ nicht bloß oder leitet sie aus einer Bestimmung des Menschen unmittelbar ab. Er versucht ihre Möglichkeit vielmehr in der Kritik an naturalistischen Reduktionismen auf der einen Seite zu verteidigen und sie auf der anderen Seite anhand empirischer und historischer Befunde der Kulturwissenschaften tatsächlich aufzuweisen. Cassirers Symbolphilosophie versucht so den Menschen auf die Höhe seiner Möglichkeiten zu bringen und teilt dieses Ziel aus der Ferne betrachtet mit Heideg gers Bestimmung des Daseins als »Möglichsein«. 8 Jedoch nimmt dieses ›Möglichsein‹ bei Cassirer eine ganz andere Form an, da es nicht auf den je eigenen Entwurf des Daseins zurückgeht und daher in der modernen Welt verlorenzugehen droht. Für Cassirer werden vielmehr alle Möglichkeiten 7 8
Blatt 18, 7. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, 143 – 146 und 261 – 264.
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gerade durch die Kultur und ihre Vielfalt eingeräumt. Sie gehen notwendig durch die Symbolisierung hindurch und eröffnen sich nicht zuletzt durch die der Kultur eigene Differenzierung. Selbst Cassirers Idealismus erscheint noch der Wirklichkeit verpflichtet, wo er für die ›Selbstbefreiung‹ des Menschen votiert. Cassirer lässt sich nicht nur auf die kulturwissenschaftliche Empirie ein, um die Möglichkeit der Freiheit an den Tatsachen aufzuweisen. Er nimmt damit zugleich die posthegelianische Herausforderung der Philosophie an und gewinnt aus der Rezeption der Kulturwissenschaften einen erheblichen Komplexitätsgewinn für seine eigene Philosophie. Zuletzt darf nicht vergessen werden, was in der vorliegenden Studie nicht behandelt wurde: Die idealistische Stoßrichtung von Cassirers Kulturphilosophie gehört aller Wahrscheinlichkeit nach gerade auch deshalb seiner kulturellen Welt an, weil er sie im Sommer 1917 konzipiert und also mitten im Ersten Weltkrieg eine optimistische Sicht auf die Kultur entwirft. Dem kulturkritischen Zeitgeist hält Cassirer so nicht weniger als die Möglichkeit einer ›Selbstbefreiung‹ entgegen, die sich durch die Entfaltung und Pluralität der kulturellen Formen vollzieht. Diese Haltung mag heute enthoben erscheinen – sie war damals alles andere als das. Denn Cassirers Philosophie ist in dieser engagierten Position ihrer Welt mehr verbunden als so manche Philosophie, die mit dem Anspruch antritt, sich der Welt zuzuwenden, ohne sich selbst in der Welt verortet zu wissen.
»›Philosophie des Symbolischen‹ (allg[emeine] Disposition)«
Cassirers Entwurf einer »›Philosophie des Symbolischen‹ (allg[emeine] Disposition)« ist der Forschung bislang unbekannt und wird auf den folgenden Seiten erstmals zugänglich gemacht. Er wurde auf der ersten Seite von Cassirers eigener Hand auf den »13. VI. 17« datiert und ist Teil eines Konvoluts, das sich in Ernst Cassirer Papers, Beinecke Rare Book and Ma nuscript Library, GEN MSS 98, Box 24, Folder 440, befindet und aus zwei gefalteten, ineinander gelegten Bögen von der Größe 33 × 21 cm besteht. Die acht Seiten sind 16,5 × 21 cm groß und nach der ersten, datierten Seite von 2 bis 8 paginiert. Hochkant sind sie 4–5 cm gefalzt, der entstehende Rand ist teilweise beschrieben. Das Papier ist leicht bräunlich bzw. gelblich, teilweise abgegriffen und ohne Wasserzeichen. Der Text ist mit schwarzer Tinte geschrieben, einzelne Unterstreichungen und Markierungen sowie die Paginierung sind mit blauem oder rotem Stift hinzugefügt worden. An dieses Teilkonvolut, das bereits im Titel als »Blatt I« (in schwarzer Tinte, rot unterstrichen) bezeichnet ist, schließen formal wie inhaltlich (vgl. dazu den Abschnitt »Der Befund« im ersten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 40 ff.) weitere Teilkonvolute an: »Allgemeine Disposition Blatt II a)« (im Titel, rot unterstrichen, Box 24, Folder 441, 1 gefalteter Bogen, 4 Seiten, unpaginiert), »Allg. Dispos. Bl. II b)« (am Rand, blau markiert, Box 24, Folder 441, im Anschluss an »Blatt II a)«, 1 gefalteter Bogen, 4 Seiten, unpaginiert), »Allg. Dispos. Bl. II c)« (am Rand, blau markiert, Box 24, Folder 441, im Anschluss an »Allg. Dispos. Bl. II b)«, 1 gefalteter Bogen, 4 Seiten, unpaginiert), »Allg. Disp. Blatt II d)« (am Rand, blau markiert, Titelzeile: »V) Die Grundprobleme der Aesthetik«, Box 24, Folder 441, im Anschluss an »Allg. Dispos. Bl. II c)«, 1 gefalteter Bogen, 4 Seiten, unpaginiert) sowie »Allg. Disp. Blatt II e« (am Rand, blau markiert, Titelzeile: »VI) Die Metaphysik des Symbolischen«, Box 24, Folder 440, 1 gefalteter Bogen, 4 Seiten, unpaginiert) und »Allg. Dispos. Blatt II f« (am Rand, blau markiert, Box 24, Folder 440, im Anschluss an »Allg. Disp. Blatt II e«, 1 gefalteter Bogen, 4 Seiten, unpaginiert). Papier und Tinte der Teilkonvolute sind nicht zu unterscheiden von denen, die bereits anhand von »Blatt I« beschrieben wurden. In manche Teilkonvolute sind weitere Zettel eingelegt worden, die meist jedoch keinen eindeutigen Zusammenhang mit der »Allgemeinen Disposition« erkennen lassen und daher nicht aufgenommen wurden.
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Die beschriebenen Teilkonvolute bilden die Disposition einer »Philo sophie des Symbolischen«, die durch eine durchgehende Gliederung struk turiert ist: »I) Die Psychologie des Symbolischen«, »II) Die Logik des Symbolischen«, »III) Die Zahlfunktion (N)«, »IV) Allgemeine Erkenntnislehre«, »V) Die Grundprobleme der Aesthetik« und »VI) Die Metaphysik des Symbolischen«. Sie stellen einen zusammenhängenden Text von 32 Seiten dar, von dem die vorliegende Studie ausgeht und der daher auf den folgenden Seiten dokumentiert wird. Dadurch soll der Forschung zugleich ein Text zugänglich gemacht werden, der den Beginn von Cassirers Arbeiten an einem symbolphilosophischen Projekt im Juni 1917 belegt, das schließlich zur Publikation der Philosophie der symbolischen For men ab 1923 führen sollte. Der folgende Abdruck verfolgt nicht den Anspruch einer wissenschaft lichen Edition und verzichtet angesichts der ausführlichen Erörterungen der vorliegenden Studie insbesondere auf jede Kommentierung. Die 32 Seiten von Cassirers Disposition werden zum einen abgebildet, damit der Leser einen visuellen Eindruck gewinnen kann und insbesondere die graphischen Aspekte der Arbeitsnotizen nicht verloren gehen.1 Zum anderen ist die Disposition in einer Transkription wiedergegeben, wodurch die Lektüre erleichtert und ein zitierfähiger Text bereitgestellt werden soll. Das Zusammenspiel zwischen Reproduktion und Transkription zielt somit nicht darauf ab, einen Text herzustellen, der einer Publikation gleicht, sondern eine Projektskizze aus Cassirers Arbeitspapieren zugänglich zu machen, die wesentliche Einblicke in dessen Übergang von der Wissenschaftstheorie zur Kulturphilosophie gewährt.
