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German Pages 322 Year 2006
PETER WOLLENSCHLÄGER
Die Gemeinschaftsaufsicht über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1038
Die Gemeinschaftsaufsicht über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Von
Peter Wollenschläger
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-12118-X 978-3-428-12118-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier
entsprechend ISO 9706 θ
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Vorliegende Arbeit wurde 2005 von der Juristischen Fakultät der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung sind bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Karl A. Schachtschneider. An seinem Lehrstuhl habe ich die Möglichkeit erhalten, mich in wissenschaftlicher Freiheit mit einem rechtswissenschaftlichen Thema zu beschäftigen und dieses zum Abschluß zu bringen. Darüber hinaus hat Prof. Dr. Schachtschneider die Arbeit fachkundig, mit großem Interesse und konstruktiv begleitet. Für Gespräche stand er jederzeit zur Verfügung. Seine Anregungen, Fragen und Hinweise waren mir eine große Hilfe. Er hat wissenschaftliches, dogmatisches Arbeiten vorgelebt. Durch ihn haben sich mir die Universität und deren Aufgaben neu erschlossen. Weiterhin danke ich meinem Vater, Gerhard Wollenschläger, und meinem Kollegen, Dr. Wolfgang Freitag, welche die Dissertation in mühevoller Kleinarbeit Korrektur gelesen und deren Fortgang durch manches Gespräch gefördert haben. Nürnberg, im Juli 2006
Peter Wollenschläger
Inhaltsverzeichnis Einleitung
19
Kapitel 1 Das Aufsichtswesen A. Grundlagen der Aufsicht I. Begriff der Aufsicht Π. Verschiedene Aufsichtsarten
21 21 21 26
1. Zivilrecht
26
2. Öffentliches Recht
27
a) Aufsicht des Staates als Überwachung privater Tätigkeit
29
b) Hoheitliche Aufsicht über die öffentliche Hand
31
B. Öffentlich-rechtliche Aufsicht I. Begründung und Rechtfertigung
32 32
1. Behördenaufsicht
32
2. Aufsicht über Selbstverwaltungskörperschaften
35
3. Bundesaufsicht
36
4. Völkerrechtliche Aufsicht
40
II. Aufsichtsmaßstab III. Aufsichtsmittel
46 50
1. Prävention und Repression
51
2. Beobachtung und Berichtigung
52
3. Verbindliche und unverbindliche Aufsichtsmaßnahmen
53
IV. Einzelne Aufsichtsverfahren
53
Inhaltsverzeichnis
8
Kapitel 2 Gemeinschaftsaufsicht A. Normativer Befund I. Aufgaben- und Befugnisnormen II. Vertragliche Vorgaben
57 57 57 60
1. Aufgabennorm des Art. 211 Spstr. 1 EGV
60
2. Maßgebliche Befugnisnormen
60
a) Art. 226 EGV
60
b) Art. 284 EGV
61
c) Art. 88 EGV
63
III. Begriffsklärung B. Grundsätze der Gemeinschaftsaufsicht
63 65
I. Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft
67
1. Grundsatz der begrenzten Ermächtigung
67
2. Grundsatz der Subsidiarität
70
3. Rechtsgemeinschaft, aber nicht Zwangsgemeinschaft
72
II. Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV als Hauptinstrument der Gemeinschaftsaufsicht I. Funktion und Bedeutung
73
75 75
1. Ausgangslage
75
2. Verfahrensziel
76
3. Nebenfolgen
78
II. Die Kommission als Aufsichtsorgan der Europäischen Gemeinschaft
79
III. Der Mitgliedstaat als beaufsichtigte Person
80
IV. Verschiedene Verfahrensabschnitte
82
1. Formloser Einigungsversuch
82
2. Außergerichtliches Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV
83
3. Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV
85
4. Sanktionsverfahren nach Art. 228 Abs. 2 EGV
87
nsverzeichnis V. Aufsichtsgegenstand
9 88
1. Vollziehende Gewalt
90
2. Gesetzgebung
92
3. Rechtsprechung
95
VI. Aufsichtsmaßstab
96
VII. Pflicht zur Aufsicht
97
1. Objektives Recht
97
2. Subjektives Recht
99
Kapitel 3 Rechtsprechung der Mitgliedstaaten A. Grundlagen I. Rechtsprechung im materiellen / funktionalen und im institutionellen / organisatorischen Sinne
100 100
100
II. Relativität der rechtsprechenden Gewalt
104
1. Verfassungsrechtliche Vorgaben
104
2. Sichtweisen in föderativen Einrichtungen
106
ΙΠ. Materialisierung der rechtsprechenden Gewalt am Beispiel Deutschlands
107
IV. Rechtsprechende Gewalt der Mitgliedstaaten: Vorgaben des EG-Vertrags
111
1. Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV
112
2. Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
115
B. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren I. Position des Europäischen Gerichtshofs
117 117
1. (Mitglied-)Staatlichkeit
119
2. Institutionelle Kriterien
122
a) Gesetzliche Grundlage
124
b) Ständige Einrichtung
125
c) Entscheidung nach Rechtsnormen
125
d) Obligatorische Gerichtsbarkeit
126
e) Unabhängigkeit des vorlegenden Organs
127
nsverzeichnis 3. Funktionelle Kriterien
129
a) Entscheidung einer Rechtsstreitigkeit
130
b) Rechtskraftfähigkeit der Entscheidung
131
c) Streitiger Charakter des Verfahrens
133
II. Meinungen in der Literatur
135
C. Rechtsprechungsbegriff des Vertragsverletzungsverfahrens I. Grundlagen
137 137
1. Vertragliche Vorgaben
137
2. Begriffsbestimmung
139
a) Auslegungsmethode
139
b) Rückgriff auf Art. 234 EGV?
141
II. Staatlichkeit
144
1. Unmittelbare Staatsgewalt und Organschaft
144
2. Mittelbare Staatsgerichtsbarkeit
146
3. Private Gerichtsbarkeit: Schiedsgerichtsbarkeit
149
III. Gerichte als Organe der Rechtsprechung
150
1. Unabhängigkeit des Gerichts
150
2. Entscheidung nach Rechtsnormen
153
3. Ständige Einrichtung
154
IV. Rechtsprechende Gewalt
155
1. Rechtsklärung durch Entscheidung
157
2. Rechtskraft
159
Kapitel 4 Ansichten in Literatur und Praxis über die Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Rechtsprechungsakte nationaler Gerichte A. Rechtsauffassungen I. Alles-oder-nichts-Positionen
163 164 165
1. Uneingeschränkte Zulässigkeit der Aufsichtsbefugnis
165
2. Ablehnung der Aufsichtsbefugnis
166
nsverzeichnis II. Einschränkungen der Aufsichtsbefugnis
11 167
1. Keine Aufsicht bei unterinstanzlichen Gerichten
167
2. Beachtung der Rechtskraft
169
3. Erfordernis des „qualifizierten" Vertragsverstoßes
170
III. Auffassung der Praxis
172
1. Position der Kommission
172
2. Position des Europäischen Parlaments und des Generalanwalts
178
B. Politische Überlegungen
179
Kapitel 5 Aufsicht föderativer Einrichtungen über die Rechtsprechung der Gliedstaaten A. Aufsicht im Völkerrecht I. Grundlagen
182 184 184
1. Selbständigkeit der Staaten
184
2. Staat als Völkerrechtssubjekt
188
3. Staaten Verantwortlichkeit
190
II. Internationale Aufsicht über nationale Gerichte
193
1. Verantwortlichkeit des Staates für seine Rechtsprechungsorgane
193
2. Völkerrechtswidrige Urteile nationaler Gerichte
195
3. Rechtsfolgen
196
4. Völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit im Gewände des VertragsverletzungsVerfahrens?
197
B. Aufsicht in der föderativen Republik am Beispiel Deutschlands I. Grundlagen der (Bundes-)Aufsicht
199 199
1. Bundesstaatlichkeit
199
2. Rechtsstaatlichkeit
201
3. Gewaltenteilige Funktionenordnung
204
4. Staatlichkeit der Länder
205
Π. Aufsicht des Bundes über die Gerichte der Länder
206
1. Auslegung und Anwendung von Bundesrecht durch die Gerichte der Länder als Ausgangspunkt 206
12
nsverzeichnis 2. Aufsicht und gewaltenteilige Funktionenordnung
207
a) Aufsicht durch die gesetzgebende Gewalt?
209
b) Aufsicht durch die vollziehende Gewalt?
210
c) Aufsicht durch die Rechtsprechung
213
3. Aufsicht und Rechtsstaatlichkeit
215
a) Formelle und materielle Rechtskraft
216
b) Gebot prozessualer Fristen
218
4. Aufsicht und Bundesstaatlichkeit
219
5. Ergebnis
222
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht I. Einführung II. Rechtsprechungsaufgabe in der Europäischen Gemeinschaft
223 223 226
1. Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte
226
2. Aufgaben der nationalen Gerichte
228
III. Rechtsprechungseinheit und Rechtsprechungskontrolle in der Europäischen Gemeinschaft 230 1. Allgemeine Rechtsinstrumente
230
2. Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV
234
3. Nationale Rechtsmittel
237
4. Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
238
IV. Vertragsverletzungsverfahren als Aufsichtsinstrument der Europäischen Gemeinschaft über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten? 238 1. Einfluß des Vorabentscheidungsverfahrens
240
a) Divergierende Auslegungen unterinstanzlicher Gerichte
241
b) Abweichende Auslegungen letztinstanzlicher Gerichte
243
c) Mißachtung von Vorabentscheidungen
245
d) Verstöße gegen die Gemeinschaftstreue
245
2. Vorrang der innerstaatlichen Korrektur
246
3. Gewaltenteilige Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft
247
a) Unabhängigkeit der nationalen Gerichte
247
b) Rechtsprechungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs
248
4. Rechtsstaatliche Anforderungen an die Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV 250
Inhaltsverzeichnis
13
Kapitel 6 Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
254
A. Grundlagen
254
B. Verbesserungsvorschläge
260
I. Vermeidung gerichtlicher Vertragsverstöße
260
1. Recht auf Vorlage
261
2. Schulungs- und Aufklärungsmaßnahmen
265
II. Beseitigung gerichtlicher Vertragsverstöße nach Urteilserlaß, aber vor Ablauf der Rechtsmittelfristen 265 1. Nationale Ansätze
266
a) Ordentliche Rechtsmittel
267
b) Verfassungsbeschwerde
268
2. Kassationsbeschwerde
274
III. Korrektur vertragswidriger Richtersprüche, die in Rechtskraft ergangen sind .. 275 1. Vermeidung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Gerichtsurteile durch Beseitigung des Grundaktes 276 2. Restitutionsklage
277
3. Klage im Interesse des Gesetzes
284
a) Verfahrenscharakter und normativer Befund
284
b) Klage im Interesse des Gesetzes als Kontrollinstrument?
287
IV. Ein Vorschlag zur Änderung und Optimierung der aktuellen Vertragslage
289
Kapitel 7 Zusammenfassung
291
Literaturverzeichnis
294
SachWortverzeichnis
312
Abkürzungsverzeichnis a.A.
anderer Ansicht
a. a. Ο.
am angegebenen Ort
AB LEG
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
Abs.
Absatz
a.F.
alte Fassung
AG
Aktiengesellschaft
AktG
Aktiengesetz
Alt.
Alternative
AOK
Allgemeine Ortskrankenkassen
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
ArbGG
Arbeitsgerichtsgesetz
ArchVR
Archiv des Völkerrechts
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Art.
Artikel
BayGO
Bayerische Gemeindeordnung
BayHeilberufeKammerG
Bayerisches Heilberufekammergesetz
BayHSchG
Bayerisches Hochschulgesetz
BayPAG
Bayerisches Polizeiaufgabengesetz
BayVBl.
Bayerische Verwaltungsblätter
BB
Betriebs-Berater
Bd.
Band
BFH
Bundesfinanzhof
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGH
Bundesgerichtshof
Β GHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (amtliche Sammlung)
BT-Drs.
Bundestagsdrucksache
BV
Bayerische Verfassung
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerfGG
Bundesverfassungsgerichtsgesetz
BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
BVerwGE
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (amtliche Sammlung)
(amtliche Sammlung)
Abkürzungsverzeichnis C
15
Consultationes (Mitteilungen und Bekanntmachungen)
C
Cour
CEE
Communauté Economique Européenne
CMLR
Common Market Law Review
DB
Der Betrieb
ders.
derselbe
d. h. DJT
das heißt Deutscher Juristentag
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
DSWR DVB1. EAG ed. EEA e.G. EG EG
Zeitschrift für Praxisorganisation, Betriebswirtschaft und elektronische Datenverarbeitung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Atomgemeinschaft Edition Einheitliche Europäische Akte eingetragene Genossenschaft Europäische Gemeinschaft EG-Vertrag
EGKS EGV Einl.
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
EP
Europäisches Parlament
etc.
et cetera
EU
Europäische Union
EU
EU-Vertrag
EuG
Europäisches Gericht erster Instanz
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
EuGVO = EuGVVO EuGVÜ
Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung Europäisches Gerichts- und Vollstreckungsübereinkommen
EuGVVO = EuGVO EuR Euratom EUV
Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung Europarecht Europäische Atomgemeinschaft Vertrag über die Europäische Union (Amsterdamer Vertrag)
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EWG EWGV
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
EZB
Europäische Zentralbank
vom 25. März 1957 f.
folgend
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
ff.
fortfolgend
16
Abkürzungsverzeichnis
FGO
Finanzgerichtsordnung
FS
Festschrift
GATT
General Agreement on Tariffs and Trade (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen)
G/Β/Τ
Groeben / Boeckh / Thiesing
G/ Β/Τ / E
Groeben / Boeckh / Thiesing / Ehlermann
GewO
Gewerbeordnung
GG
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
GmbH
Gesellschaft mit beschränkter Haftung
G/T/E
Groeben/Thiesing/Ehlermann
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
HessStGH
Hessischer Staatsgerichtshof
HGrG
Haushaltsgrundsätzegesetz
h.M.
herrschende Meinung
Hrsg.
Herausgeber
hrsg.
herausgegeben
Hs.
Halbsatz
HStR
Handbuch des Staatsrechts
HVerfR
Handbuch des Verfassungsrechts
i.d.S.
in diesem Sinne
IGH
Internationaler Gerichtshof
IGH-Statut ILC
Statut des Internationalen Gerichtshofs International Law Commission, Internationale Rechtskommission Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts
IPRax i.V.m.
in Verbindung mit
JIR
Jahrbuch für internationales Recht
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristen-Zeitung
KSE
Kölner Schriften zum Europarecht
L
Legislationes (Rechtsvorschriften)
lit.
Littera
n.F.
neue Fassung
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr.
Nummer
NVwZ
Neue Verwaltungszeitschrift
OLG
Oberlandesgericht
RIW
Recht der Internationalen Wirtschaft
Rn.
Randnummer
Rs.
Rechtssache
RTDE
Revue trimestrielle de droit européen
S.
Satz
Abkürzungsverzeichnis S.
17
Seite
seil.
scilicet
Slg. Spstr. StGB StIGH StPO Τ TPRM u. a.
Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (amtliche Sammlung) Spiegelstrich Strafgesetzbuch Ständiger Internationaler Gerichtshof Strafprozeßordnung Tribunal Trade Policy Mechanism und andere
UN-Charta
Charta der Vereinten Nationen
UWG v.
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb von
verb. vgl. WDStRL
verbundene vergleiche Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
VwGO
Verwaltungsgerichtsordnung
VwVfG
Verwaltungsverfahrensgesetz
WM
Wertpapier-Mitteilungen
WTO
World Trade Organization, Welthandelsorganisation
WTOÜ
Abkommen über die Welthandelsorganisation
ZPO
Zivilprozeßordnung
2 Wollenschläger
Einleitung Die Europäische Gemeinschaft ist ein Staatenverbund, welcher Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten gemeinschaftlich ausübt (so das Bundesverfassungsgericht in seiner Maastrichtentscheidung: BVerfGE 89, 155 (188 ff.)). Hierbei setzt die Europäische Gemeinschaft Recht, welches weitestgehend von den Mitgliedstaaten durchgeführt wird: die Gesetzgebungsorgane der Mitgliedstaaten setzen das Gemeinschaftsrecht um, die nationalen Behörden vollziehen es, die nationalen Richter legen es aus und wenden es an. Um die vertragsgemäße Durchführung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sieht der EG-Vertrag verschiedene Aufsichtsmittel vor. Das wichtigste unter ihnen ist das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV. Art. 226 Abs. 2 EGV befugt die Kommission, nach der Durchführung eines Vorverfahrens den Europäischen Gerichtshof anzurufen, wenn „ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag" verstoßen hat. Nach dem Wortlaut der Norm könnte jedes mitgliedstaatliche Handeln Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens sein, also auch (vertragswidrige) Richtersprüche nationaler Gerichte. Die Aufsicht der Kommission über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten ist problematisch. Sie wirft verschiedene Rechtsfragen auf. Folgende zwei Passagen aus Standardkommentaren mögen dies verdeutlichen: „Besonders problematisch ist die Anwendung des Vertrags verstoß Verfahrens gegenüber Verstößen durch nationale Gerichte. Die meisten Autoren raten hier zu größter Zurückhaltung, und zwar nicht nur wegen der Unabhängigkeit der nationalen Gerichte und der hieraus fließenden Unmöglichkeit der Regularisierung, sondern auch deshalb, weil der EGV den nationalen Gerichten bei der Anwendung und Durchsetzung des GemR (seil.: Gemeinschaftsrechts) eine zentrale Rolle zuweist."1 „Einen problematischen Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang die verfassungsgemäße Unabhängigkeit der Gerichte dar. Auch hier kann sich ein Mitgliedstaat entsprechend dem dargestellten Grundsatz zur Rechtfertigung eines Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht nicht auf die richterliche Unabhängigkeit berufen. Im Schrifttum wird jedoch überwiegend die Ansicht vertreten, daß die Kommission bei der Einleitung entsprechender Verfahren Zurückhaltung üben sollte. Dieses wird zum einen mit der Respektierung der richterlichen Unabhängigkeit begründet. Zum anderen wird auf die Schwierigkeiten verwiesen, die sich bei der Abhilfe des Verstoßes ergeben, denn weder das Urteil des EuGH noch die Regierung oder das Gericht des Mitgliedstaates können ein bereits rechtskräftiges Urteil aufheben." 2 1
P. Karpenstein /U. Karpenstein, Union, 1999, Art. 226, Rn. 23. 2*
in: Grabitz /Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen
20
Einleitung
Die vorliegende Arbeit untersucht, ob eine Aufsicht der Europäischen Gemeinschaft über die Gerichte der Mitgliedstaaten zulässig ist. Neben den klassischen innerstaatlichen Elementen der gewaltenteiligen Funktionenordnung und der Rechtsstaatlichkeit ist hierbei insbesondere auf die Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft einzugehen. In Kapitel 1 werden Inhalt und Begriff der Aufsicht erörtert. Kapitel 2 ist den normativen Grundlagen der Gemeinschaftsaufsicht gewidmet. Kapitel 3 untersucht den Aufsichtsgegenstand, die rechtsprechende Gewalt der Mitgliedstaaten. Kapitel 4 gibt die gleichermaßen zahlreichen wie unterschiedlichen Ansichten in Literatur und Praxis über die Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens über die Rechtsprechungsakte nationaler Gerichte wieder. Kapitel 5 dogmatisiert das Aufsichtswesen im Völkerrecht, in der föderativen Republik und in der Europäischen Gemeinschaft. Kapitel 6 schließlich zeigt auf, ob Änderungen der Gemeinschaftsaufsicht notwendig sind und welche Gestalt diese haben könnten.
2 U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 226 EGV, Rn. 9.
Kapitel 1
Das Aufsichtswesen A. Grundlagen der Aufsicht I. Begriff der Aufsicht In sprachlicher Hinsicht leitet sich der Begriff Aufsicht von den Worten „von oben auf etwas sehen" ab.1 Dieses weite sprachliche Verständnis entspricht jedoch nicht der rechtlichen Bedeutung des Begriffes. 2 Aufsicht in rechtlicher Sicht ist enger zu verstehen. Eine erste, noch sehr weite Definition beschreibt sie als „Überwachung eines Verhaltens".3 Etwas genauer wird Aufsicht des weiteren definiert 1
So H. Triepel, Die Reichsaufsicht. Untersuchungen zum Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1917, S. 110; W. Kahl , Die Staatsaufsicht. Entstehung, Wandel und Neubestimmung unter besonderer Berücksichtigung der Aufsicht über die Gemeinden, 2000, S. 353, gibt fast wortgleich „von oben her auf etwas sehen" an. 2 Grundlegend zum Begriff der Aufsicht: H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 102 ff., 354 ff., 479 ff., 620 ff.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 347 ff.; weiterhin: J. Salzwedel , Staatsaufsicht in der Verwaltung, in: VVDStRL, Staatsaufsicht in Verwaltung und Wirtschaft, Bd. 22 (1965), S. 206 ff.; M. Bullinger, Staatsaufsicht in der Wirtschaft, in: VVDStRL, Staatsaufsicht in Verwaltung und Wirtschaft, Bd. 22 (1965), S. 264 ff.; H. v. Mangoldt , Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht, 1965, S. 1 ff.; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl., 1976, S. 101 ff.; F.-L Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl., 1985, S. 400 ff.; ders., Rechtsaufsicht als Vertrauensaufsicht, BayVBl. 1999, 193 ff.; P. Lerche, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, 1985, Art. 84, Rn. 124 ff.; Μ. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 371 ff.; W. Rudolf, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, 1998, S. 806 ff.; U. Di Fabio, Staatsaufsicht über formelle Körperschaften des öffentlichen Rechts, BayVBl. 1999, 449 ff.; H. Lühmann, Von der Staatsaufsicht zur Unionsaufsicht? Auswirkungen des europäischen Rechts auf das deutsche System der Staatsaufsicht, DVB1. 1999, 752 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, 4. Aufl., 2003, S. 296 ff.; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl., 2002, S. 830 ff.; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, 2003, S. 260 ff.; zur Aufsicht in der Europäischen Gemeinschaft: M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR Bd. 20 (1971), S. 1 ff., insbesondere S. 52 ff.; B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union. Rechtsordnung und Politik, 4. Aufl., 1994, S. 89 ff.; zur völkerrechtlichen Aufsicht: H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 88 ff.; ders., Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, JIR 10 (1961), S. 2 ff. 3
So etwa G. Köbler/H. Pohl, Deutsch-deutsches Rechtswörterbuch, 1991, S. 41; ausführlicher definierend Η. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 110 f., der eine zweckgebundene Beob-
22
Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
als „Beobachtung und Beeinflussung des Aufsichtunterworfenen, um dessen Handlungen mit vorgegebenen Maßstäben in Übereinstimmung zu bringen oder zu halten". 4 In Anlehnung an den Sprachgebrauch der letztgenannten Definition wird im folgenden der Ausdruck „Handlung", welcher sowohl das aktive Tun als auch das pflichtwidrige Unterlassen umfaßt, 5 anstelle des ungenauen Begriffes „Verhalten" benützt. Bereits aus den beiden Definitionen lassen sich verschiedene Elemente der Aufsicht gewinnen. Aufsicht ist ein sozialer Vorgang. Es bedarf einer Person, eines Menschen, welcher die Aufsicht ausübt, im folgenden als Aufsichtführender bezeichnet. Unter Berücksichtigung der Subjekthaftigkeit des Aufsichtführenden ist in der Wissenschaft auch vom Aufsichtssubjekt die Rede.6 Gegenstand der Überwachung sind Handlungen. Als aktives Tun oder als pflichtwidriges Unterlassen einer Handlung beruht jedes Handeln auf einem eigenständigen Willen des Handelnden.7 Urheber einer Handlung können deshalb nur Menschen sein,8 nicht aber Sachen oder Gegenstände, weil diese nicht über einen eigenen Willen verfügen. 9 Allgemein wird der Aufsichtsgegenstand in der Lehre als Aufsichtsobjekt bezeichnet.10 Hierbei ist zwischen einer funktionalen und einer institutionell / personenbezogenen Sichtweise zu unterscheiden: Während Gegenstand der funktionalen Betrachtung die Handlung ist, fragt die institutionell/perachtung, die sich auf das Verhalten eines anderen (einer anderen Person) richtet, verlangt; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 353, spricht von einer Überwachung, die sich auf die Tätigkeit oder Bewegung eines bestimmten Objekts beziehen muß. 4 So M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 371; hierzu auch W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 261. 5 Allgemein zum Handlungsbegriff: K. A. Schachtschneider, Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits- Rechts- und Staatslehre, 1994, S. 297 ff.; H. Tröndle/T. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 50. Aufl., 2001, Vor § 13, Rn. 3 f.; G. Köhler, Juristisches Wörterbuch, 10. Aufl., 2001, S. 231. 6 J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 207; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 102; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 349. 7 H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. I l l ; W Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 353. » H. Trìepel, Die Reichsaufsicht, S. 111 f.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 353; unter Hinweis auf § 833 BGB hält H. Triepel, a. a. O., auch die Beaufsichtigung von Tieren für möglich, kritisch hierzu W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 353 f.; ohne Bedeutung ist ferner die Rechtsgeschäftsfähigkeit des Handelnden, wie das Beispiel des Kindes erweist: Zwar erklärt § 104 Nr. 1 BGB, daß rechtsgeschäftsunfähig ist, wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, gleichwohl sind Kinder fähig, einen eigenständigen Willen zu bilden und demgemäß zu handeln, so auch W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 353 f. 9 Keine Aufsicht im rechtlichen Sinne liegt deshalb bei der Beobachtung eines Gegenstandes oder eines Naturereignisses vor: i.d.S. H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. I l l ; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 353. 10 H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. I l l ; J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 208; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 102; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 349.
Α. Grundlagen der Aufsicht
23
sonenbezogene Betrachtungsweise danach, wer die Handlung begangen hat, also nach der Person des Handelnden.11 Die Lehre verwendet in diesem institutionellen/personenbezogenen Sinne den Begriff des Beaufsichtigten. 12 Aufsicht setzt somit die Beteiligung zweier Personen voraus, zum einen den Aufsichtführenden und zum anderen den Beaufsichtigten, dessen Handlungen in der Form des aktiven Tuns oder des pflichtwidrigen Unterlassens vom Aufsichtführenden überwacht werden. Jede Überwachung zeichnet sich weiterhin dadurch aus, daß der Aufsichtführende einen bestimmten Zweck verfolgt. 13 Dieser läßt sich nach Triepel allgemein dahingehend bestimmen, „das Verhalten der beaufsichtigten Person mit einem bestimmten Richtmaß in Übereinstimmung zu bringen oder zu erhalten". 14 Das Richtmaß bestimmt den Zweck der Aufsicht. 15 So kann die Aufsicht darauf gerichtet sein, die Rechtmäßigkeit der beaufsichtigten Handlung zu gewährleisten, 16 wie Art. 84 Abs. 3 S. 1 GG hinsichtlich der Bundesaufsicht bei der Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder als eigene Angelegenheit erweist: „Die Bundesregierung übt die Aufsicht darüber aus, daß die Länder die Bundesgesetze dem geltenden Recht gemäß ausführen". 17 Sie kann aber auch zum Ziel haben, die Rechtmäßigkeit und die Zweckmäßigkeit der beaufsichtigten Handlung zu überprüfen. 18 So hält Art. 85 Abs. 4 S. 1 GG für die Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder im Rahmen der Auftragsverwaltung fest: „Die Bundesaufsicht erstreckt sich auf Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Ausführung". 19 11 In diesem institutionellen Sinne: J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 208, der unter Objekt der Staatsaufsicht die mit dem Recht zur Selbstverwaltung ausgestatteten Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts anführt; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 102. 12 So auch M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 371. 13 Dazu H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. I l l ; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 371; W Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 354; auch W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 260 f. 14 H. Triepel Die Reichsaufsicht, S. I l l ; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 371, definiert Aufsicht in Anlehnung an den allgemeinen Sprachgebrauch und ihrem gesetzlichen Erscheinungsbild als „Beobachtung und Beeinflussung des Aufsichtunterworfenen, um dessen Handlungen mit vorgegebenen Maßstäben in Übereinstimmung zu bringen oder zu erhalten"; auch W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 261. 15 H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, JIR 10 (1961), S. 3. 16 Vgl. hierzu F.-L. Knemeyer, Rechtsaufsicht als Vertrauensaufsicht, BayVBl. 1999, 193 ff.; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 263 f. 17 P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 152; Η. P. Bull, in: Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Alternativkommentar, Bd. 2, 2. Aufl., 1989, Art. 84, Rn. 55 f.; S. Broß, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 3, 3. Aufl., 1996, Art. 84, Rn. 31. 18 W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 263.
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
Aus der Zweckvorgabe, eine Handlung mit einer bestimmten Richtschnur in Einklang zu bringen oder zu erhalten, folgt schließlich, daß der Aufsichtführende über das Recht verfügen muß, auf das Handeln des Beaufsichtigten einzuwirken, falls dieses nicht dem Richtmaß entspricht. Die Befugnis einzuwirken wird in der Lehre als das zentrale Element jeder Aufsicht gesehen.20 Sie setzt voraus, daß der Aufsichtführende und der Beaufsichtigte in einem bestimmten Rechtsverhältnis zueinander stehen, welches es dem Aufsichtführenden erlaubt, aufsichtsrechtliche Maßnahmen gegen den Beaufsichtigten zu ergreifen. Teile der Lehre nehmen ob dieses Rechtsverhältnisses an, daß ein Über- und Unterordnungsverhältnis (hierarchischer Charakter) zwischen Aufsichtführendem und Beaufsichtigtem bestehe. 21 Ob diese Annahme alle Aufsichtsverfahren zutreffend charakterisiert, ist fraglich. So lassen sich Aufsichtsverhältnisse finden, in welchen zwar durch Gesetz einer Person das Recht zugestanden wird, über eine andere Person Aufsicht zu führen, grundsätzlich aber sind Aufsichtführender und Beaufsichtigter voneinander unabhängig und stehen gerade nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Erinnert werden soll in diesem Zusammenhang nur an das Verhältnis der Gemeinden zum Staat, an das Verhältnis zwischen den Ländern und dem Bund oder an das Verhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und deren Mitgliedstaaten, in welchem weder die Gemeinden als originäre Gebietskörperschaft, noch die Länder oder die Mitgliedstaaten untergeordnet sind. 22 Festhalten kann man allerdings, daß der Aufsichtführende das Recht hat, verbindliche Maßnahmen gegen den Beaufsichtigten zu ergreifen, 23 was in der Lehre zu einem hierarchischen Verständnis der Aufsicht geführt haben mag. Letztlich ist die Aufsichtstätigkeit dadurch gekennzeichnet, daß der Aufsichtführende berechtigt, aber auch verpflichtet ist, von sich aus Aufsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Sein Tätig werden ist nicht von der Stellung eines Antrags oder ande«9 R Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 1987, Art. 85, Rn. 70 ff.; 124; H. P. Bull, in: Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2. Art. 85, Rn. 20; S. Broß, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Art. 85, Rn. 20. 20 So etwa H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 120; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 371; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 261; auch Η J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 90. 21 K. Berendes, Die Staatsaufsicht über den Rundfunk, S. 25; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 371; differenzierend W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 396 ff., der nur für die Behördenaufsicht einen hierarchischen Charakter bejaht, für die Staatsaufsicht und die Bundesaufsicht jedoch wegen der Selbständigkeit des Beaufsichtigten den hierarchischen Charakter verneint. 22 So etwa Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 252 ff., für die Kommunen; C Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 8. Aufl. 1993, S. 371; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 394 ff., für Bundesstaaten. 23 Über die verschiedenen Aufsichtsmittel: E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, 2. Aufl., 1953, S. 190 ff.; J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 249 ff.; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 373 f.
Α. Grundlagen der Aufsicht
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ren externen Faktoren abhängig.24 Unschädlich ist es, wenn Aufsichtsmaßnahmen durch Hinweise Dritter ausgelöst werden. Abzugrenzen ist eine in diesem Sinne verstandene Aufsicht von nahe verwandten Rechtsinstituten, insbesondere der Steuerung und der Kontrolle 2 5 Unter Steuerung als verwaltungswissenschaftlichen Begriff versteht die Lehre das bewußte Einwirken auf Organisationen - insbesondere auf ihre Umwelt, ihre Entscheidungssituation, ihre Entwicklungsabläufe - zur Erreichung vorgegebener oder selbst gesetzter Ziele, namentlich durch Zielsetzung, Planung, Information, Koordination, Motivation und Kontrolle. 26 Im Verhältnis zur Aufsicht ist die Steuerung ein umfassender Oberbegriff; die Aufsicht ist eines der verschiedenen Steuerungsmittel. 27 Zwischen der Kontrolle und der Aufsicht gibt es gleichermaßen Gemeinsamkeiten wie Unterschiede: Beide Rechtsinstrumente haben das gleiche Ziel, nämlich die Überwachung einer Handlung. Allerdings ist der Kontrollbegriff weiterreichend. Kontrolle soll die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns gewährleisten. Sie ist letztendlich Ausfluß der gewaltenteiligen Funktionenordnung und soll dafür Sorge tragen, daß sich die verschiedenen Funktionsbereiche der Staatsgewalt gegenseitig hemmen und mäßigen.28 Kontrolle findet sich demgemäß in allen staatlichen Bereichen: Das Parlament kontrolliert im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems die vollziehende Gewalt, 29 die rechtsprechende Gewalt kontrolliert die vollziehenden und die gesetzgebende Gewalt (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, Art. 100 GG, Art. 93 Abs. 1 GG), 30 die Verwaltung kontrolliert den Gesetzgeber und sich selbst.31 Kontrolle setzt im Gegensatz zur Aufsicht nicht zwingend das Recht zur Initiative voraus, wie die Kontrolle staatlicher Maßnahmen durch die Gerichte erweist, welche nur auf Antrag erfolgt. Von Aufsicht wird zumeist nur im 24 Η. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 110 ff. 25 Hierzu A. v. Mutius, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, VVDStRL 42 (1984), S. 147 ff.; F.-L. Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, S. 400 f.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 355 ff., 402 ff.; auch P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 126; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 831 f. 26 So A. v. Mutius, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, VVDStRL 42 (1984), S. 153; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 355. 27 W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 355; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/ Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 831 f. 2 » Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 792 ff.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 402 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 180 ff. 29 Zur Kontrolle der Regierung durch das Parlament: Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 973 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 243. 30 Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 840 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 270 ff. F.-L Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, S. 400 f.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 410; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 276 f., 284 ff.
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
Bereich der vollziehenden Gewalt gesprochen.32 Aufsicht ist demzufolge ein Teil der Kontrolle. 33
II. Verschiedene Aufsichtsarten Die Rechtsfigur der Aufsicht als das Recht des Aufsichtführenden, die Handlung einer anderen Person mit einem bestimmten Richtmaß in Einstimmung zu bringen oder zu erhalten, existiert im öffentlichen Recht genauso wie im Zivilrecht. Unter öffentlich-rechtlichen Aufsichtsinstrumenten sind alle Institute zu verstehen, die von einer hoheitlichen Einrichtung, im Regelfall dem Staat, ausgeübt werden. Zivilrechtliche Aufsichtsbefugnisse sind dadurch gekennzeichnet, daß sie von einer Person des Privatrechts ausgeübt werden.
1. Zivilrecht
Der Gesetzgeber hat in ganz unterschiedlichen Bereichen des Zivilrechts Aufsichtsrechte und -pflichten normiert, namentlich die Aufsichtsrechte der Eltern über ihre Kinder, die Aufsichtsrechte des Arbeitgebers über Arbeitnehmer und etwa im Gesellschaftsrecht die Beaufsichtigung der Geschäftsführung von Aktiengesellschaften durch den Aufsichtsrat. (1) Eltern haben gemäß §§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB das Recht und die Pflicht zur Aufsicht über ihre Kinder. 34 § 1631 Abs. 1 BGB lautet diesbezüglich: „Die Personensorge umfaßt insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen". Wenn die Eltern ihre Aufsichtspflicht verletzen, sind sie nach § 832 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. 35 (2) Im Arbeitsrecht unterliegt der Arbeitnehmer der Direktionsgewalt des Arbeitgebers. 36 Diese berechtigt den Arbeitgeber, die Arbeitsleistung des Arbeitneh32 F.-L. Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, S. 400 f.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 355; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 831 f. 33 So auch F.-L. Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, S. 400 f.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 402 ff. (403); M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 831 f. 34 Zum Aufsichtsrecht der Eltern: J. Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 3. Aufl., 1980, S. 825 ff.; M. Hinz, in: Münchener Kommentar, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 8, 3. Aufl., 1992, § 1631, Rn. 11 ff.; U. Diederichsen, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 61. Aufl., 2002, § 1631, Rn. 5 ff. 35 J. Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, S. 825 ff.; U. Stein, in: Münchener Kommentar, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 5, 3. Aufl., 1997, § 832, Rn. 1 ff.; H. Thomas, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 61. Aufl., 2002, § 832, Rn. 1 ff.
Α. Grundlagen der Aufsicht
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mers zu beaufsichtigen und, unter Beachtung der gesetzlichen, tarifvertraglichen und vertraglichen Regelungen, jede zweckmäßig erscheinende Anordnung dem Arbeitnehmer gegenüber zu treffen. 37 (3) Im Recht der Aktiengesellschaften hat der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft als eine seiner Hauptaufgaben gemäß § 111 Abs. 1 AktG die Geschäftsführung des Vorstandes zu überwachen. 38 Gegenstand der Überwachung sind die Handlungen der Geschäftsführung auf ihre Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit. 39 Instrumente der Aufsicht des Aufsichtsrates gegenüber der Geschäftsführung sind: Beanstandung und Äußerung von Bedenken, Beratung des Vorstandes, Erlaß einer Geschäftsordnung für den Vorstand, Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern, Klagen auf Erfüllung der Vorstandspflichten und Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstand, Erlaß von Zustimmungsvorbehalten, Einberufung der Hauptversammlung, Verweigerung von Zustimmungen.40 Die Gemeinsamkeiten privater Aufsichtsarten bestehen darin, daß sowohl der Aufsichtführende als auch der Beaufsichtigte eine Person des Privatrechts ist. Unterschiede ergeben sich in der Begründung des Aufsichtsrechts. Dieses kann, wie im Fall des Aufsichtsrats über die Geschäftsführung einer Aktiengesellschaft, gesetzlich begründet sein. Es kann ferner auf einem Vertrag beruhen, wie das Aufsichtsrecht des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer zeigt. Das Aufsichtsrecht der Eltern über ihre Kinder schließlich dürfte, selbst wenn es im Bürgerlichen Gesetzbuch seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat, ein aus der Natur folgendes Recht sein.41
2. Öffentliches Recht Aufsicht im öffentlichen Recht in ihrem weitesten Sinne ist diejenige Aufsicht, die von einer hoheitlichen Einrichtung ausübt wird 4 2 Im Regelfall ist der Staat 36 Hierzu G. Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7. Aufl., 1992, § 31 VI, S. 139 f.; W. Däubler, Das Arbeitsrecht 2, 11. Aufl., 1998, Rn. 152 ff., S. 147 ff.; W. Zöller/K.-G. Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 73 f. 37 W. Däubler, Das Arbeitsrecht 2, Rn. 152, S. 147; W. Zöller/K.-G. Loritz, Arbeitsrecht, S. 73 f. 38 H.-J. Mertens, in: Zöllner (Hrsg.), Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, Bd. 2, 1986, § 111, Rn. 11 ff.; Κ . Schmidt, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl., 1997, § 28 ΙΠ 1, S. 825 ff., der ausdrücklich betont, daß die Hauptaufgaben des Aufsichtsrates in der Überwachung der Unternehmensleitung bestehe; auch W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 266. 39 H.-J. Mertens, in: Zöllner (Hrsg.), Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, Bd. 2, § 111, Rn. 11 ff. 40 H.-J. Mertens, in: Zöllner (Hrsg.), Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, Bd. 2, § 111, Rn. 31 ff.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 28 III 1, S. 827 ff. 41 Hierzu J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Ausgabe Reclam, 1977, S. 6; in diesem Sinne auch Kant, Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel, Bd. 7, 1968, S. 393 ff.
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
aufsichtführende Person, was zum Begriff der Staatsaufsicht geführt hat. 43 Aber auch internationale Organisationen können hoheitliche Aufsicht ausüben, wie die Aufsichtsbefugnis der Europäischen Gemeinschaft gemäß Art. 211 Spstr. 1 EGV i.V.m. Art. 226 EGV über deren Mitgliedstaaten erweist. Der Begriff der Staatsaufsicht wird in der Lehre nicht einheitlich verwendet. Einige Autoren bezeichnen jede vom Staat ausgeübte Aufsicht als Staatsaufsicht, und zwar unabhängig davon, ob sie gegen eine Person des Privatrechts oder gegen die öffentliche Hand gerichtet ist. 44 Restriktiver wird in der Lehre die Auffassung vertreten, daß unter den Begriff Staatsaufsicht nur die Aufsicht des Staates über die öffentliche Hand falle 4 5 Noch einschränkender ist die Position, welche unter Staatsaufsicht lediglich die Ausübung aller Eingriffsbefugnisse versteht, die der Staatsverwaltung gegenüber den Selbstverwaltungsträgern im eigenen und im übertragenen Wirkungskreis zusteht.46 Schließlich wird auch vertreten, daß unter Staatsaufsicht nur diejenige Aufsicht falle, die der Staat über diejenigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts ausübe, die Aufgaben des eigenen Wirkungskreises wahrnehmen würden 4 7 Grundsätzlich bestehen Aufsichtsrechte des Staates sowohl gegenüber Privaten, insbesondere den am Wirtschaftsleben beteiligten Personen des Privatrechts, als auch gegenüber der öffentlichen Gewalt. Die Lehre hat diesem Umstand Rechnung getragen, indem sie von einem „dualen System" der Aufsicht durch den Staat spricht 48 Die Dualität beruht auf der unterschiedlichen Rechtsnatur des Beaufsichtigten: einerseits Aufsicht als Überwachung privater Tätigkeiten, andererseits Aufsicht über die öffentliche Hand. Dabei wird die Aufsicht, die der Staat über den gewerblich Tätigen ausübt, häufig als Wirtschaftsaufsicht und/oder als Wirt42 So auch H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 102. 43 Grundlegend zum Begriff der Staatsaufsicht: W Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 30 ff., 349 ff., 362 ff. 44 G. Brunner, Kontrolle in Deutschland, 1972, S. 168 ff.; W Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 364, schlägt vor, den Begriff der Staatsaufsicht als einen Sammelbegriff, der jedoch nicht als Rechtsbegriff zu verstehen sei, für alle Aufsichtsvorgänge innerhalb des Staates zu verwenden. 45 I.d.S. W Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 365 ff., der diese Art der Aufsicht als Staatsaufsicht im weiten Sinne bezeichnet; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 830 f. 46 So etwa E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 188 f.; H. J. Wolff/O. Bachof Verwaltungsrecht II, S. 103; auch J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 216, der in diesem Zusammenhang wegen der Beaufsichtigung des eigenen und des übertragenen Wirkungskreises von Staatsaufsicht im weiteren Sinne spricht; für W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 365, handelt es sich bei dieser auch als Körperschaftsaufsicht oder Verbandsaufsicht bezeichneten Aufsicht um Staatsaufsicht im engen Sinne. 47 I.d.S. M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372; auch J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 216, der diese auf den eigenen Wirkungskreis beschränkte Staatsaufsicht als Staatsaufsicht im engeren Sinne bezeichnet. 48 H. Lühmann, Von der Staatsaufsicht zur Unionsaufsicht?, DVB1. 1999,754.
Α. Grundlagen der Aufsicht
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schaftsüberwachung bezeichnet.49 Auch der Begriff der Unternehmerkontrolle läßt sich finden. 50 Für die Aufsicht des Staates über die öffentliche Hand hat sich aufgrund der sehr unterschiedlichen Aufsichtsformen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine einheitliche, allgemein anerkannte Terminologie gebildet.51 Wichtig ist, die beiden Aufsichtsformen, Aufsicht des Staates über Private und Aufsicht des Staates über jede Form der öffentlichen Hand, auseinander zu halten. 52 Sie sind „wesensverschieden", wie in der Lehre gesagt wird, 53 weil die Aufsicht des Staates über den Privaten der Gefahrenabwehr dient, 54 ihre Grundlagen also im allgemeinen Sicherheitsrecht liegen, die Aufsicht des Staates über die öffentliche Hand hingegen die Rechtmäßigkeit und gegebenenfalls die Zweckmäßigkeit staatlicher Maßnahmen gewährleisten soll. 55 Um diesen Umstand auch begrifflich Rechnung zu tragen, wird in der Lehre deshalb gefordert, nur im Rahmen der Kontrolle der öffentlichen Hand durch den Staat von Aufsicht zu sprechen und für die Kontrolle des Privaten den Begriff der Überwachung zu verwenden. 56
a) Aufsicht des Staates als Überwachung privater
Tätigkeit
Nach Art. 2 Abs. 1 BayPAG hat der Staat, die Polizei, die Aufgabe, die allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, gibt es Gesetze, welche die Polizeiorgane zur Überwachung der Bürger befugen. Für das 49 J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 208; R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis. Wirtschaftsüberwachung in gewerbepolizeilicher Tradition und wirtschaftsverwaltungsrechtlichem Wandel, 1992, S. 51 ff.; R. Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht. Grundlagen und Prinzipien, 11. Aufl., 1998, S. 283 f.; R J. Tettinger/R. Wank, Gewerbeordnung, 6. Aufl., 1999, Einl. Rn. 4; W Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 378; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 831; W Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 261 f. 50
R. Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 284. So auch M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 371; H. Lühmann, Von der Staatsaufsicht zur Unionsaufsicht?, DVB1. 1999, 754. 52 M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen /Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 831. 53 So auch J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 208 ff.; R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 51 ff.; W Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 376. 51
54 R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 52; W Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 366 ff. (377). 55 Hierzu M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 371; R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 52; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 371 ff. (376 ff.). 56 R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 46 ff.; R. Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 283 ff., der dies bereits durch die Wahl seiner Kapitelüberschrift, „Wirtschaftsüberwachung" zum Ausdruck bringt; in diese Richtung auch W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 362 ff.
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
Wirtschaftsleben etwa sind die Gewerbeaufsicht, die Bankaufsicht oder die Bauaufsicht zu nennen. Anhand des Gewerberechts ist auf die Grundlagen des staatlichen Aufsichtswesens über die Bürger näher einzugehen.57 Nach Art. 2 Abs. 1 GG hat jeder Mensch das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. 58 § 1 Abs. 1 GewO materialisiert Art. 2 Abs. 1 GG für gewerbliche Tätigkeiten dergestalt, daß der Betrieb eines Gewerbes jedermann gestattet ist, soweit nicht durch dieses Gesetz Ausnahmen oder Beschränkungen vorgeschrieben oder zugelassen sind. 59 Gewerbliche Tätigkeit ist demnach grundsätzlich erlaubt. Ihre Grenzen findet sie in den Rechten anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Sittengesetz. Der Schutz der anderen Bürger verlangt, daß der Staat gegen den die Gesetze mißachtenden Gewerbetreibenden vorgeht, weil ansonsten das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit, welches durch das Verfassungsgesetz und die Gesetze gewährleistet wird, gefährdet ist. 60 Unter Beachtung des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung enthalten die Gesetze Befugnisnormen, die es dem Staat erlauben, verbindliche Maßnahmen gegen den rechtswidrig handelnden Gewerbetreibenden zu ergreifen. Die Gesamtheit der Normen, die den Staat berechtigen, den Gewerbetreibenden zu überwachen, lassen sich unter dem Begriff der Wirtschaftsüberwachung, der Gewerbeaufsicht, zusammenfassen. An speziellen Überwachungsinstrumenten sind insbesondere zu nennen: Anzeigepflichten (§ 14 GewO), Genehmigungsvorbehalte (§ 15 GewO) und die weitreichende Untersagung eines Gewerbebetriebs nach § 35 Abs. 1 GewO. 61 § 35 Abs. 1 S. 1 GewO als stark eingreifende Befugnisnorm bringt das Wesen der Wirtschaftsüberwachung als Gefahrenabwehrrecht in seinem Wortlaut deutlich zum Ausdruck: „Die Ausübung eines Gewerbes ist von der zuständigen Behörde ganz oder teilweise zu untersagen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden 57 Grundlegend hierzu: R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 46 ff. 152 ff.; weiterhin M. Bullinger, Staatsaufsicht in der Wirtschaft, VVDStRL 22 (1965), S. 264 ff.; R. Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 283 ff.; P. Badura, Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1999, S. 312 ff. 58 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 253 ff.; ders. Prinzipien des Rechtsstaates, S. 42 ff., 96 ff. 59 Hierzu R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 18 ff.; R Badura, Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 308 f.; Κ. A. Schachtschneider/ Α. Emmerich-Fritsche / D. Siebold, Grundlagen des Gewerberechts, 2002, S. 2 ff., 10 ff. 60 Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 350 ff., 573 ff.; ders. Prinzipien des Rechtsstaates, S. 92 ff. 61 R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 305 ff.; P. J. Tettinger/R. Wank, Gewerbeordnung, § 14, Rn. 1 ff., § 35, Rn. 2; P. Badura, Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 312 ff.; Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Frìtsche/D. Siebold, Grundlagen des Gewerberechts, S. 23 ff.
Α. Grundlagen der Aufsicht
31
( . . . ) dartun, sofern die Untersagung zum Schutze der Allgemeinheit oder der i m Betrieb Beschäftigten erforderlich ist". Gewerbeüberwachung dient somit der Gefahrenabwehr i m gewerberechtlichen Bereich. Sie ist besonderes Sicherheitsrecht. 6 2
b) Hoheitliche
Aufsicht über die öffentliche
Hand
Hoheitliche Aufsicht über die öffentliche Hand existiert in unterschiedlichen Formen. Folgende Aufsichtsarten sind von Bedeutung: Als erstes ist die Aufsicht des Staates über seine eigenen Behörden zu nennen. Sie wird normalerweise als Behördenaufsicht bezeichnet. 63 Teilweise wird auch der Begriff der Organaufsicht oder der Verwaltungsaufsicht verwendet. 6 4 Ihr sachlicher Gegenstand sind die innere Ordnung, die allgemeine Geschäftsführung und die Personalangelegenheiten der beaufsichtigten Staatsbehörde. 65 Der Staat übt weiterhin Aufsicht über andere, selbständige juristische Personen des öffentlichen Rechts aus. Zu erwähnen sind etwa die Kommunalaufsicht, 6 6 die Hochschulaufsicht oder die Rundfunkaufsicht. Eine einheitliche Terminologie für diese Form der Staatsaufsicht hat sich bisher nicht gebildet. Die Bezeichnungen reichen von der Staatsaufsicht 67 über den Begriff der Aufsicht über Selbst62
R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 46 ff.; R. Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 285 ff.; auch M. Bullinger, Staatsaufsicht in der Wirtschaft, VVDStRL 22 (1965), S. 289; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 378; auch W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 261 f., 271. 63 H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 394 f.; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833. 64 So etwa H. Wolff/O. Bachof Verwaltungsrecht Π, S. 103; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833. 65 H. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103 f.; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833. 66 Einen Überblick über die Aufsicht im kommunalen Bereich geben: R. Stober, Kommunalrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1996, S. 148 ff.; U. Steiner, Kommunalrecht, in: Berg/Knemeyer/Papier /ders. (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 6. Aufl., 1996, Rn. 182 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1999, S. 30 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 299 ff.; auch W. Thieme, Verwaltungslehre, 4. Aufl., 1984, Rn. 355 f.; H. Lecheler, Verwaltungslehre, 1988, S. 247; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2002, § 23, Rn. 18 ff. 67 J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 206; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103 f.; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372.
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
Verwaltungskörperschaften (Körperschaftsaufsicht) 68 bis hin zur Verbandsaufsicht. 69 Föderative Rechtsordnungen kennen in ihren Verfassungsgesetzen ein Recht des Gesamtstaates, Aufsicht über die Gliedstaaten auszuüben. Exemplarisch hierfür sind die Bundesaufsicht als Aufsicht des Gesamtstaates (der Bund) über seine Gliedstaaten (die Länder) nach Art. 84 GG oder etwa die Reichsaufsicht des Deutschen Reiches nach Art. 4 Reichs Verfassung von 1871 oder Art. 15 Weimarer Reichsverfassung von 1919. 70 Die völkerrechtliche Aufsicht als Befugnis internationaler Organisationen, Aufsicht über ihre Vertragsstaaten auszuüben, ist eine vierte Aufsichtsart des öffentlichen Rechts.71 Voraussetzung der völkerrechtlichen Aufsicht ist, daß die Vertragsstaaten der internationalen Organisation durch Übereinkunft die Befugnis zur Aufsicht eingeräumt haben.72 Als Beispiel hierfür ist auf die Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft, Vertragsverstöße ihrer Mitgliedstaaten nach Art. 211 Spstr. 1 EGV i.V.m. Art. 226 EGV zu ahnden, hinzuweisen. In Anlehnung an die Reichsaufsicht im Deutschen Reich und an die Bundesaufsicht des deutschen Grundgesetzes wird diese Befugnis der Europäischen Gemeinschaft in der Lehre als Gemeinschaftsaufsicht bezeichnet.73
B. Öffentlich-rechtliche Aufsicht I. Begründung und Rechtfertigung 1. Behördenaufsicht Die Behördenaufsicht 74 ist die Aufsicht von Staatsorganen über administrativhierarchisch nachgeordnete Staatsorgane, insbesondere über nachgeordnete Staats68 J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 207; F.-L· Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, S. 400 ff. 69 So E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 188. 70 G. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Art. 15, S. 112 ff. 71 Grundlegend hierzu H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 88 ff.; ders., Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, JIR 10 (1961), S. 2 ff. 72 H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 91. 73 So M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 52 ff., H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 220 ff., 233 ff., in Anlehnung an den von Triepel geprägten Begriff der Reichsaufsicht für die Aufsichtsbefugnisse des Deutschen Reiches über die deutschen Länder. 74 Allgemein hierzu: H. Wolff/ Ο. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103 f.; H. Lecheler, Verwaltungslehre, S. 251 ff.; W. Rudolf, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen (Hrsg.), All-
Β. Öffentlich-rechtliche Aufsicht
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behörden desselben Geschäftsbereichs, soweit sie sich auf die innere Ordnung, die allgemeine Geschäftsführung und die Personalangelegenheiten des beaufsichtigten Organs bezieht.75 Sie ist von der Dienstaufsicht und der fachlichen Organaufsicht abzugrenzen.76 Die Dienstaufsicht ist eine personalrechtliche Aufsicht. Sie hat ausschließlich die ordnungsgemäße Pflichterfüllung des Amtswalters im Innenverhältnis zu seinem Dienstherrn zum Gegenstand.77 Organisatorische Fragen hinsichtlich des untergeordneten Amtes spielen keine Rolle. Gegenstand der fachlichen Organaufsicht ist ein bestimmter sachlicher Bereich, 78 etwa die Schulaufsicht, nicht aber, wie bei der Behördenaufsicht, organisatorische Fragen. Grundlagen der Behördenaufsicht sind zum einen das Rechtsstaatsprinzip, zum anderen das demokratische Prinzip. Zum rechtsstaatlichen Gedanken: Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden (Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung). 79 Die Verwaltung ist demgemäß verpflichtet, recht- und gesetzmäßig zu handeln. Der Grundsatz verpflichtet die Verwaltung zur Selbstkontrolle. 80 Die Behördenaufsicht soll die Gesetzmäßigkeit vollziehender Maßnahmen sicherstellen, indem der übergeordneten Behörde das Recht zugestanden wird, gesetzwidrige Maßnahmen untergeordneter Behörden zu berichtigen und / oder die untergeordnete Behörde zu einem bestimmten Handeln zu veranlassen.81 Zum demokratischen Gedanken: Aus ganz unterschiedlichen Gründen, Bürger- und Sachnähe, Verhinderung von Machtmißbrauch durch Dekonzentration, Größe des zu verwaltenden Gebietes oder Anzahl der zu verwaltenden Menschen, ist die öffentliche Verwaltung in Deutschland dezentral und dekonzentriert aufgebaut.82 Dennoch tragen die jeweiligen Fachminister innerhalb der Richtlinigemeines Verwaltungsrecht, S. 807 ff.; W Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 394; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833. 75 So H. Wolff/ O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103 f.; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833. 76 H. Wolff/ O. Bachof, Verwaltungsrecht Π, S. 103 f.; W Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 395 f. 77 J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 208; H. J. Wolff/ O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103 f.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 394; mit dem Hinweis darauf, daß die Dienstaufsicht wegen ihrer wesensmäßigen Verschiedenheit keine Staatsaufsicht sei; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 264 f. 78 H. J. Wolff/ O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103 f. 79 F. Ossenbühl, Rechtsquellen und Rechtsbindung der Verwaltung, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1998, S. 193 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 106 ff.; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 112 ff. »ο W Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, 14. Aufl., 1997, Rn. 1 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 284 ff. 81 M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833. 82 H. Wolff/ O. Bachof, Verwaltungsrecht Π, S. 97 ff.; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372. 3 Wollenschläger
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
enkompetenz des Bundeskanzlers die Verantwortung für ihren Geschäftsbereich (Art. 65 S. 1 und S. 2 GG für den Bund, Art. 51 Abs. 1 BV für Bayern). Der Bundestag ist nach Art. 67 GG befugt, durch Wahl eines Nachfolgers den alten Bundeskanzler wegen gesetzeswidriger Amtsführung, zu der aufgrund der Richtlinienkompetenz nach Art. 65 S. 1 GG auch die Amtsführung der Bundesminister zählt, das Mißtrauen aussprechen. Die Minister müssen deshalb über Rechtsinstrumente verfügen, mittels derer sie die Gesetzmäßigkeit der vollziehenden Gewalt innerhalb ihres Geschäftsbereichs gewährleisten können. Dieses Rechtsinstrument ist die Behördenaufsicht, 83 welche die Minister oder die übergeordneten Behörden befugt, unterrangigen Behörden Anweisungen zu erteilen (hierarchisches Prinzip). 84 Sie bildet das „notwendige Gegenstück zur parlamentarischen Verantwortlichkeit des jeweiligen Fachministers". 85 Dogmatisch ist die Behördenaufsicht dadurch charakterisiert, daß die aufsichtführende und die beaufsichtigte Stelle Ämter desselben Verwaltungsträgers sind. Der Beaufsichtigte verfügt über keine eigene Rechtspersönlichkeit. Vielmehr ist er Teil desjenigen Verwaltungsträgers, dem auch die aufsichtführende Stelle angehört. Als Teil eines Ganzen können Aufsichtsmaßnahmen den Beaufsichtigten grundsätzlich nicht in eigenen Rechten verletzen mit der Folge, daß die beaufsichtigte Behörde regelmäßig keinen gerichtlichen Rechtsschutz gegen gesetzeswidrige Aufsichtsmaßnahmen beanspruchen kann. 86 Ein weiteres Merkmal der Behördenaufsicht als Aufsicht innerhalb eines Verwaltungsträgers ist, daß die aufsichtführende Stelle über sehr weitreichende Aufsichtsrechte gegenüber dem beaufsichtigten Amt verfügt. So ist die aufsichtführende Behörde grundsätzlich berechtigt, sowohl die Rechtmäßigkeit als auch die Zweckmäßigkeit der beaufsichtigten Maßnahme zu überprüfen (vgl. § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO). 87 Sie kann letztlich sogar über die Existenz der beaufsichtigten Stelle entscheiden.
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Vgl. Art. 55 Nr. 5 S. 1 BV: „Die gesamte Staatsverwaltung ist der Staatsregierung und den zuständigen Staatsministerien untergeordnet.". H. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 97; W. Rudolf, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 807, der zum Wesensgehalt der administrativen Hierarchie ausführt, daß die übergeordneten Verwaltungsbehörden berechtigt seien, untergeordneten Behörden Anweisungen zu erteilen und sie zu beaufsichtigen; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833. 85 U. Steiner, Kommunalrecht, in: Berg/Knemeyer/Papier /ders. (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 186. 86 So auch H. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 111 ff.; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 375; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen / Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 837 ff. 87 M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen / Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833.
Β. Öffentlich-rechtliche Aufsicht
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2. Aufsicht über Selbstverwaltungskörperschaften Unter der Körperschaftsaufsicht, 88 oft auch nur als Staatsaufsicht bezeichnet, 8 9 versteht die Lehre diejenige Aufsicht, die durch den Staat mittels bestimmter Staatsorgane über (nachgeordnete) unterstaatliche juristische Personen des öffentlichen Rechts sowie über Beliehene ausgeübt wird 9 0 Nachgeordnete unterstaatliche juristische Personen des öffentlichen Rechts sind die Kommunen, die Industrieund Handelskammern, die Universitäten, die Rechtsanwaltskammern, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und andere mehr 9 1 Ausgangspunkt der Aufsicht des Staates über Selbstverwaltungskörperschaften des öffentlichen Rechts ist der Umstand, daß der Staat nicht alle öffentlichen Aufgaben durch eigene Organe wahrnimmt, wegen des verfassungsrechtlich geschützten Prinzips der Selbstverwaltung auch gar nicht wahrnehmen darf. 9 2 In Deutschland werden deshalb zahlreiche öffentlichen Aufgaben von rechtlich selbständigen Körperschaften des öffentlichen Rechts in wirtschaftlicher, freiberuflicher, religiöser und kommunaler Selbstverwaltung wahrgenommen 9 3 Das auf der Freiheit der 88 Grundlegend hierzu: J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 216; H. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372 f.; U. Di Fabio, Staatsaufsicht über formelle Körperschaften des öffentlichen Rechts, BayVBl. 1999, 449 ff.; F.-L Knemeyer, Rechtsaufsicht als Vertrauensaufsicht, BayVBl. 1999, 193 ff. 89 E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 186 ff.; J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 216; H. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 832. 90 H. Wolff/O. Bachof Verwaltungsrecht II, S. 103; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 272 ff. 91 Eine ausführliche Beschreibung der verschiedenen Körperschaften des öffentlichen Rechts geben: H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht II, 5, Aufl., 1987, S. 1 ff.; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23, Rn. 1 ff.; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 171 ff. 92 Κ. A. Schachtschneider, Grundgesetzliche Aspekte der freiberuflichen Selbstverwaltung, Die Verwaltung Bd. 31 (1998), S. 139 ff., für die freiberufliche Selbstverwaltung; weiterhin Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 399 ff.; W. Berg, Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: ders./Knemeyer/Papier/Steiner (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 6. Aufl., 1996, Rn. 21, S. 549; a.A. J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 209 ff., der die juristischen Personen des öffentlichen Rechts als Zweckschöpfungen des Staates bezeichnet; auch H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht II, S. 10, gehen davon aus, daß öffentliche Körperschaften durch staatlichen Hoheitsakt gebildet werden. Zumindest für die Gemeinden, aber auch für die Universitäten dürfte diese Annahme nicht richtig sein, weil beide Einrichtungen schon lange vor der Staatenwerdung bestanden haben. 93 Zu den verschiedenen Arten juristischer Personen des öffentlichen Rechts: H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht Π, S. 8 ff.; W. Rudolf, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 790 ff. *
Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
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Bürger beruhende Gesetzesprinzip verlangt, daß jedes hoheitliche Handeln dem Verfassungsgesetz und den Gesetzen entsprechen muß. 94 Der Staat hat dafür Sorge zu tragen, daß die Selbstverwaltungsträger bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben den Gesetzen und dem Recht gemäß handeln. Er hat die Pflicht, die rechtmäßige Erfüllung öffentlicher Aufgaben zu gewährleisten. Gegenüber den staatlichen Behörden kann der Staat aufgrund des hierarchischen Behördenaufbaus durch die übergeordneten Behörden Weisungen an die untergeordneten Behörden erteilen. Gegenüber den Selbstverwaltungsträgern besteht ein solches, hierarchisch begründetes Weisungsrecht nicht. Der Staat benötigt deshalb andere Rechtsinstrumente, um die rechtmäßige Erfüllung der durch die Selbstverwaltungsträger wahrgenommenen öffentlichen Aufgaben zu gewährleisten. Um den Staat die erforderlichen Instrumente zur Verfügung zu stellen, enthalten die Gesetze Regelungen, welche es den staatlichen Organen erlauben, zumindest die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen des Selbstverwaltungsträger zu beaufsichtigen (etwa die Art. 109 ff. BayGO für die Aufsicht des Staates über die Kommunen, Art. 9, 16 BayHSchG für die Aufsicht des Staates über die Universitäten, Art. 117, 118 BayHeilberufeKammerG für die Aufsicht über die betreffende berufsständische Kammer). 95 Die Literatur führt diesbezüglich aus, daß die Körperschaftsaufsicht das Korrelat der Verwaltungsautonomie, der Selbstverwaltung, sei, 96 daß sie auf dem Prinzip der Selbstverwaltung beruhe 9 7
3. Bundesaufsicht Im Unterschied zu Einheitsstaaten sind bundesstaatliche Ordnungen dadurch charakterisiert, daß (zumindest) zwei staatliche Ebenen bestehen: die Ebene des Gesamtstaates (Bund) und die Ebene der Gliedstaaten (Länder) 9 8 Dabei leiten die 94
K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 92 ff. So etwa M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 832; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 273; zur Frage, ob es aufsichtsfreie Räume für Körperschaften des Öffentlichen Rechts gibt: J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 216. 96 Dazu BVerfGE 6, 104 (118); R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 51 f.; auch M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 372; F.-L. Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, 8. Aufl., 1994, Rn. 306. 95
97 So R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 51, der deutlich auf den Unterschied zur Gewerbeaufsicht: besser Gewerbeüberwachung, hinweist, deren Grundlage nicht in der Selbstverwaltung liege, sondern die aus der Aufgabe des Staates folge, die Bürger vor Gefahren zu schützen, die sich für die Allgemeinheit aus dem Betrieb eines Gewerbes ergeben können. 9
« Dazu BVerfGE 1, 299 (315 f.); 36, 342 (360 f.); R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 1980, Art. 20IV, Rn. 2 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 644 ff.; T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl., 1998, S. 105 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", in: FS für Wilhelm Nölling, 2003, S. 279 f.
Β. Öffentlich-rechtliche Aufsicht
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Gliedstaaten ihre Existenz nicht von der Staatsgewalt des Gesamtstaates ab. Sie sind vielmehr originäre Rechtsgebilde,99 deren eigenständige Staatsqualität sich insbesondere darin zeigt, daß sie von ihren Landesbürgern gegebene Verfassungsgesetze haben, daß sie in allen Funktionsbereichen Staatsgewalt ausüben und daß alle Funktionsbereiche der Staatsgewalt, Gesetzgebung, Vollzug und Rechtsprechung, durch das Volk des jeweiligen Gliedstaates legitimiert sind. 100 Das Nebeneinander zweier staatlicher Ebenen in einem Gesamtstaat bedarf der Regelung, schon um sich widersprechende Rechtsakte zu vermeiden. Föderative Ordnungen kennen deshalb verschiedene Rechtsinstitute, die das Miteinander der staatlichen Ebenen bestimmen: 101 Grundlegend ist zunächst einmal, daß einerseits der Gesamtstaat das Recht haben muß, Einfluß auf die Gliedstaaten zu nehmen. Die Gliedstaaten müssen andererseits an der Willensbildung gesamtstaatlicher Maßnahmen, die sie betreffen, beteiligt sein. 102 Weiterhin ist eine gewisse Einheitlichkeit (Homogenität) der wirtschaftlichen, der rechtlichen und der sozialen Lebensverhältnisse in den Gliedstaaten und dem Gesamtstaat unabdingbar, 103 insbesondere müssen das Verfassungsgesetz und die Gesetze des Gesamtstaates einheitlich in den Gliedstaaten vollzogen, angewendet und ausgelegt werden. Die zwei staatlichen Ebenen erfordern schließlich klare Zuständigkeitsregelungen für alle Funktionsbereiche der Staatsgewalt.104 Die ZuständigkeitsVerteilung ist in dem Verfassungsgesetz des Gesamtstaates zu regeln. Sie kann unterschiedlichen Kriterien folgen: Zum einen können die Zuständigkeiten ausschließlich nach Sachgegenständen verteilt sein, wie dies in den Vereinigten Staaten von Amerika der 99 So auch BVerfGE 36, 342 (360 f.); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 645; T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 106 f.; W. Kahl, Staatsaufsicht, S. 398; E. Sarcevic, Das Bundesstaatsprinzip. Eine staatsrechtliche Untersuchung zur Dogmatik der Bundesstaatlichkeit des Grundgesetzes, 2000. S. 111 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", in: FS für Wilhelm Nölling, S. 284 f. •w T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 106; W. Kahl, Staatsaufsicht, S. 398; E. Sarcevic, Das Bundesstaatsprinzip, S. 111 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", in: FS für Wilhelm Nölling, S. 284 f. 101 Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen bundesstaatlichen Rechtsinstitute in Deutschland findet sich bei: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 645 ff., 699 ff., 704 ff., 710 ff., 719 ff.; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: Benda/Maihofer/ders. (Hrsg.), HVerfR, 2. Aufl., 1994, § 22, Rn. 32 ff.; auch Η. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht, S. 3 ff., 68 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Bund-Länder-Streitigkeiten, 1969, S. 76 ff., 119 ff.; T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 107 f.; E. Sarcevic, Das Bundesstaatsprinzip, S. 230 ff. 1Q 2 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 645; T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 107 f. 103 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 645; E. Sarcevic, Das Bundesstaatsprinzip, S. 237 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", in: FS für Wilhelm Nölling, S. 285. 104 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 645.
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
Fall ist. 1 0 5 Das bedeutet, daß mit der Zuweisung eines Gegenstandes an den Gesamt- oder die Gliedstaaten alle Funktionsbereiche der Staatsgewalt hinsichtlich dieses Sachgebietes von dieser Ebene wahrgenommen werden. Die Zuweisung kann allerdings auch so ausgestaltet sein, daß Vollzug und Rechtsprechung nicht der Regelungsbefugnis folgen, etwa wenn die Befugnis zur Gesetzgebung beim Gesamtstaat liegt, die Gliedstaaten aber mit der Aufgabe betraut sind, die Gesetze des Gesamtstaates zu vollziehen, anzuwenden und auszulegen. Dieses Modell läßt sich in Deutschland, aber auch in der Europäischen Gemeinschaft finden. 106 In Bundesstaaten, in denen die Gesetze des Gesamtstaates von den Gliedstaaten ausgeführt werden, hat der Gesamtstaat ein Interesse an der rechtmäßigen Ausführung seiner Gesetze. Weil die Bundesrecht vollziehenden Behörden der Länder jedoch keine Ämter des Bundes sind, scheidet die Behördenaufsicht als taugliches Aufsichtsinstrument aus; denn Voraussetzung der Behördenaufsicht ist, daß die aufsichtführende und die beaufsichtigte Stelle Ämter derselben Rechtsperson sind. Der Gesamtstaat muß also über andere Aufsichtsinstrumente verfügen. Ein solches Aufsichtsinstrument ist die Rechtsfigur der abhängigen Bundesaufsicht, 107 wie sie nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Lehre in Deutschland108 im Verhältnis zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art. 84 GG und Art. 85 GG bestehen soll. Art. 84 Abs. 3 S. 1 und Abs. 4 GG lauten: 109 105 Hierzu R. Ross, American national government, 1991, S. 48 ff.; auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 670; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 36. 106 So auch K. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", in: FS für Wilhelm Nölling, S. 285; Art. 83 GG etwa sieht für Deutschland vor, daß die Bundesgesetze im Normalfall von den Ländern ausgeführt werden. In der Europäischen Gemeinschaft werden gleichfalls die meisten gemeinschaftsrechtlichen Regelungen von den Behörden der Mitgliedstaaten vollzogen (sog. unmittelbarer mitgliedstaatlicher Vollzug des Gemeinschaftsrechts): J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, 1988, S. 33 ff.; H. G. Fischer, Europarecht, 2. Aufl., 1997, § 7, Rn. 19 ff.; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, 5. Aufl., 1996, Rn. 426. 107 Ausführlich zu diesem Aufsichtstyp: H. Triepel, Reichsaufsicht, S. 371 ff.; P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 127; H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, JIR 10 (1961), S. 30 f. los So die Qualifikation des BVerfGE 8, 122 (130 ff.); 81, 310 (331 f.); Κ . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 713; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 50; A. Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 1996, Art. 84, Rn. 26; B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, 5. Aufl., 2000, Art. 84, Rn. 12, der ausführt, daß die Pflicht zu bundestreuem Verhalten nicht Gegenstand der Bundesaufsicht sei; W. Leisner, Der Bund-Länder-Streit vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 280 ff., betont, daß die selbständige Bundesaufsicht zwar nicht in Art. 84 GG enthalten sei, aber in gewisser Weise im Bund-Länder-Streit des Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG fortlebe, weil Streitgegenstand dieser Norm nicht nur die Ausübung der Bundesaufsicht sei, sondern alle Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten der Länder, wozu auch die
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„Die Bundesregierung übt die Aufsicht darüber aus, daß die Länder die Bundesgesetze dem geltenden Rechte gemäß ausführen". „Werden Mängel, die die Bundesregierung bei der Ausführung der Bundesgesetze in den Ländern festgestellt hat, nicht beseitigt, so beschließt auf Antrag der Bundesregierung oder des Landes der Bundesrat, ob das Land das Recht verletzt hat. Gegen den Beschluß des Bundesrates kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden". Für die Bundesauftragsverwaltung regelt Art. 85 Abs. 4 G G : 1 1 0 „Die Bundesaufsicht erstreckt sich auf Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Ausführung. Die Bundesregierung kann zu diesem Zwecke Bericht und Vorlage der Akten verlangen und Beauftragte zu allen Behörden entsenden". Die Bezeichnung als abhängige Bundesaufsicht rührt daher, daß Gegenstand der Bundesaufsicht nicht jede bundesstaatlich relevante Handlung des Mitgliedstaates ist, sondern ausschließlich die rechtmäßige Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder. 1 1 1 Sie kann, wie Art. 84 Abs. 3 GG erweist, auf eine reine Rechtsaufsicht beschränkt sein. 1 1 2 Sie kann aber auch gemäß Art. 85 Abs. 4 GG dergestalt sein, daß der Gesamtstaat die Befugnis hat, die Rechtmäßigkeit und die Zweckmäßigkeit der Gesetzesausführung zu kontrollieren. I m Unterschied hierzu ist die so genannte unabhängige / selbständige Bundesaufsicht zu sehen. 1 1 3 Ihr Gegenstand ist nicht nur die Ausführung der Gesetze des Gesamtstaates durch die Gliedstaaten, sondern jede bundesstaatlich bedeutsame Handlung des Gliedstaates. 114 Die in Art. 4 der deutschen Reichs Verfassung von Einhaltung der Bundestreue zähle; a.A. H. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht. Sinn und Möglichkeit einer Bundesaufsicht unter dem Grundgesetz, S. 47; Κ. A. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Bund-Länder-Streitigkeiten, S. 130 ff. 109 Ρ Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 152; H. P. Bull, in: Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, Art. 84, Rn. 55 f.; S. Broß, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Art. 84, Rn. 31. ho Ρ Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 85, Rn. 70 ff.; 124; H. P. Bull, in: Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, Art. 85, Rn. 20; S. Broß, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Art. 85, Rn. 20. 111 Der Begriff der Bundesaufsicht war strittig. Früher wurde die Auffassung vertreten, daß der Begriff der Bundesaufsicht nicht allein die Befugnisse des Art. 84, 85 GG, sondern die Gesamtheit der vom Grundgesetz zur Verfügung gestellten Verfahren des Bundes gegen die Länder umfasse: W. Geiger, Das Bund-Länder-Verhältnis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BayVBl. 1957, 301 (306 f.); die h.M. versteht heute darunter nur die Aufsichtstätigkeit gemäß der Art. 84 GG, Art. 85 GG und Art. 108 GG: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 714; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 50. 112 P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 152 ff.
113 Ausführlich zu diesem Aufsichtstyp H. Triepel, Reichsaufsicht, S. 411 ff., am Beispiel der Aufsicht des Deutschen Reiches über die deutschen Länder; P. Lerche, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 131 ff.; H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, HR 10 (1961), S. 30 f.
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1871 normierte Reichsaufsicht wurde als eine solche unabhängige Aufsicht verstanden.115 Auch das Vertragsverletzungsverfahren des Art. 226 EGV läßt sich als selbständige Aufsicht einordnen, weil Art. 226 EGV die Kommission nicht nur zur Überwachung der Durchführung der EG-Normen in den Mitgliedstaaten befugt, sondern jede vertragswidrige Handlung des Mitgliedstaates, so auch Verstöße der Mitgliedstaaten gegen die Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EGV, Gegenstand der Kommissionsaufsicht sein kann. 116 Dogmatisch betrachtet ist die Aufsicht des Gesamtstaates über die Gliedstaaten keine (verwaltungsrechtliche) Aufsicht des Staates über eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Sie beruht weder auf dem hierarchischen Prinzip der Behördenaufsicht, noch darauf, daß der Staat einer öffentlich-rechtlichen juristischen Person öffentliche Aufgaben zur Erfüllung übertragen, sich gleichzeitig aber Aufsichtsrechte über die betreffenden Körperschaften vorbehalten hat, um die gesetzmäßige, gegebenenfalls auch die zweckmäßige Erfüllung der übertragenen Aufgaben sicherzustellen. Vielmehr ist die Bundesaufsicht ein verfassungsrechtliches Instrument, deren Zweck es ist, neben dem rechtmäßigen Vollzug der Bundesgesetze in den Ländern auch die bundesstaatliche Rechtseinheit zu gewährleisten. 117
4. Völkerrechtliche Aufsicht Nächster zu erörternder Aufsichtstypus ist der der völkerrechtlichen Aufsicht. 118 Die völkerrechtliche Aufsicht existiert in verschiedenen Formen. So verweisen Wolff/ Bachof zum einen auf die Aufsicht internationaler Organisationen über deren Vertragsstaaten, zum anderen auf die Aufsicht bei Protektoratsverhältnissen. 119 In Anbetracht des Charakters der Europäischen Gemeinschaft als einer internationalen Organisation mit Völkerrechtssubjektivität 120 wird Gegenstand der nachste114 Für P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 126, stellt sich die weite Bundesaufsicht dar „als der Inbegriff der Regierungskompetenzen des Bundes, bundesrechtliche Rechtssätze (einschließlich des GG) und sonstige legale Zielsetzungen des Bundes in konkreten Fällen ( . . . ) in einem rechtlich näher geordneten Verfahren gegenüber den Ländern zur Geltung zu bringen". us H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 411 ff. 116 U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 226 EGV, Rn. 6. 117 W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 398, spricht insofern von einem „Mittel der bundesstaatlichen Integration"; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 832.1 f. 118 Allgemein zur völkerrechtlichen Aufsicht: A. Verdross /Β. Simma, Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, 3. Aufl., 1984, § 871 f.; auch H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 88 ff.; ders., Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, JIR 10 (1961), S. 2 ff.; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103; zur Aufsicht in der WTO: W. Benedek, Die Rechtsordnung des GATT aus völkerrechtlicher Sicht, 1990, S. 246 f., 294 ff.; D. 1. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, 2001, S. 122 ff. 119 H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 103.
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henden Erörterungen nur die Aufsicht internationaler Organisationen über deren Vertragsstaaten sein. 1 2 1 Der Zweck der Aufsicht internationaler Organisationen über Staaten besteht in der Durchsetzung der jeweils anwendbaren Völkerrechtsn o r m e n . 1 2 2 Einführend ist des weiteren darauf hinzuweisen, daß sich auch in der Völkerrechtslehre bisher keine einheitliche Terminologie gebildet hat. Neben dem Begriff der völkerrechtlichen (internationalen) A u f s i c h t 1 2 3 ist ferner von Überw a c h u n g 1 2 4 und von völkerrechtlicher (internationaler) K o n t r o l l e 1 2 5 die Rede. Internationale Organisationen sind „durch einen völkerrechtlichen Vertrag gegründete Staatenverbindungen, die ein M i n i m u m an institutionellen Einrichtungen und eine gewisse Dauerhaftigkeit besitzen und bestimmte hoheitliche Ziele verfolg e n " . 1 2 6 Grundlage jeder internationalen Organisation ist somit ein völkerrechtlicher Vertrag, auch als Gründungsvertrag bezeichnet, 1 2 7 der von mindestens zwei Völkerrechtssubjekten, i m Regelfall Staaten, geschlossen w i r d . 1 2 8 Dieser Entsteht) So R. Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 1 EGV, Rn. 10; zur Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft als Staaten verbünd: BVerfGE 89, 155 (190); auch R Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: HStR, Normativität und Schutz der Verfassung. Internationale Beziehungen, Bd. VII, 1992, § 183, Rn. 69; Κ. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, in: Blomeyer/ders. (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 92 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 64 ff.; a.A. Η. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 232; P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstrukturen in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 54 ff., 57, 59, die eine eigenständige Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft annehmen. 121 Hierzu insbesondere Η. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 88 ff.; ders., Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedens Völkerrecht, JIR 10 (1961), S. 2 ff., mit ausdrücklichem Hinweis im erstgenannten Aufsatz (S. 92 ff.) darauf, daß die internationale Aufsicht nur die Beaufsichtigung von Staaten durch zwischenstaatliche Organe zum Gegenstand hat; auch R. Streinz, EUV/EGV, Art. 1 EGV, Rn. 10, welcher die Europäische Gemeinschaft als eine besondere, qualitativ neue internationale Organisation mit Völkerrechtssubjektivität bezeichnet. 122 H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedens Völkerrecht, JIR 10 (1961), S. 3. 123 A. Verdross /B. Simma, Universelles Volkerrecht, § 871, sprechen von dem „mit der Aufsicht betrauten Organ"; H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, HR 10 (1961), S. 2 ff.; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht Π, S. 103. 124 D. I. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 122 ff.; A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht, in: Schachtschneider (Hrsg.), Rechtsfragen der Weltwirtschaft, 2002, S. 170 f. 125 H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 88 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 871 f. 126 So etwa die Definition bei M. Schweitzer, Staatsrecht III, 5. Aufl., 1995, Rn. 522; auch I. Seidl-Hohenveldern/G. Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, 5. Aufl., 1991, Rn. 0105; E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Völkerrechtssubjekte, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1997, Rn. 12 ff.; V: Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl., 1999, § 6, Rn. 3 ff. 127 E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Volkerrechtssubjekte, Rn. 32.
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hungsvorgang ist es auch, der internationale Organisation grundlegend von Bundesstaaten unterscheidet, obwohl beide Rechtsgebilde eine föderative Ordnung besitzen, weil Bundesstaaten ihre Existenz nicht auf einen zwischen den Gliedstaaten geschlossenen Vertrag stützen, sondern auf ein vom Volk gegebenes Verfassungsgesetz. In dem Gründungsvertrag sind die Aufgaben und Befugnisse der internationalen Organisation festgelegt. 129 Es gilt der Grundsatz der begrenzten Ermächtigung, wonach die internationale Organisation nur im Rahmen der ihr von den Vertragsstaaten übertragenen Hoheitsrechte befugt ist, verbindliche Rechtsakte zu erlassen. 130 Die Aufgaben wie auch die Befugnisse internationaler Organisationen leiten sich somit von deren Vertragsstaaten ab. Aufgaben und Befugnisse sind begrenzt durch die übertragenen Hoheitsrechte; internationale Organisationen verfügen über keine Kompetenz-Kompetenz.131 In welchem Umfang Staaten internationalen Organisationen Aufgaben und Befugnisse übertragen haben, ist von dem jeweiligen Gründungsvertrag abhängig. Manche internationale Organisationen verfügen über sehr weitreichende Befugnisse, andere nicht. Die Lehre spricht in diesem Zusammenhang von koordinierenden (kooperativen) und subordinierenden Staatenverbindungen. 132 Charakteristisch für koordinierende Staatenverbindungen ist, daß ihre Rechte gegenüber den Vertragsstaaten sehr eingeschränkt sind. Ihre Aufgaben bestehen im Regelfall lediglich darin, die Zusammenarbeit der Vertragsstaaten zu koordinieren. 133 Dementsprechend gering sind die Eingriffsbefugnisse und Aufsichtsrechte. Internationale Organisationen subordinierender Art verfügen über umfangreichere, tiefergehende Befugnisse. Charakteristisch für sie ist, daß ihre Rechtsakte nicht nur die Vertragsstaaten unmittelbar und verbindlich verpflichten können, sondern auch unmittelbar verbindlich für die Bürger der Vertragsstaaten sind. 134 Als ein Beispiel für internatio128 E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Volkerrechtssubjekte, Rn. 13; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 31, Rn. 12. 129 E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Völkerrechtssubjekte, Rn. 188, formuliert hinsichtlich Umfang und Art der Aufgaben einer internationalen Organisation, daß alles vom Gründungsvertrag abhänge; auch V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rn. 6. 130
E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Volkerrechtssubjekte, Rn. 188; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rn. 6. 131 So auch /. Seidl-tìohenveldern/G. Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, Rn. 1536 (S. 216); E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Völkerrechtssubjekte, Rn. 188; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rn. 6; R. Streinz, EUV/EGV, Art. 1 EGV, Rn. 14. 132 R.-L. Dupuy, Manuel sur les organisations internationales, 1988, S. 15 ff.; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, §31,6, Rn. 9; der Sache nach auch G. Dahrn, Völkerrecht, Bd. Π, 1961, S. 25, 32 ff., ohne jedoch die genannten Begriffe zu verwenden. 1 33 V Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 31, Rn. 9. V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 31, Rn. 9, auch G. Dahm, Volkerrecht, Bd. II, S. 32 ff., 36 ff.; E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Volkerrechtssubjekte, Rn. 246 ff., der hierfür den Begriff der Supranationalen Organisation verwendet.
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naie Organisationen subordinierender Art nennt die Lehre die Europäischen Gemeinschaften. 135 Die Instrumente der völkerrechtlichen Aufsicht sind, wie bei allen Aufsichtsarten, sehr unterschiedlich. Sie reichen von Auskunftsrechten und Auskunftspflichten bis hin zur Befugnis der internationalen Organisation, außergerichtliche, aber auch gerichtliche Verfahren gegen völkerrechtswidrig handelnde Vertragsstaaten einzuleiten. 136 Der Maßstab der völkerrechtlichen Kontrolle wird regelmäßig auf die Prüfung der Völkerrechtmäßigkeit der staatlichen Maßnahme begrenzt sein; 137 denn die Staaten waren und sind grundsätzlich nicht dazu bereit, internationalen Organisationen in so großem Umfang Hoheitsrechte zu übertragen, daß diese berechtigt wären, auch die Zweckmäßigkeit staatlicher, ihre Rechtsgrundlage im Völkerrecht findender Rechtsakte zu überprüfen. Rechtshistorisch ist darauf hinzuweisen, daß sich mit der wachsenden Zahl völkerrechtlicher Verträge (etwa die Charta der Vereinten Nationen, der EG-Vertrag, die Europäische Menschenrechtskonvention und viele mehr) und deren unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten sowie deren Ausführung durch die Vertragsstaaten, auch die Kontrolle und damit die Aufsichtstätigkeit internationaler Organisationen über die Vertragsstaaten verdichtet hat. 1 3 8 Exemplarisch seien hier genannt: die Überwachungsinstrumente der Welthandelsorganisation über ihre Vertragsstaaten, 139 die Aufsichtsbefugnisse der Europäischen Gemeinschaft über ihre Mitgliedstaaten,140 schließlich das Recht der Vereinten Nationen gegenüber ihren Vertragsstaaten, insbesondere hinsichtlich der Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte. 141 Als besondere, weit verdichtete Aufsicht einer internationalen Organisation über ihre Vertragsstaaten sind die Aufsichtsrechte der Europäischen Gemeinschaft über ihre Mitgliedstaaten, in der Lehre zunehmend auch als Gemeinschaftsaufsicht bezeichnet, 142 noch einmal genauer zu erörtern. 143 135 ν Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 31, Rn. 9. 136 H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 97 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 871 f. 137 H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedens Völkerrecht, JIR 10 (1961), S. 14 ff. 138 So auch A. Verdross /B. Simma, Universelles Volkerrecht, § 871; W. Benedek, Die Rechtsordnung des GATT aus völkerrechtlicher Sicht, S. 246 f., 294 ff.; D. /. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 122 ff. 139 W. Benedek, Die Rechtsordnung des GATT aus völkerrechtlicher Sicht, S. 246 f., 294 ff.; D. /. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 122 ff.; A. Emme rieh-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht, S. 170 ff. 1 40 B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1987, S. 63 ff.; ÄT. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, in: Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2004, S. 264 ff.; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 226, Rn. 1 ff. 141 A. Verdross/B . Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 872, 1240.
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Grundlage der Gemeinschaftsaufsicht ist erstens die Zuständigkeitsordnung der Europäischen Gemeinschaft. Anders als in der US-amerikanischen Rechtsordnung, in welcher die Zuweisung einer Rechtsmaterie an den Bund die Befugnis für alle drei Funktionsbereiche nach sich z i e h t , 1 4 4 folgt aus den in Art. 2 E G V und Art. 3 E G V getroffenen Zuweisungen einer Rechtsmaterie als Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft nicht, daß diese Aufgaben allein von den Gemeinschaftsorganen wahrgenommen werden. Vielmehr gilt, daß die Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft sowohl von den Organen der Gemeinschaft als auch von den Organen der Mitgliedstaaten ausgeübt wird. In allen (drei) Funktionsbereichen sind die Organe der Mitgliedstaaten teilweise in beträchtlichem Umfange mit der Durchführung des Gemeinschaftsrechts betraut: 1 4 5 Die nationalen Gesetzgebungsorgane sind verpflichtet, EG-Richtlinien in nationales Recht umzusetzen und keine Gesetze zu erlassen, die gegen den EG-Vertrag verstoßen, etwa die Grundfreiheiten verletzen. 1 4 6 Die nationalen Verwaltungsbehörden vollziehen in den meisten Berei* 42 M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 52 ff.; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 220 ff., 233 ff.; Η. Lühmann, Von der Staatsaufsicht zur Unionsaufsicht?, DVB1. 1999, 754 ff.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 399 ff. Die beiden Letztgenannten sprechen, je nach dem, ob sie sich auf die Europäische Union oder die Europäische Gemeinschaft beziehen, von der Unions- oder der Gemeinschaftsaufsicht. 143 Zur Natur der Europäischen Gemeinschaft als internationaler Organisation: R. Streinz, EUV/EGV, Art. 1 EGV, Rn. 10 ff. 144 H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 36; P. Hay, US-Amerikanisches Recht, 2000, S. 17 ff. 145 Zu dem hier verwendeten Begriff der Durchführung als Obergriff für die Befassung aller nationaler Organe mit dem Gemeinschaftsrecht: M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaft im innerstaatlichen Recht, KSE, Bd. 9, 1969, S. 47 f., B. Beutler, in: ders./Bieber / Pipkorn / Streil, Die Europäische Union, S. 86; H. G. Fischer, Europarecht, § 7, Rn. 3; C. Möller, Durchführung des Gemeinschaftsrechts, EuR 2002, 483 ff.; H. D. Jarass/S. Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 6 ff. Im einzelnen wird in Anlehnung an die genannten Autoren für die verschiedenen Funktionsbereiche folgende Terminologie benützt werden: Die Gesetzgebungsorgane setzen Gemeinschaftsrecht um (Umsetzung), die nationalen Behörden vollziehen es (Vollzug) und die mitgliedstaatlichen Gerichte wenden es an. 146 Hierzu H. G. Fischer, Europarecht, § 7, Rn. 6 ff.; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2849 f.; ders., in: Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl., 2003, Art. 10 EG, Rn. 5: Bekannte Beispiele solcher Umsetzungsgesetze in Deutschland sind das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung vom 12. Februar 1990, welches auf der Richtlinie des Rates (85/337/EWG) über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten beruht, oder das Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 15. Dezember 1989 als Umsetzung der Richtlinie (85/374/EWG) zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung fur fehlerhafte Produkte. Anzumerken ist, daß die Normsetzung in der Europäischen Gemeinschaft überwiegend von den zuständigen Gemeinschaftsorganen wahrgenommen wird. Nach Art. 202 Spstr. 2 EGV, Art. 202 Spstr. 3 EGV und Art. 211 Spstr. 4 EGV sind hierzu der Rat und die Kommission befugt: M. Zuleeg, in: G / T / E (Hrsg.), Kommentar zum EU- /EG-Vertrag, 5. Aufl., 1997, Art. 3b, Rn. 8.
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chen das Gemeinschaftsrecht. 147 In der Lehre wird diese Art der Vollziehung als „unmittelbarer mitgliedstaatlicher Vollzug" bezeichnet, weil die Gemeinschaftsnorm keines nationalen Umsetzungsaktes bedarf, sondern unmittelbar von den nationalen Behörden ausgeführt w i r d . 1 4 8 Wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten sind die Gerichte der Mitgliedstaaten gleichfalls verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden. 1 4 9 Die Mitgliedstaaten sind des weiteren aus Art. 10 EGV zur Gemeinschaftstreue verpflichtet. 1 5 0 U m zu gewährleisten, daß die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht vertragsgemäß durchführen und sich gemeinschaftstreu verhalten, haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft verschiedenen Aufsichtsrechte übertragen, 1 5 1 die unter dem Begriff der Gemeinschaftsaufsicht zusammengefaßt werden. Wichtigstes Aufsichtsinstrument der Europäischen Gemeinschaft ist das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV, welches an dieser Stelle kurz beschrieben werden soll: Nach Art. 226 Abs. 2 E G V ist die Kommission befugt, nach Durchführung eines Vorverfahrens, gegen jeden Mitgliedstaat vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen, der ihrer Auffassung nach gegen eine Verpflichtung aus dem Gemeinschaftsrecht verstoßen h a t . 1 5 2 Wenn die Klage zulässig und begründet ist, 147 Allgemein zum Vollzug des Gemeinschaftsrechts: J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 33 ff.; H. G. Fischer, Europarecht, § 7, Rn. 19 ff. Eine detaillierte Aufzählung der Rechtsmaterien, die von den Gemeinschaftsorganen selbst vollzogen werden, findet sich bei: J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 25; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht Rn. 426. 148 So M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht Rn. 427, in Abgrenzung zum gemeinschaftsunmittelbaren Vollzug (Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Gemeinschaftsorgane) und zum mittelbaren Vollzug durch die Mitgliedstaaten (mittelbar deshalb, weil das Gemeinschaftsrecht noch eines umsetzenden Rechtsaktes in den Mitgliedstaaten bedarf, beispielsweise eines Umsetzungsgesetzes). 14 9 B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 60 f.; Κ A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, DSWR 1999, 17; Μ Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2846 ff.; B. Wegener, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 234, Rn. 1. So kann sich beispielsweise ein europäischer Ausländer vor einem deutschen Gericht auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit der Art. 39 ff. EGV berufen. Wenn der Tatbestand der Art. 39 ff. EGV eröffnet ist, muß das deutsche Gericht diese Normen seiner Entscheidung zugrunde legen. 150 Urteil des EuGH vom 10. Februar 1983, Rs. 230/81, Slg. 1983, 255 ff. (287); Urteil des EuGH vom 15. Januar 1986, Rs. 52/84, Slg. 1986, 89 ff. (105); M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 1045 ff.; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2001, 2846 f.; ders., in: Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Art. 10 EG, Rn. 1 ff.
151 So auch Η. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 220 f.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 400; Κ. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2004, S. 208 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f. 152 W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 400; Κ. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 208 ff.
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stellt der Europäische Gerichtshof gemäß Art. 228 Abs. 1 EGV fest, daß der verklagte Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen hat. Das Feststellungsurteil verpflichtet den Mitgliedstaat, den Vertragsverstoß zu beseitigen. Als besondere Aufsicht einer internationalen Organisation läßt sich für die Gemeinschaftsaufsicht festhalten, daß ihre normative Grundlage, völkerrechtlichen Prinzipien folgend, nicht ein von einem Volk gegebenes Verfassungsgesetz ist, sondern daß sie auf der Übertragung von Hoheitsrechten auf eine internationale Organisation durch deren Vertragsstaaten (Mitgliedstaaten) beruht. Gegenständlich umfaßt die Gemeinschaftsaufsicht das gesamte Gemeinschaftsrecht. Weiterhin haben sich alle Mitgliedstaaten einer obligatorischen europäischen Gerichtsbarkeit unterworfen mit der Folge, daß die Kommission, unabhängig vom Willen des Mitgliedstaates, gegen staatliche Vertragsverstöße vor dem Europäischen Gerichtshof klagen kann. Als (bundes)staatliche Aufsicht kann die Gemeinschaftsaufsicht nicht eingeordnet werden, weil die Europäische Gemeinschaft als Staatenverbund keine Staatsqualität besitzt. 153
II. Aufsichtsmaßstab Die bisherigen Ausführungen über die öffentlich-rechtlichen Aufsichtsverfahren haben gezeigt, daß zwei Aufsichtsmaßstäbe existieren: die Rechtsaufsicht und die Fachaufsicht. 154 Die Rechtsauf sieht soll sicherstellen, daß die beaufsichtigte Handlung den Gesetzen entspricht. 155 Prüfungsmaßstab sind somit Gesetz und Recht. 153
So ausdrücklich: W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 399; der die Unionsaufsicht als „Aufsicht sui generis" bezeichnet; zur fehlenden Staatsqualität der Europäischen Union: BVerfGE 22, 293 (296); 31, 145 (173 ff.); 89, 155 (188 ff.); Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Volker Europas, S. 92 f.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 43 ff., 63 ff.; ders., Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", in: FS für Wilhelm Nölling, S. 297 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 904. 154 Grundsätzlich zur Fach- und Rechtsaufsicht: J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 219 ff.; M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 52 f.; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 104 f.; F.-L. Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, S. 401 f.; ders., Bayerisches Kommunalrecht, Rn. 306 ff.; ders., Rechtsaufsicht als Vertrauensaufsicht, BayVBl. 1999, 193 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 33 ff., 36 ff.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 395 f.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 296 ff.; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 262 ff.; zu den verschiedenen Aufsichtsmaßstäben im Völkerrecht: H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, JIR 10 (1961), S. 10 ff. 155 F.-L Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, Rn. 313; E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 33 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 296 ff.; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 263 f.; zum Völkerrecht als Aufsichtsmaßstab internationaler Aufsicht: H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, JIR 10 (1961), S. 14 ff.
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Die Fachaufsicht ist weitergehend. Sie erlaubt dem Aufsichtführenden nicht nur, die Rechtmäßigkeit der beaufsichtigten Handlungen zu überprüfen, sondern auch die Zweckmäßigkeit derselben. 1 5 6 Das bedeutet: Wenn der Beaufsichtigte mehrere Möglichkeiten hat, seine Aufgaben zu erfüllen, etwa weil das Gesetz ein Ermessen einräumt, dann ist der Aufsichtführende berechtigt, auch das der Entscheidung zugrundeliegende Ermessen zu überprüfen; 1 5 7 gegebenenfalls darf die Entscheidung an den Kriterien von Effizienz, Effektivität und Wirtschaftlichkeit gemessen werden.158 Die Frage, welchen Aufsichtsmaßstab der Aufsichtführende anlegen muß, ergibt sich aus der zur Aufsicht befugenden Norm. A u f folgende Beispiele sei hingewiesen. Art. 109 Abs. 1 BayGO i.V.m. Art. 7 Abs. 2 BayGO formuliert für die Aufsicht des Freistaates Bayern über die bayerischen K o m m u n e n : 1 5 9 „In Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises (Art. 7) beschränkt sich die staatliche Aufsicht darauf, die Erfüllung der gesetzlich festgelegten und übernommenen öffentlichrechtlichen Aufgaben und Verpflichtungen der Gemeinden und die Gesetzmäßigkeit ihrer Verwaltungstätigkeit zu überwachen (Rechtsaufsicht)". „In Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises handeln die Gemeinden nach eigenem Ermessen. Sie sind nur an die gesetzlichen Vorschriften gebunden". Art. 109 Abs. 2 S. 1 BayGO i.V.m. Art. 8 Abs. 2 BayGO sehen für die Kommunalaufsicht i m übertragenen Wirkungskreis die Fachaufsicht v o r : 1 6 0 „In den Angelegenheiten des übertragenen Wirkungskreises (Art. 8) erstreckt sich die staatliche Aufsicht auch auf die Handhabung des gemeindlichen Verwaltungsermessens (Fachaufsicht)". 156 H. R. Bull, in: Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, Art. 84, Rn. 55 f.; F.-L. Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, Rn. 319; E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 36 f.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 395 f., 537 (542 f.); M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 832; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 263; aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht: M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 52 f. 157 H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 104; U. Steiner, Kommunalrecht, in: Berg/Knemeyer/Papier/ders. (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 189 f.; W. Rudolf, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 807; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 300.
1 58 W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 539 ff.; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 832. 159 F.-L. Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, Rn. 313; U. Steiner, Kommunalrecht, in: Berg /Kne-meyer/ Papier /ders. (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 187 ff.; G. Lissack, Bayerisches Kommunalrecht, 1997, § 8, Rn. 5. 160 F.-L. Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, Rn. 319 ff.; U. Steiner, Kommunalrecht, in: Berg/Kne-meyer/Papier/ders., (Hrsg.) Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 189 ff.; G. Lissack, Bayerisches Kommunalrecht, § 8, Rn. 5, 40 f.
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen „Für die Erledigung übertragener Aufgaben können die zuständigen Staatsbehörden der Gemeinde Weisungen erteilen".
§ 68 Abs. 1 S. 1 VwGO regelt für das verwaltungsrechtliche Widerspruchsverfahren gegen Verwaltungsakte: 161 „Vor Erhebung der Anfechtungsklage sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen".
Die Existenz zweier unterschiedlicher Aufsichtsmaßstäbe wirft die Frage auf, in welchen Fällen der Staat berechtigt ist, Fachaufsicht auszuüben und in welchen Fällen sich die Aufsicht auf die Prüfung der Gesetzlichkeit beschränkt. Der durch völkerrechtlichen Vertrag, durch das Verfassungsgesetz oder durch die Gesetze bestimmte Aufsichtsmaßstab wird entscheidend von der Selbständigkeit des Beaufsichtigten geprägt. Folgendes Verhältnis läßt sich festhalten: Je unselbständiger die beaufsichtigte Person ist, desto eher wird der Aufsichtführende das Recht zur Fachaufsicht haben; je selbständiger der Beaufsichtigte ist, desto eher ist die Aufsicht auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des beaufsichtigten Handelns beschränkt. Hinsichtlich der Selbständigkeit hoheitlicher Aufsicht unterliegenden Personen lassen sich verschiedene Kategorien bilden: Die erste Gruppe betrifft Aufsichtsarten, die innerhalb einer Rechtsperson von einer Verwaltungsstelle gegenüber einer anderen ausgeübt werden, etwa die Behördenaufsicht. Die Eigenheit dieses Aufsichtstypus besteht darin, daß der Beaufsichtigte über keine eigene Rechtspersönlichkeit verfügt, weshalb die Aufsicht innerhalb eines Verwaltungsträgers regelmäßig Fachaufsicht ist. 1 6 2 Die zweite Gruppe betrifft Aufsichtsmaßnahmen, die der Staat gegenüber selbständigen Verwaltungsträgern des öffentlichen Rechts ausübt. Das Wesensmerkmal dieser Aufsichtsart besteht darin, daß die beaufsichtigte Person zwar eigenständiger Verwaltungsträger ist, ihre Existenz aber vom Staat ableitet. Aus der Selbständigkeit des Verwaltungsträgers folgt, daß der Staat regelmäßig nur Rechtsaufsicht ausüben darf, weil die Selbständigkeit der Körperschaft einer Zweckmäßigkeitsüberprüfung entgegensteht.163 Die Beschränkung auf eine Rechtsaufsicht ist jedoch nicht zwingend. Die Aufsichtsorgane könnten auch durch Gesetz dazu berechtigt sein, Fachaufsicht über die Körperschaft auszuüben, wobei die Selbständigkeit der beaufsichtigten Person einem zu weiten Aufsichtsmaßstab Grenzen setzt. 161 W. Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 187; F. O. Kopp/W.-R. VwGO, 11. Aufl., 1998, § 68, Rn. 9.
Schenke,
162 H. J. Wolff/O. Bachof Verwaltungsrecht Π, S. 104; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833; zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO, der im Rahmen des Widerspruchsverfahrens die Widerspruchsbehörde berechtigt und verpflichtet, neben der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes auch dessen Zweckmäßigkeit zu überprüfen. 163 M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen / Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 832; W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 273.
Β. Öffentlich-rechtliche Aufsicht
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Aufsichtsrechte bestehen schließlich über originäre hoheitliche Einrichtungen, etwa über die Länder in Bundesstaaten oder über Vertragsstaaten internationaler Organisationen, die ihre Existenz nicht von einem staatlichen Gründungsakt, einem Gesetz, ableiten. Auch über Kommunen, deren Rechtsnatur als originäre Gebietskörperschaften umstritten ist, 1 6 4 hat der Staat das Recht zur Aufsicht. Die entsprechenden Aufsichtsarten sind die Kommunalaufsicht, die Aufsicht des Gesamtstaates über die Gliedstaaten (Bundesaufsicht) und die Aufsicht internationaler Organisationen über deren Vertragsstaaten. Kommunalaufsicht, Bundesaufsicht und völkerrechtliche Aufsicht erlauben dem Aufsichtführenden regelmäßig nur, die Rechtmäßigkeit der beanstandeten Maßnahme zu überprüfen. Ausnahmen hiervon, etwa bei der Auftragsverwaltung nach Art. 85 GG oder bei der Wahrnehmung übertragener Angelegenheiten durch die Gemeinden, bestehen. Der Aufsichtsmaßstab wird zweitens von der Natur der wahrgenommenen hoheitlichen Aufgabe bestimmt. Einen materiellen Begriff der hoheitlichen Aufgabe gibt es nicht. 165 Staatliche Aufgaben werden durch das Verfassungsgesetz und die Gesetze des Staates bestimmt, 166 Aufgaben internationaler Organisationen durch deren Gründungsvertrag, kommunale Aufgaben durch die staatlichen Gesetze und durch eigene materielle Gesetzgebung, etwa indem die Gemeinde eine Satzung erläßt und die Bewältigung eines bestimmten Lebensbereiches zu einer öffentlichen Aufgabe erklärt. 167 Die hoheitlichen Aufgaben der Körperschaften des öffentlichen Rechts folgen gleichfalls aus den Gesetzen (etwa § 1 Gesetz für die Industrie- und Handelskammern). Es entspräche einem natürlichen Verständnis, wenn die hoheitliche Aufgabe von derjenigen Person des öffentlichen Rechts wahrgenommen werden würde, die davon betroffen ist. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. Vielmehr läßt sich für das öffentliche Recht festhalten, daß hoheitliche Aufgaben auch von fremden Rechtsträgern erledigt werden: So etwa nehmen die deutschen Gemeinden neben den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (Art. 83 Abs. 1 BV und Art. 7 Abs. 1 BayGO sprechen inso164 Teilweise wird die Meinung vertreten, daß die Kommunen originäre Gebietskörperschaften seien, die ihre Existenz nicht vom Staat ableiten: so Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaats, S. 252 ff.; U. Steiner, Kommunalrecht, in: Berg/Knemeyer/Papier/ ders. (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, Rn. 182 ff.; offenlassend E. SchmidtAßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1999, S. 14 ff.; die Gemeinden lediglich als staatliche Gebietskörperschaften der mittelbaren Staatsverwaltung sehend: O. Seewald, Kommunalrecht, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 4. Aufl., 1992, S. 22 ff. 165 Hierzu Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 198; ders., Anspruch auf materiale Privatisierung. Am Beispiel des staatlichen und kommunalen Vermessungswesens in Bayern, 2004, S. 29 ff. 166 J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR, Das Handeln des Staates, Bd. III, 1988, § 57, Rn. 136 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht. Kritik der Fiskuslehre, exemplifiziert an § 1 UWG, 1986, S. 189 ff., 235 ff., 265 ff.; ders., Res publica res populi, S. 198. 167 Dazu Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 252 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 17 ff., 66 ff.