1 Die Scans der Seiten sind auch über die Beinecke Digital Collections frei verfügbar. Der direkte Zugriff ist über folgende Links möglich: http://brbl-dl.library.yale.edu/vufind/Record/3542106 http://brbl-dl.library.yale.edu/vufind/Record/4099163 http://brbl-dl.library.yale.edu/vufind/Record/4099162
Die Transkription gibt den Text sowie graphische Elemente in einer schema tischen Form wieder, um die Zuordnung des Textes zur Reproduktion auf der gegenüberliegenden Seite zu erleichtern. Sie bedient sich folgender Konventionen: Text Unterstreichung Text Streichung Te\x/t Einfügung zwischen den Zeilen Text Unsichere Entzifferung X Unentzifferbare Zeichenfolge Endungsverschleifung Texte
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»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 1
„Philosophie des Symbolischen“ (allg. Disposition) Allg. Blatt I I) Die Psychologie des Symbolischen A) Allgemeines – Das Problem des „Ausdrucks“ – Das ›Innere‹ und das ›Äussere‹ – Der falsche Dualismus zwischen Innen und Aussen: die Ausdrucksfunktion als notwendige Funktion; als konstitutiv für den ›Bestand‹ des Psychischen selbst. Anschliess. Diskussion und Kritik des psychophysischen ›Parallelismus‹ Falsche Fragestellung in diesem ›Parallelismus‹; legt die Ansicht nahe, als sei erst ein Inneres da, das sich nachträglich und zufällig veräusserte, veräusserlichte – Begründung der entgegengesetzten Ansicht: Das Innere und das Äußere nicht blos additiv; komplementär – sondern korrelativ. (Worte Goethes Nichts ist drinnen, nichts ist draussen … und Hegels in der Logik) Daher ist der Körper im Verh. zur Seele kein blosses ἄλλο – (und zwar das radikal ›Andere‹ Heterogene wie die ganze dualist. Metaphys. es annimmt)
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13.VI.17
Der tiefere Mangel in dieser Ansicht liegt darin, daß überhaupt zuerst ein Element als da-seiend gesetzt wird, das sich sodann in einem Proceß „äussert“ oder ›entlädt‹ In Wahrh. liegt das Verh. umgekehrt: das einzig Gegebene im psych. Leben ist der Proceß als Gesamtkomplex – der ›Zustand‹ besteht nicht für sich, sondern ist lediglich Abstraktion – Es wirkt also hier eine falsche statische Ansicht des Psychischen – In Wahrheit auch hier auszugehen von der Dynamik – das Statische aus ihr abzuleiten! (Führt zurück auf Substanz u. Funktion verte!
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»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 2
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2) Dynamische „Konstruktion“ der Materie (Kant, Faraday)
›Atom‹ als Hilfsbegriff
Auch physiologisch betrachtet ist jede Nervenerregung schon als Bewegung zu denken – Sie ist niemals beschränkt lokalisiert, sondern gehört immer schon einem ganzen System sich ausbreitender Bewegungen an – die Erregung (der Affekt) „äussert“ sich also nicht (gleichsam zufällig) in Bewegung, sondern ist schon Beweg. Wiederum physikal. Analogie: 1) die („tote“) Materie, an die Kräfte angreifen
2 sondern beide sind notwendig auf einander bezogen. Die Erkenntnis dieser notwendigen Beziehung hebt alle Metaphysik des blossen ›Okkasionalismus‹ auf. Zum ›Okkasionalismus‹ muss es überall kommen: er ist die notwendige und absolut logische Konsequenz; wenn diese wesentliche Korrelations-Einheit verkannt wird. Schon hier haben wir daher einen Schritt zu vollziehen, der sich fortan auf allen Stufen als grundlegend erweisen wird: Das Verhältnis von Seele und Leib ist aus einem ›allegorischen‹ in ein ›symbolisches‹ Verhältnis umzusetzen: die verknüpfte ›Andersheit‹ in eine doppelbezügliche Einheit a || b c
f (a,b) α
β
Was bedeutet zunächst rein psychologisch gefasst diese Einheit; worauf gründet sie sich, worin beruht ihre Notwendigkeit.
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»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 3
I) Die ›Repraesentation‹ als psychisch konstitutives Grundelement a) Nachweis dieses Zusammenhangs 1) am Charakter des Psychischen überhaupt Alles Physische ist schlechthin; als ZuständlichMaterielle
keit, die nur ein einfaches Da = sein hat und nichts anderes bedeutet als sich selbst Alles sogen. ›Psychische‹ ist grundlegend dadurch charakterisiert, daß es nicht nur ›ist‹, sondern über sich selbst als blosse Zuständlichkeit hinausgeht; ein anderes (zweites) und schliesslich eine ganze Reihe anderer ›bedeutet‹ und ›meint‹ [Theorie des Intentionalen u. der intentionalen Akte Litteratur s. Brentano, Psychologie Uphues, Husserl, Log. Untersuchungen Scholast. Theorie des Intentionalen ] 2) am Charakter des Grundelements der Vorstellung Vorstell. Bewusstsein nur möglich durch diese repraesentative; bessser: ursprünglich praesentative Funktion (Kants Synthesis der Reproduktion und Rekognition)
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Darstellung des Nicht-Jetzt im Jetzt Dies das Geheimnis des Vorstellungsbewusst = seins überhaupt, sodaß ohne diese angebliche Repraesentation eben keine Praesentation möglich – (Kurze) Analyse des Zeitbewusstseins – Zeit bedingt durch das stets schwindende und stets sich erhaltende Moment Dies Verfliessen und Bleiben in Eins gedacht macht erst den Begriff und das Phaenomen der Zeit aus – Nicht „die“ Zeit ist die Form des inneren Sinns ; aber dieses repraesentat. Grundmoment ist gleich = zeitig Vorbedingung „der“ Zeit des „Bewusstseins überhaupt“ Vergässe ich im Zählen –… [ Das stehende u. bleibende Ich als „Korrelation der Apperzeption.“ (aber „Ich“ ist hier noch ein viel zu kom = plexer Begriff !) ] Nennen wir diese Funktion, durch die das ›Element‹ die Totalität der Reihe darstellt die allgemeine Reihenfunktion R, so ist die R= f unktion Bedingung 1) des Zeitbewusstseins 2) des Bewusstseins überhaupt, der „inneren Erfahrung“
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»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 5
denn auch wenn ich mir einen momentanen Querschnitt des Bewusstseins denke, wirkt in ihm die Reihenfunktion: Beding. sowohl des Bewussts. der Koexistenz, als des Bewussts. der Succession.
II) Mangelhafte ›Erklärungen‹ dieses Phaenomens (auch rein psychologisch betrachtet) Die Ableitung der Repraesentation aus der ›Association.‹ Sie wird sofort hinfällig wenn man die angebliche Repraesentation vielmehr als ›Praesentation‹ erkannt hat: denn nur das ›Praesente‹ kann sich ja associieren, sodaß also die scheinbare Erklärung hier wirklich in einem Zirkel verläuft. Rückgang auf das Humesche Grundproblem: Kants Formul: (Kausalproblem) Wie kann ich begreifen, daß darum weil ›Etwas‹ ist ein ›Anderes‹ ist? Hier noch radikaler: Wie lässt sich begreifen, daß darum weil mir ein bestimmter psych. Zustand ›gegeben‹ ist auch ein anderer [nicht unmittelbar gegebener] für uns „vorhanden“ ist. Dies lässt sich offenbar aus der ›Association‹ nicht erklären: denn die Association enthält ja ganz dieselbe Frage [ Letzte Auflös: die Frage ist falsch gestellt: denn die Totalität, die R-Funktion ist das wahrhaft ›Reale‹ – der Einzelzustand blosse Abstraktion ]
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Assoziat. sagt bestenfalls nur, daß a und b und c im Bewussts. da sind; aber die Art ihres Ineinander = seins, Sich auf einander bezieh, daß das Eine das andere „darstellt“ wird dadurch nicht erklärt – nicht das ἕντι ψυχῆς sondern nur ὡσπερ ἐν δουρείος ἵπποις
Das blosse „Beisammen“ u. der blosse Ablauf besagt noch gar nichts über die ρ-Funktion; diese wird in der sogen. „Association“ nicht erklärt, sondern erschlichen, stillschweig. mitwirkend gedacht
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Auch das Kausalproblem wird unlöslich, wenn wir erst die gesonderten Elemente, dann ihre Relation denken – Es wird gelöst durch Erk. der Gesetzlichkeit überh. (der Kausalität) als synthetische Grund = funktion. ]
Aber dies ›repraesentative‹ Moment genügt nicht für die Einheit und für das Phaenomen des Bewusstseins überhaupt, sondern zu ihm tritt nun ein anderes. „Bewusstsein“ heisst nicht nur Rückblick, sondern Vorausblick; nicht nur Repraesentation, sondern Anticipation. Das tritt besonders in Wille und Trieb hervor; aber es ist ein Grundcharakter der ›Vorstellung‹ überhaupt. Vorstellung heisst nicht nur das Bild von etwas (= von etwas her), sondern die Richtung auf etwas (= auf etwas hin). ›Perceptio‹ ist immer zugleich ›percepturitio‹ daher Tendenz, Streben ! Wiederum an der Zeit betrachtet: im Gegenwärtigen wird nicht nur das Vergangene, sondern auch das Zukünftige vor = gestellt (= in der produktiven Phantasie vorgebildet) „Daß die Einbildungskraft ein Ingrediens aller
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Wahrnehmung sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht“ – aber das gilt eben vor allem nicht nur von der reproduktiven, sondern von der produktiven Einbildungskraft, die das Gegenwärt. auf die Zukunft bezieht u. richtet, gleichsam mit ihr fingiert. (Diese Richtungs-vorstellung (dρ, dρ') wird sich weiterhin als psycholog. u. logischer Grundcharakter des Bewusstseins erweisen) Psychologisch hier vor allem einzuflechten eine Analyse der Bewegungsvorstellung; diese aber nicht gesondert gedacht, sondern als integrierendes Moment der Bewegung selbst. Die „vorgestellte“ Beweg. ist schon ein Moment der „ausgeführten“ Beweg.; beide nur in und miteinander verständlich. Die „Gegenwart“ des Bewusstseins, sein Dasein ist also nur als Ineinander dieser Beziehungen auf das Vergangene u. auf das Künftige : – der (theoretischen) „Wahrnehmungen“ und der (praktischen) Bewegungstendenzen. Aber ›Theoretisches‹ und ›Praktisches‹ ist hier in dieser Urform des Bewusstseins noch gar nicht zu trennen ! (Darin liegt der berechtigte Keim der ›voluntaristischen‹ Erkenntnislehre (z. B. Diltheys Ursprung des Glaubens an die Aussenwelt s. d.!; aber dies Moment gewöhnlich
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viel zu hoch angesetzt, als würde von dem gefühlten Widerstand auf eine Aussenwelt, ein Nicht-Ich „geschlossen“. Davon ist keine Rede: sowenig wir den „Eindruck“ kraft des apriorischen Kausal = prinzips in die „Aussenwelt“ ›projicieren‹
Erst hieran anschliessend zu erörtern: die Symbolfunktion als ›Übergang‹ vom ›Inneren‹ zum ›Äusseren‹ (bisher rein am „Inneren“ erörtert) ein „Übergang“, der aber keineswegs eine μεταβασις εἰς ἄλλο γένος ist, daher keine „Allegorie“. (s. die Ausführ. dieses Blattes S. 1 u 2.!) Näher zu entwickeln – jede Ausdrucksfunktion ist schon ein Innerlich-Äusserliches – ›bedeutet‹ nicht nur ein solches Ebenso durch die Funktion des Ausdrucks (der „Nachahmung“ des Ausdrucks) besteht für sich erst ein belebtes „Du“, ein anderes Subjekt (vgl. Ausführ. in Wundts Völkerpsychol.)
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Allgemeine Disposition Blatt II a) I) Die Pschologie des Symbolischen Siehe Blatt I II) Die Logik des Symbolischen a) Zunächst muss betont werden, womit wir es hier \zunächst/ nicht zu tun haben. Es handelt sich keineswegs \vorzugsweise/ um die Rolle einer sogenannten „symbolischen Logik“ – Dies ist ein sehr vermitteltes und komplexes Problem – und im Grunde kein philosophisches, sondern ein technisches Problem – eine Frage der praktischen „Notation“ gewisser Erkenntnisse und dadurch freilich auch der Gewinnung oder Neuentdeckung bestimmter Zusammenhänge. (Hierin die symbol. Logik, selbst wenn man ihren Wert noch so hoch stellt, allenfalls der analyt. Geometrie oder dem Algorithmus der Differentialrechng zu vergleichen) Selbst Leibniz Entwurf der allgemeinen Charak = teristik oder Lamberts Semiotik scheint hierüber nicht hinaus zu gehen. Beides sind Entwürfe zu einer Zeichensprache, wenn die Begriffe schon anderweit gegeben, sind. bekannt sind: hier aber handelt es sich für uns
Dies Problem als besonderes freilich später ebenfalls zu erörtern: siehe II b!
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darum, das ›symbolische‹ Moment als Kon = stituens des Logischen selbst, also als Moment als solcher der Begriffsfunktion selbst einzusehen ! (Genau analog, wie zuvor im Psychologischen: nicht die Rolle des Symbolischen im Seelenleben, sondern als Bedingung des „Seelischen“ als ein Definitionsmoment von ihm – ebenso nicht das Symbolische, sein Gebrauch und seine Fruchtbarkeit in der Logik, sondern als fundamental für Problem u. Aufgabe der Logik selbst) a) Das Begriffsproblem 1) Richtige u. falsche Theorie des Begriffs – Das Phaenomen der „Repraesentation“ (Berkeley !) Berkeley übersieht in seiner sonst richtigen Kritik des ›abstrakten‹ Begriffs nur, daß „Repraesentation“ [ nicht: Association ! vgl. ob. unter Psychol ! ] schon – Begriff ist. „Kraft“ des Einzelnen eine Totalität „darzustellen“ Zweite Frage: was wird „repraesentiert“?
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Nicht die einzelnen Vorstellungen und ihre Summe (z. B. die Gesamtheit „der“ Dreiecke), sondern die konstitutive Reihenfunktion, der Inbegriff der Beziehung von Glied zu Glied. („das“ Dreieck) Allgemeine Begriffstheorie (vgl. Substanzbegriff u. Funktionsbegriff !) 2) Historische Anknüpfung Streit zwischen „Nominalismus“ und „Realismus“ des Begriffs. Relativ richtigen Grundgedanken der Lösung enthielt der „Terminismus“ – nur darf der ›Terminus‹ hier nicht als – „nur Zeichen“ und somit als Ausdruck subjektiver Willkür verstanden werden, sondern die objektivierende Funktion und Bedeutung des ›Zeichens‹ muss erkannt sein ! Das ist freilich nur dann möglich, wenn die Erkenntnistheorie der Zeichenfunktion durchschaut ist; wenn erkannt \ist/, daß es bereits im Aufbau der objektiven Wirklichkeit der Phaenomene unentbehrlich ! – ein Gedanke, der natürlich dem Mittelalter ganz fern liegt ! Das Zeichen hört auf, nur „nominal“ zu sein – wenn
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es als Konstituens auch der Erfahrungswirklichkeit (nämlich ihres ›relationalen‹ Zusammenhangs) begriffen ist. Dies aber führt auf Probleme, die erst später im Zsh. behandelt werden können ! b) Die Logik der Subsumption. [ Der „Umfang“ der Begriffe und sein Ausdruck in der räumlichen Symbolik. ] Die Ableitung des Begriffs hat ergeben, daß das „Reihenprinzip“, auf welchem der Begriff beruht, an und für sich von ganz verschiedener Art sein kann. Jede Grundrelation, durch welche eine Form der ›Zuordnung‹ von Inhalten geschaffen wird γ α β δ ρ ρ ρ oder in komplexeren Fällen
α β γ δ ε ρ'
ρ'' ρ
ρ''' ρ
ρ'''' ρ
giebt Anlass zu einer bestimmten Begriffsbildung. Die so entstandenen Begriffe liegen aber je nach dem
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erzeugenden Gesichtspunkt, der für sie maßgebend ist, gleichsam in ganz verschiedenen Ebenen – So z. B. Dingbegriffe und Tätigkeitsbegriffe Gegenstandsbegriffe u. Zahlbegriffe
Allg. Dispos. Bl. II b)
Der Begriff „Baum“ lässt sich nach Art seiner Entstehung und Geltung mit dem Begriff „5;“ der Begriff der Kohlenhydrate lässt sich mit dem Begriff π oder √ –1 nicht unmittelbar vergleichen, weil die erzeugenden „Kategorien“ ver = schiedene sind. Im ersten Falle die Substanz-Kategorie: Ein Ding „hat“ die ›Eigenschaft‹ α hat nicht die Eigenschaft β Im zweiten eine reine Ordnungskategorie ein Element „folgt“ in der Reihe auf ein anderes – Allgemein alle Begriffe, die Richtungen in sich schliessen so räuml. Richtungen: oben, unten, rechts, links negative Zahl (Man meint hier oft, das sei nur ›anschaulich‹ zu fassen aber das ist ein Vorurteil; es giebt jedenfalls reine Richtungsbegriffe ] Die so entstehenden Begriffsgruppen sind also zunächst auseinanderliegend, ›heterogen‹. Aber da es sich ständig um ihre wechselseitige Beziehung handelt (da z. B. „Dinge“ – „gezählt“ werden, also Dingebriffe u Zählbegriffe synthetisch aufeinander bezogen werden) so stellt sich
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damit für die Logik das Bedürfnis heraus, diese Heterogeneität zu überwinden, indem wir sie auf ein ursprünglich-Homogenes beziehen. Als ein solches Homogenes bietet sich die An = schauung des Raumes dar – dieser nicht als qualitativ = differenzierter ›psychologischer‹ Raum gedacht, in welchem eben die qualitativen Unter = schiede eine Rolle spielen, oben und unten, rechts und links nicht vertauschbar sind – sondern als metrischer Raum, in dem es nur Unterschiede der reinen Quantität, der Grösse giebt. Hieraus erklärt sich, daß von den Begriffen – abgesehen von aller Verschiedenheit ihres ›Ursprungs‹ ihrer ›Bedeutung‹ und ihrem erzeugenden Gesichts = punkt (erzeug. Kategorie) – nur ihr Umfang (also ihr reines Grössenverhältnis) festgehalten wird (Diese „äussere“ Relation ist bei allen Begriffen möglich; sie „haben“ alle einen Umfang, nur besagt dies freilich nichts über ihre im Übrigen ganz verschiedenartige Konstitution, über ihr spezifisches Aufbaugesetz. Wie auch die heterogensten Dinge „gezählt“ werden können).