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
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fern von Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises) auch staatliche Aufgaben als Angelegenheiten des übertragenen Wirkungskreises wahr. 168 Art. 83 GG sieht als Regelfall vor, daß die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen. Die Art der wahrgenommenen Aufgabe nimmt Einfluß auf den Aufsichtsmaßstab. Die Aufsicht des Staates über juristische Personen des öffentlichen Rechts ist auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit beschränkt, wenn der Beaufsichtigte Aufgaben des eigenen Wirkungskreises wahrnimmt. Erledigt die beaufsichtigte Person hingegen Aufgaben des Staates, kann der Staat berechtigt sein, die Rechtmäßigkeit und die Zweckmäßigkeit der beaufsichtigten Maßnahme zu prüfen. Die Fachaufsicht läßt sich in diesen Fällen mit dem Argument rechtfertigen, daß die überwachte Handlung ja eine Aufgabe des Aufsichtführenden sei. 169
III. Aufsichtsmittel Gesetze und völkerrechtliche Verträge sehen zahlreiche unterschiedliche Aufsichtsmittel vor. Neben der Beratung, Genehmigungsvorbehalten, Untersuchungsrechten, Beanstandungen und der Ersatzvornahme existiert das Recht zu klagen, Weisungen zu erteilen und andere mehr. Die Aufsichtsinstrumente werden von der Lehre in verschiedene Gruppen eingeteilt. Es wird erstens zwischen präventiven und repressiven Aufsichtsmitteln unterschieden. 170 Zweitens wird zwischen beobachtenden und berichtigenden Aufsichtsmaßnahmen differenziert. 171 Drittes Krite168
So etwa E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 31; a.A. F.-L· Knemeyer, Kommunalrecht, S. 86, 124 f.; Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 258 ff., die auch für den Bereich der übertragenen Aufgaben die Aufgabensubstanz als gemeindliche, nicht als staatliche sehen. 169 So auch G. Lissack, Bayerisches Kommunalrecht, § 8, Rn. 6, für den kommunalrechtlichen Bereich. >70 H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 110 f.; F.-L Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, S. 402; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 373 f.; E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.); Besonderes Verwaltungsrecht, S. 32; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen / Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833 f.; auch H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 106; Aufmerksamkeit verdient hinsichtlich der Unterscheidung in präventive und repressive Aufsichtsmaßnahmen noch einmal die triepelsche Definition, nämlich „das Verhalten der beaufsichtigten Person mit einem bestimmten Richtmaß in Übereinstimmung zu bringen oder zu erhalten": H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 111. Die hierin verwendeten Verben „bringen" und „erhalten" spiegeln die verschiedenen Zielrichtungen wieder. Während Maßnahmen mit erhaltendem Charakter präventiver Natur sind, sind solche, die darauf gerichtet sind, die Handlung in Übereinstimmung zu bringen, repressiver Art. 171
H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 120; J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 213; M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 53 ff.; auch H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 97 ff., 104 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 871.
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rium ist die Frage, ob die Aufsichtsmaßnahme unverbindlicher Natur ist oder eingreifenden, rechtverbindlichen Charakter hat. 1 7 2
1. Prävention und Repression Präventive Aufsichtsmaßnahmen sollen ein Fehlverhalten des Beaufsichtigten verhindern. 173 Ihr Ziel ist es, dem Bruch mit dem Richtmaß vorzubeugen. Der Rechtsverstoß soll durch vorbeugende Maßnahmen schon nicht zur Entstehung gelangen. Zeitlich gesehen müssen präventive Aufsichtsmaßnahmen deshalb vor dem Erlaß des zu beaufsichtigenden Rechtsaktes ergriffen werden. 174 Beispiele präventiver Aufsichtsmaßnahmen sind: 175 die Beratung des Beaufsichtigten durch den Aufsichtführenden, 176 Anzeige- und Vorlagepflichten, 177 Auskunftsrechte des Aufsichtführenden, Informationspflichten des Beaufsichtigten und etwa Genehmigungsvorbehalte. Repressive Aufsichtsmaßnahmen richten sich gegen bereits erlassene Rechtsakte des Beaufsichtigten. 178 Ihr Ziel ist es, ein schon eingetretenes Fehlverhalten des Beaufsichtigten zu beseitigen und dadurch den richtschnurgemäßen Zustand wieder herzustellen. 179 Die hierfür in den Gesetzen vorgesehenen Auf sich tsinstrumente reichen von der Beanstandung über das Verlangen nach Rückgängigmachung, der Aufhebung, der Ersatzvornahme, der Kommissarbestellung oder der Sequestration bis hin zur Auflösung der beaufsichtigten Rechtsperson. 180 Auch die 172 H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 107 ff. 173 H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht Π, S. 110 f.; F.-L. Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, S. 402; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 373; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833 f. 174
M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 373. 175 Hierzu H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 111; F.-L Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, S. 402; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 373 f.; auch H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, JIR 10 (1961), S. 16 ff. 176 Art. 108 BayGO etwa regelt, daß die Aufsichtsbehörden die Gemeinden bei der Erfüllung ihrer Aufgaben verständnisvoll beraten, fördern und stützen sollen. 177 So etwa die Pflicht zur Notifikation im Beihilfewesen der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 88 EGV. 178
M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 373. H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 111 f.; auch H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 104 ff., für das Völkerrecht. 180 E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 190 ff.; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 111; F.-L Knemeyer, Aufsicht, in: Staatslexikon, Bd. 1, S. 402; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 373; speziell zu den Aufsichtsinstrumenten im kommunalen Bereich: F.-L. Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, Rn. 316 f.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 299 ff.; M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 833 f. 179
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
Aufsichtsklage der Kommission nach Art. 226 Abs. 2 EGV ist ein repressives Aufsichtsinstrument, weil sich die Klage gegen eine bereits begangene Vertragsverletzung des Mitgliedstaates richtet.
2. Beobachtung und Berichtigung Die Lehre unterscheidet zwei Stadien der Aufsicht, nämlich die Beobachtung und die Berichtigung. 181 Dabei geht der Berichtigung die Beobachtung voraus; denn berichtigende Aufsichtsmaßnahmen verlangen Kenntnis der zu berichtigenden Rechtsakte, welche durch die Beobachtung,182 aber auch durch Hinweise anderer, erlangt wird. Nicht jede Beobachtung muß jedoch zwingend berichtigende Aufsichtsmaßnahmen nach sich ziehen. Letztgenannte sind entbehrlich, wenn die Beobachtung ergeben hat, daß sich der Beaufsichtigte gemäß der gegebenen Richtschnur verhält. Weiterhin kann der Aufsichtführende ohne eigene Beobachtung berichtigende Aufsichtsmaßnahmen ergreifen, nämlich wenn er nicht durch eigene Ermittlungen, sondern aus anderer Hand Kenntnis von rechtswidrigen Handlungen erlangt, die sein berichtigendes Einschreiten erfordern. 183 Zweck der Beobachtung ist es, Kenntnis von den zu beaufsichtigenden Maßnahmen zu erlangen. Die Beobachtung kann weiterhin bewirken, daß sich der Beaufsichtigte allein ob des Wissens, daß er beobachtet wird, der Richtschnur gemäß verhält. 184 Beobachtende Aufsichtsmaßnahmen sind das Auskunftsverlangen oder etwa Nachforschungen vor Ort. 1 8 5 Auch die Entgegennahme von Mitteilungen oder die Beweisaufnahme vor Ort wird im Schrifttum als beobachtende Aufsichtsmaßnah181 H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. I l l ; J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 213; H. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht, 5. 21 \ M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 53 ff.; ders., in: Groeben/ Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl., 2003, Art. 5, Rn. 24; A. Verdross /Β. Simma, Universelles Völkerrecht, § 871; H. Lecheler, Verwaltungslehre, S. 251; für das Völkerrecht: H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 97 ff., 104 ff.; ders., Der Maßstab der internationalen Aufsicht im FriedensvölkeiTecht, JIR 10 (1961), S. 16 ff., 23 ff. 182 H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, JIR 10 (1961), S. 20. 183 H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 115 ff.
μ Η. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 118. 18 5 M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 374; auch H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 111, der die genannten Aufsichtsinstrumente unter dem Gesichtspunkt der nicht eingreifenden Aufsichtsmittel erörtert; weiterhin H. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht, S. 21; zu weitgehend M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971) S. 53 f., der die Mängelrüge noch als abschließendes Instrument des Beobachtungsstadiums einordnet. Als verbindlicher Rechtsakt, der den Beaufsichtigten zu einem Handeln auffordert, dürfte die Mängelrüge insbesondere in Anbetracht der Gesetzesgebundenheit des Beaufsichtigten eine berichtigende Aufsichtsmaßnahme sein.
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me genannt. 186 Berichtigende Aufsichtsmaßnahmen sind Anordnungen an den Beaufsichtigten, den gesetzeswidrigen Rechtsakt aufzuheben, die Aufhebung des fehlerhaften Rechtsaktes durch den Aufsichtführenden selbst, die Klage des Aufsichtführenden gegen den Beaufsichtigten; im weitreichendsten Falle die Auflösung des Beaufsichtigten. 187 3. Verbindliche und unverbindliche Aufsichtsmaßnahmen Schließlich unterscheidet die Lehre zwischen eingreifenden und nicht eingreifenden Aufsichtsinstrumenten. 188 Nicht eingreifende Aufsichtsmittel, das heißt, den Beaufsichtigten nicht bindende Maßnahmen, sind die Erteilung von Hinweisen oder etwa die Beratung. 189 Sie begründen keinerlei Handlungspflichten für den Beaufsichtigten. Im Unterschied hierzu haben eingreifende Aufsichtsmittel verpflichtenden Charakter. Ihr verpflichtender Charakter besteht zum einen darin, daß die Rechtsakte des Aufsichtführenden unmittelbar gegen den Beaufsichtigten wirken, etwa die Versagung aufsichtrechtlicher Genehmigungen, die Aufhebung von Rechtsakten oder das Recht, den Beaufsichtigten zu verklagen; 190 zum anderen können sie den Beaufsichtigten zu einem bestimmten Handeln verpflichten.
IV. Einzelne Aufsichtsverfahren Grundsätzlich ist die öffentliche Hand als Aufsichtführender nur berechtigt, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, welche das Verfassungsgesetz, das Gesetz oder im Falle internationaler Organisationen die Verträge vorsehen. Dies gilt auch für das staatliche Aufsichtswesen; denn der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verlangt, daß sich jede Maßnahme der vollziehenden Gewalt auf eine Rechtsgrundlage, ein Gesetz, stützen lassen muß. 191 Die vollziehende Gewalt darf hiernach nur tätig werden, wenn ein formelles Ge186 H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 97, 101. 187 Η J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht Π, S. 111 ; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 374; auch M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 55 ff. 188 H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht Π, S. 107 ff.; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 373. 189 H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 107. 1 90 M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 55 ff.; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 108 ff. 191 T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 95 f.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 113 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 23 ff.; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6, Rn. 13 ff.; anders die Praxis und Teile der Lehre, die nur für den Bereich der Eingriffsverwaltung eine gesetzliche Grundlage verlangen: BVerwGE 6, 282 (287 f.); 90, 112 (126); F. Ossenbühl, Rechtsquellen und Rechtsbindung der Verwaltung, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 194 ff.
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
setz sie mit einer Aufgabe betraut. 192 Dabei ist zu beachten, daß nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Befugnisse und die Mittel, die erforderlich sind, um die Aufgabe zu erfüllen, gesetzlich geregelt sein müssen.193 An und für sich bekannte Aufsichtsmaßnahmen, die zwar in anderen Aufsichtsverfahren normiert sind, nicht aber für den konkreten Fall, dürfen nicht ergriffen werden. 194 Mangels Rechtsgrundlage wären sie rechtswidrig. Weiterhin müssen sich die Aufsichtsmittel am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als einem allgemeinen Rechtsprinzip messen lassen.195 Das bedeutet, daß die aufsichtsrechtliche Maßnahme geeignet, erforderlich und angemessen sein muß. 1 9 6 Im Gesetz vorgesehene schwerwiegendere Aufsichtsmittel dürfen nicht ergriffen werden, solange eine mildere Aufsichtsmaßnahme als ausreichend erscheint. 197 Folgende Ordnung der Aufsichtsmittel läßt sich festhalten: 198 (1) Regelmäßig wird der Aufsichtführende das Recht haben, den Beaufsichtigten zu beobachten, um Kenntnis über dessen Handeln zu erlangen. 199 (2) Nach dem Beobachtungsrecht sind die präventiven Aufsichtsmittel zu nennen, etwa die Beratung (Art. 108 BayGO), Genehmigungsvorbehalte und Anzeigepflichten (Art. 88 Abs. 3 EGV). (3) Immer noch im Beobachtungsstadium existieren Aufsichtsinstrumente, die den Aufsichtführenden berechtigen, Auskunft vom Beaufsichtigten über bestimmte Vorgänge zu verlangen (Art. 111 BayGO) und Untersuchungen vor Ort vorzunehmen (etwa die Akteneinsicht oder die Vorlage von Berichten). 200 Häufig ist der 192
K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 114. ι 9 3 BVerwGE 82, 76 (80 ff.); 87, 37 (39 ff.); W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 4. Aufl., 1992, S. 188 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 114 f. 194
M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 374. 5 So E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 190; J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 255; F.-L Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, Rn. 316. 19
Dazu allgemein: BVerfGE 19, 342 (348 f.); 43, 242 (288 f.); 61, 126 (134); 69, 1 (35); 76, 256 (359); 80 109 (120); T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 98 f.; A. Emme rieh-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Mit Beiträgen zu einer gemeineuropäischen Grundrechtslehre sowie zum Lebensmittelrecht, 2000, S. 49 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 382 ff. μ E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 190. μ Allgemein hierzu J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 249 ff.; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 107 ff.; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 374; F.-L Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, Rn. 316, für die Kommunalaufsicht; H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 97 ff., für die internationale Aufsicht. i " H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 111, 117 ff.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 353 f.; auch M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 53, für die Europäische Gemeinschaft. 2 oo H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 108.
Β. Öffentlich-rechtliche Aufsicht
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Beaufsichtigte auch verpflichtet, den Aufsichtführenden über bestimmte Maßnahmen zu informieren. (4) Die Gesetze können den Aufsichtführenden befugen, eine so genannte Mängelrüge zu erlassen (Art. 226 Abs. 1 EGV oder Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG). In dieser teilt der Aufsichtführende dem Beaufsichtigten mit, daß er nicht dem Aufsichtsmaßstab gemäß gehandelt habe und fordert den Beaufsichtigten auf, die gerügte Handlung zu berichtigen. (5) Repressiver und berichtigender Natur ist das Recht des Aufsichtführenden, den Beaufsichtigten nach erfolgloser Mängelrüge wegen des behaupteten Rechtsverstoßes zu verklagen. Hierbei kann Ziel der Klage sein, gerichtlich feststellen zu lassen, daß der Beaufsichtigte pflichtwidrig gehandelt hat (Art. 226 Abs. 2 EGV i.V.m. Art. 228 Abs. 1 EGV, Art. 84 Abs. 4 GG). Weiterreichend kann die Klage auch darauf zielen, die rechtswidrige Maßnahme durch das angerufene Gericht aufheben zu lassen. (6) Der Aufsichtführende kann berechtigt sein, die Rechtswidrigkeit/Zweckwidrigkeit der beaufsichtigten Handlung zu beanstanden und ihre Aufhebung zu verlangen (Art. 112 BayGO), Weisungen und Anordnungen, gelegentlich auch als Auflagen bezeichnet,201 zu erteilen, oder den pflichtwidrigen Rechtsakt selbst aufzuheben.202 Unter Beanstandung versteht die Lehre die verbindliche Feststellung, daß eine bestimmte Handlung des Beaufsichtigten rechts- oder zweckwidrig sei 2 0 3 Von der soeben genannten Mängelrüge unterscheidet sie sich dadurch, daß der beanstandete Rechtsakt unvollziehbar geworden ist. 2 0 4 Weisung und Anordnung verpflichten den Beaufsichtigten zur Vornahme einer bestimmten Handlung. 205 Ihnen liegt der Gedanke der Selbstkorrektur als derjenigen Vorgehens weise zugrunde, welche die Selbständigkeit des Beaufsichtigten weniger stark beeinträchtigt. Im Unterschied hierzu wird bei der Aufhebung die rechtswidrige Situation nicht durch eine Handlung des Beaufsichtigten, sondern durch eine des Aufsichtführenden beseitigt. (7) Einige Aufsichtsverfahren sehen die Ersatzvornahme vor (etwa Art. 113 BayGO). 206 Das Recht zur Ersatzvornahme befugt den Aufsichtführenden, die an201 So E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 191. 202 E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 190; H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 109; E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 34 f. 203 E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 190; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 374. 204 E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 190; E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 35. 205 M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 374. 206 E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 191; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 374; E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 35.
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Kap. 1 : Das Aufsichtswesen
gestrebte Maßnahme mit unmittelbarer Rechtswirkung gegenüber Dritten für die beaufsichtigte Person zu erlassen. 207 Der Rechtsakt des Aufsichtführenden tritt an die Stelle der Maßnahme, die vom Beaufsichtigten hätte erlassen werden müssen208 (8) Noch weitergehend kann der Staat berechtigt sein, einen Staatskommissar einzusetzen, der als oktroyierter Organwalter anstelle und auf Kosten des Selbstverwaltungsträgers handelt. 209 Das Bayerische Kommunalrecht sieht in Art. 114 BayGO vor, daß die Aufsichtsbehörde berechtigt ist, etwa bei Beschlußunfähigkeit des Gemeinderats einen Beauftragten zu bestellen, der bis zur Behebung des gesetzeswidrigen Zustandes für die Gemeinde handelt. (9) Schließlich kann der Aufsichtführende sogar über das Recht verfügen, die beaufsichtigte Person aufzulösen. 210 Als ultima ratio ist das Mittel der Auflösung rechtmäßig, weil der Staat trotz Übertragung staatlicher Aufgaben auf einen anderen Rechtsträger weiterhin Sorge für die ordnungsgemäße Erfüllung derselben trägt. Gegenüber Rechtspersonen, die ihre Existenz nicht vom Staat ableiten, Gemeinden und Länder, 211 oder gegenüber Rechtspersonen, bei denen nicht der Beaufsichtigte, sondern der Aufsichtführende seine Existenz dem Beaufsichtigten dankt, etwa im Verhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten oder im Verhältnis zwischen internationalen Organisationen und ihren Vertragsstaaten, besteht ein solches Recht zur Auflösung nicht.
207 E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 191. 208 H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 109. 209 Η J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht Π, S. 109; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 374; E. Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 35. 210 E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 192; M. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 374; auch H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, S. 109, über die Auflösung von dauernd beschlußunfähigen Kollektivorganen beaufsichtigter juristischer Personen des öffentlichen Recht mit Hinweis auf § 115 Abs. 2 HwO. 211 So auch E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. 1, S. 192, der hinsichtlich unauflösbarer Personen von „daseinsnotwendigen" Körperschaften spricht.
Kapitel 2
Gemeinschaftsaufsicht Α. Normativer Befund I. Aufgaben- und Befugnisnormen Nach Art. 5 Abs. 1 EGV darf die Europäische Gemeinschaft nur innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag gesetzten Ziele und zugewiesenen Befugnisse tätig werden (Grundsatz der begrenzten Ermächtigung). 1 Art. 7 Abs. 1 EGV führt aus, daß die der Europäischen Gemeinschaft zugewiesenen Aufgaben durch folgende Organe wahrgenommen werden: ein Europäisches Parlament, einen Rat, eine Kommission, einen Gerichtshof und einen Rechnungshof (Satz 1). Jedes Organ muß hierbei nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse handeln (Satz 2). 2 Aus den genannten Normen ergibt sich, daß der EG-Vertrag zwischen den Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft einerseits und den Befugnissen der verschiedenen Gemeinschaftsorgane andererseits unterscheidet. Als gemeinschaftsrechtliches Strukturmerkmal ist diese Unterscheidung auch für das Aufsichtswesen in der Europäischen Gemeinschaft von Bedeutung. Unter den Zielen und Aufgaben des Art. 5 Abs. 1 EGV und des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EGV sind die in Art. 2 EGV und Art. 3 EGV aufgezählten Aufgaben und Politiken der Europäischen Gemeinschaft zu verstehen.3 Hiervon sind die Aufgaben der Ge1 Grundsätzlich hierzu: BVerfGE 89, 155 (191 ff.); H.-R Kraußer, Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung als Strukturprinzip des EWG-Vertrages, 1991, S. 1 ff.; M. Zuleeg, in: G / T / E (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 3b, Rn. 2 ff.; Κ Α. Schachtschneider /Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, in: Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2004, S. 122 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 67 ff.; R. Streinz, EUV/EGV, Art. 5, Rn. 7 ff. 2 Art. 7 Abs. 1 S. 2 EGV ist, wie Art. 249 EGV, welcher die verschiedenen Handlungsformen der Europäischen Gemeinschaft aufzählt, keine eigenständige Befugnisnorm, sondern verweist lediglich darauf, daß sich verbindliche Rechtsakte auf eine Befugnisnorm gründen müssen: A. Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl., 1997, Rn. 380; auch /?. Bieber, in: G / T / E (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Aufl., 1997, Art. 4, Rn. 51 ff. 3 So H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 84 f.; A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 1994, Art. 3b, Rn. 5; zu Inhalt und Bedeutung der Vertragsziele: M. Zuleeg, in: G / T / E (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EGVertrag, 5. Aufl., 1997, Art. 2, Rn. 1 ff.
Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
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meinschaftsorgane zu unterscheiden. Während die Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft die Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft insgesamt umfassen, also danach fragen, in welchen Bereichen und in welchem Umfang die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft die Befugnis, Rechtsakte zu erlassen, übertragen haben (sog. Verbandszuständigkeit),4 bestimmen die Aufgaben der Gemeinschaftsorgane, welches Organ innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zuständig ist, die gemeinschaftsrechtlichen Aufgaben wahrzunehmen (Organzuständigkeit).5 Mit anderen Worten: Es geht um die horizontale Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft, um deren „institutionelles Gleichgewicht".6 Aufgabennormen im Sinne der Organzuständigkeit bestimmen das Tätigkeitsfeld des Gemeinschaftsorgans, weisen ihm eine bestimmte Aufgabe zu. Sie berechtigen das betreffende Organ jedoch nicht, verbindliche Rechtsakte zu erlassen. Es wäre fehlerhaft, aus der Zuweisung einer Aufgabe an ein Gemeinschaftsorgan abzuleiten, daß dieses Gemeinschaftsorgan auch das Recht habe, verbindliche Rechtsakte zu erlassen.7 Insofern kann auf den im öffentlichen Recht Deutschlands geltenden Grundsatz verwiesen werden, daß von der Aufgabe nicht auf Eingriffsbefugnisse geschlossen werden darf. 8 Art. 7 Abs. 1 S. 2 EGV verlangt, daß jedes Organ der Europäischen Gemeinschaft nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse handelt. Der Grundsatz der begrenzten Ermächtigung in Art. 5 Abs. 1 EGV besagt, daß die 4
A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 3b, Rn. 17; R. Geiger, EUV/EGV, 3. Aufl., 2000, Art. 5, Rn. 2 f.; R. Streinz, EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 11 ff. 5 Zur Organkompetenz: M. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 1994, Art. 4, Rn. 42; R. Streinz, EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 27 f. 6 So Urteil des EuGH vom 17. Dezember 1970, Rs. 25/70, Slg. 1970, 1161 (1173); Urteil des EuGH vom 22. Mai 1990, Rs. C-70/88, Slg. 1990, 2041 ff. 7 So BVerfGE 89, 155 (192 f.); in diesem Sinne auch M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 53; A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 3b, Rn. 6, die den Standpunkt vertreten, daß sich aus den Zielbestimmungen keine Handlungsbefugnisse ableiten lassen; M. Zuleeg, in: G / T / E (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 2, Rn. 6, verweist darauf, daß auch im Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft zu ihren Mitgliedstaaten der Schluß von der Aufgabe auf die Befugnisnorm der Kommission nicht erlaubt sei; K. A. Schachtschneider/Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 122 f.; anderer Auffassung allerdings der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 9. Juli 1987, Rs. 281, 283-285, 287/85, Slg. 1987, 3203, der ausführt, daß Art. 118 EGV a.F. (Art. 137 EGV n.F.), eine Norm sei, die zwar lediglich eine Aufgabenzuweisung enthalte, der Kommission zugleich aber auch die Befugnis zur Durchsetzung der dort zugewiesenen Aufgaben verleihe. 8 Hierzu: F.-L. Knemeyer, Funktionen der Aufgabenzuweisungsnormen in Abgrenzung zu den Befugnisnormen, DÖV 1978, 11 ff.; ders., Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Aufl., 1989, Rn. 54; R. Gröschner, Öffentlichkeitsaufklärung als Behördenaufgabe, DVB1. 1990, 622 (628 f.); E. Denninger, Polizeiaufgaben, in: Lisken/ders. (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2001, E, Rn. 55 ff.; K. A. Schachtschneider, Produktwarnung der Bundesregierung, in: ders. (Hrsg.), Fallstudien zum Öffentlichen Wirtschaftsrecht, 3. Aufl., 2003, S. 167 f.
Α. Normativer Befund
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Organe der Europäischen Gemeinschaft nur dann handeln dürfen, wenn sie ihre Maßnahmen auf eine Rechtsgrundlage, genauer: eine Befugnisnorm, 9 stützen können. 10 Befugnisnormen berechtigen somit die Gemeinschaftsorgane, nach Maßgabe der näheren Vertragsbestimmung verbindliche Rechtsakte zu erlassen, die gegebenenfalls auch in die Rechte der Unionsbürger oder der Mitgliedstaaten eingreifen können.11 Negativ betrachtet gilt, daß rechtsverbindliche Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane, die ohne Rechtsgrundlage, ohne Befugnisnorm, erlassen worden sind, vertragswidrig sind und nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts keine Bindungswirkung in Deutschland entfalten. 12 Des weiteren folgt aus dem Grundsatz der begrenzten Ermächtigung, daß sich jeder Rechtsakt, der von einem Organ der Europäischen Gemeinschaft erlassen worden ist, auf eine Befugnisnorm stützen lassen muß, und zwar unabhängig davon, ob er für den Mitgliedstaat oder den Unionsbürger belastender oder begünstigender Art ist. 13 Hiervon ausgenommen sind rechtlich unverbindliche Handlungen, wie die Beratung allgemeiner politischer Themen,14 Empfehlungen und Stellungnahmen nach Art. 249 Abs. 1 EGV. Für diese Handlungen reicht es als Rechtfertigung aus, wenn der EGVertrag einem Gemeinschaftsorgan eine bestimmte Aufgabe zuweist.
9
Η. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 89, spricht in diesem Zusammenhang von Kompetenznormen. 10 BVerfGE 89, 155 (192 f.); M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 3; Κ. A. Schachtschneider/Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 122 ff.; A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 3b, Rn. 6, definieren Befugnisnormen als Regelungen, die den Gemeinschaftsorganen „die Rechtsmacht zur einseitigen Entscheidung und Regelung einräumen". 11 M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971) S. 3. 12 So BVerfGE 89, 155 (188 ff.). 13 So M. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 4, Rn. 42; R. Bieber, in: G / T / E (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 4, Rn. 55; eine andere Auffassung vertritt A. Bleckmann, Die Beihilfenkompetenz der Europäischen Gemeinschaft. Ein Beitrag zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, DÖV 1977, 615 ff., (618); ders., Europarecht, Rn. 383; der davon ausgeht, daß die Europäische Gemeinschaft für begünstigende Verwaltungsakte einer bestimmten Ermächtigungsgrundlage im Vertrag nicht bedarf. Im erstgenannten Aufsatz führt er hierzu aus: „Die EG bedarf der punktuellen Einzelkompetenz also nur insoweit, als ihre Maßnahmen in die Rechte der Staaten und Individuen eingreifen. Im übrigen ergibt sich aus ihren Aufgaben eine umfassende Generalkompetenz zum Erlaß für die Erfüllung der Aufgaben erforderlichen Maßnahmen". 14 So R. Bieber, in: G / T / E (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 4, Rn. 55.
Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
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II. Vertragliche Vorgaben 1. Aufgabennorm des Art. 211 Spstr. 1 EGV Die wichtigste Norm des EG-Vertrages, welche einem Gemeinschaftsorgan die Aufgabe zur Aufsicht zuweist, ist Art. 211 Spstr. 1 EGV. Sie lautet: „Um das ordnungsgemäße Funktionieren und die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten, erfüllt die Kommission folgende Aufgaben: - für die Anwendung dieses Vertrages sowie der von den Organen aufgrund dieses Vertrages getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen."
Nach dieser Vorschrift hat die Kommission die Aufgabe, die Mitgliedstaaten (aber auch die anderen Gemeinschaftsorgane und die Unionsbürger) zu beaufsichtigen, d. h. Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten entgegenzuwirken und diese zu verfolgen. Obwohl Art. 211 EGV in seinen Spiegelstrichen 3 und 4 die Kommission befugt, verbindliche Rechtsakte zu erlassen,15 also Befugnisnormcharakter hat, ist Art. 211 Spstr. 1 EGV für die Gemeinschaftsaufsicht eine reine Aufgabenzuweisungsnorm, aus welcher keine Befugnisse zum Erlaß rechtsverbindlicher Aufsichtsmaßnahmen folgen. Das Recht, verbindliche Aufsichtsmaßnahmen zu erlassen, muß die Kommission vielmehr aus anderen Vertragsnormen ableiten.
2. Maßgebliche Befugnisnormen Der EG-Vertrag enthält mehrere, über das ganze Vertragswerk verstreute Befugnisnormen, welche es der Kommission ermöglichen, die ihr zugewiesene Aufgabe der Aufsicht wirksam zu erfüllen. 16 Die wichtigsten (primärrechtlichen) Aufsichtsbefugnisnormen gegenüber den Mitgliedstaaten sind Art. 226 EGV, Art. 284 EGV und Art. 88 EGV. Auf Art. 7 Abs. 1 EUV sei hingewiesen.
a) Art. 226 EGV
Das wichtigste Instrument der Gemeinschaftsaufsicht ist das Vertragsverletzungsverfahren des Art. 226 EGV. Als Hauptinstrument der Gemeinschaftsaufsicht wird es noch ausführlich erörtert werden. Nachstehend erfolgt deshalb nur eine kurze Einführung. Art. 226 EGV schreibt vor:
15
Hierzu W. Hummer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 1999, Art. 155, Rn. 32 ff.; K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 213 ff.; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 211, Rn. 13. 16 Einen Überblick über die verschiedenen Aufsichtsbefugnisse der Europäischen Gemeinschaft, primär- wie sekundärrechtlich, gibt: B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 89 ff.
Α. Normativer Befund
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„(1) Hat nach Auffassung der Kommission ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen, so gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu ab; sie hat dem Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung zu geben. (2) Kommt der Staat der Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission den Gerichtshof anrufen." Art. 226 EGV berechtigt die Kommission, gegen Mitgliedstaaten vorzugehen, die gegen das Gemeinschaftsiecht verstoßen haben. 1 7 In einem ersten außergerichtlichen Schritt hat die Kommission nach Art. 226 Abs. 1 E G V das Recht, mitgliedstaatliche Vertragsverletzungen gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat zu rügen. Sollte der Mitgliedstaat den gerügten Vertragsverstoß nicht abstellen, so ist die Kommission gemäß Art. 226 Abs. 2 E G V befugt, vor dem Europäischen Gerichtshof auf Feststellung der Vertragsverletzung zu klagen. 1 8
b) Art 284 EGV Wirksame Aufsicht verlangt genaue Sachkenntnis. U m diese zu erlangen, gibt Art. 284 E G V der Kommission das Recht, alle erforderlichen Auskünfte einzuholen: „Zur Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben kann die Kommission alle erforderlichen Auskünfte einholen und alle erforderlichen Nachprüfungen vornehmen; der Rahmen und die nähere Maßgabe hierfür werden vom Rat gemäß den Bestimmungen des Vertrages festgelegt." 19 M i t den in Art. 284 E G V angesprochenen Aufgaben sind insbesondere die Aufgaben des Art. 211 EGV gemeint, 2 0 also auch die Aufgabe zur Aufsicht. Aus17 B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 11 ff., 66 ff.; B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 89 f.; Κ. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 213 ff.; W Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 1; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 1 ff. Die vertraglich vorgesehene Zweistufigkeit des Verfahrens soll dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als einem Element des Rechtsstaatsprinzips und der Selbständigkeit der Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Bevor die Kommission das Mittel der Aufsichtsklage als „ultima ratio" ergreift, soll sie versuchen, die Vertragsverletzung durch das weniger eingreifende und die Souveränität des Mitgliedstaates mehr achtende Vorverfahren zu beseitigen: V. Constantinesco/J.-P. Jacques/R. Kovar/D. Simon, Traité instituant la CEE, 1992, Art. 169, Nr. 1; J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 263, der auf den auf Zusammenarbeit beruhenden Charakter der Europäischen Gemeinschaft verweist, welcher sich mit der gerichtlichen Auseinandersetzung von Rechtsstreitigkeiten nur schwer verträgt. 19 Hierzu W. Hummer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 1995, Art. 213, Rn. 1 ff.; K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 214 f.; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 284, Rn. 1 ff.; B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 284, Rn. 1 ff.; C. Herrmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 284 EGV, Rn. 1 ff.
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
kunftsverpflichtet sind die Mitgliedstaaten.21 Darüber hinaus sollen nach der Lehre auch private Personen zur Auskunft verpflichtet sein 2 2 Weil das Recht zur Auskunftseinholung gerichtlich einklagbar ist, bezeichnet die Lehre Art. 284 EGV auch als „inquisitorisches Auskunftsrecht" 23. Art. 284 EGV verlangt, daß der Rahmen und die nähere Maßgabe der Auskunftspflicht vom Rat nach den Bestimmungen des EG-Vertrages festzulegen ist. Dies ist bisher noch nicht generell geschehen,24 sondern nur für bestimmte Einzelbereiche, so zum Beispiel auf den Gebieten des Wettbewerbs, des Verkehrs und der Landwirtschaft. 25 Man könnte deshalb die Auffassung vertreten, daß die Kenntnis der Kommission über das Handeln der Mitgliedstaaten mangelhaft und ihre Aufsicht ungenügend sei. Dies ist jedoch nicht zutreffend, weil die Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 Abs. 1 S. 2 EGV verpflichtet sind, den Gemeinschaftsorganen die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern, 26 wozu auch die Pflicht der Mitgliedstaaten zählt, die Kommission allgemein und allumfassend über gemeinschaftsrechtlich relevante Sachverhalte zu unterrichten, wenn diese eine Anfrage an den Mitgliedstaat gerichtet h a t 2 7
20 W. Hummer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 213, Rn. 2; J. Grunwald, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Aufl., 1997, Art. 213, Rn. 1; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 284, Rn. 1. 21 B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 284, Rn. 1; R. Geiger, EUV/ EGV, Art. 284, Rn. 7 ff. 22 Af. Röttinger, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, 2. Aufl., 1999, Art. 284, Rn. 5; B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 284, Rn. 1; einschränkend R. Geiger, EUV/ EGV, Art. 284, Rn. 11 ff.; a.A. C. Herrmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 284 EGV, Rn. 1. 23 So W. Hummer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 213, Rn. 2. 24 W Hummer, in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 213, Rn. 15; B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 284, Rn. 3. 2 5 J. Grunwald, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 213, Rn. 27. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, daß der EG-Vertrag in bestimmten Bereichen primärrechtliche Auskunftspflichten der Mitgliedstaaten geregelt hat. Eine Aufzählung der maßgeblichen Normen findet sich bei W. Hummer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 213, Rn. 18. Beispielhaft ist Art. 88 Abs. 3 S. 1 EGV zu nennen, welcher hinsichtlich der Überprüfung staatlicher Beihilfen bestimmt, daß der Mitgliedstaat die Kommission von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig zu unterrichten hat, daß sie sich dazu äußern kann (Notifikation). Die Mißachtung dieser Pflicht zur Auskunftserteilung stellt einen Vertragsverstoß dar, welcher von der Kommission im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens verfolgt werden kann. 2 6 B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 284, Rn. 2. 27 So J. Grunwald, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 213, Rn. 19.
Α. Normativer Befund c) Art
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88 EGV
Eine weitere, sehr praxisrelevante Aufsichtsbefugnisnorm der Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten ist Art. 88 EGV. Die Norm befugt die Kommission zum Erlaß unterschiedlicher, gegen vertragswidrige staatliche Beihilfen gerichtete Rechtsakte, welche vom Vorschlag zweckdienlicher Maßnahmen (Art. 88 Abs. 1 EGV) bis hin zur Klage gegen einen Mitgliedstaat reichen (Art. 88 Abs. 2 E G V ) . 2 8 I m Unterschied zu den Aufsichtsbefugnissen in Art. 226 EGV, welche alle europarechtlich relevanten Rechtsakte der Mitgliedstaaten einer Aufsicht unterwerfen, handelt es sich bei Art. 88 EGV um eine spezielle Aufsichtsbefugnis, die auf den Bereich der staatlichen Beihilfe beschränkt ist.
I I I . Begriffsklärung In der Lehre und in der Praxis lassen sich für das europäische Aufsichtswesen viele verschiedene Begriffe finden. So ist die Rede vom Vertragsverletzungsverfahren, 2 9 von der Aufsichtsklage, 3 0 von Aufsichtsbefugnissen, 31 von der Gemeinschaftsaufsicht, 32 von der Aufsichtsbefugnis, 33 vom Aufsichtsverfahren, 34 vom Vorverfahren, 35 vom Verstoßverfahren 36 oder etwa von der Vertragsverletzungskla28 Zur Europäischen Beihilfeaufsicht: Th. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 1137 ff. 29 So J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 262 ff.; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, S. 32 ff.; J. Gündisch, Rechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 68 ff.; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl., 1995, S. 25 ff.; K. D. Borchardt, Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EUWirtschaftsrechts, PI., Rn. 1 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 733 ff.; R. Geiger, EUV/ EGV, Art. 226, Rn. 1 ff.; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 2; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 1. 30 So M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 466 ff.; R. Streinz, Europarecht, 5. Aufl. 2001, Rn. 505; K. A. Schachtschneider / A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 264 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303. 31 J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 262 ff. 32 M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 52 ff.; Η. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 220 ff., 233 ff.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 399 ff., der neben dem Begriff der Gemeinschaftsaufsicht auch von der Unionsaufsicht spricht. 33 B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 89. 34 Η. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 234 ff.; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 467 ff. 35 J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 262 ff.; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 467 ff.; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 819; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 736 f.; K. A. Schachtschneider / A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 269 f.
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
ge. 37 Obwohl wünschenswert, hat sich bisher kein einheitlicher Sprachgebrauch gebildet. Es ist deshalb erforderlich, die Begriffe zu bestimmen, insbesondere auch im Hinblick auf die Terminologie der vorliegenden Arbeit. Der allgemeinste Begriff ist der der Gemeinschaftsaufsicht. Die Lehre hat diesen Begriff in Anlehnung an die Bundesaufsicht des Art. 84 GG für die Bundesrepublik Deutschland und die Reichsaufsicht im Deutschen Reich geschöpft. 38 Die Gemeinschaftsaufsicht umfaßt alle Verfahren, die das primäre und das sekundäre Gemeinschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft zur Überwachung und Kontrolle der Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen.39 Sie schließt weiterhin alle Aufgabennormen, die einem bestimmten Organ die Aufgabe zur Aufsicht zuweisen, ein und alle Befugnisnormen, die es dem Aufsichtsorgan erlauben, rechtsverbindliche Aufsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Allgemeiner Natur ist auch der Begriff der Aufsichtsbefugnis. Die Lehre verwendet ihn als einen Sammelbegriff, unter welchen alle Befugnisnormen mit aufsichtsrechtlichem Charakter fallen, die der EG-Vertrag vorsieht. 40 Im Unterschied zur Gemeinschaftsaufsicht umfaßt die Aufsichtsbefugnis jedoch nicht aufsichtsrechtliche Aufgabeneröffnungsnormen. Die wichtigste Norm der Gemeinschaftsaufsicht ist Art. 226 EGV. In seinen Absätzen 1 und 2 sind zwei unterschiedliche Verfahren geregelt: ein außergerichtliches Mängelrügeverfahren (Absatz 1) und die Befugnis der Kommission, den Mitgliedstaat wegen vertragswidriger Handlungen vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen (Absatz 2). Für das außergerichtliche Verfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV hat sich in der Literatur der Begriff des Vorverfahrens eingebürgert. 41 Die Bezeichnung erklärt sich aus dem Verhältnis dieses Verfahrens zur Aufsichtsklage; denn die Kommission darf erst gemäß Art. 226 Abs. 2 EGV klagen, wenn sie vorab das Verfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV durchgeführt hat. Das Klagerecht der Kommission nach Art. 226 Abs. 2 EGV wird in der Lehre meistens als Aufsichtsklage bezeichnet.42 Daneben läßt sich auch der Begriff der Vertragsverletzungsklage finden 4 3 36
So P. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 1994, Art. 169, Rn. 18; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 811, spricht von der Klage der Kommission auf Feststellung der Vertragsverletzung durch einen Mitgliedstaat. 37 R, Streinz, Europarecht, Rn. 505. 38 Η. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 220 ff., 233 ff.; auch M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 52 ff., in Anlehnung an den von Triepel geprägten Begriff der Reichsauf sieht für die Aufsichtsbefugnisse des Deutschen Reiches über die deutschen Länder. 39 M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 52; Η. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 220 ff. 40 In diesem Sinn etwa: B. Beutler, in: ders. / Bieber / Pipkorn / Streil, Die Europäische Union, S. 89. 41 M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 466 ff.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 469. 42 M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 466 ff.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 504.
Β. Grundsätze der Gemeinschaftsaufsicht
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Art. 226 EGV in seiner Gesamtheit wird schließlich i m überwiegenden Sprachgebrauch, ohne danach zu differenzieren, daß die Norm zwei verschiedene Verfahren regelt, als Vertragsverletzungsverfahren, 44 teilweise auch als Aufsichtsverfahren oder Verstoßverfahren 45 bezeichnet. Pate für diese Namensgebung dürfte der in allen Verfahren gleichbleibende Streitgegenstand sein, nämlich die Verletzung des EG-Vertrages durch den Mitgliedstaat. Für die vorliegende Arbeit sollen die Begriffe der Gemeinschaftsaufsicht, der Gemeinschaftsbefugnisse, des Vertragsverletzungsverfahrens für Art. 226 E G V in seiner Gesamtheit sowie des Vorverfahrens und der Aufsichtsklage als die in Art. 226 EGV geregelten Verfahren benützt werden.
B. Grundsätze der Gemeinschaftsaufsicht Die Europäische Gemeinschaft hat i m Unterschied zu den Mitgliedstaaten keine originäre Hoheitsgewalt 4 6 Die Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft ist die gemeinschaftliche Ausübung der Staatsgewalt europäischer Völker. 4 7 Das Bundesverfassungsgericht hat diesbezüglich formuliert, daß die Europäische Union R. Streinz, Europarecht, Rn. 505. 44
Im Unterschied hierzu verstehen M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 466 ff., unter dem Vertragsverletzungsverfahren das Verfahren eines Mitgliedstaates gegen einen anderen Mitgliedstaat nach Art. 227 EGV; auf diesen Aspekt weist auch B. Beutler, in: ders. / Bieber / Pipkorn / Streil, Die Europäische Union, S. 90, hin; so auch Κ. A. Schachtschneider/A. Emme rieh-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 272 ff., die von dem Vertragsverletzungsverfahren unter Mitgliedstaaten sprechen. 45 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 234 ff.; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 467 ff.; P. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 18. 46 BVerfGE 89, 155 (188 ff.); E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 59, 70 f.; Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Volker Europas, S. 92 f.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 43 ff., 77 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 77 ff.; ders., Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", in: FS für Wilhelm Nölling, S. 297 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staaten verbünd, S. 896, 904 ff.; auch M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2847 f.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, 2004, S. 135 ff.; a.A. aber: P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstrukturen in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 54 ff.; Η P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 232. 47 So ausdrücklich BVerfGE 89, 155 (188 f.); E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 60; Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Volker Europas, S. 87 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 70 ff.; ders., Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", in: FS für Wilhelm Nölling, S. 300; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 43 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staaten verbünd, S. 904 f. 5 Wollenschläger
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
auch nach dem Inkrafttreten des Unionsvertrags ein Staatenverbund sei, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableite. 4 8 Die Mitgliedstaaten müssen der Europäischen Gemeinschaft Hoheitsrechte übertragen haben. Die Gemeinschaftsorgane sind nur i m Rahmen der übertragenen Hoheitsrechte berechtigt, Rechtsakte zu erlassen. Die Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft als gemeinschaftliche Ausübung der Staatsgewalt europäischer Völker wird von verschiedenen Grundsätzen geprägt, die großteils ihren Niederschlag i m EU-Vertrag und i m EG-Vertrag gefunden haben 4 9 Hierzu zählen insbesondere der in Art. 5 Abs. 1 E G V verankerte Grundsatz der begrenzten Ermächtigung 5 0 und das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 E G V . 5 1 Weiterhin ist der Charakter der Europäischen Gemeinschaft als einer Rechtsgemeinschaft, nicht aber als einer Zwangsgemeinschaft zu sehen. Zwar haben die Mitgliedstaaten zahlreiche Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft übertragen und sich einer europäischen Gerichtshoheit unterworfen (Art. 292 E G V i.V.m. Art. 220 ff. EGV), aber die Übertragung von Hoheitsrechten ging nicht soweit, daß der Europäischen Gemeinschaft die Befugnis verliehen wurde, ihre Rechtsakte gegen die Mitgliedstaaten zu vollstrecken (Art. 244 E G V i.V.m. Art. 256 Abs. 1 Hs. 2 E G V ) . 5 2 Von den in Art. 6 Abs. 1 E U V aufgezählten Grundsätzen der Europäischen Gemeinschaft ist das Rechtsstaatsprinzip hervorzuheben. 53 Aus ihm folgen so wichti48 BVerfGE 89, 155 (190); auch K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 77 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staaten verbünd, S. 904 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 135 ff.; a.A. M. Nettesheim, Kompetenzen, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 421. 49 Allgemein zum Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten: M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 880 ff.; R. Streinz, Die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, BayVBl. 2001, 481 ff.; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2846 ff.; K. A. Schachtschneider /Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 122 ff.; S. Oeter, Föderalismus, v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 59 ff. 50 M. Nettesheim, Kompetenzen, S. 421 ff.; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 335 ff.; C. Hillgruber, Das Verhältnis der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union zu ihren Mitgliedstaaten, ArchVR 34 (1996), 347 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 513 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 67 ff.; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2847. 51 Dazu R. Streinz, Die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, BayVBl. 2001, 486 f.; K. A. Schachtschneider/Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 144 ff. 52 Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 689 ff.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 510; a.A. allerdings B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, 5. Aufl., 2001, Rn. 141. 53 M. Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 941 ff.; E. Rache/M. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 20.
Β. Grundsätze der Gemeinschaftsaufsicht
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ge Elemente wie die Verhältnismäßigkeit hoheitlicher Maßnahmen, die Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden, die Beachtung des Vertrauensschutzes oder die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, 5 4 die als allgemeine Anforderungen an gemeinschaftliche Rechtsakte selbstverständlich auch für Aufsichtsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten gelten.
I . Befugnisse d e r E u r o p ä i s c h e n Gemeinschaft 1. Grundsatz der begrenzten Ermächtigung Die Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft müssen dem Grundsatz der begrenzten Ermächtigung entsprechen. 55 Dieser bis 1993 als ungeschriebenes Rechtsprinzip geltende und durch den Maastricht-Vertrag als Strukturprinzip in die Gemeinschaftsverträge aufgenommene Grundsatz hat folgende textliche Ausgestaltung in Art. 5 Abs. 1 E G V erfahren: 56 „Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig". A u f ihn wird des weiteren in Art. 7 Abs. 1 S. 2 E G V verwiesen. 57 Dort heißt es: , Jedes Organ handelt nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse". Der sachliche Inhalt des Prinzips erschließt sich aus seinen Wörtern. Das Adjektiv „begrenzt" 5 8 weist darauf hin, daß die Europäische Gemeinschaft keine A l l 54
Grundlegend hierzu: M. Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, S. 941 ff.; M. Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 6 EUV, Rn. 7. 55 Eine einheitliche Terminologie zu diesem Begriff existiert nicht. Der Begriff „begrenzte Ermächtigung" wird verwendet von: H.-P. Kraußer, Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung als Strukturprinzip des EWG-Vertrages, S. 1 ff.; Κ. A. Schachtschneider/A. EmmerichFritsche/Th. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, S. 751; A. v. Bogdandy /M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 3b, Rn. 3; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 335; H. G. Fischer, Europarecht, § 5, Rn. 38 f.; Κ. A. Schachtschneider/Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 122 ff.; M. Nettesheim, Kompetenzen, S. 421 ff.; R. Streinz, EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 7 ff.; weitere Bezeichnungen, wie „Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit": Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 430; „Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung": A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 380; M. Zuleeg, in: G / T / E (Hrsg.), Kommentar zum EU-/ EG-Vertrag, Art. 3b, Rn. 2; M. Herdegen, Europarecht, 1997, S. 121; „Grundsatz der enumerativen Einzelermächtigung": B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 82; F. Emmert, Europarecht, 1996, S. 125; oder „Grundsatz der Einzelkompetenz": A. Bleckmann, Die Beihilfenkompetenz der Europäischen Gemeinschaften, DÖV 1977, 615; lassen sich finden. In der französischen Sprache wird der Begriff der „compétence d'attribution" verwendet. 56 Hierzu Η. Ρ Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 412 ff. 57 So Κ. A. Schachtschneider/Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 122 ff. 58 Anstelle des Wortes „begrenzt" wird auch der Begriff „enumerativ" verwendet: B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 82. 5*
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Zuständigkeit, also keine Kompetenz-Kompetenz, besitzt. 5 9 Sie verfügt lediglich über begrenzte Befugnisse, nämlich über diejenigen Befugnisse, die ihr von den Mitgliedstaaten übertragen worden sind. Negativ formuliert: Die Europäische Gemeinschaft darf keine Rechtsakte erlassen, für die zwar ein Handlungsbedarf besteht, für deren Erlaß ihr der EG-Vertrag jedoch keine Befugnisse einräumt. Der Begriff der Ermächtigung gewinnt Gestalt durch einen Blick auf zwei weitere, in der Literatur verwendete Ausdrücke: den der Einzelzuständigkeit 6 0 und den der Einzelermächtigung. 6 1 Diese Begriffe sollen zum Ausdruck bringen, daß die Europäische Gemeinschaft nur i m Rahmen der aufgezählten Einzelermächtigungen befugt ist, Rechtsakte zu erlassen. Sie werden jedoch nicht der Generalermächtigung des Art. 308 E G V gerecht. 6 2 Dort steht: „Erscheint ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich, um im Rahmen des gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, und sind in diesem Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erläßt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften". 63 Der Begriff der Einzelzuständigkeit und der Einzelermächtigung ist weiterhin wegen der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Doktrin der „implied powers" unzutreffend. 64 Die implied powers sollen nach der Auffassung des Euro59 So BVerfGE 89, 155 (192 ff.); auch K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 93 f.; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2847; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staaten verbünd, S. 906; M. Nettesheim, Kompetenzen, S. 421 f.; allgemein zur KompetenzKompetenz der Union: M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 340. 60 Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 430; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 906. 61 So B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 82; M. Zuleeg, in: G / T / E (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 3b, Rn. 2; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 380; Ρ Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 906. 62 Hierzu Κ Α. Schachtschneider /Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 122 ff.; auch M. Nettesheim, Kompetenzen, S. 422. 63 Wegen dieser Kompetenz wird Art. 308 EGV auch als Vertragslückenschließungsverfahren bezeichnet: M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 833; und von einer Lückenschließungskompetenz gesprochen: Κ. A. Schachtschneider/Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 126 ff. Die Abgrenzung der Generalermächtigung zur Kompetenz-Kompetenz besteht darin, daß die Generalermächtigung des Art. 308 EGV voraussetzt, daß der Zweck des Handelns in der Verwirklichung eines der im Vertrag genannten Ziele des Gemeinsamen Marktes besteht, während die KompetenzKompetenz eine solche Beschränkung nicht kennt, und jedes hoheitliche Handeln umfaßt, also auch Handeln, das nicht diesem Zweck dient. 64 Zur Lehre der implied-powers: B. Beutler, in: ders./ Bieber /Pipkorn/ Streil, Die Europäische Union, S. 84; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 439 ff.; M. Nettesheim, Kompetenzen, S. 424, 433 ff.; kritisch hierzu Κ. A. Schachtschneider/Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 128 ff.; auch M. Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 1 EUV, Rn. 18, für die Europäische Union; der Unterschied
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päischen Gerichtshofs eine Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs vermitteln. 65 Es handelt sich um ungeschriebene Befugnisse, welche der Europäischen Gemeinschaft nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs das Recht verleihen sollen, Rechtsakte in Bereichen zu erlassen, die zwar eine allgemeine Regelung erfahren haben, aber keine Befugnisnorm für den konkreten Einzelfall enthalten.66 Aus den allgemeinen Regelungen soll sich die erforderliche Zuständigkeit ableiten lassen.67 Aus dem Grundsatz der begrenzten Ermächtigung leitet die Lehre weiterhin ab, daß die Europäische Gemeinschaft die in den Befugnisnormen vorgegebenen Handlungsformen einzuhalten h a t 6 8 Für die Gemeinschaftsaufsicht ergeben sich aus dem Grundsatz der begrenzten Ermächtigung folgende Vorgaben: Erstens darf die Europäische Gemeinschaft nur in denjenigen Bereichen und in dem Umfang, in welchem ihr die Mitgliedstaaten Hoheitsrechte übertragen haben, Aufsicht über die Mitgliedstaaten ausüben. Über das Recht, sich selbst Aufsichtsbefugnisse zu geben, verfügt die Europäische Gemeinschaft nicht. Zweitens muß sich jede Aufsichtsmaßnahme der Europäischen Gemeinschaft auf eine rechtliche Grundlage, eine Befugnisnorm, stützen lassen. Drittens muß die ergriffene Aufsichtsmaßnahme die im Vertrag vorgeschriebenen Handlungsformen einhalten. So darf die Kommission nicht das Aufsichtsmittel der Ersatzvornahme ergreifen, 69 obwohl ihr dieses Instrument aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bekannt sein dürfte, weil der EG-Vertrag diese Aufsichtsmaßnahme nicht kennt.
der implied powers zu Art. 308 EGV ist, daß Art. 308 EGV zur Schaffung neuer Kompetenzen berechtigt, während die implied powers auf der Ausdehnung und Erweiterung schon vorhandener Befugnisnormen beruhen. 65 Urteil des EuGH vom 15. Juli 1960, Rs. 20/59, Slg. 1960, 681 (708 ff.); Urteil des EuGH vom 9. Juli 1987, Rs. 281, 283 - 285, 287/85, Slg. 1987, 3203 (3250 ff.). 66
M. Nettesheim, Kompetenzen, S. 434. 67 So Urteil des EuGH vom 9. Juli 1987, Rs. 281, 283-285, 287/85, Slg. 1987, 3203 (3250 ff.), für die Zuständigkeiten der Kommission im Bereich der Sozialpolitik (Art. 118 EGV a.F.); kritisch zu diesem Rechtsinstitut das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 89, 155 (210), das beanstandet, daß die Gemeinschaftsorgane bei der Auslegung von Befugnisnormen beachten müßten, daß der Unions-Vertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheide. Die Auslegung von Befugnisnormen dürfe deshalb in ihrem Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen. Eine solche Auslegung könnte in Deutschland keine ΒindungsWirkung entfalten. 68 Hierzu Κ. A. Schachtschneider/Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 126; R. Streinz, EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 29. 69 Zur Ersatzvornahme: H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 676 ff.; P. Badura, Das Verwaltungsverfahren, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1998, S. 494; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23, Rn. 20.
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht 2. Grundsatz der Subsidiarität
Die Aufgaben und die Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft werden weiterhin vom Grundsatz der Subsidiarität geprägt. 7 0 Neben Art. 2 Abs. 2 EUV, der für die Verwirklichung der Ziele der Union die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips einfordert, ist Art. 5 Abs. 2 E G V die maßgebliche Norm. Idee des Subsidiaritätsprinzips ist es, hoheitliche Aufgaben auf der kleinerer Ebene wahrzunehmen, weil diese Form dem demokratischen Prinzip gerechter wird, die Unterschiedlichkeit und die Vielfalt der Menschen eher berücksichtigt und Machtmißbrauch vorzubeugen vermag. 7 1 Art. 5 Abs. 2 E G V ist keine Zuständigkeitsnorm, die originär Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten verteilt; denn der Anwendungsbereich der Vorschrift verlangt, daß die Mitgliedstaaten bereits Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft übertragen haben. 7 2 Das Subsidiaritätsprinzip bestimmt vielmehr die Frage, ob bereits auf die Gemeinschaft übertragene Befugnisse von der Gemeinschaft ausgeübt werden dürfen oder von den Mitgliedstaaten wahrzunehmen sind. 7 3 Das Subsidiaritätsprinzip begrenzt somit die Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft auf diejenigen Angelegenheiten, in denen kommunitäre Aufgaben nicht ausreichend auf der Ebene der Mitgliedstaaten - dies kann ein einzelner Mitgliedstaat oder eine Gruppe von Mit70 Grundsätzlich zum Subsidiaritätsprinzip: M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 892 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 513 ff.; K. A. Schachtschneider/Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 144 ff.; M. Kenntner, Das Subsidiaritätsprinzip des Amsterdamer Vertrags. Anmerkungen zum Begrenzungscharakter des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips, NJW 1998, 2871 ff.; M. Zuleeg, in: Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Art. 5, Rn. 25 ff.; Art. 5 Abs. 2 EGV wurde in den EG-Vertrag durch den Vertrag von Maastricht aufgenommen. Davor beanspruchte das Subsidiaritätsprinzip als allgemeines Strukturprinzip Geltung: M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 892. Für den Bereich der Umweltpolitik war es allerdings bereits seit 1986 in Art. 130r Abs. 4 EGVa.F. normiert. 71 Grundlegend zum Prinzip der kleinen Einheit: J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzen des Staatsrechts, S. 72 ff.; O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, S. 126 ff.; in Bezug auf Europa: H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS für W. Thieme, 1993, S. 431 ff.; K. A. Schachtschneider, Die Republik der Volker Europas, in: Gröschner/Morlok (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik in Zeiten des Umbruchs, ARSP-Beiheft 71, 1997, S. 173 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 89 f.; M. Kenntner, Das Subsidiaritätsprinzip des Amsterdamer Vertrags, NJW 1998, 2871 ff.; Th. Koch, Die Zeitung in der Republik, 2006, Teil C, VI. 72 M. Kenntner, Das Subsidiaritätsprinzip des Amsterdamer Vertrags, NJW 1998, 2872 ff. 73 So auch H. G. Fischer, Europarecht, § 5, Rn. 44; M. Kenntner, Das Subsidiaritätsprinzip des Amsterdamer Vertrags, NJW 1998, 2874 ; R. Streinz, Die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, BayVBl. 2001, 486, spricht in diesem Zusammenhang von „Kompetenzausübungsschranken"; M. Zuleeg, in: Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Art. 5, Rn. 26 ff.
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gliedstaaten sein - erfüllt werden können (Geeignetheitskriterium, auch als Notwendigkeitsmaßstab bezeichnet)74 und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene realisiert werden können (Effektivitätskriterium). 75 Wenn ein Gemeinschaftsorgan das Subsidiaritätsprinzip verletzt, führt dies zur Rechtswidrigkeit seiner Maßnahme. Der betroffene Mitgliedstaat kann den fehlerhaften Rechtsakt mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV angreifen und vom Europäischen Gerichtshof für nichtig erklären lassen.76 Allerdings geht die Literatur davon aus, daß die Organe der Europäischen Gemeinschaft einen weiten Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage haben, ob die Voraussetzungen der Subsidiarität erfüllt seien und daß nur eine grob fehlerhafte Beurteilung einer Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof unterliegen würde. 77 Diese Auffassung steht jedoch im Widerspruch zur Position des Bundesverfassungsgerichts, welches in seinem Maastrichturteil formuliert hat, daß das Subsidiaritätsprinzip in Art. Β Abs. 2 EUV (jetzt: Art. 2 Abs. 2 EUV) für die Union und Art. 3b Abs. 2 EGV (jetzt: Art. 5 Abs. 2 EGV) für die Europäische Gemeinschaft verbindlicher Rechtsgrundsatz sei. 78 Materiell-rechtlich kann die Klage sowohl auf den Anfechtungsgrund der Unzuständigkeit (Art. 230 Abs. 2 Alt. 1 EGV) als auch auf den der Verletzung des Vertrages (Art. 230 Abs. 2 Alt. 2 EGV) gestützt werden. 79 Für die Gemeinschaftsaufsicht folgt aus dem Subsidiaritätsprinzip, daß die Europäische Gemeinschaft erst befugt ist, Aufsichtsmaßnahmen zu erlassen, wenn der Mitgliedstaat nicht bereit ist, die vertragswidrige Handlung zu beseitigen.
74
M. Kenntner, Das Subsidiaritätsprinzip des Amsterdamer Vertrags, NJW 1998, 2873 f. Hierzu: H. G. Fischer, Europarecht, § 5, Rn. 46; M. Kenntner, Das Subsidiaritätsprinzip des Amsterdamer Vertrags, NJW 1998, 2873 f.; auch R. Streinz, EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 36 ff. 76 M. Kenntner, Das Subsidiaritätsprinzip des Amsterdamer Vertrags, NJW 1998, 2875; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 5, Rn. 11 f.; C. Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 5, Rn. 58 ff.; vorsichtig, aber auch bejahend R. Streinz, Die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, BayVBl. 2001, 486; ders., EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 43 f. 75
77 M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 906; H. G. Fischer, Europarecht, § 5, Rn. 47; M. Zuleeg, in: Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Art. 5, Rn. 35. ™ BVerfGE 89, 155 (188 ff.). 79 Zu den vier Anfechtungsgründen der Unzuständigkeit, der Verletzung wesentlicher Formvorschriften, der Verletzung dieses Vertrags und des Ermessensmißbrauch nach Art. 230 Abs. 2 EGV: Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 278 ff.; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 230. Rn. 30 ff.
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
3. Rechtsgemeinschaft, aber nicht Zwangsgemeinschaft Die Europäische Gemeinschaft ist ein Staatenverbund, dem die Mitgliedstaaten umfangreiche Hoheitsrechte übertragen haben.80 Ihre Hoheitsgewalt ist so weitreichend, daß sowohl die Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane als auch die der Mitgliedstaaten, die ihre Grundlage im Gemeinschaftsrecht haben, einer obligatorischen Gerichtsbarkeit unterworfen sind. 81 Dieser Umstand hat ganz wesentlich zur Charakterisierung der Europäischen Gemeinschaft als einer Rechtsgemeinschaft beigetragen. 82 Die Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft ist jedoch nicht so umfassend, daß sie als eine Zwangsgemeinschaft bezeichnet werden könnte.83 Zwar können europäische Rechtsakte mittels der nationalen Organe gegenüber den Unionsbürgern vollstreckt werden, 84 gegenüber den Mitgliedstaaten existiert ein solches Recht der Europäischen Gemeinschaft nicht. So schließt Art. 256 Abs. 1 Hs. 2 EGV ausdrücklich die Zwangsvollstreckung von Entscheidungen des Rates oder der Kommission, die eine Zahlung auferlegen, gegenüber den Mitgliedstaaten aus. Das gleiche gilt nach Art. 244 EGV für Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. 85 In tatsächlicher Hinsicht ist darauf hinzuweisen, daß die Europäische Gemeinschaft über keine eigenen Vollstreckungsorgane verfügt. 86 Sie müßte auf die Vollstreckungsorgane des jeweiligen Mitgliedstaates zurückgreifen, um gegen diesen vollstrecken zu können. Letztlich ist noch auf die Natur des Vertragsverletzungsverfahrens als Beleg dafür hinzuweisen, daß die Europäische Gemeinschaft keine Zwangsgemeinschaft ist: 87 Während der Europäische Gerichtshof bei Nich80 BVerfGE 89, 155 (188 ff.); P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 904 ff. 81 So kann die Europäische Gemeinschaft mittels des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EGV gegen die Mitgliedstaaten vorgehen. Die Mitgliedstaaten können nach Art. 230 EGV und Art. 232 EGV Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklage gegen Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane erheben. 82 Urteil des EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339; W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 51 ff.; A. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 166 ff.; J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 588. 83
So auch A. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, S. 165 f., mit Hinweis darauf, daß zwischen Rechts- und Zwangsgemeinschaft zu unterscheiden ist. 84 Hierzu Ρ Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 896. 85 Auch wenn sich Art. 256 Abs. 1 Hs. 2 EGV nur auf Zahlungspflichten bezieht, leitet die Lehre aus der Norm doch den allgemeine Grundsatz ab, daß Vollstreckungen jeder Art gegen die Mitgliedstaaten ausgeschlossen seien: M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 582; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 689 f. 86 M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 582; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 697, 725. 87 Ausführlich zum Verhältnis zwischen Rechtsgemeinschaft und Zwang: A. EmmerichFritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht, S. 123 ff.
Β. Grundsätze der Gemeinschaftsaufsicht
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tigkeitsklagen nach Art. 230 EGV gemäß Art. 231 Abs. 1 E G V berechtigt ist, die angefochtene Handlung des Gemeinschaftsorgans aufzuheben, erlaubt Art. 228 Abs. 1 E G V dem Europäische Gerichtshof lediglich festzustellen, daß der verklagte Mitgliedstaat das Gemeinschaftsrecht verletzt hat. Die Befugnis zur Aufhebung nationaler Rechtsakte hat der Europäische Gerichtshof nicht. Aufsichtsmaßnahmen der Kommission können deshalb genausowenig wie Feststellungsurteile des Europäischen Gerichtshofs gegen die Mitgliedstaaten vollstreckt werden.
I I . G r u n d s a t z d e r Rechtsstaatlichkeit Die wichtigsten Grundsätze der Europäischen Union und damit auch der Europäischen Gemeinschaft sind nach Art. 6 Abs. 1 E U V die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, sowie der Rechtsstaatlichkeit. Die Bedeutung dieser Grundwerte wurde in den Präambeln des EWG-Vertrages (jetzt EG-Vertrag) von 195 7 8 8 und der Folgeverträge, insbesondere in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986, 8 9 i m Maastrichtvertrag von 1992 9 0 und i m Amsterdamer Vertrag von 1997 9 1 wiederholt betont. 9 2 Seit 88 Die Präambel des EWG-Vertrages beschreibt noch überwiegend wirtschaftliche Ziele. Politische und rechtliche Grundsatzentscheidungen werden nur sehr eingeschränkt angesprochen. Sie lassen sich vor allem in der Passage finden, in welcher die Entschlossenheit betont wird, „durch diesen Zusammenschluß ihrer Wirtschaftskräfte (seil.: gemeint ist die Europäische Gemeinschaft) Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen", und in welchem die Aufforderung an „die anderen Volker Europas ergeht, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen". 89
In der Präambel der EEA wird die Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, „gemeinsam für Demokratie einzutreten, wobei sie (seil.: die Mitgliedstaaten) sich auf die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten, in der Europäischen Menschenrechtskonvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit stützen". In einer späteren Passage wird noch einmal das Eintreten für „die Grundsätze der Demokratie und die Wahrung des Rechts und der Menschenrechte" betont. 90 Der EU-Vertrag geht noch einen Schritt weiter und erklärt in seiner Präambel die Bestätigung „des Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit". Darüber hinaus ist in Art. F Abs. 1 und Abs. 2 des Vertrages a.F. die Vertragspflicht zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen und der Grundrechte, wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaten ergeben, normiert: hierzu A. Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität" im Unionsvertrag, JZ 1997, 265 ff. 91 BGBl. 1998 II, 387 ff. Der Amsterdamer Vertrag bestätigt in seiner Präambel durch die Verwendung des identischen Wortlautes die im EU-Vertrag zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Strukturprinzipien. 92 Obwohl die Aussagen in den Präambeln nach der Lehre keine konkreten Vertragspflichten enthalten, ist das Bekenntnis der Europäischen Gemeinschaft zu bestimmten Grundprinzipien für die Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft von Bedeutung; denn die Gemeinschaftsorgane sind verpflichtet, ihre Rechtsakte unter Beachtung der Grundwerte zu erlassen,
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
1997 hält Artikel 6 Abs. 1 Hs. 2 E U V diese Grundsätze nunmehr als konkrete Vertragsverpflichtungen fest. Der Europäische Gerichtshof hat den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit i m Laufe seiner Rechtsprechung materialisiert. 93 Als wesentliche Elemente der europäischen Rechtsstaatlichkeit hat er erkannt: die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Gesetzesvorbehalt und -vorrang), 9 4 der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 95 der Bestimmtheitsgrundsatz, 96 die Elemente der Rechtssicherheit 97 und des Vertrauensschutzes, 98 aber auch verfahrensrechtliche Garantien, wie der Anspruch auf rechtliches Gehör. Aufsichtsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft über die Mitgliedstaaten müssen diesem Grundsatz entsprechen.
sie insbesondere bei der Rechtsetzung und bei der Auslegung des Gemeinschaftsrecht zu beachten: M. Zuleeg, in: G / T / E (Hrsg.), Kommentar zum EU-/ EG-Vertrag, Präambel des EUV, 5. Aufl., 1997, Rn. 3; vgl. auch die Vorgehensweise des EuGH in seinem Urteil vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (24); darüber hinaus wurde in der Literatur die Auffassung vertreten, daß auch die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, die Grundwerte einzuhalten, weil sie die Grundlage ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft bildeten: R. Geiger, EG-Vertrag, 1993, Präambel, Rn. 16. 93 Allgemein zu den Elementen der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union: K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 42 ff. (60 ff.); M. Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 6 EUV, Rn. 7. 94 Urteil des EuGH vom 22. März 1961, Rs. 42/59 und 49/59, Slg. 1961, 107 (172); Urteil des EuGH vom 21. Mai 1987, Rs. 133 bis 136/85, Slg. 1987, 2289 (2341 f.); ausführlich hierzu J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 219 ff. Der Gesetzesvorbehalt verlangt, daß „Eingriffe der europäischen Hoheitsgewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder - natürlichen oder juristischen - Person einer Rechtsgrundlage" bedürfen: Urteil des EuGH vom 21. September 1989, Rs. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, 2859 (2924). Aus dem Gesetzesvorbehalt folgt, daß exekutives Handeln der Gemeinschaftsorgane nicht gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht verstoßen darf: J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 220 ff. 9 5 Urteil des EuGH vom 24. September 1985, Rs. 181/84, Slg. 1985, 2889 (2903); Urteil des EuGH vom 21. Januar 1992, Rs. C-319/90, Slg. 1992, 203 (217 ff.); zum Verhältnismäßigkeitsprinzip in der europäischen Rechtsetzung: A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, S. 96 ff.; auch J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. II, 1988, S. 661 ff. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt, daß Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane geeignet, erforderlich und angemessen sein müssen, um vertragsgemäß zu sein: J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. II, S. 830 ff.; A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 3b, Rn. 50 ff.; Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, S. 249 f.
*> Urteil des EuGH vom 9. Juli 1981, Rs. 169/80, Slg. 1981, 1931 (1942), in welchem der Europäische Gerichtshof folgerichtig eine Verordnung der Gemeinschaft mangels Bestimmtheit für nichtig erklärt hat. 97 Urteil des EuGH vom 22. März 1961, Rs. 42 und 49/59, Slg. 1961, 107 (172 ff.); Urteil des EuGH vom 5. Juli 1973, Rs. 1 /73, Slg. 1973, 723 (729 ff.). 98 Urteil des EuGH vom 5. Mai 1981, Rs. 112/80, Slg. 1981, 1095 (1120 f.).
C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
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C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV als Hauptinstrument der Gemeinschaftsaufsicht I. Funktion und Bedeutung 1. Ausgangslage Nach ständiger Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichts als auch des Europäischen Gerichtshofs und nach der Auffassung der Lehre gilt das Gemeinschaftsrecht unmittelbar in den Mitgliedstaaten (unmittelbare Geltung) und ist gegebenenfalls auch unmittelbar anwendbar (unmittelbare Anwendbarkeit). 99 Während die unmittelbare Geltung die Frage zum Inhalt hat, ob das Gemeinschaftsrecht eines nationalen Transformationsaktes bedarf, um innerstaatliche Geltung zu erlangen, ist Gegenstand der unmittelbaren Anwendbarkeit die Frage, ob das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen subjektive Rechte, aber auch Pflichten, eröffnet, mit der Folge, daß sich der Bürger vor den Gerichten auf das Gemeinschaftsrecht berufen kann. In objektiver Hinsicht sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht durchzuführen. 100 Das bedeutet: Die nationalen Gesetzgebungsorgane müssen das Gemeinschaftsrecht umsetzen, die nationalen Verwaltungsbehörden müssen es vollziehen, wenn die Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft den mitgliedstaatlichen Vollzug vorsieht, die Gerichte der Mitgliedstaaten sind verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht anwenden. Weil die Bindung der nationalen Organe an das Gemeinschaftsrecht für sich allein nicht zu gewährleisten vermag, daß die Mitgliedstaaten vertragsmäßig handeln, enthält der EG-Vertrag weitere Rechtsinstrumente zur Wahrung der Rechtmäßigkeit in der Eu99 BVerfGE 73, 339 (374 f.); 89, 155 (190); Urteil des EuGH vom 05. Februar 1963, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (24 f.); Urteil des EuGH vom 15. Juli 1964, Rs. 6/62, Slg. 1964, 1251 (1269); Urteil des EuGH vom 09. März 1978, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (643 f.); A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 1070 ff.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 346 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 627 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fntsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, in: Schachtschneider, Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2004, S. 100 ff. 100
Zu dem hier verwendeten Begriff der Durchführung als Obergriff für die Befassung aller nationaler Organe mit dem Gemeinschaftsrecht: M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaft im innerstaatlichen Recht, KSE, Bd. 9, S. 47 f., B. Beutler, in: ders./Bieber/ Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 86; H. G. Fischer, Europarecht, § 7, Rn. 3; H. D. Jarass/S. Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 6 ff.; nachstehend wird in Anlehnung an die genannten Autoren für die verschiedenen Funktionsbereiche folgende Terminologie benützt: Die Gesetzgebungsorgane setzen Gemeinschaftsrecht um (Umsetzung), die nationalen Behörden vollziehen es (Vollzug) und die mitgliedstaatlichen Gerichte wenden es an. Teilweise läßt sich auch der Ausdruck „Ausführung" statt „Durchführung" finden: so etwa der EuGH, Urteil vom 04. April 1974, Rs. 167/73, Slg. 1974, 359 (369); Urteil vom 11. August 1995, Rs. C-431 /92, Slg. 1995, 2189 (2219).
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
ropäischen Gemeinschaft. Eines dieser Instrumente ist das Vertragsverletzungsverfahren des Art. 226 EGV. Absatz 2 der Norm befugt die Kommission als „Hüterin der Verträge", 101 gegen einen ihrer Auffassung nach Vertragsbrüchigen Mitgliedstaat vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen. Ziel der Klage ist es, gerichtlich feststellen zu lassen, daß der betroffene Mitgliedstaat das Gemeinschaftsrecht verletzt hat. Die erfolgreiche Klage verpflichtet den Mitgliedstaat gemäß Art. 228 Abs. 1 EGV, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben.
2. Verfahrensziel Das Vertragsverletzungsverfahren ist ein Instrument, welches die Vertragsgemäßheit mitgliedstaatlicher Maßnahmen gewährleisten soll. Es soll das Gemeinschaftsrecht schützen und die Vertragstreue der Mitgliedstaaten bewirken. 102 Hierbei unterscheidet die Lehre zwischen zwei Funktionsweisen, nämlich der Aufrechterhaltung eines vertragsgemäßen Zustandes (präventiver Charakter) und der Wiederherstellung desselben (repressiver Charakter). 103 Präventiv wirkt das Vertragsverletzungsverfahren, weil seine Rechtsfolgen die Mitgliedstaaten davon abhalten sollen, Vertragsverletzungen zu begehen. Repressiv wirkt das Vertragsverletzungsverfahren, weil der Kommission ein Rechtsinstrument zur Hand gegeben wird, welches ihr erlaubt, gegen ihrer Auffassung nach vertragswidrige Maßnahmen der Mitgliedstaaten vorzugehen, und weil das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshof den Mitgliedstaat verpflichtet, die Vertragsverletzung zu beseitigen. 1 0 4 Das Vertragsverletzungsverfahren ist, wie es die Lehre zu formulieren 101 So etwa Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 323; K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 208 ff. 102 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 220 f.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 264 f. 103 A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 811, erwähnt als Aufgabe des VertragsverletzungsVerfahrens die Verhinderung von Vertragsverstößen (Aufrechterhaltung); K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, 2. Aufl., 1999, Art. 226, Rn. 1; ders., Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, P.I., Rn. 7, spricht von der Beachtung (Aufrechterhaltung) und der Durchsetzung (Wiederherstellung) des Gemeinschaftsrechts; P. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 18, nennt als Hauptzweck des Verfahrens, die Möglichkeit, den Mitgliedstaat zum Abstellen gegenwärtiger Vertrags verstoße zu zwingen (Wiederherstellung); W. Cremer, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 2, führt die Begriffe der Beachtung (Aufrechterhaltung) und der Durchsetzung (Wiederherstellung) ein. 104 Damit die Kommission diese Aufgabe wirksam gegenüber jedem mitgliedstaatlichen Vertragsverstoß wahrnehmen kann, verlangt der EG-Vertrag nicht, daß die Kommission in eigenen Rechten verletzt sein muß, um im Rahmen des Art. 226 EGV gegen mitgliedstaatliche Vertragsverstöße vorgehen zu dürfen. Als „Hüterin der Verträge" ist sie vielmehr privilegiert klageberechtigt: vgl. H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 154, 223; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, S. 107 f.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 246 f.
C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
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pflegt, ein Rechtsinstrument mit reiner Ordnungsfunktion, 1 0 5 ein Verfahren mit objektiver N a t u r , 1 0 6 was sich auch darin äußert, daß die Kommission als Klägerin keine Verletzung eigener Rechte nachweisen muß, um klagen zu können. Sie ist privilegiert klageberechtigt. 1 0 7 Der Europäische Gerichtshofs hat zur Stellung der Kommission i m Vertragsverletzungsverfahren ausgeführt, daß der Kommission „kraft ihres Amtes i m allgemeinen Interesse der Gemeinschaft die Aufgabe zufällt, die Ausführung des Vertrages durch die Mitgliedstaaten zu überwachen und etwaige Verstöße gegen vertragliche Verpflichtungen aufzudecken, damit sie abgestellt w e r d e n " . 1 0 8 Aus der Ordnungsfunktion des Vertragsverletzungsverfahrens folgt, daß Art. 226 EGV kein strafrechtlicher Charakter zukommt, weil die Verurteilung des Mitgliedstaates nicht darauf abzielt, diesen wegen einer vertragswidrigen Handlung zu bestrafen. 1 0 9 Des weiteren bezweckt das Verfahren nicht, die durch die Vertragsverletzung des Mitgliedstaates verursachten Schäden auszugleichen, also Schadensersatz zu gewähren, was sich bereits aus der Struktur des Vertragsverletzungsverfahrens ergibt: Dessen Tatbestand knüpft weder an schuldhaftes Handeln des Mitgliedstaates a n , 1 1 0 noch setzt er die Eröffnung einer Gefahrenquelle (Gefährdungshaftung) voraus. 1 1 1 105 P. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 18; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 2. 106 K.-D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 226, Rn. 2; auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 1. Dieser objektive Charakter des Art. 226 EGV zeigt sich schließlich auch an der Stellung des Unionsbürgers im Vertragsverletzungsverfahren: Zwar hat der Unionsbürger die Möglichkeit, die Kommission auf angebliche oder tatsächlich begangene Vertragsverstöße der Mitgliedstaaten hinzuweisen. Er ist jedoch weder berechtigt, vor dem Europäischen Gerichtshof wegen einer mitgliedstaatlichen Vertragsverletzung zu klagen, noch hat er ein subjektives Recht gegen die Kommission auf Einleitung des Vertrags verletzungs Verfahrens. 107 H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 154, 223; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, S. 107 f.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 246 f., 264 ff. los So das Urteil des EuGH, 4. April 1974, Rs. 167/73, Slg. 1974, 359 (369); bestätigt im Urteil des EuGH vom 10. Mai 1995, Rs. C-422/92, Slg. 1995, 1097 (1130 f.); Urteil des EuGH vom 11. August 1995, Rs. C-431 /92, Slg. 1995, 2189 (2219). 109 So auch Κ Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graf, Handkommentar zum EU-Vertrag, 1991, Art. 169, Rn. 13, der von der Unerheblichkeit der Kategorien von Schuld und Vergeltung spricht; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 10, betont, daß das Vertragsverletzungsverfahren nicht die Funktion habe, den Mitgliedstaat „anzuprangern"; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 1; a.A. allerdings W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 3, der als zentrales Anliegen des Vorverfahrens dessen Anprangerungswirkung nennt. 110 Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 265 f. 111 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang noch, daß die Möglichkeit der ex-tunc-Beseitigung des Vertragsverstoßes die Frage einer Wiedergutmachung aufwirft: Ρ Karpenstein, Zur Wiedergutmachung von Vertragsverstößen der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht, DVB1. 1977, 61 ff., ders., in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union,
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht 3. Nebenfolgen
Über das geschilderte Verfahrensziel hinaus hat das Vertragsverletzungsverfahren weitere Wirkungen. Erstens kann es in gewissen Fällen individualschützende Wirkung für den Unionsbürger entfalten. 1 1 2 Der Unionsbürger hat das Recht, der Kommission seiner Auffassung nach vertragswidrige Handlungen der Mitgliedstaaten anzuzeigen. 1 1 3 Wenn die Kommission zur Überzeugung gelangt, daß die Beschwerde berechtigt ist, wird sie die erforderlichen Schritte zur Beseitigung des Vertragsverstoßes einleiten, gegebenenfalls das Vertragsverletzungsverfahren durchführen und so die Rechte des Unionsbürgers schützen. Zweitens hat der Europäische Gerichtshof in mehreren Urteilen entschieden, daß sein Feststellungsurteil Grundlage eines zukünftigen, gegen den Vertragsbrüchigen Mitgliedstaat gerichteten Schadensersatzprozesses sein k a n n . 1 1 4 Art. 169, Rn. 20 ff., mit dem Hinweis darauf, daß es die Kommission im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens nicht als ihre Aufgabe sehe, für die Wiedergutmachung erlittener Schäden zu sorgen. Wenn der Mitgliedstaat lediglich dazu verpflichtet ist, sein rechtswidriges Verhalten für die Zukunft (ex-nunc) abzustellen, wird ihn regelmäßig keine Schadensersatzpflicht treffen. Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn die rechtswidrige Maßnahme von Anfang an (ex-tunc) zu beseitigen ist. In diesen Fall verlangt die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes eine Entschädigung der betroffenen Rechtsperson, die allerdings nicht im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens geltend zu machen ist, sondern im Rahmen eines Amtshaftungsprozesses. 112 H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 67; K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 226, Rn. 2; ders., Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, RI., Rn. 18; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 2. 113 u. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 2; das Beschwerderecht ist eine wichtige Informationsquelle für die Kommission; mehr als die Hälfte aller mitgliedstaatlichen Vertragsverletzungen werden ihr durch dieses Mittel bekannt: so K. D. Borchardt, Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, RI., Rn. 18. Um der großen Bedeutung der Bürgerbeschwerden gerecht zu werden, hat die Kommission trotz des formlosen Charakters des Beschwerdeverfahrens ein Formblatt eingeführt, welches dem Einzelnen die Ausübung seines Beschwerderechts erleichtern soll und der Kommission hilft, der Beschwerde besser nachzugehen: abgedruckt bei K. Hailbronner, in: ders./Klein/ Magiera/Müller-Graf, Handkommentar zum EU-Vertrag, Anhang zu Art. 169, S. 10 f., K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Anlage zu Art. 226.
114 So Urteil des EuGH vom 25. Juli 1991, Rs. C-353/89, Slg. 1991, 4069 (4096); Urteil des EuGH vom 30. Mai 1991, Rs. C-361/88, Slg. 1991, 2567 (2605); K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 226, Rn. 2. Die Bejahung des Rechtsschutzinteresses trotz Erledigung der Hauptsache läßt sich auch in der Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte im Rahmen der Fortsetzungsfeststellungsklage finden. Obwohl die Klage wegen Erledigung der Hauptsache als unzulässig abgewiesen werden müßte, wird das Rechtsschutzinteresse der Klage weiterhin bei folgenden drei Fallgruppen bejaht: (1) das Urteil dient als Grundlage eines zukünftigen Schadensersatz- oder Entschädigungsanspruchs, (2) bei Fällen drohender Wiederholungsgefahr sowie (3) bei Klägerinteresse an Rehabilitation. Dabei entspricht die zuerst genannte Fallgruppe genau der Begründung des Europäischen Gerichtshofs. Zur Fortsetzungsfeststellungsklage und ihrem Rechtsschutzinteresse siehe: F. Kopp/W.-R. Schenke, VwGO, § 113, Rn. 47 ff. (58 ff.); J. Schmitt, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Aufl., 2000, § 113, Rn. 83 ff.
C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
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I I . Die Kommission als Aufsichtsorgan der Europäischen Gemeinschaft In den vier Spiegelstrichen des Art. 211 EGV sind die grundlegenden Aufgaben der Kommission beschrieben. 115 Sie werden von der Lehre wie folgt systematisiert: die Aufgabe zur Rechtsetzungsinitiative hinsichtlich vom Rat zu erlassender Rechtsakte, die Aufgabe der Kontrolle des Gemeinschaftsrechts, die Aufgabe zur eigenen Rechtsetzung, die Aufgabe der Haushaltsführung, die Aufgabe der Fondsverwaltung, die Verantwortlichkeit für die Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft, die Pflicht zur Veröffentlichung der Gesamtberichte, die Wahrnehmung der gerichtlichen Vertretung und die Aufgabe, sich an den Arbeiten im Bereich der dritten Säule „Justiz und Inneres" zu beteiligen. 116 Das Recht/die Pflicht der Kommission zur Aufsicht folgt aus der Aufgabenzuweisung des Art. 211 Spstr. 1 EGV. Danach hat die Kommission für die Anwendung dieses Vertrages sowie der von den Organen auf Grund dieses Vertrages getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen. 117 Das Sorgetragen bezieht sich dabei nicht nur auf die Anwendung des EG-Vertrages durch die Organe der Europäischen Gemeinschaft, sondern, wie sich aus dem Satzanfang von Art. 211 Spstr. 1 EGV ergibt, auf jede dem Gemeinschaftsrecht unterworfene Maßnahme, also auch gegenüber den Mitgliedstaaten und den Unionsbürgern. 118 Damit die Kommission die ihr zugewiesene Aufgabe der Aufsicht wirksam erfüllen kann und in Anbetracht der Unterscheidung zwischen Aufgaben- und Befugnisnormen, enthält der EG-Vertrag zahlreiche, über den ganzen Vertrag verstreute Befugnisnormen: Art. 81 ff. EGV für Kartell- und Fusionskontrollen, Art. 88 EGV im Bereich des Beihilfewesens, das Klagerecht gegen Vertragsbrüchige Mitgliedstaaten aus Art. 226 Abs. 2 EGV, Art. 230 Abs. 2 EGV, welcher die Kommission berechtigt, gegen vertragswidrige Maßnahmen anderer Gemeinschaftsorgane vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen, Art. 284 EGV als Auskunftsrecht. Die Kommission ist nach der Konzeption des EG-Vertrages jedoch nicht das einzige Organ, welches die Aufgabe hat, für die vertragsgemäße Durchführung des 115 Zu den Aufgaben und Befugnissen der Kommission, ihrer Zusammensetzung und ihrer Funktion: H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 352 ff.; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 195 ff.; K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 208 ff.; eine Aufzählung der verschiedenen Aufgabennormen der Kommission findet sich bei: W. Hummer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 155, Rn. 4. ne So M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 203 ff. 117 Der in der Norm verwendete Ausdruck des Sorgetragens wird in der Lehre mit der Aufgabe zur Kontrolle, zur Überwachung oder zur Aufsicht gleichgesetzt: so C.-D. Ehlermann, Die Verfolgung von Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten durch die Kommission, in: FS für Kutscher, 1981, S. 136; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 204; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 323 ff. 118
Siehe W. Hummer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 155, Rn. 8; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 254.
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
Gemeinschaftsrechts zu sorgen. Letztendlich sind alle Organe der Europäischen Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten wegen ihrer Bindung an Recht und Gesetz verpflichtet, insbesondere im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Klagemöglichkeiten, die Vertragsgemäßheit aller Rechtsakte, die ihre Grundlage im Gemeinschaftsrecht haben, zu gewährleisten. 119 So ist das Europäische Parlament berechtigt, die Tätigkeit der Kommission zu kontrollieren. Gemäß Art. 201 Abs. 2 S. 1 EGV ist die Kommission verpflichtet, ihr Amt niederzulegen, wenn ihr das Europäische Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit das Mißtrauen ausspricht. Der Rat, die Kommission und das Europäische Parlament können jederzeit, ohne hierbei die Verletzung eigener Rechte darlegen zu müssen, gegen vertragswidrige Maßnahmen aller anderen Gemeinschaftsorgane vor dem Europäischen Gerichtshof klagen (Art. 230 Abs. 2 EGV, Art. 232 Abs. 1 EGV). Dasselbe Recht haben gemäß Art. 230 Abs. 2 EGV auch die Mitgliedstaaten. Der Rechnungshof und die Europäische Zentralbank sind hierzu befugt, wenn die Klage auf die Wahrung ihrer eigenen Rechte abzielt. Schließlich ist auch der Unionsbürger berechtigt, unter den Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EGV und Art. 232 Abs. 3 EGV gegen vertragswidrige Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen. Gegen Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die ihre Grundlage im Gemeinschaftsrecht haben, kann er vor den nationalen Gerichten klagen.
I I I . Der Mitgliedstaat als beaufsichtigte Person Im Unterschied zu Art. 211 Spstr. 1 EGV, der jede gemeinschaftsrechtlich gebundene Handlung der Aufsicht der Kommission unterwirft, also Rechtsakte anderer Gemeinschaftsorgane, Rechtsakte der Mitgliedstaaten und Handlungen der Unionsbürger, 120 ist Gegenstand des Vertrags Verletzungsverfahrens nach Art. 226 EGV ausschließlich der Vertragsverstoß eines Mitgliedstaates. Als Verursacher einer Vertragsverletzung kommen sämtliche Einrichtungen des betreffenden Mitgliedstaates in Betracht. 121 Hierzu zählen aus deutscher Sicht der Bund genauso wie die Länder und die Kommunen. 122 Fraglich ist, ob der Mitgliedstaat für verH9 R. Bieber, in: Beutler/ders. /Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 117 ff., 129 f.; R. Streinz,, Europarecht, Rn. 256, 314 f. ι 2 0 So auch W. Hummer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 155, Rn. 13; M. Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 211, Rn. 7, mit Hinweis auf das Wettbewerbsrecht hinsichtlich des Adressatenkreises der „Unionsbürger". ι 2 · In diesem Sinne H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 105; P. Karpenstein/V. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 1999, Art. 226, Rn. 18; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4; W Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 27. 122 A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 811; Κ Α. Schachtschneider /A. Emmerich-Frit sehe, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f.
C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
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tragswidrige Handlungen öffentlicher Unternehmen verantwortlich ist. Unabhängig von der Frage, ob es dem Staat überhaupt erlaubt ist, privatrechtlich tätig zu werden, 123 dürfte die Verantwortlichkeit des Mitgliedstaates zu bejahen sein, weil sich der Mitgliedstaat ansonsten durch die Flucht ins Privatrecht seiner gemeinschaftsrechtlich begründeten Pflichten entziehen könnte. 124 Privatisierung darf nicht dazu führen, daß sich der Staat seiner Grundrechtsbindung und seiner Pflicht zur Gemeinschaftstreue entziehen kann. Maßnahmen beliehener Unternehmer dürften gleichfalls den Staat zuzurechnen sein, 125 weil beliehene Unternehmer, genauso wie der Mitgliedstaat selbst, öffentliche Aufgaben wahrnehmen und gesetzes- und grundrechtsgebunden sind. 126 Unabhängig davon, wer den staatlichen Vertragsverstoß begangen hat, ist Verfahrenspartei immer der Mitgliedstaat, vertreten durch seine Regierung. 127 Diese hat innerstaatlich dafür Sorge zu tragen, daß dem Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs Folge geleistet wird. Funktional betrachtet können sowohl Maßnahmen der vollziehenden, der gesetzgebenden als auch der rechtsprechenden Gewalt das Gemeinschaftsrecht verletzen. So mißachten nationale Gerichte das Gemeinschaftsrecht, wenn sie ihrer Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV nicht nachkommen. Ob jedoch jeder Vertragsverstoß Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens sein darf, ist fraglich. 1 2 8 In Anbetracht der richterlichen Unabhängigkeit, des Rechtskraftgrundsatzes und der gewaltenteiligen Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft erscheint es mehr als zweifelhaft, gerichtliche Vertragsverstöße im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens zu verfolgen. Dieser Frage wird in den folgenden Teilen der Arbeit nachgegangen.
123 Grundsätzlich über die Fiskuslehre und mit Kritik hieran: K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 5 ff., 253 ff., 261 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 51 ff., 178 ff., 188 ff. 124 In diesem Sinne auch K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 268; zur Verantwortlichkeit des Mitgliedstaates für private Unternehmen, bei denen der Staat Lenkungs- und Leitungsbefugnisse besitzt: P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 18; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 107 f.; zu dieser Frage auch Urteil des EuGH vom 24. November 1982, Rs. 249/81, Slg. 1982, 4005 (4020 ff.), in welchem der Europäische Gerichtshof das Handeln einer Kapitalgesellschaft, die von der öffentlichen Hand gegründet und großteils finanziert worden war, dem irischen Staat zugerechnet hat. 12 5 Kritisch zur Rechtsfigur der Beleihung K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 240 ff.; 270 ff. 126 Unklar hierzu P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 18; offen lassend H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 108. 127 H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 100; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 26. 128 So auch K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f.
6 Wollenschläger
Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
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IV. Verschiedene Verfahrensabschnitte Seiner Struktur nach enthält Art. 226 EGV zwei unterschiedliche Verfahren: ein außergerichtliches Vorverfahren, welches in Absatz 1 geregelt ist, und die Aufsichtsklage nach Absatz 2. Praktische Bedürfnisse und die Änderung des EG-Vertrages durch den Vertrag von Maastricht 1993 haben dazu geführt, daß neben das Vorverfahren und die Aufsichtsklage zwei weitere Verfahrensabschnitte hinzugetreten sind: der gesetzlich nicht geregelte, so genannte formlose Einigungsversuch, welcher vor der Einleitung des förmlichen Vorverfahrens Platz greift, und das Sanktionsverfahren nach Art. 228 Abs. 2 EGV, welches sich an das gerichtliche Verfahren anschließen kann. Die vier Verfahren sind entsprechend ihrer zeitlichen Abfolge zu erörtern.
1. Formloser Einigungsversuch In der Praxis hat sich eingebürgert, daß die Kommission zuerst versucht, sich formlos mit dem Mitgliedstaat zu einigen, bevor sie das formelle Vorverfahren des Art. 226 Abs. 1 EGV einleitet. 129 Dieser Vorgang geschieht in der Regel dadurch, daß die Kommission Kontakt mit der Regierung des betreffenden Mitgliedstaates aufnimmt und diese über den Vertragsverstoß informiert. Es wird versucht, eine einvernehmliche Lösung zu finden, welche den von der Kommission vorgetragenen Vertragsverstoß beseitigt. 130 Obwohl der Einigungsversuch kein formelles Verfahren ist und die Kommission über keinerlei Eingriffsbefugnisse verfügt, ist diese Vorgehensweise recht erfolgreich. Sie trägt dazu bei, in vielen Fällen die Einleitung der förmlichen Verfahren zu vermeiden, wie folgender Bericht aus dem Jahre 1991 zu verdeutlichen ver_
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mag: „Die EG-Kommission hat im Jahr 1990 weniger Klagen gegen die zwölf Mitgliedstaaten der EG wegen Verletzung der Römischen Verträge ( . . . ) beim EuGH eingeleitet als im Vorjahr. Dies rührt auch daher, daß die Kommission in letzter Zeit bemüht ist, Vertragsverletzungen auf dem Weg der Überzeugung und Verhandlung mit den Regierungen zu lösen, (. · · ) "
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Zu diesem formlosen Einigungs versuch: B. C. Ortlepp, Das Vertrags verletzungs verfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 68; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 75; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 1; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 16. 130 u. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 16. 131 EuZW 1991,547.
C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
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2. Außergerichtliches Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV Das Vorverfahren des Art. 226 Abs. 1 EGV ist ein außergerichtliches Verfahren, 1 3 2 dessen Ziel es ist, den Rechtsstreit gütlich beizulegen.133 Verfahrensparteien sind die Kommission als Vertreterin der Europäischen Gemeinschaft und der Mitgliedstaat, vertreten durch seine Regierung. Das Vorverfahren ist zweigeteilt. 1 3 4 Bevor die Kommission die „mit Gründen versehene Stellungnahme" abgibt, eröffnet sie das Verfahren, indem sie dem Mitgliedstaat „Gelegenheit zur Äußerung" gibt. Dieser erste Schritt besteht darin, daß die Kommission ein Mahnschreiben an den Mitgliedstaat versendet, welcher folgende vier Punkte enthalten muß: Der Mitgliedstaat ist erstens darüber zu informieren, daß gegen ihn offiziell ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet worden ist. Zweitens muß die Kommission die ihrer Auffassung nach relevanten Tatsachen mitteilen. Drittens muß die Kommission unter Angabe der maßgeblichen Normen ihre rechtlichen Überlegungen offenlegen. Viertens ist der Mitgliedstaat aufzufordern, sich zu dem Vorwurf binnen einer bestimmten Frist zu äußern. 135 Der Zweck dieses Verfahrensabschnittes besteht darin, den Verfahrensgegenstand zu bestimmen 136 und dem Mitgliedstaat die zur Vorbereitung seiner Verteidigung erforderlichen Angaben bekanntzumachen.137 Weiterhin soll dem Mitgliedstaat Gelegenheit gegeben werden, Stellung zu dem behaupteten Vertragsverstoß zu nehmen, ihm also rechtliches Gehör zu gewähren, 138 weshalb dieser Verfahrensabschnitt in der Lehre auch als Anhörungsverfahren bezeichnet wird. 1 3 9
132 Ausführliche Beschreibungen über das Vorverfahren findet sich bei: Β. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht S. 67 ff.; P. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 5 ff.; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 76 ff.; Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 269 ff.; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 5 ff.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 17 ff. 133 Κ Α. Schachtschneider /Α. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 269 f. 134 Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 269; W Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 5 ff.; auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 17, der unter Einbeziehung der Äußerung des Mitgliedstaates von einer Dreiteilung spricht. 135 W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 11 f.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 19. 136 Urteil des EuGH vom 11. Juli 1984, Rs. 51/83, Slg. 1984, 2793 (2804); Urteil des EuGH vom 28. März 1985, Rs. 274/83, Slg. 1985, 1077 (1090); Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 269 f.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 20. 137 Urteil des EuGH vom 15. Dezember 1982, Rs. 211/81, Slg. 1982, 4547 (4557); Urteil des EuGH vom 28. März 1985, Rs. 274/83, Slg. 1985, 1077 (1090); W. Cremer, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 6.
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
Zweiter Abschnitt des Vorverfahrens ist die Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme.140 Sie wird erforderlich, wenn der Mitgliedstaat entweder ablehnend auf das Mahnschreiben reagiert und dem behaupteten Vertragsverstoß nicht abhilft oder wenn er nicht innerhalb der gesetzten Frist auf das Mahnschreiben reagiert hat. Aus der mit Gründen versehenen Stellungnahme muß sich das beanstandete Fehlverhalten eindeutig ergeben. 141 In ihr wird der Mitgliedstaat abermals aufgefordert, binnen einer bestimmten Frist den Vertragsverstoß zu beseitigen. Wenn der Mitgliedstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht nachkommt und die gesetzte Frist ergebnislos verstreichen läßt, ist die Kommission berechtigt, gemäß Art. 226 Abs. 2 EGV zu klagen. 142 Durch die mit Gründen versehene Stellungnahme wird der zulässige Streitgegenstand einer späteren Aufsichtsklage festgelegt. Der Europäische Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang entschieden, daß der Gegenstand der Klage nicht über den im Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV bezeichneten Gegenstand hinausgehen darf. 143 Des weiteren ist die ordnungsgemäße Durchführung des Vorverfahrens Sachurteilsvoraussetzung der Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV. 1 4 4 In tatsächlicher Hinsicht ist darauf hinzuweisen, daß das Vorverfahren von überragender Bedeutung für den Schutz des Gemeinschaftsrechts ist. 1996 etwa wur138 Urteil des EuGH vom 11. Juli 1984, Rs. 51/83, Slg. 1984, 2793 (2804); Urteil des EuGH vom 28. März 1985, Rs. 274/83, Slg. 1985, 1077 (1090); auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 18. 139 F. Emmert, Europarecht, S. 227. 140 W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 15 ff.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 22 ff. 141
Zu den Voraussetzungen der mit Gründen versehenen Stellungnahme, insbesondere zur Substantiierungspflicht und zum Kontinuitätsgebot, hat sich der Europäische Gerichtshof in zahlreichen Judikaten geäußert: Urteil des EuGH vom 15. Dezember 1982, Rs. 211 / 81, Slg. 1982, 4547 (4558 f.); Urteil des EuGH vom 08. Februar 1983, Rs. 124/81, Slg. 1983, 203 (233); Urteil des EuGH vom 28. März 1985, Rs. 274/83, Slg. 1985, 1077 (1090 f.); auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 23. 142 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Kommission, abweichend von der Regelung des Art. 226 Abs. 1 EGV, in bestimmten Fällen befugt ist, den Gerichtshof unmittelbar anzurufen, ohne ein Vorverfahren durchführen zu müssen: So befugt Art. 88 Abs. 2 S. 2 EGV die Kommission, bei rechtswidrigen Beihilfen eines Mitgliedstaates unmittelbar vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen. Nach Art. 95 Abs. 9 EGV kann die Kommission den Europäischen Gerichtshof unmittelbar anrufen, wenn sie der Auffassung ist, daß ein Mitgliedstaat die in Art. 95 EGV enthaltene Befugnis, einzelstaatliche Bestimmungen aufrecht zu erhalten, die gegen die Harmonisierungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft verstoßen, mißbraucht. Art. 298 S. 2 EGV berechtigt die Kommission gleichfalls, den Europäischen Gerichtshof unmittelbar anzurufen, wenn auf dem Gemeinsamen Markt die Wettbewerbsbedingungen durch Maßnahmen aufgrund der Art. 296, 297 EGV seitens der Mitgliedstaaten verfälscht werden. 143 Urteil des EuGH vom 9. Dezember 1981, Rs. 193/80, Slg. 1981, 3019 (3032); Urteil des EuGH vom 5. Oktober 1989, Rs. 290/87, Slg. 1989, 3101 (3103 f.); P. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 38 ff.; Κ Α. Schachtschneider /Α. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 269 ff. 144 w. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 29.
C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
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den von der Kommission 1142 formelle Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 E G V eingeleitet, jedoch nur in 92 Fällen Klage erhoben. 1 4 5 Mehr als 90% aller Fälle wurden somit außergerichtlich erledigt.
3. Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 E G V Wenn der Mitgliedstaat die ihm zur Last gelegte Vertragsverletzung i m Laufe des Vorverfahrens nicht beseitigt, ist die Kommission gemäß Art. 226 Abs. 2 E G V berechtigt, den Europäischen Gerichtshof anrufen. Dieser entscheidet über die Klage, indem er nach Art. 228 Abs. 1 EGV in seinem Urteil feststellt, daß der M i t gliedstaat gegen Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht verstoßen oder nicht verstoßen hat. In Einzelfallen gibt er über die Feststellung hinaus Hinweise, wie seinem Urteil Folge geleistet werden kann. Die Kassation der rechtswidrigen Maßnahme ist ihm nicht gestattet. 1 4 6 Die Sachurteilsvoraussetzungen der Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. sind teilweise unmittelbar i m EG-Vertrag geregelt (so verlangt Art. 226 EGV, daß ein Vorverfahren durchzuführen ist), teilweise folgen sie aus der rensordnung des Europäischen Gerichtshofs (etwa die Schriftform der Schließlich sind allgemeine prozessuale Rechtsgrundsätze maßgeblich. 1 4 7
2 EGV Abs. 1 VerfahKlage).
145 Hierzu der Quatorzième rapport annuel sur le contròie de l'application du droit communautaire (1996), S. 145. 146 So auch Μ. Schweitzer /W. Hummer, Europarecht, Rn. 471. Im Unterschied zur Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV, die bei begründeter Klage die Nichtigkeitserklärung der angefochtenen Handlung durch den Europäischen Gerichtshof zur Folge hat (Art. 231 Abs. 1 EGV), sieht Art. 228 Abs. 1 EGV für die Aufsichtsklage eine solche Rechtsfolge nicht vor. Der Grund hierfür liegt darin, daß es dem Europäischen Gerichtshof zwar erlaubt ist, Akte der Gemeinschaftsorgane aufzuheben, daß er wegen der Souveränität der Mitgliedstaaten jedoch nicht das Recht besitzt, nationale Rechtsakte für nichtig zu erklären. Die Aufhebung des nationalen Rechtsaktes bleibt dem Mitgliedstaat vorbehalten. 147 Ausführliche Darstellungen der Zulässigkeitsvoraussetzungen finden sich bei: H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, 3. Aufl., 1983, Art. 169, Rn. 8 ff.; B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 90 ff.; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 70 ff.; W. Cremer, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 25 ff. Weil die Sachurteilsvoraussetzungen der Aufsichtsklage für die Gemeinschaftsaufsicht keine große Bedeutung haben, sei auf sie nur kurz eingegangen: (1) Zuständiges Gericht für Aufsichtsklagen ist ausschließlich der Europäische Gerichtshof, niemals der Gerichtshof erster Instanz. (2) Die Parteien des Verfahrens sind die Kommission auf der Klägerseite, der Mitgliedstaat als Beklagter. (3) Als privilegiert Klageberechtigte ist die Kommission befugt, jeden Vertragsverstoß zu verfolgen. Die Verletzung eigener Rechte muß sie nicht darlegen. (4) Die erfolgreiche Klage verlangt, daß das Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV ordnungsgemäß durchgeführt worden ist. (5) An Formerfordernissen ist Art. 19 Satzung des Europäischen Gerichtshofs i.V.m. Art. 37, 38 der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs zu beachten, der Schriftform der Klage verlangt. (6) Das Gemeinschaftsrecht sieht keine Fristen für die Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV vor. (7) Der Grundsatz des Rechtsschutzinteresses verlangt, daß der Streitgegenstand noch nicht erledigt ist.
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
Die Aufsichtsklage ist begründet, wenn ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen h a t . 1 4 8 Als Klägerin ist die Kommission für die von ihr behaupteten Tatsachen beweispflichtig. Das in Art. 226 Abs. 1 E G V aufgezählte Tatbestandsmerkmal des Verstoßens gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag ist weit auszulegen. Darunter fallen alle Verstöße gegen diesen Vertrag, den EG-Vertrag, als auch jede weitere Verletzung des Gemeinschaftsrechts. 149 Verletztes Recht kann deshalb sein: Primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze, 150 kommunitäres Gewohnheitsrecht und völkerrechtliche Verträge der Europäischen Gemeinschaft. 1 5 1 Das Gemeinschaftsrecht kann sowohl durch ein Tun als auch durch ein Unterlassen verletzt werden. 1 5 2 Klassische Beispiele hierfür sind: die Nicht- und / oder Falschumsetzung von Richtlinien durch die nationalen Gesetzgebungsorgane, 153 die Verletzung der Vorlagepflicht in Art. 234 Abs. 3 E G V durch nationale Gerichte oder die Nichtanwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte der Mitgliedstaaten, die Nichtbeachtung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften durch nationale Behörden beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts. Schließlich setzt der Vertragsverstoß i m Sinne des Art. 226
148 In Anlehnung an diese textliche Vorgabe ist nach einer in der Literatur gängigen Formulierung die Klage nach Art. 226 Abs. 2 EGV begründet, wenn die von der Kommission behaupteten Tatsachen zutreffen und sich aus diesen Tatsachen ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ergibt, welcher dem Mitgliedstaat zugerechnet werden kann: L.-J. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I, 1977, S. 886 f.; Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 97 f.; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn, 53; P. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 68; Κ D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 226, Rn. 28; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 21; B. C. W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 33; auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 34 f. 149 So die ganz allgemeine Meinung: H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 109; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 468; H. G. Fischer, Europarecht, S. 171; F. Emmert, Europarecht, S. 234 f.; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 54; Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 265 ff.; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 3. 150 Zur Problematik der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Prüfungsmaßstab des Europäischen Gerichtshofs aus demokratischer und gewaltenteiliger Sicht K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Die Gerichtsbarkeit, in: Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2004, S. 228 ff.; zum Inhalt derselben: A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 571 ff. 151 H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 109; Κ Α. Schachtschneider/ Α. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 265 f. 152 Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 265 f. 153 Eine fehlerhafte Umsetzung hat der Europäische Gerichtshof bereits für den Fall angenommen, daß der Mitgliedstaat eine Richtlinie nur durch Verwaltungsvorschriften und nicht in adäquater Rechtsform, nämlich durch Rechtsnormen, umgesetzt hat: Urteil des EuGH vom 30. Mai 1991, Rs. C-361 / 88, Slg. 1991, 2567 (2597 ff.).
C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
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EGV kein Verschulden voraus. 154 Gegen den Vorwurf der Vertragsverletzung kann sich der Mitgliedstaat deshalb nur in zweierlei Weise verteidigen: Er kann erstens anführen, daß der zugrunde gelegte Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht nicht zutrifft. Zweitens kann er vortragen, daß seine Maßnahme aus rechtlichen Gründen keinen Vertragsverstoß darstellt. 155 Weitere Einwände hat der Europäische Gerichtshof im Hinblick auf die Funktion des Vertragsverletzungsverfahrens als unzulässige Verteidigungsmittel abgelehnt, so etwa das Vorbringen des verklagten Mitgliedstaates, daß auch andere Mitgliedstaaten in gleicher Weise gegen den Vertrag verstoßen hätten, 156 oder den Einwand, daß innerstaatliche Umstände politischer, rechtlicher oder tatsächlicher Art der Einhaltung des Gemeinschaftsrecht entgegenstehen würden. 157 4. Sanktionsverfahren nach Art. 228 Abs. 2 EGV Die erfolgreiche Aufsichtsklage endet damit, daß der Europäische Gerichtshof gemäß Art. 228 Abs. 1 EGV ein Urteil erläßt, in welchem er die Vertragsverletzung des verklagten Mitgliedstaates feststellt. Das Feststellungsurteil ist seiner Natur nach nicht vollstreckungsfähig. 158 Nach Art. 228 Abs. 1 EGV ist der Mitgliedstaat jedoch dazu verpflichtet, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofes ergeben. Wenn er dieser Pflicht nicht nachkommen sollte, tritt das Vertragsverletzungsverfahren in eine vierte Stufe ein: Vor dem Inkrafttreten des Maastrichtvertrages 1993 bestand mangels anderweitiger Regelungen nur die Möglichkeit, eine neue Aufsichtsklage zu erheben. Gegenstand dieses zweiten Verfahrens war die Nichtbeachtung des Urteils der ersten Feststellungsklage.159 Weil jedoch auch das zweite Vertrags verletzungs verfahren nur zur Feststellung einer vertragswidrigen Handlung geführt hätte und tatsächlich auch dazu geführt hat, nämlich daß der Mitgliedstaat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs mißachtet hat, wurde in der Literatur diskutiert, ob bei systematischer und wiederholter Ver154 So B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 103 ff.; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 110\H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 60; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 468; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 266. 155 w. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 34; auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 35. 156 Urteil des EuGH vom 26. Februar 1976, Rs. 52/75, Slg. 1976, 277 (285). 157 Urteil des EuGH vom 05. Mai 1970, Rs. 77/69, Slg. 1970, 237, (243); Urteil des EuGH vom 02. Dezember 1980, Rs. 42/80, Slg. 1980, 3635 (Rn. 4). 158 U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 228 EGV, Rn. 1. 159 Hierzu B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht S. 132; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Aufl., 1991, Art. 171, Rn. 8; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 228 EGV, Rn. 8.
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tragsverletzung nicht der Rückgriff auf die völkerrechtlichen Instrumente der Retorsion 160 und Repressalie 161 erlaubt sei. 1 6 2 Wegen der Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung wurde ein solcher Rückgriff meist abgelehnt.163 Die Hoffnungen stützen sich vielmehr darauf, daß kein Mitgliedstaat es wagen würde, sich den Aufforderungen des Europäischen Gerichtshofs zu widersetzen. Daß diese Hoffnung trog, zeigt die mehrfache Durchführung sogenannter zweiter Vertragsverletzungsverfahren. 164 Dieser unbefriedigenden Lage wurde im Maastricht-Vertrag Rechnung getragen. Artikel 228 EGV wurde erweitert. Der neu aufgenommene Absatz 2 der Norm verleiht der Kommission nunmehr das Recht, nicht nur wegen der Nichtbeachtung des Gerichtsurteils noch einmal vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen, sondern darüber hinaus in diesem Verfahren den Antrag auf Zahlung eines Pauschalbetrages oder Zwangsgeldes zu stellen. 165
V. Aufsichtsgegenstand Nach dem Wortlaut des Art. 226 Abs. 1 EGV ist Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens der Verstoß eines Mitgliedstaates gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag. In Anlehnung an diesen Wortlaut läßt sich in der Lehre häufig die Aussage finden, daß die Rechtsakte aller drei Funktionsbereiche Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens sein können. 166 Es wird formuliert: „Dem Mitglied160
Zum Begriff der Retorsion: A. Verdross /Β. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1335; Κ Doehring, Völkerrecht, 1999, Rn. 1025 ff. Hierunter werden im Völkerrecht unfreundliche, aber dem Volkerrecht nicht widersprechende Maßnahmen eines Staates gegen einen anderen betrachtet, wie zum Beispiel der Abbruch diplomatischer Beziehungen oder die Einstellung vertraglich nicht geschuldeter Leistungen (Entwicklungshilfe). 161 A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1342, definieren eine Repressalie als den Rechtseingriff eines in seinen völkerrechtlichen Rechten verletzten Staates in einzelne Rechtsgüter jenes Staates, der ihm gegenüber den Unrechtstatbestand gesetzt hat, um ihn zur Wiedergutmachung des Unrechts zu bewegen; auch K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 1029 ff. Der Unterschied zwischen Retorsion und Repressalie besteht darin, daß erste schon tatbestandsmäßig keine Volkerrechtsverletzung darstellt, während die Repressalie zwar auf der Tatbestandsebene gegen das Völkerrecht verstößt, dieser Verstoß aber eine Rechtfertigung findet. 162 Hierzu P. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 171, Rn. 36 ff.; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 171, Rn. 8.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 689; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 628. 163 So beispielsweise H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 171, Rn. 8; J. Schwarze, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, EuR 1983, 22; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 689; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 628. 164 So etwa das Urteil des EuGH vom 13. Juli 1972, Rs. 48/71, Slg. 1972, 529 (533 f.); Urteil des EuGH vom 15. Oktober 1985, Rs. 281/83, Slg. 1985, 3397 (3407). 165 Zur Anwendung dieser Norm: EuZW 1997, 194, wo Beispiele hinsichtlich der Verhängung des Zwangsgelds seitens der Kommission aufgeführt sind; auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 228 EGV, Rn. 9 ff.
C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
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Staat ist das Verhalten jedes seiner Organe zurechenbar." 167 Gegen eine solche pauschale Betrachtungsweise bestehen erhebliche Einwände. Erstens ist zu bedenken, daß die einheitliche Betrachtung der mitgliedstaatlichen Staatsgewalt in Art. 226 EGV dem fortgeschrittenen Integrationsstand und damit der gewaltenteiligen Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft nicht mehr gerecht wird. 1 6 8 Daneben gilt es, die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte und den rechtsstaatlichen Grundsatz der Rechtskraft zu achten. 169 Die starke Verzahnung der nationalen mit der europäischen Rechtsprechung durch Art. 234 EGV hat in der Lehre sogar zu der Auffassung geführt, daß die nationalen Gerichte, wenn sie Gemeinschaftsrecht auslegen und anwenden, nicht mehr mitgliedstaatliche, sondern europäische Hoheitsgewalt ausüben.170 Als gemeinschaftsrechtliche Rechtsakte seien diese nationalen Gerichtsurteile aber kein tauglicher Gegenstand der Aufsicht nach Art. 226 EGV. 1 7 1 Gegen die unterschiedslose Einordnung der mitgliedstaatlichen Rechtsakte spricht zweitens die Einleitungspraxis der Kommission im Vertragsverletzungsverfahren: Die Kommission legt nicht bei allen Vertragsverstößen dieselben Kriterien an. Vielmehr unterscheidet sie danach, welcher Funktionsbereich der nationalen Staatsgewalt betroffen ist. In bezug auf die rechtsprechende Gewalt hat die Kommission ausdrücklich erklärt, daß sie ein Einschreiten erst dann für zulässig erach166
H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 105; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 27 f. 167 R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4. 168
J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 389 f.; Η. W. Daig , in G / B / T / E Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; Κ A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f. 169 K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f.; auch H. W. Daig, in G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a. 170 So etwa: J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 389 f.; in diese Richtung auch: Μ. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 43\ H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 10, welcher die nationalen Gerichte als Gemeinschaftsgerichte im funktionellen Sinne bezeichnen, wenn diese Gemeinschaftsrecht anwenden. 171 So etwa: J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 389, wo es heißt (Übersetzung des Verfassers): „Diese Gerichte (seil.: die Rechtsprechungsorgane der Mitgliedstaaten) sind Teil der europäischen Rechtsordnung. Wir sollten deshalb zu dem Ergebnis kommen, daß die Entscheidung eines nationalen Richters im Anwendungsbereich von Gemeinschaftsnormen oder bei der Gültigkeit von Akten der Gemeinschaftsorgane, oder allgemeiner, daß ein Urteil, welches Gemeinschaftsrecht anwendet, als solches niemals als Verstoß eines Mitgliedstaates betrachtet werden kann. Mögliche Konflikte über Auslegungsunterschiede oder Rechtsprechungskonflikte müssen mit anderen Mitteln (als dem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV) gelöst werden ( . . . )".
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tet, wenn der gerichtliche Vertragsverstoß auf offensichtlicher Unkenntnis oder einer bewußten Haltung des Richters beruhe. 172 Dieser Position der Kommission ist Rechnung zu tragen. Sie verlangt eine klare Abgrenzung und Definition der verschiedenen Funktionsbereiche der mitgliedstaatlichen Staatsgewalt.173 Schließlich sind die unterschiedlichen Einwirkungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten auf die drei Funktionsbereiche zu sehen: Während die nationalen Regierungen als Vertreter des Mitgliedstaates unter Beachtung verfassungsrechtlicher Prinzipien, wie des Vertrauensschutzprinzips (vgl. §§ 48 f. VwVfG), berechtigt sind, die nationalen Behörden anzuweisen, vertragswidrige Rechtsakte aufzuheben, besteht ein solches Weisungsrecht gegenüber der gesetzgebenden Gewalt und der Rechtsprechung nicht. Die Regierung ist nicht berechtigt, vertragswidrige Gesetze aufzuheben; allerdings kann sie gemäß Art. 76 Abs. 1 EGV Gesetzes vorlagen im Bundestag einbringen, die die Aufhebung oder Änderung des vertragswidrigen Gesetzes bezwecken. Gegen vertragswidrige Gerichtsurteile, die in Rechtskraft ergangen sind, haben die nationalen Regierungen keinerlei Handhabe.
1. Vollziehende Gewalt Grundsätzlich stößt die Befugnis der Kommission, Aufsicht über die vollziehende Gewalt der Mitgliedstaaten auszuüben, auf keine Bedenken. 174 Aus föderativer Sicht ist diese Befugnis der Kommission vielmehr ein notwendiges Rechtsinstrument der Zuständigkeitsordnung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten. Die Behörden der Mitgliedstaaten vollziehen das Gemeinschaftsrecht in großem Umfang. 175 Die Aufsichtsbefugnis der Kommission soll ge172
AB1EG. der Europäischen Gemeinschaften vom 31. Januar 1979, Nr. C 28/9; eine ausführliche Darstellung dieser Position findet sich in Kapitel 4. 173 Mangels Klage hat sich der Europäische Gerichtshof noch nicht zur Auffassung der Kommission äußern können. Es wäre wünschenswert, wenn die Kommission ihre Auffassung durch den Europäischen Gerichtshof bestätigen ließe. Mit einer gegen einen nationalen Rechtsprechungsakt gerichteten Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV ist jedoch in Zukunft nicht zu rechnen, weil es die Kommission bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht für notwendig erachtet hat, ihre nunmehr seit beinahe 20 Jahren bestehende Rechtsauffassung einer Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof zu unterziehen. 174
K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 213 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303. 175 Zum so genannten unmittelbaren mitgliedstaatlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechts: W. Hummer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 155, Rn. 7; H. G. Fischer, Europarecht, S. 148. Abzugrenzen ist der mitgliedstaatliche Vollzug zum bereits erwähnten gemeinschaftsunmittelbaren Vollzug. Beim mitgliedstaatlichen Vollzug wiederum wird zwischen dem sogenannten unmittelbaren und dem mittelbaren mitgliedstaatlichen Vollzug unterschieden. Unmittelbarer mitgliedstaatlicher Vollzug liegt vor, wenn das Gemeinschaftsrecht unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbar und eine Umsetzung in das nationale Recht nicht erforderlich ist. Von mittelbarem mitgliedstaatlichen Vollzug ist dann die Rede, wenn der Vollzug des Gemeinschaftsrecht durch die nationalen Behörden noch des
C. Das Vertrags verletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
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währleisten, daß die nationalen Behörden das Gemeinschaftsrecht vertragsgemäß vollziehen. Der existentiellen Staatlichkeit der Mitgliedstaaten wird dadurch Rechnung getragen, daß die Kommission nicht befugt ist, die vertragswidrig handelnde nationale Behörde unmittelbar anzuweisen,176 sondern daß sich das Aufsichtsrecht gegen den Mitgliedsstaat als Ganzes richtet, dessen Regierung innerstaatlich für die Ausführung der Aufsichtsmaßnahmen verantwortlich ist. Wie ein bundesstaatlich aufgebauter Mitgliedstaat den Anweisungen der Kommission oder dem Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs nachkommt, einen vertragswidrigen Verwaltungsakt zu beseitigen, soll am Beispiel Deutschlands aufgezeigt werden: Die Korrektur vertragswidriger Verwaltungsakte, die von einer Bundesbehörde erlassen worden sind, können wegen der Weisungsgebundenheit der Bundesbehörden durch Anweisung des jeweiligen Fachministers des Bundes veranlaßt werden. 177 Gegenüber vertragswidrigen Verwaltungsakten, die von einer Landesbehörde erlassen worden sind, besteht ein solches Weisungsrecht des Bundesministers nicht. Der Landesminister ist jedoch gleichfalls an das Gemeinschaftsrecht gebunden und verpflichtet, durch Anweisung für die Aufhebung des vertragswidrigen Verwaltungsaktes zu sorgen. Wenn der Minister des Landes sich weigern sollte, seine Landesbehörde zur Berichtigung des vertragswidrigen Verwaltungsaktes anzuweisen, bleibt dem Bund nur das Instrument der Bundesaufsicht, um dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs Geltung zu verschaffen. Nach allgemeiner Meinung ist Gegenstand der Bundesaufsicht auch das Gemeinschaftsrecht, 178 so daß der Bund berechtigt ist, im Rahmen der Bundesaufsicht nach Art. 84 GG das Land zur Beseitigung des vertragswidrigen Verwaltungsaktes anzuhalten. Auch aus gewaltenteiliger Sicht ist es unbedenklich, daß ein Gemeinschaftsorgan der vollziehenden Gewalt Aufsicht über die Handlungen der vollziehenden Gewalt der Gliedstaaten ausübt; denn die nationalen Behörden genießen im Unterschied zu den nationalen Rechtsprechungsorganen keine Unabhängigkeit. Erlasses eines weiteren nationalen Rechtsaktes bedarf: H. G. Fischer Europarecht, S. 148; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 427 f. Paradebeispiel für umsetzungsbedürftiges Gemeinschaftsrecht sind gemäß Art. 249 Abs. 3 EGV die gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien. 176 So W. Hummer, in Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 155, Rn. 7; K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 213 ff.; in diesem Zusammenhang wurde in der Lehre unter Außerachtlassung der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten vorgeschlagen, der Kommission ein Weisungsrecht über die Verwaltungen der Mitgliedstaaten zuzugestehen: C.-D. Ehlermann, Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft - Rechtsprobleme der Erweiterung, der Mitgliedschaft und der Verkleinerung, EuR 1984, S. 119 ff., mit dem Argument daß Weisungsrechte der Kommission die Effizienz und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten stärken würden; allgemein hierzu auch B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 91. 177 Zum Prinzip der Weisungsgebundenheit in der Verwaltung: W. Thieme, Verwaltungslehre, S. 164; H. Lecheler, Verwaltungslehre, S. 247 ff. i™ P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 83, Rn. 51, Art. 84, Rn. 158; W Blümel, Verwaltungszuständigkeiten, in: HStR, Finanzverfassung. Bundesstaatliche Ordnung, Bd. IV, 1990, § 101, Rn. 44; A. Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 84, Rn. 27.
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Grenzen der Aufsicht ergeben sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. So kann etwa das rechtsstaatliche Element des Vertrauensschutzes der Aufhebung eines vertragswidrigen nationalen Verwaltungsaktes entgegenstehen.179
2. Gesetzgebung Auch die Befugnis der Kommission zur Aufsicht über die Legislative der Mitgliedstaaten ist grundsätzlich nicht zu beanstanden.180 Ihre Rechtfertigung folgt gleichfalls aus der Zuständigkeitsordnung der Europäischen Gemeinschaft, nach welcher die Organe der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Gemeinschaftsrecht, etwa Richtlinien, in nationales Recht umzusetzen.181 Weiterhin ist die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten anzuführen, die Gebundenheit der nationalen Gesetzgebungsorgane an das Gemeinschaftsrecht und die Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten als Grundpfeiler der Europäischen Gemeinschaft. 182 Ungeklärt ist jedoch die Reichweite der Gemeinschaftsaufsicht über die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten, insbesondere die Frage, ob die Kommission das Recht hat, vom Mitgliedstaat die Aufhebung eines vertragswidrigen Gesetzes zu verlangen. Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht ist durch den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gekennzeichnet. Danach ist vertragswidriges nationales Recht gegenüber anderslautendem Gemeinschaftsrecht unanwendbar, nicht aber nichtig. 183 Demgemäß hat die vertragswidrige nationale 179
Ausführlich hierzu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 402 ff. (419 ff.), mit Hinweis auf die Relativierung dieses Prinzips durch das Europäische Gemeinschaftsrecht; auch H.-U. Erichsen, Das Verwaltungshandeln, in: ders. (Hrsg.) Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1998, § 17, Rn. 11. 180 Urteil des EuGH vom 05. Mai 1970, Rs. 77/69, Slg. 1970, 237 (243); Urteil des EuGH vom 26. Februar 1976, Rs. 52/75, Slg. 1976, 277 (285); K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 214 f. 181 K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f.; M. Zuleeg, in: Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Art. 10 EG, Rn. 5; H. D. Jarass/S. Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 6 ff. 182 Zur Bedeutung der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten siehe Urteil des EuGH vom 07. Februar 1979, Rs. 128/78, Slg. 1979, 419 (429): „Stört ein Staat aufgrund der Vorstellung, die er sich von seinem nationalen Interesse macht, einseitig das mit der Zugehörigkeit verbundene Gleichgewicht zwischen Vorteilen und Lasten, so stellt dies die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor dem Gemeinschaftsrecht in Frage und schafft Diskriminierungen für deren Staatsangehörige. Ein solcher Verstoß gegen die Pflicht zur Solidarität, welchen die Mitgliedstaaten durch ihren Beitritt zur Gemeinschaft übernommen haben, beeinträchtigt die Rechtsordnung der Gemeinschaft bis in ihre Grundfeste". 183 So auch M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaft im innerstaatlichen Recht, S. 126 ff.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 168 ff. (200); K. A. Schachtschneider/A. Em-
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Norm bei rein innerstaatlichen Rechtsstreitigkeiten weiterhin Geltung, was einem Recht der Kommission gegenüber dem Mitgliedstaat auf Aufhebung der vertragswidrigen Norm entgegenstehen d ü r f t e . 1 8 4 In zwei Urteilen hat der Europäische Gerichtshof bisher ausdrücklich zur Aufsicht der Kommission über die Gesetzgebungsorgane der Mitgliedstaaten Stellung bezogen und deren Zulässigkeit bejaht. Streitgegenstand beider Urteile waren Versäumnisse der nationalen Gesetzgebungsorgane: „Die Verantwortlichkeit eines Mitgliedstaates nach Art. 169 besteht unabhängig davon, welches Staatsorgan durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß verursacht hat, selbst wenn es sich um ein verfassungsmäßig unabhängiges Organ handelt." 185 „Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die Verantwortlichkeit des Mitgliedstaates unabhängig davon besteht, welches Staatsorgan durch sein Handeln den Verstoß verursacht hat, und daß sich die Mitgliedstaaten nicht auf Bestimmungen, Übungen und Umstände des innerstaatlichen Rechts berufen können, um damit die Nichtbeachtung von Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen, die in den Richtlinien der Gemeinschaft festgelegt sind/' 1 8 6 Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof hat in seinem Plädoyer in der erstgenannten Rechtssache gleichfalls die Rechtmäßigkeit der Aufsicht über die Legislativorgane der Mitgliedstaaten betont: merich-Fritsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, S. 117 ff.; H. D. Jarass/S. Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 2 ff. 184 Im Unterschied hierzu v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2002, Art. 10, Rn. 38 ff.; H. D. Jarass/S. Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 2 ff., die eine Pflicht des Mitgliedstaates zur Aufhebung oder zur Änderung nationaler Gesetze bejahen, die gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen. 185 Urteil des EuGH vom 5. Mai 1970, Rs. 77/69, Slg. 1970, 237 (243). Im vorliegenden Fall handelte es sich um den Nichterlaß eines Gesetzes, welches eine steuerrechtliche Ungleichheit zwischen inländischer und eingeführter Ware (ausländisches Holz und Holzverarbeitungsprodukte) beseitigt hätte. Die Beklagte bestritt die Ungleichbelastung nicht. Sie wies jedoch darauf hin, daß das Gesetz wegen der Auflösung des Parlaments nicht rechtzeitig habe verabschiedet werden können. Zur Verteidigung wurde angeführt, daß die Regierung nur in der Form der Gesetzesinitiative auf das Parlament einwirken könne, was sie getan habe. Wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung stehe der Regierung kein anderes Eingriffsmittel als das ausgeübte zur Verfügung. Sie sehe sich einem Fall der höheren Gewalt gegenüber, für den sie nicht verantwortlich sei. Der Europäische Gerichtshof hat diese Argumentation nicht gelten lassen und festgestellt, daß das Königreich Belgien gegen seine Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat. 186 Urteil des EuGH vom 26. Februar 1976, Rs. 52/75, Slg. 1976, 277 (285). In diesem Fall war Streitgegenstand eine nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie. Italien versuchte sich mit der Argumentation zu verteidigen, daß die Frist wegen der Komplexität der Materie zu kurz gewesen sei und deshalb kein Mitgliedstaat die Frist eingehalten habe. Weiterhin führte Italien aus, daß der Entwurf, als er endlich dem Parlament vorgelegen habe, wegen einer Regierungskrise nicht verabschiedet worden sei. Der Europäische Gerichtshof hat auch in diesem Fall die Argumente der Beklagten nicht gelten lassen und in seinem Urteil festgestellt, daß die Republik Italien einen Verstoß gegen den EG-Vertrag begangen hat.
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht „Gewiß sind deren Gesprächspartner gemäß der in den internationalen Beziehungen herkömmlichen Praxis nur die Regierungen; hieraus folgt aber nicht, daß nur Handlungen oder Unterlassungen der Exekutive und der ihr unterstehenden Behörden Verstöße im Sinne von Art. 169 dieses Vertrages sein können. Solche Verstöße können vorliegen, wenn ein Mitgliedstaat den ihm obliegenden Verpflichtungen nicht nachkommt; es braucht nicht geprüft zu werden, auf welches seiner Organe die ihm vorgeworfenen Nichterfüllung zurückgeht." 187
Auf folgende Besonderheit der Gemeinschaftsaufsicht über die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten ist hinzuweisen: Die aus der Gewaltenteilung folgende verfassungsrechtliche Selbständigkeit der nationalen Gesetzgebungsorgane gegenüber der vollziehenden Gewalt erlaubt weder, die Zweckmäßigkeit eines nationalen Gesetzes zu überprüfen (Fachaufsicht), noch die Erteilung von Weisungen an die Gesetzgebung durch die nationalen Regierungen oder die europäische Kommission. Wenn der Europäische Gerichtshof festgestellt haben sollte, daß ein nationales Gesetzgebungsorgan vertragswidrig gehandelt hat, sei es, daß ein Gesetz, welches erlassen hätte werden müssen, nicht erlassen worden ist, sei es, daß ein bereits erlassenes Gesetz mit dem EG-Vertrag unvereinbar ist, 1 8 8 ist der Mitgliedstaat verpflichtet, den vertragswidrigen Zustand zu beseitigen. Die Möglichkeiten der Bundesregierung bestehen darin, gemäß Art. 76 Abs. 1 GG eine Gesetzes vorläge einzubringen mit dem Ziel, ein bestimmtes Gesetz verabschieden oder ein vertragswidriges Gesetz aufheben zu lassen. Die Regierung darf jedoch weder das vertragswidrige Gesetz aufheben, noch selbst ein Gesetz erlassen. Darüber hinaus verbietet ihr Art. 38 Abs. 1 GG auch, den Parlamentariern Weisungen, wie diese abzustimmen hätten, zu erteilen. Die Bundestagsabgeordneten sind gemäß Art. 10 EGV zur Gemeinschaftstreue verpflichtet. 189 Schließlich könnte die Bundesregierung gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG verpflichtet sein, gegen vertragswidrige Gesetze eine abstrakte Normenkontrolle zum Bundesverfassungsgericht zu erheben. 187 Schlußantrag des Generalanwalts Joseph Gand vom 14. April 1970, Rs. 77/69, Slg. 1970, S. 246 ff. 188 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die lex posterior-Regel, nach welcher das jüngere Gesetz dem älterem vorgeht, im Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalem Recht keine Anwendung findet, weil das Gemeinschaftsrecht und das nationale Gesetz nicht dieselbe Rangstufe haben, demgemäß jüngeres nationales Recht älteres, aber höherrangiges Gemeinschaftsrecht nicht zu verdrängen vermag: E. Bülow, Gesetzgebung, in: HVerfR, 2. Aufl., 1994, § 30, Rn. 13; auch Κ. A. Schachtschneider/A. EmmerichFritsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, S. 117 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 620; H. D. Jarass/S. Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 2. 189 Zu den Pflichten der rechtsetzenden Organe vgl. A. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 10, Rn. 38 ff., der folgende Beispiele anführt: Pflicht zur Ergänzung des gemeinschaftlichen Verordnungsrechts durch nationale Vorschriften, wenn die Regelungen der Gemeinschaft zu abstrakt sind; Pflicht zur Umsetzung von Richtlinien; Pflicht zur Aufhebung nationaler Rechtsvorschriften, die dem Gemeinschaftsrecht entgegen stehen; auch H. D. Jarass/S. Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EGRechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 6 ff.
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Ziel des Verfahrens wäre, das Bundesgesetz vom Bundesverfassungsgericht wegen Vertragswidrigkeit für nichtig erklären zu lassen. Ein solcher Antrag ist jedoch sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch nach der Lehre unzulässig, weil Prüfungsmaßstab der abstrakten Normenkontrolle ausschließlich das Grundgesetz ist. 1 9 0 Eine analoge Anwendung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG auf nationale Gesetze, die gegen den EG-Vertrag verstoßen, wird, soweit ersichtlich, von niemandem befürwortet.
3. Rechtsprechung Ausweislich der Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG ist der dritte Funktionsbereich der Staatsgewalt die rechtsprechende Gewalt. Nach Art. 92 GG ist sie den Richtern anvertraut, welche gemäß Art. 97 Abs. 1 GG unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen sind. Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der jede Form von Weisungen durch die vollziehende und die gesetzgebende Gewalt gegenüber der rechtsprechenden Gewalt ausschließt, gilt in allen Mitgliedstaaten.191 Wesentliche Eigenschaft der Richtersprüche ist, daß sie letztverbindlich sind. 192 Die Letztverbindlichkeit wird durch die Institute der formellen Rechtskraft, 193 welche die Berichtigung selbst rechtswidriger, aber in Rechtskraft ergangener Gerichtsurteile nach Ablauf der Rechtsmittelfristen grundsätzlich ausschließt, und der materiellen Rechtskraft 194 sichergestellt, welche die Parteien und die Staatsgewalt an die Gerichtsentscheidung bindet. Es ist deshalb fraglich, ob in Rechtskraft er190 So BVerfGE 31, 145 (174 f.); 82, 159 (191), allerdings im Rahmen von konkreten Normenkontrollen nach Art. 100 Abs. 1 GG; H. Lechner/R. Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 4. Aufl. 1996, vor § 76, Rn. 17; W. Meyer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, 3. Aufl., 1996, Art. 93, Rn. 38; J. Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2001, § 76, Rn. 62; in diesem Sinne auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. II, 1980, S. 987, der ausführt, daß supranationales Recht keinen Prüfungsmaßstab darstelle. ,91 Grundlegend zur richterlichen Unabhängigkeit: K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Das Handeln des Staates, Bd. ΙΠ, 1988, § 73, Rn. 34 f.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. Π; S. 907 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 871 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 235 f. 192 A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., 1952, S. 398; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II; S. 896 ff. 193 Dazu allgemein: A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 399 ff.; A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht. Erkenntnis verfahren, 1963, S. 438 f.; K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 38; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. 194 Dazu allgemein: A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 401 ff.; A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 440 ff.; K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. ΙΠ, § 73, Rn. 38; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II; S. 896 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 871 f., 1132; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.
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gangene nationale Gerichtsurteile, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen, berichtigt werden können. Unabhängig von der fehlenden Möglichkeit nationaler wie auch europäischer Organe, auf in Rechtskraft ergangene Gerichtsurteile einzuwirken, stellt sich darüber hinaus die Frage, welche Rolle die nationalen Gerichte in der gewaltenteiligen Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft einnehmen und ob diese Funktion nicht von vornherein eine Aufsicht der Kommission ausschließt. Teilweise wird in der Lehre vertreten, daß die Rechtsakte nationaler Gerichte, wie die aller anderen Staatsorgane, der vollen Überwachung durch die Kommission unterliegen würden. 195 Es wird aber auch ausgeführt, daß die nationalen Gerichte bei der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts funktional betrachtet Gemeinschaftsorgane seien, 196 daß die Unabhängigkeit der Gerichte in Anbetracht ihrer Rolle in der europäischen Funktionenordnung zu achten sei und daß der Rechtskraftgrundsatz als rechtsstaatliches Element auch im Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht gelte, 197 was eine Aufsicht der Kommission über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten ausschließe. Unabhängig davon, wie diese Frage zu beantworten ist, läßt sich zumindest festhalten, daß die genannten Grundsätze Einfluß auf die Gemeinschaftsaufsicht über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten nehmen und daß jeder Funktionsbereich der mitgliedstaatlichen Staatsgewalt in Hinblick auf seine Geeignetheit als Aufsichtsgegenstand gesondert zu untersuchen ist.
V I . Aufsichtsmaßstab Die Gemeinschaftsaufsicht der Kommission über die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft im Sinne des Art. 211 Spstr. 1 EGV i.V.m. Art. 226 EGV ist nach allen Auffassungen eine reine Rechtsaufsicht. 198 Die Kommission ist also lediglich berechtigt, die mitgliedstaatlichen Rechtsakte auf ihre Rechtmäßigkeit zu 195 Etwa G. Nicolay sen, Europarecht, Bd. I, S. 239 f.; G. Meyer, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11 ff.; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812. 196 Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 389 f. 197 H. W Daig, in G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f. 198
So auch: M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 53; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 220 f.; H. G. Fischer, Europarecht, S. 160; W. Hummer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 155, Rn. 5; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 439 ff.; H. Lühmann, Von der Staatsaufsicht zur Unionsaufsicht?, DVB1. 1999, 755; K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 213; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 400; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 7.
C. Das Vertrags verletzungs verfahren nach Art. 226 EGV
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überprüfen. Die Frage, ob die Maßnahme des Mitgliedstaates auch zweckmäßig ist, ist nicht Gegenstand ihrer Aufsichtstätigkeit. 199 Die Beschränkung der Gemeinschaftsaufsicht in Art. 226 EGV auf eine Rechtsaufsicht hat ihre Grundlage in folgenden Umständen: Erstens ist der Wortlaut des Art. 226 EGV aussagekräftig. Dieser stellt allein auf die Verletzung des EG-Vertrages ab, also auf die Frage, ob eine Vertragsverletzung begangen wurde, und läßt keinerlei Raum für Zweckmäßigkeitsüberlegungen. Im Unterschied hierzu ist auf die Parallelnorm des Art. 88 Abs. 2 Vertrag über die Montanunion zu verweisen, in welcher von einer „unbeschränkten Ermessensnachprüfung" die Rede ist. 2 0 0 Zweitens ist die Funktion des Vertragsverletzungsverfahrens zu berücksichtigen. Das Vertragsverletzungsverfahren ist ein objektives Verfahren, dessen Ziel es ist, die Vertragsgemäßheit mitgliedstaatlicher Maßnahmen zu gewährleisten. Die Zweckmäßigkeit der Durchführung des Gemeinschaftsrechts wird weder von der Praxis noch von der Lehre als Verfahrensziel betont.
V I I . Pflicht zur Aufsicht 1. Objektives Recht Art. 226 Abs. 1 EGV verlangt, daß die Kommission die Auffassung gewinnt, daß ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen habe. Die Kommission muß also davon überzeugt sein, daß ein Mitgliedstaat eine Vertragsverletzung begangen hat. 201 Bloßer Verdacht oder Zweifel an der Vertragsgemäßheit mitgliedstaatlicher Maßnahmen vermögen die Verfahrenseinleitung nicht zu rechtfertigen. Wenn die Kommission davon überzeugt ist, daß der Mitgliedstaat einen Vertragsverstoß begangen hat, gilt es zwischen dem außergerichtlichen Vorverfahren und der Aufsichtsklage zu unterscheiden. Während es in Art. 226 Abs. 1 EGV heißt, daß die Kommission eine mit Gründen zu versehene Stellungnahme abgibt, wenn ihrer Auffassung nach ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus dem Vertrag verstoßen hat, spricht Art. 226 Abs. 2 EGV davon, daß die Kommission Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erheben kann, wenn der Mitgliedstaat der Stellungnahme nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkommt. Nach dem Wortlaut der Norm, im ersten Fall ein imperatives „abgeben", im zweiten Fall ein fakultatives „können", scheint daher die Kommission zur Einleitung des VorverAusdrücklich H. Lühmann, Von der Staatsaufsicht zur Unionsaufsicht?, DVB1. 1999, 755; K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 213; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 400; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 7. 200 Hierzu M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR 20 (1971), S. 52. 201 So H.-W. Daig, in: G / B / T , Kommentar zum EWG-Vertrag, 2. Aufl., 1974, Art. 169, S. 177; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 22. 7 Wollenschläger
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Kap. 2: Gemeinschaftsaufsicht
fahrens verpflichtet, während eine solche Pflicht hinsichtlich der Aufsichtsklage nicht besteht. Eine Pflicht zur Klageeinleitung nehmen in Anlehnung an den Wortlaut des Art. 226 Abs. 2 E G V weder der Europäischen Gerichtshofs noch die herrschende Meinung an (Opportunitätsprinzip): 2 0 2 Die Kann-Vorschrift verleihe der Kommission ein Ermessen, welches von Umständen wie der Schwere der Vertragsverletzung, dem Verschuldensgrad oder etwa dem politische Konfliktpotential der Klage geprägt werde. Z u beachten ist, daß die Kommission ihr Ermessen nicht willkürlich ausüben darf, sondern als Organ einer Rechtsgemeinschaft auch bei Ermessensentscheidungen an Recht und Gesetz gebunden ist (gebundenes Ermessen). Dies kann dazu führen, daß sich das Ermessen in bestimmten Einzelfällen so weit reduziert, daß als einzige rechtmäßige Entscheidung die Klageerhebung übrigbleibt203 Für das Vorverfahren ist eine Verfolgungspflicht anzunehmen (Legalitätsprinzip) 2 0 4 Hierfür spricht der Wortlaut der Norm, welcher der Kommission i m Gegensatz zu Absatz 2 keinerlei Spielraum läßt. Allerdings verneinen trotz des eindeutigen Wortlautes sowohl der Europäische Gerichtshof als auch einige Stimmen in der Lehre eine Pflicht der Kommission zur Einleitung des Vorverfahrens. 205 Es wird darauf verwiesen, daß die Kommission schon in Anbetracht ihrer begrenzten 202 Urteil des EuGH vom 14. Februar 1989, Rs. 247/87, Slg. 1989, 291 (301); Urteil des EuGH vom 17. Mai 1990, Rs. C- 87/89, Slg. 1990, 1981 (2009); B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 75 f.; J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 262; P. Karpenstein: in Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 30 ff.; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 88; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 470; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 7; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 30; anderer Auffassung ist L.-J. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 887 f., der auch für die Klageerhebung davon ausgeht, daß die Kommission hierzu verpflichtet ist, solange der betroffene Mitgliedstaat den Verstoß nicht abgestellt hat. 203 So auch M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 470; W. Cremer, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 43. 204 L.-J. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 887 f.; B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 77 ff.; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 470. 205 Urteil des EuGH vom 23. Mai 1990, Rs. C-72/90, Slg. 1990, 2181; Urteil des Gerichtshofs Erster Instanz vom 12, November 1996, Rs. T-47/96, Slg. 1996, II, 1559; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 41; R. Geiger/D.-E. Khan, Europarecht PdW, 1997, Fall 359, S. 179 f., erwähnen in Anlehnung an C.-D. Ehlermann, Die Verfolgung von Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten durch die Kommission, in: FS für Kutscher, S. 152 f., zwei Fallgruppen, bei denen der Kommission auch im Vorverfahren ein „determinierter Beurteilungsspielraum" hinsichtlich der Verfahrenseinleitung zustehe: Dies seien zum einen die sog. Bagatellfälle und zum anderen Fälle, bei denen aus Gründen der politischen Opportunität von der Verfahrensdurchführung abgesehen werden sollte. Als Beispiel politischer Opportunität werden Entscheidungen nationaler Gerichte genannt sowie die „Politik des leeren Stuhles" Frankreichs in den 60er Jahren.
C. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV
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Ressourcen und aufgrund politischer Verhältnisse nicht alle Vertragsverstöße verfolgen k ö n n e . 2 0 6
2. Subjektives Recht Ein einklagbares Recht des Unionsbürgers auf ein aufsichtsrechtliches Tätigwerden der Kommission nach Art. 226 EGV besteht n i c h t . 2 0 7 Der Europäische Gerichtshof hat hierzu ausgeführt: „Eine Klage, mit der einzelne die Weigerung der Kommission angreifen, gegen einen Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, ist unzulässig."208 Der fehlende Rechtsschutz des Unionsbürgers beruht auf der objektiven Natur des Vertragsverletzungsverfahrens, welches nach dem Willen der vertragsschließenden Parteien keine subjektiven Rechte des Einzelnen begründen soll 2 0 9 I m Unterschied hierzu nimmt ein Großteil der Lehre an, daß die anderen Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten berechtigt sind, gemäß Art. 232 auf Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Kommission zu k l a g e n . 2 1 0
206 R. Geiger/D.-E. Khan, Europarecht PdW, Fall 359, S. 17; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 42; auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 30. 207 Urteil des EuGH vom 14. Februar 1989, Rs. 247/87, Slg. 1989, 291 (301); B. C Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 81 f.; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 88; H. G. Fischer, Europarecht, S. 177; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 44; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 2, 30. 208 Urteil des EuGH vom 20. Februar 1997, Rs. C-107/95, Slg. 1997, 947 (Leitsatz 1). 209 Auch im deutschen Recht wird allgemein angenommen, daß der Bürger kein einklagbares Recht auf Ausübung von Aufsichtsbefugnissen habe, weil die Aufsicht ausschließlich im öffentlichen Interesse erfolge: beispielhaft für viele M. Burgi, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 52, Rn. 831. 210 β. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 83 f.; W. Cremer, in: Calliess /Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 44; fraglich ist allerdings, ob Art. 227 EGV als das speziellere Verfahren nicht die Untätigkeitsklage eines Mitgliedstaates nach Art. 232 EGV ausschließt: so C.-D. Ehlermann, Die Verfolgung von Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten durch die Kommission, FS Kutscher, S. 135, 138; a.A. B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 83 f.; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 44. 7'
Kapitel 3
Rechtsprechung der Mitgliedstaaten A. Grundlagen I . Rechtsprechung i m m a t e r i e l l e n / f u n k t i o n a l e n u n d i m i n s t i t u t i o n e l l e n / o r g a n i s a t o r i s c h e n Sinne Der Begriff der Rechtsprechung ist mehrdeutig. Es wird zwischen der Tätigkeit des Rechtsprechens (funktionaler oder materieller Rechtsprechungsbegriff), 1 den mit dieser Tätigkeit befaßten Staatsorganen (institutioneller oder organisatorischer Rechtsprechungsbegriff) 2 und der Rechtsprechung als Spruchpraxis eines Gerichts unterschieden. 3 Rechtsprechung i n einem funktionalen/materiellen Sinne ist Ausfluß der gewaltenteiligen Funktionenordnung hoheitlicher Einrichtungen, 4 welche die Staats1 BVerfG NJW 2001, 1048 (1052); H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, 11. Aufl., 1999, S. 231 ff.; auch Κ Α. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, 3. Aufl., 1987, S. 2773; Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 893 ff.; D. Ehlers, Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1998, S. 6 f.; Η. Maurer, Staatsrecht, 3. Aufl., 2003, § 19, Rn. 1, W. Leisner, Das letzte Wort, 2003, S. 32 ff. 2 H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 236 ff.; W. Leisner, Das letzte Wort, S. 32 ff.; auch Μ. A. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 84 ff., 92 ff., der für das Gemeinschaftsrecht zwischen einem institutionellen und einem funktionellen Gerichtsbegriff trennt. Der institutionelle Gerichtsbegriff wird durch die Gerichtsqualität des Spruchkörpers gekennzeichnet, der funktionelle durch die Tätigkeit, die Funktion, die nach Art. 234 Abs. 2 EGV auf den Erlaß eines Urteils gerichtet sein muß. 3 Über die Verwendung des Begriffs Rechtsprechung als Synonym für Spruchpraxis: Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. Juli 1976, BayVBl. 1976, 628 ff. (629), der in diesem Urteil davon spricht, daß keine Veranlassung bestehe, insoweit die bisherige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs aufzugeben, (seil.: bezugnehmend auf eine Entscheidung vom 16. Januar 1959, BayVBl. 1959, 90). In der Lehre spricht man von „ständiger Rechtsprechung" eines Gerichts, wenn dieses wiederholt dieselbe Auffassung zu einer bestimmten Rechtsfrage vertritt: vgl. U. Steiner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, NJW 2001, 2919. 4 So etwa H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 1; zum Begriff der gewaltenteiligen Funktionenordnung: in der Lehre und der Praxis wird häufig anstelle des Begriffs „gewaltenteilige Funktionenordnung" der Ausdruck „Gewaltenteilung" verwendet. Der letztgenannte Begriff ist insofern mißverständlich, als er eine Teilung der Staatsgewalt in verschiedene, selbständige Teile suggeriert. Nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG gibt es jedoch nur eine einzige vom Volk
Α. Grundlagen
101
gewalt in die Funktionsbereiche der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung unterteilt. 5 In Abgrenzung zu den anderen Funktionsbereichen, der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt, wird unter Rechtsprechung die Ausübung rechtsprechender Gewalt verstanden. 6 Der Begriff der rechtsprechenden Gewalt ist offen. Anders als in der Europäischen Gemeinschaft, in welcher Art. 220 E G V eine materielle Beschreibung der Aufgaben des Europäischen Gerichtshofs enthält, 7 definieren das Grundgesetz und die meisten anderen Verfassungsgesetze der Mitgliedstaaten den Begriff der rechtsprechenden Gewalt nicht. In der Literatur lassen sich deshalb sowohl verschiedene Begriffsbestimmungen der rechtsprechenden Gewalt, 8 als auch verschiedene Vorgehensweisen der Begriffsbestimmung finden. 9 Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß rechtsprechende
ausgehende Staatsgewalt. Sprachlich und wissenschaftlich genauer ist es, von gewaltenteiliger Funktionentrennung zu sprechen, weil dadurch besser zum Ausdruck gebracht wird, daß die Staatsgewalt unteilbar, jedoch in verschiedene Funktionsbereiche untergliedert ist: N. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1986, § 7, Rn. 2 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 521 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 180 ff. 5 Ch. Montesquieu, De l'esprit des lois, S. 212 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 792 ff., Bd. II., S. 511 ff.; E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: HVerfR, 2. Aufl., 1994, § 17, Rn. 38 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 168 ff., 560 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 180 ff.; B. Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 15 ff. 6 In diesem funktionellen Sinne verwendet auch das Grundgesetz in den Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 2 GG den Begriff der Rechtsprechung, wo von den Funktionsbereichen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung die Rede ist; hierzu Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2773; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 9 ff.; D. Kressel, Parteigerichtsbarkeit und Staatsgerichtsbarkeit, 1998, S. 168 ff.; U. Steiner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, NJW 2001, 2919; W. Leisner, Das letzte Wort, S. 33; im Unterschied zu den genannten Normen ist in Art. 92 GG von der rechtsprechenden Gewalt als Synonym für Rechtsprechung die Rede. 7 H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 231; dazu auch Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 381 ff.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 494 ff.; A. Epiney, in: Beutler/ Bieber/Pipkorn/ Streil, Die Europäische Union, 5. Aufl., 2001, Rn. 510 ff. 8
Zum Rechtsprechungsbegriff des Grundgesetzes: Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2774 ff.; ders., Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. ΙΠ, § 73, Rn. 17 ff.; H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 231 ff.; N. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7, Rn. 14 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 893 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 870 ff.; W Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, 2. Aufl., 1994, § 33, Rn. 12 ff.; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Art. 92, Rn. 8 ff.; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 2 ff.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 3 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 41 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 10 ff. 9 Die Lehre unterscheidet zwischen einer formellen und einer materiellen Vorgehensweise: Formell bestimmte Rechtsprechung sind die den Rechtsprechungsorganen durch Verfassung oder Gesetz zugewiesenen Aufgaben. Die materielle Bestimmung fragt im Unterschied
102
Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Gewalt (Rechtsprechung) als ein Funktionsbereich der Staatsgewalt zuvörderst Ausübung von Staatsgewalt i s t . 1 0 Daneben existieren noch Formen privater Rechtsprechung, etwa die Schiedsgerichtsbarkeit, die Betriebsgerichtsbarkeit oder die Parteigerichtsbarkeit. 11 Ihre Bezeichnung als private Rechtsprechung / Gerichtsbarkeit rührt in Anlehnung an die wesentlichen Merkmale staatlicher Rechtsprechung daher, daß eine neutrale Instanz Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Personen entscheidet. 12 Rechtsprechung in institutioneller/organisatorischer Hinsicht sind die mit der Tätigkeit der materiellen Rechtsprechung befaßten Staatsorgane, die Rechtsprechungsorgane. 13 Nach Art. 92 GG sind dies die Gerichte. 1 4 In Art. 220 E G V heißt hierzu nach den materiellen Kriterien der rechtsprechenden Gewalt. Zu den verschiedenen Methoden: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 893 ff.; K. A. Bettermann, Rechtsprechung, in: HStR, Bd. ΠΙ, § 73, Rn. 18 f.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 873; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 43 ff.; auch R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 1971, Art. 92, Rn. 34 ff., 42, der als Begründung für den formellen Ansatz anführt, daß eine materielle Bestimmung des Rechtsprechungsbegriffes in Art. 92 GG mangels verfassungsrechtlicher Vorgaben ausgeschlossen sei; zur Kritik am formellen Ansatz D. Lorenz, Rechtsprechung, in: Staatslexikon, Bd. 4, 7. Aufl., 1988, S. 726. !0 So auch Η J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 232; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 889 ff., 919 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 180 ff. Für Deutschland ergibt sich ein solches Verständnis bereits aus Art. 92 GG, eine Norm, die sich ausschließlich auf staatliche Rechtsprechung bezieht: so R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 125 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 f.; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 92, Rn. 25; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 4. 11 Zu den verschiedenen Formen privater Gerichtsbarkeit in Deutschland und ihrer verfassungsrechtlichen Stellung: R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 145 ff.; N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 171 ff.; Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2792 f.; ders., Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 77 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 920 ff.; zur Parteigerichtsbarkeit als Schiedsgerichtsbarkeit: D. Kressel, Parteigerichtsbarkeit und Staatsgerichtsbarkeit, S. 131 ff. 12 Grundlage der privaten Gerichtsbarkeit ist im Unterschied zur staatlichen Gerichtsbarkeit, welche auf dem so genannten Gewaltmonopol des Staates beruht, die Privatautonomie, genauer: die Vertragsfreiheit, der Bürger: so auch N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 174; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 921 f.; R. Geimer, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, 22. Aufl., 2001, vor § 1025, Rn. 3. 13 H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 231; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 ff. 14 Art. 92 GG lautet: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt." Weil die Gerichte nach der gewaltenteiligen Funktionenordnung Deutschlands die einzigen Staatsorgane sind, welche zur Rechtsprechung befugt sind, spricht man auch von einem Rechtsprechungsmonopol der Gerichte: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 378, 893 f., 921; Κ. A.
Α. Grundlagen
103
es: „Der Gerichtshof und das Gericht erster Instanz sichern im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrags". Art. 92 GG erwähnt im Zusammenhang mit der rechtsprechenden Gewalt einerseits die Gerichte, andererseits die Richter. In Art. 221 Abs. 1 EGV heißt es, daß der Gerichtshof aus einem Richter je Mitgliedstaat besteht. Die Begriffe „Gericht" und „Richter" sind auseinander zu halten. Sie bauen auf folgendem Befund auf: Staaten sind keine natürlichen Geschöpfe, sondern Rechtsgebilde, juristische Personen.15 Als solche besitzen sie keine Handlungsfähigkeit, die nur Menschen (und Tiere) innehaben. In rechtstechnischer Sicht ist der Staat als juristische Person anzusehen, ohne jedoch Person zu sein. 16 Organisatorisch sind juristische Personen in verschiedene Funktionsbereiche aufgeteilt, die als Organe oder Ämter bezeichnet werden. 17 In den personenunabhängigen Ämtern sind Menschen als Amts-/Organwalter tätig. 18 Die rechtstechnische Sichtweise des Staates als juristische Person erlaubt es, ihn für das Handeln seiner Amts-/oder Organwalter verantwortlich zu machen; ihm deren Handeln zuzurechnen.19 Gerichte sind Ämter der Rechtsprechung/Rechtsprechungsorgane. 20 Der Richter ist Amtswalter in den Rechtsprechungsämtern, den Gerichten. 21 Herausragende Eigenschaft der Richter ist ihre Unabhängigkeit gegenüber anderen Staatsorganen, insbesondere gegenüber der vollziehenden Gewalt, 22 die jede Weisung an die Richter ausschließt.23 Die UnabBettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 4; Κ A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 ff.; H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089; S. Detterheck, in: Sachs (Hrsg.) Grundgesetz, Art. 92, Rn. 25; nach K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 795, ist hier das Prinzip der materiellen Funktionentrennung in seiner Reinform verwirklicht. 15 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 135 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 174, 1045 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaats, S. 42 ff., R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 1999, S. 92 ff.; auch J. Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR, Grundlagen von Staat und Verfassung, Bd. III, 1987, § 13, Rn. 65 ff., 155 ff. 16 Κ. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 175 ff.; ders., Res publica res populi, S. 1046 f.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 92 ff.; ders., Einführung in das Recht, 3. Aufl., 2000, S. 56 ff. 17 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 135 ff.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 95 ff.; ders., Einführung in das Recht, S. 56 ff.; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21, Rn. 19 ff., versteht unter dem Begriff „Organe" die rechtlich geschaffene Einrichtungen einer juristischen Person; auch W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 240, 247 ff. •8 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 96, 101 ff. 19 W. Thieme, Das deutsche Personenrecht, S. 241. 20 Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230; auch B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 7. 21 Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230. 22 H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089. 2 3 Zur Unabhängigkeit der Gerichte: BVerfGE, 3, 377 (381); 18, 241 (255); 42, 64 (78); 60, 175 (214); R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 13 ff.; K. Stern, Das
104
Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
hängigkeit des Richters ist in Deutschland durch Art. 97 Abs. 1 GG garantiert. Auf europäischer Ebene verlangt Art. 223 Abs. 1 EGV, daß zu Richtern (und Generalanwälten) Persönlichkeiten auszuwählen sind, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sind. 24
I L Relativität der rechtsprechenden Gewalt 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben Nach Art. 6 Abs. 1 EUV „beruht die Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam". Obwohl die gemeinsamen Grundsätze ein einheitliches Verständnis der rechtsprechenden Gewalt in den Mitgliedstaaten nahe legen, gibt es keine allgemein anerkannte Definition. Ein Blick in die verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zeigt dies. Ja sogar innerhalb einer Rechtsordnung können unterschiedliche Auffassungen bestehen, was unter rechtsprechender Gewalt zu verstehen i s t 2 5 Betrachtet man darüber hinaus die rechtsprechende Gewalt in der Europäischen Gemeinschaft, so reiht sich ein weiteres Verständnis neben die bereits vorhandenen 2 6 Ursache für diese Verschiedenartigkeit ist, daß die rechtsprechende Gewalt als ein Funktionsbereich der Staatsgewalt nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern im Kontext der gesamten Funktionenordnung einschließlich aller verfassungsrechtlichen Prinzipien des jeweiligen Mitgliedstaates gesehen werden muß. 27 Die VerStaatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 907 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 871 f.; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 97, Rn. 1 ff.; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 34, weist daraufhin, daß die Unabhängigkeit der Gerichte auch gegenüber anderen Rechtsprechungsorganen gelte. 24 Hierzu siehe H. R. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 756. 25 Vgl. hierzu die unterschiedlichen Auffassungen in der Literatur zum Rechtsprechungsbegriff des deutschen Grundgesetzes: N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 65 ff.; K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 17 ff.; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 92, Rn. 4 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 870 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 13 ff. 26 Zur rechtsprechenden Gewalt der Europäischen Gemeinschaft: H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 11 ff.; M. Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der Europäischen Integration, JZ 1994, 1 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 381; M. Dauses, Institutioneller Aufbau der EG, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Α.Π, Rn. 313 ff.; G. C. Rodriguez Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten - Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union, NJW 2000, 1889 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Die Gerichtsbarkeit, S. 221 (228 ff.).
Α. Grundlagen
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fassungsgesetze und die jeweilige Staatsgewalt des Mitgliedstaates, aber auch die Struktur der Europäischen Gemeinschaft, haben eine unterschiedliche Ausgestaltung erfahren und wirken dementsprechend unterschiedlich auf die Materie „rechtsprechende Gewalt" ein. Die rechtsprechende Gewalt ist deshalb für jedes Hoheitsgebilde eigenständig zu untersuchen und zu bestimmen. Trotz aller Unterschiede darf man jedoch nicht vergessen, daß aufgrund allgemeiner Rechtsprinzipien und der gemeinsamen Verfassungswerte der Mitgliedstaaten bestimmte Merkmale der rechtsprechenden Gewalt sozusagen über den einzelnen Verfassungsgesetzen stehen und jedem RechtsprechungsVerständnis immanent sind. So wird rechtsprechende Gewalt als ein Funktionsbereich der Staatsgewalt als staatliche, nicht als private Tätigkeit verstanden.28 Rechtsprechende Gewalt wird von Richtern ausgeübt (Art. 92 GG, Art. 221 Abs. 1 EGV). Diese müssen unabhängig sein (Art. 97 Abs. 1 GG, Art. 223 Abs. 1 EGV) 2 9 Der Maßstab der rechtsprechenden Gewalt sind Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG, auch Art. 220 EGV). 3 0 Gegenstand der Rechtsprechung ist in der Hauptsache Befriedung, meist Streitentscheidung, durch verbindliche Rechtsklärung. 31 Charakteristisch für Richtersprüche ist schließlich, daß sie, um Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu garantieren, in Rechtskraft erwachsen. Hierbei wird zwischen der formellen und der materiellen Rechtskraft unterschieden: 32 For27 So auch Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. ΠΙ, § 73, Rn. 17; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 870 ff., der für die Rechtsprechung in Deutschland darauf hinweist, daß diese nicht aus der Natur der Sache heraus bestimmt werden könne, sondern offen für eine Interpretation sei, welche der Verfassung insgesamt gerecht werden müsse. 28 So etwa für Deutschland: BVerfGE 26, 186 (194 f.); 27, 312 (320); 48, 300 (315 ff.); BGHZ 65, 59 (61); R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 145 ff., 151; K. A. Bettermann, Rechtsprechung, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 72 ff.; ders., Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2792; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 8; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 180 ff., 230; B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 4. 29 Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2795 f.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 907 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 235 f.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 8, 17 f. 30 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 907; G. Barbey, Status des Richters, in: HStR, Das Handeln des Staates, Bd. III, 1988, § 74, Rn. 32 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 142 ff., 270 ff.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 6. 31 Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 872; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230; so auch Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2783 ff.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7; D. Kressel, Parteigerichtsbarkeit und Staatsgerichtsbarkeit, S. 35 f., 87 ff. 32 A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, 1963, S. 440 ίϊ.; Ο. Jauernig, Zivilprozeßrecht, 23. Aufl., 1991, S. 213 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, 1997, S. 179 f.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7.
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melle Rechtskraft bedeutet, daß gegen den Richterspruch keine Rechtsmittel mehr eingelegt werden können. 3 3 Das Wesen der materiellen Rechtskraft besteht zum einen in der Bindung der Parteien und des Staates an den Richterspruch. 34 Z u m anderen verbietet die materielle Rechtskraft, den rechtskräftig entschiedenen Streitgegenstand in einem späteren Verfahren noch einmal zum Gegenstand einer richterlichen Entscheidung zu machen. 3 5 Die Untersuchung der rechtsprechenden Gewalt hat deshalb nicht zum Ziel, einen Kernbereich der Rechtsprechung zu bestimmen, über den Einigkeit besteht, sondern die Grenzbereiche zu definieren.
2. Sichtweisen in föderativen Einrichtungen Noch komplexer wird die Bestimmung der rechtsprechenden Gewalt in föderativen Gebilden. Aus der föderativen Struktur folgt, daß nicht nur mehrere Untersuchungsgegenstände existieren, nämlich die rechtsprechende Gewalt des Bundes und die seiner Glieder, sondern auch unterschiedliche Sichtweisen hierüber bestehen (können), nämlich die des Bundes und die der Glieder. Für die Europäische Gemeinschaft als föderatives Gebilde ergibt sich hieraus: Der Begriff der rechtsprechenden Gewalt des Mitgliedstaates i m Rahmen der Aufsichtsbefugnis der Kommission kann entweder durch Rückgriff auf das Verständnis des betreffenden Mitgliedstaates gewonnen werden. 3 6 Er kann aber auch als gemeinschaftsrecht33 Hierzu O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 215; L. Rosenberg/K. H. Schwab/R Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 908; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 f.; ders./A. Emmerich-Fritsche /M. Kläver/R Wollenschläger, Wirtschaftsverwaltungsrecht. Grundbegriffe des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1999, S. 42 ff.; R Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 55. Aufl., 1997, Einführung vor § 322, Rn. 1; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 174; Η Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7. 34 BVerfGE 2, 380 (403 f.); 47, 146 (161); A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, 1963, S. 440 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 896 ff.; Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 38; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 871 f., 1132; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 152 f.; L. Rosenberg/K. H. Schwab/R. Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 919; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7. 35 BGH, W M 1996, S. 1101; so auch O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 219 f.; L Rosenberg/K. H. Schwab/R. Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 908 f., 914 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 179; O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 214. 36 Beispiel hierfür bot die Vorgehensweise des Europäischen Gerichtshofs hinsichtlich des Begriffs des Erfüllungsortes in Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ (Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivilund Handelssachen, BGBl. 1972 II, S. 774), seit 2002 durch Art. 5 Nr. 1 E u G W O ersetzt. Nach dem Luxemburger Auslegungsprotokoll (Luxemburger Protokoll betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelsrechtssachen durch den Gerichtshof, BGBl. 1972 II, S. 846) oblag dem Europäischen Gerichtshof die Auslegung des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens. Der Europäische Gerichtshof hatte wegen zu großer Unterschiede in den Vertragsstaaten eine autonome Begriffsbestimmung des Erfüllungsortes abgelehnt und auf die Regelungen desjenigen Staates
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licher Begriff anhand einer gemeinschaftsrechtlich orientierten Auslegung des EGVertrages ermittelt werden (vertragsautonome Auslegung). 3 7 Danach sind allein das Gemeinschaftsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze der Union maßgeblich. Das Verständnis des betreffenden Mitgliedstaates ist unbeachtlich.
I I I . M a t e r i a l i s i e r u n g d e r rechtsprechenden G e w a l t a m Beispiel Deutschlands Das deutsche Grundgesetz enthält keine Definition der rechtsprechenden Gewalt. Sie wird zwar in den Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 92 GG angesprochen, 38 aber diesen Artikeln kann man lediglich entnehmen, daß die Staatsgewalt des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG in verschiedene Funktionsbereiche, nämlich die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung unterteilt ist (so Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG). Art. 92 GG hält fest, daß der Funktionsbereich der rechtsprechenden Gewalt den Richtern anvertraut und durch Bundes- und Landesgerichte ausgeübt wird.
zurückgegriffen, dessen materielles Recht im Rechtsstreit anwendbar war: Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1976, Rs. 12/76, veröffentlicht in NJW 1977, S. 490 ff.; Urteil des EuGH vom 15. Januar 1987, Rs. 286/85, Slg. 1987, 239 (254); Κ Firsching/B. von Hoffmann, Internationales Privatrecht, 4. Aufl., 1995, Rn. 221 ff. 37 Zu diesem Begriff: J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 220, Rn. 30; nach R. Streinz, Europarecht, Rn. 500, ist die gemeinschaftsorientierte, vertragsautonome Auslegung von offenen Begriffen des EG-Vertrages durch den Europäischen Gerichtshof der Regelfall, weil nur so eine einheitliche, in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen geltende Begriffsbestimmung möglich ist. Für die gemeinschaftsorientierte, vertragsautonome Auslegung auch: Κ D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, 2. Aufl., 1999, Art. 234, Rn. 17; H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 177, Rn. 12; Η Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 46. Beispiele vertragsautonomer Auslegung EG-vertraglicher Begriffe finden sich in: Urteil des EuGH vom 30. März 1993, Rs. C-24/92, Slg. 1993, 1277; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4961 f.; Beschluß des EuGH vom 26. November 1999, Rs. C-440/98, Slg. 1999, 8597 (8604); Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000, 10532 (10545). Von den hier beschriebenen zwei Vorgehensweisen, der gemeinschaftsrechtlich orientierten Auslegung und des Rückgriffs auf die betroffenen nationalen Rechtsordnungen sind die verschiedenen klassischen Auslegungsmethoden zu unterscheiden. Diese sind die grammatikalische, systematische, historische und teleologische Auslegung, hierzu Κ Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1975, S. 301 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 108 ff. Neben diese klassischen Auslegungsmethoden tritt im Europarecht die rechtsvergleichende hinzu. Eine ausfuhrliche Darstellung der Auslegungsarten, derer sich der Europäische Gerichtshof bedient, findet sich bei H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 131 ff.; J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 245 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 680 ff. 38 Zur Identität des Begriffe der rechtsprechenden Gewalt und der Rechtsprechung in den verschiedenen Artikel des Grundgesetzes: R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 20 f.; N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 60.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Mangels einer Legaldefinition haben sich in Lehre und Praxis verschiedene Auffassungen zum grundgesetzlichen Rechtsprechungsbegriff gebildet. 3 9 Unstreitig ist, daß unter rechtsprechender Gewalt i m Sinne des Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 92 GG staatliche Rechtsprechung gemeint i s t . 4 0 Viel weiter reichen die Gemeinsamkeiten jedoch nicht. Schon über die Methode, wie der Begriff der rechtsprechenden Gewalt zu bestimmen ist, herrscht Uneinigkeit. Hierbei kann man zwischen formellen, materiellen (funktionalen) und gemischt formell / materiellen Vorgehens weisen unterscheiden. Die Vertreter des formellen Ansatzes stellen allein auf gesetzliche Vorgaben ab und definieren Rechtsprechung als die dem Richter durch das Verfassungsgesetz und die einfachen Gesetze zugewiesenen Kompetenzen 4 1 Die materielle Methode bestimmt die rechtsprechende Gewalt mittels inhaltlicher, auf die Tätigkeit bezogenen Kriterien, und zwar unabhängig davon, ob diese Kriterien in dem Verfassungsgesetz eine Regelung erfahren haben. Der gemischt formell-materielle Ansatz stützt sich auf formelle und auf materielle Kriterien 4 2 Nach der formellen Lehre ist Rechtsprechung i m Sinne des Art. 92 GG „die den Richtern durch Verfassung und Gesetz zugewiesenen Aufgaben". 4 3 Eine selb39 Ausführliche Darstellungen der unterschiedlichen Auffassungen findet sich bei K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2783 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 893 ff.; N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 64 ff.; ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7, Rn. 14 ff.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 3 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 10 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 41 ff. 40 So etwa R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 145 ff., 151; K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2792; ders., Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 72 ff.; W. Hey de, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 8; B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 4; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 180 ff., 230. Bettermann führt in seinem erstgenannten Werk zum Verhältnis der rechtsprechenden Gewalt und der Rechtsprechung aus, daß zwischen den Begriffen nur dann Identität bestehe, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt Recht spricht. Entscheidungen privater Spruchkörper können deshalb Rechtsprechung sein, nicht aber rechtsprechende Gewalt im Sinne des Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 92 GG. 41 So R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 34 ff., 42, der als Begründung für den formellen Ansatz anführt, daß eine materielle Bestimmung des Rechtsprechungsbegriffes in Art. 92 GG mangels verfassungsrechtlicher Vorgaben ausgeschlossen sei, daß aber das Grundgesetz sehr wohl AufgabenzuWeisungen an die Gerichte enthalte; zum formellen Rechtsprechungsbegriff, ohne diesen jedoch zu vertreten: N. Achterberg, in: Dolzer /Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 65 ff.; K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 18 f.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 873; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 f.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 3; zur Kritik am formellen Ansatz: D. Lorenz, Rechtsprechung, in: Staatslexikon, Bd. 4, S. 726. 42 So etwa K. A. Bettermann, die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 17 ff.; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 12 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 872 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 10 ff.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 3 ff.
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ständige materielle Bedeutung für den Rechtsprechungsbegriff mißt diese Auffassung Art. 92 GG nicht bei. 44 Die zugewiesenen Aufgaben ergeben sich zum einen aus den Richtervorbehalten, 45 mittels derer das Grundgesetz ausdrücklich eine bestimmte Entscheidung ausschließlich den Richtern zuweist: etwa nach Art. 104 Abs. 2 GG die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung oder nach Art. 18 S. 2 GG die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, die Verwirkung von Grundrechten auszusprechen. Zum anderen folgen sie aus den Rechtsweggarantien 4 6 die verlangen, daß „bei der Beurteilung eines bestimmten Vorgangs, insbesondere bei einer bestimmten staatlichen Entscheidung in irgendeiner Phase die Gerichte eingeschaltet werden müssen".47 Beispiele hierfür sind Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG für die Höhe der Enteignungsentschädigung im Streitfalle, die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG oder der Justizgewährungsanspruch nach Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, der den Bürgern den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten eröffnet, wenn er durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Die Vertreter der materiellen Methode bestimmen die Rechtsprechung nach inhaltlichen Kriterien. Häufig genannte Elemente sind: 48 die Rechtsanwendung (im Gegensatz zur Rechtsetzung)49 die Tätigkeit als nichtbeteiligter Dritte, 50 die Entscheidung einer Streitigkeit, 51 die Klärung des Rechts,52 die Verbindlichkeit der 43 So R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 43 ff.; hierzu auch R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 24 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 62 ff. 44 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 43. 4 5 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 39 ff. 46
R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 35 ff. R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 35. 48 Hierzu Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2783 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 894 ff., mit Hinweis auf die in der Literatur vertretenen Auffassungen; N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 74 ff.; ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7, Rn. 14 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 13 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 45 ff. 49 So Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2774; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 895; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 6; hierzu auch T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 47 ff. 50 Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2778 f.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 897. 51 E. Friesenhahn, Über Begriff und Arten der Rechtsprechung, in: FS für Thoma, 1950, S. 21 ff. (26 f.); C H. Ule, Anmerkung zu BVerwG, JZ 1958, 628; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 6; dem Kriterium der Streitentscheidung ist vorzuhalten, daß es Verfahren, wie die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 GG oder das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV wegen des Fehlens einer Streitigkeit nicht als Rechtsprechung anzuerkennen vermag, vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 895 f.; 47
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Entscheidung. 53 Einigkeit darüber, welche Kriterien (letztendlich) begriffsbestimmend sind, besteht in der Lehre bisher nicht. Bestimmte Merkmale werden allerdings von fast allen Autoren für wesentlich erachtet. Hierzu zählen insbesondere die Klärung von Recht 5 4 und die Verbindlichkeit der richterlichen Entscheidung, 55 welche durch das Rechtsinstrument der Rechtskraft gesichert wird. Das Bundesverfassungsgericht schließlich vertritt, wie der überwiegende Teil der Lehre, 5 6 eine gemischt formell-materielle Lehre, 5 7 ohne jedoch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt die materiellen Kriterien der rechtsprechende Gewalt definiert zu haben. 5 8 Es hat zum Rechtsprechungsbegriff bisher ausgeführt: Grundgesetzliche Vorgaben, wie die Rechtsweggarantie und der Richtervorbehalt, seien zu beachten. 5 9 Die Tätigkeit müsse sich in dem klassischen Kernbereich der Rechtspre-
D. Lorenz, Rechtsprechung, in: Staatslexikon, Bd. 4, S. 726; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 55 ff. 52 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874; ders.; Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 f.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 31 ff.; auch K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2776, W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 15, die allerdings den Ausdruck der Rechtserkenntnis verwenden. Diese Bezeichnung ist ungenauer als die der Rechtsklärung, weil auch Rechtsetzung Rechtserkenntnis sein kann, während Rechtsklärung schon erkanntes Recht voraussetzt. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 896, spricht von der Rechtsfeststellung. 53 K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2777 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 897 f.; D. Lorenz, Rechtsprechung, in: Staatslexikon, Bd. 4, S. 727; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 34 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 58 ff. 54 K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2776; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 31 ff. 55 K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2777 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. Π, S. 897 f.; D. Lorenz, Rechtsprechung, in: Staatslexikon, Bd. 4, S. 727; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 15; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 34 ff. 56 Formell-materiellen Ansätzen folgen: K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 18 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 893 ff.; D. Lorenz, Rechtsprechung, in: Staatslexikon, Bd. 4, S. 727; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 13 f.; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 92, Rn. 5 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 30 ff. 57 BVerfGE 22, 49 (73 ff., 77 f.); 27, 18 (28 ff.); BVerfG NJW 2001, 1048 (1052 ff.); hierzu H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089 ff. 58 So ausdrücklich BVerfG NJW 2001, 1048 (1052); hierzu auch K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. ΙΠ, § 73, Rn. 20; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 43. 59 BVerfGE 22,49 (76 f.).
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chung bewegen,60 worunter das Bundesverfassungsgericht die „bürgerliche Rechtspflege und die Strafgerichtsbarkeit" 61 versteht. Schließlich müsse das Gericht eine Entscheidung treffen, die durch die letztverbindlich, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist, charakterisiert sei. 62
IV. Rechtsprechende Gewalt der Mitgliedstaaten: Vorgaben des EG-Vertrags Im Unterschied zu Art. 220 EGV, der eine Beschreibung der Aufgaben des Europäischen Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz enthält,63 definiert der EGVertrag die rechtsprechende Gewalt der Mitgliedstaaten nicht. Dennoch ist der Begriff von Bedeutung, weil der EG-Vertrag mehrere Vorschriften enthält, welche die rechtsprechende Gewalt der Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar zum Gegenstand haben. Als erstes ist das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV zu nennen, wonach nur das „Gericht eines Mitgliedstaates" (Abs. 2) oder das „einzelstaatliche Gericht" (Abs. 3) berechtigt ist, Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, wenn es die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für den Erlaß seines Urteils für erforderlich hält. Zweitens ist die rechtsprechende Gewalt als ein Funktionsbereich der mitgliedstaatlichen Staatsgewalt immer dann betroffen, wenn sich Normen des EG-Vertrages an den Mitgliedstaat als Ganzes adressieren. Zu nennen sind hier insbesondere das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV und der Grundsatz der Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EGV. 64 So hat der Europäische Gerichtshof in einem zu Art. 10 EGV erlassenen Urteil formuliert: „Die Aufgabe, den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts ergibt, obliegt entsprechend dem in Artikel 5 EWG-Vertrag (seil. Art. 10 EGV) ausgesprochenen Grundsatz der Mitwirkungspflicht der innerstaatlichen Gerichte". 65 60 BVerfGE 22,49 (78); BVerfG NJW 2001, 1048 (1053). 61 BVerfGE 22, 49 (78); Β GHZ 82, 34 (40); so auch W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 14. 62 BVerfGE 7, 183 (188 f.); 31,43 (46); 60, 253 (269 f.); BVerfG NJW 2001, 1048 (1053). 63 Hierzu W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 41; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 164, Rn. 51; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 381; Κ Α. Schachtschneider/ Α. Emmerich-Fritsche, Die Gerichtsbarkeit, S. 257 ff.; J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 220, Rn. 21; I. Pernice /F. C. Mayer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2002, Art. 220, Rn. 2 ff. 64 Adressaten der Norm sind, wie dem Wortlaut des Art. 10 EGV zu entnehmen ist, die Mitgliedstaaten, also alle drei Funktionsbereiche der Staatsgewalt. In einem Kommentar zum Europarecht heißt es hierzu: „Die nationalen Gerichte sind Adressaten der Pflicht aus Art. 10": Λ. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 10, Rn. 53; auch R. Streinz, EUV/EGV, Art. 10 EGV, Rn. 31 ff.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten 1. Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 E G V
Das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV ist ein Inzidentverfahren 66 zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und dem Europäischen Gerichtshof. 67 Die Gerichte der Mitgliedstaaten sind berechtigt, teilweise verpflichtet, Fragen i m Sinne des Art. 234 Abs. 1 E G V dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Dieser hat i m Wege der Vorabentscheidung über die vorgelegte Frage zu entscheiden. Seine Entscheidung, die in der Form des Urteils erlassen w i r d , 6 8 bindet das nationale Gericht. 6 9 Ziel des Verfahrens ist es, die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Gerichte sicherzustellen. 70 Daneben fördert das Verfahren durch seine Materialisierung gemeinschaftsrechtlicher Begriffe die Wirksamkeit der in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechtsnormen. 71 Indirekt bewirkt das Vorabentscheidungsverfahren auch einen gemeinschaftsgerichtlichen Schutz der Unionsbürger. 72
65 Urteil des EuGH vom 16. Dezember 1976, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1998. 66 Zum inzidenten Charakter des Verfahrens M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 39 f.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 247 f. 67
Darlegungen zum Vorabentscheidungsverfahren finden sich u. a. bei D. Lieber, Über die Vorlagepflicht des Art. 177 EWG-Vertrag und deren Mißachtung, 1986, S. 39 ff.; P. Pescatore, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag und die Zusammenarbeit zwischen Gerichtshof und den nationalen Gerichten, BayVBl. 1987, 33 ff., 68 ff.; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 1995; Κ A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 247 ff.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 1 ff. 68 Zur Urteilsform der Vorabentscheidung: M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 148 ff.; auch R. Streinz, Europarecht, Rn. 566; A. Epiney, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, Rn. 592, die von der Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs als Urteil sprechen; beispielhaft sei auch verwiesen auf: Urteil des EuGH vom 19. November 1991, Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, 5357 (5405), in welchem der Europäische Gerichtshof durch Urteil den Antrag eines italienischen Gerichts auf Vorabentscheidung entschieden hatte. 69 Auch der Europäische Gerichtshof benützt in einigen Entscheidungen diesen Ausdruck: Urteil vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l /94, Slg. 1995, 3361 (3362): „Zwar hängt die Anrufung des Gerichtshofes nach Art. 177 EGV Vertrages nicht davon ab, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht ( . . . ) " ; auch Urteil des EuGH vom 4. November 1997, Rs. C-337/95, Slg. 1997, 6013 (6042). 70 So Κ D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 234, Rn. 2; Κ A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 248; J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 234, Rn. 2 f.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 3 f.; E. Pache/M. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 17 f. 71 K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 248; auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 7, der in diesem Zusammenhang von der rechtsfortbildenden Wirkung des Vorabentscheidungsverfahrens spricht; E. Pache/M. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 17 f.
Α. Grundlagen
113
Art. 234 EGV knüpft die Berechtigung / die Verpflichtung nationaler Gerichte, dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, an mehrere Voraussetzungen: (1) Gegenstand des Vorabentscheidungsgesuches müssen vorlagefähige Fragen i m Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV sein. 7 3 (2) Die vorlegende Stelle muß nach Art. 234 Abs. 2, Abs. 3 E G V ein Gericht sein. (3) Es muß sich um das Gericht eines Mitgliedstaates handeln. Art. 234 EGV spricht in Absatz 2 insofern vom „Gericht eines Mitgliedstaates" und in Absatz 3 von „einem einzelstaatlichen Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können". (4) Aus Art. 234 Abs. 2 EGV folgt weiterhin, daß das nationale Gericht eine Entscheidung über die vorgelegte Frage für den Erlaß seines Urteils für erforderlich halten muß (Kriterium der Entscheidungserheblichkeit). 74 (5) Schließlich läßt sich dem Wortlaut des Art. 234 Abs. 2 E G V entnehmen, daß die Entscheidung des nationalen Richters auf den Erlaß eines Urteils gerichtet sein muß. Auch wenn der Wortlaut des Art. 234 EGV den Begriff der rechtsprechenden Gewalt nicht ausdrücklich erwähnt, so hat sich der Europäische Gerichtshof damit in verschiedenen Vorabentscheidungsverfahren ausführlich auseinander gesetzt. 75 72 Κ A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 248 f.; J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234, Rn. 4; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 6; E. Pache/M. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004,17 f. 73 Wann eine Frage vorlagefähig ist, ergibt sich aus dem Katalog des Art. 234 Abs. 1 EGV. Danach entscheidet der Gerichtshof: a) über die Auslegung dieses Vertrages, b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft und der EZB, c) über die Auslegung der Satzungen der durch den Rat geschaffenen Einrichtungen, soweit diese Satzungen dies vorsehen. Ausführlich dazu M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 53 ff.; D. Lieher, Über die Vorlagepflicht des Art. 177 EWG-Vertrag und deren Mißachtung, S. 39 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 251 ff.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 11 ff. 74
Zur Entscheidungserheblichkeit: Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000, 10532 (10545 f.); J. Wohlfarth, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 1988, Art. 177, Rn. 58; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EGVertrag, Art. 177, Rn. 56 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 253; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 32 ff.; das Merkmal der Entscheidungserheblichkeit soll verhindern, daß nationale Gerichte dem Europäischen Gerichtshof Rechtsfragen ohne Fallbezug vorlegen und ihn zur Beantwortung hypothetischer Fragen veranlassen. Zur Unzulässigkeit von Vorlagefragen mangels Entscheidungserheblichkeit: Urteil des EuGH vom 5. Juni 1997, Rs. C-105/94, Slg. 1997, 2971 (3009 ff.); Urteil des EuGH vom 25. Juni 1997, Rs. C-224/95, Slg. 1997, 3561 (3598). 7 5 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 583 ff.; Urteil vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311 ff.; Beschluß des EuGH vom 18. Juni 1980, 8 Wollenschläger
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Anlaß hierzu waren die drei Tatbestandsmerkmale „Gericht", „Mitgliedstaatlichkeit" und „zum Erlaß seines U r t e i l s " . 7 6 Der EG-Vertrag definiert die genannten Begriffe nicht explizit. Es handelt sich um offene Rechtsbegriffe, die durch Auslegung ermittelt, materialisiert, werden müssen. 77 Dabei hat der Europäische Gerichtshof alle drei Begriffe vertragsautonom ausgelegt und den Rückgriff auf die nationalen Rechtsordnungen abgelehnt. Dies ergibt sich für seine ersten Entscheidungen aus seiner Arbeitstechnik. In später erlassenen Urteilen spricht er es für den Gerichtsbegriff direkt an: „Der Begriff Gericht im Sinne des Art. 177 des Vertrages ist ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff ( . . . )." 7 8 „Zur Beurteilung der rein gemeinschaftsrechtlichen Frage, ob eine vorlegende Einrichtung Gerichtscharakter im Sinne von Artikel 177 des Vertrages besitzt, ( . . . )." 7 9 Neben dem Europäischen Gerichtshof hat sich auch die Lehre größtenteils für die gemeinschaftsrechtlich orientierte, vertragsautonome Auslegung ausgesprochen. 8 0 Grund hierfür ist erstens die überragende Position des Europäischen GeRs. 138/80, Slg. 1980, 1975 ff.; Beschluß des EuGH vom 5. März 1986, Rs. 318/85, Slg. 1986, 955 ff.; Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff.; Urteil des EuGH vom 17. Mai 1994, Rs. C-18/93, Slg. 1994, 1783 ff.; Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l /94, Slg. 1995, 3361 ff.; Beschluß des EuGH vom 26. November 1999, Rs. C-440/98, Slg. 1999, 8597 ff. 76 Die Lehre führt zu diesen drei Elementen aus, daß sie unterschiedlichen Charakter haben: Wahrend sich die Staatlichkeit und das Merkmal des Gerichts auf die Organeigenschaft der vorlegenden Stelle beziehe, stelle das Merkmal des Urteilserlasses auf die Tätigkeit des Gerichts und damit auf eine materiell-funktionale Komponente ab: M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 92. Es ist in der Lehre von einem institutionellen und einem funktionellen Gerichtsbegriff in Art. 234 EGV die Rede: M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 84 ff., S. 92 ff.; ders., in: ders. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Ρ.Π., Rn. 41 ff., Rn. 57 ff.; P. Fenger, in: Campbell (Hrsg.), Commentary of the EC-Treaty, 1996, Art. 177.02 (d), der nach einer „functional Notion" des Gerichtsbegriffs fragt. 77 Allgemein zur Auslegung offener Rechtsbegriffe: K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 298 ff., 350 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 819 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 108 ff.; M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 338 ff. 78 Urteil des EuGH vom 30. März 1993, Rs. C-24/92, Slg. 1993, 1277 ff. 79 Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4961 (4962); so auch ausdrücklich der Beschluß des EuGH vom 26. November 1999, Rs. C-440/98, Slg. 1999, 8597 (8604); Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000, 10532(10545). 80
Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Auffassungen und Argumente findet sich bei D. Lieber, Über die Vorlagepflicht des Art. 177 EWG-Vertrag und deren Mißachtung, S. 49 ff.; die gemeinschaftsorientierte, vertragsautonome Auslegung wird bevorzugt von H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 177, Rn. 12; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 46; K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 234, Rn. 17; J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234, Rn. 25; R. Streinz, Europarecht, Rn. 557; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/
Α. Grundlagen
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richtshofs, die eine wissenschaftliche Diskussion ins Leere laufen läßt. 81 Zweitens wurde argumentiert, daß sich die gemeinschaftsrechtlich orientierte Auslegung schon wegen der mehr als 60 Gerichtstypen in den sechs Gründungsstaaten anbiete. 82 Drittens wurde darauf verwiesen, daß sie die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts bei Auslegung und Anwendung durch die nationalen Gerichte fördere. 83 Viertens wurde angeführt, daß sie dem Grundsatz, eigenständige Rechtsordnungen aus sich heraus auszulegen, besser Rechnung tragen würde. 84 Letztlich wurde erwähnt, daß der Rückgriff auf das nationale Verständnis zu Manipulationen des Vorabentscheidungsverfahrens durch die Mitgliedstaaten führen könnte, sei es durch die mißbräuchliche Inanspruchnahme des Europäischen Gerichtshofs, indem nicht gerichtliche Einrichtungen als solche deklariert und dadurch vorlageberechtigt würden, sei es durch die Verneinung der Gerichtseigenschaft auf nationaler Ebene, um die Vorlageverpflichtung aus Art. 234 EGV zu umgehen.85
2. Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens ist nach Art. 226 Abs. 1 Hs. 1 EGV der Verstoß eines Mitgliedstaates gegen eine Verpflichtung aus dem EG-Vertrag. 86 Der Wortlaut der Norm unterwirft somit jede staatliche Maßnahme des Mitgliedstaates, also (vertragswidrige) Handlungen der gesetzgebenden Gewalt, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt, der Gemeinschaftsaufsicht nach Art. 226 EGV. 87 Eine wortlautgemäße Unterwerfung allen Handelns und UnterlasEGV, Art. 234 EGV, Rn. 27; anderer Auffassung ist J. Wohlfahrt, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 177, Rn. 42. 81 Zum Problem der Kommentierung von Verfassungsprozeßrecht - im vorliegenden Fall äußerte sich der Europäische Gerichtshof als europäisches Verfassungsgericht zu einer prozessualen Frage - siehe H. Lechner/R. Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Vorwort Π, S. VII, die darauf hinweisen, daß „noch so kluge Ausführungen für den Rechtsanwender belanglos bleiben", wenn das Verfassungsgericht eine andere Auffassung vertritt. 82 D. Lieber, Über die Vorlagepflicht des Art. 177 EWG-Vertrag und deren Mißachtung, Fn. 137, mit Hinweis auf den Merchiers-Bericht (Bericht des Rechtsausschusses des EP über die sich aus der Anwendung des Art. 177 EWG-Vertrages ergebenden Probleme, Dok. EP 94 vom 15. September 1969). 83 D. Lieber, Über die Vorlagepflicht des Art. 177 EWG-Vertrag und deren Mißachtung, S. 50; J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 220, Rn. 30. 84 Η. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 131 ff. 85 D. Lieber, Über die Vorlagepflicht des Art. 177 EWG-Vertrag und deren Mißachtung, S. 50 f. 86 Art. 226 Abs. 1 Hs. 1 EGV lautet: „Hat nach der Auffassung der Kommission ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen, so gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu ab". 87 So etwa A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812; P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 19; differenzierend Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, 8*
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
sens der Mitgliedstaaten unter die Gemeinschaftsaufsicht wirft jedoch zahlreiche Probleme auf, weil sie der ausdifferenzierten gewaltenteiligen Funktionenordnungen der Mitgliedstaaten und deren Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft nicht ausreichend Rechnung trägt. Erstens sind die unterschiedlichen Einwirkungsmöglichkeiten des Mitgliedstaates auf die verschiedenen Funktionsbereiche zu sehen, etwa wenn der Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen will, die sich aus einem Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs nach Art. 228 Abs. 1 EGV ergeben. Zweitens ist die Stellung der nationalen Gerichte in der mitgliedstaatlichen, aber auch in der europäischen gewaltenteiligen Funktionenordnung, insbesondere deren Unabhängigkeit und das Rechtsprechungsmonopol, zu berücksichtigen. Drittens legen es auch rechtsstaatliche Prinzipien nahe, die Aufsicht der Europäischen Gemeinschaft über die verschiedenen Funktionsbereiche der Mitgliedstaaten nicht einheitlich zu dogmatisieren. Diesen Überlegungen Rechnung tragend vertritt die Kommission die Auffassung, daß sie gegen vertragswidrige Maßnahmen nationaler Gerichte nur einschreiten darf, wenn die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV auf offensichtlicher Unkenntnis oder einer bewußten Haltung des Gerichts beruhe. 88 Im Unterschied hierzu übt die Kommission ihr Aufsichtsrecht nach Art. 226 EGV gegenüber vertragswidrigen Rechtsakten der vollziehenden und der gesetzgebenden Gewalt ohne jede Einschränkung aus. Auch der Europäische Gerichtshof ist sich der Untergliederung der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten in verschiedene Funktionsbereiche und der Ausübung der Funktionsbereiche durch verschiedene Organe bewußt.89 Allerdings hat er in seiner bisherigen Judikatur zu Art. 226 EGV weder die verschiedenen Funktionsbereiche der mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalt definiert, noch voneinander abgegrenzt. Mangels einer gegen einen vertragswidrigen Richterspruch gerichteten Klage bestand hierfür noch kein Anlaß. Es ist jedoch davon auszugehen, daß auch der Europäische Gerichtshof im Falle einer Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV, die sich gegen einen nationalen Richterspruch richtete, die Aufsichtsbefugnis der Kommission für die verschiedenen Funktionsbereiche der Staatsgewalt differenziert beurteilen würde. Als ein Indiz hierfür kann die Auffassung des früheren Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs J. Mertens de Wilmar gewertet werden, S. 267 f., die zwischen der vollen gemeinschaftsrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates für das Verhalten seiner Organe und einer nur eingeschränkten Befugnis der Europäischen Gemeinschaft zur Aufsicht über den Mitgliedstaat unterscheiden. 88 AB1EG vom 31. Januar 1979, Nr. C 28/9. Ausführlich wird die Position der Kommission in Kapitel 4 beschrieben. 89 So hat der Europäische Gerichtshof in mehreren Vertragsverletzungsverfahren entschieden, daß die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten unabhängig davon bestehe, welches Staatsorgan durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß verursacht hat, was selbst dann gelte, wenn ein verfassungsmäßig unabhängiges Organ gehandelt habe: Urteil des EuGH vom 5. Mai 1970, Rs. 77/69, Slg. 1970, 237 (243); Urteil des EuGH vom 26. Februar 1976, Rs. 52/75, Slg. 1976, 277 (285).
Β. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren
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daß das Vertragsverletzungsverfahren gegen Rechtsprechungsakte der Mitgliedstaaten nur unter ganz engen Voraussetzungen zulässig sei. 90
B. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren I. Position des Europäischen Gerichtshofs Die Vorlageberechtigung in Art. 234 EGV knüpft in der Hauptsache an die Gerichtseigenschaft der vorlegenden Stelle an. Art. 234 Abs. 2 EGV spricht insofern von „einem Gericht eines Mitgliedstaats", Art. 234 Abs. 3 EGV von „einem einzelstaatlichen Gericht". Es ist deshalb nicht überraschend, daß der Europäische Gerichtshof zu Beginn seiner Spruchpraxis insbesondere den Gerichtsbegriff (institutioneller Rechtsprechungsbegriff) und die Frage nach der Staatlichkeit herausgearbeitet h a t 9 1 In späteren Entscheidungen ist er von dieser Linie abgewichen und hat die Tätigkeit der vorlegenden Stelle (funktioneller Rechtsprechungsbegriff) im Rahmen der Vorlageberechtigung nach Art. 234 EGV untersucht 92 Diese Neuausrichtung ist zu begrüßen, weil sie das in Art. 234 Abs. 2 EGV enthaltene Tatbestandsmerkmal „zum Erlaß seines Urteils" zur Kenntnis nimmt und eher dem Grundsatz der materiellen Funktionentrennung gerecht wird, wonach rechtsprechende Gewalt nur von Gerichten ausgeübt werden kann und die Hauptaufgabe der Rechtsprechungsorgane in der Ausübung rechtsprechender Gewalt besteht.93
90 J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 389 f. Zwar hat er die dort enthaltenen Aussagen nicht als Richter, sondern in seiner nicht amtlichen Eigenschaft als Autor gemacht, eine gewisse Aussagekraft enthalten sie dennoch. 91 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 583 ff.; Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311 ff.; die Betonung des institutionellen Kriteriums spiegelt sich in zahlreichen Entscheidungsformulierungen des Europäischen Gerichtshofs wieder, in denen er fragte, ob die vorlegende Stelle beziehungsweise die Auslegungshilfe erbittende Einrichtung nationales Gericht im Sinne des Art. 234 EGV sei. 92 Beschluß des EuGH vom 18. Juni 1980, Rs. 138/80, Slg. 1980, 1975 (1977); Beschluß des EuGH vom 5. März 1986, Rs. 318/85, Slg. 1986, 955 ff.; Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff.; Urteil des EuGH vom 17. Mai 1994, Rs. C-18/93, Slg. 1994, 1783 ff.; Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3361 ff.; Beschluß des EuGH vom 26. November 1999, Rs. C-440/98, Slg. 1999, 8597 (8604). 93 BVerfG NJW 2001, 1048 (1052); Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 4; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 543, 893 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 180 ff., 230 f.; B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 8.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Das Merkmal der Mitgliedstaatlichkeit verlangt, mitgliedstaatliche Gerichte von Gerichten anderer Staaten zu unterscheiden; denn nach Art. 234 EGV sind nur mitgliedstaatliche Gerichte vorlageberechtigt, nicht aber Gerichte dritter Staaten oder internationale Gerichtshöfe. 94 Weiterhin ist zwischen der privaten und der hoheitlichen Gerichtsbarkeit in den Mitgliedstaaten zu trennen, weil nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs zwischen der vorlegenden Stelle und dem allgemeinen Rechtsschutzsystem des betreffenden Mitgliedstaates ein hinreichender Bezug bestehen muß 9 5 Im Unterschied hierzu sind private Schiedsgerichte nicht vorlageberechtigt. 96 Gerichte sind zweitens von den Staatsorganen der vollziehenden und der gesetzgebenden Gewalt zu unterscheiden. Weil nach Art. 234 EGV nur nationale Gerichte vorlageberechtigt sind, können die Parteien des Ausgangsverfahrens, Organe der Europäischen Gemeinschaft, Behörden und Parlamente fraglos aus dem Kreis der Vorlageberechtigten ausgeschieden werden 9 7 Sie sind offensichtlich keine Gerichte im Sinne der Vorschrift. Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich jedoch, wenn Justizvollzugsorgane handeln, beispielsweise die Staatsanwaltschaft beim Erlaß von Einstellungsverfügungen nach §§ 153, 153a, 170 Abs. 2 S. 1 StPO oder andere Einrichtungen, die zwar unabhängig, aber der Verwaltung oder der Gesetzgebung zuzurechnen sind. Schließlich sind die unterschiedlichen Handlungsformen der Gerichte abzugrenzen. Nach Art. 234 Abs. 2 EGV sind Gerichte nur vorlageberechtigt, wenn ihre Tätigkeit auf den Erlaß eines Urteils zielt, mit anderen Worten: wenn sie eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter erlassen. Wenn Gerichte hingegen Entscheidungen treffen, die vollziehenden oder normsetzenden Charakter haben, dürfen sie nicht vorlegen 9 8
94 So auch D. Lieber; Über die Vorlagepflicht des Art. 177 EWG-Vertrag und deren Mißachtung, S. 47; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 45; hierzu auch Urteil des EuGH vom 4. November 1997, Rs. C-337/95, Slg. 1997, 6013 (6042 ff.), in welchem der Europäische Gerichtshof entschied, daß der Benelux-Gerichtshof trotz seines internationalen Charakters vorlageberechtigt sei. 95 Vgl. hierzu Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 ff.; Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rechtssache 246/80, Slg. 1981, 2311 ff.; Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 583 ff. 96
M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 86 ff. 97 So auch D. Lieber, Über die Vorlagepflicht des Art. 177 EWG-Vertrag und deren Mißachtung, S. 47; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 45, mit Hinweis auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. 98 Beispiele für verwaltende Funktionen der Gerichte finden sich in Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff.; Urteil des EuGH vom 17. Mai 1994, Rs. C-18/93, Slg. 1994, 1783 ff.; Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3361 ff.
Β. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren
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1. (Mitglied-^Staatlichkeit Das Kriterium der (Mitglied-)Staatlichkeit wird in Art. 234 Abs. 2 und Abs. 3 EGV ausdrücklich erwähnt. Die neutrale Formulierung kann weit oder einschränkend ausgelegt werden. Wenn man den Begriff großzügig auslegt, so könnte darunter jede Einrichtung fallen, die auf dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates Recht spricht, unabhängig davon, ob sie öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Charakter hat (rein räumlicher Bezug). Einschränkender ist ein Verständnis, das eine gewisse staatliche Mitwirkung verlangt. Diese könnte etwa in der staatlichen Mitbestimmung bei der Besetzung des Spruchkörpers liegen, in einem behördlichen Genehmigungsverfahren bestehen oder durch gesetzliche Regelungen über das Verfahren zum Ausdruck kommen. Demgegenüber steht eine Auslegung, welche nur solche Einrichtungen als mitgliedstaatliche Gerichte im Sinne des Art. 234 EGV anerkennt, die entweder unmittelbar vom Staat oder durch andere öffentlich-rechtlichen Körperschaften aufgrund allgemeiner Gesetze errichtet worden sind." Der Europäische Gerichtshof legt den Begriff der Mitgliedstaatlichkeit großzügig aus. Schon in der Rechtssache Vaassen-Göbbels100 urteilte er, daß der Begriff des mitgliedstaatlichen Gerichts im Sinne von Art. 234 EG-Vertrag unter bestimmten Voraussetzungen auch andere Einrichtungen als allgemeine Gerichte umfasse. 101 Im Ausgangsfall hatte ein Schiedsgericht der Bergbauangestelltenkasse aus den Niederlanden dem Europäischen Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt. 102 Das Schiedsgericht wird wegen der Rechtsträgerschaft der 99 So Art. 92 GG für Deutschland, wonach Gerichte im Sinne des Grundgesetz nur staatliche Gerichte sind: K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2792; ders., Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 72 ff.; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 145 ff., 151; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 8; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 180 ff., 231; B. Pieroth, in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 4; allerdings ist zwischen unmittelbarer und mittelbarer Staatsgerichtsbarkeit zu unterscheiden. Unmittelbare Staatsgerichtsbarkeit liegt vor, wenn eines der in Art. 92 Hs. 2 GG erwähnten Gerichte tätig wird. Mittelbare Staatsgerichtsbarkeit wird von Einrichtungen ausgeübt, deren Träger andere Personen des öffentlichen Rechts sind, zum Beispiel die Gemeinden: N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 156 ff.; Β. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 4. Über die Zulässigkeit privater Gerichtsbarkeiten äußert sich das Grundgesetz nicht. 100 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 583 ff.
ιοί Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 585 (Leitsatz Nr. 1). Mit allgemeinen Gerichten sind für die Zivilgerichtsbarkeit die „normalen" staatlichen Gerichte gemeint, wie das Tribunal de grande instance, die Cour d'appel etc. in Frankreich, die Amtsgerichte, die Landgerichte, die Oberlandesgerichte und der Bundesgerichtshof in Deutschland. i° 2 Zum Sachverhalt (Slg. 1966, 586 ff.): Die vorlegende Einrichtung ist ein Schiedsgericht der niederländischen Bergbauangestelltenkasse. Nach dem Reglement der Angestelltenkasse (Reglement van het Beamtenfonds voor het Mijnbedrijf = RBFM) ist das Schiedsgericht für Streitigkeiten zwischen der Kasse und ihren Zwangversicherungspflichtigen Mit-
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Bergbauangestelltenkasse nicht dem allgemeinen Gerichtssystem in den Niederlanden zugerechnet. Trotzdem bejahte der Europäische Gerichtshof die Vorlageberechtigung des Schiedsgerichts und damit auch die Staatlichkeit, weil die M i t gliedschaft in der Kasse obligatorisch sei und die Versicherungsnehmer bei Rechtsstreitigkeiten mit ihrem Versicherer das Schiedsgericht anrufen müßten. 1 0 3 Er führte weiterhin aus, daß das Schiedsgericht aufgrund niederländischen Rechts ordnungsgemäß gebildet sei und daß der für den Bergbau zuständige Minister die Mitglieder des Schiedsgerichts zu ernennen, den Vorsitzenden zu bestimmen und die Verfahrensordnung für das Schiedsgericht zu erlassen h a b e . 1 0 4 Diese Rechtsprechung bestätigte der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Dorsch Consult. 1 0 5 Auch in diesem Fall bejahte er die Gerichtseigenschaft der vorlegenden Stelle, des deutschen Vergabeüberwachungsausschusses des Bundes, obwohl dieser als eine vom Bund nach Art. 57 Abs. 7 S. 1 HGrG errichtete Institution eindeutig nicht der allgemeinen Gerichtsbarkeit zugerechnet werden kann. Noch einen Schritt weiter ging der Europäische Gerichtshof in der Broekmeulen-Entscheidung vom 6. Oktober 1 9 8 1 , 1 0 6 indem er einen von einer privatrechtlichen Gesellschaft eingerichteten Streitsachenausschuß als staatliches Gericht anerkannte. 1 0 7 Er begründete sein Urteil zum einen damit, daß bei der Zusammengliedern zuständig und eine zwingend vorgeschriebene Instanz. Der Rechtsweg zu den allgemeinen Gerichten steht nach der Entscheidung des Schiedsgerichtes offen, ist tatsächlich aber noch nie begangen worden, weil das Schiedsgericht als Ersatz der staatlichen Gerichtsbarkeit gedacht ist. Es ist eine ständige Einrichtung und entscheidet nach Rechtsnormen. Das Reglement bedarf der ministeriellen Genehmigung. 103 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 / 65, Slg. 1966, 602. Die Kommission erklärte in der Rechtssache (S. 596) darüber hinaus, daß das Schiedsgericht geschaffen wurde, um in erster und letzter Instanz Rechtsstreitigkeiten in Angelegenheiten der Krankenversicherung zu entscheiden, und daß es tatsächlich die einzige gerichtliche Instanz auf diesem Gebiet darstelle. 104 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 602. 105 Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4961 ff. Der Europäischen Gerichtshof war anläßlich der Auslegung einer EG-Richtlinie über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge angerufen wurden. 106 Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rechtssache 246/80, Slg. 1981, 2311 ff. 107 Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rechtssache 246/80, Slg. 1981, 2328; zum Sachverhalt (S. 2313 ff.): In den Niederlanden entscheidet die Königlich-Niederländische Gesellschaft zur Förderung der Medizin, die nach niederländischem Recht eine privatrechtliche Vereinigung ist, über die Anerkennung als praktischer Arzt. Die Vorschriften der Anerkennung sind in der Satzung der Königlich-Niederländischen Gesellschaft geregelt. Über die Anerkennung entscheidet ein sog. Zulassungsausschuß, ein Organ der Gesellschaft. Wird der Antrag des Mediziners abgelehnt, hat er die Möglichkeit, Rechtsbehelf bei dem Streitsachenausschuß für Angelegenheiten der allgemeinen Medizin einzulegen (der Streitsachenausschuß hatte den Europäischen Gerichtshof angerufen). Die nationale Regierung wirkt bei der Zusammensetzung des Streitsachenausschusses mit, weil drei seiner neun Mitglieder, darunter auch der Vorsitzende, von ihr benannt werden. Die Entscheidung ergeht in einem kontradiktorischen Verfahren und ist tatsächlich letztinstanziell. Obwohl die Möglichkeit der
Β. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren
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setzung des Streitsachenausschusses eine ausgeprägte Mitwirkung der niederländischen Behörden festzustellen sei (ein Drittel der Mitglieder, darunter auch der Vorsitzende des Ausschusses werden durch den Minister für Hochschulunterricht oder für öffentliche Gesundheit ernannt). Zum anderen wies er darauf hin, daß die Entscheidungen des Streitsachenausschusses faktisch als endgültig hingenommen werden, so daß es in der Praxis keinen effektiven Rechtsbehelf zu den ordentlichen Gerichten gebe. 108 Im Unterschied hierzu verneinte der Europäische Gerichtshof in der bekannten Nordsee-Entscheidung 109 aus dem Jahre 1982 die Staatlichkeit eines deutschen Schiedsgerichts im Sinne des Art. 234 EGV, dessen Zuständigkeit durch einen Vertrag zwischen Privatpersonen begründet worden war. 1 1 0 Er argumentierte, daß die deutsche öffentliche Gewalt weder in die Entscheidung, den Weg der Schiedsgerichtsbarkeit zu wählen, mit einbezogen gewesen sei, noch habe sie von Amts wegen in den Ablauf des Verfahrens vor dem Schiedsgericht eingreifen können. 111 Als Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft habe Deutschland Privatpersonen weder damit betraut, noch es ihnen überlassen, für die Beachtung seiner EGvertraglichen Verpflichtungen Sorge zu tragen. 112 Die erforderliche hinreichend enge Beziehung zwischen dem vorlegenden Schiedsgericht und dem allgemeinen Rechtsschutzsystem des betroffenen Mitgliedstaats war nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs deshalb nicht gegeben. Letztlich ist ein Urteil aus dem Jahre 1989 zu erwähnen. 113 Der Europäische Gerichtshof bestätigte die Staatlichkeit eines dänischen tarifvertraglichen SchiedsAnrufung der ordentlichen Gerichtsbarkeit besteht, ist bis heute noch nie ein Gericht der allgemeinen staatlichen Gerichtsbarkeit angerufen worden. 108 Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2326 ff. 109 Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982,1095 ff. no Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1109 ff. In der Rechtssache Nordsee schlossen sich drei deutsche Reedereigruppen zu einem Pool zusammen, um gemeinsam an einem Programm zum Neubau von Fabrikfangschiffen teilzunehmen. Die Zusammenschlußvereinbarung enthielt eine Schiedsklausel, wonach der ordentliche Rechtsweg ausgeschlossen sein sollte und die Parteien sich verpflichteten, im Falle von Streitigkeiten sich dem Spruch eines Schiedsrichters zu unterwerfen. Die Person des Schiedsrichters war von den Parteien zu bestimmen. Sollten sich die Parteien nicht auf eine Person einigen können, sah der Vertrag vor, daß der Schiedsrichter von der Handelskammer Bremen zu benennen sei. Tatsächlich kam es bald zum Streit, und die Handelskammer Bremen benannte den Präsidenten des Hanseatischen OLG Bremen zum Schiedsrichter. In dieser Eigenschaft wollte der Präsident die Zusammenschlußvereinbarung dem Europäischen Gerichtshof vorlegen und auf ihre Vereinbarkeit mit dem EG-Recht überprüfen lassen. in Urteil des EuGH vom 23. März, Rs. 102/81, Slg. 1981, 1095 (1110). 112 Urteil des EuGH vom 23. März, Rs. 102/81, Slg. 1981, 1095(1110). 113 Urteil des EuGH vom 17. Oktober 1989, Rs. 109/88, Slg. 1989, 3199 ff. Folgender Sachverhalt lag zu Grunde: Das vorlegende Faglig voldgiftsret ist ein tarifvertragliches Schiedsgericht. Es entscheidet letztinstanzlich Streitigkeiten, die zwischen den Tarifparteien - Gewerkschaften sowie Arbeitgebern - bestehen. Die Zuständigkeit des Gerichts für tarifvertragliche Streitigkeiten ergibt sich aus § 22 des Gesetzes über das Arbeitsgericht. Sie ist
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
gerichts, weil die Parteien nicht frei über die Zusammensetzung des Schiedsgerichtes bestimmen könnten, das Gericht nach den dänischen Gesetzen den Streit letztinstanzlich entscheide und seine Zuständigkeit nicht vom Einvernehmen der Parteien abhängig sei. 114 Als Ergebnis ist festzuhalten, daß der Europäische Gerichtshof eine Einrichtung bereits dann als staatliches Gericht betrachtet, wenn gewisse Mitwirkungs- und Einwirkungsmöglichkeit der öffentlichen Gewalt bestehen, wenn die Gerichtshoheit der Disposition der Parteien entzogen ist und wenn das Gericht mit Zustimmung des Mitgliedstaates Rechtsprechungsaufgaben wahrnimmt. Es reicht somit aus, wenn, wie es Generalanwalt Tesauro in seinem Schlußantrag zur Rechtssache Dorsch Consult formuliert hat, eine „Verbindung zur öffentlichen Gewalt" 115 besteht. Nicht erforderlich ist hingegen, daß das vorlegende Gericht der allgemeinen staatlichen Gerichtsbarkeit angehört.