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Z. B. Dreieck, Kreis – eine Reihe von Gestaltungen α, β, γ, δ Sehe ich von der Form des spezifischen Zuordnungs = gesetzes ab (das sich in der „Definition“ des Dreiecks oder Kreises ausspricht), so bleibt mir nur daß überhaupt Vieles in Eins gefasst wird, viele ›Exemplare‹ eines ›Begriffs‹ gegeben sind, ein Mannigfaltiges also unter einer „Gattung“ steht. Bei diesem blossen Abstraktionsmoment bleibt die sogenannte „formale“ Logik stehen: ihre „Form“ besteht eben darin, daß sie von der spezifischen Form der Begriffe abstrahiert (wie die Zahl sich nicht um das „Gezählte“ kümmert) Die Logik erreicht somit die „Homogeneität“ der Begriffe, durch symbolische Darstellung aller Begriffsverhältnisse in reinen Raumverhältnissen Umfangsverhältnisse des ›Grösser‹ und ›Kleiner‹; des Ineinanderenthalten = seins und Auseinander = enthaltenseins. [ A ndererseits wird jedoch vom ›metrischen‹ Raum nur dieses allgemeine Homogeneitätsverhältnis festgehalten, das Grösser und Kleiner, In = und Auseinander überhaupt, nicht das Wieviel mal so groß – es kommen also die metrischen Grund =
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bestimmungen als solche, aber nicht ihre Besonderungen, die bereits durch Anwendung des Zahlbegriffs entstehen, in Frage Daher hier auch a + a = a !!
a b aber nicht: n a = b n b = a [ Grenzfälle im ›disjunktiven‹ Urteil ]
Aus alledem erklärt sich die traditionelle Behandlungsart der „formalen Logik“ (Litterat : Fr. Alb. Lange, Logische Studien Jevons, Principles of Logic Ausführen ! Couturat, Algebra der Logik Schröder, Algebra der Logik) Das Raumbild ist das völlig genügende Symbol für alle Verhältnisse, die hier in Betracht kommen, aber es ist freilich nur = Symbol ! Und auch in ihm sind nicht nur alle Unterschiede der Richtungen, sondern auch der Gestalt (ja auch der Zahl s. ob !) aufgehoben, nur Kreise; es bleibt nur der allgemeine Gedanke, das Grund = verhältnis von Teil und Ganzem in der Form des Raumes angeschaut ! Hieraus muss die ganze symbol. Logik ableitbar sein – Unter = und Überordnung der Begriffe, der Urteile und der Schlüsse (Ausführ: Die entwickelte Form der Aristotel. Logik ist diese symbol. Logik !)
402 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 17
Damit stehen wir nun freilich innerhalb des Logischen bereits vor einer speziellen Anwendung des Symbolischen (die durch Beziehung der ›Begriffsform‹ auf die ›Raumform‹, also auf durch eine spezifische Zuordnung zu Stande kommt). Für uns drängt sich hier die allgemeine Betrachtung auf, daß die Symbolfunktion uns in ganz verschiedenen Phasen (und sozusagen in verschiedenen „Höhenlagen“) ent = gegentreten kann.
403
Allg. Dispos. Bl. II c)
Nicht nur die ›formale‹, sondern auch die ›gegenständliche‹ Logik ist für uns ›symbolisch‹; aber beide sind es in anderer Bedeutung. Das Symbolische der logischen Funktion überhaupt [ die Funktion ρ des Begriffs ] ist das Fundamentale; die Funktion σ μ der Umfangslogik dagegen ein speziell-technisches Instrument für Wiedergabe ganz bestimmter Beziehungen und Abstraktionen. – Hat man dies einmal eingesehen, so hört im Grunde der Kampf gegen die „formale Logik“ oder die „Syllogistik“ auf Gewiss kann sie nichts „erfinden“ (inhaltl. gesprochen) aber dies ist auch nicht ihr wesentliches Absehen; sie gehört einer ganz anderen Sphäre [ „ Schicht“ ] der Betrachtg an. Auch die „Gegenstandserkenntnis“ bleibt ja – symbolisch, sofern sie nicht das „Ding an sich“ giebt – aber sie ist gegenüber der blossen Umfangslog. freilich ein sehr erweitertes Bezugssystem (etwa wie das Copernik. gegenüber dem Ptolemäischen !)
404 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 18/19
405
Transkription auf der folgenden Doppelseite ▷
406 Anhang Daher die Magie der Zahl eine höhere (Ordnungs) Stufe des ++ mythischen Denkens! vielleicht auch hier schon ausgehend von der Wahrnehm. der Regelmässigk. einfachster kosmischer Verhältnisse Siebenzahl als Vierteilung des Mondumlaufs etc. s. III, 471ff Pythagoreer !!
vgl. Schema ! Vorstufe : Bedeut. der Zahl im myth. Denken Magie der Zahlen ++
An die Entwicklung der logischen Funktion als ἀπόδειξις reiht sich für uns
III) Die Zahlfunktion (N) aus der wiederum das gesamte System der exakten Wissenschaft hervorgeht nämlich
a) Begriff der Mathesis unversalis als Wissenschaft von Ordnung und Maß
a) Arithmetik fundamentale Ordnungsfunktion (ω) gefasst in einem
symbolischen Ausdruck erster Stufe (σ) oder ω σ
als „Zahlzeichen“ und „Operationszeichen“ (= Zählungszeichen!)
b) Algebra
fundamentale Ordnungsfunktion gefasst in einem symbol.
Ausdruck zweiter Stufe σω2
die Zahl als besondere Zahl, wird durch die allgemeine Zahl (a, b, c . . .) „vertreten“ [species bei Vieta] allgemeine Operationszeichen (a+b)2 = a2 +2ab + b2 etc. wo a und b beliebige Zahlen
α) Allg. Funktionentheorie
c) als Ordnung des Beisammen „Raum“
b) a ls Reihenzuordnung (Mannigfaltigkeitslehre)
a) a ls Funktion der einfachen Reihenordnung („Zahl“)
und zwar
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 18/19
richtiger wohl als übergeordnet Die „Reihenordnungsfunktion“
407
s. hierüber Ausführ. auf besonderem Blatt ! (Exakte Wissenschaft)
Dies zurückweisend auf die Raumfunktion, die als ein Selbständiges neben der Zahlfunktion steht
Geometrie des Maßes
Reine (projektive) Geometrie als „räumliche Ordnungslehre“
Allgemeine Mannigfaltigkeitskehre „Abbildung“ von Reihen in einander Mächtigkeitsprobleme etc. Wechselweise „Zuordnung“ nicht von Einheiten in einer Reihe, sondern von Gesamtreihen
c) Analysis
Der Zahlbegriff ergänzt durch den Reihenbegriff und Funktionsbegriff „Veränderliche“ Zahl – Wechselweise Zuordnung von Reihen
β) Angewandt auf kontinuierliche Reihen γ) Angewandt auf Verh. von Raum und Zahl Infinitesimal = A nalysis (analyt. Geometrie !)
408 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 20
409
Anschliessend an Logik und exakte Wissenschaft zu behandeln:
IV) Allgemeine Erkenntnislehre Die „Erkenntnistheorie des Symbolischen“. cf. Substanzbegr. u. Funktionsbegriff.
a) Das Allgemeine und das Besondere. Das Besondere als „Vertretung“ des allgemeinen Falles. Das Problem der Induktion u. der Aufbau der empirischen Wissenschaft. Was ist das Allgemeine … b) Das Problem der „empirischen Realität“. Symbol und Gegenstand. Gegenstandskategorie u „Repraesentation“ (Das „Haus“ als Folge perspektivischer Bilder)
Die Funktion ρ und der Objektbegriff. (Noch weiter auszuführen …) IVa) Das Problem der empirischen Wissenschaft IVb) Das Problem der Geschichtswissenschaft – Die Methodik der Geschichte (Lösung im Grunde schon von Steinthal (Einl. 215) ausgesprochen – die Geschichte geht nicht auf das ›Allgemeine‹; aber sie geht auf das Ganze; sucht das Einzelne von diesem umfass. Ganzen aus zu verstehen (besondere geistige Kategorien zur „Einordng“ des Einzelnen in das Ganze gegen Troeltsch !)
410 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 21
V) Die Grundprobleme der Aesthetik
Allg. Disp. Blatt II d)
Wiederum zunächst nicht zu fragen nach der Rolle des Symbolischen in der Aesthetik (so die Frage fast ausschliesslich gestellt !) sondern nach der konstituierenden Rolle des ›Symbolischen‹ in der Abgrenzung des aesthet. ›Gesichts = punkts‹, des aesthetischen ›Gebiets‹ ! Also ganz analog wie oben beim Logischen ! [ cf. Allg. Dispos. Blatt II a ! ] 1) Die aesthetische Urfunktion der spezifische „Gesichtspunkt“ – Er wird zumeist nur negativ bestimmt, als Abgrenzung gegen die Welt der empirischen Wirklich = keit, wie gegen die logisch = wissenschaftliche Welt [ die Welt der ›Kausalität‹ ] Nach dieser negativen Charakterist. ist das Aesthetische die Welt des Spiels, des Scheins, der – Illusion. Aber diese „Illusion“ ist eben immer nur eine relative. Bewusste Selbsttäuschung – aber von Täuschung kann eben nur die Rede sein, wenn schon ein anderer Maßstab der absoluten Realität voraus = gesetzt wird ! Gerade dies dürfen wir in unserer allg.