2. Institutionelle Kriterien Über die Voraussetzungen der Gerichtseigenschaft im Sinne von Art. 234 EGV hat sich der Europäische Gerichtshof bisher in einer Vielzahl von Entscheidungen geäußert. 116 Die erste maßgebliche und auch heute noch oft zitierte Entscheidung ist das Vaassen-Göbbels-Urteil 117 aus dem Jahre 1966. Die in dieser Entscheidung angeführten Kriterien hat der Europäische Gerichtshof durch spätere Judikate ergänzt, präzisiert und bestätigt. Aus der Zusammenschau aller Entscheidungen lassen sich folgende Kriterien herausfiltern: 118
zwingend vorgeschrieben, wenn ein Einigungsversuch zwischen den Parteien mißlungen ist. § 22 des Gesetzes bestimmt darüber hinaus die Besetzung des Gerichts und entzieht diese damit der Disposition der Parteien. Schließlich kann jede Partei unabhängig von der Einwilligung des Gegners das Tarifgericht anrufen. Π4 Urteil des EuGH vom 17. Oktober 1989, Rs. 109/88, Slg. 1989, 3224 f. (Leitsatz Nr. 1). us Schlußantrag vom 15. Mai 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4974. 116 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 583 ff.; Urteil vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311 ff.; Urteil vom 17. Oktober 1989, Rs. 109/88, Slg. 1989, 3199 ff.; Urteil vom 27. April 1994, Rs. C-393/92, Slg. 1994, 1477 ff.; Urteil vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff.; Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4961 ff.; Urteil vom 16. Oktober 1997, verb. Rs. C-69/96 bis C-79/96, Slg. 1997, 5603 ff.; Urteile, in denen der EuGH die Gerichtseigenschaft der vorlegenden Stelle verneint hat: Urteil vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 ff.; Urteil vom 30. März 1993, Rs. C-24/92, Slg. 1993, 1277 ff. i n Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 583 (601 f.). Ii® In einigen Entscheidungen faßte der EuGH die maßgeblichen Kriterien selbst zusammen: Urteil vom 27. April 1994, Rs. C-393/92, Slg. 1994, 1514; Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4992 f.; Urteil vom 16. Oktober 1997, verb. Rs. C-69/96 bis C-79/96, Slg. 1997, 5628.
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(1) Errichtung des Spruchkörpers aufgrund einer gesetzlichen Grundlage, 119 (2) Ständiger Charakter der Einrichtung (in Abgrenzung zu Ad-hoc-Gerichten), 120 (3) Entscheidung nach Rechtsnormen (in Abgrenzung zur Billigkeit), 121 (4) Obligatorische Gerichtsbarkeit mit bindender Entscheidung,122 (5) Unabhängigkeit der vorlegenden Einrichtung. 123 Nicht für entscheidungserheblich hielt der Europäische Gerichtshof das Kriterium des Berufsrichters. 124
Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 602; Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4963; Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000, 10532 (10545 f.). 120 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 602; Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4963; Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000, 10532 (10545 f.). 121 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 602; Urteil vom 27. April 1994, Rs. C-393/92, Slg. 1994, 1415; Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4994 f.; Urteil vom 16. Oktober 1997, verb. Rs. C-69/96 bis C-79/96, Slg. 1997, 5629. 122 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 602; Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2328, in welchem der Europäische Gerichtshof von einer obligatorischen Gerichtsbarkeit ausging, weil in der Praxis die Anrufung eines ordentlichen Gerichts noch nie erfolgt sei und die vorlegende Stelle faktisch eine endgültige und verpflichtende Entscheidung fälle; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4993 ff; Urteil vom 16. Oktober 1997, verb. Rs. C-69/96 bis C-79/96, Slg. 1997, 5628; Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000, 10532 (10545 f.). 123 Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2567; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4995 f.; Urteil des EuGH vom 16. Oktober 1997, verb. Rs. C-69/96 bis C-79/96, Slg. 1997, 5629; Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000, 10532 (10545 f.). Das Studium der Urteile ergibt, daß der Europäische Gerichtshof das Kriterium der Unabhängigkeit des Richters nicht von Beginn an, also schon in der Rechtssache Vaassen-Göbbels, für maßgeblich erachtet hat. Dies überrascht um so mehr, als die richterliche Unabhängigkeit wohl die charakteristischste Eigenschaft der Rechtsprechungsorgane ist und die Kommission in ihrer anläßlich dieses Verfahrens abgegebenen Erklärung ausdrücklich darauf hingewiesen hat (Erklärung der Kommission in der Rechtssache Vaassen-Göbbels, Slg. 1966, S. 595). Der Europäische Gerichtshof hat dieses Versäumnis jedoch in den oben genannten, späteren Urteilen behoben und nunmehr auch die Unabhängigkeit des Richters zu den begriffsbestimmenden Merkmalen gezählt. 124 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 602. Zwar hatte die Kommission in der Rechtssache Vaassen-Goebbels das Kriterium problematisiert (Slg. 1966, 595), aber sowohl der Europäische Gerichtshof als auch die Kommission haben ihm keine Entscheidungsrelevanz zugemessen. Interessant ist folgende, von der Kommission im Rahmen des Verfahrens abgegebene Erklärung: „Daß die Mitglieder des Schiedsgerichts nicht notwendigerweise Berufsrichter oder überhaupt Juristen sein zu müssen scheinen - obwohl im vorliegenden Fall die Entscheidung durch Juristen getroffen worden ist - sei ohne Bedeutung. Es handele sich hier um eine auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit normale Erscheinung" (Slg. 1966, 595).
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten a) Gesetzliche Grundlage
Nach der Ansicht des Europäischen Gerichtshofs muß die vorlegende Einrichtung aufgrund einer gesetzlichen Grundlage gebildet worden s e i n . 1 2 5 Hiervon abzugrenzen ist insbesondere die Errichtung der Einrichtung durch privatrechtlichen Vertrag zwischen den Verfahrensparteien. So bejahte der Europäische Gerichtshof die gesetzliche Grundlage der vorlegenden Stelle in der Rechtssache Vaassen-Göbbels, weil das betroffene Schiedsgericht nach dem niederländischen Recht, dem „Reglement van het Beamtenfonds voor het Mijnbedrijf", gebildet worden w a r . 1 2 6 Der deutsche Vergabeüberwachungsausschuß, der in der Rechtssache Dorsch Consult vorgelegt hatte, 1 2 7 wurde gleichfalls als Gericht i m Sinne des Art. 234 EGV anerkannt, obwohl die Kommission die Auffassung vertreten hatte, daß das maßgebliche Haushaltsgrundsätzegesetz den Anforderungen, die an ein allgemeines Gesetz zu stellen seien, nicht entspreche, weil das Gesetz rein objektiv-rechtlich wirke und keine subjektiven Rechte und Pflichten der Bürger begründe. 1 2 8 Der Europäische Gerichtshof verwarf diesen Einwand und bejahte die Vorlageberechtigung des Vergabeüberwachungsausschusses mit dem Argument, daß dieser gemäß § 57c Abs. 7 HGrG errichtet worden sei, einer Norm, die fraglos Gesetzescharakter habe.129 •25 So etwa EuGH, Urteil vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 602; Urteil vom 27. April 1994, Rs. C-393/92, Slg. 1994, 1515; Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4963; Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000, 10532 (10545 f.). 126 EuGH, Urteil vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 602. 127 Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4961 ff.; zur Entscheidung A. Boesen, EuGH bejaht Vorlageberechtigung der Vergabeüberwachungsausschüsse, NJW 1997, 3350 ff. Zum Sachverhalt, im Urteil wiedergegeben auf den Seiten 4984 ff.: Die Baugesellschaft Berlin mbH (Vergabestelle) hatte 1995 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften einen Dienstleistungsvertrag über Architektur- und Bauingenieurleistungen ausgeschrieben. Die Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft mbH reichte daraufhin ein Angebot ein, der Auftrag wurde jedoch an zwei kostengünstigere Mitbewerber vergeben. Nach Kenntnisnahme ihrer Ablehnung wandte sich die Dorsch Consult an das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau als Vergabeprüfstelle, um die Entscheidung der Vergabestelle überprüfen zu lassen. Die Vergabestelle erklärte sich für unzuständig. Daraufhin rief die Dorsch Consult den Vergabeüberwachungsausschuß des Bundes, die vorlegenden Stelle, an. Der Vergabeüberwachungsausschuß ist eine Einrichtung, die gemäß § 57c Abs. 7 HGrG (die §§ 57a bis c HGrG wurden durch Gesetz vom 26. 8. 1998 aufgehoben, BGBl. 1998 I, 2512) vom Bund errichtet worden war. Seine Mitglieder sind gemäß § 57c Abs. 2 S. 3 HGrG unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Die Einrichtung selbst übt gemäß § 57c Abs. 1 ihre Tätigkeit unabhängig und in eigener Verantwortung aus. Sie hat nach § 57c Abs. 5 S. 1 HGrG die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Vergabeprüfstelle zu überprüfen. Stellt sie die Rechtswidrigkeit der Entscheidung der Vergabeprüfstelle fest, dann weist sie gemäß § 57c Abs. 5 S. 3 HGrG die Vergabeprüfstelle an, unter Berücksichtigung ihrer Rechtsauffassung neu zu entscheiden. 128 Diese Position der Kommission findet sich in den Schlußanträgen des Generalanwaltes G. Tesauro vom 15. Mai 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4974. 129 EuGH, Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4993.
Β. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren
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Als Gegenbeispiel hierzu ist die Rechtssache Nordsee anzuführen. 130 Zwar begründete der Europäische Gerichtshof die Ablehnung der Vorlageberechtigung des Schiedsgericht damit, daß die vorlegende Stelle nicht staatlich sei und keine obligatorische Gerichtsbarkeit bestehe,131 er hätte sie aber auch wegen der fehlenden gesetzlichen Grundlage ablehnen müssen; denn das Schiedsgericht war aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages zwischen den (Verfahrens-)Parteien errichtet worden.
b) Ständige Einrichtung
Mit dem Merkmal der ständigen Einrichtung hat sich der Europäische Gerichtshof nur wenig befaßt. Nachdem er es erstmals in der Entscheidung Vaassen-Göbbels erwähnt hatte, 132 griff er das Kriterium in anderen Entscheidungen wieder auf, ohne sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen.133 Grundsätzlich sind ständige Einrichtungen von sogenannten „Ad-hoc-Gerichten" zu unterscheiden. Während erstgenannte für eine unbestimmte Anzahl von Fällen schon vor Entstehung des Rechtsstreits errichtet worden sind, werden letztgenannte anläßlich eines oder mehrerer Einzelfälle, oft auch erst nach Entstehung des Rechtsstreits, errichtet und nach Erlaß des Urteils wieder aufgelöst. Ein Beispiel für ein solches Ad-hoc-Gericht sind die anläßlich der Olympischen Spiele errichteten Sportgerichte, die Dopingverstöße der Athleten zu beurteilen haben.
c) Entscheidung nach Rechtsnormen
Die Entscheidung der vorlegenden Stelle muß nach allgemeinen Rechtsnormen ergehen. 134 Auch dieses Merkmal hat der Europäische Gerichtshof schon in der Vaassen-Göbbels-Entscheidung angesprochen, ohne es näher zu erläutern. 135 Im Almelo-Urteil 136 führte er hierzu aus, daß selbst, wenn das vorlegende Gericht 130 Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 ff. 131 Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 (1110). 132 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 583 ff. 133 So etwa Urteil des EuGH vom 27 April 1994, Rs. C-393 /92, Slg. 1994, 1477 (1515). 134 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 583 (602); Urteil vom 27 April 1994, Rs. C-393/92, Slg. 1994, 1477; Urteil vom 16. Oktober 1997, verb. Rs. C-69/96 bis C-79/96, Slg. 1997, 5628 f. 135 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 583 (602), in welchem er ausführt, daß die vorlegende Stelle nach Rechtsnormen zu entscheiden hat. 136 Urteil des EuGH vom 27 April 1994, Rs. C-393/92, Slg. 1994, 1477 f. Das vorlegende Gericht war ein niederländisches Gericht, welches der allgemeinen Gerichtsbarkeit zuzurechnen ist. Aufgrund eines Schiedsvertrages mußte es einen Rechtsstreit zwischen lokalen Stromversorgungsunternehmen entscheiden. Der Schiedsvertrag sieht eine Entscheidung nach billigem Ermessen vor.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
nach billigem Ermessen entscheide, es als staatliches Organ wegen Art. 10 EGV (ex Art. 5 EGV) an die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts gebunden sei und deshalb letztendlich keine Billigkeitsentscheidung treffe. In der Rechtssache Dorsch Consult 137 zweifelte die Kommission an, daß der vorlegende Vergabeüberwachungsausschuß nach Rechtsnormen geurteilt habe, weil er sich die anzuwendenden Verfahrensregeln mittels seiner Geschäftsordnung, welche weder Außenwirkung habe, noch veröffentlicht worden sei, selbst gegeben hatte. 138 Der Europäische Gerichtshof hielt diesen Einwand für unbeachtlich. Er betonte, daß der Vergabeüberwachungsausschuß verpflichtet sei, die in den Richtlinien der Gemeinschaft und in den zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechtsverordnungen enthaltenen Vergabe Vorschriften anzuwenden.139 Außerdem seien allgemeine Verfahrensanforderungen, wie die Verpflichtung, die Beteiligten zu hören oder die Entscheidungen zu begründen, in der im Bundesgesetzblatt veröffentlichten Nachprüfungsordnung genannt. 140
d) Obligatorische
Gerichtsbarkeit
Das Kriterium der obligatorischen Gerichtsbarkeit hat der Europäische Gerichtshof ausführlich dargelegt. 141 Er leitet aus ihm verschiedene Forderungen ab. Das angerufene Gericht müsse erstens die einzige Instanz sein, an die sich die Parteien bei Rechtsstreitigkeiten wenden könnten. 142 Des weiteren müsse das Gerichtsurteil die Parteien binden, also verbindlich sein. 143 Gegen die Entscheidung der vorlegenden Stelle dürfe rechtlich und/oder faktisch kein Rechtsmittel zu den ordentlichen Gerichten bestehen.144 Schließlich dürfe der Beklagte die Anrufung des Gerichts durch den Kläger nicht beeinflussen oder gar verhindern können. 145 Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Nordsee 146 die Gerichtsqualität eines privatrechtlich errichteten Schiedsgerichts verneint, weil die Verfahrensparteien weder rechtlich noch tatsächlich verpflichtet geB7 Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4961 ff. 138 Auffassung der Kommission, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4994 f. 139 Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4994 f. 140 Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4995. 141 So etwa Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 583 ff.; Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311 ff.; Urteil des EuGH vom 17. Oktober 1989, Rs. 109/88, Slg. 1989, 3199 ff.; Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 ff.; Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000, 10532 (10545 f.). 142 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 583 (602). 143 Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311 (2328). 144 Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311 (2328). 145 Urteil des EuGH vom 17. Oktober 1989, Rs. 109/88, Slg. 1989, 3199 (3224 f.). 146 Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 ff.
Β. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren
127
wesen seien, das Schiedsgericht anzurufen. 147 Der Rechtsstreit hätte auch vor ein ordentliches Gericht gebracht werden können. 148 In der Rechtssache Broekmeulen 1 4 9 bejahte er folgerichtig die obligatorische Gerichtsbarkeit, obwohl es sich bei dem vorlegenden Streitsachenausschuß um das Organ einer Gesellschaft des Privatrechts handelte, weil die Entscheidungen der Einrichtung faktisch als endgültig hingenommen werden, so daß es in der Praxis keinen effektiven Rechtsbehelf zu den ordentlichen Gerichten gebe. 150 Zu demselben Ergebnis kam der Europäische Gerichtshof auch in der Rechtssache Dorsch Consult. 151 Die obligatorische Gerichtsbarkeit des Vergabeüberwachungsausschusses war von der Kommission und dem Generalanwalt in Frage gestellt worden, weil dessen Entscheidungen nicht durchsetzbar seien und es damit an der Bindungswirkung der Entscheidung fehle. 1 5 2 Der Europäische Gerichtshof erwiderte hierauf, daß der Vergabeüberwachungsausschuß die einzige Stelle sei, welche die Befugnis zur Überprüfung der Entscheidungen der Vergabeprüfstelle habe. 153 Weiterhin ergebe sich aus § 57c HGrG, daß der Überwachungsausschuß die Vergabeprüfstelle anweisen könnte, unter Beachtung seines Urteils erneut zu entscheiden. Folglich seien die Entscheidungen des Vergabeüberwachungsausschusses bindend. 154
e) Unabhängigkeit
des vorlegenden Organs
Ein sehr wichtiges, wenn nicht das wichtigste Merkmal eines Gerichts ist die Unabhängigkeit des Richters (vgl. Art. 97 Abs. 1 GG, Art. 223 Abs. 1 EGV). Der Europäische Gerichtshof hat es zum ersten Mal im Urteil Pretore di Salò 155 erwähnt, in welchem er darauf hinwies, daß der Pretore trotz gemischter rechtsprechender und verwaltungsrechtlicher Tätigkeit ein unabhängiges Organ der Rechtspflege und damit Gericht im Sinne des Art. 234 EGV sei. 147 Urteil 148 Urteil 149 Urteil 150 Urteil
des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 (1110). des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 (1110). des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311 ff. des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2327 f.
151 Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4961 ff. 152 Hierzu die Schlußanträge des Generalanwalts G. Tesauro vom 15. Mai 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4978. 153 Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4994. 154 Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4993 f. 155 Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff. Die vorlegende Stelle, der Pretore, ist ein Organ der italienischen Rechtspflege, welches staatsanwaltschaftliche und ermittlungsrichterliche Aufgaben wahrnimmt. Am Ende des Ermittlungsverfahrens erläßt er eine der Entscheidungen, welche die Strafprozeßordnung zum Abschluß der Ermittlungen vorsieht. Dies kann entweder ein Einstellungsbeschluß, ein Vorladebeschluß oder ein auf Freispruch lautendes Urteil sein. Beim Erlaß des Einstellungsbeschlusses handelt er dabei im Namen und anstelle des Ermittlungsrichters (Slg. 1987, S. 2548). In allen drei Fällen besteht Unabhängigkeit und Weisungsungebundenheit des Pretore.
128
Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Auch in der Rechtssache Corbiau 156 hielt der Europäische Gerichtshof die Unabhängigkeit des Organs für entscheidungserheblich. Allerdings verneinte er in diesem Verfahren die Unabhängigkeit der vorlegenden Stelle, des „Directeur des contributions directes et des accises". Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Das luxemburgische Recht sieht die Institution des Directeur des contributions directes et des accises vor. Dieser hat in gewissen Fällen über die Rückzahlung bereits gezahlter Steuern zu entscheiden, wenn der Steuerpflichtige ohne Erfolg in einem Vorverfahren von der Finanzbehörde die Rückzahlung seiner Abgaben beantragt hat und deren Einbehaltung nach Lage des Einzelfalles unbillig wäre. Die Einrichtung des Directeur des contributions directes et des accises ist mit einer Person aus der Finanzverwaltung besetzt. Zur Begründung seiner ablehnenden Meinung führte der Europäische Gerichtshof an, daß ein Gericht seinem Wesen nach nur einen Spruchkörper bezeichnen könne, der keinerlei Verbindung zur Ausgangsbehörde aufweise, deren Entscheidung überprüft werde. 157 Die vorlegende Stelle müsse die Eigenschaft eines Dritten haben. 158 Diese Voraussetzungen waren seiner Auffassung nach in der Person des Directeurs des contributions directes et des accises nicht gegeben, weil ein Beamter aus der Finanzverwaltung Richter sei. 159 Im Unterschied hierzu bejahte der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Dorsch consult 160 die Unabhängigkeit des deutschen Vergabeüberwachungsausschusses, obwohl das maßgebliche Haushaltsgrundsätzegesetz keine Unabsetzbarkeit der Mitglieder des Vergabeüberwachungsausschusses vorsah, sich dessen Mitglieder aus der Beamtenschaft des Bundeskartellamtes rekrutierten und die Beamteneigenschaft der Richter durch die Mitgliedschaft nicht verloren ging. 1 6 1 Seine Auffassung stützte der Europäische Gerichtshof insbesondere auf § 57c Abs. 1 HGrG und § 57c Abs. 2 S. 3 HGrG, nach welchen der Vergabeüberwachungsausschuß seine Tätigkeit unabhängig und in eigener Verantwortung ausübe bzw. seine Mitglieder unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen seien. 162 Darüber hinaus verwies er auf die im Haushaltsgrundsätzegesetz angeordnete Geltung wesentlicher Vorschriften des deutschen Richtergesetzes. 163 Die Beamteneigenschaft und die Absetzbarkeit der Mitglieder hielt er für nicht maßgeblich.
156 Urteil des EuGH vom 30. März 1993, Rs. C-24/92, Slg. 1993, 1277 ff.; auch Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000,10532 (10545 f.). 157 Urteil des EuGH vom 30. März 1993, Rs. C-24/92, Slg. 1993, 1304. 158 Urteil des EuGH vom 30. März 1993, Rs. C-24/92, Slg. 1993, 1304. 159 Urteil des EuGH vom 30. März 1993, Rs. C-24/92, Slg. 1993,1304. 160 Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4961 ff. 161 Ausführlich hierzu in den Schlußantrag des Generalanwalts, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4976 ff. 162 Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4995. 163 Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4995.
Β. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren
129
3. Funktionelle Kriterien Seit Beginn der 1980er Jahre zog der Europäische Gerichtshof unter Berücksichtigung des Merkmals „zum Erlaß seines Urteils" auch die Tätigkeit des Gerichts zur Ermittlung der Vorlageberechtigung heran. Schon in seiner ersten Entscheidung formulierte er: „Der Gerichtshof kann gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag nur von einem Gericht befaßt werden, das zu einer Entscheidung im Rahmen eines Verfahrens aufgerufen ist, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt." 164
Welches aber sind die Kriterien, die eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter begründen? Der Europäische Gerichtshof hat diese Frage noch nicht abschließend geklärt. In seinen bisherigen Entscheidungen stellte er jeweils nur bestimmte einzelne Merkmale heraus, anhand derer er eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter bejahte oder verneinte. 165 Gestalt gewinnt der Begriff aus der Gesamtschau aller bisher erörterten Kriterien und durch die Abgrenzung gerichtlicher Maßnahmen mit Rechtsprechungscharakter von vollziehenden und gesetzgebenden Entscheidungen der Gerichte. 166 Folgende funktionelle Kriterien hat der Europäische Gerichtshof im Rahmen verschiedener Vorabentscheidungsverfahren bisher genannt: (1) Entscheidung einer Rechtsstreitigkeit, 167 (2) Rechtskraftfähigkeit der Entscheidung,168 (3) Streitiger Charakter des Verfahrens. 169
164 Beschluß des EuGH vom 18. Juni 1980, Rs. 138/80, Slg. 1980, 1975 (1977). 165 Die maßgeblichen Entscheidungen sind: Beschluß des EuGH vom 18. Juni 1980, Rs. 138/80, Slg. 1980, 1977 ff.; Beschluß des EuGH vom 5. März 1986, Rs. 318/85, Slg. 1986, 955 ff.; Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff.; Urteil des EuGH vom 17. Mai 1994, Rs. C-18/93, Slg. 1994, 1783 ff.; Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3361 ff; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4961 (4996); Beschluß des EuGH vom 26. November 1999, Rs. C-440/98, Slg. 1999, 8597 (8604); Beschluß des EuGH vom 10. Juli 2001, Rs. C-86/00, Slg. 2001,5355 (5359 f.). 166 Beispiele für gerichtliche Maßnahmen vollziehender Natur sind der Erlaß von Justizverwaltungsakten oder Entscheidungen in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Hierzu Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 7. 167 Beschluß des EuGH vom 18. Juni 1980, Rs. 138/80, Slg. 1980, 1975 ff.; Beschluß des EuGH vom 5. März 1986, Rs. 318/85, Slg. 1986, 955 ff.; Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3361 ff. 168 Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff. 169 Urteil des EuGH vom 17. Mai 1994, Rs. C-18/93, Slg. 1994, 1783 ff.; Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3361 ff.; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4961 ff.
9 Wollenschläger
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten a) Entscheidung einer Rechtsstreitigkeit
Nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs ist die Entscheidung eines Rechtsstreits charakteristisch für die Ausübung rechtsprechender G e w a l t . 1 7 0 Hiervon abzugrenzen sind Erklärungen zu einer Meinungsverschiedenheit (Rechtssache Jules B o r k e r ) , 1 7 1 Stellungnahmen i m Rahmen eines Verwaltungsverfahrens (Rechtssache Regina Greis Unterweger) 1 7 2 oder verwaltende Tätigkeiten des vorlegenden Gerichts (Rechtssachen Job Centre und HBS-Wohnbau G m b H ) . 1 7 3 Diese gerichtlichen Handlungsformen entscheiden nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs keine Rechtsstreitigkeit und sind somit keine Rechtsprechungsakte. Auffallend an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist, daß er den Begriff der Entscheidung einer Rechtsstreitigkeit in den angeführten Judikaten nicht definiert hat. Den Urteilsgründen läßt sich entnehmen, daß er hierunter die verbindliche Entscheidung einer rechtlichen Frage versteht; 1 7 4 denn in der Rechtssache Greis Unterweger lehnte der Europäische Gerichtshof den Rechtsprechungscharakter deshalb ab, weil die Stellungnahme des vorlegenden Ausschusses keine Bindungswirkung entfalte. 1 7 5 In der Rechtssache Job C e n t r e 1 7 6 führte er über die Qualität verwaltenden Gerichtshandelns aus: no So der Beschluß des EuGH vom 18. Juni 1980, Rs. 138/80, Slg. 1980, 1975 ff.; Beschluß des EuGH vom 5. März 1986, Rs. 318/85, Slg. 1986, 955. 171 Beschluß des EuGH vom 18. Juni 1980, Rs. 138/80, Slg. 1980, 1975 ff. Dem Ersuchen der vorlegenden Stelle, dem Conseil de Γ ordre des avocats à la Cour de Paris, lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Pariser Rechtsanwalt Jules Borker stellte bei der Rechtsanwaltskammer der Seinemetropole einen Antrag, ihn über die Voraussetzungen zu informieren, unter denen er seine Anwaltstätigkeit in Form der Dienstleistung vor jedem Gericht eines Mitgliedstaates ausüben könne. Hintergrund des Antrags war eine Entscheidung des Oberlandesgericht Köln, in der das Oberlandesgericht die Vertretung eines Nebenklägers durch den Antragsteller abgelehnt hatte. Die Pariser Rechtsanwaltskammer wollte vor ihrer Entscheidung dem Europäischen Gerichtshof diese Frage vorlegen. Der Europäische Gerichtshof verneinte die Vorlageberechtigung der Rechtsanwaltskammer, weil diese keinen Rechtsstreit zu entscheiden habe, sondern nur eine Erklärung zu einer Meinungsverschiedenheit abgebe. 172 Beschluß des EuGH vom 5. März 1986, Rs. 318/85, Slg. 1986, 955 ff. Die italienische Commissione consultativa per le infrazioni valutarie (Beratender Ausschuß für Devisenvergehen) legte dem Europäische Gerichtshof 1985 mehrere Fragen das Gemeinschaftsrecht betreffend vor. Der Ausschuß ist ein Organ des italienischen Schatzministeriums, welcher die Aufgabe hat, mit Gründen versehene Stellungnahmen zu Sanktionen abzugeben, die der Schatzmeister gegen Personen verhängt hat, die gegen die italienische Regelung über den Devisenverkehr verstoßen haben. Der Ausschuß kann nicht von der betroffenen Partei angerufen werden, seine Stellungnahme bindet den Minister nicht. 173 Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3361 (3387); Beschluß des EuGH vom 10. Juli 2001, Rs. C-86/00, Slg. 2001, 5355 (5359 f.); auch Beschluß des EuGH vom 26. November 1999, Rs. C-440/98, Slg. 1999, 8597 (8604). 174 Zur verbindlichen Rechtsklärung K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 38; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 872 ff., 885, 911 ff., 1137 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 31 ff. 175 Beschluß des EuGH vom 5. März 1986, Rs. 318/85, Slg. 1986, 955 (957). 176 Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3361 ff.
Β. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren
131
„Entscheidet das vorlegende Gericht nach den geltenden nationalen Vorschriften in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit über einen Antrag auf Genehmigung der Satzung einer Gesellschaft zum Zweck ihrer Eintragung in das Register, so übt es eine Tätigkeit aus, die keinen Rechtsprechungscharakter hat und mit der im übrigen in anderen Mitgliedstaaten Verwaltungsbehörden betraut sind. Denn es handelt als Verwaltungsbehörde, ohne daß es gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden hätte. Nur wenn die Person, die nach nationalem Recht ermächtigt ist, die Genehmigung zu beantragen, einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung der Genehmigung und damit der Eintragung einlegt, kann davon ausgegangen werden, daß das angerufenen Gericht eine Rechtsprechungstätigkeit im Sinne des Artikels 177 ausübt,.. . " . 1 7 7
b) Rechtskraftfähigkeit
der Entscheidung
Das wohl wichtigste Merkmal der rechtsprechenden Gewalt ist die Rechtskraftfähigkeit der richterlichen Entscheidung.178 Um so überraschender war es deshalb, daß der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Pretore di Salò 1 7 9 die Zulässigkeit eines Vorlageersuchens bejaht hatte, obwohl die Entscheidung des vorlegenden Gerichts nicht auf den Erlaß eines rechtskraftfähigen Urteils zielte. Der Europäische Gerichtshof differenzierte in diesem Urteil zwischen richterlicher Tätigkeit mit Rechtsprechungscharakter im engen und im weiten Sinne. 180 Er führte aus, daß Gerichte auch dann zur Vorlage berechtigt seien, wenn sie Rechtsprechungsmaßnahmen in einem weiten Sinne träfen. Folgender Sachverhalt lag dem Urteil zu Grunde: Eine italienische Fischereivereinigung hatte bei der Pretura di Salò (einem Organ der italienischen Rechtspflege) ein Fischesterben im Fluß Chiese angezeigt. Der Pretore leitete daraufhin ein summarisches Strafverfahren gegen Unbekannt ein. Anzuwendendes Recht war u. a. eine Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft. Das Strafverfahren kann nach den italienischen Gesetzen entweder durch Erlaß eines Einstellungsbeschlusses, eines Vorladebeschlusses oder eines Freispruches abgeschlossen werden. Weil der Pretore hinsichtlich der Richtlinie Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV hatte, legte er den Rechtsstreit dem Europäischen Gerichtshof vor. Wegen der Tätigkeit des Pretore, die sowohl ermittlungsrichterlichen als auch staatsanwaltschaftlichen Charakter haben kann und hatte, wurden Zweifel an seiner Vorlageberechtigung laut. Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens erläuterte die italienische Regierung die Rechtsstellung des Pretore:
177 Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3387 ff. 178 Zur Rechtskraft: Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 38 f.; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 872 ff., 885, 911 ff., 1137 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 34 ff. 179 Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff. 180 Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 f. 9*
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
„Der Pretore habe im vorliegenden Fall sowohl staatsanwaltschaftliche als auch ermittlungsrichterliche Aufgaben ausgeübt. Der Pretore führe die Vorermittlungen als Staatsanwalt und erlasse im Falle eines negativen Ergebnisses den Einstellungsbeschluß anstelle des Ermittlungsrichters. Dieser Beschluß sei kein Rechtsprechungsakt, da er nicht der Rechtskraft fähig sei, keine unabänderliche Verfahrenslage schaffen könnte und der Begründung nicht bedürfe, während für Rechtsprechungsakte nach Art. 111 der italienischen Verfassung eine Begründungspflicht bestehe."181
Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Erklärung der italienischen Regierung hielt der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil fest: „Es ist darauf hinzuweisen, daß die Pretori Organe der Rechtspflege sind, die in einem Verfahren wie demjenigen, das zu dem vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren geführt hat, sowohl staatsanwaltliche als auch ermittlungsrichterliche Funktionen ausüben. Der Gerichtshof ist für die Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens zuständig, da es von einem Gericht ausgeht, das im allgemeinen Rahmen seiner Aufgabe gehandelt hat, unabhängig und im Einklang mit dem Recht die Rechtsentscheidung zu entscheiden, für die es nach dem Gesetz zuständig ist, selbst wenn bestimmte Funktionen, die dieses Gericht in dem betreffenden Verfahren wahrzunehmen hat, keinen Rechtsprechungscharakter im engen Sinne haben." 182
Den Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs lassen sich zwei Erkenntnisse entnehmen. Erstens: Rechtsprechung im engen Sinne wird durch die Rechtskraftfähigkeit der Entscheidung charakterisiert. Zweitens: Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof ist auch zulässig, wenn der Richter Rechtsprechung im weiten Sinne ausübt, also Entscheidungen trifft, die nicht der Rechtskraft fähig sind. Welche Gründe aber haben den Europäischen Gerichtshof zu dieser sowohl für das Vorabentscheidungsverfahren als auch für das Vertragsverletzungsverfahren so wichtigen Unterscheidung veranlaßt? Als erstes sind die Rechtsfolgen einer restriktiven Auslegung zu bedenken. Wenn der Europäische Gerichtshof die Rechtskraftfähigkeit der Entscheidung als Kriterium der rechtsprechenden Gewalt im Sinne des Art. 234 EGV angesehen hätte, wäre der Pretore nicht vorlageberechtigt gewesen. Der Europäische Gerichtshof hätte die Vorlage abweisen müssen, ohne in der Sache selbst entscheiden zu können. An einem solchen Ergebnis konnte er jedoch als Gemeinschaftsorgan und in Anbetracht seiner in Art. 220 EGV niedergelegten Aufgabe kein Interesse haben. Zweitens ließ sich die Tätigkeit des Pretore auch nicht eindeutig, wie etwa in der Rechtssache Job Centre, als exekutive Maßnahme einordnen. Sie wies vielmehr einen Mischcharakter auf, der es dem Europäischen Gerichtshof erschwerte, die Vorlage abzulehnen. Letztlich ist noch an den Primat des institutionellen Gerichtsbegriffes zu erinnern. Die Eigenschaft der Pretura als nationales Gericht im Sinne des Art. 234 EGV war unstreitig.
lei Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 (2567). 182 Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 (2567).
Β. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren
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c) Streitiger Charakter des Verfahrens Der streitige Charakter des Verfahrens ist nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs nur ein Indiz für die Ausübung rechtsprechender Tätigkeit. Konstitutive Wirkung mißt er diesem Merkmal nicht bei, wie zahlreiche Urteile erweisen. 1 8 3 In der Rechtssache Corsica Ferries 1 8 4 legte ein italienisches Gericht dem Europäischen Gerichtshof eine Frage vor, welche sich i m Rahmen eines Mahnverfahrens gestellt hatte. 1 8 5 Mahn verfahren haben in Italien nichtstreitigen Charakter. 1 8 6 Der Europäische Gerichtshof urteilte: „Nach Artikel 177 EWG-Vertrag (seil.: Art. 234 EGV) hängt die Anrufung des Gerichtshofes nicht davon ab, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht die Vorlage abfaßt, streitigen Charakter aufweist, wenngleich es im Interesse einer geordneten Rechtspflege liegen kann, daß eine Vorlagefrage erst nach einer streitigen Verhandlung gestellt wird." 1 8 7 Diese Auffassung wurde vom Europäischen Gerichtshof in anderen Vorabentscheidungsverfahren bestätigt, indem er Vorlagefragen nationaler Gerichte für zulässig erachtete, die diese i n Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gestellt hatt e n . 1 8 8 Weil diese Verfahren in den nationalen Rechtsordnungen oft unstreitigen Charakter haben, 1 8 9 hätte er die Vorlagen abweisen müssen, wenn er dem Merkmal des streitigen Verfahrens konstitutiven Charakter für den Rechtsprechungsbegriff beigemessen hätte. 1 9 0 183 So Urteil des EuGH vom 17. Mai 1994, Rs. C-18/93, Slg. 1994, 1783 (1818); Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3361 (3386); Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4961 (4994). 184 So Urteil des EuGH vom 17. Mai 1994, Rs. C-18/93, Slg. 1994, 1783 ff. 185 D e r Vorlage lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Durch Mahnverfahren hatte die Corsica Ferries Italia SRL (Antragstellerin) von der Corpo dei piloti del porto di Genova (Antragsgegnerin) die Erstattung von Beträgen verlangt, die nach der Auffassung der Antragstellerin im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht für Lotsendienste an die Antragsgegnerin gezahlt worden waren. Die Dienstleistungen hatten darin bestanden, daß ein Lotse den Kapitän bei der Einfahrt in den Hafen und beim Anlegen durch die Angabe der Fahrroute und die Mitwirkung bei den erforderlichen Manövern unterstützte. Als Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht führte die Antragstellerin aus, daß der innerstaatliche Tarif für Lotsendienste höher sei als derjenige, der für Schiffe aus dem europäischen Ausland zu zahlen sei. 186 Vgl. die Schlußanträge des Generalanwalts in der Rechtssache Corsica Ferries, Slg. 1994, 1785 (1790). 187 Urteil des EuGH vom 17. Mai 1994, Rs. C-18/93, Slg. 1994, 1783 f. 188 Urteil des EuGH vom 12. November 1969, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 ff.; Urteil des EuGH vom 8. Juni 1971, Rs. 78/70, Slg. 1971, 487 ff.; hierzu auch M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 92, der weitere Vorabentscheidungsurteile angibt, die zu nichtstreitigen Verfahren in den verschiedenen Mitgliedstaaten erlassen worden sind. 189 Die deutsche Rechtsordnung beispielsweise sieht vor, daß Arrest und einstweilige Verfügung gemäß § 921 Abs. 1, Abs. 2 ZPO auch ohne mündliche Verhandlung ergehen können.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Schließlich ist auf die Rechtssache Job Centre 191 zu verweisen. Ein italienisches Gericht, welches im Ausgangsverfahren über die Registereintragung einer sich in Gründung befindlichen Genossenschaft zu entscheiden hatte, 192 legte dem Europäischen Gerichtshof vor. Nach italienischem Recht hat das Verfahren der Registereintragung keinen streitigen Charakter. Der Europäische Gerichtshof verneinte zwar die Zulässigkeit der Vorlage, begründete seine Ablehnung aber nicht mit dem nichtstreitigen Charakter des Verfahrens, sondern mit der verwaltenden Tätigkeit des Gerichts, was er ausdrücklich in seinem Urteil hervorgehoben hat. 1 9 3 In der Rechtssache HBS-Wohnbau, in welcher ein deutsches Amtsgericht in seiner Eigenschaft als Handelsregisterbehörde vorgelegt hatte, entschied der Europäische Gerichtshof, daß das nationale Gericht als Verwaltungsbehörde handele, ohne daß es gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden habe. 194 Der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs, daß der streitige Charakter des Verfahrens zwar Indiz Wirkung, jedoch keine konstitutive Wirkung habe, ist zuzustimmen; 195 denn die Beurteilung des Rechtsprechungscharakters darf nicht davon abhängen, wie der nationale Gesetzgeber ein bestimmtes Verfahren ausgestaltet hat. Eine solche Vorgehensweise würde die Rechtseinheit in der Europäischen Gemeinschaft bedrohen und zu einer Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten führen. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß bestimmte Verfahren von den nationalen Rechtsordnungen ganz bewußt aus der streitigen Gerichtsbarkeit herausgenommen worden sind, um eine Konfrontation zwischen den Parteien zu vermeiden, 196 obwohl die Gerichte der Sache nach einen Rechtsstreit entscheiden.
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Eine andere Frage ist die Zweckmäßigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens in den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. Ziel dieser Verfahren ist der schnelle Erhalt einer gerichtlichen Entscheidung. Wenn jedoch der nationale Richter in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes dem Europäischen Gerichtshof eine Frage im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV vorlegt, geht dadurch (im Normalfall) so viel Zeit verloren, daß dem Interesse des Antragstellers nicht mehr gedient sein dürfte. 191 Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3361 ff. 192 In dieser Rechtssache ging es um das Verhältnis italienischer Rechtsvorschriften über das Verbot privater Arbeitsvermittlung und der Überlassung von Zeitarbeitskräften zu EGrechtlichen Vorschriften. Die Fragen sind von einem Gericht aus Mailand vorgelegt worden, welches über einen Antrag auf Genehmigung der Satzung der Job Centre Coop, ari zu entscheiden hatte. Die italienische Rechtsordnung sieht für solche Anträge das besondere Verfahren der sogenannten freiwilligen Gerichtsbarkeit (giurisdizione volontaria) vor. 193 Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l / 9 4 , Slg. 1995, 3361 (3387). 194 Beschluß des EuGH vom 10. Juli 2001, Rs. C-86/00, Slg. 2001, 5355 (5359 f.). 195 So auch J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234, Rn. 25. 196 in Deutschland gilt dies insbesondere für Familienangelegenheiten. Schon die Parteibezeichnungen, die im Normalfall Kläger und Beklagter, in Familienverfahren jedoch Antragsteller und Antragsgegner lauten, weisen darauf hin: vgl. § 622 Abs. 3 ZPO.
Β. Rechtsprechende Gewalt im Vorabentscheidungsverfahren
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I I . M e i n u n g e n in der L i t e r a t u r In der Literatur werden die Begriffe der Staatlichkeit, des Gerichts und des Urteilserlasses häufig unter dem Stichwort der vorlageberechtigten Stelle erörtert. 1 9 7 Teilweise wird auch der Begriff des einzelstaatlichen Gerichts in Art. 234 E G V als Ausgangspunkt gesehen, der dann aus institutioneller und funktioneller Sicht untersucht wird (institutioneller und funktioneller Gerichtsbegriff). 1 9 8 Wie der Europäische Gerichtshof versteht auch der überwiegende Teil der Literatur das Merkmal des nationalen Gerichts als einen gemeinschaftsrechtlich auszulegenden B e g r i f f . 1 9 9 Folgende institutionelle Kriterien werden in der Lehre für begriffsbestimmend erachtet: ständige Einrichtung, obligatorische Gerichtsbarkeit, Anwendung von Rechtsnormen, Unabhängigkeit der vorlegenden Stelle und gesetzliche Grundlage. 2 0 0 Während die genannten institutionellen Kriterien in der L i teratur fraglos sind, gingen die Meinungen darüber, was unter (Mitglied-)Staatlichkeit zu verstehen sei, weit auseinander. 201 Ausgangspunkt der wissenschaftlichen 197 So H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 355 ff.; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 44 ff.; Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 250 f.; J. Wohlfahrt, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 177, Rn. 40 ff.; auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 26 ff. 198 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 84 ff., 92 f.; weitere Autoren unterscheiden zwischen institutionellen und funktionellen Kriterien: H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 45; P. Fenger, in: Campbell (Hrsg.), Commentary of the EC-Treaty, Art. 177.02. i " J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 254; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 358; Η. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 45; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 917; K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 234, Rn. 19; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 84; P. Fenger, in: Campbell (Hrsg.), Commentary of the EC-Treaty, Art. 177.02.a.; J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234, Rn. 25; Β. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 234, Rn. 11; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 27; offenlassend Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 250 f.; a.A. J. Wohlfahrt, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 177, Rn. 41. 200 H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 358; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 86; Η Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 45; K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 234, Rn. 19; Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 250 f.; J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234, Rn. 25; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 26 ff. 201 Für die einschränkende Auslegung des Europäischen Gerichtshofs sprechen sich aus: H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 359; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 88; R. Streinz, Europarecht, Rn. 568; dagegen sind: U. Hepting, Art. 177 EWGV und die private
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Diskussion war die Nordsee-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, 202 in welcher er die Gerichtsqualität privatrechtlich errichteter Schiedsgerichte verneint hatte. Ein Teil der Literatur begrüßte die Entscheidung und führte dazu aus, daß das Merkmal der Staatlichkeit eine gewisse Einflußnahme des Staates auf die vorlegende Stelle erfordere, welche bei durch privatautonome Vereinbarung gebildeten Spruchkörpern fehle. 203 Andere Autoren hingegen lehnten das Urteil als zu einschränkend ab. 2 0 4 Es wurde darauf hingewiesen, daß die Vorlageberechtigung privater Gerichte den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts vergrößert hätte und daß es das Merkmal der Staatlichkeit durchaus erlauben würde, auch private Gerichte darunter zu fassen, weil diese immerhin im Hoheitsbereich eines Mitgliedstaates entscheiden würden 2 0 5 Hinsichtlich der funktionellen Kriterien folgt die Literatur gleichfalls weitgehend dem Europäischen Gerichtshof. Das bedeutet, daß das vorlegende Gericht bindende Entscheidungen mit Rechtsprechungscharakter treffen muß, um vorlageberechtigt zu sein. 206 Die streitige Natur des nationalen Verfahrens wird nicht als Voraussetzung der Vorlageberechtigung angesehen 2 0 7 Mischtätigkeit in der Form, daß die vorlegende Institution staatsanwaltliche und ermittlungsrichterliche Funktionen ausübe, schließe die Vorlageberechtigung nicht aus 2 0 8 Allerdings dürfe das vorlegende Gericht nicht rein verwaltend tätig geworden sein. 209 Das Kriterium der Rechtskraft wurde in der Lehre in Hinblick auf Art. 234 EGV kaum diskutiert. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien hat die Lehre die Gerichtseigenschaft vieler Verfassungsgerichte, wie des deutschen Bundesverfassungsgerichts, des itaSchiedsgerichtsbarkeit, EuR 1982, 315 ff.; A. v. Winterfeld, Möglichkeiten der Verbesserung des individuellen Rechtsschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, NJW 1988, 1409 ff. 202 Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 ff. 203
So H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 359; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 88; R. Streinz, Europarecht, Rn. 568; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 31. 204 u. Hepting, Art. 177 EWGVund die private Schiedsgerichtsbarkeit, EuR 1982, 315 ff.; A. v. Winterfeld, Möglichkeiten der Verbesserung des individuellen Rechtsschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, NJW 1988, 1409 ff. 205 u. Hepting, Art. 177 EWGV und die private Schiedsgerichtsbarkeit, EuR 1982, 330 ff.; A. v. Winterfeld, Möglichkeiten der Verbesserung des individuellen Rechtsschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, NJW 1988,1412 f. 206 K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 250 f.; J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234, Rn. 27. 207 H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 358; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vetrtrag, Art. 177, Rn. 45; J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234, Rn. 25; offenlassend K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 234, Rn. 20; a.A. M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 86. 208 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 92. 209 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag; S. 92.
C. Rechtsprechungsbegriff des Vertragsverletzungsverfahrens
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lienischen Corte Constituzionale, des portugiesischen Tribunal Constitutional und des spanischen Tribunal Constitutional bejaht, weil diese Gerichte streitentscheidende Befugnisse ausübten. 2 1 0 Dem französischen Conseil constitutionnel 2 1 1 hingegen wird die Vorlagefähigkeit abgesprochen, weil es sich bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit noch nicht verkündeter Gesetze vorwiegend um eine politische Befassung mit der Materie handele. 2 1 2 Das deutsche Bundesverfassungsgericht selbst betrachtet sich als vorlageberechtigt. 2 1 3 Vorabentscheidungsersuchen des französischen Conseil d ' E t a t 2 1 4 hat der Europäische Gerichtshof bereits angenommen und entschieden 2 1 5
C. Rechtsprechungsbegriff des Vertragsverletzungsverfahrens I. Grundlagen 1. Vertragliche Vorgaben Voraussetzung der Aufsichtsbefugnis gemäß Art. 226 Abs. 1 EGV ist, daß ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen h a t . 2 1 6 Die Vorschrift bezieht sich zum einen auf die Rechtsperson Mitgliedstaat, 2 1 7 zum anderen auf eine vertragswidrige Handlung desselben. 218 Art. 226 E G V spricht somit 210
M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 90 f. Zur Stellung und Aufgaben des Conseil constitutionnel (Verfassungsrat): G. Haensch/H. J. Tümmers, Frankreich, 2. Aufl., 1993, S. 189 ff. Er hat vier Aufgabenbereiche: die Kontrolle von Gesetzen vor ihrer Verkündung auf ihre Verfassungsmäßigkeit, die Wahlprüfung bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die Feststellung der Vakanz des Amtes des Präsidenten der Republik und die Anhörung vor der Verhängung des Notstandes nach Art. 16 der Verfassung. 212 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 91. 213 So das Bundesverfassungsgericht in seiner Solange-I-Entscheidung, BVerfGE 37, 271 (281 f.). 214 Zur Stellung des Conseil d'Etat (Staatsrat): G. Haensch/H. J. Tümmers, Frankreich, S. 189 f. Dem Conseil d'Etat kommt eine doppelte Aufgabe zu: zum einen ist er Beratungsorgan der Regierung, zum anderen oberstes französisches Verwaltungsgericht. Im vorliegenden Fall war er als oberstes Verwaltungsgericht mit dem Rechtsstreit befaßt. 2 15 Urteil des EuGH vom 16. November 1995, Rs. C-244/94, Slg. 1995,4013 ff. 211
216 Der genaue Wortlaut in Art. 226 Abs. 1 EGV lautet: „Hat nach der Auffassung der Kommission ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen ( . . . ) " . 217 Demgemäß ist beklagte Person des Vertragsverletzungsverfahrens immer der Mitgliedstaat, vertreten durch seine Regierung: H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 100; W. Cremer, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 26. 21 8 Klagegegenstand ist der staatliche Rechts verstoß: H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 105 ff.; W. Cremer, in: Calliess/
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
gleichermaßen die Institution, den Mitgliedstaat, wie die Funktion, die Staatsgewalt, an und bringt dadurch die auch dem Vertragsverletzungsverfahren zugrunde liegende Konzeption der Einheit von Funktion (Staatsgewalt) und Institution (Staat) zum Ausdruck: Die vom Volk ausgehende Staatsgewalt wird in repräsentativen Demokratien von Amtswaltern in besonderen Staatsorganen ausgeübt.219 Hinsichtlich der staatlichen Rechtsprechung ist Art. 226 EGV von Bedeutung, weil rechtsprechende Gewalt eine Funktion der Staatsgewalt ist und weil die Gerichte diejenigen Staatsorgane sind, welche zur Rechtsprechung befugt sind. 220 Anliegen der folgenden Ausführungen ist es, die Begriffe der rechtsprechenden Gewalt, des Gerichts und der Staatlichkeit am Beispiel Deutschlands für das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV zu klären. In diesem Zusammenhang ist jedoch noch einmal darauf hinzuweisen, daß die Einordnung eines Rechtsaktes als staatliche Rechtsprechungsmaßnahme es zwar erlaubt, diese Handlung dem Mitgliedstaat zuzurechnen, daß hieraus aber nicht gleichsam automatisch die Befugnis der Kommission zur Aufsicht folgt. 2 2 1 Zurechnung und Aufsichtsbefugnis sind zwei unterschiedliche Gesichtspunkte, genauso wie Zurechnung und Staatshaftung: 222 Gerichtsentscheidungen sind unzweifelhaft Handlungen des Staates. Nur die wenigsten gesetzeswidrigen Gerichtsentscheidungen vermögen jedoch die Staatshaftung auszulösen.223
Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 27 f.; unter Handlung ist sowohl das vertragswidrige Tun als auch jedes vertragswidrige Unterlassen zu fassen: H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 100, 109; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 265 ff.; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 28. 219 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 337 ff.; W. Maihof er, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HVerfR, 2. Aufl., 1994, § 12, Rn. 44 ff., 81 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 206 ff. 220 K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2773 f.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 378, 893 f., 921; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 6 f. 12; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 ff. 221 So aber P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 19; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812; differenzierend K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f., die zwischen der vollen gemeinschaftsrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates für das Verhalten seiner Organe und einer nur eingeschränkten Befugnis der Europäischen Gemeinschaft zur Aufsicht über die nationalen Gerichte unterscheiden. 222 Zur Rechtsfigur der Staatshaftung allgemein: F. Ossenbiihl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 1 ff.; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 26, Rn. 1 ff. 22 3 F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 101 ff., 513 ff.; B. Wegener, Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte?, EuR 2002, S. 785 ff.
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2. Begriffsbestimmung Der Grundsatz, Rechtsbegriffe innerhalb einer Rechtsordnung einheitlich auszulegen, 224 könnte es nahe legen, auf die Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 234 EGV zurückzugreifen, um die rechtsprechende Gewalt der Mitgliedstaaten im Vertragsverletzungsverfahren zu bestimmen. Gegen einen solchen Rückgriff bestehen erhebliche Bedenken: Es ist erstens zu fragen, ob die Begriffsauslegung in Art. 234 EGV nicht von normspezifischen Gesichtspunkten geprägt wurde, die eine Übertragung ausschließen. Noch gewichtiger ist zweitens die Frage, ob die Europäische Gemeinschaft überhaupt berechtigt ist, durch vertragsautonome Auslegung die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten, staatliche Gewalt wie staatliche Institutionen, zu bestimmen.
a) Auslegungsmethode
Wie dargestellt hat der Europäische Gerichtshof die Tatbestandsmerkmale in Art. 234 EGV vertragsautonom ausgelegt.225 Grundsätzlich ist diese Auslegungsmethode zu begrüßen; denn nur sie vermag zu gewährleisten, daß offene Rechtsbegriffe des Gemeinschaftsrechts, etwa der Begriff der Ware in Art. 23 EGV oder der des Gerichts in Art. 234 EGV, einheitlich ausgelegt werden. 226 Sie stößt jedoch an ihre Grenzen, wenn es gilt, den Begriff der Mitgliedstaatlichkeit zu bestimmen. In Deutschland, wie in den anderen Mitgliedstaaten auch, geht alle Staatsgewalt vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). 2 2 7 Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Das Parlament gibt in Repräsentation des ganzen Volkes die Gesetze,228 die das gute Leben aller 224 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 131 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 325 ff., 429 ff.; zur Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung insgesamt auch BVerfGE 25, 216 (227); 98, 83 (97); 98, 265 (301). 22 5 Urteil des EuGH vom 30. März 1993, Rs. C-24/92, Slg. 1993, 1277; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4961 f.; Beschluß des EuGH vom 26. November 1999, Rs. C-440/98, Slg. 1999, 8597 (8604); Urteil des EuGH vom 30. November 2000, Rs. C-195/98, Slg. 2000, 10532 (10545). 226
Zum Warenbegriff: Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 1268; C. Allwardt, Europäisiertes Energierecht, 2003, S. 88 ff. 227 BVerfGE 83, 37 (50); 83, 60 (71); W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HVerfR, § 12, Rn. 5 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 64 ff. 637 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 51 ff., 180 ff.; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 4 ff. 22 « So BVerfG 44 125 (172); 95, 335 (352 f.); J.-J. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, S. 39 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff., 707 ff., 737 ff.; zum Begriff der Repräsentation: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. Π, S. 37 f.; M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 4. Aufl., 1990, S. 241; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff., 707 ff.
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in allgemeiner Freiheit verwirklichen sollen. 229 Welche das Leben aller berührenden Aufgaben eine gesetzliche Regelung erfahren sollen und damit zu staatlichen Aufgaben gemacht werden, wird durch die Gesetze bestimmt 2 3 0 Hieraus folgt erstens, daß nur diejenigen Lebensbereiche öffentliche Aufgaben sind, die der Gesetzgeber gesetzlich geregelt hat (formaler Aufgabenbegriff). 231 Hieraus ergibt sich zweitens, daß nur der nationale Gesetzgeber öffentliche Aufgaben zu begründen vermag. Ein materieller Begriff der staatlichen Aufgabe besteht nicht, eben weil die staatliche Aufgabe durch die nationale Gesetzgebung begründet wird. 2 3 2 Wenn der Europäische Gerichtshof die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 226 EGV gemeinschaftsorientiert bestimmen wollte, indem er durch Vergleich ermittelte, welche Aufgaben typischerweise in den Mitgliedstaaten hoheitlich wahrgenommen werden, 233 würde er einen materiellen Aufgabenbegriff zugrunde legen; denn die rechts vergleichende Auslegungsmethode kann nur material verstanden werden, bedarf sie doch verschiedener, zu vergleichender Materien. Die Formalität des Aufgabenbegriffes verbietet diese Vorgehens weise. Sie schließt eine durch Vergleich gewonnene Bestimmung der öffentlichen Aufgabe aus. Lebensbereiche, die in einigen Mitgliedstaaten hoheitlich, in anderen hingegen privat wahrgenommen werden, werden nicht dadurch in denjenigen Staaten, in welchen sie in der Verantwortung des Privaten liegen, zu staatlichen Aufgaben, daß sie der Europäische Gerichtshof für hoheitlich erklärt. Für jeden Mitgliedstaat gilt, daß die Staatsgewalt vom Volke ausgeht und nur das Volk oder die von ihm gewählten Vertreter bestimmen können, welche Bereiche des Lebens hoheitlich wahrzunehmen sind, nicht jedoch die Organe der Europäischen Gemeinschaft. Des weiteren verkennt die Methode der vertragsautonomen Auslegung zur Bestimmung der Mitgliedstaatlichkeit in Art. 226 EGV die Legitimationsgrundlage der Europäischen Gemeinschaft. Die Europäische Gemeinschaft besitzt im Unterschied zu ihren Mitgliedstaaten keine originäre Hoheitsgewalt. 234 Nach dem 229 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 350 ff., 573 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 33 ff.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 33 ff., 63 ff. 230 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 253 ff.; ders., Res publica res populi, S. 371; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 33 ff., 45 ff. 231 Κ A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 194 ff.; ders., Res publica res populi, S. 371; ders., Grundgesetzliche Aspekte der freiberuflichen Selbstverwaltung, Die Verwaltung, Bd. 31 (1998), S. 143; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 33 ff. 232 Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 198; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 45 ff. 233 So aber die Vorgehensweise des Europäische Gerichtshof für Art. 39 Abs. 4 EGV und für Art. 45 EGV: Urteil des EuGH vom 21. Juni 1974, Rs. 2/74, Slg. 1974, 631 (653 ff.); Urteil des EuGH vom 17. Dezember 1980, Rs. 149/79, Slg. 1980, 3881 (3900 ff.). 234 BVerfGE 89, 155 (188 ff.); E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 59, 70 f.; Κ Α. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 43 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 77 ff.; ders.,
C. Rechtsprechungsbegriff des Vertragsverletzungsverfahrens
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Grundsatz der begrenzten Ermächtigung in Art. 5 Abs. 1 EGV sind die Gemeinschaftsorgane nur im Rahmen der von den Mitgliedstaaten übertragenen Hoheitsrechte berechtigt, europäische Rechtsakte zu erlassen. Die Europäische Gemeinschaft leitet ihre Befugnisse von den Mitgliedstaaten ab, 2 3 5 die gemeinschaftlich in den Organen der europäischen Gemeinschaft die europäische Hoheitsgewalt ausüben. 236 Als Rechtsgebilde, das seine Existenz dem Willen der Mitgliedstaaten verdankt, ist die Europäische Gemeinschaft nicht berechtigt, die Staatlichkeit ihrer Gründer zu bestimmen. Eine solche Vorgehensweise führte dazu, daß die Europäische Gemeinschaft als zu rechtfertigende Einrichtung ihre Rechtfertigungsquelle, die Mitgliedstaaten, determinieren könnte und so die Legitimationskette verkehren würde. Mitgliedstaatlichkeit kann deshalb im Unterschied zu anderen vertraglichen Begriffen nur durch das Rechts Verständnis des jeweiligen Mitgliedstaates bestimmt werden, weil nur diese Vorgehensweise der Tatsache Rechnung trägt, daß die Völker Europas Grundlage der Europäischen Gemeinschaft sind. 237 Im Unterschied hierzu vertritt der Europäische Gerichtshof jedoch die Position, daß das Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang gegenüber „wie auch immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften" habe, 238 somit auch gegenüber den Verfassungsprinzipien der Mitgliedstaaten und deren Staatlichkeit. Diese Auffassung ist aus den genannten Gründen abzulehnen. b) Rückgriff
auf Art. 234 EGV?
Unabhängig von dem Befund, daß die Europäische Gemeinschaft nicht berechtigt ist, die Staatsgewalt der Mitgliedstaaten zu bestimmen, steht des weiteren die Verschiedenartigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens und des Vorabentscheidungsverfahrens der Bestimmung offener Rechtsbegriffe im Vertragsverletzungsverfahren durch Rückgriff auf das Vorabentscheidungsverfahren entgegen. Es sind erstens die verschiedenen Verfahrensziele zu berücksichtigen: Aufgabe des Vorabentscheidungsverfahrens ist es, die Rechtsprechungseinheit in der EuroDie existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 92 f.; P. Kirchhof Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 896, 904 ff.; auch M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2847 f. 235 Hierzu K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 43 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staaten verbünd, S. 904 ff.; a.A. M. Nettesheim, Kompetenzen, S. 421. 236 BVerfGE 89, 155 (188 f.); E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 60; K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Volker Europas, S. 87 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 70 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staaten verbünd, S. 904 f. 237 K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 21 ff. 238 Urteil des EuGH vom 15. Juli 1964, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269 ff.); auch Urteil des EuGH vom 17. Dezember 1970, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135); ihm folgend die herrschende Meinung, etwa B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, 5. Aufl., 2001, S. 130.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
päischen Gemeinschaft zu wahren, die bedroht wäre, wenn die nationalen Gerichte das in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltende Gemeinschaftsrechts unterschiedlich auslegen würden. 239 Art. 234 EGV berechtigt deshalb ausschließlich die nationalen Gerichte, den Europäischen Gerichtshof um Vorabentscheidung anzurufen; denn nur die nationalen Gerichte können die Rechtsprechungseinheit verletzen. Die Vorlage anderer staatlicher Einrichtungen ist unzulässig. Die auf Gerichte begrenzte Vorlageberechtigung hat den Europäischen Gerichtshof dazu veranlaßt, die Tatbestandsmerkmale in Art. 234 EGV weit auszulegen,240 um dadurch mehr nationale Einrichtungen an seine Rechtsprechung zu binden. 241 Im Unterschied hierzu ist das Vertragsverletzungsverfahren ein Aufsichtsinstrument der Kommission, welches die vertragsgemäße Durchführung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten durch alle damit betrauten Staatsorgane gewährleisten soll. 2 4 2 Eine weite oder enge Interpretation einzelner Funktionen der Staatsgewalt und der sie ausübenden Staatsorgane ist nicht erforderlich, weil dadurch die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten weder erweitert noch eingeschränkt werden würde. Als nächstes ist auf den Wortlaut der Normen hinzuweisen. Vorlageberechtigte Stelle ist nach Art. 234 EGV das „Gericht eines Mitgliedstaates" (Absatz 2) und/ oder das „einzelstaatliche Gericht" (Absatz 3). Das hierin angesprochene Merkmal der Staatlichkeit hat der Europäische Gerichtshof aus den genannten Gründen gleichfalls weit ausgelegt.243 So bejaht er bereits dann die Staatlichkeit der vor239
Af. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 43 ff.; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 9 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 247 ff.; B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234, Rn. 1. 240 So hatte der Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Broekmeulen, Slg. 1981, 2311 ff., die Vorlageberechtigung eines niederländischen Spruchkörpers bejaht, obwohl dessen Rechtsträger eine Gesellschaft des Privatrechts war. Seine Auslegung führte dazu, daß er über die vorgelegten Fragen entscheiden und das nationale Gericht an seine Auffassung binden konnte. In der Rechtssache Pretore di Salò, Slg. 1987, 2545 ff., entschied er, daß ein nationaler Spruchkörper bereits dann vorlageberechtigt sei, wenn er Rechtsprechungsmaßnahmen im weiten Sinne treffe. Diese weite Interpretation hatte zur Folge, daß die Vorlage des Pretore zulässig war, vom Europäischen Gerichtshof beantwortet werden konnte und das italienische Gericht an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs gebunden war. 241 Generalanwalt M. Elmer führte zu dieser Frage in der Rechtssache C-l 11 /94 (Job Centre), Slg. 1995, 3367, aus, daß ein weites Verständnis des Gerichtsbegriffes es dem Europäischen Gerichtshof ermögliche, in größerem Umfange den nationalen Gerichten die „sachgemäßen Gesichtspunkte des Gemeinschaftsrechts" zugänglich zu machen und so für die einheitliche Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu sorgen. 242 P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 26 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 264 ff.; W Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 2 f. 243 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 583 ff.; Urteil des EuGH vom 06. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311 ff.; Urteil des EuGH vom 17. Oktober 1989, Rs. 109/88, Slg. 1989, 3199 ff.; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4961 ff.
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legenden Stelle, wenn eine hinreichend enge Beziehung zwischen dem allgemeinen Rechtsschutzsystem des Mitgliedstaates und dem vorlegenden Gericht besteht. Nicht erforderlich ist seiner Auffassung nach, daß das vorlegende Gericht der hoheitlichen Gerichtsbarkeit des Mitgliedstaates unmittelbar angehört. 244 Privatrechtlich errichteten Schiedsgerichten hat er die Berechtigung zur Vorlage abgesprochen: Ihre Tätigkeit ist seiner Auffassung nach nicht mehr den Mitgliedstaaten zurechenbar, weil sie auf einer privatrechtlichen Vereinbarung, nicht aber auf einer gesetzlichen Grundlage beruhe. 245 Die im Anschluß an diese Entscheidung aufblühende wissenschaftliche Diskussion ist aufschlußreich für die Bestimmung der Staatlichkeit des Gerichts in Art. 234 EGV. 2 4 6 Es wurde erstens argumentiert, daß der gerichtliche Charakter des Spruchkörpers in Art. 234 EGV Vorrang vor dessen Staatsqualität habe und daß die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs nicht weitgehend genug sei, weil sie dem Gemeinschaftsrecht keine Geltung bei Rechtsprechungsakten privater Schiedsgerichte verschaffe. 247 Des weiteren wurde auf die verschiedenen Sprachfassungen des Art. 234 Abs. 2 und Abs. 3 EGV verwiesen, aus welchen sich eine nur geringe Bedeutung des Merkmals der Staatlichkeit ergeben soll. 2 4 8 Während in der deutschen Fassung des EG-Vertrags von einem einzelstaatlichen Gericht die Rede ist, sprechen die englische 249 und französische Sprach version 250 nur von „nationalen Gerichten". Die hierin verwendete Termino244
So erkennt der Europäische Gerichtshof Gerichte, deren Träger nicht der Staat, sondern eine eigenständige juristische Person ist, als staatliche an, wenn der Mitgliedstaat ein Mitspracherecht bei der Besetzung des Spruchkörpers innehat: Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311 ff.; weiterhin Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 583 ff.; Urteil des EuGH vom 17. Oktober 1989, Rs. 109/88, Slg. 1989 3199 ff.; auch R. Geiger, EUV/EGV, Art. 234, Rn. 10. 245 Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 ff. 246 U. Hepting, Art. 177 EWGV und die private Schiedsgerichtsbarkeit, EuR. 1982, 313 ff.; H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 177, Rn. 12; A. v. Winterfeld, Möglichkeiten der Verbesserung des individuellen Rechtsschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, NJW 1988, 1409 ff.; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 359; Κ. A .Schachtschneider/ Α. EmmerichFritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 250 f. 2 47 U. Hepting, Art. 177 EWGV und die private Schiedsgerichtsbarkeit, EuR. 1982, 329 ff. 24 » A. v. Winterfeld, Möglichkeiten der Verbesserung des individuellen Rechtsschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, NJW 1988, 1412. 249 Die englische Fassung des Art. 234 EGV lautet: (1) The Court of Justice shall have jurisdiction to give preliminary rulings concerning: (a) the interpretation of this Treaty; (b) the validity and interpretation of acts of the institutions of the Community and of the ECB; (c) the interpretation of the statutes of bodies established by an act of the Council, where those statutes so provide. (2) Where such a question is raised before any court or tribunal of a Member State, that court or tribunal may, if it considers that a decision on the question is necesssary to enable it to give judgment, request the Court of Justice to give a ruling thereon. (3) Where any such question is raised in a case pending before a court or tribunal of a Member State against whose decisions there is no judicial remedy under national law, that court or tribunal shall bring the matter before the Court of Justice. 250 Die französische Fassung des Art. 234 EGV lautet: (1) La Cour de justice est compétente pour statuer, à titre préjudiciel: a) sur Γ interpretation du present traité, b) sur la validité
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
logie sei, anders als der deutsche Ausdruck, nicht so stark hoheitlich gefärbt, sondern könne auch nur räumlich-geographisch verstanden werden. 251 Im Unterschied hierzu erlaubt der Wortlaut in Art. 226 EGV kein weites, räumlich-geographisch orientiertes Verständnis; denn Art. 226 EGV bezieht sich eindeutig auf vertragswidrige Handlungen des Mitgliedstaates, der Staatsgewalt durch seine Staatsorgane ausübt. Letztlich sind die unterschiedlichen Rechtsfolgen zu bedenken, die sich aus der Verneinung der Gerichtseigenschaft und/oder der Verneinung der rechtsprechenden Gewalt für das Vertragsverletzungsverfahren und das Vorabentscheidungsverfahren ergeben. Wenn der Europäische Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren die Gerichtseigenschaft der vorlegenden Stelle verneint oder die zu treffende Entscheidung des vorlegenden Gerichts als exekutiven, nicht aber als judikativen Rechtsakt einordnet, hat dies zur Folge, daß er über die vorgelegte Frage nicht entscheiden darf. Die nicht zur Vorlage berechtigte nationale Einrichtung hat das Gemeinschaftsrecht in eigener Verantwortung und ohne Hilfe des Europäischen Gerichtshofs auszulegen mit dem Risiko der fehlerhaften oder abweichenden Auslegung. Im Vertrags verletzungs verfahren hingegen würde die Ablehnung der Gerichtseigenschaft nicht automatisch zum Ausschluß des Vertragsverletzungsverfahrens führen. Wenn der Vertragsverstoß von einem staatlichen Organ begangen wurde, bleibt das Vertragsverletzungsverfahren weiterhin zulässig. Darüber hinaus würde die Einordnung einer richterlichen Maßnahme als exekutives Handeln sogar die Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens erleichtern, wenn man der Auffassung der Kommission folgt, daß Aufsichtsmaßnahmen gegen staatliche Rechtsakte, die funktional Gesetzgebung oder vollziehende Gewalt sind, nicht den Einschränkungen unterliegen, die für die rechtsprechende Gewalt gelten. 252
I I . Staatlichkeit 1. Unmittelbare Staatsgewalt und Organschaft Nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG geht in Deutschland alle Staatsgewalt vom Volke aus. Sie wird gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt et Γ interpretation des actes pris par les institutions de la Communauté et par la BCE, c) sur Γ interpretation des statuts des organismes créés par un acte du Conseil, lorsque ces statuts le prévoient. (2) Lorsqu'une telle question est soulevée devant une juridiction d'un des États membres, cette juridiction peut, si elle estime qu'une décision sur ce point est nécessaire pour rendre son jugement, demander à la Cour de justice de statuer sur cette question. (3) Lorsqu'une telle questions est soulevée dans une affaire pendante devant une jurisdiction nationale, dont les décisions ne sont pas susceptibles d'un recours juridictionnel de droit interne, cette juridiction est tenue de saisir la Cour de Justice. 251 So U. Hepting, Art. 177 EWGV und die private Schiedsgerichtsbarkeit, EuR 1982, 317. 252 AB1EG vom 31. Januar 1979, Nr. C 28/9.
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und der Rechtsprechung ausgeübt. Art. 7 Abs. 1 EGV sieht für die Europäische Gemeinschaft vor, daß die der Gemeinschaft zugewiesenen Aufgaben durch Organe wahrgenommen werden. Allgemein läßt sich der Grundsatz der Organschaftlichkeit für hoheitliche Einrichtungen, insbesondere solchen der repräsentativen Demokratie, festhalten. 253 Die Europäische Gemeinschaft ist demgemäß im völkerrechtlichen Verkehr für das Handeln ihrer Organe verantwortlich. 254 Maßnahmen Dritter, die keine Rechtsbeziehung zu der betreffenden juristischen Person aufweisen, dürfen ihr nicht zugerechnet werden. 255 Auch das Vertragsverletzungsverfahren beruht auf dem Grundsatz der Organschaft, nach welchem die Mitgliedstaaten für das Handeln ihrer Organe verantwortlich sind. 256 Ganz allgemein hat der Europäische Gerichtshof hierzu festgestellt, daß die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für alle Organe bestehe, und zwar unabhängig davon, welches Staatsorgan durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß verursacht habe. 257 Auch die Lehre geht von der Verantwortlichkeit des Staates für Handlungen seiner Organe aus. 258 Häufig läßt sich folgender Satz finden: Der Mitgliedstaat ist für die Handlungen seiner Organe verantwortlich. 259 Diese Aussage bedarf jedoch weiterer Differenzierungen. In föderativen Republiken üben nicht nur die Organe des Gesamtstaates Staatsgewalt aus, sondern 253
Zur Organschaftlichkeit des Staates: H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 71 ff.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 92 ff.; K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 36 ff.; zur Organschaft im Zivilrecht: BGHZ 98, 148 (153 ff.); D. Reuter, in: Münchener Kommentar, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 3. Aufl., 1993, § 31, Rn. 1 ff., § 89 Rn. 1 ff.; H. Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 61. Aufl., 2002, § 31, Rn. 1 ff.; aus völkerrechtlicher Sicht: A. Verdross /Β. Simma, Universelles Volkerrecht, § 1270; Κ Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl., 1999, § 36, Rn. 3. M. Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, 5. Aufl., 2001, S. 692; J. Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 281 EGV, Rn. 40 ff. 255 A. Verdross /B. Simma, Universelles Volkerrecht, § 1281, für die Zurechnung von Handlungen an dem Staat im Völkerrecht. 256 Allgemein zur völkerrechtlichen Außenverantwortung von Staaten auf Grundlage der Organschaft: M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1997, Rn. 22 ff.; Κ Ipsen, Völkerrecht, S. 551 ff.; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1658 ff. 2 *7 Urteil des EuGH vom 5. Mai 1970, Rs. 77/69, Slg. 1970, 237 (243); Urteil des EuGH vom 26. Februar 1976, Rs. 52/75, Slg. 1976, 277 (285); Urteil des EuGH vom 30. September 2003, Rs. C-224/01, EuZW 2003, 718 ff. = NJW 2003, 3539 ff. 258
Th. Oppermann/W. Hiermaier, Das Rechtsschutzsystem des EWG-Vertrags, JuS 1980, 782 ff. (785); B. C. Ortlepp, Das Vertrags verletzungs verfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 98, mit Verweis auf S. 67; K. Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 5; P. Karpenstein, in Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 12; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812; ΑΓ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4. 2 59 A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812. 10 Wollenschläger
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auch die Organe der Gliedstaaten. Als ein Teil der Staatsgewalt ist das Handeln der Gliedstaaten dem Mitgliedstaat zurechenbar. 260 Schließlich stellt auch das Handeln der Kommunen Staatsgewalt im Sinne des Art. 226 EGV dar. 261 Diesem Umstand Rechnung tragend läßt sich in der Literatur folgende Definition finden: „Als Urheber der Verletzungshandlung kommen sämtliche Einrichtungen des betreffenden Mitgliedstaates in Betracht, die an der Ausübung staatlicher Gewalt beteiligt sind". 2 6 2 Bei der Aufsicht nach Art. 226 EGV über kommunale Rechtsakte oder über Rechtsakte der Gliedstaaten ist zu beachten, daß beklagte Partei nicht die Kommune oder der Gliedstaat ist, dessen Organ den Vertragsverstoß begangen hat, sondern der (bundesstaatlich organisierte) Mitgliedstaat. Dieser hat, wenn er verurteilt werden sollte, dafür Sorge zu tragen, daß die Kommune oder das Land den Vertragsverstoß beseitigen. Dabei hat er sich innerstaatlicher Rechtsinstrumente zu bedienen. Als Ergebnis bleibt im Hinblick auf die rechtsprechende Gewalt festzuhalten, daß in Deutschland sowohl die Entscheidungen der Bundesgerichte als auch die Entscheidungen der Gerichte der Länder staatliche Maßnahmen im Sinne des Art. 226 EGV darstellen. Noch einmal ist zu betonen, daß aus der Zurechnung nicht zwingend die Befugnis zur Aufsicht folgt.
2. Mittelbare Staatsgerichtsbarkeit In vielen Mitgliedstaaten werden öffentliche Aufgaben nicht nur durch den Staat wahrgenommen. Vielmehr hat der Staat durch Gesetz selbständige Körperschaften des öffentlichen Rechts errichtet und diesen Körperschaften Teile der Staatsgewalt zur Ausübung übertragen. 263 Auch im Bereich der rechtsprechenden Gewalt existieren Formen dieser sogenannten mittelbaren Staatstätigkeit;264 für die Rechtsprechung in der Lehre auch als mittelbare Staatsgerichtsbarkeit be260 H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 105; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812; K. A. Schachtschneider/A. EmmerichFritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267. 261 A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267. 262 K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), Der EG-Vertrag, Art. 226, Rn. 7; ders., Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, PI., Rn. 14. 263 Häufig wird diese Form der Staatsausübung in der Lehre als sogenannte mittelbare Staatstätigkeit bezeichnet: H. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht II, S. 3 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 397 ff.; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23, Rn. 1 ff.; W. Rudolf, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 788 ff.
264 BVerfGE 18, 241 (254 ff.); 26, 186 (192 ff.); 27, 312 (320 ff.); R. Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 92, Rn. 125 ff.; N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 159 ff.; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 8; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 4.
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zeichnet. 265 Zu nennen ist etwa das niederländische Schiedsgericht der Bergbauangestelltenkasse, einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, welches in der Rechtssache Vaassen-Göbbels den Europäischen Gerichtshof um Vorabentscheidung angerufen hatte. 266 In Deutschland setzte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage auseinander, ob die Berufsgerichte der Ärztekammern mittelbare Staatsgerichte seien, verneinte allerdings die Gerichtseigenschaft der Einrichtung mangels ausreichender persönlicher Unabhängigkeit der Kammerangehörigen. 267 Nicht jedes Rechtsprechungsorgan einer Körperschaft des öffentlichen Rechts kann als ein staatliches Gericht betrachtet werden. Grundsätzlich sind juristische Personen des öffentlichen Rechts eigenständige, demokratisch oder durch Grundrechte begründete Einheiten, die nicht mit dem Staat gleichgesetzt werden dürfen. 268 Nur wenn eine hinreichende Bindung dieser Spruchkammern zum Staat besteht, können sie als staatliche Einrichtungen (im Sinne des Art. 226 EGV) eingeordnet werden. 269 Das Bundesverfassungsgericht hat auf die Frage, wann ein Gericht staatlich im Sinne des Art. 92 GG sei, ausgeführt, daß grundsätzlich auch ein von einer Körperschaft des öffentlichen Rechts getragenes Gericht staatlich im Sinne des Art. 92 GG sein könne. 270 Allerdings setze dies voraus, daß die Bildung des Gerichts auf einer gesetzlichen Grundlage beruhe, daß die Körperschaft des öffentlichen Rechts staatliche Aufgaben erfülle und daß in personeller Hinsicht eine ausreichende Bindung an den Staat gewährleistet sei. 271 Der Europäische Gerichtshof hat hinsichtlich des Merkmals der Staatlichkeit bei Gerichten, welche ihn gemäß Art. 234 EGV um Vorabentscheidung ersucht hatten, gleichfalls gefordert, daß die vorlegende Stelle auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, der Staat bei der Besetzung des Gerichts ein Mitspracherecht haben und die Gerichtsbarkeit der vorlegenden Stelle obligatorisch sein müsse. 272 265 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 92, Rn. 125 ff.; N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 159 ff. 266 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 583 ff. 267 BVerfGE 18, 241, (251 ff.). 268 K. A. Schachtschneider, Grundgesetzliche Aspekte der freiberuflichen Selbstverwaltung, Die Verwaltung Bd. 31 (1998), S. 139 ff.; ders., Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 240 ff. 269 BVerfGE 18, 241, (251 ff.); 26, 186 (195); R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 92, Rn. 132 ff.; N. Achterberg, in: Dolzer /Vogel /Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 162 ff.; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 8; auch Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 583 ff. 270 BVerfGE 18, 241, (253 ff.); 26, 186 (195). 271 BVerfGE 18, 241, (253 ff.); 26, 186 (195); 27, 312 (320); R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 92, Rn. 125 ff.; auch N. Achterberg, in: Dolzer/ Vogel /Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 163 f. 272 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 583 ff.; Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2326 ff.; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4961 ff. 10*
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs weisen die richtige Richtung. Wegen der demokratischen oder grundrechtlich begründeten Selbständigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts sind Bindungen zum Staat erforderlich, um dem Staat das Handeln der Einrichtungen zurechnen zu können. Das Merkmal der gesetzlichen Grundlage folgt aus der Grundnorm des Art. 20 Abs. 2 GG. Hiernach muß sich jede staatliche Maßnahme unmittelbar oder mittelbar durch den Willen des Volkes rechtfertigen lassen.273 Weil in Deutschland weder die Richter der Fachgerichtsbarkeiten noch die Kammerangehörigen von mittelbaren Staatsgerichten durch Abstimmungen oder Wahlen vom Volk ernannt werden, was ihre Maßnahmen unmittelbar demokratisch legitimieren würde, bedarf es einer anderen Form der Legitimation. Diese wird für die mittelbare Staatsgerichtsbarkeit durch das Kriterium der gesetzlichen Grundlage vermittelt. 274 Das Volk wählt die Abgeordneten, welche als Vertreter des ganzen Volkes Teile der Staatsgewalt durch Gesetze auf Körperschaften des öffentlichen Rechts übertragen und in den Gesetzen auch die Errichtung der Gerichte der Körperschaft regeln 2 7 5 Des weiteren ist erforderlich, daß der Staat Einfluß auf die Besetzung des mittelbaren Staatsgerichts nehmen kann, um sicherzustellen, daß die Kammerangehörigen erstens über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen 276 und daß sie zweitens persönliche Unabhängigkeit gegenüber der Körperschaft des öffentlichen Rechts besitzen 2 7 7 Letztlich ist über die Position des Europäischen Gerichtshofs hinaus zu fordern, daß der Rechtsprechungskörper an das Gemeinschaftsrecht gebunden ist. Nur wenn die Richter verpflichtet sind, das Gemeinschaftsrecht auszulegen und anzuwenden, ist es gerechtfertigt, ihre Handlungen dem Staat zuzurechnen und sie damit zum Gegenstand der Gemeinschaftsaufsicht zu machen. Im Unterschied hierzu sollten Richtersprüche der mittelbaren Staatsgerichtsbarkeit nicht dem Mitgliedstaat zugerechnet werden, wenn gegen sie staatliche Gerichte ange273 Zum Demokratieprinzip und zur Legitimation staatlichen Handelns: BVerfGE 69, 92 (105 f.); 83, 37 (50 ff.); 89, 155 (182 ff.); 93, 37 (66 ff.); E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Grundlagen von Staat und Verfassung, Bd. I, 1987, § 22, Rn. 3, 5 ff., 11 ff.; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung. Die Entscheidungsteilhabe Privater an der öffentlichen Verwaltung auf dem Prüfstand des Verfassungsprinzips Demokratie, 1993, S. 152 ff.; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HVerfR, S. 435 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 26 ff., 637 ff.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 33 ff., 86 ff., 91 ff. 274
K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 970 ff. Im Gegensatz hierzu sind Spruchkörper zu beurteilen, die keine gesetzliche Grundlage aufweisen, sondern ihre Existenz anderen Umständen, etwa einem zwischen zwei Bürgern abgeschlossenen Vertrag verdanken. Diese Gerichte sind nicht vom Willen des Volkes getragen. Ihre Legitimation läßt sich nicht auf den Willen des Volkes gründen. Sie üben keine Staatsgewalt aus und sind deshalb auch nicht befugt, Urteile im Namen des Volkes zu erlassen. 276 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 142 ff. 277 BVerfGE 18, 241, (253); 26, 186 (195); 27, 312 (320); R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 92, Rn. 135 ff. 275
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rufen werden können. Das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip läßt es genügen, daß gegen Entscheidungen selbständiger Körperschaften des öffentlichen Rechts Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten erlangt werden kann, deren Entscheidungen wiederum Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens sein könnten. 3. Private Gerichtsbarkeit: Schiedsgerichtsbarkeit Der deutsche Gesetzgeber sieht in den §§ 1025 ff. ZPO die Möglichkeit zur Bildung privater Schiedsgerichte vor. Daneben existieren weitere Formen privater Gerichtsbarkeit. 278 Die gesetzliche Regelung der Schiedsgerichtsbarkeit und der Ausschluß der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Angelegenheiten, die Gegenstand einer Schiedsvereinbarung sind (§ 1032 ZPO), wirft Zweifel auf, ob es sich hierbei um staatliche oder private Rechtsakte handelt. Nach § 1029 ZPO ist die Schiedsvereinbarung eine Vereinbarung der Parteien, alle oder einzelne Streitigkeiten, die zwischen ihnen in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis vertraglicher oder nichtvertraglicher Art entstanden sind oder künftig entstehen, der Entscheidung durch ein Schiedsgericht zu unterwerfen. Die Schiedsvereinbarung ist nach der Auffassung der Lehre und der Praxis ein privatrechtlicher Vertrag. 279 Nach den §§ 1034, 1035 ZPO können die Parteien sowohl die Person als auch die Anzahl der Schiedsrichter bestimmen. § 1051 Abs. 1 ZPO sieht vor, daß die Parteien entscheiden können, welche Rechtsvorschriften auf den Rechtsstreit anwendbar sind. 280 Hierbei können die Parteien gemäß § 1051 Abs. 3 ZPO das Schiedsgericht auch ermächtigen, nach Billigkeit zu entscheiden. Nach § 1055 ZPO wirkt der Schiedsspruch wie ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil. Schiedsgerichte sind keine staatlichen Organe im Sinne des Art. 226 EGV. Erstens leiten sie ihre Entstehung nicht von der Staatsgewalt des Volkes ab, sondern beruhen auf einem privaten Vertrag. Ganz in diesem Sinne verneinte der Europäische Gerichtshof deshalb in der Rechtssache Nordsee die Vorlageberechtigung eines privatrechtlich errichteten Schiedsgerichts, weil die Gerichtsunterworfenheit 278
Zu nennen sind die Betriebsjustiz, die Verbandsgerichtsbarkeit oder etwa die Vereinsgerichtsbarkeit: K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2792 f.; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 92, Rn. 145 ff.; N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 171 ff.; Β. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 4; auch W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 42.; für die Parteigerichtsbarkeit: D. Kressel, Parteigerichtsbarkeit und Staatsgerichtsbarkeit, S. 131 ff. 279 BGHZ 23, 198 (200); 40, 320 ff.; N. Achterberg, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92, Rn. 159 ff.; H. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 73, Rn. 37; J. Albers, in: Baumbauch/Lauterbach/ders./Hartmann, Zivilprozeßordnung, 57. Aufl., 1997, § 1025, Rn. 2. 280 Wenn die Parteien keine Regelung hinsichtlich des Entscheidungsmaßstabes treffen, schreibt § 1051 Abs. 2 ZPO vor, daß das Schiedsgericht das Recht des Staates anzuwenden hat, mit dem der Gegenstand des Verfahrens die engsten Verbindungen aufweist.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
der Parteien und die Ernennung des Schiedsrichters nicht auf staatlichem, sondern auf privatem Rechtsakt beruhten. 281 Zweitens ist der Prüfungsmaßstab des Schiedsgerichts nicht notwendigerweise Gesetz und Recht. Wenn die Parteien dies vereinbart haben, muß das Schiedsgericht eine Billigkeitsentscheidung treffen. Im Unterschied hierzu ist staatliches Handeln durch seine Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3 GG), durch die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG und durch die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts gekennzeichnet. Schließlich ist noch anzumerken, daß der Staat auch keinerlei Mitwirkungsrechte bei der Auswahl der Schiedsrichter hat.
I I I . Gerichte als Organe der Rechtsprechung Gerichte sind Rechtsprechungsämter, die nach Art. 97 Abs. 1 GG durch organisatorische Selbständigkeit, persönliche und sachliche Unabhängigkeit der Amtswalter (Richter) und durch Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten gekennzeichnet sind. 282 Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind sie ausschließlich an Gesetz und Recht gebunden. Art. 97 Abs. 1 GG bestimmt, daß die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind. Die genannten Kriterien sind zu untersuchen. 283 1. Unabhängigkeit des Gerichts Die wichtigste Eigenschaft der Gerichte als Ämter der Rechtsprechung ist die Unabhängigkeit der rechtsprechenden Person, des Richters. 284 Nur wenn der Rich281 Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 ff. Im Widerspruch hierzu bejahte er in der Rechtssache Handels -og Kontorfunktionaerernes die Vorlageberechtigung eines tarifvertraglichen Schiedsgerichtes aus Dänemark, obwohl dieses aufgrund eines Vertrages zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebervertretung gegründet worden war, Slg. 1989, 3199 ff. (3224 f.). Der Europäische Gerichtshof stellte in diesem Urteil weniger auf den Errichtungsakt des Gerichts als vielmehr darauf ab, daß die Verfahrensparteien nicht frei über die Zusammensetzung des Schiedsgerichts bestimmen konnten. 282 BVerfGE 18, 241 (254 f.); HessStGH (Wahlprüfung) in: DÖV 2000, 960; auch ΑΓ. A Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2779 f.; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 77; Η J. Wolff/O. Bachof/ R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 236; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 ff. 283 Auch der Europäische Gerichtshof greift auf diese Kriterien zur Bestimmung des Gerichtsbegriffs in Art. 234 EGV zurück. Seiner Auffassung nach ist Rechtsprechungsorgan jede ständige Einrichtung, die aufgrund einer gesetzlichen Grundlage errichtet worden ist, deren Gerichtsbarkeit obligatorischer Charakter zukommt, die nach Rechtsnormen entscheidet und Unabhängigkeit besitzt: Urteil des EuGH vom 27. April 1994, Rs. C-393/92, Slg. 1994, 1514; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4992 f.; Urteil des EuGH vom 16. Oktober 1997, verb. Rs. C-69/96 bis C-79/96, Slg. 1997,5628.
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ter unabhängig ist, kann er seine Aufgabe, die verbindliche Klärung des Rechts, 2 8 5 gerade auch bei Streitigkeiten zwischen Staat und Bürger, wirksam wahrnehmen. Nur wenn der Richter unabhängig ist, kommt seinen Urteilen diejenige Autorität zu, die unabdingbar für Rechtsfrieden und Rechtssicherheit i s t . 2 8 6 Unabhängigkeit des Richters bedeutet, daß ihm weder andere Staatsorgane noch die Verfahrensbeteiligten Weisungen erteilen dürfen und können (sachliche Unabhängigkeit). 2 8 7 Weiterhin müssen die Richter in ihrer beruflichen Stellung unabhängig sein (persönliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 2 G G ) , 2 8 8 damit nicht durch wirtschaftlichen oder beruflichen Druck ihre Entscheidungen beinflußt werden können. U m die Unabhängigkeit der Richter zu gewährleisten, verbietet deshalb die gewaltenteilige Funktionenordnung Deutschlands, daß Richter gleichzeitig Funktionen in Organen der Gesetzgebung und des Vollzugs wahrnehmen. 2 8 9 In engem Zusammenhang mit der richterlichen Unabhängigkeit stehen die Elemente der Neutralität und der Unparteilichkeit des Richters. 2 9 0 Das Element der Neutralität soll gewährleisten, daß der Richter kein eigenes Interesse am Ausgang 284 Zur Unabhängigkeit: BVerfGE 18, 241 (255); 27, 312 (322 f.); 42, 64 (78); 60, 175 (214); BVerfG NJW 2001, 1048 ff.; HessStGH (Wahlprüfung) in: DÖV 2000, 960; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 13 ff.; K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 49 ff.; ders., Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2779, 2796; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 907 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 235 f.; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 1; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 8, 17 f.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 84 ff.; W. Freitag, Unternehmen in der Republik, 2001, S. 112 ff. 285 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff., 230; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 68 ff. 286 K. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 290; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 142 ff. 287 BVerfGE 14, 56 (69); 18, 241 (255); 27, 312 (322); 60, 175 (214); BVerfG NJW 2001, 1048 ff.; HessStGH (Wahlprüfung) in: DÖV 2000, 960; Λ. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2779 f., 2796; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 7, 79; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 235 f.; H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 85 ff. 288 κ . A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2779 f., 2795 f.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 911; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 81; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 235 f.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 87 ff. 289 Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2775 f. 290 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 348, 907 ff., 923; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 77 f.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 238 f., 366 f.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 91 ff.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
der Rechtsstreitigkeit hat. 2 9 1 Befangene Richter sind von der Amtswaltung ausgeschlossen.292 Der Richter darf deshalb keinerlei Beziehung zu den Verfahrensparteien aufweisen 2 9 3 Aus der Neutralität des Richters folgt gleichzeitig die Passivität des Richters. 294 Nach dem Grundsatz: „ne eat (procedat) judex ex officio" („Wo kein Kläger, da kein Richter") darf der Richter nicht von sich aus gerichtliche Verfahren einleiten und dadurch den Gegenstand des Rechtsstreits bestimmen. 295 Das Verbot der Verfahrenseinleitung durch den Richter soll gewährleisten, daß sich der Richter nicht dem (berechtigten) Vorwurf ausgesetzt sieht, mit der Verfahrenseinleitung eigene Interessen zu verfolgen, die seine Neutralität, insbesondere im Prozeß des Bürgers gegen den Staat, in Frage stellen würde. Das Element der Unparteilichkeit verlangt, daß der Richter bei seiner Entscheidung keine Partei bevorzugt, sondern seine Entscheidung allein anhand des Entscheidungsmaßstabs Gesetz und Recht trifft (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG). 2 9 6 Unter Beachtung der richterlichen Unabhängigkeit lehnten deshalb sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Hessische Staatsgerichtshof die Richtereigenschaft der Mitglieder des Hessischen Wahlprüfungsgerichts ab, 2 9 7 weil diese als Abgeordnete des Hessischen Landtags „nicht die für das Richteramt erforderliche Neutralität und Distanz zum Gegenstand des wahlprüfungsgerichtlichen Verfahrens" hatten. 298 Die Entscheidungen der Gerichte sind zu bejahen. Sie messen der Unabhängigkeit des Richters die entsprechende Bedeutung bei. Bedenklich hingegen stimmt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Dorsch Consult. 299 In diesem Rechtsstreit bejahte der Europäische Gerichtshof die Gerichtseigenschaft des deutschen Vergabeüberwachungsausschusses, insbesondere die Unabhängigkeit seiner Mitglieder, obwohl diese gleichzeitig Beamte einer Behörde (geblieben) waren. Dieser Judikatur kann nicht gefolgt werden. Sie berücksichtigt nicht, daß die Unabhängigkeit der entscheidenden Personen allenfalls sachlich, nicht aber persönlich garantiert war. Weiterhin ist bei Beamten als Amts-
291 W. Heyde, Rechtsprechung, in: HverfR, § 33, Rn. 77; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 238 f.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 91 ff. 292 κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 238. 293 K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 34; ders., Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2779; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 238 ff.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7 ff. 294 κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. ΙΠ, § 73, Rn. 35; ders., Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2779; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 238 f. 295 296 297 298 299
K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 238 f. K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 238 f., 366. BVerfG NJW 2001, 1052; HessStGH (Wahlprüfung) in: DÖV 2000, 960 f. BVerfG NJW 2001, 1052. Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997,4992 ff.
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waltern der vollziehenden Gewalt nicht in ausreichendem Maße die Gewähr geboten, daß sie neutral und unabhängig entscheiden.
2. Entscheidung nach Rechtsnormen Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die rechtsprechende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden. Nach Art. 97 Abs. 1 GG sind die Richter nur dem Gesetz unterworfen. 3 0 0 Recht und das rechtmäßige Gesetz sollen der einzige Maßstab richterlicher Entscheidungen sein, weil nur dadurch die demokratische Legitimation und die Verwirklichung des Rechts als Element der Rechtsstaatlichkeit gewährleistet sind. 301 Eine Einrichtung ist deshalb nur dann staatliches Gericht, wenn die Mitglieder derselben einer Rechts- und Gesetzesbindung unterliegen und nicht nach eigenen Maßstäben entscheiden dürfen. 302 In diesem Zusammenhang ist der unterschiedliche Prüfungsmaßstab zu sehen, den die deutsche Verwaltungsgerichtsordnung für die exekutive (behördliche) und die gerichtliche Überprüfung eines Verwaltungsaktes vorgibt: Nach § 68 Abs. 1 VwGO ist die Widerspruchsbehörde berechtigt, die Rechtmäßigkeit und die Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes nachzuprüfen. § 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO hingegen berechtigt das Verwaltungsgericht nur, die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes zu prüfen. Behördliche Ermessensentscheidungen darf der Verwaltungsrichter nur in den engen Grenzen des § 114 VwGO kontrollieren, nämlich ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind, ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist und ob die Behörde überhaupt ihr Ermessen ausgeübt hat. 3 0 3 Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht geht jedoch nur soweit, wie der Bestimmtheitsgrad der Gesetze reicht. Es gibt offene Rechtsbegriffe, wie etwa die guten Sitten in § 138 BGB oder in § 1 UWG, die der Materialisierung bedürfen. 304 Des weiteren ist auf Normen hinzuweisen, die die Richter zu Billigkeitsentschei300 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 894 f.; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 92 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 270 ff.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 6. 301 W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 9; allgemein zum Legitimationsgedanken BVerfGE 83, 60 (71); 89, 155 (172); speziell zur Legitimation der Richter K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 236 ff.; auch T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 53 f., 106 ff.; aus diesem Grund werden Urteile staatlicher Gerichte im Namen des Volkes erlassen (§311 ZPO für die Zivilgerichte). 302 K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 49 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874 ff. 303 BVerwGE 33, 334; 87, 333; W. Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 159 ff.; F. O. Kopp/W.-R. Schenke, VwGO, § 114, Rn. 4 ff.; K. A. Schachtschneider/A. EmmerichFritsche/M. Kläver/P. Wollenschläger, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 58. 304 κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 221 ff.; auch T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 72 ff.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
düngen befugen, etwa die Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen nach § 829 BGB. Den Richtern ist in diesen Fällen vom Gesetzgeber die Befugnis übertragen worden, die streitentscheidenden Rechtssätze selbst zu bilden (Rechtssetzungsdelegation). 3 0 5 Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Richter seine Entscheidung beliebig treffen darf. Vielmehr ist er verpflichtet, sachgerecht und in Abwägung aller Umstände und Interessen die Streitigkeit zu entscheiden.306 Auch solche Entscheidungen sind deshalb Entscheidungen, die auf der Grundlage des Rechts getroffen, nicht aber nach Belieben erlassen werden. Der Europäische Gerichtshof hat in einigen Urteilen ausgeführt, daß die Entscheidung nach Rechtsnormen Voraussetzung für die Gerichtseigenschaft sei. 307 Von dieser Auffassung scheint er auf dem ersten Blick in der Rechtssache Almelo abgewichen zu sein, in welcher er die Gerichtseigenschaft der vorlegenden Stelle bejahte, obwohl die vorlegende Einrichtung nicht gesetzesgebunden war, sondern ihre Entscheidungen nach billigem Ermessen zu treffen hatte. 308 Das genauere Studium der Urteilsgründe ergibt jedoch, daß der Europäische Gerichtshof seiner Linie treu geblieben ist; denn er führt hierzu ganz im Sinne der obigen Erörterung aus, daß die vorlegende Einrichtung trotz Ermessensentscheidung an Art. 10 EGV gebunden sei. 3. Ständige Einrichtung Der Europäische Gerichtshof hat ausgesprochen, daß die Ständigkeit der Einrichtung ein Wesensmerkmal staatlicher Rechtsprechungsorgane sei. 309 In dem Merkmal spiegeln sich verschiedene Verfassungsgrundsätze wieder, nämlich der Grundsatz des gesetzlichen Richters und das Verbot von Ausnahmegerichten (Art. 101 Abs. 1 GG), 3 1 0 der Grundsatz des Justizgewährungsanspruchs aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip. 311 Schließlich sichert die Ständigkeit 305
K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 223 f. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 881 f., 890 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 223 f.; dieses Postulat wurde vom Bundesgerichtshof im Rahmen der Billigkeitshaftung nach § 829 BGB auch berücksichtigt. In BGHZ 127, 186 (192), urteilte er, daß die Billigkeit unter Berücksichtigung aller Umstände eine Schadloshaltung des Geschädigten erfordern müsse. 3 07 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61/65, Slg. 1966, 602; Urteil des EuGH vom 27. April 1994, Rs. C-393/92, Slg. 1994, 1415; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4994 f.; Urteil des EuGH vom 16. Oktober 1997, verb. Rs. C-69/96 bis C-79/96, Slg. 1997, 5629. 3 08 Urteil des EuGH vom 27. April 1994, Rs. C-393/92, Slg. 1994, 1415 ff. 509 Urteil des EuGH vom 30. Juni 1966, Rs. 61 /65, Slg. 1966, 602; Urteil des EuGH vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, Slg. 1997, 4963. 306
W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 55 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 334. 311 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Grundlagen von Staat und Verfassung, Bd. I, 1987, Bd. I, § 24, Rn. 71; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 49 ff.;
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der Einrichtung die Unabhängigkeit der Richter institutionell a b . 3 1 2 Der Grundsatz des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verlangt, daß vor Klageerhebung durch Gesetz bestimmt sein muß, welches Gericht, welcher Richter, den Rechtsstreit entscheidet. 3 1 3 Sowohl die zeitbezogene Vorgabe als auch die rechtssatzmäßige Komponente sollen Einflußnahmen bei der Besetzung des Gerichts ausschließen, 314 indem vorab und allgemein die zur Entscheidung verpflichtete Person bestimmt ist. Aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip folgt die Verpflichtung des Staates, umfassenden und dauernden Rechtsschutz zu gewähren. 3 1 5 Dieser Pflicht kann nur genügt werden, wenn der Staat Gerichte dauerhaft einrichtet und nicht nur vorübergehend, nach Geschäftsanfall.
IV. Rechtsprechende Gewalt Nach Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Was unter rechtsprechender Gewalt zu verstehen ist, definiert das Grundgesetz n i c h t . 3 1 6 Aus Art. 92 GG folgt nur, daß rechtsprechende Gewalt ausschließlich von Richtern ausgeübt werden d a r f . 3 1 7 Organe der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt sind dazu nicht berechtigt. Das Monopol staatlicher Rechtsprechung der Gerichte schließt nicht aus, daß Richter auch verwaltend oder gesetzK. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 551; allgemein zum Justizgewährungsanspruch: H.-J. Papier, Justizgewähranspruch, in: HStR, Freiheitsrechte, Bd. VI, 1989, § 153, Rn. 1 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 136 ff. 312 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 136 ff., der darauf hinweist, daß der Bürger um seiner Freiheit willen vom Staat beanspruchen können muß, daß das Recht und damit die Gesetze jederzeit verwirklicht werden. 313 BVerfGE 63, 77 (79); 82, 286 (298); C. Degenhart, Gerichtsorganisation, in: HStR, Das Handeln des Staates, Bd. III, 1988, § 75, Rn. 17 ff.; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 55 f.; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 101, Rn. 4. 314 BVerfGE 2, 307 (319 f.); 17, 294 (298 f.); 82, 286 (298); W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 55 f.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 333 ff. 315 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 71; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 49 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 551; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 136 ff. 316 So auch W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 12; B. Schmidt-Bleibtreu, in: ders./Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 9. Aufl., 1999, Art. 92, Rn. 2. 317 Zum Monopol staatlicher Rechtsprechung der Richter: K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2112> f.; ders., Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 4; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 378, 893 f., 921; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 6 f. 12; T. Maunz/R· Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 359; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230; H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.) Grundgesetz, Art. 92, Rn. 25; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 8; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 11 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 10 f.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
gebend tätig werden. 3 1 8 Richterliche Handlungen i m Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit, etwa Registereintragungen, 319 die Ausübung des richterlichen Dienstrechts oder richterliche Vollstreckungsmaßnahmen, werden von der Praxis und der Lehre für die Ausübung vollziehender Gewalt gehalten. 3 2 0 Die richterliche Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht wird teilweise als funktionale Gesetzgebung verstanden. 321 Sie bleibt jedoch Rechtsprechung, wie sich bereits aus der Zuweisung durch das Grundgesetz i m Abschnitt DC. „Die Rechtsprechung" e r g i b t . 3 2 2 Teilweise wird in der Lehre noch die normative Funktion der richterlichen Geschäfts Verteilung betont. 3 2 3 Mangels einer Legaldefinition haben sich in der Lehre unterschiedliche Auffassungen darüber gebildet, was unter rechtsprechender Gewalt zu verstehen sei. Folgende materiellen Kriterien werden genannt: die Rechtsanwendung (im Gegensatz zur Rechtsetzung), 3 2 4 die Tätigkeit als nichtbeteiligter D r i t t e r , 3 2 5 die Ent318 BVerfGE 21, 139 (144); 64, 175 (179); 76, 100 (106); Κ . Α. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. IU, § 73, Rn. 7; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 7, 17 f.; T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 359; B. Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 8; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 11. 319 Ζ Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 359; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 7 ff. 320 κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 7 f.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 900 ff.; Β. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 8; allgemein zur Abgrenzung der Rechtsprechung von der Verwaltung: Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2776 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 895 ff. Hinsichtlich der Einordnung exekutiver Maßnahmen durch Gerichte führt F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, 2. Aufl., 1977, S. 11 für das Völkerrecht aus: „Die Haftung des Staates kann ebenso wie für eine Rechtsverletzung durch seine Exekutive auch für seine Gerichte eintreten. ( . . . ) . Man darf aber nicht vergessen, daß die Umschreibung der gerichtlichen Tätigkeit nicht in allen Ländern identisch ist. Es gibt Länder, in denen die Gerichte auch mit Verwaltungsaufgaben befaßt sind, vor allem in der sogenannten freiwilligen Gerichtsbarkeit: hier ist wohl normale Haftung für Exekutivorgane anzunehmen".
321 Ausführlich hierzu: U. Steiner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, NJW 2001, 2919; R. Scholz, Das Bundesverfassungsgericht: Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber?, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 16/1999, S. 7 f.; a.A. Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2776. 322 κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 871 ff. 323 So Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 7; zum funktional gesetzgebenden Charakter der Grundrechtsverwirklichung durch die Verfassungsrechtsprechung: Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 858 ff. 324 κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2775; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. Π, S. 895. 325 Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2778 f.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 897.
C. Rechtsprechungsbegriff des Vertragsverletzungsverfahrens
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Scheidung einer Streitigkeit, 326 die Klärung des Rechts, 327 die Verbindlichkeit der ΛΑΛ
ΛΛΛ
Entscheidung, die Rechtskraftfähigkeit der Entscheidung. Der Europäische Gerichtshof hat in seinen zu Art. 234 EGV ergangenen Urteilen die Rechtskraftfähigkeit der Entscheidung und die Entscheidung einer Rechtsstreitigkeit für Wesensmerkmale der rechtsprechenden Gewalt gehalten. 330 Das Bundesverfassungsgericht führt in seinem Urteil über die Gültigkeit der Wahl zum Hessischen Landtag aus, daß zu den wesentlichen Begriffsmerkmalen der rechtsprechenden Gewalt das Element der Entscheidung gehöre, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist. 3 3 1 Das Bundesverfassungsgericht merkt weiterhin an, daß Kennzeichen rechtsprechender Tätigkeit daher typischerweise die letztverbindliche Klärung der Rechtslage in einem Streitfall im Rahmen besonders geregelter Verfahren sei. 332
1. Rechtsklärung durch Entscheidung Als ein Funktionsbereich der Staatsgewalt läßt sich der Begriff der rechtsprechenden Gewalt nur aus der Gesamtschau der verfassungsmäßigen Ordnung und der gewaltenteiligen Funktionenordnung gewinnen. 333 326
E. Friesenhahn, Über Begriff und Arten der Rechtsprechung, in: FS für Thoma, S. 21 ff. (26 f.); C. H. Ule, Anmerkung zu BVerwG, JZ 1958, 628; mit Kritik hieran: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 895 f.; D. Lorenz, Rechtsprechung, in: Staatslexikon, Bd. 4, S. 726; auch T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 55 ff. 327 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 f.; auch K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2776; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 896; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 15, R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 31 ff. 328 K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2777 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 897 f.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7; D. Lorenz, Rechtsprechung, in: Staatslexikon, Bd. 4, S. 727; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874; R. Berenbrok, Das Recht des Not Vorstands der Aktiengesellschaft, S. 34 ff. 329 H. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 234 f.; K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. ΙΠ, § 73, Rn. 38; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 f.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 34 ff. 330 Beschluß des EuGH vom 18. Juni 1980, Rs. 138/80, Slg. 1980, 1975 ff.; Beschluß des EuGH vom 5. März 1986, Rs. 318/85, Slg. 1986, 955 ff.; Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff.; Urteil des EuGH vom 19. Oktober 1995, Rs. C - l l l /94, Slg. 1995, 3361 ff. 331 BVerfG NJW 2001, 1048 (1053); auch BVerfGE 7, 183 (188 f.); 31, 43 (46); 60, 253 (269 f.). 332 BVerfG NJW 2001, 1048 (1053); auch H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Recht und Gesetz gebunden. Rechtsprechung ist demnach, wie die vollziehende Gewalt, regelmäßig durch die Rechtsanwendung charakterisiert. 3 3 4 Hierdurch unterscheidet sie sich von der Gesetzgebung: Während die Funktion der Gesetzgebung darin besteht, Vorschriften zu schaffen, allgemeine Regeln aufzustellen, 3 3 5 ist es Aufgabe des Richters, den Sachverhalt und das Recht zu erfassen und durch Subsumtion das Recht i m Einzelfall zu erkennen und i m Richterspruch zu verkünden. 3 3 6 Die Klärung des Rechts erfolgt aber nicht in allen Fällen durch die Subsumtion der Gesetze. Sie umfaßt zum einen auch die Materialisierung offener Rechtsbegriffe durch richterliche Auslegung. 3 3 7 Z u m anderen sind die deutschen Gerichte verpflichtet, zu fragen, ob die anzuwendende Norm rechtmäßig ist, insbesondere ob sie dem Verfassungsgesetz entspricht. Wenn ein deutsches Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei seiner Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält, ist es verpflichtet, die Vorschrift gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen. 3 3 8 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die Verfassungsmäßigkeit der Norm. Es hat, um die Einheitlichkeit der Rechtsordnung zu gewährleisten, ein Norm Verwerfungsmonopol. 339 Auch i m 333 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 870 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 10 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 67 f. 334 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 231 ff.; Κ Α. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2774; Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 894; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 31 f.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 47 ff. 335 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 231 ff.; Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2774; Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 894; auch T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 69; die erstgenannten Autoren weisen auf die abstrakt generelle Regelung der Gesetze im Unterschied zur konkret-individuellen Regelung durch den Richterspruch hin. 336 Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 870 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 68 ff.; zum Gesetz als Maßstab der richterlichen Entscheidung auch H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 233; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 22 f.; Κ Α. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2774; Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 894; M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar 1996, Art. 20, Rn. 73. 337
Κ Α. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2774 f.; Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 108 ff., 221 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 69 ff. 338 Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2776; A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 270 ff.; Β. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 100, Rn. 3. 33 9 BVerfG 1, 184 (197 ff.); 6, 222 (232 ff.); 17, 208 (209 f.); Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 903 ff., 1013; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 273 ff.; B. Pieroth, in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz, Art. 100, Rn. 2.
C. Rechtsprechungsbegriff des Vertragsverletzungsverfahrens
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Normenkontrollverfahren erfolgt die Klärung des Rechts nicht ausschließlich durch Subsumtion der Gesetze. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht durch seine Entscheidung den Rechtssatz erst zu bilden. 340 In Anbetracht dieser Aufgaben und unter Berücksichtigung des Umstandes, daß nicht jedem Richterspruch ein streitiges Verfahren zugrunde liegen muß, 341 greift das Kriterium „Entscheidung einer Rechtsstreitigkeit" zu kurz. 3 4 2 Im Unterschied hierzu ist das Merkmal der Rechtsklärung weiter und vermag auch Normenkontrolle und unstreitige Gerichtsverfahren zu erfassen. Entscheidung bedeutet, im Gegensatz zu Stellungnahmen, Meinungsäußerungen und anderen unverbindlichen Maßnahmen, eine verbindliche Antwort auf eine gestellte Frage zu geben und dies auszusprechen.343 Gegenstand der Rechtsprechung ist Rechtsklärung durch gerichtliche Entscheidung, was auch vom Bundesverfassungsgericht in seiner Definition der rechtsprechenden Gewalt betont wird: „Zu den wesentlichen Begriffsmerkmalen der Rechtsprechung in diesem Sinne gehört das Element der Entscheidung, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist. 3 4 4 Die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs, daß Rechtsprechung die „Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten", besser: die Entscheidung durch Rechtsklärung, verlange, geht in dieselbe Richtung und überzeugt gleichfalls. 345
2. Rechtskraft Eines der wesentlichen Elemente des Rechtsstaates ist das Rechtsschutzprinzip. 3 4 6 Der Rechtsstaat muß Rechtsschutz geben, 347 in zivilrechtlichen wie in öf340 κ . Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 870 ff., 901 ff., 1013; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 221 ff.; 270 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 69 ff. 341 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 896 f. Hinzuweisen ist etwa auf das gerade erwähnte Normenkontrollverfahren nach Art. 100 GG oder auf bestimmte unstreitige Rechtserkenntnisverfahren im Familienrecht. 342 So auch R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 15 f. 343 κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2775; zur Richtigkeit nur einer Erkenntnis als Prinzip des Rechts: Κ. A. Schachtschneider, Der Rechtsbegriff „Stand von Wissenschaft und Technik" im Atom- und Immissionsschutzrecht, in: Thieme (Hrsg.), Umweltschutz im Recht, 1988, S. 105 ff.; R. Berenbrok, Das Recht des Notvorstands der Aktiengesellschaft, S. 32. 344 BVerfG NJW 2001, 1048 (1053); mit Hinweis auf BVerfGE 7, 183 (188 f.); 31, 43 (46); 60, 253 (269 f.). 345 So der Beschluß des EuGH vom 18. Juni 1980, Rs. 138/80, Slg. 1980, 1975 ff.; Beschluß des EuGH vom 5. März 1986, Rs. 318/85, Slg. 1986, 955 ff. 346 κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2784 ff.; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 5 f.; Κ. A.
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
fentlich-rechtlichen Streitigkeiten. Was rechtens ist, wird im Streitfalle letztverbindlich von den Gerichten erkannt. 348 So hält Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG fest, daß der Rechtsweg (zu den Gerichten) offen steht, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. 3 4 9 Die gerichtliche Rechtsklärung im Rahmen des Rechtsschutzes dient dem Ziel, Rechtsfrieden und Rechtsvergewisserung zu schaffen. 350 Rechtsfrieden und Rechtsvergewisserung durch gerichtliche Rechtsklärung lassen sich jedoch nur verwirklichen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Richter müssen erstens unparteilich, neutral und unabhängig entscheiden, damit die Bürger bereit sein können, den Richterspruch zu akzeptieren. 351 Richtersprüche müssen zweitens für die Parteien und die Allgemeinheit verbindlich sein und abschließend klären, was rechtens ist, um Rechtsfrieden zu gewährleisten. Schließlich müssen Gerichtsverfahren endlich sein, um in angemessener Zeit Rechtsfrieden herbeizuführen. 352 Die Verbindlichkeit und die Beständigkeit gerichtlicher Urteile werden durch das Rechtsinstitut der Rechtskraft sichergestellt. Dieses hat in Deutschland verfassungsrechtlichen Rang. 353 Man unterscheidet zwischen formeller und materieller Rechtskraft. 354 Formelle Rechtskraft bedeutet die Unanfechtbarkeit der Richtersprüche nach der Maßgabe der jeweiligen Prozeßordnung. 355 Das Wesen Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 121 ff.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 1 f.; auch T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 359; D. Kressel, Parteigerichtsbarkeit und Staatsgerichtsbarkeit, S. 22 ff. 347 BVerfGE 84, 366 (369); 85, 337 (345, 347); W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 1, 6; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 121 f.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 2 f. 348 κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 121 f. 349 T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 99 f.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 146 ff., 270 ff.; H. Jarass, in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz, 5. Auflage, 2000, Art. 19, Rn. 29 ff. 350 K. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 309; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 142; K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, S. 2782; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7. 351 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 142 f. 352 κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 277 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. 353 BVerfGE 2, 380 (403 ff.); 22, 322 (329); 47, 146 (161 f.); K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. 354 κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 179 f.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7. Seinen einfachgesetzlichen Niederschlag hat die Rechtskraft für zivilrechtliche Streitigkeiten in § 322 ZPO (materielle Rechtskraft) und in § 705 ZPO (formelle Rechtskraft) gefunden, für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten in § 121 VwGO. Hinsichtlich der Urteile des Bundesverfassungsgerichts enthält das Bundesverfassungsgerichtsgesetz keine die Rechtskraft betreffende Regelung. Die Lehre geht aber davon aus, daß Entscheidungen des obersten deutschen Gerichts in Rechtskraft erwachsen: K. Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, 2. Aufl., 1991, Rn. 440 ff.
C. Rechtsprechungsbegriff des Vertragsverletzungsverfahrens
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der materiellen Rechtskraft besteht in der Bindung der Parteien und des Staates an den Richterspruch. 3 5 6 Dies gilt selbst für das fehlerhafte U r t e i l . 3 5 7 Weiterhin verbietet die materielle Rechtskraft, den rechtskräftig entschiedenen Streitgegenstand in einem späteren Verfahren noch einmal zum Gegenstand einer richterlichen Entscheidung zu machen (ne bis in i d e m ) . 3 5 8 Nur in wenigen Ausnahmefällen sehen die gerichtlichen Verfahrensordnungen die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen der Fehlerhaftigkeit des Urteils (Nichtigkeits- und Restitutionsklagen) vor. Die durch das Institut der Rechtskraft gewährleistete Unabänderbarkeit (Beständigkeit) des Urteils und dessen Bindungswirkung sind elementare Kennzeichen von Rechtsprechungsakten. 359 Hierdurch unterscheiden sich Richtersprüche von Gesetzen und von Verwaltungsakten, denen eine derartige Beständigkeit nicht zukommt: Fehlerhafte (gesetzeswidrige) Verwaltungsakte sind grundsätzlich wirksam, können aber i m Widerspruchsverfahren und/oder durch Klage aufgehoben werden; selbst bestandskräftige fehlerhafte (gesetzeswidrige) Verwaltungsakte können gemäß §§ 48 f. V w V f G von der erlassenden Behörde zurückgenommen oder widerrufen w e r d e n . 3 6 0 In schwerwiegenden Fällen sind fehlerhafte Verwal355 Hierzu O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 213; L. Rosenberg /Κ. Η. Schwab /P. Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 908; P. Hartmann, in: Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, Zivilprozeßordnung, Einführung vor § 322, Rn. 1; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 f.; ders./A. Emmerich-Fritsche/M. Kläver/P. Wollenschläger, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 42 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 174; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7. 356 Zum Wesen der materiellen Rechtskraft: BVerfGE 2, 380 (403 f.); 47, 146 (161); A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 440 ff.; Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 38; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 896 ff.; L. Rosenberg/K. Η Schwab/P. Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 919; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 871 f., 1132; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7; zur Bindung der staatlichen Organe BVerfGE 47, 146 (161), welches in der Entscheidung ausführt: „Funktion der materiellen Rechtskraft richterlicher Entscheidungen ist es, durch die Maßgeblichkeit und Beständigkeit des Inhalts der Entscheidung über den Streitgegenstand für die Beteiligten und die Bindung der öffentlichen Gewalt an die Entscheidung die Rechtslage verbindlich zu klären und damit dem Rechtsfrieden zwischen den Parteien zu dienen, ihnen insbesondere zu ermöglichen, ihr Verhalten gemäß der Rechtslage einzurichten." 357 So auch Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2782, der ausdrücklich betont, daß sich der fehlerhafte Richterspruch von fehlerhaften Gesetzen und Verwaltungsakten, durch seine unbedingte Wirksamkeit unterscheide; Κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 290 ff. 358 BGH, W M 1996, S. 1101; so auch O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 214; L. Rosenberg/K. H. Schwab/P. Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 908 f., 914 ff.; Κ . Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 179; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7. 359
So Κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 309; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. ΙΠ, § 73, Rn. 38; a.A. R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 30. 11 Wollenschläger
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Kap. 3: Rechtsprechung der Mitgliedstaaten
tungsakte gemäß § 43 Abs. 3 VwVfG nichtig. 361 Rechtswidrige Gesetze werden vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt (§ 78 BVerfGG). Hinsichtlich der Rechtskraft als Element der rechtsprechenden Gewalt ist abschließend noch einmal auf die Begriffsbestimmung des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen, nach dessen Auffassung das Element der Entscheidung, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist, zu den wesentlichen Begriffsmerkmalen der rechtsprechenden Gewalt gehört. 362 Auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Pretore di Salò ist von Interesse. In dem genannten Urteil bejahte der Europäische Gerichtshof den Rechtsprechungscharakter einer gerichtlichen Maßnahme, obwohl diese nicht der Rechtskraft fähig war. 363 Auf Anfrage des Gerichts hatte die italienische Regierung im anhängigen Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV mitgeteilt, daß gegen die Entscheidung des vorlegenden Gerichts jederzeit ein neues Strafverfahren wegen desselben Streitgegenstandes hätte eingeleitet werden können. 3 6 4 Diese Judikatur des Europäischen Gerichtshofs ist abzulehnen. Entlastend ist anzuführen, daß es im vorliegenden Verfahren in erster Linie um die Vorlageberechtigung der vorlegenden Stelle ging, nicht aber um die Ausarbeitung des Begriffs der rechtsprechenden Gewalt.
360 Zur Bestandskraft: K. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 120; ders JA. Emmerich-Fritsche/M. Klüver/P. Wollenschläger, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 28 ff.; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11, Rn. 1 ff. 361 K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2782 f. 362 BVerfG NJW 2001, 1048 (1053); mit Hinweis auf BVerfGE 7, 183 (188 f.); 31, 43 (46); 60, 253 (269 f.). 363 Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff. 364 Erklärung der italienischen Regierung im Urteil des EuGH vom 11. Juni 1987, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2548.
Kapitel 4
Ansichten in Literatur und Praxis über die Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Rechtsprechungsakte nationaler Gerichte Nach allgemeiner Auffassung gilt das Gemeinschaftsrecht unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Der einzelne kann sich vor den Gerichten und den Behörden der Mitgliedstaaten auf gemeinschaftsrechtliche Normen berufen. 1 Nationale Gerichte haben das Gemeinschaftsrecht somit anzuwenden und auszulegen; sie haben es zur Grundlage ihrer Entscheidung zu machen. Fraglos können Rechtsprechungsakte nationaler Gerichte das Gemeinschaftsrecht verkennen oder auch mißachten. 2 Häufigste Fallgruppe ist die Verletzung der Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EGV durch letztinstanzliche Gerichte der Mitgliedstaaten. 3 Allerdings begründet ein gerichtlicher Vertragsverstoß nicht schon die Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens. Wenn man der bereits erwähnten Auffassung der Kommission zur Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte nach Art. 234 Abs. 3 E G V folgt, so können 1
So schon der Europäische Gerichtshof in folgenden zwei grundlegenden Entscheidungen: Urteil des EuGH vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (24 f.); Urteil des EuGH vom 15. Juli 1964, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269); zur unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts in der Literatur: B. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 60 f.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 675 ff.; K. A. Schachtschneider / A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, S. 100 ff. 2 So Urteil des EuGH vom 30. September 2003, Rs. C-224/01, EuZW 2003, 718 ff. = NJW 2003, 3539 ff.; auch B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 99; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 62; weiterhin T. C. Hartley, The foundations of european community law, 1981, S. 289; H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; G. Nicolay sen, Vertragsverletzungen durch mitgliedstaatliche Gerichte, EuR 1985, 368 ff.; ders., Europarecht, Bd. I, S. 239 f.; G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11 ff.; K. Hailbronner, in: ders. / Klein/Magiera/ Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 6; J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 264 f.; K. D. Borchardt, Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, PI., Rn. 14; P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 18 f.; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4. 3 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 119; zur Vorlagepflicht K. A. Schachtschneider / A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 256 f. 11*
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Kap. 4: Ansichten in Literatur und Praxis
nur diejenigen gerichtlichen Maßnahmen Verfahrensgegenstand sein, die auf offensichtlicher Unkenntnis des Gemeinschaftsrechts oder einer bewußten Mißachtung desselben beruhen. 4 Rechtsprechungsakte, die fahrlässig gegen die Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EGV verstoßen und damit den Vertrag verletzen, rechtfertigen nach der Auffassung der Kommission das Vertragsverletzungsverfahren nicht. Das Verhältnis zwischen gerichtlichem Vertragsverstoß und Vertragsverletzungsverfahren ist dadurch gekennzeichnet, daß zwar jedes aufsichtsrechtliche Einschreiten einen Vertragsverstoß voraussetzt, nicht aber jeder Vertragsverstoß ein Fall des Art. 226 EGV sein muß. Welche gerichtlichen Vertragsverstöße sollen nun Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens sein?
A. Rechtsauffassungen Die in der Lehre vertretenen Auffassungen zur Befugnis der Kommission, Aufsicht über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten auszuüben, sind vielfältig. 5 Sie 4 AB1EG vom 31. Januar 1979, Nr. C 28/9. 5 Dazu W. Däubler, Die Klage der EWG-Kommission gegen einen Mitgliedstaat, NJW 1968, 325 ff.; J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against Member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, 385 ff.; Th. Oppermann/W. Hiermeier, Das Rechtsschutzsystem des EWG-Vertrages, JuS 1980, 782 (785); Τ. C. Hartley, The foundations of european community law, S. 289 f.; H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; C.-D. Ehlermann, Die Verfolgung von Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten durch die Kommission, in: FS für Kutscher, S. 135 ff.; G. Nicolaysen, Vertragsverletzungen durch mitgliedstaatliche Gerichte, EuR 1985, 368 ff.; ders., Europarecht, Bd. I, S. 239 f.; B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 99 ff.; C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, in: Das Zusammenwirken der europäischen Gerichte und der nationalen Gerichtsbarkeit, 1989, S. 1 ff.; G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11 ff.; K. Hailbronner, in: ders./ Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 6, 12; J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 264 f.; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 106 ff.; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812 ff.; K. D. Borchardt, Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses, (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, P.I., Rn. 14; ders., in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 226, Rn. 7; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 119 ff.; V. Bucci /Μ. Bucci, Der Gerichtshof und das Rechtsschutzsystem der Europäischen Gemeinschaften, in: Röttinger/Weyringer (Hrsg.), Handbuch der europäischen Integration, 2. Aufl., 1996, S. 183 ff.; P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 23 ff.; M. Kort, Verstoß eines EG-Mitgliedstaates gegen europäisches Recht: Probleme des Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 169 EGV, DB 1996, 1324 f.; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 62 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 629 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f.; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 28; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 9.
Α. Rechtsauffassungen
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bieten ein weites Spektrum, welches von der uneingeschränkten Zulässigkeit, über eine beschränkte Befugnis zur Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens bis hin zur Verneinung derselben reicht. Die Gründe für diese Meinungsvielfalt sind zum einen das Fehlen einer europäischen Judikatur: das klärende Wort des Europäischen Gerichtshofs steht noch aus, zum anderen das Aufeinandertreffen gegenläufiger Völker- und staatsrechtlicher, insbesondere rechtsstaatlicher, Grundsätze, wie der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit einerseits und der Unabhängigkeit der Gerichte oder der Rechtskraft von Gerichtsurteilen andererseits. Sowohl die völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit 6 als auch die Unabhängigkeit der Gerichte 7 und die fehlende Abänderbarkeit rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen 8 wird von den meisten Autoren diskutiert. Das Verhältnis dieser Grundsätze bleibt jedoch weitgehend ungeklärt.
I. Alles-oder-nichts-Positionen 1. Uneingeschränkte Zulässigkeit der Aufsichtsbefugnis Einige Autoren bejahen die Zulässigkeit des Vertrags verletzungs Verfahrens gegen gemeinschaftswidrige nationale Gerichtsentscheidungen ohne jede Einschränkung. 9 Die Begründung hierfür ist nicht einheitlich. Zwei Ansätze werden vertreten: 6 So etwa K. D. Borchardt, Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EUWirtschaftsrechts, RI., Rn. 14; auch P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 19. 7 J. Mertens de Wilmars/L M. Verougstraete, Proceedings against Member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, 389; H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; C.-D. Ehlermann, Die Verfolgung von Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten durch die Kommission, in: FS für Kutscher, Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit, 1981, S. 152; B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 100; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 106; P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 23; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f. » H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 99 ff.; J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 264 f.; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 62; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 106 ff; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 9. 9 So G. Nicolay sen, Vertragsverletzungen durch mitgliedstaatliche Gerichte, EuR 1985, 368 ff.; ders., Europarecht, Bd. I, S. 239 f.; G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11; K. D. Borchardt, Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, P.I., Rn. 14; ders., in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 226, Rn. 7;
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Kap. 4: Ansichten in Literatur und Praxis
Die eine Position vermag keine rechtlichen Probleme in der Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens zu erkennen, weil weder durch das Verfahren nach Art. 226 EGV noch durch das das Gerichtsverfahren abschließende Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs nach Art. 228 Abs. 1 EGV die Unabhängigkeit des nationalen Gerichts verletzt werde. 10 Das Verfahren tangiere die richterliche Unabhängigkeit nicht, weil nicht das innerstaatliche Gericht, sondern die Kommission und der Mitgliedstaat Verfahrensparteien des Art. 226 EGV seien. Das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs greife nicht in die Unabhängigkeit des nationalen Gerichts ein, weil es keinen Einfluß auf die nationale Gerichtsentscheidung habe. Mangels Durchgriff seien die Aufhebung oder die Abänderung der nationalen Gerichtsentscheidung durch das Feststellungsurteil ausgeschlossen.11 Die andere Meinung schließt zwar eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit nicht aus, betont aber den Vorrang der „globalen Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten"12. Die Verbindlichkeit des Gemeinschaftsrechts für alle Organe der Mitgliedstaaten erlaube es der Kommission, auch gegen Vertragsverstöße verfassungsrechtlich selbständiger und unabhängiger Staatsorgane vorzugehen. 13 2. Ablehnung der Aufsichtsbefugnis Im Gegensatz hierzu steht die Auffassung, welche die Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Rechtsprechungsakte nationaler Gerichte für unzulässig hält. 14 Die Unzulässigkeit wird mit der Verletzung der richterlichen UnabW. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 28; vorsichtig, aber wohl bejahend C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 7 f.; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 62; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 734. 10 So G. Nicolay sen, Vertragsverletzungen durch mitgliedstaatliche Gerichte, EuR 1985, 369 f. 11 G. Nicolay sen, Vertragsverletzungen durch mitgliedstaatliche Gerichte, EuR 1985, 369. 12 K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 226, Rn. 7. So auch G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11; K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 226, Rn. 7; ders., in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, PI., Rn. 14. 14 K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f.; zu demselben Ergebnis gelangt auch C.-D. Ehlermann, Die Verfolgung von Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten durch die Kommission, in: FS für Kutscher, Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 152 f., der in seinem Beitrag von den Grenzen des Vertragsverletzungsverfahrens spricht und Vertragsverletzungen durch Gerichte in die drei genannten Fallgruppen mit einbezieht, bei denen die Durchführung des Aufsichtsverfahrens unangebracht erscheint; J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against Member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, 389 f., geht, bis auf ganz wenige Ausnahmen, von der Unzulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Rechtsprechungsakte nationaler Gerichte aus.
Α. Rechtsauffassungen
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hängigkeit und der gewaltenteiligen Funktionenordnung der Gemeinschaft begründet. 15 Das Aufrechthalten völkerrechtlicher Prinzipien, wie das der globalen Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für ihre Organe, sei unter Berücksichtigung des fortgeschrittenen Integrationsprozesses der Europäischen Union hin zur gemeinschaftlichen funktionellen Staatlichkeit nicht mehr angemessen.16 Gleichfalls mit Blick auf den Integrationsstand der Europäischen Gemeinschaft wird weiterhin angeführt, daß Rechtsprechungsakte nationaler Gerichte, die auf Gemeinschaftsrecht beruhen, nicht als Handlungen der Mitgliedstaaten angesehen werden können, sondern als Ausübung europäischer Hoheitsgewalt einzuordnen seien.17 Damit wären sie der Aufsicht nach Art. 226 EGV entzogen, weil Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens nur mitgliedstaatliches Handeln sein kann.
II. Einschränkungen der Aufsichtsbefugnis Neben diesen Alles-oder-nichts-Positionen sind als nächstes diejenigen Auffassungen zu erörtern, die zwar grundsätzlich von der Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gegen nationale Gerichtsentscheidungen ausgehen, die Aufsicht der Kommission aber aus ganz unterschiedlichen Gründen eingeschränkt wissen wollen. 18 1. Keine Aufsicht bei unterinstanzlichen Gerichten Es wird die Meinung vertreten, daß das Vertragsverletzungsverfahren nur bei Verstößen nationaler Gerichte, gegen deren Entscheidungen keine Rechtsmittel des 15
Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f. 16 Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f. 17 J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against Member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, 385 (389 f.). 18 So etwa W. Däubler, Die Klage der EWG-Kommission gegen einen Mitgliedstaat, NJW 1968, 325 ff.; T. C. Hartley, The foundations of european community law, S. 289 f.; H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 1 ff.; B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 99 ff.; G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11 ff.; J. Streil, in: Beutler /Bieber /Pipkorn /ders., Die Europäische Union, S. 264 f.; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 813; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4; K. Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 6, P. Karpenstein /U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 23 f.; M. Kort, Verstoß eines EG-Mitgliedstaates gegen europäisches Recht: Probleme des Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 169 EGV, DB 1996, 1324 f.; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 62 ff.
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Kap. 4: Ansichten in Literatur und Praxis
innerstaatlichen Rechts zugelassen sind, durchgeführt werden darf. 1 9 Die Einschränkung wird auf die Gesamtbetrachtung des europäischen Rechtsschutzes, insbesondere auf Art. 234 Abs. 2 EGV, gestützt: Wahrend die letztinstanzlichen Gerichte nach Art. 234 Abs. 3 E G V zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet seien, stehe den unterinstanzlichen Gerichten nach Art. 234 Abs. 2 EGV ein Wahlrecht zu: sie können, aber sie müssen nicht vorlegen. Die fehlende Vorlageverpflichtung impliziere, daß die Europäische Gemeinschaft gemeinschaftswidrige Entscheidungen unterinstanzlicher Gerichte in Kauf nehme, weil sie ansonsten auch für diese Gerichte eine Vorlagepflicht normiert hätte. 2 0 Diese Wertung sei zu beachten und beeinflusse Art. 226 E G V in der Weise, daß ein Vertrags verletzungs verfahren gegen unterinstanzliche Gerichte unzulässig sei. Weil für diese Auffassung die Unterscheidung zwischen letzt- und unterinstanzlichen Gerichten maßgeblich ist, ist es notwendig, die zwei Gerichtsarten voneinander abzugrenzen. Nach dem Wortlaut des Art. 234 Abs. 3 E G V ist nur das einzelstaatliche Gericht, „dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können", vorlagepflichtig. Die Auslegung dieses Satzes ist strittig. Nach der konkreten Betrachtungsweise ist das i m Einzelfall letztinstanzlich handelnde Gericht vorlagepflichtig. 2 1 Dies kann in 19 Ausdrücklich so W. Däubler, Die Klage der EWG-Kommission gegen einen Mitgliedstaat, NJW 1968, 325 ff.; K. Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 6, verlangen das Vorliegen einer letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung; in dieselbe Richtung gehend P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 23, die davon sprechen, daß es sich die Kommission gegenüber Gerichten, die nach Art. 234 Abs. 2 EGV nicht vorlagepflichtig sind, zur Regel machen sollte, selbst bei evidenten Fehlern nicht zum Vertragsverletzungsverfahren zu greifen, vollkommen ausschließen wollen sie die Anwendung des Verfahrens gegen Untergerichte jedoch nicht; ablehnend A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812 f.; auch H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a, die anführen, daß der Mitgliedstaat für jedes Handeln seiner Organe verantwortlich und gerade auch bei unterinstanzlichen Gerichten die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts wichtig sei. 20 So W. Däubler, Die Klage der EWG-Kommission gegen einen Mitgliedstaat, NJW 1968, 326 f. Darüber hinaus fordert Däubler a. a. O., daß auch einzelfallbezogenes Handeln der Verwaltungsbehörden nicht Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens sein dürfe. Wenn schon die Untergerichte keiner Kontrolle unterlägen, dann müßte dies erst recht für das Verhalten von Verwaltungsbehörden gelten, weil richterlichen Entscheidungen eine größere Bedeutung für die Rechtsordnung zukomme als einzelfallbezogenem Verwaltungshandeln. Weiterhin ergebe sich bei der Zulässigkeit des Art. 169 EWGV (Art. 226 EGV n.F.) gegen Akte der vollziehenden Gewalt die merkwürdige Situation, daß zwar in das Verwaltungsverfahren eingegriffen werden könnte, nicht jedoch in die denselben Sachverhalt betreffende Gerichtsentscheidung. Diese weite Auslegung ist abzulehnen. Zum einen bezieht sich Art. 234 Abs. 2 EGV ausdrücklich nur auf Gerichte und nicht auf Verwaltungsbehörden, zum anderen ist die hierarchische Sichtweise von vollziehender und rechtsprechender Gewalt falsch. Richtig ist, daß die Rechtsprechungsorgane Verwaltungshandeln überprüfen können. Dahinter steht jedoch kein hierarchischer Gedanke, sondern der Anspruch des Bürgers auf Rechtsschutz gegen rechtswidriges Handeln der vollziehenden Gewalt und die Kontrolle des Staates durch sich selbst. Richterliche Entscheidungen haben deshalb eine ganz andere Tragweite, die ihre unterschiedliche Behandlung gegenüber Verwaltungsakten rechtfertigt.
Α. Rechtsauffassungen
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Deutschland gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO auch schon ein Amtsgericht sein, weil Berufung und Revision gegen seine Entscheidungen bei einer Beschwer von weniger als Euro 600,- ausgeschlossen sind. Die abstrakte Theorie hingegen fragt, gegen welche Entscheidungen nationaler Gerichte generell keine Rechtsmittel zulässig sind. 22 In Deutschland sind dies die obersten Bundesgerichte nach Art. 95 Abs. 1 GG, das Bundesverfassungsgericht und die Landes Verfassungsgerichte. Der konkreten Theorie ist der Vorzug zu geben. Das Ziel des Vorabentscheidungsverfahrens, nämlich die Rechtsprechungseinheit in der Gemeinschaft zu sichern, wird eher erreicht, wenn nicht nur die obersten Gerichte vorlagepflichtig sind, sondern alle Gerichte, gegen deren Entscheidungen kein Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann. Weiterhin ist der Schutz des Unionsbürgers anzuführen. Es sollte gewährleistet sein, daß zumindest ein mit der Rechtssache befaßtes nationales Gericht vorlagepflichtig ist, was nur die konkrete Betrachtungsweise zu garantieren vermag.
2. Beachtung der Rechtskraft Ein Teil der Literatur knüpft die Zulässigkeit des Aufsichtsverfahrens an das Vorliegen einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung an. 23 Die Begründungen hierfür sind unterschiedlich. Es wird die Ansicht vertreten, daß ein Vertragsverstoß erst dann vorliege, wenn die Möglichkeit zur Korrektur nicht mehr bestehe.24 Nur „definitive Verstöße" 25 oder „nicht mehr anfechtbare Entscheidungen"26 sollen hiernach Gegenstand des Aufsichtsverfahrens sein. 21
So C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 4 f.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 562; Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 253 ff.; R. Geiger, EUV/ EGV, Art. 234, Rn. 14; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 39. 22 Vertreten von P. Pescatore, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag und die Zusammenarbeit zwischen Gerichtshof und den nationalen Gerichten, BayVBl. 1987, 38; in diesem Sinne auch M. Dauses, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Ρ.Π., Rn. 94a; ders., Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EG-Vertrag, S. 111; hierzu auch, ohne jedoch der abstrakten Betrachtungsweise folgend U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 39. 2 3 H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 99; K. Hailbronner, in: ders. / Klein / Magiera / Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 12. 24
So H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; K. Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 12. 2 5 H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a. 26 K. Hailbronner, trag, Art. 169, Rn. 12.
in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Ver-
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Kap. 4: Ansichten in Literatur und Praxis
Andere Autoren bejahen zwar die Vertragsverletzung schon mit Erlaß des Urteils, bei Urteilen unterinstanzlicher Gerichte also vor Eintritt der Rechtskraft, führen jedoch gleichzeitig an, daß nationale Rechtsmittel Vorrang vor dem „schweren Geschütz des 169er-Verfahrens" 27 haben sollen. 28 Nach Eintritt der Rechtskraft entfällt allerdings der Vorrang des nationalen Rechtsmittels, so daß die Einleitung des Aufsichtsverfahrens von diesem Zeitpunkt an in Betracht kommt. Beachtenswert ist auch folgender, aus dem Völkerrecht stammender Ansatz von Albert Bleckmann.29 Im Völkerrecht gilt der Grundsatz, daß Verfahren vor internationalen Gerichten erst nach der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges zulässig sind. 30 Diese völkerrechtliche Regel soll im begrenzten Umfang auch für das Gemeinschaftsrecht gelten, nämlich dergestalt, daß die Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens unzulässig sei, wenn der Richterspruch noch von Amts wegen oder auf Antrag der Verfahrensparteien korrigiert werden kann. 31 Der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung könne jedoch dann keine Geltung beanspruchen, wenn ein unabänderliches Urteil eines Untergerichtes, gegen das ein Rechtsmittel hätte eingelegt werden können, welches aber nicht eingelegt worden ist, zum Verfahrensgegenstand des Art. 226 EGV gemacht werden soll. Zwar liege in diesen Fällen keine Erschöpfung des nationalen Rechtswegs vor, die Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens sei jedoch gleichwohl zulässig, weil die Gemeinschaft auch ein Interesse an der Überprüfung untergerichtlicher Entscheidungen habe und die Durchführung des objektiven Verfahrens nicht von dem Verhalten des Mitgliedstaates oder eines Individuums abhängen dürfe. 32
3. Erfordernis des „qualifizierten" Vertragsverstoßes Eine Vielzahl von Autoren vertritt den Standpunkt, daß das Vertragsverletzungsverfahren nur gegen einen sogenannten qualifizierten Vertragsverstoß zulässig sei. 33 Welche Voraussetzungen an einen solchen qualifizierten Vertragsverstoß zu 27
B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 99. 28 B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 99; ähnlich P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 23, die bei noch nicht rechtskräftigen Urteilen unterinstanzlicher Gerichte nicht die Aufsichtsklage, sondern die Einlegung des nationalen Rechtsmittels für die angemessene Reaktion halten. 29 A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 813. 30 Zu diesem völkerrechtlichen Grundsatz der Rechtswegerschöpfung G. Dahm, Volkerrecht, Bd. III, 1961, S. 260 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1306 ff.; /. Seidl-Hohenfeldern, Völkerrecht, 8. Aufl., 1993, Rn. 1693. Zweck des Grundsatzes ist es, dem völkerrechtswidrig handelnden Staat die Möglichkeit zu geben, den Vertragsverstoß mit eigenen Mitteln zu beseitigen, bevor er vor einem internationalen Gerichtshof verklagt wird. 31 A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 813. 32 A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 813.
Α. Rechtsauffassungen
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stellen sind, wird unterschiedlich beantwortet. Sowohl objektive als auch subjektive Kriterien werden herangezogen, eine einheitliche Linie ist nicht erkennbar. In der Lehre wird die Meinung vertreten, daß die Kommission nur bei „schwerwiegenden Verletzungen" 34 von ihrem Klagerecht Gebrauch machen solle. Als Grund für die Einschränkung wird auf die fehlende Korrigierbarkeit rechtskräftiger Urteile verwiesen. 35 Was eine schwerwiegende Verletzung sein soll, wird nicht erörtert. Denkbar sind folgende Verstöße: (1) Entscheidungen von Verfassungsgerichten und obersten Gerichtshöfen, weil deren Urteilen eine besonders große Breitenwirkung zukommt. (2) Grobe Fehler des Gerichts bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts. 36 (3) Mißachtung einer gefestigten Judikatur des Europäischen Gerichtshofs. 37 Mehr die subjektive Seite des Vertragsverstoßes betonend wird in Anlehnung an die Position der Kommission gefordert, daß das Aufsichtsverfahren nur gegen Rechtsprechungsakte zulässig sei, die auf einer „bewußten Mißachtung des Gemeinschaftsrechts" 38 durch das nationale Gericht beruhen, 39 insbesondere auf der Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV. Noch weitergehend ist die erstmals vom früheren Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs Mertens de Wilmar entwickelte Formel, daß dem Vertragsverletzungsverfahren eine systematische Weigerung des nationalen Gerichts, dem Europäischen Gerichtshof nach Art. 234 EGV vorzulegen, vorangehen müsse 4 0 Zur 33
So J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against Member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, 389 f.; H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 264 f.; ähnlich auch P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 24. 34 J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 264 f.; ähnlich M. Kort, Verstoß eines EG-Mitgliedstaates gegen europäisches Recht: Probleme des Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 169 EGV, DB 1996, 1324 f., der fordert, daß nur bei „deutlicher Europarechtswidrigkeit" des gerichtlichen Handelns die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens zulässig sei. 35 So J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 264 f., der im gleichem Atemzug allerdings auch ausführt, daß das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs an der Bildung eines gemeinschaftskonformen Rechtsbewußtseins mitwirke und im übrigen die staatlichen Instanzen verpflichte, die Folgen des Urteils zu beseitigen oder zu mildem und erneuten gemeinschaftsrechtswidrigen Urteilen in geeigneter Weise vorzubeugen. 36 M. Kort, Verstoß eines EG-Mitgliedstaates gegen europäisches Recht: Probleme des Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 169 EGV, DB 1996, 1324 f. 37 H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a. 38
R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4. B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 102; auch R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4. 39
172
Kap. 4: Ansichten in Literatur und Praxis
Begründung wird auf die Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt und die Stellung der mitgliedstaatlichen Gerichte im Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft verwiesen. Diese seien Teil der europäischen Gerichtsbarkeit, ihre Akte seien im allgemeinen als Akte europäischer Rechtsprechung und nicht als Handlungen nationaler Organe zu betrachten und könnten deshalb nicht Gegenstand des Vertrags verletzungs Verfahrens sein.41 Die am stärksten einschränkende Position verlangt, daß die Kommission „nur bei wiederholter, systematischer Mißachtung einer gefestigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum schweren Geschütz des Art. 169 (seil.: Art. 226 EGV n.F.) greifen sollte" 4 2 Auch hier werden die Unabhängigkeit der Gerichte, ihre Befugnis zur Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts und die fehlende Kassationsmöglichkeit rechtskräftiger Urteile als Begründung genannt 43
III. Auffassung der Praxis 1. Position der Kommission Die Kommission hat sich zur Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Rechtsprechungsakte nationaler Gerichte mehrfach geäußert. Aufschlußreich sind insbesondere ihre Maßnahmen bei der Verfahrenseinleitung und ihre auf parlamentarische Anfragen gegebenen Antworten, die hier in chronologischer Reihenfolge vorgetragen werden. 1967 stellte ein Abgeordneter des Europaparlamentes anläßlich des Verhaltens des französischen Conseil d'Etat, 44 der in mehreren Entscheidungen Auslegungen des EWG-Vertrages vorgenommen hatte, ohne gemäß Art. 234 EGV dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, der Kommission folgende Frage: „Gilt Art. 169 des EWG-Vertrages nur für Vertragsverletzungen der Regierungen der Mitgliedstaaten, oder ist das in Artikel 169 des EWG-Vertrages vorgesehene Verfahren auch anwendbar, wenn das Parlament eines Mitgliedstaates ein vertragswidriges Gesetz erläßt 40
J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against Member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, 389 f.; genauso P. Karpenstein/ U. Karpenstein, in: Grabitz /Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 24, die sich ausdrücklich auf die von J. Mertens de Wilmars entwickelte Formel beziehen; auch C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 7, der eine nachhaltige Weigerung des Gerichts fordert. 41 J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against Member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, 389 f. 42 H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a. 4 3 H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a. 44
Zur Rolle und Funktion des Conseil d'Etat in Frankreich siehe G. Haensch/H. J. Tiimmers, Frankreich, S. 187 ff.
Α. Rechtsauffassungen
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oder wenn das Gericht eines Mitgliedstaates gegen Art. 177 des EWG-Vertrages verstößt?"45
Die Antwort der Kommission war knapp und klar: „Die Kommission ist der Ansicht, daß das in Art. 169 EWG-Vertrag vorgesehene Verfahren auf die von dem Herrn Abgeordneten erwähnten Fälle Anwendung findet." 46
Ein Jahr später kam aus der Mitte des Europäischen Parlaments die nächste Anfrage. Sie hatte wiederum das Verhalten des Conseil d'Etat zum Inhalt, der es abermals nicht für nötig gehalten hatte, dem Europäischen Gerichtshof Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV vorzulegen. Die Anfrage lautete: „Sieht die Kommission eine Möglichkeit, darauf hinzuwirken, daß die Gerichte der Mitgliedstaaten der Vorlagepflicht aus Artikel 177 des EWG-Vertrages nachkommen?"47
Auf ihr Schreiben vom letzten Jahr Bezug nehmend antwortete die Kommission: „Die Kommission erlaubt sich, auf ihre Antwort auf die schriftliche Anfrage Nr. 100/67 von Herrn Westerterp zu verweisen, wonach das Verfahren nach Art. 169 des EWG-Vertrages ihres Erachtens dann anwendbar sei, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaates gegen Art. 177 des EWG-Vertrages verstößt." 48
Mitte der 70er Jahre wurde das Thema durch den Solange-I-Beschluß des deutschen Bundesverfassungsgerichts 49 wieder aktuell. Das Bundesverfassungsgericht hatte entschieden, daß es unter bestimmten Voraussetzungen, solange nämlich der Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft nicht dem des Grundgesetzes entspreche, nach Art. 100 GG befugt sei, die Vereinbarkeit einer Gemeinschaftsverordnung mit den nationalen Grundrechten zu überprüfen und, gegebenenfalls, die entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts für unanwendbar zu erklären. Die Petenten sahen durch diesen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts die unmittelbare Anwendbarkeit des sekundären Gemeinschaftsrechts nicht mehr gewährleistet und richteten nachstehende Fragen an die Kommission:
4 5 Schriftliche Anfrage Nr. 100 (Frage Nummer 7) von Herrn Westerterp an die Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 30. Juni 1967, AB1EG vom 8. November 1967, Nr. C 270/2. 46 Antwortschreiben der Kommission (Nummer 7) vom 20. Oktober 1967, AB1EG vom 8. November 1967, Nr. C 270/4. 47 Schriftliche Anfrage Nr. 28 / 68 (Frage Nummer 4) von Herrn Deringer an die Kommission der Europäischen Gemeinschaft vom 3. April 1968, AB1EG vom 17. Juli 1968 Nr. C 71/1. 48 Antwortschreiben der Kommission (Nummer 4) vom 5. Juli 1968, AB1EG vom 17. Juli 1968 Nr. C 71/2. 49 Beschluß des Zweiten Senats vom 29. Mai 1974, BVerfGE 37, 271 ff. Zum SolangeI-Beschluß siehe Κ. A. Schachtschneider A. Emmerìch-Frìtsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, S. 111 ff.
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Kap. 4: Ansichten in Literatur und Praxis
1. „Die Kommission wird daran erinnert, daß sie am 29. Januar 1975 auf die schriftliche Anfrage Nr. 414/74 zu Recht geantwortet hat, daß der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vom 29. Mai 1974 einen Grundsatz der Gemeinschaftsrechtsordnung in Frage stellt..., wodurch eine Rechtszersplitterung in der Gemeinschaft eingeleitet werden kann. Somit werden folgende Fragen an die Kommission gerichtet: Hält sie es auf Grund dieser schwerwiegenden Feststellung und der Rechtsfolgen, die nun in der gesamten Gemeinschaft zu befürchten sind, nicht für dringlich, dem betreffenden Mitgliedstaat laut Artikel 169 eine mit Gründen versehene Stellungnahme zu übermitteln, was der Kommission immer noch genügend freie Hand läßt, um ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten?" 50 2. „Falls noch keine Antwort (seil.: gemeint ist eine Antwort der deutschen Regierung, welche aufgefordert worden war, sich zu der Angelegenheit zu äußern) vorliegt, wann gedenkt die Kommission das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 169 EWG einzuleiten? Falls die Kommission die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens nicht beabsichtigen sollte, kann sie die Gründe für ihre Untätigkeit eingehend darlegen?" 51 Die Erwiderung der Kommission zu 1 lautete: „Die Kommission hält es zur Zeit nicht für vordringlich, daß Verfahren gemäß Artikel 169 Absatz 1 EWGV einzuleiten. Die Einstellung der Kommission zu ihrer Aufgabe, für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen, hat sich nicht geändert. Da eine Klage vor dem Gerichtshof im Rahmen des Verfahrens zur Verfolgung von Vertragsverstößen nur das äußerste Mittel darstellt, kann aus der Zahl der erhobenen Klagen eine gegenteilige Schlußfolgerung nicht gezogen werden." 52 Auch in ihrer Antwort auf die Frage zu 2 ging die Kommission von der prinzipiellen Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gegen die nationalen Gerichte aus. Sie führte an: „Die Kommission wird weiterhin die Entwicklung der durch den Beschluß entstandenen Lage aufmerksam verfolgen und erforderlichenfalls von den im Vertrag vorgesehenen Befugnissen Gebrauch machen."53 Diese Haltung wurde von der Kommission 1979 präzisiert und wesentlich eingeschränkt. Ausgangspunkt war wiederum das Verhalten eines französischen Gerichts, diesmal der Cour de Cassation, die einen Antrag einer Verfahrenspartei auf Vorlage an den Europäischen Gerichtshof zum Zwecke der Auslegung des EWGVertrags wegen Nichterheblichkeit ablehnte. Die der Kommission vorgelegte Frage lautete:
50
Schriftliche Anfrage Nr. 23 / 75 von Herrn Cousté an die Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 14. März 1975, AB1EG vom 17. Juli 1975, Nr. C 161 / I I . 51 Schriftliche Anfrage Nr. 545/75 von Herrn Jahn an die Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 20. November 1975, AB 1EG vom 22. März 1976, Nr. C 67/23. 52 Antwortschreiben der Kommission vom 27. Mai 1975, AB1EG vom 17. Juli 1975, Nr. C 161/12. 53 Antwortschreiben der Kommission (Nummer 2 und 3) vom 4. Februar 1976, AB1EG vom 22. März 1976, Nr. C 67/24.
Α. Rechtsauffassungen
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„Glaubt die Kommission im Falle einer bejahenden Antwort auf Frage 1 (seil.: hier wurde gefragt, ob ein höchstinstanzielles Gericht nur dann zur Vorlage verpflichtet sei, wenn es der Ansicht ist, daß eine Vorabentscheidung für die eigene Urteilsfindung erforderlich ist) ausreichende Befugnisse zu besitzen, um die angebliche fehlende Notwendigkeit nachzuprüfen, die ein nationales Gericht als Grund für die Ablehnung eines Antrags auf Befassung des Gerichts zwecks Vertragsauslegung anführt?" 54
Antwort: „Obwohl in der Regel eine Inanspruchnahme des Verfahrens nach Art. 169 des Vertrages im Falle einer irrtümlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte nicht ausgeschlossen ist (seil.: Verweis auf die Antworten an Westerterp und Deringer), hält die Kommission dieses Verfahren nicht für das geeignete Mittel, um eine ordnungsmäßige Anwendung des Art. 177 zu erreichen. Dieses Verfahren kann nur dann in Aussicht genommen werden, wenn die Nichtanwendung von Artikel 177 auf offensichtlicher Unkenntnis oder einer bewußten Haltung beruht, was im vorliegenden Fall nicht zutrifft." 55
Zuletzt ist auf eine Stellungnahme des ehemaligen Präsidenten der Kommission, Jacques Delors, aus dem Jahre 1985 hinzuweisen, die sich auf eine Entscheidung des deutschen Bundesfinanzhofs vom 25. April 1985 bezieht.56 Die Fragen des Abgeordneten von Wogau nach der Respektierung des Gemeinschaftsrechts und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften durch die Gerichte der Mitgliedstaaten an die Kommission lauteten: „Was gedenkt die Kommission zu unternehmen, um die Beachtung des Gemeinschaftsrechts auch durch die höchstinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten sicherzustellen? Kann die Kommission mir mitteilen, daß sie entsprechend ihrer Note vom 3. November 1981 an die deutsche Bundesregierung ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EWG-Vertrages einleiten und gegebenenfalls mit einer Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften abschließen wird?" 57
Die Antwort war: „Die Kommission hat beschlossen, das Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, um den Mitgliedstaat zu veranlassen, dafür zu sorgen, daß der Einzelne tatsächlich in den Genuß 54 Anfrage Nr. 608/78 (Frage Nr. 2) von Herrn Krieg an die Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 26. September 1978, AB1EG vom 31. Januar 1979, Nr. C 28/8. 55
Antwortschreiben der Kommission (Nummer 2) vom 22. Dezember 1978, AB1EG vom 31. Januar 1979, Nr. C 28/9. 56 Betriebs-Berater (BB) 1985, 1317 f. mit einer Anmerkung von C. Tomuschat, Nein, und abermals Nein!, EuR 1985, 346 ff. Der Bundesfinanzhof verneinte in diesem Fall die unmittelbare Wirksamkeit einer noch nicht umgesetzten Richtlinie und die Bindungswirkung eines Vorabentscheidungsurteils des Europäischen Gerichtshofs mit der Begründung, daß der Gemeinschaft im betroffenen Bereich keine Hoheitskompetenzen übertragen worden seien und er deshalb die europäischen Rechtsakte nicht zu beachten habe. Er stützte sein Urteil auf die der Richtlinie entgegenstehende nationale Vorschrift im Umsatzsteuergesetz. Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof mit der Anfrage, ob die Gemeinschaft tatsächlich ihre Kompetenzen überschritten habe, erfolgte gleichfalls nicht. 57 Anfrage Nr. 1907/85 (Frage Nr. 2 und 3) von Herrn Karl von Wogau an die Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 5. November 1985, AB1EG vom 4. Juni 1986, Nr. C 137/7.
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Kap. 4: Ansichten in Literatur und Praxis
der Bestimmungen der Richtlinie kommt, die er geltend macht. Der Mitgliedstaat hat jetzt auf administrative Anweisungen Bezug genommen, die zur Zeit von den Kommissionsdienststellen geprüft werden. Nach dieser Prüfung wird die Kommission entscheiden, ob es zweckmäßig ist, dem Mitgliedstaat das Aufforderungsscheiben im Sinne von Art. 169 EWG-Vertrag zuzusenden."58 Die gegenwärtige Position der Kommission ist die 1979 zum ersten M a l vorgetragene Auffassung, nach welcher ein das Vertragsverletzungsverfahren rechtfertigender Vertragsverstoß nur dann vorliege, wenn die Nichtanwendung des Art. 234 E G V auf der offensichtlichen Unkenntnis oder der bewußten Haltung eines nationalen Gerichts beruhe. 5 9 Der sehr allgemeine Hinweis, daß Art. 226 EGV normalerweise nicht das geeignete Mittel sei, um eine ordnungsgemäße Anwendung von Art. 234 E G V zu erreichen, 60 ist der einzige Grund, den die Kommission für ihre einschränkende Haltung nennt. Weitere (rechtliche) Begründungen für ihre Auffassung hat die Kommission nicht vorgetragen. 61 Zur Verfahrenspraxis der Kommission ist anzumerken, daß die Kommission, soweit ersichtlich, erst ein einziges M a l das Vertragsverletzungsverfahren gegen eine nationale Gerichtsentscheidung eingeleitet hat, nämlich gegen einen Beschluß des deutschen Bundesgerichtshofs vom 11. M a i 1989. 6 2 Das Verfahren kam jedoch nicht über das Stadium des Vorverfahrens nach Art. 226 Abs. 1 EGV hinaus. Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 E G V hat die Kommission nicht erhoben. 63 Selbst die Umschreibung „restriktive Verfahrenshandhabung" charakterisiert das Verhalten der Kommission nur unzutreffend. Gegenwärtiger Stand ist, daß die Kommission das Aufsichtsverfahren des Art. 226 EGV, bis auf die erwähnte eine Ausnahme, nicht gegen Entscheidungen nationaler Rechtsprechungsorgane einge58 Antwortschreiben von Herrn Delors im Namen der Kommission vom 10. Februar 1986, AB1EG vom 4. Juni 1986, Nr. C 137/7. 59 Auch die Literatur verweist immer wieder auf diese Position als die gegenwärtig gültige, von einigen Autoren ist sie übernommen worden: B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 102; P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/ Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 24; auch R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4. 60 AB1EG vom 31. Januar 1979, Nr. C 28/9. 61 J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 264 f., vermutet als Grund für dieses Verhalten der Kommission die fehlende Korrekturmöglichkeit der gerichtlichen Entscheidung; G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11, spricht von der nicht zu übersehenden Schwierigkeit der praktischen Verwirklichung einer Folgenbeseitigung einer letztinstanzlichen Entscheidung eines nationalen Gerichts, welche die Kommission bisher zur Zurückhaltung bei der Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens bewogen habe. 62 Hierzu Ρ Karpenstein / U. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 24; auch G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11 ff. 63 So G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11 ff.
Α. Rechtsauffassungen
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setzt hat. Diese Haltung ist in Anbetracht der konsequenten Verfolgung exekutiver und legislativer Vertragsverstöße und der Schwere bestimmter gerichtlicher Vertragsverstöße, etwa des Solange-I-Beschlusses des deutschen Bundesverfassungsgerichts 6 4 , der Entscheidung des französischen Conseil d'Etat in der Sache CohnBendit 6 5 oder des Urteils des Bundesfinanzhofs vom 25. A p r i l 1985, 6 6 überraschend. Gegen die beiden erstgenannten Gerichtsentscheidungen hat die Kommission überhaupt nichts unternommen. Die vom Bundesfinanzhof entschiedene Angelegenheit löste zwar Aufsichtsmaßnahmen nach Art. 226 E G V aus, allerdings war nicht das Gerichtsurteil, sondern der diesem zugrundeliegende Steuerverwaltungsakt Verfahrensgegenstand. Der belastende Verwaltungsakt wurde aufgehoben, die in der nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinie vorgesehenen Steuererleichterungen i m Nachhinein gewährt. Bedenken gegen eine solche Vorgehensweise sind angebracht, weil in diesen Fällen die Rechtskraft der richterlichen Entscheidung und die Unabhängigkeit der Gerichte der Korrektur des Verwaltungshandelns entgegenstehen dürften. 6 7
64 BVerfGE 37, 271 ff. 65 Siehe Urteil des Conseil d'Etat vom 22. Dezember 1978, RTDE 1977, 822 ff., EuR 1979, 292 ff. Eine ausführliche Darstellung des Sachverhalts findet sich bei C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 8 f. Im vorliegenden Fall ging es um die unmittelbare Anwendung einer Richtlinie der Gemeinschaft (Richtlinie Nr. 64/221), deren Gegenstand die Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von EG-Ausländern in anderen Mitgliedstaaten ist. Die Richtlinie war erlassen worden, um den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu nehmen, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 39 EGV) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) durch ausländerrechtliche Sondervorschriften unterschiedlich zu gewährleisten. Herr Cohn-Bendit, ein deutscher Staatsbürger, hatte 1975 die Aufhebung einer 1968 getroffenen Ausweisungsverfügung des französischen Staates beantragt, um bei einem französischen Verlag eine Arbeitnehmertätigkeit aufnehmen zu können. Weil die Aufhebung nicht bewilligt wurde, klagte Herr Cohn-Bendit vor dem Verwaltungsgericht in Paris und stützte seine Klage auf die Verletzung der besagten Richtlinie. Der Rechtsstreit ging durch alle Instanzen bis zum Conseil d'Etat, welcher in seiner Eigenschaft als oberstes Verwaltungsgericht entschied, daß die im maßgeblichen Bereich von Frankreich nicht umgesetzte Richtlinie keine unmittelbare Wirkung entfalte. Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof erfolgte nicht, womit sich der Conseil d'Etat ganz bewußt gegen die ihm bekannte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stellte. 66 Betriebs-Berater (BB) 1985, 1317 f. 67 Für die Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gegen verwaltungsrechtliches Handeln, welches Gegenstand eines Gerichtsverfahrens war, sind: K. Hailbronner, in: ders. / Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 12; P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 25. H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 64; zu diesem Problemkreis auf nationaler Ebene Κ Α. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 112 ff., 277 ff., ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 156 ff., der die Neubescheidung eines Verwaltungsaktes für unzulässig hält, wenn die Sache rechtskräftig entschieden ist.
12 Wollenschläger
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Kap. 4: Ansichten in Literatur und Praxis 2. Position des Europäischen Parlaments und des Generalanwalts
Zuletzt sei noch ein Hinweis auf die Position des Europäischen Parlaments und des Generalanwalts erlaubt. In seinen Erörterungen des Solange-I-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 29. M a i 1974 6 8 und der Entscheidung des französischen Conseil d'Etat in der Sache Daniel Cohn Bendit vom 22. Dezember 1978 6 9 hat das Europäische Parlament die Kommission nicht dazu aufgefordert, das Aufsichtsverfahren gegen die Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich wegen gemeinschaftswidrigen Verhaltens ihrer Gerichte einzuleiten, 7 0 obwohl das Parlament hinsichtlich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ausdrücklich festgestellt hatte, daß der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts dem Grundsatz der Autonomie des Gemeinschaftsrechts entgegenstehe und eine Verletzung der Verträge darstelle. 71 Generalanwalt Jean Pierre Warner hat in der Rechtssache Meyer Burckhardt 7 2 in seinen Schlußanträgen folgendes ausführt: „Es ist ein vor diesem Gerichtshof längst ausgetragenes Problem, daß alle Organe eines Mitgliedstaates, seien sie der Exekutive, der Legislative oder dem Bereich der Rechtsprechung zuzuordnen, sich an das Gemeinschaftsrecht zu halten haben. Art. 177 Abs. 3 enthält eine Verpflichtung, die für die Mitgliedstaaten so bindend ist, wie alle anderen Verpflichtungen, die sie nach dem Vertrag eingegangen sind, auch wenn es Sache der Gerichte ist, dieser Pflicht nachzukommen. Ein Mitgliedstaat ist meiner Meinung nach dem Verfahren nach Artikel 169 wegen Verstoßes gegen diese Verpflichtung ebenso ausgesetzt, wie wenn er irgendeine andere Pflicht nicht erfüllt hat. Andererseits liegt es auf der Hand, daß die Kommission vom Verfahren gegen einen Mitgliedstaat wegen Nichtbefolgung des Artikels 177 durch eines seiner Gerichte nur mit Zurückhaltung Gebrauch machen sollte. Wenn die Kommission in der Begründung ihrer Ablehnung zum Ausdruck bringen wollte, sie habe sich nach Prüfung der Frage, ob sie von dem ihr in Artikel 169 unzweifelhaft eingeräumten Ermessen Gebrauch ma68 BVerfGE 37, 271 ff. 69 Siehe Urteil des Conseil d'Etat vom 22. Dezember 1978, RTDE 1977, 822 ff.; EuR 1979, 292 ff. 70
Entschließung des Europäischen Parlaments zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts und dem Schutz der Grundrechte, AB1EG vom 12. Juli 1976, Nr. C 159/13 f., die Solange-I-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betreffend. Das Europaparlament sah insbesondere in der Tatsache, daß sich das Bundesverfassungsgericht die Befugnis herausnahm, über die Rechtmäßigkeit einer Gemeinschaftsverordnung zu entscheiden, einen elementaren Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht. Entschließung des Europäischen Parlaments zur Verantwortung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften für die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, AB1EG vom 9. November 1981, Nr. C 287/47 hinsichtlich der Rechtssache Cohn-Bendit. 7 1 AB1EG vom 12. Juli 1976, Nr. C 159/14. 72 Schlußanträge des Generalanwalts Jean-Pierre Warner vom 18. September 1975, Rs. 9/75, Slg. 1975, 1184 ff.
Β. Politische Überlegungen
179
chen solle, die Ansicht gebildet, ein solches Verfahren sei unzweckmäßig und im vorliegenden Fall tatsächlich nicht gerechtfertigt, dann halte ich dies für einen stichhaltigen Grund." 73
B. Politische Überlegungen Einige Autoren bejahen zwar die rechtliche Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Rechtsprechungsakte nationaler Gerichte, betonen aber gleichzeitig, daß aus politischen Gründen Vorsicht geboten sei. 74 Der Integrationswille der Mitgliedstaaten solle nicht durch Konfrontationen zwischen dem Europäischen Gerichtshof und nationalen, verfassungsmäßig unabhängigen Organen, wie den Parlamenten oder obersten Gerichten, beeinträchtigt werden. 75 Die Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens dürfe das im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens bestehende kollegiale Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zu den nationalen Gerichten nicht stören, 76 weil dies Auswirkungen auf die Vorlagebereitschaft der nationalen Gerichte haben könnte. 77 Der Integrationswille der Mitgliedstaaten ist ein gewichtiges politisches Argument; denn die Europäische Gemeinschaft baut auf der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft auf. Das Funktionieren und die Weiterentwicklung der Gemeinschaft werden entscheidend von dieser Zusammenarbeit getragen, wie zahlreiche Beispiele erweisen: Das Handeln des Rates etwa wird auf Grund des Einstimmigkeitsgrundsatzes in wichtigen Entscheidungen von dem Willen der Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit und Kooperation bestimmt. Sind diese hierzu nicht bereit, so kann das Funktionieren der Gemeinschaft erheblich gestört werden. Erinnert werden soll hier nur an die französische „Politik 73
Schlußanträge des Generalanwalts Jean-Pierre Warner vom 18. September 1975, Rs. 9/75, Slg. 1975, 1186 f. 74 Zu solchen politischen Überlegungen: Th. Oppermann/W. Hiermeier, Das Rechtsschutzsystem des EWG-Vertrages, JuS 1980, 785; T. C. Hartley, The foundations of european community law, S. 290; H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; G. Nicolay sen, Vertragsverletzungen durch mitgliedstaatliche Gerichte, EuR 1985, 370 f.; K. Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EUVertrag, Art. 169, Rn. 12; P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 25; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4; teilweise werden auch die richterliche Unabhängigkeit und das Prinzip der Rechtskraft als politische Gründe verstanden, so etwa H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a. Diese Einordnung ist schon auf Grund der verfassungsrechtlichen Verankerung dieser Rechtsinstitute fehlerhaft. 75 Th. Oppermann/W. Hiermeier, Das Rechtsschutzsystem des EWG-Vertrages, JuS 1980, 785; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4, spricht nur von den unabhängigen Gerichten. ™ H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a. 77
12*
T. C. Hartley, The foundations of european community law, S. 290
180
Kap. 4: Ansichten in Literatur und Praxis
des leeren Stuhls" 78 im Jahre 1965. Diese hatte zur praktischen Handlungsunfähigkeit des Rates für beinahe 6 Monate geführt, weil der französische Ratsvertreter nicht mehr an den Sitzungen teilnahm und so die Arbeit des Gemeinschaftsorgans Rat lahmlegte. Die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft durch die Einheitliche Europäische Akte, durch den Maastricht-Vertrag und durch den Vertrag von Amsterdam war nur möglich, weil alle Mitgliedstaaten durch ihre Zustimmung zu den Verträgen den Einigungsprozeß mitgetragen haben. Von besonderer Bedeutung für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts ist weiterhin das Verhältnis zwischen den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof. Die nationalen Rechtsprechungsorgane haben das Gemeinschaftsrecht als unmittelbar geltendes Recht anzuwenden und auszulegen. Hierbei kommt ihnen eine maßgebliche Rolle zu, weil sie die Rechtsakte der nationalen Behörden, die sich auf Gemeinschaftsrecht stützen, auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen. Um die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den verschiedenen Mitgliedstaaten sicherzustellen, können oder müssen die nationalen Gerichte Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV dem Europäischen Gerichtshof vorlegen. Dieser „Dialog der Richter" 79 ist in hohem Maße vom Integrationswillen der nationalen Gerichte abhängig, was insbesondere für unterinstanzliche Gerichte offensichtlich ist, weil diese nicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EGV zur Vorlage verpflichtet sind. Aber auch bei den letztinstanzlich entscheidenden nationalen Gerichten hängt die Befolgung der Vorlagepflicht von ihrem Willen zur Zusammenarbeit ab; denn das Bestehen einer Rechtspflicht gewährleistet noch lange nicht deren Einhaltung. Die gegenwärtig vorhandene Vorlagebereitschaft der Gerichte könnte abgeschwächt werden, 80 wenn der Europäische Gerichtshof Urteile der nationalen Gerichte im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens von höherer Warte aus beurteilt und gegebenenfalls ihre Vertragswidrigkeit feststellt; 81 denn das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV ist ein streitiges Verfahren, dessen auf Konfrontation beruhender Charakter sich nicht mit dem Kooperationsgedanken des Art. 234 EGV verträgt. Auch das vom Bundesverfassungsgericht praktizierte Kooperationsverhältnis zwischen ihm und dem Europäischen Gerichtshof in Grundrechtsfragen baut auf einer Zusammenarbeit zwischen den Gerichten auf, 82 die empfindlich gestört sein könnte, wenn Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gegenstand einer Aufsichtsklage wären. 78
Hierzu Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 29 f. Dieser Ausdruck findet sich bei J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 252; R. Geiger, EUV/EGV, Art. 234, Rn. 1. 80 1998 waren von allen 485 beim Europäischen Gerichtshof anhängig gemachte Rechtssachen 264 Vorlagen nationaler Gerichte zur Vorabentscheidung, vgl. hierzu den Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, Sonderbeilage zu NJW 9/2000, S. 5. 81 T. C. Hartley, The foundations of european community law, S. 290 82 BVerfGE 89, 155 (175); hierzu G. Hirsch, Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht - Kooperation oder Konfrontation?, NJW 1996, 2457 ff.; J. Bröhmer, Das Bun79
Β. Politische Überlegungen
181
Weiterhin ist auf Art. 10 EGV hinzuweisen, der auf der einen Seite von den Mitgliedstaaten gemeinschaftstreues Verhalten einfordert, andererseits aber die Europäische Gemeinschaft verpflichtet, bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben Rücksicht auf die Belange der Mitgliedstaaten zu nehmen und das Gemeinschaftsrecht „souveränitätsschonend"83 anzuwenden. Dazu gehört auch, unlösbare innerstaatliche Verfassungskonflikte zu vermeiden und Entscheidungen unabhängiger nationaler Organe nicht als gemeinschaftswidrig hinzustellen. Schließlich ist die Position des Europäischen Gerichtshofs zu bedenken. Dieser ist im Vorabentscheidungsverfahren um „ein Höchstmaß an comitas im Umgang mit den nationalen Gerichten bemüht", 84 weil das Verfahren nicht den auf einem Unter- oder Überordnung basierenden Charakter eines Rechtsmittelverfahrens oder einer Verfassungsbeschwerde aufweist. Im Vertragsverletzungsverfahren hingegen würde er als übergeordnetes, allein entscheidendes Organ auftreten und in eine „peinliche Lage" 85 gebracht.
desVerfassungsgericht und sein Verhältnis zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 16/99 vom 16. April 1999, 31 ff. 83 K. Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graff , Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 12. μ So H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a. 8 5 H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a.
Kapitel 5
Aufsicht föderativer Einrichtungen über die Rechtsprechung der Gliedstaaten Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastrichturteil festgestellt, daß die Europäische Gemeinschaft ein Staatenverbund sei, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableite und i m deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken könne. 1 Staatenbündnisse sind föderalistisch strukturierte Rechtsgebilde. 2 Föderalistisch strukturierte Rechtsgebilde umfassen i m weitesten Sinne sowohl internationale Organisationen als auch Bundesstaaten. 3 Der Begriff des Bundesstaates ist offen; 4 ein allgemein anerkanntes Verständnis existiert nicht. Teilweise wird in der Lehre in Ab1 BVerfGE 89, 155 (188 ff.); E. Klein , Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 59, 70 f.; Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 92 f.; ders., Die Republik der Völker Europas, ARSPBeiheft 71, S. 163 ff.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 43 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 77 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 896, 904 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 135 ff.; auch M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2847 f. 2 Grundsätzlich zu föderativen Strukturen von Bundesstaaten, Staatenbünden und internationalen Organisationen: C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 363 ff.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 364 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", S. 279 ff.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 63 ff.; zum Begriff des Staaten Verbundes: BVerfGE 89, 155 (188 ff.); H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 207 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 654; auch R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 400 ff. 3 Teilweise wird in der Lehre für Staatenverbünde mit einem besonders hohem Integrationsgrad der Begriff der Supranationalität verwendet: R. Geiger, Grundgesetz und Volkerrecht. Die Bezüge des Staatsrecht zum Völkerrecht und Europarecht, 2. Aufl., 1994, S. 139; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 874; R. Streinz, Europarecht, Rn. 115 ff., ders., EUV/EGV, Art. 1, Rn. 10, 17 ff.; für die Europäische Gemeinschaft. Der Begriff ist zumindest für die Rechtswissenschaft abzulehnen, weil aus ihm keine Rechtsfolgen gezogen werden können. 4
K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 648, 661; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rn. 217; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 1980, Art. 20 IV, Rn. 2 ff.; W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 11, 39, 249 ff.; O. Kimminich, Der Bundesstaat, in: HStR, Grundlagen von Staat und Verfassung, Bd. I, 1987, § 26, Rn. 5 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", S. 279 ff.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 63 ff.
Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
183
grenzung zum Staatenbund vertreten, daß der Bundesstaat dadurch charakterisiert sei, daß die Gliedstaaten neben dem Gesamtstaat Staatseigenschaft haben.5 Dieses Kriterium ist jedoch wenig ergiebig; denn ein Volk kann als Träger der Staatsgewalt die Teilung der Ausübung der Staatsgewalt auf unterschiedliche Hoheitsebenen beschließen.6 Gewichtigerer Natur ist demgegenüber die Frage nach der Rechtsgrundlage des Staatenzusammenschlusses.7 Beruht der Bund auf einem Vertrag, einem Bündnis, den verschiedene Staaten untereinander abgeschlossen haben, so liegt ein echter Bundesstaat vor. 8 Der echte Bundesstaat ist weiterhin dadurch charakterisiert, daß die den Bund schließenden Staaten gemeinschaftlich die Bundesstaatsgewalt ausüben, und dies auch nur insoweit, wie dem Bundesstaat Hoheitsrechte von den Gliedstaaten übertragen worden sind.9 Im Unterschied hierzu sind diejenigen föderativen Gebilde zu sehen, in denen sich die Gliedstaaten gemeinschaftlich ein Verfassungsgesetz gegeben haben (sog. unechter Bundesstaat).10 In unechten Bundesstaaten ist Verfassungsgesetzgeber ein Bundesvolk, nicht die Völker der Gliedstaaten.11 Im Sinne dieser Kategorisierung ist die Europäische Gemeinschaft ein echter Bundesstaat, weil sie auf einem Vertrag, einem Bund, zwischen verschiedenen europäischen Staaten beruht, nicht auf einer von einem europäischen Volk gegebenen Verfassung. 12 Als solcher ist sie rechtlich zwischen klassischen internationalen Organisationen und Bundesstaaten mit eigenem Verfassungsgesetz, einzuordnen. Aus dieser Einordnung folgt die Struktur des vorliegenden Kapitels. 13 In einem ersten 5
K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 648, 661; Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20 IV, Rn. 2 ff.; W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, S. 39; auch O. Kimminich, Der Bundesstaat, in: HStR, Grundlagen von Staat und Verfassung, Bd. I, § 26, Rn. 5, 14, 19 f., 40. 6 Hierzu Κ Α. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", S. 279 ff.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 63 ff. 7 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 363 ff.; auch Κ. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", S. 279 ff. 8 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 363 ff.; auch Κ. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", S. 279 ff.; ders.. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 63 ff.; a.A. W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, S. 39, der dies schon durch seinen Titel zum Ausdruck bringt. 9 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 367, 370 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", S. 284. 10 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389 f.; Κ. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", S. 289 ff.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 71 ff. 11 Κ Α. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", S. 291 f.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 73. 12 Κ. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", S. 297 ff.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 77 ff. 13 Zu dieser Vorgehensweise etwa C. Hillgruber, Das Verhältnis der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union zu ihren Mitgliedstaaten - staats- und völkerrechtlich betrachtet; ArchVR 34 (1996), 347 ff.
184
Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
Schritt wird das Recht zur Aufsicht aus völkerrechtlicher Sicht untersucht. Hierbei ist insbesondere auf die völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit und die Behandlung völkerrechtswidriger Urteile nationaler Gerichte einzugehen. Im Anschluß daran werden die Aufsichtsrechte in der föderativen Republik erörtert. Schwerpunkte der Ausführung bilden die Unabhängigkeit der Gerichte, deren Monopol zur staatlichen Rechtsprechung und die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen. Schließlich ist auf die Gemeinschaftsaufsicht einzugehen. Die gewaltenteilige Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, die Rolle der nationalen Gerichte für das Gemeinschaftsrecht und der in Art. 6 Abs. 1 EUV verankerte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit sind einem Recht der Kommission, Aufsicht über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten auszuüben, gegenüberzustellen und abzuwägen.
A· Aufsicht im Völkerrecht I . Grundlagen 1. Selbständigkeit der Staaten Der Staat ist das klassische Völkerrechtssubjekt. 14 Er stellt die zentrale Einheit im Völkerrecht dar. 15 Seine Beziehung zu anderen Staaten beruht nach Art. 2 Spstr. 1 UN-Charta auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit, nachfolgend als Selbständigkeit des Staates bezeichnet.16 Der Selbständigkeitsgedanke besagt, daß jeder Staat unabhängig in der Gestaltung seiner inneren und äußeren Rechtsbeziehungen ist. 17 Innere Selbständigkeit bedeutet, daß jeder Staat unabhängig, also frei darüber entscheiden kann, welche 14 A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 376; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, 2. Aufl., 1975, S. 111 ff.; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1657; W. Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 1997, Rn. 5; O. Kimminich/S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 7. Aufl., 2000, S. 71 ff.; D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 168 ff., 200 ff.; auch K. Hailsbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekt, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1997, Rn. 194 ff. 15 R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht. Die Bezüge des Staatsrecht zum Völkerrecht und Europarecht, S. 19; A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, 113 ff.; D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 168. Zur Kritik am Souveränitätsbegriff: D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 172 ff. 17 A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 31 ff.; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 631 ff.; A. Bleckmann, Charta der Vereinten Nationen: Kommentar, 1991, Art. 2 Ziffer 1, Rn. 7 ff.; W. Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, Rn. 45 ff.; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rn. 6 f.
Α. Aufsicht im Volkerrecht
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innerstaatliche Ordnung er sich gibt (Verfassungsautonomie), daß er auf seinem Hoheitsgebiet die Ausübung fremder Staatsgewalt untersagen kann und daß er Machtbefugnisse über die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhaltenden Menschen besitzt.18 Die äußere Selbständigkeit ist dadurch charakterisiert, daß jeder Staat im völkerrechtlichen Verkehr gleichberechtigt und keinem anderen Staat untergeordnet ist. 19 Jeder Staat kann unter Beachtung des Rechts und seines Verfassungsgesetzes entscheiden, ob und wie er (vertraglich) seine Beziehungen zu anderen Staaten regelt (Vertragsfreiheit). 20 Nach der Lehre sind internationale Organisationen „durch einen völkerrechtlichen Vertrag gegründete Staatenverbindungen, die ein Minimum an institutionellen Einrichtungen und eine gewisse Dauerhaftigkeit besitzen und bestimmte hoheitliche Ziele verfolgen". 21 In dieser Definition spiegelt sich der Grundsatz der Selbständigkeit der Staaten wieder; denn Grundlage jeder internationalen Organisation ist ein völkerrechtlicher Vertrag, auch als Gründungsvertrag bezeichnet,22 der von mindestens zwei Völkerrechtssubjekten, im Regelfalle Staaten, geschlossen wird. 23 Dabei steht es jedem Staat vorbehaltlich seines Verfassungsgesetzes frei, ob er mit anderen Staaten in vertragliche Beziehungen tritt. Der Gründungsvertrag bestimmt die Aufgaben und die Befugnisse internationaler Organisationen, 24 welche nur soweit reichen, wie die Vertragsstaaten internationalen Organisationen Rechte übertragen haben. Internationale Organisationen verfügen somit über keine Kompetenz-Kompetenz.25 Als derivate Träger einzelner völkerrecht18 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, S. 183; A. Bleckmann, Charta der Vereinten Nationen: Kommentar, Art. 2 Ziffer 1, Rn. 7 ff.; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rn. 6; auch D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 163; kritisch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 71 ff. 19 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, S. 181; A. Bleckmann, Charta der Vereinten Nationen: Kommentar, Art. 2 Ziffer 1, Rn. 11 ff.; W. Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, Rn. 46; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rn. 6. 20 A. Bleckmann, Charta der Vereinten Nationen: Kommentar, Art. 2 Ziffer 1, Rn. 45; R. Zippelius, Einführung in das Recht, S. 20 ff.; D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 206 ff. 21 So M. Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 522; auch /. Seidl-Hohenveldern/G. Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, Rn. 0105; E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Volkerrechtssubjekte, Rn. 12 ff.; VT Epping, in: K. Ipsen, Volkerrecht, § 6, Rn. 3 ff.; auch D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 201 f., die zutreffend darauf hinweist, daß internationale Organisationen das Ergebnis der Institutionalisierung der völkerrechtlichen Beziehungen der Staaten seien. 22 E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Volkerrechtssubjekte, Rn. 32. 23 E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Völkerrechtssubjekte, Rn. 13; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 31, Rn. 12. 24 E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Volkerrechtssubjekte, Rn. 188, formuliert hinsichtlich Umfang und Art der Aufgaben einer internationalen Organisation, daß alles vom Gründungsvertrag abhänge; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rn. 6.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
licher Rechte und Pflichten leiten sie ihre Aufgaben und Befugnisse ausschließlich von den vertragsschließenden Staaten a b . 2 6 In welchem Umfang Staaten internationalen Organisationen Aufgaben und Befugnisse übertragen haben, ist vom jeweiligen Gründungsvertrag abhängig. Teilweise sind auch Aufsichts- und Kontrollrechte übertragen worden. 2 7 Die Instrumente der völkerrechtlichen Aufsicht sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von Auskunftsrechten und Auskunftspflichten bis zur Befugnis internationaler Organisationen, außergerichtliche, aber auch gerichtliche Verfahren gegen vertragswidrig handelnde Vertragsstaaten einzuleiten. 2 8 Z u nennen sind insbesondere die Überwachungsinstrumente der Welthandelsorganisation über ihre Vertragsstaaten, 29 etwa der Mechanismus zur Überprüfung der Handelspolitik ( T P R M ) , 3 0 Notifizierungsverfahren, 31 die Aufsichtsbefugnisse der Europäischen Gemeinschaft über ihre Mitgliedstaaten, insbesondere Art. 226 E G V , 3 2 schließlich das Recht der Vereinten Nationen gegenüber ihren Vertragsstaaten zur Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte. 33 Daneben ist die internationale Gerichtsbarkeit von größter Bedeutung für die internationale Rechtskontrolle. 34 Durch Vertrag oder Beitrittserklärung können 25 So auch /. Seidl-Hohenveldern/G. Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, Rn. 1536; E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Volkerrechtssubjekte, Rn. 188; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rn. 6. 26 D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 202. 27 Eine einheitliche Begrifflichkeit über die völkerrechtliche Aufsicht hat sich bisher in der Lehre noch nicht gebildet: H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedensvölkerrecht, JIR 10 (1961), S. 2 ff.; Η J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht Π, S. 103, sprechen von völkerrechtlicher Aufsicht; A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, §871, von völkerrechtlicher Kontrolle; D. I. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 122 ff. verwendet den Begriff der Überwachung. 28 H. J. Hahn, Der Maßstab der internationalen Aufsicht im Friedens Völkerrecht, JIR 10 (1961), S. 16 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 871 f. 2 9 W. Benedek, Die Rechtsordnung des GATT aus völkerrechtlicher Sicht, S. 246 f., 294 ff.; D. 1. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 122 ff.
30 Veröffentlicht in BT-Drs. 12/7986, S. 531 f. (deutsche Fassung), S. 533 ff. (englische Fassung); D. I. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 123 ff. 31 Beschluß zu Notifizierungsverfahren auf der Marrakesch-Konferenz, BT-Drs. 12/7986, S. 540 ff. (deutsche Fassung), S. 563 ff. (englische Fassung); D. I. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 129. 32 B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1987; Κ Α. Schachtschneider/ Α. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 264 ff.; W. Cremer, in: Callies/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 1 ff. 33
A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 872, 1240. 34 Grundsätzlich zur internationalen Gerichtsbarkeit: G. Dahm, Völkerrecht, Bd. II, S. 485 ff.; W. Wengler, Völkerrecht, Bd. I, 1964, S. 725 ff.; F. Berber, Lehrbuch des Völker-
Α. Aufsicht im Volkerrecht
187
sich Staaten der Gerichtsbarkeit eines internationalen Gerichtshofs unterwerfen. 35 Internationale Gerichtsbarkeit bedeutet, daß andere Staaten oder internationale Organisationen gegen den betreffenden Staat vor einem internationalen Gerichtshof wegen Verletzung des Völkerrechts und / oder eines internationalen Vertrages klagen können, wie am Beispiel des Internationalen Gerichtshofs als dem Prototyp eines internationalen Gerichts zu zeigen ist: Nach Art. 2 Nr. 3 UN-Charta haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, internationale Streitigkeiten friedlich beizulegen. 3 6 Als Mittel der friedlichen Streitbeilegung zählt Art. 33 Abs. 1 UN-Charta u. a. den Schiedsspruch und die gerichtliche Entscheidung auf. 3 7 U m der Streitbeilegung durch gerichtliche Entscheidung den erforderlichen institutionellen Rahrechts, Bd. III, S. 68 ff. Der Begriff der internationalen Gerichtsbarkeit für die Rechtsprechungsbefugnis internationaler Gerichtshöfe wird in der Lehre nicht einheitlich verwendet. Folgende Ausdrücke lassen sich finden: „Internationale Gerichtsbarkeit" bei H. Mosler, in: Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, 1991, Art. 92, Überschrift zu Rn. 1 ff.; „Internationale Zuständigkeit" bei M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 68; O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 362 f.; oder etwa „Zuständigkeit" bei A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 186 ff.; K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 1078; H. Fischer, in: Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl., 1999, § 62, Rn. 44; für K. Kreuzer/R. Wagner, Europäisches Internationales Zivilverfahrensrecht, in: Dauses (Hrsg.) Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Q, Rn. 83, sind die Begriffe Gerichtsbarkeit, facultas iurisdictionis, Gerichtshoheit und Gerichtsgewalt deckungsgleich, wie sie ausdrücklich hervorheben. Während im Völkerrecht die Begriffe internationale Gerichtsbarkeit und Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs inhaltsgleich benutzt werden, ist im nationalen Recht zwischen „Gerichtsbarkeit", auch als Gerichtshoheit bezeichnet: so J. Kropholler, Internationales Privatrecht, 2. Aufl., 1994, S. 487, „internationaler Zuständigkeit" und „örtlicher Zuständigkeit" zu unterscheiden. Unter Gerichtshoheit ist der Funktionsbereich der rechtsprechenden Staatsgewalt zu verstehen. Sie wird, wie die Staatsgewalt insgesamt, durch völkerrechtliche Regelungen begrenzt. So verfügt beispielsweise kein Staat über die Befugnis, Hoheitsakte anderer Staaten zu richten, sie ist auf das Gebiet des richtenden Staates beschränkt. Im Unterschied hierzu fragt die internationale Zuständigkeit danach, ob die inländischen Gerichte in ihrer Gesamtheit für die Entscheidung eines Rechtsstreites mit Auslandsbezug zuständig sind, ob also eine Klage in Deutschland erhoben werden kann, oder im Ausland zu erheben ist: H. Schach, Internationales Zivilverfahrensrecht, 1991, Rn. 186 ff. Die örtliche Zuständigkeit regelt die Frage, welches der nationalen Gerichte zur Entscheidung des Rechtsstreits zuständig ist. Die Abgrenzung erfolgt in diesem Fall in örtlicher Hinsicht gegenüber den anderen nationalen Gerichten: Η Thomas /Η. Putzo, ZPO, 18. Aufl., 1993, vor § l , R n . 4 f f . 35 So A. Ross, Lehrbuch des Völkerrechts, 1951, S. 257; G. Dahm, Völkerrecht, Bd. II, S. 485, spricht vom „Konsens als Grundlage für die Zuständigkeit der internationalen Gerichte"; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 74 ff.; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 68, 82; K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 1078. Insofern ähnelt die internationale Gerichtshoheit der privaten Schiedsgerichtsbarkeit, nationaler wie internationaler, bei der die Parteien gleichfalls durch einen entsprechenden Rechtsakt, einer Willenserklärung, die Schiedsgewalt des Schiedsgerichts begründet haben: K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 1063 ff. 36 Art. 2 Nr. 3 UN-Charta lautet: „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, daß der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden." 37 C. Tomuschat, in: Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, 1991, Art. 33, Rn. 30 f.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
men zu geben, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg der Internationale Gerichtshof gegründet. 38 Nach Art. 92 UN-Charta ist er das Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen und dazu bestimmt, die zur friedlichen Streitbeilegung notwendigen gerichtlichen Entscheidungen zu treffen. 39 Die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs ist in Art. 36 IGH-Statut geregelt. 40 Nach dieser Norm wird die Gerichtshoheit des Internationalen Gerichtshofs entweder durch Erklärung für den Einzelfall (Absatz 1) oder durch Erklärung für alle Rechtsstreitigkeiten der in Absatz 2 aufgezählten Streitgegenstände begründet 41 Im Unterschied zur nationalen Gerichtshoheit, die obligatorisch ist und auf dem Verfassungsgesetz des jeweiligen Staates beruht, können die Staaten ihre Unterwerfungserklärung gemäß Art. 36 Abs. 3 IGH-Statut widerrufen oder lediglich befristet abgeben. In diesem Umstand kommt das Vertragsprinzip, welches unter bestimmten Voraussetzungen auch die Aufhebung von Willenserklärungen vorsieht 42 als Grundlage der internationalen Gerichtsbarkeit zum Ausdruck 4 3 Abschließend bleibt festzuhalten, daß das Aufsichtswesen im Völkerrecht, einschließlich der Aufsichtsbefugnisse internationaler Organisationen, noch wenig entwickelt ist. Im Unterschied zur innerstaatlichen Aufsicht hängt es von der Selbständigkeit der Staaten ab und verlangt, daß sich diese durch Vertrag einer Aufsicht und/oder einer internationalen Gerichtsbarkeit unterworfen haben.44
2. Staat als Völkerrechtssubjekt Der Staat ist das klassische VÖlkerrechtssubjekt 45 Daneben sind in jüngerer Zeit zahlreiche internationale Organisationen als weitere Volkerrechtssubjekte hinzuge38
Zur Stellung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag: F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. ΙΠ, S. 69 ff. M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 78 ff.; O. Kimminich//S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 428 ff. Der Internationale Gerichtshof ist der Nachfolger des Ständigen Internationalen Gerichtshofs (StIGH), welcher als Organ des Völkerbundes mit dessen Auflösung gleichfalls untergegangen ist. 39 Hierzu H. Mosler, in: Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 92, Rn. 49 ff. 40 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. ΠΙ. S. 68 ff.; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, 81 ff.; 83; K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 1078 f. 41 Zur sogenannten Fakultativklausel in Absatz 2: A. Verdross /Β. Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 187, 664; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1739; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 83; Ο. Kimminich / S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 428 ff. 42 A. Verdross /Β. Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 743 ff. 43 O. Kimminich / S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 294, weist darauf hin, daß der Begründungstatbestand die völkerrechtlichen Grundsätze der Souveränität und der Gleichheit wiederspiegelt. 44 H. J. Hahn, Internationale Kontrollen, ArchVR 7 (1958/1959), S. 91.
Α. Aufsicht im Volkerrecht
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treten. 46 Die internationale Aufsicht wird von Staaten und von internationalen Organisationen ausgeübt. Wie gezeigt, hat die Welthandelsorganisation das Recht, die Handelspolitiken ihrer Vertragsstaaten zu beaufsichtigen. Zuständiges Organ hierfür ist der allgemeine Rat nach Art. IV Abs. 4 WTOÜ 4 7 Das Notifizierungsverfahren gegenüber staatlichen Maßnahmen im Bereich des Handels, welche die Wirkungskreise des GATT beeinflussen können, wird in einem zentralen Notifizierungsregister unter der Verantwortung des WTO-Sekretariats durchgeführt 48 Verfahrensparteien völkerrechtlicher Prozesse sind herkömmlicherweise Staaten 49 Nach Art. 34 Abs. 1 IGH-Statut sind nur Staaten berechtigt, als Parteien vor dem Gerichtshof aufzutreten. Für das Welthandelsrecht schreibt Art. 4 der Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten vor, daß nur Vertragsparteien (Mitglieder) der Welthandelsorganisation, also Staaten,50 vor dem Streitbeilegungsgremium der Welthandelsorganisation klagen können. Diese Regelungen bestätigen somit die Grundkonzeption des Völkerrechts als einem Recht der Staaten. In Bezug auf die Europäische Gemeinschaft ist darauf hinzuweisen, daß Parteien des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EGV der Mitgliedstaat (Beklagter) 51 und die Europäische Gemeinschaft (Klägerin), vertreten durch die Kommission, sind. 52 Die Staatenklage nach Art. 227 EGV kann nur von einem Mitgliedstaat gegen einen anderen erhoben werden. Damit besteht für diese Verfahren insoweit Einklang mit dem völkerrechtlichen Grundsatz, daß Kläger und Beklagter Völkerrechtssubjekte sind. In der Parteienkonstellation des Art. 226 EGV liegt gleichzeitig eine völkerrechtliche Neuerung: Vom Modell des Art. 34 IGH-Statut wird abgewichen, weil auch einer internationalen Organisation die Befugnis gegeben wurde, gegen vertragswidriges Handeln eines Vertragsstaates vor dem internationalen Gericht „Europäischer Gerichtshof 4 zu klagen.53 Zahlenmäßig 45
A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 376; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, S. 111 ff.; W. Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, Rn. 5; O. Kimminich/S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 71 ff.; D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 168 ff., 200 ff.; auch K. Hailsbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekt, Rn. 194 ff.; /. Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 1657. 46 /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 603 f.; D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 201 f.; im Unterschied zur lange herkömmlichen Auffassung, daß das Individuum kein Völkerrecht sei, wird auch Individuen in jüngster Zeit eine begrenzte Völkerrechtssubjektivität zugesprochen: K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 246. 47 D. /. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 124. 48 D. /. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 129. 49 /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1744; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. ΙΠ. S. 67 f.; K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 1109. 50 D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, S. 131 ff. 51 B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 67. 52 Zur Völkerrechtssubjektivität der Europäischen Gemeinschaft: B. Simma/C. Vedder, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 1999, Art. 282, Rn. 2 ff.; R. Geiger, EUV/ EGV, Art. 210, Rn. 2 ff.
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ist darauf hinzuweisen, daß das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 Abs. 2 EGV die gemeinschaftsrechtliche Staatenklage nach Art. 227 E G V dominiert: Während bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt erst einmal Staatenklage nach Art. 227 EGV erhoben wurde, 5 4 lassen sich die Aufsichtsklagen kaum mehr zahlenmäßig erfassen. 55
3. Staatenverantwortlichkeit Es ist unbestritten, daß Staaten gegen völkerrechtliche Verpflichtungen verstoßen können. 5 6 Unter dem Begriff der Staatenverantwortlichkeit, der i n der Lehre allerdings nicht einheitlich verwendet w i r d , 5 7 werden die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen völkerrechtswidriger Handlungen der Staaten erörtert. 5 8
53 Dieses Element wird in der Literatur als eines der Merkmale betrachtet, welches die Originalität des Vertragsverletzungsverfahrens begründen soll: so P. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 1; C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 63, spricht insoweit von der spezifischen Durchsetzungskraft des Gemeinschaftsrechts. 54 Entscheidung des EuGH vom 4. Oktober 1979, Rs. 141 / 78, Slg. 1979, 2923 ff. 55 Siebzehnter Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts1999, AB1EG vom 30. Januar 2001, C- 30, S. 1 ff. 56 A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1262; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1645 ff. 57 Die Bezeichnung „Staatenverantwortlichkeit" wird nicht einheitlich im Völkerrecht verwendet. „Völkerrechtliches Unrecht" bei A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 845; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1645 ff.; „völkerrechtliche Haftung" bei F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 1 ff.; „völkerrechtliches Delikt" bei K. Strupp, Das völkerrechtliche Delikt, in: Stier-Somlo (Hrsg.), Handbuch des Völkerrechts, Bd. III, 1920; /. v. Münch, Völkerrecht, 2. Aufl., 1982, S. 193 ff.; „internationalen Delikt des Staates" bei G. Dahm, Volkerrecht, Bd. III, S. 177 ff., werden gleichfalls benützt. Der Begriff der Staatenverantwortlichkeit, etwa M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 6 ff., setzt sich in der deutschen Literatur in Anlehnung an die englisch- und französischsprachige Terminologie immer mehr durch. Im französisch- und im englischsprachigem Rechtsraum ist die Rede von der „responsabilité internationale de l'Etat" und der,»responsibility": so etwa M. Bedjaoui, Droit international, bilan et perspective, 1991, S. 315 ff.; N. Dinh/P. Daillier/A. Pellet, Droit international public, 4. Aufl., 1992, S. 715 ff.; G. Schwarzenberger, International Law, 3. Aufl., 1957, S. 562 ff. 58 /. v. Münch, Völkerrecht, S. 194, definiert ein völkerrechtliches Delikt durch „das von einem Völkerrechtssubjekt (Deliktssubjekt) gegen ein anderes Völkerrechtssubjekt (Deliktsobjekt) begangene völkerrechtswidrige Verhalten, durch das ein völkerrechtlich geschütztes Rechtsgut des Deliktsobjektes verletzt und diesem damit ein Schaden zugefügt wird"; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 4 ff.; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 9 ff.; zur Fragwürdigkeit des Tatbestandsmerkmals „Schaden": A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1264; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 14; Κ Ipsen, Völkerrecht, § 39, Rn. 43.
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Einer der Kernpunkte der Staatenverantwortlichkeit ist die Frage, welche Handlungen dem Staat zurechenbar sind. Jeder Staat ist, unabhängig von seiner inneren Ordnung, seinem Verfassungsgesetz, ein komplexes Gebilde, das die verschiedensten Bereiche menschlichen Lebens durchdringt. Seine völkerrechtliche Verantwortlichkeit kann deshalb sehr weit gezogen werden. So wäre es vorstellbar, daß der Staat für jedes Unrecht haftet, welches durch seine Staatsangehörigen begangen wird und/oder welches sich auf seinem Territorium ereignet, weil in beiden Fällen eine Beziehung zwischen dem Staat und der rechtswidriger Handlung besteht, die einmal durch die Staatsangehörigkeit vermittelt wird, das andere Mal durch Ereignisse auf seinem Hoheitsgebiet, also personal oder territorial. 59 Andererseits könnte die Staatenhaftung auch sehr eng verstanden werden, indem der Staat nur für Handlungen derjenigen Organe die Verantwortung trägt, die ihn auf dem internationalen Parkett repräsentieren, 60 also für Staatsoberhäupter, für Regierungsverantwortliche, für Außenminister und die ihnen untergeordneten Botschaften6' Diese Auffassungen werden in der Lehre nicht mehr vertreten. Allgemein geht die Lehre davon aus, daß der Staat für das Handeln seiner Organe verantwortlich ist (Organhaftung) 6 2 Getragen wird diese Auffassung von dem Gedanken, daß das Völkerrechtssubjekt Staat ein Rechtsgebilde und als solches handlungsunfähig ist. Handlungsfähigkeit erlangt der Staat durch seine Organe, in denen natürliche Personen als Organwalter tätig sind. Diese handeln für ihn und in seinem Namen. Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn der Staat für Handlungen derjenigen Personen, derer er sich bedient, einstehen muß und die Staatenverantwortlichkeit als Organhaftung konzipiert ist. 63 Weiterhin ist es allgemeine Auffassung, daß dem Staat die 59 Folgt man dieser Konzeption würde Deutschland für folgende Fälle zur Verantwortung gezogen werden können: (1) Ein Deutscher erschießt in Paris den Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika. (2) Auf deutschem Hoheitsgebiet wird ein Italiener von einem anderen Ausländer ermordet. 60 So etwa F v. Liszt, Das Völkerrecht, 12. Aufl., 1925, S. 281 f. Für diese früher in der völkerrechtlichen Lehre vertretene Auffassung wurde angeführt, daß die unteren Staatsorgane nicht am zwischenstaatlichen Verkehr teilnehmen würden und ihr Handeln deshalb nicht gegen Völkerrecht verstoßen könne, daß das Handeln unterer Staatsorgane wegen deren Position im Staatsgefüge unbeachtlich sei und daß der Staat nicht für jedes Verhalten die Verantwortung trage, das er zwar kontrollieren könne, das aber weit weg von der Einflußnahme der oberen Behörden sei; ausführlich hierzu R. Ago, Third report on State responsibiliy, Yearbook of the International Law Commission, 1971, vol. 2, part 1, S. 243 ff.
61 Zur Vertretungsbefugnis von Staatsorganen im Völkerrecht: W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl., 1999, § 10, Rn. 3, mit Hinweis auf Art. 7 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention. 62 A. Verdross /Β. Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 1270 ff.; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 8 ff.; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 22; K. Ipsen, Volkerrecht, § 40, Rn. 3; O. Kimminich / S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 231 ff.; Th. Buergenthal/K Doehring/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, 2. Aufl., 2000, Rn. 299 ff. 63 Κ Ipsen, Völkerrecht, § 40, Rn. 3, bezeichnet die Organhaftung als allgemeinen Grundsatz des Volkerrechts. M. Schröder, Verantwortlichkeit, Volkerstrafrecht, Streitbeilegung und
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Handlungen aller seiner Organe zuzurechnen sind. 6 4 Er haftet deshalb für völkerrechtswidrige Handlungen der vollziehenden, der gesetzgebenden und der rechtsprechenden Gewalt. 6 5 Frühere Auffassungen, wonach der Staat nur für das Handeln derjenigen Organe einzutreten habe, die ihn völkerrechtlich vertreten, die den Weisungen der Regierung unterliegen oder die eine übergeordnete Stellung i m Staatsgefüge haben, werden heutzutage nicht mehr geäußert. 66 Auch die Internationale Rechtskommission (ILC) der Vereinten Nationen betont in ihrem Vertragsentwurf zur Staatenverantwortlichkeit in Art. 5 den Grundsatz der Organhaftung und in Art. 6 die Verantwortlichkeit des Staates für alle drei Funktionsbereiche der Staatsgewalt. 67 Die Handlung des Staates muß ein völkerrechtlich anerkanntes Rechtsgut verletzen. 6 8 In Anlehnung an Art. 38 IGH-Statut nimmt man eine Verletzung an, wenn gegen völkerrechtliche Verträge, gegen internationales Gewohnheitsrecht und gegen allgemeine, von den Kulturvölkern anerkannte Rechtsgrundsätze verstoßen wird.69 Sanktionen, Rn. 22, spricht davon, daß das Einstehen des Staates für seine Organe gewohnheitsrechtlich gesichert erscheine. 64 A. Verdross /Β. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1271; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1658 ff.; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 7 ff.; Κ . Ipsen, Völkerrecht, § 40, Rn. 3; so auch der EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01, EuZW 2003, 718 (720) = NJW 2003, 3539: „Im Völkerrecht wird der Staat, dessen Haftung wegen Verstoßes gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung ausgelöst wird, als Einheit betrachtet, ohne daß danach unterschieden würde, ob der schadensverursachende Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exekutive zuzurechnen sei". 65 Zur Haftung des Staates für seine Gerichte: G. Schwarzenberger, International Law, S. 613 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1272. F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 11 ff.; G. Dahm, Völkerrecht, Bd. III, S. 190 ff.; M. Bedjaoui, Droit international, S. 367 ff.; N. Dinh/P. Daillier/P. Pellet, Droit international public, S. 723 ff.; /. v. Münch, Völkerrecht, S. 211; ausführlich hierzu mit zahlreichen Belegen K. Strupp, Das völkerrechtliche Delikt, in: Stier-Somlo (Hrsg.), Handbuch des Völkerrechts, Bd. ΙΠ, S. 70 ff.; A. Ross, Lehrbuch des Völkerrechts S. 240 f. 66
Siehe hierzu R. Ago, Third report on State responsibility, Yearbook of the International Law Commission, 1971, vol. 2, part 1, S. 249 ff., mit Hinweis in Fn. 279 f. auf diejenigen Autoren, die in der Vergangenheit eine Verantwortlichkeit des Staates für unterrangige Staatsorgane abgelehnt haben. 67 Abgedruckt im Yearbook of the International Law Commission, 1980, vol. 2, part 2, S. 26 ff.; hierzu auch Μ. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 8; K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 830. 68 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 4. 69 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, 2. Aufl., 1969, Bd. II, S. 4; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 11 ; K. Ipsen, Völkerrecht, § 39, Rn. 32 f.; K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 827. In Art. 3 des Gesetzentwurfes zur Staatenverantwortlichkeit wird die internationale Vertragsverletzung wie folgt definiert: (Elements of an internationally wrongful act of a State) „There is an internationally wrongful act of a State when: (a) conduct consisting of an action or omission is attributable to the State under international law; and (b) that conduct constitutes a breach of an international obligation of the State."
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Rechtsfolge der Verletzung ist die Pflicht des Schädigers zur Wiedergutmachung und / oder zur Genugtuung.70 Die Genugtuung, die hier nicht weiter von Interesse ist, bezieht sich auf immaterielle Schäden (Nichtvermögensschaden).71 Die Wiedergutmachung hat zwei Formen: 72 die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, also desjenigen Zustandes, der bestünde, wenn die Rechtsverletzung nicht geschehen wäre (restitutio in integrum), 73 und die Entschädigung in Geld (Wertersatz). 74 Aus dogmatischer Sicht sollte die Wiedergutmachung in der Gestalt der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes Vorrang vor dem Wertersatz haben, weil sie den Schaden am besten beseitigt.75 Erst wenn die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes ausgeschlossen ist, sollte an eine Entschädigung in Geld gedacht werden. Tatsächlich läßt sich jedoch festhalten, daß die Entschädigung in Geld der Hauptfall der Wiedergutmachung ist, und zwar auch dann, wenn es möglich wäre, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. 7 6
Π. Internationale Aufsicht über nationale Gerichte 1. Verantwortlichkeit des Staates für seine Rechtsprechungsorgane Die pauschale Aussage in Art. 6 des Gesetzesentwurfs der Internationalen Rechtskommission, daß dem Staat auch Handlungen seiner Rechtsprechungsorgane zuzurechnen seien, bedarf genauerer Ausführungen. Früher wurde im völkerrechtlichen Schrifttum mit den Argumenten der richterlichen Unabhängigkeit, der Gesetzesbindung und dem Rechtskraftgrundsatz (res iudicata) die Auffassung ver70 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. ΙΠ, S. 25 ff.; /. v. Münch, Völkerrecht, S. 215. 71 Hierzu A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1299; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 28; K. Ipsen, Völkerrecht, §41, Rn. 67. Sie hat sühneähnlichen Charakter und dient im Gegensatz zur Wiedergutmachung nicht der Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustandes. 72 Hierzu A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 1294 ff.; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1685 ff.; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 28 f.; K. Ipsen, Völkerrecht, § 41, Rn. 65 f. 73 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1296; /. Seidl-Hohenveldern, Volkerrecht, Rn. 1685; K. Ipsen, Völkerrecht, § 41, Rn. 66. Beispiele für die Naturalrestitution sind die Aufhebung eines völkerrechtswidrigen Gesetzes, die Rückübertragung rechtswidrig beschlagnahmten Eigentums oder die Freilassung rechtswidrig inhaftierter fremder Staatsangehöriger. 74 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1264; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1686; K. Ipsen, Völkerrecht, § 41, Rn. 66. Beispiel für den Wertersatz ist die Geldzahlung für die beschädigte Sache. 75 So auch A Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1295; offen lassend M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Völkerrecht, Rn. 28. ™ So F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. ΙΠ, S. 26.
13 Wollenschläger
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treten, daß der Staat keine völkerrechtliche Verantwortung für seine Rechtsprechungsorgane trage. 77 Soweit ersichtlich wird diese Position nicht mehr vorgetragen. Es ist gegenwärtig allgemein anerkannt, daß Entscheidungen nationaler Gerichte die völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit zu begründen vermögen. 78 Als Begründung wird darauf verwiesen, daß nicht die staatlichen Organe, sondern der Staat in seiner Gesamtheit Völkerrechtssubjekt und Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten sei. Er begehe die völkerrechtswidrige Handlung und habe deshalb ohne Rücksicht auf seine innere Ordnung völkerrechtswidrige Handlungen aller seiner Organe zu verantworten, also auch die seiner Rechtsprechungsorgane. 79 Hinsichtlich der Unbeachtlichkeit der richterlichen Unabhängigkeit wird ausgeführt, daß sie eine rein innerstaatliche Funktion habe, nämlich die nationalen Richter vor Eingriffen der vollziehenden Gewalt zu schützen.80 Diese innerstaatliche Funktion könne im internationalen Rechtsverkehr keine Geltung haben, weil es im Völkerrecht nicht um den Schutz der Dritten Gewalt vor anderen Staatsorganen gehe, sondern um die Beziehung der Staaten untereinander. 81 Auch das Prinzip der Rechtskraft soll nach der Auffassung der Lehre der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit nicht entgegen stehen,82 weil der Grundsatz der res iudicata gleichfalls dem innerstaatlichen Rechtsfrieden und der innerstaatlichen Rechtssicherheit diene. Er könne deshalb keine Geltung im zwischenstaatlichen Rechts77 Ausführlich hierzu unter Angabe von Literatur: R. Ago, Yearbook of the International Law Commission, 1973, vol. 2, part 1, S. 196 ff.; mit Hinweis auf Α. de Lapradelle/N. Politis, Recueil des arbitrages internationaux, S. 22 ff., 103 ff.; vgl. auch die Hinweise bei /. v. Münch, Das völkerrechtliche Delikt in der modernen Entwicklung der VÖlkerrechtsgemeinschaft, 1963, S. 209 f. 78 Zur Haftung des Staates für seine Gerichte: K. Strupp, Das völkerrechtliche Delikt, in: Stier-Somlo (Hrsg.), Handbuch des Völkerrechts, Bd. ΙΠ, S. 70 ff.; A. Ross, Lehrbuch des Völkerrechts S. 240 f.; G. Schwarzenberger, International Law, S. 613 ff.; A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1272; G. Dahm, Völkerrecht, Bd. III, S. 190 ff.; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. ΠΙ, S. 11 ff.; N. Dinh/P. Daillier/P. Pellet, Droit international public, S. 723 ff.; M. Bedjaoui, Droit international, S. 367 ff.; /. v. Münch, Völkerrecht, S. 211; diskutiert werden Voraussetzung und Umfang der Haftung: G. Schwarzenberger, International Law, S. 621.F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 13; N. Dinh/P Daillier/P Pellet, Droit international public, S. 725 ff. 79 Siehe G. Dahm, Völkerrecht, Bd. III, S. 192; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 11.
so So etwa G. Dahm, Völkerrecht, Bd. III, S. 191; auch EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01, EuZW 2003, 718 (721) = NJW 2003, 3539 (3540), der in diesem Zusammenhang ausführt, daß durch die Staatshaftung nicht der Richter persönlich in Haftung genommen werde, sondern der Staat. Es sei deshalb nicht ersichtlich, daß die Unabhängigkeit eines letztinstanzlichen Gerichts durch die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen die Haftung des Staates für gemeinschaftsrechtswidrige Gerichtsentscheidungen feststellen zu lassen, gefährdet würde. 81 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 11; /. v. Münch, Das völkerrechtliche Delikt in der modernen Entwicklung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 210. 82 So gleichfalls /. v. Münch, Das völkerrechtliche Delikt in der modernen Entwicklung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 211 f.; auch R. Ago, Yearbook of the International Law Commission, 1973, vol. 2, part 1, S. 196 ff.
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verkehr beanspruchen und keine völkerrechtliche Außen Wirkung entfalten. 83 Schließlich ist zu beachten, daß die Unabhängigkeit des Richters zwar die Gerichte vor Eingriffen der Exekutive schützt, nicht jedoch ihre Eigenschaft als Staatsorgane aufhebt. Gerichte sind trotz ihrer verfassungsrechtlich unabhängigen Stellung sowohl aus völkerrechtlicher als auch aus innerstaatlicher Sicht Staatsorgane,84 wie Art. 20 Abs. 3 GG oder die nationale Staatshaftung, für Deutschland in § 839 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 34 GG geregelt, erweist.