411
412 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 22
413
Methodologie des Symbolischen überh. nicht tun.
Einige Bemerk. hrz. bei Münsterberg, Philos. der Werte ?
Wir setzen nicht eine Stufe als „die“ schlecht = hin wirkliche – sondern wir fragen: welche positive, qualitativ bestimmte Gestaltungs = form entspricht der aesthetischen ›Auffassung‹
Schillers Schein = und Spieltheorie daher viel = mehr umzuformen in die positive ›Bildtheorie‹ des Aesthet. als spezifische Bildungsweise. (Daher die Definit. Schönheit ist „lebendige Gestalt“ der Frage bereits näher kommt
Die fundamentale Schwierigkeit der aesthet. Theorie liegt darin, daß auch hier das positiv =Sym = bolische nicht erkannt, sondern durch den Begriff der ›Nachahmung‹ ersetzt wurde – eine Entwicklung die ihr ganz genaues Gegenbild und Korrelat in der Geschichte der Meta = physik findet (s. dort) Darunter leiden alle Formen der überlieferten aesthet. Theorien a) D ie empiristischen Nachahmungstheorien von Aristoteles bis Batteux b) Auch die idealistisch-spekulativen Theorien
414 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 23
415
Denn auch hier handelt es sich immer um ein Urbild des Schönen, das im Abbild irgend = wie erscheinen = durchscheinen soll. Die aesthet. Form als Nachbildung der metaphys. Form (Geschichtl. Beispiele: Plotin, Winckelmann, Shaftesbury !)
Allegorie u Symbol: Rolle der Allegorie bei Winckelmann !
c) Noch in all den modern-psychologischen Formen, in denen das Aesthetische 1) als Illusion, als „bewusste Selbsttäuschg“ gedeutet 2) oder aber die Einfühlung (das allegorisch = metaphorische !) als Grund des Aesthet. angesehen wurde.
Gut übersehbar ist diese Form der Aesth. bei Schopenh, Welt als Wille 3tes Buch!
Der positive Sinn der aesthet. Funktion als solcher; der Kern ihrer eigentüml. Symbolik ist hier überall wieder durch den Begriff der „Nachahmung“ und eines Nachzuahmenden verdunkelt
Biese, Philos. des Metaphorischen ?
416 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 24
417
Spezielle Bedeutung des Symbolbegriffs innerhalb des Aesthetischen.
Litteratur : Vischer, Aesthetik Das Symbol Volkelt, System der Aesthetik Aesthetik des Tragischen Biese, Philos. des Metaphorischen Zur ›Einfühlung‹: Lipps Raumaesthetik. αεστh = σ σ1, σ2 , σ3
Das Problem entsteht als scharf bewusstes in und vor Lessings Laokoon: und zwar charakteristischer Weise als Differenzierung, Verschärfung des früheren unbestimmten Begriffs der Nachahmung:
ὕλῃ καὶ τρόπῷ τῆς μιμήσεως διαφέρουσιν. – Die „Künste“ werden charak =
terisiert nach ihren spezifischen „Zeichen“. Diese Vertiefung in die „Zeichen“ führt zu einer tieferen Erfassung der aesthet. Ausdrucksform (als positiv spezifischer, von ihr selbst nicht vom Gegenstand aus gesehen) überhaupt. Die spezif. aesthet. „Gebiete“ unter dem Aesthet. als Gesamtgebiet.
Spezielle Durchführung der aesthetischen Grundformen Hildebrands Problem der Form in der bildenden Cornelius, Elementargesetze der bildenden Kunst Kunst Plastik: Schriften von Konrad Fiedler Worringer Litt.
cf. Dissertat. von Konnerth ?
Wir greifen hier die lyrische Symbolik Wittkop heraus ! R. M. Werner, Lyrik und Lyriker Görland, Volkslieder Analyse von Goethes lyrischer „Form“ cf. Freih. u Form.
418 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 25
VI) Die Metaphysik des Symbolischen Wir gehen aus von dem Grundproblem der Me = taphysik – dem Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit –
Allg. Dispos. Blatt II e.
Erster Standpunkt: der der Identität entweder einer naiven, wie bei den Ioniern, wo also das Problem als solches noch gar nicht hervortreten kann – oder einer bewussten – postulierten wie bei den Eleaten ταυτόν γάρ ἐστιν νοεῖν τε καὶ εἶναι Oder noch bei Descartes in der neueren Philosophie: ›La vérité étant une même chose avec l’être‹ Aber bei dieser reinen Identität, – das zeigen schon diese Beispiele – kann es nicht bleiben. Für Parmenides giebt es trotz aller Identität von „Denken“ und „Sein“ [ αυτο γαρ εστι νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα. ] einen zweiten Weg – der nicht der der ›Wahrheit‹ ist – ἀλλ ἀπὸ τῆσδε ὁδοῦ διζήσεως εἶργε νόημα , den er doch gezwungen ist, zu gehen, um zu einer Physik, einer Lehre von der (empir.) Wirklichkeit zu gelangen – Für Descartes sind „Denken“ u „Ausdehnung“ (Sein) zwei Substanzen, für die ein Zusammenhang u.
419
420 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 26
eine Vermittlung in Gott gesucht wird. – Dies alles weist auf einen fundamentalen Dualismus hin. Erster Versuch der Lösung dieses Dualismus: Die Abbildtheorie [Die ›Übereinstimmung‹ zwischen ›Vorstellung‹ und ›Gegenstand‹ Die ›Ähnlichkeit‹ zwischen Vorstell. u Gegenstand] Allg. Entwicklg der Abbildtheorie empiristische 1) Die sensualistische Form der Abbildtheorie – der „Gedanke“ als Wirkung ist der „Ursache“ dem Gegenstand irgendwie ähnlich. Hauptformen α) Die Idolen-Theorie (Demokrit, Epikur, Gassendi. β) Die Theorie der ›Form‹ bei Aristoteles γ) Die Species-Theorie des Mittelalters. δ) Die Überwind. der mittelalt. Speciestheorie. Die mechan. Abbildtheorie Die Bewegung als Grundbegriff – die innere Bewegung als „Reaktion“ auf die äussere [ Schema: actio = reactio ] Hobbes τὸ φαίνεσϑαι als ›Reaktion‹ !
421
422 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 27
ε) Die sensualist. Abbildtheorie Der „einfache“ Eindruck – Ideen als Copien der Impressionen (Hume u. John St. Mill) 2) Die idealistische Form der Abbildtheorie Die Platonische Form der Theorie: die Ideen als „Urbilder“, die Erscheinungen als „Abbilder“. Das positiv fruchtbare \allgemeine/ Moment der ›Idee‹ als ἕτερον τι (cf. Platon = Colleg !!) verengert sich also zum Gedanken der „Nachahmung der Idee durch die Erscheinung“ – die (symbolische) παρουσία und κοινωνία [empir. Urteil weist auf das reine hin – als Grenzbegriff ! z. B. reine Gerade, reine Gleichheit] verengert sich zum Gedanken der μίμησις Durch diesen Gedanken der μιμησις wird auch die Eigenart der rein logischen Funktion ver = wischt: das Denken wird zur ἀνάμνησις, zur Wiedererinnerung eines zuvor Geschauten ! [ Platon. Form der Abbildtheorie – Höhlengleichnis –
423
424 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 28
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Dieses Gleichnis bewegt sich genau an der Grenze – es erkennt das Erscheinungswissen als symbolisch an – fordert aber die Umwendung von „Schaffen“ zum reinen Licht – daher das Positive der Erschein. – die Notwendigkeit, Unaufheblichk. des Symbolischen selber nicht begriffen (Das „Am farb. Abglanz haben wir das Leben“) Tieferer Grund, weil das begriffliche Denken hier nicht in seiner eigentüml. Symbolik durchschaut ist, sondern der Begriff (Eidos) ein αὐτὸ καϑ’ αὑτό – Darum verschlingt er die Erscheinung, hebt ihre Geltung auf, statt sie als relatives Symbol stehen zu lassen ! Bedeutung der ›Erfahrung‹ daher trotz aller Versuche in der zweiten Platon. Periode nicht gesichert – die Erfahrung bleibt, obwohl sie παράδειγμα der Idee (παραδείγμασι ἀρα χρώμενοι von den Sternen) doch immer nur „Abbild“; behält einen Rest des Eleatischen „Scheins“) Vgl. hrz. Lask, Die Logik des Seins oder Fichtes Idealismus!
3) Die Überwindung der Abbildtheorie in der „Copernikanischen Drehung.“ Das Wesentliche liegt im Übergang zur positiv =
426 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 29
spezifischen Charakteristik der Erkenntnis = funktion: diese Funktion bildet den Gegenstand nicht nach, sondern sie kon = stituiert diesen Gegenstand – ja sie „ist“ der Gegenstand selbst. Insofern das Gesetz des Logischen der – „Urheber der Natur“! Jetzt ist also das Gebiet der Wahrheit imma = nent definierbar, ohne jede Bezieh. auf die Entsprech. mit einem äusseren „Original“ !