2. Völkerrechtswidrige Urteile nationaler Gerichte Wie die Organe der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt können auch nationale Gerichte Völkerrechtsverletzungen begehen.85 Nicht jede rechtswidrige Gerichtsentscheidung verstößt jedoch gegen das Völkerrecht. Vielmehr muß das nationale Gericht eine völkerrechtliche Verpflichtung verletzt haben.86 Folgende Fallgruppen hat die Literatur als typische Völkerrechtsverletzungen nationaler Gerichte herausgearbeitet: 87 Staatliche Gerichte verletzen das Völkerrecht, wenn sie verpflichtet sind, Normen des Völkerrechts anzuwenden, und diese nicht oder falsch anwenden.88 Die zweite Gruppe der gerichtlichen Verletzungen des Völkerrechts wird unter dem Begriff der „Justizverweigerung im weiteren Sinne" (déni de justice) zusam83 /. v. Münch, Das völkerrechtliche Delikt in der modernen Entwicklung der Volkerrechtsgemeinschaft, S. 211; der EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01, EuZW 2003, 718 (721) = NJW 2003, 3539 (3540), führt zur Anerkennung des Grundsatzes der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für Gerichtsentscheidungen aus, daß hierdurch die Rechtskraft nicht in Frage gestellt werde, denn Verfahrensgegenstand der Staatshaftungsklage sei nicht die Aufhebung des rechtswidrigen Gerichtsurteils, sondern die Verurteilung zum Ersatz entstandenen Schadens. 84 A. Verdross/B. Simma , Universelles Völkerrecht, § 1272; M. Bedjaoui, Droit international, S. 389. 85 K. Strupp, Das völkerrechtliche Delikt, in: Stier-Somlo (Hrsg.), Handbuch des Völkerrechts, Bd. ΠΙ, S. 70 ff.; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. ΠΙ, S. 10. Allgemein zur Voraussetzung, daß ein völkerrechtlich geschütztes Rechtsgut verletzt sein muß /. ν. Münch, Völkerrecht, S. 194; in Bezug auf die rechtsprechende Gewalt K. Strupp, Das völkerrechtliche Delikt, in: Stier-Somlo (Hrsg.), Handbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 75. 87 So etwa A. Verdross/B. Simma , Universelles Völkerrecht, § 1272; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 10 f.; M. Bedjaoui, Droit international, S. 389 ff. 88 K. Strupp, Das völkerrechtliche Delikt, in: Stier-Somlo (Hrsg.), Handbuch des Volkerrechts, Bd. III, S. 75; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1272. Beispiele hierfür sind Entscheidungen nationaler Rechtsprechungsorgane, welche die Immunität eines Botschafters nicht beachten, oder wenn Urteile Rechtsfolgen aussprechen, welche die territorialen Grenzen des Staates überschreiten. Zur Verbindlichkeit völkerrechtlicher Regelungen im innerstaatlichen Recht: C. Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus in den Volkerrechtslehren, 2002, S. 345 ff.
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mengefaßt. 89 Dazu zählt sowohl die Weigerung nationaler Gerichte, Ausländern, und zwar unabhängig davon, ob sie Kläger oder Beklagte sind, Rechtsschutz zu gewähren (Justizverweigerung im engeren Sinne), als auch die Mißachtung justizieller Mindeststandards, wie die Einhaltung bestimmter Verfahrenszeiten oder eine krasse, diskriminierend wirkende Ungleichbehandlung von In- und Ausländern. 90 In Ausnahmefällen können auch Verletzungen des innerstaatlichen Rechts die internationale Verantwortlichkeit des Staates für seine Rechtsprechungsorgane begründen. Hierunter fallen vor allem willkürliche Verletzungen innerstaatlichen Rechts, insbesondere die Rechtsbeugung.91
3. Rechtsfolgen Völkerrechtswidrige Rechtsakte nationaler Gerichte begründen die Verantwortlichkeit des Staates. Sie verpflichten den Staat zur Wiedergutmachung, 92 welche in der Form der Naturalrestitution oder des Wertersatzes erfolgen kann. 93 Hinsichtlich der Wiedergutmachung völkerrechtswidriger Entscheidungen nationaler Gerichte weist die Lehre darauf hin, daß der Wertersatz der einzige Weg der Wiedergutmachung sei, weil der Aufhebung des Urteils, was der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes entspräche, die Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt und das Institut der Rechtskraft entgegenstehen würden. 94 Die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit der Gerichte verbiete es den nationalen Regierungen als denjenigen Staatsorganen, welche den Staat international vertreten, die Gerichte anzuweisen, ihre völkerrechtswidrigen Urteile aufzuheben. Die materielle Rechtskraft gebiete die Unabänderbarkeit nationaler Richtersprüche 9 5
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A. Verdross /Β. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1272; /. v. Münch, Das völkerrechtliche Delikt in der modernen Entwicklung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 212 ff.; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 10 f.; M. Bedjaoui, Droit international, S. 390 f. 90 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1272; Th. Buergenthal/K. Doehring /J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, Rn. 300. 91 M. Bedjaoui, Droit international, S. 391 f. 92 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. III, S. 25 ff.; /. v. Münch, Völkerrecht, S. 215. 93
Hierzu A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 1294 ff.; I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1685 ff.; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, Rn. 28 f.; Κ Ipsen, Völkerrecht, § 41, Rn. 65 f. 94 I. v. Münch, Das völkerrechtliche Delikt in der modernen Entwicklung der VÖlkerrechtsgemeinschaft, S. 210 f. 95 I. v. Münch, Das völkerrechtliche Delikt in der modernen Entwicklung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 210 f.
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4. Völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit im Gewände des Vertragsverletzungsverfahrens? Das gemeinschaftsrechtliche Vertragsverletzungsverfahren wird in der Lehre häufig mit der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit verglichen. Folgender Satz läßt sich in der europarechtlichen Literatur finden: „Wie bei den unerlaubten Handlungen des Völkerrechts muß sich jeder Mitgliedstaat auch im Europarecht das Verhalten aller seiner Organe zurechnen lassen. Das Verfahren nach Art. 169 (seil.: Art. 226 EGV n.F.) kann sich also auf das Handeln der drei Gewalten auf Bundes - Länder- und Kommunalebene beziehen."96 Weitere Autoren betonen die Verwandtschaft des Vertragsverletzungsverfahrens mit völkerrechtlichen Prinzipien. So heißt es in einem Beitrag von Carl Otto Lenz, daß diese Form der Verantwortlichkeit des Staates (seil.: gemeint ist das Vertragsverletzungsverfahren) dem klassischen Völkerrecht entspreche.97 Gert Nicolay sen spricht davon, daß Art. 169 in den Bahnen des klassischen Völkerrechts operiere. 98 Gleichzeitig wird das Vertragsverletzungsverfahren aber auch als ein originäres Rechtsinstrument der Europäischen Gemeinschaft bezeichnet.99 Seine Originalität bestehe darin, daß es die Mitgliedstaaten einer umfassenden internationalen Gerichtsbarkeit unterwerfe und so die Durchsetzung und Erzwingung der Gemeinschaftsrechtsnormen sicherstelle. 1 0 0 Die Frage ist, ob die behaupteten Gemeinsamkeiten zwischen dem Vertragsverletzungsverfahren und der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der Staaten bestehen mit der Folge, daß die Staatenverantwortlichkeit eine Art internationale Aufsicht darstellt. Gemeinsam ist den Rechtsinstituten, daß sie eine fehlerhafte Handlung eines Staatsorgans voraussetzen: Die völkerrechtliche Staaten Verantwortlichkeit verlangt die Verletzung einer völkerrechtlichen Pflicht durch den Staat; nach Art. 226 EGV muß ein Mitgliedstaat gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen haben. Für beide Rechtsfiguren muß deshalb geklärt werden, welche Handlungen dem Staat zurechenbar sind. Insofern hat der oben zitierte Satz auch seine Richtigkeit. Ansonsten unterscheiden sich Funktion und Ziele der Verfahren elementar: Während die völkerrechtliche Staatenklage die Wiederherstellung eines materiellen Zustandes bezweckt, wie er früher einmal bestanden hat (Wiedergutmachung in den Formen der Naturalrestitution oder des Wertersatzes), 101 sehen sowohl die Lehre als auch die 96
A. Bleckmann , Europarecht, Rn. 812. C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetz, S. 8. 98 G. Nicolay sen, Vertragsverletzung durch mitgliedstaatliche Gerichte, EuR 1985, S. 369. 99 So etwa P. Karpenstein /U. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 1 ; auch B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 63, sieht in dem Aufsichtsverfahren nach Art. 226 EGV eine „Besonderheit der Gemeinschafts Verträge". 100 P. Karpenstein/U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 226, Rn. 1. 97
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
Praxis die Hauptaufgabe des Vertragsverletzungsverfahrens darin, die Legalität des Gemeinschaftsrechts zu sichern. 1 0 2 Das Vertragsverletzungsverfahren soll die vertragsgemäße Durchführung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten gewährleisten, weshalb die Lehre in jüngerer Zeit das Vertragsverletzungsverfahren mit Verfahren in föderativen Einrichtungen, insbesondere „Verfahren des Bundes gegen ein Land" vergleicht, deren Aufgabe gleichfalls in der Durchsetzung der Legalität besteht. 1 0 3 Eine Pflicht zur Wiedergutmachung eines durch vertragswidriges Handeln verursachten Schadens wird Art. 226 E G V nicht beigelegt. Der Rückgriff auf die völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit i m Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens geht somit fehl. Wenn man nach einem mit der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit vergleichbaren gemeinschaftsrechtlichen Rechtsinstrument sucht, drängt sich eher das vom Europäischen Gerichtshof entwickelte gemeinschaftsrechtliche Institut der Haftung der Mitgliedstaaten a u f , 1 0 4 weil beide Rechtsinstitute den Ausgleich eines durch vertragswidriges / völkerrechtswidriges Handeln des Staates verursachten Schadens bezwecken.
101 A. Verdross /B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1296; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1685; K. Ipsen, Völkerrecht, § 41, Rn. 66. 102 B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 11; K. A. Schachtschneider/A. EmmerichFritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 264 ff.; Siebzehnter Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts - 1999, AB1EG, 30. Januar 2001, C 30, S. 1 ff.; zur historischen Entwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens: M. Dauses, „Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?", in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Bd. I, 1994, D 76, der daraufhinweist, daß das Vertragsverletzungsverfahren zu Beginn der römischen Verträge als ein Instrument der friedlichen Streitbeilegung angesehen wurde, welches sich erst im Laufe der Zeit zu einem Instrument der Vertragsgemäßheit gewandelt habe; zum friedenssichernden Charakter der Europäischen Verträge auch B. Wägenbaur, Europa: Eine Rückbesinnung auf ihre Wurzeln tut Not!, EuZW 2000, 737. 103
So etwa A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 1014. ι»4 Urteil des EuGH vom 19. November 1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, 5403 ff.; Urteil des EuGH vom 5. März 1996, verb. Rs. C-49/93 und C-48/93, Slg. 1996, 1029 ff.; eine ausführliche Darstellung unter Angabe der wichtigsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs zum gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch der Mitgliedstaaten findet sich bei F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 492 ff.; C Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien. Von der unmittelbaren Wirkung bis zum Schadensersatzanspruch, 1999, S. 99 ff.; hierzu auch K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 296 f.
Β. Aufsicht in der föderativen Republik am Beispiel Deutschlands
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B. Aufsicht in der föderativen Republik am Beispiel Deutschlands I . G r u n d l a g e n d e r (Bundes-)Aufsicht 1. Bundesstaatlichkeit Wie bereits in Kapitel 1 dargelegt, ist die Bundesaufsicht kein verwaltungsrechtliches Mittel, sondern ein staatsrechtliches Instrument. 1 0 5 Sie ist Ausfluß der Entscheidung des Verfassungsgebers für einen Bundesstaat, in welchem die Staatsgewalt auf zwei Hoheitsebenen, den Bund und die Länder, aufgeteilt i s t . 1 0 6 Zu Recht wird die Bundesaufsicht deshalb in der Lehre als ein Mittel der bundesstaatlichen Integration bezeichnet, welches auf die Einordnung der Gliedstaaten in das bundesstaatliche Gesamtgefüge gerichtet i s t . 1 0 7 Des weiteren besteht ihre Funktion aus verfassungsrechtlicher Sicht darin, das für den Bestand jeder föderativen Einrichtung unabdingbare Mindestmaß an (Rechts-)Einheit zu gewährleisten. 1 0 8 Die Ausgestaltung der Bundesaufsicht hängt von der jeweiligen bundesstaatlichen Ordnung ab. Es gibt die abhängige und die unabhängige / selbständige Bundesaufsicht. 109 Gegenstand der abhängigen Bundesaufsicht ist die ordnungsgemäße Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder. 1 1 0 Strukturelle Voraussetzung 105
In diesem Sinne Ρ Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 128, der den verfassungspolitischen Charakter der Bundesaufsicht betont; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 398; Κ Α. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 71 ff.; auch P. Pfeiffer, Die Staatsaufsicht über Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts unter besonderer Berücksichtigung der bayerischen Verhältnisse, 1958, S. 26. 106 W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 399; Κ. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 63 ff.; auch H. Triepel, Die Reichsauf sieht, S. 178, über die Reichsaufsicht; allgemein zur Staatsqualität von Bund und Ländern: Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 231 \ Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 667 ff. 107 W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 397. 108
Zum Mindestmaß an Homogenität in föderativen Ordnungen: BVerfGE 4, 178 (189); 64, 301 (317); Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 704; B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 28, Rn. 1 ff. 109 Grundlegend hierzu Η Triepel, Reichsaufsicht, S. 371 ff., 411 ff.; Ρ Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 127, 131 ff.; ÄT. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 713 ff.; auch Η. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht. Sinn und Möglichkeit einer Bundesaufsicht unter dem Grundgesetz, S. 47 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Bund-LänderStreitigkeiten, S. 130 ff. u o P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 152; J. Frowein, Bundesaufsicht und Bundeszwang, in: Staatslexikon, Bd. 1, 1985, S. 902; H. P. Bull, in: Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, Art. 84, Rn. 55 f.; W. Blümel, Verwaltungszuständigkeit, in: HStR, Bd. VI, § 101, Rn. 42; S. Broß, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Art. 84, Rn. 31.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
dieses Aufsichtstypus ist, daß die föderative Ordnung die Gliedstaaten mit der Ausführung der Gesetze des Bundes betraut. In Bundesstaaten, in welchen das bundesstaatliche Verfassungsgesetz die Befugnis zur Ausführung der Gesetze der Gesetzgebungsbefugnis folgen läßt, kann es keine abhängige Bundesaufsicht geben. Das Bundesverfassungsgericht vertritt die Auffassung, daß die verfassungsmäßige Ordnung Deutschlands den Bund nur berechtigt, die Ausführung des Bundesrechts durch die Gliedstaaten zu kontrollieren. 1 1 1 I m Unterschied hierzu ist Gegenstand der selbständige / unabhängigen Bundesaufsicht jede bundesstaatlich bedeutsame Handlung der Gliedstaaten. 1 1 2 Die unabhängige Bundesaufsicht ist somit weitreichender als die abhängige Bundesaufsicht. Sie ist Zeichen eines starken Gesamtstaates, weil sie diesem umfassende Aufsichtsmöglichkeiten zuweist. Neben dem Bundesstaatsprinzip wird die Bundesaufsicht von weiteren Verfassungsprinzipien geprägt. 1 1 3 Zu nennen sind insbesondere das Rechtsstaatsprinzip mit seinen Elementen der Verhältnismäßigkeit, 1 1 4 des Vertrauensschutzes / der Rechtssicherheit 115 und des Gebots der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung; 1 1 6 weim BVerfGE 8, 122 (130 ff.); 81, 310 (331 f.); auch W. Leisner, Der Bund-Länder-Streit vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 280 ff.; Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 713; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 50; A. Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 84, Rn. 26; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 12 ; a.A. H. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht. Sinn und Möglichkeit einer Bundesaufsicht unter dem Grundgesetz, S. 47 ff.; K. A. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Bund-Länder-Streitigkeiten, S. 130 ff. 112
Hierzu H. Triepel, Reichsaufsicht, S. 411 ff.; H. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht. Sinn und Möglichkeit einer Bundesaufsicht unter dem Grundgesetz, S. 47 ff.; P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 126; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 713 f. 113 Zum Verhältnis der verschiedenen Staatsprinzipien: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 870 f.; O. Kimminich, Der Bundesstaat, in: HStR, Grundlagen von Staat und Verfassung, Bd. I, § 26, Rn. 43; B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 2. Π4 BVerfGE 19, 342 (348 f.); 43, 242 (288 f.); 61, 126 (134); 76, 256 (359); 80, 109 (120); Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 382 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 234 ff.; A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, S. 49 ff.; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 80 ff. 115
Zum Verhältnis der Begriffe Rechtssicherheit und Vertrauensschutz: K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 154 ff.; nachfolgend wird wegen seiner Allgemeinheit der Begriff der Rechtssicherheit verwendet; hierzu BVerfGE 53, 224 (253 f.); 63, 152 (175); 72, 200 (257 f.); 76, 256 (347 f.); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 849 f.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 402 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 154 ff.; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 29 ff., 67 ff., 76. 116 BVerfGE 40, 237 (248 f.); 49, 89 (126 f.); N. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 104; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 63 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 106 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 104 ff., 107 ff.; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 29 ff.
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terhin die gewaltenteilige Funktionenordnung mit ihren Bestandteilen der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) 1 1 7 und des Monopols staatlicher Rechtsprechung der Gerichte (Art. 95 Abs. 1 GG). 1 1 8 Ferner ist der Grad der Staatlichkeit der Länder, welche die Zwangsmöglichkeiten des Bundes gegenüber den Ländern bestimmt, von Bedeutung. Diese Prinzipien und ihr Einfluß auf die Bundesaufsicht sind zu erörtern.
2. Rechtsstaatlichkeit Das Rechtsstaatsprinzip ist für jede Art von Bundesaufsicht von Bedeutung, weil nach Art. 28 Abs. 1 GG, Art. 23 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 und Abs. 3 GG alle staatlichen Maßnahmen rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen müssen, somit auch die Aufsichtsmaßnahmen des Bundes gegenüber den Rechtsakten der Länder. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist ein Element der Rechtsstaatlichkeit. 1 1 9 Aufsichtsmaßnahmen des Bundes müssen verhältnismäßig sein; anderenfalls sind sie rechtswidrig. Verhältnismäßig sind aufsichtliche Rechtsakte, wenn sie einen legalen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sind. 120 Das Merkmal der Erforderlichkeit verlangt, daß der Bund, wenn mehrere geeignete Mittel der Aufsicht zur Verfügung stehen, zuerst das am geringsten in die Selbständigkeit der Länder eingreifende Verfahren wählt. Dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechend sieht das Grundgesetz verschiedene, unterschiedlich stark in die Rechte der Länder eingreifende Aufsichtsverfahren vor, die in einem Stufenverhältnis zueinander stehen.121 Im Rahmen der Bundesaufsicht nach Art. 84 BVerfGE 3, 213 (224); 4, 331 (346); 27, 312 (322); 48, 300 (316); 60, 253 (296); 87, 68 (85); BVerfG NJW 2001, 1053; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 235 f.; H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089 f.; S. Dettenbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 97, Rn. 1; B. Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 1 ff. us Zum Rechtsprechungsmonopol der Richter: Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 4; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 378, 921; H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.) Grundgesetz, Art. 92, Rn. 25. 119 BVerfGE 61, 126 (134); 69, 1 (35); 80, 109 (120); Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 382 ff.; D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 80. ι 2 0 Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und seinen drei Elementen: Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 391 f.; A. Emmerich-Fritsche; Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, S. 150 ff.; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 83 ff.: Geeignetheit bedeutet, daß das benützte Mittel grundsätzlich den gewünschten Erfolg herbeiführen kann. Das Merkmal der Erforderlichkeit verlangt, daß das eingesetzte Mittel, wenn mehrere geeignete, gleichwertige Mittel zur Verfügung stehen, das am wenigsten in die Rechte eines anderen eingreifende Mittel darstellt. Angemessen ist der Eingriff, wenn verfolgtes Ziel und benutztes Mittel nicht in einem krassen Mißverhältnis stehen.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
Abs. 4 GG muß gemäß Satz 1 zunächst der Bundesrat darüber beschließen, ob das Land das Recht verletzt habe, bevor der Bund gemäß Satz 2 die schwerwiegendere Aufsichtsmaßnahme der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts ergreifen darf. Der in Art. 37 GG geregelte Bundeszwang als die stärkste Eingriffsbefugnis darf erst ausgeübt werden, wenn der Bund eine Entscheidung des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG und i m Anschluß daran die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbeigeführt h a t . 1 2 2 Aufsichtsmaßnahmen des Bundes über die Rechtsakte seiner Gliedstaaten müssen des weiteren Rechtssicherheit gewährleisten. 1 2 3 Rechtssicherheit ist eines der Kernelemente der Rechtsstaatlichkeit. 124 Ihr zentraler Gehalt ist die Beständigkeit staatlicher Maßnahmen. 1 2 5 Die Beständigkeit staatlicher Rechtsakte ist die Grundlage des guten Lebens aller in allgemeiner Freiheit. Der Bürger muß auf die Verläßlichkeit staatlicher Maßnahmen vertrauen können, damit er sein Leben planen und ausrichten k a n n . 1 2 6 Ohne Verläßlichkeit ist die Freiheit des Einzelnen gefährd e t . 1 2 7 Als Element des Rechtsstaatsprinzips ist sie objektives R e c h t , 1 2 8 das einzuhalten der Staat verpflichtet ist. Daneben verlangt auch die Widerspruchsfreiheit 121 Auch im gemeinschaftsrechtlichen Vertrags verletzungs verfahren nach Art. 226 EGV spiegelt sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip als ein in allen Rechtsordnungen geltender allgemeiner Rechtsgrundsatz wieder: das schwerere Geschütz der Aufsichtsklage des Art. 226 Abs. 2 EGV ist erst dann zulässig, wenn vorab das mildere, weil weniger in die Recht des Mitgliedstaates eingreifende Mittel des Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV durchgeführt worden ist. 122 So K. A. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in BundLänder-Streitigkeiten, S. 125 ff.; W. Leisner, Der Bund-Länder-Streit vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 272 f.; P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 174; a.A. BVerfGE 7, 367 (372); B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 37, Rn. 3. ™ Zum Element der Rechtssicherheit: BVerfGE 2, 380 (403); 7, 89 (92); 13, 261 (271); 27, 297 (305); 29, 413 (432); 72, 200 (257 f.); 76, 256 (347 f.); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 796 f., 831 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 81 ff.; C. Degenhart, Staatsrecht I, 10. Aufl., 1994, Rn. 296 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 402 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 154 ff.; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 61 ff. μ BVerfGE 76, 256 (347 f.); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 849; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 154. 125 So K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 849; M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 20, Rn. 84. 126 Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 402 ff.; M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Art. 20, Rn. 84. 127 Hierzu: BVerfGE 72, 200 (257 f.); 76, 256 (347 f.); E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 81; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 545 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 402 ff.
™ E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 81; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 402 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 154; zum subjektiven Schutz der Rechtsstaatlichkeit und deren Elemente: BVerfGE 6, 32 (40 f.); 74, 129 (151 ff.); Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 987 f.; speziell zum Element der Rechtssicherheit E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 81, mit Hinweis auf Art. 14 GG.
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der Rechtsordnung die Beständigkeit staatlicher Maßnahmen, schon weil in vielen Fällen staatliche Maßnahmen Grundlage für andere staatliche Rechtsakte s i n d . 1 2 9 Staatliche Maßnahmen dürfen deshalb, selbst wenn sie rechtswidrig sein sollten und das Postulat der Gerechtigkeit eine Korrektur verlangte, nicht beliebig korrigiert werden. 1 3 0 Vielmehr muß jede Korrektur sowohl dem Vertrauensschutz des Bürgers als auch dem Interesse des Staates an beständigen Regelungen Rechnung tragen. 1 3 1 Diese verfassungsrechtlichen Grenzen sind bei der Ausübung der Bundesaufsicht zu beachten. Welche Folgen sich hieraus für die Kontrolle des Bundes über die Rechtsprechung der Länder ergeben, wird i m nächsten Abschnitt erörtert. Föderative Staatsaufsicht ist Ausübung vollziehender Staatsgewalt. 1 3 2 Als solche ist sie in Deutschland nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden (Gesetzmäßigkeit der Verwaltung). 1 3 3 Kernelemente der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sind der Gesetzesvorrang und der Gesetzesvorbehalt. 134 Der Vorbehalt des 129 H. J. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 2001, 588 ff.; auch M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 20, Rn. 84. Staatliche Rechtsakte sind oft genug miteinander verbunden, sei es, daß ein Gesetz Rechtsgrundlage für einen Verwaltungsakt ist, sei es, daß ein Verwaltungsakt aufgrund eines gerichtlichen Urteils erlassen wird. Wenn staatliche Rechtsakte aufgehoben werden, kann dadurch anderen Hoheitsakten die Rechtsgrundlage, ihre Systemverträglichkeit und ihr innerer Grund entzogen werden. 130 Für die verschiedenen Funktionsbereiche folgt hieraus: Rechtswidrige Gesetze, die nicht erkennbar verfassungswidrig sind, müssen von der vollziehenden Gewalt vollzogen werden, bis das betreffende Gesetz vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt oder vom Gesetzgeber aufgehoben worden ist: H. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 388 ff. Fehlerhafte Verwaltungsakte können nur nach Maßgabe des Verwaltungsverfahrensgesetzes berichtigt werden: Nach § 43 Abs. 3 VwVfG sind nichtige Verwaltungsakte im Sinne des § 44 VwVfG unwirksam. Alle anderen fehlerhaften (rechtswidrigen) Verwaltungsakte sind jedoch nach § 43 Abs. 2 VwVfG wirksam, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen oder anderweitig aufgehoben werden Zur Korrektur fehlerhafter Verwaltungsakte: Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 417 ff.; ders./A. Emmerich-Fritsche/M. Kläver/P. Wollenschläger, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 28 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 182 ff. Rechtswidrige Gerichtsentscheidungen schließlich können nur im Rahmen von Rechtsmitteln korrigiert werden: G. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches, Art. 15, S. 116 f.; Κ. A. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Bund-Länder-Streitigkeiten, S. 100; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f. Wenn ein Richterspruch rechtskräftig geworden ist, darf er grundsätzlich nicht mehr berichtigt werden. Darüber hinaus bindet er die Parteien und die öffentliche Gewalt: so BVerfGE 22, 322 (329); 47, 146 (161); Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates S. 151 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 179 f. Seine Aufhebung ist nur unter den engen Voraussetzungen des Instituts der Wiederaufnahme des Verfahrens möglich.
»3i So auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 163 ff. 132 W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 415 f.; hierzu auch H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 126 ff. 135 ff., der staatliche Aufsicht als Gesetzgebung für ausgeschlossen hält, aber davon ausgeht, daß Aufsichtsführung auch in Rechtsprechung bestehen könne. 133 Ausführlich zur Gesetzes- und Grundrechtsbindung der vollziehenden Staatsgewalt: Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 796 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 113 ff.
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Gesetzes verlangt, daß sich jede Maßnahme der vollziehenden Gewalt auf eine gesetzliche Grundlage, eine Befugnisnorm, stützen l ä ß t . 1 3 5 Für das Aufsichtsrecht des Gesamtstaates über seine Gliedstaaten folgt hieraus, daß der Gesamtstaat nur diejenigen Aufsichtsmaßnahmen über die Rechtsakte der Länder ergreifen darf, welche die Gesetze, insbesondere das Verfassungsgesetz, vorsehen. 1 3 6 Aufsichtsmaßnahmen des Bundes über Rechtsakte der Länder, die keine gesetzliche, also keine verfassungsrechtliche Grundlage haben, sind unzulässig.
3. Gewaltenteilige Funktionenordnung Die gewaltenteilige Funktionenordnung 1 3 7 nimmt Einfluß auf die Befugnis des Bundes, Aufsicht über seine Gliedstaaten auszuüben, weil sie das Verhältnis der verschiedenen Funktionsbereiche der Staatsgewalt zueinander regelt. Aufsichtsmaßnahmen sind Rechtsakte der vollziehenden Staatsgewalt. 1 3 8 Als solche müssen sie die in Art. 97 Abs. 1 GG geregelte richterliche Unabhängigkeit wahren, auf die sich auch die Gerichte der Länder gegenüber dem Bund berufen könn e n . 1 3 9 Des weiteren dürfen Aufsichtsmaßnahmen nicht gegen das in Art. 92 134 BVerfGE 40, 237 (248 f.) ; 49, 89 (126 f.); ausführlich hierzu: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 801 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 113 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 104 ff., 107 ff.; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 32 ff., 44 ff. 135 Wegen der Gesetzlichkeit aller Lebensverhältnisse wird in der Literatur gefordert, daß sich jedes Handeln der vollziehenden Gewalt auf eine gesetzliche Grundlage stützen läßt: K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 114 f f ; demgegenüber verlangt die herrschende Meinung nur für Eingriffe in Eigentum und Freiheit eine gesetzliche Grundlage: C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 280 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 140 ff., 216 ff., ist etwas weitergehend und verlangt, daß alle wesentlichen Entscheidungen der vollziehenden Gewalt einer gesetzlichen Grundlage bedürften; siehe auch BVerfGE 6, 32 (42); 8, 71 (76); 20, 150 (157 ff.); 57, 257 (274). 136 Auch für das Aufsichtswesen in der Europäischen Gemeinschaft gilt, daß die Kommission nur diejenigen Aufsichtsmaßnahmen gegen die Mitgliedstaaten ergreifen darf, die vertraglich geregelt sind. Grundlage hierfür ist nicht der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sondern der in Art. 5 Abs. 1 EGV geregelte Grundsatz der begrenzten Ermächtigung. Danach darf die Europäische Gemeinschaft und deren Organe nur im Rahmen der ihr übertragenen Hoheitsrechte handeln. Als solche sind die Aufsichtsbefugnisse nach Art. 226 EGV und Art. 284 EGV zu erwähnen. 137 Zur gewaltenteiligen Funktionenordnung Deutschlands: BVerfGE 9, 268 (279 f.); 67 100 (130); 68, 1 (86); 95, 1 (15); N. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7, Rn. 1 ff.; Κ . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 792 ff.; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 513 ff.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 310 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 170 f., 560 ff., 863 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 180 ff.; AT. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 70 ff. 138 W. Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 415 f.; hierzu auch H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 126 ff. 135 ff. 139 So auch J. Frowein, Die selbständige Bundesaufsicht nach dem Grundgesetz, 1961, S. 18 f.; G. Dux, Bundesrat und Bundesaufsicht, 1963, S. 77 ff.; H. v. Mangoldt, Vom heuti-
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Abs. 1 GG enthaltene Rechtsprechungsmonopol der Gerichte verstoßen. Das heißt: Aufsichtsmaßnahmen dürfen nicht rechtsprechender Natur sein, die ihnen aber insbesondere dann zukäme, wenn sie abschließend Recht klären würden. Das Grundgesetz trägt diesem Postulat insofern Rechnung, als es allgemein gemäß Art. 84 Abs. 4 S. 2 GG die Letztentscheidung über Mängel bei der Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder dem Bundesverfassungsgericht vorbehält. Wie sich die gewaltenteilige Funktionenordnung auf eine Kontrolle des Bundes über die Rechtsprechungsakte der Länder auswirkt, ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.
4. Staatlichkeit der Länder Maßgeblich für die Durchsetzung der Aufsichtsmaßnahmen des Bundes gegenüber den Ländern ist die verfassungsrechtliche Ausprägung der bundesstaatlichen Ordnung. Hierbei ist insbesondere die Frage nach der Staatlichkeit der Länder von Bedeutung. Wie dargestellt leiten internationale Organisationen hoheitliche Befugnisse von ihren Mitgliedstaaten (Vertragsstaaten) ab. Ihre Aufsichtsrechte reichen somit nur soweit, wie ihnen die Vertragsstaaten Hoheitsrechte übertragen haben. 140 Sind Hoheitsrechte nicht übertragen worden, ist die internationale Organisation nicht berechtigt, Aufsicht über die Vertragsstaaten auszuüben, was gleichermaßen für die Begründung von Aufsichtsbefugnissen als auch für deren zwangsweise Durchsetzung gilt. Im Unterschied hierzu können in Bundesstaaten die Aufsichtsbefugnisse des Bundes über die Länder wesentlich weitreichender sein, wie das Beispiel Deutschland zeigt: Aufsichtsgegenstand der Bundesaufsicht nach Art. 84 Abs. 3 und Abs. 4 GG etwa ist die gesamte Ausführung aller von den Ländern zu vollziehender Bundesgesetze. Weiterhin sind die Länder, aber auch der Bund, der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts unterworfen. Nach § 35 Hs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen bestimmen, wer sie vollstreckt. 141 Nach § 35 Hs. 2 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall sogar die Art und Weise der Vollstreckung regeln. Schließlich hat der Bund nach Art. 37 GG das Recht, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um das betreffende Land zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. 1 4 2 Wenn und weil eines der wesentlichen Elemente der Staatlichkeit die Befuggen Standort der Bundesaufsicht. Sinn und Möglichkeit einer Bundesaufsicht unter dem Grundgesetz, S. 75; Κ. A. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Bund-Länder-Streitigkeiten, S. 100. 140 So auch /. Seidl-Hohenveldern/G. Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, Rn. 1536; E. Klein, Die Internationalen und Supranationalen Organisationen als Völkerrechtssubjekte, Rn. 188,; V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rn. 6. 141 G. Roellecke, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992, § 35, Rn. 11 ff.; Η Bethge, in: Maunz / SchmidtB leibtreu/ Klein /ders., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2000, § 35, Rn. 70 ff.
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nis des Staates, die Rechtlichkeit zu erzwingen, ist 1 4 3 oder, wie es Kant formuliert hat: Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist, 1 4 4 läßt sich für Deutschland aufgrund der genannten Zwangsbefugnis des Bundes über die Länder festhalten, daß die Aufsichtsrechte des Bundes über die Länder sehr weitreichend sind, weil der Gesamtstaat, der Bund, das Recht hat, Aufsichtsmaßnahmen, unter Mitwirkung der Länder im Bundesrat und nach Rechtserkenntnis durch das Bundesverfassungsgericht, auch gegen den Willen der Länder, zwangsweise durchzusetzen.
II. Aufsicht des Bundes über die Gerichte der Länder 1. Auslegung und Anwendung von Bundesrecht durch die Gerichte der Länder als Ausgangspunkt Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist in Deutschland die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden ist. Art. 97 Abs. 1 GG formuliert, daß die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind. Obwohl das Grundgesetz Bundesrecht ist, fällt unter die Begriffe „Rechtsprechung" und „Gerichte" im Sinne der genannten Normen nicht nur die rechtsprechende Tätigkeit von Bundesorganen, sondern jede staatliche Rechtsprechungstätigkeit und jedes staatliche Gericht Deutschlands, wie Art. 92 GG erweist. Die Vorschrift hält diesbezüglich fest, daß die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist und daß sie, die rechtsprechende Gewalt, durch das Bundesverfassungsgericht, durch die im Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt wird. 1 4 5 In der gewaltenteiligen Funktionenordnung des Grundgesetzes sind somit sowohl die Gerichte des Bundes als auch die Gerichte der Länder verpflichtet, die Gesetze des Bundes auszulegen und anzuwenden.146 Die Auslegung und die Anwendung der Bundesgeset142 Η. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht, S. 71, 73; K. A. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Bund-Länder-Streitigkeiten, S. 125 ff.; B. Pieroth, in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz, Art. 37, Rn. 3. 143 K. A. Schachtschneider, Res publica, res populi, S. 545 ff.; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Volker Europas, S. 75 (81 f.). 144 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338 f.; hierzu ausführlich K. A. Schachtschneider, Res publica, res populi, S. 553 ff.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 43 ff.; A Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht, S. 123 ff. 145 Allgemein hierzu: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 686 ff.; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 92, Rn. 1; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 16; auch B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 1, 9, der Art. 92 Hs. 2 GG als lex specialis zu der föderalen Grundnorm des Art. 30 GG versteht. 14 6 So etwa K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 690; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 107 ff. Nach Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG sind die Gerichte der Länder bei der Auslegung und Anwendung der Bundesgesetze an Gesetz und Recht gebunden. Sie genießen den in Art. 97 Abs. 1 GG verankerten Schutz der richterlichen Unabhängigkeit.
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ze durch die Gerichte der Länder bildet den Hauptfall richterlicher Tätigkeit in Deutschland, wie folgende Beispiele erweisen: Zivilrechtliche Streitigkeiten werden größtenteils von den (ordentlichen) Gerichten der Länder (Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte) anhand der Bundesgesetze des Bürgerlichen Gesetzbuches und/oder des Handelsgesetzbuches entschieden.147 Die Verwaltungsgerichte der Länder (Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte) beurteilen die Rechtmäßigkeit zahlreicher behördlicher Entscheidungen anhand von Bundesgesetzen, etwa der Gewerbeordnung oder dem Atomgesetz. Die strukturellen Voraussetzungen der (abhängigen) Bundesaufsicht, nämlich, daß Ämter der Gliedstaaten: die Gerichte der Länder, Gesetze des Gesamtstaates ausführen, 148 genauer: auslegen und anwenden, lassen sich somit für den Funktionsbereich der rechtsprechenden Gewalt feststellen, mit der Folge, daß man den Bund für berechtigt halten könnte, Aufsicht über diejenigen Rechtsprechungsakte der Gerichte der Länder auszuüben, die sich auf Bundesgesetze stützen. Unter Außerachtlassung seiner systematischen Stellung könnte Art. 84 Abs. 3 GG als Kontrollbefugnis in Betracht gezogen werden; denn der Wortlaut der Vorschrift würde zu bedenken geben, ob unter dem Begriff „ A u s f ü h r u n g " auch die Auslegung und Anwendung der Bundesgesetze durch die Gerichte der Länder zu verstehen ist. Ein solches Aufsichtsrecht des Bundes über die Gerichte der Länder müßte allerdings den anderen Strukturmerkmalen und Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung entsprechen, insbesondere der gewaltenteiligen Funktionenordnung, dem Rechtsstaatsprinzip und der grundgesetzlich gebotenen Rechtsprechungseinheit.149
2. Aufsicht und gewaltenteilige Funktionenordnung Aufsichtsmaßnahmen des Gesamtstaates über seine Gliedstaaten müssen dem Prinzip der gewaltenteiligen Funktionenordnung und -trennung (Gewaltenteilung) entsprechen. Dieses Prinzip der Ausgestaltung der Staatsgewalt verlangt, daß die staatliche Gewalt in unterschiedliche Funktionen unterteilt ist: nämlich in die Gesetzgebung, in die vollziehende Gewalt und in die Rechtsprechung (Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 2, Abs. 3 GG). 1 5 0 Darüber hinaus sollen die drei Funktionen von 147 Etwa ein Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 1 BGB wegen unerlaubter Handlung oder ein Zahlungsanspruch aus Kaufvertrag gemäß § 433 Abs. 2 BGB. 148 Zum Ausführungsbegriff: H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 372 ff.; H. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht, S. 47 ff.; P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 84, Rn. 146 ff. 149 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 690; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 107. 150 BVerfGE 2, 1 (13); 3, 225 (247); 5, 85 (140); 7, 183 (188); 22, 106 (111); 67, 100 (130); 68, 1 (86); 95, 1 (15); so bereits Aristoteles, Politik, S. 1298 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 513 ff.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 310 ff., 319 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 180 ff.
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unterschiedlichen Organen ausgeübt werden. 1 5 1 In Art. 20 Abs. 2 S. 2 nennt das Grundgesetz deshalb drei Arten von Staatsorganen: Organe der Gesetzgebung, Organe der vollziehenden Gewalt und Organe der Rechtsprechung. Ziel der gewaltenteiligen Funktionenordnung ist es, despotische Machtverhältnisse zu verhindern. Das höchste Rechtsgut des Staates, die Freiheit seiner Bürger, soll geschützt werden, 1 5 2 indem sich die verschiedenen Staatsorgane gegenseitig mäßigen und kontrollieren. Die gewaltenteilige Funktionenordnung manifestiert sich in materieller, 153 organisatorischer 154 und persönlicher H i n s i c h t . 1 5 5 Allerdings finden sich bereits i m Grundgesetz zahlreiche Durchbrechungen der Funktionentrennung, insbesondere für die vollziehende und die gesetzgebende G e w a l t , 1 5 6 was die Lehre mit dem Argument der Effizienz und der Handlungsfähigkeit rechtfertigt. 1 5 7 I m Kernbereich der Funktionen sind Durchbrechungen unzulässig. Das Bundesverfassungsgericht hat diesbezüglich formuliert, daß der Kernbereich der verschiedenen Funktionen unantastbar s e i . 1 5 8 Die Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt besteht nach der gewaltenteiligen Funktionenordnung des Grundgesetzes in der verbindlichen Rechtsklärung von 151 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 795. 152 So ausdrücklich BVerfGE 3, 225 (247); 67, 100 (130); 95, 1 (15); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 527 ff.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 317 f.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates S. 181 ff. 153 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 795; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 24, der allerdings in diesem Zusammenhang von der funktionellen Gewaltenteilung spricht. 154 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 795; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 24. Die organisatorische Funktionentrennung erfordert, daß das jeweilige Staatsorgan unabhängig und ohne Beeinflussung durch andere Staatsorgane seine Aufgaben wahrnehmen kann. Art. 97 Abs. 1 GG formuliert deshalb für die rechtsprechende Gewalt, daß die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind. 155 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 795 f.; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. Π, S. 909, speziell für die Rechtsprechung; M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 20, Rn. 57. Die personelle Funktionentrennung verbietet, daß Organwalter eines Funktionsbereichs gleichzeitig Organwalter eines anderen Funktionsbereichs sind (Grundsatz der Inkompatibilität: hierzu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 795 f.; 359 ff.). § 4 Abs. 1 Deutsches Richtergesetz (DRiG) sieht deshalb vor, daß ein Richter Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt und Aufgaben der gesetzgebenden oder der vollziehenden Gewalt nicht zugleich wahrnehmen darf: K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 189 ff. 156 BVerfGE 3, 225 (247 f.); 95, 1 (15 ff.); R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 322 ff. Beispielhaft seien hier genannt: Die Befugnis der Regierung, Rechtsordnungen zu erlassen (Art. 80 Abs. 1 GG), richterliche Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit als verwaltende Tätigkeit, die Vereinigung von Bundestagsmandat und Ministerposition in der Person von Politikern. 157 So etwa E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: HVerfR, § 17, Rn. 41. 158 BVerfGE 3, 225, (247 f.); 34, 52 (59); 95, 1 (15); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 909, der für die Rechtsprechung eine „konsequente Verwirklichung der Funktionenordnung und -trennung" verlangt.
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Rechtsstreitigkeiten, zivilrechtlichen wie öffentlich-rechtlichen, 159 in der Rechtsgewährleistung 160 und in der Kontrolle der öffentlichen Gewalt. 161 Um zu gewährleisten, daß die Gerichte diese Aufgabe wirksam erfüllen, sieht das Grundgesetz verschiedene institutionelle Sicherungen vor: 1 6 2 Zu nennen sind vor allem das in Art. 92 GG verankerte Monopol der Gerichte zur staatlichen Rechtsprechung, die sachliche, aber auch die persönliche Unabhängigkeit der Richter in Art. 97 GG und die organisatorische Selbständigkeit der Gerichte. 163 Den Gerichten können, wie allen anderen Staatsorgane auch, Fehler bei der Wahrnehmung ihrer durch das Verfassungsgesetz zugewiesenen Aufgaben unterlaufen, indem sie rechts- und/ oder gesetzeswidrige Entscheidungen treffen. Es liegt deshalb gleichermaßen im Interesse der Allgemeinheit wie des Bürgers, Richtersprüche einer Überprüfung zu unterziehen.
a) Aufsicht durch die gesetzgebende Gewalt?
Das Verhältnis der gesetzgebenden zur rechtsprechenden Gewalt wird durch die Verfassungsnormen des Art. 20 Abs. 3 GG, des Art. 97 Abs. 1 GG und durch Art. 1 Abs. 3 GG bestimmt. Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden.164 Nach Art. 97 Abs. 1 GG sind die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. 165 Art. 1 Abs. 3 GG schließlich bindet die rechtsprechende Gewalt an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht. Inhalt der Gesetzesbindung ist die Pflicht der Gerichte, die einschlägigen Vorschriften auszulegen und anzuwenden.166 Gesetz und Recht müssen der alleinige Entscheidungsmaßstab richterlichen Handelns sein. 167 159 BVerfGE 7, 183 (188 f.); 31, 43 (46); 60, 253 (269 f.); BVerfG NJW 2001, 1048 (1053); Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2775; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 f. 160
Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 121 ff., 146 ff. 161 BVerfG, NJW 2001, 1052; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 320; T. Maunz/R . Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 360; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 842, der zu Recht die öffentlich-rechtliche Gerichtsbarkeit als Hauptaufgabe der rechtsprechenden Gewalt sieht. 162 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 843 f. 163 BVerfGE 27, 312 (321); 54, 159 (166); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 844 ff.; H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 27. 164 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 894 ff.; W. Heyde, Rechtsprechung, in: HVerfR, § 33, Rn. 92 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. S. 874 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 187, 270 ff. 165 Grundsätzlich zur Gesetzes- und Rechtsbindung der Gerichte: Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 538 ff., 820 ff., 870 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 894 ff. 166 So Μ Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 20, Rn. 73. 167 So E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 66. 14 Wollenschläger
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Der Gesetzgeber vermag als dasjenige Staatsorgan, welches die Gesetze gibt, Einfluß auf die rechtsprechende Gewalt dergestalt zu nehmen, daß er den Maßstab der richterlichen Entscheidung, das Gesetz, erläßt. Die in Art. 97 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG normierte Gesetzesbindung der Richter bewirkt, daß die Gerichte verpflichtet sind, die Gesetze auszulegen und anzuwenden. Dies schließt die Möglichkeit für den Gesetzgeber ein, neue Gesetze erlassen und so einen neuen Entscheidungsmaßstab für die Gerichte zu schaffen. Gesetzgebung ist jedoch keine aufsichtliche Maßnahme, wie sie in Kapitel 1 definiert worden ist. Gegen eine solche Einordnung spricht erstens, daß sich Gesetze, im Unterschied zu Aufsichtsmaßnahmen, nicht auf einzelne Rechtsakte beziehen, sondern gemäß Art. 19 Abs. 1 GG allgemein sein müssen, das heißt abstrakt: einen nicht bestimmten Lebenssachverhalt regelnd, und generell: für eine unbestimmte Anzahl von Personen geltend. 168 Zweitens ist die zeitliche Wirkung der Gesetze zu sehen. Gesetze treten mit ihrer Verkündung in Kraft. Sie wirken normalerweise für die Zukunft; 169 rückwirkende Gesetze sind nur ausnahmsweise zulässig. 1 7 0 Aufsichtsmaßnahmen jedoch greifen einen Rechtsakt auf, der in der Vergangenheit erlassen worden ist. Drittens verbietet es die richterliche Unabhängigkeit dem Gesetzgeber, den Gerichten Anordnungen, etwa durch ein Einzelgesetz, dahingehend zu erteilen, wie Rechtssachen zu entscheiden sind. 171 Es bleibt somit festzuhalten, daß der Gesetzgeber zwar den Maßstab der richterlichen Entscheidung, das Gesetz, gibt, daß durch Gesetzgebung aber richterliche Entscheidungen nicht überprüft werden können.
b) Aufsicht durch die vollziehende Gewalt?
Während der Gesetzgeber Einfluß auf die rechtsprechende Gewalt nehmen kann, weil er durch die von ihm erlassenen Gesetze den Maßstab der richterlichen Entscheidung vorgibt, verbietet die in Art. 97 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich ver168 BVerfGE 14, 371 (390 ff.); H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 231 ff.; Κ Α. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2774; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 894; kritisch zu diesem Begriffspaar: Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 213 ff. 169 BVerfGE 53, 224 (253 f.); 63, 152 (175); 72, 175 (196); Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 405 f.; Κ Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 163 ff. no BVerfGE 7, 129 (152); 30, 392 (401); 97, 67 (79); 101, 239 (262); 102, 68 (96 ff.); Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 413 ff., mit ausführlicher Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. πι BVerfGE 12, 67 (71); 38, 1 (21); Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 912; H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1090; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 5; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 97, Rn. 5, der als mögliche, die Unabhängigkeit beeinflussende Mittel Maßnahmen informeller Art als auch schlichte Parlamentsbeschlüsse oder Einzelfallgesetze nennt.
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ankerte Unabhängigkeit der Gerichte jede Einflußnahme der vollziehenden auf die rechtsprechende Staatsgewalt. 1 7 2 Die richterliche Unabhängigkeit soll gewährleisten, daß der Bürger gegen Rechtsakte des Staates einen objektiven und neutralen Schutz durch die Staatsorgane „Gerichte" erhält, 1 7 3 indem jede Einwirkung durch die Organe der vollziehenden Gewalt auf die gerichtliche Entscheidungsfindung verboten ist. Behördliche oder ministerielle Einzelanweisungen gegenüber den Richtern, 1 7 4 wie ein Rechtsstreit zu entscheiden sei, sind deshalb genauso rechtswidrig wie Verwaltungsvorschriften, 175 sonstige exekutiven Handlungen oder (berichtigende) Aufsichtsmaßnahmen der Exekutive über die rechtsprechende Gewait.176 In zeitlicher Hinsicht ist zu beachten, daß die richterliche Unabhängigkeit nicht nur Maßnahmen ausschließt, die von der Exekutive während eines Gerichtsverfahrens ergriffen werden. 1 7 7 Die richterliche Unabhängigkeit verbietet auch Maßnahmen, welche die vollziehende Gewalt vor Klageerhebung und / oder nach Erlaß des Richterspruchs mit dem Ziel erläßt, Einfluß auf die rechtsprechende Gewalt zu nehmen. Durch das verfassungsrechtliche Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) soll sichergestellt werden, daß die vollziehende Gewalt keinen Einfluß vor Beginn des gerichtlichen Verfahrens nehmen kann, etwa indem 172 BVerfGE 3, 213 (224); 4, 331 (346); 27, 312 (322); 48, 300 (316); 60, 253 (296); 87, 68 (85); BVerfG NJW 2001, 1053; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 13 ff.; K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2779, 2796; ders., Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 49 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 907 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 874 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 235 f.; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 1. 173 BVerfGE 60, 253 (296); H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089 f.; S. Dettenbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 97, Rn. 1; B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 1; Art. 20, Rn. 89. 174 BVerfGE 14, 56 (69); 26, 186 (198); 31, 137 (140); 60, 175 (214). In erstzitierter Entscheidung führt das Bundesverfassungsgericht aus: „Nach Art. 97 Abs. 1 GG müssen Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sein. Die so umschriebene sachliche Unabhängigkeit ist gewährleistet, wenn der Richter seine Entscheidungen frei von Weisungen fällen kann"; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 912; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 97, Rn. 6; B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 3. 175 So BVerfGE 26, 79 (93); 55, 372 (389). 176 So auch J. Frowein, Die selbständige Bundesaufsicht nach dem Grundgesetz, S. 18 f.; G. Dux, Bundesrat und Bundesaufsicht, S. 77 ff.; H. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht. Sinn und Möglichkeit einer Bundesaufsicht unter dem Grundgesetz, S. 75; K. A. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Bund-LänderStreitigkeiten, S. 100. 177 Hierzu zählen neben der Entscheidungsfindung auch alle vorbereitenden und nachfolgende Sach- und Verfahrensentscheidungen, wie die Terminbestimmung, die Beweiserhebung oder die Unterschrift unter das Urteil: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 912; H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1090; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 97, Rn. 6; B. Pieroth, in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 3.
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sie vorschreibt, wie das Gericht zu besetzen ist. Das Recht auf den gesetzlichen Richter verlangt deshalb, daß die gerichtliche Zuständigkeit durch die Geschäftsordnung der Gerichte im voraus abstrakt-generell festgelegt ist. 1 7 8 Eine Richterbestellung „ad hoc und ad personam" ist unzulässig.179 Das verkündete Urteil wird, auch solange es noch nicht in Rechtskraft ergangen ist, vor Maßnahmen der vollziehenden Gewalt dadurch geschützt, daß es nur im Rahmen der Gerichtsbarkeit korrigiert werden kann. 180 In Rechtskraft ergangene Urteile sind verbindlich und nur in Ausnahmefällen können Verfahren nach Rechtskraft wieder aufgegriffen werden. 181 Berichtigende Aufsichtsmaßnahmen der vollziehenden Gewalt über rechtskräftige Richtersprüche sind somit unzulässig.182 Aufsichtsmaßnahmen von Bundesbehörden über Rechtsprechungsakte der Länder verstoßen jedoch nicht nur gegen die richterliche Unabhängigkeit des Art. 97 Abs. 1 GG, sondern mißachten gleichfalls das in Art. 92 GG verankerte Rechtsprechungsmonopol der Gerichte. 183 Nach Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt des Staates (ausschließlich) den Richtern anvertraut. 184 Nur diese sind berechtigt, rechtsprechende Staatsgewalt auszuüben. Maßnahmen anderer Staatsorgane dürfen somit nicht rechtsprechender Natur sein. Wenn die Organe der vollziehenden Gewalt im Rahmen eines Aufsichtsverfahrens das Recht hätten, die Rechtmäßigkeit von Richtersprüchen zu beurteilen und diese gegebenenfalls auch zu berichtigen, ohne daß hiergegen ein Rechtsmittel zu einem Gericht eingelegt werden könnte, würden sie letztverbindlich über staatliche Maßnahmen entscheiden. Mit anderen Worten: sie würden Recht sprechen und nähmen eine staatliche Aufgabe wahr, die nach dem Grundgesetz ausschließlich den Gerichten zugewiesen ist. 1 8 5 Aufsichtsmaßnahmen von Bundesbehörden über Rechtsprechungsakte der Länder wären 178 BVerfGE 4, 412 (416); 6, 45 (50 f.); 24, 33 (54 f.); 63, 77 (79); 82, 159 (194); 82, 286 (298); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 916; B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 101, Rn. 4, 9 f. 179 BVerfGE 82,159 (194); B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 101, Rn. 10. 180 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f. 181 K. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 277 ff. (311 ff.); ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff., 156 ff. 182 So auch J. Frowein, Die selbständige Bundesaufsicht nach dem Grundgesetz, 1961, S. 18 f.; Η. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht. Sinn und Möglichkeit einer Bundesaufsicht unter dem Grundgesetz, S. 75; K. A. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Bund-Länder-Streitigkeiten, S. 100. 183 Zum Rechtsprechungsmonopol der Richter: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. Π, S. 378, 893 f., 921; K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 4; H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.) Grundgesetz, Art. 92, Rn. 25; Η Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 13. 184 Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 230 f. 185
So auch Κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 290 f.
Β. Aufsicht in der föderativen Republik am Beispiel Deutschlands
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deshalb unzulässig, wenn sie letztverbindlich die Rechtmäßigkeit der Entscheidung eines Landesgerichtes klärten. Hiervon zu unterscheiden sind Maßnahmen der vollziehenden Gewalt, die nur beobachtenden Charakter haben oder den Zweck verfolgen, gerichtliche Entscheidungen überprüfen zu lassen. Solche Maßnahmen sind verfassungsrechtlich unbedenklich: Im erstgenannten Fall wirken die Behörden in keiner Weise auf den Richterspruch ein, sie können somit auch nicht die richterliche Unabhängigkeit verletzen. 186 Im zweitgenannten Fall klären die Behörden nicht letztverbindlich Recht, weil nicht sie, sondern das angerufene Amt, notwendigerweise ein Gericht, den Richterspruch überprüft und, dessen Rechtswidrigkeit vorausgesetzt, kassiert. 187 Ein Verstoß gegen das Rechtsprechungsmonopol der Gerichte seitens der Behörden läßt sich in diesen Fällen nicht feststellen.
c) Aufsicht durch die Rechtsprechung
In den vorangehenden Ausführungen wurde aufgezeigt, daß die Organe der vollziehenden und der gesetzgebenden Gewalt nicht befugt sind, Richtersprüche zu kassieren. Im Unterschied hierzu schließt die gewaltenteilige Funktionenordnung eine Kassation gerichtlicher Entscheidungen durch die Rechtsprechung nicht aus. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß Gerichtsentscheidungen von anderen Gerichten auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft und, gegebenenfalls, berichtigt werden. 188 Das in Art. 92 GG verankerte Monopol der Gerichte zur staatlichen 186 H. Triepel, Die Reichsaufsicht, S. 498 f., weist darüber hinaus darauf hin, daß erstens das Wissen der Gerichte um die Beobachtung durch die vollziehende Gewalt, aber auch durch die Gesetzgebung, zu qualitativeren Gerichtsentscheidungen führen dürfte. Zweitens dürfte der Gesamtstaat ein Recht auf Kenntnis der landesgerichtlichen Rechtsprechungsakte, die ihre Grundlage im Bundesrecht finden, haben; denn aus den Urteilen der Gerichte der Gliedstaaten lassen sich für den Gesamtstaat wertvolle Erkenntnisse gewinnen, die er benötigt, um wirkungsvoll Aufsicht über die Bundesgesetze vollziehenden Verwaltungsbehörden auszuüben. 187
Aus gewaltenteiliger und bundesstaatlicher Sicht ist es vielmehr erforderlich, daß Organe der vollziehenden Gewalt, Gerichtsverfahren einleiten, um die Rechtmäßigkeit von Richtersprüchen überprüfen zu lassen - etwa die Staatsanwaltschaft gegen Strafrechtsurteile oder die Landesanwaltschaft als Vertreterin des öffentlichen Interesses gegen Urteile der Verwaltungsgerichte, weil Gerichte wegen ihrer verfassungsrechtlich gebotenen Neutralität und Objektivität nicht das Recht haben, von sich aus Gerichtsverfahren einzuleiten (ne eat judex ex officio): K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 895; K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 35. 1 88 So auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 897, der prägnant formuliert, daß Akte der Rechtsprechung von keiner anderen Staatsgewalt überprüfbar seien als der richterlichen; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 872; ders., Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 290 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 297 f., 303 f.; K. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2786.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
Rechtsprechung steht einer Überprüfung der Gerichte durch Gerichte nicht entgegen, weil Gerichte berechtigt sind, letztverbindlich über die Rechtmäßigkeit des in Frage stehenden Richterspruchs zu entscheiden. 1 8 9 Auch das Postulat der richterlichen Unabhängigkeit schließt eine gerichtliche Überprüfung von Richtersprüchen dem Grunde nach nicht aus. Allerdings ergeben sich aus Art. 97 Abs. 1 GG wesentliche Einschränkungen. Die Unabhängigkeit des Richters nach Art. 97 Abs. 1 GG ist auch von der rechtsprechenden Gewalt zu beachten. 1 9 0 Der Judikative ist es demzufolge genauso wie der Legislative und der Exekutive verboten, auf laufende Gerichtsverfahren einzuwirken, weil nach Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG allein Recht und Gesetz der Entscheidungsmaßstab des urteilenden Richters sein sollen. 1 9 1 Gerichte sind jedoch nicht unfehlbar. Sie können fehlerhafte Urteile erlassen, indem sie rechts- und / oder gesetzeswidrig entscheiden. Materielle Gerechtigkeit gebietet eine Kontrolle der Richtersprüche. Rechtsinstrument hierfür sind die Rechtsmitt e l , 1 9 2 die es den Verfahrensparteien erlauben, Gerichtsentscheidungen durch ein 189 Von der Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Kontrolle richterliche Entscheidungen durch die rechtsprechende Gewalt ist die Frage zu unterscheiden, ob aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Rechtsschutz gegen Gerichtsentscheidungen folgt. Das Bundesverfassungsgericht und die Lehre haben einen solchen Anspruch verneint: BVerfGE 28, 21 (36); 54, 277 (291); 58, 208 (231 f.); 65, 76 (90); 96, 106 (114 f.); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 849; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 146 ff.; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 19, Rn. 31. Das Bundesverfassungsgericht führt in BVerfGE 54, 291 zu dieser Frage wörtlich aus: „Aus dem Rechtsstaatsprinzip ist auch für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinn die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes abzuleiten. Dieser muß die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des Streitgegenstandes und eine verbindliche Entscheidung durch den Richter ermöglichen. Eine Gewährleistung von Rechtsmittelzügen durch das Grundgesetz folgt indes hieraus nicht. Wenn die Prozeßordnungen den Verfahrensparteien dennoch die Befugnis verleihen, gegen die meisten Gerichtsurteile Rechtsmittel einzulegen, dann beruht diese Tatsache auf der Erkenntnis, daß gegen Gerichtsurteile gerichtete Rechtsmittel eine größere Einzelfallgerechtigkeit zu gewährleisten vermögen und Garant für die Einheit der Rechtsprechung sind (Art. 95 Abs. 3 GG).4' Als weiterer Gesichtspunkt ist zu erwähnen, daß der Rechtsmittelzug das Bundesverfassungsgericht entlastet, weil rechts- und zugleich verfassungswidrige Gerichtsentscheidungen unterinstanzlicher Gerichte oft schon von den höheren Fachgerichten berichtigt werden und sich damit der Weg zum Bundesverfassungsgericht erübrigt. 190 BVerfG NJW 1996, 2149 ff.; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 34, weist zu Recht darauf hin, daß die Unabhängigkeit des Richters nicht nur gegenüber anderen Gerichten bestehen muß, sondern auch gegenüber anderen Kammern desselben Gerichts; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 912; H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089 ff.; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 97, Rn. 7 f.; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 5.
191 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 912. 192 Zum Begriff des Rechtsmittels: O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 251; J. Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 55. Aufl. 1997, Grundzüge § 511, Rn. 1, definieren wie folgt: „Rechtsbehelf ist jedes prozessuale Mittel zur Verwirklichung eines Rechts. Es kann das erste Mittel sein, wie die Klage, oder ein späteres, wie
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höherrangiges Gericht auf seine Gesetz- und Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen. Charakteristisch für Rechtsmittel ist zum einen, daß sie nicht von den Gerichten selbst, sondern von den Verfahrensparteien und/oder durch einen Vertreter des öffentlichen Interesses eingeleitet werden. Die Rechtsmittelgerichte haben demgemäß zwar die Befugnis, Gerichtsentscheidungen zu kontrollieren und gegebenenfalls aufzuheben, sie dürfen aber die Kontrolle nicht selbst initiieren. 193 Rechtsmittel sind zum anderen dadurch gekennzeichnet, daß Gegenstand des Rechtsmittels eine bereits erlassene Entscheidung eines Richters ist. Eingriffe in laufende Verfahren sind wegen der Unabhängigkeit der Gerichte ausgeschlossen, weil, wie bereits ausgeführt, Entscheidungsmaßstab des Richters allein Recht und Gesetz sein sollen. Zusammenfassend läßt sich somit festhalten: Ordentliche wie außerordentliche Rechtsmittel, zu letztgenannten zählt auch die Verfassungsbeschwerde, sind der einzige Weg, Erkenntnisfehler der Gerichte zu korrigieren. 194 Berichtigungen gerichtlicher Entscheidungen außerhalb von Rechtsmittelverfahren sind unzulässig.
3. Aufsicht und Rechtsstaatlichkeit Rechtssicherheit ist eines der wichtigsten Elemente der Rechtsstaatlichkeit.195 Ihre wesentlichen Bestandteile sind die Vorhersehbarkeit /Berechenbarkeit staatlicher Rechtsakte und deren Beständigkeit; 196 denn nur beständige Rechtsakte vermeiden zum einen Widersprüchlichkeiten des Staatshandelns und erlauben es dem Einspruch". Ordentliche Rechtsmittel sind die Berufung, die Revision und die Beschwerde. Sie setzen die gerichtliche Rechtsstreitigkeit mit gleichbleibendem Streitgegenstand fort: L Rosenberg /Κ. H. Schwab/R Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 800. Sie zeitigen folgende Wirkungen: Die Einlegung des Rechtsmittels hemmt erstens den Eintritt der Rechtskraft der angefochtenen richterlichen Entscheidung (Suspensiveffekt). Zweitens trägt das Rechtsmittel den Rechtsstreit in eine höhere Instanz (Devolutiveffekt). Schließlich wird die angefochtene Entscheidung, wenn das Rechtsmittel zulässig ist, inhaltlich überprüft: O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 251 ff.; L. Rosenberg/K. H. Schwab/P. Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 800 f.; J. Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, Grundzüge §511, Rn. 2 ff. 193 Κ. A. Bettermann, Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, S. 2779,2786. 194 H. Triepel, Die Reichsauf sieht, S. 494 ff.; R. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches, Art. 15, S. 116 f.; Κ. A. Schachtschneider, Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Bund-Länder-Streitigkeiten, S. 100; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 299 f., 303 f. 195 BVerfGE 72, 200 (257 f.); 76, 256 (347 f.); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 796, 849; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 402 ff. 196 BVerfGE 2, 380 (403); 7, 89 (92); 13, 261 (271); 27, 297 (305); 29, 413 (432); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 849; M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 20, Rn. 84.; Sobota, S. 154 ff.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
Bürger zum anderen, sein Leben in Freiheit zu planen. 197 Als staatliche Rechtsakte müssen Richtersprüche deshalb, wie alles andere staatliche Handeln auch, beständig sein. Darüber hinaus ist die Beständigkeit der Richtersprüche noch aus spezifischen, in der Funktion der rechtsprechenden Gewalt liegenden Gründen erforderlich: Die Gerichte können ihre Aufgabe, verbindlich Rechtsstreitigkeiten zu klären und dadurch Rechtsfrieden zu schaffen, 198 nur dann wirksam wahrnehmen, wenn ihre Entscheidungen beständig sind. 199 Abänderbare Gerichtsurteile vermögen nicht, Rechtsfrieden zu garantieren. Rechtssicherheit durch Richtersprüche wird in der Hauptsache durch zwei Rechtsinstitute gewährleistet: 200 durch den Grundsatz der formellen / materiellen Rechtskraft 201 und durch das verfassungsrechtliche Gebot prozessualer Fristen, 202 binnen derer sich die Parteien eines Gerichtsverfahrens gegen eine ihrer Auffassung nach rechtswidrige Gerichtsentscheidung wenden müssen. Beide Rechtsinstitute, die Rechtskraft wie das Gebot prozessualer Fristen, schränken die Möglichkeit, rechts- und gesetzeswidrige Gerichtsentscheidungen zu korrigieren, in erheblichem Umfang ein.
a) Formelle und materielle Rechtskraft
Das Prinzip der Rechtskraft hat eine formelle und eine materielle Seite. 203 Formelle Rechtskraft bedeutet, daß das Urteil für dasselbe Verfahren unabänderlich 197 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 81; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 402 ff.; M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 20, Rn. 84. 198 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 82; Κ Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 174 ff. 199 Zum Rechtsfrieden durch richterliche Autorität: A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 401; Κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 277 f., 290; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 153 ff. 200 So das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 20. April 1982, BVerfGE 60, 253 (269 f.). 2 i Grundsätzlich zur Rechtskraft: BVerfGE 2, 380 (403 ff.); 22, 322 (329); 47 146 (162); BVerfG NJW 2001, 1052; O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 221 ff.; L. Rosenberg/K. H. Schwab/P. Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 908 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 849; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; ders./A. Emmerich-Fritsche/M. Kläver/P. Wollenschläger, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 41 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 179 ff.; P. Hartmann, in: Baumbach /Lauterbach/ Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, Einführung vor § 322, Rn. 1 ff. 2 2 BVerfGE 60, 253 (269 ff.); E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 82. 203 Κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 289, ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 179 f.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7.
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ist; insbesondere können keine Rechtsmittel mehr eingelegt werden. 204 Gerichtsurteile, gegen welche die jeweilige Prozeßordnung Rechtsmittel zuläßt, ergehen nach Ablauf der Rechtsmittelfrist oder wenn beide Parteien auf Rechtsmittel verzichtet haben in formeller Rechtskraft. 205 Gerichtsurteile, gegen welche die Rechtsordnung keine Rechtsmittel vorsieht, sind bereits mit ihrem Erlaß formell rechtskräftig. 206 Die formelle Rechtskraft ist Voraussetzung der materiellen Rechtskraft. 207 Das Wesen der materiellen Rechtskraft besteht in der Bindung der Parteien und des Staates an den Richterspruch. 208 Weiterhin verbietet die materielle Rechtskraft, den rechtskräftig entschiedenen Streitgegenstand in einem späteren Verfahren noch einmal zum Gegenstand einer richterlichen Entscheidung zu machen. 209 Wenn Richtersprüche rechts- und/oder gesetzeswidrig sind, führt die Unanfechtbarkeit (bewirkt durch die formelle Rechtskraft) und die Bindungswirkung (bewirkt durch die materielle Rechtskraft) der rechtskräftigen Gerichtsentscheidung zu einem Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit. Dieses Spannungsverhältnis bedarf einer Auflösung, wobei es nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers ist, das Verhältnis zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit zu bestimmen. 210 Der deutsche Gesetzgeber ist dieser Aufgabe dergestalt nach204 Hierzu O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 213; L. Rosenberg/K. H. Schwab/R Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 908; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 f.; ders./A. Emmerich-Fritsche /M. Kläver/P. Wollenschläger, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 42 ff.; P. Hartmann, in: Baumbach /Lauterbach /Albers /Hartmann, Zivilprozeßordnung, Einführung vor § 322, Rn. 1; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 174; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7. 205 o. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 213. 206 A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 399; O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 213. 207 O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 214. 208 Zum Wesen der materiellen Rechtskraft: BVerfGE 2, 380 (403 f.); 47,146 (161); A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 440 ff.; L. Rosenberg /Κ. H. Schwab /P. Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 919; Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. ΠΙ, § 73, Rn. 38; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II; S. 896 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 289; ders., Res publica res populi, S. 871 f., 1132; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; H. Maurer, Staatsrecht, § 19, Rn. 7; zur Bindung der staatlichen Organe BVerfGE 47,146 (161 ), welches in der Entscheidung ausführt: „Funktion der materiellen Rechtskraft richterlicher Entscheidungen ist es, durch die Maßgeblichkeit und Beständigkeit des Inhalts der Entscheidung über den Streitgegenstand für die Beteiligten und die Bindung der öffentlichen Gewalt an die Entscheidung die Rechtslage verbindlich zu klären und damit dem Rechtsfrieden zwischen den Parteien zu dienen, ihnen insbesondere zu ermöglichen, ihr Verhalten gemäß der Rechtslage einzurichten". 209 BGH, W M 1996, S. 1101; so auch O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 214; L. Rosenberg/K. H. Schwab/P. Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 908 f., 914 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 179. 210 BVerfGE 3, 225 (237); 15, 313 (319 f.); 35, 41 (47); 56, 22 (31 f.); 60, 253 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
gekommen, daß die gerichtlichen Verfahrensordnungen in vielen Fällen ordentliche Rechtsmittel gegen Gerichtsentscheidungen vorsehen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit außerordentlicher Rechtsbehelfe: Rechtskräftige Gerichtsurteile können in engen Grenzen Gegenstand von Wiederaufnahmeverfahren sein (§§ 578 ff. ZPO). Verfassungswidrige Gerichtsurteile, die den fachgerichtlichen Instanzenweg erschöpft haben, können zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG gemacht werden. § 95 Abs. 2 BVerfGG, welcher die Rechtsfolgen einer zulässigen und begründeten Urteilsverfassungsbeschwerde regelt, schreibt diesbezüglich zugunsten der Gerechtigkeit und damit zu Lasten der Rechtssicherheit vor, daß das Bundesverfassungsgericht den angefochtenen Richterspruch aufhebt und die Sache an ein zuständiges Gericht zurückverweist. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein früherer Regierungsentwurf zu § 95 BVerfGG: „Wird der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, so ist in der Entscheidung festzustellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes und durch welche Handlung oder Unterlassung sie verletzt wurde, und zu bestimmen, in welcher Weise der Beschwerde abzuhelfen ist. Die Anordnung der nochmaligen Verhandlung und Entscheidung eines rechtskräftig abgeschlossenen gerichtlichen Verfahrens ist ausgeschlossen".211
Bemerkenswert ist an diesem Regierungsentwurf, daß die Regierung als Organ, welches nach Art. 76 Abs. 1 GG berechtigt ist, Gesetzesvorlagen beim Bundestag einzubringen, selbst im Rahmen von Verfassungsbeschwerden die Berichtigung rechtswidriger, aber in Rechtskraft ergangener Gerichtsurteile ausschließen wollte. Dem Grundsatz der Rechtssicherheit durch die Beständigkeit auch verfassungswidriger Gerichtsentscheidungen sollte als dem gewichtigeren Rechtsprinzip Vorrang vor materieller Gerechtigkeit durch Aufhebung und erneute gerichtliche Verhandlung eingeräumt werden.
b) Gebot prozessualer Fristen
Das Gebot gesetzlicher Fristen ist von herausragender Bedeutung für die Beständigkeit staatlicher Maßnahmen.212 Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu ausgeführt: „Sowohl die Grundsätze freiheitlich-rechtsstaatlicher Ordnung allgemein als auch der besondere Schutzzweck des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebieten es, daß Rechtssicherheit auch dort, wo sie über gerichtliche Verfahren herbeigeführt werden soll, binnen angemessener Frist bewerkstelligt werde: dies ist der Sinn von verfahrensrechtlichen (wie auch einer allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 306 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 406 f. 211 BT-Drs 1,788, S. 21; ausführlich hierzu C. Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, S. 195 f. 212 BVerfGE 60, 253 (266 ff.); dazu auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 849 f.; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 82.
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Reihe materiellrechtlicher) Fristen, von Klagefristen, über Fristen für einzelne Prozeßhandlungen bis hin zu Rechtsbehelfsfristen. ( . . . ) . Nachgerade unter einer Verfassung, in der hoheitliches Verhalten so umfassend einer gerichtlichen Kontrolle unterstellt ist, ist es ein unabdingbares Anliegen der Rechtsgemeinschaft, klare und feste Regelungen darüber zu haben, ab wann ein hoheitliches Verhalten bestandskräftig ist, und rechtlich nicht mehr in Frage gestellt werden kann". 213
Der deutsche Gesetzgeber ist der Forderung nach Rechtssicherheit durch Befristung der Rechtsbehelfe in zahlreichen Vorschriften nachgekommen. So müssen die Rechtsmittel der Berufung und der Revision sowohl in der Zivilgerichtsbarkeit als auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit binnen einen Monat nach Zustellung der Ausgangsentscheidung eingelegt werden (§§ 516 und 552 ZPO, §§ 124a Abs. 1, Abs. 3 und § 133 Abs. 2 VwGO). Noch weitergehend kann gegen bestimmte Gerichtsentscheidungen überhaupt kein Rechtsmittel erhoben werden. Auch im verfassungsrechtlichen Aufsichtswesen sind Fristen einzuhalten: Für Bund-LänderStreitigkeiten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG etwa schreibt § 70 BVerfGG vor, daß die Klage binnen eines Monats erhoben werden muß, wenn nach Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG der Beschluß des Bundesrates angefochten werden soll. 2 1 4 4. Aufsicht und Bundesstaatlichkeit Ausgangspunkt der Betrachtung ist Art. 92 GG mit dem folgenden Wortlaut: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt".215 Art. 92 GG weist demnach sowohl den Bundesgerichten als auch den Gerichten der Länder die Aufgabe der Rechtsprechung zu. Aus der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes folgt weiterhin, daß die Bundesgerichte verpflichtet sind, Bundes- und Landesrecht auszulegen und anzuwenden.216 Die Landesgerichte ihrerseits sind verpflichtet, Landesrecht und Bundesrecht auszulegen und anzuwenden.217 In einem ersten 213 BVerfGE 60, 253 (269). 214 In allen anderen Fällen des Bund-Länder-Streits, zu denen auch in Frage stehende Gerichtsentscheidungen der Länder zählen würden, verweist § 69 BVerfGG auf § 64 Abs. 3 BVerfGG, wonach das Rechtsmittel binnen sechs Monaten, nachdem die Maßnahme dem Antragsteller bekannt geworden ist, zu erheben ist. 215 Hierzu: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 686 ff.; Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 92, Rn. 1; auch B. Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 1, 9, die Art. 92 Hs. 2 GG als lex specialis zu der föderalen Grundnorm des Art. 30 GG verstehen. 216 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 690; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 107 ff.; bezüglich der Landesverfassungsgerichte U. Karpen/S. Becker, Das Bundesstaatsprinzip in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Verfassungsgerichte der Länder, JZ 2001, 970 f. 217 H.~J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 109.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
Schritt läßt sich deshalb festhalten, daß auch für den Funktionsbereich der rechtsprechenden Gewalt die strukturellen Voraussetzungen der Bundesaufsicht gegeben sind, weil die Gerichte der Länder Bundesrecht auslegen und anwenden. Die rechtsprechende Gewalt unterscheidet sich jedoch aus bundesstaatlicher Sicht wesentlich von der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt. Während das Grundgesetz für die letztgenannten Funktionsbereiche eine strikte Trennung verlangt, für die gesetzgebende Gewalt eine gegenständliche Verteilung der Zuständigkeiten,218 für die Exekutive das Verbot der Mischverwaltung, 219 gilt für die rechtsprechende Gewalt gemäß Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 95 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG der Grundsatz der funktionalen / materiellen Rechtsprechungseinheit. 220 Die Rechtsprechungseinheit manifestiert sich in folgenden Umständen: Die Landesgerichte sind verpflichtet, die Gesetze der Länder und des Bundes anzuwenden 2 2 1 Die Entscheidungen der Gerichte der Länder gelten im ganzen Bundesgebiet. 222 Die Bundesorgane sind verpflichtet, die Gerichtsurteile der Länder zu beachten. Die Gerichte der Länder sind berechtigt, Hoheitsakte des Bundes zu überprüfen. 223 Neben den Bundesgerichten sind auch die Gerichte der Länder berechtigt und verpflichtet, gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Gesetzes bestehen, auf dessen Gültigkeit es für den Rechtsstreit ankommt. Schließlich ist das Bundesverfassungsgericht im Rahmen von Verfassungsbeschwerden nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG befugt, das Urteil jedes deutschen Gerichts auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, unabhängig von der Zugehörigkeit des Gerichts zum Bund oder zu einem Land.
218 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 677 ff. 219 BVerfGE 11, 105 (124); 32, 145 (156); 39, 96 (120); als Mischverwaltung definiert das Verfassungsgericht in der erstgenannten Entscheidung (S. 124) unter Berufung auf die Lehre „eine Verwaltungsorganisation, bei der eine Bundesbehörde einer Landesbehörde übergeordnet ist, oder bei der ein Zusammenwirken von Bundes- und Landesbehörden durch Zustimmungserfordernisse erfolgt"; allgemein zum Verbot der Misch Verwaltung: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 683 ff.; J. Ipsen, Staatsrecht I, 10. Aufl. 1998, S. 176 f.; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 30, Rn. 10; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 22, Rn. 43 ff.; zum Sonderfall der Mischverwaltung im Finanzwesen: T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 336 f. 220 Zur Rechtsprechungseinheit: R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 107; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 689 f.; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 894; G. Barbey, Der Status des Richters, in: HStR, Bd. III, § 74, Rn. 25; C. Degenhart, Gerichtsorganisation, in: HStR, Bd. III, § 75, Rn. 4; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 107, führt zur Rechtsprechungseinheit aus, daß das Grundgesetz in seinem IX. Abschnitt die rechtsprechende Gewalt materiell als eine Einheit sehe. 221 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 690; der darauf hinweist, daß auch die Bundesgerichte Landesrecht anwenden. 222 κ. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 690. 223 κ. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 690.
Β. Aufsicht in der föderativen Republik am Beispiel Deutschlands
221
Die Unterscheidung zwischen Bundesgerichten und Gerichten der Länder hat somit keinen funktionalen Gehalt. Sie ist lediglich in organisationsrechtlicher und gerichtshierarchischer Hinsicht von Bedeutung. 224 Organisationsrechtlich folgt aus der Zuweisung der gerichtlichen Trägerschaft die Verpflichtung des Bundes oder der Länder, die Gerichte zu errichten, für ihre personelle und sachliche Ausstattung zu sorgen und die Kosten zu tragen 2 2 5 Auf die Gerichtshierarchie nimmt das Bundesstaatsprinzip Einfluß, weil nach Art. 95 Abs. 1 GG der Bund für alle Fachgerichtsbarkeiten Träger der obersten Gerichtshöfe ist. 2 2 6 Alle anderen Gerichte (der verschiedenen Fachgerichtsbarkeiten) sind Gerichte der Länder, so etwa die Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte für die ordentliche Gerichtsbarkeit, die Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtshöfe) für die Verwaltungsgerichtsbarkeit etc. Die Gerichte der Länder entscheiden somit in fast allen Fällen als Eingangs- und Rechtsmittelgerichte (Berufung wie Revision), während die Bundesgerichte (fast) ausschließlich als letztinstanzliche Revisionsgerichte urteilen. Hierbei ist zu beachten, daß die Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch höherinstanzliche Gerichte grundsätzlich hierarchischen Gesichtspunkten folgt: Sowohl die Bundesgerichte (der Bundesgerichtshof etwa) als auch die höherinstanzlichen Gerichte der Länder (Oberlandesgerichte und Landgerichte) überprüfen die Gerichtsurteile der unterinstanzlichen Gerichte der Länder dahingehend, ob diese die Gesetze, auch die Bundesgesetze, den Gesetzen entsprechend ausgelegt und angewendet haben. 227 Abschließend ist in diesem Zusammenhang jedoch darauf hinzuweisen, daß als Revisionsgründe sowohl vor dem Bundesgerichtshof als auch vor dem Bundesverwaltungsgericht nur die Verletzung von Bundesrecht geltend gemacht werden kann (§ 545 Abs. 1 ZPO, § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Aus der funktionalen / materiellen Einheit der rechtsprechenden Gewalt folgt, daß für die Kontrolle der rechtsprechenden Gewalt weniger das Bundesstaatsprinzip von Bedeutung ist, sondern vielmehr das Rechtsstaatsprinzip. Die auf der Rechtsstaatlichkeit fußende Rechtsprechungseinheit verlangt, daß Entscheidungen 224 κ. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 687; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 107; auch R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 107; S. Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 92, Rn. 27. 225 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 107; H.-J. Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: HVerfR, § 22, Rn. 107, spricht in diesem Zusammenhang von einer „organisatorisch-technischen Wahrnehmung", wozu insbesondere die Gesichtspunkte zählen, wer zur Errichtung der Gerichte berechtigt /verpflichtet ist, wer die personelle Besetzung der Gerichte vornimmt, wer die Kosten zu tragen hat. 226 Nach Art. 95 Abs. 1 GG der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, der Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht. 227 Der Wechsel der Gerichtszuständigkeit im Rahmen eines Rechtsmittels von den Gerichten der Ländern zu einem Bundesgericht (etwa vom Oberlandesgericht zum Bundesgerichtshof) bewirkt keine Veränderung des Streitgegenstandes; es handelt sich vielmehr um ein Verfahren mit gleichbleibendem Streitgegenstand, so auch R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 107.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
der Gerichte der Länder im Rahmen rechtsstaatlicher und der Gewaltenteilung entsprechender Verfahren kontrolliert werden können. Für die Kontrolle ist es jedoch belanglos, ob ein Bundesgericht oder ein Gericht eines Landes den unterinstanzlichen Richterspruch auf seine Rechtmäßigkeit überprüft. 228
5. Ergebnis Als Ergebnis läßt sich festhalten: (1) Die Gerichte der Länder sind verpflichtet, neben den Landesgesetzen auch die Gesetze des Bundes auszulegen und anzuwenden. Die strukturellen Voraussetzungen der Bundesaufsicht sind somit grundsätzlich gegeben. (2) Die Forderung nach Rechtmäßigkeit jeder staatlichen Maßnahme gebietet, daß auch Gerichtsentscheidungen einer Überprüfung unterliegen. Diese Überprüfung muß der gewaltenteiligen Funktionenordnung und dem Rechtsstaatsprinzip Rechnung tragen. (3) Die gewaltenteilige Funktionenordnung Deutschlands verlangt, daß Richtersprüche wegen des Monopols staatlicher Rechtsprechung der Gerichte und der Unabhängigkeit der Gerichte nur durch die rechtsprechende Gewalt im Rahmen von Rechtsmitteln überprüft werden dürfen. Die vollziehende und die gesetzgebende Gewalt verfügen über eine solche Befugnis nicht. Ein Art. 226 EGV nachgebildetes Aufsichtsrecht des Bundes über die Rechtsprechung der Länder stünde demgemäß nicht im Einklang mit der gewaltenteiligen Funktionenordnung des Grundgesetzes 2 2 9 Zum einen würde das Vorverfahren nach Absatz 1 das Rechtsprechungsmonopol der Gerichte in Art. 92 GG verletzen, weil die Bundesregierung (oder eine andere Bundesbehörde) außergerichtlich mit der Regierung des betroffenen Landes abschließend über die Rechtmäßigkeit eines Richterspruchs entscheiden könnte. Zum anderen würde ein solches Vorverfahren die verfassungsrechtlich in Art. 97 Abs. 1 GG garantierte Unabhängigkeit der Gerichte mißachten, weil es den Organen der vollziehenden Gewalt nicht nur während eines laufenden Gerichtsverfahrens, sondern auch nach Erlaß der Gerichtsentscheidung verboten ist, eine Gerichtsentscheidung zu berichtigen. 230 228 Nach Κ . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 690, überlagert das rechtsstaatliche Rechtsschutzprinzip insofern das Bundesstaatsprinzip. 229 Ein solches Aufsichtsrecht würde lauten: (1) Hat nach Auffassung der Bundesregierung ein Land (seil.: ein Gericht eines Landes) gegen Bundesrecht verstoßen, so gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab; sie hat dem Land zuvor Gelegenheit zur Äußerung zu geben. (2) Kommt das Land dieser Stellungnahme innerhalb der von der Bundesregierung gesetzten Frist nicht nach, so kann die Bundesregierung das Bundesverfassungsgericht anrufen. 230 Unbedenklich hingegen wäre das Klageverfahren nach Absatz 2. Das Recht der Bundesregierung, das Bundesverfassungsgericht wegen eines rechtswidrigen Gerichtsurteils anzurufen, verletzt weder die Unabhängigkeit der Gerichte, noch verstößt es gegen das Recht-
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht
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(4) Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verlangt, daß die Kontrolle von Richtersprüchen binnen bestimmter Fristen erfolgen muß. In Rechtskraft ergangene Gerichtsurteile sind nicht mehr korrigierbar. Der Grundsatz der Rechtssicherheit hat insofern Vorrang vor materieller Gerechtigkeit. Demgemäß wäre ein an Art. 226 EGV angelehntes Aufsichtsrecht des Bundes verfassungswidrig, weil es erstens keine Fristen vorsähe und weil es zweitens erlauben würde, in Rechtskraft ergangene Streitgegenstände erneut gerichtlich zu verhandeln. (5) Bundesstaatliche Strukturen, daß Gerichte des Bundes im Rahmen von Rechtsmitteln die Entscheidungen der Gerichte der Länder kontrollieren, wenn letztgenannte Bundesrecht auslegen und anwenden, sind für die Kontrolle der Rechtsprechung nicht prägend. Die Gerichte der Länder, etwa Oberlandesgerichte und Landgerichte, die Verwaltungsgerichtshöfe, überprüfen als Rechtsmittelgerichte genauso wie Bundesgerichte die rechtmäßige Auslegung und Anwendung von Bundesrecht unterinstanzlicher Gerichte der Länder. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß die Bundesgerichte als Revisionsgerichte nur zu prüfen berechtigt sind, ob die Gerichte der Länder Bundesrecht verletzt haben, was den Grundstrukturen der Bundesaufsicht entspricht.
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht I. Einführung Wie die Ausführungen in Kapitel 4 gezeigt haben, wird die Frage, ob die Kommission berechtigt sei, Aufsicht über die Gerichte der Mitgliedstaaten auszuüben, von der Lehre und der Praxis unterschiedlich beantwortet: Während manche Autoren die Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens über vertragswidrige nationale Richtersprüche ohne jede Einschränkung bejahen, 231 lehnen andere die Zulässigkeit des Verfahrens ab. 2 3 2 Zur Begründung wird häufig auf die Rechtsnatur der sprechungsmonopol der Gerichte. Wegen der Neutralität und Unabhängigkeit der Richter wäre die Verfahrenseinleitung durch ein Amt der vollziehenden Gewalt verfassungsrechtlich geboten. Unbedenklich wäre weiterhin, daß das Bundesverfassungsgericht einen Richterspruch kontrollieren und gegebenenfalls berichtigen würde; denn die verfassungsmäßige Ordnung Deutschlands erlaubt die Überprüfung von Richtersprüchen durch Gerichte im Rahmen von Rechtsmitteln. 231 So G. Nicolay sen, Vertragsverletzungen durch mitgliedstaatliche Gerichte, EuR 1985, 368 ff.; ders., Europarecht Bd. I, S. 239 f.; G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11 ff.; K. D. Borchardt, Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, P.I., Rn. 14; ders., in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 226, Rn. 7; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 734; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 28. 232 K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f.; auch
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
Europäischen Gemeinschaft verwiesen, die allerdings nicht einheitlich beurteilt wird. Folgende Beispiele mögen dies verdeutlichen: Gegen die Gemeinschaftsaufsicht über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten wird vorgetragen, daß sie mit der gewaltenteiligen Funktionenordnung innerhalb der staatlichen Organisation, in der die nationalen und die gemeinschaftlichen Organe verbunden sind, nicht vereinbar s e i . 2 3 3 Weiterhin stehe die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte einem solchen Aufsichtsrecht entgegen 2 3 4 Schließlich wird auf den rechtsstaatlichen Charakter der Europäischen Gemeinschaft verwiesen. Aus der Rechtsstaatlichkeit folge, daß die materielle Rechtskraft nationaler Richtersprüche nicht durch ein Aufsichtsrecht der Europäischen Gemeinschaft relativiert werden dürfe 2 3 5 Der rechtsstaatliche Grundsatz der materiellen Rechtskraft, der auch auf europäischer Ebene Geltung beanspruchen könne, verbiete es, über einen bereits rechtskräftig entschiedenen Streitgegenstand erneut zu verhandeln und zu entscheiden. 2 3 6 In tatsächlicher Hinsicht sei zu beachten, daß weder das betroffene nationale Gericht, noch der Europäische Gerichtshof, die Kommission oder die Regierung eines Mitgliedstaates die Möglichkeit haben, vertragswidrige nationale Gerichtsentscheidung zu korrigieren. 2 3 7
C.-D. Ehlermann, Die Verfolgung von Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten durch die Kommission, in: FS für Kutscher, Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 152 f., der in seinem Beitrag von den Grenzen des Vertragsverletzungsverfahrens spricht und Vertragsverletzungen durch Gerichte in die drei genannten Fallgruppen mit einbezieht, bei denen die Durchführung des Aufsichtsverfahrens unangebracht erscheint; J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, 389 f., gehen, bis auf wenige Ausnahmen, von der Unzulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Rechtsprechungsakte nationaler Gerichte aus. 233 K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f.; auch J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 389 f., mit ähnlicher Begründung. 234 J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 389 f.; H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f.; in diese Richtung auch P. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 15. 235 Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f.; auch H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a., das Problem der Rechtskraft sehend und zu vorsichtigem Vorgehen mahnend. 236
Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. Zur fehlenden Korrekturmöglichkeit: H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/ EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 62; auch J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 264 f.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob das Verfahren nicht schon deshalb unzulässig ist, weil das Verfahrensziel, nämlich die Aufhebung des nationalen Richterspruchs, nicht erreicht werden kann. 237
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht
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Im Gegensatz hierzu steht die Position, daß nach Art. 226 EGV jeder Mitgliedstaat, wie im Völkerrecht auch, für das Verhalten aller seiner Organe verantwortlich sei. 238 Aus dieser Verantwortung folge, daß jede Vertragsverletzung des Mitgliedstaates Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens sein könne, also auch vertragswidrige Entscheidungen nationaler Gerichte. 239 Darüber hinaus scheint auch der Wortlaut in Art. 226 Abs. 1 EGV vordergründig von einer völkerrechtlichen Sichtweise geprägt zu sein, weil dort generell vom „Verstoß eines Mitgliedstaates gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag" die Rede ist. Zwischen den verschiedenen Funktionsbereichen der Staatsgewalt wird im Unterschied zur Bundesaufsicht, welche in Art. 84 Abs. 1 GG durch die Nennung von Behörden und des Verwaltungsverfahrens die vollziehende Gewalt zum Gegenstand hat, nicht differenziert. Vielmehr wird der Staat, ganz im klassischen völkerrechtlichen Sinne, als eine Einheit betrachtet. Umfang und Reichweite der Gemeinschaftsaufsicht nach Art. 226 EGV werden von den Grundsätzen der Europäischen Gemeinschaft geprägt. Grundlegend hierfür ist der Charakter der Europäischen Gemeinschaft als ein Staatenverbund, in welchem die Mitgliedstaaten ihre Hoheitsgewalt gemeinschaftlich ausüben,240 die Natur der Europäischen Gemeinschaft als Rechts-, aber nicht als Zwangsgemeinschaft, die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, das Prinzip der begrenzten Ermächtigung nach Art. 5 Abs. 1 EGV, das Subsidiaritätsprinzip nach Art. 5 Abs. 2 EGV und Art. 2 Abs. 2 EUV und die in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätze, insbesondere der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Hinsichtlich einer möglichen Aufsichtsbefugnis der Kommission über die rechtsprechende Gewalt der Mitgliedstaaten ist insbesondere auf die Geschlossenheit des Gerichtssystems in der Europäischen Gemeinschaft zwischen den europäischen und den nationalen Gerichten einzugehen, das sich zuvörderst im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 GV manifestiert.
238 Ausdrücklich unter Bezugnahme auf das Völkerrecht A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 812; ferner G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11; K. D. Borchardt, Gerichtsbarkeit der EG, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, P.I., Rn. 14. 239 K. Hailbronner, in: ders. / Klein / Magiera / Müller-Graff, Handkommentar zum EUVertrag, Art. 169, Rn. 6. 240 BVerfGE 89, 155 (188 f.); E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 60; Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 70 ff.; ders., Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", in: FS für Wilhelm Nölling, S. 300; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 43 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staaten verbünd, S. 904 f. 15 Wollenschläger
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
II. Rechtsprechungsaufgabe in der Europäischen Gemeinschaft 1. Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte Als Rechtsgemeinschaft ist die Europäische Gemeinschaft nicht nur eine Schöpfung und eine Quelle des Rechts, 241 sondern auch dem Recht unterworfen. 242 Rechtsunterworfenheit bedeutet, daß sowohl die Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane als auch alle Rechtsakte der Mitgliedstaaten, die ihre Grundlage im Gemeinschaftsrecht haben, einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen müssen 2 4 3 Der Europäische Gerichtshof spricht in diesem Zusammenhang vom Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung. 244 Die Lehre verlangt ein umfassendes Rechtsschutzsystem durch den EG-Vertrag 2 4 5 Der europäische Rechtsschutz wird auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene durch folgende Grundsätze und Verfahren geprägt: Art. 220 EGV weist dem Europäischen Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz die Aufgabe zu, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages zu sichern. Hierbei müssen der Europäische Gerichtshof und das Gericht erster Instanz den in Art. 5 Abs. 1 EGV verankerten Grundsatz der begrenzten Ermächtigung beachten. Sie dürfen somit nur über diejenigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden, die ihnen durch EG-Vertrag zur Entscheidung zugewiesen sind. 246 Folgende Verfahrensarten sind von Bedeutung: 247 241
W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 51. W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 55 f.; A. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, S. 166 ff.; 71 Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 156 ff. 243 Urteil des EuGH vom 23. April 1986, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (1365); W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 55, formuliert hinsichtlich der Rechtsunterworfenheit, daß die Rechtsordnung der Gemeinschaft „die Gesetzmäßigkeit des Handelns der Organe und den Rechtsschutz der den Normen Unterworfenen" gewährleisten müsse; A. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, S. 168 f.; grundlegend zum Begriff der Rechtsgemeinschaft: K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Volker Europas, S. 79 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, ARPS-Beiheft 71 (1997), S. 166 ff.; A. EmmerichFritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, S. 45 ff. 242
244 Urteil des EuGH vom 15. Mai 1986, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 (1682); Urteil des EuGH vom 15. Oktober 1987, Rs. 222/86, Slg. 1987, 4097 (4117); hierzu K. A. Schachtschneider/A. Emme neh-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 244. 245 A. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, S. 168. 246 Zu diesem Grundsatz der enumerativen Einzelzuständigkeiten: Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 710 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 244. 247 Ein Überblick über die gesamten Verfahrensarten findet sich bei: M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 461; R. Streinz, Europarecht, Rn. 503 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 244 ff.; Τ. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 169 ff.; hierzu auch Urteil des EuGH vom 23. April 1986, Rs. 294/83, Slg. 1986,1339 (1365).
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- Die Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 1, Abs. 4 EGV, die von anderen Gemeinschaftsorganen, von den Mitgliedstaaten, aber auch von natürlichen und juristischen Personen gegen Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane erhoben werden kann. - Die Untätigkeitsklage nach Art. 232 Abs. 1, Abs. 4 EGV, durch welche das Gericht feststellt, daß es ein Gemeinschaftsorgan unter Verletzung des EG-Vertrages unterlassen hat, einen Beschluß zu fassen. - Die Klagen der Europäischen Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten zum Europäischen Gerichtshof gegen vertragswidrig handelnde Mitgliedstaaten nach Art. 226 Abs. 2 EGV (Aufsichtsklage) und Art. 227 EGV (Staatenklage). - Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV. Nach der gewaltenteiligen Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft sind der Europäische Gerichtshof und das Gericht erster Instanz die einzigen Gemeinschaftsorgane, welche zur Rechtsprechung befugt sind. 248 Gegenüber den anderen Gemeinschaftsorganen verfügen sie über ein Rechtsprechungsmonopol. 249 Ihre Stellung entspricht insofern dem klassischen Gewaltenteilungsprinzip Montesquieu, nach welchem allein Gerichte zur Rechtsprechung befugt sind. 250 Dies wird auch dadurch verdeutlicht, daß der Europäische Gerichtshof und das Gericht erster Instanz unabhängig gegenüber den vollziehenden und rechtsetzenden Organen der Europäischen Gemeinschaft sowie den Mitgliedstaaten sind 2 5 1 Ihr einziger Entscheidungsmaßstab soll nach Art. 220 EGV die Wahrung des Rechts sein.
248 Dem Europäischen Gerichtshof beigeordnet ist das „Gericht erster Instanz", welches aber kein zusätzliches Gemeinschaftsorgan ist. Zur Funktion und Stellung dieses Gerichts: H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 26; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 376 f.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Die Gerichtsbarkeit, S. 221 ff.; V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2658 f. 249 R. Streinz, EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 27. 250
Ch. Montesquieu, De l'esprit des lois, S. 220; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 243, aus europarechtlicher Sicht; allgemein hierzu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 921. 251 Zur Unabhängigkeit des Europäischen Gerichtshofs siehe H. R. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 756. V. Bucci /M. Bucci, Der Gerichtshof und das Rechtsschutzsystem der Europäischen Gemeinschaften, in: Röttinger/Weyringer (Hrsg.) Handbuch der Europäischen Integration, S. 191; Ä Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 167, Rn. 8 ff. Die Unabhängigkeit des Europäischen Gerichtshofs findet ihre vertragliche Stütze in Art. 223 Abs. 1 EGV, in welchem die Unabhängigkeit der Richter und Generalanwälte angesprochen wird, sowie in den Verfahrensordnungen des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichts erster Instanz. Darüber hinaus ergibt sich die Unabhängigkeit des Europäischen Gerichtshofs aus den gemeinsamen verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Mitgliedstaaten. 15*
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2. Aufgaben der nationalen Gerichte Neben dem Europäischen Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz haben auch die nationalen Gerichte die Aufgabe, das Gemeinschaftsrecht auszulegen und anzuwenden.252 Diese Aufgabe wird zwar nicht ausdrücklich im EG-Vertrag angesprochen, sie folgt aber aus der Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft als einer Rechtsordnung, welche nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs und der Lehre in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt und anwendbar ist. 2 5 3 Die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten führt dazu, daß das Gemeinschaftsrecht vornehmlich von den Mitgliedstaaten durchgeführt wird, insbesondere vollziehen die nationalen Behörden europäische Rechtsakte, sei es, daß sie vom Rat oder von der Kommission erlassene Verordnungen ausführen, sei es, daß sie durch nationales Gesetz umgesetzte Richtlinien ausführen. Wenn ein Unionsbürger bei der zuständigen nationalen Behörde etwa eine Genehmigung zur Einfuhr von Gütern aus Staaten, die nicht der Europäischen Gemeinschaft angehören, beantragt, wird die nationale Behörde diesen Antrag unter Anwendung des maßgeblichen EG-Rechtsaktes entscheiden. Gegen einen ablehnenden Verwaltungsakt kann der Antragsteller ausschließlich vor den Gerichten des Mitgliedstaates, dessen Verwaltungsbehörden den Rechtsakt erlassen haben, Rechtsschutz erlangen. Klagen zum Europäischen Gerichtshof sieht der EG-Vertrag für diese Fälle nicht vor. Das angerufene nationale Gericht ist wegen der Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten verpflichtet, den Rechtsstreit unter Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu entscheiden. 252 R. Streinz, Europarecht, Rn. 574; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2847 f., 2850; V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2660; B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234, Rn. 1; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 79 if.; Κ. Α. Schachtschneider/ Α. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, S. 102 f.; E. Pache /Μ. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 17; quantitativ werden die meisten Rechtsstreitigkeiten, in denen das Gemeinschaftsrecht zur Anwendung kommt, von den Gerichten der Mitgliedstaaten und nicht vom Europäischen Gerichtshof entschieden. Dieser Umstand ist angesichts der großen Anzahl der nationalen Gerichte nicht überraschend. Er darf aber nicht über die überragende Rolle des Europäischen Gerichtshofs hinwegtäuschen. Dessen Einfluß in der gewaltenteiligen Funktionenordnung Europas ist so groß, daß ihn die Literatur nicht nur als „Motor der Integration": so R. Streinz, Europarecht, Rn. 494, der allerdings im gleichen Atemzug auch die Kommission wegen ihres Initiativrechts zur europäischen Rechtsetzung durch den Rat als Motor der Integration sieht, bezeichnet hat, sondern ihm darüber hinaus sogar vorgeworfen hat, ein „gouvernement des juges" errichtet zu haben: Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 343; Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Die Gerichtsbarkeit, S. 228 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 159. 2 53 Zur unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts, Urteil des EuGH vom 15. Juli 1964, Rs. 6/62, Slg. 1964, 1251, (1269 f.); R. Streinz, Europarecht, Rn. 346 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 627 ff.; Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, S. 102 ff.; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2848 ff.; V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2660 ff.
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht
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Das nationale Gericht hat mit den Worten des Europäischen Gerichtshofs die Aufgabe, „die Rechte zu schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen verleiht".254 Auch wenn der EG-Vertrag keine Regelung über die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte enthält, ist es einhellige Auffassung, daß die nationalen Gerichte bei der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts ihre Entscheidung „ i n eigener Verantwortung und richterlicher Unabhängigkeit" 2 5 5 treffen 2 5 6 Sie genießen insofern denselben Schutz wie der Europäische Gerichtshof, was die Lehre dazu veranlaßt hat, die nationalen Gerichte sogar als „Gemeinschaftsgerichte i m funktionellen S i n n e " 2 5 7 zu bezeichnen, obwohl sie aus institutioneller Sicht Organe der Mitgliedstaaten sind. Die Einordnung der nationalen Gerichte als Gemeinschaftsgerichte i m funktionellen Sinne verkennt allerdings die Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft als einem Staatenverbund, in welchem die Mitgliedstaaten Hoheitsgewalt gemeinschaftlich ausüben 2 5 8 Richtiger scheint es daher, den Europäischen Gerichtshof als ein gemeinsames Organ aller Mitgliedstaaten zu verstehen.
254 Urteil des EuGH vom 9. März 1978, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (644). 255 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 44. 256 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 44\ K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f.; auch H.-W. Daig, in: B / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a., der ausdrücklich hervorhebt, daß die nationalen Gerichte zur Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrecht berufen seien und hierbei eine stärkere Stellung als die Kommission einnehmen würden; zur besonderen Rolle der nationalen Gerichte W. Däubler, Die Klage der EWG-Kommission gegen einen Mitgliedstaat; NJW 1968, 327; J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 389; P. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 15; nach Η. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/ EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 62, soll sich aus dem Umstand, daß die nationalen Gerichte das Gemeinschaftsrecht selbständig und unabhängig auslegen und anwenden keine Sonderbehandlung ergeben. Er vergleicht die rechtsprechende Gewalt insoweit mit der nationalen Gesetzgebung, welche genauso unabhängig und souverän sei, und verweist darauf, daß „auch die staatlichen Verwaltungsbehörden in großem Umfange mit der Anwendung der Durchführung des Gemeinschaftsrechts betraut sind". 257 So J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 388; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 43; Η. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/ EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 10; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2847; V Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2660; B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234, Rn. 1. 258 So ausdrücklich BVerfGE 89, 155 (188 f.); E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 60; Κ. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Volker Europas, S. 87 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 70 ff.; ders., Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa", in: FS für Wilhelm Nölling, S. 300; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 43 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staaten verbünd, S. 904 f.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß der Europäische Gerichtshof und das Gericht erster Instanz gemeinsam mit den mitgliedstaatlichen Gerichten die Aufgabe innehaben, die Wahrung des Rechts bei Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern. 259 Nationale wie gemeinschaftsrechtliche Rechtsprechungsorgane haben die Pflicht, die subjektiven Rechte der Unionsbürger zur Geltung zu bringen. 2 6 0 Hierbei entscheiden sie in richterlicher Unabhängigkeit. In Anbetracht dieser Aufgabenwahrnehmung spricht die Lehre von einem „dualistisch strukturierten Rechtsschutzsystem"261 in der Europäischen Gemeinschaft, eine Umschreibung, die insbesondere aus der Sicht des rechtsschutzsuchenden Unionsbürgers verständlich wird: Wenn die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts fraglich ist, den ein Gemeinschaftsorgan unter Anwendung des Gemeinschaftsrechts erlassen hat, muß der Bürger vor den europäischen Gerichten klagen (Art. 230, 232 EGV). Soll dagegen ein Rechtsakt angegriffen werden, den eine nationale Behörde aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften erlassen hat, muß der Bürger vor dem zuständigen Gericht des Mitgliedstaates Klage einreichen.