427
Allg. Dispos. Blatt II f
Ganz die gleiche Entwicklung hat sich früher im Aesthet. gezeigt!
(Positiver Sinn der Lehre von der Unerkennbarkeit des „Ding an sich“ : – sucht es nicht in der ›Vergleichung‹ mit dem ›Absoluten‹, die ist un = möglich, sucht es in der reinen kategorialen [ spezifischen ] Gesetzlichkeit selbst ! Damit erst ist die Nachahmungsidee überwunden: die Allegorie ist in das positive ›Symbol‹ übergegangen ….
auch dies genau wie im Aesthet. s. Allg. Disp. Bl. II d
428 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 30
Neues Verhältnis von Wahrheit u Wirklich = keit ! Positive Durchführung dieses Verhältnisses Das Goethesche Wort: „Das Wahre in den Dingen werden wir gewahr als unbegreifliches Leben“ Dieses für sich, losgelöst ›unbegreifliche‹ Leben schauen wir an in den verschiedenen Symbolstufen Erkenntnis, Kunst, Philosophie, Religion Wir scheiden nicht zwischen ihnen, stellen kein absolutes Entweder-Oder der einen oder anderen Phase auf: sondern der Weg durch diese Symbolstufen ist uns mit dem Ziel gleichbedeutend. Ein anderes Ziel, ein Ziel als absoluten Endpunkt kennen wir nicht, sofern es uns eben um den Prozess des sich erneuernden, sich steigernden Lebens selbst zu tun ist. Das Göttliche liegt eben nicht als „Zweck“ ausser ihm, sondern es ist diese seine Selbstbewegung – Das Einzelne freilich bleibt der Totalität dieser
429
430 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 31
Bewegung gegenüber immer nur Glied, nur Fragment [ Hegel: aufzuhebendes Moment: Die Wahrheit ist das Ganze) Aber die echte Metaphysik wird eben dieses Ganze nicht, wie Hegel, bloss dialektisch denken wollen u. dürfen – denn damit stünden wir bereits wieder bei einem blossen abstrakten Einzelsymbol – sondern in der Fülle und im Zusammenhang in der Besonderheit der spezifisch verschiedenen Symbol-Äusserungen liegt für uns die Einheit u. die Fülle der Welt, der Wirklichkeit – Von der primitivsten Äusserung: von der Gebärde über den Sprachlaut zum ›Begriff‹ zur aesthet. Gestalt, zur religiös. Idee, zum Mythos führt hier Ein zusammenhängender Weg, Ein stetiger „Aufbau“ – in ihm und an ihm haben wir das Leben – eben nicht als ein Jenseitiges, worauf dieser Prozess nur „hinweist“, sondern als konkrete Fülle des Verschiedenen selbst ! Sprache, Kunst, Begriff, Mythos in Eins gefasst – jedes sich wechselseit. erhellend – sich spiegelnd – das ist der höchste Punkt, bis zu dem auch unsere „Reflexion“ vordringen kann.
431
432 Anhang
»Disposition« der »Philosophie des Symbolischen« · Seite 32
433
Aber hinter dieser „Reflexion“ steht positiv immer die Intuition des Wahren, das wir gewahr werden als „unbegreifliches Leben“ *Jean Christophe !
So auch in jedem echten Kunstwerk*, in jedem wissensch. Werk diese Grundbeziehung !
Genau ebenso wie in der „Erkenntnislehre“ das Objekt nicht das „Trans = zendente“ ist, worauf unsere Erfahrg uns hin = weist; sondern die Totalit., der Gesamtinhalt der Erfahrg selbst; freilich aber als Grenzbegriff ! So bleibt auch hier das „Ansich“ dieser Me = taphysik Grenzbegriff aber kein Jenseits, sondern die Idee „worauf in Bezug alle unsere Erk. systemat. Einheit Zusammenschluß bekommen –
Das Symbol in diesem Sinne – dies immer gleiche ›Eins‹ im andern und immer wieder andern – das ist vielleicht die letzte Form der uns möglichen Metaphysik ! Nicht das Ziel, sondern die Reihe selbst ist es, was diese Metaphysik feststellt; denn das Ziel wäre der – Tod; nur die Reihe selbst ist das Leben !
Wir kennen dies ›Leben‹ nur in seinen ›Äusserungen‹: aber eben dies ist die Quintessenz unserer ganzen voran = gehenden Betrachtung, daß die „Äusserung“ nichts Zufälliges, Unwesentliches, ›Äusserliches‹ ist, sondern daß sie die notwendige, die wahre und die einzige Offenbarung des „Innen“ und des Wesens selbst ist. Von \der/ einfachsten Gebärde, vom Sprachlaut an bis zu den höchsten geistigen BeDies „Leben“ das Bekannteste thätigungen u. bis zur reinsten ›Metaphysik‹ u. Unableitbarste hat sich uns jetzt diese Einsicht bestätigt. das Geheimnisvoll = Offenbare !
Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis – aber eben als Gleichnis gewinnt es zuletzt reinen Ewigkeitswert !
»Material und Vorarbeiten zur ›Philosophie des Symbolischen‹« Liste der Blätter In einem Bogen, der auf den 27. 7. 1918 datiert ist und die Aufschrift »Material und Vorarbeiten zur ›Philosophie des Symbolischen‹« trägt, hat Cassirer Arbeitsnotizen eingeschlagen, die im Zusammenhang der Disposition des Projekts von 1917 entstanden sind (vgl. diesen Bogen in Ernst Cassirer Papers, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, New Haven, CT, USA , GEN MSS 98, Box 23, Folder 429, sowie zum Archivbefund und zur Datierung den Abschnitt »Der Befund« im ersten Kapitel der vorliegenden Studie oben S. 40 ff.). Es lässt sich ein geschlossener Zusammenhang von mindestens 241 durchnummerierten Blättern rekonstruieren, die größtenteils zwischen Sommer 1917 und Sommer 1918 entstanden sind. Die folgende Liste gibt in drei Kolumnen a) die Nummerierung in Cassirers eigener Notation, b) den Fundort (Box, Folder nach dem Verzeichnis der Beinecke Rare Book and Manuscript Library) sowie c) Cassirers Überschrift an. Die Nummerierungen von Cassirers Hand werden dabei inkl. der Bezeichnung ›Blatt‹ oder ›Bl.‹ angeführt, die römischen und arabischen Ziffern werden anders als bei den Nachweisen in den Anmerkungen der vorliegenden Studie nicht vereinheitlicht. Dies gilt auch für Cassirers Eigenart, einzelne gefaltete Bogen teils durch hinzugestellte Ziffern durchzunummerieren (›VI, 1‹ und ›VI, 2‹). Diese Ziffern stimmen somit nicht mit den Seitenzahlen überein, die durch einfache Durchzählung der Seiten entstehen und in den Anmerkungen der vorliegenden Studie als Referenz angegeben werden. Schließlich werden die Titel ohne Unterstreichungen dargestellt, ein etwaiger Zeilenumbruch wird durch einen Schrägstrich (›/‹) markiert. Hinzugefügte Titel, Nummerierungen und Schlagworte am Rand werden, soweit eindeutig als solche erkennbar, nicht wiedergegeben.
436
»Material und Vorarbeiten«
Blatt 1
24, 441
Zum Fortschritt von der ›sinnlichen Symbolik‹ / zur ›begrifflichen Symbolik‹
Blatt II
29, 548
Sprache
Blatt III
50, 1010
Sprache
Bl. IV + IV,2
24, 441
Zum Fortschritt der Symbolik von der ein- / fachsten ›sinnlichen‹ bis zur höchsten / ›geistigen‹ Stufe
Bl. V, 1 – 2
23, 429
Sprache / (Einzelnes über Gliederung der Sprache, Wortformen etc.)
Bl. VI, 1 – 6
24, 441
Symbol. Funktion (Allgemeines)
Bl. VII, 1 – 2
29, 548
Allgemeines zum ›Symbolproblem‹
Bl. VIII, 1 – 2
24, 441
Das Zeichen und der Aufbau der „subjektiven“ / Wirklichkeit
VIII,5
24, 441
Der Aufbau der objektiven Wirklichkeit
zu VIII
24, 441
Mythos (Aufbau der subjekt. Wirklich- / keit)
zu VIII / a
24, 441
Mythos (Aufbau der Subj.)