III. Rechtsprechungseinheit und Rechtsprechungskontrolle in der Europäischen Gemeinschaft 1. Allgemeine Rechtsinstrumente Die Mitgliedstaaten haben als Herren der Verträge verschiedene Rechtsinstitute in den EG-Vertrag und den EU-Vertrag aufgenommen, um die vertragsgemäße, effiziente und einheitliche Durchführung des Gemeinschaftsrechts in den und durch die Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Die wichtigsten Rechtsfiguren der Verträge sind: 2 6 2 - Die Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EGV: 2 6 3 Die Gemeinschaftstreue verpflichtet die Mitgliedstaaten als ganzes, die sich aus dem EG-Vertrag ergeben259 Urteil des EuGH vom 8. November 1990, Rs. C-231/89, Slg. 1990, 4003 (4017), in welchem der Europäische Gerichtshof von „der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten" im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens spricht; Urteil des EuGH vom 16. Dezember 1981, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045 (3062); M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2847; E. Pache/M. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 16 ff.; allgemein zum Verhältnis der gemeinschaftlichen zur nationalen Gerichtsbarkeit: Κ Α. Schachtschneider/ Α. Emmerich-Fritsche, Die Gerichtsbarkeit, S. 234 ff. 260 Vgl. H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 40 ff., 869 ff.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 574 ff. 261
So M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 43. Eine Übersicht der verschiedenen Verfahren findet sich bei: Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 689 ff.; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2846 ff. 2 63 M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2846 ff.; A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union Art. 10, Rn. 1 ff. 262
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht
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den Verpflichtungen zu erfüllen 2 6 4 Art. 10 EGV bezieht sich somit auf alle Funktionsbereiche der mitgliedstaatlichen Staatsgewalt. Speziell in Bezug auf die rechtsprechende Gewalt der Mitgliedstaaten hat der Europäische Gerichtshof i m Rahmen des Art. 10 E G V entschieden, daß die nationalen Gerichte verpflichtet sind, den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts ergibt 2 6 5 Die nationalen Gerichte sind aus Art. 10 E G V verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht rechtmäßig auszulegen und anzuwenden 2 6 6 Sie müssen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs effektiven Rechtsschutz gewähren. 2 6 7 - Das Verfahren nach Art. 7 E U V wegen schwerwiegender und anhaltender Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 E U V genannten Grundsätze durch einen Mitgliedstaat, 2 6 8 auch als Verfassungsaufsicht bezeichnet. 2 6 9
264 Art. 10 EGV normiert drei Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Absatz 1 enthält zwei Handlungspflichten, die Vertragserfüllungspflicht nach Satz 1 und die Unterstützungspflicht nach Satz 2: A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union Art. 10, Rn. 25 ff. Absatz 2 fordert die Mitgliedstaaten auf, alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele des EG-Vertrages gefährden könnten (Unterlassungspflicht). Der Europäische Gerichtshof leitet aus Art. 10 EGV sowohl Pflichten der Mitgliedstaaten als auch Pflichten der Europäischen Gemeinschaft ab: Verpflichtung der Gemeinschaft zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Mitgliedstaaten (gemeinschaftliches Loyalitätsgebot), Beschluß des EuGH vom 13. Juli 1990, Rs. C-2/88, Slg. 1990, 3365 (3366); Urteil vom 13. Oktober 1992, Rs. C 63/90 und 67/90, Slg. 1992, 5073 (5156); Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Rücksichtnahme untereinander, Urteil des EuGH vom 11. Juni 1991, Rs. C-251 / 89, Slg. 1991, 2797 (2848). 2 65 Urteil des EuGH vom 16. Dezember 1976, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989 (1998). 2 66 Beschluß des EuGH vom 13. Juli 1990, Rs. C-2/88, Slg. 1990, 3365 (3372). 2 67 Urteil des EuGH vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89, Slg. 1990, 2433 (2473 f.), in welchem er ausführt: „Die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts würde auch dann abgeschwächt, wenn ein mit einem nach Gemeinschaftsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befaßtes Gericht durch eine Vorschrift des nationalen Rechts daran gehindert werden könnte, einstweilige Anordnungen zu erlassen, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen der aus Gemeinschaftsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen. Ein Gericht, das unter diesen Umständen einstweilige Anordnungen erlassen würde, wenn dem nicht eine Vorschrift des nationalen Rechts entgegen stünde, darf diese Vorschrift somit nicht anwenden". 268 Hierzu Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 694; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2850: Das Verfahren nach Art. 7 EUV sieht vor, daß die Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV aufgezählten Grundsätze die Aussetzung bestimmter Rechte des Mitgliedstaates nach sich zieht, die bis zum Verlust der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaates im Rate reichen kann. Kritisch an dem Verfahren ist, daß die Feststellung der schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung nicht durch ein unabhängiges Gericht, den Europäischen Gerichtshof, erfolgt, sondern gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV durch den Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. Eine gerichtliche Überprüfung der Feststellung ist im EU-/EG-Vertrag nicht vorgesehen, was aus gewaltenteiliger Sicht sehr bedenklich ist. 2à9 Μ. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2850.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
- Die Gemeinschaftsaufsicht mit ihren verschiedenen Verfahren, insbesondere dem Vertragsverletzungsverfahren des Art. 226 EGV und dem Auskunftsrecht nach Art. 284 EGV. - Hinsichtlich der rechtsprechenden Gewalt das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EGV. Die genannten Rechtsinstitute unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Funktion und ihres Adressaten. Funktional betrachtet finden sich Kontrollinstrumente der vollziehenden Gewalt, etwa Art. 226 Abs. 1 EGV und Art. 284 EGV, normative Vorgaben, insbesondere Art. 10 EGV und Art. 6 Abs. 1 EUV i.V.m. Art. 7 EUV, und Verfahren, die von Rechtsprechungsorganen entschieden werden, etwa die Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV und das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV. Zum Normadressaten: Während Art. 7 EUV i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EUV, Art. 10 EGV, aber auch Art. 226 EGV den Mitgliedstaat in seiner Gesamtheit ansprechen, sind die Beteiligten des Vorabentscheidungsverfahrens das vorlegende nationale Gericht und der Europäische Gerichtshof. Art. 284 EGV etwa erlaubt der Kommission, Auskünfte von nationalen Behörden, aber auch von anderen staatlichen Einrichtungen, einzuholen. 270 Neben den genannten Rechtsfiguren lassen sich in den nationalen Rechtsordnungen und im Europarecht weitere Rechtsinstitute finden, die wesentlich zur Rechtsprechungseinheit in der Europäischen Gemeinschaft beitragen und die enge Verknüpfung der nationalen und des europäischen Rechtsschutzsystems erweisen. Für den zivilrechtlichen Alltag ist die Verordnung der Europäischen Gemeinschaft über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) vom 22. Dezember 2000 2 7 1 (die gemeinschaftsrechtliche Nachfolgeregelung des früheren Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelsrechtssachen (EuGVÜ) vom 27. September 1968) ein wichtiges normatives Element der Rechtsprechungseinheit. 2 7 2 Danach finden auf grenzüberschreitende Zivilrechtsstreitigkeiten 273 zwi270
So auch Β. Beutler, in: ders./Bieber/Pipkorn /Streil, Die Europäische Union, S. 90. * AB1EG vom 16. Januar 2001, Nr. L 12/1, seit dem 1. März 2002 als gemeinschaftsrechtliche Regelung in allen Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Dänemark) in Kraft getreten. 272 Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 713. Die Rechtseinheit läßt sich an den Regelungen über die Vollstreckung ausländischer Urteile aufzeigen: Im deutschen Recht gilt nach §§ 722, 723 ZPO der Grundsatz, daß ausländische Gerichtsurteile nicht ohne weiteres auf deutschem Hoheitsgebiet vollstreckt werden können. Vielmehr verlangen die genannten Normen, daß ein deutsches Gericht ein Vollstreckungsurteil erlassen muß, in welchem es die Vollstrekkungsfähigkeit der ausländischen Gerichtsentscheidung erklärt. Nach § 723 Abs. 2 ZPO darf das Vollstreckungsurteil nur erlassen werden, wenn die Voraussetzungen des § 328 ZPO erfüllt sind (d. h. spiegelbildliche Zuständigkeit, keine Unvereinbarkeit des ausländischen Urteils mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere mit den Grundrechten, Gewährleistung rechtlichen Gehörs etc.). Im Unterschied hierzu hält Art. 33 Abs. 1 27
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht
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sehen den Vertragsstaaten nicht mehr die Gerichtsstände und Vollstreckungszuständigkeiten der nationalen Prozeßordnungen Anwendung, sondern die Regelungen der europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung. 274 A u f nationaler Ebene sind erstens die nationalen Rechtsmittel zu nennen, die zu einer Überprüfung der auf Gemeinschaftsrecht beruhenden nationalen Richtersprüche führen. 2 7 5 Ein weiterer Baustein der europäischen Rechtsprechungseinheit ist das vom Bundesverfassungsgericht praktizierte „Kooperationsverhältnis" 2 7 6 zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof. 2 7 7 Schließlich ist auf die Anerkennung des Europäischen Gerichtshofs als gesetzliEuGVVO für die Vertragsstaaten fest, daß die in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidungen in den anderen Vertragsstaaten anerkannt werden, ohne daß es hierfür eines besonderen Prüfungsverfahrens bedarf. 273 Hierzu K. Firsching/B. v. Hoffmann, Internationales Privatrecht, S. 125 ff. 274 Hierzu für den Vermögensgerichtsstand des § 23 ZPO: P. Wollenschläger, Zum Merkmal des hinreichenden Inlandbezuges in § 23 ZPO. Auslegungsdifferenzen in den verschiedenen Verfahrensarten der Zivilprozeßordnung, IPRax 2002, 96 ff.; P. Schlosser, EU-Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., 2003, Art. 3, Rn. 2. 275 Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f. 276 BVerfGE 89, 155 (175); hierzu G. Hirsch, Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht - Kooperation oder Konfrontation?, NJW 1996, 2457 ff.; J. Bröhmer, Das Bundesverfassungsgericht und sein Verhältnis zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 16/99 vom 16. April 1999, 31 ff. 277 Ausgangspunkt des Kooperationsverhältnisses ist der Umstand, daß deutsche Staatsorgane Gemeinschaftsrecht durchführen. Hierbei können sie verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte der Bürger verletzen. Darüber hinaus können auch Rechtsakte, die von Gemeinschaftsorganen erlassen worden sind, die Grundrechte der Bürger verletzen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich der Grundrechtsschutz in Deutschland nicht nur auf Rechtsakte deutscher Staatsorgane, sondern umfaßt auch die Rechtsakte europäischer Organe: BVerfGE 73, 339 (386). Die Aufgabe des umfassenden Grundrechtsschutzes will das Bundesverfassungsgericht wegen des Kooperationsverhältnisses eingeschränkt wissen. Es führt hierzu aus: »Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem „Kooperationsverhältnis" zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaft garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards (vgl. BVerfGE 73, 339 (387)) beschränken kann": BVerfGE 89, 155 (175). Folge dieser bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur ist, daß der Bürger das Bundesverfassungsgericht wegen grundrechtswidriger, von Gemeinschaftsorganen erlassener Rechtsakte und wegen nationaler Entscheidungen, die ihre Grundlage im Gemeinschaftsrecht haben, nur noch dann erfolgreich anrufen kann, wenn er seine Klage darauf stützt, daß der Europäische Gerichtshof generell keinen wirksamen Grundrechtsschutz gewährleistet. Verfassungsbeschwerden gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, aber auch konkrete Normenkontrollen nach Art. 100 GG, die lediglich eine Grundrechtsverletzung im Einzelfall behaupten, fallen nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr unter seine Gerichtsbarkeit. Der Bürger erhält in diesen Fällen Grundrechtsschutz dadurch, daß er gegen den nationalen Rechtsakt vor einem mitgliedstaatlichen Gericht klagt und im Gerichtsverfahren die Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs anregt, oder gegen vertragswidrige Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane direkt vor den europäischen Gerichten klagt, falls der Rechtsweg eröffnet ist.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
chen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht hinzuweisen.278 Für die nachfolgende Untersuchung sind das Vorabentscheidungsverfahren und das Vertrags verletzungs verfahren von besonderem Interesse. Die Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens ergibt sich aus seiner Natur als einem gerichtlichen Verfahren zwischen den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof. Die Bedeutung des Vertragsverletzungsverfahrens liegt darin, daß es seinem Wortlaut nach ein Instrument der Kommission sein könnte, Aufsicht über die auf Gemeinschaftsrecht beruhenden Rechtsakte der nationalen Gerichte auszuüben.
2. Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV Die Wahrnehmung der europäischen Rechtsprechungsaufgabe durch verschiedene Gerichte, einerseits durch die europäischen Gerichte, andererseits durch die Gerichte der Mitgliedstaaten, birgt die Gefahr in sich, daß das Gemeinschaftsrecht, primäres wie sekundäres, unterschiedlich ausgelegt und angewendet wird. 2 7 9 Dieser Gefahr muß die Europäische Gemeinschaft begegnen können; denn die unterschiedliche Vertragsauslegung und -anwendung verletzt nicht nur die Gleichheit im Einzelfall, sondern erschüttert gleichzeitig Rechtsfrieden und Rechtssicherheit in der gesamten Rechtsgemeinschaft, mithin die Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft selbst. 280 Um die notwendige einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts gewährleisten zu können, boten sich den Vertragsvätern der Europäischen Gemeinschaft mehrere Optionen an: Man hätte, wie in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten üblich, ein hierarchisch strukturiertes europäisches Gerichtswesen installieren können, an dessen Spitze der Europäische Gerichtshof als Revisions278 Nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darf in Deutschland niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Im Rahmen einer 1986 erhobenen Verfassungsbeschwerde prüfte das Bundesverfassungsgericht, ob das Bundesverwaltungsgericht durch die Nichtvorlage des Rechtsstreit an den Europäischen Gerichtshof, obwohl es hierzu gemäß Art. 234 Abs. 3 EGV verpflichtet gewesen wäre, gleichzeitig auch das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter verletzt hatte. Während das Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen die Frage offengelassen hatte (BVerfGE 29, 198 (207); 31, 145 (169)), betonte es in dieser Entscheidung erstmalig, daß der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sei: BVerfGE 73, 339 (366 ff.); bestätigt in BVerfGE 75, 223 (233 f.); 82, 159 (192). 279
Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 757; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 248; V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2657 ff.; auch T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 173; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 4. 280 So der Europäische Gerichtshof hinsichtlich der unvollständigen Anwendung einer EG-Verordnung in einem Mitgliedstaat, Urteil des EuGH vom 7. Februar 1979, Rs. 128/78, Slg. 1979, 419 (429); auch M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 44; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 173.
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instanz gestanden hätte. Dieser Weg wurde jedoch bewußt nicht beschritten, weil die Mitgliedstaaten weder 1957 bereit waren, noch gegenwärtig bereit sind, der Europäischen Gemeinschaft in so weitreichendem Umfang Hoheitsrechte zu übertragen, daß die Übertragung gleichzeitig die Aufgabe ihrer existentiellen Staatlichkeit nach sich gezogen hätte. 281 Eine weitere Option wäre gewesen, einem Gemeinschaftsorgan, ähnlich wie der Landesanwaltschaft in deutschen Verwaltungsprozessen oder wie dem Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof, eine Beteiligtenstellung in allen nationalen Gerichtsverfahren einzuräumen, in welchen Gemeinschaftsrecht zur Anwendung gelangt. Aus der Beteiligtenstellung wäre das Recht der Vertreterin des europäischen öffentlichen Interesses erwachsen, ihre Rechtsauffassung im laufenden Verfahren zu äußern und Rechtsmittel gegen das nationale Gerichtsurteil einlegen zu dürfen. Auch diese Option wurde, wie der EGVertrag erweist, von den Mitgliedstaaten nicht wahrgenommen 2 8 2 Statt dessen entschieden sich die Vertragsstaaten für ein präventives Zwischenverfahren: das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV, um die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Gerichte sicherzustellen. 283 Das Vorabentscheidungsverfahren berechtigt die nationalen Gerichte nach Art. 234 Abs. 2 EGV, 2 8 4 als letzte Instanz sind sie nach Art. 234 Abs. 3 EGV dazu verpflichtet, 285 offene Fragen zum Gemeinschaftsrecht im Sinne von Art. 234 Abs. 1 EGV, 2 8 6 die sich in anhängigen nationalen Gerichtsverfahren 281 Strukturelle Bedenken gegen einen solchen Ansatz finden sich bei M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 123; darüber hinaus stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Verfassungen der Mitgliedstaaten die Aufgabe existentieller Staatlichkeit erlauben: K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Die Gerichtsbarkeit, S. 234 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 138 ff. 282 Gegen die geschilderte Möglichkeit lassen sich mehrere Argumente ins Feld führen: Erstens hätte auch die Verfahrensbeteiligung eines Gemeinschaftsorgans nicht sicherstellen können, daß die nationalen (Rechtsmittel-)Gerichte das Gemeinschaftsrecht vertragsgemäß ausgelegt und angewendet hätten. Zweitens wäre der Aufwand erheblich. Drittens ist zu Beginn eines nationalen Gerichtsverfahrens oft nicht ersichtlich, ob Gemeinschaftsrecht Anwendung findet. 283
So M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 25; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 177, Rn. 10; Κ Α. Schachtschneider/ Α. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 247 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 173 f.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 3 ff. 284 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 94 ff.; Κ Α. Schachtschneider /Α. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 250 f.; V: Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2662 ff.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 26 ff.; E. Pache/M. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 16 ff. 285
M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 109 ff.; Κ Α. Schachtschneider/ Α. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 253 ff.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 39 ff. 286 J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 255 ff.; Μ Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 53 ff.; Th. Opper-
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stellen, dem Europäischen Gerichtshof vor Erlaß ihres Urteils vorzulegen. Der Europäische Gerichtshof entscheidet die vorgelegte Frage. 2 8 7 Sein Urteil bindet das vorlegende Gericht, welches verpflichtet ist, den Rechtsstreit unter Beachtung der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheiden 2 8 8 Die Bindung des nationalen Richters an die Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshof sowie der Umstand, daß der Europäische Gerichtshof das einzige Gericht ist, welches i m Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zur Normverwerfung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen b e f u g t 2 8 9 und zur letztverbindlichen Auslegung offener Gemeinschaftsbegriffe berechtigt i s t , 2 9 0 bewirken die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten. 2 9 1 Seiner Struktur nach ist das Vorabentscheidungsverfahren ein Zwischenverfahren (Inzidentverfahren), 2 9 2 weil der nationale Richter unter Aussetzung des bei ihm anhängigen Verfahrens die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs einh o l t . 2 9 3 Seine Bezeichnung rührt daher, daß der Europäische Gerichtshof nicht mann, Europarecht, Rn. 758; K. A. Schachtschneider/ A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 251 ff. 287 Zu Inhalt und Form des Vorabentscheidungsurteils: M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 144 ff. 288 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 148 f.; Κ A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 262 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 173; U. Ehrikke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 63 ff.; nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und der Auffassung der Lehre sind darüber hinaus auch alle weiteren Gerichte, die mit der Rechtssache befaßt sind, an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs gebunden: Urteil des EuGH vom 24. Juni 1969, Rs. 29/68, Slg. 1969, 165 (180). 289
M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 118 f.; R. Streinz, EUV/EGV, Art. 10 EGV, Rn. 34; E. Pache/M. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 18; auch H. D. Jarass/S. Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 3. 29 ° Urteil des EuGH vom 22. Oktober 1987, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 ff.; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 117 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 263 f.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 4. 291 K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 263 f.; V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2661 f.; E. Pache/M. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 17 f. 292 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 39; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 292 ff. 293 Trotz Vorlage an den Europäischen Gerichtshofs bleibt der nationale Richter Herr des Verfahrens: Er allein ermittelt den fallrelevanten Sachverhalt, er vernimmt die Zeugen, er beraumt die Sitzungen an, er trifft die Entscheidung, ob dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt wird, er bestimmt den Inhalt der Vorlagefrage, er setzt das nationale Gerichtsverfahren während des Vorlageersuchens aus, er subsumiert den ermittelten Sachverhalt unter die maß-
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nach Erlaß des nationalen Gerichtsurteils, sondern vorab, also vor Erlaß der nationalen Gerichtsentscheidung, über die vorgelegte Frage im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV entscheidet, ähnlich etwa wie das Bundesverfassungsgericht bei konkreten Normenkontrollen nach Art. 100 Abs. 1 GG. Neben seiner Aufgabe, für die einheitliche Vertragsauslegung und Vertragsanwendung in den Mitgliedstaaten zu sorgen, entfaltet das Vorabentscheidungsverfahren auch individualrechtsschützende Wirkung. 294 Zwar hat der rechtsschutzsuchende Unionsbürger nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs und der herrschenden Lehre kein subjektives Recht auf Vorlage gegenüber dem nationalen Gericht 2 9 5 Er kann jedoch die Vorlage zum Europäischen Gerichtshof anregen. Der vertragsgemäß handelnde nationale Richter wird der Anregung nachgehen, wenn der Antrag sachgemäß ist. Durch sein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof trägt der nationale Richter zur Durchsetzung der Rechte des Bürgers bei. 2 9 6 Letztlich ist das Vorabentscheidungsverfahren auch ein Instrument der Legalität, weil es in vielen Fällen vermeiden hilft, daß der nationale Richter das Gemeinschaftsrecht vertragswidrig anwendet und / oder auslegt.
3. Nationale Rechtsmittel Obwohl rein innerstaatlicher Natur, leisten die nationalen Rechtsmittel einen wesentlichen Beitrag zur Rechtsprechungseinheit in der Europäischen Gemeinschaft und zur vertragsmäßigen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten. Wegen der Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten sind die nationalen (Rechtsmittel-)Gerichte verpflichtet, das geblichen Rechtsnormen und er fällt das Urteil; auch K. A. Schachtschneider/A. EmmerichFritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 247 ff. 294 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 43; Κ A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 248 f.; B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234, Rn. 1; U. Ehrikke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 3 ff.; E. Pache /Μ. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 17 f. 2 95 Beschluß des EuGH vom 16. Mai 1968, Rs. 13/67, Slg. 1968, 281 (297); Urteil des EuGH vom 06. Oktober 1982, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (3428); A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 934; E. Pache/M. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 18; a.A. Κ Α. Schachtschneider/ Α. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 251 ff.; gegen die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs und der h. M. spricht auch der Umstand, daß in Deutschland in bestimmten Fällen gegen die Nichtvorlage zum Europäischen Gerichtshofs Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG erhoben werden kann. 296 B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 99; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 48 f.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
Gemeinschaftsrecht auszulegen und anzuwenden.297 Sie prüfen deshalb jedes unterinstanzliche Urteil, gegen welches ein Rechtsmittel eingelegt wurde, auch im Hinblick auf seine Vertragsgemäßheit, und heben es auf, falls es gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen sollte. 4. Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV Schließlich ist das Vertragsverletzungsverfahren des Art. 226 EGV anzuführen. Art. 226 EGV befugt die Kommission, vertragswidrige Rechtsakte der Mitgliedstaaten aufzugreifen und deren Rechtmäßigkeit entweder im Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV selbst zu überprüfen, oder im Rahmen der Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV vom Europäischen Gerichtshof überprüfen zu lassen. Seinem Wortlaut nach findet Art. 226 EGV auf jeden mitgliedstaatlichen Rechtsakt, welcher das Gemeinschaftsrecht verletzt, Anwendung und könnte somit auch vertragswidrige nationale Richtersprüche erfassen.
IV. Vertragsverletzungsverfahren als Aufsichtsinstrument der Europäischen Gemeinschaft über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten? Nationale Gerichtsurteile können das Gemeinschaftsrecht verletzen. 298 Folgende Vertragsverstöße sind denkbar: (1) Nationale Gerichte legen Begriffe des Gemeinschaftsrechts anders aus als dies der Europäische Gerichtshof getan hat oder getan hätte, wenn er zur Auslegung des fraglichen Rechtsbegriffs angerufen worden wäre. (2) Letztinstanzlich entscheidende Gerichte legen dem Europäischen Gerichtshof Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV entgegen der Vorlageverpflichtung nach Art. 234 Abs. 3 EGV nicht vor. 2 9 9
297
K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f. So etwa M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 119 ff.; F. C. Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 233. 299 H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; T. C. Hartley, The foundations of european community law, S. 290; B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 100; J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 264; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 119; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 63; R. Geiger, EUV/ EGV, Art. 226, Rn. 4; F. C. Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 233; U. Ehrikke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 45 ff. 298
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht
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(3) Nationale Gerichte haben das Vorabentscheidungsurteil des Europäischen Gerichtshofs eingeholt, beachten aber dessen Entscheidung bei ihrer Urteilsfindung nicht. 3 0 0 (4) Nationale Gerichte wenden das Gemeinschaftsrecht nicht an, obwohl dieses wegen seiner unmittelbaren Geltung zur Anwendung hätte gelangen müssen.301 (5) Nationale Gerichte können nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs gegen den in Art. 10 EGV normierten Grundsatz der Gemeinschaftstreue verstoßen, etwa indem sie dem Unionsbürger Rechtspositionen vorenthalten, die ihm nach dem Gemeinschaftsrecht zuerkannt werden müßten. 302 Es bestehen aus unterschiedlichen Gründen Bedenken, gegen vertragswidrige nationale Richtersprüche das Vertrags verletzungs verfahren einzuleiten. Erstens wirft die Rechtsprechungseinheit zwischen den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof die Frage auf, ob das Vorabentscheidungsverfahren nicht als das speziellere Verfahren die Anwendbarkeit des Vertragsverletzungsverfahrens ausschließt, zumindest aber einschränkt. 303 Es ist zweitens zu erörtern, ob das Vertragsverletzungsverfahren in seiner gegenwärtigen Form die auch gemeinschaftsrechtlich garantierte Unabhängigkeit der nationalen Gerichte ausreichend beachtet. In Hinblick auf die vertikale Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft ist drittens zu fragen, ob die Befugnis der Kommission als Organ der vollziehenden Gewalt, im Rahmen des Vorverfahrens nach Art. 226 Abs. 1 EGV über die Rechtmäßigkeit nationaler Richtersprüche zu urteilen, dem „institutionellen Gleichgewicht der Europäischen Gemeinschaft" 304 gerecht wird, nach welchem ausschließ300 R. Geiger, EUV/EGV, Art. 226, Rn. 4. 301 T. C. Hartley, The foundations of european community law, S. 289; Th. Oppermann/W. Hiermeier, Das Rechtsschutzsystem des EWG-Vertrages, JuS 1980, 785; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 734. 302 Urteil des EuGH vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89, Slg. 1990, 2433 ff. (Leitsatz Nr. 2). 303 Die Lehre hat in diesem Zusammenhang sogar darüber nachgedacht, ob die Entscheidungen nationaler Gerichte, die auf dem Gemeinschaftsrecht beruhen, überhaupt noch den Mitgliedstaaten zugerechnet werden können, oder ob sie nicht auf Grund ihres funktionalen Charakters als Ausübung europäischer Hoheitsgewalt zu verstehen seien: J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, S. 389 f. Folge eines solchen Verständnis wäre, daß das gegen nationale Gerichtsurteile gerichtete Vertragsverletzungsverfahren unzulässig wäre, weil Verfahrensgegenstand ausschließlich mitgliedstaatliche Maßnahmen, nicht aber funktional gemeinschaftliche Maßnahmen sein dürfen. Diese Position ist abzulehnen. Sie verkennt, daß die nationalen Gerichte, obwohl sie funktionell Gemeinschaftsgewalt ausüben (hierzu: M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2847), institutionell Ämter der Mitgliedstaaten geblieben sind und daß die Staatsgewalt der Mitgliedstaaten Grundlage der Gemeinschaftsgewalt ist. 304 Zu diesem vom Europäischen Gerichtshof für die gewaltenteilige Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft geprägten Begriff: Urteil des EuGH vom 17. Dezember 1970, Rs. 25/70, Slg. 1970, 1161 (1173); Urteil des EuGH vom 22. Mai 1990, Rs. C-70/88, Slg. 1990, 2041 ff.: „Die Verträge haben ein institutionelles Gleichgewicht geschaffen, indem sie ein System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Ge-
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
lieh der Europäische Gerichtshof zur Rechtsprechung befugt ist. Viertens muß das Aufsichtsrecht der Kommission im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EUV dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit entsprechen. Letztlich ist auch der in Art. 5 Abs. 2 EGV, Art. 2 Abs. 2 EUV verankerte Grundsatz der Subsidiarität zu berücksichtigen.
1. Einfluß des VorabentscheidungsVerfahrens Nach der Gemeinschaftsrechtsordnung sind die nationalen Gerichte verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht auszulegen und anzuwenden.305 Um zu vermeiden, daß Begriffe des Gemeinschaftsrechts unterschiedlich ausgelegt werden, sind die nationalen Gerichte berechtigt, teilweise verpflichtet, dem Europäischen Gerichtshof offene Fragen über die Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Begriffe im Sinne von Art. 234 Abs. 1 a EGV zur Entscheidung vorzulegen. Des weiteren sind sie berechtigt, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Gültigkeit von Rechtsakten im Sinne des Art. 234 Abs. 1 b EGV einzuholen. 306 Das Vorabentscheidungsverfahren ist das Hauptinstrument, welches der EG-Vertrag zur Verfügung stellt, um einerseits die erforderliche Rechtseinheit zwischen den verschiedenen, Gemeinschaftsrecht anwendenden nationalen Gerichten zu gewährleisten und um andererseits die Vertragsgemäßheit nationaler Richtersprüche zu sichern. Wenn der nationale Richter sein Urteil erlassen hat, kann dieses im Rahmen innerstaatlicher Rechtsmittel auf seine Vertragsgemäßheit überprüft werden. Hierbei sind letztinstanzlich entscheidende nationale Gerichte nach Art. 234 Abs. 3 EGV verpflichtet, dem Europäischen Gerichtshof Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV vorzulegen. Sollte ein nationales Gericht dieser Verpflichtung nicht nachmeinschaft errichtet haben, das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfüllung der dieser übertragenen Aufgaben zuweist. Die Wahrung dieses Gleichgewichts gebietet es, daß jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt. Sie verlangt auch, daß eventuelle Verstöße gegen diesen Grundsatz geahndet werden können. Dem Gerichtshof obliegt es nach den Verträgen, über die Wahrung des Rechts bei deren Auslegung und Anwendung zu wachen. Er muß daher in der Lage sein, die Aufrechterhaltung des institutionellen Gleichgewichts sicherzustellen; dies schließt die richterliche Kontrolle der Beachtung der Befugnisse der verschiedenen Organe durch die geeigneten Rechtsbehelfe ein". 305 So R. Streinz, Europarecht, Rn. 574; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, S. 102 ff.; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2847 f. (2850); B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234, Rn. 1. 306 Einige Autoren nehmen wegen des Normverwerfungsmonopols des Europäischen Gerichtshofs zu Recht an, daß auch unterinstanzliche Gerichte zur Vorlage verpflichtet sind, wenn sie Zweifel an der Gültigkeit eines Gemeinschaftsaktes haben: K. A. Schachtschneider /A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 253 ff.; F. C. Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 232; auch J. Streil, in: Beutler/Bieber/ Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 255.
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C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht
kommen, besteht in Deutschland die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht wegen der Verletzung des gesetzlichen Richters zu erheben (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). 3 0 7 Bestimmte vertragswidrige nationale Richtersprüche können nicht mehr innerstaatlich berichtigt werden, so etwa unterinstanzliche Gerichtsurteile, gegen welche die Verfahrensparteien nicht binnen der vorgesehenen Fristen Rechtsmittel eingelegt haben und die in Rechtskraft ergangen sind, Entscheidungen oberster Gerichte, gegen welche nicht Verfassungsbeschwerde erhoben worden ist, aber auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts selbst. Als das speziellste Verfahren, welches der EG-Vertrag zur Kontrolle nationaler Richtersprüche kennt, dürfte das Vorabentscheidungsverfahren alle weiteren gemeinschaftsrechtlichen Verfahren, die sich gegen nationale Urteile richten, beeinflussen. Diesen Einfluß gilt es herauszuarbeiten. Im gleichen Atemzug ist aber auch zu klären, was passieren soll, wenn das Vorabentscheidungsverfahren die ihm obliegende Funktion, für Einheit und Verträglichkeit zu sorgen, nicht entfalten kann, weil die nationalen Gerichte trotz Kenntnis ihrer Vorlagepflicht nicht vorlegen. Es ist zu überlegen, ob in diesen Fällen, die bei entsprechendem subjektiven Tatbestand sogar als Rechtsbeugung nach § 339 StGB einzuordnen sind, 308 nicht doch das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV Anwendung finden sollte.
a) Divergierende
Auslegungen unterinstanzlicher
Gerichte
Art. 234 EGV normiert keine generelle, für jedes nationale Gericht geltende Vorlagepflicht. Nach Absatz 3 der Norm sind lediglich die letztinstanzlichen Gerichte verpflichtet, dem Europäischen Gerichtshof Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV vorzulegen. 309 Unterinstanzliche Gerichte sind zwar vorlageberechtigt, nicht aber vorlageverpflichtet (Art. 234 Abs. 2 EGV). 3 1 0 Der nationale Richter eines unterinstanzlichen Gerichts hat deshalb zwei Alternativen, wenn er vor der Frage steht, wie Begriffe des Gemeinschaftsrechts auszulegen sind. Entweder er ersucht den Europäischen Gerichtshof um Vorabentscheidung oder er legt den gemeinschaftsrechtlichen Begriff in eigener Verantwortung und Unabhängigkeit aus, mit dem Risiko, daß seine Auslegung von der Interpretation, die der Europäischen Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren gegeben hätte oder in einem 307 BVerfGE 73, 339 (366 ff.); 75, 223 (233 f.); 82, 159 (192); V Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2658; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 47. 308 Hierzu allgemein H. Tröndle/Th. Fischer, Strafgesetzbuch, § 339, Rn. 9 ff., 17 ff. 309 κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 253 ff.; V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2658. 310 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 94; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 253 f.; B. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234, Rn. 20. 16 Wollenschläger
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
anderen Verfahren bereits gegeben hat, abweicht. Aus dem Normzweck von Art. 234 Abs. 2 EGV folgt, daß der EG-Vertrag eigenständige, von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abweichende Auslegungen nationaler Untergerichte in Kauf nimmt; denn ansonsten hätten die Mitgliedstaaten auch für Untergerichte eine Vorlagepflicht normiert. 311 Wenn der EG-Vertrag jedoch den Untergerichten die Befugnis einräumt, das Gemeinschaftsrecht eigenständig, ohne Vorlageverpflichtung, auszulegen, wäre es systemwidrig, wenn im Nachhinein von der Judikatur des Europäischen Gerichtshof abweichende Auslegungen nationaler Untergerichte zum Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens gemacht werden könnten. 312 Des weiteren besteht die Gefahr der Überlastung, weil zu viele Vorabentscheidungsgesuche an den Europäischen Gerichtshof gerichtet werden würden. Gegen diese Position könnte vorgetragen werden, daß der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit die Kontrolle auch untergerichtlicher Entscheidungen verlange. 313 Ferner könnte eingewendet werden, daß die rechtmäßige Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts gerade bei unterinstanzlichen Gerichten von Bedeutung sei, weil diese die Mehrzahl der Urteile, welche ihre Grundlage im Gemeinschaftsrecht haben, erlassen. Hiergegen ist anzuführen, daß die Unzulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gegen unterinstanzliche Gerichtsurteile nicht mit einem Verzicht jeglicher Rechtmäßigkeitskontrolle gleichzusetzen ist. Die Kontrolle über untergerichtliche Entscheidungen ist nach der Systematik des EG-Vertrages in die Hände der Parteien des nationalen Gerichtsverfahrens gelegt. Diese können gegen die untergerichtlichen Entscheidungen nationale Rechtsmittel einlegen, und dadurch veranlassen, daß das vertragswidrige Urteil von einem übergeordneten Gericht auf seine Vertraglichkeit überprüfen wird. 3 1 4 Das nationale Rechtsmittelgericht wiederum ist, wenn es letztinstanzlich entscheidet, nach Art. 234 Abs. 3 EGV verpflichtet, dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen.
311 So auch W. Däubler, Die Klage der EWG-Kommission gegen einen Mitgliedstaat, NJW 1968, 326 f. 312 So W. Däubler, Die Klage der EWG-Kommission gegen einen Mitgliedstaat, NJW 1968, 326 f.; Ρ Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 15, der zwar die Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens bei EG-widrigen Rechtsprechungsakten mitgliedstaatlicher Gerichte nicht vollkommen ausgeschlossen wissen will, jedoch selbst bei evidenten Fehlern unterinstanzlicher Gerichte von der Unzulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens ausgeht. 313 Zum Rechtsschutzprinzip als einem Grundpfeiler der Rechtsstaatlichkeit: Urteil des EuGH vom 23. April 1986, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (1365); Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 121 ff. 314 P. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 15, betont ausdrücklich, daß dies der unbedenklichste Weg sei, um unterinstanzliche Gerichtsurteile einer Kontrolle zuzuführen.
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C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht b) Abweichende Auslegungen letztinstanzlicher
Gerichte
Das Ziel des Vorabentscheidungsverfahrens ist es, die Rechtseinheit in der Europäischen Gemeinschaft zu wahren. 315 Art. 234 Abs. 3 EGV verpflichtet deshalb die letztinstanzlichen Gerichte, Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, weil die Entscheidungen dieser Gerichte, anders als die der unterinstanzlichen Gerichte, keiner weiteren Kontrolle durch ein nationales Rechtsmittel zugänglich sind. 316 Wenn ein letztinstanzlich entscheidendes Gericht die Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EGV mißachtet, ist die Rechtseinheit in der Europäischen Gemeinschaft in zweifacher Weise gefährdet: Erstens kann die Nichtvorlage dazu führen, daß das nicht vorlegende Gericht offene Rechtsbegriffe des Gemeinschaftsrechts anders auslegt als der Europäische Gerichtshof, was sowohl die Gerechtigkeit des Einzelfalles verletzen, als auch die Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden insgesamt stören würde. Zweitens besteht die Gefahr, daß die unterinstanzlichen Gerichte derselben Fachgerichtsbarkeit der Judikatur ihres obersten Gerichtshofs folgen und dadurch die uneinheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts verstärken. 317 Nicht jede Verletzung der Vorlagepflicht bedroht die Rechtsprechungseinheit der Europäischen Gemeinschaft gleichermaßen. Wenn es ein letztinstanzliches Gericht nur fahrlässig unterlassen hat, dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, es aber ansonsten keine Anhaltspunkte dafür gibt, daß sich die Vertragsverletzung wiederholen wird, so vermag dieser einmalige Vertragsverstoß die Rechtsprechungseinheit in der Europäischen Gemeinschaft nicht ernsthaft zu erschüttern. Das Vorabentscheidungsverfahren wird in diesen Fällen nicht grundsätzlich als Instrument der Rechtsprechungseinheit in Frage gestellt. Es entfaltet weiterhin Wirkung und verdrängt das allgemeinere Verfahren nach Art. 226 EGV. Anders hingegen ist die Situation zu bewerten, wenn letztinstanzliche Gerichte vorsätzlich die in Art. 234 Abs. 3 EGV geregelte Vorlagepflicht verletzen. Zwar kann in Deutschland hiergegen gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG Verfassungsbeschwerde wegen der Verletzung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) erhoben werden, 318 aber zum einen dürfte nicht gegen jede Verletzung der Vorlagepflicht Verfassungsbeschwerde erhoben werden, zum anderen kennen die meisten Mitgliedstaaten ein solches Rechtsmittel nicht. Das Vorabentscheidungs315
M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 43 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 247 ff.; V Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2657 f., 2661; Β. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234, Rn. 1; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 173. 316 Hierzu auch M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 110 f. 317 Vgl. M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 110. 3« U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 47. 1*
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
verfahren als Instrument der Rechtseinheit wird in diesen Fällen bewußt umgangen und ausgeschaltet, mit der Folge, daß es die ihm zugedachte Wirkung, für die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu sorgen, nicht entfalten kann. Demgemäß vermag es auch nicht, das Vertragsverletzungsverfahren als allgemeineres Verfahren zu verdrängen. Die Europäische Gemeinschaft hat in diesen Fällen ein berechtigtes Interesse daran, die normalerweise durch das Vorabentscheidungsverfahren garantierte Rechtseinheit der europäischen Rechtsprechung mittels Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens wieder herzustellen. Fraglich ist nun, welche Voraussetzungen an einen solchen, im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens verfolgbaren gerichtlichen Vertragsverstoß zu stellen sind. In diesem Zusammenhang ist auf die in Kapitel 4 unter dem Begriff des qualifizierten Vertragsverstoßes dargestellten Auffassungen hinzuweisen. Unter der Bedingung, daß die „nationalen Gerichte systematisch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs mißachten,319 daß „die Nichtvorlage auf einer offensichtlichen Unkenntnis oder einer bewußten Weigerung des nationalen Gerichts beruht", 3 2 0 oder daß „eine grob fahrlässig oder vorsätzlich begangene Mißachtung einer gefestigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs" 321 vorliegt, halten die dort genannten Autoren das Vertragsverletzungsverfahren gegen nationale Gerichtsentscheidungen (ausnahmsweise) für zulässig. Überzogen scheint allerdings die Forderung, weitere Kriterien, etwa die „systematische Weigerung zur Vorlage" zu verlangen. 322 Diese Auffassung verkennt, daß bereits die erstmalig vorsätzlich begangene Nichtvorlage den Keim für weitere Vertragsverletzungen in sich trägt und bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Rechtsprechungseinheit der Gemeinschaft bedroht. 323 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß das Vorabentscheidungsverfahren in den genannten Fällen keine Sperrwirkung gegenüber dem Vertragsverletzungsverfahren zu entfalten vermag. Ob andere Gründe der Durchführung von Aufsichtsmaßnahmen nach Art. 226 EGV entgegenstehen, wird an späterer Stelle erörtert.
319 So J. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, S. 390; P. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 15. 520 Auffassung der Kommission, AB1EG vom 31. Januar 1979, Nr. C 28/9. 321 So H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a. 3 22 So aber H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; P. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 15. 323
Demgemäß kommt das objektive Merkmal der schwerwiegenden Vertragsverletzung so aber J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 264 f. - nicht als Kriterium für die Zulässigkeit des Art. 226 EGV in Betracht, weil schwerwiegende Vertragsverstöße nicht notwendigerweise die Einheit der Rechtsprechung bedrohen müssen.
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht c) Mißachtung
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von Vorabentscheidungen
Die Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs bindet nach der Auffassung der Praxis und der Lehre sowohl das vorlegende Gericht als auch alle weiteren, mit demselben Streitgegenstand befaßten Gerichte. 324 Die Gerichte sind verpflichtet, den Rechtsstreit unter Beachtung der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheiden. Die Mißachtung der Vorabentscheidung stellt einen gravierenden Vertragsverstoß dar. Der Verstoß wiegt schwer, weil die Mißachtung der Vorabentscheidung aufgrund der Kenntnis des Vorabentscheidungsverfahrens, dieses ist vom nationalen Richter selbst initiiert worden, nur vorsätzlich begangen werden kann. Die Autorität des Europäischen Gerichtshofs wird untergraben. Schließlich wäre es möglich, daß Gemeinschaftsrechtsakte für ungültig befunden werden, die der Europäische Gerichtshof für vertragsgemäß erklärt hat. Die Mißachtung der Vorabentscheidung bewirkt, daß das Vorabentscheidungsverfahren keine rechtseinheitliche Wirkung entfalten kann. Weil der Vertragsverstoß darüber hinaus vorsätzlich gegangen wird, müssen auch diese Vertragsverstöße grundsätzlich im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens geahndet werden können. Ob andere Gründe die Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens ausschließen, wird besprochen werden.
d) Verstöße gegen die Gemeinschaftstreue
Als letztes ist auf die Verletzung der Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EGV durch die nationalen Gerichte hinzuweisen. Der Europäische Gerichtshof hat diese Fallgruppe im Laufe seiner Judikatur materialisiert und folgende Fallgestaltungen genannt: - 1990 entschied der Europäische Gerichtshof auf ein Vorabentscheidungsersuchen des House of Lords, daß die nationalen Gerichte bei gemeinschaftsrechtlichen Streitigkeiten verpflichtet seien, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, selbst wenn die nationale Gesetzgebung dem Erlaß einer solchen Eilentscheidung entgegenstehen sollte. 325 - In einem Rechtsstreit zwischen der Kommission und Italien entschied der Europäische Gerichtshof, daß nationale Beweislastvorschriften keine Anwendung finden können, „die es praktisch unmöglich machen, ( . . . ) , die Erstattung von 324 Urteil des EuGH vom 24. Juni 1969, Rs. 29/68, Slg. 1969, 165 (180); M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 148 f.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 262 ff.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 63 ff. 325 Urteil des EuGH vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89, Slg. 1990, 2433 ff. Hinzuweisen ist darauf, daß der EG-Vertrag selbst keine Regelungen über den vorläufigen Rechtsschutz in den Mitgliedstaaten enthält, so daß das nationale Gericht nicht gegen eine bestimmte Norm des Gemeinschaftsrecht verstoßen hatte.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben zu erreichen." 326 Auch in diesem Fall hatte das nationale Gericht weder bestimmte Vorschriften des EG-Vertrages noch der nationalen Rechtsordnung verletzt, sich gleichwohl aber, nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs, vertragswidrig verhalten. - Schließlich hat der Europäische Gerichtshof entschieden, daß nach Art. 10 EGV die Gerichte der Mitgliedstaaten zur Anwendung und vertragsgemäßen Auslegung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet sind. 327 Demgemäß verletzt auch die Nichtanwendung des Gemeinschaftsrechts seitens der nationalen Gerichte, obwohl diese hierzu wegen der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten verpflichtet wären, Art. 10 EGV. Gerichtliche Verstöße gegen die Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EGV, insbesondere die Nichtanwendung des Gemeinschaftsrechts, bedrohen die Rechtseinheit in der Europäischen Gemeinschaft erheblich, wie die genannten Beispiele deutlich gemacht haben: Zum einen werden Sachverhalte nach unterschiedlichem nationalen Recht entschieden und nicht gemäß dem einheitlich in allen Mitgliedstaaten geltenden Gemeinschaftsrecht. Zum anderen wird das Vorabentscheidungsverfahren in diesen Fällen nicht durchgeführt werden, weil sich dem nationalen Richter bei der Anwendung des nationalen Rechts keine gemeinschaftsrechtliche Frage im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV stellen wird. Wie bei der Verletzung der Vorlagepflicht und der Mißachtung der Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs, sollten solche Vertragsverstöße Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens sein können.
2. Vorrang der innerstaatlichen Korrektur Vertragswidrige nationale Gerichtsurteile können innerstaatlich, wenn sie noch nicht in Rechtskraft erwachsen sind, durch ordentliche und außerordentliche Rechtsmittel korrigiert werden. 328 Ordentliche Rechtsmittel bringen den Rechtsstreit vor ein höheres Gericht, welches erneut über den Streitgegenstand entscheidet und das Urteil des unterinstanzlichen Gerichts aufhebt, sofern dieses gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt. In Deutschland haben die Verfahrensparteien darüber hinaus die Möglichkeit, binnen eines Monats den außerordentlichen Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG wegen der Verletzung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) einzulegen, wenn die Richter, welche die angefochtene Entscheidung erlassen haben, ihrer Vorlageverpflichtung 326 Urteil des EuGH vom 24. März 1988, Rs. 109/86, Slg. 1988, 1799 ff. (Leitsatz Nr. 1). 327 Urteil des EuGH vom 16. Dezember 1976, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989 (1998); Beschluß des EuGH vom 13. Juli 1990, Rs. C-2/88, Slg. 1990, 3365 (3372). 328 Zur Korrektur gerichtlicher Entscheidungen: K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 297 f.
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht
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in Art. 234 Abs. 3 EGV nicht nachgekommen sind. 329 Die Kommission sollte wegen des Subsidiaritätsprinzips die Möglichkeit zur innerstaatlichen Korrektur beachten. 330 Sie sollte deshalb erst Aufsichtsmaßnahmen gegen vertragswidrige Urteile ergreifen, wenn diese weder mit einem ordentlichen Rechtsmittel noch mit dem außerordentlichen Rechtsmittel der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden können. Die Literatur hat insofern vom „Vorrang des nationalen Rechtsmittels" 3 3 1 und vom „Primat der nationalen Gerichte" 3 3 2 gesprochen. 3. Gewaltenteilige Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft b) Unabhängigkeit
der nationalen Gerichte
Nach der gewaltenteiligen Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft genießt nicht nur der Europäische Gerichtshof richterliche Unabhängigkeit.333 Auch die nationalen Gerichte entscheiden unabhängig, wenn sie Gemeinschaftsrecht auslegen und anwenden.334 Hinsichtlich der rechtsprechenden Gewalt bildet die Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft ein in sich geschlossenes hoheitliches System. 335 Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV, die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, das dualistisch strukturierte Rechtsschutzsystem in der Europäischen Gemeinschaft, das vom Bun329 BVerfGE 73, 339 (366 ff.); 75, 223 (233 f.); 82, 159 (192); C. Nowak, Nichterfüllung der Vorlagepflicht aus Art. 234 Abs. 3 EG als Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG - Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter in Luxemburg, NVwZ 2002, 688 ff. 330 So V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2660; zur Allgemeinheit des Subsidiaritätsprinzips: Urteil des Gerichts erster Instanz vom 21. Februar 1995, Rs. T-29/92, Slg. 1995 II, 289 (293); auch M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 892 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 513 ff.; K. A. Schachtschneider/Th. Beyer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, S. 144 ff. 331 So H.-W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a; B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 99; mit demselben Ergebnis K. Hailbronner, in: ders. / Klein /Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 12, der jedoch davon ausgeht, daß eine Vertragsverletzung erst dann vorliege, wenn das Urteil nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsmitteln anfechtbar sei; auch V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2660 ff. 332 γ Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2662. 333 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 756; L-J. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 473. 334 Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 389 f.; H.-W. Daig, in: B / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 169, Rn. 33a.; P. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 15; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 44;. auch K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f. 335 So auch K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
desVerfassungsgericht entwickelte Kooperationsverhältnis zwischen ihm und dem Europäischen Gerichtshof, 336 die Anerkennung des Europäischen Gerichtshofs als gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und die Überprüfung nationaler Richtersprüche auf ihre Vertragsgemäßheit durch nationale Rechtsmittelgerichte belegen dies deutlich. In diesem geschlossenen Rechtsprechungssystem ist kein Raum mehr für den völkerrechtlichen Ansatz, daß der Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte wegen seiner rein innerstaatlichen Wirkung keine Geltung im internationalen, vorliegend dem europäischen Rechtsverkehr beanspruchen könne. 337 Die Kommission hat als Organ der vollziehenden Gewalt nicht nur die Unabhängigkeit des Europäischen Gerichtshofs zu achten, sondern auch die der nationalen Gerichte. 338 Hieraus folgt, daß sie nicht berechtigt ist, Maßnahmen zu ergreifen, die in irgendeiner Weise auf nationale Richtersprüche einwirken. 339 Das Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV stellt eine solche unzulässige Maßnahme dar; denn in diesem Verfahren könnten die Kommission als Exekutivorgan der Europäischen Gemeinschaft und der betroffene Mitgliedstaat, vertreten durch das Exekutivorgan Regierung, gegebenenfalls erörtern, wie ein ihrer Auffassung nach vertragswidriger nationaler Richterspruch zu berichtigen sei. Die gewaltenteilige Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft verlangt jedoch, daß vertragswidrige Richtersprüche nur in gerichtlichen Verfahren korrigiert werden dürfen. Grundsätzlich zulässig wäre demnach die Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV oder nationale Rechtsmittel, weil in diesen Verfahren Gerichte über Richtersprüche urteilen, nicht aber das exekutive Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV.
b) Rechtsprechungsmonopol
des Europäischen Gerichtshofs
Der Europäische Gerichtshof ist zusammen mit dem Europäischen Gericht erster Instanz das einzige Gemeinschaftsorgan, welches zur Rechtsprechung befugt ist. 3 4 0 Die Kommission hat das Rechtsprechungsmonopol des Europäischen Ge336 BVerfGE 89, 155 (175); hierzu G. Hirsch, Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht - Kooperation oder Konfrontation?, NJW 1996, 2457 ff.; J. Bröhmer, Das Bundesverfassungsgericht und sein Verhältnis zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 16/99 vom 16. April 1999, 31 ff. 337 Zu diesem völkerrechtlichen Grundsatz: G. Dahm, Völkerrecht, Bd. ΙΠ, S. 191. 338 κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 267 f. 339 So /. Mertens de Wilmars/I. M. Verougstraete, Proceedings against member states for failure to fulfil their obligations, CMLR 1970, S. 389 f.; Κ. Α. Schachtschneider Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f.; ders./A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 309; in diese Richtung auch P. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 15; a.A. G. Nicolay sen, Vertragsverletzungen durch mitgliedstaatliche Gerichte, EuR 1985, 368 ff., für den das Vertragsverletzungsverfahren in keinem Verfahrensstadium die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte angreift.
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht
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richtshofs zu beachten. Ihre Aufsichtsmaßnahmen dürfen nicht rechtsprechender Natur sein. Die Untersuchung der Gemeinschaftsaufsicht in Kapitel 2 hat aufgezeigt, daß das Vertragsverletzungsverfahren in zwei verschiedene Verfahren zerfällt: das außergerichtliche Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV und die Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV. Neben der Festlegung des Streitgegenstandes341 hat das Vorverfahren nach Absatz 1 zum Ziel, den Vertragsverstoß des Mitgliedstaates durch außergerichtliche Verhandlungen zwischen der Kommission und dem Mitgliedstaat, vertreten durch dessen Regierung, zu beseitigen. Wenn der Mitgliedstaat den gerichtlichen Vertragsverstoß anerkennt und sich zur Beseitigung bereit erklärt, klärt die Aufsichtstätigkeit der Kommission in diesem Verfahrensstadium tatsächlich letztverbindlich die Rechtslage; denn es ist nicht anzunehmen, daß die Kommission gegen den vertragswidrigen Rechtsakt nach Art. 226 Abs. 2 EGV klagen wird. Letztverbindliche Aufsichtsmaßnahmen über nationale Richtersprüche sind ihrem Gegenstand nach Ausübung rechtsprechender Gewalt, welche den Gerichten vorbehalten ist. Gerichtliche Vertragsverstöße sollten deshalb nicht Gegenstand eines behördlichen Vorverfahrens sein. Hiervon zu unterscheiden ist die Befugnis der Kommission zur Klageerhebung nach Art. 226 Abs. 2 EGV. Ihre Rolle als klageerhebende Partei verletzt weder die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte, noch das Rechtsprechungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs, weil nicht die Kommission, sondern der Europäische Gerichtshof abschließend die Rechtslage beurteilt. Die Neutralität der Gerichte verlangt vielmehr, daß ein Organ der vollziehenden Gewalt Klage gegen Gerichtsurteile erhebt. 342 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß ein gegen vertragswidrige Gerichtsurteile gerichtetes Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV sowohl die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte als auch das Rechtsprechungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs gegenüber den anderen Gemeinschaftsorganen verletzt. Wenn die Kommission gegen einen nationalen Richterspruch vorgehen will, sollte sie deshalb unmittelbar vor dem Europäischen Gerichtshof klagen und kein Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV durchführen. 340 Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 243; ganz allgemein hierzu: Ch. Montesquieu, De l'esprit des lois, S. 220; in Bezug auf Deutschland: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 921; unter europäischer Rechtsprechung versteht die Lehre die streitentscheidende Feststellung der Rechtslage: Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 381. 34 1 Urteil des EuGH vom 28. März 1985, Rs. 274/83, Slg. 1985, 1077, Rn. 19; Urteil des EuGH vom 15. Dezember 1982, Rs. 211/81, Slg. 1982,4547, Rn. 8; W. Cremer, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 8 f. 342 In diesem Zusammenhang ist auf eine Rechtsfigur des romanischen Rechtskreis: die sogenannte Klage im Interesse des Gesetzes („pourvoie dans l'intérèt de la loi") hinzuweisen, welche eine Justizbehörde befugt, Rechtsmittel gegen Gerichtsentscheidungen im Interesse der Allgemeinheit einzulegen; zur Klage im Interesse des Gesetzes: J. Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, 5. Aufl., 1996, Einleitung, Rn. 19.
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
4. Rechtsstaatliche Anforderungen an die Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV Die Europäische Gemeinschaft versteht sich ausweislich des Art. 6 Abs. 1 EUV als Rechtsgemeinschaft, die zur Rechtsstaatlichkeit verpflichtet ist. 3 4 3 Wesentliche Bestandteile jeder rechtsstaatlichen Ordnung sind die Elemente von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit, 344 welche durch das Gebot prozessualer Fristen 345 und der Beständigkeit staatlichen Handelns, für die Rechtsprechung durch die formelle und materielle Rechtskraft richterlicher Entscheidungen garantiert, 346 materialisiert werden. Aus rechtsstaatlicher Sicht bestehen folgende Bedenken gegen die Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV in ihrer gegenwärtigen Form: Zum einen ist darauf hinzuweisen, daß die Aufsichtsklage nicht an Fristen gebunden ist. Zum anderen ist zu klären, ob der Grundsatz der materiellen Rechtskraft ausreichend Beachtung findet; denn Art. 226 Abs. 2 EGV schließt seinem Wortlaut nach nicht aus, daß der Europäische Gerichtshof über die Rechtmäßigkeit einer bereits in Rechtskraft ergangenen nationalen Gerichtsentscheidung entscheiden könnte. Die Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV ist, wie das Vorverfahren in Art. 226 Abs. 1 EGV, an keine Fristen gebunden. Die Kommission könnte deshalb noch lange Zeit nach Erlaß des vertragswidrigen nationalen Richterspruchs Klage erheben. 347 Um Rechtsfrieden und Rechtssicherheit gewährleisten zu können, soll343
Zum Inhalt europäischer Rechtsstaatlichkeit: Urteil des EuGH vom 22. März 1961, Rs. 42 und 49/59, Slg. 1961, 107 (172 ff.); Urteil des EuGH vom 5. Juli 1973, Rs. 1/73, Slg. 1973, 723, (729 ff.); Urteil des EuGH vom 5. Mai 1981, Rs. 112/80, Slg. 1981, 1095 (1120 f.); J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. II, S. 843 (911 ff.); V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2659 f. 344 K. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 277 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff., 402 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 154 ff.; 174 f.; B. Wegener, Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte?, EuR 2002, S. 793 ff. 345 BVerfGE 60, 253 (266 ff.); dazu auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 849 f.; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 82. 346 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 179 ff.; P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, Einführung § 322, Rn. 1 f.; B. Wegener, Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte?, EuR 2002, S. 793 ff. 347 Eine zeitliche Einschränkung der Klagebefugnis könnte allenfalls aus der Rechtsfigur des Rechtsschutzbedürfnisses folgen, welches als allgemeine prozessuale Voraussetzung auch für die Aufsichtsklage gilt: B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 93 ff.; H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 101 ff.; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 30 f. Demnach könnte die Kommission zum einen ihr Klagerecht verwirkt haben, weil sie über einen sehr langen Zeitraum nicht geklagt hat, obwohl ihr der Vertragsverstoß bekannt war: B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Ge-
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ten Klagen, die sich gegen vertragswidrige Entscheidungen nationaler Gerichte richten, binnen einer bestimmten Frist erhoben werden. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 7, 69, 64 Abs. 3 BVerfGG etwa sieht für die mit der Aufsichtsklage vergleichbaren Bund-Länder-Streitigkeiten eine sechsmonatige Klagefrist zum Bundesverfassungsgericht vor. Urteilsverfassungsbeschwerden müssen gemäß § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG binnen eines Monats erhoben werden. Das Gebot prozessualer Fristen verlangt als allgemeiner rechtsstaatlicher Grundsatz, daß auch die Aufsichtsklage nur innerhalb bestimmter Fristen erhoben werden sollte. Insoweit sind die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge aufgefordert, eine dementsprechende Regelung in den EG-Vertrag aufzunehmen. Hierbei scheint eine Frist von sechs Monaten ab Erlaß des gemeinschaftswidrigen Urteils angemessen. Diese Frist gäbe der Kommission ausreichend Zeit, die Sach- und die Rechtslage zu ermitteln und die Aufsichtsklage vorzubereiten. Das zweite angesprochene rechtsstaatliche Element ist die Rechtsfigur der materiellen Rechtskraft. Gegenstand der materiellen Rechtskraft ist die Verbindlichkeit der Richtersprüche für alle Gerichte, für die Verfahrensparteien, aber auch für die Allgemeinheit. 348 Sie verbietet außerdem die erneute Verhandlung und Entscheidung eines rechtskräftig entschiedenen Streitgegenstandes.349 Art. 226 Abs. 2 EGV in seiner gegenwärtigen Form schließt nicht aus, daß vertragswidrige Urteile nationaler Gerichte, die in Rechtskraft ergangen sind, zum Gegenstand der Aufsichtsklage gemacht werden können. Ein solches Verfahren würde beide Aspekte der materiellen Rechtskraft mißachten: Erstens wäre der nationale, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Richterspruch nicht allgemein verbindlich. Zweitens meinschaftsrecht, S. 92; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226, Rn. 32; zur Verwirkung im Völkerrecht, speziell zu Forderungen Griechenlands gegen Deutschland wegen SS-Verbrechen, die im zweiten Weltkrieg begangen worden sind: M. Müller, Kein Staat darf über einen anderen zu Gericht sitzen, FAZ vom 5. September 2001. Die Aufsichtsklage könnte zum anderen unzulässig sein, weil die Kommission zu erkennen gegeben hat, den Verstoß nicht mehr verfolgen zu wollen. Der hinter diesem Gedanken stehende Rechtsgrundsatz des „venire contra factum proprium" kann jedoch im öffentlichen Recht keine volle Wirkung entfalten, weil die Kommission als Hüterin des öffentlichen Interesses nicht an früheres vertragswidriges Handeln gebunden ist. Das Allgemeininteresse ist ein nicht disponibles Rechtsgut. Die Klageeinleitung ist auch in denjenigen Fällen gerechtfertigt, in denen die zuständige Behörde mangels falscher Rechtskenntnisse auf ihr Recht zu klagen verzichtet hat. Allerdings ist hierbei der Vertrauensschutz des Bürgers zu berücksichtigen. Insgesamt sind deshalb nur wenige Fallkonstellationen vorstellbar, bei denen die Klageerhebung mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig ist. 348 Zum Wesen der materiellen Rechtskraft: BVerfGE 2, 380 (403 f.); 47, 146 (161); A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 440 ff.; L. Rosenberg/K. H. Schwab/P. Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 919; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II; S. 896 ff.; K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. III, § 73, Rn. 38; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 871 f., 1132; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; zur Bindung der staatlichen Organe BVerfGE 47,146 (161). 349 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; P. Hartmann, in: Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, Zivilprozeßordnung, Einführung § 322, Rn. 2, der überschriftlich prägnant formuliert: „Keine nochmalige Entscheidung".
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Kap. 5: Aufsicht föderativer Einrichtungen
würde erneut, zumindest wenn es um Auslegungsfragen ginge, über in Rechtskraft ergangene Streitgegenstände verhandelt. Rechtsfrieden und Rechtssicherheit in Europa, die als Elemente der Rechtsstaatlichkeit auch für die Europäische Gemeinschaft gelten, wären nicht gewährleistet. 350 Interessant ist in diesem Zusammenhang Art. 68 Abs. 3 S. 2 EGV, in welchem das Gemeinschaftsrecht für die Bereiche Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr die Unantastbarkeit rechtskräftiger nationaler Gerichtsentscheidungen ausdrücklich ausspricht. 351 Obwohl sich die Norm nur auf bestimmte Aufgabenbereiche der Europäischen Gemeinschaft bezieht, sollte dem dort formulierten Gebot der Achtung rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen allgemeine Bedeutung zukommen. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über einen rechtskräftigen nationalen Richterspruch birgt schließlich auch folgende Gefahr in sich: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, welches dieser im Rahmen der Aufsichtsklage erläßt, hat nach Art. 228 Abs. 1 EGV keine kassatorische, sondern nur feststellende Wirkung. Der vertragswidrige nationale Richterspruch könnte, weil er rechtskräftig geworden ist, weder von der Europäischen Gemeinschaft noch vom betroffenen Mitgliedstaat aufgehoben werden. Es stünden sich zwei widersprechende Urteile gegenüber. Dieser Umstand könnte noch hingenommen werden, wenn der Europäische Gerichtshof über die Vertragsgemäßheit eines unterinstanzlichen Urteils entschieden hätte; denn das Urteil des Europäischen Gerichtshofs dürfte in diesem Fall vorrangig beachtet werden. Wenn aber der Europäische Gerichtshof das Urteil eines nationalen Verfassungsgerichts für vertragswidrig erklären würde, wären der Rechtsunsicherheit Tür und Tor geöffnet, weil sich die nationalen Ämter nicht ohne weiteres über die Judikatur ihres Verfassungsgerichts hinwegsetzen dürften. 352 Es bleibt somit festzuhalten, daß der rechtsstaatliche Grundsatz der materiellen Rechtskraft dem Vertragsverletzungsverfahren Grenzen setzt. Gleichzeitig ist aber das berechtigte Interesse der Europäischen Gemeinschaft zu sehen, gegen vertragswidrige nationale Rechtsakte einschreiten zu können. Die Mitgliedstaaten könnten deshalb die Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft dermaßen vertiefen, daß dem Europäischen Gerichtshof das Recht eingeräumt werden würde, nationale 350
B. Wegener, Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte?, EuR 2002, S. 793 f. 351 Art. 68 Abs. 3 EGV lautet: „Der Rat, die Kommission oder ein Mitgliedstaat können dem Gerichtshof eine Frage der Auslegung dieses Titels oder von auf diesen Titel gestützten Rechtsakte der Organe der Gemeinschaft zur Entscheidung vorlegen. Die Entscheidung, die der Gerichtshof auf dieses Ersuchen hin fällt, gilt nicht für Urteile von Gerichten der Mitgliedstaaten, die rechtskräftig geworden sind." 352 In diesem Zusammenhang führt die Literatur aus, daß die Gemeinschaftstreue die Europäische Gemeinschaft verpflichte, unlösbare Verfassungskonflikte in den Mitgliedstaaten zu vermeiden, die sich etwa aus der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen ein nationales Gerichtsurteil ergeben würden: K. Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/ Müller-Graf, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 12.
C. Recht zur Aufsicht aus europäischer Sicht
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Rechtsakte aufzuheben. Eine solche Vertragsänderung ist jedoch gegenwärtig nicht angestrebt, hätte sie doch die Aufgabe der existentiellen Staatlichkeit der Mitgliedstaaten zur Folge. 353
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M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 123.
Kapitel 6
Änderungs- und Verbesserungsvorschläge A. Grundlagen Grundsätzlich hat sich das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 E G V als Instrument, welches die Vertragsgemäßheit mitgliedstaatlicher Rechtsakte sicherstellen soll, bewährt. 1 Insbesondere die mitgliedstaatlichen Rechtsakte der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt werden wirksam kontrolliert, wie folgende Zahlen belegen: 1999 wurden über 80 % der Vertrags verstoße von den M i t gliedstaaten noch während des Vorverfahrens nach Art. 226 Abs. 1 EGV beseitigt. 2 Für diejenigen Rechtsstreitigkeiten, die gemäß Art. 226 Abs. 2, Art. 228 Abs. 1 E G V zu einer Verurteilung des Mitgliedstaates geführt haben, ist die Befolgung des Urteils der Normalfall. Nur in Ausnahmefallen leitet die Kommission ein so genanntes erneutes Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 228 Abs. 2 E G V ein. 3 Die genannten Zahlen besitzen jedoch keine Aussagekraft für die Kontrolle der Europäischen Gemeinschaft über die rechtsprechende Gewalt der Mitgliedstaaten. 1
Hierzu der 17. Jahresbericht der Kommission für 1999 über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, AB1EG vom 30. Januar 2001, C 30, S. 1 ff.; vgl. auch B. C. Ortlepp , Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 16, die in diesem Zusammenhang ausführt, daß über die Erörterung der „pathologischen Fälle" nicht der Normalfall vergessen werden darf, nämlich, daß das Vertragsverletzungsverfahren in der Regel zur Befolgung des Gemeinschaftsrechts führe. 2 1999 erließ die Kommission 1.075 Fristsetzungsschreiben. In 460 Fällen wurde eine mit Gründen versehene Stellungnahme abgegeben. In 178 Fällen wurde der Europäische Gerichtshof angerufen. Nur etwa 16% der Fälle, in denen ein Mitgliedstaat nach der Auffassung der Kommission gegen den EG-Vertrag verstoßen hat, mündeten also in ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. Die Zahlen für die Jahre davor zeigen ein ähnliches Bild (AB1EG vom 30. Januar 2001, C 30, S. 72): Für 1995: 1.016 Mahnschreiben, 192 mit Gründen vers. Stellungnahmen und 72 Klagen. Für 1996: 1.142 Mahnschreiben, 435 mit Gründen vers. Stellungnahmen und 92 Klagen. Für 1997: 1.461 Mahnschreiben, 334 mit Gründen vers. Stellungnahmen und 121 Klagen. Für 1998: 1.101 Mahnschreiben, 675 mit Gründen vers. Stellungnahmen und 123 Klagen. 3 1999 hat die Kommission in vier Fällen beschlossen, den Europäischen Gerichtshof ein zweites Mal anzurufen und die Verhängung eines Zwangsgeldes zu beantragen. Bis zum 31. Dezember 1999 war eine Klage erhoben worden, die anderen Fälle befanden sich zu diesem Zeitpunkt in Vorbereitung (AB1EG vom 30. Januar 2001, C 30, S. 9). Zur erstmaligen Verurteilung zu einem Zwangsgeld nach Art. 228 EGV gegen den Mitgliedstaat Griechenland: Urteil des EuGH vom 4. Juli 2000, Rs. C-387/97, EuZW 2000, 531 ff.; mit Anmerkung von U. Karpenstein, EuZW 2000, 537 f.
Α. Grundlagen
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In tatsächlicher Hinsicht ist anzuführen, daß die Kommission bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nie gegen ein ihrer Auffassung nach vertragswidriges Urteil eines nationalen Gerichts vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt hat. Die Mitgliedstaaten befanden sich demzufolge auch noch nicht in der Lage, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, welches die Rechtswidrigkeit einer nationalen Gerichtsentscheidung festgestellt hat, befolgen zu müssen. Aus rechtlicher Sicht ist zweifelhaft, ob die Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen einen vertragswidrigen nationalen Rechtsprechungsakt überhaupt zulässig wäre. Die in Kapitel 5 dargelegten Gründe, insbesondere die richterliche Unabhängigkeit, das Rechtsprechungsmonopol der Gerichte und das Rechtsinstitut der materiellen Rechtskraft, dürften einem solchen Verfahren entgegenstehen.4 Das vorliegende Kapitel geht der Frage nach, ob und wie sichergestellt werden kann, daß die Gerichte der Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht vertragsgemäß auslegen und anwenden.5 Aus rechtlichen und systematischen Gründen ist hierbei zwischen drei Zeiträumen zu unterscheiden: (1) Zeitraum von der Klageerhebung bis zum Erlaß des Richterspruchs. (2) Zeitraum zwischen Urteilserlaß und Eintritt der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung. (3) Zeitraum nach Eintritt der Rechtskraft des Richterspruchs. Erster Zeitraum: Ausgangspunkt jeder Gerichtsentscheidung ist die Anrufung des Gerichts durch den Kläger („Wo kein Kläger, da kein Richter"). 6 Jede Klage 4 Aus den genannten Gründen wurde in der Lehre darauf hingewiesen, daß das Vertragsverletzungsverfahren bei rechtswidrigen Entscheidungen nationaler Gerichte an seine rechtliche Grenzen stoße: so C.-D. Ehlermann, Die Verfolgung von Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten durch die Kommission, in: FS Kutscher, S. 152 f., der drei Arten von Vertragsverstößen nennt, bei denen die Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens mehr schade, als zur Beseitigung des Vertragsverstoßes beitrage: (1) Vertragsverletzungen durch Gerichte, (2) institutionelle Krisen, wie beispielsweise 1965 die französische „Politik des leeren Stuhles", (3) Situationen, in denen die politische Entwicklung den ursprünglichen Konsens unter den Mitgliedstaaten in Frage gestellt hat; B. C. Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument zur Sicherung der Legalität im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 171, spricht von den rechtlich immanenten Grenzen des Vertrags verletzungs Verfahrens bei gemeinschaftsrechtswidriger Rechtsprechung nationaler Gerichte. 5 Auch die Literatur hat sich mit dieser Frage auseinander gesetzt, wie schon die Titel folgender Beiträge zeigen: M. Clausnitzer, Die Vorlagepflicht an den EuGH - Zum (mangelnden) Rechtsschutz gegen Verstöße letztinstanzlicher Gerichte, NJW 1989, 641 ff.; G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11 ff.; M. Kort, Verstoß eines EG-Mitgliedstaates gegen europäisches Recht: Probleme des Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 169 EGV, DB 1996, 1323 ff., welcher der Frage durch die Überschrift „Vertragsverletzungen durch Gerichte" eine besondere Stellung einräumt. 6 Zu diesem Grundsatz: A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 141 ff.; A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht. S. 167; Ο. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 139; L. Rosenberg/K H. Schwab/R Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 505 ff.
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
setzt demgemäß voraus, daß der Kläger eine Klageschrift bei Gericht einreicht (Klageerhebung).7 Die Klage ist dem Beklagten zuzustellen (§ 271 ZPO).8 Dieser hat das Recht, sich gegen die Klage in der Klageerwiderung zu verteidigen (§ 277 ZPO). Inhaltlich / sachlich befaßt sich der Richter mit der Klage, wenn diese zulässig ist, mit anderen Worten: wenn die Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sind.9 Anderenfalls weist er die Klage als unzulässig ab. Die sachliche Auseinandersetzung umfaßt zum einen die Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen, zum anderen die Klärung der Rechtslage anhand des deutschen, gegebenenfalls aber auch des Gemeinschaftsrechts, welches unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbar ist. 10 Wenn auf den Rechtsstreit Gemeinschaftsrecht Anwendung finden sollte und sich hierbei Rechtsfragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV stellen, ist der nationale Richter nach Art. 234 Abs. 2 EGV berechtigt, unter den Voraussetzungen des Art. 234 Abs. 3 EGV sogar verpflichtet, dem Europäischen Gerichtshof die offene Frage vorzulegen. 11 Der Europäische Gerichtshof entscheidet gemäß Art. 234 Abs. 1 EGV die vorgelegte Frage im Wege der Vorabentscheidung. Seine Entscheidung bindet das vorlegende mitgliedstaatliche Gericht. 12 Das bedeutet, daß der nationale Richter verpflichtet ist, den Rechtsstreit unter Berücksichtigung der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheiden. Strukturell betrachtet stellt sich das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV somit als ein inzidentes Präventiv verfahren dar. 13 Seine Zielsetzung ist, Vertragsverstöße nationaler Gerichte erst gar nicht entstehen zu lassen, indem der nationale Richter das Recht/die Pflicht hat, vor Erlaß seines Urteils dem Europäischen Gerichtshof offe7 So A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht. S. 220 ff.; L. Rosenberg/K. H. Schwab/R Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 507; für Klagen vor den Verwaltungsgerichten: W. Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 106 ff.; F. O. Kopp/W.-R. Schenke, VwGO, § 81, Rn. 1. 8
Zum Erfordernis der Klagezustellung im Zivilrecht: O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 141 ff.; L. Rosenberg/K. Η. Schwab/P. Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 542 ff.; P. Hartmann, in: Baumbach/ Lauterbach /Albers/ Hartmann, Zivilprozeßordnung, § 253, Rn. 7 f. 9 A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 167 f., 191 ff.; L Rosenberg/K. Η Schwab/P. Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 534 ff. 10 BVerfGE 73, 339 (374 f.); 89, 155 (190); Urteil des EuGH vom 05. Februar 1963, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (24 f.); Urteil des EuGH vom 15. Juli 1964, Rs. 6/62, Slg. 1964, 1251 (1269); Urteil des EuGH vom 09. März 1978, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (643 f.); R. Streinz, Europarecht, Rn. 346 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 627 ff.; Κ. A. Schachtschneider /A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, S. 100 ff.; speziell zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Gerichte V. Neßler, Europäisches Gemeinschaftsrecht vor deutschen Gerichten, DVB1. 1993, 1240 ff. 11
K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 250 ff. (253 ff.); A. Oexle, Einwirkungen des EG-Vorabentscheidungsverfahrens auf das nationale Verfahrensrecht, NVwZ 2002, S. 1328. 12 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 148 ff.; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, Rn. 545; K. A. Schachtschneider/A. EmmerichFritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 262 ff. 13 In diesem Sinne M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EGVertrag, S. 39 f.
Α. Grundlagen
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ne Fragen zum Gemeinschaftsrecht zur Entscheidung vorzulegen, um dadurch eine fehlerhafte Auslegung und/oder Anwendung des Gemeinschaftsrecht zu vermeiden. Zweiter Zeitraum: Durch das nationale Gerichtsurteil wird der Rechtsstreit, zumindest für diese Instanz, abgeschlossen. Die Entscheidung ist endgültig und damit letztverbindlich, wenn die nationalen Verfahrensordnungen kein Rechtsmittel gegen den Richterspruch zulassen. In den meisten Fällen jedoch geben die nationalen Verfahrensordnungen den Parteien das Recht, Rechtsmittel gegen das Gerichtsurteil einzulegen. Das Rechtsmittel trägt den Rechtsstreit vor die nächsthöhere Instanz, das Rechtsmittelgericht. 14 Das Rechtsmittelgericht entscheidet die Sache noch einmal unter Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in tatsächlicher und rechtlicher (Berufung) oder nur in rechtlicher Hinsicht (Revision). Sollte die Überprüfung ergeben, daß das unterinstanzliche Urteil vertragswidrig ist, wird das Rechtsmittelgericht das vertragswidrige Urteil aufheben. Zu beachten ist, daß die Korrektur vertragswidriger Gerichtsurteile durch nationale Rechtsmittel nur während eines begrenzten Zeitraums möglich ist, weil Rechtsmittelfristen im Regelfall kurz bemessen sind. Sie betragen oft nur einen Monat: so die Berufung (§516 ZPO) und die Revision (§ 552 ZPO) im Zivilprozeß oder die Zulassungsberufung (§ 124a Abs. 1 VwGO), die Nichtzulassungsbeschwerde der Revision (§ 133 Abs. 2 VwGO) und die Revision (§ 139 Abs. 1 VwGO) in Verwaltungsstreitigkeiten. Auch die Urteilsverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG als außerordentlicher Rechtsbehelf muß gemäß § 93 Abs. 1 BVerfGG binnen eines Monats nach Zustellung des rechtswidrigen Gerichtsurteils erhoben werden. Dritter Zeitraum: Wenn die Rechtsmittelfristen abgelaufen sind, ohne daß eine der Verfahrensparteien Rechtsmittel eingelegt hat, oder wenn die nationalen Verfahrensordnungen kein Rechtsmittel gegen gerichtliche Entscheidungen vorsehen, ergeht die Gerichtsentscheidung sofort in materieller Rechtskraft. 15 Das bedeutet, daß das Urteil unabänderlich geworden ist und die Parteien, die Gerichte und den Staat bindet. 16 Das Urteil kann nicht mehr im Rahmen ordentlicher Rechtsmittel von einem höherrangigen Gericht berichtigt werden. Als Mittel der Korrektur könnten bestimmte außerordentliche Rechtsbehelfe in Betracht gezogen werden: zum einen das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV, dessen Wortlaut es nicht ausschließt, auch in Rechtskraft ergangene Vertragsverstöße nationaler Gerichte zum Gegenstand des Verfahrens zu machen, zum anderen die Wiederaufnah14
Grundsätzlich R. Zippelius, Einführung in das Recht, S. 15; auch J. Albers, in: Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, Zivilprozeßordnung, Grundzüge § 511, Rn. 3. 15 Zum Wesen der materiellen Rechtskraft: BVerfGE 2, 380 (403 f.); 47, 146 (161); A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 401 ff.; A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 440 ff.; Κ. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: HStR, Bd. ΙΠ, § 73, Rn. 38; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II; S. 896 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 871 f., 1132; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. 16 BVerfGE 47, 146 (161); L. Rosenberg/K. H. Schwab/R Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 914 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. 17 Wollenschläger
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
meverfahren, welche es erlauben, in Rechtskraft ergangene Gerichtsurteile erneut aufzugreifen und zu entscheiden. 17 Wiederaufnahmegrund könnte das Urteil des Europäischen Gerichtshofs sein, in welchem festgestellt worden ist, daß das nationale Gericht gegen den EG-Vertrag verstoßen hat. 1 8 Neben dem zeitlichen Aspekt lassen sich weitere Kriterien finden, welche die Verbesserungs- und Änderungsvorschläge prägen. A u f sie ist deshalb kurz hinzuweisen: Erstens sind nationale Verfahren von gemeinschaftsrechtlichen Verfahren zu unterscheiden. 19 Zweitens ist zwischen Vorhaben de lege lata und de lege ferenda zu trennen. 2 0 Es ist drittens zu fragen, ob die Rechtmäßigkeit mitglied17 Zu den Wiederaufnahmeverfahren: Ο. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 275 f.; L Rosenberg/K. H. Schwab/R Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 962; R Hartmann, in: Baumbach/ Lauterbach / Albers / Hartmann, Zivilprozeßordnung, Grundzüge zu § 578, Rn. 1; R. Greger, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, 22. Aufl., 2001, vor § 578, Rn. 1 ff. 18 So etwa G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 14 f.; C. Vedder, Europa der Bürger, 1994, S. 81, 122 f., zitiert bei H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EGVertrag, Art. 169, Rn. 62. 19 Gemeinschaftsrechtliche Verfahren etwa sind das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV oder der Vorschlag, eine sogenannten Kassationsbeschwerde im EG-Vertrag zu verankern: hierzu M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, 1994, D 128. Mitgliedstaatliche Verfahren sind alle nationalen Rechtsmittel oder etwa der Vorschlag, das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs als Restitutionsgrund in die nationalen Verfahrensordnungen aufzunehmen: G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 14 f. Gemeinschaftsrechtliche Ansätze haben den Vorteil, daß sie europaweit gelten, also alle Mitgliedstaaten binden. Ihr Nachteil besteht darin, daß sie in vielen Fälle nur schwer zu verwirklichen sein dürften. Dies gilt insbesondere für Gesetzesvorhaben auf europäischer Ebene, weil Änderungen des EG-Vertrages der Zustimmung aller Mitgliedstaaten bedürfen. Nationale Ansätze spielen deshalb eine gewichtige Rolle, weil auch sie zur Legalität staatlichen Handelns beitragen können. 20 So auch C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 10 ff., der die verschiedenen Möglichkeiten zur Bekämpfung des gerichtlichen Vertragsverstoßes in Vorschläge de lege lata und de lege ferenda einteilt. Als Beispiel für einen Ansatz de lege lata ist die Praxis der Kommission anzuführen, das Vertragsverletzungsverfahren gegen gerichtliche Vertragsverstöße nur dann einzuleiten, wenn der Vertragsverstoß auf offensichtlicher Unkenntnis oder einer bewußten Haltung des nationalen Gerichts beruht: AB1EG vom 31. Januar 1979, Nr. C 28/9. Ein weiteres Beispiel ist die Forderung, in Analogie zu § 578 Abs. 1 Nr. 6 ZPO die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen fehlerhafte, nationale Gerichtsurteile für zulässig zu erachten, deren Rechtswidrigkeit der Europäische Gerichtshof im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens festgestellt hat: G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 14; ablehnend hierzu der Bundesfinanzhof, NJW 1978, 511 f. Als Beispiel für einen Vorschlag de lege ferenda ist die Einführung der schon erwähnten Kassationsbeschwerde zu nennen: M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 128.
Α. Grundlagen
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staatlichen Handelns durch präventive oder durch repressive Verfahren angestrebt w i r d . 2 1 Viertens können Kontrollverfahren von Privatpersonen oder von Amts wegen initiiert werden. 2 2 Demgegenüber scheiden das Institut der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung der Mitgliedstaaten 2 3 und die Befugnis, eine Geldstrafe nach Art. 228 Abs. 2 E G V für den Fall auszusprechen, daß der Mitgliedstaat ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs nicht befolgt, 2 4 als Instrumente, welche den betreffenden Mitgliedstaat zu vertragsgemäßem Handeln veranlassen könnten, aus. Die Rechtskraft der nationalen Gerichtsentscheidung steht den genannten Verfahren entgegen. 25
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Musterbeispiel eines präventiven Rechtsinstrumentes ist wiederum das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV, welches vor Erlaß der nationalen Gerichtsentscheidung durchgeführt wird. Repressive Rechtsinstrumente sind das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV, welches einen Vertragsverstoß eines Mitgliedstaates voraussetzt, oder die nationalen Rechtsmittel verfahren. 22 Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang zum einen auf die Aufsichtsrechte der Kommission nach Art. 211 Spstr. 1 EGV i.V.m. Art. 226 EGV, zum anderen auf das Recht des Bürgers, gegen vertragswidrige Urteile nationaler Gerichte Rechtsmittel einzulegen zu können. 23 Allgemein zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung der Mitgliedstaaten: Urteil des EuGH vom 19. November 1991, Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, 5357 ff.; Urteil des EuGH vom 5. März 1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, 1029 ff.; Urteil des EuGH vom 8. Oktober 1996, verb. Rs. C-178/94 u. a., Slg. 1996,1-4845 ff.: Als Grundlage des Haftungsanspruches führt der Europäische Gerichtshof in den genannten Entscheidungen das Prinzip der vollen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, das Prinzip des Schutzes der durch das Gemeinschaftsrecht begründeten Individualrechte des Marktbürgers, das Prinzip der Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EGV und die in Art. 288 Abs. 2 EGV angesprochenen allgemeinen Rechtsgrundsätze an; F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 494 ff.; J. Bröhmer, Die Weiterentwicklung des europäischen Staatshaftungsrechts, JuS 1997, 117 ff.; M. Deckert, Zur Haftung des Mitgliedstaates bei Verstößen seiner Organe gegen europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR 1997, 203 ff.; C. Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien. Von der unmittelbaren Wirkung bis zum Schadensersatz, 1999, S. 99 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 296 f.; zur Frage, ob auch judikatives Unrecht die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auslösen kann: F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 101 f.; B. Wegener, Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte?, EuR 2002, S. 785 ff. 24 Hierzu: H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 113, 117; P. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 171, Rn. 23; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 228, Rn. 9. 2 5 F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 101 f., 513 f.; B. Wegener, Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte?, EuR 2002, S. 793 ff.
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
B. Verbesserungsvorschläge I. Vermeidung gerichtlicher Vertragsverstöße Die Aufgabe des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV besteht darin, Rechtseinheit und vertragsgemäße Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. 26 Diese Aufgabe hat das Vorabentscheidungsverfahren bisher wirkungsvoll erfüllt, wie folgende Zahlen belegen: 2 7 1999 waren fast 53% aller vor dem Europäischen Gerichtshof anhängigen Verfahren, nämlich 255 von 485, Vorabentscheidungsverfahren. Wichtige Rechtsfragen wurden durch Vorabentscheidungsurteile geklärt. 2 8 Gleichzeitig ist das Vorabentscheidungsverfahren aber auch Quelle für neue Vertrags verstoße. Nach Art. 234 Abs. 3 EGV sind letztinstanzlich entscheidende Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet, dem Europäischen Gerichtshof offene Fragen i m Sinne des Art. 234 Abs. 1 E G V vorzulegen. Wenn sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen, verletzen sie den EG-Vertrag. 2 9 Die Lehre hat deshalb angeregt, das Vorabentscheidungsverfahren zu reformieren, um dessen vertragswahrende Wirkung zu verstärken. 30 Weil der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung ju26 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 43 ff. (46, 49); Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 757; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 247 ff.; V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2657 ff. 27 Abschlußbericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, Sonderbeilage zur EuZW 9/2000, S. 6; AB1EG vom 30. Januar 2001, C 30, S. 192; M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EGVertrag, S. 50 ff.; zur praktischen Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 247. 28 Eine Übersicht der wichtigsten Entscheidungen, die der Europäische Gerichtshof im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren erlassen hat, findet sich bei: P. Pescatore, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag und die Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, BayVBl. 1987, 33 ff., 68 ff. (72 ff.). Zu nennen sind: (1) Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten: erstmalig Urteil des EuGH vom 19. November 1991, Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, 5357 ff. (2) Die Feststellung des Europäischen Gerichtshofs, daß das Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt: Urteil des EuGH vom 05. Februar 1963, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (24 f.); Urteil des EuGH vom 15. Juli 1964, Rs. 6/62, Slg. 1964, 1251 (1269). (3) Die Frage, welche Institutionen vorlageberechtigt im Sinne des Art. 234 Abs. 2 EGV sind: Urteil des EuGH vom 23. März 1982, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095 ff. (4) Das Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1982, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 ff., in welchem der Europäische Gerichtshof über den Beurteilungsspielraum letztinstanzlicher Gerichte hinsichtlich ihrer Vorlageverpflichtung nach Art. 234 Abs. 3 EGV entschied. 29 So M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 119 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 763. 30 C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 15 f.; M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemein-
Β. Verbesserungsvorschläge
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diziert, daß die Parteien des nationalen Gerichtsverfahrens aus Art. 234 EGV kein subjektives Recht auf Vorlage ableiten können,31 wurde die Frage erörtert, ob es sinnvoll sei, den Parteien des nationalen Gerichtsverfahrens eine Antragsbefugnis auf Vorlage des Rechtsstreits zum Europäischen Gerichtshof wegen offener Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV einzuräumen (Vorlageerzwingungsverfahren). 32 Des weiteren hat der Europäische Gerichtshof Hinweise gegeben, welche Anforderungen er als über die Vorlagen urteilendes Gericht an Vorabentscheidungsgesuche nationaler Gerichte stellt. 33
1. Recht auf Vorlage Das Vorlageerzwingungsverfahren ist ein Zwischenverfahren, welches während des nationalen Gerichtsverfahrens stattfindet. Es soll klären, ob der Antrag einer oder beider Verfahrensparteien auf Vorlage des Rechtsstreits wegen offener Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV an den Europäischen Gerichtshof berechtigt ist und gegebenenfalls den nationalen Richter bei ungerechtfertigter Verwerfung des Vorlageantrags zur Vorlage verpflichten. 34 Das Vorlageerzwingungsverfahren wirft verschiedene Fragen auf. Erstens: Mit welchen Rechtsbehelfen soll die Vorlage erzwungen werden? Sollte dies durch ein nationales oder ein europäisches Rechtsmittel erfolgen? Zweitens: Welche Personen sollen ein Recht auf Vorlage haben? Drittens: Gilt das Recht auf Vorlage für sämtliche nationalen Gerichtsverfahren oder nur in Verfahren vor letztinstanzlichen Gerichten? Viertens: Ist die Einführung eines Rechts auf Vorlage grundsätzlich begrüßenswert?
schaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 127 f.; J. Streil, in:Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 253; Abschlußbericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, Sonderbeilage zur EuZW 9/2000, S. 6. 31 Beschluß des EuGH vom 16. Mai 1968, Rs. 13/67, Slg. 1968, 281 (297); Urteil des EuGH vom 06. Oktober 1982, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (3428); auchA. Bleckmann, Europarecht, Rn. 934; a.A. K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 251 f. 32 So C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 15 f.; M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 127 f.; auch C. Lutz, Kompetenzkonflikte und Aufgabenverteilung zwischen nationalen und internationalen Gerichten. Erste Bausteine einer Weltgerichtsordnung, 2001, S. 102. 33 Veröffentlicht in EuZW 1997, 142, mit Anmerkung von R. Stotz, Hinweise des EuGH zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die innerstaatlichen Gerichte, EuZW 1997, 129. 34 Hierzu M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 127 f., der das Verfahren aufgrund seiner Strukturen zutreffend auch als „a-priori-Kontrolle" bezeichnet.
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
In der Literatur wurde der nationale Rechtsbehelf genannt, mittels dessen die Vorlage erzwungen werden könnte.35 Hiernach sollen die Parteien über das Recht verfügen, während des nationalen Gerichtsverfahrens das im nationalen Instanzenzug nächst höhere Gericht anzurufen, wenn der Richter des Ausgangsverfahrens ihren Antrag auf Vorlage des Rechtsstreits an den Europäischen Gerichtshof abgelehnt hat. Der Rechtsstreit wäre vom Ausgangsgericht während der Dauer des Rechtsbehelfs auszusetzen. Das Rechtsmittelgericht hätte über den Antrag auf Vorlage zu entscheiden und müßte, wenn der Antrag zulässig und begründet wäre, das Ausgangsgericht zur Vorlage verpflichten. Des weiteren wurde in der Lehre vorgeschlagen, den Parteien des nationalen Gerichtsverfahrens unmittelbar den Weg zum Europäischen Gerichtshof zu eröffnen. 36 Hiernach sollen die Parteien das Recht haben, ohne Umweg über ein nationales Beschwerdegericht unmittelbar den Europäischen Gerichtshof anzurufen, wenn ihr Antrag auf Vorlage vom nationalen Richter abgelehnt worden ist. 37 Die Bewertung dieser zwei Vorschläge ergibt, daß dem nationalen Rechtsbehelf der Vorzug zu geben ist. Er berücksichtigt den in Art. 5 Abs. 2 EGV verankerten Gedanken der Subsidiarität besser, wonach die Europäische Gemeinschaft erst dann befugt ist, Maßnahmen zu ergreifen, wenn sich das angestrebte Ziel nicht auf mitgliedstaatlicher Ebene verwirklichen läßt. Zweitens dürfte er der Funktion und den Aufgaben des Europäischen Gerichtshofs eher gerecht werden, welcher sich als oberstes Gericht der Europäischen Gemeinschaft mit grundsätzlichen Rechtsfragen auseinandersetzten sollte, nicht aber mit Alltagsangelegenheiten. Drittens ist das praktische Argument des Rechtsschutzes in angemessener Zeit anzuführen. Schon wegen ihrer großen Anzahl dürften die nationalen Gerichte Vorlageerzwingungsverfahren schneller entscheiden als dies dem ohnehin schon überlasteten Europäischen Gerichtshof möglich wäre. Hinsichtlich der Frage, welche Personen berechtigt sein sollten, einen Antrag auf Vorlage zu stellen, ist zuerst an die Parteien des Ausgangsverfahrens zu denken. 38 Für zivilrechtliche Streitigkeiten bedeutete dies, daß nur natürliche oder juristische Personen des Privatrechts antragsberechtigt wären, nicht aber der betreffende Mitgliedstaat. Überlegenswert ist deshalb, ob für solche Rechtsstreitigkeiten 35 C. Vedder, Ein neuer gesetzlicher Richter?, NJW 1987, 526 ff. (531); C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 15 f.; die davon sprechen, die Verpflichtung aus Art. 234 EGV durch die innerstaatlichen Verfahrensordnungen mit Rechtsbehelfen „zu bewehren". 36
M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 127 f.; J. Streil, in: Beutler /Bieber/ Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S. 253. 37 M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 127. 38 Grundsätzlich zur Rechtsbehelfsberechtigung: A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht. S. 513 ff.
Β. Verbesserungsvorschläge
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nicht auch eine nationale Behörde oder ein Gemeinschaftsorgan als Vertreter des öffentlichen Interesses antragsberechtigt sein sollte. 39 Dies würde sicherstellen, daß nicht nur das wirtschaftliche Interesse der Bürger und / oder der juristischen Personen des Privatrechts Anlaß für die Einlegung des Rechtsbehelfs wäre, sondern auch Recht und Gesetz, an welche die Behörden gebunden sind. Die Frage, ob ein Recht auf Vorlage für sämtliche nationalen Gerichtsverfahren eingeräumt werden sollte, wird durch die gegenwärtige gemeinschaftsrechtliche Vertragslage bestimmt. Art. 234 Abs. 3 EGV regelt, daß Gerichte, deren „Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können", vorzulegen verpflichtet sind. 40 Im Umkehrschluß folgt aus Art. 234 Abs. 3 EGV in Verbindung mit Art. 234 Abs. 2 EGV aber auch, daß nationale Gerichte, deren Entscheidungen noch mit einem Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, nicht zur Vorlage verpflichtet sind 4 1 Es liegt somit im pflichtgemäßen Ermessen der unterinstanzlichen Gerichte, ob sie vorlegen oder die Vorlage unterlassen 4 2 Wenn die Vorlage aber im pflichtgemäßen Ermessen der unterinstanzlichen Gerichte liegt, dann kann den Verfahrensparteien kein Recht auf Vorlage zustehen, weil ein solcher Anspruch das Ermessen der unterinstanzlichen Gerichte beseitigen würde 4 3 Noch einschränkender ist die wissenschaftliche Diskussion. Sie kreist gegenwärtig um die Frage, ob die Vorlageberechtigung der Untergerichte nicht insgesamt abzuschaffen ist und nur noch Vorlagen letztinstanzlicher Gerichten zuzulassen sind. 44 Untergerichte wären, wenn dieser 39
So auch der Abschlußbericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, Sonderbeilage zur EuZW 9/2000, S. 7. 40 M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 109 ff.; Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 253 ff. 41 Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 253 ff.; auch A. Oexle, Einwirkungen des EG-Vorabentscheidungsverfahrens auf das nationale Verfahrensrecht, NVwZ 2002, S. 1329 ff. 42 Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 761; Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 253 f. 43 M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 128; ders., Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 94 f. 44 M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 93 und D 121; O. Philipp, Regierungskonferenz 1996 und europäische Gerichtsbarkeit, EuZW 1996, 624 ff. (626), der einen kurzen Überblick über die gegenwärtig in Zusammenhang mit Art. 234 EGV diskutierten Vorschläge gibt; Abschlußbericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, Sonderbeilage zur EuZW 9/2000, S. 6; V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2662 ff.; a.A. E. Pache/M. Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte, NVwZ 2004, 16 ff., die aus rechtsstaatlichen Gründen entschieden für die Beibehaltung der Vorlageberechtigung auch unterinstanzlicher Gerichte eintreten.
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
Vorschlag verwirklicht werden sollte, nicht mehr vorlageberechtigt; 45 die eingangs aufgeworfene Frage hätte sich erübrigt. In diesem Zusammenhang ist letztlich auf die Überlegung hinzuweisen, das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV als Divergenz verfahren auszugestalten 4 6 Danach sollen die nationalen Obergerichte nur vorlageverpflichtet sein, wenn sie beabsichtigen, von Entscheidungen anderer Obergerichte der Mitgliedstaaten oder des Europäischen Gerichtshofs abzuweichen. 47 Gegen die Einführung des Rechtsbehelfs Vorlageerzwingungsverfahren bestehen grundsätzliche Bedenken. Nach Art. 234 Abs. 2 EGV ist die Vorlage einer Frage im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV nur zulässig, wenn sie der Richter zum Erlaß seines Urteils für erforderlich hält (Entscheidungserheblichkeit) 48 Welche gemeinschaftsrechtlichen Fragen entscheidungserheblich sind, läßt sich in vielen Fällen erst den Urteilsgründen des nationalen Richterspruchs entnehmen,49 mit der Folge, daß die antragstellende Partei während des Verfahrens oft nicht in der Lage sein dürfte, einen genauen Vorlageantrag zu formulieren. Ein mögliches Recht auf Vorlage ist deshalb mit der Struktur des Vorabentscheidungsverfahrens nicht vereinbar und abzulehnen. Die Lehre weist darüber hinaus auf die Gefahr des Verfahrensmißbrauchs hin: 5 0 Die Verfahrensparteien könnten aussichtslose Anträge stellen, um das nationale Gerichtsverfahren in die Länge zu ziehen. Hierdurch würde nicht nur das nationale Gerichtssystem in Mitleidenschaft gezogen werden, sondern wegen der zu erwartenden Flut von Klageerzwingungsverfahren auch die Funktionsfähigkeit des Europäischen Gerichtshofs in Frage gestellt sein.
45
Diese Situation fand sich im Auslegungsprotokoll zum Europäischen Gerichts- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) wieder, welches gleichfalls das Rechtsinstrument des Vorabentscheidungsverfahrens kannte, und von Anfang an den nationalen Untergerichten kein Recht zur Vorlage zugestanden hatte. 46 So J. Basedow, Vom Vorabentscheidungsersuchen zur Divergenzvorlage?, EuZW 1996, 97; auch V Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2662 f. 47 Gegen diesen Vorschlag spricht allerdings schon, daß ein nationales Gericht kaum die gesamte und vielsprachige Judikatur in den Mitgliedstaaten überblicken und demzufolge nicht beurteilen kann, ob sein Urteil von der Entscheidung eines anderen Gerichts abweicht. Für das Verfahren wird in der Lehre angeführt, daß es zu einer Entlastung des den Europäischen Gerichtshofs führen würde: V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2662 f. 48 Zum Merkmal der Entscheidungserheblichkeit: Urteil des EuGH vom 16. Dezember 1981, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045 (3062); Urteil des EuGH vom 30. April 1986, Rs. 209-213/84, Slg. 1986, 1425 (1460); M. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 47, 96 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 253. 49 So auch M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 128. 50 Abschlußbericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, Sonderbeilage zur EuZW 9/2000, S. 5 f.
Β. Verbesserungsvorschläge
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2. Schulungs- und Aufklärungsmaßnahmen Zu einem noch früheren Zeitpunkt setzen Schulungs- und Aufklärungsmaßnahmen an, weil sie bereits vor Beginn eines Gerichtsverfahrens ergriffen werden können. Hierzu zählen insbesondere diejenigen Maßnahmen, welche dazu beitragen, die Kenntnis der nationalen Richter im Gemeinschaftsrecht zu verbessern. 51 Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die 1996 vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Hinweise, in welchen er die Anforderungen, die er an Vorlageersuchen staatlicher Gerichte stellt, präzisiert hat. 52 Zweitens ist auf die Bekanntmachungen der Kommission hinzuweisen, in denen sie nationalen Gerichten ihre Auffassung zur Auslegung wettbewerbsrechtlicher Normen mit dem Ziel einer besseren Zusammenarbeit erläutert hat. 53 Anzuführen sind schließlich auch Lehrgänge für Richter zum Europarecht. Die Wirkung solcher Maßnahmen darf, auch wenn sie keinen unmittelbaren Fallbezug haben, nicht unterschätzt werden; denn der im Europarecht besser bewanderte Richter wird weniger Fehler bei der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts begehen und so einen größeren Beitrag zur Kontrolle nationaler Rechtsakte, die ihre Grundlage im Gemeinschaftsrecht finden, leisten als sein nicht so sachkundiger Kollege.
Π. Beseitigung gerichtlicher Vertragsverstöße nach Urteilserlaß, aber vor Ablauf der Rechtsmittelfristen Allgemein gilt, daß nationale Gerichte verpflichtet sind, ihr Urteil zu erlassen, wenn der Rechtsstreit zur Entscheidung reif ist (§ 300 Abs. 1 ZPO für die Zivilgerichte, § 110 VwGO für die Verwaltungsgerichte). 54 Weiterhin sind die nationalen Gerichte verpflichtet, ihre Entscheidung zu begründen (§313 Abs. 1 Nr. 6 ZPO, §108 Abs. 1 S. 2 VwGO). 55 Die Entscheidungsgründe sind maßgeblich für die Vertragsgemäßheit der Gerichtsentscheidung; denn erst ihre Kenntnis, insbesonde51
Dazu der Abschlußbericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, Sonderbeilage zur EuZW 9/2000, S. 8; auch G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 14. 52
Veröffentlicht in der EuZW 1997, 142, mit Anmerkung von R. Stotz, Hinweise des EuGH zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die innerstaatlichen Gerichte, EuZW 1997, 129. 53 Bekanntmachung über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Artikel 85 und 86 des EWG-Vertrags, AB1EG vom 13. Februar 1993, Nr. C 39, S. 6 ff. 54 A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht. S. 81; L. Rosenberg /Κ. H. Schwab/R Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 13 f., 508. 55
P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, § 313, Rn. 31 ff.; F. Ο. Kopp/W.-R. Schenke, VwGO, § 108, Rn. 30 ff.
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
re die Kenntnis der rechtlichen Überlegungen, erlaubt die Würdigung des nationalen Richterspruchs. Gerichtliche Vertragsverletzungen können deshalb sinnvollerweise erst mit Erlaß des nationalen Urteils festgestellt werden. Andererseits sind sie aber auch bereits mit Urteilserlaß entstanden.56 Die Möglichkeit, den vertragswidrigen Richterspruch noch im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens zu korrigieren, schließt zwar die Endgültigkeit des Vertragsverstoßes aus, beeinträchtigt aber seine Entstehung nicht. Grundsätzlich ist der Zeitraum vom Urteilserlaß bis zum Eintritt der Rechtskraft günstig, um vertragswidrige Entscheidungen nationaler Gerichte zu korrigieren; denn einerseits besteht nicht mehr die Gefahr, durch Eingriff in ein laufendes Gerichtsverfahren die richterliche Unabhängigkeit zu verletzen, andererseits steht der Korrektur noch nicht der Grundsatz der materiellen Rechtskraft entgegen.57 Die nationalen Rechtsordnungen und der EG-Vertrag sehen folgende Verfahren zur Korrektur vertragswidriger Gerichtsentscheidungen für diesen Zeitabschnitt vor; die Literatur diskutiert folgende Vorschläge: (1) ordentliche Rechtsmittel der nationalen Rechtsordnungen, (2) der Vorschlag der Kassationsbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof, (3) in Deutschland die Urteils Verfassungsbesch werde nach § 93 Abs. 1 Nr. 4a GG.
1. Nationale Ansätze Auf nationaler Ebene können vertragswidrige Urteile mitgliedstaatlicher Gerichte, die noch nicht in Rechtskraft erwachsen sind, durch ordentliche Rechtsmittel korrigiert werden. 58 Ordentliche Rechtsmittel sind die Berufung, die Revision und die Beschwerde. 59 Die Rechtsfigur des Rechtsmittels selbst definiert die Lehre als einen „den Parteien gewährten prozessualen Rechtsbehelf, um eine gerichtliche Entscheidung anzufechten und seine Nachprüfung durch ein höheres Gericht zu erreichen". 60 In Deutschland kommt darüber hinaus die Verfassungsbeschwerde 56 Anders H. W. Daig, in: G / B / T / E , Kommentar zum EWG-Vertrag, 3. Aufl., Art. 169, Rn. 33a; der in diesem Zusammenhang zwischen definitiven, d. h. rechtskräftigen Verstößen, und noch nicht rechtskräftigen Gerichtsurteilen unterscheidet und hierzu ausführt, daß nur erstgenannte Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens sein können. 57 So auch BVerfGE 47, 146 (161); A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 401 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. 58 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 303 f.; in diese Richtung auch Η. v. Mangoldt, Vom heutigen Standort der Bundesaufsicht, S. 75. 59 A. Nikisch, Zivilprozeß, S. 463 ff.; O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 248 ff.; W. Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 456 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 336 f. 60 So O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 251; vgl. auch J. Albers, in: Baumbach /Lauterbach /Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, Grundzüge zu § 511, Rn. 1 ff.
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nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in der Form der Urteilsverfassungsbeschwerde in Betracht, welche von der Lehre zwar als außerordentliches Rechtsbehelf eingeordnet wird, die aber, genauso wie die ordentlichen Rechtsmittel, binnen bestimmter Fristen erhoben werden muß und wesentlicher Bestandteil des deutschen Rechtsschutzsystems ist.
a) Ordentliche Rechtsmittel
In den meisten Fällen sehen die nationalen Rechtsordnungen ordentliche Rechtsmittel gegen Gerichtsentscheidungen vor. 61 Die unterlegene Partei kann gegen die ihrer Auffassung nach vertragswidrige Gerichtsentscheidung Rechtsmittel einlegen und dadurch den Rechtsstreit vor ein übergeordnetes Gericht bringen. Wegen der Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten ist das Rechtsmittelgericht verpflichtet, das unterinstanzliche Urteil nicht nur anhand des nationalen Rechts, sondern auch anhand des Gemeinschaftsrechts zu überprüfen. 62 Wenn das Rechtsmittel zulässig und begründet ist, wird das Rechtsmittelgericht den angegriffenen Richterspruch wegen Vertragswidrigkeit, also Rechtswidrigkeit, aufheben und eine eigene Entscheidung fällen oder die Rechtssache zurückverweisen. 63 Anzumerken ist, daß nicht gegen jeden nationalen Richterspruch ein ordentliches Rechtsmittel eingelegt werden kann: So sind die Urteile letztinstanzlich entscheidender Gerichten nicht rechtsmittelfähig. Weiterhin kann gegen bestimmte unterinstanzliche Urteile kein Rechtsmittel eingelegt werden, etwa wenn der Gesetzgeber einen bestimmten Beschwerdewert (§ 511 a ZPO) verlangt, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung haben muß (§ 546 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 ZPO) oder wenn die Berufung in verwaltungsgerichtlichen Verfahren nur unter den engen Voraussetzungen des § 124 VwGO zugelassen wird. Auch gegen alle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kann kein Rechtsmittel eingelegt werden. Grundsätzlich sind ordentliche Rechtsmittel ein erfolgreicher Weg, vertragswidrige Urteile nationaler Gerichte zu korrigieren. Ihr Vorteil besteht darin, daß das Rechtsmittelgericht befugt ist, die Entscheidung des unterinstanzlichen Gerichts 61 Zu den ordentlichen Rechtsmitteln in den verschiedenen Prozeß- und Verfahrensordnungen: §§ 511 ff., 545 ff., 567 ff. ZPO; §§ 124 ff., 132 ff., 146 ff. VwGO; §§ 115 ff., 128 ff. FGO; §§ 64 ff., 72 ff., 78 ArbGG; §§ 304 ff., 312 ff., 333 ff. StPO. 62 Zur unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts: BVerfGE 73, 339 (374 f.); 89, 155 (190); Urteil des EuGH vom 05. Februar 1963, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (24 f.); Urteil des EuGH vom 15. Juli 1964, Rs. 6/62, Slg. 1964, 1251 (1269); Urteil des EuGH vom 09. März 1978, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (643 f.); R. Streinz, Europarecht, Rn. 346 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 627 ff.; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, S. 100 ff.; speziell zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Gerichte V. Neßler, Europäisches Gemeinschaftsrecht vor deutschen Gerichten, DVB1. 1993, 1240 ff. 63 A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht. S. 542 ff.; L. Rosenberg/K. H. Schwab/R Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 808 f.