VIII c)
24, 441
Mythos (Entdeckg der Objektwelt)
VIII h
24, 441
Mythos / Allg. (Material u. Gesichtspunkte)
VIIIi
24, 441
Mythos / Eigenart der griech. Götterwelt
Bl. IX
24, 441
Zur ›Subjektivität‹ und ›Objektivität‹ / der symbolischen Formen
Bl. X
24, 441
Symbolische Funktion (Allgemeines) / Zur ›Subjektivität‹ und ›Objektivität‹
Bl. XI, 1 – 3
24, 440
Zahl / Vorstufe des Zahlmotivs in der Sprache und / insbesondere im mythischen Denken
Bl. XIII
29, 548
Zur Metaphysik des Symbolischen
Bl. XIV
24, 441
Momente des symbolischen Ausdrucks
Bl. XV
29, 548
Allgemeines zum Symbolproblem (vgl. Bl. VII)
Bl. XVI, 1
24, 441
Zur Symbolik (Allgemeines) / Psychologie der repraesentativen Funktion
XVI, 2 – 3
24, 442
Bl. XVII + XVII,2
23, 431
S. 4/5 Zur Metaphys. der symb. Funktion / Allgem. zur symbol. Funktion
Bl. XVIIa
23, 435
Sprache „Autonomie der Sprache“
Bl. XVIII, 1 – 2 24, 442
Momente des symbolischen Ausdrucks
Bl. XX, 1 – 2
23, 435
Sprache / Onomatopoiie
XXI
26, 498
Sprache
Liste der Blätter
437
XXII, 0 – 2 + XXII, 1 / α XXIII, 1 – 2
26, 494
Mythos / (Vorläuf. zur allgemein. Gliederung)
29, 548
XXIV,1
23, 429
Allgem. zur symbol. Funktion / (Stellung zur Subjektivit. und Objektivit.) Sprache / Allgemeines
XXIV, 2 – 4
28, 543
Blatt α (zu XXIV, 4) XXIV,5 Bl. XXV
28, 543
Zur Theorie der Begriffsbildung / (im Zsh. mit der Sprache)
28, 543
XXVIII
24, 442
XXIX
26, 494
XXX,1 – 5
24, 442
Zur Theorie Noirés Metaphysik des Zeichens Symbol (Allgem.) / Superposition der Symbolformen Mythos / Überg. von der Sprache zum Mythos Zeichen (Allgemeines) Mangel in der Theorie der Association
24, 442
24, 440 (a) / (zu XXX, 2) S. 3 24, 442 (b) / (zu XXX, 2, S. 2) 24, 440 XXXI, 1 XXXII 24, 442
33, 1 – 3 34 35 36,1 – 2 a [zu 36,1] 37 38 38,2 39 41 42 a/ zu 42, 1, S. 2 43
28, 543 24, 442 23, 429 23, 429 23, 429 23, 429 24, 442
Wissenschaft Symbolbegriff (Allgem.) / Zur Dialektik des Symbolbegriffs Sprache Symbolik (Allgemeines) Sprache / Verbalwurzeln u. Pronominalwurzeln Sprache / Allg. Gliederung Sprache Sprache / Urteil, Satz (vgl. hrz. Blatt…) Symbolbegriff (Allgemeines)
24, 442 29, 548 26, 494 24, 440
Symbolformen (Allgem.) Mythos / (Neue Dispos.) / Übergang von der Sprache Wissenschaft / (Allg. Gliederung)
24, 440 29, 548
Symbolik (Allgem. - Metaphys.) / Zum Idealismus der symbol. Funktion
438
»Material und Vorarbeiten«
44
23, 429
45
23, 429
46, 1 – 2 47
23, 429
48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 + 67,2
23, 435
68, 1 – 2 + 68, 1 (b) 69 70 71 72 73 74 75
26, 494
23, 435 23, 434 23, 436 23, 429 23, 429 23, 434 23, 429 23, 437 23, 429 23, 434 23, 429 23, 429 23, 429 23, 430 24, 442 23, 429 23, 429 23, 435 23, 437 24, 442
23, 429 23, 429 23, 429 26, 494 26, 494 26, 494 26, 494
Sprache / Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde […] Sprache / Zum Vorrang der Verbalbegriffe vor den Gegen- / standsbegriffen Sprache / Zur Frage der Wurzeln Sprache / Lautnachahmung, Onomatopöie Sprache / Onomatopoiie Sprache / Kasusformen – Flexion Sprache / Satz – Sprache / Wurzel, Wurzeltheorie Sprache / Zur allg. Dispos. Sprache / Determination – Reihenbildung Sprache Sprache / Verbum Sprache Sprache / Genus, grammat. Geschlecht Sprache Sprache Wurzeln Sprache / Innere Sprachform Zeichen / Idealismus des Zeichens Zeichen (Mythos) Sprache / (Agglutination, Flexion) Sprache Sprache (Suffixe) Allgemeines / Zur Einleitung: Allegorie – Symbol – Metapher (Religion) / Buddhismus Wurzel Sprache / Flexion Sprache Mythos / Allg; Verh. zur Sprache (Religion) / Veden – Philosophie der Veden Religion / Ind. Religion Religion / (Bild)
Liste der Blätter
76 77 78 79 82 83, 1 – 3
26, 494
84 85 87 88, 1 88,2 89, 1 – 5 90
24, 440
91
29, 548
94, 1 – 2 96 100 101 102, 1a – 1b 103, 1a – 1b + 103, 2 105 106 108
24, 440
109 112, 1 – 2 113, 1 – 2 115
23, 429
116 117 118
26, 494
26, 494 26, 498 23, 429 24, 442 24, 442
26, 494 29, 548 24, 447
439
Religion Mythos – Relig. / (Übergang zur Wissensch) Sprache Sprache Allgemeines zum Symbolprobl. Symbolproblem Allgemeines / Zur Disposition des Einleitungs-Kapitels Erkenntnis / Erk. u. Mythos Mythos Sprache Allgemeines (Zur Metaphys. der Symbolformen)
29, 548 24, 442 24, 442
23, 429 24, 442 24, 440 23, 431 26, 494 26, 494 23, 430 23, 429
23, 429 26, 494 24, 442
23, 429 23, 429
Symbolbegriff (Allg.) / Transszendental-Psychologie Symbolbegriff (Allg.) / – Transszendental-Psycho logie – Symbolbegriff (Allgemein) / Philosophie (Meta physik) des Symbolischen Erkenntnis, Wissenschaft / Allg. zur ›Modalität‹ Sprache / Zur „Zweigliedrigkeit“ des Sprachlichen Transszendentalpsychologie Erkenntnis (Logik) Sprache Mythos Mythos Sprache Sprache / Vossler, Idealismus und Positivismus in der Sprachwissenschaft […] Sprache [Reihenbild. – / Determination.] Sprache Mythos / Entwickl. des Seelenbegriffs Symbolbegriff (Allgem) / event: Metaphys. des Symbol. Mythos Sprache / Jespersen, Otto: Progress in / language […] Sprache / (Flexion)
440
»Material und Vorarbeiten«
119 120 121 122 123 124 125 126 128 129 130 131 132 133 134, 1 – 2 135 136 137
23, 429
138 139 140 141 142 145, 1 – 2
23, 429
147 148 149 150 151 152 153, 1 – 2
23, 437
154 156, 1 – 4
26, 500
23, 429 23, 429 23, 429 26, 494 26, 494 23, 429 26, 494 29, 548 26, 494 26, 494 26, 494 26, 494 26, 494 26, 494 23, 437 23, 429 23, 429
23, 434 23, 429 23, 430 26, 498 28, 546
23, 437 23, 429 23, 429 23, 429 23, 429 26, 500
23, 429
Sprache / (Geschlecht) Sprache / Agglutinationstheorie Sprache / grammat. Geschlecht Sprache Mythos Mythos Sprache / (Ursprung der Sprache) Mythos / Wilh. Mannhardt, Wald- und Feldkulte […] Symbolbegriff (Allg). Mythos (Relig.) Mythos / Ordnung, Rita Religion Religion, Mythos Religion (Mythos)/ Buddhismus Religion, Mythos Sprache Tätigkeit Sprache / Ursprung der Sprache Sprache / Max Müller, Das Denken im Lichte der Sprache […] Sprache Sprache Kasuslehre Sprache Sprache Sprache Symbolbegriff (Allg.) / Natorp, Allgemeine Psychologie Sprache Sprache / Pronomina Sprache / Kasuslehre Sprache Sprache Sprache / Struktur der semitischen Sprachen Mythos / Babylon s. Jensen, Kosmologie der Babylonier […] Mythos / Ordnung – Rita – Sprache / Auch zu Symbolbegriff (Allg.)