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
aufzuheben. Hierbei steht der Aufhebung weder die Unabhängigkeit des Richters entgegen, noch schließt die existentielle Staatlichkeit des Mitgliedstaates die Aufhebung eines nationalen Rechtsaktes durch ein nationales Organ aus. Weiterhin spricht für die ordentlichen Rechtsmittel, daß ihr Prüfungsmaßstab das gesamte Gemeinschaftsrecht umfaßt; denn das Rechtsmittelgericht ist verpflichtet, den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden gemeinschaftsrechtlichen Aspekten zu prüfen. Schließlich berücksichtigen die ordentlichen nationalen Rechtsmittel das in Art. 5 Abs. 2 EGV verankerte Subsidiaritätsprinzip, weil hier der nationalen Korrektur Vorrang vor gemeinschaftsrechtlichen Verfahren gegeben wird. Ihre Schwäche liegt darin, daß nicht gegen alle nationalen Gerichtsentscheidungen, nämlich gegen bestimmte unterinstanzliche Gerichtsurteile, gegen die Entscheidungen letztinstanzlicher Gerichte und gegen alle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Rechtsmittel eingelegt werden können. Zweitens sind normalerweise nur die Parteien des Ausgangsverfahrens berechtigt, Rechtsmittel einzulegen. Private Verfahrensparteien werden von wirtschaftlichen Interessen geleitet, nicht notwendigerweise von Recht und Gesetz. Es ist deshalb nicht zu erwarten, daß der durch ein vertragswidriges Gerichtsurteil begünstigte Bürger um der Vertragsgemäßheit willen ein Rechtsmittel gegen die vertragswidrige Gerichtsentscheidung einlegt. b) Verfassungsbeschwerde
Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. §§ 90 ff. BVerfGG kann in Deutschland jedermann Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht mit der Behauptung erheben, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 GG enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG erwähnte Artikel 101 GG hält in Absatz 1 Satz 2 fest, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. 64 Im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses stellte sich in Deutschland die Frage, ob neben den nationalen Gerichten auch der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anzusehen sei. Folge einer solchen Betrachtung wäre, daß der Verstoß der Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EGV durch ein deutschen Gericht gleichzeitig das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzen würde. 65 Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Frage zu Beginn der Europäischen Integration bewußt offen gelassen hatte, 66 qualifizierte es den Europäischen Ge64 Zum Grundrechtscharakter des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG: B. Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/ders./Klein/Bethke, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2001, § 90, Rn. 47; der den Ausdruck des grundrechtsähnlichen Rechts verwendet; C. Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 1996, Art. 101, Rn. 3, spricht von einem Justizgrundrecht. 65 R. Tdlmanns, Durchsetzung der Pflicht zur Vorlage an den EuGH im Wege des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, BayVBl. 2002, 723 ff. 66 BVerfGE 29, 198 (207); 31, 145 (169).
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richtshof erstmalig in seiner Solange-II-Entscheidung vom 22. Oktober 1986 als gesetzlichen Richter i m Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 G G . 6 7 In den darauf folgenden Entscheidungen bestätigte es diese Judikatur. 68 Wegen der großen Bedeutung der bundesverfassungsgerichtlichen Auffassung für die Vertragsgemäßheit nationaler Gerichtsentscheidungen ist hierauf näher einzugehen. Das Bundesverfassungsgericht thematisierte in der Solange-II-Entscheidung zwei Fragenkreise: Es erörterte erstens die Voraussetzungen, die an den gesetzlichen Richter i m Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu stellen sind 6 9 Zweitens diskutierte es, ob das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des willkürlichen Entzuges, welches es für Rechtsstreitigkeiten mit ausschließlich innerstaatlichem Bezug entwickelt hatte, auch für NichtVorlagen an den Europäischen Gerichtshof gelten s o l l . 7 0 Das Bundesverfassungsgericht führte zur Frage, welche Institutionen gesetzlicher Richter i m Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG seien, aus, daß die Einrichtung 67 BVerfGE 73, 339 (366 f.). Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beschwerdeführerin, ein im Im- und Export tätiges deutsches Unternehmen, führte unter anderem Champignonkonserven aus Nichtmitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft nach Deutschland ein. Diese Einfuhren unterlagen zum damaligen Zeitpunkt gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, die mengenmäßige Beschränkungen vorsahen. 1976 beantragte die Beschwerdeführerin bei dem zuständigen Bundesamt eine Genehmigung für die Einfuhr von 1.000 Tonnen Champignonkonserven aus Taiwan. Mit Hinweis auf EG-Recht wurde der Antrag abgelehnt. Hiergegen legte die Beschwerdeführerin Widerspruch ein, der erfolglos blieb. Auch die anschließende Verpflichtungsklage wies das zuständige Verwaltungsgericht als unbegründet ab. Daraufhin klagte die Klägerin mittels Sprungrevision vor dem Bundesverwaltungsgericht. Dieses legte die Angelegenheit wegen einer Frage im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV dem Europäischen Gerichtshof vor, der hierüber durch Vorabentscheidungsurteil entschied. Das Bundesverwaltungsgericht führte im Anschluß hieran das Verfahren fort, ohne jedoch den Anträgen der Beschwerdeführerin zu entsprechen, den Rechtsstreit wegen anderer Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV zum zweiten Mal dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 234 Abs. 3 EGV vorzulegen. Schließlich wies das Bundesverwaltungsgericht die Klage als unbegründet ab. Gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts erhob die Klägerin Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Sie begründete die Verfassungsbeschwerde damit, daß die Nichtvorlage des Rechtsstreits zum Europäischen Gerichtshof wegen offener Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV sie in ihrem Recht aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletze, weil der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne dieser Vorschrift sei. 68 BVerfGE 75, 223 (233 f.); 82, 159 (192 ff.); Beschluß vom 21. August 1996, NVwZ 1997, 481; BVerfG, Beschluß vom 5. August 1998, DB 1998, 1919; Beschluß vom 9. Januar 2001, DÖV 2001, 379 f. = NJW 2001, 1267 f.; auch die Lehre bejaht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: K.-H. Seifert/D. Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., 1991, Art. 101, Rn. 2; C. Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 101, Rn. 9; B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 101, Rn. 2; P. Sensburg, Die Vorlagepflicht an den EuGH: Eine einheitliche Rechtsprechung des BVerfG, NJW 2001, 1259 f.; V Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2658; R. Tillmanns, Durchsetzung der Pflicht zur Vorlage an den EuGH im Wege des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, BayVBl. 2002, 723 ff.; U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 39. 69 BVerfGE 73, 339 (341 ff.).
™ BVerfGE 73, 339 (366 ff.).
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
ein gesetzliches Organ i m Sinne des Grundgesetzes sein müsse. Es forderte weiter, daß die Einrichtung die notwendigen Eigenschaften eines rechtsstaatlichen Gerichts, wie die richterliche Unabhängigkeit, die Bestimmung des Richters i m voraus durch Gesetz, oder die Rechtsstaatlichkeit seiner Verfahrensordnung, aufweisen müsse. 71 In bezug auf den Europäischen Gerichtshof stellte das Bundesverfassungsgericht in Anwendung der von ihm aufgestellten Kriterien fest: „Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; diese vom Bundesverfassungsgericht bisher nicht entschiedene Frage ist zu bejahen. Angesichts der umfangreichen institutionellen Garantien und der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 4. Dezember 1974 in der kodifizierten Fassung vom 15. Februar 1982 können Zweifel an der Gerichtsqualität des Europäischen Gerichtshofs im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht bestehen. Der Gerichtshof ist ein durch die Gemeinschaftsverträge errichtetes hoheitliches Rechtspflegeorgan, das auf der Grundlage und im Rahmen normativ festgelegter Kompetenzen und Verfahren Rechtsfragen nach Maßgabe von Rechtsnormen und rechtlichen Maßstäben in richterlicher Unabhängigkeit grundsätzlich endgültig entscheidet. Seine Mitglieder sind zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verpflichtet; ihre Rechtsstellung ist normativ so ausgestaltet, daß sie Gewähr für persönliche Unabhängigkeit bietet. Das Verfahrensrecht genügt rechtsstaatlichen Anforderungen an ein gehöriges Verfahren; es gewährleistet insbesondere das Recht auf Gehör, dem Verfahrensgegenstand angemessene prozessuale Angriffs- und Verteidigungsmittel und frei gewählten, kundigen Rechtsbeistand. Der Gerichtshof ist kein Organ der Bundesrepublik Deutschland, sondern ein gemeinsames Organ der Europäischen Gemeinschaften. Die funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaften mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten zusammen mit dem Umstand, daß die Gemeinschaftsverträge Kraft der durch die Zustimmungsgesetze gemäß Art. 24 Abs. 1, 59 Abs. 2 Satz 1 GG erteilten Rechtsanwendungsbefehle und das auf vertraglicher Grundlage erlassene abgeleitete Gemeinschaftsrecht Teil der innerstaatlich geltenden Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland und von ihren Gerichten zu beachten, auszulegen und anzuwenden sind, qualifizieren den Gerichtshof als gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, soweit ihm durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen darin enthaltene Rechtsprechungsfunktionen aufgetragen sind. Hierzu rechnet insbesondere die Kompetenz des Gerichtshofs zu Vorabentscheidungen gemäß Art. 234 EWGV." 72 Z u m Willkürerfordernis ist anzuführen, daß es als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal vom Bundesverfassungsgericht bereits zu Beginn seiner Spruchpraxis zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG unter Hinweis auf den historischen Kontext entwickelt worden war. 7 3 71 BVerfGE 73, 339 (367 f.). 72 BVerfGE 73, 339 (366 f.). 73 Siehe BVerfGE 3, 359 (363 ff.); 19, 38 (42 ff.); 29, 45 (48 f.); 29, 198 (207 ff.); 42, 237 (241 f.); 67, 90 (94 f.); 73, 339 (369 ff.); auch Τ Maunz, in: ders./Dürig, Grundgesetz, 1971, Art. 101, Rn. 52; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 101, Rn. 8; R. Tillmanns, Durchsetzung der Pflicht zur Vorlage an den EuGH im Wege des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, BayVBl. 2002, 725 f. Im 29. Band, S. 207 f., definierte das Bundesverfassungsgericht das Willkürelement wie folgt: „Durch eine Maßnahme, Unterlassung oder Entscheidung eines
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Im Rahmen der europäischen Integration stand das Bundesverfassungsgericht erstmals 1970 vor der Frage, ob das Willkürerfordernis auch für solche Streitigkeiten gelten solle, in denen deutsche Gerichte dem Europäischen Gerichtshof nicht vorgelegt hatten, obwohl sie hierzu nach Art. 234 Abs. 3 EGV verpflichtet gewesen wären. 74 Ohne eine Entscheidung darüber zu treffen, ob der Europäische Gerichtshof überhaupt gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes sei, führte das Bundesverfassungsgericht aus, daß auch in diesen Fällen derselbe strenge Willkürmaßstab anzulegen sei wie bei rein innerstaatlichen Rechtsstreitigkeiten. Mangels willkürlicher Nichtvorlage wies es die Verfassungsbeschwerde als unbegründet ab. 75 Auch in seiner Solange-II-Entscheidung hielt das Bundesverfassungsgericht an dieser Rechtsprechung fest. Es erklärte die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, weil es das Bundesverwaltungsgericht nicht willkürlich unterlassen hatte, dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. 76 Diese einschränkende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sollte jedoch nicht mehr lange Bestand haben. Auslöser für die Veränderung war ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahre 1982, in welchem der Europäische Gerichtshof die Voraussetzungen der VorlageVerpflichtung nach Art. 234 Abs. 3 EGV präzisiert hatte.77 Als Grundsatz stellte der Europäische Gerichtshof in der genannten Entscheidung fest, daß nationale Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, grundsätzlich zur Vorlage verpflichtet seien.78 Eine Ausnahme hiervon sei nur dann anzunehmen, wenn der innere Grund der Verpflichtung entfallen sei, die Vorlage somit sinnlos erscheine. 79 Hierzu zählte der Europäische Gerichtshof drei Fallgruppen: Gerichts wird der gesetzliche Richter nur dann entzogen, wenn diese Maßnahme, Unterlassung oder Entscheidung auf Willkür beruht. Dies gilt auch dann, wenn ein Gericht die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht, das über eine bestimmte Rechtsfrage zu entscheiden hat, außer Acht läßt. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG schützt nicht gegen Verfahrensfehler, die infolge eines Irrtums des Gerichts unterlaufen, sondern nur gegen Willkür. Von Willkür kann aber nur dann die Rede sein, wenn die Entscheidung sich bei der Anwendung und Auslegung von Zuständigkeitsnormen, zu denen im weitesten Sinne auch Vorschriften über die Vorlage an ein anderes Gericht gehören, so weit von dem diese Norm beherrschenden Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, daß die Gerichtsentscheidung nicht mehr zu rechtfertigen ist. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wird nur durch solche gerichtliche Entscheidungen verletzt, die bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind". Dieser strenge Maßstab führte dazu, daß es die meisten Verfassungsbeschwerden, in welchen die Verletzung des gesetzlichen Richters gerügt wurde, als unbegründet abwies: BVerfGE 3, 359 ff.; 29, 198 ff.; 73, 339 ff. 74 BVerfGE 29, 198 (207). 75 BVerfGE 29, 198 (207). 76 BVerfGE 73, 339 (369 ff.). 77 Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1982, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 ff. 78 Slg. 1982, 3415 (3428). 79 Slg. 1982, 3415 (3429).
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(1) Die gestellte Frage ist nicht entscheidungserheblich.80 (2) Die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung war bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof. 81 (3) Die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist derart offenkundig, daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. 82 Von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beeinflußt, modifizierte das Bundesverfassungsgericht seine Judikatur zum Willkürerfordernis des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG für vertragswidrige NichtVorlagen deutscher Gerichte. In Anlehnung an die europäische Rechtsprechung unterschied das Bundesverfassungsgericht gleichfalls zwischen drei Willkür-Fallgruppen: 83 (1) Ein letztinstanzielles Hauptsachegericht zieht eine Vorlage trotz der seiner Auffassung nach bestehenden Entscheidungserheblichkeit einer zweifelhaften gemeinschaftsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt („grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht"). 84 (2) Das letztinstanzielle Hauptsachegericht weicht in seiner Entscheidung bewußt von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen ab und legt gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vor („bewußtes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft"). 85 so Slg. 1982, 3415 ff. (Nr. 3 des Tenors). 81 Slg. 1982, 3415 ff. (Nr. 4 des Tenors). 82 Slg. 1982, 3415 ff. (Nr. 5 des Tenors). Nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs ist der Fall der Offenkundigkeit unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft zu beurteilen. Das innerstaatliche Gericht darf jedoch nur dann davon ausgehen, daß ein solcher Fall vorliege, wenn es überzeugt sei, daß auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewißheit bestehe (Slg. 1982, 3430). 83 So erstmals das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 31. Mai 1990, BVerfGE 82, 159 (192 ff.); bestätigt durch Beschluß vom 9. Januar 2001, NJW 2001, 1267 f.; Anmerkung zur letztgenannten Entscheidung bei R. Tillmanns, Durchsetzung der Pflicht zur Vorlage an den EuGH im Wege des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, BayVBl. 2002, 723 ff. 84 BVerfGE 82, 159 (195); BVerfG, NJW 2001, 1268. Die erste Fallgruppe behandelt die Entscheidungserheblichkeit von Fragen im Sinne des Art. 234 Abs. 1 EGV. Während der Europäische Gerichtshof eine Vorlagepflicht nur dann verneint, wenn das angegangene Gericht die strittige Frage für nicht entscheidungserheblich hält, was im Umkehrschluß bedeutet, daß das nationale Gericht alle Fragen vorlegen muß, die es für entscheidungserheblich hält, ist nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nur dann begründet, wenn das nicht vorlegende Gericht eine Vorlage überhaupt nicht in Erwägung gezogen hat, obwohl es von der Entscheidungserheblichkeit der Frage ausgegangen ist. Demzufolge verletzt das nationale Gericht seine Vorlagepflicht nicht, wenn es zwar an eine Vorlage gedacht, diese aber aus bestimmten Gründen unterlassen hat. 85 BVerfGE 82, 159 (195). Diesen zweiten Fall bezeichnete das Bundesverfassungsgericht in einem nicht in der amtlichen Sammlung enthaltenen Beschluß vom 9. November 1987 als
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(3) Das Gericht stützt trotz Fehlens oder nicht abschließender Aussagen einer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen seine Entscheidung auf eine Auffassung, obwohl mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Auffassung eindeutig vorzuziehen sind („Unvollständigkeit der Rechtsprechung"). 86 Es bleibt festzuhalten, daß sich das Bundesverfassungsgericht durch seine neue Judikatur der Position des Europäischen Gerichtshofs angenähert hat, 8 7 auch wenn die Auffassungen der Gerichte über die Vorlagepflicht nationaler Gerichte i m Sinne des Art. 234 Abs. 3 EGV nicht deckungsgleich sind. Weiterhin kann festgehalten werden, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das Willkürkriterium für Nichtvorlagen deutscher Gerichte zum Europäischen Gerichtshof i m Sinne des Art. 234 Abs. 3 EGV neu zu definieren, genauso wie die Anerkennung des Europäischen Gerichtshofs als gesetzlicher Richter i m Sinne des Grundgesetzes dazu beiträgt, vertragswidrige Urteile deutscher Gerichte zu vermeiden und/ oder zu beseitigen. Hinzuweisen ist aber darauf, daß die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 N. 4a GG wegen der Verletzung des gesetzlichen Richters kein Allheilmittel ist: Erstens kann sie nur binnen der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG erhoben werden. Zweitens kann das Bundesverfassungsgericht gemäß Willkürtatbestand per se, EuGRZ 1988,109 ff., (111). Gemeinsamkeit der zweiten Fallgruppe ist, daß die vorzulegende Frage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof war. Das Bundesverfassungsgericht bejaht für diese Gestaltung eine Verletzung des gesetzlichen Richters nur dann, wenn das nationale Gericht bewußt von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abweichen will. Fahrlässiges Abweichen hingegen verletzt das Gebot des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nicht. Demgegenüber stellt der Europäische Gerichtshof allein auf das objektive Vorliegen einer Abweichung ab. Nur wenn die in Frage stehende gemeinschaftsrechtliche Vorschrift bereits Gegenstand einer früheren Auslegung des Europäischen Gerichtshofs war und sich diese Auslegung mit der Entscheidung des nationalen Richters deckt, soll die Vorlagepflicht entfallen. In allen anderen Fällen ist das mitgliedstaatliche Gericht nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs zur Vorlage verpflichtet. 86 BVerfGE 82, 159 (195 f.); BVerfG, NJW 2001, 1268. In der dritten Fallgruppe schließlich geht es um die Frage, ob das nationale Gericht vorlegen muß, wenn die Frage nach Art. 234 Abs. 1 EGV noch nicht vom Europäischen Gerichtshof erörtert wurde. Während der Europäische Gerichtshof eine Vorlagepflicht nur in den Fällen ausschließen will, bei denen die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, daß für vernünftige Zweifel keinerlei Raum bleibt („acte claire": Μ. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 113 ff., Κ. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, S. 255 f.), sieht das Bundesverfassungsgericht den gesetzlichen Richters erst dann als verletzt an, wenn mögliche Gegenmeinungen eindeutig der Auffassung des entscheidenden Gerichtes vorzuziehen sind. 87 Zur Aufnahme dieser Judikatur des Bundesverfassungsgerichts in der Lehre: C. Vedder, Ein neuer gesetzlicher Richter, NJW 1987, 526 (530); U. Wölker, Wann verletzt eine Nichtvorlage an den EuGH die Garantie des gesetzlichen Richters?, EuGRZ 1988, 97 ff. (101 f.); C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 15, R. Tillmanns, Durchsetzung der Pflicht zur Vorlage an den EuGH im Wege des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, BayVBl. 2002, 723 ff. 18 Wollenschläger
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
§ 90 Abs. 2 BVerfGG nur angerufen werden, wenn der Rechtsweg gegen die angegriffene Gerichtsentscheidung erschöpft worden ist. Drittens beschränkt sich die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts auf die Frage, ob das grundrechtsgleiche Recht des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt worden ist. Zu einer weiterreichenden Prüfung, etwa des gesamten Gemeinschaftsrechts, ist das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nicht berechtigt. 2. Kassationsbeschwerde Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene ist das Vertragsverletzungsverfahren des Art. 226 EGV gegenwärtig das einzige Rechtsinstrument, dessen Struktur es erlauben würde, gegen vertragswidrige Urteile nationaler Gerichte vorzugehen. Andere Verfahren sieht der EG-Vertrag nicht vor, was die Lehre dazu veranlaßt hat, über die Einführung einer so genannten Kassationsbeschwerde nachzudenken.88 Danach sollen die Parteien des nationalen Gerichtsverfahrens das Recht haben, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, wenn das letztinstanzlich entscheidende nationale Gericht ein Urteil gefällt hat, ohne seiner Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV zu genügen.89 Noch weitergehend wurde überlegt, ob nicht jede Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch den nationalen Richter ein Kassationsgrund sein sollte. 9 0 Je nach Sachlage würde der Rechtsstreit vom Europäischen Gerichtshof entweder unter Aufhebung des nationalen Urteils unmittelbar entschieden oder von ihm an das oberste nationale Gericht zurückverwiesen werden mit der Verpflichtung, die Angelegenheit unter Berücksichtigung seiner Rechtsauffassung neu zu entscheiden.91 Grundsätzlich wäre die Kassationsbeschwerde ein geeignetes Verfahren, die Vertragsgemäßheit nationaler Gerichtsentscheidungen durchzusetzen. Trotzdem bestehen erhebliche Bedenken gegen die Einführung eines solchen Rechtsmittels. Im Unterschied zum Vertrags verletzungsverfahren, welches nach Art. 228 Abs. 1 EGV nur die Feststellung erlaubt, daß der Mitgliedstaat das Gemeinschaftsrecht 88 So der Vorschlag der Kommission in ihrem Bericht über die Europäische Union von 1975, Bulletin der Europäischen Gemeinschaft, Beilage 5/1975, S. 39; M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 127 f.; kritisch hierzu der Abschlußbericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, Sonderbeilage zur EuZW 9/2000, S. 7. 89 M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 128. 90 Abschlußbericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, Sonderbeilage zur EuZW 9/2000, S. 7. 91 M. Dauses, Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und der nationalen Gerichte, weiterzuentwickeln?, D 128.
Β. Verbesserungsvorschläge
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verletzt hat, zielt die Kassationsbeschwerde darauf, einen vertragswidrigen nationalen Richterspruch durch den Europäischen Gerichtshof aufheben zu lassen. Eine solche Befugnis entspricht jedoch nicht dem Integrationsstand der Europäischen Gemeinschaft. Die Mitgliedstaaten verfügen trotz der Übertragung zahlreicher Hoheitsrechte auf die Gemeinschaft noch immer noch über eine eigene „existentielle Staatlichkeit".92 Sie sind die „Herren der Verträge" 93 geblieben, was sich im Grundsatz der begrenzten Ermächtigung des Art. 5 Abs. 1 EGV manifestiert, in dem Umstand, daß Vertragsänderungen der Zustimmung aller Mitgliedstaaten bedürfen und in der Tatsache, daß der EG-Vertrag den Organen der Europäischen Gemeinschaft keine Befugnis verleiht, nationale Rechtsakte aufzuheben oder Vollstreckungsmaßnahmen gegen die Mitgliedstaaten zu ergreifen (Art. 244, 256 Abs. 1, Hs. 2 EGV). 94 Die Einführung der beschriebenen Kassationsbeschwerde würde die Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft grundlegend (hin zu eigener existenzieller Staatlichkeit) verändern. Voraussetzung hierfür wäre die Zustimmung aller Mitgliedstaaten.
III. Korrektur vertragswidriger Richtersprüche, die in Rechtskraft ergangen sind Wenn ein vertragswidriger nationaler Richterspruch rechtskräftig geworden ist, wenn die richterliche Entscheidung also weder im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens noch durch ordentliche Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts (oder in Deutschland durch Verfassungsbeschwerde) berichtigt werden kann, stellt sich trotz und gerade wegen der Verbindlichkeit der vertragswidrigen Entscheidung die Frage, ob und welche Möglichkeiten bestehen, den vertragswidrigen Zustand zu beseitigen. Seiner Struktur nach wäre das Vertragsverletzungsverfahren des Art. 226 EGV ein geeignetes Rechtsinstrument hierfür. Die Schwäche des Verfahrens besteht darin, daß die erfolgreiche Aufsichtsklage das vertragswidrige Urteil des nationalen Gerichts nicht kassiert, sondern lediglich in der Feststellung des Europäischen Gerichtshofs mündet, daß ein nationales Gericht gegen das Gemein-
92 Dazu Κ. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 79 ff.; ders., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 36 ff., 86 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 60 ff. 93 Th. Oppermann, Europarecht, Rn, 218, 472; Κ. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 104. 94 Etwas anderes gilt für die Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts, was noch einmal deutlich den Unterschied zwischen dem Staatenverbund Europäische Gemeinschaft und dem föderalen Einheitsstaat Deutschland hervorhebt: Wird in Deutschland der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gerichtsurteil stattgegeben, so hebt das Bundesverfassungsgericht gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG die Gerichtsentscheidung auf: vgl. auch H. Lechner/R. Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 95, Rn. 13 ff.; B. Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/ders./Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1999, § 95, Rn. 21 ff.; welche die kassatorische Wirkung der erfolgreichen Urteilsverfassungsbeschwerde betonen.
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schaftsrecht verstoßen habe. Des weiteren ist die Durchführung des Vertrags verletzungsverfahrens gegen vertragswidrige Richtersprüche insgesamt problembehaftet. Sowohl die Kommission als auch die Lehre haben deshalb nach anderen Wegen gesucht. Folgende Maßnahmen wurden vorgeschlagen und diskutiert. (1) Nicht das vertragswidrige Gerichtsurteil, sondern der dem Urteil zugrunde liegenden Rechtsakt sollte beseitigt werden, um auf diese Weise die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts durchzusetzen.95 (2) Es wurde das Instrument der Restitutionsklage vorgeschlagen, um dadurch den Streitgegenstand des rechtskräftigen Gerichtsurteils noch einmal aufgreifen und entscheiden zu können.96 (3) Es wurde angeregt, eine sogenannte Klage im Interesse des Gesetzes einzuführen, um hierdurch zumindest die Vertragswidrigkeit der nationalen Gerichtsentscheidung aufzuzeigen 9 7
1. Vermeidung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Gerichtsurteile durch Beseitigung des Grundaktes In zahlreichen Gerichtsverfahren stehen sich nicht zwei Personen des Privatrechts, sondern der Bürger und der Staat als Kläger und Beklagter gegenüber. Streitgegenstand dieser sozial-, finanz- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist typischerweise das Verlangen des Bürgers auf Erlaß oder auf Aufhebung eines Verwaltungsaktes. Anstatt das einen vertragswidrigen Verwaltungsakt bestätigende Gerichtsurteil zu berichtigen, könnte die Kommission anstreben, den zugrunde liegenden Verwaltungsakt durch den Mitgliedstaat beseitigen zu lassen. Folgendes Beispiel soll diesen Ansatz verdeutlichen: Ein deutsches Finanzamt erläßt einen belastenden Steuerbescheid, der gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt. Der betroffene Bürger klagt gegen den Steuerbescheid unter Hinweis auf das Gemeinschaftsrecht. Der vertragswidrige Verwaltungsakt wird jedoch weder vom Finanzgericht noch vom Bundesfinanzhof aufgehoben, weil beide Gerichte die maßgebliche gemeinschaftsrechtliche Steuerrechtsnorm nicht anwenden. Die Kommission leitet nunmehr kein Vertragsverletzungsverfahren gegen den vertragswidrigen Richterspruch des Bundesfinanzhofs ein, sondern fordert Deutschland auf, den vertragswidrigen Verwaltungsakt aufzuheben und den betroffenen Unionsbürger so zu stellen, wie es der vertragsgemäßen Lage entspräche. 95
In diese Richtung: Κ . Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art. 169, Rn. 12; P. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 17; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 64. 96 So G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 14 ff. 97 So etwa P. Gon, L'avocat general à la Cour de Justice des Communautés européennes, Cahiers de droit européen 1976, 375 (389 ff.).
Β. Verbesserungsvorschläge
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In Anbetracht der rechtlichen Fragen, welche die Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen nationale Richtersprüche aufwirft, wurde dieser Weg in der Literatur vorgeschlagen98 und wohl auch von der Kommission praktiziert. 99 Gegen eine solche Vorgehensweise bestehen jedoch erhebliche Bedenken. Zum einen mißachtet diese Praxis der Kommission die richterliche Unabhängigkeit und das Rechtsprechungsmonopol der Gerichte, weil sich die Kommission und die aufgeforderte Regierung des betreffenden Mitgliedstaates als Organe der vollziehenden Gewalt über Rechtsakte der rechtsprechenden Gewalt hinwegsetzen würden und abschließende Entscheidungen über Streitgegenstände träfen. Zum anderen bindet der Grundsatz der materiellen Rechtskraft, welcher weder zur Disposition der Verfahrensparteien noch zur Disposition des Staates steht, 100 nicht nur die Verfahrensparteien, sondern auch den Staat an den Richterspruch. 101 Als Organ der Europäischen Gemeinschaft, in welcher die europäischen Volker die Staatsgewalt gemeinschaftlich ausüben,102 ist die Kommission genauso an die rechtskräftigen Entscheidungen nationaler Gerichte gebunden wie die Organe des Mitgliedstaates selbst. Die Kommission ist deshalb nicht befugt, den Mitgliedstaat aufzufordern, durch rechtskräftige Urteile bestätigtes Verwaltungshandeln abzuändern.
2. Restitutionsklage Rechtsfrieden und Rechtssicherheit verlangen die Endlichkeit gerichtlicher Verfahren und die Endgültigkeit richterlicher Entscheidungen.103 Endgültigkeit und 98 So K. Hailbronner, in: ders./Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EUVertrag, Art. 169, Rn. 12; P. Karpenstein, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 169, Rn. 17; H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 64; J. Sack, Verstoßverfahren und höchstrichterliche Vertragsverletzungen - eine Klarstellung, EuZW 1991, 246 ff.; grundsätzlich ablehnend, Verwaltungsverfahren nach Rechtskraft wieder aufzugreifen: Κ Α. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 306 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 156 ff.; ders./A. Emmerich-Fritsche /M. Kläver/P. Wollenschläger, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 48 f. 99 AB1EG vom 4. Juni 1986, C 137/7, in welchem die Kommission auf eine parlamentarische Anfrage mitteilte, daß sie beabsichtige, gegen eine in Deutschland bestehende Steuerrechtspraxis im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens vorzugehen, auch und gerade, weil eine rechtskräftige Entscheidung des Bundesfinanzhofs vorlag, welcher die unmittelbare Wirkung einer nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie im Bereich des Steuerrechts verneint hatte. 100 So auch Κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 149, 277 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 156 ff. ιοί BVerfGE 47, 146 (161); L Rosenberg/K. H. Schwab/P. Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 908 f.; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 if. 102
Κ. Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 ff. 103 Hierzu G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, S. 168; A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 401, 506; Κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversiche-
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
Endlichkeit werden durch die Rechtsfigur der formellen und der materiellen Rechtskraft gewährleistet. 104 Erstgenannte hat die Unanfechtbarkeit von Richtersprüchen nach Maßgabe der jeweiligen Prozeßordnung zum Inhalt. 105 Letztgenannte bindet die Parteien des Verfahrens und die Allgemeinheit, den Staat, an den Richterspruch und verbietet die erneute Behandlung des Streitgegenstandes sowie dessen Korrektur. 106 Rechtsfrieden und Rechtssicherheit stehen, wenn ihnen eine rechtswidrige Gerichtsentscheidung zugrunde liegt, im Widerspruch mit der Forderung nach Gerechtigkeit; denn rechtswidrige Gerichtsurteile sind nicht gerecht. Es gilt deshalb, zwischen dem Postulat nach Gerechtigkeit einerseits, welches die Korrektur rechtswidriger Gerichtsentscheidungen verlangt, und Rechtssicherheit und Rechtsfrieden, welche die Beständigkeit und Geltung auch rechtswidriger Richtersprüche fordern, abzuwägen. Das Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich dieser Abwägung ausgeführt, daß Rechtsfrieden und Rechtssicherheit gleichwertig neben dem Prinzip der Gerechtigkeit stehen.107 Der deutsche Gesetzgeber hat das Verhältnis von Rechtssicherheit/Rechtsfrieden und Gerechtigkeit durch Richtersprüche wie folgt geordnet: Fehlerhafte Richtersprüche können im Rahmen der ordentlichen Rechtsmittel und mittels Verfassungsbeschwerde korrigiert werden. In Rechtskraft ergangene Gerichtsurteile sind, auch wenn sie rechtswidrig sein sollten, grundsätzlich unabänderbar und entfalten Rechtswirkung. Nur in Ausnahmefällen erlauben die Verfahrensordnungen, den Rechtsstreit wieder aufzugreifen und erneut hierüber gerichtlich zu entscheiden.108 Die Ausnahmefälle sind für die zivilgerichtlichen Verfahren in den §§ 578 ff. ZPO geregelt. Die Verfahrensordnungen der anderen Gerichtsbarkeiten verweisen auf die Regelungen der Zivilprozeßordnung. 109
rungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 277 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 179 ff. 104 Der Grundsatz der Rechtskraft ist in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft ein hochrangiges Prinzip. In einigen Mitgliedstaaten, wie in Deutschland, wird ihm sogar Verfassungsrang zugesprochen: BVerfGE 2, 380 (403 ff.); 22, 322 (329); 47, 146 (161); E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 82; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. 105 A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 399 ff.; O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 213 f.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. 106 BVerfG 47, 146 (160); A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 401 ff.; O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 214 ff.; L. Rosenberg/K. H. Schwab/R Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 908 f.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. »07 BVerfGE 2, 380 (403 ff.); 3, 225 (237 f.); 15, 167 (205 f.); 15, 313 (319 f.); 35,41 (47); K. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 121; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 151 ff. los BVerfGE 22, 322 (328 f.). 109 So § 79 ArbGG für die Arbeitsgerichtsbarkeit; § 153 VwGO für die Verwaltungsgerichtsbarkeit; § 134 FGO für die Finanzgerichtsbarkeit; im Strafprozeß gelten eigenständige Regeln: §§ 359 ff. StPO.
Β. Verbesserungsvorschläge
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Die Zivilprozeßordnung unterscheidet zwischen zwei Wiederaufnahmeverfahren: der Nichtigkeitsklage nach § 579 ZPO und der Restitutionsklage nach den §§ 580 ff. ZPO. 1 1 0 Die Nichtigkeitsklage kann gegen bestimmte rechtskräftige Urteile durchgeführt werden, die an besonders schweren Verfahrensmängeln leiden. 111 Die Restitutionsklage ist statthaft, wenn das rechtskräftige Gerichtsurteil Mängel in den Urteilsgrundlagen aufweist und das Urteil auf diesen Mängeln beruht. 112 Als Mängel, auch als Restitutionsgründe bezeichnet, führt der Gesetzgeber in § 580 ZPO auf: die Verfälschung der Urteilsgrundlage, die Aufhebung einer vorgängigen Entscheidung, das Auffinden eines früheren Urteils und das Auffinden einer Urkunde. 113 Um die Vertragsgemäßheit nationaler Gerichtsentscheidungen zu gewährleisten, könnte man überlegen, in dem den Vertragsverstoß eines Mitgliedstaates feststellenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs einen Restitutionsgrund im Sinne des § 580 ZPO zu sehen, mit der Folge, daß die in Rechtskraft ergangene nationale Gerichtsentscheidung noch einmal aufgegriffen werden könnte. Auf nationaler Ebene haben Teile der Lehre unter Berufung auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und auf die Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EGV, aus welcher sich die primärrechtliche Verpflichtung des verurteilten Mitgliedstaates ergeben soll, Vertragsverstöße abzustellen,114 die Existenz eines solchen, ungeschriebenen Rechtsbehelfs in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hinein gelesen.115 110
Zum Restitutionsverfahren allgemein: Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 506 ff.; O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 272 ff.; H. Thomas/H. Putzo, ZPO, Vorbemerkung vor § 578, Rn. 2: Das Restitutionsverfahren ist ein dreigeteiltes Verfahren. Als ersten Schritt muß das angerufene Gericht die Zulässigkeit der Wiederaufnahmeklage prüfen, also ermitteln, ob es für die Entscheidung der Angelegenheit zuständig ist, ob die Klage den Form- und Fristerfordernissen entspricht, etwa die Monatsfrist des § 586 Abs. 1 ZPO, und ob die Wiederaufnahme gemäß § 578 Abs. 2 ZPO von einer Partei betrieben wird, die auch Partei des Vorprozesses war: H. Thomas/H. Putzo, a. a. O., Rn. 4. Wenn die Restitutionsklage zulässig ist, entscheidet das Gericht in einem zweiten Schritt über Begründetheit der Klage (iudicium rescindens: Nikisch, a. a. O., S. 514; Ο. Jauernig, a. a. O., S. 278; L. Rosenberg/ Κ H. Schwab/ P. Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 962 f.). Dabei prüft es, ob ein Restitutionsgrund nach § 580 ZPO besteht und ob dieser kausal für die angefochtene Entscheidung war. Wenn das Gericht Restitutionsgrund und Kausalität bejaht, tritt das Restitutionsverfahren in seine dritte Stufe ein. Gemäß § 590 Abs. 1 ZPO wird die Hauptsache, insoweit sie vom Anfechtungsgrunde betroffen ist, erneut verhandelt (iudicium rescissorium: Nikisch, a. a. O., S. 514; O. Jauernig, a. a. O., S. 279). 111 Hierzu A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 508; O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 276; L Rosenberg/K. H. Schwab/P Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 965 ff.; R. Greger, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, vor § 578, Rn. 1. 112 So Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 509; siehe auch O. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 276; L Rosenberg/K H. Schwab/ Ρ Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 966 ff.; R. Greg er, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, vor § 578, Rn. 1, § 580, Rn. 1 ff. •13 So L. Rosenberg/K. H. Schwab/P Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 967 ff. li 4
G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 14; C. Vedder, Europa der Bürger, S. 81, 122 f., auch H. Krück, in: G / T / E , Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 169, Rn. 62 in Fußnote 103.
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
Demnach enthalten die mitgliedstaatlichen Prozeßordnungen einen Rechtsbehelf, der es erlauben soll, im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren in Rechtskraft ergangene vertragswidrige Urteile nationaler Gerichte in einem neuen, nationalen Verfahren aufzugreifen. Für Deutschland wurde dieser sehr allgemein gehaltene Vorschlag dahingehend präzisiert, daß die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs als Restitutionsgrund im Sinne des § 580 Nr. 6 ZPO zu qualifizieren sei, der zur Wiederaufnahme des Verfahrens berechtigte. 116 Die Parteien des Ausgangsverfahrens könnten demnach das zuständige nationale Gericht binnen eines Monats nach Kenntnis des Urteils des Europäischen Gerichtshofs anrufen (§ 586 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO). Das nationale Gericht würde, die Zulässigkeit und die Begründetheit der Restitutionsklage vorausgesetzt, die Sache unter Berücksichtigung der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs neu verhandeln. Die Restitutionsklage als Mittel zur erneuten Behandlung rechtskräftig entschiedener Streitverfahren wirft eine Reihe von Fragen auf. Es ist erstens zu klären, welche Fallgestaltungen als Restitutionsgrund anzuerkennen sind. Es ist zweitens zu erörtern, wer berechtigt sein sollte, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu betreiben. Drittens ist darauf einzugehen, ob das Restitutionsverfahren in „europäischer Angelegenheit" bereits nach geltendem Recht möglich ist oder ob es dazu einer Gesetzesänderung bedarf. Letztlich ist zu untersuchen, ob die Anerkennung des Feststellungsurteils des Europäischen Gerichtshofs als Restitutionsgrund und damit die Wiederaufnahme des Verfahrens grundsätzlich erstrebenswert ist. Das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs nach § 228 Abs. 1 EGV wurde bereits als Restitutionsgrund erwähnt. 117 Ein dahingehender Restitutionsgrund könnte für das deutsche Recht wie folgt formuliert sein: „Die Restitutionsklage findet statt, wenn der Europäische Gerichtshof gemäß Art. 228 Abs. 1 EGV festgestellt hat, daß eine Gerichtsentscheidung eines Mitgliedstaates gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt."
Darüber hinaus wurde in der Literatur vorgeschlagen, bereits in dem Umstand, daß die Kommission das Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV eröffnet und der Mitgliedstaat die gerichtliche Vertragsverletzung im Vorverfahren formell anerkannt habe, einen Restitutionsgrund zu sehen.118 Dieser Vorschlag ist abzulehnen. Wenn man der in dieser Arbeit eingenommenen Auffassung folgt, daß das Vorverfahren des Art. 226 Abs. 1 EGV gegen gerichtliche Vertragsverstöße prinzipiell unzulässig ist, kann es zu dieser Fallkonstellation nicht kommen. Aber selbst, 115
C. Vedder, Europa der Bürger, S. 81, 122 f.; hierzu auch, jedoch insgesamt ablehnend: U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 48. 116 G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 14 ff.; ablehnend U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 49. "7 G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 15. 118 So G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991,15.
Β. Verbesserungsvorschläge
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wenn man ein Vorverfahren gegen nationale Rechtsprechungsakte für zulässig hielte, hat nur die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ausreichend Gewicht, um als Restitutionsgrund anerkannt zu werden. Die gemeinsame Auffassung der Kommission (als Vollzugsorgan) und des Mitgliedstaates (vertreten durch seine Regierung) vermag als ein exekutiver Rechtsakt nicht die gerichtliche Entscheidung zu ersetzen. Der Grundsatz der gewaltenteiligen Funktionenordnung verlangt, daß letztverbindliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns den Gerichten vorbehalten ist. 1 1 9 Nur das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 228 Abs. 1 EGV kommt deshalb als Restitutionsgrund in Betracht. Restitutionsklagen können nach der Gesetzeslage in Deutschland nur von den Parteien des Ausgangsverfahrens eingelegt werden. Weil zumindest private Verfahrensparteien im Rahmen der Gesetze willkürlich handeln dürfen und somit nicht verpflichtet sind, Rechtsmittel gegen vertragswidrige Gerichtsentscheidungen einzulegen, ist nach dieser Gesetzeslage nicht gewährleistet, daß die Parteien auf das die Vertragswidrigkeit eines nationalen Richterspruchs feststellende Urteil des Europäischen Gerichtshofs die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen. Es ist deshalb erforderlich, neben den Verfahrensparteien auch einer nationalen (oder einer europäischen) Behörde das Recht einzuräumen, die Restitutionsklage zu erheben. Teilweise wird in der Literatur angenommen, daß es bereits nach der gegenwärtigen Gesetzeslage möglich sei, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs als Restitutionsgrund anzuerkennen. 120 Analog § 580 Nr. 6 ZPO soll die Wiederaufnahme des Verfahrens betrieben werden können. 121 Dieser Position ist folgendes entgegenzuhalten: Die analoge Anwendung der Norm scheidet mangels Vergleichbarkeit der Rechtslagen aus. § 580 Nr. 6 ZPO verlangt die Existenz dreier Gerichtsurteile. 122 Es gibt eine Ausgangsentscheidung (Ersturteil oder präjudizielles Urteil). 123 Diese ist Grundlage eines anderen Gerichtsurteils (Zweiturteil oder angegriffenes Urteil). 124 Das Ersturteil wird schließlich durch ein weiteres rechts119 Zur Autorität richterlicher Sprüche: A. Nikisch, Zivilprozeßrecht, S. 401; Κ. A. Schachtschneider, Neubescheidung nach Rechtskraft im Sozialversicherungsrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv, Bd. 63 (1972), 277 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 153 ff. 120 So G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 14. Ob § 580 Nr. 6 ZPO analog auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Anwendung finden soll, wurde vom Bundesfinanzhof gleichfalls in Erwägung gezogen. Allerdings entschied der Bundesfinanzhof, daß § 580 Nr. 6 ZPO i.V.m. § 134 FGO nicht anwendbar sei, wenn der Europäische Gerichtshof in einem späteren Urteil eine gegenteilige Rechtsauffassung als das nationale Gericht vertritt (NJW 1978, 511 ff.); zustimmend H. Thomas/H. Putzo, ZPO, § 580, Rn. 12. 121
§ 580 Nr. 6 ZPO lautet: „Die Restitutionsklage findet statt: wenn das Urteil eines ordentlichen Gerichts, eines früheren Sondergerichts oder eines Verwaltungsgerichts, auf welches das Urteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben ist." 122 R. Greger, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, § 580, Rn. 13. 123 R. Greger, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, § 580, Rn. 13; H. Thomas/H. Putzo, ZPO, § 580, Rn. 10.
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
kräftiges Gerichtsurteil aufgehoben (Dritturteil oder rechtskräftiges Urteil), 125 mit der Folge, daß die Grundlage des Zweiturteils entfallen ist. Die Wiederaufnahme des Verfahrens in diesen Fällen soll vermeiden, daß das Zweiturteil als grundlagenlos gewordener Rechtsakt weiter besteht. Im Unterschied hierzu beruht die Anerkennung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs als Restitutionsgrund im Sinne des § 580 Nr. 6 ZPO auf einer anderen Situation: Der Europäische Gerichtshof hat ein Urteil gefällt. Dieses stellt die Vertragswidrigkeit eines nationalen Richterspruchs fest. Es liegen also nur zwei Gerichtsentscheidungen vor, nämlich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs und der nationale Richterspruch, so daß die für § 580 Nr. 6 ZPO so typische Dreierkonstellation und die Verkettung verschiedener Gerichtsentscheidungen fehlen. Die analoge Anwendung der Norm kommt mangels Vergleichbarkeit nicht in Frage. 126 Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshof gerade nicht, wie in § 580 Nr. 6 ZPO vorausgesetzt, eine andere Gerichtsentscheidung aufzuheben vermag. Drittens ist zu bedenken, daß Analogien bei Ausnahmetatbeständen, wie den Restitutionsgründen für die Wiederaufnahme von Verfahren, grundsätzlich vermieden werden sollten, um den Ausnahmecharakter aufrecht zu erhalten. 127 Als Ergebnis ist deshalb festzuhalten, daß nach geltendem deutschem Recht das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs keinen Wiederaufnahmegrund darstellt. Ein solcher Vorschlag müßte de lege ferenda verwirklicht werden. Unabhängig von der Frage, wie das geschilderte Restitutionsverfahren auszugestalten wäre, muß grundsätzlich über dessen Zulässigkeit nachgedacht werden. Für das die Vertragswidrigkeit nationaler Richtersprüche feststellende Urteil des Europäischen Gerichtshofs als Restitutionsgrund läßt sich sowohl die vertragsgemäße als auch die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte der Mitgliedstaaten anführen. Diese Argumente vermögen aber bestehende Bedenken nicht auszuräumen. Die Wiederaufnahmeklagen sind Ausnahmerechtsbehelfe, die nur unter engen Voraussetzungen, nämlich bei schweren Verfahrensfehlern oder bei Mängeln in den Urteilsgrundlagen, die erneute Verhandlung rechtskräftiger Urteile erlauben sollten. 128 Weitere Wiederaufnahme124 So die Bezeichnung bei R. Greger, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, § 580, Rn. 13; auch Η Thomas/H Putzo, ZPO, § 580, Rn. 10. 125 R. Greger, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, § 580, Rn. 13. 126 Zu überlegen wäre noch, ob die nachträglich geäußerte abweichende Rechtsprechung eines Obergerichtes, welche zwar keine aufhebende Wirkung besitzt, sich gleichwohl aber gegen die Richtigkeit eines Urteiles richtet, auf welches ein anderer Richterspruch gegründet ist, einen Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 580 Nr. 6 ZPO darstellt. Dies ist abzulehnen, weil keine Vergleichbarkeit zwischen einer widersprechenden gerichtlichen Rechtsauffassung und der Aufhebung eines präjudiziellen Urteils besteht; so auch der Bundesfinanzhof in seinem Beschluß vom 27. September 1977, NJW 1978, 511 f. 127 BVerfGE 22, 322 (329); R Hartmann, in: Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, Zivilprozeßordnung, Grundzüge zu § 578, Rn. 4.
Β. Verbesserungsvorschläge
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gruppen hat der Gesetzgeber zu Recht nicht vorgesehen, um den verfassungsrechtlichen Elementen von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit ausreichend Rechnung zu tragen. Sie dürften von ihm auch nicht beliebig eingeführt werden. 129 „Europarechtliche" Wiederaufnahmegründe sind deshalb abzulehnen. Darüber hinaus ist auf die Vorschriften in §§ 78, 79 BVerfGG zu verweisen, welche die Wirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für abstrakte und für konkrete Normenkontrollverfahren regeln. 130 § 78 BVerfGG führt allgemein aus, daß das Bundesverfassungsgericht Gesetze für nichtig erklärt, die mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. § 79 Abs. 1 BVerfGG hält fest, daß die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Nichtigkeitserklärung der gesetzlichen Grundlage nur gegen rechtskräftige Strafurteile zulässig ist. 1 3 1 Für alle anderen Richtersprüche gilt, daß sie nicht noch einmal verhandelt werden dürfen, wenn die Norm, auf der das Urteil beruht, vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt worden ist. 1 3 2 Die geschilderten Normen zeigen deutlich, daß der deutsche Gesetzgeber für den Bereich der rechtsprechenden Gewalt in fast allen Fällen Rechtssicherheit und Rechtsfrieden Vorrang vor materieller Gerechtigkeit gibt. Nur wenn das höchste Rechtsgut der Rechtsordnung betroffen ist, nämlich die in Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Würde und Freiheit des Menschen, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens gerechtfertigt. Die Wiederaufnahmeklagen sind somit nicht das richtige Rechtsinstrument, um die Vertragsgemäßheit nationaler Richtersprüche zu gewährleisten.
128 L Rosenberg/K. H. Schwab/P. Gottwald, Zöller, Zivilprozeßordnung, vor § 578, Rn. 1.
Zivilprozessrecht, S. 962; R. Greger, in:
129 So etwa P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, Grundzüge zu § 578, Rn. 4. Hinzuweisen ist auch, daß der Katalog der Gründe, welche die Wiederaufnahme des Verfahrens ermöglichen, vom deutschen Gesetzgeber seit langer Zeit nicht verändert worden ist. 130 Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG für die Normenkontrollen; Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff., 82 Abs. 2 BVerfGG mit Verweis auf § 79 BVerfGG für konkrete Normenkontrollen. 131 Hierzu S. Stuht, in: Umbach / Clemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992, § 79, Rn. 20 ff.; H. Lechner/R. Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 79, Rn. 5; Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 155 f. 132 H. Lechner/R. Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 79, Rn. 3, entnehmen der Norm den allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich keine Auswirkungen auf abgewickelte Rechtsverhältnisse habe, es sei denn, es handele sich um ein rechtskräftiges Strafurteil; auch Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 155 f.
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
3. Klage im Interesse des Gesetzes a) Verfahrenscharakter
und normativer
Befund
Die Fragwürdigkeit einer gegen vertragswidrige Urteile nationaler Gerichte gerichteten Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV wurde erörtert. Erinnert werden soll noch einmal an den Aspekt, daß die Europäische Gemeinschaft die Rechtsfigur der materiellen Rechtskraft zu beachten hat. 1 3 3 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß der Europäischen Gemeinschaft von den Mitgliedstaaten nicht die Befugnis übertragen worden ist, Rechtsakte nationaler Organe aufzuheben, wie das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 228 Abs. 1 EGV erweist. Einen Ausweg aus dieser mißlichen Lage, einerseits die Vertragsgemäßheit nationaler Rechtsakte zu gewährleisten, andererseits Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu beachten, könnte ein Verfahren weisen, welches nicht die Aufhebung eines bestimmten vertragswidrigen Richterspruches anstrebt, gleichwohl aber zur vertragsgemäßen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Gerichte beiträgt. Ein solches Verfahren ist die so genannte Klage im Interesse des Gesetzes. Sie mag dem deutschen Juristen auf den ersten Blick fremdartig und unbekannt erscheinen, weil die deutsche Rechtsordnung von der Durchsetzbarkeit richterlicher Entscheidungen und deren Auswirkungen auf bereits entstandene Verhältnisse geprägt ist. Dennoch läßt sie sich in den Rechtsordnungen vieler Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft finden; ja selbst im deutschen Recht ist sie durch die gemeinschaftsrechtliche Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung (EuGVVO), durch den EG-Vertrag und durch das nationale Europäische Gerichts- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) beheimatet. Die Klage im Interesse des Gesetzes findet sich in Art. 68 Abs. 3 EGV. Satz 1 der Norm erlaubt dem Rat, der Kommission und den Mitgliedstaaten, in den Bereichen des IV. Titels des EG-Vertrages (Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr) dem Europäischen Gerichtshof Auslegungsfragen zur Entscheidung vorzulegen. Satz 2 sieht vor, daß die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht für Urteile nationaler Gerichte gilt, die rechtskräftig geworden sind. Der Wortlaut von Art. 68 Abs. 3 EGV lautet: „Der Rat, die Kommission oder ein Mitgliedstaat können dem Gerichtshof eine Frage der Auslegung dieses Titels oder von auf diesem Titel gestützten Rechtsakten der Organe der Gemeinschaft zur Entscheidung vorlegen. Die Entscheidung, die der Gerichtshof auf dieses Ersuchen hin fällt, gilt nicht für Urteile von Gerichten der Mitgliedstaaten, die rechtskräftig geworden sind."
»a U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 9, stellt aus diesem Grunde im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens gegenüber nationalen Richtersprüchen fest, daß die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs lediglich Wirkung für die nachfolgende Rechtsprechung habe.
Β. Verbesserungsvorschläge
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Bemerkenswert an dieser Vorschrift ist, daß nach Satz 2 die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ausdrücklich nicht für in Rechtskraft ergangene Urteile der Mitgliedstaaten gilt. Nach Art. 65 lit. a E G V gilt das Verfahren des Art. 68 Abs. 3 E G V auch für Auslegungsfragen über Begriffe der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstrekkungsverordnung, 1 3 4 welche für den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr zwischen den Bürgern der Vertragsstaaten die gerichtlichen Zuständigkeiten in Z i v i l und Handelsrechtssachen sowie die Anerkennung und Vollstreckung von in anderen Vertragsstaaten erlassenen Gerichtsentscheidungen regelt. 1 3 5 Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch das alte Europäische Gerichts- und Vollstrekkungsübereinkommen, einschließlich des dazu gehörenden Luxemburger Auslegungsprotokolls. 1 3 6 U m eine unterschiedliche Auslegung offener Rechtsbegriffe durch die Gerichte der Vertragsstaaten zu vermeiden, befugt(e) Art. 1 des Luxemburger Auslegungsprotokolls den Europäischen Gerichtshof, über die Auslegung des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen zu entscheiden. 137 Hierfür sah das Auslegungsprotokoll zwei verschiedene Verfahren vor: (1) das in Art. 2 und 3 Auslegungsprotokoll geregelte Vorabentscheidungsverfahren, 1 3 8 welches dem Vorabentscheidungsverfahren in Art. 234 EGV nachgebildet ist, 134
J. Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, 7. Aufl., 2002, Einl. Rn. 28, P. Schlosser, EU-Zivilprozeßrecht, Einl., Rn. 28. 135 Die EuGVVO ist am 1. März 2002 als gemeinschaftsrechtliche Verordnung in Kraft getreten und hat die verschiedenen nationalen Fassungen des EuGVÜ außer Kraft gesetzt. Nach Art. 1 Abs. 3 EuGVVO gilt die Verordnung jedoch nicht in Dänemark. Für grenzüberschreitende Zivil- und Handelssachen zwischen den Mitgliedstaaten und Dänemark findet deshalb weiterhin das EuGVÜ Anwendung: P. Schlosser, EU-Zivilprozeßrecht, Einl., Rn. 18. 13 6 Die amtliche Bezeichnung des Vertrages lautet: Protokoll betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 3. Juni 1971 (Luxemburger Auslegungsprotokoll). Die aktuell geltende Fassung des Protokolls für Deutschland ist im 3. Beitrittsübereinkommen vom 26. Mai 1989 geregelt, BGBl. 1994 II, S. 531 ff. 137
Grundsätzlich hierzu Ρ Jenard, Bericht zu dem Übereinkommen über gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, AB1EG vom 5. März 1979, Nr. C 59, S. 1 ff. 138 Zu diesem Verfahren: Ρ Jenard, Bericht zu dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, AB1EG vom 5. März 1979, Nr. C 59, S. 1 ff.; J. Kropholler Europäisches Zivilprozeßrecht, Einleitung, Rn. 19. Das Vorabentscheidungsverfahren des EuGVÜ entspricht im Großen und Ganzen dem Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV. Ein großer Unterschied der Verfahren besteht in dem Kreis der vorlageberechtigten Gerichte: Während nach Art. 234 EGV jedes nationale Gericht zur Vorlage berechtigt ist, können gemäß Art. 2 Nr. 1 und 2 Auslegungsprotokoll nur die obersten nationalen Gerichte (Nummer 1) und die als Rechtsmittelinstanz entscheidenden Gerichte der Vertragsstaaten (Nummer 2) vorlegen. Erstinstanziell entscheidende Gerichte sind hierzu nicht befugt.
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
(2) die Klage i m Interesse des Gesetzes nach Art. 4 Auslegungsprotokoll, 1 3 9 für die das in den romanischen Rechtsordnungen bekannte Rechtsmittel des „recours dans l'intérèt de la l o i " 1 4 0 Pate gestanden h a t . 1 4 1 Art. 4 Auslegungsprotokoll lautet(e): (1) Die zuständige Stelle eines Vertragsstaats kann bei dem Gerichtshof beantragen, daß er zu einer Auslegungsfrage, die das Übereinkommen oder eine andere in Artikel 1 genannten Übereinkunft betrifft, Stellung nimmt, wenn Entscheidungen von Gerichten dieses Staates der Auslegung widersprechen, die vom Gerichtshof oder in einer Entscheidung eines der in Artikel 2 Nr. 1 und 2 angeführten Gerichte eines anderen Vertragsstaates gegeben wurde. Dieser Absatz gilt nur für rechtskräftige Entscheidungen. (2) Die vom Gerichtshof auf einen derartigen Antrag gegebene Auslegung hat keine Wirkung auf die Entscheidungen, die den Anlaß für den Antrag auf Auslegung bildeten. (3) Den Gerichtshof können um eine Auslegung nach Absatz 1 die Generalstaatsanwälte bei den Kassationshöfen der Vertragsstaaten oder jede andere von einem Vertragsstaat benannte Stelle ersuchen. Das Verfahren nach Art. 4 des Auslegungsprotokolls weist einige Besonderheiten i m Vergleich zu normalen Rechtsmitteln auf. Nach Art. 4 Abs. 1 Auslegungsprotokoll ist eine nationale Stelle, in Deutschland der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, antragsbefugt, 142 nicht jedoch die Parteien des Ausgangsverfahrens (Antragsberechtigung). Das Verfahren ist des weiteren als Divergenzverfahren ausgestaltet; denn der Antrag setzt gemäß Absatz 2 voraus, daß eine in Rechtskraft ergangene nationale Gerichtsentscheidung der früheren Auslegung des Europäischen Gerichtshofs oder anderer bestimmter nationaler Gerichte widerspricht. 1 4 3 Ziel des Verfahrens ist es gemäß Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Auslegungsprotokoll, durch Stellungnahme des Europäischen Gerichtshofs zu klären, wie offene Rechtsbegriffe des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens auszulegen sind (Abs. I ) . 1 4 4 Beachtenswert hierbei ist, daß die 139
Dazu H. Schach, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 86 ff. Dieser Ausdruck wird von H. Schach, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 86 verwendet; andere Autoren, wie Ρ Jenard, Bericht zu dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, AB1EG vom 5. März 1979, Nr. C 59, S. 69; J. Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, Einleitung. Rn. 19, verwenden den Begriff „pourvoi dans l'intérèt de la loi"; zur Strukturanalyse dieser Klageart C. Lutz, Kompetenzkonflikte und Aufgaben Verteilung zwischen nationalen und internationalen Gerichten, S. 103 ff. 141 So J. Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, Einleitung, Rn. 19. 142 Vgl. Artikel 3 des deutschen Zustimmungsgesetzes vom 7. August 1972 (BGBl. 1972 Π, 845): „Die Aufgaben der zuständigen Stelle im Sinne des Artikel 4 des Protokolls nimmt der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof wahr." Im Unterschied zu den Divergenzverfahren des deutschen Prozeßrechts, insbesondere den Verfahren nach § 121 Abs. 2 GVG und § 132 Abs. 2 GVG, ist bemerkenswert, daß der Antrag nicht von den Gerichten, sondern von einer anderen Stelle des Vertragsstaates gestellt werden muß. 14 3 So auch V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2662 f., hinsichtlich angedachter Justizreformen im Vertrag von Nizza. 140
Β. Verbesserungsvorschläge
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Auslegung des Europäischen Gerichtshofs keine Wirkung auf das Urteil hat, welches den Anlaß für den Antrag auf Auslegung gebildet hat (Abs. 2). 1 4 5 Vielmehr soll das Verfahren eine einheitliche Auslegung für künftige Fälle gewährlei-
b) Klage im Interesse des Gesetzes als Kontrollinstrument?
Ihrer Struktur nach wäre die Klage im Interesse des Gesetzes ein geeignetes Kontrollverfahren der Europäischen Gemeinschaft über die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten.147 Sie vereinigt in sich die Vorteile, weder die richterliche Unabhängigkeit nationaler Gerichte zu verletzen, weil sie nicht in laufende Verfahren eingreift, noch mißachtet sie die durch die Rechtsfigur der materiellen Rechtskraft gewährleistete Beständigkeit nationaler Richtersprüche, weil sie nicht auf die Aufhebung des nationalen Richterspruchs zielt. Darüber hinaus trägt sie dem Interesse der Europäischen Gemeinschaft an einer zumindest zukünftigen vertragsgemäßen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Gerichte Rechnung. Dieser Gedanken wurde von der Literatur bereits für Art. 226 EGV in seiner gegenwärtigen Form betont. So wurde ausgeführt, daß „das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs an der Bildung gemeinschaftskonformen Rechtsbewußtseins mitwirken kann und im übrigen die staatlichen Instanzen verpflichtet ( . . . ) , erneuten gemeinschaftsrechtswidrigen Urteilen in geeigneter Weise vorzubeugen." 148 Schließlich ist davon auszugehen, daß die Klage im Interesse des 144 Zu seinem Anwendungsbereich führt die Lehre aus, daß Art. 4 Auslegungsprotokoll vor allem für diejenigen Fälle bedeutsam sei, in denen es die nationalen Gerichte versäumt haben, den Europäischen Gerichtshof um Vorabentscheidung anzurufen: J. Kropholler, Europäisches Zivüprozeßrecht, Einleitung, Rn. 19; H. Schach, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 86, verweist darauf, daß das Verfahren bis heute keine große praktische Bedeutung erlangt hat. Zu beachten ist ferner, daß, im Unterschied zu den Divergenzverfahren nach § 121, 132 GVG, der Antrag nach Art. 4 Auslegungsprotokoll nicht im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens gestellt werden kann, sondern erst, wenn die nationale Gerichtsentscheidung, die Gegenstand des Anlasses ist, in Rechtskraft ergangen ist. 145 Auch hier ist wiederum auf die Unterschiede zum Divergenzververfahren in § 132 Abs. 2 GVG zu verweisen, dessen Absatz 2 und Absatz 4 die Wirkung der Entscheidung für den Ausgangsfall betonen. Die Rechtsfolge des Art. 4 Abs. 2 Auslegungsprotokoll haben die Lehre zu dem Schluß veranlaßt, daß die Maßnahme des Europäischen Gerichtshofs kein Grund für eine Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß §§ 578 ff. ZPO sein könne: P. Jenard, Bericht zu dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, AB1EG vom 5. März 1979, Nr. C 59, S. 70. 146 Ρ Jenard, Bericht zu dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, AB1EG vom 5. März 1979, Nr. C 59, S. 69; J. Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, Einleitung, Rn. 19. 147 So auch P. Gori, L'avocat general à la Cour de Justice des Communautés européennes, Cahiers de droit européen 1976, 375 (389 ff.).
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
Gesetzes als ein ausschließlich auf die Zukunft gerichtetes Verfahren eine größere Breitenwirkung entfalten wird als das Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs im Rahmen des Vertrags verletzungs Verfahrens: Während Gegenstand der Aufsichtsklage nach Art. 226 EGV nur ein einzelner, bereits erlassener nationaler Rechtsakt ist und der Europäische Gerichtshof demgemäß nur eine Einzelfallentscheidung trifft, könnte die nicht einzelfallbezogene Klage im Interesse des Gesetzes den Europäischen Gerichtshof veranlassen, allgemein Stellung zu offenen Rechtsfragen für die Zukunft zu nehmen. Eine solche Entscheidung, der aufgrund ihrer allgemeinen Natur stark rechtsetzender Charakter zukäme, dürfte eine große Verbindlichkeit für zukünftige nationale Gerichtsverfahren entfalten. 149 Um die Einheitlichkeit der Kontrolle zu gewährleisten, sollte die Antragsberechtigung hinsichtlich der Klage im Interesse des Gesetzes nicht nur bei den Mitgliedstaaten sondern auch in der Hand eines Gemeinschaftsorgans liegen. An erster Stelle wäre hier an die Kommission zu denken, die bereits nach Art. 211 Spstr. 1 EGV und Art. 226 EGV die Aufgabe hat, die Vertragsgemäßheit mitgliedstaatlicher Rechtsakte zu gewährleisten. Darüber hinaus wurde in der Literatur angeregt, die Generalanwaltschaft am Europäischen Gerichtshof mit dieser Aufgabe zu betrauen. 150 Begründet wurde der Vorschlag damit, daß in denjenigen Mitgliedstaaten, deren Rechtsordnungen die Klage im Interesse des Gesetzes kennen, das Verfahren typischerweise von einem unabhängigen Justizorgan, wie etwa der Generalanwaltschaft, erhoben werden würde, nicht jedoch von einem Organ, welches hauptsächlich exekutive Aufgaben wahrnehme. 151 Es wurde ferner darauf hingewiesen, daß die Aufgabenzu Weisung an die General an wal tschaft den Vorteil hätte, eine sich aus den verschiedenen Aufgaben der Kommission in Art. 211 Spstr. 1 148
So J. Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ders., Die Europäische Union, S 265, über die Wirkungen des Vertragsverletzungsverfahrens bei Entscheidungen innerstaatlicher Gerichte. 149 Zur Tragweite einer nach Art. 4 Auslegungsprotokoll ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs siehe auch P. Jenard, Bericht zu dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, AB1EG vom 5. März 1979, Nr. C 59, S. 69, der ihr eine besondere Bedeutung für die Rechtsprechung beimißt und in ihr eine „Leitschnur" für die Rechtsprechung aller nationalen Gerichte sieht. In diesem Zusammenhang ist gleichfalls auf die große Breitenwirkung der Vorabentscheidungsurteile des Europäischen Gerichtshofs hinzuweisen, die häufig genug allgemeine Fragen des Gemeinschaftsrechts klären, etwa die erörterte CILFIT-Entscheidung des Europäischen Gerichtshof vom 06. Oktober 1982, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 ff., welche das deutsche Bundesverfassungsgericht zur Änderung seiner Willkürrechtsprechung hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG veranlaßt hat. 150
P. Gori, L'avocat general à la Cour de Justice des Communautés européennes, Cahiers de droit européen 1976, 375 (389 ff.); V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2662; eine kurze Stellungnahme zu dem Vorschlag von Gori findet sich bei C. O. Lenz, Der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, S. 16 f. 151 P. Gori, L'avocat general à la Cour de Justice des Communautés européennes, Cahiers de droit européen 1976, 389 f.; auch V. Lipp, Europäische Justizreform, NJW 2001, 2662, mit Hinweis auf Justizreformvorschläge zum Vertrag von Nizza.
Β. Verbesserungsvorschläge
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und Spstr. 3 EGV ergebende Antinomie zwischen Normenvorschlagsrecht und Kontrollfunktionen zu vermeiden. 152 Gegen eine Antragsberechtigung durch die Generalanwaltschaft ist anzuführen, daß die Aufsicht der Europäischen Gemeinschaft über die Mitgliedstaaten aufgespalten werden würde, weil die Generalanwaltschaft nur für die Kontrolle gerichtlichen Handelns verantwortlich wäre, die Kommission jedoch weiterhin für die Überwachung der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt zuständig bliebe. Um eine einheitliche Kontrolle zu gewährleisten, sollte die Aufsicht der Europäischen Gemeinschaft über die Rechtsakte der Mitgliedstaaten in einer Hand bleiben. Weiterhin ist es zweckmäßig, die Klage im Interesse des Gesetzes als fakultatives Verfahren auszugestalten. Der Opportunitätsgrundsatz würde es dem antragsberechtigtem Organ ermöglichen, sich auf wichtige Fälle zu konzentrieren und nicht jeden Vertragsverstoß verfolgen zu müssen. Die Klage im Interesse des Gesetzes sollte ferner gegen sämtliche in Rechtskraft ergangene nationale Richtersprüche zulässig sein, weil auch die Entscheidungen unterinstanzlicher Gerichte von großer Bedeutung für die europäische Rechtsordnung sein können. Letztlich sollte jede offene Frage des Gemeinschaftsrechts im Rahmen der Klage im Interesse des Gesetzes dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt werden dürfen.
IV. Ein Vorschlag zur Änderung und Optimierung der aktuellen Vertragslage Unter Berücksichtigung der in diesem Kapitel dargelegten Überlegungen und unter Beachtung der in Kapitel 5 herausgearbeiteten Grundsätze soll in Anlehnung an den bisherigen Art. 226 EGV folgender Gesetzesvorschlag in bezug auf ein mögliches Aufsichtsrecht der Kommission über die Rechtsprechung der Mitgliedstaten formuliert werden: (1) Hat nach Auffassung der Kommission die Gesetzgebung oder die vollziehende Gewalt eines Mitgliedstaates gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen, so gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu ab; sie hat dem Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung zu geben. (2) Kommt der Staat dieser Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission den Gerichtshof anrufen. 152 C.-D. Ehlermann, Die Verfolgung von Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten durch die Kommission, in: FS Kutscher, Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 136 ff., der darauf hinweist, daß Gesetzesinitiativen der Kommission nur dann erfolgreich sein können, wenn sie von den am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten, insbesondere dem Rat und damit den Mitgliedstaaten mitgetragen werden, also zumindest mehrheitsfähig sind, weshalb die Kommission bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe nach Konsens streben muß. Ganz anderer Natur ist die Aufgabe der Kontrolle, bei welcher sich die Kommission und der Mitgliedstaat nicht konsenssuchend, sondern streitig gegenüber stehen. Diese Vielfältigkeit der Befugnisse beinhaltet die Gefahr, daß die Kommission im Konfliktfall ihre Kontrollaufgaben zugunsten des Initiativrechts unterordnen wird.
19 Wollenschläger
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Kap. 6: Änderungs- und Verbesserungsvorschläge
(3) Die Kommission oder ein Mitgliedstaat können den Gerichtshof mit dem Antrag anrufen, den Vertrag anzuwenden und auszulegen, wenn nach ihrer Auffassung das Gericht eines Mitgliedstaates gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen hat. Gegenstand des Antrags können nur Gerichtsentscheidungen sein, die nicht mehr mit ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsbehelfen des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. Der Antrag ist binnen eines halben Jahres nach Eintritt der Rechtskraft des Richterspruchs zu stellen, welcher den Anlaß für den Antrag gibt. Die von dem Gerichtshof auf einen derartigen Antrag gegebene Auslegung des Vertrages hat keine Wirkung auf den Richterspruch, der Anlaß für den Antrag auf Auslegung gab.
Kapitel 7
Zusammenfassung 1. Aufsicht im rechtlichen Sinne bedarf zweier Subjekte: des Aufsichtführenden und des Beaufsichtigten. Nach Triepel läßt sich der Begriff der Aufsicht allgemein dahingehend bestimmen, „das Verhalten der beaufsichtigten Person mit einem bestimmten Richtmaß in Übereinstimmung zu bringen oder zu erhalten". Das Richtmaß bestimmt den Zweck der Aufsicht. Er kann darauf gerichtet sein, die Rechtmäßigkeit der beaufsichtigten Handlung zu gewährleisten. Er kann aber auch auf die Überprüfung der Zweckmäßigkeit gerichtet sein. Aufsichtsgegenstand ist das Handeln des Beaufsichtigten, welches aktives Tun und pflichtwidriges Unterlassen umfaßt. 2. Öffentlich-rechtliche Aufsicht in ihrem weitesten Sinne ist diejenige Aufsicht, die von einer hoheitlichen Einrichtung ausgeübt wird. Beaufsichtigte können Personen des Privatrechts wie Personen des öffentlichen Rechts sein. Öffentlich-rechtliche Aufsicht über die öffentliche Hand kennt unterschiedliche Formen: Neben der Behördenaufsicht sind die Aufsicht des Staates über selbständige juristische Personen des öffentlichen Rechts, etwa die Kommunalaufsicht, die Aufsicht des Gesamtstaates über die Gliedstaaten (Bundesaufsicht) und die völkerrechtliche Aufsicht, insbesondere die Aufsicht internationaler Organisationen über ihre Vertragsstaaten, etwa die Aufsicht der Europäischen Gemeinschaft über ihre Mitgliedstaaten (Gemeinschaftsaufsicht), zu nennen. 3. Die Europäische Gemeinschaft ist ein Staatenverbund, welcher Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten gemeinschaftlich ausübt. Die Europäische Gemeinschaft setzt Recht, welches nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs und der Lehre in den Mitgliedstaaten anwendbar ist, das heißt: der Bürger kann sich auf das Gemeinschaftsrecht vor den staatlichen Organen, insbesondere vor den Gerichten, berufen. 4. Das Gemeinschaftsrecht wird weitestgehend von den Mitgliedstaaten durchgeführt, also vollzogen, umgesetzt und angewendet. Um die Vertragsgemäßheit der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sieht der EG-Vertrag verschiedene Aufsichtsmittel vor, welche die Europäische Gemeinschaft zur Aufsicht über die Mitgliedstaaten befugen. Die Gesamtheit der gemeinschaftsrechtlichen Aufsichtsnormen lassen sich unter den Begriff der Gemeinschaftsaufsicht zusammenfassen. 5. Das Hauptinstrument der Gemeinschaftsaufsicht ist das Vertrags verletzungsverfahren nach Art. 226 EGV. Aufsichtsorgan ist gemäß Art. 226 EGV in Verbin19*
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Kap. 7: Zusammenfassung
dung mit Art. 211 Spstr. 1 EGV die Kommission. Sie ist befugt, das Handeln der Mitgliedstaaten zu beobachten und die in Art. 226 EGV vorgesehenen Schritte einzuleiten: das außergerichtliche Vorverfahren nach Absatz 1 und die Aufsichtsklage nach Absatz 2. Über die Aufsichtsklage entscheidet der Europäische Gerichtshof, welcher, wenn die Klage begründet ist, in seinem Urteil feststellt, daß der Mitgliedstaat gegen eine vertragliche Verpflichtung verstoßen hat. 6. Alle gemeinschaftsrechtlichen Aufsichtsmaßnahmen müssen sich gemäß dem in Art. 5 Abs. 1 EGV geregelten Grundsatz der begrenzten Ermächtigung auf eine Rechtsgrundlage, eine Befugnisnorm, stützen lassen. Des weiteren sind die Aufsichtsmaßnahmen der Kommission auf die Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt. Die Überprüfung des mitgliedstaatlichen Handelns auf Zweckmäßigkeit sieht der EG-Vertrag nicht vor. 7. Gemäß Art. 226 Abs. 1 EGV ist Aufsichtsgegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens der Verstoß eines Mitgliedstaates gegen eine Verpflichtung aus dem EG-Vertrag. Die mitgliedstaatliche Staatsgewalt zerfällt in die drei Funktionsbereiche der gesetzgebenden Gewalt, der vollziehenden Gewalt und der rechtsprechenden Gewalt. Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Frage, ob die Kommission befugt ist, Aufsicht über die rechtsprechende Gewalt der Mitgliedstaaten auszuüben. 8. Der aufsichtsrechtliche Begriff der rechtsprechenden Gewalt ist kein gemeinschaftsrechtlicher Begriff. Vielmehr ist er, wegen der Formalität der Staatlichkeit und der öffentlichen Aufgabe, durch Rückgriff auf das jeweilige nationale Verständnis zu gewinnen. 9. Rechtsprechende Gewalt im Sinne des Grundgesetzes ist in Deutschland staatliche Rechtsprechung. Nach Art. 92 GG haben die Gerichte ein Monopol zur staatlichen Rechtsprechung. Der Inhalt des Begriffs der rechtsprechenden Gewalt kann nur aus der Zusammenschau institutioneller und funktionaler Kriterien ermittelt werden. Gerichte sind dadurch charakterisiert, daß sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, ausschließlich an Gesetz und Recht gebunden und unabhängig sind. In funktioneller Hinsicht muß die richterliche Entscheidung verbindlich Recht klären und der Rechtskraft fähig sein. 10. Nationale Gerichte können gegen den EG-Vertrag verstoßen, etwa die Verpflichtung zur Vorlage nach Art. 234 Abs. 3 EGV verletzen, die eingeholte Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs mißachten oder Gemeinschaftsrecht nicht anwenden, obwohl dieses in der Rechtssache hätte angewendet werden müssen. Aus der gerichtlichen Vertragsverletzung folgt jedoch nicht ohne weiteres die Befugnis der Kommission, berichtigende Aufsichtsmaßnahmen nach Art. 226 EGV zu ergreifen. Es ist zwischen der Verantwortung des Mitgliedstaates für seine Rechtsprechungsorgane und der Befugnis der Kommission, Aufsicht über die nationalen Gerichte auszuüben, zu unterscheiden. 11. Wegen der Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten haben die nationalen Gerichte die Aufgabe/die Pflicht, das Gemeinschaftsrecht
Kap. 7: Zusammenfassung
unabhängig und in eigener Verantwortung auszulegen und anzuwenden. Um die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrecht durch die nationalen Gerichte zu gewährleisten, sind die nationalen Gerichte nach Art. 234 Abs. 2 EGV berechtigt, nach Art. 234 Abs. 3 EGV verpflichtet, ungeklärte Fragen im Sinne von Art. 234 Abs. 1 EGV dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen. Dieser entscheidet über die vorgelegte Frage. Seine Entscheidung ist für den vorlegenden Richter bindend. 12. Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV verdrängt als das speziellere Verfahren grundsätzlich das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV. Nur wenn nationale Gerichte die Rechtsprechungseinheit in Europa bedrohen, indem sie Vorabentscheidungsurteile mißachten, indem sie ihre Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV verletzen oder indem sie gegen den Grundsatz der Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EGV verstoßen, vermag das Vorabentscheidungsverfahren keine Sperrwirkung zu entfalten. 13. Aber auch solche schwerwiegenden gerichtlichen Vertrags verstoße dürfen nicht zum Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens gemacht werden: a) Dem exekutiven Vorverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EGV stehen die gewaltenteilige Funktionenordnung der Europäischen Gemeinschaft und die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte entgegen. b) Die gegen vertragswidrige nationale Gerichtsentscheidungen gerichtete Aufsichtsklage nach Art. 226 Abs. 2 EGV würde zur Überprüfung in Rechtskraft erwachsener nationaler Richtersprüche führen und damit gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der nach Art. 6 Abs. 1 EUV auch auf europäischer Ebene gilt, verstoßen. Ferner mißachtet die Aufsichtsklage in ihrer gegenwärtigen Form das rechtsstaatliche Gebot prozessualer Fristen. Letztlich ist der Europäische Gerichtshof gemäß Art. 228 Abs. 1 EGV nur berechtigt, in seinem Urteil festzustellen, daß ein mitgliedstaatliches Gericht gegen den EG-Vertrag verstoßen hat. Er ist nicht befugt, die vertragswidrige nationale Gerichtsentscheidung aufzuheben. 14. Um dem berechtigten Interesse der Europäischen Gemeinschaft an der vertragsgemäßen Durchführung des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Gerichte Rechnung zu tragen, sollte die Klage im Interesse des Gesetzes in den EG-Vertrag aufgenommen werden. Ziel dieses Verfahrens ist es, für die Zukunft eine Auslegung offener Fragen des Gemeinschaftsrechts, die Gegenstand einer nationalen Gerichtsentscheidung waren, durch den Europäischen Gerichtshof zu erhalten. Die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs soll keinen Einfluß auf bereits rechtskräftige nationale Gerichtsentscheidungen nehmen. Der Vorteil eines solchen Verfahrens bestünde darin, daß es nicht auf die Berichtigung vertragswidriger Urteile gerichtet wäre, sondern lediglich die Auslegung offener Fragen zum Gemeinschaftsrecht für die Zukunft zum Gegenstand hätte. Die nationale Gerichtsentscheidung, die Anlaß für das Verfahren gegeben hat, bliebe unberührt. Der rechtsstaatliche Grundsatz der Rechtskraft würde beachtet.
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arverzeichnis Ad-hoc-Gericht 123, 125 Akteneinsicht 54 Aktiengesellschaft 26 Allzuständigkeit 68 Almelo-Entscheidung 125 Amsterdamer Vertrag 73 Ämter 103 Amtsgericht 134, 169, 207, 221 Amtswalter 103 Analogie 282 Angemessenheit 54, 201 Anhörungsverfahren 83 Antragsberechtigung 288 Anwendbarkeit - unmittelbare 45, 75, 150, 173, 225, 228 Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts 92, 141 Anzeigepflicht 30, 54 Aufgaben 57 - hoheitliche 49 - kommunitäre 70 - öffentliche 35,49, 81,140, 146 - staatliche 140, 147 Aufgabenbegriff - formaler 140 - materialer 140 Aufgabennorm 57, 60, 64 Aufgabenzuweisungsnorm 60 Auflagen 55 Auflösung 51, 56 Aufsicht 21, 27, 207, 209, 215, 219 - hoheitliche 31 - internationale 189,193, 197 - öffentlich-rechtliche 32 - völkerrechtliche 32,40, 49,184 Aufsichtführender 22, 49, 52 Aufsichtsbefugnis 63, 116, 137,165 Aufsichtsgegenstand 22, 88, 96, 205
Aufsichtsklage 52, 63, 82, 85, 97, 116, 180, 190, 227, 232, 248, 249, 250, 275, 284, 288 Aufsichtsmaßnahme - beobachtende 52 - präventive 51 - repressive 51 - unverbindliche 53 Aufsichtsmaßstab 46, 49, 96 Aufsichtsmittel 50 Aufsichtsobjekt 22 Aufsichtspflicht 26, 97 Aufsichtsrat 26 Aufsichtsrecht 28,43, 49, 91, 116, 204, 205, 224, 289 - des Arbeitgebers 26 - elterliches 26 Aufsichtssubjekt 22 Aufsichtsverfahren 24, 63 Auftragsverwaltung 23,49 Auskunftspflichten 43, 62,186 Auskunftsrecht 43, 51, 186, 232 - inquisitorisches 62 Auskunftsverlangen 52 Auslegung 114 - abweichende 243 - richterliche 158 - vertragsautonome 107, 114,139 Auslegung und Anwendung - des Gemeinschaftsrechts 96, 112, 226, 229, 235 - von Bundesrecht 206 Auslegungsmethode 139 Ausnahmegericht 154 Bankaufsicht 30 Bauaufsicht 30 Beanstandung 27, 50, 51, 55 Beaufsichtigter 23, 52 Bedenkenäußerung 27
Sachwortverzeichnis Bedeutung - grundsätzliche 267 Befugnisnorm 57, 64 Befugnisse 54,57 - ungeschriebene 69 Begründungspflicht 265 Behörde 31 - übergeordnete 33, 36 - untergeordnete 33, 36 Behördenaufbau - hierarchischer 36 Behördenaufsicht 31,32, 38,48 Beliehener 35, 81 Beobachtung 22, 52 Beratung 50, 51 Berichtigung 52 Berufung 219, 221, 257, 266 Beschwerde 78, 266 Beschwerdewert 267 Bestimmtheitsgrundsatz 74 Betriebsgerichtsbarkeit 102 Beurteilungsspielraum 71 Billigkeit 149 Billigkeitsentscheidung 126, 150 Bindungswirkung 59, 127, 130, 217 - von Urteilen 161, 217, 278 Broekmeulen-Entscheidung 120, 127 Bund 24, 32, 80, 199 Bund-Länder-Streitigkeiten 219, 251 Bundesaufsicht 23, 32, 36, 49, 64, 91, 199, 201, 205, 220, 225 - abhängige 38, 199, 207 - unabhängige / selbständige 39, 199 Bundesauftragsverwaltung 39 Bundesfinanzhof 175, 177, 276 Bundesgerichte 169, 206, 219, 221 Bundesgerichtshof 176, 221, 286 Bundesgesetz 23, 39, 95, 205 Bundeskanzler 34 Bundesminister 34 Bundesrat 202, 206 Bundesrecht 219 Bundesstaat 38, 42, 49, 182,199, 205 - echter 183 - unechter 183 Bundesstaatlichkeit 799, 219 Bundestag 34
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Bundesverfassungsgericht 38, 65, 71, 75, 95, 136,152, 157, 169, 268 Bundesverwaltungsgericht 221 Bundeszwang 202 Bürgerliches Gesetzbuch 27 Charta der Vereinten Nationen 43 Cohn-Bendit, Daniel 177 Conseil constitutionnel 137 Conseil d'Etat 137,172, 173,178 Corbiau-Entscheidung 128 Corsica Ferries-Entscheidung 133 Corte Constituzionale 137 Cour de Cassation 174 Demokratie 73, 104, 138 - repräsentative 145 demokratisches Prinzip 33 déni de justice 195 Deutsches Reich 32, 64 Dialog der Richter 180 Dienstauf sieht 33 Divergenzverfahren 264, 286 Dorsch Consult-Entscheidung 120, 122, 124, 126, 127, 128, 152 Dritturteil 282 Durchführung des Gemeinschaftsrechts 19, 44, 75, 80, 97, 198, 228 Effektivitätskriterium 71 Eilentscheidung 245 Eingriffsbefugnisse 28, 58 Einheitliche Europäische Akte 73, 180 Einigungsversuch - formloser 82 Einrichtung - ständige 125, 154 Einstimmigkeitsgrundsatz 179 Einzelanweisungen 211 Einzelermächtigung 68 Einzelzuständigkeit 68 Empfehlung 59 Enteignungsentschädigung 109 Entscheidung nach Rechtsnormen 125, 153 Entscheidungserheblichkeit 113, 264, 272 Entscheidungsmaßstab 209, 214 Entzug, willkürlicher 269 Erforderlichkeit 54, 201
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arverzeichnis
Ermächtigung - begrenzte 57, 66, 67, 141, 225, 226, 275 Ermessen 47, 98 - billiges 126 - gebundenes 98 - pflichtgemäßes 263 Ermessensnachprüfung 97 Ersatzvornahme 50, 51, 55 Ersturteil 281 Europäische Gemeinschaft 24, 28, 32, 43, 56, 67, 226, 230, 238 Europäische Menschenrechtskonvention 43 Europäische Union 65 Europäische Zentralbank 80 Europäischer Gerichtshof 45, 80, 117, 227, 248 - als gesetzlicher Richter 248 Europäisches Parlament 57, 80, 172, 173, 178 Fachaufsicht 46,47, 94 Fachgerichtsbarkeit 148, 221, 243 Feststellungsklage 61 Feststellungsurteil 46, 73, 87, 91, 116, 166, 280, 282, 284, 288 Flucht ins Privatrecht 81 föderative Ordnung 200 Freiheit 73, 104, 202, 208,216 - allgemeine 30 Freiheitsentziehung 109 Fristen - prozessuale 216,218, 250 Funktionenordnung - der Europäischen Gemeinschaft 89, 96, 247 - gewaltenteilige 116, 151, 157, 167, 184, 201, 204, 207, 224, 227, 281 - horizontale 58 - vertikale 239 Funktionentrennung - materielle 117 Gebietskörperschaft - originäre 24,49 Geeignetheit 54, 71, 201 Gefahrdungshaftung 77 Gefahrenabwehr 29, 31 Gehör
- rechtliches 74, 83 Geldstrafe 259 Gelegenheit zur Äußerung 83 Geltung - unmittelbare 43, 75, 112, 150, 225, 228, 239, 246 Gemeinde 24,49, 56 Gemeinderat 56 Gemeinschaftsaufsicht 32, 43, 57, 60, 63, 64, 65, 115, 148, 184, 224, 232, 249 Gemeinschaftsgewalt 66, 182 Gemeinschaftsrecht - primäres 64, 86, 234 - sekundäres 64, 86, 173, 234 - Vorrang des 279 Gemeinschaftstreue 40,45, 81, 94, 111, 181, 230, 239, 245, 279 Genehmigungsvorbehalt 30, 50, 51, 54 Generalanwalt 93, 127,178, 235 Generalbundesanwalt 286 Generalermächtigung 68 Genugtuung 193 Gerechtigkeit 203, 214, 217, 243, 278, 283 Gericht 103, 113 - einzelstaatliches 111, 117, 135, 142 - letztinstanzliches 163, 168, 180, 238, 241, 243, 261 - mitgliedstaatliches 111,117, 142 - nationales 118, 143,193, 235, 238 - staatliches 120, 147 - unterinstanzliches 168, 170, 180, 241 Gericht erster Instanz 103, 226, 227, 228, 248 Gerichte 102,150, 206 - ordentliche 121, 126, 127 - private 136 Gerichte der Länder 206 Gerichtsbarkeit - allgemeine 120 - freiwillige 156 - hoheitliche 118, 143 - internationale 186, 197 - obligatorische 46, 72, 125,126 - ordentliche 149, 221 - private 118,149 - staatliche 102 Gerichtsbegriff - funktioneller 135
Sachwortverzeichnis - institutioneller 135 Gerichtseigenschaft 122, 144 Gerichtshöfe - internationale 118 Gerichtshoheit - europäische 66 Gerichtsstände 233 Gerichtsunterworfenheit 149 Gesamtstaat 32, 36, 38, 49, 145, 183, 204, 207 Geschäftsordnung 212 Gesetz 50 - als Entscheidungsmaßstab 210 - formelles 54 - staatliches 49 - vertragswidriges 94 Gesetz- und Rechtmäßigkeit 215 Gesetz- und Rechtsgebundenheit 33, 153, 206, 209 Gesetze - allgemeine 119 - einfache 108 - vertragswidrige 90, 92 Gesetzesbindung 193, 209 Gesetzesvorbehalt 74, 203 Gesetzesvorlage 90, 94, 218 Gesetzesvorrang 74, 203 Gesetzgeber 25, 134, 140, 149, 154, 210, 267, 283 Gesetzgebung 37, 158, 210 - als Aufsichtsgegenstand 92 Gesetzgebungsbefugnis 200 Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 30, 33, 53, 67, 74, 200, 203 Gewalt - gesetzgebende 25, 81, 90, 95, 101, 107, 115, 139, 144, 156, 192, 209, 220, 254 - öffentliche 28, 109, 121, 160, 268 - rechtsprechende 25, 81, 89, 95, 104, 107, 113, 115, 117, 130, 131, 138, 144, 146, 153, 155, 192, 206, 208, 220, 231, 247, 277 - vollziehende 25, 33, 53, 81, 90, 94, 101, 107, 115, 139, 144, 153, 156, 158, 192, 194, 204, 210, 220, 232, 248, 254, 277 Gewaltenteilung 94, 207, 227 - materielle 208
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- organisatorische 208 - persönliche 208 Gewaltentrennung 207 Gewerbe 30 Gewerbeaufsicht 30 Gewerbetreibende 30 Gewerbeuntersagung 30 Gewohnheitsrecht - internationales 192 - kommunitäres 86 Gleichgewicht - institutionelles 58, 239 Gliedstaat 32, 36, 42, 49, 91, 146,182, 183, 207 Grundfreiheiten 73, 104 Grundgesetz 101, 107 Grundlage - gesetzliche 124, 143,147, 204, 283 Grundrechte 209 Grundrechtsbindung 81, 150 Grundrechtsschutz 173 Grundrechtsverwirkung 109 Gründungsakt 49 Gründungsvertrag 41, 42, 49, 185 gute Sitten 153 Haltung - bewußte 90, 116, 176 Handlungen - völkerrechtswidrige 192 Handlungsfähigkeit 191 Handlungsformen 69 Hauptversammlung 27 Haushaltsführung 79 Herren der Verträge 230, 251, 275 Hessischer Staatsgerichtshof 152 Hessisches Wahlprüfungsgericht 152 Hinweise 265 Hochschulaufsicht 31 Hoheitsgewalt - der europäischen Gemeinschaft 58, 65, 72, 167, 225 - originäre 65, 140 Hoheitsrechte 66, 72, 205, 235 - übertragene 42, 141 Homogenität 37 Hüterin der Verträge 76
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arverzeichnis
implied powers 68 Industrie- und Handelskammer 35 Informationspflichten 51 Initiativrecht 25 Integration - bundesstaatliche 199 Integrationswille 179 internationale Organisationen 28, 32,40, 49, 56, 182,185, 188, 205 Internationale Rechtskommission 192 Internationaler Gerichtshof 187 Inzidentverfahren 112, 236 Job Centre-Entscheidung 130, 132, 134 Jules Borker-Entscheidung 130 Justizgewährungsanspruch 109, 154 Justizverweigerung 196 - im engeren Sinne 196 - im weiteren Sinne 195 Kann-Vorschrift 98 Kassation 85, 172, 213 Kassationsbeschwerde 266, 274 Kassationsgrund 274 Kernbereich 208 Klage im Interesse des Gesetzes 276, 284, 287 Klageberechtigung - privilegierte 77 Klageeinleitung - Pflicht zur 98 Klageerwiderung 256 Klageerzwingungsverfahren 264 Kommissarbestellung 51 Kommission 45, 79, 80, 172, 248 Kommunalaufsicht 31,47,49 Kommune 35,47,49, 80, 146 Kompetenz-Kompetenz 42, 68, 185 Kontrolle 25, 29, 64 - der öffentlichen Gewalt 209 - gerichtliche 226 - völkerrechtliche (internationale) 41 Kontrollfunktionen 289 Kooperationsverhältnis 180, 233, 248 Körperschaft - öffentlich-rechtliche 49, 119, 146, 148 Körperschaftsaufsicht 32, 35
Korrektur - innerstaatliche 246 Länder 24, 32,49, 56, 80, 199 Landesanwaltschaft 235 Landesrecht 219 Landesverfassungsgerichte 169 Landgericht 207, 221 Leben aller 30, 139, 202 Legalität 237 Legalitätsprinzip 98 lege ferenda 258, 282 lege lata 258 Legitimation 148 - demokratische 153 Legitimationsgrundlage 140 Lehrgänge 265 Luxemburger Auslegungsprotokoll 285 Maastricht-Urteil 19, 71, 182 Maastricht-Vertrag 67, 73, 87, 180 Mahnschreiben 83, 84 Mahn verfahren 133 Mängelrüge 55 Mängelrügeverfahren - außergerichtliches 64 Maßnahmen - unverbindliche 159 Meinungsäußerungen 159 Menschenrechte 43, 73, 104, 186 Mindeststandard - justizieller 196 Mischverwaltung - Verbot der 220 Mißachtung - bewußte 164, 171 - systematische 244 - wiederholte und systematische 172 Mitgliedstaat 24, 28,43,45, 56, 80 mitgliedstaatlicher Vollzug - unmittelbarer 45 Mitgliedstaatlichkeit 119, 141 Montesquieu 227 Naturalrestitution 196 ne bis in idem 161 Neutralität 150, 249
Sachwortverzeichnis Nichtanwendung - des Gemeinschaftsrechts 86, 246 Nichtigkeitsklage 71, 73, 227, 278 Nichtvermögensschaden 193 Nichtzulassungsbeschwerde 257 Nordsee-Entscheidung 121,125, 126 Normenkontrolle - abstrakte 94, 283 - gerichtliche 156 - konkrete 109, 237,283 Normenkontrollverfahren 159 Normenvorschlagsrecht 289 Normverwerfung 236 Norm Verwerfungsmonopol 158 Notifizierungsverfahren 186, 189 Notwendigkeitsmaßstab 71 Oberlandesgericht 207, 221 Oberverwaltungsgerichte 207, 221 öffentliche Hand 28, 29, 31, 53 öffentliche Unternehmen 81 Opportunitätsgrundsatz 98, 289 Ordnung - bundesstaatliche 219 - öffentliche 29 - verfassungsmäßige 30, 157 Organaufsicht 31, 33 Organe 103 Organhaftung 191 Organschaft 144 Organ waiter 191 Organzuständigkeit 58 Parteigerichtsbarkeit 102 Passivität des Richters 152 Pauschalbetrag 88 Prävention 51 Präventivverfahren - inzidentes 256 Pretore di Salò-Entscheidung 127, 131, 162 Primat der nationalen Gerichte 247 Rechnungshof 80 Recht - objektives 97, 202 - öffentliches 26 - subjektives 75, 99, 230
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Recht auf Vorlage - subjektives 237 Rechtmäßigkeit 23, 27, 29, 34, 36, 39, 47, 49, 96,153 Rechtsanwaltskammer 35 Rechtsanwendung 109, 156, 158 Rechtsanwendungsbefehl 182 Rechtsaufsicht 39,46, 96 Rechtsbegriffe - offene 114,139,141, 153, 158,243, 286 Rechtsbehelf - außerordentlicher 218, 257, 267 - effektiver 121, 127 - nationaler 262 - prozeßualer 266 - ungeschriebener 279 Rechtsbeugung 196, 241 Rechtseinheit 199,240,243, 246, 260 Rechtsetzung 109, 156 Rechtsetzungsinitiative 79 Rechtsfrieden 67, 105, 151, 160, 194, 216, 234, 243, 250, 278, 283, 284 Rechtsgemeinschaft 66, 72, 98, 225, 226, 234, 250 Rechtsgewährleistung 209 Rechtsgrundlage 53 Rechtsgrundsätze - allgemeine 86, 92, 107 - völkerrechtliche 192 Rechtsklärung 109, 157, 159 - verbindliche 105, 151, 208 Rechtskraft 89, 90, 111, 157,159, 165, 169, 177, 250, 278 - formelle 95, 106,160, 216 - materielle 95, 106, 161, 196, 216, 224, 250, 251, 255, 257, 266, 277, 284, 287 Rechtskraftfähigkeit 131, 132, 157 Rechtsmittel 126, 167, 168, 170, 212, 214, 217,235,257, 281,286 - außerordentliche 246 - innerstaatliche 240 - nationale 170, 233, 237, 243 - ordentliche 218, 246, 257, 266, 267, 275, 278 Rechtsmittelfristen 257 Rechtsmittelgericht 221, 257, 262,267 Rechtsmittelverfahren 181
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arverzeichnis
Rechtsprechung 37,100, 107, 139,150, 206, 213 - als Aufsichtsgegenstand 95 - als Spruchpraxis 100 - funktionale /materiale 100 - gefestigte 244 - im engen Sinne 132 - im weiten Sinne 132 - institutionelle / organisatorische 102 - private 102 - staatliche 108, 138, 184, 201 Rechtsprechungsämter 150 Rechtsprechungsaufgabe 226 Rechtsprechungsbegriff - formell-materieller 110 - formeller 108 - funktioneller 117 - institutioneller 117 - materieller 109 Rechtsprechungseinheit 141, 169, 207, 230, 232, 237, 239 - europäische 233 - materielle / funktionale 220 Rechtsprechungskontrolle 230 Rechtsprechungsmonopol 116, 184, 201, 209,213, 227, 248, 255, 277 - der Gerichte 155, 205, 212 Rechtsschutz 34, 149, 155, 159, 196, 228, 231,262 - effektiver 226, 231 - europäischer 168, 226 - vorläufiger 133, 245 Rechtsschutzsystem - allgemeines 118, 121, 143 - dualistisches 247 - umfassendes 226 Rechtssetzungsdelegation 154 Rechtssicherheit 67, 74, 105, 151, 194, 200, 202, 215, 217, 234, 243, 250, 278, 283, 284 Rechtsstaat 159 Rechtsstaatlichkeit 73, 104, 153, 184, 201, 215, 224, 225, 240, 242, 250 - der Verfahrensordnung 270 Rechtsstaatsprinzip 33, 66, 154, 200, 201, 207 Rechtsstreitigkeit 130, 152, 157, 209 - innerstaatliche 271
Rechtsunterworfenheit 226 Rechtsweg 274 Rechtswegerschöpfung - innerstaatliche 170 Rechtsweggarantie 109, 110 Regina Greis Unterweger-Entscheidung 130 Reichsaufsicht 32, 40, 64 Reichsverfassung 32 Repressalie 88 Repression 51 Republik 199 res iudicata 193 restitutio in integrum 193 Restitutionsgrund 279, 281 Restitutionsklage 276, 278, 281 Retorsion 88 Revision 219, 221,257, 266 Revisionsgerichte 221 Richter 103,155, 206 - gesetzlicher 154, 211, 234, 241, 243, 246, 268 Richteramt 152 Richtervorbehalt 109,110 Richtlinien 86, 92,131,228 Richtlinienkompetenz 34 Rundfunkanstalten - öffentlich-rechtliche 35 Rundfunkaufsicht 31 Sachurteilsvoraussetzungen 256 Sanktionsverfahren 87 Satzung 49 Schadensersatz 26, 77 Schadensersatzanspruch 27 Schadensersatzprozeß 78 Schiedsgericht 119,121, 126, 136, 143 - privates 118, 149 - tarifvertragliches 122 Schiedsgerichtsbarkeit 102, 121,149 Schiedsrichter 149 Schiedsspruch 187 Schiedsvereinbarung 149 Schulungsmaßnahmen 265 Selbstkontrolle 33 Selbstkorrektur 55 Selbstverwaltung 35, 36 Selbstverwaltungskörperschaft 35 Selbstverwaltungsträger 28, 36
Sachwortverzeichnis Sequestration 51 Sicherheit - öffentliche 29 Sittengesetz 30 Solange-I-Entscheidung 173, 177 Solange-II-Entscheidung 269, 271 Staatenhaftung 191 Staatenklage 189, 227 - völkerrechtliche 197 Staatenverantwortlichkeit 165 - völkerrechtliche 184,190, 194,197 Staatenverbindungen - koordinierende 42 - subordinierende 42 Staatenverbund 46, 66, 72, 182, 225, 229 Staatlichkeit 135,136, 142,143,144, 205 - existentielle 91, 235, 268, 275 - funktionelle 167 Staatsanwaltschaft 118 Staatsaufsicht 28,31,35 Staatsbehörde 31 Staatsgerichtsbarkeit - mittelbare 146, 148 Staatshaftung 138 - gemeinschaftsrechtliche 259 Staatskommissar 56 Staats Verantwortlichkeit 193 Stellungnahme 59,159 - mit Gründen versehene 83, 84 Steuerbescheid 276 Steuerung 25 Steuerverwaltungsakt 177 Strafgerichtsbarkeit 111 Strafurteile 283 Streitbeilegung - friedliche 187 Streitbeilegungsgremium 189 Streitgegenstand 84, 217 Streitigkeit 109 - gemeinschaftsrechtliche 245 - internationale 187 - öffentlich-rechtliche 160 - zivilrechtliche 159, 207,262 Streitsachenausschuß 120 Subsidiarität 70, 240, 262 Subsidiaritätsprinzip 66, 149, 225, 247, 268 Subsumtion 158 System, duales 28
319
Über- und Unterordnungsverhältnis 24 Überwachung 21, 27, 28, 29, 41, 64 - privater Tätigkeit 29 Unabhängigkeit 103, 116, 166 - gerichtliche 89, 127, 165, 167, 172, 177, 193, 201, 210, 211, 224, 229, 239, 247, 249, 255, 266, 268, 277, 287 - persönliche 148, 150, 151, 209 - richterliche 95, 150, 204 - sachliche 150, 151, 209 Unionsbürger 59, 72, 78, 80, 112, 228, 239 Universität 35 Unkenntnis - offensichtliche 90, 116, 164, 176,244 Unparteilichkeit 151 Untätigkeitsklage 227 Unterwerfungserklärung 188 Unvollständigkeit der Rechtsprechung 273 Urteil - angegriffenes 281 - präjudizielles 281 - vertragswidriges 242, 255 - völkerrechtswidriges 184,195 Urteilserlaß 114, 129, 135,265 Urteilsmängel 279, 282 Urteilsverfassungsbeschwerde 251, 257, 266,267 Vaassen-Göbbels-Entscheidung 119, 125,147 Verbandsaufsicht 32 Verbandszuständigkeit 58 Verfahren - objektives 97 - streitiges 159 Verfahrensaussetzung 236 Verfahrensfehler - schwere 279, 282 Verfahrensmißbrauch 264 Verfassungsaufsicht 231 Verfassungsautonomie 185 Verfassungsbeschwerde 181, 218, 241, 246, 266,268, 275, 278 Verfassungsgesetz 37, 42, 46, 48, 53, 108, 158, 183, 191,200 Verfassungsgesetzgeber 183 Vergabeüberwachungsausschuß 120, 126
122,
243, 105,
124,
320
arverzeichnis
Verhältnismäßigkeit 54, 67, 74, 200,201 Verletzung - schwerwiegende 171 Verschulden 87 Verstoß - definitiver 169 Verstoßverfahren 63 Vertrag 124, 183, 186 - privatrechtlicher 149 - völkerrechtlicher 41,48, 50, 86, 185, 192 Vertragsänderungen 275 Vertragsauslegung 234 Vertragsprinzip 188 Vertragsstaat 32,40,49, 56, 205 Vertragstreue 76 Vertragsverletzung 52, 60,170, 225, 243 - gerichtliche 266, 280 - systematische und wiederholte 88 Vertragsverletzungsklage 64 Vertragsverletzungsverfahren 40, 45, 60, 63, 75, 111, 115, 132, 137, 142, 144, 163, 164, 189, 197, 223, 232, 234, 238, 254, 274 - individualschützende Wirkung 78 - Ordnungsfunktion 77 - präventiver Charakter 76 - repressiver Charakter 76 - zweites 87, 254 Vertragsverstoß 32, 46, 61, 80, 86 - gerichtlicher 163, 164, 249 - qualifizierter 170, 244 Vertrauensschutz 67, 74, 92, 200, 203 Vertreter des öffentlichen Interesses 263 Verwaltung 25, 33 Verwaltungsakt 48, 228,276 - vertragswidriger 91 Verwaltungsaufsicht 31 Verwaltungsautonomie 36 Verwaltungsgerichte 153, 207, 221 Verwaltungsgerichtsbarkeit 219, 221 Verwaltungsgerichtshöfe 221 Verwaltungsträger 34,48 VerwaltungsVorschriften 211 Völkerrechtssubjekt 185,188 VÖlkerrechtssubjektivität 40 Vollstreckungsorgane 72 Vollstreckungszuständigkeiten 233 Vollzug 37
Vorabentscheidung 112, 142, 236, 241, 245, 256 Vorabentscheidungsersuchen 237 Vorabentscheidungsgesuch 113, 242, 261 Vorabentscheidungsurteil 239 Vorabentscheidungsurteile 260 Vorabentscheidungsverfahren 111, 112, 117, 132, 144, 225, 227, 232, 234, 239, 240, 260, 275, 285 Vorlageberechtigung 117, 125, 129, 131, 142, 263 Vorlagebereitschaft 179, 180 Vorlageersuchen 131, 265 Vorlageerzwingungsverfahren 261 Vorlagepflicht 81, 86, 163, 168, 180, 242, 243, 246, 268, 272, 274 Vorrang des nationalen Rechtsmittels 247 Vorstand 27 Vorverfahren 45, 63, 248,280 - außergerichtliches 82, 83, 97, 249 - formelles 82 Weigerung - bewußte 244 - systematische 171, 244 Weimarer Reichsverfassung 32 Weisung 36, 50, 55, 103, 151 Weisungsrecht 36, 90 Welthandelsorganisation 43, 189 Wertersatz 193,196 Widerspruchsbehörde 153 Widerspruchsverfahren 48 Wiederaufnahmeverfahren 218, 258,278 Wiedergutmachung 193, 196 Willkürerfordernis 270 Willkürmaßstab 271 Wirkung - individualrechtsschützende 237 - unmittelbare 231 Wirkungskreis - eigener 28, 47, 50 - übertragener 28,47, 50 Wirtschaftsaufsicht 28 Wirtschaftsüberwachung 29, 30 Zivil- und Handelsrechtssachen 232, 285 Zivilgerichtsbarkeit 219
Sachwortverzeichnis Zivilrecht 26 Zulassungsberufung 257 Zuständigkeit - kraft Sachzusammenhangs 69 ZuständigkeitsVerteilung 37 Zwangsbefugnis 206 Zwangsgeld 88 Zwangsgemeinschaft 66, 72, 225
21 Wollenschläger
321
Zwangsvollstreckung 72 Zweck - legaler 201 Zweckmäßigkeit 23, 27, 29, 34, 39, 43, 47, 94,97,153 Zweiturteil 281 Zwischenverfahren 236, 261 - präventives 235