Liste der Blätter
157 158
26, 500
159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169
23, 433
170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183
23, 429
184 185, 1a –1b
26, 500
186, 1 – 4 188 189
26, 500
26, 500
23, 438 23, 433 26, 495 23, 429 23, 435 23, 439 23, 436 23, 429 23, 434 50, 1010
24, 447 23, 439 23, 437 23, 437 23, 433 23, 437 23, 435 23, 436 29, 548 26, 500 26, 500 23, 429 23, 429
26, 500
26, 500 26, 500
441
Mythos Allgem. zur Modalität Mythos / Frobenius, Die Weltanschauung der Natur- / völker […] Sprache / Gebärdensprache Sprache / Ausdruck zeitlicher Relationen: Sprache / (Pronomina) Sprache Sprache Sprache Sprache / Zählen, Numeralbezeichnung Sprache Sprache Sprache (Suffixe) Sprache / Kindersprache: Clara u. Will. Stern, Die Kin- / dersprache […] Sprache / (Satz) Symbolbegriff (Allgem.) Sprache / (Begriffsbildung) Sprache / Kindersprache (Allgemeines) Sprache / „Ursprung der Sprache“ Sprache / Zahlworte Sprache / Teleolog. Sinn; Tätigkeits-Sinn Sprache / Onomatopöie […] Sprache / Pronomina Symbolbegriff (Allgem.) Religion / Prophetismus Religion / Gottesbegriff – Sprache / Ursprung der Sprache Sprache / Artikulation – Bedeutung der Artikulation Mythos Mythos / Karl Beth, Religion und Magie bei den Natur- / völkern […] Magie Religion Mythos / Albrecht Dieterich, Eine Mithrasliturgie […]
442
»Material und Vorarbeiten«
190 190 191 191, 1 – 5 192, 1 – 2 193 194 195 196 197 198 199, 1 – 2
24, 443
200 201, 1 – 2 202 203 204 205, 1 – 2 206 207 208 209, 1a –1b 210
26, 501
211 212 213 214 215
26, 501
216 217 218, 1a –1b
26, 501
26, 495 26, 501 26, 500 26, 501 26, 501 26, 501 26, 501 26, 501 26, 501 26, 501 26, 501
26, 501 26, 501 26, 501 26, 494 26, 501 26, 501 26, 501 26, 501 26, 501 26, 501
26, 501 26, 501 26, 501 26, 501
26, 501 26, 501
Symbolbegr., Allgem. Mythos / [Zeichen, Wort, Name]1 Mythos, Relig. Mythos – Magie / Form der mythischen ›Kausalität‹ Magie Mythos – Magie Magie Mythos, Magie Mythos, Magie Kunst / Kunst u. Mythos – Mythos Magie, Animismus / Entwicklung des Persönlichkeitsbegriffs Religion, Mythos Religion, Mythos Religion / (Rˆıta – Ordnung) Mythos / (Tätigkeit, Moment der Aktivität etc.) Mythos Mythos / [Regelmäß., Ordng, rˆıta] Mythos / [Ordng, Regelmäß, rˆıta] Mythos / Allgem. zur Methodologie Mythos Allgem. Symbolform Mythos (Allgem.) Mythos / Andrew Lang, Myth, Ritual and Religion […] Mythos / Theriomorphe Götter Mythos – Religion / (Monotheismus) Mythos / Formbegriff in der aegypt. Religion Mythos (Bild) Aesthetik / Übergang: Kunst und Mythos, Kunst und Magie Mythos / Zum Totemismus Mythos / Tabu… Mythos, Religion / Totemismus –
1 Es liegen zwei Blätter mit Nummer 190 vor, wobei beide Zahlen offenbar korrigiert wurden. Dasselbe gilt für Nummer 191.
Liste der Blätter
219, 1 – 2 220, 1a –1b 221,1
26, 501
221,2 222 223 224 225 226 227 228 229, 1 – 2
26, 494
230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241
26, 500
26, 501 26, 501
23, 436 26, 495 26, 498 26, 495 23, 433 26, 494 23, 429 29, 548
26, 495 26, 498 26, 495 26, 495 26, 495 26, 495 26, 495 26, 495 26, 495 26, 500 26, 500
Mythos / Allgemein. zur Symbolform – Mythos / Allgemein. zur Symbolform Mythos / Rˆıta – [Babylon. Religion, Panbabylo nismus] Sprache Magie, Mythos / Zur „Allmacht der Gedanken“ Mythos, Relig. / Zum „Totemismus“ Magie / Zauber, Analogiezauber Sprache / Zählen, Rechnen Mythos, Religion / Courade Sprache (Name) / Bedeut. des Namens Symbolbegriff (Allg.) / Metaphysik des Symbo lischen [Magie; auch zu Sprache gehör.] / Namen-Magie Mythos / Seele – Mythos / Realitätsbedeutung –.. Mythos … / Tabu Mythos / Magie Mythos Mythos / Vegetationsdämonen – Mythos Mythos Mythos / Vegetationsdämonen Mythos / Totemismus … / (Lebenszusammenh.) Mythos (rˆıta)
443
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Ernst Cassirer Werke In Deutschland, Frankreich, Italien und den USA wird das umfangreiche Werk Ernst Cassirers heute als eine der großen und zukunftsweisenden denkerischen Leistungen des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Die Hamburger Ausgabe der Werke Ernst Cassirers führt erstmalig alle von Cassirer veröffentlichten oder für eine Veröffentlichung vorbereiteten Texte und Schriften, d.h. 20 Monographien und gesondert publizierte Aufsatzbände, rund 100 Aufsätze, Artikel, Reden, Vorträge und Rezensionen, in chronologischer Folge, jedoch stets nach Maßgabe der jeweils letzten vom Autor autorisierten Auflage zusammen und erfüllt damit das Desiderat einer Ausgabe letzter Hand. Alle Texte werden in Orthographie und Interpunktion nach den Regeln wiedergegeben bzw. korrigiert, die Cassirer selbst bei Zweitauflagen nach der DudenReform von 1901 befolgte. Zitate und Literaturangaben sind durchgängig überprüft und gegebenenfalls berichtigt, von Cassirer in deutscher Übersetzung angeführte Zitate in der Originalsprache hinzugefügt. Über die Entstehungsgeschichte und Darbietungsform der Texte informiert der editorische Bericht des jeweiligen Bandes. Jeder Band enthält ein Schriften- und Personenverzeichnis. Der Registerband erschließt mit einem Sachindex das gesamte Werk. Der Volltext der Ernst Cassirer Werke ist auf der dem Registerband beiliegenden CD inkl. der komfortablen Retrieval-Software ViewLit enthalten.
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felix meiner verlag
www.meiner.de/ecw »Cassirer hatte das Talent, die philosophischen Probleme in ihrem historischen Zusammenhang zu sehen und so den großen abendländischen Denkprojekten eine Linie zu geben und für die Gegenwartsdiskus sionen fruchtbar zu machen.« Die Zeit
felix meiner verlag Ernst Cassirer Nachgelassene Manuskripte und Texte Die Ernst Cassirer Nachlaßausgabe (ECN) wird auf der Grundlage der Bestände der Beinecke Rare Book and Manuscript Library und unter Hinzuziehung weiterer Manuskripte aus den Beständen anderer Bibliotheken sowie aus Privatbesitz eine umfassende, nach thematischen Gesichtspunkten in 18 Bände gegliederte kritische Edition aller wissenschaftlich relevanten Texte und sämtliche ca. 1.400 bislang aufgefundenen Briefe aus dem Nachlaß Ernst Cassirers vorlegen. Sie macht neue und bislang unzugängliche Texte Cassirers zur theoretischen Begründung und Ausarbeitung der Philosophie der symbolischen Formen, zur Geistesgeschichte und zur Geschichte der Philosophie zugänglich. Sämtliche Manuskripte und Texte werden nach Maßgabe ihres Ausarbeitungszustandes grundsätzlich diplomatisch wiedergegeben, d.h. ohne Eingriffe in die Orthographie, Interpunktion oder Textgestalt des transkribierten Originals. Zusätze der Herausgeber werden stets ausgewiesen, Besonderheiten der Originalmanuskripte, die im Druck nicht abgebildet werden können, sind im zugeordneten Apparat unter den Seiten beschrieben und ausgewiesen. Ein Sachkommentar gibt Nachweise verdeckter oder unrichtiger Zitate sowie Hinweise zu den genannten Personen. Jeder Band enthält einen editorischen Bericht, der zu Fragen der Textüberlieferung und -erschließung Auskunft gibt. Neben den Forschungs- und Vorlesungsmanuskripten, die zwar nicht unmittelbar zum Zwecke der Publikation ausgearbeitet wurden, aber gleichwohl zum materialen Grundbestand seines Werkes gehören, sind es vor allem die nach der im Jahre 1933 erzwungenen Emigration Cassirers unter den erschwerten Bedingungen des Exils in England, Schweden und den USA entstandenen unveröffentlichten Aufzeichnungen, Vorträge und Schriften, die für die Beurteilung der systematischen Konzeption und Fortentwicklung seiner Philosophie von Bedeutung sind. Zur Metaphysik der symbolischen Formen (1) – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis (2) – Geschichte. Mythos (3) – Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹ (4) – Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941 (5) – Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie (6) – Mythos, Sprache und Kunst (7) – Vorlesungen und Vorträge zu philosophischen Problemen der Wissenschaften (8) – Zu Philosophie und Politik (9) – Kleinere Schriften zu Goethe und zur Geistesgeschichte (10) – Goethe-Vorlesungen 1940–1941 (11) – Schillers philosophische Weltansicht (12) – Zur Philosophie der Renaissance (13) – Descartes, Leibniz, Spinoza (14) – Vorlesungen und Vorträge zu Kant (15) – Vorlesungen zu Hegels Philosophie der Moral, des Staates und der Geschichte (16) – Davoser Vorträge. Vorträge über Hermann Cohen (17) – Briefe (18)